Das Vertraute und das Fremde: Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs [1. Aufl.] 9783839412923

Differenzerfahrung und Fremdverstehen - diese eng miteinander verknüpften Phänomene bilden heute auf allen Ebenen des so

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German Pages 272 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Das Spannungsfeld zwischen Vertrautem und Fremdem
Nicht das Fremde ist so fremd, sondern das Vertraute so vertraut. Ein Beitrag zum Verständnis von kultureller Differenz
Fremdverstehen als Gestaltung von Kultur? Interkulturelle Hermeneutik im Kontext von Sozialtheorie und Kulturphilosophie
Beiträge zu Grundlagendiskussionen im Interkulturalitätsdiskurs
Kultur zwischen Anerkennung und Verachtung: Theoretische Ambivalenzen des bedeutungsorientiertkonstruktivistischen Kulturbegriffs
Der Fremde. Zur Soziologie der Indifferenz
Partikularität und Universalität von Bedeutung: Differenz- und Konsensbedingungen des Fremdverstehens bei interkultureller Kommunikation
Differenzerfahrungen und Bildungsprozesse
Von der Leere des Vertrauten. Überlegungen zur Rolle des kulturell Fremden in Prozessen der Selbstaneignung
„Fruchtbare Differenz“: Dimensionen der Fremderfahrung
Fremdheitserfahrungen als Herausforderung transformatorischer Bildungsprozesse
Umgang mit Fremdem und Formen des Gruppenbezugs. Zu einer Theorie der universalen Bezogenheiten des Subjekts
Beschränkt und selbst sich fremd. Psychoanalytische Voraussetzungen von Differenzerfahrung und Fremdverstehen
Konstruktionen der Fremdheit im Kontext empirischer Forschung
Folgenreiche Unterscheidungen. Repräsentationen des „Eigenen und Fremden“ im interkulturellen Bildungskontext
Zur Generierung des Fremden in medialen Diskursen am Beispiel des Frames „die Gewalt der Ehre“
Jesu Eintritt ins nirvāna und Buddhas Kreuzestod: Irrungen und Wirrungen komparativer Philosophie am Beispiel asiatischer Kulturen
Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen im Konzept des pädagogisch reflexiven Interviews
Autorinnen und Autoren
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Das Vertraute und das Fremde: Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs [1. Aufl.]
 9783839412923

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Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde

Kultur und soziale Praxis

Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.)

Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs

Die Publikation wurde gefördert vom »Zentrum für Interkulturelle Studien der Universität Mainz (ZIS)«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Oliver Immel und Sylke Bartmann Satz: Oliver Immel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1292-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung..............................................................................................7 Das Spannungsfeld zwischen Vertrautem und Fremdem Nicht das Fremde ist so fremd, sondern das Vertraute so vertraut. Ein Beitrag zum Verständnis von kultureller Differenz ................. .................................................21 SYLKE BARTMANN Fremdverstehen als Gestaltung von Kultur? Interkulturelle Hermeneutik im Kontext von Sozialtheorie und Kulturphilosophie ..............................................................................35 SABINE SANDER

Beiträge zu Grundlagendiskussionen im Interkulturalitätsdiskurs Kultur zwischen Anerkennung und Verachtung: Theoretische Ambivalenzen des bedeutungsorientiertkonstruktivistischen Kulturbegriffs ..................................................55 ANDREAS VASILACHE Der Fremde. Zur Soziologie der Indifferenz ...................................79 RUDOLF STICHWEH Partikularität und Universalität von Bedeutung: Differenz- und Konsensbedingungen des Fremdverstehens bei interkultureller Kommunikation. .................................................95 MICHAEL HANKE

Differenzerfahrungen und Bildungsprozesse Von der Leere des Vertrauten. Überlegungen zur Rolle des kulturell Fremden in Prozessen der Selbstaneignung .........109 OLIVER IMMEL

„Fruchtbare Differenz“: Dimensionen der Fremderfahrung........135 GEORG STENGER Fremdheitserfahrungen als Herausforderung transformatorischer Bildungsprozesse .........................................157 HANS-CHRISTOPH KOLLER Umgang mit Fremdem und Formen des Gruppenbezugs. Zu einer Theorie der universalen Bezogenheiten des Subjekts ....................................................................................177 BORIS ZIZEK Beschränkt und selbst sich fremd. Psychoanalytische Voraussetzungen von Differenzerfahrung und Fremdverstehen .....................................191 CHRISTINE KIRCHHOFF

Konstruktionen der Fremdheit im Kontext empirischer Forschung Folgenreiche Unterscheidungen. Repräsentationen des „Eigenen und Fremden“ im interkulturellen Bildungskontext ...............................................................................203 CHRISTINE RIEGEL Zur Generierung des Fremden in medialen Diskursen am Beispiel des Frames „die Gewalt der Ehre“ ...........................219 OLGA MICHEL Jesu Eintritt ins nirvāna . und Buddhas Kreuzestod: Irrungen und Wirrungen komparativer Philosophie am Beispiel asiatischer Kulturen ...................................................237 MICHAEL GERHARD Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen im Konzept des pädagogisch reflexiven Interviews ...................253 EVELINE CHRISTOF

Autorinnen und Autoren..............................................................267

Einleitung

Das Begriffspaar „Das Vertraute und das Fremde“ umreißt ein Spannungsfeld von Themenbereichen, die sich inzwischen in Lehre und Forschung etabliert haben, bspw. das aus dem Curriculum nicht mehr wegzudenkende Thema „Umgang mit Heterogenität“ oder die als „Herausforderung“ betitelte Vielfalt der Lebensformen. In der Konfrontation mit einer Pluralität von Weltdeutungen scheint das Vertraute der eigenen Lebenswelt dem Fremden der Lebensformen und kulturellen Weltdeutungen in einer Weise gegenüberzustehen, die auf allen Ebenen des sozialen Lebens Differenzerfahrungen entstehen lässt. Das traditionell in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen beheimatete Phänomen des Fremdverstehens stellt dabei auch in der heutigen Zeit eine mögliche Antwort auf die Frage des Umgangs mit Differenzerfahrungen dar und kann disziplinübergreifend dem Interkulturalitätsdiskurs zugeordnet werden. Mit dem vorliegenden Band möchten die Herausgeber diesem breiten interdisziplinären Anspruch Rechnung tragen, den das Problemfeld von Differenzerfahrung und Fremdverstehen an die Wissenschaft stellt. Dabei werden grundlegende theoretische Zugänge und Perspektiven der Soziologie, Psychologie, Philosophie und Erziehungswissenschaft erörtert und punktuell durch die Präsentation von Forschungsergebnissen ergänzt, so dass insgesamt ein Beitrag zur Erhellung des Übergangs von der Differenzerfahrung zum Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs geleistet werden kann. Unter Differenzerfahrung kann eine irritierende Erfahrung im Kontakt mit Anderen verstanden werden, eine Auffassung, die von den Autorinnen und Autoren im vorliegenden Band überwiegend auf den Kontakt mit dem kulturell Fremden bezogen wird. Dieser Bezug hat zur Konsequenz, dass die Frage nach der Tragfähigkeit des Kulturbegriffs in den

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meisten Beiträgen thematisiert, aber auch unterschiedlich beantwortet wird. Ausgangspunkt ist oftmals, dass der Kontakt mit dem kulturell Fremden irritiert wegen möglicher Andersartigkeit (sei dies durch sein Erscheinungsbild, der mir unverständlichen Sprache, seiner religiösen, politischen oder sonstigen kulturellen Anschauungen), wodurch die Erfahrung einer Differenz zwischen Eigenem und Anderem, Vertrautem und Fremdem aufbricht. Wir gehen in diesem Kontext davon aus, dass jede Differenzerfahrung die eigenen kulturellen Anschauungen irritiert, indem das vormals Selbstverständliche plötzlich mit neuen und anderen Perspektiven konfrontiert wird. In diesen spiegeln sich Irritationen der durch Enkulturation internalisierten, bisher für selbstverständlich gehaltenen Deutungs- und Rationalisierungsmuster, die das Fremdverstehen zu einem hermeneutisch äußerst komplexen und mannigfachen Scheiternsmöglichkeiten ausgesetzten Prozess geraten lassen. Das umrissene Problemfeld setzt nicht nur Fragen zum Krisenpotential interkultureller Begegnungen frei, sondern verweist vorgängig auf die grundlegenden Gelingensbedingungen interkultureller Kommunikation, die von der Interkulturalitätsforschung vor allem im Hinblick auf ihre anthropo-ontologischen, psychischen und sozialen Strukturen untersucht, sowie nach ihrer Relevanz für die Entwicklung interkultureller Kompetenz befragt werden. Konkret treten Differenzerfahrungen also im Kontakt mit Fremden und in der Fremde in besonderem Maße auf und zeichnen sich durch die Erfahrung eines Mangels an Vertrautheit aus. Dadurch, dass Differenzerfahrungen irritieren, stellt sich für die Geistes- und Sozialwissenschaften die Frage, welche Auswirkungen Differenzerfahrungen für die eigene (kulturelle) Identität haben können, welche Probleme, aber auch neue Möglichkeiten der Handlungsorientierung durch Differenzerfahrungen geschaffen werden und inwieweit diese möglicherweise auch zu Bildungsprozessen führen können. Direkt damit verknüpft ist das Problem des Fremdverstehens, d. h. des Versuchs, die andersartigen, also als different erfahrenen Deutungsweisen und Anschauungen des Fremden zu verstehen. In diesem Zusammenhang entstehen Fragen wie: Wie können wir überhaupt den Anderen verstehen – wie übersetzen sich Erfahrungen in Sprache und wie werden diese in Kommunikation zwischen den Subjekten vermittelbar? Setzt das Verstehen des Anderen gleiche Milieus oder kulturelle Zusammenhänge voraus? Auf welcher Grundlage können wir den kulturell Fremden verstehen – welche Möglichkeiten, aber auch welche Grenzen gibt es im Verstehen fremder Anschauungen, Handlungsorientierungen und Deutungsmuster? Die Autorinnen und Autoren in diesem Band wenden sich – bei aller Unterschiedlichkeit der vertretenden Thesen und Argumentationen

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– letztlich immer auch der Frage zu, wie die Konfrontation mit einer Pluralität von Weltdeutungen in einer produktiven Weise zu wenden ist. Der Band wird durch zwei Beiträge zum Spannungsfeld zwischen Vertrautem und Fremdem eröffnet. Dem Beitrag von Sylke Bartmann liegt die Intention zugrunde, Dimensionen zu erarbeiten, die zu einem Verständnis von (kultureller) Differenz beitragen können. Hierfür richtet die Autorin die Perspektive konsequent auf das Vertraute, verbunden mit der im Weiteren theoretisch begründeten Annahme, „dass das Vertraute konstitutiv für kulturelle Differenz ist“. Um das Vertraute theoretisch zu erfassen, bezieht sich Bartmann zunächst auf den soziologischen Begriff der Institution und verbindet diesen im Folgenden mit Situationen kultureller Differenz. Die Entstehung von Differenz wird dabei Schritt für Schritt und mit dem theoretischen Bezug auf Schütz’ Postulat der Generalthesis des Alter Ego und damit auf den Prozess des Fremdverstehens ausgearbeitet. Über diesen Weg kann die für Interaktionen notwendige Relevanz des Vertrauten und „die durch das Vertraute vermittelte Sinnhaftigkeit“ aufgezeigt werden. Im letzten Abschnitt des Beitrages werden mögliche Konsequenzen bezüglich interkultureller Lernprozesse und Lernkonzepte diskutiert. Eine Hinwendung zum Vertrauten – im Gegensatz zu der oft vorzufindenden Fokussierung des Fremden – wird als konstitutiv für interkulturelle Lernprozesse verstanden, verbunden mit einer Haltung, in der das Unbekannte per se eine Sinnhaftigkeit zugesprochen bekommt. Sabine Sander verfolgt in ihrem Beitrag drei Ziele, nämlich erstens die geschichtlichen Hintergründe für die im 20. Jahrhundert geäußerte Skepsis gegenüber Modellen des Fremdverstehens zu erkunden und abzumildern, zweitens die Begriffe des Fremden in systematischer Hinsicht zu erfassen und drittens aufzuzeigen, dass Fremdverstehen von einer kultur- und sozialtheoretischen Warte aus nicht nur Aneignung und Tilgung des Fremden bedeuten muss. Getragen wird diese Auseinandersetzung von dem übergreifenden Anliegen, Fremderfahrung und Fremdverstehen als aktive Gestaltungsmöglichkeiten von Wirklichkeit auszuweisen. Die Autorin zeigt zunächst auf, wie die xenologischen Debatten von der frühen Neuzeit bis in die Aufklärung hinein das Bild des Fremden durch Dämonisierung oder Idealisierung verzerrten und wendet sich daraufhin der Analyse des Fremden in seinen verschiedenen Ausformungen als Denkfiguren der Sozialtheorie zu. Vor dem Hintergrund der phänomenologischen Auseinandersetzung mit der Apperzeption vertritt Sander die These, dass all das, was unseren erworbenen Vorstellungsmassen fremd erscheint, in apperzipierenden Bewusstseinsakten mit Vertrautem verknüpft werden kann und den Horizont von Sinndeutungen damit anreichert. Aus diesem Grund sei es nicht die einfühlende Imagination, sondern vielmehr die Kontextuierung des Wissens, die als

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konstitutiv für das Verstehen von subjektivem Sinn verstanden werden müsse. Indem der Mensch sich in verschiedenen symbolischen Formen ausdrückt, gestalte er Wirklichkeiten, die von späteren Generationen in erneuten apperzipierenden Akten angeeignet und modifiziert werden könnten. Die im zweiten Hauptabschnitt des Bandes versammelten Beiträge widmen sich verschiedenen Grundlagendiskussionen, die gegenwärtig im Interkulturalitätsdiskurs geführt werden. Andreas Vasilache verortet seinen Beitrag in der Auseinandersetzung um den Begriff der menschlichen Kultur. Als Argumentationsziel formuliert er das Vorhaben, den poststrukturalistisch geprägten bedeutungsorientiert- konstruktivistischen Kulturbegriff hinsichtlich seiner Probleme, Ambivalenzen und Paradoxien zu diskutieren und bislang eher vernachlässigte Schwierigkeiten und Konsequenzen dieses Kulturbegriffs offenzulegen, um ihn durch deren Diskussion und „Einhegung“ konzeptionell zu stärken. Dabei wendet sich Vasilache vier Problemen zu, die mit dem bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs einhergehen und kommt in seinen Ausführungen zu dem Schluss, dass Kulturen ohne jede normative Konnotation als „einfach vorhandener Aspekt der conditio humana“ angesehen werden müssen. Die Frage nach ihrer Respektierung, Anerkennung oder Tolerierung lasse sich nicht auf der allgemeinen Ebene eines sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs beantworten. Entsprechend schlägt der Autor in normativer Hinsicht die theoretische wie praktische Haltung „kultureller Verachtung“ im Sinne einer „verweigerten Anerkennung“ vor, die kulturellen Formationen nicht mit der Vorannahme eines ihnen inhärenten Wertes begegne, sondern Kulturen schlichtweg als existent zur Kenntnis nimmt. Abschließend widmet sich Vasilache einer Einhegung der aufgeworfenen Probleme und kommt zu dem Ergebnis, dass sich die mit dem sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff einhergehenden Schwierigkeiten konzeptionell auffangen, bändigen und produktiv wenden lassen, wenn die Bedingung „ihrer reflexiven Bewusstmachung, Einbeziehung und Berücksichtigung“ erfüllt wird. Die Idee einer „Weltgesellschaft“ bildet für Rudolf Stichweh die Hintergrundfolie für die von ihm ins Visier genommene Leitfrage, wie modern die Figur des Fremden ist und ob sich in der modernen Gesellschaft nicht neue soziale Schemata abzeichnen, die diese Figur abzulösen versprechen. Unter Anwendung der Methode der historischen Semantik stellt Stichweh Reziprozität und Ambivalenz als die konstantesten Merkmale der Semantik des Fremden heraus. Mit Blick auf die Gegenwartssituation widmet sich Stichweh der Frage, ob es prinzipielle Veränderungen in der Erfahrung des Fremden und den Schematismen sozialer Interaktion gibt, die eine Eignung der Kategorie des Fremden zur Entschlüsselung

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der Gegenwartssituation fraglich werden lassen. Gegenüber der Zuordnung „verwandt/fremd“ und „Freund/Feind“ bestand dem Autor zufolge in älteren Gesellschaften die einzige Möglichkeit für einen dritten Status in dem des „Gastes“. Eine wesentliche Auffälligkeit in der Entwicklung zur modernen Gesellschaft bestehe nun darin, dass der zunächst nur als Ausnahme vorgesehene dritte Status „fast alle Gesellschaftsmitglieder“ absorbiere. Die als Beleg für diese Entwicklung hinzugezogene Kategorie des „commonplace folk“, die der Autor einem Werk von Nathaniel Shaler entnimmt, impliziere, dass die ihr zugeordneten Personen weder Freund noch Feind, weder verwandt noch fremd sind. Unsere vorherrschende Einstellung ihnen gegenüber lasse sich daher als „Indifferenz“ bezeichnen. Die Bewältigung und Abarbeitung von Fremdheit, so schließt Stichweh, lasse sich deshalb nicht weiter als ein Primärproblem moderner Gesellschaften verstehen. Aus diesem Grund gehe es künftig eher um Mechanismen, die dazu motivieren, aus der so als „Normaleinstellung“ zu charakterisierenden Indifferenz in Prozesse sozialer Interaktion einzutreten. Das Problem der Bedeutung und des Verstehens fremden gemeinten Sinns bildet den Bezugspunkt für die Ausführungen von Michael Hanke. Der Autor setzt sich in diesem Zusammenhang das Ziel, die zwei einander gegenüberstehenden Konzepte der Universalität und Partikularität exemplarisch an je einem Theorieentwurf zu entfalten, um danach jeweils eine Option für die jeweilige Position vorzustellen. Dabei greift Hanke Theoriestücke von Alfred Schütz, Jürgen Habermas, Bernhard Waldenfels und George Herbert Mead auf, um diese als Konzepte der Universalität und Partikularität auszuweisen und kritisch zu hinterfragen. Der Autor stellt dabei insbesondere die Position Meads als perspektivisch fruchtbare heraus, insofern in ihr das Postulat des universalen Gesprächs als „das formale Ideal der Kommunikation“ formuliert wird. In seinen Schlussbemerkungen verweist Hanke schließlich auf ein von Waldenfels diagnostiziertes argumentatives Patt zwischen Partikularismus und Universalismus und schließt seinen Beitrag mit dem Ergebnis, dass universal geteilte Bedeutungen als unabdingbare Grundlage für eine auf Kooperation basierende Weltgesellschaft angesehen werden können. Im darauf folgenden dritten Hauptabschnitt bildet der Zusammenhang zwischen Differenzerfahrungen und Bildungsprozessen den gemeinsamen Bezugspunkt der Beiträge. Ausgehend von der Annahme, dass ein grundsätzliches Dilemma des menschlichen Selbstverhältnisses darin besteht, dass performatives Erleben und erkanntes Objektsein zwei offenbar nicht zu vermittelnde Dimensionen des Selbst bilden, versucht Oliver Immel mithilfe einer identitätstheoretisch akzentuierten „Strukturhermeneutik personaler Identität“ Verknüpfungen „subjektiver“ und „objektiver“ Sinnhaftigkeit des

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Seins im intersubjektiven Raum aufzufinden. Dabei werden kooperative Verobjektivierungen sinnhaften Handelns als Grundelemente der Selbstaneignung ausgewiesen und in ihrer Abhängigkeit von soziokulturellen Anerkennungsmechanismen beleuchtet. Vor diesem Hintergrund stellt der Autor die Frage nach einer möglichen Attraktivität der Begegnung mit dem kulturell Fremden in Bezug auf die personale Identitätsbildung und gruppiert seine Analyse um ein Phänomen, aus dem sich aus seiner Sicht sowohl die Unbehaglichkeit als auch die mögliche Attraktivität der Begegnung mit dem kulturell Fremden speisen und die er als „Leere des Vertrauten“ bezeichnet. Im Zusammenhang mit der These, dass es in kulturellen Formationen eine durch kulturelle Alter-Ego-Konstruktionen hervorgerufene „Lücke“ im Selbstaneignungsprozess gibt, die durch eine Ausblendung der Alterität der Binnen-Anderen einer kulturellen Gemeinschaft entsteht, werden mit Blick auf das Bestreben der Selbstkonstituierung und Selbstaneignung motivationale Beweggründe für die Ablehnung und Aufnahme interkultureller Kommunikation skizziert. Für das Individuum eröffne der Kontakt mit dem kulturell Fremden gerade durch dessen Alterität die Möglichkeit einer ausdrücklichen reflexiven Aneignung von in kulturellen Rahmungen erworbenen Identitätserfahrungen. Der Weg zur verobjektivierenden Aneignung kulturell erworbener Identitätserfahrungen, so der Autor, führe somit unweigerlich durch das Land interkultureller Differenzerfahrungen. Georg Stenger situiert sein Anliegen im Rahmen der philosophischen Selbstverständigung, wonach die Philosophie ihre Aufgabe stets darin sah, eine Art Gattungsperspektive der Menschheit zu entwerfen, die sich heute aber zunehmend in der Rolle wieder finde, selbst historisch bedingt oder kulturspezifisch zu sein. Um den Tendenzen von normativen Zuschreibungen mit Blick auf Eigenes und Fremdes und empirischen Bestandsaufnahmen nicht zu erliegen, wählt Stenger einen phänomenologischen Zugang, in dem der Zusammenhang von Begriff und Anschauung, Denken und Erfahrung hinsichtlich seiner konstitutiven Voraussetzungen bedacht wird. Dem Autor geht es entsprechend um die Konstitutionsbedingungen von Fremderfahrung, wobei sich sein Augenmerk neben der Ausweisung unterschiedlicher Erfahrungsfelder vor allem auf die Erfahrungsbewegung selbst, ihren genetischen und transformativen Grundcharakter richtet. Als leitenden Gedanken seiner Ausführungen stellt Stenger heraus, dass erst die Begegnung mit dem Fremden das Eigene als Eigenes und Vertrautes erfahren lässt. In Abgrenzung zur Absolutsetzung des „Eigenen“ plädiert Stenger für den Begriff der „Vertrautheit“, die er als Konstitutionsgeschehen versteht, das sich der Herausforderung durch das Fremde verdankt. Das Vertraute sei daher nicht einfach gegeben, sondern habe den Kontakt mit dem Fremden zur Bedingung seiner Konstituierung. In Anlehnung an Waldenfels’

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Theorem der „Steigerungsgrade des Fremdseins“ zeigt Stenger auf, dass „Fremdheit“ als „Erfahren“ und Fremderfahrung als „Antwortgeschehen“, als eine „responsive Praxis“ verstanden werden kann. Nach einem Durchgang durch „Phänomenfelder differenter Grunderfahrungen“, die mit Gegenüberstellungen westlicher und fernöstlicher Erfahrungsperspektiven illustriert werden, kommt Stenger zu dem Schluss, dass sich Vertrautes und Fremdes als beständige, aneinander wachsende Lernprozesse verstehen lassen und plädiert für eine fruchtbare, sich gegenseitig öffnende und anerkennende Dialogkultur. Hans-Christoph Koller wendet sich in seinem Beitrag der Konzeption „transformatorischer Bildungsprozesse“ zu. Im Vordergrund seiner Beschäftigung mit dieser Konzeption steht der Versuch, unter Rückgriff auf Waldenfels’ Studien zur Erfahrung des Fremden einen möglichen Umgang mit drei Grundfragen aufzuzeigen, die aus seiner Sicht von einer „Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“ zu beantworten wären. In diesem Zusammenhang äußert Koller die Vermutung, dass die Begegnung mit dem Fremden in besonderer Weise als Anlass oder Herausforderung für Bildungsprozesse verstanden werden kann. Vor diesem Hintergrund widmet sich Koller vor allem der Frage, welche typischen Problemkonstellationen es gibt, die transformatorische Bildungsprozesse herausfordern. Den Anknüpfungspunkt an Waldenfels’ Konzept der Erfahrung des Fremden sieht Koller mit Blick auf eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse vor allem darin, dass Waldenfels das Fremde als etwas versteht, von dem ein Anspruch ausgeht, der uns selbst in unserer Eigenheit in Frage stellt. Indem von Waldenfels das SichEntziehen als Aktivität des Fremden akzentuiert wird, werde deutlich, dass Bildungsprozesse angesichts der Herausforderung durch Fremderfahrungen als „responsives Geschehen“ zu begreifen sind, das auf einen vom Fremden ausgehenden Anspruch antwortet. Im zweiten Teil seines Beitrags konfrontiert Koller seine theoretischen Überlegungen schließlich mit einem literarischen Beispiel von Jeffrey Eugenides, mit dem Ziel, seine Erwägungen auf die Probe zu stellen und zu zeigen, dass die dargestellten Überlegungen auch an empirische Fragestellungen anschlussfähig sind. Mit Blick auf das Romanbeispiel, so Koller, lasse sich Bildung als das verstehen, was den Lesern des Romans aufgegeben wäre und darin bestünde, eine Antwort auf den Anspruch des Fremden zu finden. Die Frage, inwiefern kulturhistorische Formen des universalen Gruppenbezugs des Subjekts die Grundzüge der Form des Umgangs mit Fremdem vorgeben, steht im Zentrum des Beitrags von Boris Zizek. Der Autor entwickelt seine Grundhypothese anhand einer Interpretation von Daniel Defoe’s Roman Robinson Crusoe, in dem Zizek das Subjekt mit frühmoderner Gruppenbezugsform als besonders plastisch gestaltet sieht. Das Argumentationsziel des Beitrags liegt darin, Robinsons Figur

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als Antwort auf eine kulturhistorische Form des Gruppenbezugs zu beleuchten. Im Anschluss an die Analyse des Romans und der Entwicklung Robinsons zeichnet Zizek in einem zweiten Schritt die Skizze einer Theorie der Bezogenheiten des Subjekts. In Anlehnung an David Riesman unterscheidet Zizek drei Modifikationen des universalen Gruppenbezugs, von denen der „dynamische moderne Gruppenbezug“ eine letzte universale Bezogenheit des Menschen freisetze, die zuvor kulturell gebunden worden war. Abschließend leitet Zizek aus den Bewährungsfeldern, die sich aus den drei Gruppenbezugsformen ergeben, drei Grundformen des Umgangs mit Fremdem ab, die entweder durch die Tilgung des Fremden, die Immunisierung ihm gegenüber oder aber von einer Öffnung für das Fremde charakterisiert sind, die zugleich dessen Eigenart respektiert und zu erhalten trachte. Christine Kirchhoff nähert sich dem Thema des Bandes auf dem Weg einer psychoanalytischen Perspektive und versucht die Erfahrungsphänomene des Vertrauten und Fremden auf ihre innerpsychischen Voraussetzungen hin zu befragen. Ihr Anliegen besteht darin, aufzuzeigen, dass der Umgang mit Differenzen allgemein innerpsychische Voraussetzungen hat. Vom Verständnis dieser Voraussetzungen lässt sich aus Sicht der Autorin ein wichtiger Beitrag zur Klärung des Übergangs von der Differenzerfahrung zum Fremdverstehen erhoffen. Vor diesem Hintergrund wendet sich Kirchhoff zunächst Freuds Konzepten der Ödipusund Kastrationskomplexe zu, an denen sich der Autorin zufolge zeigen lässt, „wie das Subjekt am eigenen Körper die Differenz als Geschlechterdifferenz erfährt“. Gleichzeitig werden an ihnen die Schwierigkeiten offenbar, Differenz zu denken und zu erleben. In kritischer Auseinandersetzung mit Freud kommt Kirchhoff zu dem Schluss, dass nur die Anerkennung der eigenen Beschränktheit und das „Sich-Abarbeiten an den Zumutungen, die das Subjektsein bereithält“ als Voraussetzungen dafür gelten können, Differenzen nicht per se bewerten zu müssen und Raum für ein „Miteinander des Verschiedenen“ zu schaffen. Demgegenüber liege in der Nicht-Akzeptanz der eigenen Beschränktheit die Entwertung des Anderen. Die zweite Annäherung an den Themenkomplex des Vertrauten und Fremden vollzieht Kirchhoff in Auseinandersetzung mit Julia Kristeva, die vor allem das „Fremde in uns selbst“ in den Vordergrund ihrer Arbeiten gestellt hat und die Aufgabe formuliert, „das Fremde und den Fremden zu analysieren, indem wir uns analysieren“. Kristevas These, dass die Abweisung des Unheimlichen eine „Liquidierung des Fremden“ in uns zur Folge haben könnte, deutet Kirchhoff abschließend dahingehend, dass die Flucht des Einzelnen vor dem Fremden in sich oder gar dessen Bekämpfung einer Bekämpfung unseres Unbewussten gleichkomme.

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Im vierten und letzten Abschnitt des Bandes wird schließlich der Blick auf Konstruktionen der Fremdheit im Kontext empirischer Forschung gerichtet. Christine Riegel konzentriert sich in ihrem Aufsatz auf Repräsentationen des Eigenen und Fremden im interkulturellen Bildungskontext. Die Autorin beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit Problemen, die als Folgeerscheinungen der binären Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden sowie dem Fokus auf kulturelle Differenzen in pädagogischen sowie politischen Diskursen zu Integration verstanden werden müssen. Die selbstverständliche Einteilung in Fremde im Gegensatz zum „Wir“ sei mit erheblichen Gefahren verbunden. Um diese aufzuzeigen, geht Riegel der Frage nach, wie gerade im interkulturellen Bildungskontext folgenreiche Unterscheidungen und Differenzierungen vorgenommen werden. Wesentlich für Riegels Zugang ist erstens die Annahme, dass die individuelle Wahrnehmung von Fremdheit sowie Fremdheitserfahrungen bereits durch gesellschaftlich dominante Bilder, was als fremd gilt, geprägt sind und zweitens, dass solche Praxen der bipolaren Differenzierung asymmetrische gesellschaftliche Verhältnisse hervorrufen und reproduzieren. Mit Hilfe zweier Beispiele aus Unterrichtssituationen stellt Riegel Unterscheidungsmuster in der Kommunikation von Lehrern_innen dar, die sich als Praxen des „Othering“ charakterisieren lassen. Als besonders problematisch für den Bildungskontext stellt Riegel heraus, dass die hier vorgenommenen Zuschreibungen unmittelbar in pädagogische Botschaften münden und auf diese Weise die Bedeutung von verbindlichem schulspezifischem Wissen erhalten. Die Konstruktion des Fremden stelle entsprechend keinen neutralen oder egalitären Akt der Differenzierung dar, sondern eine Grenzziehung mit diskriminierender und potentiell rassistischer Wirkung. Zum Ende ihres Beitrags skizziert die Autorin Folgen der angesprochenen Unterscheidungen und formuliert Aufgaben interkultureller und rassismuskritischer Bildungsarbeit. Olga Michel thematisiert in ihrem Beitrag den medialen Umgang mit dem Thema der „Ehrenmorde“ und zeigt Kontraste zur medialen Resonanz auf sogenannte „Familiendramen“ auf. Dabei problematisiert Michel die Beobachtung, dass die als kulturell motiviert geltenden „Ehrenmorde“ offenbar auf dem Medienmarkt mehr „Wert“ besitzen als Schicksale, die auf Familiendramen zurückgeführt werden. Die soziale Kategorisierung der „fremden Ehre“ wird von Michel mit der auf Gregory Bateson zurückgehenden Theorie des sozialen Framings analysiert und auf Online-Artikel populärer Nachrichtenkanäle angewendet. Vor diesem Hintergrund rückt nicht der Fremde, sondern die Differenz und deren Verfremdung im Eigenen und durch das Eigene in den Mittelpunkt der Analyse. Soziale „Frames“ werden in diesem Zusammenhang als so-

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zial normierte, unbewusst und spontan in einer Situation aktivierbare kognitive Interpretationsschemata verstanden, die Michel mit Blick auf das Framing von sogenannten „Ehrenmorden“ und „Familiendramen“ analysiert. Die Autorin kommt dabei zu dem Schluss, dass das journalistische Framing von familiären Tötungsdelikten zu einem mächtigen Mechanismus ausgebaut wird, der stereotypisierende Bilder des Differenten produziert und die Fälle instrumentalisiert. Denn während im Umgang mit „Familiendramen“ eine Tendenz zur Rekonstruktion der Umstände von Delikten erkennbar werde, zeige sich mit Blick auf „Ehrenmorde“ die Tendenz einer Rekonstruktion der vermeintlich kulturell geprägten Täterkarriere oder der Leidensgeschichte des Opfers. Das Feld komparativer interkultureller Philosophie bildet den Gegenstandsbereich von Michael Gerhards Problematisierung des hermeneutischen Zugriffs auf fremde Kulturen. In Anlehnung an Homi Bhabas Konzept der „kulturellen Hybridität“, das „den Blick auf die Vielfalt des Anderen und dessen Verwobenheit mit dem Eigenen“ richtet, tritt Gerhard dafür ein, dass es im Fokus auf das kulturell Andere gelte, dessen Vielheit zu denken, ohne dadurch die Differenz aufzulösen. Der Autor rückt dabei den Philosophierenden als Vergleichenden selbst in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, die er vor allem auf das Anliegen einer komparativen Philosophie fokussiert. Mit Blick auf das Problem des Fremdverstehens schlägt Gerhard eine „Hermeneutik des Analogen“ vor, die von einem vorhandenen kulturellen Ineinander-verwoben-Sein im Sinne einer kulturellen Hybridität ausgeht. Der Vergleichende wird dabei nicht als Vertreter eines idealen unvoreingenommenen Standpunkts gefordert, sondern steht selber am Kreuzungspunkt von externer Bewegung, was Gerhard als „Translation“, „Transformation“ und „Transmutation“ kennzeichnet. Komparation heiße so, neue Möglichkeiten des Wirklichseins als veränderliche Erfahrung von Welt zu entdecken. So gehe es in der Komparation nicht um eine neue Metasynthese der Kulturen, sondern um eine kreative Auseinandersetzung mit anderen Denktraditionen, „so dass Neues zum translativen und transmutativen, d. h. zum lebendigen Moment in der je eigenen Kultur werden kann.“ Einem grundsätzlichen Strukturproblem des Verhältnisses zwischen Beobachtetem und Beobachter widmet sich schließlich der methodologisch akzentuierte Beitrag von Eveline Christof. Dabei stellt die Autorin das „pädagogisch reflexive Interview“ als Anregung von Bildungsprozessen in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen und verknüpft dieses mit der Methode des „methodisch kontrollierten Fremdverstehens“. Die Problematik, dass jede Interviewsituation auch als Interaktionsprozess verstanden werden muss, der den gleichen Regeln wie jede Interaktion im Alltagsgeschehen folgt, wird als methodisch schwer zu kontrollierendes Strukturproblem herausgestellt, das Christof zufolge aber aus einer bil-

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dungstheoretischen Sicht äußerst wertvoll ist, weil die Interviewsituation als „Kern von Lern- und Bildungsprozessen“ verstanden werden könne. Um in dieser Situation Strukturen subjektiven Sinns rekonstruieren zu können, werde ein Forschungsverfahren angewendet, das die Interviewten dazu bringt, ihren eigenen Alltag und ihr alltägliches Handeln einem reflexiven Prozess zu unterziehen. Dies führe zu einer „strukturelle[n] Überlagerung von Lernprozessen in Forschungssituationen, die mit sinnrekonstruierenden Methoden arbeiten“. Die Methode des „methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ trägt nach Christof dieser Verknüpfung Rechnung, indem sie sich auf die beschriebene Interviewsituation anwenden lasse und die Reflexions- und Selbstaufklärungsprozesse im Interview durch methodische Griffe unterstützen könne. Resümierend hält Christof fest, dass zwar der Eingriff in die Praxis im Sinne von Bildungsprozessen nicht das erklärte Ziel des Interviews ist, aber im Verlauf des Forschungsprozesses mit berücksichtigt werden müsse. Mit den unter den vier thematischen Hauptabschnitten versammelten Beiträgen bildet die Struktur des Bandes die Intention der Herausgeber ab, eine möglichst große Bandbreite der interdisziplinären Auseinandersetzung bei einer möglichst konzentrierten Fokussierung auf theoretische wie praktische Kernthemen des Interkulturalitätsdiskurses abzudecken. Als Herausgeber verbinden wir damit die Hoffnung, dass die in dem Band abgedruckten Beiträge Impulse und Perspektiven für einen reflektierten und fruchtbaren Umgang mit Differenzerfahrungen und Fremdverstehen geben und eröffnen können. Wir möchten uns bei allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Beteiligung bedanken. Ein weiterer Dank gilt dem „Zentrum für Interkulturelle Studien“ (ZIS) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, das mit seiner finanziellen Unterstützung maßgeblich zur Veröffentlichung des vorliegenden Bandes beigetragen hat.

Sylke Bartmann Oliver Immel

Das Spannungsfeld zwischen Ver trautem und Fremdem

Nicht das Fremde ist so fremd, sondern das Ver traute so ver traut Ein Beitrag zum Verständnis von kultureller Differenz SYLKE BARTMANN

Themenfelder wie der Umgang mit Pluralität oder auch Heterogenität haben momentan Konjunktur. Sie sind inzwischen als so genannte Querschnittsthemen in vielen modularisierten Studiengängen zu finden. Zeitweise agiert (oder reagiert) die Pädagogik und die Soziale Arbeit damit stärker in Bezug auf gesellschaftspolitische Anforderungen und eine theoretische Reflexion des Gegenstandsbereiches tritt eher in den Hintergrund. Mit dem vorliegenden Beitrag ist der Versuch verbunden, sich ein Stück weit auf Bekanntes (rück) zu besinnen und ungeachtet aktueller Debatten über (zugeschriebene) kulturelle Zugehörigkeiten sowie deren Relevanz für das gesellschaftliche Zusammenleben – deren Diskussionsrelevanz nicht bestritten wird – sich Dimensionen für ein Verständnis von (kultureller) Differenz zu erarbeiten. Hierfür tritt aber nicht das fremde Unbekannte in den Fokus der Aufmerksamkeit, sondern der Blick richtet sich ausdrücklich auf das Vertraute. Indem dessen Relevanz aus unterschiedlichen Perspektiven erarbeitet wird, erfolgt gleichzeitig eine theoretische Begründung für die Annahme, dass gerade das Vertraute konstitutiv für kulturelle Differenz ist. Diese Annahme wird in einem zweiten Schritt anhand eines Fallbeispiels zumindest exemplarisch belegt. Des Weiteren dient das Fallbeispiel als Ausgangspunkt für die Frage nach möglichen Konsequenzen im Hinblick auf interkulturelle Lernprozesse. In diesem Rahmen wird der Stellenwert des Vertrauten

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und die durch das Vertraute vermittelte Sinnhaftigkeit für den Prozess des interkulturellen Lernens thematisiert, um abschließend einige allgemeine Überlegungen für eine Konzeption interkulturellen Lernens zu formulieren.

Dimensionen des Ver trauten S.: E.: S.:

How are you? How am I in regard to what? My health, my finances, my school work, my peace of mind, my ...? (Red in the face and suddenly out of control) Look! I was just trying to be polite. Frankly, I don ´t give a damn how you are!1

Der amerikanische Soziologe Garfinkel offenbart mit dem skizzierten Beispiel die fragile Grundlage alltäglicher Kommunikation. Die obige Situation ist entstanden, weil laut Kardorff „mit der stillschweigend vorausgesetzten kulturellen Übereinkunft über den „normalen“ Ablauf alltäglicher Kommunikation“2 gebrochen wurde. Das von Garfinkel initiierte Krisenexperiment bietet damit einen Einblick in die Vorstrukturiertheit und Rahmung von Situationen. Auch in Deutschland ist die Frage „Wie gehts?“ ein sprachliches Eröffnungsritual oder dient der Bestätigung bekanntschaftlicher Verbundenheit.3 Sie ist keine Aufforderung, ausführlich zu berichten. Verstehen in konkreten Interaktionssituationen beinhaltet demzufolge ein implizites Wissen von der eigenen Sozialordnung sowie deren Regeln inklusive möglicher Abweichungstoleranzen.4 Bei dem zitierten Beispiel von Garfinkel handelt es sich um ein Krisenexperiment, ein Verfahren der Ethnomethodologie, das dem Aufspüren von Routinen und Handlungspraxen dient. Es arbeitet im Modus der Irritation, stellt also ein Instrumentarium dar, mit dem sich dem Vertrauten zugewendet wird. Als daran anknüpfendes soziologisches Grundkonzept für eine Fokussierung des Vertrauten steht der Begriff der Institution zur Verfügung. Im Anschluss an Durkheims Idee der „soziologischen Tatbestände“ definiert Esser Institution als „eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindlich Gel-

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Harold Garfinkel 1967, 45, zit. nach Ernst v. Kardorff, „Thematisches Bewußtsein als Basis lebensweltlich-handlungsbezogenen Fremdverstehens: Zu den soziologischen Grundlagen interkultureller Kommunikation“, in: J. Geringhausen/P.C. Seel (Hg.), Interkulturelle Kommunikation und Fremdverstehen, München 1983, 120-168, 137. Ebd. Vgl. Bernhard Haupert, „Soziale Arbeit als interkulturelle Vermittlung“, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 4/1994, 281-298. Vgl. ebd.

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tung beanspruchen“.5 Die Formulierung „Erwartung“ weist bereits auf das Phänomen hin, dass Institutionen als Ausdruck von internalisierten Regeln6 verstanden werden können, die dem Subjekt vertraut sind. Anknüpfend an das obige Beispiel erwartet Sprecher S. deshalb keine ausführliche Antwort, sondern die Einhaltung eines Rituals. Doch nicht nur die Erwartung, sondern auch die Geltung impliziert eine internalisierte Haltung der jeweiligen Beteiligten. Zwar beruht eine Geltung von institutionalisierten Regeln auf im gewissen Sinne externen Sanktionen,7 die bei einem Überschreiten der Regeln Anwendung finden. Darüber hinaus verfügen Institutionen aber über eine Zustimmung der Akteure in der Art und Weise, dass sie als gerecht empfunden und als sachlich richtig angesehen werden.8 Über diesen Weg werden Regeln als selbstverständlich und damit als etwas begriffen, was immer schon da war. Wird dann eine verinnerlichte institutionalisierte Regel in Interaktionen nicht eingehalten, wird also das Vertraute irritiert, so erfährt der „Verursacher“ direkt eine Sanktionierung, beispielsweise indem er für unsympathisch gehalten wird und/oder es, wie in der obigen Situation, zum Abbruch des Gespräches kommt. Institutionen bieten demnach Sinn, Ordnung und Orientierung und fungieren als Instanz zwischen Individuum und Gesellschaft. Für eine weitere Dimensionierung des Vertrauten ist relevant, dass Institutionen einerseits von Akteuren erschaffen und permanent reproduziert wurden und werden und andererseits als objektiv vorhanden erfahrbar sind. Berger/Luckmann bezeichnen dieses Phänomen als „Paradoxon“. „Der Mensch [ist] fähig, eine Welt zu produzieren, die er dann anders denn als ein menschliches Produkt erlebt.“9 Durch die erreichte Historizität ergibt sich […] eine […] entscheidende Qualität, Objektivität. Die Institutionen nämlich, welche sich nun herauskristallisiert haben […], werden als über und jenseits der Personen, welche sie ‚zufällig‘ im Augenblick verkörpern, daseiend erlebt. Mit anderen Worten: Institutionen sind nun etwas, das seine eigene Wirklichkeit hat, eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres zwingendes Faktum gegenübersteht.10

Die Formulierung „Historizität“ verweist darüber hinaus sowohl auf die Dauer als auch auf die Prozesshaftigkeit von Institutionen. Berger/Luckmann sprechen dann von einer Institutionalisierung, wenn das jeweilige 5|

Hartmut Esser, Soziologie: Spezielle Grundlagen, Band 5 Institutionen. Frankfurt a. M. 2000, 2. 6 | Vgl. ebd., 113. 7 | Als Beispiel sei die Strafgesetzgebung, Bußgeldkataloge u.ä. genannt. 8 | Vgl. Esser 2000, 8. 9 | Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1966), Frankfurt a. M. 2000, 65. 10 | Ebd., 62.

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Wissen und Tun an eine neue Generation weitergeben wird, ein Schritt, durch den sich „die Objektivität der institutionellen Welt „verdichtet“ und ‚verhärtet‘“.11 Mit der neuen Generation tritt jeweils eine Situation ein, in der nicht alle Gesellschaftsmitglieder über gemeinsam geteilte und damit in einem gewissen Sinne gleiche Erfahrungen verfügen,12 so dass ein Legitimierungsdruck entsteht: „Der ursprüngliche Sinn der Institutionen ist ihrer eigenen Erinnerung unzugänglich. Dieser Sinn muss ihnen also mit Hilfe verschiedener, ihn rechtfertigender Formeln verständlich gemacht werden“.13 Die Vermittlung der Sinnhaftigkeit verläuft laut Berger/Luckmann auf verschiedenen Legitimierungsebenen, angefangen bei einfachen Maximen, über theoretische Postulate bis hin zu expliziten Legitimationstheorien sowie symbolischen Sinnwelten.14 So bilden sich bestimmte Wert- und Weltanschauungsüberzeugungen, die – trotz der Unmöglichkeit, sie letztgültig begründen zu können – handlungsrelevant sind und pragmatisch Interaktionen ermöglichen und tragen. Diese selbstverständliche Vertrautheit weltanschaulicher Überzeugungen und Gewissheiten trägt zur Bildung von Vertrauen in sich und die Welt bei.15 Durch die jeweilige historisch-gesellschaftliche Einbettung des Individuums wird eine sozial geteilte „objektive“ Wirklichkeit ermöglicht, die durch Internalisierungsprozesse, d. h. vor allem durch Prozesse der primären und sekundären Sozialisation, zu subjektiver Wirklichkeit wird und identitätsstiftend wirkt.16 Aufgrund dieser Vertrautheiten werden sowohl Biographisierungsprozesse möglich, die das eigene Leben und die Welt sinnvoll erscheinen lassen und aus subjektiver Sicht Konsistenz und Kontinuität erzeugen als auch sinnvolles Handeln, Handlungsentscheidungen und gelingende Interaktionen.

Eine erste Annäherung an die Situation kultureller Dif ferenz Mit dem soziologischen Konzept der Institution sind einige wesentliche Aspekte aufgeführt, die auch in der Diskussion um die Relevanz von Kultur sowie für den Versuch einer Beantwortung der Frage, inwieweit die Zugehörigkeit zu einer Kultur eine Zuschreibung impliziert, eine Rolle

11 | Berger/Luckmann, 63. 12 | Die Vorstellung, dass Mitglieder einer Gesellschaft über gleiche Erfahrungen 13 14 15 16

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verfügen, ist bei Berger/Luckmann eine fiktive Annahme, mit der der Schritt der Weitergabe an die nächste Generation betont wird. Berger/Luckmann, 2000, 66. Vgl. ebd., 98ff. Vgl. www.bildungsvertrauen.de Vgl. Berger/Luckmann 2000, 49ff., 139ff.

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spielen.17 Kultur kann als ein universales, für eine Gesellschaft, Nation, Organisation und Gruppe sehr typisches Orientierungssystem betrachtet werden. Das Orientierungssystem manifestiert sich in spezifischen Symbolen, wird in der jeweiligen Gesellschaft, Nation usw. tradiert und beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln der Mitglieder. „Kultur als Orientierungssystem strukturiert ein für die sich der Gesellschaft zugehörig fühlenden Individuen spezifisches Handlungsfeld und schafft damit die Voraussetzungen zur Entwicklung eigenständiger Formen der Umweltbewältigung.“18 Die mit den Termini Institution und Kultur verbundenen Konzepte sind dabei beide keine eindeutig geklärten, der Kulturbegriff aber der wohl am stärksten diskutierte.19 Insbesondere wird ein Verständnis von Kultur kritisiert, in dem diese nicht als dynamisch, sondern als singulär voneinander unterscheidbar und damit eher statisch aufgefasst wird.20 Auch wenn die bisherigen Ausführungen über Institutionen für die Diskussion um ein Verständnis von Kultur bzw. für den Umgang mit Kultur fruchtbar gemacht werden könnten, beispielsweise indem Regeln und Werte zwar als „verhärtet“, aber dennoch prozesshaft verstanden werden, so ist diese Ebene der Verknüpfung hier nicht von Interesse. Vorrangiges Anliegen ist es, einen Beitrag zum Verständnis kultureller Differenz zu erarbeiten. Dafür wird ein Verbleib des Fokus auf die Situation kultureller Differenz für notwendig erachtet – man könnte auch sagen, sie wird durch eine Lupe betrachtet. Ausgangspunkt hierfür ist die Frage, wieso kulturelle Prägungen sich – positiv formuliert – oftmals als sehr stabile und als sinnhaft erfahrene Ordnungs- und Orientierungsmuster erweisen, die nicht einfach verändert werden können. Aus institutionstheoretischer Perspektive kristallisiert sich als erste mögliche Antwort der Grad der Internalisierung, also das Vertrauen in das (reproduzierte) Vertraute heraus. Darüber hinaus bietet der vorgestellte Ansatz die Option, kulturelle Prägung und letztlich ebenso kulturelle Differenz stärker vom Subjekt aus zu betrachten. „Das Individuum als Handlungssubjekt erweist sich […] als ‚Träger‘ der Kultur und als die entscheidende Instanz, das die Kultur prozesshaft immer wieder neu hervorbringt und ‚am Leben erhält‘.“21 Wird – wie hier angedeutet – kulturelle Differenz mit der Ebene des subjektiven Bewusst17 | Siehe hierzu auch den Beitrag von Christine Riegel im vorliegenden Band. 18 | Alexander Thomas, „Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns“, in:

ders. (Hg.), Kulturvergleichende Psychologie, Göttingen 1993, 377-424, 380.

19 | Siehe hierzu auch den Beitrag von Andreas Vasilache im vorliegenden Band. 20 | Vgl. zur Kritik Lars Allolio-Näcke/Britta Kalscheuer/Arne Manzeschke, Dif-

ferenzen anders denken: Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt a. M., 2005. 21 | Thomas Luckmann 1989, 34, in: Jochen Dreher/Peter Stegmaier, „Einleitende Bemerkungen: ‚Kulturelle Differenz‘ aus wissenssoziologischer Sicht“, in: dies. (Hg.), Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz: Grundlagentheoretische Reflexionen, Bielefeld 2007, 7-20, 12.

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seins verknüpft, so kann in einem weiteren Schritt gefragt werden, wie das praktische Tun intersubjektiven Verstehens ausbuchstabiert werden kann.

Intersubjektives Verstehen auf Basis des Ver trauten Als ein weiteres soziologisches Konzept, das für die hier vorgeschlagene Perspektive hilfreich sein kann, erweist sich das von Alfred Schütz formulierte Postulat der Generalthesis des Alter Ego. Es besagt, dass der Mensch in eine bestehende Sozialwelt hineingeboren wird und dass er die Existenz seiner Mitmenschen als fraglos gegeben hinnimmt. Der Mensch geht in seinem alltagsweltlichen Handeln von der Einsicht und der Annahme aus, dass andere Menschen ebenfalls ein Bewusstsein besitzen, welches dauerhaft ist und von seinem Wesen her dem eigenen Bewusstsein gleicht. Schütz entwickelt zunächst die Konstituierung von Sinn und den Aufbau von sinnhaftem Handeln bei einem einzelnen Menschen, den er das „einsame Ich“22 nennt. Laut der Generalthesis des Alter Ego wird all das, was für das einsame Ich in Bezug auf seine Handlungen und den damit verbundenen Sinn gilt, dem Du in gleicher Weise unterstellt. Alfred Schütz’ Ausführungen über den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt implizieren die Grundlegung eines Konzepts des Fremdverstehens für die Sozialphänomenologie und im Kern beschäftigt er sich mit den Bedingungen zur Herstellung von Intersubjektivität. Dementsprechend bietet dieser Ansatz auch die Möglichkeit, kulturelle Differenz in Verknüpfung mit der Ebene des subjektiven Bewusstseins zu fokussieren. Zwar spricht Schütz nicht explizit von Kulturen, aber letztlich liegt hierin genau das Potenzial für die Erarbeitung eines Verständnisses von Differenz, da zunächst unabhängig von jeglicher Auffassung von Kultur das Augenmerk auf den Vollzug intersubjektiven Verstehens oder wie Schütz es formuliert, auf den Prozess des Fremdverstehens gelenkt werden kann. Für diesen Prozess ist relevant, dass laut Schütz der Verstehensakt als in Selbstauslegung des Deutenden sich vollziehend konzipiert ist. Zu beachten ist dabei die wesensmäßige Unterscheidung zwischen dem vom Du gemeinten Sinn und dem vom Ich erfassten Sinn eines Erlebnisses vom Du. Gemeinter Sinn konstituiert sich im Bewusstsein des Alter Ego durch den Prozess der Selbstauslegung. Dieser gemeinte Sinn ist für jemand anderen nicht umfassend wahrzunehmen. Damit ist das 22 | Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1932), Frankfurt a. M

1974, 47.

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Wahrgenommene nicht etwa sinnlos, es ist aber nicht der gemeinte Sinn, der wahrgenommen wird. Verstehen beinhaltet also immer auch NichtVerstehen. Zu fragen bleibt, wie vor dem Hintergrund dieser Grundannahme der Prozess des Fremdverstehens konkretisiert werden kann. Zur Bearbeitung dieser Frage werden im Folgenden einige ausgewählte Aspekte des Fremdverstehens sensu Schütz thematisiert. Dabei wird aufgezeigt, dass nicht die Erschließung des Unbekannten, sondern die Deutung des Vertrauten konstitutiv für das Tun intersubjektiven Verstehens ist. Ausgangspunkt ist, dass die Handlung einer Person (Du) von einer anderen Person (Ich) durch „das Medium des fremden Leibes als Ausdrucksfeld des fremden Erlebens“23 aufgefasst und erlebt wird. Diese äußerliche Wahrnehmung des Anderen verbleibt aber für das Ich nicht bei der Beobachtung einer Bewegung vom Du, sondern wird durch die Selbstauslegung des Ich sinnhaft gedeutet. Für den Vorgang der vom Ich geleisteten Sinndeutung ist zunächst die Annahme Voraussetzung, dass die beobachteten Handlungsweisen vom Du auf dessen Bewusstseinstätigkeiten verweisen beziehungsweise diese repräsentieren. Diese Annahme unterstellt demzufolge, dass die eigene vertraute Bewusstseinstätigkeit dem Du in gleicher Weise bekannt und möglich ist. Zu beachten ist, dass das eigene Erlebnis immer nur in reflexiver Zuwendung als ein bereits stattgefundenes gesehen werden kann, hingegen wird das Erleben eines fremden Erlebnisses durch Hinsehen und in seinem Ablauf wahrgenommen. Die eigene Dauer und die des fremden Erlebnisses stehen dabei in Gleichzeitigkeit zueinander, was Schütz als das „Phänomen des Zusammenalterns“24 bezeichnet und das für ihn konstitutiv für den Kern aller Sozialbeziehungen ist. Die Gleichzeitigkeit ist „Ausdruck für die wesensnotwendige Annahme einer mit der meinen gleichartigen Struktur der Dauer des Du“.25 Ihr Erleben führt demzufolge zu der Unterstellung des Vertrauten, auch wenn sich die Welten nicht gleichen. Denn trotz des „Phänomens des Zusammenalterns“ beinhaltet das vom Ich dem Du Zugeschriebene immer einzig die Sinnzusammenhänge vom Ich. Die Selbstauslegung eigener Erlebnisse vollzieht sich aus dem Gesamtzusammenhang der eigenen Erlebnisse und der damit konstituierten Sinnzusammenhänge. Dies gilt andersrum gedacht genauso für das Du. Das Ich erfasst aber (vom Du), „die fremde Dauer in diskontinuierlichen Segmenten und niemals in Vollständigkeit, sondern nur in ‚Auffassungsperspektiven‘“.26

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Ebd., 140f. Ebd., 144. Ebd. Ebd., 148.

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Schütz selbst hält den Begriff vom Sinnzusammenhang für zu vage und will in die Strukturzusammenhänge vom „echten Fremdverstehen“27 vordringen. In der bisherigen Auffassung vom Fremdverstehen wurde das Erleben des Anderen im Kern – wie andere Gegenständlichkeiten der sozialen Welt – als (bekannter) Gegenstand aufgefasst. „Echtes Fremdverstehen“ kennzeichnet, vereinfachend ausgedrückt, einen Blick, der auf das Handeln und die mit dem Handeln verbundenen Setzungen gerichtet ist. Dies soll anhand des bereits von Garfinkel gewählten Beispiels verdeutlicht werden: A sagt zu B „Wie geht’s?“. Der Blick des Beobachters kann gerichtet sein 1.

auf die Leibesbewegungen des Sprechenden. Dies führt zu der Feststellung, dass er ein Nebenmensch ist, seine Bewegungen werden als Handeln interpretiert.

2.

auf die akustische Wahrnehmung der Laute. Dies führt zu der Erkenntnis, dass die wahrgenommenen Laute von A kommen.

3.

auf die spezielle Artikulation des akustisch Wahrgenommenen. Dabei kommt es zu der Interpretation, dass es sich um Worte einer Sprache handelt, auch wenn sie selbst nicht beherrscht wird.

4.

auf das Wort, welches als Zeichen eines Zeichensystems erkannt wird. „Wie geht’s?“ würde der deutschen Sprache zugeordnet werden.

Alle vier Möglichkeiten sind Selbstauslegungen. „Echtes Fremdverstehen“ findet erst dann statt, wenn nach dem „okassionalen Sinn [...], wofür also das Zeichen, für den, der es gebraucht, Zeichen ist“28 gefragt wird. Demzufolge bezieht sich „echtes Fremdverstehen“ auf die Wortbedeutung, die gleichzeitig als ein Anzeichen für die Bewusstseinsvorgänge des Sprechenden interpretiert wird. Nach der Wortbedeutung zu fragen beinhaltet zwei Aspekte: (1) Was meint er damit? (den subjektiven Sinnzusammenhang) (2) Was meint er damit, dass er es jetzt und hier kundtut? (Motiv) Doch auch wenn die Fragen die Ebene der Bewusstseinserlebnisse („echtes Fremdverstehen“) fokussieren, so können sie erst dann in die Deutung hineingenommen werden, wenn das vernommene Wort vom Ich in Selbstauslegung erfasst wurde. Die Äußerung „Wie geht’s“, mit der das Krisen27 | Schütz 1974, 151. 28 | Ebd., 155.

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experiment von Garfinkel begann, wurde in ihrem okassionalen Sinn von dem Gesprächspartner in Selbstauslegung ignoriert. Demzufolge gilt auch für die Erfassung der Wortbedeutung, „daß also alles echte Fremdverstehen auf Akten der Selbstauslegung des Verstehenden fundiert ist“.29 Obgleich Kommunikation dementsprechend von Selbstauslegung gekennzeichnet ist, funktioniert in der Regel die alltägliche Verständigung. Auf die Frage, wie sie funktioniert, sei als ein Erklärungsansatz an die von Schütz formulierten Generalthesis des Alter Ego erinnert und damit an die Auffassung einer strukturellen Ähnlichkeit der Sinnsetzungsakte sowie die Annahme einer Sinnhaftigkeit im Tun des Anderen. Die Herstellung eines Sinnzusammenhangs erfolgt dabei über Typisierungen, 30 die, insofern sie sich im Tun bewährt haben, zur Gewohnheit und vertrauten Wirklichkeit werden. Beobachtete Handlungen werden dabei in Beziehung zu typisierten eigenen Erfahrungen gesetzt und die Bewusstseinserlebnisse des Anderen werden phantasierend nachvollzogen: „Wir entwerfen also das fremde Handlungsziel als Ziel unseres eigenen Handelns und phantasieren nun den Hergang unseres an diesem Entwurf orientierten Handelns.“31 Oder es findet eine Reproduktion von Erlebnissen eigenen Handelns statt, dessen Handlungsziel mit dem des Beobachteten identisch zu sein scheint oder auch tatsächlich ist. Das Ich wird an die Stelle des Handelnden gesetzt.

„Echtes Fremdverstehen“ im Kontext kultureller Dif ferenz Wird das Tun intersubjektiven Verstehens nun auf eine – wie Thomas sie bezeichnet – „kulturelle Überschneidungssituation“32 bezogen, in der – in Anlehnung an Luckmann – „Träger“ von Kulturen agieren, so findet sich auch hier die Annahme von Bewusstseinsvorgängen des jeweiligen Anderen, die in Selbstauslegung gedeutet werden. Dazu ein Beispiel:33 Susan besucht ihre deutsche Brieffreundin Heike zum ersten Mal zu Hause. Am Abend des ersten Tages sagt Susan zu Heike: „Kannst du mir 29 | Ebd., 156. 30 | Typisierungen sind Bestandteil des zuvor skizzierten Institutionalisierungspro-

zesses.

31 | Schütz 1974, 158. 32 | Alexander Thomas, „Das Eigene, das Fremde, das Interkulturelle“, in: Alexan-

der Thomas/Eva-Ulrike Kinast/Sylvia Schroll-Machl (Hg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation, Band I: Grundlagen und Praxisfelder, Göttingen 2003, 44-59, 44. 33 | Die Idee für das obige Beispiel ist der wissenschaftlichen Begleitung zum FSDEuropa entnommen (vgl. Bernhard Haupert/Bernt Schnettler, Ausreißer, Heimatlose, Suchende und Karriereplaner: Eine Untersuchung zum Freiwilligen Sozialen Dienst in Europäischen Ausland, unveröffentlichtes Manuskript, Wustweiler/Konstanz 1996, 38).

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die Schlüssel von deinem Auto geben, ich möchte in die Stadt fahren?“ Heike, die sich von der Mutter das neue Auto geliehen hatte, um Susan vom Flughafen abzuholen, ist überrascht und verärgert über die unverständliche Forderung ihrer Freundin. In Bezugnahme auf die Ausführungen von Schütz zeigt sich, dass der Sinnsetzungsakt der anderen auf der Grundlage des eigenen Deutungsschemas interpretiert wurde. Susan spricht zwar deutsch, denkt aber US-amerikanisch. Sie sagt „Auto“, meint jedoch „car“ und das ist für sie nichts anderes als ein Fortbewegungsmittel und zwar das naheliegendste und verfügbarste. Heike versteht jedoch „Auto“, welches für sie ein Statussymbol mit hoher Bindung an das Individuum bedeutet. Das Auto ist eine Verlängerung ihrer Intimsphäre, bzw. der ihrer Mutter, und deshalb ist die Verleihbarkeit problematisch. Die Sinnsetzende und die Sinndeutende verfehlen demnach ihre Entwürfe. Die von ihnen gesetzten beziehungsweise gedeuteten Zeichen werden nicht mit dem jeweiligen verbundenen okkasionalen Sinn verstanden. Die interkulturelle Kommunikation ist gescheitert, weil sich am jeweiligen Vertrauten orientiert wird und ein defizitäres Vorwissen über das Du und dessen Deutungsschema vorhanden ist. Die Feststellung eines defizitären Vorwissens könnte nun gedankenexperimentell zum Umkehrschluss führen, dass bei ausreichendem Vorwissen interkulturelle Kommunikation im Sinne eines Akts des Fremdverstehens funktioniert. In der Annahme, dass das Fremde so fremd ist, läge hier der zielgerichtete Fokus auf dem Unbekannten, das es zu erschließen gilt. Gleichzeitig offenbart dieses Gedankenexperiment die Unmöglichkeit dieses Vorhabens. Ein gesättigtes Wissen über das Unbekannte kann es nicht geben, da es im Kern unendlich ist. Des Weiteren impliziert die Fokussierung des Fremden ein Verständnis von Kultur, in dem diese als statisch begriffen wird. Ansätze und Programme im Kontext interkulturellen Lernens oder in der Vermittlung von interkultureller Kompetenz arbeiten des Öfteren mit einer Perspektive auf das Fremde. Als integrierter Bestandteil kann dies möglicherweise auch sinnvoll sein. Eher selten findet sich aber eine konsequente Sichtweise auf das Vertraute als konstitutives Moment kultureller Differenz. Deshalb wird im Folgenden der Versuch unternommen, das bisher Erarbeitete in Bezug zu interkulturellen Lernprozessen zu setzen. Interkulturelles Lernen wird hierbei als ein Prozess verstanden, der erfahrungsbasiert zu einem wenn auch immer noch nicht vollständigen Vorwissen im Sinne Schützes führen kann, indem neue Erfahrungen über Typisierungen Teil einer vertrauten Wirklichkeit werden können. Diese Erweiterung eigener Sinnzusammenhänge kann – wie bereits in den dargestellten theoretischen Bezügen angedeutet – durch die Hinwendung zum Vertrauten und durch die Annahme einer Sinnhaftigkeit des Unbekannten unterstützt werden.

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Eine Konkretisierung dieser Elemente interkulturellen Lernens wird im Folgenden anhand eines Fallbeispiels verdeutlicht und in einem letzten Schritt wird der Versuch unternommen, mögliche Verallgemeinerungen im Hinblick auf Konzeptionen interkulturellen Lernens zu formulieren.

Interkulturelle Lernprozesse – ein Fallbeispiel Das Fallbeispiel bezieht sich auf eine 21jährige Frau, die in Deutschland sozialisiert wurde und im Rahmen eines Freiwilligenprogramms für ein Jahr auf Gran Canaria in einem sozialarbeiterischen Projekt für so genannte illegale Einwanderer und Flüchtlinge arbeitete.34 Anhand unterschiedlich gelagerter Situationen erfahrener Differenz, die darüber hinaus zeitlich nacheinander liegen, werden zum einen der Umgang mit Differenz und zum anderen die darin eingebetteten Lernprozesse aufgezeigt. Die erste Irritation wird gleich zu Beginn des Aufenthaltes beim Ankommen erfahren. „Und bin halt mit den Gedanken hingegangen (1) es wird schon werden so phf weil ich hab immer gedacht, ich hätte gar nicht so große Ansprüche und von daher wird wohl nicht so schwer sein und dann ich mein im Laufe der Vorbereitung ähm ist uns ja auch nahgelegt worden, dass wir offen für alles sein sollten, komme was wolle (lacht) und hab dann aber doch nich damit gerechnet, dass es mich trifft (Z. 404-409).“ Die von der Interviewten hier angekündigte unerwartete Situation beinhaltet, dass sie bei ihrer Ankunft in einem Doppelzimmer mit einer anderen deutschen Teilnehmerin untergebracht wird. „Es war für mich ne Situation, die einfach nich zu tragen war, weil ähm ich war halt 21 und ich hab gedacht ich hät es einfach nich mehr nötig (Z. 430f.).“ Die sich hier abzeichnende Differenz in Form einer Erwartung, die auf eine vorgefundene nicht nachvollziehbar geltende Gegebenheit trifft, betrifft sie als ganze Person, da aus ihrer Sicht, die eigene Autonomie in Frage gestellt wird. Die Situation wird später wie folgt reflektiert: „Bin mir nachher auch nen bisschen arrogant vorgekommen […] mit meinm deutschen Anspruch […] nachher ist mir halt aufgegang. […] das es halt äußerst üblich ist und das es wahrscheinlich auch zur spanischen Lebensart gehört (Z. 449-454).“ In der Bearbeitung der Situation zeigt sich eine Vergegenwärtigung von Differenz, die auf unterschiedliche Gewohnheiten zurückgeführt wird. Der persönliche Anspruch „Einzelzimmer“ erfährt eine Einordnung als ein vertrauter kultureller Wert, der reflektiert und dadurch in seinem Geltungsanspruch in Frage gestellt werden kann. Demzufolge 34 | Das Interview wurde fünf Monate nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im

Rahmen einer wissenschaftlichen Begleitung des Freiwilligenprojektes erhoben (vgl. zur wissenschaftlichen Begleitung Haupert/Schnettler 1996).

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existiert ein grundsätzliches Verständnis von Kultur bzw. von kultureller Prägung. Die vorgefundene Wohnsituation wird dann als für andere gleichfalls vertraut („äußerst üblich“) begriffen. Diese Zuordnung reicht aus, um einen Umgang mit der erfahrenen Differenz zu finden. Inwieweit das Vorgefundene und für andere Menschen Vertraute Teil der spanischen Kultur ist, bleibt hierbei vage („wahrscheinlich“) und ist daher für die Erarbeitung einer eigenen Haltung eher zweitrangig. Der neu erlebten Alltagspraxis kann eine Sinnhaftigkeit unterstellt werden, ohne über ein abgesichertes Wissen bezüglich kultureller Standards zu verfügen. Die hier zum Vorschein tretende Annahme oder Unterstellung von Sinnhaftigkeit stellt eine Haltung dar, die für den weiteren Verlauf des Auslandsjahres von zentraler Bedeutung ist. Ein Arbeitsbereich der Interviewten ist ein Gefängnis, in dem Inhaftierte ohne vorherige Anklage festgehalten werden. Dies wird von der Interviewten nicht bewertet oder hinterfragt, sondern ihr Agieren ist darauf ausgerichtet, herauszufinden, wie sie sich in dem vorgegebenen Orientierungsrahmen bewegen kann. Dementsprechend stellt sich für sie hier die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Regeln und Praktiken nicht, sondern diese wird – auch wenn sie nicht erkennbar gegeben ist – als vorhanden begriffen. Darüber hinaus finden sich aber auch Situationen, in denen eine Anpassung in der gerade skizzierten Weise nicht möglich ist. So trifft die Interviewte beispielsweise auf „auch nen Unverständnis jetzt zur meiner Per- Position, weil weshalb ich aus Deutschland komme wo ich doch da alles habe und ein Jahr da […] arbeite […] war für viele ziemlich unverständlich (Z. 589-592)“. Die hier erfahrende Differenz ist eine bleibende, da die Position, anders und fremd zu sein, nicht im Sinne einer Anpassung zu bearbeiten ist. Auch in dieser Situation wird sich die Bewusstwerdung eigener kultureller Prägung erarbeitet: „sich überall für zu interessieren, was ja in Deutschland ziemlich groß geschrieben wird (Z. 583)“. Diese Bearbeitung ist somit zunächst gepaart mit einer Bereitschaft oder Akzeptanz, die Fremde zu bleiben. Indem das Fremde dann aber durch das bisher (deutsche) Vertraute inhaltlich bestimmt und mit der eigenen Person verbunden werden kann, findet sich ein Umgang mit dem Gefühl des Fremdseins. Kulturelle Prägung wird – wie bereits in der zu Beginn skizzierten Wohnsituation – gleichzeitig als Teil der eigenen Person verstanden. Insgesamt wird der einjährige Auslandsaufenthalt positiv bilanziert, da ein Einleben erreicht werden konnte. „Ja dann bin ich halt zuerst zu – ziemlich unglücklich da gewesen bin aber dann doch geblieben bis ich mich nachher dran gewöhnt hab und echt gut eingelebt hab (Z. 464-466).“ Neben den hier zum Ausdruck kommenden Anpassungsleistungen, die zu erbringen waren, zeigt sich eine grundsätzliche Haltung, diejenige zu

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sein, die sozusagen hinzu kommt („gewöhnt hab“), eine Einstellung, die ihr letztlich das Einleben erst ermöglicht.

Fazit In dem am Fallbeispiel skizzierten Prozess finden sich insgesamt zwei Paradoxien, die verallgemeinert als mögliche Ansätze für ein Verständnis und für eine Konzeption interkultureller Lernprozesse hilfreich sein können. 1. Indem vertraute kulturelle Werte und Praxen auf die eigene Person bezogen und somit persönlich erfahren werden, können interkulturell bedingte Schwierigkeiten letztlich im Abstand zur eigenen Person verstanden werden. Interkulturelle Probleme verbleiben nicht auf der persönlichen Ebene, so dass Handlungsalternativen u. ä. leichter in den Blick geraten. 2. In der Annahme, fremd zu sein und potentiell auch zu bleiben, wird gleichzeitig eine dazugehörige Differenz anerkannt. Aus diesem Abstand heraus ist es der Person eher möglich, sich einzuleben und damit auch affektiv Zugehörigkeit zu erfahren. Den bisherigen Ausführungen folgend können darüber hinaus zwei Aspekte genannt werden, denen ein zentraler Stellenwert für den Prozess des interkulturellen Lernens zukommt: erstens eine Hinwendung zum Vertrauten und zweitens die Annahme einer Sinnhaftigkeit des nicht Bekannten. Die Fokussierung des Vertrauten findet sich ansatzweise in der Anforderung eines Bewusstwerdens eigener kultureller Prägung sowie der Bereitschaft, diese zu reflektieren. Diese Schritte oder Stufen finden sich in einigen interkulturellen Lernkonzepten,35 oftmals aber stärker im Kontrast zu dem Fremden gedacht. Die hier realisierte Herleitung über den Institutionsbegriff sowie die Darstellung des Fallbeispiels hatte daher auch die Funktion, die Relevanz dieser Perspektive als Voraussetzung und ersten entscheidenden Schritt für interkulturelles Lernen zu verdeutlichen. Auch wenn dies im Fallbeispiel möglicherweise „einfach“ gelang, so ist diese Hinwendung nicht unproblematisch, wie ein Satz von Norbert Elias verdeutlicht: „Um die Besonderheit des eigenen nationalen Habitus wahrzunehmen, bedarf es einer spezifischen Anstrengung der

35 | Vgl. stellvertretend Georg Auernheimer, Einführung in die interkulturelle Päd-

agogik, 3. neu bearb. u. erw. Auflage, Darmstadt 2003, 124ff.

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Selbstdistanzierung.“36 Um Missverständnissen vorzubeugen sei dazu angemerkt, dass hier nicht die Feststellung einer eindeutigen Kulturzugehörigkeit anvisiert wird, sondern dass der Begriff des Vertrauten gerade die Möglichkeit offen hält, diese Zugehörigkeit angesichts der eigenen Biographie und der erfahrenen Sozialisation zu klären. In der Ausbuchstabierung der Situation von (kultureller) Differenz im Rahmen der Herstellung von Intersubjektivität zeigte sich, dass die Wahrnehmung, Deutung und Bewertung des Fremden sowie der Umgang mit Irritationen entscheidende Schnittstellen im Prozess des Fremdverstehens darstellen. In Anknüpfung an Alfred Schütz kann gesagt werden, dass der Umgang mit Irritationen (die es nicht per se zu verhindern gilt) im Sinne eines echten Fremdverstehens in der Unterstellung der Sinnhaftigkeit des Unbekannten liegt, unabhängig davon, ob sich der Sinn aktuell erschließen lässt oder nicht. Auch im Fallbeispiel konnten Situation gemeistert werden, indem eine Akzeptanz vor dem Verstehen erfolgte. Gerade wenn erlebte Verhaltensweisen oder Begebenheiten einem unerklärlich erscheinen, gilt es, ihnen ebenso einen Sinn zu unterstellen und sie als eine mögliche Variante von Lebenspraxis anzuerkennen.

36 | Norbert Elias, Studien über die Deutschen: Machtkämpfe und Habitusentwick-

lung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1989, 7.

Fremdverstehen als Gestaltung von Kultur? Interkulturelle Hermeneutik im Kontext von Sozialtheorie und Kulturphilosophie SABINE SANDER

Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam, oder vielmehr glitt, so leicht wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: „Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.“ Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan. Warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will? Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unseren Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf.1

Franz Kafkas nachgelassene Parabel Gemeinschaft verdeutlicht, wie willkürlich und absurd die gesellschaftlichen Mechanismen der Inklu1|

Franz Kafka, „Gemeinschaft“ (1920), in: ders., Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Erzählungen aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 1953, 313f.

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sion und Exklusion oftmals wirksam sind. Geschichtlich lässt sich zeigen, dass bei der Konstruktion von Gemeinschaft Sprache eine wichtige Rolle spielt – und dies nicht erst in den Nationalstaatstheorien des 19. Jahrhunderts. Bereits in antiken Quellen galten als Fremde – bárbaroi – diejenigen, die sich in einer den Hellenen unverständlichen Sprache ausdrückten.2 Der Zusammenhang von Sprachverstehen und Fremdverstehen war früh gestiftet und drückt sich in alltäglichen Redewendungen sinnfällig aus: „Das kommt mir spanisch vor“, sagt jemand, dem etwas unverständlich ist, oder es ist die Rede von „böhmischen Dörfern“ und auch das „Buch mit sieben Siegeln“ beinhaltet die Vorstellung eines Zusammenhangs von Sprache und Verstehen. Identitätsbildung rankt um die Mechanismen Inklusion und Exklusion, durch welche das Eigene profiliert werden kann.3 Reinhart Koselleck hat solche Distinktionen auch in den Gegensatzpaaren Hellenen und Barbaren, Christen und Heiden, Wilde und Zivilisierte oder Kultur und Barbarei ausgemacht.4 Sobald Fremdes ins Wahrnehmungsfeld eindringt, setzt Hermeneutik ein. Verstehen ist ein weit gefasster Begriff, der einerseits auf Zeichen und kulturelle Artefakte, andererseits aber auch auf das Ausdruckshandeln anderer Menschen gerichtet sein kann. In beiden Fällen soll etwas nicht Vertrautes in etwas Bekanntes oder Sinnerfülltes transformiert werden. Auch wenn der etymologische Zusammenhang nicht als gesichert gilt, so erinnert der Begriff Hermeneutik an Hermes, der in der griechischen Mythologie die Botschaften der Götter zu den Menschen brachte, also eine Information aus der einen Welt in die andere trug. In phänomenologischen Studien wird Fremdes als Relationsbegriff gefasst – es ist kein ontischer Substanzbegriff, sondern eine Kategorie, die ausgehend vom Eigenen konstruiert wird. Das Fremde ist daher historisch, kulturell, sozial und politisch variabel.5 Diesem Umstand ist es auch geschuldet, dass Fremderfahrung und Fremdverstehen in kulturphilosophischer und sozialtheoretischer Perspektive reflektiert werden müssen. Erstens sollen die geschichtlichen Hintergründe für die im 20. Jahrhundert vielfach angemeldete Skepsis gegenüber Modellen des Fremdverstehens erkundet und abgemildert werden. Zweitens sollen die Begriffe der, die und das Fremde durch Abgrenzung von verwandten sozialtheoretischen Kategorien in systematischer Absicht erfasst werden. 2| 3| 4| 5|

Jürgen Trabant, Mithridates im Paradies: Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München 2003, 24. Vgl. hierzu auch Zygmunt Baumann, Verworfenes Leben: Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005. Reinhart Koselleck, „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“, in: ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 211-259. Vgl. Bernhard Waldenfels, Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bde. 1-4, Frankfurt a. M. 1998-99.

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Drittens soll gezeigt werden, dass Fremdverstehen trotz des geschichtlich bedingten Zusammenhangs von Fremderfahrung und Herrschaftspraktiken nicht vorschnell mit Aneignung oder Auslöschung des Fremden identifiziert werden muss. Fremdes und Vertrautes sind kein übergangsloses Oppositionspaar, sondern wechselseitig changierende Größen. Fremdverstehen ist ein Akt der poeisis, der zur conditio humana gehört. Dieser schöpferische Akt soll anhand verschiedener kultur- und sozialtheoretischer Konzepte erkundet werden, so an Johann Friedrich Herbarts Apperzeptionstheorie, Edith Steins Theorie der Einfühlung, Ernst Cassirers symboltheoretischen Prämissen und Alfred Schütz’ Konzept des Fremdverstehens. In einem Ausblick sollen die Grenzen des Fremdverstehens angerissen werden: Gelten die kulturphilosophischen und sozialtheoretischen Modelle nur für intrakulturelle oder auch für interkulturelle Verstehensprozesse? Gibt es Brücken des Verstehens zwischen verschiedenen Lebenswelten oder sind diese einander inkommensurabel? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob es wünschenswerte Grenzen des Verstehens gibt.

Die „Entdeckung“ des Fremden Die Entdeckung und Auseinandersetzung mit den kulturell Fremden ist in historischer Perspektive aufs Engste mit der abendländischen Kolonialgeschichte verbunden. In den vierzig Jahren zwischen der Entdeckung Amerikas 1492 durch Christoph Kolumbus über die Eroberung des Aztekenreiches durch Hernán Cortez 1516 bis zu Francisco Pizarros 1532 erfolgtem Vormarsch ins peruanische Inkareich hat sich das Gesicht der Welt verändert: Mit dem Zeitalter des Kolonialismus begann die blutige Geschichte des Vormarschs der abendländischen Kultur, christlichen Religion und europäischen Sprachen in die Neue Welt – verbunden mit der Unterdrückung, Versklavung und Ausrottung der Indios und ihrer Kultur.6 Diesem geschichtlich wirkungsmächtigen Zusammenhang von Fremderfahrung und Konquista dürfte es auch geschuldet sein, dass Konzepte des Fremdverstehens im 20. Jahrhundert oft in einem problematischen Licht erscheinen. Abhandlungen über Fremde und die Genese der Ethnologie wurden nie in einem herrschaftsfreien Diskurs entfaltet. Eine kritische Aufarbeitung der Konquista begann umfänglich erst mit der Entkolonialisierung in den siebziger Jahren. Dieser Befund darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass es bereits Mitte des 16. Jahrhunderts eine theologische, philosophische und juridische Kontroverse über 6|

Vgl. u. a. Eduard Sieber, Kolonialgeschichte der Neuzeit: Die Epochen der europäischen Ausbreitung über die Erde, Bern 1949.

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die Legitimität der Eroberungspolitik gegeben hat; die Aufregung um die Entdeckung der fremden „Wilden“ war im damaligen Europa groß und die Fremderfahrung, welche die Bewohner der Alten mit denen der Neuen Welt machten, eine präzedenzlose. Jene frühen Zeugnisse über Indigene schwärmen einerseits vom El Dorado, aber beschreiben andererseits die Ureinwohner als Kannibalen und sexuell ungezügelte oder inzestuöse Wilde – eines der epochemachenden Werke war De orbe novo von Petrus Martyr von Anghiera, zu dessen Berichterstattern fast alle bedeutenden Entdecker der Zeit gehörten – Christoph Kolumbus, Vasco N. de Balboa, Ferdinand de Magellan, Hernán Cortez, Amerigo Vespucci und Martin F. de Encisco. Anghieras Verschriftlichung von Augenzeugenberichten aus der Welt der Wilden könnte kaum drastischere sprachliche Bilder ausmalen: Eine schreckliche Unsitte ist es, daß die Bewohner all dieser Gebiete bei ihren Kulthandlungen Knaben und Mädchen als Weihgeschenke töten, wie wir es oben beschrieben haben. Diese Menschenopfer bringen sie dann ihren Zemen dar, wenn der Samen in die Erde gelegt wird und wenn das Getreide Ähren bekommt. Falls sie keine Kinder zum opfern haben, nehmen sie dafür auch Sklaven, die sie kaufen, gut herausfüttern und mit kostbaren Gewändern schmücken. [...] Die Gebeine ihrer getöteten Feinde hängen jene Heiden, nachdem sie das Fleisch vorher selbst gegessen haben, in Bündel verschnürt gleichsam als Siegeszeichen zu Füßen der Götzenbilder auf und setzen die Ehrennamen der Sieger dazu.7

Unter dem Eindruck aufregender Reiseberichte setzte der spanische Hof unter Königin Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón 1512 eine Kommission aus Juristen und Theologen ein – die Junta de Burgos –, die sich mit der Lage in den Kolonien beschäftigen sollte. Die dreizehnköpfige Kommission erarbeitete unter dem Vorsitz von Bischof Juan de Fonseca eine Anweisung zur Behandlung der Indios, die unter dem Titel Leyes de Burgos verabschiedet wurde. Diskutiert wurde die Frage, ob es sich bei den „Wilden“ um Menschen oder Tiere handele. Hinter dieser hochgradig politisch und theologisch motivierten Fragestellung stand nicht ein theoretisches Erkenntnisinteresse, vielmehr bildete ihre Beantwortung potentiell eine vitale Handlungsgrundlage: Für den Fall ihrer Vernunftbegabung könnte man die Indios missionieren, andernfalls aber als Nicht-Menschen versklaven. Juan Ginés de Sepúlveda postulierte als Übersetzer und Anhänger der aristotelischen Naturrechtslehre, dass der Mensch ein animal rationale sei. Die Praxis des Kannibalismus und den Götzenkult interpretierte er als Beweis mangelnder Vernunftbegabung und als Indiz der vermeintlichen Inferiorität der Indios und votierte für 7|

Petrus Martyr von Anghiera, Acht Dekaden über die Neue Welt (De Orbe Novo), Darmstadt 1972-75, 371f.

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deren Versklavung. Sein Widersacher Bartolomé de Las Casas argumentierte, dass die Menschenopfer Teil der religiösen Sitten seien und Religion nur dem Menschen zu eigen sei. Scharf verurteilte er Gewaltpraktiken gegen Indios und sprach sich gegen eine Zwangsmissionierung aus. Das Ringen der Gelehrten um die Bedeutung der Wilden änderte jedoch nichts an der menschenverachtenden Praxis gegen die Indios.8 Im Aufklärungszeitalter wirkte durch Idealisierungen ein positives Vorurteil fort, so im Topos des „Edlen Wilden“, in dem man das leuchtende Gegenbild zur kritisierten westlichen Zivilisation erkennen wollte.9 Begünstigt wurden diese kulturellen Konstruktionen durch die Tatsache, dass Reisender und Schreibender meist keine Personalunion bildeten: Die „durchjagenden Europäernarren“10 reichten ihre Beobachtungen an die hinter den Schreibpulten verbliebenen Gelehrten weiter, die aus dem Material zweiter Hand ihre Schriften abfassten.11 Die xenologischen Debatten von der frühen Neuzeit bis zum Aufklärungszeitalter verzerrten das Bild des Fremden durch Dämonisierung oder Idealisierung, wodurch sich Stereotype und ein manichäisches Weltbild verfestigen konnten, die den Disziplinen der Imagologie, Ethnologie und Geschichte bis heute reichlich Stoff zur Untersuchung bieten. Die unrühmliche geschichtliche Synthese aus Entdeckung und Zerstörung fremder Kulturen ist eine Vorgeschichte, angesichts derer es nicht überrascht, dass Fremderfahrung und Fremdverstehen oft mit Herrschaftspraxis und logozentrischer Aneignung identifiziert werden.12 Dieser Vorwurf erstreckt sich auch auf die Texthermeneutik: Vor allem Hans-Georg Gadamer wurde kritisiert – die Anklage lautete auf eine „Wut des Verstehens“13. Im 20. Jahrhundert gewann eine Deutungspraxis Aufschwung, die den nicht oder nicht vollständig verstehbaren „Stachel 8|

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Die Beurteilung des rechtlichen Wertes der Leyes de Burgos für den Schutz der Indios schwankt zwischen „erster Sozialgesetzgebung“ (Joseph Höffner) und „Legitimierung der spanischen Herrschaft über die indianischen Völker“ (Merino Brito). Vgl. zu dieser Debatte ausführlich Josef Bordat, Gerechtigkeit und Wohlwollen: Das Völkerrechtskonzept des Bartolomé de Las Casas, Aachen 2006. „La vie sauvage et si simple et nos sociétés sont des machines si compliquées,“ zitiert nach Denis Didérot, Supplément au Voyage de Bougainville ou Dialogue entre A et B, Paris 1935, 115 (dt.: „Das wilde Leben ist so einfach und unsere Gesellschaften sind so komplizierte Maschinen“, Übersetzung d. Verf.). So eine Formulierung von Johann Gottfried Herder, Werke: Hist.-Lit. Ausgabe, hg. von Bernd Suphan, Berlin 1877-1913, Bd. XXV, 82. Mühlmann resümiert in seiner Geschichte der Anthropologie: „Nicht nur waren die Gebildeten nicht mehr in der Lage, die Reiseliteratur zu lesen, ohne ihre eigene Problematik hineinzulegen: Die Reisenden waren schließlich nicht mehr imstande, die Tatsachen unverzerrt zu sehen“ (Wilhelm Emil Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, Bonn 1948, 108). Dies geschieht insbesondere bei Munasu Duala M’ bedy, Xenologie: Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie, Freiburg/München 1977. Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens, Frankfurt a. M. 1988.

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der Fremdheit“14 als Maßnahme gegen eine alles einverleibende abendländische Praxis des Denkens und Handelns idealisierend auf den Plan rief. Anliegen meines Beitrages ist es dagegen, zu zeigen, dass Fremdverstehen in der Perspektive einer Kultur- und Sozialtheorie nicht nur Aneignung und Tilgung des Fremden bedeutet – auch wenn dies historisch oft die Einlösungsform gewesen ist. Fremderfahrung und Fremdverstehen erweisen sich als aktive Gestaltung von Wirklichkeit, die mehr ist als eine Übersetzung in eigene Deutungsmuster.

Der, die, das Fremde als Denkfiguren der Sozialtheorie Karl Valentin brachte es in einem seiner Dialoge mit Liesl Karlstadt auf den Punkt: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“15 Allerdings kann sich die Erfahrung von Fremdheit auf verschiedene Bereiche beziehen: Der Fremde als unbekannte Person im Unterschied zu einem vertrauten Menschen, die Fremde als fremder Ort im Unterschied zur Heimat und das Fremde als unbekannte Lebenswelt im Sinne von Alfred Schütz. Eine Fremderfahrung liegt immer dann vor, wenn sich ein Erlebnis nicht problemlos in vorliegende Interpretationsmuster und Deutungsschemata einfügen lässt. Fremd in diesem Sinne ist der erste Schultag, der erste Liebeskummer, die erstmalige Erfahrung mit dem Tod, der erste Aufenthalt in einem zuvor nie besuchten Land, der erste Fallschirmsprung oder die Pubertät als Eintritt ins Erwachsenenleben. Ebenso können Schmerz, Krankheit oder eine erworbene Behinderung – etwa eine Amputation oder Querschnittslähmung – als Fremderfahrung bezeichnet werden; das vertraute Körpergefühl ist dann verändert oder beeinträchtigt. Jeder Mensch verfügt über eine bekannte Lebenswelt mit vertrauten kulturellen und sozialen Praktiken. Alle anderen Umgebungen, Praktiken und Wissensvorräte, die nicht die eigenen sind, werden als Fremderfahrung verbucht. Wie das Fremde ist auch das Eigene relativ: Nicht nur der Körper unterliegt vielfältigen biologischen Veränderungen und kulturellen Modellierungen, auch der Wissensvorrat und Erfahrungshaushalt variiert.16 Darum kann etwas, was einmal als fremd empfunden wurde, eines Tages vertraut sein. Mag dem Kind der Großvater fremd 14 | So das gleichnamige Buch von Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden,

Frankfurt a. M. 1990.

15 | Karl Valentin und Liesl Karlstadt, „Die Fremden“, in: Michael Schulte (Hg.), Karl

Valentin: Gesammelte Werke in einem Band, München 1985, 230ff., 230.

16 | Walter Benjamin hat Fremderfahrungen mit Schwellenerfahrungen identifi-

ziert, die bei Übergängen von einer Lebensphase in eine andere gemacht werden. Vgl. hierzu Winfried Menninghaus, Schwellenkunde: Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a. M. 1986.

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erscheinen, so wird es mit zunehmendem Alter die Lebenswelt der Erwachsenen verstehen, mag die erste Vorlesung des Philosophieprofessors fremd klingen, so wird der Student im Laufe der Studienjahre dessen Ausführungen folgen können, mag die erste Fahrstunde Bangen erzeugen, so wird der geübte Fahrer alle Handgriffe routiniert ausführen. Und auch unser engster Freund ist uns einmal – vielleicht kaum noch erinnert – fremd gewesen. Abgegrenzt werden muss der Fremde von den verwandten Kategorien des Anderen und des Dritten.17 Alterität bedeutet, dass andere Subjekte dem Selbst nicht in derselben Weise gegeben sind, wie es sich selbst gegeben ist. In phänomenologischer Perspektive gesprochen verdankt sich diese Einsicht der Leiblichkeit des Menschen, genauer dem Unterschied von „Leib-Haben“ und „Körper-Sein“, der darin besteht, dass ich den Körper des anderen nie so wahrnehme wie mir mein Leib gegeben ist.18 Die Zweiheit von Selbst und Anderem bildet die Grundlage der Sozialität, eine soziale Beziehung wird jedoch erst durch die Figur des Dritten konstituiert – ein triadisches Sozialmodell, das ursprünglich auf Georg Simmel zurückgeht.19 Der Dritte ist nicht unbedingt eine dritte Person, sondern das, was sich in der Begegnung eines Selbst mit einem Anderen an geteilten Wertvorstellungen, Gedanken, Einstellungen und Gefühlen ergibt, das Zwischenreich von Ich und Du. Der Fremde ist nun nicht, wie die alltägliche Sprachpraxis nahelegt, eine Steigerungsform des Anderen oder der andere Andere, sondern eine davon unterschiedene Kategorie: Wenn wir zwischen Apfel und Birne oder Tisch und Bett unterscheiden, so werden wir schwerlich behaupten, dass all dies einander fremd ist; streng genommen gibt es hier gar kein wechselseitiges Einander. Das eine ist schlichtweg das andere des anderen, wenn wir es als dieses oder jenes bestimmen. […] Das Fremde befindet sich nicht einfach anderswo, es ist ähnlich wie Schlafen vom Wachen, Gesundheit von der Krankheit, Alter von der Jugend durch eine Schwelle vom jeweils Eigenen getrennt. Dabei steht keiner von uns jemals auf beiden Seiten der Schwelle zugleich. Dies gilt auch für die Geschlechterdifferenz und die kulturellen Unterschiede. Es gibt keinen neutralen dritten Menschen, der voraussetzungslos zwischen Mann und Frau unterscheiden könnte, da doch zunächst der Mann sich von der Frau und diese sich vom Mann unterscheidet.20

17 | Vgl. Kurt Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002. 18 | Vgl. zur Unterscheidung von Leib-Haben und Körper-Sein u.a. Helmuth Ples-

sner, Anthropologie der Sinne: Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt a. M. 1980, 367-369. 19 | Vgl. hierzu u. a. Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992 sowie weiterführend Joachim Fischer, „Der Dritte: Zum Paradigmenwechsel in der Sozialtheorie“, in: Soziologische Revue, 4 (2006), 235-442. 20 | Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1999, 21.

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Der oder das Fremde unterscheidet sich und lässt sich daher nur in Bezug auf etwas definieren.21 Methusalix, der Dorfälteste im Comic Asterix bei den Olympischen Spielen, bringt die wichtigsten Aspekte einer Explikation des Fremden auf den Punkt: „Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier“. Diese Formulierung beinhaltet zum einen die in der Alltagssprache gängigste Auffassung vom Fremden als demjenigen, welcher jenseits der eigenen Nationalstaatsgrenzen lebt, was eine politische Definition ist.22 Methusalix’ Äußerung unterscheidet sich diesbezüglich kaum vom Denken der Gebrüder Grimm, die den Fremden als „Unbekannten oder Nichtzugehörigen einer Gesellschaft“23 bezeichnen. Darüber hinaus äußert Methusalix aber auch die für die philosophische Bestimmung konstitutive Vorstellung vom Fremden als dem, der sich in Distanz und Differenz zum Eigenen befindet.24 Diese Distanz ist jedoch nicht unendlich, denn der, die oder das Fremde ist durch die Mittelstellung charakterisiert, zwar nicht dem Eigenen zugehörig, aber diesem nah zu sein, in einer realen oder angenommenen Beziehung zu ihm zu stehen: Die „Bewohner des Sirius“, so Georg Simmel, sind uns nicht fremd, denn sie sind „jenseits von Fern und Nah“.25 Die Distanz kann einerseits kognitiv sein, 21 | Waldenfels führt aus, dass sich die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem

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in der Personal- und Sozialstruktur des Deutschen widerspiegle. Demgegenüber begegne uns im Japanischen eine Sprach- und Sozialordnung, die einer solchen strikten Trennung von Selbst und Anderem sowie der westlichen Zentrierung des Ichs (philosophisch manifestiert in Descartes’ „cogito ergo sum“) zuwiderläuft. Dies zeige sich am Gebrauch der Personalpronomina: Im Japanischen gibt es nicht nur drei Formen, sondern eine Vielzahl an Personalpronomina, die kontextuell nach Art, Nähe und Rang der Beziehung variieren. Die andersartige Personalisierung schließe ein Ki ein, ein unübersetzbarer Begriff, der die Atmosphäre zwischen Mensch und Mensch bezeichnet (vgl. Waldenfels 1999, 69-72). Die Bindekraft politischer Fremdheitskonstruktionen erklärt Münkler damit, dass die Subjekte in den Funktionskreisen der modernen Lebenswelt nur noch als Rollenträger gefasst werden: „Der Mensch als solcher fällt aus den meisten Inklusionsbereichen der modernen Gesellschaften heraus. Hier bietet die Nation einen wie immer fiktiven Ausweg.“ Zitiert nach Herfried Münkler, Furcht und Faszination: Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, 21. Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, hg. von der Berlinbrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart 2009, 126-128. Waldenfels insistiert darauf, dass uns der Fremde immer als ein bestimmter Fremder entgegentritt, nie als ein Fremder an sich: „Wer ist uns fremder, können wir uns fragen, der arabische Arzt in der Klinik oder der deutsche Psychopath, der Fußballspieler aus Ghana oder der Skinhead von nebenan, der afghanische Übersetzer von Grimms Märchen oder der einheimische Bildzeitungsleser?“ (zitiert nach Waldenfels 1999, 148). Georg Simmel, „Exkurs über den Fremden“, in: ders., Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, 509-512, 512. Alois Hahn definiert das Fremde daher wie folgt: „Fremdheit ist keine Eigenschaft, auch kein objektives Verhältnis zweier Personen oder Gruppen, sondern die Definition einer Beziehung“ (zitiert nach Alois Hahn, „Die soziale Konstruktion des Fremden“ in: Walter M. Sprondel (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion: Festschrift für Thomas Luckmann, Frankfurt a. M. 1994, 140).

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wenn man annimmt, dass der Fremde einer zwar unverstandenen, aber prinzipiell verstehbaren Wirklichkeitsordnung angehört. Die Distanz kann aber auch eine affektive sein, wenn die Erfahrung der Differenz zu negativen Gefühlen und zum Ausschluss des Fremden führt.26 Aus der Mittelstellung des Fremden zwischen Nähe und Distanz resultiert auch die doppelte Wirkungskraft, denn die Erfahrung des Fremden kann gleichermaßen „Furcht und Faszination“ hervorrufen. 27 Der Fremde kann als Feind oder als exotisches Geheimnis konstruiert werden. 28 Diese Janusköpfigkeit spiegelt sich auch in der etymologischen Verwandtschaft der lateinischen Begriffe hostis (Fremder/Feind) und hospes (Fremder/ Gast).29 Bernhard Waldenfels unterscheidet verschiedene Grade der Fremdheit: In der alltäglichen Fremdheit bleibt ein personales Gegenüber im Alltag fremd, weil es nicht als vertraute Person, sondern als Träger einer sozialen Rolle gegenübertritt: so ist der Schalterbeamte bei der Post als Privatperson nicht vertraut, sondern fremd, und es wäre befremdlich, würde er an Stelle von Briefmarken seine Lebensgeschichte anbieten.30 Eine zweite Form ist die strukturelle Fremdheit, die eine Konfrontation mit einer anderen Sinnordnung darstellt: So mag der Isländer dem Italiener fremd sein, der Mathematiker dem Künstler und der Religiöse dem Atheisten. Die Sinnordnung oder Lebenswelt des anderen kann entweder als minderwertig oder sogar als Bedrohung aufgefasst werden, sie kann aber auch als eine nicht bekannte, aber prinzipiell Erschließbare angesehen werden. Schließlich nennt Waldenfels die radikale Fremdheit als eine Auflösung oder Transformation von Ordnung – in diesem Sinne etwa sei der Wahnsinnige dem Gesunden fremd. In all diesen Annäherungen wurde das Fremde als etwas dem Subjekt Äußerliches aufgefasst. Es kann aber auch einen innerseelischen Sitz haben: Sigmund Freud spricht vom Unbewussten als dem Fremden im Innern und beschreibt es als das Unheimliche. Es ist das dem Seelenleben Vertraute, das verdrängt wurde.31 Dieses Fremde im Selbst kann als 26 | Oswald Schwemmer hat darauf hingewiesen, dass das Fremde häufig als Be-

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drohung empfunden wird. Dem entsprechend lassen sich auch unterschiedliche Umgangsformen mit dem Fremden (vom Gleichmachen übers Ausgrenzen bis bin zum Auslöschen) beobachten. Vgl. hierzu Oswald Schwemmer, „Über das Verstehen des Fremden“, in: ders., Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1996, 137-162. Vgl. hierzu unter dem gleichnamigen Titel Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination: Facetten der Fremdheit, Berlin 1997. Vgl. zur Unterscheidung von Freund und Feind Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1963. Waldenfels 1999, 45. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Berufen, in denen die Herstellung von Vertrauen konstitutiv für die Berufsrolle ist – man denke an den Arzt, den Psychotherapeuten und graduell auch den Lehrenden. Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12. Frankfurt a. M. 1986, 229-268.

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äußere Projektion in Form von Vorurteilen fortleben. Freud zeigt dies am Beispiel der Figur des Nathaniel aus E.T.A. Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann, der seine Ängste in die Figur Coppolas als des bösen Sandmanns veräußert, doch auch jenseits der literarischen Fiktion hat sich die „Macht des Vorurteils“32 realgeschichtlich allzu oft geäußert. Julia Kristeva hat Freuds Gedanken in Richtung einer Aufhebung des Fremden zugespitzt: „L’ étrange est en moi, donc nous sommes tous des étrangers. Si je suis étrange, il n’y a pas d’étrangers. Aussi Freud n’en parle-t-il pas.“33 Weniger radikal formuliert geht es darum, die Fremdheit des Fremden abzumildern und den Unterschied von Ich und Selbst (englisch I – Me) zu erkennen.34 Die Vorstellung der Nichtexistenz eines äußerlich Fremden ist auch wegweisend in dem seit der Romantik beliebten literarischen Topos des Doppelgängers, in der Vorstellung, dass der Andere nur ein Bild des Selbst ist.35 Doch ist das Doppelgängermotiv über seine Fiktionalität hinaus interessant – so weist Arthur Rimbauds Formulierung „Je est un autre“ in der grammatikalisch unmöglichen Verschränkung von erster und dritter Person darauf hin, dass es eine Alterität des Selbst gibt. Diese wird fassbar in dem bekannten Phänomen, dass man sich auf einem Foto oder im Spiegelbild nicht gefällt oder die eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter als fremd empfindet. Solche Erfahrungen wären nicht verständlich, wenn „ich“ nur „ich“ wäre – aber in all diesen Fällen begegne ich mir im Blick des Anderen.

Fremdverstehen als „Gestaltung“ von Wirklichkeit? Fremderfahrungen stellen einen Eingriff in das Vertraute dar, weshalb sie den Menschen zu einer Reaktion oder einem Handeln veranlassen; daher muss das Fremde als ein Faktor berücksichtigt werden, der soziale 32 | Vgl. Pierre-André Tanguieff, Die Macht des Vorurteils: Der Rassismus und sein

Double, Hamburg 2000.

33 | Julia Kristeva, L’étranger est en nous, Paris 1989, 283f. Dt. Ausgabe unter dem

Titel Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a. M. 1990, 209: „Das Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde. Wenn ich Fremder bin, gibt es keine Fremden. Deshalb spricht Freud nicht von ihnen.“ An anderer Stelle heißt es: „Mit dem anderen, mit dem Fremden leben konfrontiert uns mit der Frage, ob es möglich ist, ein anderer zu sein. Es geht nicht einfach – im humanistischen Sinn – um unsere Fähigkeit, den anderen zu akzeptieren, sondern darum, an seiner Stelle zu sein und das heißt, sich als anderer zu sich selbst zu denken und zu verhalten“ (zitiert nach Kristeva 1990, 23). 34 | Paul Ricœur, Soi-même comme un autre, Paris 1990. 35 | So in Adalbert von Chamissos Peter Schlemihl (1813), E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels (1815), Heinrich Heines Still ist die Nacht (Buch der Lieder 1823), Edgar Allan Poes William Wilson (1839), Fjodor Dostojewskis Der Doppelgänger (1843), Hans Ch. Andersens Der Schatten (1835-1848), Guy de Maupassants Le Horla (1887), Philip Roths Operation Shylock (1994) und José Saramagos Der Doppelgänger (2002).

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Ordnung konstituiert. Wie wirkt eine Fremderfahrung und wie wird sie verarbeitet? Ausgangspunkt der sozial- und kulturtheoretischen Konzeptionen von Edmund Husserl und Ernst Cassirer ist nicht die ontologische Frage, ob die Welt ist, sondern wie sie für das Bewusstsein gegeben ist. Die phänomenologische Herangehensweise Husserls und die symboltheoretische Konzeption Cassirers liegen nah beieinander, denn beide weisen darauf hin, dass Wahrnehmungen und Erlebnisse dem Bewusstsein nicht als rohe Sinnesdaten vorliegen, sondern in kulturelle Sinnnetze eingewoben sind. In den Cartesianischen Meditationen wendet Husserl die kartesische prima philosophia mit ihrem Letztbegründungsanspruch streng auf das Subjekt zurück. Dem entsprechend ist es Aufgabe der Philosophie, die Korrelation von Sein und Bewusstsein zu untersuchen. Den zentralen Grundbegriff – die Intentionalität – übernimmt er von Franz Brentano. Gemeint ist, dass dem Bewusstsein etwas immer als etwas gegeben ist. Allerdings gilt auch, dass Gegenstände mit einem je unterschiedlichen Sinn objektiviert werden können: Husserl nennt Napoleon, der als Sieger von Jena und als Besiegter von Waterloo tituliert wird. Darüber hinaus spricht er von der Horizonthaftigkeit des intentionalen Bewusstseins, da im Auffassungsakt stets mehr als das Gesehene vergegenwärtigt wird – ein Vorgang, den Husserl als Appräsentation bezeichnet. So sehen wir beispielsweise nur die Vorderseite eines Hauses, aber das Bewusstsein vollzieht eine synthetisierende Leistung, so dass wir die Front als ganzes Haus vergegenwärtigen. Solche Appräsentationen gelten für die Gesamtheit menschlicher Erlebnisse und Erfahrungen. Alles Erlebte sedimentiert sich, mit Sinn versehen, im Bewusstsein des Menschen, wodurch sich eine Symbolwelt aufbaut, die bei jeder neuen Erfahrung reaktiviert wird und die gegenwärtige Sinnkonstitution beeinflusst. Da Erkenntnis strikt ins Bewusstsein des Subjekts verlegt wurde, musste sich Husserl die Frage stellen, wie für Aussagen objektive Gültigkeitsansprüche gelten können. Dreh- und Angelpunkt der Cartesianischen Meditationen ist darum die fünfte Meditation, in der das Problem der Intersubjektivität behandelt und eine Theorie der Fremderfahrung formuliert wird. Husserl fragt, wie die Anderen dem Bewusstsein des Subjekts gegeben sein können. Voraussetzung dafür ist eine Analogie – nämlich die Ähnlichkeit des Leibes der Anderen mit dem eigenen Leib. Fremdverstehen ist in einem doppelten Sinn über die Leiblichkeit vermittelt: Zum einen ermöglicht der Leib uns Berührung mit der Außenwelt und Kontakt mit Anderen – denn über unsere Sinne erfahren wir die Welt. Zum anderen ist der Körper die sinnlich sichtbare Ausdrucksfläche des

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Menschen, in die sich seine Empfindungen und Erlebnisse einschreiben. Daher ist alles Soziale zunächst über die Sinne vermittelt.36 Cassirer steht all diesen Überlegungen Husserls sehr nah. Diese Nähe trat erstmals 1929 auf der Davoser Disputation in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger hervor.37 Im Essay on man beschreibt er den Menschen nicht mehr als animal rationale, sondern als animal symbolicum.38 Der Mensch hat keinen Zugriff auf die Wirklichkeit an sich, sondern erfährt diese nur über das Medium der selbst erschaffenen symbolischen Formen vermittelt, die einen je spezifischen, kulturellen Sinn konstituieren. Es besteht ein unhintergehbarer Nexus von Sinnlichkeit und Sinn – wie Cassirer in seinem Theorem der symbolischen Prägnanz formuliert, in dem Kants Theorie des synthetisierenden Bewusstseins, Husserls Intentionalitätsakte und Max Wertheimers Gestaltpsychologie anklingen.39 Etwas wird immer als etwas wahrgenommen, der Sinn kann jedoch variieren: In Antoine de Saint Exupérys gleichnamiger Erzählung zeigt der kleine Prinz dem Ich-Erzähler eine Zeichnung: links und rechts zwei dünne Linien, in der Mitte eine unförmige Erhöhung nach oben. Der Ich-Erzähler, der das fragliche Objekt ohne Mühe als ausgebeulten Hut identifiziert, muss sich vom kleinen Prinzen belehren lassen, dass es sich um eine Schlange handele, die ohne Kauen einen Elefanten verschlungen habe, der sich nun als ungeheure Ausbuchtung unter ihrer Haut abzeichne. Hier wird spielerisch die Polyvalenz verschiedener Sinndeutungen ein und desselben Objekts exemplifiziert: Jedes Erfassen eines Sinnlichen als Sinn oder jede Wahrnehmung von etwas als etwas erfolgt durch eine bestimmte symbolische Form, die den Sinn des Wahrgenommenen in spezifischer Weise konstituiert. Es ist ein Unterschied, ob ich mir ein Gewitter als Naturschauspiel in ästhetischer Gestimmtheit mit den Augen des Künstlers vergegenwärtige, ob ich es mir mythisch 36 | Georg Simmel, „Exkurs über die Soziologie der Sinne“, in: ders. 1992, 722-742. 37 | Zankapfel dieser Disputation war die Frage, ob der Mensch einen Zugriff auf

das Sein oder nur auf den symbolisch vermittelten Sinn der Dinge hat. Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen von der existentiellen Geworfenheit des Menschen verteidigte Heidegger die Unmittelbarkeit des Ereignisses; Cassirer stellte nicht das Sein, sondern den Sinn von Erfahrungen des Subjekts in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen (vgl. Oswald Schwemmer, „Ereignis und Form: Zwei Denkmotive in der Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer“, in: Dominik Kaegi/Enno Rudolph (Hg.), Cassirer – Heidegger: 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, 48-67. Heidegger sagte sich 1927 in Sein und Zeit von Husserl los und erteilte unter der Herrschaft der Nationalsozialisten als Rektor der Freiburger Universität seinem ehemaligen Mentor sogar Hausverbot. 38 | Ernst Cassirer, Essay on man: An Introduction to a Philosophy of human Culture, New Haven 1944. 39 | „Unter ,symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ,Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren, konkreten Darstellung bringt“ (zitiert nach Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen Bd. III (Phänomenologie der Erkenntnis), Darmstadt 1953, 235.

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als Zorn der Götter denke oder es als physikalischen Vorgang wissenschaftlich erkläre. Welche Sinnkonstitution bevorzugt wird, ist nicht nur kontextabhängig, sondern auch über die von Johann Friedrich Herbart vertretene Theorie der Apperzeptionen zu erklären.40 Darunter versteht er eine Energie der Seele, durch die äußerlich gegebene sinnliche Eindrücke aktiv im Inneren verarbeitet werden. Was nicht an vormalige Erfahrungen und vorhandene Vorstellungsmassen angeknüpft werden kann, bleibt der Wahrnehmung äußerlich. Allerdings wird dieser Fall in extremer Ausprägung nie eintreten, denn das Apperzeptionsvermögen ist eine höchst kreative Kraft, die neue Gestaltbildungen vornehmen und Sinndeutungen herstellen kann. Im Anschluss an Herbart berichtet Chajim Steinthal von einem im Süden aufgewachsenen Mädchen, das erstmals in ihrem Leben Schnee gesehen hatte. Ausgehend von dem ihr Bekannten wies sie ihrer Wahrnehmung einen Sinn zu, indem sie die Schneeflocken als Schmetterlinge bezeichnete. Dies ist eine kreative Verstehensleistung des synthetisierenden Bewusstseins, da das Mädchen in der Lage war, durch assoziative Analogiebildungen gemeinsame Merkmale von Schneeflocken und Schmetterlingen auszumachen. Nicht weniger kreativ verhielt sich meine Nichte, die beim Anblick des Grillfeuers die stiebenden Funken als Feuerbienen bezeichnete. Je häufiger eine Vorstellungsmasse aktiviert wird, desto leichter wird sie erneut sinnstiftend hervortreten. Auf diese Weise baut sich im Bewusstsein jedes Menschen ein Vorstellungshorizont auf, der bald alle Wahrnehmungen prägt. Ein Bahnreisender, so erläutert Steinthal die Apperzeption, wollte mit einer einzigen Frage herausfinden, in welchen Berufen seine Mitreisenden tätig seien und fragte: Welches Wesen zerstört das selbst, was es hervorgebracht hat? Darauf habe der Naturforscher geantwortet: Die Lebenskraft; der Militär meinte der Krieg, der Philologe tippte auf Kronos, der Publizist nannte die Revolution und der Landwirt assoziierte den Saubären.41 Jeder hatte das assoziiert, womit er am häufigsten beschäftigt war. In den Programmschriften zur Völkerpsychologie haben Steinthal und sein Schwager Moritz Lazarus die Apperzeptionstheorie, die bei Herbart im Kontext pädagogischer und lernpsychologischer Bemühungen von Individuen stand, auf das Verstehen der Gesamtheit kultureller Äußerungsformen angewandt.42 Alles, was unseren kulturell und 40 | Der Begriff der Apperzeption stammt ursprünglich aus Leibniz’ Monadologie

und wurde von dem Psychologen und Pädagogen Herbart ausgearbeitet. Vgl. Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wissenschaft, Amsterdam 1968, insbesondere 206-228. 41 | Chajim Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, Berlin 1881, 168. 42 | Vgl. Moritz Lazarus, Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, hg. und mit einer Einleitung versehen von Klaus Christian Köhnkeb Hamburg 2003.

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sozial erworbenen Vorstellungsmassen fremd erscheint, kann in apperzipierenden Bewusstseinsakten mit Vertrautem verknüpft werden und so den Horizont möglicher Sinndeutungen anreichern. Fremdes zu verstehen bedeutet daher nicht eine bloße Übersetzung ins Bekannte, sondern die Variation von Vertrautem. Verstehen in der symboltheoretischen Konzeption Cassirers meint, sich über die Relativität des eigenen Standpunktes im Klaren zu sein und anderen Weisen des Weltverstehens eine nachvollziehbare Sinnhaftigkeit zu unterstellen. Mittlerweile sollte Licht ins Dunkel der Frage gekommen sein, wie Menschen ihre Erfahrungen von Welt verstehend, gestaltend und Sinn produzierend auffassen und verarbeiten. Doch sind wir nicht nur mit kulturellen Artefakten betraut, sondern auch mit anderen Menschen konfrontiert. Wie ist es hier um das Fremdverstehen bestellt? Georg Büchner lässt seine Figur Danton zu seiner Gattin Julie sagen: „Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“43 Glücklicherweise ist diese 1835 formulierte Aussage einem naturalistischen Menschenbild geschuldet und die Kultur- und Sozialtheorie hat weniger deterministische und optimistischere Wege gewiesen: 1914 hat sich Edith Stein mit einer Arbeit über Das Problem der Einfühlung bei Edmund Husserl promoviert.44 Im Unterschied zu „äußerer Wahrnehmung“, die nur auf die Leiblichkeit des Anderen gerichtet ist und „innerer Wahrnehmung“, die auf das eigene, innere Erleben gerichtet ist, bezeichnet Einfühlung Akte des Erlebens fremden Bewusstseins. Dabei sind Ich und Du in einer Gefühlsgemeinschaft verbunden. Wie Husserl geht auch Stein von einem Analogieschluss aus, postuliert, dass Einfühlung durch die Ähnlichkeit des eigenen Leibes mit den fremden Körpern gelingt. Je unähnlicher uns ein Lebewesen ist, desto unwahrscheinlicher ist Einfühlung: Aus diesem Grund ist es uns leicht möglich, uns in eine Kinderhand einzufühlen, vielleicht sogar in die Pfote eines Hundes – etwa wenn diese verwundet ist und der Hund Schmerzen hat – aber sich in eine Spinne einzufühlen grenzt ans Unmögliche. 43 | Georg Büchner, „Dantons Tod, ein Drama“, in: ders., Werke und Briefe, Mün-

chen 2001, 67-133, hier 69.

44 | Edith Stein, Zum Problem der Einfühlung, Freiburg i. Br. 2008. Während der

Arbeit an der Dissertation in den Jahren des ersten Weltkriegs meldete sie sich als freiwillige Helferin im Seuchenlager Mähren-Weißenkirchen. Jüdischer Herkunft konvertierte sie 1922 unter dem Eindruck der Lektüre der Autobiographie der heiligen Therese von Avila vom Judentum zum Katholizismus und trat in den Kölner Karmel-Orden ein. Unter den Nationalsozialisten ins KZ Auschwitz verschleppt, wurde sie 1998 als erste und einzige Person jüdischer Herkunft von der katholischen Kirche heiliggesprochen. Der Begriff der Einfühlung kommt in unterschiedlichen Disziplinen zur Anwendung – in Soziologie, Philosophie, Psychologie, Literaturwissenschaft und Ästhetik. Gemeinsamer Nenner aller Verwendungsweisen ist die „Projektion des Ich“ oder die „transitorische Identifikation“ (vgl. Martin Fontius, „Einfühlung, Empathie, Identifikation“, in: Ästhetische Grundbegriffe Bd. 2, Stuttgart 2001, 121-142).

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Vor allem im Kontext der Empfindsamkeit und des Sensualismus wurde reflektiert, wie Anteilnahme am Leiden anderer Menschen gelingen kann.45 Als Quelle des Mitgefühls galt die Vorstellungskraft, da eine unmittelbare Erfahrung von Gefühlen anderer durch unsere Sinne ausgeschlossen ist. Dieses Konzept vertrat auch Adam Smith im Konzept des „fellow-feeling“. Seine 1759 erschienene Theory of Mind Sentiment eröffnet mit einer Analyse der Bewusstseinsvorgänge beim Anblick leidender Menschen: By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the same torments, we enter as it were into his body, and become in some measure the same person with him, and thence form some idea of his sensations, and even feel something which, though weaker in degree, is not altogether unlike them.46

Deutlich wird die Rolle der Imagination auch bei Akten der Einfühlung, die durch äußere Wahrnehmung stimuliert werden: Stein zufolge kann die gesehene Gebärde oder die Nachahmung der Gebärden anderer Erinnerungen an ähnlich erfahrene Empfindungen und Erlebnisse wachrufen: Ich beobachte, wie ein Mensch mit dem Fuß stampft und es aktualisiert sich mir die Fülle des Zorns, die der andere empfindet; ich bemerke, wie mein Gegenüber weint und werde traurig. Auch das ansteckende Lachen haben die meisten schon erlebt. All diese Akte setzen aisthesis voraus, die Grundlage für inneres Empfinden und Ermöglichungsbedingung für das Erfahren fremden Bewusstseins wird. Studien zur Körpersprache haben nachgewiesen, dass Personen, die sich sympathisch finden und im Einklang sind, sich oft unbewusst körpersprachlich spiegeln.47 In der neurowissenschaftlichen Forschung werden Einfühlungsvorgänge über die Spiegelneuronen erklärt. Diese Neuronen feuern bereits Signale, wenn keine Bewegung ausgeführt, sondern nur Bewegungen beobachtet werden.48 Dabei wird das künftige Handeln des anderen ohne Beteiligung kognitiver Prozesse antizipiert. In solchen Fällen birgt die Wahr45 | Wie Stein das Verhältnis ihres Einfühlungskonzeptes zur Geschichte des Be-

griffs gesehen hat, kann nicht rekonstruiert werden, da der erste, historische Teil ihrer Dissertation bis heute verschollen ist. Stein hatte aus Kostengründen bei der Drucklegung zugunsten des systematischen auf den historischen Teil verzichtet. Das eingereichte Originalmanuskript wird in den Beständen der Freiburger Universitätsbibliothek bis heute gesucht, gilt jedoch als vermisst. Vermutlich ist es der systematischen Vernichtung von Literatur jüdischer Autoren unter dem Rektorat Heidegger oder dem Magazinbrand während des Zweiten Weltkriegs zum Opfer gefallen (vgl. Maria Antonia Sondermann, „Vorwort“, in: Stein 2008, XLI). 46 | Adam Smith, „The Theory of Moral Sentiments“, in: ders., The Glasgow Edition of the Works and Correspondence, Bd. 1, Oxford 1976, 9. 47 | Samy Molcho, Körpersprache, München 1997. 48 | Shaun Gallagher, How the Body Shapes the Mind, New York 2005 sowie Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia, Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a. M. 2008.

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nehmung in der Situation persönlicher Begegnung, die eine zugleich soziale wie ethische Situation ist, die Möglichkeit der Verschmelzung zweier Erfahrungsräume, wodurch sich beide Subjekte auf das Handeln des anderen einstellen und aufeinander beziehen können. Die phänomenologische Intersubjektivitätstheorie hat der Sozial- und Handlungstheorie bis hin zum symbolischen Interaktionismus George Herbert Meads Tor und Tür geöffnet. Über Max Weber und Husserl hinausgehend fragt Alfred Schütz, wie Sinnsetzungen des Handelns zu deuten sind. Sein Ausgangspunkt ist der Mensch in der natürlichen Einstellung, dem die Lebenswelt fraglos gegeben ist und der durch intentionale Akte unentwegt Sinnstiftungen vollzieht. Durch sein Erfahrungswissen findet sich der Mensch in der Welt zurecht: Wer einen Brief verschicken möchte, geht zur Post, wer krank ist, sucht einen Arzt auf, wer sich in einer fremden Stadt zurechtfinden muss, liest einen Stadtplan. Ein Großteil des Wissens ist sozial abgeleitet, ergibt sich aber auch durch Reflexion auf vergangene Erfahrungen, die unentwegt Selbstauslegungen unterliegen. Beim Verstehen der Handlungen anderer – ob es ein Handeln ohne Kundgabefunktion oder ein Kundgabehandeln ist – unterscheidet Schütz Akte der Selbstauslegung von echtem Fremdverstehen. Bei der Selbstauslegung wird lediglich das Ergebnis einer Handlung ermittelt: Ich sehe einen Holzfäller und verstehe, dass Holz zerkleinert wird, ich höre einen Sprechenden und verstehe die Wortbedeutung. Mit echtem Fremdverstehen bezeichnet Schütz Sinnsetzungen, die auf die Erlebnisse im Bewusstsein des Handelnden gerichtet sind und nicht nur auf einen ungegenständlich veräußerten Sinn. Sobald ich nach „um-zuMotiven“ frage und innere Motivationsgründe nachvollziehe, begebe ich mich in das Feld des echten Fremdverstehens. Wie vollziehen wir den Schritt von Akten der Selbstauslegung zu echtem Fremdverstehen? Stein hatte diese Frage mit der Theorie der Einfühlung beantwortet. Schütz zufolge nimmt die Einfühlungstheorie jedoch eine unzulässige Personenvertauschung von Ich und Du vor.49 Die Imagination, die sich verstehend ins fremde Bewusstsein begibt, hat Schütz zufolge keine Aussicht auf Erfolg, weil es keine zwei identischen Bewusstseinströme gibt. Konstitutiv für das Verstehen von subjektivem Sinn ist darum Schütz zufolge nicht die einfühlende Imagination, sondern die Kontextuierung des Wissens. Je mehr Erlebnisse samt ihrer Sinndeutung aus dem Erfahrungshaushalt des Anderen mir bekannt sind, desto besser verstehe ich die Motivationen des Handelns. In der Konsequenz bedeutet dies, dass intrakultu49 | „Denn wir supponieren offenbar unsere Bewusstseinsabläufe den Abläufen des

fremden Bewusstseins und verfallen so gewissermaßen in eine quaternio terminorum, da uns auf diese Weise immer nur unser eigenes Bewusstsein, aber nicht das fremde erschlossen wird“ (zitiert nach Alfred Schütz, „Grundzüge einer Theorie des Fremdverstehens“, in: ders., Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Konstanz 2004, 219-283, hier 242.

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relle Verstehensleistungen leichter fallen als interkulturelle. Waldenfels’ radikale Fremdheit erreicht die Grenzen des echten Fremdverstehens, denn die Auflösung einer Sinnordnung ermöglicht keinen kreativen Anschluss mehr an eine andere: Der liebenden Mutter wird nur ein Akt der Selbstauslegung, jedoch kein echtes Fremdverstehen des Kindsmörders gelingen. Wenn in Bezug auf Straftäter dann allenthalben die Rede von Monstern ist – das „Monster von Anstetten“ –, dann wird sprachlich die Grenze des echten Fremdverstehens artikuliert, indem der betreffenden Person das Menschliche und somit auch das menschlich Nachvollziehbare abgesprochen werden. Resümierend lässt sich festhalten, dass die Theorien der Apperzeption, der Einfühlung und des Fremdverstehens trotz aller Unterschiede in der Annahme der kulturellen Existenz des Menschen geeint sind. Sinnsetzungsakte sind nicht nur Verstehens- sondern auch Gestaltungsleistungen des Menschen. Denn aus den Akten der Auseinandersetzung mit Natur und Mitwelt ergeben sich all die materiellen und immateriellen Objektivationen des menschlichen Geistes und baut sich die Gesamtheit der Kulturwelt auf, deren Wandel durch das jederzeit gestaltend und verstehend tätige Subjekt bewirkt wird. Indem der Mensch sich in verschiedenen kulturellen Formen ausdrückt, schafft und gestaltet er Wirklichkeit, schöpft einen Raum an Formen und Deutungen, der von späteren Generationen in erneuten apperzipierenden Akten angeeignet, modifiziert und abgearbeitet werden kann. Dem entsprechend bleibt auch Fremdes nicht einfach fremd, sondern wird von einem schöpferischen Bewusstsein aktiv apperzipiert und durch das Medium symbolischer Formen hindurch mit Sinn versehen. Somit trifft zu, was bereits Friedrich Theodor Vischer über das Symbol formuliert hat: Es ist die „Eintragung der Menschenseele in Unpersönliches“.50 Aufgabe nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Kunst und anderer symbolischer Formen ist es, diese „Eintragungen“ aufzuschlüsseln und für ein Verstehen von Welt immer aufs Neue fruchtbar zu machen.

50 | Friedrich Theodor Vischer, „Das Symbol“ (1887), in: ders., Kritische Gänge,

Bd. 4, München 1922, 434.

Beiträge zu Grundlagendiskussionen im Interkulturalitätsdiskurs

Kultur zwischen Anerkennung und Verachtung Theoretische Ambivalenzen des bedeutungsorientier t-konstruktivistischen Kulturbegriffs ANDREAS VASILACHE

1. Einleitung In den letzten Jahrzehnten hat sich in allen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ein neues und intensives Interesse an dem – in einem weiten Sinne verstandenen – Phänomen der Kultur herausgebildet. Wenngleich in unterschiedlicher Geschwindigkeit und im Rekurs auf unterschiedliche Ansätze, haben sich schließlich in allen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen kulturwissenschaftliche Ansätze und Forschungsprogramme etablieren können. Sowohl die institutionelle Konsolidierung als auch der theoretische Einfluss kulturwissenschaftlicher Zugänge erlaubt es, seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von einem cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu sprechen.1 Dabei war und ist der cultural turn wesentlich mit einer Grundlagendiskussion um den Kulturbegriff selbst verbunden, die zwar immer auch auf klassische Ansätze und Kulturtheorien rekurriert, aber doch vornehmlich durch das Selbstverständnis einer epistemologischen, methodischen und inhaltlichen Neukonstituierung des kulturtheoretischen

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I. d. S. vgl. z. B. Stephan Moebius, Kultur, Bielefeld 2009, 8. Dass ein cultural turn selbst in traditionell wenig „kulturalistischen“ sozialwissenschaftlichen Subdisziplinen festgestellt werden kann, verdeutlicht mit Blick auf die staatstheoretische Diskussion der Band von George Steinmetz (Hg.), State/Culture: State-Formation after the Cultural Turn, Ithaka/New York 1999.

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Feldes geprägt ist.2 Insbesondere das (post-) strukturalistische Denken hat einen wichtigen und einflussreichen Beitrag zur Entwicklung eines Verständnisses von Kultur geleistet, das nicht nur der Vielfalt von unterschiedlichen Kulturen, von kulturellen Räumen und Praktiken Rechnung trägt, sondern vor allem einerseits Kulturen hinsichtlich ihrer wissens-, sinn-, und bedeutungsstiftenden Diskurse und Praktiken skizziert und dabei andererseits die Konstruktions-, Produktions- und Funktionsweise kultureller Formationen3 und damit ihre binnenkulturelle Heterogenität, Veränderbarkeit und Kontingenz offenlegt. Ausgehend von einem solchen bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff, der hier ausdrücklich geteilt wird, möchte ich im Argumentationsverlauf dieses Beitrages allerdings einige systematische Probleme, Ambivalenzen bzw. Paradoxien diskutieren, die in diesem Kulturverständnis angelegt sind und weitreichende Konsequenzen zeitigen. So sollen im Folgenden einige theoretische Schwierigkeiten ausgewiesen werden, die einen solchen Kulturbegriff in mehrfacher Hinsicht in Bedrängnis bringen, da sie sich auf die systematische und analytische Schlüssigkeit des Kulturbegriffs überhaupt beziehen, geeignet sind, seine emanzipatorische Dynamik zu unterminieren, oder gar einen Rückfall in essentialistische Vorstellungen innerhalb des bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs selbst implizieren. Die zu diskutierenden Probleme betreffen somit allesamt die ethisch-normativen Implikationen des Kulturbegriffs und demnach die ethischen und normativen Grundlagen einer kulturwissenschaftlichen Herangehensweise, die bedeutungsorientiert-konstruktivistisch fundiert ist. Zunächst sind kurz die konstitutiven Merkmale des Kulturbegriffs darzulegen, um anschließend die soeben angesprochenen inhärenten Schwierigkeiten einzeln nach- bzw. auszuweisen. Da das Ziel aber keinesfalls in einer Überwindung eines bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs besteht, dieser vielmehr als angemessene und 2|

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Ralf Konersman betont dagegen, dass „heutige Kulturwissenschaftler […] aufgrund ihres sozialwissenschaftlich geprägten Bildungshintergrundes mit dem Kulturbegriff oft wenig anzufangen wissen“ („Die kulturwissenschaftliche Herausforderung“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Bd. 34, Nr. 1, 2009, 137-147, 137) und verkennt dabei m. E., dass genau aus diesem Diskurskontext – zugleich aufgrund als auch trotz eines gewissen sozialwissenschaftlichen bias – in den letzten Jahrzehnten die wesentlichen Impulse für eine Neubeschreibung des Konzeptes der Kultur sich entwickelt haben, die im Übrigen auch in anderen kulturwissenschaftlichen Fächern breit rezipiert und fortentwickelt werden. Es wird hier und im Folgenden in bewusst weicher Terminologie stets im Plural von Kulturen, kulturellen Formationen, kulturellen Kontexten und Mustern, etc. gesprochen, um zum einen die (auch analytisch notwendige) Unterscheidbarkeit verschiedener Kulturen auszudrücken, dabei aber zum zweiten sowohl die Vielfältigkeit als auch die unablässige Bewegung und Veränderung sowie die unscharfen Grenzen von Kulturen auch sprachlich widerzuspiegeln (vgl. Andreas Reckwitz, Unscharfe Grenzen: Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008(a)).

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schlüssige Grundlage zeitgenössischer kulturwissenschaftlicher Untersuchungen angesehen wird, soll schließlich der Versuch unternommen werden, die aufgeworfenen Probleme theoretisch und konzeptionell zu bändigen. Insgesamt wird es in dem vorliegenden Beitrag darum gehen, bislang eher vernachlässigte Schwierigkeiten und Konsequenzen des so verfassten Kulturverständnisses offenzulegen, um durch deren Bewusstmachung, Diskussion und Einhegung schließlich zum einen den Kulturbegriff in seiner tatsächlichen Komplexität auszuweisen und zum anderen konzeptionell zu schärfen und zu stärken.

2. Der bedeutungsorientier t-konstruktivistische Kulturbegrif f Im bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff4 haben wir es mit vier wesentlichen Merkmalen zu tun, namentlich den beiden bereits begrifflich widergespiegelten Aspekten erstens der Wissens-, Sinnund Bedeutungsorientierung und zweitens der konstruktivistischen Kontingenzbetonung sowie mit drittens dem gegenständlichen Universalismus und viertens der machttheoretischen Sensibilität eines solchen Kulturverständnisses. Da hier von diesem Kulturbegriff ausgegangen wird, um seine impliziten Ambivalenzen zu beleuchten, ist es im hiesigen Zusammenhang hinreichend, lediglich seine soeben genannten wesentlichen Annahmen bzw. konstitutiven Charakteristika kurz zu skizzieren. Dass dies anhand eines kurzen Rekurses auf Foucault geschieht, ist freilich exemplarisch zu verstehen. Dennoch ist diese exemplarische Fokussierung mit dem Ziel einer skizzenhaften Darstellung kein willkürliches. Denn so besteht erstens eine besondere Nähe der bedeutungsorientiertkonstruktivistischen Ausrichtung des Kulturbegriffs zum poststrukturalistischen Denken, zweitens finden sich im Foucaultschen Ansatz alle wesentlichen Merkmale eines solchen Kulturbegriffs konzeptionell angelegt, und drittens hat sich die Weiterentwicklung und mehr noch die jüngste Ausbreitung eines solchen Verständnisses von Kultur in deutlicher Anlehnung an Foucault entwickelt. 5 4|

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Es handelt sich hier im Übrigen weniger um einen einzelnen Begriff, sondern eher um eine nicht zuletzt poststrukturalistisch geprägte (vgl. Moebius 2009, 49ff., 161ff.) kulturbegriffliche Ausrichtung bzw. einen Typus des Kulturbegriffs (vgl. Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien: Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2006, 84f.). Ohne den Einfluss zahlreicher anderer Ansätze und Theorieentwürfe zu verneinen (vgl. Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur: Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006), nimmt das Foucaultsche Denken heute sowohl für die Herausbildung des zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Blickes als auch für die Entwicklung kulturwissenschaftlicher Forschungsrichtungen doch den Status des primus inter pares ein. So haben sich die postcolonial studies (vgl. für den Rekurs auf Foucault in diesem Bereich grundlegend: Homi K. Bhabha, Die

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So legt Foucaults Darstellung der Funktionsweise, Genealogie und Kontingenz diskursiver Ordnungen6 sowie sein Ausweis des inneren Zusammenhangs von Wissens- und Machtstrukturen in Diskursen und als Diskurse7 den Blick auf die Struktur, sinnstiftende Funktion und Konstruktion kultureller und sozialer Sachverhalte offen, zu denen auch das Subjekt sowie seine Position im Diskurs gezählt werden müssen.8 Im Anschluss an Foucault ist dabei stets zu berücksichtigen: „culture is never neutral, but always involves relations of power.“9 Die Annäherung an kulturelle Phänomene auf der Grundlage der Foucaultschen Diskursbegrifflichkeit und -analytik entspricht einem Kulturbegriff und -verständnis, das gegenständlich unbeschränkt der Komplexität des Gegenstandes Rechnung trägt, sich von meist schlicht kontrafaktischen Zuschreibungen und Festlegungen distanziert sowie die interne Heterogenität, Veränderbarkeit und insbesondere die Machtdurchdrungenheit kultureller Formationen und Praktiken zur Kenntnis nimmt. Die sinn- und wahrheitserzeugende Produktivität von Diskursen in der Foucaultschen Analytik lenkt den Blick auf das sinnstiftende Potential und Selbstverständnis kultureller Formationen und legt damit die Wissens- und Sinngenerierung als eine wesentliche Aufgabe kultureller Formationen nahe. Die sowohl in Foucaults eher methodologischen Studien als auch in seinen stärker materialen Untersuchungen vorhandene Sicht auf soziale Strukturen und Phänomene als in Machtrelationen eingelassene diskursive Konstrukte der Wissensproduktion sowie der Sinn- und Bedeutungsstiftung vereint die Eckpunkte eines bedeutungsorientiertkonstruktivistischen Kulturbegriffs. Dass sich Foucault selbst kaum für interkulturelle Diskurse interessiert hat und auch dem Begriff der Kul-

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Verortung der Kultur, Tübingen 2000), die queer studies (vgl. für den Rekurs auf Foucault in diesem Bereich grundlegend: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991) sowie zu den Foucaultschen Implikationen Tamsin Spargo, Foucault and Queer Theory, Cambridge 1999) sowie vor allem die governmentality studies (vgl. für den Rekurs auf Foucault in diesem Bereich grundlegend: Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hg.), Foucault and political reason: Liberalism, neo-liberalism and rationalities of government, Chicago 1996, und Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin/Hamburg 1997) aus einer besonders intensiven Auseinandersetzung mit Foucault entfaltet – wodurch im Übrigen, dies sei hier lediglich angemerkt, das Foucaultsche Denken, das nicht zuletzt das Ende der großen Erzählungen geltend macht, selbst einen solchen Stellenwert einzunehmen sich gedrängt sieht. Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 8. Aufl, Frankfurt a. M 1997(a), ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1998(a). Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd.I: Der Wille zum Wissen, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1998(b), ders., Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd.II: Der Gebrauch der Lüste, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1997(b), ders., Sexualität und Wahrheit, Bd.III: Die Sorge um sich, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1997(c). Craig Calhoun, „Introduction: Social Issues in the Study of Culture“, in: Comparative Social Research, Bd.11, 1989, 1-29, 8.

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tur kaum konzeptionelle Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, kann mit Blick auf die wesentlichen Charakteristika dieses Kulturbegriffs dabei als unproblematisch gelten. Der Ausweis des Konstruktcharakters und der diskursiven Verbindung von epistemischen und sozialen Strukturen, die Darlegung einer wesentlichen Relation zwischen Diskursen und Macht sowie die subjekttheoretischen Implikationen10 seines Ansatzes halten die grundsätzlichen Merkmale eines allgemeinen Kulturbegriffs sowie einer integralen kulturtheoretischen Perspektive bereit. Auch ohne einen expliziten kulturbegrifflichen Fokus in seinen Texten selbst erlaubt der Rekurs auf Foucault doch, kulturelle Formationen und Praktiken gleichsam als Diskurse zu analysieren, die gegenständlich umfassend, auf Wissens- und Bedeutungsproduktion ausgerichtet sowie kontingent und unhintergehbar machtbezogen sind. In diesem Sinne verdeutlicht die Absicht einer „Ethnologie der Kultur, der wir angehören“11 zwar einerseits die Fokussierung Foucaults auf den kulturellen Nahbereich, eröffnet aber doch zugleich die Perspektive einer allgemeinen und gegenständlich nicht beschränkten kulturwissenschaftlichen Begrifflichkeit und Analytik.12 Bezugnehmend auf die Frage der gegenständlichen Reichweite eines bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs weist Reckwitz darauf hin, dass „[j]eder Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften […] nun als kulturelles Phänomen rekonstruiert werden [kann und soll]“.13 Zugleich sieht er den Unterschied zwischen einem bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff und einem „totalitätsorientierte[n] Kulturbegriff“14 in der gegenständlichen Reichweite begründet.15 Die Unterscheidung zwischen einem bedeutungsorientiert-konstruktivistischen und einem totalitätsorientierten Kulturbegriff scheint mir aber auch jenseits des Arguments der gegenständlichen Reichweite sowohl sinnvoll als auch begründbar zu sein, gehen doch letzterem sowohl der Fokus auf Strukturen und Funktionen der Sinn- und Bedeutungsstiftung als auch der dezidierte Anti-Essentialismus, und

10 | Zur Subjektanalytik poststrukturalistischer Ansätze vgl. Andreas Reckwitz,

Subjekt, Bielefeld 2008(b).

11 | Michel Foucault, „Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault”, in: ders., Von

der Subversion des Wissens, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, 7-27, 12.

12 | Vgl. i. d. S. Christian Lavagno, „Michel Foucault: Ethnologie der eigenen Kul-

tur“, in: Moebius/Quadflieg 2006, 42-50, sowie insgesamt zur Möglichkeit und zum Entwurf eines interkulturellen Verstehenskonzeptes im Anschluss an Foucault: Andreas Vasilache, Interkulturelles Verstehen nach Gadamer und Foucault, Frankfurt a. M./New York 2003; ders., „Das interkulturelle Verstehen im Anschluss an Foucault: Eine heuristische Annäherung“, in: Boike Rehbein/ Gernot Saalmann (Hg.), Verstehen, Konstanz 2009. 13 | Reckwitz 2008a, 16. 14 | Ders., 2006, 84. 15 | Vgl. i. d. S. auch Chris Jenks, Culture, London/New York 1993, 157.

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damit zwei konstitutive Merkmale des bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs ab. Aus dem gegenständlichen Universalismus des bedeutungsorientiertkonstruktivistischen Kulturbegriffs folgt dabei, dass die Varianz, Größe und Beschaffenheit kultureller Formationen und Kontexte in höchstem Maße heterogen sind. Als kulturelle Formationen bzw. Subformationen können so unterschiedliche Phänomene beschreibbar sein wie „westliche Kulturen“, „muslimische Räume“, „die Frauenbewegung“ oder „die Transgenderbewegung“. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jeder als kulturelle Formation beschriebene Kontext sich in ständiger Aushandlung und Überschneidung mit anderen Kontexten befindet und selbst wiederum zahllose Unterformationen beinhaltet. Schließlich können kulturelle Formationen und Kontexte auch transkulturell konstituiert sein – beispielhaft seien genannt sunnitisch-muslimische Diskurse, die westliche, arabische wie asiatische zugleich sein können. Es zeigt sich demnach, dass Grenzziehungen zwischen verschiedenen kulturellen Formationen, Diskursen und Praktiken letztlich immer nur in analytischer Detailarbeit gezogen und begründet werden können. Zugleich aber müssen auch auf der Basis eines bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs Grenzen zwischen verschiedenen kulturellen Formationen, Kontexten und Diskursen gezogen, müssen Unterscheidungen geltend gemacht werden, um überhaupt kulturwissenschaftliche Gegenstände erkennen und kulturwissenschaftlich arbeiten zu können. Dass diese gegenständlichen Grenzziehungen letztlich immer prekär und vorläufig sind, ist dem Phänomen der Kultur selbst geschuldet bzw. gedankt, an dessen Morphologie sich der Kulturbegriff ja lediglich anzunähern sucht. Wenn demnach auf der Grundlage des hier zugrunde gelegten Kulturbegriffs sehr unterschiedliche Phänomene als kulturelle Formationen, Kontexte oder einzelne Praktiken erscheinen, dann haben wir es mit einer zwar zugegebenermaßen weichen bzw. dehnbaren Terminologie zu tun. Diese Dehnbarkeit aber ist in der Sache selbst angelegt und sie anzuerkennen ist im Sinne eines treffenden Vokabulars und einer angemessenen Konzeptualisierung unumgänglich. Es scheint schließlich, dass der bedeutungsorientiert-konstruktivistische Kulturbegriff seinen Gegenstand über einen systematischen Umweg bestimmt. Er sagt im eigentlichen Sinne nicht unmittelbar etwas darüber aus, was Kultur bzw. was eine kulturelle Formation ist, sondern nähert sich dem Gegenstand indirekt durch den Ausweis, wie und unter welchen Bedingungen ein Phänomen als ein kulturelles beschreibbar und diskutierbar ist. Durch diesen umwegigen und indirekten Pfad zur Bestimmung des Gegenstandes, der nur bei oberflächlicher Betrachtung eine Antwort auf die falsche Frage ist, bezieht der Kulturbegriff seine eigene konzeptio-

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nelle Leistung und Produktivität reflexiv in die definitorische Arbeit mit ein. Unter den Vorzeichen einer solchen Vorstellung von Kultur und insbesondere im Rekurs auf die damit verbundene Kritik an essentialistischen Auffassungen stehen nun im Bereich der Sozialwissenschaften insbesondere Fragen kultureller Zugehörigkeiten, Mechanismen sozialer Ein- und Ausschlussdynamiken, kulturelle Hegemonialisierungsund Marginalisierungsstrategien, Fremd- wie Eigenzuschreibungen, Identitätsbildung, Subjektivierungspraktiken und -politiken sowie die Möglichkeit anerkennender intra- und interkultureller Diskurse im Mittelpunkt des Interesses.16 Kurzum: die kulturwissenschaftliche bzw. -theoretische Perspektive in den Sozialwissenschaften rückt „the link between power and culture“17 und damit die Machtfrage in den Blick der Forschung. Dabei wird gegen essentialistisch-ethnozentrische Befangenheiten der Anspruch fremder kultureller Formationen, minoritärer und bislang marginalisierter Stimmen und Diskurse hervorgehoben, in ihrer je eigenen sinnstiftenden Qualität, d. h. in ihrer jeweiligen Selbstbeschreibung anerkennende Beachtung zu erfahren – es geht um „having a voice that is recognized and heard“.18 Ohne das Fremde essentialistisch zu alterisieren oder zu orientalisieren,19 sind fremde Kulturen bzw. abweichende und randständige kulturelle Praktiken demnach in ihrem eigenen Selbstverständnis gelten zu lassen, ohne eine tendenziell assimilierende Überwindung der Fremdheit anzustreben.20 Ein essentialistischer Blick auf fremde kulturelle Formationen und Praktiken verkennt dagegen ihre sinnstiftende Dynamik, Heterogenität und Hybridität und spricht ihnen die Möglichkeit zur binnenkulturellen Komplexität, Reflexivität und Veränderbarkeit ab. Insbesondere in Situationen des interkulturellen Verstehens21 steht eine essentialistische Festlegung fremder kultureller Formationen auf ihre vermeintliche Wesenheit dem Imperativ der reziproken (Be-)Achtung und Anerkennung entgegen und kann als tendenziell ethnozentrisch bezeichnet werden. Vor allem die Theorien der post-

16 | Vgl. z. B. die Studien in Claudia Rademacher/Peter Wiechens (Hg.), Geschlecht, 17 | 18 | 19 | 20 |

21 |

Ethnizität, Klasse: Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz, Opladen 2001. Michèle Lamont, „The Power-Culture Link in a Comparative Perspective”, in: Comparative Social Research, Bd. 11, 1989, 131-150, 131. Chris Weedon, Identity and Culture: Narratives of Difference and Belonging, Issues in Cultural and Media Studies, Maidenhead 2004, 156. Vgl. Said 1978. Auf diese Gefahr weisen z. B. Ram Adhar Mall (Philosophie im Vergleich der Kulturen: Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt 1996, 82) sowie – hier mit Blick auf die Hermeneutik Gadamers – Hans-Herbert Kögler hin (Die Macht des Dialogs: Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart 1992, 57ff., 61f.). Vgl. hierzu ausführlicher Vasilache 2003, 2009.

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colonial studies22 und der queer studies23 – und vor ihnen sicherlich die Ethnologie – haben gegen essentialistische Anmaßungen den Anspruch marginalisierter kultureller Formationen und Diskurse auf (Be-)Achtung und Emanzipation in ihrer Besonderheit hervorgehoben. Es ist aber auch insgesamt festzustellen, dass „eine enge Wahlverwandtschaft“24 zwischen poststrukturalistischen Kulturtheorien und emanzipatorischen Befreiungsdiskursen und -bewegungen vorliegt. Im hier diskutierten Kulturbegriff werden – um seine vier konstitutiven Charakteristika abschließend noch einmal zu nennen – kulturelle Formationen erstens als Konstrukte der Wissens-, Sinn- und Bedeutungsproduktion gefasst, die zweitens gegenständlich unbeschränkt, drittens von Machtrelationen durchzogen sind und sich viertens in stetem Wandel und permanenter Aushandlung befinden und damit immer auch kontingent sind. Wenn kulturelle Formationen nunmehr Sinnkonstrukte sind, die keine „überzeitliche Dauer oder universell gültige Merkmale aufweisen“, 25 dann lässt sich eine gleichsam primordiale Vorrangigkeit mehrheitlicher, hegemonialer und dominanter kultureller Formationen oder Praktiken nicht mehr begründen oder plausibel aufrechterhalten.

3. Ambivalenzen des Kulturbegrif fs – Ambivalenzen der Kultur Es ist soeben auf die Frage der aufwertenden Hörbar- und Sichtbarmachung bislang marginalisierter kultureller Muster und Praktiken besonders hingewiesen worden, da erstens sich die zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Sozialwissenschaften intensiv mit solchen Auseinandersetzungen befassen. Vor allem ist aber zweitens auf diese Frage abzuheben, weil die nun auszuweisenden Ambivalenzen des Kulturbegriffs sich schwerpunktmäßig in diesem Bereich der normativ konnotierten Berücksichtigung entfalten bzw. auf Debatten und Verhandlungen um anerkennende Aufwertung sich beziehen. Mir scheinen dabei vornehmlich drei im Kulturbegriff angelegte Schwierigkeiten einer genaueren Aus22 | Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000; Stuart Hall/

Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London 1996; Edward W. Said, Orientalism, New York 1978; Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2007 sowie für eine gute Überblicksdarstellung: Weedon 2004. 23 | Vgl. z. B. Donald E. Hall, Queer Theories, New York 2003. 24 | Moebius 2009, 150. 25 | Ebd., 19. Es ist hervorzuheben, dass die Abwesenheit universell gültiger Merkmale die inhaltliche Ebene, d.h. die konkreten kulturellen Vorstellungen, Annahmen und Praktiken betrifft. Auf der konzeptionellen Ebene geht auch ein bedeutungsorientiert-konstruktivistischer Kulturbegriff ja von bestimmten Strukturmerkmalen aus, die letztlich allen kulturellen Formationen und Kontexten gemein sind.

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leuchtung zu bedürfen, da sie geeignet sind, den Kulturbegriff sowohl in seinen konzeptionellen Grundfesten als auch in seinen normativen Implikationen zu erschüttern. Diese Schwierigkeiten sind im Folgenden zunächst auszuweisen, bevor im abschließenden Abschnitt der Versuch eines konzeptionellen Umgangs mit diesen Problemen unternommen werden soll.

3.1 Primordialer Sinn In einem bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff fallen die Aspekte der kontingenten Sinnstiftung und der individuellen Sinnannahme der Mitglieder kultureller Formationen in eigentümlicher Weise auseinander.26 Zum einen hebt der Kulturbegriff zwar die wissens-, sinn- und bedeutungsstiftende Funktion von Kultur hervor. Zum anderen aber vermag er durch die vornehmliche Betonung des Konstruktcharakters von kulturellen Sinn-, Wissens- und Bedeutungsmustern nicht zu berücksichtigen, dass die einzelnen Mitglieder kultureller Formationen diese Muster in nicht geringem Maße als primordial sinnstiftend erfahren und in selbstverständlicher Unmittelbarkeit innerhalb dieser und mit diesen Mustern interagieren. Die Hervorhebung der konstruierten Kontingenz kultureller Formationen sowie ihrer Annahmen und Praktiken, die überdies das Subjekt selbst konstituieren,27 steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Umstand, dass Mitglieder kultureller Formationen die kulturellen Muster und Praktiken, in und mit denen sie sich bewegen, in der Regel als selbst-verständliche, gleichsam primordial sinnstiftende erfahren. Durch die Kontingenz- und Konstruktbetonung des Kulturbegriffs kann weder die Distanzlosigkeit der Subjekte und Individuen zu kulturellen Mustern, 28 noch die motivierende Kraft von Kultur einsichtig gemacht werden, die so intensiv sein kann, dass Individuen bisweilen selbst den eigenen Tod für den Kulturerhalt in Kauf zu nehmen bereit sind.

26 | Mit der Frage der Berücksichtigung primordialer Sinnansprüche im bedeu-

tungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff habe ich mich in einem anderen Artikel einzeln auseinandergesetzt, auf dem die Überlegungen in diesem Unterabschnitt beruhen. Vgl. Andreas Vasilache, „Die Ausblendung der Kontingenz: Über die Notwendigkeit der Berücksichtigung primordialer Sinnansprüche im konstruktivistischen Kulturbegriff“, in: Mark Arenhövel/ Maja Razbojnikova/Hans-Gerd Winter (Hg.), Kulturtransfer und Kulturkonflikt, Dresden 2010. 27 | Vgl. zu dieser Grundthese zahlreicher zeitgenössischer Subjektanalysen Reckwitz 2008b, 12ff. 28 | Dies hebt v. a auch Seyla Benhabib hervor (Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit: Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2000, 24-27).

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Es wäre irreführend, diese Diskrepanz zwischen kulturwissenschaftlicher Analyse und subjektivem Selbstverständnis rein ideologiekritisch durch ein vermeintlich falsches Bewusstsein der Subjekte erklären zu wollen, denn auch die individuelle Einsicht des Subjekts in die Kontingenz der eigenen kulturellen Eingelassenheit lässt diese keineswegs grundsätzlich oder vollumfänglich verfügbar oder veränderbar werden. Nur beispielhaft sei hingewiesen auf die zahllosen kleinen, alltäglichen, oft routinierten kulturspezifischen Praktiken, die auch durch die subjektive Einsicht in ihre kontingente Bedingtheit zumeist in ihrer Selbstverständlichkeit und primordialen Geltung für das Subjekt keine Relativierung erfahren. Die alltägliche „Kunst des Handelns“, 29 die unzähligen kleinen kulturellen Konventionen und „abertausend Praktiken“, 30 die Gesten und reflexhaften Strategien der subjektiven Umweltbezüglichkeit finden sich durch die Einsicht des Subjekts in ihre Veränderbarkeit nicht notwendig zur Disposition gestellt. Ihr sinnstiftendes Potential – das hier freilich nicht in einer emphatischen Konnotation tiefgründige Wahrheitsansprüche bezeichnet – erfährt auch durch die Anerkenntnis ihrer Variabilität und Plausibilitätsäquivalenz mit anderen Möglichkeiten des Handelns keineswegs zwingend eine überprüfende Problematisierung oder EntSelbstverständlichung. Dies ist eine Ambivalenz kultureller Erfahrung selbst, die im bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff indes verkannt wird. Kulturelle Muster, Annahmen, Gewohnheiten und Praktiken werden auch unter der Bedingung einer Einsicht der Subjekte in ihre Austauschbarkeit keineswegs beliebig austauschbar, vielmehr beweisen sie sich regelmäßig als sehr stabil und beharrlich. Es zeigt sich, dass ein bedeutungsorientiert-konstruktivistischer Kulturbegriff zwar einsichtig machen kann, dass kulturelle Praktiken als bedeutungsstiftende Konstrukte funktionieren, aber nicht, warum sie für die Mitglieder einer kulturellen Formation auch noch als Konstrukte zu primordialer Sinnzuschreibung und unmittelbarer Distanzlosigkeit motivieren. Zugleich ist nun aber ein solcher Kulturbegriff funktional auf die Anerkenntnis, Berücksichtigung und damit Herausstellung eines gewissen – schwer zu quantifizierenden und je nach Sach- und Geltungsbereich variierenden – Maßes an primordialer Sinn- und Bedeutungszuweisung, gleichsam auf einen Vorgriff der Sinnstiftung bzw. einen Vertrauensvorschuss der Sinnhaftigkeit durch die Individuen angewiesen. Dies ist schon allein deshalb der Fall, weil ohne die Möglichkeit zu einer auch primordialen Sinnzuschreibung an kulturelle Praktiken durch die Subjekte von einer tatsächlichen kulturellen Einlassung oder Einbettung von Subjekten in eine kulturelle Formation nicht gesprochen 29 | Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988. 30 | Ebd., 16.

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werden könnte. Daher muss nun ausgerechnet ein bedeutungsorientiertkonstruktivistischer Kulturbegriff das ihm eigentlich fremde Phänomen der Primordialität kultureller Sinnansprüche als einen eigenständigen funktionalen Aspekt kultureller Formationen anerkennen und berücksichtigen, um den kulturell kontingenten Handlungsmustern auch im Falle der Einsicht der Subjekte in ihre Kontingenz und Veränderbarkeit noch Stabilität, ein gewisses Beharrungsvermögen und schließlich eine subjektbildende Kraft zu verleihen. So ist der hier zugrunde gelegte Kulturbegriff funktional auf die Existenz primordialer Sinnannahmen der Subjekte angewiesen, die er selbst aber nicht verstehbar bzw. einsichtig machen kann und die in einem Spannungsverhältnis zu seiner Kontingenz- und Konstruktbetonung steht. Es liegt nun auf der Hand, dass diese Diskrepanz zwischen einerseits der Kontingenzbetonung des Kulturbegriffs und andererseits der immer auch primordial-sinnstiftenden Selbstverständlichkeit kultureller Praktiken insbesondere unter anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten problematisch ist. Denn so besteht doch immer die Tendenz, diese Diskrepanz durch einen objektivistischen Forschungsgestus aufzufangen und die verselbstverständlichten kulturellen Sinnannahmen der Mitglieder letztlich als mangelnde individuelle Reflexivität, ethnozentrische Renitenz oder insgesamt als Verblendungszusammenhang zu betrachten.31 Dieses strukturell angelegte anerkennungstheoretische Defizit wird dabei normativ besonders virulent, da ein bedeutungsorientiert-konstruktivistischer Kulturbegriff ja auf solche primordiale Sinnzuschreibungen selbst angewiesen ist. Die Offenlegung des kontingenten Charakters von bislang selbst-verständlichen und als bedeutsam angesehenen kulturellen Praktiken bzw. im Rortyschen Sinne Vokabularen kann – wenngleich sie theoretisch schlüssig (und man muss hier stets ergänzen: von den Betroffenen selbst als schlüssig anerkannt) ist – als demütigend empfunden werden.32 Einem Kulturbegriff, der auf den Aspekt der Sinn- und Bedeutungsstiftung kultureller Formationen vornehmlich oder (beinahe) ausschließlich kontingenzbetonend abhebt, ist dieses anerkennungstheoretische Problem inhärent.

31 | Eine solche Betrachtungsweise ist gleichsam strukturell als naheliegende an-

gelegt, unbeschadet dessen, dass dergleichen ideologiekritische Perspektiven vor allem unter machttheoretischen Gesichtspunkten in einem Widerspruch zu dem vornehmlich poststrukturalistischen Diskursfeld bedeutungsorientiertkonstruktivistischer Kulturbegriffe stehen. 32 | Vgl. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M 1992.

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3.2 Erhören und erhöhen Eine zweite Ambivalenz oder vielmehr ein Paradoxon, das mit dem hier zugrunde gelegten Kulturbegriff verbunden ist, hängt nun unmittelbar mit der Frage der anerkennenden identitätspolitischen Aufwertung bislang marginalisierter kultureller Gruppen und Diskurse zusammen. Wir hatten gesehen, dass unter der Bedingung, dass alle kulturellen Formationen machtdurchdrungene, kontingente, sinn- und bedeutungsstiftende Konstrukte sind, sich ein normativer Vorrang mehrheitlicher, bisher dominanter kultureller Formationen nicht mehr legitimieren lässt. Hegemonialen kulturellen Mustern, deren bisherige Unzweifelhaftigkeit selbst Effekte von „kulturellen Strategien ihrer Universalisierung“33 waren, kann kein vorranginger Geltungsanspruch mehr zugesprochen werden. Hierin besteht die emanzipatorische Kraft einer auf bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturvorstellungen fundierten sozialwissenschaftlichen Kulturwissenschaft, die sich um die Hörbarund Sichtbarmachung ehedem randständiger kultureller Selbstverständnisse bemüht und das Ziel der „plural societies that are accepting of difference, and that even celebrate it“,34 verfolgt. In diesem Sinne stellt Honneth fest, dass es vor allem die „Berücksichtigung des Besonderen, des Heterogenen“35 sei, von der „die Ethik der Postmoderne heute ihren theoretischen Ausgang“36 nehme. Nun ist diese beachtende Anerkennung des Besonderen und Heterogenen allerdings ihrer logischen Struktur nach paradox, wird sie doch mit der epistemischen und strukturellen Ununterscheidbarkeit des Besonderen vom bisher Allgemeinen begründet. Die Erhörung und Erhöhung randständiger und marginalisierter kultureller Formationen und Praktiken findet sich legitimiert durch die Ablehnung jedweden besonderen Geltungsanspruchs, jedweder Vorrangigkeit und durch den Ausweis kultureller Erhabenheit als eines machtdurchdrungenen, hegemonialen strategischen Konstrukts. Die Berücksichtigung des Besonderen realisiert sich als Erhöhung auf der Basis eines grundsätzlichen Ausschlusses von Erhabenheit. Das Besondere qualifiziert sich für seine Beachtung und Anerkennung dadurch, dass es seiner epistemischen Struktur nach etwas radikal Gleiches und vom bislang Allgemeinen ununterscheidbar ist. So aber hat die Hervorhebung des Heterogenen und Abweichenden auf der Basis der Einsicht in die epistemisch-strukturelle Gleichbeschaffenheit 33 | Moebius 2009, 153. 34 | Weedon 2004, 159 35 | Vgl. Axel Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit: Aufsätze zur praktischen Phi-

losophie, Frankfurt a. M. 2000.

36 | Ebd.

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aller kulturellen Praktiken letztlich jene logische Struktur, die Sloterdijk als „die Demokratisierung der Vornehmheit“37 und daher als „Paradoxon eines Privilegs für alle“38 bezeichnet. Unter den Bedingungen einer egalitären Konstruktivität und Machtbedingtheit kann „Anerkennung nicht mehr Hochachtung oder Würdigung bedeuten […], sondern – der Ausdruck fehlt in unserer Sprache – Tiefachtung oder Gleichachtung im neutralen Raum, gerechte Zubilligung einer niemandem abzustreitenden Unerheblichkeit“:39 Das Fest der Diversität und Differenz wird unter den Vorzeichen einer unentrinnbaren und paradoxen Vorrangsgleichheit und schließlich anspruchsmäßiger Ununterscheidbarkeit begangen. Durch diese paradoxe Logik einer Anerkennung des Besonderen, die darauf gründet, dass sie eben keine besondere Anerkennung bereitstellen kann, wird nicht nur die bisweilen frappierende argumentative Ähnlichkeit der Theorie und Praxis von unterschiedlichsten emanzipatorischen Identitätsdiskursen verstehbar. Vielmehr wird vor allem auch der in diesem Zusammenhang oft anzutreffende implizite Determinismus erklärbar, der die Mitglieder minoritärer, bislang diskriminierter kultureller Strömungen und Formationen auf ihre kulturelle Zugehörigkeit und ihre Exklusionserfahrungen reduziert – und zwar gerade durch die analytische Totale auf die unhintergehbare Bedeutung kultureller Besonderheiten und Exklusionserfahrungen selbst.40 Es mag wohl auch an einem impliziten oder gleichsam gefühlten Wissen um die unhintergehbare Gleichkontingenz minoritärer wie hegemonialer Kulturmuster liegen, das in bedeutungsorientiert-konstruktivistisch fundierten Identitätsdiskursen schließlich zu der Tendenz führt, das Spannungsfeld zwischen Sinnstiftung und Konstruktivität innerhalb des Kulturbegriffs durch die Überfokussierung auf die Besonderheit exkludierter Sinnansprüche auflösen zu wollen – wobei die Gefahr besteht, die Bindung der Person zu ihrem kulturellen Kontext und die Abgrenzung zu anderen Kontexten in ähnlicher Rigorosität zu betreiben wie in vormaligen, essentialistisch konnotierten Diskursen. Dadurch, dass eine besondere Berücksichtigung kultureller SprecherInnenpositionen machttheoretisch und emanzipationspraktisch geboten ist, läuft das Individuum zugleich Gefahr, in jeder seiner Aussagen auf (s)eine identitäre kulturelle Position zurückgeführt und mithin fixiert zu werden. Es berühren sich der essentialistische Identitätsdiskurs und der Konstruktivismus. Neben dieser Tendenz aber, die selbst schon problematisch ist, bleibt das Problem eines Anspruchs auf erhöhende Anerkennung unter der Be37 | Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen: Versuch über Kulturkämpfe in der

modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000.

38 | Ebd. 39 | Ebd., 88. 40 | Siehe hier lediglich beispielhaft die materialen Untersuchungen von Weedon

2004.

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dingung geltungsmäßiger Horizontalität bestehen und setzt der Varianz und Heterogenität potentiell achtenswerter kultureller Unterschiede eine definitive Grenze: „Die bunte Masse ist jene, die weiß, bis wohin man zu weit gehen darf – bis an die Schwelle zur vertikalen Unterscheidung.“41 Die Möglichkeit zur Unterscheidung findet sich beschränkt durch eine Idee von Differenz, die keinen Vorrang mehr vergeben kann und daher nivellierend das Potential der Verstörung und Verletzung durch das Andere im Grundsatz auszuschließen sucht. Damit aber muss die Möglichkeit der Differenz im Wesentlichen auf den Bereich von leicht erträglichen Geschmacksfragen42 beschnitten bleiben – die dann allerdings sowohl rigoros kulturell-kollektiviert als auch bedeutungsmäßig aufgeladen werden müssen und daher bisweilen mit grimmiger Ernsthaftigkeit geltend gemacht werden. In der bunten Masse muss der einzelne decaffeinated other (Žižek) unbedingt vornehmlich als ein Repräsentant kultureller Praktiken, Diskurse und Formationen gesehen werden, schon um die Differenz der Differenzbetonung selbst zu synthetisieren. Dabei ist es m. E. eben diese Hervorhebung des Kollektiven, der emanzipatorische Befreiungsdiskurse auf der Basis eines sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs ihre politische Handlichkeit bzw. handsomeness verdanken, die sich in ihrem letztlich unbestrittenen politischen Erfolg in westlichen Gesellschaften – bis weit in traditionell-konservative Kontexte hinein – zeigt. Aus einer gouvernementalen Ordnungsperspektive jedenfalls ist es verlockend, subjektiv-individuelle Sinnansprüche erst dann als legitime anzuerkennen, wenn sie auf kulturelle, d. h. kollektive Ansprüche zurückzuführen sind. Die Tendenz, dass letztlich nur noch Geschmacksfragen erträgliche Differenz konstituieren und abbilden können, verbindet sich dabei schließlich auch mit dem gouvernementalen Trend, dass Geschmacksentscheidungen nicht mehr lediglich kulturell erklärbar sind, sondern in zunehmendem Maße auch nur noch kulturell tolerierbar zu sein scheinen.43

41 | Sloterdijk 2000, 87. 42 | Wobei auch diese Unterschiede unter einem Angleichungsdruck stehen, der

sich m. E. vornehmlich in einem Dispositiv zeigt, das man als eine allgemeine psychische, körperliche wie weltanschauliche Fitnessforderung bezeichnen könnte: Kollektive Unterschiede sind erwünscht, wenn nicht gefordert, solange sie Subjekte hervorbringen, die produktiv, leistungsbereit, körperbewusst, optimistisch und insgesamt fit for fun sind und sein wollen. 43 | Es verwundert jedenfalls nicht, dass der (glücklicherweise) gestiegenen Sensibilität staatlicher Administrationen für ethnische, religiöse, sexuelle etc. Differenzen ein neuer Rigorismus in Fragen der individuellen Lebensführung gegenübersteht. Lebensstilentscheidungen scheinen kaum mehr als individuelle rechtfertigbar, sondern nur noch dann legitime Anerkennung finden zu können, wenn sie als i. w. S. kulturell-kollektive Eigenheiten ausgewiesen werden können – so wie beispielsweise der Tabakgenuss bei nordamerikanischen Ureinwohnern gesellschaftlich wie administrativ als schützenswerte kulturelle Praktik anerkannt wird.

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Nun könnte man das in diesem Abschnitt dargelegte logische Dilemma dadurch zu lösen versuchen, dass man den Anspruch auf Sichtbarund Hörbarmachung im Sinne eines Nullsummenspiels schlicht als ein begrenztes Gut auffasst, das neu und nunmehr gerecht verteilt werden muss. Man würde hervorheben, dass es nicht um eine logisch paradoxe Privilegierung aller, sondern um eine Erhebung des Marginalen zulasten des nun abzusenkenden Hegemonialen gehe, die sich schließlich auf gleicher Höhe (bzw. Tiefe) treffen. Im Sinne des liberalen Ideals gleicher diskursiver Chancen wäre dies zwar ein gangbarer Argumentationsweg. Aber auch abgesehen davon, dass einer solchen Sicht ein klassischhierarchisches Machtverständnis zugrunde liegt, das kaum mit dem diskursiv-netzwerkhaften Machtbegriff poststrukturalistischer Ansätze in Einklang zu bringen ist, ginge einer solchen Argumentation doch in eigentümlicher Weise jener Imperativ der Berücksichtigung marginalisierten Sinns ab, der für bedeutungsorientiert-konstruktivistisch inspirierte Befreiungsdiskurse charakteristisch ist. Denn so zeichnet sich diese zeitgenössische Tradition der Theorie und Praxis kultureller Emanzipation gerade dadurch aus, dass sie sich nicht in der klassischen liberalen Forderung nach rechtlicher Gleichstellung erschöpft, sondern die besondere Bedeutung kultureller Sinnstiftung und die Notwendigkeit ihrer Erhörung und Anerkennung – und damit den Anspruch auf kulturell-inhaltliche (Be-)Achtung – hervorhebt.

3.3 Kulturalität und Verachtung Eng mit den beiden bislang besprochenen Schwierigkeiten hängt ein weiteres Problem zusammen, das auf einer allgemeinen Ebene die Frage der Wertzuweisung an das Phänomen der kulturellen Formation per se bzw. an das Faktum der Kulturalität überhaupt betrifft. Im sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff geht das Phänomen der Kulturalität selbst jeder normativen Konnotation verlustig. Kulturen kann nicht schon allein deshalb ein normativer Wert zugesprochen werden, weil sie Kulturen sind, so dass aus dem hier zugrunde gelegten Kulturbegriff zwingend weder der Imperativ der Bewahrung kultureller Formationen oder Praktiken noch das Gebot des interkulturellen Interesses zu folgern ist. Wir haben es beim sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff ja wesentlich mit einem kontextualisierenden, ent-essentialisierenden und desubstantiierenden downsizing von Kultur zu tun. Aus der Erkenntnis der unhintergehbaren Gleicheingelassenheit aller Menschen (und ggf. auch aller Dinge (Latour)) in kulturelle Formationen als bedeutungsgenerierende und machtdruchdrungene Konstrukte folgt daher zwar einerseits die Unterminierung apriorischer kultureller Hierarchien.

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Zugleich aber folgt andererseits, dass die Existenz von Kultur selbst sowie die Tatsache der Einbettung des Menschen in kulturelle Sinnkonstrukte als bloße Gegebenheiten erscheinen, die ebenso unumgänglich wie trivial sind. Das Vorhandensein von Kultur überhaupt sowie kulturelle Eingelassenheit an sich erscheinen als schlicht unabdingbare Fakten, denen schon aufgrund ihrer Zwangsläufigkeit und gleichkontingenten Veränderbarkeit kein normativer Wert beigemessen werden kann. Kultur ist ein schlechterdings vorhandenes Phänomen – das hierin letztlich dem Wetter gleicht. Als einfach vorhandener Aspekt der conditio humana gibt es daher keinen Grund, Kulturalität an sich schon einen apriorischen, gleichsam intrinsischen Wert zuzusprechen. Eine solche Aufladung von Kultur muss aus bedeutungsorientiert-konstruktivistischer Perspektive vielmehr selbst als kulturelle (Macht-) Strategie erscheinen. „Kultur“ ist kein normativ qualifizierendes Label mehr. Um einen Satz Rousseaus frei im Hinblick auf die Frage der Kultur zu wenden: Kulturelle Formationen sind, dadurch dass sie sind, immer schon alles, was sie sein sollen – nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Aus einer liberalen wie pragmatistischen Perspektive44 betont schon Rorty, „daß der Vorschlag, absolut jede Kultur […] sollte zunächst einmal als erhaltenswert gelten“,45 bereits auf der kulturbegrifflichen Ebene, aber vor allem hinsichtlich der normativen Wünschbarkeit eines solchen Vorschlages ein irreführender und unplausibler sei. In diesem Sinne ist es m. E. schließlich insbesondere die schwerpunktmäßig epistemologische, konzeptionell und ethisch schlüssige Kritik moderner, vornehmlich konstruktivistischer Ansätze am Essentialismus, der Verweis auf die Unentrinnbarkeit aus kulturellen Sinnstiftungszusammenhängen, ihrer Kontingenz und Machtverwobenheit,46 aus der folgt, dass kulturellen Formationen (und damit ihren Annahmen, Praktiken, etc.) keineswegs ein apriorischer oder intrinsischer ethischer Wert zukommen kann und sie nicht allein deshalb schon Respekt verdienen, weil sie Kulturen sind. Aus der im Kulturbegriff angelegten Forderung der Berücksichtigung auch fremder, bislang marginalisierter Kulturen und Praktiken in ihrem jeweiligen sinnstiftenden Selbstverständnis findet sich systematisch demnach nicht zwingend die Vorstellung eines allgemeinen und apriorischen Anspruchs kultureller Formationen auf Respektierung, Emanzipation, anerkennende Achtung oder auch nur Tolerierung begründet. Beachtung impliziert keine Achtung. Die Frage, ob man nun einen Imperativ der Emanzipation bislang randständiger kultureller Praktiken und Formationen oder die Aufforderung der Assimilation gegenüber bislang randständigen kulturellen Praktiken und Formationen formuliert, ist unter 44 | Vgl. Richard Rorty, Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt a. M. 2003, 271. 45 | Ebd., 273, vgl. ebd., 272ff. 46 | Vgl. erneut Weedon 2004, 19.

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Verwendung eines bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturverständnisses keineswegs schon implizit beantwortet. Kulturelle Formationen sowie die Eingelassenheit der Individuen in kulturelle Formationen und Kontexte sind in normativer Hinsicht kein Wert an sich. Daher lässt sich die Frage nach ihrer Respektierung, Anerkennung oder auch nur Tolerierung nicht auf der allgemeinen Ebene eines sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs beantworten. Dagegen kann eine essentialistische Idee von Kultur, die von einer wesensmäßigen, vorgängigen, gleichsam erhabenen Wahrheit kultureller Formationen ausgeht, pauschal den normativen Gehalt und den ethischen Wert von Kulturen an sich hervorheben und beispielsweise ganz grundsätzlich die normative Aufforderung der Bewahrung und des Schutzes von Kulturen formulieren, die in ihrer Existenz bedroht sind. Aus einer bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Sicht ist nun bemerkenswerterweise eine solche Rede nicht ohne weiteres möglich, da die kulturbegriffliche Einsicht in die schlicht unentrinnbare Eingelassenheit Aller in kontingente Sinnzusammenhänge alleine noch keinen normativen Zwang ausübt. Die These, dass ein bedeutungsorientiert-konstruktivistischer Kulturbegriff eo ipso ein auf Emanzipation und Anerkennung ausgerichteter sei, müsste vielmehr selbst auf die Idee eines intrinsischen Eigenwertes kultureller Formationen rekurrieren, die eine Reminiszenz essentialistischer Vorstellungen und nur unter Rückgriff auf die Vorstellung einer gleichsam besonderen und vorgängigen Wesenheit von kulturellen Formationen formulierbar wäre. Die Anerkenntnis der sinnstiftenden Heterogenität, Vielstimmigkeit und Veränderbarkeit kultureller Formationen allein impliziert jedenfalls noch keineswegs eine normative Aufwertung des Fremden – was durch die in Abschnitt 3.1 dargelegte Tendenz des sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs, primordiale Sinnansprüche der Individuen zu verkennen, noch verstärkt wird. Die Einsicht, dass kulturelle Formationen wesentlich sinn- und bedeutungsgenerierende, gegenständlich potentiell umfassende sowie machtdurchdrungene Konstrukte sind, impliziert demnach keinerlei normative Aufladung des Phänomens bzw. des Faktums der Kultur, sondern kann vielmehr mit der gleichen systematischen Folgerichtigkeit sich in einer theoretischen wie praktischen Haltung kultureller Verachtung überhaupt realisieren. Dabei möchte ich den Begriff der Verachtung im Anschluss an Sloterdijk verstehen als „[v]erweigerte Anerkennung“47 in einem weiten Sinn, der Desinteresse, Aversion und Gleichgültigkeit einschließt. Eine solche Haltung der Verachtung muss – ins Praktische gewendet – kulturellen Formationen nicht mit der Vorannahme eines ihnen inhärenten Wertes begegnen, sondern wird Kulturen zunächst 47 | Sloterdijk 2000, 31.

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einmal nur schlicht als existent zur Kenntnis nehmen können, ohne ihrem bloßen Vorhandensein, ihrer möglichen Marginalität oder Hegemonie, ihrer Entfaltung oder ihrem Verschwinden per se irgendeinen Wert beizumessen. Eine interessierte und dialogische Offenheit, Neugier und Aufgeschlossenheit, die für jede neue Begegnung mit dem Fremden als „Einstiegshaltung“ notwendig ist und sich auch in der Bereitschaft zeigt, sich durch das Fremde auch selbst in Frage stellen zu lassen, muss und wird sich aus dem hier diskutierten Kulturbegriff durchaus nicht zwingend ergeben. Wenn Moebius zu Recht betont, dass das „sozialkritische und ethische Potenzial der poststrukturalistischen Kulturtheorien […] genau darin [liegt], die Subjektivierungsweisen, die Entstehung kultureller Codes und Ordnungen sowie die damit einhergehenden Ausschlüsse […] zu erklären“,48 dann ist ihm dahingehend zuzustimmen, dass es sich um ein ethisches Potential im Sinne einer Option handelt, das im sinnorientiertkonstruktivistischen Kulturbegriff (der ja wesentlich ein poststrukturalistischer ist) durchaus angelegt ist, sich aber schon auf der theoretischen Ebene nicht zwangsläufig realisieren muss. Der analytische Ausweis von kulturellen Formationen und Praktiken als kontingente Konstrukte machdurchzogener und -bezogener Sinnstrukturen mag eine normative Anerkennung bislang ausgeschlossener kultureller Sinnstrukturen sogar als naheliegende Möglichkeit suggerieren, aber schließt eben auch die gegenteilige Entscheidung zur Verachtung nicht aus.

4. Handhabung und Einhegung der kulturbegrif flichen Ambivalenzen Es ist zu Beginn bereits hervorgehoben worden, dass der Ausweis systematischer und konzeptioneller Schwierigkeiten im sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff hier nicht in der Absicht seiner Verabschiedung vorgenommen wird. Vielmehr ist es zum Zwecke seiner konzeptionellen Stärkung notwendig, die genannten, z. T. grundlegenden Probleme kritisch zu reflektieren. Gerade weil ein Rekurs auf essentialistische Vorstellungen keinen gangbaren Weg bereitstellt und sowohl systematisch als auch normativ zu teuer erkauft wäre, ist es nötig, Antworten bzw. Handhabungen für die im Kulturbegriff angelegten theoretischen Ambivalenzen herauszustellen und zu diskutieren. Da sich diese Schwierigkeiten allesamt nicht zuletzt auf normative Aspekte beziehen und auch in systematischer Hinsicht miteinander zusammenhängen, soll im Folgenden zunächst einzeln auf die drei genannten Probleme ein48 | Moebius 2009, 161.

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gegangen werden. Dabei wird sich schließlich zeigen, dass die Antwort in eine gemeinsame, zusammenführende Richtung weist. Diese Antwort wird nicht zuletzt darin bestehen, erstens hilfreiche Aspekte der dargestellten Fallstricke herauszustellen und einen produktiven Umgang mit ihnen auszuweisen und zweitens auf ihre reflexive Bewusstmachung und Berücksichtigung im sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff zu drängen. Kommen wir zunächst auf das Problem der Unterberücksichtigung der immer auch primordial wirkenden sinn- und bedeutungsstiftenden Kraft kultureller Formationen zu sprechen. Dieses Problem scheint mir analytisch aufzufangen sowohl notwendig als auch möglich zu sein.49 Weshalb auch im Falle gegebener Kontingenzeinsicht der Subjekte in die eigene kulturelle Formation diese immer auch als primordial sinnstiftend erfahren wird, lässt sich aus einem sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff heraus dabei zwar nicht begründen. Dass aber die Gründe für die primordial-sinnstiftende Kraft kultureller Formationen offen bleiben, darf und muss indes keinesfalls zu einer schlichten Ignoranz gegenüber der immer auch primordialen Sinnstiftung innerhalb und durch kulturelle Formationen führen. Gerade ein sinnorientiert-konstruktivistischer Kulturbegriff ist auf das primordiale Sinnstiftungspotential von Kulturen angewiesen, um die Stabilität und Beharrlichkeit kultureller Praktiken und Formationen auch im Falle vorhandener Kontingenzeinsicht der Subjekte verstehbar sowie eine tatsächliche Einbettung der Subjekte in kulturelle Kontexte bzw. die Produktion der Subjekte durch kulturelle Kontexte überhaupt einsichtig machen zu können. Der Kulturbegriff selbst muss diesem Phänomen der primordialen Sinngenerierung Rechnung tragen. Dies kann in der Form der Unterscheidung zweier unterschiedlicher Sinn- bzw. Bedeutungsstiftungsebenen innerhalb des Kulturbegriffs geschehen – d. h. in der einfachen Bewusstmachung und Berücksichtigung, dass neben der Ebene kontingenter Sinnkonstruktion auch eine Ebene der primordialen Sinnstiftung vorhanden ist. Im Kontext eines sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs können wir es dabei freilich nicht mit der Behauptung zu tun haben, dass kulturelle Formationen über einen wesenhaft-inhärenten, nur um den Preis der Selbstaufgabe veränderbaren Sinn-, Bedeutungs- und Wahrheitskern verfügen, sondern mit der deutlich schlichteren Feststellung, dass kulturelle Formationen auf das Vorhandensein auch primordialer Sinn- und Bedeutungszuschreibungen funktional angewiesen sind. Da diese zweite Sinn- und Bedeutungsebene kultureller Formationen nur in einer letztlich selbsterfüllenden, unausgesprochenen Geltendmachung selbst besteht, ist sie 49 | Siehe für diesen Punkt ausführlicher: Vasilache 2010.

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inhaltlich wie begründungstheoretisch leer und kann daher auch keine Argumentation gegen die Diskussion und Bewusstmachung kultureller Praktiken als kontingente Konstrukte bieten. Gerade weil diese Sinnund Bedeutungsebene in jenem Sinne opak und nicht analytisch durchdringbar ist, dass sie nicht weiter rationalisierbar ist, keine systematische Begründungsstruktur bereithält und inhaltlich unbestimmt bzw. leer ist, ist sie m. E. analytisch in der Form einer einfachen Bewusstmachung und Berücksichtigung ihrer Existenz zu fassen. Der Kulturbegriff würde demnach kulturelle Formationen als kontingente und veränderbare Kontexte der Sinn- und Bedeutungsstiftung verstehen, zugleich aber berücksichtigen, dass die kontingente Sinnstiftung funktional in Teilen auch auf das Vorhandensein einer Dimension der primordialen Sinnund Bedeutungsaufladung angewiesen ist. Kulturelle Formationen sind veränderbare Konstrukte der Sinn- und Bedeutungsstiftung, in denen – trotz vorhandener Konstrukt- und Kontingenzeinsicht bei den Mitgliedern – Sinn und Bedeutung immer auch primordial zugewiesen werden. Wenn wir uns nun dem zweiten Problem nähern, so stellen wir zunächst fest, dass die Forderung eines anerkennenden Gleichvorrangs für alle, einer besonderen Anerkennung, die allen gebührt und keinem speziell mehr zustehen kann, aufgrund ihrer Struktur als Paradoxon logisch nicht aufzulösen ist. Es bleibt dabei: Auf der Grundlage der geltungstheoretischen Egalisierung kultureller Formationen und Praktiken im bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff werden eben nicht lediglich tradierte Vorrangstellungen hegemonialer Kulturen und Praktiken als Konstrukte in ihrer Kontingenz offenbar, sondern zugleich wird die Möglichkeit einer besonderen normativen Anerkennung überhaupt prekär. Aus diesem logischen Dilemma führt kein logischer Weg. Nun haben wir es bei der Betrachtung von Kultur aber nicht mit einer mathematischen Gleichung zu tun, und so ist in diesem Dilemma die Richtung für seine normative Einhegung bereits angelegt. Denn wenn der Kulturbegriff selbst keine Handreichung für eine besondere Anerkennung und Achtung bestimmter kultureller Formationen und Praktiken mehr bereitzustellen vermag, so folgt daraus doch nicht die Unmöglichkeit vertikaler Anerkennungshierarchien überhaupt, sondern vielmehr, dass Anerkennungswürdigkeit durch einen Fokus auf die konkrete inhaltliche Ebene tatsächlicher kultureller Formationen und Praktiken beurteilt werden kann und muss. Ob bestimmte kulturelle Praktiken Achtung und Respekt verdienen, lässt sich nur mit einem konkreten Fokus auf ihre kulturellen Inhalte entscheiden, nicht aber aus dem geltungstheoretischen Egalitarismus des bedeutungsorientiertkonstruktivistischen Kulturbegriffs herleiten. Die Entscheidung über die Achtung und Anerkennung kulturell marginalisierter (Sub-)Formationen und Praktiken ist mit dem Ausweis der Gleichkontingenz aller

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Formationen und Praktiken noch nicht vollzogen bzw. nicht zu vollziehen. Der Grund dafür, dass beispielsweise postkoloniale Befreiungsdiskurse wahrscheinliche Anwärter auf kulturell achtende Anerkennung sind, während neonazistische Diskurse und kulturelle Praktiken es unbedingt wert sind, weiter marginalisiert zu werden, liegt weder in ihrer sinnstiftenden Kraft für ihre Mitglieder noch in der Gleichkontingenz beider kulturellen Phänomene. Dass die Offenlegung der sinnstiftenden Kraft und geltungstheoretischen Kontingenz kultureller Formationen eine zwar notwendige, aber alleine nicht hinreichende Bedingung für die achtende Anerkennung kultureller Formationen und Praktiken ist, kann eigentlich als offensichtliche und mithin banale Feststellung gelten. Diesen Punkt hervorzuheben, scheint mir allerdings dennoch notwendig, da die theoretische, kulturanalytische wie auch praktische Tendenz, aus der Betonung konstruierter Kontingenz alleine schon die anerkennende Aufwertung marginalisierter Kulturen zu folgern, erstens durchaus verbreitet ist. Die Bewusstmachung, dass normative Achtung und Anerkennung eine Frage des konkreten Gehalts kultureller Formationen und Praktiken ist, verdeutlicht zugleich auch zweitens, dass das anerkennungstheoretische „Paradoxon eines Privilegs für alle“50 nur dann ein genuines Problem des Kulturbegriffs ist, wenn man den Fehler begeht, die Entscheidung über normative Anerkennung auf der allgemeinen Ebene des Kulturbegriffs selbst anzusiedeln, was letztlich eine Reminiszenz an essentialistische Vorstellungen ist. Dass der theoretische Entwurf eines sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs nicht alleine schon die achtende Anerkennung kultureller Formationen und Praktiken impliziert, sich die Entscheidung darüber vielmehr zum einen auf der Ebene kultureller Inhalte bewegen muss und zum anderen auch theoretisch weit voraussetzungsreicher ist,51 ist demnach kein Mangel des Kulturbegriffs, der mit dem Ausweis der Unbegründbarkeit apriorischer Vorrangingkeitsansprüche durchaus eine wichtige, aber nicht hinreichende Voraussetzung normativer Anerkennung bereitzustellen in der Lage ist. Das Problem besteht also nicht darin, dass der Kulturbegriff nicht schon aus sich heraus die normative Aufwertung bislang marginalisierter und ausgeschlossener kultureller Praktiken und Formationen sowie die Entscheidung über wünschenswerte Anerkennungshierarchien ermöglicht. Vielmehr besteht das Problem in der impliziten oder expliziten Annahme, dass dem so sei, wodurch die Möglichkeit der achtenden Erhörung und Erhöhung selbst 50 | Sloterdijk 2000, 73. 51 | Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozi-

aler Konflikte, Frankfurt a. M., 1992; Charles Taylor, Multiculturalism and the Politics of Recognition, Princeton 1992; Hans-Christoph Schmidt am Busch/ Christopher F. Zurn (Hg.), Anerkennung, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 21, Berlin 2009.

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untergraben wird und – damit ist bereits die dritte Schwierigkeit angesprochen – auch die normative Notwendigkeit sowie die normative Gefahr der Verachtung gegenüber dem Phänomen der Kulturalität insgesamt verkannt und theoretisch unterschätzt wird. Dass es sich hier um eine Gefahr handelt, liegt auf der Hand. So kann die Schlussfolgerung, dass man nicht nur im Hinblick auf einzelne kulturelle Praktiken, sondern mit Blick auf ganze kulturelle Formationen bzw. Kulturen insgesamt in normativer Hinsicht gute von schlechten Kulturen, mithin bewahrenswerte von nicht-bewahrenswerten Kulturen unterscheiden kann, in praxi durchaus ins Tragische umschlagen. Doch auch wenn man nicht so weit greift: Schon Desinteresse bildet nicht eben eine gute Grundlage für interkulturelle Begegnungen und impliziert keine Sensibilität für Diskurse um kulturelle (Be-)Achtung, Aufwertung und Anerkennung. Andererseits aber können ein gewisses Desinteresse und eine gewisse Langmut auch dazu beitragen, dass beispielsweise kulturelle Kontexte und Formationen, die sich aus ihnen selbst immanenten Gründen nicht zu einer achtenden Anerkennung gegenüber bestimmten anderen Formationen, Praktiken und Diskursen durchringen können, sich zumindest mit einer Duldung des von ihnen abgelehnten Anderen begnügen. Beispielhaft sei genannt die in den monotheistischen Buchreligionen theologisch noch immer starke Voreingenommenheit gegenüber kulturellen Kontexten und Praktiken, die von der heterosexuellen Matrix und der mit ihr zusammenhängenden Geschlechterordnung abweichen.52 Solange solche Voreingenommenheiten vorhanden sind und den Weg zu achtender Anerkennung versperren, ist eine desinteressierte Haltung des Leben-und-Leben-Lassens allemal günstiger als ein missio-narischer und damit bekämpfender Anspruch, der im Fremden eine immerwährende Herausforderung und Einladung zu seiner Überwindung sieht. Verachtung als Desinteresse kann Tolerierung schaffen, wo Anerkennung (noch) nicht erreichbar ist. Vor allem aber ist die Zurückweisung des Gedankens eines apriorischen, gleichsam intrinsischen Wertes von kulturellen Formationen aus normativer Perspektive eine Notwendigkeit, gerade um plausible und ethisch gehaltvolle Unterscheidungen zwischen der Anerkennungswürdigkeit verschiedener kultureller Formationen und Praktiken zu produzieren. Um bei dem oben gegebenen Beispiel zu bleiben: Eine 52 | Es sei lediglich angemerkt, dass die bisweilen erstaunliche Sexualitätsfixierung

bestimmter religiöser Kontexte nicht nur auf prüde Gemüter durchaus irritierend bis obszön wirken kann. Diese Sexualisierung scheint allerdings dem Zeitgeist zu entsprechen und ist – man betrachte beispielhaft die neue christliche Enthaltsamkeitsbewegung – innerhalb des allgemeinen Spektrums der medialen und popkulturellen Körperlichkeitsorientierung, Sexualisierung und Genitalfixierung voll anschlussfähig.

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beherzte Zurückweisung rassistischer und neonazistischer kultureller (Sub-)Formationen, Diskurse und Praktiken ist darauf angewiesen, dass solchen Kulturphänomenen kein inhärenter Wert allein schon deshalb zugesprochen wird, weil es sich um einen Ausdruck von Kultur handelt. Eine Haltung, die kulturellen Formationen ohne einen Vorgriff der Anerkennungswürdigkeit begegnet, geht eben nicht in der Gefahr auf, bestimmten kulturellen Formationen die normativ wünschenswerte Anerkennung zu verwehren, sondern ist vielmehr auch nötig, um normativ bedenklichen Formationen und Praktiken ebendiese Achtung und Bewahrenswürdigkeit vorzuenthalten. Damit aber zeigt sich erneut, dass die Entscheidung über die Anerkennungs- und Erhaltenswürdigkeit kultureller Formationen und Praktiken auf der Ebene der konkreten inhaltlichen Ausformung kultureller Formationen ihren Platz hat. Die in der allgemeinen kulturbegrifflichen Wertfreiheit angelegte Gefahr einer grundsätzlichen ethnozentrischen Verachtung des Anderen findet sich also bereits durch die Bewusstmachung und Berücksichtigung der Tatsache eingehegt, dass die Antwort auf die Frage nach der Anerkennungsund Erhaltenswürdigkeit kultureller Formationen und Praktiken sich stets nur im Konkreten geben lässt. Die aus dem Kulturbegriff folgende ethische und normative Neutralität von Kultur und Kulturalität per se ist eine Voraussetzung, um auf der konkret-inhaltlichen Ebene normativ gehaltvolle Unterscheidungen zu treffen. Dieser erneut sich ergebende Verweis auf die Notwendigkeit der Fokussierung auf die Ebene der konkreten inhaltlichen Auseinandersetzung mit kulturellen Formationen vermag auch die Gefahr der Verachtung im Sinne eines allgemeinen interkulturellen Desinteresses zu schmälern. Denn so muss interkulturelle Offenheit ja keineswegs zwingend auf einer apriorischen normativen Aufladung von Kulturen als Kulturen fußen, sondern steht vielmehr auf der konkret-inhaltlichen Ebene alleine schon aufgrund der Unausweichlichkeit interkultureller Begegnungen praktisch zu Gebote. Dies freilich ist in der Tat bereits auch auf der allgemeinen kulturbegrifflichen Ebene angelegt: Aus dem schlicht unausweichlichen Umstand der Existenz verschiedenster kultureller Formationen sowie des andauernden Kontaktes zwischen ihnen, ihren Überschneidungen, Gegensätzen und hybriden Vermischungen folgt letztlich die Unabwendbarkeit der Forderung nach (zumindest einem Minimum an) interkultureller Offenheit, die durchaus nicht auf den Glauben eines apriorischen, mithin intrinsischen Wertes von kulturellen Formationen sich stützen muss. Wenn sich nun also zeigt, dass die im sinnorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriff angelegten oder mit ihm eng verbundenen systematischen wie normativen Ambivalenzen und Schwierigkeiten sich durchaus konzeptionell auffangen, bändigen oder bisweilen produktiv

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wenden lassen, dann gilt zu betonen, dass dies nur unter der Prämisse ihrer reflexiven Bewusstmachung, Einbeziehung und Berücksichtigung möglich ist. Zurückzuweisen ist demnach die nicht unverbreitete Annahme, dass ein bedeutungsorientiert-konstruktivistischer Kulturbegriff gleichsam aus sich heraus, d. h. alleine aufgrund seiner gegenständlichen Offenheit, seiner machtanalytischen Sensibilität, seiner Sinnorientierung und seiner Konstrukt- und Kontingenzbetonung schon hinreichende Gewähr einerseits für die analytische Verstehbarmachung der normativen Aufladung kultureller Sinnansprüche, sowie andererseits für die Herausbildung einer Theorie und Praxis (inter-)kultureller Achtung und Anerkennung geben könne. Es ist daher notwendig, dass die blinden Flecken des bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs reflexiv sowohl in seine theoretische Konzeptualisierung als auch in ein auf ihn rekurrierendes analytisches Selbstverständnis einbezogen werden. Die genannten Ambivalenzen und bisweilen sogar Paradoxien im Kulturbegriff erweisen sich vornehmlich durch ihre Unterberücksichtigung als problematisch, können dagegen durch ihre reflexive Bewusstmachung, Berücksichtigung und konzeptionelle Integration in die kulturtheoretische und -begriffliche Arbeit eingehegt, bisweilen sogar gebannt oder produktiv gewendet werden. Dadurch aber gewinnt nicht nur der Kulturbegriff an konzeptioneller Schärfe, sondern es wird auch ein Rekurs auf essentialistische Vorstellungen insgesamt sowie auf essentialistische Implikationen innerhalb des bedeutungsorientiert-konstruktivistischen Kulturbegriffs selbst unwahrscheinlich.

Der Fremde Zur Soziologie der Indifferenz1 RUDOLF STICHWEH

I. Der folgende Text berichtet aus einem Arbeitszusammenhang, den ich seit einigen Jahren unter dem Arbeitstitel „Der Fremde – Zur Evolution der Weltgesellschaft“ verfolge. 2 Vier Schritte der Argumentation werde ich in diesem Text skizzieren. Am Anfang stehen einige systematische Bemerkungen zur Soziologie und zum Begriff des Fremden. Daran schließen im zweiten Teil Überlegungen zur historischen Semantik des Fremden an, die in gewisser Hinsicht auf einem anderen Weg noch einmal dasselbe versuchen wie der erste Teil. Was mich, wie auch andere, an historischer Semantik fasziniert, ist der Eindruck, dass wir es mit einer Methode zu tun haben, die es erlaubt, auf empirische Weise theoretische Forschung zu treiben. Damit ist gemeint, dass es sich bei historischer Semantik um eine in Selbstbeschreibungen verankerte Theoretisierung handelt, die sich als Heuristik für systematische Theorie eignet. In einem dritten Teil wird es um Veränderungen der Erfahrbarkeit des Fremden im System der Weltgesellschaft gehen, also um die gegenwartsbezogene Leitfragestellung meines Forschungsprojekts. Man kann diesen dritten Teil als einen Versuch zu einer Soziologie der Indifferenz verstehen, weshalb dies auch als Titelformulierung dieses Aufsatzes fungiert. Viertens werde ich mit wenigen Bemerkungen zu einem Essay schließen, einem Text von James Baldwin, den Baldwin früh in seiner 1| 2|

Revidierte Fassung eines Textes, der zuerst erschienen ist in: Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination: Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, 45-64. Vgl. Rudolf Stichweh, Der Fremde: Studien zur Soziologie und Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 2010.

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Karriere nach einem dreimonatigen Aufenthalt in der Schweiz geschrieben hat und den ich hier diskutiere, weil er sich mit einigen Leitlinien meines Forschungsinteresses schneidet. Meine Arbeit konzentriert sich auf „den Fremden“, also nicht auf „das Fremde“ oder „die Fremde“. Diese Problemwahl erfolgt auch aus Gründen der Konsistenz zu den Präferenzen der soziologischen Tradition, weil mich die wissenssoziologische und wissenschaftsgeschichtliche Frage interessiert, warum die soziologische Tradition „den Fremden“ immer wieder in den Vordergrund gerückt hat und ob sich diese Problemstellung kontinuieren lässt. Mit einer Fragestellung, die auf „den Fremden“ zielt, hat man es dann im Weiteren damit zu tun, wie Fremdheitserfahrungen und wie Zuschreibungen von Fremdheit zu einem kompakten sozialen Objekt verdichtet werden. Oder, in einer anderen Terminologie, es geht immer um die Relevanz der Figur des Fremden für die Sozialdimension des Sinns, während eine Fragestellung, die sich auf „das Fremde“ richtet, primär mit Unterschieden befasst ist, die mit Erfahrungen in der Sachdimension zu tun haben. Dabei liegt es hinsichtlich der Sozialdimension auf der Hand, dass es sich bei „dem Fremden“ nicht unbedingt um eine Person handeln muss. Vielmehr kommen auch und zu historisch verschiedenen Zeitpunkten Geister, Tiere, soziale Gruppen, Korporationen oder vielfach in der Gegenwart „multinationale Unternehmen“ dafür in Frage, die soziale Rolle des Fremden zu übernehmen.3 Was aber ist der Sinn der Kommunikation, wenn jemand in sozialen Zusammenhängen als ein Fremder identifiziert wird? Es scheint dabei immer um die Frage der Inklusion/Exklusion in ein Sozialsystem zu gehen und spezifischer noch um eine Form von Inklusion/Exklusion, die sich auf das Kriterium der Mitgliedschaft stützt. So extrem verschieden die klassischen Texte von Georg Simmel und Alfred Schütz in der Analyse des Fremden sind,4 ist doch eine Gemeinsamkeit auffällig. Simmel und Schütz, ohne es in diesen Worten zu sagen, gehen beide davon aus, dass ein Sozialsystem, das bestimmte Andere als Fremde klassifiziert, sich selbst als ein System beschreibt, das aus Mitgliedern besteht. Fremde sind dann zunächst einmal Nichtmitglieder, und die Anschlussfrage ist, ob dies zu ihrem Ausschluß oder vielleicht sogar zu ihrer Tötung oder 3|

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Für archaische Gesellschaften vgl. Peter Fuchs, „Die archaische Second-Order Society: Paralipomena zur Konstruktion der Grenze der Gesellschaft“, in: Soziale Systeme 2, 1996, 113-130; zu multinationalen Unternehmen William A. Shack, „Introduction“, in: ders./Elliott P. Skinner (Hg.), Strangers in African Societies, Berkeley 1979, 1-17, 17; John M. Meyer, „The World Polity and the Authority of the Nation State“. in: George M. Thomas et al. (Hg.), Institutional Structure: Constituting State, Society, and the Individual, Newbury Park 1987, 41-70, 64. Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908)(= Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt a. M. 1992; AlfredSchütz, „The Stranger: An Essay in Social Psychology“, in: American Journal of Sociology 49, 1944, 499-507.

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alternativ zu Möglichkeiten führt, trotz ihrer Nichtmitgliedschaft einen Sonderstatus für sie vorzusehen. Nun ist die Beschreibung eines Sozialsystems über das Kriterium der Mitgliedschaft, sofern man beispielsweise in systemtheoretischen Termini denkt, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die Systemtheorie beschreibt bekanntlich nur Organisationen mittels des Kriteriums der Mitgliedschaft, während für die beiden anderen Ebenen der Systembildung, Interaktion und Gesellschaft, andere Abgrenzungskriterien gewählt werden, nämlich Anwesenheit bzw. kommunikative Erreichbarkeit.5 Ein weiterer irritierender Sachverhalt fällt unmittelbar auf. Organisationen, obwohl sie ihrer Definition über Mitgliedschaft nach dafür prädestiniert scheinen, verwenden totalisierende Klassifikationen wie die, jemand sei ein Fremder, offensichtlich kaum. Der Grund dafür scheint zu sein, dass sie die Bedingungen für Mitgliedschaft und die Rollenbeziehungen im Außenkontakt spezifischer oder ausschnitthafter fassen können und dieser Sachverhalt die diffuse Klassifikation eines sozialen Objekts als Fremder für sie entbehrlich macht; es sei denn, sie wird ihnen von ihrer sozialen Umwelt aufgedrängt. In Interaktionssystemen und in Funktionssystemen der modernen Gesellschaft kommt die Bezeichnung „ein Fremder“ dagegen häufig vor, was die Vermutung nahelegt, dass immer dann, wenn dies geschieht, eine korporatistische Selbstbeschreibung des entsprechenden Sozialsystems mitvollzogen wird. Eine solche korporatistische Selbstauffassung war für ältere Gesellschaftssysteme, in denen sich eine Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft erst ansatzweise durchgesetzt hatte, zweifellos adäquat. Das wirft aber die Frage auf, ob wir es eigentlich immer dann, wenn wir in der modernen Gesellschaft der Bezeichnung „ein Fremder“ begegnen, entweder mit einem Residuum älterer Gesellschaftsordnungen oder mit einem Krisensymptom eines Sozialsystems zu tun haben. Jede Fremdenfeindlichkeit, und das gilt, mutatis mutandis, gleichermaßen für jede Fremdenfreundlichkeit, ist möglicherweise ein Versuch, ein Sozialsystem auf Mitgliedschaft zu reduzieren, das eigentlich – unter Bedingungen der modernen Gesellschaft – schon auf andere Konstitutionsprinzipien umgestellt worden ist. Eine beispielsweise unter politischen Vorzeichen kommunizierte Fremdenfeindlichkeit kommuniziert dann offensichtlich die Absicht, das Mitgliedschaftskriterium der Staatsbürgerschaft, das unter kosmopolitischen Vorzeichen auch trivialisiert werden könnte, erneut als ein wertvolles Gut und als Konstitutionskriterium für ein wirkungsmächtiges Sozialsystem herauszustellen. Dies zu tun, sind vermutlich vor allem diejenigen motiviert, die über keine anderen wertvollen Güter verfügen 5|

Siehe Niklas Luhmann, „Interaktion, Organisation, Gesellschaft“, in: ders., Soziologische Aufklärung: 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, 9-20.

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und denen deshalb daran liegen muss, dass das wohlfahrtsstaatlich aufgewertete Gut Staatsbürgerschaft nicht durch Mitbenutzung durch neu hinzutretende Andere in seinem Wert gemindert werden kann.6 Was die Fremdenfreundlichkeit von der Fremdenfeindlichkeit unterscheidet, ist, dass sie, statt die Verweigerung eines Verzichts zu kommunizieren, das Moment der Gabe betont und daraus ihre Gratifikationen zieht. Ich will diese Überlegung hier nicht unmittelbar fortsetzen, aber es dürfte deutlich sein, dass sich als eine Leitfrage abzeichnet, wie modern die Figur des Fremden ist und ob jenseits ihrer Krisenrelevanz neue soziale Schemata sichtbar sind, die sie abzulösen versprechen. Eine sich zwingend aufdrängende Anschlussfrage ist, was eigentlich die Verwendung der Unterscheidung eigen/fremd oder einheimisch/ fremd impliziert. Was für Unterscheidungen sind dies und welche Konsequenzen hat ihr Gebrauch? Haben wir es bei diesen Unterscheidungen mit binären Codes zu tun oder handelt es sich um soziale Klassifikationen? An binären Codes tritt das Moment der Zweiwertigkeit, und d. h. genauer, das ihrer exklusiven Zweiwertigkeit hervor, das zugleich ihre Eignung für das Initiieren der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen begründet. Jemand ist entweder zugehörig oder fremd und eine dritte Möglichkeit ist unter den Bedingungen eines binären Codes ausgeschlossen. Soziale Klassifikationen können demgegenüber mehrstellig sein, Übergangszonen aufweisen und Uneindeutigkeiten Rechnung tragen. Soweit es um die Identifikation des Fremden geht, eignen sie sich vor allem, um einen mehrfach gestuften Mitgliedschaftsstatus vorzusehen, der Inklusion und Exklusion im Verhältnis zu einem Sozialsystem gradualisiert. Es dürfte unmittelbar einleuchten, dass wir in der historischen Semantik des Fremden auf beide Typen von Unterscheidungen treffen. Stammesgesellschaften tendieren zu einer strikten Binarität, und sie sind vermutlich auch darauf angewiesen, was sich daran zeigt, dass sie im Fall der Aufnahme eines Fremden in das System seine Fremdheit durch Adoption und verwandte Praktiken möglichst schnell zum Verschwinden zu bringen versuchen, also einen Fremden nicht im Status des Fremden inkludieren. Sie kennen keine „inneren Fremden“. Die stratifizierten Gesellschaften der alten Welt neigen demgegenüber zu komplexer werdenden sozialen Klassifikationen von Fremdheit, die systemintern und an der Grenze des Systems einen gestuften Fremdenstatus hervorbringen, der das Moment der Hierarchie als die Leitfigur der Gesellschaftsordnung übernimmt. Auch in dieser Hinsicht ist der Befund hinsichtlich der modernen Gesellschaft wiederum überraschend und auffällig. Die moderne Gesellschaft scheint, wenn sie von Fremden 6|

Dazu interessant Gudmund Hernes/Knud Knudsen, „Norwegians’ Attitudes Toward New Immigrants“, in: Acta Sociologica 35, 1992, 123-139.

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spricht, zur simplen Binarität zurück zukehren. Der Grund dafür könnte sein, dass in eine nicht auf dem Prinzip der Hierarchie aufruhende Gesellschaftsordnung eine komplexe soziale Klassifikation für Fremde nicht mehr leicht einzubringen ist, dass sie sozialstrukturell keine Anschlussmöglichkeiten mehr findet. Auf ähnliche Diagnosen stößt man erneut, wenn man fragt, was eigentlich aus der Identifikation des Anderen als Fremder, aus der darin liegenden Verweigerung oder Nichtzuschreibung der Mitgliedschaft an Handlungsanschlüssen folgt. Es gibt nicht nur die Extreme, den Fremden auszuweisen, ihn auf dem Wege der Tötung zu inkludieren oder ihn in eine Familie zu adoptieren, vielmehr erfolgt vielfach eine Inklusion des weiterlebenden Fremden unter Sonderbedingungen, die das Faktum seiner Fremdheit zugleich präsenthalten. Die klassische Soziologie des Fremden und die Soziologie der Marginalität setzten immer genau diesen Sachverhalt voraus, dass, um mit Simmel zu sprechen, „der Fremde heute kommt und morgen bleibt“, dass also in der Figur des Fremden „Nähe“ und „Ferne“ zu einer Einheit gebracht sind, die im übrigen charakteristisch für die moderne Erfahrung der Fremdheit ist, die in keinem Fall mehr das ganz Andere an den Rändern der bewohnten und bekannten Welt meinen kann. Drei Möglichkeiten lassen sich im Prinzip für die Behandlung des einmal per Zuschreibung identifizierten Fremden unterscheiden: Man kann ihn privilegieren, man kann ihn tolerieren und man kann ihn disprivilegieren.7 Dabei ist beobachtbar, dass manchmal ein- und dasselbe Sozialsystem gleichzeitig oder im Zeitablauf, manchmal auch für dieselbe Population von Fremden, diese drei Optionen nebeneinander oder auch nacheinander verwendet. Die Privilegierung des Fremden wie gleichermaßen auch seine Disprivilegierung war gerade in stratifizierten Gesellschaften wahrscheinlich. Fremde besetzten dann Statuslücken in Schichtungsordnungen, sie wurden durch mächtige Gruppen und Monarchen, die andere mächtige Gruppen schwächen wollten, privilegiert, u. ä. Entsprechendes galt für die Funktionalität von Disprivilegierungen, die es erlaubten, statusniedrige Gruppen immerhin mit relativen Vorteilen (im Vergleich zu Fremden) auszustatten und auf diese Weise Konfliktkonstellationen ständischer Gesellschaften zu entschärfen. Gerade die Geschichte des europäischen Judentums beweist die Flexibilität dieses Instrumentariums ständischer Gesellschaften, dass Juden für Sonderaufgaben gesucht und dann privilegiert werden konnten und wenig später in einer Krisensituation mit Abgabelasten belegt und für Pogrome freigegeben werden konnten. Die Toleranz gegenüber dem Fremden als das zweite der drei Reaktionsmuster ist eine voluntaristische Erfindung des 18. Jahrhunderts. 7|

Diese Unterscheidung bei John Gilissen: „Le statut des étrangers, à la lumière de l‘histoire comparative“, in: L’Étranger. Recueils de la société Jean Bodin, Bd 9 und 10 (hier: Bd. 9), Brüssel 1958, 5-57.

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Zugespitzt gesagt, meint sie den Sachverhalt, dass der Fremde zwar immer noch stört, aber man sich auf das Bemühen verpflichtet, dies zu ertragen. Das liegt noch weitab der spezifisch modernen Haltung der Indifferenz. Als bemerkenswert erweist sich nun erneut die Diagnose für die moderne Gesellschaft. Weil und soweit sie eine egalitäre Gesellschaft ist und den gleichen Zugang aller Gesellschaftsmitglieder zu allen Funktionssystemen zu verwirklichen versucht, sind Möglichkeiten der Privilegierung des Fremden in ihr strukturell ausgeschlossen.8 Also bleibt, soweit das Kriterium der Mitgliedschaft überhaupt relevant ist, nur die Möglichkeit der Disprivilegierung von Nichtmitgliedern im Vergleich zu Mitgliedern (im Bezug auf den politischen Mitgliedschaftsverband). Beobachten lässt sich insofern, dass die egalitäre Struktur der modernen Gesellschaft die Position des Fremden, sobald er als ein solcher identifiziert wird, problematisch werden lässt.

II. Im zweiten Teil meines Arguments werde ich einige Bemerkungen zur historischen Semantik des Fremden anschließen und die Verknüpfung einer semantikbezogenen Analyse mit einer systematisch-strukturellen Perspektive thematisieren. Die Absicht dabei ist, in aller Kürze den Typus von Argumentation vorzustellen, um den es mir in meinem Projekt geht. Zunächst ein paar Beispiele: Im antiken Griechenland ist „symbolon“ die in zwei Teile zerrissene Marke, mit der Gastgeber und Gast, wenn der eine der beiden viel später einmal als „Fremder“ den anderen wieder um Beherbergung bitten sollte, sich füreinander identifizierbar machen. Ein Symbol ist also insofern etwas, das einen Zusammenhang, der zerrissen worden ist, wieder als Zusammenhang erkennbar werden lässt und dies dadurch, dass die auseinandergetrennten Teile aufeinander ver weisen.9 „Symbola“ sind die aus dieser elementaren – und im archaischen Griechenland allein denkbaren – Interaktion abgeleiteten Verträge zwischen zwei griechischen Städten, mittels deren sie zunächst Beherbergungsbeziehungen (das Institut der „proxenie“), später privatrecht liche Beziehungen überhaupt regeln.10 Ein anderer bemerkenswerter 8|

Vgl. Rudolf Stichweh, „Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft“ (1988), in: ders., Inklusion und Exklusion: Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, 13-44, insb. V. 9 | Vgl. ausführlich zum Bedeutungsspektrum von „symbolon“ Walter Müri, Symbolon: Wort- und sachgeschichtliche Studie. Beilage zum Jahresbericht über das städtische Gymnasium, Bern 1931. 10 | Vgl. zur analogen Geschichte des „hospitium“ im römischen Recht Rudolf von Jhering, 1891: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 5. Aufl., Leipzig 1891, 232ff.

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begriffsgeschichtlicher Befund ist die in vielen Sprachen vorliegende Doppeldeutigkeit von Worten wie „host“ oder „hôte“, die den Gast und den Gastgeber bezeichneten und damit die normierte Reziprozität einer sozialen Beziehung offenleg ten.11 In der römischen Antike gibt es dann neben dem „hospes“ (d. i. wiederum der Gast und der Gastgeber) auch noch den „hostis“, d. h. denjenigen, der im Verhältnis zu einer Stadt Fremder und Gast ist. Aus „hostis“ wird im spätrepublikanischen Rom ausschließlich der „Feind“, wofür es, soweit ich sehe, bis heute keine überzeugende historische Erklärung gibt.12 Äquivokationen von „Fremder“, „Feind“, „Sklave“ finden sich in einer Reihe weiterer Sprachen. Schließlich „peregrinus“ als Wort für Pilger und Fremder, woraus man dann in einer charakteristischen christlichen Wendung folgern kann, dass unsere Pilgerschaft auf Erden uns immer nur als Fremde dort sein lässt.13 Ich will noch ein letztes – in diesem Fall literarisches – Beispiel erwähnen. Paul Valéry spielt in den Cahiers die Transformation von „étranger“ in „être ange“ = „ein Engel sein“ durch.14 Das ist, soviel ich sehe, ein Sprachspiel ohne etymologisches Fundament („étranger“ ist das lat. „extraneus“), aber zugleich ein bemerkenswert geistreicher und unbeabsichtigt auch sozialgeschichtlich treffender Einfall. Der Fremde ist immer wieder mit der Ungewissheit und der zunächst noch unbestimmten Überraschungsqualität des Boten verknüpft worden, die auch dem Engel eigen ist. Auch dies war ein konstantes Motiv für Vorsicht im Umgang mit dem Fremden. An diese zunächst illustrativen Beispiele möchte ich eine analytische Bemerkung anschließen: Die konstantesten Merkmale in der Semantik des Fremden scheinen Reziprozität und Ambivalenz zu sein. Reziprozität dokumentiert sich in der Doppeldeutigkeit vieler Worte, die den Gastgeber und den Gast meinen können, also die lebensgeschichtliche Vertauschbarkeit dieser Rollen andeuten. Damit wird zugleich ein Motiv sichtbar: Die Ungewissheit von Lebenslagen soll durch die Institutionalisierung sozialer Reziprozität aufgefangen werden. Ambivalenz andererseits tritt in der Ambiguität des Begriffs des „Fremden“, der den Gast oder den Feind bezeichnen kann, hervor. Diese Ambiguität ist wiederum zweistufig zu sehen. Erstens betrifft sie die Zuschreibung des Status des Fremden selbst. Die Ehefrau, die in die Familie einheiratet, kann eine Fremde

11 | Philippe Gauthier, „Notes sur l’étranger et l’hospitalité en Grèce et à Rome“, in:

Ancient Society 4, 1973, 1-21, 3ff.

12 | Vgl. zur Ambiguität von „hostis“ und Parallelen in anderen Sprachen Alfred

Bertholet, Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden, Freiburg i. B./Leipzig 1896, 9. 13 | Vgl. Felicity Heal, Hospitality in Early Modern England, Oxford 1990, 18. 14 | Valéry, Paul, Cahiers, Bd. 1-2, Paris 1973-4, I, 131.

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sein;15 weiterhin der Verwandte, der aber in einem anderen Haus wohnt; oder die anderen Einwohner des Dorfes, die aber nicht verwandt sind; schließlich der von irgendwoher eintreffende völlig unbekannte Fremde. D. h. der Begriff des Fremden regelt in vielen Gesellschaften Inklusionsund Exklusionsverhältnisse auf vielen Ebenen gleichzeitig, und es kann von minimalen Situations- oder Kontextverschiebungen abhängen, ob jemand einer Wir-Gruppe oder dem Fremdenstatus zugerechnet wird, und diese Zurechnungen sind insofern variabel. Die zweite Ambiguität betrifft die Frage, ob der als solcher identifizierte Fremde nun Gast oder Feind ist. Auch hier gilt wiederum: minimale Kontextveränderungen bestimmen die Option für die eine oder andere Seite – und die jeweils gewählte Option ist zeitlich nicht stabil. Unmittelbar nachdem man den Fremden über die Schwelle des Hauses geleitet hat, kann es vorkommen, dass man ihn zu töten versucht. Der Hintergrund ist hier offensichtlich der einer normativen Ambivalenz. Einerseits die unausweichliche Ressourcenknappheit fast aller menschlichen Gesellschaften, die zu einem strategisch kalkulierenden, feindselig eingefärbten Umgang mit allen Personen, die nicht dem engsten Familienkreis zugehören, zwingt. Der Begriff, den Edward Banfield für diesen Sachverhalt geprägt hat, amoralischer Familismus,16 ist nach wie vor eine gute Beschreibung, sofern man präzise angibt, welchen strukturellen Zwang man mit diesem Begriff meint. Andererseits gibt es in allen Gesellschaften institutionalisierte Reziprozitätsmotive, die Hilfe und Gastfreundschaft normieren und dies in religiösen Deutungen absichern, wobei das rationale Fundament in der Ungewissheit eigener Lebenslagen leicht erkennbar ist. Das Schwanken im Begriff des Fremden zwischen Gast und Feind hat offensichtlich mit dem Konflikt dieser beiden normativ-strukturellen Imperative zu tun – und das erklärt auch die in manchen Gesellschaften zu beobachtende überschwängliche Gastfreundschaft gegenüber völlig fremden Personen. Nur gegenüber jemand, der keine lokalen Interessen hat, von dem man sicher sein kann, dass er nicht in eine dauerhafte Konkurrenz um knappe lokale Ressourcen eintreten will, kann man dem überall hoch gewerteten Imperativ eines selbstlosen Gebens ambivalenzfrei genügen.17 Es dürfte deutlich werden, dass es mir um einen Typus der Analyse geht, der auf der Basis von Semantik und Theorie verschiedene Analyseebenen in einer Soziologie des Fremden miteinander zu vernetzen 15 | Siehe Beispiele in Fortes Meyer, „Strangers“, in: ders./Sheila Patterson (Hg.),

Studies in African Social Anthropology, London 1975, 229-253, 230; Heal 1990, 5; Juliet Du Boulay, „Strangers and Gifts: Hostility and Hospitality in Rural Greece“, in: Journal of Mediterranean Studies 1, 1991, 37-53, 37. 16 | Edward C. Banfield, The Moral Basis of a Backward Society, New York 1958; Juliet Du Boulay/Rory Williams, „Amoral Familism and the Image of Limited Good: A Critique from a European Perspective“, in: Anthropological Quarterly 60, 1987, 12-24.. 17 | Dazu gut: Du Boulay 1991.

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imstande ist. Vier relevante Analyseebenen möchte ich nennen: Erstens Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, die in Einzelfällen auch die Form einer vertexteten Semantik haben können. Zweitens die Konstitution von Fremdheit auf der Ebene von Erfahrungen und von Zurechnungsakten, die einseitig oder zweiseitig, gleichsinnig oder konfliktuell vorgenommen werden können. Wer der Fremde jeweils ist, ist wesentlich auch ein Resultat von Aushandlungsprozeduren, in denen über andere Ressourcen – Macht, Argumentationschancen, Selbstdarstellungsmöglichkeiten – mitentschieden wird. Robert Michels zitiert in seinem Buch über Patriotismus die Geschichte der Engländerin auf einem Donauboot, der gegenüber ein Österreicher das Wort „foreigner“ verwendet hatte. Darauf habe diese empört geantwortet: „We are English, you are the foreigners“.18 Was man an diesem Beispiel auch sehen kann, ist, dass bereits die Wahl der Sprache, in der man sich verständigt, ein wichtiger Mechanismus der Entscheidung über die Zuschreibung des Fremdenstatus ist. Eine dritte zu unterscheidende Analyseebene betrifft die explizite Institutionalisierung sozialer Rollen und zusätzlich dann eines korporativen Status für Fremde, die sich in allen älteren Gesellschaften beobachten lässt und die auf Selbstbeschreibungen, normative Vorstellungen und deren rechtliche Absicherung zurückgreift. Eine vierte Ebene schließlich wird durch die makrostrukturellen Muster der Eingliederung von Fremden in modernen Gesellschaften definiert, deren Verhältnis zu Semantik, normativen Zuschreibungen und expliziten Festlegungen eines Fremdenrechts in hohem Grade variiert. Eine abschließende Bemerkung möchte ich zur historischen Semantik des Fremden und der mit ihr thematisierten Behandlung des Fremden in älteren Gesellschaften noch machen. Diese betrifft eines der faszinierendsten Momente, nämlich die strukturelle Diffusität der Vorkehrungen, die ältere Gesellschaften zur Aufnahme und Integration von Fremden treffen: Die Behandlung des Reisenden, des Händlers, die inneren und die äußeren Armen, die Gastfreundschaft, die spätmittelalterliche Beschreibung von Studenten als „pauperes“, womit oft eher ihre lokale Uneingebundenheit als ökonomische Armut gemeint war, die griechische „Proxenie“ als Form der Beherbergung von Fremden und zugleich als Ausgangspunkt diplomatischer Beziehungen zwischen Städten. In allen diesen Fällen handelt es sich um Probleme, die moderne Gesellschaften in den Formen ihrer Behandlung sehr deut lich trennen und die in älteren Gesellschaften durch strukturell diffuse Institutionen betreut werden, die um die Figur des Fremden zentriert sind. Es könnte auffallen, dass das hier angedeutete Forschungsprogramm in einer gewissen 18 | Robert Michels, Der Patriotismus: Prolegomena zu seiner soziologischen Analy-

se, München/Leipzig 1929, 147.

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Parallellage – und ich vermute, dass es auch eine Konkurrenzsituation ist – zum Foucaultschen Forschungsprogramm steht.19 Auch Foucault geht von der – protoypisch im Hospital beobachtbaren – strukturellen Diffusität der Behandlung sehr verschiedener Problemlagen (mentale und körperliche Krankheit, Kriminalität; Armut und Alter) aus und kommt unter diesen Voraussetzungen zu einer Geschichte sozialer Kontrolle. Die hier angedeutete Forschungsperspektive hat teilweise dieselben Institutionen im Blick – etwa das „xenodochium“, später „hospitium“ des europäischen Mittelalters. Aber der set von Problemlagen, auf deren diffusen Zusammenschluss es blickt, ist anders zusammengesetzt und die daraus resultierende Geschichte ist eine Geschichte elementarer Muster sozialer Reziprozität und zugleich der Verarbeitung der Ungewissheit durch soziale Reziprozität und schließlich der konterkarierenden Motive des Selbstinteresses im Kampf um knappe Ressourcen. Während Foucault seine Geschichte in gewisser Hinsicht als Kontinuitätsgeschichte schreibt – soziale Kontrolle und Macht werden zwar invisibilisiert, sind aber gerade deshalb allgegenwärtig –, muss die Geschichte sozialer Reziprozität als die Geschichte einer Diskontinuität geschrieben werden, als Geschichte der Verabschiedung elementarer sozialer Reziprozität und des Wandels der Mechanismen der Ungewissheitsabsorption in den neu sich herausbildenden Strukturmustern funktional differenzierter Gesellschaften. Insofern haben wir es mit einer gleichzeitig stattfindenden Verabschiedung elementarer Gastfreundschaft und einer Verabschiedung elementarer Feindseligkeit zu tun.

III. Der dritte Teil dieses Aufsatzes hat nun die Aufgabe, einige Punkte näher zu skizzieren, die die Gegenwartssituation betreffen. Gibt es prinzipielle Veränderungen in der Erfahrung des Fremden und in den Schematismen sozialer Interaktion, die die Eignung der Kategorie des Fremden, uns die Gegenwartssituation aufzuschlüsseln, fraglich werden lassen? Fremde scheinen für Personen, die sich in urbanisierten, funktional differenzierten settings bewegen, entweder unsichtbar zu werden, oder sie werden allgegenwärtig, womit die Kategorie ebenfalls ihren Sinn der Ausgrenzung einer distinkten sozialen Figur verliert. Die erste Variante, die der Unsichtbarkeit des Fremden, möchte ich mit einem Zitat aus einer amerikanischen stadtsoziologischen Untersuchung illustrieren. Ein Inter19 | Siehe insbesondere Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschich-

te des Wahns im Zeitalter der Vernunft [1961], Frankfurt a. M. 1969; ders., Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses [1975], Frankfurt a. M. 1976.

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viewpartner, der vor einiger Zeit aus einer ländlich geprägten Gegend nach New York City gezogen ist, gibt dort auf die Frage nach der Veränderung seiner sozialen Kontakte in der Metropole folgende Antwort: „We get along very well and I really see no difference between those relationships and the ones [...] [we] had with friends in Illinois. The difference is ‚out there‘ in the city not ‚in here‘ with the people that live in the city. It’s peculiar but I haven’t met anyone yet who admits to living ‚out there‘ – all say they live ‚in here‘ with us humans. Where are the bastards from?“20

Die formulierte Erfahrung ist die der Rekonstitution derselben modernen Lebenswelt, wo auch immer man sich gerade aufhält, ergänzt durch die Vermutung, dass es irgendwo da draußen auch noch Bastarde gibt, die anders sind, also fremd - und d. h. wohl, dass sie die vermuteten Prinzipien von Sozialsystemen als Strukturen in ihrer Person verkörpern. Die zweite analytische Option ist die der Universalisierung des Fremden. So argumentiert beispielsweise Lyn H. Lofland in ihrem in vielem suggestiven A World of Strangers von 1973 und seither viele andere Autoren.21 Die These selbst ist unbestreitbar, löst aber die Distinktheit der Figur des Fremden, ihren Sinn als eine in Kommunikationszusammenhängen operative Kategorie, die vor folgenreiche Alternativen stellt, auf. Der Weg, den ich vorschlagen will, ist deshalb etwas anders ausgelegt. Ich würde gern das Studium der Formen der Verabschiedung des Fremden – und die Universalisierung des Fremden ist eine dieser Formen – als eine analytische Folie nutzen, um Nachfolgemechanismen, die für die moderne Gesellschaft spezifisch sind, deutlicher herausarbeiten zu können. Der vielleicht fundamentalste Sachverhalt ist die funktionale Spezifikation der meisten Interaktionen und die damit einhergehende funktionale Spezifikation von Intentionen.22 Das führt zu einer Dekomposition des Anderen, die seine kompakte Fremdheit nicht mehr erlebbar und handlungsrelevant werden lässt, sie vielmehr in funktionale Ausschnitte zerlegt, die weit besser zu bewältigen sind. Ein Aspekt, der häufig betont worden ist, ist der zeitliche. Es gibt zunehmend mehr Interaktionen von kurzer Dauer, die Interaktionspartner bleiben deshalb einander fremd, die Kompaktheit einer Person in all ihren beunruhigenden Aspekten tritt hinter das Interaktionsgeschehen zurück, und in genau diesem Sinne haben wir es mit einer fortschreitenden Differenzierung persönlicher und unpersönlicher Beziehungen zu tun. Gerade der Fremde ist im Üb20 | Karen A. Franck, „Friends and Strangers: The Social Experience of Living in

Urban and Non-urban Settings, in: Journal of Social Issues 36, 1980, 52-71, 52f.

21 | Lyn H. Lofland, A World of Strangers: Order and Action in Urban Public Space,

New York 1973.

22 | Vgl. Niklas Luhmann, „Die Weltgesellschaft“ [1971], in: ders., Soziologische

Aufklärung: 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, 51-71.

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rigen der Protagonist dieser Differenzierung von persönlichen und unpersönlichen Beziehungen. Solange er in einer Gastgesellschaft nur in einer kleinen Minorität lebt, gilt für ihn im Unterschied zu allen Einheimischen, dass sein Leben weit mehr durch Außenkontakte mit für ihn Fremden als durch Binnenkontakte in der eigenen Gruppe bestimmt wird. Das prägt an ihm einen Verhaltensstil aus, der auf eine deutliche Trennung von persönlichen und unpersönlichen Beziehungen eingestellt ist. Dieser Verhaltensstil wirkt zunächst in der umgebenden Gesellschaft irritierend, steigert die Wahrnehmung von Fremdheit, wenn er auch der Gesellschaft, ohne dass sie dies weiß, die eigene Zukunft vorspiegelt. In einem amerikanischen Buch von 1904 (Nathaniel Shaler, The Neighbor),23 das u. a. in seiner Ambivalenz gegenüber Juden für analytische Belange interessant ist, wird die Überlegenheit von jüdischen Mitbürgern, aber auch die Feindseligkeit ihnen gegenüber, mit der Schnelligkeit der Reaktionsmuster, die für Juden spezifisch sei, erklärt. Shaler zitiert einen Gesprächspartner mit den Worten, „When one speaks to a Jew kindly, the fellow climbs all over you.“24 Mich interessiert in diesem Zusammenhang nicht, ob dies eine adäquate Beschreibung einer Erfahrung oder ein Vorurteil ist (als Situationsdefinition fungiert es in jedem Fall); wichtig ist hier nur, dass Schnelligkeit zum Indiz eines spezifisch modernen Verhaltensstils wird, und die angemessene Übersetzung für Schnelligkeit ist vermutlich: der Verzicht auf die als Verzögerung – und damit als zeitlicher Aufschub – erfahrene Einbettung des sachlichen Prozedere in die Etablierung einer persönlichen Beziehung unter den beiden interaktionell beteiligten Personen. Dies zu signalisieren, ist offensichtlich auch die Funktion des Wörtchens „kindly“ in der zitierten Äußerung. Eine analoge Unterscheidung von persönlichen und unpersönlichen Beziehungen lässt sich auch anhand eines Vergleichs von städtischen vs. nicht in urbanen Agglomerationen stattfindenden Interaktionen ausmachen. Während es außerhalb der Stadt relativ wahrscheinlich ist, dass der Fremde, mit dem man interagiert, sich schnell als der Freund eines Freundes erweist, findet ein vergleichbares Überlappen sozialer Beziehungen in der Stadt nicht mehr statt.25 In der Stadt kann eher von einer Segregation sozialer Beziehungen die Rede sein. Also bleibt der Fremde einem fremd, wird damit auch seine Fremdheit zu einer erwartbaren Normalität, die das beunruhigende Moment verliert und damit auch den Bedarf für Bearbeitung der Fremdheit nicht mehr aufkommen lässt. Einen weiteren Aspekt des Bedeutungsverlusts des Fremden bekommt man in den Blick, wenn man sich den Stellenwert von Typisie23 | Nathaniel S. Shaler, The Neighbor: The Natural History of Human Contacts, Bo-

ston/New York 1904.

24 | Ebd., 114. 25 | Vgl. Franck 1980, 68f.

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rungen und Kategorisierungen vergegenwärtigt. Robert Michels benutzt gern die Unterscheidung von sympathetischen vs. typisierenden Beziehungen in sozialer Interaktion.26 Während die Beziehungen zu vertrauten Personen sympathetische Beziehungen sind, die die Individualität beider Seiten involvieren, ist der Fremde nur mittels Typisierung, nur in der Form der Zuordnung zu einer sozialen Kategorie zu erfassen. Diese These setzt offensichtlich die bereits gelungene Überwindung einer primären Ungewissheit voraus. Der Fremde, von dem hier die Rede ist, ist nicht mehr vor allem ein Anlass von Ungewissheit, er ist bereits mittels kategorialer Zuordnungen näher zu bestimmen.27 Für die sich anschließende soziokulturelle Evolution scheint mir vor allem ein Sachverhalt wichtig zu sein: Die Schärfe der Entgegensetzung von „sympathetisch“ oder „individuell“ vs. „kategorisierend“ nimmt ab. Mit voranschreitender funktionaler Differenzierung expandiert auch das klassifikatorische Geflecht für Kategorisierungen. Individualisierung und Kategorisierung des Anderen werden wechselseitig voneinander abhängig. Man muss der Individualität des Anderen Rechnung tragen, um feinere Kategorisierungen sinnvoll vornehmen zu können – und umgekehrt ist die Berücksichtigung von Individualität nur auf der Basis einer sensiblen Handhabung verfügbarer kategorialer Zuordnungen denkbar. Das gilt selbst in Liebesbeziehungen und kann sich in ihnen als eine kognitive Schranke auf das in ihnen Realisierbare erweisen. Auch dies also ist eine Dimension, in der sich die kompakte Unterschiedenheit, die kategoriale Unpersönlichkeit des Fremden verflüchtigt und für flexiblere Schemata der Unterscheidung Platz macht. Ich möchte diesen Teil meiner Überlegungen mit einer Bemerkung zur Rigidität und Fluidität von Unterscheidungen abschließen. Die Geschichte des Fremden ist, wie oben schon notiert, dadurch gekennzeichnet, dass er sich vielfach auf der einen Seite von Unterscheidungen vorfand, an denen der prinzipielle Ausschluss dritter Möglichkeiten und damit die rigide Zuordnung zu einer der beiden Seiten auffiel. Also beispielsweise: verwandt/fremd. Noch in frühmodernen englischen Adelshaushalten finden wir Besucherlisten, die nur genau zwei Einträge vorsehen: „domestics“ (also dem Haus durch Verwandtschaft oder auch Dienstbarkeit verbunden) vs. „others“.28 Eine andere Unterscheidung ist Freund/Feind, mit der Implikation, dass es in Stammesgesellschaften keinen dritten Status zwischen tribalem Bruder und Feind gibt.29 Die extreme Bedeutung des Gaststatus in älteren Gesellschaften lässt sich in dieser 26 | Siehe Michels 1929, 124; vgl. Shaler 1904, 192-203. 27 | Siehe etwa auch Sally Engle Merry, Urban Danger: Life in a Neighborhood of

Strangers, Philadelphia 1981, 160.

28 | Heal 1990, 9. 29 | Vgl. Margaret Mary Wood, The Stranger: A Study in Social Relationships, New

York 1934, 76.

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Perspektive so bestimmen, dass der Gaststatus unter sozialstrukturellen Bedingungen dieses binär codierten Typs die einzige Möglichkeit eines dritten Status bot, die einzige Chance eines temporären Wechsels von der einen auf die andere Seite der Unterscheidung. Derselbe Grund erklärt auch die enorme symbolische Überhöhung der Schwelle des Hauses30 – oder anderer privilegierter Orte (Tempel etc.). Die Schwelle des Hauses definiert die extrem schmale Zone des Übergangs, ist der einzige Ort, an dem sich ein Wechseln der Seiten vollziehen kann. Dabei wird die Feindschaft gegenüber dem Gast nur suspendiert. Eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten ist, wie ich oben schon erwähnt habe, nach Verlassen des Hauses jederzeit denkbar und außerdem ist die Dauer des Gaststatus zeitlich oft präzise limitiert.31 Das Auffällige der Entwicklung zur modernen Gesellschaft ist nun, dass der bis dahin nur als Ausnahme vorgesehene dritte Status fast alle Gesellschaftsmitglieder absorbiert. Der bereits erwähnte Nathaniel Shaler spricht von „commonplace folk“, 32 und diese Kategorie des „commonplace folk“ lässt sich genau dadurch beschreiben, dass die ihr zugeordneten Personen weder Freund noch Feind, weder verwandt noch fremd sind. Unsere vorherrschende Einstellung ihnen gegenüber ist die der Indifferenz, und d. h. unter anderem, dass wir jederzeit mit einer großen Zahl von Personen in diesem dritten Status zusammen sein können, ohne dass unser Bewusstsein sie einzeln registrieren würde. Vielmehr leistet das Bewusstsein ein unablässiges Herausfiltern vieler anderer anwesender Personen. An die Stelle der Gastfreundschaft als eines symbolisch und religiös überhöhten Status, der nur in dieser sorgfältig bearbeiteten kulturellen Überhöhung überhaupt als ein dritter Status legitimierbar ist, tritt also die Figur der Indifferenz als Beschreibung unserer Normaleinstellung gegenüber fast allen anderen Menschen. Dafür lassen sich in der Literatur auch andere Formulierungen finden, die komplementäre Aspekte hervorheben. Goffman spricht von „civil inattention“, womit erneut die bewusstseinsmäßige Abschattierung der Präsenz der meisten Menschen gemeint ist, oder in Goffmans Worten ein „mutual dimming of the lights“.33 Allan Silver prägt in vergleichbarem Zusammmenhang den Begriff der „routine benevolence“,34 worin die Verzichtbarkeit einer elementaren Feindseligkeit als

30 | Vgl. auch Heal 1990, 8. 31 | Berthelot (1896, 27) verweist auf einen arabischen Brauch, der eine Anwesenheit

für maximal drei Tage und vier Stunden zulässt. Danach entstehen Dienstverpflichtungen des bisherigen Gastes. 32 | Shaler 1904, 295. 33 | Erving Goffman, Behavior in Public Places, Glencoe 1963. 34 | Allan Silver, „,Trust‘ in social and political theory“ in: Gerald D. Suttles/Mayer N. Zald (Hg.), The Challenge of Social Control. Citizenship and Institution Building in Modern Society: Essays in Honor of Morris Janowitz, Norwood N.J. 1985, 52-67, 64.

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Normaleinstellung sichtbar wird, 35 was zugleich aber auch heißt, dass die ausbleibende Alltagsfeindseligkeit nicht mehr durch in außeralltäglichen Situationen geltende Institutionen der Gabe und der Gastfreundschaft kompensiert werden muss. Unter diesen Umständen lässt sich nicht länger sagen, dass die Bewältigung und Abarbeitung von Fremdheit ein Primärproblem moderner Gesellschaften wäre. Der Schematismus Freund/ Feind fungiert nur noch in Extremsituationen als ein Schematismus der Politik. Statt eines solchen extrem verpflichtenden Mechanismus geht es künftig eher um Mechanismen, die uns und einzelne andere motivieren, aus der Normaleinstellung der Indifferenz in Prozesse sozialer Interaktion einzutreten. Gerade die Politik interessiert sich meist weniger für ihre Feinde als für die Frage der Motivation des unentschiedenen, normalerweise indifferenten, Wählers.36

IV. Nur noch mit wenigen Bemerkungen möchte ich am Ende eine Antwort auf die Frage nach der Stellung des Fremden im System der Weltgesellschaft kommentieren, die nicht von mir stammt, die ich aber bestechend finde. James Baldwin hat sie 1953 in einem Aufsatz mit dem Titel Stranger in the Village skizziert.37 Bemerkenswert ist, wie Baldwin drei Schichten einer Möglichkeit und Unmöglichkeit des Fremden in der Weltgesellschaft freilegt. Die Ausgangssituation ist die, dass der Autor in ein Schweizer Bergdorf gereist ist, das in ziemlicher Höhe, sehr isoliert gelegen ist.38 Ohne dass er dies erwartet hätte, ist er der erste Schwarze, der dort je gesehen wurde, und entsprechend drastisch ist die Art und Weise, in der er als Fremder erfahren wird. Kinder und Erwachsene nutzen jede Möglichkeit seine Haut zu betasten, festzustellen, dass die Farbe unter Druck nicht weicht, die Textur seines Haares zu prüfen etc. Dies alles ohne Bosheit. Dem „Neger, Neger“ der Kinder auf der Straße fehlen offensichtlich die Konnotationen des amerikanischen „Nigger“. Dann aber profiliert sich für Baldwin ein zweiter Eindruck, der gerade durch den Kontrast zu der Zurückgebliebenheit seiner Gastgeber – bei35 | Vgl. Erving Goffman, „The Interaction Order“, in: American Sociological Review

48, 1983, 1-17, 4: „We could not disattend strangers in our presence unless their appearance and manner implied a benign intent, a course of action that was identifiable and unthreatening.“ 36 | Vgl. zum Problem der Unzugänglichkeit des Wählers als Voraussetzung für den politischen Tausch (von Versprechen gegen Stimmen) James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass. 1990, 738. 37 | James Baldwin, „Stranger in the Village“ (1953), in: ders., Collected Essays, New York 1998, 117-129. 38 | Es handelt sich um Leukerbad im Wallis, das damals noch nicht der heute bekannte Kurort war.

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spielsweise ist seine Schreibmaschine 1953 die einzige im Dorf – extrem zugespitzt wird. Obwohl kaum einer seiner Gastgeber seinen isolierten Bergwinkel je verlassen hat, gehört dennoch, so empfindet es Baldwin, diesen weißen Leuten die Welt in einem Sinne, in dem sie ihm, James Baldwin, nicht gehören kann: For this village, even were it incomparably more remote and incredibly more primitive, is the West, the West onto which I have been so strangely grafted. These people cannot be, from the point of view of power, strangers anywhere in the world; they have made the modern world, in effect, even if they do not know it. The most illiterate among them is related, in a way that I am not, to Dante, Shakespeare, Michelangelo, Aeschylus, Da Vinci, Rembrandt, and Racine; the cathedral at Chartres says something to them which it cannot say to me, as indeed would New York‘s Empire State Building, should anyone here ever see it. Out of their hymns and dances come Beethoven and Bach. Go back a few centuries and they are in their full glory – but I am in Africa, watching the conquerors arrive.39

Baldwins Reflexion nimmt im nächsten Schritt eine Rückwendung auf die Situation der Schwarzen in den USA, und er entdeckt so eine letzte Dimension des Verschwindens des Fremden. Während für seine Schweizer Gastgeber, die nirgendwo in der Welt Fremde sein könnten, er noch in einem vollgültigen Sinn ein völlig überraschender Fremder ist, gilt für die weiße Kultur der Vereinigten Staaten, dass sie seit dreihundert Jahren unauflöslich, schuldhaft und ohne Negationsmöglichkeit mit der Erfahrung des Schwarzen verbunden ist. Also wird dort ein Schwarzer nie mehr ein Fremder sein: „No road whatever will lead Americans back to the simplicity of this European village, where white men still have the luxury of looking on me as a stranger. I am not, really, a stranger any longer for any American alive.“40

39 | Baldwin 1998, 121. 40 | Ebd., 129.

Par tikularität und Universalität von Bedeutung Differenz- und Konsensbedingungen des Fremdverstehens bei interkultureller Kommunikation MICHAEL HANKE

1. Das Problem: Interkulturelle Kommunikation und Bedeutung Kommunikation, und damit auch interkulturelle Kommunikation, ist ein Prozess, der den Austausch von Mitteilungen (auch „Botschaften“ oder „Inhalten“ etc.) und die Generierung (oder „Herstellung“, „Erzeugung“) entsprechender Bedeutungen involviert, „a process involving the exchange of messages and the creation of meaning“.1 Wechselseitiges Verstehen und Kommunikationserfolg hängen ab vom Ausmaß der Übereinstimmung der beiderseitig hergestellten Bedeutungen; und die Zuordnung von Bedeutungen zu kommunikativen Handlungen setzt voraus, dass die Interaktionspartner über eine gemeinsame Grammatik und gleiche Hintergrundsannahmen verfügen sowie gleiche Regeln der Sprachverwendung befolgen, wie etwa Heinz Göhring, einer der ersten Lehrstuhlinhaber für Interkulturelle Kommunikation, betont; 2 Goodenough und Hall folgend gilt Sprache demnach als Teil der Kultur und kulturellen Wissens, unterschieden als referentielle, gleich lexikalische Verwandtschaftsorganisation, die das Kontinuum der sozialen Welt zwi1| 2|

William Gudykunst, „An Anxiety/Uncertainty Management (AUM) Theory of Effective Communication“, in: William Gudykunst, et al. (Hg.), Theorizing about Intercultural Communication, Thousand Oaks 2005, 281-322, 289. Heinz Göhring, Interkulturelle Kommunikation: Anregungen für Sprach- und Kulturmittler, hg. von Andreas Kelletat und Holger Siever, Tübingen 2002, 71.

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schen intimer Vertrautheit und totaler Fremdheit einteilen. „Überall finden wir auch Hierarchien der Überordnung und Unterordnung, Führer und Gefolgsleute, solche die befehlen und solche die gehorchen.“3 Ebenfalls überall anzutreffen sei ein anerkannter Lebensstil, „d. h. eine Vorstellung, wie man mit Dingen und Menschen zurechtkommt, mit dem Natürlichen und dem Übernatürlichen“,4 sowie Kulturgegenstände wie Werkzeug, Spielzeug für Kinder, Schmuckgegenstände, Musikinstrumente, Gegenstände, die als kultische Symbole dienen, sowie schließlich „bestimmte Zeremonien, die die großen Ereignisse des Lebenszyklus des Individuums (Geburt, Initiation, Heirat, Tod) und des Naturrhythmus (Säen und Ernten, Sonnenwenden usw.) hervorheben.“5 Auch nach Prosser lassen sich universale Merkmale festmachen, denen jedoch partikulare zur Seite stehen: „In some ways, everyone in the world is the same, but at the same time, no two persons in the world are the same.“6 Daraus folgt: „each of us is a cultural communicator. Each of us communicates interculturally all the time.“7 Und nach Kluckhohn gilt: „every man is, in certain respects, (a) like all other men, (b) like some other men, (c) like no other man“.8 Im Folgenden möchte ich diese zwei gegenüberstehenden Konzepte, Universalität („like all other men“) und Partikularität („like no other man“), exemplarisch an je einem Theorieentwurf entfalten, gefolgt jeweils von einer Option für die jeweilige Position. Dabei handelt es sich um die Partikularität von Bedeutung nach der Theorie des Fremdverstehens von Alfred Schütz (1), die Universalität von Bedeutung nach der Diskurstheorie von Jürgen Habermas (2), sowie zwei Entwürfe, die jeweils der partikularen und der universalen Position zuzuordnen sind, nämlich diejenigen von Bernhard Waldenfels (3) und George H. Mead (4).

2. Par tikularität von Bedeutung und die Theorie des Fremdverstehens von Alfred Schütz Eine der elaboriertesten Theorien des Fremdverstehens, vorgelegt von Alfred Schütz, untersucht den „Fundierungszusammenhang zwischen Eigenpsychischem und Fremdpsychischem, dessen Aufklärung für die 3| 4| 5| 6| 7| 8|

Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Bd. II: Studien zur soziologischen Theorie, hg. von Arvid Brodersen, Den Haag 1972, 207, Ebd. Ebd. Michael H. Prosser, „The Cultural Communicator“, in: Heinz-Dietrich Fischer/ John D. Merrill (Hg.), International and Intercultural Communication, New York 1976, 417-423, 422. Ebd. Clyde Kluckhohn 1962, 26, zit. n. Martin 1976, 430.

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präzise Erfassung des Phänomens ,Fremdverstehen‘“ als unerläßlich gilt.9 Basierend auf der Sozialwissenschaft Max Webers und der Phänomenologie Edmund Husserls10 lässt sich ihr Einfluss bis zu den Beiträgen von Bernhard Waldenfels verfolgen (einige von dessen Aufsätzen wie „Das Eigene und das Fremde“ oder „Fremderfahrung zwischen Aneignung und Enteignung“ weisen wiederum einen zumindest impliziten Bezug zu dem Thema „Das Vertraute und das Fremde“ auf).

2.1 Methodologischer Solipsismus Nach Schütz sind alle Kulturobjektivationen, sozialen Beziehungen, Gebilde und andere komplexe Phänomene der Sozialwelt auf das Verhalten Einzelner rückführbar und hier genau auf den subjektiven Sinn, den die in der Sozialwelt Handelnden mit ihren Handlungen verbinden.11 Weil „[n]ur das Handeln des Einzelnen und dessen gemeinter Sinngehalt [...] verstehbar [ist],“ hat die Sozialwissenschaft für die Deutung der „sozialen Beziehungen und Gebilde“, die „die soziale Welt konstituieren“, mit der Deutung des individuellen Handelns anzusetzen.12 Und der subjektive Sinn des individuellen Handelns ist zunächst partikular. Aufgrund der hervorgehobenen Subjektivität des Sinns setzt Schütz’ Analyse folglich auch „mit der Konstitution des Sinns im je eigenen Erleben des einsamen Ich“13 (Dauer, inneres Zeitbewusstsein, Intention, Retention, usw.) ein und erweitert von hier aus die Perspektive auf die Sozialwelt, wo sich der Übergang vom Selbstverstehen zum Fremdverstehen („des Du“14) vollzieht. Wie in der älteren Soziologie üblich werden damit subjektiver und objektiver Sinn unterschieden. Subjektiv ist der gemeinte Sinn, der im „konstituierenden Prozeß im lebendigen Bewußtsein eines Vernunftwesens“,15 gebunden an die „leistende [...] Intentionalität eines Ichbewußtseins“,16 auftritt; er bezieht sich stets auf ein besonderes Du, auf den Bewusstseinsablauf des Erzeugers, und ist nie anonym. Objektiv ist Sinn, wenn 9| 10 | 11 | 12 |

13 14 15 16

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Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt a. M. 1974, 15. Vgl. hierzu auch allgemein Michael Hanke, Alfred Schütz: Einführung, Wien 2002. Schütz 1974, 13. Ebd. Es sei darauf hingewiesen, dass zur Veranschaulichung der Partikularität bei Schütz auf den frühen, egologischen Schütz des Sinnhaften Aufbaus zurückgegriffen wird, und nicht auf den späteren, u. a. durch den amerikanischen Pragmatismus geprägten, bei dem das interaktionistische Element stärker hervortritt. Ebd., 21. Ebd., 22. Ebd., 48. Ebd.

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er „an sich“ betrachtet wird, losgelöst von den Konstitutionsprozessen eines sinngebenden – eigenen oder fremden – Bewusstseins;17 er ist insofern invariant gegenüber den Umständen, somit auch unabhängig vom Erzeuger, und intersubjektiv gültig.

2.2 Verstehen als Limesbegrif f Nun kann prinzipiell von jedem Datum objektiven Sinngehaltes auf den zugrundeliegenden subjektiven Sinn rückgeschlossen werden, wenngleich in verschiedenen Graden der Verstehenstiefe. Das Postulat maximal expliziter Klarheit der Erfassung dieses subjektiven Sinnes ist nach Schütz jedoch „unerfüllbar,“ weil der fremde „gemeinte Sinn“ „immer und auch bei optimaler Deutung ein Limesbegriff bleibt“.18 Dem Nachweis dieser Behauptung dient der gesamte Abschnitt der „Grundzüge einer Theorie des Fremdverstehens“.19 Verstehen vollzieht sich grundsätzlich im jemeinigen Bewusstsein, wobei die Generalthesis des alter ego das fremde Bewusstsein als mit dem eigenen strukturidentisch setzt und damit eine Übertragung auf das fremde Bewusstsein ermöglicht; „jede Erfahrung von Fremdseelischem [ist] auf der Erfahrung meiner je eigenen Erlebnisse von diesem alter ego fundiert“,20 und „alles echte Fremdverstehen auf Akten des Verstehenden fundiert“.21 Weil der „Selbstauslegung die eigene Dauer kontinuierlich und in Vollständigkeit, dem Fremdverstehen aber die fremde Dauer in diskontinuierlichen Segmenten“,22 unvollständig und „daher nur in Auffassungsperspektiven vorgegeben ist“,23 ist Fremdverstehen „prinzipiell zweifelhaft“. „Was erfaßt werden kann, ist immer nur ein ,Näherungswert‘ zu diesem Limesbegriff ,fremder gemeinter Sinn‘, an welchen in unendlichem Progreß Annäherungen erfolgen können.“24 „Der Deutende gewinnt nur Näherungswerte an das vom Redenden Gemeinte.“25 Wiederholt wird die „Unerfüllbarkeit des Postulats nach Erfassung des gemeinten Sinnes“,26 der doch abhängt „von den Auffassungsperspektiven und dem notwendig immer fragmentarischen Vorwissen um die Deutungsschemata des Du“,27 von Schütz hervorgehoben. 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

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Schütz 1974, 48. Ebd., 49. Ebd., 137-197. Ebd., 147. Ebd., 156. Ebd., 148. Ebd. Ebd., 150. Ebd., 175. Ebd., 181. Ebd., 181.

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Ein zu verstehendes Handeln kann entweder mit oder ohne kommunikative Absicht erfolgt sein. Bei Handlungen ohne kommunikative Absicht versetzen wir uns imaginär an die Stelle des Handelnden, nehmen damit quasi eine „Personenvertauschung“28 vor und rekonstruieren die Sinn- und Motivationszusammenhänge, als wären die Handlungen unsere eigenen. Die vergleichsweise komplexere Kommunikation involviert das Setzen und Deuten von Zeichen, weshalb deren Theorie, die Semiotik, eine zentrale Stellung bei den Überlegungen einnimmt. Zeichen haben eine (objektive) Bedeutungs- und eine (subjektive) Ausdrucksfunktion; das Zeichensystem operiert auf der objektiven Sinnebene (z. B. lassen sich chinesische Schriftzeichen entsprechend zuordnen ohne irgendeine Äußerungsintention in den Blick zu nehmen), während die subjektive Sinnebene das besondere Wie der konstituierenden Akte umfasst und der okkasionelle Sinn den Gebrauchszusammenhang (die Situation). Fremdverstehen beinhaltet daher eine Fülle von aufgeschichteten Sinnzusammenhängen. Zunächst den Sinnzusammenhang, in dem die Erlebnisse für den Zeichensetzenden selbst stehen; sodann in dem des Zeichensystems; dann den Akt der Kommunikation, sowie den übergeordneten Sinnzusammenhang, den jeweiligen Adressaten und das damit verbundene Steuerungselement, und schließlich die spezifische Situation des „jetzt, hier und so“.29 Die Durchdringungstiefe der Deutung schließlich ist „pragmatisch bedingt“, d.h. ihre Tiefenschärfe durch unsere Interessenlage bestimmt. Der Aufbau des subjektiven Sinnes wird von Schütz so stark kontextualisiert (Biographie, Situation, jeweilige Erfahrungswelt, usw.) und an das Subjekt des Erlebenden und seinen Bewusstseinsstrom gebunden, dass die Totalität dieses subjektiven Sinns nur bei einer Identität von Beobachter und Beobachtetem (ego und alter ego) erfassbar wäre, er in letzter Konsequenz also partikular bleibt.

3. Universalität von Bedeutung und die Diskurstheorie von Jürgen Habermas In einem grundsätzlichen Sinne universalistisch ausgerichtet ist die Diskurstheorie von Jürgen Habermas. Nach der Theorie des kommunikativen Handelns wird die Rationalität (Vernunft) von Meinungen und Handlungen kommunikativ hervorgebracht; sie setzt alles Vertrauen in die ra-

28 | Ebd., 159. 29 | Ebd., 185. Vgl. zu Schütz’ Zeichentheorie auch Michael Hanke (Hg.), Themen-

schwerpunkt: Zeichentheorie bei Alfred Schütz, in: Kodikas/Code 26, 2003.

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tionale „Binnenstruktur verständigungsorientierten Handelns“.30 Rationalität involviert die Bedeutung symbolischer Äußerungen und damit verbundene Geltungsansprüche, und deren Gültigkeit hängt wiederum von der Anerkennung einer intersubjektiven Kommunikationsgemeinschaft ab.31 Kommunikative Rationalität bezieht sich nach Habermas auf einen „systematischen Zusammenhang universaler Geltungsansprüche“32 und orientiert sich an der Logik der Sprechakte, konkret an der Kraft des performativen Widerspruchs und den mit den Sprechakten verbundenen Geltungsansprüchen. Es sind daher die „allgemeinen kommunikativen Voraussetzungen und Verfahren kooperativer Wahrheitssuche“ zu klären, d. h. diesen muss universale Geltung zukommen,33 weshalb auch konventionelle von universalen Geltungsansprüchen unterschieden werden. 34 Jeder Behauptung ist ein impliziter Wahrheitsanspruch inhärent, dem wiederum eine Bedeutung zugrundeliegt (deshalb schliesst Habermas auch an die Bedeutungstheorie an). Ein so genannter Geltungsanspruch ist dann „transsubjektiv“, wenn er „für beliebige Beobachter und Adressaten dieselbe Bedeutung hat wie für das jeweils handelnde Subjekt selbst.“35

3.1 Universalisierung Rationalität ist nach Habermas im Singular und nicht im Plural aufzufassen, da sie der einen und unteilbaren Logik kommunikativen Handelns folgt; sie beansprucht damit universale Gültigkeit, zerfällt also nicht in partikulare Kultur- oder Bereichslogiken. Indem Habermas den Begriff der Rationalität solchermaßen kommunikativ operationalisiert, sieht er sich gezwungen, verschiedene Argumente zu prüfen, die gegen die Universalisierbarkeit des kommunikativen Verfahren sprechen könnten, insbesondere, was „viktorianischen Anthropologen“ zu Recht angekreidet würde, nämlich „vermeintlich allgemeine Rationalitätsstandards der eigenen Kultur fremden Kulturen bloß überzustülpen“.36 Weil die Hervorbringung und Geltung von Rationalität im kommunikativen Prozess verankert wird, muss Habermas prüfen, ob es sich hierbei um ein einziges kommunikatives Verfahren handelt oder ob dieses in diverse, auch kulturspezifische, zerfällt. 30 | Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsra31 32 33 34 35 36

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tionalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a. M. 1981, 6. Ebd., 34. Ebd., 38. Ebd., 60f. Ebd., 62. Ebd., 27, Hervorhebung: M.H. Ebd., 88.

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Auf die Prüfung dieser Frage entfallen immerhin die ersten hundert Seiten der Theorie des kommunikativen Handelns. Dabei geht es um den „universalistischen Anspruch“ moderner Erfahrungswissenschaft, sei es als kritischer Rationalismus oder methodischer Konstruktivismus, der nicht mehr durch fundamentalistische Annahmen ontologischer oder transzendentalphilosophischer Art oder Letztbegründungsversuche37 gedeckt ist. Es sollen auch die für das moderne Weltverständnis bestimmenden Rationalitätsvorstellungen nicht ungeprüft als allgemeingültig unterstellt werden.38 Dass das Erbe des okzidentalen Rationalismus seit dem Ende der 60er Jahre nicht mehr unbestritten gilt, ist, wie bei vielen, auch bei Habermas ein gesicherter Ausgangspunkt. 39 Zur Prüfung des mit „unserem okzidentalen Weltverständnis“ implizit verbundenen Anspruchs auf Universalität“40 führt Habermas einen Vergleich mit dem mythischen Weltverständnis durch, und um zu prüfen, „in welchem Sinne das moderne Weltverständnis Universalität beanspruchen darf“, und zusätzlich zu dieser kulturanthropologischen Untersuchung auch eine über den konventionellen Charakter wissenschaftlicher Rationalität.41 Die Frage knüpfe an Debatten der Geisteswissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts an, an die Objektivität des Verstehens (Gadamer) und das Historismusproblem, das die Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit von Zivilisationen und Weltanschauungen zum Kern habe. Habermas nimmt die Debatte in Kulturanthropologie, Sozialwissenschaft und Philosophie auf und präsentiert diese in sechs Argumenten für und wider eine universalistische Position. Dabei erkennt er sehr wohl, dass kulturelle Werte „nicht als universal [gelten]“, sondern eingegrenzt sind „auf den Horizont der Lebenswelt einer bestimmten Kultur“42 und daher „auch nur im Kontext einer besonderen Lebensform plausibel gemacht werden [können]“. Geltungsansprüche wie Wahrheits- und Richtigkeitsansprüche transzendieren allerdings in radikaler Weise solche, die mit kulturellen Werten verbunden sind. Daher setzt die Kritik von Wertstandards ein gemeinsames Vorverständnis der Argumentationsteilnehmer voraus, das nicht zur Disposition steht: Allein die Wahrheit von Propositionen, die Richtigkeit von moralischen Handlungsnormen und die Verständlichkeit bzw. Wohlgeformtheit von symbolischen Ausdrücken sind ihrem Sinne nach universale Geltungsansprüche, die in Diskursen geprüft werden können.43 37 38 39 40 41 42 43

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Ebd., 16f. Ebd., 73. Ebd., 9. Ebd., 73. Ebd., 75f. Ebd., 71. Ebd.

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Die Grenzen des Verstehens und der Verständigung sind dieser Konzeption zufolge jedenfalls nicht intersubjektiver oder kultureller Art, und Habermas kommt zu dem Schluss, der Universalitätsanspruch der Rationalität des modernen Weltverständnisses sei im Grundsatz berechtigt, solange sie sich gegen eine unkritische, „auf Erkenntnis und Verfügbarmachung der äußeren Natur fixierte Selbstauslegung der Moderne“ abhebt.44 Alle diskutierten Argumente für Partikularisierung nimmt Habermas nicht zum Anlass, das Konzept Rationalität in seiner Reichweite einzuschränken, sondern, im Gegenteil, es auszuweiten. Ein Beispiel aus dem dritten Argument: Sprachen und Lebensformen treten im Plural auf, aber die Idee der Wahrheit sei deshalb nicht partikularistisch: „Wenn eine Aussage wahr ist, verdient sie, gleichviel in welcher Sprache sie formuliert ist, universale Zustimmung.“45 Die Rationalisierung von Weltbildern vollzieht sich über Lernprozesse, als Emergenz und Dezentrierung eines ursprünglich egozentrischen Weltbildes in eine soziale, objektive und subjektive Welt, und der Zuwachs an Rationalität ist gebunden an Kritisierbarkeit und Reflexivität, wie sie durch die von Weber beschriebene Ausdifferenzierung von Wertsphären, die den Kern der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung in der Moderne ausmachen, zum Ausdruck kommt.46 Diese Prozesse haben einen prozeduralen Begriff kommunikativer Rationalität zur Voraussetzung, der bei einer Weltgesellschaft nur universal denkbar ist. Er unterstellt die Universalisierbarkeit („Universalpragmatik“) der in den Sprechakten angelegten Potenziale von Rationalität und damit ihrer zugrundeliegenden Bedeutungen. Diese universale Perspektive ist vielleicht auch ein Grund für die kulturübergreifende, internationale Rezeption der Theorie des kommunikativen Handelns.

4. Sympathie für die erste Position: Bernhard Waldenfels Die Termini „Universalität“ und „Partikularität“ werden auch von Bernhard Waldenfels47 zur Bezeichnung zweier Lager verwendet: dem der Universalisten, den Vertretern einer universalen Vernunft, und dem der Kulturalisten oder Kontextualisten, den Befürwortern einer lokalen Ver-

44 45 46 47

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Habermas 1981, 102. Ebd., 93, Hervorhebung: M.H. Ebd., 110. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M. 1997, 113.

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nunft.48 Der Streit zwischen beiden, „der sich um das Verständnis für den Anderen und die Verständigung mit ihm dreht und in dem Möglichkeiten und Unmöglichkeiten im Umgang mit dem Fremden gegeneinander abgewogen werden,“ verlaufe „in weiten Stücken entlang“ dieser „Frontlinie“,49 und habe die Züge eines Grabenkampfes angenommen, „mit leichten Bodengewinnen hier und dort“. Es fehle auch nicht an Versuchen, die Fronten aufzuweichen; doch gelte es, Farbe zu bekennen.50 Waldenfels jedenfalls, motiviert durch die Annahme einer Pluralität von Rationalitäten,51 bekennt sich zu einer relativen Vorliebe für die Partei der Kontextualisten.52 Dabei verharre die Basisoperation des Verstehens als hermeneutische Technik noch in einem „neutralen Vorfeld“; ein Problem ent-stehe erst, wenn eigene und fremde Geltungsansprüche aufeinanderprallen und auf das Feld der Verständigung gewechselt werde. Unter den Vorzeichen der „Krise der neuzeitlichen oder gar abendländischen Vernunft“53 bzw. „einer moderaten, historisch gebrochenen Vernunft“, die sich ihre eigenen Grenzen eingestehe und nicht länger auf ein Ganzes ausgreife, polarisiere sich das Feld in „,Neoaristoteliker‘, die den Akzent auf die Kontextualität von Verstehen und Verständigung und auf die Vielfalt von Lebensformen legen“, und „,Neokantianer‘, die auf kontextfreie Bedingungen des Verstehens und der Verständigung drängen und auf einer Einheit in der Vielfalt konkurrierender Vernunft- und Lebensformen beharren.“54 Noch nicht problematisch ist nach Waldenfels das Herunterschrauben von Rationalität und Tradition auf Sinnsphären, wohl aber der Übergang von kulturellem Partikularismus in Kulturrelativismus, denn damit würden, so die Universalisten, auch die nicht akzeptable Unterdrückung von Frauen, Diktaturen und andere Praktiken anerkannt; demgegenüber werde den Universalisten das Fehlen transkultureller Maßstäbe und die Partikularität der Lebensformen vorgehalten. 55 Das Problem kulminiere in der Berufung auf universale Menschenrechte, einem bevorzugtem Streitobkjekt beider Parteien, durchqueren diese als Grundrechte doch

48 | Ebd., 50, 111. Zu Universalismus und Partikularismus vgl. auch Michael Walzer,

49 50 51 52 53 54 55

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„Zwei Arten von Universalismus“, in: ders., Lokale Kritik – globale Standards: Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Teil II: Nation und Welt: Universalismus und Partikularismus in Moral und Politik, Hamburg 1996, 139-168. Waldenfels 1997, 111. Ebd. Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1985, 9. Waldenfels 1997, 113. Ders., 1985, 7. Ders., 1997, 112. Zu einer fundierten Widerlegung des kulturellen Relativismus vgl. Justin Stagl, „Eine Widerlegung des Kulturellen Relativismus“, in: Joachim Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992, 145-166.

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„alle Gesellschaftsformen und Kulturen“.56 Ob diesen nun eine universale Bedeutung oder eine kulturspezifische, partikulare zugrundeliegt, ist offensichtlich entscheidend; in ihrer Deklaration von 1948 heißt es jedenfalls: Da ein gemeinsames Verständnis über diese Rechte und Freiheiten [Menschenrechte und Grundfreiheiten] von größter Wichtigkeit für die volle Erfüllung dieser Verpflichtung ist, verkündet die Generalversammlung die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal [...].57

Das Konzept der Menschenrechte, nach Stichweh „eine kulturelle Komponente der Weltgesellschaft“,58 und ihre Erklärung dienen somit als Beleg für kulturübergreifende und universale Normen und Werte („which are serviceable to all men“59).

5. Sympathie für die zweite Position: George H. Mead Es ist sicher kein Zufall, dass Habermas George H. Mead als den Autor betrachtet, durch den die kommunikative Wende in den Sozialwissenschaften herbeigeführt wurde, und der zugleich für die Universalisierbarkeit von Bedeutung steht. Kommunikation, „das Grundprinzip der gesellschaftlichen Organisation des Menschen“, sowohl für die Identität des Einzelnen wie für Kultur und Gesellschaft, setzt nach Mead die Anteilnahme an den anderen voraus,60 die wiederum geleistet wird durch signifikante Symbole und Rollenübernahme. Um diese Funktion ausfüllen zu können, müssen diesen auch gleiche Bedeutungen zugeschrieben werden. Diese Mechanismen ermöglichen eine Weiterführung des gesellschaftlichen Grundprinzips der Kooperation, das damit einen Selektionsvorteil darstellt, nämlich den der „Kontrolle der Handlungen des Einzelnen im kooperativen Prozess“.61 56 | Waldenfels 1997, 126. 57 | Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Präambel. United Nations, Office of the High Commissioner for Human Rights: http://www.ohchr.org/EN/ UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger, Zugriff: 30.7.2009. 58 | Rudolf Stichweh, „Differenz und Integration in der Weltgesellschaft“, in: Hans-

Joachim Giegel (Hg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1998, 173-189, 184f. 59 | Prosser 1976, 422. 60 | George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1968, 299. 61 | Mead 1968, 301.

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Kooperation ist die „übergeordnete Sozialhandlung“, in die Kommunikation eingebettet ist, und durch die sich in der menschlichen Gesellschaft „bestimmte universale Formen“ entwickelten; Mead nennt Religionen und Wirtschaftsprozesse.62 Weil die für den Austauschprozess von Gütern zwischen Personen notwendige kooperative Haltung Kommunikation erfordert, ist der Kommunikationsprozess in gewissem Sinn universaler als die Universalreligionen oder universale Wirtschaftsprozesse; er gilt als „das Medium, durch das die kooperativen Tätigkeiten in einer ihrer selbst bewussten Gesellschaft abgewickelt werden können“.63 Das Hineinversetzen in die Rolle der anderen einer Gemeinschaft ist nicht auf die eigene Kultur begrenzt, und schon Mead ist sich des neuen Kontextes globaler medialer Vernetzung und einer neu entstehenden Medienkultur bewusst, wenn er schreibt, „[d]ie große Wichtigkeit von Kommunikationsmitteln wie dem des Journalismus“ sei „ohne weiteres offenkundig, da sie über Situationen berichten, die uns helfen, in die Haltungen und Erfahrungen anderer Personen einzudringen“.64 Kooperation auf der Basis gemeinsamer Interessen liegt auch der interkulturellen Kommunikation zugrunde: Man muss eine gewisse Zusammenarbeit, in die die einzelnen Mitglieder selbst aktiv eingeschaltet sind, als die einzig mögliche Grundlage für diese Teilnahme an der Kommunikation voraussetzen. Man kann mit den Marsmenschen keinen Dialog beginnen und keine Gesellschaft errichten, wenn es keine vorausgehenden Beziehungen gibt. Gäbe es freilich eine Gemeinschaft auf dem Mars, die so wie die unsere beschaffen wäre, so könnten wir möglicherweise mit ihr eine Kommunikation aufnehmen; mit einer Gemeinschaft aber, die völlig außerhalb der unseren liegt, die kein gemeinsames Interesse, keine kooperative Tätigkeit aufweist, können wir keine Kommunikation aufnehmen.65

Den „Hindernisse und Aussichten“ bei der „Entwicklung der Idealgesellschaft“ widmet Mead ein eigenes Kapitel;66 sie erfordert, kurz gefasst, weil „auch das Anderssein [...] auf soziale Anerkennung angewiesen ist“, nicht die Eliminierung, sondern die Anerkennung von Differenzen. Auch diese erfolgt durch Rollenübernahme, denn wir können uns in einen anderen hineinversetzen, ohne mit ihm identisch sein zu müssen. So schreibt Mead: Die Idealgesellschaft würde die Menschen so eng zusammenbringen, das notwendige Kommunikationssystem so voll entwickeln, dass die einzelnen Menschen, die ihre spezifischen Funktionen ausfüllen, 62 63 64 65 66

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Ebd., 304. Ebd., 306. Ebd., 303f. Ebd., 304. Ebd., 366-377.

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die Haltung der von ihnen beeinflussten Menschen übernehmen könnten.67

Charles Morris bezeichnet Mead deshalb als Internationalisten, weil die von ihm beschriebene gesellschaftliche Haltung theoretisch bis zu einer bewussten Identifikation mit und Teilnahme an der Gesellschaft der ganzen Menschheit führen muss. Ständig bezieht er sich auf den Völkerbund [Vorläufer der UNO] als einen Versuch der Staaten, eine umfassendere Gesellschaft zu begründen, als deren Teil sie sich selbst fühlen, die sie jedoch als funktionale Rolle noch nicht übernehmen können [...] Die Staaten haben noch nicht gelernt, die Rolle des anderen einzunehmen und bewusst und moralisch an den umfassenden gesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen, in die sie tatsächlich verwickelt sind.68

Ließe sich jedoch, so Mead, „dieses Kommunikationssystem theoretisch vervollkommnen, so würde der Einzelne sich selbst ebenso beeinflussen wie die anderen. Das wäre die ideale Kommunikation, ein Ideal, das im logischen Universum überall dort erreicht wird, wo das Gesagte verstanden wird. Der Sinn des Gesagten ist in diesem Falle für jedermann gleich. Das universale Gespräch ist also das „formale Ideal der Kommunikation“,69 denn hier würde „die signifikante Kommunikation“, die aus identischen und geteilten Bedeutungen besteht, „zum Organisationsprozess der Gemeinschaft“.70 Sicher hat Mead gesehen, dass die Weltgesellschaft weit entfernt von diesem Idealzustand ist, wohl damals so wie heute, und angesichts des von Waldenfels konstatierten Patts zwischen Partikularismus und Universalismus dürfte jede Entscheidung für eine Position strittig sein. Aber universal geteilte Bedeutungen sind für eine auf Kooperation basierende „Weltgesellschaft“71 offenkundig unverzichtbar, und das – darin ist Mead sicher zuzustimmen, impliziert Universalisierbarkeit. Dies hatte auch wohl der bereits erwähnte Göhring im Sinn, als er schrieb, interkulturelle Kommunikationsfähigkeit bilde über „ihre unmittelbar einsichtige berufliche Funktionalität“ hinaus „eine der notwendigen Voraussetzungen für die Entwicklung transnationaler Beziehungsnetze und Loyalitäten, welche als bedeutsame Elemente einer internationalen Friedenssicherung und als Ausgangsbasis für die Ausbreitung eines globalen Bewußtseins gelten können.“72

67 68 69 70 71

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Mead 1968, 376. Ebd., 37f. Ebd., 376, Hervorhebung: M.H. Ebd., 376f. Niklas Luhmann, „Die Weltgesellschaft“, in: ders., Soziologische Aufklärung: 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1991, 51-71. 72 | Göhring 2007, 74.

Differenzer fahrungen und Bildungsprozesse

Von der Leere des Ver trauten Überlegungen zur Rolle des kulturell Fremden in Prozessen der Selbstaneignung OLIVER IMMEL

Einleitung „Ich bin, aber ich habe mich nicht.“1 In dieser einfachen wie implikationsreichen Formel, die Helmuth Plessner seinem Aufsatz Elemente menschlichen Verhaltens vorangestellt hat, spiegelt sich vielleicht am augenfälligsten ein grundsätzliches Dilemma des menschlichen Selbstverhältnisses: dass der Mensch nämlich einerseits darauf aus ist, ein Selbst zu besitzen, ihm aber andererseits sein prozessuales, erlebnishaftes Sein beim Versuch, festzustellen, wer oder was er ist, wie ein Gespenst durch die Hände gleitet. Das menschliche Selbstverhältnis scheint auf der Ebene der Selbstreflexion wie durch eine unsichtbare Wand in zwei radikal voneinander unterschiedene Seinssphären getrennt: die erlebte Handbewegung ist eine andere als die gleichsam ,unbeteiligt‘ durch Beobachtung erkannte, das Wahrnehmen etwas anderes als der verobjektivierte Wahrnehmungsakt. Folglich besteht, und dies möchte ich zum anthropologischen Ausgangspunkt für die folgenden Ausführungen nehmen, im menschlichen Selbstverhältnis das Problem, dass das offenbar einzige dem Individuum zur Verfügung stehende Instrument der Selbstaneignung, die Selbstreflexion, beständig an der Aufgabe scheitert, eine Identität des erkannten mit dem performativen Sein herzustellen.

1|

Helmuth Plessner, „Elemente menschlichen Verhaltens“, in: ders., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, 63-93, 63.

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Ist sich der Mensch also im Erkennen tatsächlich selbst nicht nur nicht der Nächste, sondern gar der „Fernste“?,2 wie Friedrich Nietzsche es mit reichlich Pathos formuliert hat? Ein konstruktiver theoretischer Umgang mit diesem Problem lässt sich aus meiner Sicht nur dann erreichen, wenn wir uns zunächst von der insbesondere in der Philosophie noch immer weit verbreiteten Idee eines grübelnd um sich selbst kreisenden solitären Ichs verabschieden und das Bemühen der Selbstkonstituierung und Selbstaneignung im Raum der Intersubjektivität verorten. Was wir dort vorfinden, sind Rollengefüge, kollektive Entwürfe, wie man zu sein, zu handeln und zu denken hat, symbolisch vermittelte und aufgeladene Partizipationsgefüge, institutionalisierte Anerkennungsmechanismen – kurz: die von Sozialität und Kulturalität durchwirkte menschliche Lebenswelt. Die hierauf ausgerichtete, spätestens seit George Herbert Meads Sozialpsychologie etablierte Forschungsperspektive erlaubt eine Fokussierung der soziokulturellen Konstituierung des Ichs, die zugleich Einblicke in die Verwobenheit individueller und gesellschaftlicher Sinnbildungsstrukturen erlaubt. Das Potential dieses Blickwinkels scheint mir allerdings mit den bisherigen identitätstheoretischen Ansätzen, etwa von Mead, Erikson, Keupp oder Ricœur, insbesondere mit Blick auf die Diskrepanz zwischen Erkennen und Erleben, noch nicht ausgeschöpft zu sein. Ich möchte daher im Folgenden Grundzüge eines eigenen hermeneutischen Modells für die Analyse der Verknüpfung ,subjektiver‘ und ,objektiver‘ Sinnhaftigkeit menschlichen Seins vorstellen, das ich als ,Strukturhermeneutik personaler Identität‘ bezeichnen möchte, da mit ihm die soziokulturellen Strukturen in ihrer Funktion für die Identitätsbildung des einzelnen Gruppenmitglieds transparent gemacht werden sollen. Indem die Verobjektivierung sinnhaften Handelns als Grundelement der Selbstaneignung ausgewiesen wird und ich diese Verobjektivierungen in ihrer Abhängigkeit von soziokulturellen Anerkennungsmechanismen beleuchten möchte, hoffe ich, auf diesem Wege zumindest einen Beitrag zur Klärung der Beziehung der beiden Seinssphären des Erlebens und der Objektivität im Raum der Intersubjektivität leisten zu können. Die Problematik von Differenzerfahrung und Fremdverstehen ist nun freilich kein genuin interkulturelles Phänomen, sondern findet sich in jeglichen Interaktionszusammenhängen, insofern damit stets soziokulturelle Ordnungen berührt werden, die zur Herstellung personaler Identität beitragen. Allerdings erfährt diese Problematik in der Begegnung mit dem kulturell Fremden eine wesentliche Steigerung. Denn während sich Differenzerfahrungen, die durch ,binnenkulturell‘ Andere ausgelöst werden können, in einer vertrauten sozialen und interpretativen Rahmung 2|

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke, kritische Studienausgabe, Bd. 5, München/Berlin/New York 1988, 248.

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abspielen und von dieser zumindest partiell aufgefangen werden können, verkörpert der kulturell Fremde3 zusätzlich zur interpersonalen Differenz eine fremde soziale Ordnung mit eigenen Interpretationskodizes und Anerkennungsmechanismen, die u. a. eine Irritation der vertrauten soziokulturellen Mechanismen der Identitätsstiftung auslösen kann. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den möglichen Folgen der Begegnung mit dem kulturell Fremden, die seit jeher eine Ambivalenz aus Furcht und Faszination in sich trägt. Als Kontrapunkt zu der insbesondere seit dem Erscheinen von Samuel Huntingtons Clash of Civilizations4 populären Frage nach der Bedrohung der eigenen Identität durch den kulturell Fremden soll in meinem Beitrag die Frage nach einer möglichen Attraktivität der Begegnung mit dem kulturell Fremden in Bezug auf die personale Identitätsbildung geklärt werden. Da die hier verfolgte strukturhermeneutische Analyse die motivationalen Gesichtspunkte für eine solche Attraktivität dem entnehmen muss, was durch die Begegnung mit dem kulturell Fremden hervorgerufen wird und nicht den jeweiligen kulturellen Konstruktionen des Fremden, möchte ich meine Analyse um ein Phänomen gruppieren, aus dem sich m. E. sowohl die Unbehaglichkeit als auch die mögliche Attraktivität der Begegnung mit dem kulturell Fremden speisen und die ich als ,Leere des Vertrauten‘ bezeichnen möchte. Ohne bereits an dieser Stelle ins Detail zu gehen, lässt sich dieses Phänomen vorläufig als im Zusammenhang mit interkulturellen Begegnungen auftretende, die personale Identität betreffende Irritation der Eingebundenheit des Individuums in die soziokulturelle Gemeinschaft charakterisieren. Das Phänomen der ,Leere des Vertrauten‘ soll dabei als Bezugspunkt von Beweggründen für die Aufnahme oder Ablehnung interkultureller Kommunikation ausgewiesen werden. Dessen strukturale Analyse stellt dabei aufgrund seines diffusen Charakters gleichzeitig eine Bewährungsprobe für den hier vorgestellten strukturhermeneutischen Ansatz dar. Eine Abhandlung, die einen so kontrovers diskutierten Begriff wie den der personalen Identität zum Thema nimmt, ist im aktuellen Interkulturalitätsdiskurs nicht ganz zu unrecht einem gewissen Argwohn ausgesetzt. Ich möchte daher meinen Ausführungen einen kurzen Exkurs zum Begriff der Identität voranstellen, um die eigene Position zu verdeutlichen und herauszustellen, in welchem Sinne in meinem Beitrag 3|

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Der Begriff des ,kulturell Fremden‘ wird in meinen Ausführungen in zweifacher Weise verwendet: erstens in Bezug auf die Begegnung mit dem diffusen Anderen, Irritierenden einer fremden kulturellen Ordnung, und zweitens als Verweis auf die konkrete Anwesenheit eines Repräsentanten einer fremden kulturellen Ordnung. Der Schwerpunkt der Verwendung bezieht sich allerdings auf den letztgenannten Aspekt. Vgl. Samuel Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996 (dt. Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1998).

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von den Begriffen ,Identität‘ und ,Identitätsstiftung‘ Gebrauch gemacht wird. In Abschnitt zwei werden die phänomenologischen Grundbegriffe und -überlegungen erläutert, die als hermeneutisches Instrumentarium für die strukturale Analyse von Vertrautem und Fremden dienen, bevor ich einige anthropologische Überlegungen Helmuth Plessners und Jean-Paul Sartres aufgreifen und in eine eigene Grundposition der Strukturhermeneutik personaler Identität überführen möchte. Anschließend werde ich eine Bestimmung der Verwobenheit von personaler Identitätsbildung und kulturellen Partizipationsgefügen versuchen und mit deren Hilfe ein identitätstheoretisches Modell entwickeln, das es ermöglichen soll, die auf personale Identität bezogene Attraktivität des Vertrauten wie dessen Krisenanfälligkeit herauszustellen und einen Ausblick auf mögliche Beiträge der Begegnung mit dem kulturell Fremden für die Selbstaneignung zu geben.

1. Zum Begrif f der Identität ,Personale‘ und ,kulturelle Identität‘ gehören heute zweifellos zu den beliebtesten und zugleich problembehaftetsten Begriffen im Interkulturalitätsdiskurs. Dabei steht nicht nur die historische und kulturelle Bedingtheit dieser Schwerpunktsetzung in der Kritik, sondern ebenso die vielfach ungenügende Charakterisierung des Gegenstands, der mit „Identität“ angesprochen werden soll. Dass personale oder, wie Thomas Luckmann sie nennt „persönliche“ Identität als Massenproblem ein spezifisches Phänomen moderner, funktional und institutionell differenzierter Gesellschaften ist, in denen ein „sozial weitgehend anonymisiertes Ich“ entsteht, mit der Folge „dass die Stabilität der persönlichen Identität zum subjektiven, ja […] zum privaten ,Problem‘ wird“,5 scheint zunächst plausibel. Erschöpft sich in dieser Diagnose die Problemhaftigkeit personaler Identität, so muss allerdings der Eingang des Identitätsproblems in den Interkulturalitätsdiskurs als eurozentrischer Fehltritt angesehen werden – ein kulturspezifisches Problem wird verallgemeinert, das sich in anderen kulturellen Kontexten schlichtweg nicht stellt. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Denn nicht nur liegt die Vermutung nahe, dass persönliche Identität „keine Erfindung moderner industrieller Gesellschaften ist“,6 sondern bei näherer Betrachtung muss wohl auch mit Blick auf sogenannte „kollektive Gesellschaften“ eingestanden werden, dass der Sinngehalt kollektiven Handelns nur in der subjektiven Sphäre erlebbar ist, dass es stets einzelne Personen sind, die miteinander kom5| 6|

Thomas Luckmann, „Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz“, in: Odo Marquard/Karlheinz Stiehle (Hg.), Identität, München 1979, 293-313, 307. Luckmann 1979, 294.

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munizieren und der Einzelne sich unweigerlich als singuläres Bezugszentrum neben anderen erlebt, deren vermeintliche Gleichartigkeit nicht a priori gegeben, sondern soziokulturell vermittelt ist. Anders gewendet: auch der eingefleischteste Kollektivist ist in der Selbstreflexion stets ,mit sich‘ allein und kommt nicht umhin, an sich ein allgemeines und ein individuelles Ich zu unterscheiden. Damit ist freilich nur das Problemfeld personaler Identität, nicht aber ihr Begriff für den Interkulturalitätsdiskurs gerettet. Denn die Historizität und Kulturspezifik des Identitätsproblems ist noch das geringere Problem gegenüber dem nicht ganz unberechtigten Eindruck, dass es sich beim Identitätsproblem, wie Odo Marquard es bereits 1979 ausdrückte, um eine „Problemwolke mit Nebelwirkung“7 handelt. Entsprechend dem nebulösen Charakter des Identitätsbegriffs werden in jüngerer Zeit vor allem aus postmoderner und poststrukturalistischer Richtung die Stimmen lauter, die eine völlige Abkehr von dieser Begrifflichkeit fordern. So besteht, wie Jürgen Straub diese Kritik zusammenfasst,8 die Forderung, sich von der illusionären Vorstellung des Einzelnen, er sei als Einheit bestimmbar, zu verabschieden. An die Stelle der um Identität bemühten Person sei das „postmoderne Selbst“ getreten, das sich als „gespaltenes, „fragmentiertes“, „fraktales“, ja sogar „schizophrenes“, „multi-„ oder „polyphrenes“ Selbst präsentiere und im übrigen wunderbar mit dieser Zersplitterung zurecht komme9 – eine durchaus zweifelhafte Diagnose, der man Straub zufolge aber nicht einmal unbedingt widersprechen muss, um am Begriff der Identität festzuhalten zu können. Denn die Kritiker des Identitätsbegriffs bedienen sich aus seiner Sicht eines Bildes vom Konzept personaler Identität, das hochgradig überzeichnet ist und das im übrigen in der angefeindeten essentialistischen Ausprägung längst keine ernstzunehmenden Vertreter mehr findet. Die vermeintliche deskriptive Defizienz des Identitätsbegriffs hält Straub entsprechend lediglich für die Konsequenz aus einem falsch verstandenen Begriff der Identität, denn eine Person könne ohne weiteres „die artikulierten Selbst-Veränderungen […] als Bestandteile einer temporal strukturierten Identität empfinden, reflektieren und kommunizieren“.10 Ohne an dieser Stelle detailliert auf diese Diskussion eingehen zu können, möchte ich Straub in seiner Bewertung der postmodernen Kri7|

Odo Marquard, „Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz – Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion“, in: ders./Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, 347-369, 347. 8 | Jürgen Straub, „Personale Identität und Autonomie. Eine moderne Subjekttheorie und das ,Postmoderne Selbst‘“, in: Klaus-Peter Köpping/Michael Welker/Reiner Wiehl (Hg.), Die autonome Person – eine europäische Erfindung?, München 2002, 255-272. Straub bezieht sich hierbei v. a. auf Kenneth Gergen, Richard Rorty und Wolfgang Welsch. 9 | Vgl. ebd., 257. 10 | Ebd.

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tik in zweierlei Hinsicht zustimmen, nämlich erstens in seiner Einschätzung, dass eine Abkehr vom Identitätsbegriff wenig wünschenswert ist, weil man damit einen für den sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs schwer zu ersetzenden Begriff kurzerhand aus der Diskussion verbannt.11 Und zweitens in Bezug auf Straubs zweites Postulat, das die deskriptive Adäquanz des Identitätsbegriffs auf eine intrinsische Motivation der Person zur Identitätsbildung zurückführt, wonach es gute Gründe gebe, Personen weiterhin „als um Identität bemühte Subjekte zu beschreiben“.12 Dabei begreift Straub selbst personale Identität als ein narratives Konstrukt, das, weil sprachlich artikuliert und vermittelt, über soziokulturell und historisch bestimmte Definitionsräume der Identität beeinflusst ist. Durch ihre narrative Struktur und soziale Abhängigkeit wird Identität von Straub als „stets nur vorläufige, prinzipiell gefährdete Form oder Struktur des personalen Selbstverhältnisses“ verstanden, als eine „permanent fragile Angelegenheit“.13 Versetzt man diesen an prominentester Stelle etwa von MacIntyre, Ricœur und Taylor14 vertretenen Ansatz einer narrativen Identitätsbildung in den Kontext des Interkulturalitätsdiskurses, so stellt sich indes die Frage, ob ,personale Identität‘ unter diesen Vorzeichen als universell anwendbarer wissenschaftlicher Begriff gelten darf. Denn dass die um Selbstaneignung bemühte Selbstreflexion in anderen kulturellen Kontexten einen analogen Stellenwert besitzt wie in der abendländischen Tradition, darf in Bezug auf sogenannte „kollektiv“ geprägte Gesellschaften mit Recht bezweifelt werden. Allerdings gibt es aus meiner Sicht auch jenseits eines narrativ verstandenen Begriffs der Identität Gründe, zumindest am Begriff der personalen Identität festzuhalten.15 Versetzt man diesen Begriff nämlich in den Bereich des Performativen, des Mit-sichidentisch-Werdens im Handeln, und wirft von dort aus den Blick auf die soziokulturellen Mechanismen, in denen diese Formen des erlebten Identischwerdens intersubjektiv verobjektiviert und zur Gestalt einer Person 11 12 13 14

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Straub 2002, 258. Ebd., 258. Ebd., 263. Vgl. dazu die Werke Der Verlust der Tugend – Zur moralischen Krise der Gegenwart von Alasdair MacIntyre (Frankfurt a. M. 1981), Das Selbst als ein Anderer von Paul Ricœur (München 1996) und den Aufsatz “Self-Interpreting Animals“ von Charles Taylor (in: ders., Philosophical Papers II, Cambridge 1985, 45-76); Vgl. zur Thematik der narrativen Identität auch Stephan Schmidt, Die Herausforderung des Fremden. Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken, Darmstadt 2005, insbes. 33-50, 74-90). 15 | Auf eine Kommentierung anderer Begriffe von Identität, etwa den der „kollektiven Identität“ verzichte ich an dieser Stelle, halte letztgenannten aber, wie auch Jürgen Straub, für problematisch (vgl. dazu Jürgen Straubs Artikel „Identität“ im Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, hg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch, Bd. 1, Stuttgart 2004, 277-303, insbes. 290-93).

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formiert werden, so kann Identität einerseits als erlebbares Phänomen für den Einzelnen und andererseits als im sozialen Kontext geltender, verobjektivierter Bezugspunkt der sozialen Interaktion ausgewiesen werden. Der Begriff der Identität erhält somit nicht nur eine Legitimation und klare Kontur, insofern er das konkrete Sinn- und Identitätserleben des Einzelnen thematisiert, sondern nimmt mit Blick auf das eingangs erwähnte Grundproblem der Selbstaneignung, nämlich die Diskrepanz zwischen erlebtem und erkanntem Sein, eine Brückenfunktion ein: Er vermittelt zwischen dem performativen Erleben von Handlungssinn und Mit-sich-identisch-Werden und der intersubjektiven Verobjektivierung dieser Erlebnisse, die sozial vermittelt, Gegenstand der Selbstaneignung und Selbstmodellierung werden kann. Auf diese Weise erhält man einen Begriff der Identität, der in dreifacher Hinsicht jenseits der hier angesprochenen Problemfelder angesiedelt ist: Erstens, weil er nicht unmittelbar dem psychologischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs entstammt und vornehmlich auf anthropologische sowie phänomenologische Theoreme zurückgreift, zweitens, weil er von der hier freilich nur grob skizzierten Kritik postmoderner Denker nicht tangiert wird, da er die Frage nach dem Umgang des Einzelnen mit sich offen lässt. Und drittens schließlich, weil keine kognitiven Konstruktionsleistungen zur Bildung von Identität vorausgesetzt werden. Dies hat freilich einen anderen Identitätsbegriff zur Folge als den einer in sich homogenen Person. Personale Identität wird aus diesem Grund auch nicht als bestimmbare Essenz der Person oder als Produkt einer mehr oder weniger willkürlichen narrativen Gliederung von Erlebnissen verstanden, sondern im Gegenteil als ein loses, sich im Erlebnisstrom sedimentierendes Gewebe aus intersubjektiv konstituierten Verobjektivierungen sinnhafter Handlungen, auf deren Elemente das Individuum, freilich in jeweils unterschiedlichen Schattierungen, in der Erinnerung zurückgreifen kann.16 Entsprechend geht es mir in meinen identitätstheoretischen Ausführungen um denjenigen Gegenstandsbereich der Person, der ihr selbst gegeben sein muss, damit es zur Herstellung von so etwas wie einem Selbstbild oder einem narrativen Selbst überhaupt kommen kann. Der zentrale sozialtheoretische Zusammenhang, um den sich meine Ausführungen dabei gruppieren, ist die Vermittlung von sinnhaftem Handeln des Subjekts, seinen Identitäts- und Divergenzerlebnissen auf der einen Seite und der Begegnung mit dem Anderen, der durch eine kommunikative Ratifizierung der Sinnhaftigkeit des Handelns zu dessen 16 | Dies bedeutet m. E. keinen Rückfall in einen nur anders akzentuierten Essentia-

lismus. Denn dieses Gewebe aus Identitätsmomenen ist nur insofern miteinander vernetzt, als es mit einem körperlichen Bezugszentrum assoziiert ist, nicht aber im Sinne einer sinn- bzw. bedeutungsgetragenen kausalen Verknüpfung.

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Verobjektivierung und zur Aneignungsfähigkeit des Handlungssinns für die Person beiträgt. Was die Identität einer Person ausmacht, bestimmt sich dieser Konzeption zufolge also durch kooperative Verobjektivierungen sinnhaften Handelns, wobei – und dies sei hier nochmals betont – offen bleibt, wie die Person sich zu diesen intersubjektiv ratifizierten Identitätsmomenten verhält.

2. Die Dif ferenz zwischen erlebendem und erkanntem Sein Versteht man nun das ,Ich‘ zunächst nicht als unbefragte Gegebenheit, sondern nimmt eine phänomenologische Reduktion vor, die eine Einheit des Ego rein auf eine Reihung von erlebnismäßigen Gegebenheiten beschränkt, so lässt sich die primäre egologische Struktur des Individuums zunächst als ein „Bewusstseinsstrom“ charakterisieren,17 also als eine zunächst ungeordnete, durch das Erinnerungsvermögen mit der Option einer reflexiven Verkettung versehene zeitliche Aneinanderreihung von verschiedenartigsten Erlebnissen, die an ein bestimmtes körperliches, Kontinuität garantierendes Bezugszentrum gebunden ist. Für die Frage nach dem Wer des Individuums hat diese Grundposition weitreichende Folgen, denn sie bedeutet, dass der Einzelne zunächst gerade kein Ich ist, dem etwas begegnet. Vielmehr ist er zunächst nichts weiter als ein Ort, an dem sich Erlebnisse zeigen. Und da seine Erlebnisse flüchtig sind, bedarf es eines Erinnerungsvermögens und einer Vergegenständlichungsoption, um überhaupt ein Selbstverhältnis zu erhalten. Anders gewendet: der Mensch bedarf der Reflexivität als Fähigkeit zur Verobjektivierung der eigenen Erlebnisse. Und als Lebewesen, dem daran gelegen ist, ein Ich zu besitzen, folgt er dabei einer anthropologischen Struktur, die Helmuth Plessner „exzentrische Positionalität“18 nennt. Mit dieser „Form der Gestelltheit gegenüber seiner Umwelt“ ist ein struktureller Standpunkt des Reflexionsaktes angesprochen, der den Menschen in die Lage versetzt, sich in der Selbstreflexion von einer gleichsam projizierten Außenperspektive aus zu vergegenständlichen, sich zum Adressaten wie Gegenstand der Frage nach dem Wer seines Seins zu machen, ja, sich selbst ein anderer zu sein. Nun hat diese Fähigkeit zur Selbstreflexion bedauerlicherweise einen nicht unerheblichen blinden Fleck, den Plessner selbst nicht thematisiert hat. Denn das Erleben hat, wie eingangs erwähnt, als Geschehen, als Akt, 17 | Vgl. Edmund Husserl, Grundprobleme der Phänomenologie 1910/11, Hamburg

1992, 88f.

18 | Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung

in die Philosophische Anthropologie, Berlin 1965, 288ff.

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selbst keine Objektstruktur, d. h. es besitzt keine Dauerhaftigkeit und ist flüchtig. Auch das für die Handlungsmotivation des Menschen wesentliche Sinnerleben entzieht sich folglich der Selbstreflexion, da alle Erkenntnis eine Subjekt-Objekt-Beziehung voraussetzt, die auf der Erlebnisebene nicht gegeben ist. Aufgrund dessen können die eigenen Erlebnisse erst nach einer ,Übersetzung‘ in feststehende Objektformen, die sich begrifflich fixieren lassen und vom Individuum als Elemente des Selbst erfasst und angeeignet werden können. Gestalt und Wahrheit des menschlichen ,Selbst‘ sind also objekthaft – das Ich ist nichts von vornherein Gegebenes, sondern ein vom Bewusstseinsakt als Gegenüber adressiertes, das Erleben überdauerndes Objekt.19 Neben diesem Problem zeigt sich mit Blick auf die exzentrischen Positionalität in meinen Augen noch ein zweites. Denn die Wahrheit der Objekterkenntnis ist aufgrund ihres Allgemeinheitsanspruchs grundsätzlich konsensuell verfasst und deshalb auf eine intersubjektive Ratifikation angewiesen. Hierdurch kommt der sozialen Interaktion, genauer: der Kommunikation, eine wesentliche Rolle für die Konstituierung von Wahrheit und folglich auch der Wahrheit des Selbst zu.20 Mit Blick auf die Selbstaneignung bedeutet dies: Der Einzelne benötigt stets ein soziales Umfeld mit fremden Urteilsinstanzen, reale Außenperspektiven, um zu intersubjektiv ratifizierten Wahrheiten über sich selbst zu kommen. Die eigene exzentrische Außenperspektive auf sich bleibt in diesem Zusammenhang als bloß projizierte offensichtlich eine Binnenperspektive des Individuums, der aufgrund der allgemeinen, d. h. in Bezug auf propositionale Wahrheit, konsensuell verfassten Natur der Objekterkenntnis eine gewisse Defizienz anhaftet, die sich dem Einzenen etwa in Form von Zweifeln an der Angemessenheit seiner Selbsteinschätzung zeigen kann.21 Der Weg der Selbstaneignung führt daher stets durch das unberechenbare Land des Anderen.

19 | Vgl. dazu: Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays

1931-1939, übers. von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener, 74f. 20 | Ein Gedanke, der m. E. durch George Herbert Meads Verweis auf die sprachliche und dialogische Verfasstheit des Denkens gestützt wird: „[...] nur indem er [der Einzelne – O.I.] die Haltung des verallgemeinerten Anderen gegenüber sich selbst auf die eine oder andere Weise einnimmt, kann er überhaupt denken; nur so kann Denken – oder die nach innen verlegte Übermittlung von Gesten, die das Denken ausmacht – stattfinden“ (George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1973, 174); vgl. dazu auch die Aussage: „Wir haben gesehen, daß der Prozeß oder die Tätigkeit des Denkens ein Gespräch des Einzelnen zwischen sich selbst und dem verallgemeinerten Anderen ist […]“ (ebd., 301). 21 | Eine Struktur, die ein Erklärungsansatz dafür liefern kann, warum etwa Urteilen signifikanter Anderer häufig ein höherer Stellenwert eingeräumt wird als Urteilen, die der Einzelne über sich selbst fällt.

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3. Sar tres These vom „Besessen-Werden“ durch den Anderen Um die Auswirkungen der Begegnung mit dem kulturell Fremden auf strukturhermeneutischer Ebene transparent zu machen, möchte ich nun vor allem eine Grundthese Jean-Paul Sartres aufgreifen, die ich zusammen mit Plessners Anthropinon der „exzentrischen Positionalität“ zum Ausgangspunkt für meine eigenen Überlegungen machen möchte. Auf der Suche nach unmittelbaren Strukturen der Intersubjektivität stößt Sartre auf die Erkenntnis, dass im sozialen Verhältnis der Andere durch sein verobjektivierendes Urteilsvermögen stets im Besitz eines „Für-andere-seins“,22 d. h. eines Bildes bzw. Urteils von uns ist, das wir – weil uns die Möglichkeit seiner Perspektive entgeht – nicht selbst formen können, aber als mit uns zutiefst assoziiert ansehen. Wir wissen, dass der Andere uns wahrnimmt, verobjektiviert, Urteile über uns fällt, also Erlebnisse hat, die uns zum Gegenstand haben. Wesentlich ist nun für Sartre und auch den hier vertretenen Ansatz, dass durch diese ontologische Struktur ein Gefühl des ,Besessen-Werdens‘ durch die Anderen entsteht. Nach Sartre besitzt der Andere mir gegenüber ein Geheimnis: es ist das Geheimnis dessen, was ich bin: – der Andere „macht mich [im Sinne einer Objektheit – O.I.] sein, und eben dadurch besitzt er mich“.23 Es geht also bei den Urteilen der Anderen nicht nur um die Gegebenheit von realen gegenüber bloß projizierten Außenperspektiven, sondern auch um den schöpferischen Akt der Urteilsbildung, der die Perspektiven des Anderen als dessen Eigentum qualifiziert. Der Wille, unser Objekt-Sein-für-Andere in unser Eigentum zu überführen, ist vor diesem Hintergrund mit der Notwendigkeit verknüpft, den Anderen als freie Urteilsinstanz für uns verfügbar zu machen, denn erst ein freies, kein erzwungenes Urteil kann als schöpferisches Urteil einer Alterität anerkannt werden. Fordere ich den Anderen also dazu auf, mich geistreich oder freundlich zu finden, so weiß ich intuitiv aufgrund meiner eigenen analogen Struktur, 24 dass hinter dem erzwungenen oder erschwindelten Urteil stets unweigerlich noch ein anderes liegt, das mir in diesem Moment entgeht. 22 | Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenolo-

gischen Ontologie, übers. von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek 1993, 405f. 23 | Sartre 1993, 638. 24 | Alfred Schütz spricht von dieser präreflexiv angenommenen analogen Struktur der menschlichen Erfahrungssysteme als „Generalthesis des Du“, bzw. „Generalthesis des alter ego“ (vgl. Alfred Schütz, Das Problem der sozialen Wirklichkeit, in: ders., Gesammelte Aufsätze I, hg. von Herman Leo van Breda, Den Haag 1971, 114, 150) – ein Gedanke, den Sartre als „Mit-dem-andern-gepaart-sein“ bezeichnet (vgl. Sartre 1993, 458).

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Nun ist offensichtlich, dass sich ein so verstandenes Eigentum des Anderen nur durch kommunikative Akte aneignen lässt. Denn nur in Kommunikation kann ein neues, nun ,intersubjektiv‘ zu nennendes ,Eigentum‘ der eigenen Objektgestalt geschaffen werden. Der wechselseitige schöpferische Akt der Gestaltung des objektiven personalen Seins lässt m. E. in Kommunikation eine neue konsensuelle Außenperspektive auf uns entstehen, die wir als unsere intersubjektive Wirklichkeit aneignen, als Teil der eigenen intersubjektiven Gestalt der Person ansehen können. In Verbindung mit dem Bestreben zur Selbstaneignung heißt dies: Der Einzelne ist aufgrund der Strukturen der exzentrischen Positionalität und des Besessen-Werdens durch den Anderen – wenn auch nicht ,bewusst‘ im alltagssprachlichen Sinne – stets auf der Suche nach einem oder mehreren signifikanten Anderen. Deren Auswahl erfolgt im Medium der Anerkennung von Urteilskompetenzen, die der Andere für uns verkörpert. Folgt man Sartres Argumentation und führt diese entgegen seiner eigenen, weithin als problematisch angesehenen Einschätzung der Intersubjektivität25 konstruktiv auf identitätstheoretisch relevante Konsequenzen hin fort, so gibt es dabei offensichtlich eine Tendenz, die für die Persongestaltung nötigen anerkannten Urteilsinstanzen auf einen signifikanten Anderen zu bündeln, dem der Status einer alle validen Außensperspektiven auf das eigene sinnhafte Handeln repräsentierenden Urteilsinstanz zugesprochen werden kann – eine Tendenz, die, wie noch gezeigt werden wird, in abgewandelter Form auch in kulturellen Zusammenhängen eine Rolle spielt.

4. Das Ver traute und die Sinnhaftigkeit des Handelns Wenden wir uns von hier aus zurück zur Formel „ich bin, aber ich habe mich nicht“ und verstehen das Ich als sich in soziokulturellen Zusam25 | Während Sartre selbst das genannte „Besessen-Werden“ durch den Anderen als

Grund dafür sieht, dass die ursprüngliche Beziehung zum Anderen der Konflikt ist, möchte ich versuchen, seine Überlegungen anders weiterzudenken und in das Modell der Strukturhermeneutik personaler Identität zu integrieren. Sartres Aussage: „Der Konflikt ist der ursprüngliche Sinn des Für-Andere-Seins“ (Sartre, 1993: 638) gab und gibt noch immer reichlich Anlass zur Kritik, auch in Bezug auf als möglich eingeschätze alternative Weiterführungen seiner eigenen Überlegungen. Vgl. hierzu etwa Hans-Georg Gadamer, „Das Sein und das Nichts“, in: Traugott König (Hg.), Sartre: Ein Kongress, Reinbek 1988, 37-52, 51), Axel Honneth, „Kampf um Anerkennung: Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität“, in: Traugott König (Hg.), Ein Kongreß, 73-83, 74), ders., „Die Gleichursprünglichkeit von Anerkennung und Verdinglichung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität“, in: Bernard Schumacher, Das Sein und das Nichts (Klassiker auslegen), Berlin 2003, 135-158. Sartres Engführung des unmittelbaren Beziehung zum Anderen lässt sich dabei m. E. vor allem auf eine rigide gefasste SubjektObjekt-Dichtotomie im Bereich der Intersubjektivität zusammen wie auch mit dem Fehlen einer detaillierteren Auseinandersetzung mit Kommunikationsprozessen zurückführen.

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menhängen erst konstituierendes, so zeigt sich mit Blick auf das Bestreben zur Selbstaneignung der Bedarf nach festen Orientierungspunkten in der menschlichen Lebenswelt, nach festen sozialen Strukturen, in denen klar konturierte Rollengefüge und Gratifikationssysteme institutionalisiert sind, die soziale Anerkennung für bestimmte Arten sinnhaften Handelns garantieren und auf diesem Wege die Konstituierung aneignungsfähiger Momente personaler Identität erlauben. Gesellschaft und kulturelle Gemeinschaft bilden dabei die zentralen sozialen Rahmungen, die diesen Bedürfnissen Rechnung tragen. Nach meiner Auslegung sind soziokulturelle Gefüge auf der Grundlage kollektiver Entwürfe von Anerkennungsmechanismen durchsetzt, die dem Einzelnen durch Sozialisation vertraut gemacht werden. Da kulturelle Gemeinschaften in meinen Augen eine identitätstheoretisch hoch interessante Sonderform sozialer Gefüge darstellen, möchte ich daher im Folgenden von ,Kultur‘ sprechen im Sinne eines symbolisch aufgeladenen Partizipationsgefüges, das identitätsstiftende Anerkennungsmechanismen bereit stellt und – was m. E. die Besonderheit kultureller Formationen ausmacht – von einer kollektiven Bezogenheit auf Identifikationsgestalten, oder, wie ich sie nennen möchte: ,Alter Ego-Gestalten‘, geprägt ist (besonders nahe liegende Beispiele hierfür wären etwa Gottesgestalten, Pop-Idole oder Fußballclubs). Die durch Vergemeinschaftung hergestellte Vertrautheit steht aus meiner Sicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage, ob und in welchem Sinne der Mensch eine Identität mit sich herstellen kann. Scheidet das ,subjektive‘ Erkenntnisvermögen zumindest als erste Grundlage der Identitätsbildung aus und verlegen wir den Ausgangspunkt der Identitätsbildung in den an Entwürfen ausgerichteten Handlungsvollzug so zeigt sich die Sinnhaftigkeit menschlichen Handelns als Bezugsgegenstand personaler Identitätsbildung. Sinnhaftes Handeln verstehe ich dabei als Handeln ,im Bewusstsein eines Sinns‘, den es durch Ausrichtung auf die Einlösung eines entworfenen zukünftigen Seins erhält. Hat ein Mathematiker den Entwurf gesetzt, ein ,Dieses bestimmte mathematische Problem gelöst-habender Mathematiker‘ zu werden, so ist die Entwicklung eines Lösungsansatzes von einem Sinnerleben durchsetzt, das im Einlösen dieses Entwurfs in ein Identitätserlebnis mündet: der Mathematiker hat sich performativ mit seinem entworfenen Sein in Entsprechung gebracht oder erfährt im Scheitern die deprimierende, weil die Sinnhaftigkeit seines Handelns retrospektiv auflösende Diskrepanz zwischen faktischem und entworfenen Sein. Diese, wie ich sie nennen möchte, ,Identitäts-‘ bzw. ,Divergenzerlebnisse‘ scheinen mir für die Konstituierung eines Selbst von entscheidender Bedeutung zu sein, denn sie bilden nicht nur zentrale Elemente des subjektiven Sinnerlebens, aus denen sich persönliche Deutungsressourcen speisen, sondern können als das ,Rohmaterial‘ verstanden wer-

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den, aus dem im Medium sozialer Anerkennung intersubjektiv konstituierte Identitätsmomente der Person geformt werden. Entsprechend verstehe ich unter einem ,Identitäts- bzw. Divergenzmoment‘ ein auf ,Identitätserfahrungen‘26 basierendes, intersubjektiv konstituiertes Objekt, das als Element des Ichs begriffen und angeeignet werden kann.27 Aus dieser Perspektive lässt sich aus meiner Sicht ein wesentlicher Motivationsgrund für soziale Vergemeinschaftung formulieren. Denn was soziale Anerkennung verdient, sind Handlungen, die zumindest im Rahmen einer bestimmten Bezugsgruppe objektiv als sinnhaft gelten können. Gibt es in der sozialen Bezugsgruppe kollektive Entwürfe, wie man in bestimmten Kontexten zu handeln und zu denken hat, und werden diese vom Einzelnen als eigene assimiliert, so darf mit gutem Grund mit einer Anerkennung des entsprechend ausgerichteten Handelns durch die Binnen-Anderen gerechnet werden: das subjektive Identitätserlebnis gerinnt durch die wertschätzenden Urteile anerkannter Anderer zu einem objektiven28 Identitätsmoment. Auf diese Weise gewinnt das Individuum verschiedenartigste Verobjektivierungen seines Handelns (auch solche, die auf Divergenzerlebnissen basieren und mit Abschätzung quittiert werden), die es reflektierend aneignen kann und die gleichzeitig sowohl die eigene objektive Persongestalt29 prägen als auch eine existentielle Verbundenheit mit der Bezugsgruppe markieren. Mir scheint, dass sich der Wert und die Attraktivität soziokultureller Vertrautheit wesentlich aus diesem identitätsgenerierenden Sinngehalt speisen. Vertraut ist, was eine soziokulturelle Heimat stiftet, und die 26 | M. E. ist es sinnvoll, zwischen Identitätserlebnissen und Identitätserfahrungen

zu unterscheiden, und zwar in dem Sinne, dass Identitätserlebnisse als flüchtige und diffuse Elemente des Bewusstseinsstroms zu verstehen sind, während Identitätserfahrungen ein bedeutungszuschreibendes (wenngleich nicht notwendig reflexives im alltagssprachlichen Sinne) Sich-zu-sich-selbst-Verhalten zur Voraussetzung haben, durch das sie eine gegenständliche Form erhalten und der Erinnerung zugänglich bleiben (vgl. dazu ausführlicher: Oliver Immel, Sein Kultur und Identität: Versuch einer strukturhermeneutischen Anthropologie im Anschluss an Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre (online veröffentlicht 2008 durch die Universität Mainz, zugänglich unter http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:hebis:77-16483, insbes. 81-95). 27 | Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass weder die Bildung von Identitätserfahrungen, die bereits ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten darstellt, noch die sozialen Interaktionen, die diese zu Identitätsmomenten gerinnen lassen, als reflektierte und kognitiv intendierte Akte verstanden werden. 28 | Vgl. Fußnote 3. 29 | Ich spreche von ,Gestalt‘ in dem Sinne, dass sich verschiedene Urteile verschiedener Menschen zum Bild einer Person zusammensetzen lassen, das gleichwohl nur metaphorisch als ,Bild‘ bezeichnet werden kann. So wird eine Persongestalt innerhalb einer kommunikativ vernetzten Gruppe durch Attribuierungen wie ,intelligent‘, ,etwas eigenbrötlerisch‘, ,guter Vater‘, ,schlechter Handwerker‘ o. ä. gebildet. Auf diese Weise vermittelt die ,Persongestalt‘ quasi eine ,Idee‘ einer Person, ein Profil, das sie identifizierbar werden lässt. Gleiches gilt für den Begriff der ,Alter Ego-Gestalt‘. Von ,Person‘ spreche ich als einer intersubjektiv von Außenperspektiven gebildeten Gestalt – die Unterscheidung zwischen ,Individuum‘, bzw. ,Einzelnem‘ und ,Person‘ ist also eine perspektivisch definierte.

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Heimat ist dort, wo einsozialisierte und habitualisierte Entwurfsmuster in ein Gratifikationssystem sozialer Anerkennung eingelassen sind, das den Einzelnen die Herstellung objektiver Identitätsmomente erlaubt, ohne sich durch ständige Enwurfstätigkeiten immer wieder aus dem Nichts heraus selbst erfinden zu müssen.

5. Mechanismen der Identitätsstiftung Bevor ich detaillierter auf die kulturelle Bindung des Individuums zu sprechen komme, möchte ich einige für die Strukturhermeneutik personaler Identität wesentliche Kategorien einführen. Ich werde im Folgenden zwischen vier für die Selbstaneignung relevanten Mechanismen der Identitätsstiftung unterscheiden, die mit Ausnahme der ersten mehr oder weniger ausdifferenzierte soziale Gratifikationssysteme verkörpern, um eine intersubjektive Ratifizierung sinnhaften Handelns durch soziale Anerkennung zu gewährleisten. Die ,performative Identitätsbildung‘ (1) stellt in diesem Modell die basalste Form dar, die das ,subjektive Material‘ für alle sozialen Formen der Identitätsstiftung liefert. Sie besteht in einer selbstreflexiven Verobjektivierung der eigenen Identitätserlebnisse. Das durch Einlösung eines Entwurfs entstandene Identitätserlebnis, also das ,So sein, wie man sich zu sein entworfen hat‘, kann durch ein ,implizit-reflexives‘ oder reflektierendes Verhalten30 zu einer Identitätserfahrung umgebildet werden und so als fixierbarer Gegenstand für die Erinnerung zugänglich bleiben. Identitätserfahrungen bilden so gesehen das Medium, in dem sich die Sinnhaftigkeit des Handelns ,konserviert‘: die Identitätserfahrung ,schwimmt‘ gewissermaßen auf der Oberfläche des Erinnerbaren und kann von dort aus jederzeit in das kommunikative Spiel um die Anerkennung durch Andere eingebracht werden. Gegenüber dieser Grundform der Identitätsbildung lassen sich drei Formen von Identitätsbildungsmechanismen unterscheiden, in denen soziale Anerkennung31 eine zentrale Rolle spielt und die ich im Fol30 | Unter einem ,implizit-reflexiven Verhalten‘ lässt sich ein nicht-reflektierendes

Verhalten des Individuums zu sich selbst, das eine ,subjektive‘ Bedeutungszuschreibung vornimmt und es ihm ohne ausdrückliche Reflexionsakte erlaubt, Erlebnissen Bedeutungen wie ,angenehm‘, ,befriedigend‘ oder ,unbedingt zu vermeiden‘ zuzuweisen. Auch Identitäts- und Divergenzerfahrungen in Bezug auf sinnhaftes Handeln können sich auf diese Weise im Bewusstseinsstrom sedimentieren. Vgl. dazu auch die methodische Unterscheidung zwischen Modi des ,präreflexiven‘, ,reflexiven‘ und ,reflektierenden‘ Bewusstsein in Immel 2008, 81ff. 31 | Anerkennung meint hier: die Bereitschaft, die Handlungsentwürfe des Anderen anzuerkennen, dem Handelnden in dessen performativen Akten Sinnhaftigkeit zu bescheinigen und die Bereitschaft zu zeigen, ihm seine Außnurteile in Kommunikation zuzuspielen.

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genden ,interpersonale‘, ,gesellschaftliche‘ und ,kulturelle Identitätsstiftung‘ nennen werde. Im Bereich der ,interpersonalen‘ Identitätsstiftung (2) ist soziale Anerkennung auf einen engen Kreis von als repräsentative Urteilsinstanzen verstandenen signifikanten Anderen beschränkt (Freundeskreis, Familie, geliebte Autorität) und primär auf individuelle Entwürfe und Besonderheiten gerichtet. Gegenstand der Anerkennung können hier für das konkrete interpersonale Verhältnis tragende Manifestationen von Vertrauenswürdigkeit, Redlichkeit, Loyalität, Hilfsbereitschaft, Unterhaltsamkeit, Originalität, Kreativität sein, die auch für den signifikanten Anderen selbst Bezugsgrößen darstellen. Im Falle ,gesellschaftlicher Identitätsstiftung‘ (3) hingegen wird soziale Wertschätzung an individuelle Leistungen im Rahmen eines allgemeinen Erwartungshorizonts gebunden. Die Handlungen der Einzelnen werden mit Hilfe eines aus kollektiven Entwürfen gewebten Deutungsrasters interpretiert. Vor diesem – wenn man so will – ,allgemeinen Deutungshorizont sinnhaften Handelns‘ finden Urteile über die Sinnhaftigkeit des Handelns statt, die durch kommunikative Akte in intersubjektiv ratifizierte Identitätsmomente der Person überführt werden können. So gibt es kollektive, von Einzelnen angeeignete Grundentwürfe, was es etwa heißt, ein guter Bäcker, Koch oder Taxifahrer zu sein. Die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit des Rollenträgers wird vor diesem Entwurfshorizont von anerkannten Anderen qualifiziert (den Käufern, den Gourmets, den Fahrgästen oder anderen in dieser Frage signifikanten Anderen). Stellt sich bei ihm eine Identitätserfahrung ein, so können durch die Anerkennung seiner Leistung durch Andere intersubjektiv konstituierte Identitätsmomente entstehen, die es dem Rollenträger erlauben, seinen Handlungssinn als intersubjektive Wirklichkeiten zu begreifen und diese Wirklichkeiten zum Ausgangspunkt für Konstruktionen seines Selbst (,Selbstbilder‘) zu nehmen. Auf Seiten der Bezugsgruppe bilden sie hingegen die Basis für die Herausbildung einer Persongestalt des Rollenträgers. Gegenüber gesellschaftlichen Anerkennungsmechanismen scheinen mir Mechanismen der ,kulturellen Identitätsstiftung‘ (4) gerade von individuellen Leistungserwartungen zurückzutreten und die reine Partizipation an kollektiven Entwürfen und metaphysisch wie symbolisch aufgeladenen Alter Ego-Beziehungen zum Anlass sozialer Anerkennung zu nehmen. Hier zählt in erster Linie die Zugehörigkeit und Teilhabe, die durch zumeist stark symbolisch geprägte und ritualisierte Akte dokumentiert wird. Der Einzelne kann sich auf kultureller Ebene etwa über eine politische Partei, eine religiöse Gemeinschaft, eine Nation oder einen Fussballclub definieren und diese als Alter Ego-Gestalten für sich anlegen. Anders als im funktional ausdifferenzierten und weitgehend anonymisierten gesellschaftlichen Handeln gewährt ein kulturelles Par-

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tizipationsgefüge Anerkennung also bereits auf der Grundlage der bloßen Teilhabe an kollektiven Handlungen, etwa einem kollektiven Glaubensbekenntnis. Neben der Ausrichtung auf eine kollektiv angelegte Identifikationsfigur, der ,Alter Ego-Gestalt‘, scheint es mir in kulturellen Gefügen allerdings noch eine zweite ,Tauschform‘ für das individuelle Selbst zu geben, die ich das ,performative Alter Ego‘ nennen möchte. Dieses entsteht, wenn in der Bestimmung und Beurteilung der Alter Ego-Gestalt auf der Erlebnisebene die eigene Urteilsinstanz mit denen der Binnen-Anderen verschmilzt und sich in kollektiven Handlungen zu einem ,Wir alle‘ vereint: ,Wir alle huldigen dem gütigen Gott‘, ,Wir alle sind der BVB‘. Mit Blick auf die Bedeutung der kulturellen Bindung für den Einzelnen lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass die kulturelle Bindung für das einzelne Mitglied eine zweifache Funktion austrägt: Erstens stellt die kulturelle Gemeinschaft jenseits der bereits für die Aufnahme in die Gruppe unter Beweis gestellten Fähigkeiten oder Bekenntnisse sowie für die Teilhabe am kulturellen Leben notwendigen Fertigkeiten keine ausdrücklich individuellen Entwurfsanforderungen und Leistungserwartungen,32 da sie für gewöhnlich für die Mehrheit der Gruppe kein fest gefügtes und funktional ausdifferenzierten Rollengefüge beinhaltet. Sie unterbindet zweitens durch die Verdeckung der Alterität der Anderen die Verunsicherung, die durch das Auftreten äußerer Urteilsinstanzen für gewöhnlich ausgelöst wird („Besessen-Werden“ durch die schöpferischen Urteile der Anderen), wodurch sich die Notwendigkeit einer ausdrücklichen ,Inbesitznahme‘ von Außenurteilen nicht einzustellen scheint. Trotz allem bietet die kulturelle Formation ein Entwurfs- und Anerkennungssystem, das die Möglichkeit bietet, das kollektiv geprägte Handeln individuell als sinnhaft und identitätsstiftend zu erleben. Der Einzelne will mit dem Anderen zu einer Einheit verschmelzen und dadurch die alleinige (repräsentative) Urteilsinstanz über die kulturelle Alter Ego-Gestalt 33 sein – ganz gleich, wie präformuliert die eigenen Urteile dadurch auch sein mögen. Vor diesem Hintergrund bietet kulturelle Bindung also eine Art der Vertrautheit und stiftet eine aus rituellen Selbstverständlichkeiten und kollektiven Entwurfsgefügen

32 | Je nachdem, welche Art von Gruppierung als ,Kultur‘ verstanden wird, variie-

ren die Mitgliedschaftsvoraussetzungen, bzw. die Leistungen, die die Einzelnen für die Teilhabe am ,performativen Alter Ego‘ zu erbringen haben, natürlich erheblich. Eine religiöse Gemeinschaft stellt andere Voraussetzungen an eine Mitgliedschaft als ein literarischer Zirkel oder eine ,Kultur‘ von Leistungssportlern. In diesem Sinne treffen die genannten Charakteristika vor allem und in erster Linie auf kulturelle Gruppierungen zu, die auf der Makroebene in Erscheinung treten, die in der Regel traditional tief verankert sind und die eine deutlich konturierte Alter Ego-Gestalt zum Bezugspunkt haben. 33 | Zum ,Gestaltbegriff‘ siehe Fußnote 29.

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gespeiste ,Heimat‘, die den Stachel der Andersheit verdeckt und stattdessen Ruhe und Geborgenheit verspricht. Nun muss im Zusammenhang mit dieser idealtypischen Konturierung von Identitätsstiftungsmechanismen freilich präsent bleiben, dass in sozialen Beziehungen generierte Identitätsmomente für gewöhnlich auf verschiedene Formen der Identitätsstiftung zurückzuführen sind. Das Gewebe der personalen Identität lässt sich deshalb als aus verschiedenen Fäden geflochten verstehen, die jeweils unterschiedliche Arten von Identitätsmomenten repräsentieren (bspw. in familialen, beruflichen oder religiösen Kontexten entstandene) und die miteinander verknüpft so etwas wie eine personale Profilbildung erlauben. Deren von verschiedenen Anerkennungssystemen geprägter Anteil von Identitätsmomenten kann dabei (auch biographisch) erheblich schwanken, so dass wir davon ausgehen können, dass der Anteil von innerhalb einer sozialen Rahmung entstandenen Identitätsmomenten niemals eine konstante Größe darstellt. Ferner ist davon auszugehen, dass auch innerhalb sozialer Rahmungen wie Gesellschaft oder kultureller Gemeinschaft stets verschiedene Formen der Identitätsstiftung wirksam sind. Eine Funktionärsrolle in der Gesellschaft kann mit einer Teilhabe an einem kulturellen Alter Ego verquickt sein, so wie in kulturellen Rahmungen auch funktional ausdifferenzierte Rollengefüge auftreten können.

6. Zur Struktur des kollektiven Alter Ego Binden wir an dieser Stelle den mit Sartre eingeführten Gedanken des Besessen-Werdens durch die Anderen und das Streben nach einer Inbesitznahme von Außenurteilen in die Analyse mit ein, so fällt auf, dass beiden für die ,kulturelle Identitätsstiftung‘ wesentlichen Alter Ego-Konstruktionen die Ausblendung der Alterität des und der Anderen gemein ist. Zwar wird die kollektive Alter Ego-Gestalt in gewisser Weise als Nicht-Ich erfasst, gleichwohl steht der Einzelne, da sich sein Sinnerleben und damit die Möglichkeit zur Herstellung von Identitätsmomenten aus seinem Verhältnis zu ihm speist, mit ihr in einer Art Schicksalsgemeinschaft, wodurch es dazu kommen kann, dass Beleidigungen, welche die Alter Ego-Gestalt treffen (,Der Fußballclub taugt nichts‘) als persönlicher Affront aufgefasst werden.34 Strukturell auffälliger und für die Begegnung mit dem kulturell 34 | Vor dem Hintergrund, dass Menschen ein kollektives Alter-Ego als Tauschform

ihres Ichs konstruieren, wird deutlich, warum gewissermaßen in einem ,selbstlosen‘ Einsatz um die Gestalt eines kollektiven kulturellen Bezugspunkts gekämpft werden kann. Denn je nach der lebensweltlichen Breite der Verlagerung des Ichs auf das Alter Ego kann etwa eine Herabwürdigung der als Alter Ego eingesetzten kollektiven Identifikationsgestalt, etwa der eigenen Religion oder Nation, schwerer wiegen als die Beleidigung, die sich direkt auf Spezifika des

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Fremden anfälliger aber ist m. E. die Ausblendung der Alterität der BinnenAnderen, die sich im performativen Alter Ego als vermeintlicher Einheit eines ,Wir‘ vollzieht. Gerade in dieser Verdeckung der Vorhandenheit von äußeren Urteilsinstanzen, also des Ausblendens des „Besessen-Werdensdurch-Andere“ im eigenen kulturellen Gefüge, scheint mir einerseits eine wesentliche Attraktivität kultureller Bindung zu bestehen und andererseits der Grund für deren starke Irritabilität zu liegen. Werfen wir einen Blick auf den Beitrag zur Selbstaneignung, den die kulturellen Gefüge des Vertrauten leisten. Der Mechanismus, wie der Einzelne durch die Übertragung seines Ichs auf ein kollektives Alter Ego zu Identitätsmomenten gelangen kann, lässt sich nach dem vorgeschlagenen hermeneutischen Modell folgendermaßen skizzieren: Der Einzelne erhält durch die Übertragung des eigenen Seins auf eine Alter Ego-Gestalt seine Außenurteile über den Umweg der Perspektiven, die auf diese Alter Ego-Gestalt gerichtet werden. Hierdurch kann er erstens ,sich selbst als Alter-Ego‘ gegenüber Außenstandpunkte einnehmen, wie jeder andere sie einnehmen kann und ist in der Geltung seiner Urteile über ,sich‘ (als Alter Ego) nicht mehr durch das intuitive Wissen um eine ,bloße‘ Projiziertheit seiner Außenperspektive geschmälert. Und zweitens vollzieht sich in der kollektiven Ausrichtung auf die Alter Ego-Gestalt eine Verschmelzung der eigenen Urteile mit denen der Binnen-Anderen, wodurch sich ein performatives Alter Ego bildet, das durch die Abschließung der Gruppe nach außen als repräsentative Urteilsinstanz gegenüber dem ,Ich‘ der Alter Ego-Gestalt auftreten kann. Folglich lässt sich sagen: Wer gültige Urteile über ,sich als Alter Ego‘ fällt, ist man selbst in Anlehnung an die Urteile der Binnen-Anderen. Nur mit den wesentlichen Unterschieden, dass erstens die Konstituierung eines Selbst ohne die Herausbildung individueller Entwürfe vonstatten gehen kann, da der Einzelne als Gegenüber für die ,Selbstreflexion‘ eine kollektiv definierte Alter Ego-Gestalt hat. Und zweitens, dass das Außenbild, das die Binnen-Anderen von der Alter Ego-Gestalt bilden, im Binnenraum einer funktionierenden kulturellen Gemeinschaft nicht in einer Konkurrenz zum eigenen Bild der Alter Ego-Gestalt steht: – ,Selbstbild‘ und ,Außenbild‘ der Alter Ego-Gestalt bilden im Binnen-System der Kultur eine Einheit, eine Übereinstimmung, die im unmittelbaren Selbstverhältnis, wie eingangs erwähnt, niemals herzustellen ist. Identitätserlebnisse des Einzelnen bilden sich indes maßgeblich in der Teilhabe am performativen Alter Ego, und das heißt: in Orientierung an kollektiven Entwürfen. Die danach ausgerichteten, ,erfolgreichen‘ Handlungen, die im Rahmen der Teilnahme an symbolisch aufgelaIndividuums bezieht, weil die Gestalt und Geltung des kollektiven Alter Ego im Gegensatz zu anderen Aspekten des eigenen Selbst auf breiter Basis intersubjektiv verbürgt ist.

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denen rituellen Akten vollzogen werden, garantieren dem Einzelnen soziale Anerkennung, wodurch er für seine personale Identität elementare Identitätsmomente gewinnt. Allerdings tragen diese allgemeine, ja anonyme Charakterzüge, weil sie auf assimilierten, nicht selbst hervorgebrachten Entwürfen beruhen und innerhalb der kulturellen Bezugsgruppe für gewöhnlich auch nicht als individuelle Leistung gewürdigt werden (Beispiele hierfür sind etwa die Teilnahme an einem Gebet oder Gottesdienst, einem Fußballspiel, einem rituellen Tanz). Die Anerkennung durch die Binnen-Anderen erfolgt für gewöhnlich – was mir für das kulturelle Leben charakteristisch erscheint – nicht ausdrücklich, sondern vielmehr implizit: die Teilnahme an kollektiven Handlungen ist obligatorisch, selbstverständlich – Anerkennung findet statt in der Vermittlung des Gefühls, akzeptiertes Element des ,Wir‘ zu sein, Missachtung hingegen in der Feststellung von Divergenz bzw. Devianz. Sowohl das ,Besessen-Werden‘ durch den Anderen als auch die Zuspielung von Außenurteilen im Medium der Anerkennung sind im performativen Alter Ego habitualisiert, automatisiert, bzw. in eine ,Natürlichkeit‘ überführt, die jede Andersheit in sich auflöst. Gleichwohl ist mit Blick auf die unmittelbaren Strukturen der Intersubjektivität die Alterität der Binnen-Anderen und der Alter Ego-Konstruktionen dadurch nicht ,aus der Welt‘, sondern lediglich verborgen und kann als der Intuition zugängliche Struktur jederzeit durch Differenzerfahrungen zum Vorschein kommen.

7. Die Begegnung mit dem kulturell Fremden Besitzen nun in der idealtypischen strukturalen Analyse solcherart verfasste kulturelle Gemeinschaften eine Hermetik durch soziale Ein-und Abgrenzung, so stellt sich die Frage, welche Auswirkungen für die Identitätsstiftung durch die Begegnung mit dem kulturell Fremden vor dem Hintergrund unseres hermeneutischen Modells zu erwarten sind. Ist das Vertraute die identitätsstiftende ,Heimat‘, muss dann nicht die Begegnung mit dem konkreten kulturell Fremden35 als Störung von als sicher 35 | In Anlehnung an Bernhard Waldenfels ließe sich hier vom Fremden im Sinne

eines Repräsentanten einer sich entziehenden Ordnung sprechen, was auf seine Erfahrungskategorie der „strukturellen Fremdheit“ verweisen würde (vgl. Bernhard Waldenfels, „Das Eigene und das Fremde“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, 1995, 615). Allerdings scheinen mir Waldenfels’ Kategorien der Fremdheitserfahrung (vgl. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden, Frankfurt 1997, 35ff.), nur bedingt auf das anwendbar zu sein, worum es mir geht, da die personale Alterität, die in jeder sozialen Beziehung als ontisches Moment besteht (also das, was Waldenfels als „soziale Fremdheit“ fasst (vgl. Bernhard Waldenfels, „Zwischen den Kulturen“, in: ders. Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 2006, 109-132, 115), für unseren

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geglaubten, aber durch die Konfrontation mit dem Fremden in ihrer universellen Geltung in Frage gestellten Mechanismen der Identitätsstiftung und Selbstaneignung verstanden werden? Muss es nicht zwangsläufig zu so etwas wie einem „Kampf der Kulturen“ kommen, in dem sich jeder Einzelne am ihm Fremden für die Infragestellung der mühsam aus symbolischen und metaphysischen Konstruktionen zusammenerfundenen Heimat rächt? Diese Folgerung ist so naheliegend wie populär. Vor allem aber ist sie mit Blick auf die personale Identitätsbildung falsch, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Im Zusammenhang mit den Differenzerfahrungen und Irritationen, die die Begegnung mit dem kulturell Fremden auslösen kann, lässt sich zunächst auf strukturaler Ebene festhalten, dass mit dem kulturell Fremden eine neue, schöpferische, und weil jenseits der zunächst geltenden Ordnung angesiedelt, tendenziell unkontrollierbare Urteilsinstanz in das soziale Gefüge des Vertrauten eintritt. Der kulturell Fremde bildet im scheinbaren Gegensatz zu den Binnen-Anderen ,reale‘ Außenperspektiven auf die Alter Ego-Gestalt und den Einzelnen in seiner Beziehung zum performativen Alter Ego, was sich als Quelle für erhebliche Irritationen entpuppen kann. Denn indem der kulturell Fremde durch seine Alterität eine neue Außenperspektive in die vertraute Welt bringt, rückt – zumindest, wenn der Fremde als valide Außenperspektive eingestuft wird – bereits das bloße Auftreten seiner Außenperspektive die ursprüngliche soziale Beziehungsstruktur ins Rampenlicht, wonach der Mensch sich als vom Anderen besessen erfährt und mit Blick auf die Selbstaneignung der Aufgabe ausgesetzt ist, die Außenurteile in kommunikativen Prozessen anzueignen. Bleibt im ersten Moment des Fremdkontakts zusätzlich die Alterität der Binnen-Anderen verborgen, so kann der Einzelne zunächst nicht umhin, dem kulturell Fremden den Status einer repräsentativ für alle validen Außeninstanzen stehenden Urteilsinstanz zuzugestehen, ist er doch in diesem Moment der Einzige, der überhaupt ein reale Außenperspektive auf die eigene kulturelle Bindung und das Verhalten zu den Alter Ego-Konstruktionen verkörpert. Zudem eröffnet die Konfrontation mit dem kulturell Fremden einen enthüllenden reflexiven Blick auf das eigene kulturelle Gefüge, da durch ihn das Selbstverständliche in Frage gestellt wird und so die Konstruiertheit und konsensuelle Natur der vormals als natürlich verstandenen kollektiven Weltdeutungen und Alter Ego-Bezüge ans Licht kommt. Mit dem Auftauchen des Fremden wird also genau der Blick auf die Alterität nicht nur des Fremden selbst, sondern auch der Binnen-Anderen und der Alter Ego-Konstruktionen freigelegt. Auf diese Weise führt der kulturell Ansatz ebenso wichtig ist wie die damit gepaarte Fremdheit als Verweis auf eine andere kulturelle Ordnung.

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Fremde das Individuum gleichsam in ein geheimnisvolles Kabinett der Andersheit, in dem er sich und den Anderen in Form von befremdlichen Spiegelungen begegnet, Spiegelungen, in denen sich die Elemente seiner imaginierten Einheit von Ego und Alter Ego klar voneinander abgrenzen und sich sein Selbst als singuläres, bestimmungs- und das heißt: reflexionsbedürftiges Objekt enthüllt.

8. Die Leere des Ver trauten Werfen wir von hier aus den Blick zurück auf die Ausgangsfrage, was aus identitätstheoretischer Perspektive als Motivation für die Aufnahme interkultureller Kommunikation gelten könnte. Bis jetzt scheint uns die strukturhermeneutische Analyse eher Gründe für eine Ablehnung des interkulturellen Dialogs zu Tage gefördert zu haben denn Gründe, diesen aufzusuchen. Dies ist kaum von der Hand zu weisen, blendet allerdings einige wesentliche Aspekte interkultureller Kommunikation aus. Denn die Gründe gegen eine Aufnahme interkultureller Kommunikation können sich nur unter der Bedingung als handlungsorientierend erweisen, dass die skizzierte Krise, in die die kulturelle Bindung des Einzelnen durch den Kontakt mit dem kulturell Fremden gerät, vermeidbar ist – eine Annahme, die ausgesprochen populär ist, wie der Erfolg von Huntingtons Buch beweist, scheint sie doch den Menschen die Ungestörtheit eines als sinnhaft erlebten Lebensvollzugs in der Geborgenheit seiner kulturellen Formation durch Vorschläge einer kulturellen Homogenisierung (Stichwort „Leitkultur“) sichern zu können. Doch so populär dieser Wunsch auch ist, so illusionär und plump ist er. Denn nicht genug damit, dass es in sich homogene Kulturen – einmal ganz abgesehen von der Frage nach deren Wünschbarkeit36 – vermutlich nie gegeben hat, 37 käme angesichts unserer vernetzten, zusammengeschrumpften Welt eine Abschließung gegenüber dem kulturell Fremden dem Versuch gleich, sich der Luft zu verweigern, von der man allerorten umgeben ist. 36 | Claude Lévi-Strauss hält kulturelle Homogenität regelrecht für eine Gefahr, da

sich die Fruchtbarkeit der Koexistenz kultureller Gemeinschaften gerade über ein Optimum an Verschiedenheit definiert, das sich in Synenergieeffekten manifestiert und bei einer mangelnden kulturellen Differenz zu einer Erlahmung des kulturellen Fortschritts („kumulative Geschichte“) führen würde: „Das einzige Verhängnis, der einzelne Makel, der eine Menschengruppe treffen und an der vollen Entfaltung ihrer Natur hindern kann, ist, isoliert zu sein“ (Claude Lévi-Strauss, „Rasse und Geschichte“, in: ders.: Strukturale Anthropologie II, 363-407, 400). 37 | Vgl. hierzu Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung“, in: Andreas Cesana (Hg.), Interkulturalität – Grundprobleme der Kulturbegegnung, Mainz 1999, 45-72, 54f., Andreas Wimmer, Philosophische Implikationen des ethnologischen Kulturbegriffs“, in: Dirk Rustemeyer (Hg.), Symbolische Welten. Philosophie und Kulturwissenschaft, Würzburg 2002, 215-238.

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Neben der Unvermeidbarkeit des Fremdkontakts scheint es mir allerdings vor dem Hintergrund der hier ausgeführten Überlegungen vor allem in Bezug auf die personale Identitätsbildung auch ,individualpragmatische‘38 Gründe dafür zu geben, sich der Kommunikation mit dem kulturell Fremden nicht zu verschließen. Diese Gründe scheinen mir in dem fundiert zu sein, was ich die ,Leere des Vertrauten‘ nennen möchte – einem Phänomen, das als Folge der Begegnung mit dem Fremden auftreten kann, insofern diese einen reflexiven Abstand zur eigenen kulturellen Bindung fordert, durch den sich beim Individuum ein Gefühl der Entfremdung vom Vertrauten einstellen kann.39 Bildlich gesprochen: der Einzelne kommt aus dem enthüllenden Spiegelkabinett der Fremdheit gestolpert, benommen von Eindrücken der Dissoziation und begleitet vom beklemmenden Gefühl einer Leere des Vertrauten, einer Entfremdung von der vormaligen Heimat und einem Schwinden der Geborgenheit, die das Vertraute bis dahin gewährt hatte. Struktural scheint mir diese Leere als eine Leere in Bezug auf die Ungeklärtheit des eigenen reflexiven Verhältnisses zur kulturellen Bindung fassbar zu sein, als eine Leere, die das Vertraute hinterlässt, nachdem der Blick des Fremden es dem Individuum gleichsam durch die Aufweisung seiner Künstlichkeit entfremdet hat. Um die mit diesem Phänomen verbundenen motivationalen Folgen aus strukturhermeneutischer Perspektive in den Blick zu bekommen, scheint mir zunächst eine Rückwendung auf einen Teilaspekt der in Anlehnung an Sartre entwickelten Überlegungen sinnvoll. Im Zusammenhang mit der Idee des „Besessen-Werdens durch die Anderen“ hieß es, man brauche, um valide Identitätsmomente bilden zu können, Außenurteile, die autonom geschöpft wurden – eine Formel, die verständlich wird, wenn man sich den auf Hegel rekurrierenden Gedanken vor Augen hält, dass das ,Eigentum am Urteil‘ in dessen Schöpfertum begründet liegt.40 Würde dem Anderen das eigene Urteil aufgenötigt oder auch nur zur bloßen Affirmation vorgehalten, fiele ein Schöpfungsakt auf dessen Seite weg – das Urteil wäre also quasi ,nie sein Eigentum gewesen‘, was es für die Selbstaneignung von zweifelhaftem Nutzen werden lässt, ist sie doch, wie eingangs herausgestellt wurde, strukturell auf autonome, wahrheitskonstituierende Urteile ausgerichtet.

38 | ,Individualpragmatisch‘ nenne ich solche Gründe, die als Antriebe zur perso-

nalen Identitätsbildung verstanden werden können.

39 | Eine ähnliche Situation kann auch innerhalb der kulturellen Gruppe entstehen,

etwa wenn divergierende Außenperspektiven auf das kollektive Alter Ego binnenkulturell miteinander konkurrieren. 40 | Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt a. M. 1986, §§ 49-70.

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Genau in Bezug auf diesem Punkt scheint mir – jedenfalls wenn man dem vorgestellten Modell folgen möchte – in der kulturellen Gemeinschaft eine Selbsttäuschung vorzuliegen, die durch den Kontakt mit dem kulturell Fremden auffliegt: Durch die Leugnung von Alterität in der performativ zu einer Einheit verschmelzenden Gruppe wird auch der schöpferische Charakter der binnenkulturellen Urteile ausgeblendet, die die Sinnhaftigkeit der Handlungen des Individuums innerhalb der kulturellen Rahmung bestimmen. Zwar greift nach wie vor die Struktur der performativen Identitätsbildung – das Leben wird ja durchaus als sinnhaft und erfüllt erlebt, aber, so meine These, die in den Akten des performativen Alter Ego gewonnenen Identitätserfahrungen bleiben durch die Ausblendung der Alterität der Binnen-Anderen und der Indirektheit der Selbstbeziehung in gewisser Weise ,äußerlich‘ und der Selbstreflexion gegenüber opak: Man hat entworfen, man hat gehandelt, man hat im Bewusstsein eines Sinnes und eines Identisch-Seins-mit-den-Anderen erlebt. Aber man hat keine explizite Anerkennung erfahren, ist in keine Kommunikationsprozesse mit ,bewusst‘ als Alteritäten sichtbaren Anderen getreten, so dass der Selbstaneignungsprozess auf der Ebene eines kollektiven Bewusstseins verbleibt und sich keine die Person definierenden Identitätsmomente bilden, die als Voraussetzung für Individuierungsprozesse gelten müssen. Mit anderen Worten: man war nicht ,bei sich‘ – man war beim Alter Ego.

Resümee Ohne sich vor dem Hintergrund dieser strukturalen Beschreibung zu zweifelhaften normativen Überlegungen hinreißen zu lassen oder – was vermessen wäre – gar den existentiellen Wert kultureller Bindung für den Einzelnen in Zweifel ziehen zu wollen, scheint mir, dass durch die Ausblendung der Andersheit der Anderen ein für die Identitätsbildung der Person entscheidender Schritt ausgelassen wird: Die Aneignung anderer, als autonom eingeschätzter Außenperspektiven bleibt da, wo ,alle ich sind‘ und ,ich alle‘ notwendig aus. Denn nur durch deren Hilfe lassen sich die eigenen Identitätserfahrungen zu objektiven und der Selbstreflexion zugänglichen Objekten umwandeln und die Sinnhaftigkeit des individuellen Handelns in einer ,objektiven‘ Wirklichkeit konservieren. Diese insbesondere mit Blick auf Differenzerfahrungen äußerst folgenreiche Lücke im Selbstaneignungsprozess sorgt m. E. im Kontakt mit dem kulturell Fremden einerseits für das Gefühl einer Leere des Vertrauten, zeigt aber gleichzeitig die unverzichtbare Rolle, die der kulturell Fremde für die kulturelle Identitätsstiftung einnimmt. Denn nach unserem Modell kann es erst durch kulturelle Differenzerfahrungen zu denjenigen

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reflexiven und kommunikativen Prozessen kommen, die eine intersubjektive Bestimmung der Objektivität von im Rahmen kultureller Gefüge getätigten sinnhaften Handlungen und deren Aneignung erlauben. Wie der signifikante Andere in der Sphäre interpersonaler Identitätsbildung vom Individuum als alle validen Außenperspektiven auf bestimmte Handungsbereiche verkörpernde Instanz angesehen werden kann, so muss auch das Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft, das die Alterität der Gruppenmitglieder ausblendet, aufgrund der strukturellen Angewiesenheit von Selbstaneignungsprozessen auf reale Außenperspektiven im kulturell Fremden wohl oder übel eine repräsentative Außeninstanz in Bezug auf seine kulturelle Bindung sehen. Dies scheint mir die Grundlage dafür zu bilden, dass die ,Leere des Vertrauten‘ nicht selten in Versuche einer Diskreditierung des Fremden mündet und in das Bestreben, in die unbefangene Natürlichkeit der kulturellen Konstrukte zurückzukehren. Doch lässt sich die Leere des Vertrauten nicht durch Forderungen nach kultureller Homogenität wie ein Kaninchen aus dem Gemüsebeet verscheuchen. Und selbst eine vermeintlich gelungene Diskreditierung der fremden Urteilsinstanz, etwa indem der Fremde mit eher unrühmlichen Tiernamen tituliert wird, hilft nicht über die unbequeme Intuition hinweg, dass es sich beim kulturell Fremden um einen Menschen mit Reflexionsvermögen handelt, der durch seine Außenperspektive Miteigentümer von Aspekten des eigenen kulturellen und personalen Seins ist. Im Gegenteil scheint eine Verweigerung der Kommunikation mit dem kulturell Fremden die Intensität der Verunsicherung eher zu steigern. Denn die Verweigerung eines Dialogs mit der ,einzigen‘ als solchen empfundenen äußeren Urteilsinstanz bei gleichzeitiger Leugnung der Alterität der Binnen-Anderen muss nach unserem Modell dazu führen, dass ein mit dem Individuum unauflöslich verbundener Aspekt des Vertrauten, die verobjektivierende Außenperspektive auf sich als performatives Alter Ego und sich als singuläre, kulturgeprägte Person, dem eigenen Zugriff entzogen bleibt. Dies wäre nicht weiter schlimm, ginge damit nicht die intuitive Gewissheit der Vorhandenheit und des Sich-Entziehens dieser Außenperspektiven einher, die so das ,Eigentum‘ des Fremden bleiben und als opake Leerstelle, als blinder Fleck in der Totalität des Vertrauten verbleibt. So überlässt der Einzelne im Falle einer Verweigerung des Dialogs die einzige von ihm als ,äußerlich‘ empfundene Außenperspektive dem kulturell Fremden und überlässt ihm damit, ohne es wollen zu können, die Rolle eines repräsentativen Anderen in Bezug auf Außenbilder auf die Alter Ego-Gestalt, das performative Alter Ego, das individuelle Verhalten gegenüber diesen Alter Ego-Konstruktionen sowie das eigene Verhalten gegenüber der konkreten Person des kulturell Fremden.

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Vor diesem Hintergrund lässt sich ein erster Motivationsgrund für die Aufnahme interkultureller Kommunikation und ein erstes Ziel des Dialogs bestimmen: Es ist das Motiv, die Außenperspektive des Fremden, ja die Gesamtheit seiner Urteilsinstanz zu vereinnahmen, das Fremde in ihm gleichsam zu domestizieren und die Urteilsinstanz, die unzugängliche Aspekte des eigenen kulturellen Selbst besaß, kurzerhand als Alterität in einem Wir aufzulösen. Widersteht man der Versuchung, den kulturell Fremden in seiner Urteilskompetenz zu diskreditieren, oder scheitern alle Versuche, dies zu tun, so bleibt also die Möglichkeit, die entstandene Verunsicherung der kulturellen Ordnung dadurch aufzuheben, dass auf den Fremden zugegangen wird und man ihm den Stachel der Alterität durch Assimilation nimmt. Neben der Möglichkeit, den Fremden ,einzugemeinden‘, indem der Kontakt mit ihm sozusagen im Sinne einer Vermeidungsstrategie aufgenommen wird, birgt die ,Leere des Vertrauten‘ m. E. aber auch Motivationspotential für eine den Fremden als Fremden affirmierende Einstellung. So kann der Kontakt mit dem Fremden aufgenommen werden, um gerade die oben angesprochene und intuitiv erschlossene Lücke im Selbstaneignungsprozess mit dessen Hilfe zu schließen. Indem die Begegnung mit dem als solchen belassenen kulturell Fremden dazu führt, dass neben der Alterität des Fremden auch die ,Andersheit‘ der BinnenAnderen in Erscheinung tritt, ermöglicht dies die Identifikation der Binnen-Anderen als repräsentative Andere für die eigenen, in der kulturellen Rahmung gewonnenen Identitätserlebnisse, indem retrospektiv auch die im kulturellen Zusammenhang gewährte Anerkennung durch die Binnen-Anderen sichtbar wird. Auf diese Weise eröffnet der Kontakt mit dem kulturell Fremden gerade durch dessen Alterität die Möglichkeit für eine ausdrückliche reflexive Aneignung von in kulturellen Rahmungen erworbenen Identitätsmomenten und damit die Grundlage der Möglichkeit für das Einsetzen von Individuierungsprozessen. Diese Option ist freilich nur dann gegeben, wenn der kulturell Fremde als kulturell Fremder gewissermaßen ,auf gleicher Augenhöhe‘ gesehen wird, bzw. als valide Urteilsinstanz anerkannt wird. Interessant ist hierbei ein paradoxal anmutender Mechanismus, nämlich, dass dem Fremden in Bezug auf vergangene Identitätserfahrungen der Status einer repräsentativen Urteilsinstanz gerade im Zuge des Reflexionsprozesses, der diese Zuschreibung erlaubt, sofort wieder genommen wird. Denn den Fremden als repräsentative Außenistanz für die eigene kulturelle Bindung einzustufen bedeutet, ihn im Medium der Reflexivität als eine solche zu bestimmen. Dieselbe reflexive Abstraktion lässt aber mit Blick auf die eigene kulturelle Formation die Binnen-Anderen als reale Alteritäten sichtbar werden, die als Vermittler und Anerkennungsinstanzen des kulturellen Handlungssinns erscheinen müssen und

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auf die sich der Status des repräsentativen Anderen deshalb mit ihrem Kenntlich-Werden schlagartig verlagert. Auf diese Weise vermittelt die Kommunikation mit dem kulturell Fremden zwischen dem Einzelnen und ,seinen‘ signifikanten Anderen und erlaubt ihm so, die erhaltene Anerkennung seines sinnhaften Handelns zu rekonstruieren und auf diese Weise bereits in der Vergangenheit entstandene ,kulturelle‘ Identitätsmomente anzueignen. Um eine frühere Wendung aufzugreifen: Der Weg zur Aneignung kulturell erworbener Identititätserfahrungen führt durch das Land interkultureller Differenzerfahrungen. Freilich erschöpft sich in dieser Vermittlungsfunktion nicht die Fruchtbarkeit interkultureller Kommunikation, sondern der Fremde fügt dem sozialen Anerkennungsgefüge eine wesentliche Urteilsinstanz hinzu, die eine Aufnahme interkultureller Kommunikation nicht nur wegen der rekonstruktiven Aneignung von in der Vergangenheit gelegenen Identitätsmomenten attraktiv macht, sondern ihn gewissermaßen auf interpersonaler Ebene als repräsentative Außeninstanz über Dimensionen der Kulturalität erscheinen lässt, die vor dessen Auftreten für den Einzelnen nicht gegeben waren: das individuelle Verhalten gegenüber dem Fremden als Repräsentanten einer fremden kulturellen Ordnung und sein Umgang mit der durch den kulturell Fremden vermittelten Reflexivität, durch die nun jede im kulturellen Gefüge getätigte Handlung als ,bewusste‘ Entscheidung und Modellierung seiner Person erscheint. Während also die erstgenannte Motivation zur Aufnahme interkultureller Kommunikation als Strategie gedeutet werden kann, einer mühevollen Auseinandersetzung mit den Deutungsmustern des Fremden aus dem Wege zu gehen und eine Inbesitznahme von Außenperspektiven dadurch zu vermeiden, dass man dem kulturell Fremden seine Alterität nimmt, lässt sich der zweite Motivationsgrund als Bestreben nach Selbstaneignung und damit untrennbar verbunden nach Individuierung, im Angesicht des Fremden deuten. Der idealtypische Charakter der hier zur Anwendung gebrachten Strukturhermeneutik personaler Identität vermag freilich nur eine Annäherung an eine Aufklärung der faktisch in interkultureller Kommunikation wirksamen motivationalen Kräfte leisten, denn diese sind oft zu vielschichtig, um sie auf Prozesse der Identitätsbildung zu reduzieren. Allerdings scheint mir das hier vorgestellte Modell zumindest eine bislang nicht eingenommene Perspektive auf die Relevanz kultureller Bindung für den Einzelnen leisten zu können und mag dazu verhelfen, die mögliche Fruchtbarkeit des Fremdkontakts für die personale Identitätsbildung aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und die Attraktivität der Begegnung mit dem kulturell Fremden in etwas Gehaltvollerem fundiert zu sehen als in der geheimnisvollen Anziehungskraft und Faszination des Exotischen.

„Fruchtbare Differenz“ Dimensionen der Fremder fahrung GEORG STENGER

Als aufgeklärter Europäer, der um alle mythischen und romantischen Verklärungen weiß, sich also davon nicht mehr beeindrucken lassen kann, beschreibt der Schriftsteller Cees Nooteboom einen Besuch des bekannten Steingartens des Ryōan-ji-Tempels in Kyôto folgendermaßen: Wer einmal die Tür einer Religion leise hinter sich zugezogen hat, ist meist nicht gleich bereit, seine weggeworfenen alten Werte gegen einen neuen Satz Mythen und Mysterien einzutauschen, und trotzdem geht von diesen paar Metern kahler Erde eine Verzauberung und geheimnisvolle Herausforderung aus, der man sich schwer entziehen kann. […] Je länger ich sitzen bleibe, desto unbeschreiblicher wird das Gefühl, das mich beim Betrachten erfasst - als ob ich hineingesogen, leicht darüber schweben würde, als ob ich, körperlich, selbst zu diesem Garten würde. Ich merke, dass ich nicht fort will, dass ich mich umdrehe, wieder zurückkehre, mich wieder hinsetze. Und jetzt, so lange danach, zurückgekehrt in ein anderes räumliches und zeitliches Jetzt, sitze ich in meinem Zimmer […] und spüre, wie über alle Verfälschung und Entfernung hinweg dieser Garten sanft an mir zerrt.1

Der hier beschriebene Erfahrungsgehalt scheint zwischen dem Vertrauten und dem Fremden zu oszillieren, und er macht darin zugleich aufmerksam auf eine Differenzerfahrung, die nicht einfach hin zu überspringen ist.

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C. Nooteboom, Im Frühling der Tau: Östliche Reisen, Frankfurt a. M. 1997, 84.

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Nun besteht aber das Anliegen philosophischer Selbstverständigung gewöhnlich darin, Differentes auf seine Einheit, mithin auf Universalkriterien und -geltungen zurückzuführen, also das Allgemeine in jedweder Besonderheit zu eruieren und das Formale in allen Inhalten zu extrahieren. Es mag sich um differente Kontexte von Kulturen, Religionen und anderes mehr handeln, die Philosophie sah ihre Aufgabe stets darin, eine Art Gattungsperspektive der Menschheit insgesamt zu entwerfen. Jedenfalls hätte dies, bei allen Nebenwegen und durchaus widerstreitenden Konzeptionen, seit der Ära der Achsenzeit (Jaspers) über Aufklärung und Moderne hinaus bis heute zu gelten. Und angesichts von Globalisierungswünschen, Modernisierungsdruck und welt-innenpolitischer Avancen erscheint denn auch nichts vernünftiger zu sein, wären da nicht kulturelle, soziale und religiöse Grabenkämpfe, in denen sich nicht weniger als gegenseitige Absolutheitsansprüche zu Wort melden. Hatte man sich philosophisch gesehen langehin damit begnügt, all diese Streitigkeiten (bspw. virulent in diversen Fundamentalismen etc.) als historisch bedingt, zeitkontingent, als ephemer und eben noch nicht letztlich aufgeklärt und zur Vernunft gebracht zu verstehen, so findet sich nun zunehmend die Philosophie selbst in dieser Rolle wieder, insofern sich ihr Universalanspruch als Universalisierung einer bestimmten Denkkultur und Denktradition erweisen könnte, was im Übrigen bis in die Grundbegriffe hinein sich auswirkt. Es scheint jedenfalls kein Zufall zu sein, dass mit jedem Universalanspruch, insofern einem solchen Wahrheit und Geltung konstitutiv eingeschrieben sind, die Unterscheidungen zwischen wahr und falsch, gut und böse, Freund und Feind und eben auch „Eigenes“ und „Fremdes“ einhergehen. So bewegen sich denn auch die entsprechenden Diskurse zumeist zwischen normativen Zuschreibungen auf der einen und empirischen Bestandsaufnahmen auf der anderen Seite, ohne dass deren apriorische Denkstruktur einerseits und aposteriorische Erfahrungsform andererseits in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit deutlich zu werden vermögen. Ich präferiere daher eine phänomenologische Zugangsweise, insofern darin der Zusammenhang von Begriff und Anschauung, von Denken und Erfahrung auf ihre konstitutiven Voraussetzungsbedingungen hin zum Thema gemacht werden, was gerade für eine Problemstellung wie „das Vertraute und das Fremde“ hilfreich sein könnte. Ja es erscheint nicht zufällig, dass gerade diese Thematik von Anfang an ein genuines Feld phänomenologischer resp. hermeneutischer Forschungen war. Ich werde mich also der Thematik so anzunähern versuchen, dass ich mich auf die Konstitutionsbedingungen der Fremderfahrung einlasse, die von einer Mehrdimensionalität gekennzeichnet ist, die es methodisch und inhaltlich auszuweisen gilt. Mein Augenmerk richtet sich hierbei neben den unterschiedlichen Erfahrungsfeldern vor allem auf den Erfahrungspro-

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zess, auf die Erfahrungsbewegung selbst, auf den genetischen und transformativen Grundcharakter, wie sie im Phänomen der Fremderfahrung zum Tragen kommen. Am Ende wird, so hoffe ich, deutlich geworden sein, was ich in diesem Zusammenhang unter „fruchtbarer Differenz“ verstehe, die ich im Übrigen schon zwischen Philosophie und Literatur ebenso wie im interdisziplinären Kontext am Werk sehe. Nach einem ersten Zugang hinsichtlich der Erfahrung von Vertrautem und Fremdem (1.) werde ich anhand eines kurzen Einschubs (2.) auf Bedingungen des „Fremdverstehens“, die vornehmlich von hermeneutisch instruierten Konzepten geprägt sind, hinweisen, um sodann (3.) das eigentliche Feld der „Fremderfahrung“, zu dem auch Züge des „Widerfahrnisses“ gehören, zu thematisieren. Nach einem weiteren, hier nicht näher ausführbaren Einschub bezüglich einer Differenzierung zwischen „horizontal-lateralem und „vertikal-dimensionalem Erfahrungssinn“ (4.), worin ethische und existentiale, mit einer Kritik des Subjektbegriffs einhergehenden Aspekte im Vordergrund stehen, werde ich (5.) schließlich Phänomenfelder ansprechen, in denen differierende Grunderfahrungen zu Wort kommen. In allen Punkten, besonders aber in diesem, wird der interkulturelle Zuschnitt meiner Überlegungen besonders deutlich werden, was (6.) und abschließend im Topos der „fruchtbaren Differenz“ zusammengeführt werden soll.

1. Erste Er fahrungsgehalte von Ver trautem und Fremdem Eine bloß gedachte Fremdheit bewegt sich immer schon in einem begrifflichen Verstehenshorizont, in dem das Ordnungsgefüge von Eigenem und Fremdem so angesetzt ist, dass das Fremde, sei es unter dem Aspekt eines vorgängigen Allgemeinen, sei es in dialektischer Bewegung, stets einzuholen, auf den Begriff zu bringen und dadurch auch schon „überwunden“ ist. Die Erfahrung des Fremden bleibt darin aber eigentümlich abgeblendet und seinem spezifischen Wirklichkeitskontakt und seiner Wirklichkeitsbegegnung entzogen. Fasst man nun das Phänomen der Erfahrung des Fremden näher ins Auge, so zeigt sich zunächst, dass man das Fremde, d. h. hier auch die fremde Kultur zwar mit dem Index „fremd“ aufnimmt, ihr aber doch den Gesamtsinn „Kultur“ zuweist. Es herrscht ein eigentümlicher Gesamtstil vor, den man zwar nicht im Einzelnen benennen könnte, der aber überall und irgendwie zu spüren ist. Auch die fremde Kulturwelt wird so als eine „Eigenwelt“, die eben ihre Vertrautheit und ihre Eigentümlichkeit hat, erlebt, obgleich sie, man müsste beinahe sagen, in allem entzogen, unverständlich und unzugänglich ist und bleibt. E. Husserl hat dies in seiner Phänomeno-

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logie der Fremdheit und der Fremderfahrung in prominenten Formulierungen wie den „Unbekanntheiten im Stil der Bekanntheiten“, 2 oder der „Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit“,3 oder der „bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“4 zum Ausdruck gebracht. Dies sind Versuche, die Differenz zwischen „Heimwelt“ und „Fremdwelt“, wie Husserls Termini hierfür lauten, zu benennen, die selbst wiederum die „Lebenswelt“ mitkonstituieren. Nun geht Husserl bekanntlich von der so genannten „Heimwelt“ und „Eigenkultur“ aus, um von dort aus zur Fremdwelt und Fremdkultur zu gelangen, – im Übrigen in Analogie zum Gang der Subjektivität zur Intersubjektivität. Wie sollte es auch anders sein? Man wächst in die Kultur so hinein, dass man sie geradezu inkarniert; wir haben nicht nur Sprache und können dann noch sprechen, sondern wir sind im Grunde durch und durch diese Sprache, in und mit der ein gesamtes Kulturleben mitspricht, mitfühlt und mitempfindet. Wir können uns sozusagen der kulturellen Herkunft, mag sich dies in Aussehen, Sprache, Grundüberzeugungen, Religionen usw. manifestieren, nicht entziehen, auch wenn wir dies wollten, denn wir sind nicht, die wir sind, ohne diese. Wir wären andere, aber dies wiederum nur im Rückbezug zu demjenigen, wovon wir andere sind. In all dem kommt die weithin bekannte Erfahrung konstitutiver Zugehörigkeit zum Ausdruck, die einen jeden bis in seine Individualstruktur hinein mit sich identifizieren lässt, auch und gerade wenn er das ein oder andere kritisch sieht und sich davon absetzt. Alles Fremde ist dann deshalb fremd, weil es nicht zu diesem Eigenen der Heimwelt gehört. Gleichwohl erhält natürlich auch das Fremde seinen „eigenen“ Bereich, eben jenen des Fremden und der fremden Kultur zugesprochen, was mit Husserl über eine vor allem leiblich verankerte Analogieerfahrung geschieht.5

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E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität: Texte aus dem Nachlass, dritter Teil: 1929-35, Husserliana (=Hua) XV, Den Haag 1973(b), 430. Husserl 1973b, 631. Ders., Cartesianische Meditationen, Hua I, Den Haag 1950, 144. S. h. Husserls bekannte Passagen der analogischen Erfahrung des Anderen bzw. des Fremden in den Cartesianischen Meditationen, V. Med., § 50ff., passim; vgl. hierzu K. Held, „Heimwelt, Fremdwelt, die eine Welt“, in: Phänomenologische Forschungen, Bd. 24/25, 1991, 305-337; ebenso D. Lohmar, „Die Fremdheit der fremden Kultur“, in: Phänomenologische Forschungen, Neue Folge, Bd 2/2, 1997, 189-205. Letzterer macht insbesondere im Anschluss an Husserl „individuelle und kollektive Habitualitäten“ aus, die beide Heim- wie Fremdwelt betreffen. Dabei ist aber stets von dem umfassenden „Welt-Charakter“ der Heimwelt auszugehen, die für alle Fremd-erfahrung immer schon einen „minimalen Bekanntheitsstil“ bereithält, um überhaupt Fremdheit in ihrem Sinngehalt erfahren zu können. Es muss also eine „Sinn-Vermutung auf die Fremdwelt“ übertragen werden, was Lohmar auch eine „Art analogischer Perzeption“ nennt. Vgl. hierzu, auch unter kritischem Aspekt, G. Stenger, Philosophie der Interkulturalität – Erfahrung und Welten: Eine phänomenologische Studie, Freiburg/ München 2006, 141-211, insbes. 157ff., 189ff.

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Das Fremde resp. Fremdheit gibt es also nur im Bezug zur eigenen Kultur und das heißt letztlich natürlich zum eigenen Ich. Fremdheit wäre so verstanden „Ausdruck für eine Relation“, die mich wiederum auf mich zurückwirft, ja mich erst als dieses Ich, zeitliches wie räumliches, gesellschaftliches, kulturelles etc. konstituiert. Zur Ich- oder Selbsterfahrung gehört also konstitutiv eine Fremderfahrung, die in einer „Erfahrung mit prinzipieller Indikation von Nichterfahrbarem“6 den Fremden gleichwohl, wenn auch als „original Unzugänglichen“7 erfahrbar sein lässt. In diesem Sinn kann Husserl sagen: „Der Andere/[resp. der Fremde – G.S.] ist der erste Mensch, nicht ich.“8 Zugleich aber können wir nicht hinter unser Ich resp. Ego zurücktreten, weshalb sich auch eine bestimmte, durch individuelle wie kollektive Habitualitäten erbrachte Absolutheitserfahrung breit macht. Waren Husserls Analysen in erster Linie der Konstitutionsproblematik der Intersubjektivität gewidmet – man könnte sagen im intrakulturellen Horizont –, so verschärft sich diese Konstellation angesichts interkultureller Anfragen dahingehend, was F. Wimmer das „Kolumbussyndrom“ genannt hat, worin es sich um „drei Arten von Stereotypen“ handelt, die sich in der Aufnahme nicht-europäischer Kulturen seitens abendländisch-europäischer Kulturen resp. Geschichte feststellen lassen: Das Eigene gilt dabei stets als das Normale und Wahre, das sich gegen das Fremde absetzt und behauptet: So steht in der „anthropologischen Differenz“ das „Zivilisierte und Kultivierte“ gegen das „Barbarische“, in der „ästhetischen Differenz“ das „Schöne“ gegen das „Exotische“ und in der „religiösen Differenz“ der „Glaube“ gegen das „Heidnische“.9 Worauf ich hinaus will ist, dass die Erfahrung des Eigenen eine Absolutheitstendenz mit sich führt, die mit dem „Vertrauten“ als dem „Eigenen“ in engem Kontakt steht. Gleichwohl, im Unterschied zur Selbstverabsolutierungstendenz, in der das Eigene und Heimische stets schon als gegeben vorausgesetzt und hingenommen wird, woraus alle möglichen Universalansprüche und Allmachtsphantasien – man vertritt ja nur „die“, sprich „die alleingültige Wahrheit“ – entspringen mögen, wird jetzt deutlich, dass erst das Auftauchen von Fremdem, die Begegnung mit und die Aufnahme von Fremdheit das Eigene als Eigenes und Vertrautes erfahren lässt. Anders gesagt: Der Unterschied zwischen Absolutsetzung und Vertrautheit besteht darin, dass Letzteres ein Konstitutionsgesche-

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E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität: Texte aus dem Nachlass, zweiter Teil: 1921-1928, Hua XIV, Den Haag 1973(a), 350f. Ders., 1950, 144. Ders., 1973a, 418. S. h. F. M. Wimmer, „Ansätze einer interkulturellen Philosophie“, in: R .A. Mall/D. Lohmar (Hg.), Philosophische Grundlagen der Interkulturalität, Amsterdam/Atlanta 1993, 29-40, hier: 35ff.

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hen anzeigt, das sich der Herausforderung durch das Fremde verdankt.10 Vertrautheit ist Arbeit am Fremden, ist Gewinn, nicht Ausgangspunkt seiner selbst. Gewiss, mit dem „Vertrauten“ und der „Vertrautheit“ betreten wir ein eigenes Phänomenfeld, auf das ich hier nicht näher eingehen kann. Gleichwohl arbeitet dieses Feld selbst schon dimensionale Differenzen aus, worauf schon Topoi wie etwa „Vertrautsein mit...“, „Vertrauen haben“, „Grund- und Urvertrauen“, usw. hinweisen.11 Festhalten ließe sich daher, dass das Vertraute nicht einfachhin gegeben ist, sondern das Fremde als beständige Aufgabe und Herausforderung für sich selbst konstitutiv braucht.

2. Fremdverstehen Die als „hermeneutisch“ zu bezeichnende Denktradition ist zu großen Teilen aus der Kritik an reinen verstandes- und bewusstseinsphilosophischen Konzeptionen hervorgegangen, insofern die dort verhandelten selbstbezüglichen, auf Ursprünge und Bedingungsmöglichkeiten von Denken überhaupt zurückgreifenden logisch-rationalen Operationen auf ihre kontextuellen und damit auch konstitutiven kulturellen Horizontvoraussetzungen hin, wie sie etwa in Sprache, Kunst, Geschichte usw. virulent werden, befragt werden. Bloße und reine Erkenntnis erfährt sich als eingebunden in Verstehensprozesse, die lebensmäßig und existentiell grundiert und zum Ausdruck gebracht erst noch auszulegen und zu interpretieren sind. Insoweit es hierin um Horizontbedingungen und Horizonterfassung resp. -erschließung geht, stehen neben den eigenen Horizonten stets auch die „Fremdhorizonte“, und zwar in ihrer eigenen, nicht eo ipso einzugliedernden und einzugemeindenden Bewandtnis zur Debatte. Mit dem an ,Sinnzusammenhängen‘ orientierten „Verstehen“ ist also mehr und auch anderes intendiert als mit „erkenntnistheoretischen“ Zugängen, die auf „Sachzusammenhänge“ gerichtet sind. Anders formuliert: Verstandesgrundierungen und Geltungsansprüche erfahren sich in Horizonteröffnungen und Auslegungsprozesse überführt, was eng mit dem Schritt zur Erfahrung des Denkens und damit des Verstehens zusammenhängt. Von Herder über Schleiermacher und Dilthey bis Heidegger und Gadamer, um nur die wichtigsten Stationen zu nennen, ließe sich diese Denktradition, gewiss mit unterschiedlichen Akzentuierungen, gut nachzeichnen.12 Mit Rückbezug u. a. auf die hermeneutischen Verstehen10 | Man denke etwa schon an die konstitutive Kraft der Märchen für das Selbster-

leben des Kindes bei B. Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, München 1993.

11 | Vgl. hierzu Stenger 2006, 359ff. 12 | Vgl. hierzu G. Stenger, „,Fruchtbare Differenz‘ als Leitfaden interkultureller Er-

fahrung - im Ausgang von Heidegger und Gadamer“, in: H. Vetter/M. Flatscher

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skonzeptionen hat R. A. Mall ein nachhaltiges, interkulturelles Verstehenskonzept ausgearbeitet, worin auch dem Fremdverstehen eine eigene Bedeutung zuwächst: „Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen gehören untrennbar zusammen und stellen zwei Seiten der interkulturell orientierten hermeneutischen Münze dar.“13 Malls „analogische Hermeneutik“, der eine Doppelsignatur „reflexiv-meditativer Einstellung“ innewohnt, arbeitet an den entscheidenden Nahtstellen zwischen Erkenntnis, Verstehen und Erfahrung, wie sie sich für ein interkulturelles Denken zunehmend als konstitutiv erweisen.14

3. Fremder fahrung War es schon Husserls phänomenologische Grundeinsicht, dass wir, um dem Wahrnehmungsglauben der Geradeauseinstellung, also der sog. Realität und Empirie in ihrem bloßen Gegebensein, d. h. auch einem gewissen „Dogmatismus der Wahrnehmung“ nicht aufzusitzen, vor diesen zurücktreten müssen, d. h. „Epoché üben“ müssen, um die spezifische Korrelation von Subjekt- und entsprechender Objektseite zu erhalten, also die jeweilige Weise der Gegebenheit, so hat B. Waldenfels diese Einsicht als „einen Prozess“ präzisiert, „in dem Sachgehalt und Zugangsart unauflöslich miteinander verschränkt sind“.15 D. h. die transzendentalphilosophische Einsicht Kants, wonach Methode gleich Sache bedeutet, wird ernst genommen, zugleich aber auf ihre je spezifische Methodenund Sachproblematik hin erweitert und vertieft. „,Anders wahrnehmen ist Anderes wahrnehmen, heißt es lapidar bei Levinas.“16 Bezüglich einer Thematisierung des Fremden wird man daher nicht an einer Phänomenologie der Fremderfahrung vorbeikommen. Denn ,Erfahrungen machen‘ heißt etwas durchmachen und nicht etwas herstellen. […] Erfahrung bedeutet dem (Denken von Empirismus und Rationalismus) gegenüber einen Prozeß, in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge Struktur und Gestalt anneh-

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14 |

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(Hg.), Hermeneutische Phänomenologie – phänomenologische Hermeneutik, Frankfurt a. M/Berlin/New York et al. 2005, 190-209. R. A. Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen: Interkulturelle Philosophie – Eine Neue Orientierung, Darmstadt 1995, 2; vgl. ders., Essays zu einer interkulturellen Philosophie, Nordhausen 2003, 123-139; ders., Hans-Georg Gadamers Hermeneutik interkulturell gelesen, Nordhausen 2005; s. h. auch H. Kimmerle, Das Eigene – anders gesehen: Ergebnisse interkultureller Erfahrungen, Nordhausen 2007. Vgl. hierzu G. Stenger, Signaturen ,reflexiv-meditativer Einstellung‘: Zu Ram A. Malls interkultureller Hermeneutik, in: H. R. Yousefi u. a. (Hg.), Orthafte Ortlosigkeit der Philosophie: Eine interkulturelle Orientierung, Nordhausen 2007, 123-137. B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie, München 1992, 19. Ebd.

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men. Die Phänomenologie hat es, wie es bei Merleau-Ponty heißt, mit einem Sinn in statu nascendi zu tun und nicht mit den Gegebenheiten einer fertigen Welt.17

Ich würde daher das Phänomen der Fremderfahrung hinsichtlich ihrer generativen und genealogischen Grundmotive angehen, die u. a. zeigen, inwiefern und auf welche Weise Fremderfahrung zur Fremderfahrung wird. Waldenfels hat vor dem Hintergrund der „Heimwelt-Fremdwelt“Untersuchungen Husserls wie auch jener Merleau-Pontys zur „Interkorporeité“ etc. grundlegende Analysen vorgelegt, von denen ich einige markante Aspekte ansprechen möchte.18 Schon das Wort „Interkulturalität“ benennt eine Zwischen-sphäre, in der der intermediale Charakter von Eigenem und Fremdem und zugleich die Scheidung in Eigen- und Fremdkultur zum Vorschein kommen. Wie immer man die Universalisierungs- und Globalisierungsbestrebungen verstehen mag, sie „setzen eine Fremderfahrung voraus, die sie niemals einholen“19 können. Eigenes und Fremdes sind keine festen Größen, sondern entspringen einem Prozess der Ein- und Ausgrenzung, der sich auf unterschiedlichen Ebenen bekundet. Zum einen macht er mit dem „paradoxen Charakter“ der Fremderfahrung bekannt, „einer Zugänglichkeit des Unzugänglichen, einer Zugehörigkeit in der Nichtzugehörigkeit, einer Unverständlichkeit in der Verständlichkeit“, was genuine Züge der Fremderfahrung benennt, in der sich jeder „Bezug [zugleich] als Entzug dar[stellt]“.20 Zum anderen zeigt das Phänomen der „Verflechtung von Eigenem und Fremdem“21 einen Prozess, der über verschiedene Fremdheitsstile und Fremdheitsgrade generiert und der nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden kann. Um nun dieser genuinen Fremderfahrung näher zu kommen, unterscheidet Waldenfels drei „Grade der Fremdheit“:22 Die „alltägliche und normale Fremdheit“ („Fremdheit I“) wäre etwa darin zu sehen, dass uns etwas fremd anmutet oder einfach nur anders ist als wir, sei dies der Nachbar von nebenan oder die andere Stadt, die wir besuchen. Entscheidend ist, dass uns diese Fremdheit innerhalb eines „Vertrautheitshorizontes“ begegnet, der dafür verantwortlich zeichnet, dass wir durch diese Fremdheiten nicht aus unserer 17 | B. Waldenfels, Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Frem-

den 1, Frankfurt a. M. 1997, 19.

18 | Vgl. B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt 19 20 21 22

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a. M. 2006; ders., Studien zur Phänomenologie des Fremden 1-4, Frankfurt a. M. 1997-1999. Waldenfels 2006, 111. Ebd., 115f. Ebd., 117f. S. h. B. Waldenfels 1997, 35ff; vgl. auch ders., „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“, in: ders. 1997, 66-84, hier 59f.; ders., „Das Eigene und das Fremde“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, 1995, 611-620.

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gewohnten Lebenswelt und Ordnungsform katapultiert werden. Davon unterschieden wird eine „Fremdheit II“, die „strukturelle Fremdheit, die all das betrifft, was außerhalb einer bestimmten Ordnung anzutreffen ist, so etwa die fremde Sprache, die wir nicht verstehen, das fremde Ritual oder selbst nur der Ausdruck eines Lächelns, dessen Sinn und Funktion uns verschlossen bleibt, oder ein vergangener Zeitgeist, der uns nichts mehr sagt“.23 Hier wird vor allem der Entzugscharakter betont, der in aller Fremderfahrung wohnt. Schließlich steigert sich die Fremdheitserfahrung zur „radikalen Fremdheit“, die allerdings die wichtigste Stufe darstellt. Denn ihr Hauptaugenmerk liegt in dem „Überschreiten“ einer Ordnung, in dem, was „außerhalb“ jedweder Ordnung ist, und daher auch das „Außer-ordentliche“ genannt wird. Gleichwohl bleibt es rückbezogen auf bestimmte Ordnungen, worin sie sich eben unterscheidet von einer „absoluten und totalen Fremdheit“, die ihre Bezüglichkeit und daher überhaupt ihre Erfahrungsmöglichkeit preisgeben muß. So lässt sich „das radikal Fremde […] nur fassen als Überschuß, der einen bestehenden Sinnhorizont überschreitet. […] Eine fremde Sprache, die ganz anders wäre als die eigene Sprache, würde aufhören, eine fremde zu sein; sie würde als bloßes Geräusch den Bereich möglicher Verständigung hinter sich lassen.“24 Diese, Waldenfels nennt sie „Steigerungsgrade des Fremdseins“, führen sozusagen in das Erfahren der Fremdheit selbst hinein, sie zeigen die unterschiedliche Dimensionierung der Fremdheit. Vor allem aber wird deutlich, dass „Fremdheit“ nicht einfach ein Topos ist, sondern ein Erfahren, welches in steigendem Maße zeigt, wie Fremdheit sich konstituiert. Wir stehen nicht noch einmal neben dieser Erfahrung, um sie beurteilen zu können, sondern wir werden nur insoweit Erfahrene des Fremden, inwieweit wir diese Fremderfahrungen realiter erbringen und von dieser angegangen werden. Dies fordert von uns eine, wie Merleau-Ponty sagt, „Denkweise, [die – G.S.] eine Wandlung unserer selbst abverlangt […] es geht darum, zu lernen, wie man das, was unser ist, als fremd, und das, was uns fremd war, als unsriges betrachtet“.25 Entscheidend also und für die innere Differenzierung bzw. Klärung der Fremdheit unabdingbar ist das Erfahren selbst, das nur aus und in der Konfrontation und Herausforderung von Eigenem und Fremdem erfassbar wird. Genauer müsste man sagen: das einen als diese Herausforderung erfasst und trifft. So kommt es, dass beide nicht gegeneinander aufzurechnen und in symmetrischen oder auch analogen Kategorien zu fassen sind. Gleichwohl bleiben sie sich nicht gänzlich entzogen, weshalb 23 | Waldenfels 1995, 615. 24 | Ebd., 616. 25 | Zit. nach R. Dammann, Die dialogische Praxis der Feldforschung: Der ethno-

graphische Blick als Paradigma der Erkenntnisgewinnung, Frankfurt a. M./New York 1991, 15.

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sie sich in einer „Asymmetrie“ begegnen. Dieser vor allem von Levinas übernommene Begriff, der auf die Unmöglichkeit aufmerksam machen möchte, den Anderen und Fremden weder „von außen“, noch ihn so sehen zu können, wie er sich oder gar mich sieht, zeigt das eigentümliche Zwischen, ein Weder-Noch von Symmetrie und Nichtsymmetrie, von Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit. So wie ich den Anderen sehe, entspricht keineswegs der Sichtweise, wie der Andere mich sieht. Über dieses gegenseitige Nichtsehenkönnen gibt es keine übergeordnete Sichtweise mehr. Da bleibt nicht nur ein Rest, da bleibt ein radikales Entzogensein. Gleichwohl gibt es eine „Präferenz des Eigenen“,26 ohne die gar keine Unterscheidung möglich wäre. Es herrscht also eine unüberbrückbare Asymmetrie vor, die uns auch als Einzelnen schon betrifft, und die zuletzt gar in ein „Fremdwerden der Erfahrung selbst“ mündet. Nach Waldenfels zeigen sich diese Phänomenkonstellationen überall, im inter- und intrapersonalen wie im interund intrakulturellen Zusammenhang. Es gibt eine interne und externe Fremdheit: „Ich bin mir fremd, indem ich von Fremdem heimgesucht werde, auf Fremdes eingehe und darauf antworte. Wer über Fremdes staunt und vor ihm erschrickt, ist seiner selbst nicht mächtig.“27 Entscheidend ist hier das jeder Entität oder Substanzialität vorgeordnete Konstitutionsgeschehen zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ zu sehen, wodurch der „Zugang“ zum Fremden möglich wird, was individualistischen und personalen wie holistischen und universalen Konzepten im entscheidenden Punkt verwehrt bleibt. Des Weiteren zeigt die Fremderfahrung, dass bestimmte Ordnungsmuster durchbrochen werden, dass ihr ein Überschuss innewohnt, der die jeweiligen Sinnvorgaben und Gesetzlichkeiten übersteigt und von ihnen abweicht. 28 Ordnung und Außerordentliches bilden daher eine nicht-reduzierbare oder aufeinander zurückführbare Konstellation. So wohnt jedem Politischen ein Apolitisches bei, so wie schon Sokrates mit seiner philosophischen Existenz den Athenern eine „eigentümliche Atopie“ ihres Topos,29 ihrer Ordnung zumutete und dadurch das ‚Eigene‘ der Griechen verfremdete. Das Ergebnis kennen wir: Die Geburtsszene des philosophischen Fragens, der Philosophie. Die Fremderfahrung erweist sich als Konstituens eines jeden Werdeprozesses, gehört zu diesem doch immer auch ein Durchbrechen, ein „Aussetzen selbstverständlicher Annahmen, ein Abweichen vom Vertrauten, ein Zurücktreten vor dem Fremdem“.30

26 27 28 29 30

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Waldenfels 1997, 74. Ders., 2006, 120. Vgl. ebd., 125. Ebd., 131. Ebd.

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Ein weiterer wichtiger Grundzug der Fremderfahrung besteht darin, dass das Fremde nicht in unserer Verfügungsmacht steht, sondern „uns“ widerfährt, was eine „pathische Dimension“ aufreißt, die uns spüren lässt, dass – noch bevor wir etwas fragen oder sagen können – vom Fremden her ein Anspruch ausgeht, auf den wir antworten. „Antworten auf das Fremde besagt mehr als ein sinnhaftes Verstehen, mehr als eine normengeleitete Verständigung.“31 Waldenfels reserviert hierfür den Grundbegriff der „Responsivität“, die für eine ‚Antwortlichkeit‘ [steht], die der Verantwortlichkeit für das, was wir tun und sagen, unwiderruflich vorauseilt. […] Der Überschritt über die Sphäre eines intentional oder regelhaft konstituierten Sinnes vollzieht sich im Antworten auf einen fremden Anspruch, der weder einen Sinn hat noch einer Regel folgt, der im Gegenteil geläufige Sinn- und Regelbildungen unterbricht und neue in Gang setzt. Das, was ich antworte, verdankt seinen Sinn der Herausforderung dessen, ,worauf ich antworte‘.32

Zwischen beiden liegt ein unumkehrbares Gefälle, eine „responsive Differenz“, die allen Bestrebungen widersteht, die „Asymmetrie von Anspruch und Antwort“33 aufzulösen. Diese gewiss etwas holzschnittartige Abbreviatur einiger Gründzüge der Waldenfels’schen Analysen zur Fremderfahrung sollte vor allem zwei Aspekte herausstellen: Zum einen die konstitutive Vorgeordnetheit des Erfahrungsmotivs, die gewissermaßen diesseits von bloß empirischer und transzendentaler Zuschreibungen anzusiedeln ist, was überhaupt erst das Fremde in seiner Fremdheit aufbrechen lässt und als Fremdes „zugänglich“ macht. Und auch wenn ich kritische Einwände gegenüber einer Fremderfahrung als dem alleinigen Paradigma interkultureller Erfahrung vorbringen würde, wird gleichwohl die grundsätzliche Relevanz der in der Fremderfahrung durchgehend anwesenden „Verantwortung“ für die interkulturelle Problemstellung ersichtlich. Der Fremderfahrung wohnt ein eigentümlicher Ereignischarakter inne, eine Art Antwortgeschehen, das man auch als „responsive Praxis“ bezeichnen könnte. Nicht von ungefähr tritt daher nach Waldenfels die Responsivität an die Stelle der Intentionalität.

31 | Ebd., 131f. 32 | Ebd., 57f. 33 | Ebd., 59.

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4. Horizontal-lateraler und ver tikal- dimensionaler Er fahrungssinn An dieser Stelle wäre auf die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität der Fremderfahrung näher einzugehen, was ich hier aber nur hinsichtlich zweier Aspekte andeuten kann.34 Zum einen wäre dies in Rückbezug auf Heideggers „ontologische Differenz“ der alles Erkennen und Verstehen grundierende existentiale Aspekt, zum anderen die mit Levinas anhebende Denk- und Sinnspur der „Andersheit des Anderen“, womit ein allen erkenntnistheoretischen und ontologischen Grundfiguren vorausgehender ethischer Aspekt zum Tragen kommt. Beiden Konzeptionen ist, bei aller Divergenz, gemeinsam, dass sie den als allgemein gültig und für gewöhnlich als fundamentum inconcussum vorausgesetzten „Subjektbegriff“ in seiner Abkünftigkeit und Abgeleitetheit aufzeigen, was zugleich erlaubt, auf Grenzen westlich-abendländischer Denkformationen aufmerksam zu machen. Von beiden Gesichtspunkten lassen sich Denklinien ausziehen, die zu einer differenzierteren Betrachtung jener Felder und Zusammenhänge führt, die ich unter „horizontal-lateralem und vertikal-dimensionalem Erfahrungssinn“ zu fassen suche.

5. Phänomenfelder dif ferenter Grunder fahrungen Es mag sein, dass wir, wenn wir das Fremde verstehen wollen, dieses damit auch schon quittieren, d. h. vereinnahmen und eingemeinden. Andererseits zeigen die Arbeits- und Antwortprozesse zwischen Eigenem und Fremdem, dass es um gegenseitig konstitutive Transformationsprozesse geht, die gerade unter interkulturellen Vorzeichen sensibel machen für kulturell je spezifische Konstellationen, welche wiederum in einen gegenseitig fruchtbaren Dialog münden können. Darin ginge es dann auch um die Erfahrung einer jeweils vertieften Selbst(auf)klärung, welche die Fremderfahrungen als konstitutive Herausforderungen, Chancen und Öffnungen hinsichtlich des sogenannten „Eigenen“ und „Vertrauten“ begreifen lernen, ohne indes die bis in die Grunderfahrungen und Grundbegriffe hineinreichenden Differenzen preiszugeben.

34 | S. h. G. Stenger 2006, 212-264; 303-459; 521-631; 866-881.

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5.1 Wahrnehmung/Aisthetik Es entspricht einer Grundintuition westlich-europäischen Denkens, dass alles Sichtbare deshalb „wahrgenommen“ werden kann, weil es als „etwas von etwas“, als Erscheinendes, als Gegenständlichkeit und in gewisser Weise „Objektives“ aufgefasst wird. Genau dadurch aber schreibt sich der Hiatus von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Anwesenheit und Abwesenheit fest. Dies hat wahrnehmungstheoretisch u. a. die Konsequenz, dass alles Wahrgenommene stets nur unter den Prämissen von Perspektive, Abschattung, Horizont etc. zur Wahrnehmung gelangen kann, eine Blickwendung, die dezidiert von der Renaissance bis zu Husserl und Cezanne reicht, wiewohl gerade letzterer dies schon aufzubrechen sucht.35 Wahrnehmung, und sie fungiert hier letztlich als der Grundparameter des Bewusstseins selbst, ist zentralperspektivisch ausgerichtet. 36 Entgegen einer solchen „Sicht der Dinge“ schlägt Koichi Tsujimura in Anlehnung an die bekannte asiatisch-chinesische Landschaftsmalerei von Yü-chien und Mu-chi (12./13.Jh.) eine anders gelagerte Wahrnehmungsweise vor. Er nennt sie „Circumspektive“,37 was soviel heißen soll, dass man nicht im „Frontal-“ „Drauf-“ oder „Übersichtsblick“ wahrnimmt, sondern im Mitgehen und Mitsehen erst zu sehen vermag. Man ist ganz anders mithineingenommen, überhaupt kommt man erst durch das Hineingenommensein und Mitgehen in die Lage, das zu sehen, worum es geht. „Sichtbares“ und „Unsichtbares“, „Auftauchendes“ und „Untertauchendes“, „Bestimmtes-Unbestimmtes“, „Zum Vorschein Kommendes“ und „Sich Verbergendes“ sind ständig in Bewegung, arbeiten sich 35 | Vgl. hierzu G. Stenger, „Generativität des Sichtbaren: Zum Phänomen der Ver-

flechtung von Phänomenologie und Kunst – Mit einem Blick nach Asien“, in: R. Bernet/A. Kapust (Hg.), Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, München 2009, 169-190. 36 | „Phänomene“, die im Anschluss an Husserl stets nur an die Bewusstseinsleistung der „Intentionalität“ gebunden sind, bleiben zentralperspektivisch angelegt, gerade auch dann, wenn sie erst durch ein weiteres „Herumgehen“ um den Gegenstand [sic!], wodurch weitere Verweisungshorizonte aufgeblendet werden, konstituiert werden. Dennoch wäre eine unmittelbare Identifizierung dieses Paradigmas mit Husserls weit vielfältigeren Wahrnehmungsanalysen, wie sie etwa im Zusammenhang sinnlich-leiblicher Sinngenesis und in seinen Analysen zur „passiven Synthesis“ dargelegt werden und darin sowohl in personaler und ethischer wie in kultureller und geschichtlicher Hinsicht konstitutiv sind, wesentlich zu einfach. – Im Ausgang und ausdrücklichem Rückbezug zur phänomenologischen Wahrnehmungstradition, zugleich aber auch in einer dezidierten Umkehrung des Wahrnehmungsparadigmas, wonach das Wahrnehmungsich aller erst aus der Wahrnehmung selbst hervorgeht, s. h. L. Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung – Eine Autopsie, Frankfurt a. M. 2009. 37 | Koichi Tsujimura, „Über Yü-chiens Landschaftsbild ‚In die ferne Bucht kommen Segelboote zurück‘“, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 36, 1984, 135-152; s. h. auch den Teilabdruck in: R. Ohashi (Hg.), Die Philosophie der Kyôto-Schule: Texte und Einführung, Freiburg/München 1990, 455-469.

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auseinander hervor, so wie auch der „Betrachter“ dieses Hervorgehen mitzuleisten hat. Auch der „Betrachtende“ erfasst sich als „Gesehener“, als Sehender und Gesehener eines Geschehens, welches – die Beispiele führen dies deutlich vor Augen – das tragende Grundprinzip von allem ist (S. h. etwa das Sujet der sog. „Rollbilder“38). Hier meldet sich ein Desiderat, welches das westliche Denken und Wahrnehmen natürlich auch kennt, das aber aufgrund forcierter analytischer und erkenntnistheoretischer Optionen in den Hintergrund getreten zu sein scheint. Gemeint ist die „Grunderfahrung des Geistes“, die in Topoi wie „Herzgeist“, „Wind-geist“, „gestaltlose Gestalt“, „Form ohne Form“ u.a. mehr zu fassen gesucht wird und die jenseits von Sichtbarem und Unsichtbarem liegt. „Geist“ ist beides und ist beides nicht! Ch’i (chin.) resp. Ki (jap.)39 als energetisches Grundmoment, als Atem, als Fluidum, als Fließen usw., ebenso die Verknüpfung von ‚wabi‘ (dessen einstige, durchaus pejorative Bedeutungen von einsam, verloren, elend, ärmlich in der Schlichtheit, Einfachheit, Herbheit etc. ganz eigene positive Grundqualitäten annahmen) und ‚sabi‘ (ursprünglich etwa: allein sein, alt sein, Patina zeigen, über Reife verfügen), die sich als eigenständiger, kaum greifbarer Topos japanischer Ästhetik und Kunstauffassung versteht, worin gerade das Unscheinbare und Schlichte, das Schräge und Gebrochene, das scheinbar Verletzte und gar Misslungene eine eigene unvergleichliche „Schönheit“ offenkundig machen, – all dies erweist sich als konstitutiv für das kulturell-gesellschaftliche Selbstverständnis. Ob der bemooste Fels, das grasbewachsene Strohdach, die knorrige Kiefer, die wie zufällig und halbfertig hingeworfen scheinenden Tuschestriche der ostasiatischen Landschaftsmalerei, in ihnen kommen „Selbstbilder“ zum Vorschein, die, in allen nur erdenklichen Künsten zum Ausdruck gebracht, nichts anderes „zeigen“ und „beschreiben“ als jenen „Herzgeist“ (xin) und jenes „Geistgeschehen“, wie sie für die ostasiatischen Kulturwelten konstitutiv sind. Damit zusammen hängen weitere Grundtopoi wie etwa „yûgen“ (zusammengesetzt aus „yû“ = Tiefe, Geheimnis und „gen“ = Dunkel, verborgen, verborgene Lehre), was je nach Kontext „geheimnisvolle Tiefe“, „Tiefe der Dinge“, „Feinheit der Dinge“, „Subtilität“, „Zauber“ u. a. bedeuten kann, oder „fûga“ (jap.)/„feng“ (chin.), übersetzt mit „Wind-anmut“, was weiter gefasst mit „Atmosphäre“ umschrieben werden kann, die anhand unterschiedlichster binomischer Zusammensetzungen mit „Wind-“ zur Dar-

38 | Im Unterschied zum europäischen „Tafelbild“, „bei dem die Diagonalen in ein

und demselben Fluchtpunkt zusammenlaufen“, zeigt das ostasiatisch-chinesische „Rollbild“, wie „die Landschaft in einem Prozeß des kontinuierlichen Übergangs abrollt“ (F. Jullien, Das große Bild hat keine Form, oder Vom NichtObjekt durch Malerei, München 2005, 188). 39 | Vgl. I. Yamaguchi, „Ki“ als leibhaftige Vernunft: Beiträge zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit, München 1997.

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stellung gelangt.40 Was diesen „Phänomenfeldern“ gemeinsam scheint, ist ihr eigentümlicher Entzugscharakter, ihre offenkundige „Nicht-Zuschreibbarkeit“ was positiv formuliert wohl an ihrer „Globalqualität“41 liegt, die zwar alles zur Erscheinung bringt, selbst aber nicht erscheint. Noch in Topoi wie „Bild-Hauch“ oder „Phänomen-Hauch“ (qi-xiang)42 tauchen diese atmosphärischen und doch auch sinnlichen Globalqualitäten auf, wie auch in „fûdo“, jenem japanischen Grundwort, mit dem T. Watsuji den konstitutiven Zusammenhang von Klima und Kultur aufzuzeigen suchte.43 All diese hier angesprochenen Grundbegriffe erweisen sich grundlegend für die chinesisch-japanische Ästhetik resp. Aisthetik resp. dem Verständnis von „Schönheit“, die in einer jeweils bestimmten Hinsicht dieses so zu bezeichnende „Geistgeschehen“ benennen. Es steht zu vermuten, dass erst durch dieses Geistgeschehen Sinn und Bedeutsamkeit der einzelnen Begriffe fassbar und erfahrbar werden. In Bezug zum „Zen“-(Weg) sagt Suzuki: „Das Zen-Verstehen heißt verstehen, was für ein Geist das ist.“44 Insbesondere die Kunsterfahrung, die gerade in Japan dezidiert auch „Kunstweg“ genannt wird, macht dieses Phänomen deutlich. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zwischen“, einer Art „Membranstruktur“ und ähnlichem, und meint die Selbststrukturierung und den Selbsthervorgang von Sichtbarem und Unsichtbarem, jenseits von „Ding“ und „Dinglosigkeit“.45 40 | Vgl. hierzu F. Jullien 2005, 62f. Es wären hier weiter zu nennen die „Wind-Lehre“

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(feng-jiao), die etwa die sittliche Atmosphäre einer Landschaft zum Ausdruck bringt, die „Wind-Szene“ (feng-jjing), die „Wind-Haltung“, „-Einstellung“, das „-Verhalten“, „-Geist“, „-Gefühl“, „-Klang, usw., denen allesamt eigene und durchaus auch quer und ineinander laufende Bedeutungsebenen innewohnen. Für den japanischen Kontext vgl. hierzu R. Ohashi, „Der ,Wind‘ als Kulturbegriff in Japan“, in: ders., Japan im interkulturellen Dialog, München 1999, 23-39. Vgl. hierzu H. Rombach, Der kommende Gott: Hermetik – eine neue Weltsicht, Freiburg i. Br. 1991, 110-141, 116f. Vgl. Jullien 2005, 63. T. Watsuji, Fûdo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur, Darmstadt 1992. D. T. Suzuki, Zen und die Kultur Japans, Bern/München/Wien 1994, 41. Vgl. etwa H. Belting/L. Haustein (Hg.), Das Erbe der Bilder: Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München 1998; hierin insbes. R. Ohashi, „Zum japanischen Kunstweg – die ästhetische Auffassung der Welt“ (149-162), sowie N. Hashimoto, „Schlüsselworte in der Lehre vom Kunstweg“ (163-169); R. Ohashi, Kire: Das „Schöne“ in Japan – Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, Köln 1994; s. h. auch H. Rombach, Leben des Geistes: Ein Buch der Bilder zur Fundamentalgeschichte der Menschheit, Freiburg/Basel/ Wien: insbes. Kap. „Der Weg“ (173-190); ders., „Versuch über die japanische Kultur“, in: ders., Drachenkampf: Der philosophische Hintergrund der blutigen Bürgerkriege und die brennenden Zeitfragen, Freiburg i. Br. 1996, 37-89; unter phänomenologischer Hinsicht vgl. T. Izutsu, „Die Entdinglichung und Wiederverdinglichung der ,Dinge‘ im Zen-Buddhismus“, in: Y. Nitta (Hg.), Japanische Beiträge zur Phänomenologie, Freiburg/München 1984, 13-40; zum Bildverständnis der chinesischen Malerei s. h. Jullien 2005; M. Obert hat in einer umfassenden Studie Welt als Bild: Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg/ München 2007 die transformative, Wirklichkeit hervorbringende und leiblich

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Es scheint in der Tat so zu sein, dass die asiatische „Erfahrungs“-kultur der westlich-europäisch-amerikanischen „Reflexions“-kultur gerade dort etwas zeigen kann, wo die Reflexionsbegrifflichkeit aufgrund ihrer immanenten Unterstellungs- und Voraussetzungspraxis immer schon vorbei- und darüber hinweggegangen ist.46 Nicht von ungefähr, dass zunehmend auch das westliche Denken verstärkt auf den Konstitutionsweg und das generative Geschehen zu achten beginnt. So wie das westliche Denken sich der Erfahrungspotentialität versichert, so hat sich umgekehrt das asiatische Denken der systematischen Möglichkeiten reflexiver Begrifflichkeit angenommen.

5.2 Erkenntnisweise und Sprachform Dass die Sprache lebensform- und welterschließende Kraft hat, ist uns seit Humboldt, Herder, Heidegger, Gadamer, Wittgenstein, Austin, Habermas u. a. bekannt. Dass sie aber eine Welt nicht nur erschließt, sondern anhand ihrer verschiedenen Sprachebenen (Grammatik, Syntax, Semantik, Pragmatik usw.) die dazugehörige Welt gar erzeugt wie umgekehrt die Sprache aus ihrer kulturellen Welt hervorgeht, dies mag vielleicht noch nicht so deutlich zu sein. Es ist jedenfalls auffallend, dass die indogermanischen Sprachkulturen und -strukturen eine substanzund subjektzentrierte Grammatik ausgebildet haben, im Unterschied etwa zum Japanischen, das eher geschehenszentriert gebaut und zudem weitaus kontextbezogener ausgerichtet ist. So ist z. B. im deutschen Satz ‚Der Ball rollt‘ das Subjekt ‚Ball‘ das Zugrundeliegende, das durch das Prädikat ‚rollt‘ nur attributivisch näher bestimmt wird. Im japanischen Pendant des Satzes hingegen (‚bôru ga korogaru‘) ist das Prädikat ‚rollen (korugaru)‘ das Wesentliche, und das Subjekt ‚Ball (bôru)‘ ist nur Attribut, das jenes näher bestimmt.47

Man kann unschwer die Differenz zwischen Subjektzentriertheit und Geschehenszentriertheit feststellen. Im Japanischen wird „das Satzsubjekt oft nicht genannt“, was – berücksichtigt man im Weiteren die verankerte Bedeutsamkeit der chinesischen Malerei am Beispiel der „BergWasser“-Motive herausgearbeitet. 46 | Das „große Dao“, man könnte auch sagen, die Form weicht im Moment ihres In-Erscheinung-tretens gleichzeitig zurück, sie gibt es nicht für sich im Unterschied zum Inhaltlichen und Konkreten. Vgl. Jullien 2005: insbesondere 64-81; vgl. auch G. Stenger, „Phänomenologische Methode und Interkulturelle Philosophie“, in: N. Schneider/R. A. Mall/D. Lohmar (Hg.), Einheit und Vielheit: Das Verstehen der Kulturen, Amsterdam/Atlanta, 1998, 167-182. 47 | Vgl. H. Busche, „Kultur – Begriff und Erklärungsrahmen“, in: Einführung in das Studium der Kulturwissenschaften, Kursband Fern-Universität Hagen 2004, 3-33, 31.

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offenkundige Kontextbezogenheit und Ortgebundenheit vor allem von Verbum und Personalpronomen – auf eine „völlig andere Satzstruktur“ hinweist, die ihr „Zentrum im Verbum“ hat. Den logischen Mittelpunkt des japanischen Satzes bildet das Verbum als Vorgangs- oder Geschehensbezeichnung, der gegenüber alle übrigen Satzglieder nur attributive Bedeutung haben. D. h. in der japanischen Sprache kommt Wirklichkeit nicht als eine Ansammlung von substanziellen, feststehenden Dingen bzw. für sich seienden Subjekten, die sich dann auch noch in Geschehnissen und Vorgängen aufeinander beziehen können, zum Vorschein, sie zeigt sich vor allem und zuerst als ein Geschehen, das sich in sich hinsichtlich seiner Bezüge, Richtungen und Orte dann noch näher bestimmt und bestimmen lässt. Das Satzsubjekt ist dem Prädikat nicht vorausgesetzt, sondern sozusagen im Prädikat eingewickelt, involviert, weswegen es meist gar nicht genannt werden muss.48

Das (Satz)Subjekt erfasst sich also eher als Bezugsort, gleichsam als Moment, der aus dem Geschehen mithervorgeht49 (hier hätte man auf weitere Zusammenhänge zwischen „Sprachspiel“, „Lebensform“, „kultureller Lebensform“, „Situativität“, „Ortgebundenheit“, „Ortlogik“ usw. einzugehen). Was aber, so wäre schon festzuhalten, bedeutete dies für das gegenseitige Verstehenkönnen und für die in den Lebensformen mittransportierten kulturellen Standards, Normen usw., wenn bspw. ein für das westliche Denken so zentraler Grundbegriff wie das „Subjekt“ eine vergleichsweise sekundäre Rolle einnimmt? Schon an diesen kleinen Beispielen kommen kulturelle Hintergründe zu Wort, die erst mit der jeweiligen Praxis als diese hervortreten und sodann durchaus normative Qualität annehmen können. Bevor dies aber möglich ist, hat eine bestim48 | E. Weinmayr, „Aspekte des Übersetzens zwischen Heidegger und Japan“, in: T.

Buchheim (Hg.), Destruktion und Übersetzung: Zu den Aufgaben von Philosophiegeschichte nach Martin Heidegger, Weinheim 1989, 177-196, 191f. 49 | Vgl. hierzu B. Kimura, Zwischen Mensch und Mensch: Strukturen japanischer Subjektivität, Darmstadt 1995, 97ff. Es gibt im Japanischen verschiedenste Personalpronomina für „Ich“, aber da fast für jede Situation, für jedes Geschehnis, jede Beziehungsstruktur ein anderes „ich“ gebraucht wird, lässt man es in der Regel weg; es taucht auch nicht im konjugierten Verb auf, da es ein solches im Japanischen gar nicht gibt. Weinmayr macht etwa mit Kimura darauf aufmerksam, dass jenes bei Martin Buber verwendete „Du“ im Japanischen meist mit „nanji“ übersetzt wird, was eigentlich in einem pejorativen und respektlosen Sinn gebraucht „jemanden in der Beziehung niedriger Stehenden“ meint, bei Buber aber gerade als gegenteiliger Ausdruck „achtender und respektvoller Anerkennung“ Verwendung findet, in welchem letztlich „Gott“ als „Du“ dahinter steht. Übersetzte man also, wie geschehen, „Wort für Wort“, so hat man schon im Vorhinein einen bestimmten rein sprachlichen Vergleichsmaßstab angelegt, der der kulturellen Verstehens- und damit auch Erkenntnisweise nicht gerecht wird. Zum Übersetzungsproblem vgl. auch G. Stenger, „Übersetzen übersetzen: Zur Phänomenologie des Übersetzens“, in: J. Renn/J. Straub/S. Shimada (Hg.), Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt a. M. 2002, 93-122 (jap. auch in: Risô, Bd. 671 (2003), 154-169 und Bd. 672 (2004), 168-179).

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mte Verantwortlichkeit schon gesprochen, hat ge-antwortet auf etwas, das mit ihrer Antwort, ihrem Sprechen erst hervorgeht.

5.3 Moralisches Handeln Ich möchte als dritten Punkt einige Aspekte aus der altchinesischen Geistesgeschichte ansprechen, die von ihrer immensen Bedeutung bis heute nichts verloren haben, ja die aktueller denn je zu sein scheinen. Wie meist handelt es sich bei den chinesischen Weisen nicht um begriffliche, systematisch dargelegte Sachverhalte und Begründungen, sondern um „Erzählungen“, „Berichte“, Anekdoten, Sprüche usw. Und doch, so sehen das heute nicht mehr nur die chinesischen und überhaupt viele ostasiatischen Zeitgenossen, sondern zunehmend auch immer mehr Vertreter der westlichen Hemisphäre, beinhalten diese Texte originäre und genuin philosophische Einsichten, die anders gar nicht besser zur Darstellung gebracht werden könnten. Ich möchte hierzu die kulturellen Voraussetzungen und Bedingungen am Leitfaden der Verantwortung etwas erläutern, auch wenn dieser Begriff selbst im chinesischen Denken eine eher untergeordnete Rolle spielt, obschon er im Umfeld und Schatten anderer Grundbegriffe wie Mitmenschlichkeit (ren), Rechtschaffenheit, Loyalität, Achtung, Mitleid, gemeinsamer Sinn (xin), Würde (jue), Wert (gui) u. a. beständig mitpräsent ist. Vermutlich muss man die Geschichte Der Koch von Zhuangzi (philosopscher Daoismus, 4. Jh. v. u. Z.) nicht eigens mehr vorstellen, zählt sie doch zu den herausragenden Quellen des chinesischen Denkens. Kurz: Es geht um den Koch „Ding“, der vor dem Fürsten „Wen Hui“ einen Ochsen mit dem Messer zerteilt, und zwar auf eine so vortreffliche Art und Weise, dass der Fürst darin die Kunst der rechten „Pflege des Lebens“ sieht. Der Koch schneidet nicht – nach langer Übung – gemäß eines bestimmten mitgebrachten Plans und erworbener Technik, sondern setzt das Messer so geschickt, d. h. in den „Zwischenräumen“ von Muskeln, Knochen und Sehnen an, dass die Fleischstücke wie von selbst fallen. Er benutzt sein Messer so geschickt, dass es nicht stumpf wird. „Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein stümperhafter Koch muss das Messer alle Monate wechseln, weil er hackt.“50 Kurzdeutung: Das Mitgehen mit den Dingen, auch ein sich darauf Einlassen, ist das Entscheidende; erst dadurch sieht und findet man die Öffnungen und eigentümlichen „Zwischenräume“, die ansonsten verschlossen, unbeachtet blieben. Man bleibt selbst verschlossen, gerade weil man 50 | Zhuangzi [Dschuang Dsi], Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blü-

tenland, (übersetzt und erläutert von R. Wilhelm), München 71992, 54.

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etwas durchsetzen, gegen etwas angehen und vorgehen will. Alles hat seinen „Weg“, auch ein Ochse, jedes Material, jede soziale Konstellation, was auch immer. Mit der Konstellation „Ochse – Fürst – Koch“ wird hier auf die enge Verknüpfung von Alltag und besonders herausgehobener Situation aufmerksam gemacht. Vermag man, so ließe sich eine „Lehre“ hieraus ziehen, den „Weg“ mitzugehen, gehen die Dinge, der Weg darin mit auf, ja auch der Koch und der Fürst verstehen sich besser. Insgesamt geht es in dieser Geschichte um das richtige Handeln: Anders als unser handlungstheoretisch grundierter Zugang, wonach erst eine bestimmte Absicht resp. ein Ziel Handeln konstituiert, erscheint hier kein wie immer angesetzter Akteur oder ähnliches notwendig zu sein – es geht gar nicht um eine personal zuschreibbare Subjektivität –, es ist vielmehr, gewissermaßen performativ und praxis-medialisiert, eine bestimmte „Geistverfassung“ angesprochen, die nicht in den Händen des Kochs oder des Fürsten liegt. Der „Geist“ (Herzgeist/xin) entsteht mit dem (gelingenden) Tun und er führt, wenn man so sagen darf, die Hand des Kochs. Die hohe Kunst des Handelns und der Lebensführung besteht darin, die Führung dem Leben selbst zu überlassen, jenseits von Plan resp. Eingreifen und einem willkürlich und zufällig ablaufenden Vorgang. Dahin zu kommen, nicht zu handeln, weil alles schon handelt, weil alles schon geschieht, dies nennt man die hohe Kunst des „Nicht-Handelns“ (wu wei).51 Darin ist – und wem wollte die offenkundige Differenz und zugleich Herausforderung in Bezug auf den westlichen Handlungsbegriff verborgen bleiben? – einbehalten eine kaum zu steigernde Verantwortung den Dingen, dem Menschen und der Natur gegenüber.52 Zum zweiten möchte ich einige Grundzüge ,moralischen Handelns‘ bei Menzius (Mengzi, Mong Dsi, um 370 v. - 290 v. u. Z.)53 ansprechen, der nicht von ungefähr in China eine Renaissance erlebt und auch im europäischen Kontext mittlerweile rege Aufnahme findet. Dies mag einigermaßen überraschen, steht doch der Name Menzius für ein konfuzianisches Weltbild in der Verbindung rationaler, diesseitsgewandter Sozial- und Morallehre und deren Transformation durch gleichsam kosmische Prinzipien (Grundfigur: tian/Himmel – ren/Mensch), also eine genuin konfuzianistische, für den Westen scheinbar wenig attraktive Tradition.54 Auf der anderen Seite erscheint gerade dieser Konnex etwa 51 | Vgl. auch F. Jullien, Über die Wirksamkeit, Berlin 1999, insbes. Kap. VI, 121-

144; vgl. ebenso H. Rombach, Strukturanthropologie: ‚Der menschliche Mensch‘, Freiburg/München 21993, insbesondere Kap. V. 7. „Nichthandeln und ‚reines Geschehen‘“, 363ff. 52 | Vgl. hierzu die detaillierten wie provokativen Analysen von G. Wohlfart, Die Kunst des Lebens und andere Künste: Skurrile Skizzen zu einem euro-daoistischen Ethos ohne Moral, Berlin 2005. 53 | Mong Dsi, Die Lehrgespräche des Meisters Meng K’o, übersetzt von R. Wilhelm, München 21994. 54 | Zum Ansatz einer hermeneutischen Lesart des konfuzianischen Denkens hin-

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für den Diskurs der Menschenrechte, der Menschenwürde, der Moralkonzepte u. a. mehr sehr hilfreich sein zu können.55 Ausgehend von den drei Schlüsselbegriffen „Ausbreiten (tui)“, „Erweitern (ji)“, „Verbreiten (kuo)“ bei Menzius56 lassen sich weitere wichtige Grundbegriffe einer Moral, die „wie eine Quelle […] zu fließen beginnt“,57 explizieren.58 Ein erster Einstieg wäre der „Situationsbegriff“, der dadurch ausgezeichnet ist, dass er zunächst nicht etwa innerhalb eines weiteren Rahmens angesetzt wird, sondern als Ausgangslage dient, die selber sozusagen nur eine Festschreibung, ein „Endstück“59 eines Prozesses meint, den es auf seine (weitere) Entfaltung hin anzugehen gilt. Jede Situation (wohlgemerkt, reale Situation) birgt ein ganzes „Situationspotential“ in sich, das eine eigene Wirkkraft entfaltet, wenn man denn dessen Spuren folgt.60 D. h. es verhält sich nicht so, dass ein Denken, eine Strategie, eine Theorie auf eine situative Gegebenheit aufgeblendet wird und zur Anwendung kommt (Figur etwa: Ideal-Real, Modell-Fak-

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gegen und eines daraus resultierenden besseren interkulturellen Verstehens s. h. die umfassende Studie von S. Schmidt, Die Herausforderung des Fremden: Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken, Darmstadt 2005, insbesondere „zweiter Teil“: 109-218. Vgl. H. Roetz, „Menschenpflicht und Menschenrecht: Überlegungen zum europäischen Naturrecht und zur konfuzianischen Ethik“, in: K. Wegmann/W. Ommerborn/H. Roetz (Hg.), Menschenrechte: Rechte und Pflichten – in Ost und West, Münster 2001, 1-21; ders., „Chancen und Probleme einer Reformulierung und Neubegründung der Menschrechte auf Basis der konfuzianischen Ethik“, in: W. Schweidler (Hg.), Menschenrechte und Gemeinsinn – westlicher und östlicher Weg?, St. Augustin 1998, 189-208; G. Paul, „Menschenrechtsrelevante Traditionskritik in der Geschichte der Philosophie in China – Philosophische Überlegungen“, in: G. Schubert (Hg.), Menschenrechte in Ostasien, Tübingen 1999, 75-108; H.-G. Möller, „Menschenrechte, Missionare, Menzius, Überlegungen angesichts der Frage nach der Kompatibilität von Konfuzianismus und Menschenrechten“, in: Schubert 1999, 109-122; F. Jullien, Dialog über die Moral: Menzius und die Philosophie der Aufklärung, Berlin 2003. Vgl. Mong Dsi 1994, Kap. I, A,7, 47-52; passim. Vgl. ebd., Kap. II, A, 6. Ich beziehe mich hier insbesondere auf Jullien 2003. Vgl. Jullien 2003, 51ff., 66ff. „Am interessantesten [...] scheint mir nicht das Inventar der von ihm [Menzius] vorgeschlagenen Moralitätsformen zu sein (wenngleich auch die Art der Klassifizierung bezeichnend ist: am Anfang steht unsere Reaktion auf das Unerträgliche und am Ende steht unsere Fähigkeit, Werte zu beurteilen, vgl. auch IV, A, 27), sondern vielmehr die Art und Weise, in der diese Bewusstseinsformen in uns die Moralität zum Ausdruck bringen. Denn Menzius sagt nicht, dass sie als solche die Moralität bilden, sondern dass sie in uns ihr ‚Endstück‘ sind. Dieses ‚Endstück‘, sagt uns der Kommentator (Zhu Xi), ist wie das Ende eines Fadens, der für uns, da er noch im Inneren steckt, nicht sichtbar ist und von dem nur dieses ‚Endstück‘ herausragt und für uns sichtbar ist. […] [Die] spontanen Reaktionen, (die sich in Form von inneren Anlagen oder ‚Gefühlen‘ spontan in uns äußern, wie etwa Mitleid oder Scham, (und) nur das Endstück sind, das von unserer inneren Moralität herausragt), sind als Hinweise auf unser moralisches Bewusstsein zu verstehen. Sie sind nur ihr Enthüller, sie decken auf. Wenn unsere Reaktion der Scham oder des Mitleids zustande kommt, erblüht auf der Ebene der Erfahrung plötzlich die Moralität. […] Was unsere Reaktionen an Mitleid oder Scham somit aufscheinen lassen, ist nur der Ausgangspunkt einer Potentialität, die [...] entfaltet oder verbreitet werden muss.“ (Jullien 2003, 51f.)

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tum) – eine typisch „westliche“ Denkweise –, sondern dass die Situation als Anhaltspunkt dient, die darin liegenden Tendenzen, die im übrigen nach vorne wie nach rückwärts wirken, aufzuspüren und freizusetzen. Wer dies vermag, dessen „Aktion“ tritt nicht nochmals eigens nach außen hin auf, – sie bleibt in gewisser Weise unsichtbar – sondern geht als Teil der Situation in diese mit ein. Das Subjekt tritt sozusagen hinter die handelnde Situation, oder besser, versteht sich als Teilmoment ihres Prozesses. Handeln bedeutet daher kein Eingreifen, kein Hervorbringungsoder gar Schöpfungsakt, dem wiederum ein „Wille“ als Ausgangspunkt diente – es gibt im Chinesischen diesbezüglich wohl auch keine direkt entsprechenden Zeichen resp. Begriffe61 – sondern ein Mitgehen mit den meist verstellten Potentialitäten der Wirklichkeit, die als „Geschehen“, als Geschehen mit eigener „Wirksamkeit“ gesehen wird. Genau darin aber setzt sich ein Transformationsprozess frei, der wie gesagt alle vorhandenen Elemente, nach vorne wie nach rückwärts aufnimmt und interpretiert, weshalb dieser Prozess auch nie nicht „real“ wäre, sprich andauert, d. h. „ewige Dauer“ hat. Moral wird hier verstanden als ein innerer wie äußerer Reifungsprozess, als eine Art „Ergebnis“ einer Reifung, nicht als Ausgangspunkt eines aktiven Planens und Handelns. Interessant hierbei ist, dass die „Realisation“ dieses Handlungsgeschehens daran hängt, inwieweit der gesamte Prozess als „tragend“ erfahren wird (vgl. die Bedeutung der bildhaften Symbole wie „Wind“, „Drache“ etc.), d. h., dass der Voraussetzungsboden allen Verstehenkönnens, das Wovonher unseres Denkens und Tuns selbst nicht feststeht, wie dies durch Grundbegriffe wie „Sein“, „Idee“ etc. nahegelegt wird, sondern beständig im Fluss ist. D. h. auch, dass hier Tiefenstrukturen mitsprechen, was den spezifischen Konnex philosophischer, religiöser, politischer, sozialer und alltäglich-lebensweltlicher Bereiche erklärt (s. h. den engen Konnex Himmel/Mensch-Erde/Natur/Gesellschaft). Dies würde auch das Motiv des „Gleichgewichts“ erläutern können, eines in sich bewegten Aus-gleichens (etwa Grundfigur: yin-yang), das auf eine gelingende, nicht prästabilierte Harmonie zuläuft, eine, um mit Nishida zu sprechen, „diskontinuierlichkontinuierliche“ Harmonie.

6. „Fruchtbare Dif ferenz“ Mir scheint, dass das Spannungsfeld zwischen dem Vertrautem und dem Fremden auf sehr verschiedenen und unterschiedlichen Ebenen abgehandelt werden kann und wohl auch muss. Ich habe hier nur auf wenige Aspekte etwas näher eingehen können. „Fremderfahrung“ ernst neh61 | Vgl. ebd., 165.

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men, hieße daher auch dessen gewahr werden, dass das Vertraute so wenig vertraut ist wie das Fremde in Gänze fremd bleiben muss. Ja, durch die Erfahrung des Fremden erfolgt ein Rückstoß auf das Eigene, das in sich brüchig wird, woraus wiederum neue Möglichkeiten entstehen im Umgang mit dem Eigenen, Vertrauten und Fremden. Das Vertraute und Fremde erweisen sich nicht als Ausgangspunkte, sondern als beständige, aneinander wachsende Lernprozesse. Nur wo das Vertraute uns fremd werden kann, vermag es uns zu öffnen, in allen erdenklichen Bereichen. Fremdheit und Fremderfahrung wären so Elixiere interkultureller Dialog- und Transformationsprozesse. Was mich vor allem interessiert ist die Art und Weise des Umgangs mit den differenten Grundstrukturen und auch den nicht in Abrede zu stellenden kulturellen Differenzen, aber so, dass diese in einen gegenseitig fruchtbaren Dialog gelangen können, jenseits von bloß universalistischen und relativistischen Konzepten. Hierzu bedarf es sowohl methodischer, systematischer wie grundbegrifflicher Klärungsarbeiten, die kultur- und lebensweltlich wie interdisziplinär anbindbar sind. Der gesteigerten Komplexität, die nur das äußere Erscheinungsbild der eine jede Kultur durchziehenden intra- , inter- wie transkulturellen und zugleich tiefenstrukturellen Signaturen abgibt, wäre daher nicht auszuweichen, im Gegenteil, sie hätte sich auf eine fruchtbare, sich gegenseitig öffnende und anerkennende Dialogkultur hin zu öffnen. Hierzu gehörten ein Aufmerken auf Asymmetrien und ein Sensiblerwerden für Differenzen, ein Ernstnehmen orthafter Situiertheit sowie epistemischer, aisthetischer und moralischer Kontingenz, damit verbunden die Einsicht in die produktiven Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus den Fremd(heits)erfahrungen ergeben, die vor allem das je Eigene auf sich zurückwerfen, um dieses selber tiefer, weil kritisch und korrigierend, in sich zu erfassen. Entgegen allzu resignativer aber auch allzu optimistischer Lösungsvorschläge sollten Wege beschritten werden können, die auf ein besseres Gelingen abzielen, in dem sich die Kulturwelten einander öffnen, intern wie extern. Selbstaufklärungen im positiven Sinn bedeuten zugleich Vertiefungen, was wiederum gegenseitige Steigerungsmöglichkeiten zu evozieren vermag. Ich spreche daher von einer „fruchtbaren Differenz“,62 die auf allen Dimensionen, in lateralen, horizontalen wie vertikalen Hinsichten zwischen den Kultur- und Denkwelten zum Tragen kommen müsste.

62 | G. Stenger 2006, passim.

Fremdheitser fahrungen als Herausforderung transformatorischer Bildungsprozesse HANS-CHRISTOPH KOLLER

Bildung kann als ein Prozess verstanden werden, in dem die Welt- und Selbstverhältnisse von Menschen eine grundlegende Veränderung erfahren, weil sie mit Problemen konfrontiert werden, für deren Bewältigung die bisher zur Verfügung stehenden Mittel nicht mehr ausreichen. In diesem Sinne bezeichnet der Begriff „Bildung“ einen Prozess der Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen, in dem angesichts ungewöhnlicher Herausforderungen neue Figuren oder Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen entstehen, die es den Akteuren erlauben, solchen Problemen besser als bisher gerecht zu werden.1 Es ist hier nicht der Ort, ausführlich darzustellen, inwiefern dieser Versuch einer Neufassung des Bildungsbegriffs an die bildungstheore1|

Dieser Versuch einer Neufassung des Bildungsbegriffs geht zurück auf Rainer Kokemohr, der entsprechende Überlegungen seit den 1980er Jahren entwickelt, aber zunächst nur an entlegenen Stellen publiziert hat; vgl. z. B. Rainer Kokemohr, „Bildung als Begegnung? Logische und kommunikationstheoretische Aspekte der Bildungstheorie Erich Wenigers und ihre Bedeutung für biographische Bildungsprozesse in der Gegenwart“, in: Otto Hansmann/Winfried Marotzki (Hg.), Diskurs Bildungstheorie: Rekonstruktion der Bildungstheorie unter Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft, Bd. 2, Weinheim 1989, 327-373. Eine ausgearbeitete Fassung dieser Konzeption findet sich in Rainer Kokemohr, „Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden: Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie“, in: Hans-Christoph Koller/Winfried Marotzki/Olaf Sanders (Hg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung: Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2007, 13-68.

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tische Tradition anknüpft, wie sie z. B. durch Wilhelm von Humboldt repräsentiert wird, und inwiefern er über diese Tradition hinausgeht. 2 Da diese Konzeption transformatorischer Bildungsprozesse bisher erst in Ansätzen systematisch entfaltet worden ist, sei stattdessen auf die Fragen verwiesen, die eine solche systematische Ausarbeitung zu beantworten hätte. Eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse müsste zumindest Antworten auf die drei folgenden Fragen geben. Erstens: Wie lassen sich die neuartigen Problemlagen, die dem Ansatz zufolge als Anlass oder Herausforderung für Bildungsprozesse gelten können, genauer bestimmen? Gibt es so etwas wie typische Problemsituationen, deren Bearbeitung Bildungsprozesse in besonderer Weise erforderlich macht oder zumindest nahe legt? Zweitens: Welche begrifflichen Konzepte sind geeignet, um die Grundfiguren von Welt- und Selbstverhältnissen, als deren Transformation Bildung hier verstanden wird, zu erfassen und zu analysieren? Wie lässt sich die Art und Weise, in der Subjekte sich zur Welt, zu anderen und zu sich selber verhalten, theoretisch angemessen begreifen? Und drittens: Wie sind die Prozesse der Transformation solcher Weltund Selbstverhältnisse näher zu beschreiben, die diesem Ansatz zufolge als Bildung gelten können? Dabei wäre neben den Verlaufsformen und Bedingungen solcher Bildungsprozesse vor allem die Frage zu untersuchen, wie im Zuge von Transformationen Neues entsteht, wie also neue Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses hervorgebracht werden, die nicht einfach aus den bisherigen Figuren ableitbar sind. Im Folgenden soll nun versucht werden, eine philosophische Konzeption der Erfahrung des Fremden daraufhin zu prüfen, was sie zur Beantwortung dieser drei Fragen beitragen kann. Dahinter steht die Vermutung, dass die Begegnung mit dem Fremden in besonderer Weise als Anlass oder Herausforderung für Bildungsprozesse im skizzierten Sinn verstanden werden kann. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht 2|

Vgl. dazu Hans-Christoph Koller, „Bildung (an) der Universität? Zur Bedeutung des Bildungsbegriffs für Hochschulpolitik und Universitätsreform“, in: Andrea Liesner/Olaf Sanders (Hg.), Bildung der Universität: Beiträge zum Reformdiskurs, Bielefeld 2005, 79-100. Die skizzierte Neufassung des Bildungsbegriffs knüpft an die Tradition des Bildungsdenkens insofern an, als Bildung hier ebenso wie bei Humboldt als Auseinandersetzung bzw. „Wechselwirkung“ (Humboldt) von Ich und Welt gedacht wird. Die Konzeption geht jedoch in zweierlei Hinsicht über diese Tradition hinaus. Im Unterschied zu Humboldt gibt sie zum einen eine Antwort auf die Frage, was eigentlich den Anlass bzw. die Herausforderung für Bildungsprozesse darstellt. Bildungsprozesse werden demzufolge nicht durch ein natürliches Streben des Menschen nach Entfaltung seiner „Kräfte“ (Humboldt), sondern durch eine Art Krisenerfahrung ausgelöst, nämlich durch die Konfrontation mit einer Problemlage, für deren Bewältigung die Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen. Und zum andern ist diese Neufassung des Bildungsbegriffs im Unterschied zur bildungstheoretischen Tradition mit dem Anspruch verbunden, Bildungsprozesse so zu konzipieren, dass sie nicht nur philosophischen Reflexionen, sondern auch empirischen Untersuchungen zugänglich sind – insbesondere im Rahmen qualitativer Forschung.

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dabei die Konzeption der Erfahrung des Fremden, die Bernhard Waldenfels in seinen mehrbändigen Studien zur Phänomenologie des Fremden vorgelegt hat, und insbesondere das Kapitel „Fremderfahrung und Fremdanspruch“, das einen „orientierenden Grundriß“ dieser Studien liefert und deren ersten Band Topographie des Fremden eröffnet.3 Das besondere Interesse gilt dabei der ersten gerade genannten Frage, also der Frage, welche typischen Problemkonstellationen es gibt, die transformatorische Bildungsprozesse herausfordern. Denn Waldenfels’ Konzeption der Fremderfahrung bietet, wie zu zeigen sein wird, eine bildungstheoretisch ungemein fruchtbare Beschreibung der Irritation, zu der Begegnungen mit dem Fremden führen können. Im Laufe der Auseinandersetzung mit Waldenfels’ Überlegungen wird sich allerdings herausstellen, dass seine Konzeption auch im Blick auf die beiden anderen Fragen nach der Grundstruktur von Welt- und Selbstverhältnissen sowie nach Verlaufsformen und Bedingungen ihrer Transformation von Interesse ist. Aus dem Gesagten geht hervor, dass dieser Beitrag die Fragestellung des vorliegenden Bandes mit einer spezifischen Akzentsetzung versieht. Während die Tagung, die diesem Band vorausging, der Frage galt, wie der „Übergang von der Differenzerfahrung zum Fremdverstehen“ erhellt werden kann,4 so geht es im Folgenden eher darum, wie der Übergang von einer bestimmten Form der Differenzerfahrung, die sich mit Waldenfels als „Fremderfahrung“ bezeichnen lässt, zu Bildung im Sinne der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses zu beschreiben ist. Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags steht also nicht so sehr das Fremdverstehen, sondern vielmehr ein bestimmter Umgang mit dem Fremden, der im Sinne der gerade skizzierten Konzeption als Bildungsprozess verstanden werden kann. Die Differenz zum Fremdverstehen beruht auf der von Waldenfels aufgeworfenen Frage, ob es im Umgang mit dem Fremden eine Alternative zu dem Versuch einer „Überwindung des Fremden durch Verstehen“ geben kann – eine Alternative, die eher als das Verstehen in der Lage wäre, dem Fremden als Fremdem gerecht zu werden.5 Die Fokussierung auf die Bedeutung, die der Fremderfahrung im Blick auf Bildungsprozesse zukommt, ist der disziplinären Verortung der folgenden Überlegungen in der Erziehungswissenschaft und meinem Interesse an biographischen Bildungsprozessen geschuldet, also an solchen Veränderungen des Welt- und Selbstverhältnisses, die sich längerfristig 3| 4| 5|

Vgl. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M. 1997, 16-53. Das Zitat stammt aus dem Vorwort des Bandes (ebd., 13). So das Tagungsprogramm. Vgl. das Kapitel „Jenseits von Sinn und Verstehen“ in Bernhard Waldenfels, Vielstimmigkeit der Rede: Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M. 1999, 67-87, 70.

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und in lebensgeschichtlichen Kontexten vollziehen. Der Beitrag argumentiert dabei vor allem bildungstheoretisch bzw. -philosophisch; die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, in deren Rahmen diese Überlegungen stehen, ist allerdings mit dem Anspruch verbunden, auch anschlussfähig an die empirische Untersuchung von Bildungsprozessen etwa im Rahmen sozialwissenschaftlichen Biographieforschung zu sein. Der Beitrag ist so aufgebaut, dass zunächst Waldenfels’ Begriff der Erfahrung und seine Auffassung des Fremden vorgestellt werden (1.), um dann auf die Fragen einzugehen, wie Waldenfels zufolge das Fremde in Erscheinung tritt (2.) und durch welche Strukturmerkmale sich die unterschiedlichen Reaktionen auf die Erfahrung des Fremden auszeichnen (3.). Daraufhin geht es um die Bedeutung, die Waldenfels’ Konzeption im Blick auf eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zukommt (4.), bevor die theoretischen Überlegungen abschließend an einem literarischen Beispiel, nämlich Jeffrey Eugenides’ Roman Die SelbstmordSchwestern geprüft werden (5.).

1. Waldenfels’ Begrif f der Er fahrung und eine erste Umschreibung des Fremden Ausgangspunkt von Waldenfels’ Überlegungen ist der Befund, dass das Fremde seit Beginn der Neuzeit – und d. h. seit dem Auseinanderbrechen einer metaphysischen „großen Gesamtordnung“ – in radikaler Form in Erscheinung trete, während es zuvor nur in „gebändigter“ Weise aufgetreten sei, weil es stets (wie z. B. in der griechischen Antike) im Rahmen eines übergreifenden mythischen oder kosmischen Ordnungsgefüges gesehen wurde.6 Die Originalität von Waldenfels’ Befragung dieser radikalen Erscheinungsform des Fremden besteht darin, dass sie davon ausgeht, dass das Fremde nicht einfach nur ein „Für-Uns“ ist, d. h. ein Objekt unseres Wahrnehmens, Denkens und Handelns, sondern etwas, von dem ein Anspruch ausgeht, der dieses „Fürunssein sprengt und uns selbst in unserer Eigenheit in Frage stellt“.7 Von Anfang an macht Waldenfels also klar, dass das Fremde weder ein bloßes Objekt unserer Wahrnehmung noch ein Konstrukt unserer kognitiven Tätigkeit ist, sondern ein Phänomen eigener Qualität, von dem besondere Wirkungen ausgehen. Noch deutlicher wird dies in dem Begriff der Erfahrung, den Waldenfels im Anschluss an Husserl entfaltet und der zentrale Bedeutung für seine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Fremden hat. Dieser Begriff der Erfahrung weist drei 6| 7|

Waldenfels 1997, 16. Ebd., 18.

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Bestimmungen auf: Erfahrung ist für Waldenfels erstens keine bloße Konstruktion im Sinne eines Konstruktivismus gleich welcher Prägung, sondern ein Geschehen, in dem, wie er schreibt, die „Sachen selbst“ zutage treten.8 Für dieses Zutage-Treten der Sachen sei ein „wiederholter Umgang“ mit ihnen erforderlich, der auch „Leiden und Enttäuschungen“ einschließe.9 Dem Subjekt kommt dabei also nicht einfach die Rolle eines Aktivitätszentrums zu, sondern auch und vor allem die einer erleidenden Instanz. Wenn man davon spricht, eine Erfahrung zu machen, bedeutet machen Waldenfels zufolge nicht etwa herstellen, sondern vielmehr soviel wie etwas durchmachen.10 Erfahrung ist also für Waldenfels kein Objekt, keine feststehende Gegebenheit und kein gesichertes Resultat, nichts, was man besitzen oder worüber man verfügen könnte, sondern vielmehr ein Prozess, in dem etwas entsteht bzw. uns widerfährt. Zweitens ist Erfahrung Waldenfels zufolge durch „Intentionalität“ gekennzeichnet, d. h. dadurch, dass uns „etwas als etwas, also in einem bestimmten Sinn, einer bestimmten Gestalt, Struktur oder Regelung erscheint“.11 Der Gegenstand selbst und die Art, wie er uns erscheint, oder mit Waldenfels’ Worten: „Sachverhalt und Zugangsart“, können deshalb nicht voneinander getrennt werden.12 Daraus folgt schließlich drittens, dass der Begriff der Erfahrung auf eine bestimmte, aber jeweils kontingente Ordnung verweist, die dafür sorgt, dass uns dieses ‚etwas‘ als etwas, und d. h. immer auch, dass es uns so und nicht anders erscheint. Eine solche Ordnung ist deshalb für Waldenfels stets selektiv und exklusiv; d. h. sie bevorzugt bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten und schließt andere aus, nimmt Ein- und Ausgrenzungen vor. Aus diesen Überlegungen ergibt sich nun eine erste Umschreibung des Fremden. Das Fremde ist (oder besser: es erscheint) Waldenfels zufolge (als) das, was sich „dem Zugriff der Ordnung“, vielleicht sollte man besser sagen: einer gegebenen Ordnung „entzieht“.13 An dieser Formulierung ist dreierlei hervorzuheben: Zum einen handelt es sich bei diesem Begriff des Fremden nicht um einen absoluten, sondern um einen relationalen Begriff, der auf das jeweilige „Hier und Jetzt“ bezogen und nur in Relation zu einer jeweiligen „Ordnung“ zu bestimmen ist.14 Die Rede von einem „Fremden schlechthin“ ist deshalb Waldenfels zufolge ebenso unsinnig wie die von einem „Links überhaupt“.15 Damit geht einher, dass, seitdem mit Beginn der Neuzeit die Vorstellung einer ein8| 9| 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 |

Ebd., 19. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 20. Vgl. ebd., 23 und 37. Ebd., 23.

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zigen, alles umfassenden Ordnung fragwürdig geworden ist, auch mit einer Vielzahl von Fremdheiten gerechnet werden muss; in Waldenfels’ Worten: „so viele Ordnungen, so viele Fremdheiten“.16 Zum anderen ist das Fremde auch nicht einfach als ein bloßes Objekt zu verstehen, das von der jeweils gültigen Ordnung aus eindeutig definiert werden könnte – und sei es nur in negativer Weise als das, was sich entzieht. Waldenfels denkt das Sich-Entziehen des Fremden vielmehr als eine aktive Bewegung, die vom Fremden selbst ausgeht, bzw. als einen „Anspruch“, d. h. als etwas, das an uns gerichtet ist.17 Drittens schließlich impliziert die Auffassung des Fremden als das, was sich der Ordnung entzieht, dass Fremdheit nicht einfach mit Andersheit oder Differenz gleichgesetzt werden kann. Während das Andere vom Selben unterschieden ist und d. h. von einem unabhängigen Ort aus unterschieden werden kann (im Sinne von a ist nicht gleich b), gilt für das Fremde, dass es sich selbst vom Eigenen unterscheidet und von diesem durch eine Schwelle getrennt ist, für die es kein gemeinsames, übergreifendes Drittes oder Allgemeines gäbe. So sind Waldenfels zufolge Äpfel und Birnen insofern anders, als sie von einem unabhängigen Beobachterstandpunkt aus unterschieden werden können, während Mann und Frau einander insofern fremd sind und sich selbst voneinander unterscheiden, als man diese Unterscheidung nur als Mann oder als Frau treffen kann und kein Außerhalb dieser Unterscheidung existiert.

2. Die paradoxe Struktur der Erscheinungsweise des Fremden Was heißt das nun für die Frage nach der Erfahrung des Fremden? Waldenfels’ Formulierung, wonach das Fremde sich dem Zugriff einer gegebenen Ordnung entzieht, war oben nicht als Definition, sondern als Umschreibung bezeichnet worden. Denn Waldenfels legt Wert darauf, dass man dem Fremden nicht auf ontologischem Weg beikomme, also nicht durch die Frage, was das Fremde ist, sondern vielmehr phänomenologisch, d. h. durch die Frage, wie das Fremde uns erscheint bzw. als was es sich zeigt. Waldenfels fasst seine Antworten auf die Frage nach der Erscheinungsweise des Fremden in unterschiedlichen Formulierungen, denen eines gemeinsam ist, nämlich dass es sich jeweils um paradoxe Aussagen handelt. In einer ersten Annäherung unterscheidet Waldenfels zunächst verschiedene Bedeutungen oder Aspekte des Wortes „fremd“, nämlich zum 16 | Waldenfels 1997, 33. 17 | Ebd., 30.

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einen den Aspekt des Ortes (d. h. das, was außerhalb des eigenen Bereichs ist; lat. externum), zum andern den Aspekt des Besitzes (das, was einem anderen gehört; lat. alienum) und schließlich den Aspekt der Art (das, was von anderer Art ist; lat. insolitum).18 Unter diesen drei Aspekten ist für Waldenfels der erste, also der Orts-aspekt, der wichtigste. Dem ersten Band seiner Studien zur Phänomenologie des Fremden gibt er deshalb den Titel Topographie (also soviel wie Ortsbeschreibung) des Fremden. Und die Frage nach der Erscheinungsweise des Fremden formuliert er folgerichtig als Frage nach dem Ort des Fremden in der Erfahrung bzw. nach dessen „Zugänglichkeit“. In diesem Zusammenhang findet sich nun eine erste jener paradoxen Formulierungen für die Erscheinungsweise des Fremden, die Waldenfels in diesem Fall von Husserl übernimmt: Das Wesen des Fremden werde von Husserl verortet „in der bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“.19 Fremd ist für Waldenfels bzw. Husserl mithin dasjenige, was nur insofern zugänglich ist, als es sich „original“, d. h. ursprünglich oder eigentlich durch Unzugänglichkeit auszeichnet. Seltsamerweise geht Waldenfels mit keinem Wort auf die Frage ein, was diese „Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ „bewährbar“ macht, also inwiefern und woran sich diese paradoxe Zugänglichkeit bewähren kann oder muss. Immerhin verweist die Formulierung darauf, dass es sich für Husserl nicht nur um irgendeine spekulative Form des Zugangs handelt, sondern vielmehr um eine Zugänglichkeit, die einer Bewährungsprobe ausgesetzt werden und dabei scheitern kann. Doch worin bestünde das Kriterium oder der Maßstab einer solchen Bewährung?20 Statt dieser Frage nachzugehen, grenzt Waldenfels die Erfahrung des Fremden von einer einfachen Negation ab, indem er sie ausdrücklich „vor dem Gegensatz von Ja und Nein“ ansiedelt.21 Im Unterschied zum Konzept der negativen Erfahrung, wie es sich in einer bildungstheoretisch bedeutsamen Interpretation etwa bei Günter Buck findet, besteht Fremderfahrung für Waldenfels also nicht einfach in der Enttäuschung einer Erwartung oder in der Negation eines Erfahrungshorizonts.22 Die 18 | Ebd., 20. 19 | Ebd., 25 20 | Vgl. dazu Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge,

2. Aufl. (= Husserliana, Bd. 1), Haag 1963, 144. Als Unterschied zwischen Husserl und Waldenfels ließe sich festhalten, dass Husserl das Verhältnis von originaler Unzugänglichkeit und „bewährbarer“ Zugänglichkeit temporal bestimmt (d. h. so, dass das Fremde zunächst unzugänglich ist, aber dann auf eine noch genauer zu beschreibende Weise doch zugänglich wird), während Waldenfels daraus (wie zu zeigen sein wird) ein paradoxes Verhältnis macht. 21 | Waldenfels 1997, 26. 22 | Vgl. Günter Buck, Hermeneutik und Bildung: Elemente einer vergleichenden Bildungslehre, München 1981, 50ff.

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Erscheinungsweise des Fremden unterscheidet sich von der Negation vielmehr dadurch, dass sie neben wahr und falsch, d. h. neben Affirmation und Negation, eine dritte Möglichkeit eröffnet, nämlich das Paradox: Etwas erscheint uns auf eine bestimmte Weise, und gerade weil oder insofern es uns auf diese Weise erscheint, erscheint es zugleich als sein Gegenteil. In der Sprache der formalen Logik: (p = q) → (p ≠ q). Das kommt – über das Husserl-Zitat von der „Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ hinaus – auch in einer anderen Waldenfels’schen Formulierung zum Ausdruck, wenn dieser von der „leibhaftigen Abwesenheit“ des Fremden 23 spricht, die dem Fremden in einem Atemzug mit der Abwesenheit oder Nicht-Präsenz zugleich Leibhaftigkeit und damit ein zentrales Moment von Präsenz zuschreibt. Das Fremde, so scheint es, ist anwesend, indem (oder nur in der Weise, dass) es abwesend ist. Die dritte und vielleicht wichtigste paradoxe Formulierung, die Waldenfels für die Beschreibung der Erscheinungsweise des Fremden findet, lautet: „Das Fremde zeigt sich, indem es sich uns entzieht“.24 Inwiefern sich das Fremde uns entzieht, ist nach dem bisher Gesagten leicht zu verstehen: Das Fremde entzieht sich uns insofern, als es sich der jeweils geltenden Ordnung entzieht. Aber inwiefern zeigt es sich, gerade in dem es sich entzieht? Vielleicht lässt sich das Gemeinte durch ein Gegenbeispiel erschließen, bei dem sich etwas einer Ordnung entzieht, ohne sich zu zeigen. So könnte man etwa sagen, dass sich die Quantenmechanik der Newtonschen Physik entziehe; so lange sich aber entsprechende Phänomene den Physikern nicht zeigten, erschienen sie ihnen auch nicht als fremd. Ähnliches gilt für die Bewohner anderer Erdteile, die uns nur dann oder insofern als fremd erscheinen, wenn bzw. als sie sich uns in irgendeiner Weise zeigen. In jedem Fall wäre festzuhalten, dass das Sich-Zeigen von Waldenfels als eine aktive Bewegung des Fremden verstanden wird, die darin besteht, in unsere Ordnung einzubrechen, uns heimzusuchen und in Unruhe zu versetzen25 oder, wie es an anderer Stelle heißt, „unseren Intentionen zuvor[zu]kommen, sie [zu] durchkreuzen, von ihnen ab[zu]weichen, sie [zu] übersteigen“.26 Die Wirkung dieser Erfahrung des Fremden wird von Waldenfels als ambivalent beschrieben: Sie kann bedrohlich sein, aber auch verlockend, kann als Konkurrenz für das Eigene erscheinen, aber auch als Eröffnung neuer Möglichkeiten, die durch die Ordnung des Eigenen ausgeschlossen werden. Entscheidend dabei ist, dass es sich in jedem Fall um eine Beunruhigung durch das Fremde handelt. Bedeutsam im Blick auf den 23 24 25 26

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Waldenfels 1997, 26. Ebd., 42. Ebd. Ebd., 51.

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bildungstheoretischen Kontext unserer Überlegungen ist schließlich, dass diese paradoxen Formulierungen für die Erscheinungsweise des Fremden es erlauben, die Möglichkeit zu denken, dass Menschen auch sich selbst fremd werden können. Diese Redeweise, die etwa im Titel von Julia Kristevas Buch Fremde sind wir uns selbst27 theoretische Gestalt angenommen hat, wäre sonst einigermaßen problematisch, weil sie die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden einzureißen droht. Aber wenn das Fremde das ist, was sich uns zeigt, indem es sich entzieht, kann es (bzw. die Beunruhigung, die von ihm ausgeht) nicht nur „von außen“ kommen, sondern – sofern die räumliche Metaphorik hier Sinn hat – auch „von innen“: Etwas in oder an uns selbst (wie z. B. unsere Träume) kann uns als fremd erscheinen, indem es sich unserem durch eine bestimmte Ordnung strukturierten Zugriff, unseren Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten entzieht.

3. Reaktionen auf die Er fahrung des Fremden Vor dem Hintergrund der Konzeption transformatorischer Bildungsprozesse ist nun vor allem die Frage interessant, in welcher Weise Menschen auf die Erfahrung des Fremden und die damit verbundene Beunruhigung reagieren. Waldenfels unterscheidet drei Formen solcher Reaktionen: Eine erste Form beruht auf der Gleichsetzung von Fremdem und Feind. Wenn die Beunruhigung durch das Fremde vor allem als Bedrohung wahrgenommen wird, erscheint das Fremde als potentieller Feind. In der politischen Philosophie eines Carl Schmitt, der bekanntlich die Unterscheidung von Freund und Feind zur Leitdifferenz erhoben hat, werden das Fremde und der Feind dann explizit einander gleichgesetzt, und aus dieser Gleichsetzung folgt, dass die Reaktion auf das Fremde in erster Linie darin besteht, es bis hin zur physischen Vernichtung auszugrenzen und auszusondern. 28 Eine zweite und, wie Waldenfels schreibt, auf Dauer „wirksamere Form der Abwehr“29 stellt die Aneignung des Fremden dar, d. h. dessen Absorption und Vereinnahmung. Kennzeichen dieser Reaktion auf das Fremde sind zum einen die Affirmation des Eigenen, das fraglos als Norm vorausgesetzt wird, und zum andern die Subsumtion des Fremden unter diese Norm, was dazu führt, dass das Fremde seiner Fremdheit beraubt und dem Eigenen assimiliert wird. Eine dritte Form der Reaktion auf das Fremde, die dieses weder vernichtet noch seiner Fremdheit beraubt, besteht schließlich in dem, was 27 | Vgl. Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a. M. 1990. 28 | Vgl. Waldenfels 1997, 45ff. 29 | Ebd., 48.

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Waldenfels „Antworten auf den Anspruch des Fremden“ nennt. 30 Anders als die beiden anderen Umgangsweisen geht diese Form der Reaktion nicht vom Eigenen aus, sondern von der Beunruhigung durch das Fremde und begreift diese Beunruhigung als Herausforderung oder eben als Anspruch: „Das Fremde wäre das, worauf wir antworten und zu antworten haben, was immer wir sagen und tun.“31 Die responsive Struktur dieser Reaktionsform bringt es mit sich, dass das Selbst bzw. das Eigene hier nicht wie selbstverständlich als das Primäre vorausgesetzt wird, sondern sich gegenüber dem Anspruch, der vom Fremden ausgeht – und zwar unabhängig davon, wie die Antwort ausfällt – immer schon in einer nachrangigen Position befindet. Dabei unterscheidet Waldenfels zwischen reproduktiven und produktiven Antworten auf den Anspruch des Fremden:32 Reproduktiv wäre eine Antwort, die einen bereits existierenden Sinn wieder- oder weitergibt, während produktive oder kreative Antworten Neues hervorbringen. Eine solche Neuschöpfung ist jedoch, wie Waldenfels hervorhebt, keineswegs Werk des Subjekts selber, sondern vielmehr etwas, was zwischen dem Subjekt und dem Fremden entsteht und deshalb keinem von beiden gehört. Dass solche kreativen Antworten weder einfach bereitliegen noch vom Subjekt allein hervorgebracht werden können, bringt Waldenfels auch darin zum Ausdruck, dass er – unter Anspielung auf Kleists berühmten Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden – von der allmählichen „Verfertigung von Antworten im Antworten“ spricht oder davon – wiederum in einer paradoxen Formulierung –, dass wir in einer solch kreativen Antwort „geben, was wir nicht haben“.33 Entscheidend für Waldenfels’ Konzeption der kreativen Antwort ist mithin die dezentrierte Struktur dieser Antwort, die ihren Mittelpunkt nicht im antwortenden Subjekt hat, sondern in einem Zwischen angesiedelt ist, das weder dem Subjekt noch dem Fremden zugerechnet werden kann.

4. Zur Bedeutung von Waldenfels’ Konzeption der Fremder fahrung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse Kehren wir nun zum Ausgangspunkt zurück, d. h. zu der Frage, welche Bedeutung Waldenfels’ Konzeption der Fremderfahrung im Blick auf eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zukommt, so ist festzuhalten, dass Waldenfels implizit auf alle drei eingangs skizzierten 30 31 32 33

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Waldenfels 1997, 50. Ebd., 51. Vgl. ebd., 53. Ebd.

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Fragen Bezug nimmt, die eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zu beantworten hätte. So lässt sich im Blick auf die erste Frage nach dem Anlass von Bildungsprozessen die Erfahrung des Fremden im Sinne von Waldenfels als eine typische Herausforderung für transformatorische Bildungsprozesse verstehen. Die zweite Frage nach einer genaueren theoretischen Erfassung der Grundstrukturen menschlicher Welt- und Selbstverhältnisse kann man mit Waldenfels dahingehend beantworten, dass Welt- und Selbstbezüge vor allem durch die Ordnungen bestimmt werden, die unser Wahrnehmen, Denken und Handeln strukturieren. Und in Bezug auf die dritte Frage nach den Verlaufsformen und Bedingungen, unter denen in transformatorischen Bildungsprozessen Neues entsteht, wäre mit Waldenfels zu sagen, dass neue Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses als kreative Antworten auf Fremdansprüche in jenem Zwischenraum zwischen Subjekt und Fremdem entstehen. Den wichtigsten Beitrag zur Ausarbeitung einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse stellt dabei Waldenfels’ Beschreibung der Fremderfahrung selbst dar. Die Erfahrung dessen, was sich zeigt, indem es sich dem Zugriff einer je herrschenden Ordnung entzieht, kann insofern als eine Herausforderung für transformatorische Bildungsprozesse verstanden werden, als dieses Sich-Entziehen die Ordnung in Frage stellt, die unserem Wahrnehmen, Denken und Handeln und damit unserem Welt- und Selbstverständnis zugrunde liegt. Entscheidend gegenüber anderen Möglichkeiten, den Anlass transformatorischer Bildungsprozesse theoretisch zu erfassen, ist dabei, dass Waldenfels die Konfrontation mit dem Fremden nicht als einfache Negation beschreibt, sondern eher als paradoxe Irritation. Die Herausforderung für die Ordnung eines gegebenen Welt- und Selbstverhältnisses ist dadurch zugleich größer und kleiner als dann, wenn man den Anlass für Bildungsprozesse als negative Erfahrung bestimmt: größer, weil durch jene irritierende Paradoxie nicht nur irgendeine Ordnung in Frage gestellt wird, sondern der Satz vom ausgeschlossenen Dritten als Ordnungsprinzip überhaupt; kleiner, weil jene Paradoxie die bestehende Ordnung nicht völlig außer Kraft setzt, sondern gleichsam in die Schwebe bringt, da sich das Fremde ja zeigt, indem es sich entzieht, und entzieht, indem es sich zeigt. Das Fremde ist für Waldenfels also zugleich inner- und außerhalb der Ordnung angesiedelt, die es in Frage stellt. Produktiv und anregend für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse scheint mir außerdem die Betonung, die Waldenfels auf die responsive Struktur der Fremderfahrung legt. Indem er das Fremde nicht einfach als Objekt oder Konstrukt vom Standpunkt des Selbst aus bestimmt, sondern das Sich-Entziehen als Aktivität des Fremden auffasst, wird deutlich, dass Bildungsprozesse angesichts der Herausforderung

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durch Fremderfahrungen nicht einfach als Selbst-Bildung verstanden werden können, deren Zentrum das sich bildende Subjekt selber wäre. Transformatorische Bildungsprozesse sind mit Waldenfels vielmehr als responsives Geschehen zu begreifen, das auf einen Anspruch antwortet, der vom Fremden ausgeht.34 Offen bleibt in Waldenfels’ Konzeption im Blick auf die beiden anderen eingangs skizzierten Fragen freilich insbesondere zweierlei: Zum einen erscheint der zentrale Begriff der Ordnung, der für die relationale Bestimmung des Fremden entscheidend ist, als zu abstrakt, um damit die Grundfiguren von Welt- und Selbstverhältnissen genauer beschreiben zu können. Klar ist nur, dass Welt- und Selbstbezüge als Ordnungen gefasst werden können, die zugleich selektiv und exklusiv wirken; genauer zu bestimmen wäre freilich, was durch die Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses jeweils auf welche Weise geordnet wird oder – mit einer Formulierung aus Waldenfels’ früherem Buch Ordnung im Zwielicht – was den „Ordnungsbestand“ und das „Ordnungsgefüge“ von Welt- und Selbstverhältnissen ausmacht.35 Zum andern vermag Waldenfels’ Konzeption über den wichtigen Hinweis auf die Responsivität dieses Geschehens hinaus nicht genauer zu klären, wie in Reaktion auf die Beunruhigung durch das Fremde neue Antworten und damit möglicherweise auch neue Ordnungen bzw. neue Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses entstehen. Deutlich wird nur, dass das kreative bzw. innovatorische Potential nicht dem sich bildenden Subjekt selbst innewohnt, sondern in dem Zwischenraum zwischen Subjekt und dem Fremden zu verorten ist. Unklar bleibt bei Waldenfels jedoch, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit in diesem „Zwischen“ Neues entstehen kann, und welche Verlaufsstrukturen dieser Transformations- bzw. Entstehungsprozess aufweist.

5. Analyse eines Beispiels: Jef frey Eugenides’ Roman Die Selbstmord- Schwestern Statt diesen offenen Fragen nun weiter nachzugehen und zu diskutieren, welche anderen Theorien hier weiterführen könnten, sollen die theoretischen Überlegungen abschließend mit einem Beispiel konfrontiert werden, um so zu skizzieren, dass diese Überlegungen prinzipiell auch anschlussfähig an empirische Fragestellungen sind. Als Beispiel habe ich allerdings kein empirisches Dokument ausgewählt, sondern einen literarischen Text, nämlich Jeffrey Eugenides’ 1993 erschienenen Roman Die 34 | Vgl. dazu auch Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994. 35 | Vgl. Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt a. M. 1987, 137.

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Selbstmord-Schwestern. 36 Dieser Roman ist im vorliegenden Zusammenhang insofern von Interesse, als Fremdheitserfahrungen nicht nur ein zentrales Element seines plots darstellen, sondern durch die Erzählweise des Textes auch so in Szene gesetzt werden, dass die Lektüre des Romans selbst zu einer Art Fremdheitserfahrung wird, was vielleicht generell als eine Stärke ästhetischer Werke gelten kann und es rechtfertigen mag, hier einen fiktionalen literarischen Text heranzuziehen. Angesichts des begrenzten Raums kann hier nur eine knappe Skizze und keine ausführliche Analyse des Romans geliefert werden. Es sei allerdings betont, dass diese Skizze nicht nur als Illustration der vorangegangenen theoretischen Überlegungen zu verstehen ist, die ein literarisches Gebilde der begrifflichen Ordnung einer Theorie unterwerfen würde. Der folgende Versuch gilt vielmehr dem Ziel, die bisherigen theoretischen Erwägungen an diesem Beispiel gewissermaßen auf die Probe zu stellen, was die Bereitschaft einschließt, sich durch dessen potentielle Fremdheit im Sinne von Waldenfels beunruhigen und irritieren zu lassen. Der Roman erzählt die Geschichte der Selbstmorde von fünf Schwestern im Alter von 13 bis 17 Jahren, die sich alle fünf innerhalb von zwölf Monaten das Leben nehmen. Erzählt wird diese Geschichte von einem anonymen „Wir“, hinter dem sich eine Gruppe von damals gleichaltrigen Jungen verbirgt, die die Selbstmorde miterlebt haben und das Geschehen nun Jahre später mit Hilfe eigener Erinnerungen, verschiedener Dokumente sowie der Befragung von Eltern, Lehrern, Nachbarn und anderen Zeugen zu rekonstruieren versuchen. Die äußeren Ereignisse der Handlung, die ungefähr in den 1970er Jahren spielt, sind schnell erzählt. Die fünf Mädchen der Familie Lisbon wachsen in einem MittelschichtVorort einer nicht näher benannten US-amerikanischen Stadt auf und beflügeln durch ihre Schönheit – und weil das strenge Regiment ihrer katholischen Mutter den Kontakt zu ihnen erschwert – die Phantasie der Nachbarsjungen. Die Geschichte beginnt mit dem Selbstmordversuch Cecilias, der jüngsten der Schwestern, die sich die Pulsadern aufschneidet, aber zunächst gerettet werden kann. Auf den Rat eines Psychologen lockern die Eltern danach die Zügel und veranstalten eine Party, zu der auch einige Jungen eingeladen sind. Während dieser Party stiehlt sich Cecilia davon und unternimmt einen zweiten, diesmal erfolgreichen Selbstmordversuch, indem sie sich aus dem oberen Stockwerk des Hauses in einen Zaunpfahl stürzt. Nun beginnen sowohl die Eltern als auch die vier verbliebenen Schwestern sich von der Außenwelt zurückzuziehen, während ihre Umgebung mit hilflosen Versuchen der Anteilnahme und Spekulationen über die Gründe des Suizids reagiert. Als die Mädchen 36 | Jeffrey Eugenides, Die Selbstmord-Schwestern, übersetzt von Mechthild Sand-

berg-Ciletti, durchgesehen von Eike Schönfeld, Reinbek 2004.

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sich wieder einigermaßen gefangen zu haben scheinen, kann einer der Jungen ihrem Vater, einem Mathematiklehrer, die Erlaubnis entlocken, die vier Mädchen jeweils in Begleitung eines Jungen zum Schulfest gehen zu lassen. Nachdem Lux, die zweitjüngste, bei diesem Fest ihr erstes Liebesabenteuer erlebt und zu spät nach Hause kommt, verhängt die Mutter ein totales Ausgehverbot und schottet ihre Töchter völlig von der Außenwelt ab. Als die Nachbarsjungen bereits anfangen, die Mädchen zu vergessen, nehmen diese selbst durch Briefe und Lichtsignale Kontakt zu den Jungen auf und beginnen eine Kommunikation per Telefon, bei der man sich gegenseitig anspielungsreiche Songs vorspielt. Als ein Brief die Jungen auffordert, in der nächsten Nacht auf ein Zeichen zu warten, malen sich die Jungen eine gemeinsame Flucht aus und begeben sich um Mitternacht zum Haus der Lisbons. Dort werden sie von Lux empfangen und hingehalten, bis sich schließlich herausstellt, dass alle vier Mädchen sich umgebracht haben. Nur Mary, die zweitälteste, überlebt, aber vollendet ihre Absicht wenige Wochen später mit Schlaftabletten. Was den Roman in unserem Zusammenhang interessant macht, ist nun, dass darin auf höchst eindringliche Weise Fremdheitserfahrungen beschrieben werden, und zwar auf mehreren, miteinander verwobenen Ebenen. So erscheint die Fremdheit der Mädchen aus der Perspektive der Eltern zunächst als Fremdheit der Generationendifferenz. Von Mr. Lisbon, dem Vater, heißt es einmal, er habe das Gefühl gehabt, „dass Kinder nur Fremde sind, mit denen zusammenzuleben man eingewilligt hat“, 37 und die Mutter sagt bei einer späteren Befragung durch die Erzähler, die meinen, „dass sie als Mutter der Mädchen besser als jeder andere verstand, warum sie sich umgebracht hatten“: „Das ist ja das Beängstigende. Ich verstehe es nicht. Wenn sie einmal aus einem heraus sind, die Kinder, dann sind sie anders.“38 Eine zweite Ebene der Fremdheitserfahrung, die in dem Roman eine wichtige Rolle spielt, ist die Fremdheit des anderen Geschlechts, die sich vor allem den etwa gleichaltrigen Jungen zeigt und zugleich entzieht. Verstärkt durch die Abschottung der Mädchen entwickeln sie „Badezimmerphantasien“39 und malen sich intime körperliche Vorgänge und Handlungen der Mädchen aus. Nach dem Selbstmord Cecilias kommen sie auf Umwegen in den Besitz von deren Tagebuch. Doch obwohl auf diese Weise ihr Wissen über die Mädchen mit „perverser Beharrlichkeit“ wächst,40 bleiben diese ihnen doch fremd und unergründlich: „Wir wussten, dass die Mädchen unsere Zwillinge waren, dass wir alle

37 38 39 40

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Eugenides 2004, 62. Ebd., 144f. Ebd., 27. Ebd., 42.

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wie Geschöpfe mit der gleichen Haut im Raum existierten, und dass sie alles über uns wussten, während wir sie nicht ergründen konnten.“41 An einigen wenigen Stellen mischt sich in solche Beschreibungen der Fremdheit des anderen Geschlechts auch die Darstellung der Fremdheit des Sexus. So etwa, wenn Trip Fontaine, der Junge, der sich in Lux verliebt hat und mit ihr zum Schulfest gehen darf, nach einem langweiligen Abend im Wohnzimmer der Lisbons bereits vor dem Haus in seinem Auto sitzt und plötzlich von Lux im Flanellnachthemd wie von einem „ausgehungerte[n] Tier“ überfallen wird, und es danach heißt: „Obwohl dieser Blitzangriff nur drei Minuten gedauert hatte, hinterließ er tiefe Spuren. Trip Fontaine sprach von ihm wie von einem religiösen Erlebnis, einer Heimsuchung oder Vision, einem Einbruch des Jenseits in dieses Leben, der mit Worten nicht zu beschreiben war.“42 Die Selbstmorde der Mädchen bringen schließlich noch eine weitere Ebene der Fremdheitserfahrung ins Spiel, nämlich die Erfahrung der Fremdheit des Todes, der den Jungen bisher nur aus Erzählungen der Eltern bekannt ist: „In unserer Gemeinde hatte es noch nie eine Beerdigung gegeben, jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten. Gestorben worden war vor allem im Zweiten Weltkrieg, als es uns noch gar nicht gab und unsere Väter unglaublich magere junge Männer auf Schwarzweißfotografien waren [...].“43 Der Tod, der – wie diese Stelle andeutet – den Heranwachsenden bisher verborgen blieb und nur als Erzählstoff aus einer anderen Zeit an ihr Dasein rührt, dringt durch den Selbstmord Cecilias nun plötzlich mit einer Gewalt in ihr Leben ein, die dessen Ordnung gründlich erschüttert. Diese Erschütterung rührt nicht nur daher, dass der Tod als solcher sich der Ordnung des Alltagslebens der Vorstadt entzieht, sondern auch und vor allem daher, dass es sich dabei um einen Selbstmord handelt, was die Erfahrung der Fremdheit des Todes noch einmal zusätzlich steigert. Die Dramatik dieser Fremdheitserfahrung inszeniert der Roman in der Schilderung der Party im Hobbykeller der Lisbons, deren Wohlgeordnetheit in scharfem Kontrast zu der Erscheinung Cecilias steht, die mit überdimensionierten Armspangen (die die Narben ihres ersten Selbstmordversuchs verdecken sollen) „die ganze Zeit über [...] nur auf ihrem Hocker“ sitzt.44 In die Ordnung dieser von den Eltern sorgsam überwachten „Party unter Aufsicht“45 bricht Cecilias zweiter und diesmal erfolgreicher Suizid mit verheerender Macht ein. Nachdem die Mutter mit den Worten „Gut, dann geh nach oben. Dann amüsieren wir uns 41 42 43 44 45

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Ebd., 46. Ebd., 88f. Ebd., 38. Ebd., 31. Ebd., 30.

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eben ohne dich“ Cecilia gestattet hat, die Party zu verlassen, heißt es: „Als Cecilia die Erlaubnis hatte, ging sie sofort zur Treppe. Sie hielt das Gesicht zum Boden gesenkt, glitt dahin in tiefer Entrücktheit, ihre Sonnenblumenaugen auf das Dilemma ihres Lebens gerichtet, das wir nie verstehen würden. Sie stieg die Treppe hinauf, schloss die Tür hinter sich und ging durch den Flur. Wir konnten ihre Schritte über uns hören. Auf halber Treppe zum ersten Stock machten ihre Füße kein Geräusch mehr, aber nur dreißig Sekunden später hörten wir das satte Klatschen, mit dem ihr Körper auf den Zaun aufschlug, der sich am Haus entlangzog.“46 Für die geschilderten Fremdheitserfahrungen und ganz besonders die letzte gilt, dass sie jeweils auf ein aktives Verhalten der Mädchen zurückgehen, das von den Jungen als Einbruch in die Ordnung ihres Alltagslebens erfahren wird und sich zugleich ihrem Verständnis entzieht. Ihre Versuche, das rätselhafte Verhalten der Mädchen zu erklären, scheitern ebenso wie die der Erwachsenen (dazu später mehr). Was nun die Reaktionen der Umgebung auf diese Fremdheitserfahrungen betrifft, so findet sich die erste der von Waldenfels beschriebenen Reaktionsformen, die das Fremde als Feindliches betrachtet und ausgrenzt, vor allem bei Mrs. Lisbon, der Mutter – besonders deutlich etwa in der Szene, in der sie – nach Lux’ verspäteter Rückkehr vom Schulfest – ihrer Tochter befiehlt, sämtliche Rockmusik-Schallplatten zu verbrennen.47 Auf halbem Wege zwischen solcher Ausgrenzung und dem, was Waldenfels als „Aneigung“ bezeichnet, also dem Versuch, das Fremde in die geltende Ordnung zu integrieren, liegen die verschiedenen Versuche der Erwachsenen, nach dem Selbstmord Cecilias irgendwie zur Tagesordnung zurückzukehren bzw. die verletzte Ordnung wiederherzustellen. Das gilt für Mr. Lisbon, der Beileidsbesucher nach Cecilias Tod vor dem Fernseher empfängt und in Gespräche über Baseball verwickelt,48 ebenso wie für die Nachbarn, die in einer aufwändigen Gemeinschaftsaktion den Zaun abreißen, in den das Mädchen sich gestürzt hat,49 und für die Lehrer der Schule, die einige Zeit später einen „Tag der Trauer“ veranstalten, an dessen Aktivitäten sich die Schwestern allerdings nicht beteiligen, so dass schließlich „das ganze Heilen von denen erledigt wurde, die gar keine Verletzungen hatten“.50 Während sich in diesen Reaktionen das zu vermischen scheint, was Waldenfels als „Ausgrenzung“ bzw. als „Aneignung“ bezeichnet, lassen sich andere Reaktionen eindeutiger als „Aneignung“ im Sinne von Waldenfels interpretieren. Das gilt vor allem für die viele Seiten des Romans 46 47 48 49 50

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Eugenides 2004, 32. Ebd., 145f. Ebd., 52. Ebd., 56ff. Ebd., 108.

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füllenden Versuche der Jungen und anderer Romanfiguren, Erklärungen zu finden, die das Verhalten der Mädchen irgendwie begreifbar machen könnten. Solche Theorien, die das beunruhigende Geschehen jeweils unter die Kategorien der eigenen Ordnung zu subsumieren versuchen, reichen von simpleren Varianten wie der Erklärung von Cecilias Selbstmordversuch durch ihre unglückliche Liebe zu einem Jungen oder der pauschalen These, die Eltern seien an allem schuld, bis zu Theorien wie denen des Psychologen Dr. Hornicker, der Cecilias Suizid als „Akt der Aggression [...], ausgelöst durch die Unterdrückung adoleszenter libidinöser Triebe“51 deutet und die späteren Selbstmorde der Schwestern auf ein „posttraumatisches Stresssyndrom“ zurückführt,52 um solche Deutungen schließlich zugunsten einer medizinisch-chemischen Erklärung zu verwerfen, die den Mädchen einen Mangel an dem Neurotransmitter Serotonin bescheinigt. Das Ende dieser Reihe bilden journalistische Theorien in Zeitungsartikeln, die den besonderen Druck und die Komplexität der Adoleszenz in der heutigen Gesellschaft bemühen oder den gleichzeitigen Selbstmord der vier Schwestern als ein „esoterisches Ritual der Selbstopferung“ deuten, das von den Mädchen „in Übereinstimmung mit einem nicht näher bestimmten astrologischen Ereignis“ geplant worden sei, 53 um nur einige der im Roman dargestellten Varianten zu nennen. Entscheidend dabei ist, dass all diese Theorien nicht nur breit referiert, sondern jeweils auch in ihrem Scheitern vorgeführt werden. So kommt in Cecilias Tagebuch, das nach ihrem Tod gefunden wird, der Junge, in den sie angeblich so heftig verliebt war, nur ein einziges Mal vor. Die psychologischen Erklärungen werden von Dr. Hornicker selber zurückgenommen, während seine neurobiologische Erklärung dadurch widerlegt wird, dass Mary, die einzige, die den gemeinsamen Selbstmordversuch der vier Schwestern zunächst überlebt, auch durch die medikamentöse Erhöhung ihres Serotoninspiegels nicht daran gehindert werden kann, sich einige Wochen später doch noch umzubringen. Und keine der journalistischen Deutungen vermag zu erklären, warum die vier Mädchen ihre vermeintlich rituelle Selbstopferung nicht am Jahrestag von Cecilias Suizid, sondern an dem ihres ersten Selbstmordversuchs vornehmen. Die Strategie der Aneignung des Fremden durch dessen Integration in geltende Ordnungen des Denkens scheitert auf der ganzen Linie. Ein einziges Mal dagegen kommt es im Roman zu einer Situation, die man im Sinne Waldenfels’ als „Antwort auf den Anspruch des Fremden“ deuten könnte. Als die Mädchen aus ihrem „Hochsicherheitsgefängnis“54 durch Lichtzeichen und Briefchen Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen 51 52 53 54

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Ebd., 24. Ebd., 158. Ebd., 224. Ebd., 143.

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versuchen, zerbrechen sich die Jungen den Kopf, wie sie darauf antworten könnten, und kommen schließlich auf die Lösung, die Mädchen anzurufen und ihnen ein Lied vorzuspielen, das ihnen „unsere Gefühle am genauesten übermittelte“.55 Nachdem die Mädchen darauf ihrerseits mit dem Abspielen eines anderen Songs reagieren, kommt es zu einem regelrechten musikalischen Dialog, in dem die Jungen z. B. auf das von den Mädchen gespielte Alone Again Naturally von Gilbert O’Sullivan mit You’ve Got a Friend von James Taylor antworten.56 Doch was sich zunächst wie eine „kreative Antwort“ im Sinne Waldenfels’ ausnehmen könnte, erweist sich in der Nacht des gemeinsamen Selbstmords der vier Schwestern schließlich als hoffnungsloses Missverständnis, als die Jungen ein weiteres Briefchen der Mädchen als Aufforderung zur Fluchthilfe deuten, das sich am Ende jedoch als Ankündigung ihres Suizids herausstellt. So bleibt dem anonymen Erzähler-„Wir“ am Ende nur die resignative Einsicht: „Wir hatten sie nie gekannt. Sie hatten uns hierher [ins Haus der Lisbons] kommen lassen, damit wir das erkennen konnten.“57 Und der letzte Satz des Romans lautet: Am Ende spielte es keine Rolle, wie alt sie gewesen oder dass sie Mädchen waren, von Bedeutung war einzig, dass wir sie geliebt hatten und sie uns nicht hatten rufen hören, uns auch jetzt nicht hören, wenn wir mit unseren schütteren Haaren, unseren schlaffen Bäuchen sie [...] aus jenen Räumen zurückrufen, in die sie davongegangen sind, um für alle Zeiten allein zu sein, allein im Selbstmord, der tiefer ist als der Tod und in dem wir niemals die Stücke finden werden, sie wieder zusammenzufügen.58

Dieser Schluss verweist durch die Erwähnung der älter gewordenen Erzähler darauf, dass es neben der Handlung des Romans eine zweite Ebene gibt, die als Reaktion auf die Erfahrung des Fremden verstanden werden kann, nämlich den Erzählvorgang selbst. Kann nicht auch die ganze Erzählung mit ihren vielen Details, dem Sammeln und Auflisten von „Beweisstücken“, den zahllosen Namen und den Äußerungen von Nachbarn, Lehrern, Schulkameraden und anderen Zeugen als ein einziger groß angelegter Versuch gelten, die irritierenden Ereignisse „in Ordnung“ oder „auf die Reihe“ zu bringen – in eine chronologische Ordnung zunächst, was allein schon schwer genug ist, aber auch in eine Ordnung des Verstehens? Das Erzählen bzw. das Schreiben des Romans erscheint so selbst als Versuch der „Aneignung“ im Sinne von Waldenfels, als Versuch, mit erzählerischen Mitteln die Ordnung des Lebens wiederherzustellen, in 55 56 57 58

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Eugenides 2004, 197. Ebd., 198. Ebd., 217. Ebd., 251.

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welche die Selbstmorde der Mädchen so fremd und verstörend eingebrochen sind. Zu diesem Versuch gehören die detaillierten Beschreibungen der „Beweisstücke“ von Fotos über Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände der Mädchen bis hin zu ärztlichen Dokumenten ebenso wie die ausufernden Schilderungen der Begleitumstände des Geschehens, die dem Leser von Baseball über Totengräberstreiks bis hin zur Rassenproblematik die Normalität und die Absonderlichkeit des amerikanischen Alltags vor Augen führen. All dies dient freilich letzten Endes zu nichts anderem als dazu, die Fremdheit und Unerklärlichkeit der Selbstmorde umso deutlicher in Erscheinung treten zu lassen. Auf diese Weise führt der Roman (sofern er zu Recht als Versuch der Aneignung des Fremden verstanden werden kann) auch sein eigenes Scheitern vor, das Scheitern des Versuchs, das Fremde in die Ordnung des Erzählens und des Lebens zu integrieren. Was bedeutet dies nun im Blick auf die Erfahrung des Fremden als Herausforderung für Bildungsprozesse? Der Roman tut uns den Gefallen nicht und führt uns keinen transformatorischen Bildungsprozess vor, weder auf der Ebene der Handlung noch auf der Ebene der Erzählweise – jedenfalls nicht, wenn man darunter einen gelungenen, abgeschlossen Vorgang versteht, der zu einem neuen stabilen Welt- und Selbstverhältnis führen würde. Aber vielleicht bestehen seine Stärke und seine Bedeutung im Blick auf die Bildungsproblematik ja gerade darin, die Fragestellung zu verschieben oder neu zu akzentuieren und die Offenheit von Bildungsprozessen hervorzuheben. Bildung wäre dann das, was uns, den Lesern des Romans, aufgegeben wäre und darin bestünde, eine Antwort auf den Anspruch des Fremden zu finden, die nicht unsere eigene wäre. In diesem Sinne bietet Eugenides’ Roman tatsächlich mehr als nur eine Illustration theoretischer Überlegungen und wird selbst zur Herausforderung für einen Bildungsprozess.

Umgang mit Fremdem und Formen des Gruppenbezugs Zu einer Theorie der universalen Bezogenheiten des Subjekts BORIS ZIZEK

Der Aufsatz betrachtet anhand einer Analyse von Daniel Defoes 1719 erschienenem Roman Robinson Crusoe exemplarisch, inwiefern kulturhistorische Formen des universalen Gruppenbezugs des Subjekts die Grundzüge der Form des Umgangs mit Fremdem vorgeben. In Robinson ist das Subjekt mit frühmoderner Gruppenbezugsform besonders plastisch gestaltet. Die Analyse verfolgt Robinsons fiktive Autobiographie bis zu dem Punkt, an dem er seine unbewusste, gleichwohl handlungswirksame Figur der Bewährung mit einer expliziten Plausibilisierung versieht, die gleichzeitig einen kulturgeschichtlich bedeutsamen Bewährungsmythos1 für das sich verinselnde, moderne Subjekt darstellt. Ausgehend von einer Skizze einer Theorie der universalen Bezogenheiten des Subjekts wird Robinsons Figur der Bewährung anschießend als Antwort auf eine kulturhistorische Form des Gruppenbezugs beleuchtet. Robinsons Form des Umgangs mit Fremdem erklärt sich erst vor dem Hintergrund der frühmodernen Bewährungsfigur des mobilen aber treuen Subjekts. Abschließend werden drei Grundformen des Umgangs mit Fremdem unterschieden, die aus den Formen des Gruppenbezugs zu 1|

Zum Begriff des Bewährungsmythos siehe Ulrich Oevermann, „Ein Modell der Struktur von Religiosität: Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit“, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Biographie und Religion: Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a. M./New York 1995, 27-103.

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resultieren scheinen. Beginnen werde ich mit einer Analyse des Werktitels. The Life and Strange Suprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an uninhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but Himself. With an Account how he was at last as strangely deliver’d by Pyrates. Written by Himself.2

Ein Abenteuer könnte man als das Erleben oder die Auseinandersetzung mit Außeralltäglichem, Unvorhergesehenem, Fremdem bestimmen, bei der der Ausgang ungewiss ist. Auffällig ist die gesonderte Nennung der Abenteuer, insofern die angekündigte autobiographische Darstellung eine Schilderung durchlebter Abenteuer keineswegs ausschließt. Auf diese Weise erscheinen die Abenteuer als äußerlich gebliebene Irritationen oder Hindernisse für die angestrebte Lebensführung, was durch ihre jahrmarktstaugliche Ankündigung unterstrichen wird. Dies gilt zumindest für die Wahrnehmung desjenigen, der den Titel formuliert hat. Er könnte etwa auch von einem fiktiven Herausgeber stammen. Die Seefahrt, Robinsons Wirkungsbereich als mariner, enthält in besonderer Weise die abenteuerlichen Momente des Lebens mit offener Zukunft. Es ist nicht einsehbar, was am Horizont erscheinen wird, ein Wetterwechsel kann wie auch im Gebirge plötzliche Lebensgefahr bedeuten und die dunklen Tiefen des Meeres verweisen sowohl auf die Möglichkeit jähen Scheiterns als auch auf das unbekannte, fremde, eigene Innere. Mit diesen Herausforderungen des Lebens versammelt die Seefahrt mögliche Felder der Bewährung. Der Romantitel informiert weiter, Robinson habe infolge eines Schiffbruchs achtundzwanzig Jahre auf einer unbewohnten Insel gelebt, die angekündigte Schilderung seines Lebens sei autobiographisch. Die Situation der unbewohnten Insel bedeutet zunächst die Zumutung umfassender Selbstversorgung, aber auch fehlender körperlicher Zuwendung und sozialer Anerkennung. Und trotz allem ist es der Bericht eines Mannes, der diese Extremsituation nicht nur kurzzeitig überlebt, sondern sie achtundzwanzig Jahre lang gelebt und damit bewältigt, notwendig zu seinem Alltag gemacht haben muss. Die erste größere, thematische Sequenz des Romans bildet Robinsons Schilderung der Vorgeschichte der Entscheidung für den Antritt der Reise, von der er erst nach dem Tod seiner Eltern zurückkehrt. Robinson hat durch seine vermögenden und angesehenen Eltern gute Ausgangsbedingungen und gleichzeitig in seinem wagemutigen und erfolgreichen Vater eine hohe Bewährungsvorgabe. Einer seiner zwei älteren Brüder wählt etwa die militärische Laufbahn und fällt im Krieg. Es entwickelt sich ein 2|

Daniel Defoe, Robinson Crusoe, London 2003, 1.

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Generationenkonflikt bezüglich Robinsons weiteren Lebensweges. Seine Eltern verweigern ihm die Zustimmung und Unterstützung seines neigungsorientierten Plans, zur See zu fahren. Der auch auf den gefallenen Bruder verweisende Vater argumentiert für eine krisenvermeidende Lebensführung und prophezeit Robinson drohendes Unheil und baldige Muße zur Reue. Mit ungelöster Generationenspannung tritt Robinson dennoch seine Reise an. Für Robinson ist charakteristisch, dass er auch retrospektiv nicht vermag, die eigene Perspektive gegen die der älteren Generation zu behaupten, sondern uneingeschränkt die Deutung seines Vaters übernimmt. Dies mündet in die für Robinsons Lebensbericht dominante Deutungsfigur der Reue: Er habe die besten Ausgangsbedingungen und Bemühungen der älteren Generation aus bloß unglückbringender Schwärmerei undankbar in den Wind geschlagen. Den nächsten größeren thematischen Abschnitt bildet Robinsons Rekonstruktion seiner Erfahrungen auf seinem neigungsorientierten Lebensweg bis zum Stranden auf der Insel. Bald nach dem Auslaufen erlebt er seinen ersten Sturm. Sogleich deutet er diesen kontingenten Widerstand als Gottes gerechte Strafe, die in ihrer Unverhältnismäßigkeit und Zusammenhangslosigkeit mit dem angenommenen Vergehen den Charakter der Sühne aufweist. Die eigenmächtige Entfernung von der Primärgruppe, dieses undankbare Zerreißen des sozialen Bandes scheint Robinson ein latentes Schuldgefühl zu bescheren, das die Auslegung von Krisen als Strafen bewirkt. Gleichzeitig scheint der allgemeine Intentionalismus die Primärgruppe gleichsam mit auf die Reise zu nehmen. Wo die ältere Generation straft, ist man nicht ganz allein in der Fremde. Gleich einem Satelliten-Subjekt bleibt er in der Fremde der älteren Generation in der Reue treu, er ist ein mobiles aber treues Subjekt. Der Kamerad, der Robinson zu der Reise eingeladen hat, schlägt ihm nach diesem Erlebnis mit dem Brauen von Punsch eine an Bord übliche Praktik der Immunisierung gegen beunruhigende Gefühle vor. Die Möglichkeit, nach dem ersten Schiffbruch problemlos zu seinen Eltern heimzukehren, schlägt Robinson aus. Er macht seine, wie er sich ausdrückt, einzige glückliche Reise, die ihn nach Guinea führt. Bei der Wiederholung dieser Fahrt wird das Schiff von Piraten überfallen und Robinson vom Piratenkapitän zum persönlichen Sklaven gemacht. Nach zwei Jahren gelingt ihm die Flucht, auf der er von einem nach Brasilien reisenden Portugiesen gerettet wird. Dort entschließt sich Robinson für das ihm Reichtum verheißende Leben eines Pflanzers. Zu den Herausforderungen dieser Lebensweise gehörte: „I had no body to converse with but now and then this neighbour; no work to be done, but by the labour of my hands; and I used to say, I liv’d just like a man cast away upon some

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desolate island, that had no body there but himself.“3 Bemerkenswert an dieser Schilderung ist, dass Robinson bereits hier seine spätere Inselexistenz lebt. Trotz Bedauerns kehrt er nicht nach England zurück und strebt auch keinen Umgang mit den Einheimischen an. Als verinseltes Subjekt erträgt er im Sinne einer Figur der Bewährung vielmehr ein einsames, auf sich selbst angewiesenes, diszipliniertes Leben in der Fremde – relativierenden Erfahrungen sich treu verschließend. Nach vier Jahren wird er Warenaufseher bei einem Sklavenhandel. Infolge eines Schiffbruchs strandet er auf der unbewohnten Insel. Robinsons Bericht über sein Leben auf der Insel bildet den dritten größeren thematischen Abschnitt. Die Inselexistenz erfordere Initiative, Problemlösen und Reflexion. Das Problem der umfassenden Selbstversorgung wird durch im Schiffswrack befindliche Kulturprodukte jedoch etwas abgemildert, wodurch die Extremsituation wieder ein wenig näher an sein Leben als Pflanzer gerückt und überhaupt erst glaubhaft zu einer alternativen Lebensform entfaltet werden kann. Robinson klagt, ohne Trost und Gefährten zu sein. Interessant in diesem Zusammenhang scheint jedoch die Begegnung mit einer zutraulichen Wildkatze. Robinson widersteht gleichsam dem Reiz des (weiblichen) Gegenübers, kontrolliert seine Affekte, er gibt dem Tier kein zweites Stückchen Zwieback. Robinsons Tagebuch ist ein bilanzierender Bericht zweckrationalen Handelns, eine Protokollierung der sein gesamtes Handeln begleitenden, sich auf alles durch die Inselsituation veraußeralltäglichte Alltägliche erstreckenden Mittel- und Folgen-Reflexion. Robinson vollzieht außerdem schrittweise eine Neubewertung seiner Extremsituation, in der diese in ihrer Außeralltäglichkeit sukzessive veralltäglicht wird. Den Umstand, dass er der einzige Überlebende des Schiffunglücks ist und die relativ guten Lebensbedingungen deutet Robinson nun als Anzeichen dafür, dass er von Gott ausgesucht wurde, der ihn ja auch aus dieser Lage befreien könne. Diese Überlegungen söhnen ihn nach eigenen Angaben mit seiner Situation ein wenig aus, so dass er sein neues Leben einzurichten beginnt, ein erster Schritt hin zur Veralltäglichung. Robinsons Tagebuchführung zensiert, wie er selbst betont, Unerbauliches. Zweifel, unproduktive Affekte finden nur aus distanzierter, verständnisloser Retrospektive Erwähnung. Robinsons Insel ist kein Ort kritischer Auseinandersetzung oder Öffnung für Neues und Fremdes. Differenzerfahrungen sind unerquickliche, auszusondernde, biographische Irritationen. Auf sein Leben hin betrachtet ist der Inselaufenthalt eine Phase der bewussten Durchrationalisierung seiner Lebensweise nach gegebenen Standards. Die reflektierte Tageseinteilung und die lange Perspektive, die ihn zu Land-

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Defoe 2003, 30.

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wirtschaft und Viehzucht veranlassen, rechtfertigen, von methodischer Lebensführung zu sprechen. Die zweite Phase seiner veralltäglichenden Neubewertung der Extremsituation vollzieht sich im Zuge einer heftigen, ihn zu Tode ängstigenden Erkrankung. In einem Traum steigt ein Mann vom Himmel herab, um ihn mit der Begründung zu töten, alle Widerfahrnisse hätten ihn nicht zur Reue gebracht. Gott scheint eine Konstruktion, in der sich der Druck der älteren Generation bindet. Sie ist zwar nicht kritisierbar, eröffnet aber Mobilität. Gottes Hand straft ihn, wie er vermutet, für sein rebellisches Betragen gegen seinen Vater. Bisher sei ihm der Gedanke, die Widerfahrnisse als Strafen Gottes zu lesen, nur selten gekommen, eine Überlegung, deren Konsequenz ist, Ereignisse fortan immer als Anzeichen für Anerkennung oder Strafe zu deuten. Mit Hilfe biblischer Stoffe versieht Robinson seine Lebensweise nun mit einem plausibilisierenden Bewährungsmythos. Da Gott Schöpfer und also auch Lenker von allem ist, sei seine Verinselung Gottes Wille. Er betrachtet sie fortan als eine allzu milde Strafe, aus der er gar nicht mehr bittet, befreit zu werden. Er scheint sich mit seiner Situation zu arrangieren. So dankt er Gott, ihn gelehrt zu haben, in der Einsamkeit auf seine Art glücklicher zu sein als in Freiheit und inmitten aller Freuden der Welt. Gott ersetze ihm durch seine Gegenwart die Entbehrungen und den Mangel an Umgang mit Menschen. Die Gotteskonstruktion erlaubt somit eine von der Primärgruppe entfernte, mobile, verinselte Lebensführung. Der Bewährungsmythos entlastet ihn temporär, die frühere Seelenangst ist ihm genommen. Er schreckt jedoch davor zurück, Gott dafür zu danken, ihn auf die Insel gebracht zu haben. Das hätte seiner Inselexistenz wohl den für seine Figur der Bewährung unentbehrlichen Bußcharakter genommen. Der Bezug zur Welt verändert sich nun auch in der Reflexion. Er bezeichnet die Welt als Ort des Verführerischen, der Begierde. Sie wird auf Distanz gebracht, die Affekte von ihr abgezogen. Er betrachtet sie als etwas ganz Fernes, zu einem Zwischenaufenthalt Herabgesetztes, wovon er nichts mehr erwarte. In ihrer Ablehnung rückt die Welt als ganze in den Blick, eine paradoxe Bewegung. Die Verinselung des Subjekts tritt nun als etwas vom Umstand des Schiffbruchs Unabhängiges hervor. Robinsons Wendung, auf der Insel sei er der Herr, erweckt den Eindruck, als sei mit der Insel gleichsam eine Sphäre des einzelnen Subjekts gemeint, ein persönlicher Wirkungsbereich, mit dessen Beherrschung er sich bescheiden könne und solle. Der Prozess der Verinselung zeigt folgende drei Phasen: Selbstzurücknahme, Begrenzung des eigenen Wirkungsbereichs und seine durchdringende Bearbeitung. Nach einer längeren, missglückten Reise um die Insel hat Robinson die Illusion, die von seinem Papageien geäußerten Rufe „Robinson Crusoe, Robinson Crusoe, Poor Robinson Crusoe, Where are you? Where have you been? How come

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you here?“4 stammten von einem Menschen. Die-se kurze Täuschung gibt Aufschluss über die seiner Bewährungsfigur zugrunde liegende Erlösungsphantasie. Darin sind es die Rufe seiner Eltern, die seine Rückkehr herbeigesehnt haben und voll des Mitleids sind. Der Bezug zur Primärgruppe hat also lediglich eine für eine expandierende Gesellschaft erforderliche, weil Mobilität und treue Aufrechterhaltung von Standards ermöglichende Modifikation erfahren. Zwecks einer theoretischen Verortung der Analyseergebnisse wird nun eine Theorie der Bezogenheiten des Subjekts skizziert. Als zentraler Grundbegriff wird der Begriff der Stimme dem der Haltung oder der Perspektive vorgezogen. Seine Metaphorik erfasst einerseits den Bereich von der rein klanglichen, musikalischen Resonanz des Gegenübers bis hin zur sprachlich differenzierten Stellungnahme. Damit werden auch früheste Sozialisationserfahrungen thematisierbar. Neben der jeder Stellungnahme zugrunde liegenden, Bedeutung generierenden Perspektive erfasst der Begriff der Stimme zudem auch ihren an eine leibliche Positionalität gebundenen, fordernden Charakter. Freud etwa rekonstruiert in Zur Psychopathologie des Alltagslebens Fehlleistungen als Kompromissbildungen konfligierender Stimmen.5 Stimmen erweisen sich als handlungswirksame, leiblich gegebene oder verinnerlichte Stellungnahmen. Das Lebewesen lässt sich mit Plessner als durch das antagonistische Bezogenheitspaar Leibbezug und umfeldförmiger Weltbezug – konstituierte, grenzerhaltende Positionalität bestimmen.6 Da der Leibbezug die einzige beurteilende Instanz ist, könnte man instinktgeleitete Organismen als wesentlich monophon bezeichnen. Die sich im sozialisatorischen Prozess vollziehende Aneignung des in Spannung zum Leibbezug tretenden Gruppenbezugs konstituiert das Subjekt als auf die leibliche Positionalität auffußende Instanz der Spontaneität, die angesichts der entstehenden, wesentlichen Polyphonie menschlichen Lebens eine Entscheidung treffen muss. Neben der sozialen Konstitution des Subjekts und dem für eine kollektive Regel notwendigen Element der „Verpflichtung“7 impliziert der Begriff des Gruppenbezugs den Begriff eines universalen Bewährungsdrangs im Dienste der Bezugsgruppe, der sich aus dem Werk Eriksons als Kernproblem der Ich-Identität herausarbeiten lässt.8 Weiter impliziert der Begriff der Gruppenbezogenheit, dass das Leben der Gruppe der letztgültige Gegenstand der Bewährung ist und die Bezugsgruppe 4| 5| 6| 7| 8|

Defoe 2003, 113 Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt a. M. 1999, 184. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975, 203. Jean Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, Stuttgart 1983, 46. Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1973, 17.

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die letztgültige Anerkennungsinstanz bleibt. Darüber hinaus weist Garz darauf hin, dass „das Individuum selbst Gesellschaft nämlich als jeweils konkrete Gruppe [erfährt]; als Familie, als Vaterland oder – und dann verallgemeinert – auch als Menschheit“.9 Der Gruppenbezug konstituiert den universalen Selbstbezug des Menschen, der als Selbstanwendung der internalisierten Stimmen der Gruppe eröffnet wird. Nach Mead findet im Tierreich Kooperation über Gestenkonversation statt,10 die das Prinzip physiologischer Differenzierung voraussetzt.11 Die Kooperation und mit ihr die Gesellschaftsform transformiert sich durch die Sprache. Kulturgeschichtlich lassen sich mit Riesman zwei weitere Transformationen der Kooperation oder des Modus der Konformitätssicherung erfassen. Riesman betrachtet sie als in spezifischen Sozialisationspraktiken geschaffene Lösungen von Handlungsproblemen, die sozialen Gruppierungen aufgrund demographischen Wandels erwachsen.12 Die Formen des Gruppenbezugs, die nach Riesman aber durchaus auch Ursache des demographischen Wandels seien,13 werden als Niederschlag der kulturspezifischen Ko-operationsformen auf der Seite des Subjekts verstanden. Aufgrund der oben entfalteten Implikationen des Begriffs des Gruppenbezugs und einer an späterer Stelle ausgeführten Kritik am Begriff der Außenlenkung ziehe ich den Begriff des Gruppenbezugs der Lenkungsbegrifflichkeit Riesmans vor. Es lassen sich in Anlehnung an Riesman drei Modifikationen des die übrigen Bezogenheiten dominierenden, universalen Gruppenbezugs unterscheiden. Mit Piagets Arbeit über das moralische Urteil beim Kinde lässt sich die Analyse um eine stufentheoretische Perspektive erweitern, die etwa gegen Riesmans Überzeugung spricht, die Lenkungstypen seien historisch universal,14 nur kulturspezifisch gewichtet. Die Formen des Gruppenbezugs liegen nicht immer schon verfügbar gleichsam horizontal nebeneinander, sondern stellen stufenförmig aufeinander aufbauende, qualitativ unterscheidbare Kompetenzen dar. Universal ist lediglich das Potential ihrer Ausbildung. Der Gruppenbezug vormoderner „Primärgruppengesellschaften“15 erweist sich als idealisiert, die Primärgruppe wird als Anerkennungsinstanz fixiert. „Die Alten besitzen Autorität gegenüber allen jüngeren Altersgruppen; aber weit davon entfernt, freier zu sein als die Jungen, 9| 10 | 11 12 13 14 15

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Detlef Garz, Sozialpsychologische Entwicklungstheorien: Von Mead, Piaget und Kohlberg bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2006, 58. George Herbert Mead, Mind, Self, & Society From the Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago/London 1967, 55. Ebd., 244. David Riesman, The Lonely Crowd, New York 1989, 7. Ebd. Ebd., 30. Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas: Eine historische Kulturanthropologie, München 2006, 268.

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sind sie selbst dem Willen der Geister, ihrer Vorfahren und den damit verknüpften Traditionen zu Diensten.“16 Die Form der Kooperation in Gesellschaften mit hohem Wachstumspotential ist die gemeinsame Orientierung an der Tradition.17 Die Vorschriften erstrecken sich auf die anzuwendenden Mittel.18 Es wird kaum Energie in das Finden neuer Lösungen für uralte Probleme investiert.19 Differenzen werden etwa durch Rollen für Deviante20 absorbiert. Da die Anerkennungsinstanz singulär und in einer „face-to-facesociety“ im täglichen Umgang miteinander gegeben ist,21 keine bewusste Auseinandersetzung mit Lebenszielen gefordert ist22 und das Individuum „in einer wohl definierten funktionalen Beziehung zu den anderen Mitgliedern der Gruppe steht“, 23 scheint der universale Bewährungsdrang undynamisch und kein umtreibendes Problem. Mit Piaget lässt sich der idealisierte Gruppenbezug stufentheoretisch als defizitär betrachten. Piaget spricht etwa von einer relativen Präsozialität.24 „Der mystischen Achtung vor den Gesetzen“ entspricht „eine noch rudimentäre Kenntnis und Anwendung ihres Inhalts“.25 Die kollektive Regel ist noch „außerhalb des Individuums […] und folglich heilig“.26 Die Aufmerksamkeit der Gruppe richtet sich dementsprechend auch nur auf die beobachtbare, äußere Verhaltenskonformität. 27 Entsprechend ist die Sanktionsform die Furcht vor Schande.28 Anders als Schuld setzt Scham die Anwesenheit anderer voraus. Der Gruppenbezug der expandierenden Gesellschaft, den Robinson Crusoe aufweist, ist ein internalisierter. Im Westen kommt es im siebzehnten Jahrhundert zu einem Ungleichgewicht von Geburten- und Sterbeziffer, das Druck auf die vormodernen Routinen ausübt. Das soziale Bedürfnis nach Subjekten entsteht, „who can manage to live socially without strict and self-evident tradition-direction“29 und die zu erhöhter Mobilität in der Lage sind.30 Der Einfluss der Primärgruppe lockert sich. 16 | Jean Piaget, „Die moralische Entwicklung von Jugendlichen in primitiven und 17 18 19 20 21 22 23

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24 25 26 27 28 29 30

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,modernen‘ Gesellschaften“, in: Hans Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt a. M. 1986, 118. Riesman 1989, 8. Ebd., 15. Ebd., 11. Ebd., 12. Reinhard 2006, 268. Riesman 1989, 11. Ders., Die einsame Masse: Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Darmstadt/Berlin-Frohnau/Neuwied a. Rhein 1956, 41 Piaget 1983, 115. Ebd., 40. Ebd. Riesman 1989, 15. Ebd., 24. Ebd., 14. Ebd.

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Das Subjekt besitzt ein höheres Maß an Flexibilität, um sich an sich verändernde Gegebenheiten anzupassen.31 Die Form der Kooperation ist die gemeinsame Orientierung an einem Schema früh verinnerlichter, lebenslanger Ziele,32 die nun verallgemeinert sind und eine relative Öffnung der Mittelwahl ermöglichen. „The inner-directed person becomes capable of maintaining a delicate balance between the demands upon him of his goal in life and the buffetings of his external environment“.33 Das Freudsche Modell der psychischen Persönlichkeit mit den Begriffen „Über-Ich“, „Ich“ und „Es“ erfasse nach Riesman vor allem einen kulturspezifischen Lenkungstyp, den ich hier mit dem Begriff des internalisierten Gruppenbezugs wiedergebe. Seine Applikation auf andere Gesellschaften sei hingegen weniger fruchtbar.34 Mit Piaget ist der internalisierte Gruppenbezug als eine „rationale Erweiterung“35 zu begreifen. In ihm wird „die Regel obligatorisch“, sie wird „unabhängig von den Sanktionen, d. h. von der Kontrolle durch denjenigen, von dem sie ausgeht“.36 Piaget spricht von einem „Zwischenstadium“, einem „Stadium der Verinnerlichung und Verallgemeinerung der Regeln und Weisungen“.37 „Das Kind gehorcht nicht mehr lediglich den Befehlen der Erwachsenen, sondern der Regel selbst, welche verallgemeinert und in selbstständiger Weise angewendet wird.“38 Doch ist die „Entwicklung in der Richtung der Autonomie des Gewissens […] erst zur Hälfte verwirklicht: es besteht immer noch eine Regel, die sich von außen aufzwingt, ohne als ein notwendiges Ergebnis des Bewusstseins selbst zu erscheinen“.39 Im Zuge der relativen Öffnung der Mittelwahl, der Erfahrung konkurrierender Traditionen40 und des Fehlens des Feedbacks ob des gewählten Weges aufgrund der Verjenseitigung der Anerkennungsinstanz etwa in Form des persönlichen Gottes scheint der universale Bewährungsdrang eine umtreibende Dynamisierung zu erfahren. Die Inselsituation bringt diese Absenz entlastender Anerkennung zum Ausdruck. Die dritte moderne Form des Gruppenbezugs ist dynamisch. Baudelaires geschichtliche Theorie der Schönheit41 scheint mir diese Dynamisierung 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

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Ebd., 16. Ebd., 8. Ebd., 16. Ebd., 44. Piaget 1983, 207. Ebd. Ebd., 237. Ebd., 238. Ebd. Riesman 1989, 16. Charles Baudelaire, „ Der Maler des modernen Lebens“, in: ders., Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 5, München/Wien 1989, 215.

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des Gruppenbezugs besonders anschaulich und zur Zeit ihrer Entfaltung zu erfassen. Baudelaire unterscheidet darin ein ewiges und ein relatives, von den Umständen abhängiges Element des Schönen. Das ewige Element ist als Kern der Schönheit die gelungene Bewältigung des Lebens, das relative die konkrete situationsgebundene Erscheinung dieser Bewältigung. Das Schöne erscheint nun im Grunde immer in situationsgebundener Form. Das Objekt unserer Betrachtung muss also mit Blick auf den Gegenstand betrachtet werden, mit dem es gerungen hat und dessen Bewältigung gemäß es sich zeigen könnte. So spricht Baudelaire auch von einer „beruflichen Schönheit“.42 Jeder Beruf „empfängt seine äußere Schönheit aus den moralischen Gesetzen, denen er unterworfen ist. Bei einigen wird diese Schönheit ein Ausdruck der Kraft sein, und bei anderen wird sie die sichtbaren Merkmale des Müßiggangs aufweisen“.43 Baudelaire beklagt nun: „es gibt in der Welt, und sogar in der Welt der Künstler, Leute, die in das Museum des Louvre gehen, dort an einer Menge bemerkenswerter, wenn auch zweitrangiger Werke, rasch und ohne ihnen einen Blick zu gönnen, vorbeilaufen, vor einem Tizian oder Raffael in träumerisches Sinnen versinken, einem jener Bilder, die der Kupferstich überallhin verbreitet hat, und endlich befriedigt davongehen, wobei mehr als einer sich sagt: „,Ich kenne mein Museum‘“.44 „Die Modernität, […] die eine Hälfte der Kunst“,45 das besondere Schöne, das relative Element, das keinem Schönen fehlt, kann sich jedoch als Klassik erweisen. Doch „damit jede Modernität einmal Antike zu werden verdient, muß die geheimnisvolle Schönheit, die das menschliche Leben ihr unwillkürlich verleiht, herausgefiltert worden sein“.46 Baudelaires Ästhetiktheorie impliziert die Forderung, sich dem besonderen Schönen als möglichem Klassischen zu öffnen und sich nicht zeitlebens mit einem bestimmtem Ideal neuen Erfahrungen zu verschließen. Allgemeiner formuliert lautet die Forderung, konkurrierende oder fremde Entwürfe (mit Blick auf ihren Bewältigungsgegenstand) zu würdigen. Insofern die Entwürfe konkurrierender Gruppen und ihrer Kulturen stark gemacht, als potentiell gelungene Bewältigungsformen perzipiert werden sollen, erfährt der Gruppenbezug eine Dynamisierung. Riesman zeigt, dass es die Primärgruppe selbst ist, die vom Sozialisanden fordert, sich dem Urteil konkurrierender Bezugsgruppen zu öffnen.47 Bleiben die gewählten Ziele beim idealisierten Gruppenbezug noch verhältnismäßig unverändert ein

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Baudelaire 1989, 253. Ebd., 239. Ebd., 213. Ebd., 226. Ebd. Riesman 1989, 21.

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Leben lang bestehen,48 so sehen wir hier eine geforderte Irritierbarkeit und Öffnung für konkurrierende Entwürfe. Der dynamische Gruppenbezug setzt mit dem utopischen Idealbezug eine letzte universale Bezogenheit des Menschen im vollen Umfang frei, die zuvor kulturell, aufgrund des Drucks der älteren Generation,49 konkret durch Initiation50 oder ideologische Konstruktionen gebunden wurde. Der utopische Bezug wird gleichursprünglich mit dem Übergang von der Natur zur Kultur durch die Prädikationsfunktion der Sprache als universales Potential51 des Subjekts konstituiert. Mit der Sprache wird neben der Wirklichkeit im Sinne der unmittelbaren Gegenwart eine hypothetische Welt des Möglichen konstituiert. „This double constitution of the reality of life practice is the simple foundation for the universality of utopian thought.“52 Der utopische Bezug erweist sich außerdem als utopischer Idealbezug. Er ist wesentlich kontrafaktisch und orientiert sich an impliziten Idealen. Piaget etwa zeigt, „daß das Kind neben den gemeinsam zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten Gruppe angenommenen Regeln […] eine Art Ideal oder einen nicht in Regeln fassbaren Geist des Spiels in seinem Geist gegenwärtig hat“. 53 Bei Oevermann findet sich der Begriff des „natural sense of justice“, der in der Partizipation an der sozialisatorischen Interaktion erworben wird und als „ultimate ,authority‘ of drawing counter-factual notions of justice“ die „main source of utopian thought“54 darstellt. Auf der Stufe des idealisierten Gruppenbezugs stand das Ideal noch „hinter und nicht vor uns“.55 Garz weist darauf hin, dass Mead „eine ,dritte Form‘ der Rollenübernahme“56 andeute, nämlich jene, die über die jeweils tatsächlich bestehenden Bezugspersonen und Gruppen hinausgeht und alle potenziell existierenden Subjekte umfasst. Diese ,ideale Kommunikation‘ bzw. der ,universelle Diskurs‘ kann nur durch eine Universalisierung der Fähigkeit, ,sich in andere hineinzuversetzen‘, d.h. deren Perspektive zu übernehmen, erreicht werden.57

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Ebd., 15. Piaget 1983, 395. Ebd., 129. Ulrich Oevermann, „Natural Utopianism in Everyday Life Practice - An Elementary Theoretical Model”, in: Jörn Rüsen/Michael Fehr/Thomas W. Rieger (Hg.), Thinking Utopia. Steps into Other Worlds, Oxford/New York 2005, 139. Ebd., 138. Piaget 1983, 92. Oevermann 2005, 142. Piaget 1983, 407. Garz 2006, 45. Ebd., 46.

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Die unauflösbare Spannung, in der der utopische Idealbezug dabei zum Gruppenbezug steht, lässt sich mit einer weiteren Bemerkung Meads, auf die Garz aufmerksam macht,58 verdeutlichen. Stellt sich ein Mensch, um seinen Selbstrespekt zu bewahren, auch gegen die ganze Gesellschaft, dann erfolge „dies im Hinblick auf eine seiner Meinung nach höhere und bessere Gesellschaft als die bereits existierende“. 59 Auch der in seiner Erfahrung einsame Künstler kann sich für eine Weile dem direkten Gruppenbezug entziehen, um sich sachfremder Bindungen zu entledigen. Doch strebt er in der Gestaltung eines (kritischen) Werkes immer schon danach, eine Ausdrucksgestalt zu gewinnen, die letztlich anderen seine Erfahrung zugänglich macht, so dass sie seinen Beitrag zum Leben der Gruppe annehmen und anerkennen können. Die mögliche Bezugnahme auf ein kontrafaktisches Ideal und die mit dem utopischen Bezug eröffnete Möglichkeit des temporären Entzugs vom direkten Gruppenbezug zeigt, dass der dynamische Gruppenbezug mit seiner Forderung der Würdigung alternativer Entwürfe nicht Außenlenkung bedeutet. Die Außenlenkung ist vielmehr das empirisch sicher zahlreiche Scheitern an diesem spannungsgeladenen Problem des modernen Subjekts, sich angesichts einer Pluralisierung der Anerkennungsinstanzen (Polyphonie zweiter Ordnung) und einer durch den utopischen Idealbezug eröffneten Authentizitätsforderung zu entscheiden. Bei Außengelenkten verändern sich einfach die Ziele mit den Bezugsgruppen.60 Autonomie ließe sich im Gegensatz dazu als die Fähigkeit begreifen, alternative Entwürfe stark zu machen, ohne in Außenlenkung zu verfallen. Abschließend soll betrachtet werden, ob sich aus den Bewährungsfeldern, die aus den drei Gruppenbezugsformen resultieren, drei Grundformen des Umgangs mit Fremdem ableiten lassen. In Primärgruppengesellschaften scheint man sich etwa durch Tapferkeit, Schlauheit und insbesondere durch das Bewahren der Tradition zu bewähren.61 Es besteht noch kein soziales Bedürfnis nach einem individuierten Subjekt, das sich mit den Ansichten der älteren Generation (kritisch) auseinander zu setzen vermag. Es wäre nicht nur nicht notwendig, sondern die Kohäsion vormoderner Kleingruppen zersetzend. Der Grundzug des Umgangs mit Fremdem scheint hier in dessen Tilgung zu bestehen. Das Fremde ist immer gleich das Feindliche und muss, ob einverleibend oder vernichtend, beseitigt werden. In expandierenden Gesellschaften muss das Kind lernen, das Elternhaus mit unbekanntem Ziel zu verlassen. Dabei hält es selbstständig an 58 59 60 61

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Garz 2006, 50. Mead 1995, 440. Riesman 1989, 21. Ebd., 40.

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verinnerlichten Idealen fest.62 Man könnte das Subjekt mit internalisiertem Gruppenbezug auch als ein kerniges, mobiles aber treues Subjekt bestimmen. Seine typischen Bewährungsfelder kommen etwa in den Fähigkeiten zum Ausdruck „to go it alone“, 63 „remain stable“64 und „could be ,at home abroad‘“.65 In Robinson sind diese Bewährungsfelder besonders plastisch gestaltet. Genannte Leistungen vermag das Subjekt „by virtue of his relative insensitivity to others“66 zu vollbringen. Der Grundzug des Umgangs mit Fremdem, den das mit anderen Kulturen in Kontakt kommende Subjekt mit internalisiertem Gruppenbezug aufweist, scheint also in einer Immunisierung gegenüber konkurrierenden Entwürfen zu bestehen. Das Fremde ist eine „Befremdlichkeit […], die als ein Hindernis einer zweckgerichteten Tätigkeit überwunden werden muß wie das beim Kaufmann, dem Missionar oder dem Krieger und Eroberer bzw. deren jeweiligen Gegenüber der Fall ist“.67 Eine dritte Grundform des Umgangs mit Fremdem zeichnet sich durch Öffnung für das Fremde aus. Ihre Genese lässt sich mit Oevermann in der Romantik verorten, die „sich für alle Erscheinungen des Fremden brennend interessierte […], die dessen Eigenart respektiert und zu erhalten trachtet, ja mit ihm sich innerlich zu verbünden sucht, um zugleich Distanz zum Eigenen zu gewinnen“.68 Wie oben gezeigt wurde, liegt diese Form des Umgangs mit Fremdem Baudelaires geschichtlicher Theorie des Schönen als implizite Forderung zugrunde.

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Ebd., 41. Ebd., 25. Ebd., 24. Ebd., 25. Ebd. Ulrich Oevermann, „Das Verstehen des Fremden als Scheideweg hermeneutischer Methoden in den Erfahrungswissenschaften“, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, 1 (2001), 71. 68 | Ebd., 72.

Beschränkt und selbst sich fremd Psychoanalytische Voraussetzungen von Differenzer fahrung und Fremdverstehen CHRISTINE KIRCHHOFF

Fremd wie das eigene Unbewusste sind die anderen Kulturen und das Geschlecht. (Mario Erdheim)1

Denkt man an Vertrautes und Fremdes, an Differenzerfahrung und Fremdverstehen, denkt man sicherlich zunächst an Verhältnisse in der äußeren Welt. Im folgenden Beitrag werden diese Begriffe aufgenommen, um sie aus einer vorwiegend psychoanalytischen Perspektive auf ihre innerpsychischen Voraussetzungen hin zu befragen. Gezeigt werden soll, dass der Umgang mit dem Fremden genau wie der Umgang mit Differenzen allgemein innerpsychische Voraussetzungen hat, deren Verständnis einen wichtigen Beitrag bezüglich des Überganges von der Differenzerfahrung zum Fremdverstehen leistet. In dieser Hinsicht werde ich mich zunächst mit der Konstitution und der psychischen Repräsentation von Differenz beschäftigen. Gewählt habe ich dazu die auf Freud zurückgehenden Konzepte der Ödipus- und des Kastrationskomplexes, die ich in einer kurzen Relektüre vorstellen werde. Ich lese sie als Konzeptionen, mit denen sich denken lässt, wie das Subjekt am eigenen Körper die Differenz als Geschlechterdifferenz erfährt. Zugleich zeigt sich an der Widersprüchlichkeit und offensichtlichen Ungereimtheit der genannten Freudschen Konzeptionen auf un1|

Mario Erdheim, „Psychoanalyse für Gesunde“, in: Hans-Jürgen Heinrichs (Hg.), Das Fremde verstehen, Frankfurt a. M. 1982.

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freiwillige Weise, wie schwierig es zu sein scheint, Differenz zu denken und zu erleben, ohne das andere als Abweichendes und Fremdes zu idealisieren oder zu entwerten. Eine zweite Annäherung an das Fremde von der Psychoanalyse geschieht entlang der mit der Annahme eines Unbewussten einhergehenden inneren Fremdheit. Freud sprach bekanntlich davon, dass das Ich „nicht einmal Herr ist im eigenen Haus“.2 Es zeigt sich, dass die Akzeptanz der eigenen Fremdheit, die Aufgabe des Versuches, sich selbst komplett verstehen zu wollen, sich als eine Voraussetzung dafür herausstellt, dem äußeren Fremden mit Interesse zu begegnen. Der Ödipuskomplex ist von Reiche mit einer treffenden Formulierung als „Verdichtungs- und Kulminationspunkt der infantilen Entwicklung“3 bezeichnet worden. Was sich dort verdichtet, ist, wie zu zeigen sein wird, die Erfahrung des Anders-Seins und die Erfahrung der Unvollkommenheit, der eigenen wie der der anderen. Das von Freud geschilderte Ineinandergreifen von Ödipus- und Kastrationskomplex ist dabei nicht als eine entwicklungspsychologisch zu verstehende Phase zu lesen sondern als ein Versuch, die Konstitution von Differenz für das Subjekt zu denken, ohne diese und deren psychische Repräsentanz als angeboren vorauszusetzen. Ödipus- und Kastrationskomplex erzählen, wie sich nachträglich als Folge aller Konfrontationen mit der Differenz die Entdeckung des einen Unterschiedes, nämlich die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschiedes, auftritt. Dabei zeigt sich, dass sich als von anderen unterschieden zu begreifen, ohne diese Differenz zu hierarchisieren und zu bewerten und damit (in der Regel) den anderen zu entwerten, auch bedeutet, nie in dem Bemühen nachzulassen, die eigene Beschränktheit zu akzeptieren. Dies klingt einfach, ist es aber nicht. Die Beschäftigung mit dem Ödipus- und Kastrationskomplex ist auch deswegen lohnend, da, wie schon oben angedeutet, sich von diesem Freudschen Entwurf gerade wegen seiner Widersprüchlichkeit einiges über die Schwierigkeiten im Umgang mit der Differenz lernen lässt: Schon bei Freud zeigt sich, wie schnell aus einem Unterschied ein Gegensatz starrer Stereotype wird, von denen einer das Großartige und der andere das Minderwertige repräsentiert.

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Sigmund Freud, „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, in: ders., Gesammelte Werke XI, 295 (1916-17a). Reimut Reiche, „Einleitung zu den ‚Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‘“, in: Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a. M. 1991, 18.

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Der Ödipuskomplex wird üblicherweise mit der so einfachen wie bekannten Form identifiziert, wonach der Junge die Mutter und das Mädchen den Vater liebt, welche Freud allerdings nur bedingt gerecht wird. Freud selbst bezeichnet den „einfachen“ Ödipuskomplex als „Vereinfachung und Schematisierung“,4 was ihn andererseits aber nicht daran hindert, immer wieder genau diese Vereinfachung und Schematisierung zu vollziehen. Ich fasse das Geschehen in Kürze zusammen: Üblicherweise also liebt der Junge die Mutter, das Mädchen den Vater, das jeweilig andere Elternteil wird als Konkurrenz aufgefasst. Beim Jungen führt der Schock der Kastrationsdrohung zur Aufgabe des inzestuösen Objekts, die Identifikation mit der Männlichkeit wird eingeleitet und der Weg wird freigemacht für eine spätere heterosexuelle Objektwahl außerhalb der Familie. Beim Mädchen verläuft der Prozess anders und wesentlich komplizierter: Da es irgendwann angesichts des „großartigen“ Geschlechts eines Jungen seine eigene Kastration, Minderwertigkeit und die aller anderen Frauen erkennt, bleibt ihm nichts, als sich vom Vater ein Kind als Penisersatz zu wünschen, womit es dann die Ödipuseinstellung erreicht hätte, die hier offensichtlich eine sekundäre Bildung darstellt. Der Kastrationskomplex des Jungen beendet somit die ödipale Einstellung, während der des Mädchens diese überhaupt ermöglicht. Das Geschlechterverhältnis wie die Geschlechterdifferenz als auch die allein heterosexuelle Richtung des Begehrens ist hier in altbekannter, gesellschaftlich sanktionierter Form vorausgesetzt. So weit so verkürzt. Interessant ist nun, dass bei Freud auch die Konzeption eines doppelseitigen Ödipuskomplexes zu finden ist, der all die oben vorausgesetzten Klarheiten in Frage stellt. Voraussetzung dafür ist die Annahme einer phallischen Phase, deren eklatante Widersprüchlichkeit sich anhand weniger Textstellen zeigen lässt. So spricht Freud von einem „Primat des Phallus“,5 allerdings nicht ohne vorher festzustellen, dass „für beide Geschlechter nur ein Genitale, das männliche“ eine Rolle spiele.6 An späterer Stelle behauptet er, dass nur ein Genital, das männliche „genauer bezeichnet der Penis“ entdeckt worden sei, das weibliche sei unentdeckt geblieben.7 Bis hierher gibt es keinen Grund, nicht gleich von einem Primat des Penis zu sprechen. Schon 1905, in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie bezeichnet Freud die „Annahme des nämlichen (männlichen) Genitales bei allen Menschen“ als „erste der merkwürdigen und 4| 5| 6| 7|

Sigmund Freud, „Die infantile Genitalorganisation“, in: ders., Gesammelte Werke XIII, Frankfurt a. M., 261 (1923e). Ebd., 295. Ebd., 294f. Ders., „Der Untergang des Ödipuskomplexes“, in: ders., Gesammelte Werke XIII, Frankfurt a. M., 396 (1924d).

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folgenschweren infantilen Sexualtheorien“.8 „Allen Menschen, auch den weiblichen“ werde ein Penis zugesprochen, wie ihn der Knabe vom eigenen Körper her kennt“.9 Die Wertschätzung des Penis spiegle sich logisch in dem Unvermögen, „eine dem Ich ähnliche Persönlichkeit ohne diesen wesentlichen Bestandteil vorzustellen“.10 Gemein haben alle zitierten Passagen, dass Freud zwischen dem Konkretismus der kindlichen Phantasie, der infantilen Sexualtheorie des kleinen Jungen (alle sind so wie ich, haben also einen Penis so wie ich) und der reflexiven Formulierung einer phallischen Phase schwankt, ohne dies zu problematisieren. Sehr spät erst, 1931, ringt sich Freud dazu durch, die „volle Identität“ der präödipalen Phase bei Knaben und Mädchen anzuerkennen,11 wie sie von der Analytikerin Jeanne Lampl-de-Groot vertreten wurde.12 Nun wäre es für ihn an der Zeit gewesen, das Verhältnis von Penis zu Phallus zu klären. Für Freud aber wirft die postulierte Übereinstimmung der phallischen Phase bei Jungen und Mädchen diese Frage nicht auf, zumindest findet sich kein Hinweis darauf in seinen Schriften. Die phallische Phase ist trotz ihrer Bezeichnung für ihn kein Drittes, dessen Status zu diskutieren wäre und auch kein Jenseits einer erst zu etablierenden Differenz, sondern sie bliebt ganz klar männlich bestimmt: „Wir müssen nun anerkennen, das kleine Mädchen sei ein kleiner Mann.“13 Das „Streben nach Männlichkeit“ erklärt Freud als „ichgerecht auch für das Weib“, da die phallische Phase vor der Entwicklung zur Feminität liege.14 An dieser Stelle nun ist einzuhaken: Nimmt man die postulierte Identität der präödipalen Phase bei Mädchen und Jungen ernst, müsste die entsprechende infantile Sexualtheorie folgendermaßen lauten: „alle Menschen sind so wie ich – haben meinen Körper und meine, nämlich die einzig möglichen Genitalien“. Dies wäre dann die einzig sinnvolle Bedeutung von phallisch, schließlich soll diese illusionäre Ganzheit und Großartigkeit ja mit der Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschiedes untergehen, der dann nicht schon vorausgesetzt werden kann. Phallisch sein bedeutete dann eine Vorstellung von Gleichheit, die

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Sigmund Freud, „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in: ders., Gesammelte Werke V, Frankfurt a. M., 96 (1905a). Ders., „Über infantile Sexualtheorien“, in: ders., Gesammelte Werke VII, Frankfurt a. M., 177 (1908a). Ebd. Ders., „Über die weibliche Sexualität“, in: ders., Gesammelte Werke XIV. Frankfurt a. M., 535 (1931b). Ebd. Ders., „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, in: ders., Gesammelte Werke XV, Frankfurt a. M., 125 (1933a). Ders., „Die endliche und die unendliche Analyse“, in: ders., Gesammelte Werke XIV, Frankfurt a. M., 97 (1937c).

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keine Unterschiede kennt. Der Unterschied als solcher ist dieser Konzeption zufolge psychisch noch nicht repräsentiert. Vor dem Hintergrund der Annahme einer phallischen Phase für beide Geschlechter-in-spe wird der „vollständigere Ödipuskomplex“15 plausibel. Bei diesem handle es sich, so Freud, um eine Einstellung, in der das Kind beide Elternteile zum Objekt seines Begehrens mache und dementsprechend eifersüchtig auf den jeweils anderen, den störenden Elternteil sei.16 In anderen Worten: Es geht um einen Dritten, der die exklusive Beziehung zwischen Zweien stört. Der Ödipuskomplex bot dem Kinde [hier dem Knaben – Ch.K.] zwei Möglichkeiten der Befriedigung, eine aktive und eine passive. Es konnte sich in männlicher Weise an die Stelle des Vaters setzen und wie er mit der Mutter verkehren, wobei der Vater bald als Hindernis empfunden wurde, oder es wollte die Mutter ersetzen und sich vom Vater lieben lassen, wobei die Mutter überflüssig wurde. [...] Zum Zweifel am Penis des Weibes war noch kein Anlaß.17

Die Doppelseitigkeit der ödipalen Einstellung ist soweit einleuchtend, da in dieser Logik beide, Mutter wie Vater phallische Objekte des Begehrens darstellen. Diese Szenarien der phantasierten Befriedigungen und der dazugehörigen Eifersucht gegenüber dem jeweils störenden Elternteil werden durch die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschiedes durchkreuzt. Die entdeckte Differenz wird jedoch zunächst geleugnet: Der „Widerspruch zwischen Beobachtung und Vorurteil“ werde durch die Auskunft „es sei noch klein und werde erst wachsen“ beschönigt.18 Erst langsam, so Freud weiter, komme das Kind – dies ist jetzt wieder ein Junge – zu dem „affektiv bedeutsamen Schluss, es sei doch wenigsten vorhanden gewesen und dann weggenommen worden“.19 Der Penismangel werde nun als „Ergebnis der Kastration“20 aufgefasst, der Gegensatz laute „männliches Genitale oder kastriert“. 21 Hier befinden wir uns erneut auf der Ebene der infantilen Sexualtheorien: Über die Erfahrung des Unterschiedes tröstet sich der kleine Junge zunächst mit der Aussicht, das was noch nicht sei, ja noch werden könne und dann damit, dass es zwar dagewesen sei, aber weggenommen worden sei. Beide Antworten gleichen sich darin, dass der Zustand des Gleichseins und damit auch des Vollkommenseins zumindest für die Zukunft oder die Vergangenheit gerettet wird. 15 16 17 18 19 20 21

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Freud 1923e, 263. Ebd. Ders., 1924d, 398. Ders., 1923e, 296. Ebd. Ebd. Ebd., 297.

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Wenn Freud über die Reaktion des Mädchens auf die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschiedes schreibt, dann ist dessen Kastration, der Umstand, dass ihm etwas fehlt, schon vorausgesetzt: Das Mädchen mache nämlich nicht etwa die Entdeckung eines Unterschiedes sondern die „Entdeckung seiner eigenen Minderwertigkeit“.22 Durch den Anblick eines männlichen Genitales erfahre es „seinen eigenen Defekt“ 23 und mit der Einsicht in die „Allgemeinheit dieses negativen Charakters stellt sich eine große Entwertung der Weiblichkeit“ her.24 Was allein ein Unterschied sein könnte, wird sofort als Mangel interpretiert, ein Mangel, der neidisch macht, ohne Hoffnung auf vergangene oder zukünftige Ganzheit: „Sie hat es gesehen, weiß, dass sie es nicht hat, und will es haben.“25 Beiden Darstellungen ist bei aller Unterschiedlichkeit gemein, dass eine Differenz nicht als Differenz sondern in der Logik eines immer schon phallischen Vergleichs26 wahrgenommen wird. Dabei ist eine bemerkenswerte Verschiebung zu konstatieren: Die Theorie der Kastration ist unter der Hand von einer infantilen Sexualtheorie zu einer psychoanalytischen Subjekttheorie, der „Theorie von Hans und Sigmund“27 geworden, wie Laplanche sie, auf die Fallgeschichte des kleinen Hans anspielend,28 nennt. Damit wird der Kastrationskomplex – und das gleiche geschieht mit dem Ödipuskomplex – aus der „Sphäre der infantilen Theorien“ auf die „Stufe eines normierenden und identitätsstiftenden Mechanismus“ gerückt.29 Kastration sei damit, so Löchel, nicht mehr ein kindlicher Versuch, den „unfassbaren Geschlechtsunterschied als Verlust, als Wegnahme eines bekannten und sichtbaren Organs vorstellbar zu machen, den Unterschied als solchen zu leugnen“, sondern sei bei Freud ab 1923 das, „was den Unterschied psychisch konstituiert“.30 Freud versuche zu erklären, „wie die Differenz der Geschlechter für das Kind psychisch Realität wird“. 31 „Nach Freud ist das Kind erst dann Junge oder Mädchen, wenn es darauf verzichtet, alles zu sein bzw. alles zu haben bzw. von der Mutter alles bekommen zu können“.32 Die „An22 23 24 25

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26 | 27 | 28 | 29 30 31 32

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Freud 1931b, 524. Ebd., 526. Ebd. Sigmund Freud, „Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes“, in: Gesammelte Werke XIV, Frankfurt a. M., 24 (1925b). Ders., „Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes“, in: Gesammelte Werke XIV, Frankfurt a. M., 24 (1925b). Vgl. Elfriede Löchel, „Umgehen (mit) der Differenz“, in: Psyche-Z Psychoanal, 44, 1990, 831. Jean Laplanche, „Der Strukturalismus vor der Psychoanalyse“, in: Luzifer-Amor, 1, 1988, 108. Löchel 1990, 832. Ebd. Ebd., 834. Ebd.

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erkennung des Nicht-ganz-, Nicht-alles-sein-Könnens“ sei, so lasse sich Freuds Beharren auf Phallus und Kastration lesen, „Voraussetzung für die Repräsentanz der eigenen Geschlechtszugehörigkeit“. Umgangen werde bei Freud „die Frage nach einer nicht phallisch vermittelten Differenz zwischen Mann und Frau“33 somit werde die Kastration zur „Ersatzvorstellung für die fehlende Vorstellung der Differenz“.34 Diese Interpretation von Löchel verdeutlicht, dass Freud, wenn er die Differenz thematisiert, zugleich auch den Verlust zum Thema macht: den Verlust eines vollkommenen Objekts wie den Verlust der eigenen Vollkommenheit. Freud führt an der Geschlechterdifferenz exemplarisch vor, wie sich ein Scheitern der Repräsentation von Differenz als Differenz, jenseits einer Logik der Gegensätze von phallisch und kastriert vollzieht. Realitätsgerecht ist sein Entwurf insofern, als er die gesellschaftliche Realität des Geschlechterverhältnisses, zumal zu Freuds Zeiten, wiedergibt. Zu kritisieren ist er, weil er diese gesellschaftlichen Verhältnisse immer als unhintergehbare Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes erscheinen lässt und damit diese Fehlrepräsentation von Differenz naturalisiert. Entscheidend ist hier also, dass die bei Freud festzustellende Verschiebung zwar durchaus ihre Wahrheit hat, wenn auch eine andere, als von Freud ausgeführt: Kastration, also die Vorstellung, man habe entweder alles oder sei minderwertig, ist eine Möglichkeit der psychischen Repräsentanz von Differenz, die weniger über die menschlichen Möglichkeiten, Differenz psychisch zu repräsentieren, dafür aber umso mehr über die gesellschaftlichen Verhältnisse aussagt. Laplanche unterscheidet diesbezüglich zwischen „metapsychologischen Wahrheiten“, welche die Psychoanalyse entdeckt habe und den „kontingenten Erzählschemata“, welche dem Einzelnen helfen würden, „in einer gegebenen kulturellen Umgebung“ sein Schicksal einzuordnen. 35 So betrachtet handelt es sich bei der Aufgabe, mit der Differenz umzugehen, um eine metapsychologische Wahrheit, der gegenüber die Erzählung von Ödipus- und Kastrationskomplex kontingent ist. Auf die Frage nach der Herkunft kontingenter Erzählschemata lässt sich mit Freuds eigener Theorie antworten. Mit dem Konzept der Nachträglichkeit36 hat Freud eine Konzeption vorgelegt, die es erlaubt, seine eigenen Entwürfe dort zu kritisie33 | Ebd., 835. 34 | Vgl. Sigmund Freud, „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben“, in: Ge-

sammelte Werke VII, 243-277 (1909b).

35 | Elfriede Löchel, Verschiedenes. Untersuchung zum Umgehen (mit) der Differenz,

Bremen 1987, 36.

36 | Jean Laplanche 2004: „Die rätselhaften Botschaften des Anderen und ihre Kon-

sequenzen für den Begriff des ‚Unbewussten’ im Rahmen der Allgemeinen Verführungstheorie“, in: Psyche–Z Psychoanal, 58, 908f.

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ren, wo er sie zu Unrecht anthropologisiert. „Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren werden später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit gleichzeitig einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit.“37 So heißt es in der pointierten Kurzfassung der Nachträglichkeit von Laplanche und Pontalis. Bezieht man diese Figur auf das bis hierher dargestellte, dann heißt es, dass auch die Konfrontation mit der Differenz je nach Entwicklungsstufe umgearbeitet wird. Freud selbst schildert zwei dieser Stufen: Von der Leugnung mit der Hoffnung auf künftige Wiederherstellung der vermeintlich verlorenen Vollkommenheit („wächst bestimmt noch“) zur Kastration („ich habe es, die andere nicht bzw. umgekehrt“). Dass bei Freud die Möglichkeit einer nachträglichen Repräsentation von Differenz als Differenz offen bleibt, weist zurück auf das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis. Nur die Anerkennung der eigenen Beschränktheit, das Bearbeiten von Größenphantasien („wenn es auch nicht da ist, dann wird es schon wachsen“), das Akzeptieren der eigenen Endlichkeit, also schlicht das Sich-Abarbeiten an den Zumutungen, die das Subjektsein bereithält, ist die Voraussetzung dafür, Differenzen nicht automatisch bewerten zu müssen, sich dem Anderen mit Neugier zu nähern und Raum für Individualität, für ein „Miteinander des Verschiedenen“ zu schaffen, wie Adorno es nannte hinsichtlich einer Utopie, die „über der Identität und über dem Widerspruch“38 sei. Dafür wäre die von Freud ins Zentrum gestellte Anerkennung der einen Differenz nicht mehr aber auch nicht weniger als ein entscheidender Schritt hin zu vielen Unterschieden. In der Nicht-Akzeptanz der eigenen Beschränktheit liegt die Entwertung des Anderen. Wird nicht versucht, die eigene Begrenztheit zu akzeptieren, wird das andere entwertet oder idealisiert. Beiden Versuchen der Bewältigung ist gemein, dass etwas Unterschiedenes als das ganz Andere, als das Fremde erscheint. Das Fremde kann dabei „dem eigenen Alltag mehr oder weniger gewaltsam angeglichen oder aber zum Exotikum entfremdet werden“.39 Diese Figur findet sich in Integrationsforderungen, die nur Anpassung meinen aber auch in Vorstellungen von Multikulturalität, die mit Hinweis auf die Andersartigkeit einer fremden Kultur beispielsweise von der Universalität der Menschenrechte oder der Gleichstellung der Frau absehen. Baumann verweist in diesem Zusammenhang auf die Grenzen der postmodernen Toleranz: Diese müsse in Solidarität verwandelt werden und zwar 37 | Vgl. ausführlich: Christine Kirchhoff, Das psychoanalytische Konzept der ,Nach-

träglichkeit‘: Zeit, Bedeutung und die Anfänge des Psychischen, Gießen 2009.

38 | Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse,

Frankfurt a. M., 313.

39 | Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, 153.

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in die universale Anerkennung, dass die Differenz die einzige Universalität ist, die kein Verhandlungsgegenstand ist, und dass ein Angriff gegen das universale Recht, anders zu sein, die einzige Abweichung von der Universalität ist, die keiner der solidarischen Handelnden, wie verschieden sie sonst auch sein mögen, anders als auf eigene Gefahr und die aller anderen Agenten tolerieren kann. […] Überleben in der Welt der Kontingenz und Diversität ist nur möglich, wenn jede Differenz die andere Differenz als notwendige Bedingung der Bewahrung ihrer eigenen anerkennt.40

In der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse bezeichnet Freud das Verdrängte als Ausland für das Ich, als „inneres Ausland“. Die Realität hingegen sei „äußeres Ausland“.41 Das von Freud so bezeichnete innere Ausland ist nicht räumlich lokalisierbar. Es hat keinen Ort, aufzufinden ist es nur, wenn es wiederkehrt, in Symptomen, Träumen, Witzen, Versprechern und anderen Fehlleistungen, in all dem, was dem bewussten, wachen Ich fremd ist. Etwas, das wiederkehrt, kann aber nicht immer fremd gewesen sein, es ist fremd geworden und war einmal vertraut. Auffällig ist, dass Freud kaum vom Fremden spricht und nie vom Fremden in der Außenwelt. Für die bulgarisch-französische Psychoanalytikerin Kristeva spricht Freud deswegen nicht vom Fremden, da es ihm darum gehe zu lehren, „die Fremdheit in uns selbst aufzuspüren“.42 Dies sei, so Kristeva, vielleicht die einzige Art, sie draußen nicht zu verfolgen.43 Die Unaufmerksamkeit oder Zurückhaltung Freuds gegenüber dem Phänomen des Fremden liest sie als „stille Aufforderung […], den Fremden nicht zu verdinglichen, ihn nicht als solchen zu fixieren, uns nicht als solche zu fixieren, sondern das Fremde und den Fremden zu analysieren, indem wir uns analysieren“.44 Eine Spur zum Fremden, der auch Kristeva folgt, findet sich in Freuds Schrift über das Unheimliche. Dieses nämlich ist nach Freud „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“.45 Zum Neuen und Nichtvertrauten müsse „erst etwas hinzukommen, was es zum Unheimlichen macht“.46 Dieses Hinzukommende ist etwas Altes, etwas Vertrautes. Es ist eine Konversion des Vertrauten ins Fremde, die das Unheimliche ausmacht. Freud findet es daher verständlich, dass der Sprachgebrauch das Heimliche ins Unheimliche übergehen lasse, da das Unheimliche „wirk40 | Peter Schneider, Alltag und Exotik, Frankfurt a. M. 1988, 161. 41 | Freud 1933a, 62. 42 | Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit, 43 44 45 46

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Hamburg 1992, 312. Ebd. Ebd. Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a. M. 1999, 209. Ebd.

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lich nichts Neues oder Fremdes“ sei, „sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist“.47 Kristeva betont die Abhängigkeit der Wirkung des Unheimlichen von der Zeit, wenn sie feststellt, dass „unheimlich ist, was einmal vertraut gewesen ist“.48 So verkehren sich, wie Kristeva schreibt, „in dem Wort heimlich selbst das Vertraute und Intime in ihr Gegenteil und fallen mit dem entgegengesetzten Sinn, nämlich „beunruhigender Fremdheit“49 zusammen, der in unheimlich stecke. 50 Werde nun das Unheimliche durch Agieren oder Verleugnen abgewiesen, bedeute das, so Kristeva, eine „Liquidierung des Fremden“, welches eine „Liquidierung des Psychischen“ zur Folge haben könnte und den Weg freimache „zum Ausagieren, bis hin zur Paranoia oder Mord“. 51 In der faszinierenden Ablehnung, die der Fremde in uns hervorrufe, stecke, so Kristeva, „ein Moment jenes Unheimlichen, im Sinne der Entpersonalisierung, […] die zu unseren infantilen Wünschen und Ängsten gegenüber dem anderen zurückführt – dem anderen als Tod, als Frau, als unbeherrschbarer Trieb“.52 „Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewusstes – dieses ‚Uneigene‘ unseres nicht möglichen ‚Eigenen‘.“53

47 | Kristeva, 254. 48 | Ebd., 199. 49 | Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, in: Gesammelte Werke XII, Frankfurt 50 51 52 53

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a. M., 231. Ebd., 199. Ebd., 206f. Ebd., 208. Ebd., 209.

Konstruktionen der Fremdheit im Kontext empirischer Forschung

Folgenreiche Unterscheidungen Repräsentationen des „Eigenen und Fremden“ im interkulturellen Bildungskontext CHRISTINE RIEGEL

Wenn im Alltag von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ die Rede ist, besteht oft ein unausgesprochenes Wissen darüber, was jeweils darunter verstanden wird. Auch wenn es in interkulturellen Trainings um die Zusammenarbeit oder das Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen sozialen und kulturellen Herkunftskontexten geht, wird die Existenz des Fremden als Pendant zum Eigenen, dem Vertrauten, vorausgesetzt und diese Gegenüberstellung mehr oder weniger unhinterfragt zum Ausgangspunkt (der jeweiligen Überlegungen) gemacht. Entsprechend stand lange Zeit das Verhältnis von Eigenem und Fremdem im Zentrum des Interesses interkultureller Bildung und Pädagogik, auch wenn sich inzwischen die fachliche Diskussion weiter entwickelt hat1 und gerade die damit verbundene Differenzsetzung bzw. der Blick auf kulturelle Differenzen kritisch in Frage gestellt wird.2 Allerdings steht im Alltagsverständnis interkultureller Kommunikation sowie in den vielfältigen politischen und pädagogischen Diskursen zu Integration und dem Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden sowie der Fokus auf kulturelle Differenzen im Mittelpunkt. Dabei wird der Fokus der Aufmerksamkeit v. a. auf Menschen mit ver1| 2|

Vgl. Marianne Krüger-Potratz, Interkulturelle Bildung: Eine Einführung, Münster 2005. Vgl. Safiye Yıldız, Interkulturelle Erziehung und Pädagogik: Subjektivierung und Macht in den Ordnungen des nationalen Diskurses, Wiesbaden 2009.

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meintlichem Migrationshintergrund gerichtet, ohne genauer zu klären, was unter „dem Fremden“ überhaupt verstanden wird, geschweige denn unter „dem Eigenen“. So wird der angenommene Migrationshintergrund im Kontext von sozial heterogenen Migrationsgesellschaften bereits mit Fremdheit assoziiert und gleichgesetzt, ohne nach dem Selbstverständnis derer, die als fremd konzeptionalisiert werden, zu fragen. Die scheinbar selbstverständliche Einteilung in „Fremde“ bzw. „ethnisch Andere“, im Gegensatz zum „Wir“, ist jedoch mit Gefahren verbunden: Gefahren der Verkennung, der Ethnisierung, der Diskriminierung und Ausgrenzung von denjenigen, die als fremd und damit als nicht-zugehörig zum gesellschaftlichen Zentrum bzw. der Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie gerade im interkulturellen Bildungskontext unter Bezugnahme auf ethnische, kulturelle oder nationale Zuschreibungen folgenreiche Unterscheidungen und Differenzierungen vorgenommen werden, wie dabei implizit Fremdheit hergestellt wird und Menschen zu (ethnisierten) Anderen gemacht werden. Anhand empirischer Beispiele aus dem Kontext Schule, insbesondere Situationen, in denen interkulturelles Lernen zum Thema gemacht wird, werden Kommunikations- und Diskursmuster von Lehrer_innen und Schüler_innen hinsichtlich darin enthaltener Differenzkonstruktionen, Zuschreibungs- und Otheringprozessen analysiert. Dabei geht es nicht um eine Klärung dessen, was das Fremde jeweils ist bzw. ausmacht, sondern um die Rekonstruktion der Prozesse, in denen Fremd- und Anderssein hergestellt werden, sowie die nicht immer intendierten, aber dennoch wirkungsvollen Folgen solcher Markierungen und Zuschreibungen. Zunächst soll jedoch der theoretische Rahmen expliziert werden, vor dessen Hintergrund die angesprochenen Mechanismen herausgearbeitet werden.

Zur sozialen Konstruktion „des Eigenen“ und „des Fremden“ Mit der Bezeichnung der „sozialen Konstruktion“ wird auf die Tatsache verwiesen, dass das, was in einem bestimmten sozial-gesellschaftlichen Kontext als fremd oder anders definiert und wahrgenommen wird, jeweils als historisch geworden und sozial geformt zu verstehen ist. Die Vorstellung darüber wird durch soziale Repräsentationen, 3 durch Dis3|

Vgl. Serge Moscovici, „Geschichte und Aktualität sozialer Repräsentationen“, in: Uwe Flick (Hg.), Psychologie des Sozialen: Repräsentationen in Wissen und Sprache, Reinbek 1995, 266-315.

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kurse, Bilder und Narrationen4 sowie Praxen der Kategorisierung geprägt und deren Bedeutung im alltäglichen Denken und Handeln reproduziert, aufrechterhalten und modifiziert. Dies bedeutet zum einen, dass die individuelle Wahrnehmung von Fremdheit sowie Fremdheitserfahrungen bereits durch sozial geteilte Vorstellungen und gesellschaftlich dominante Bilder, was als fremd und als anders kategorisiert wird, geprägt sind. Zum anderen heißt es, dass die Praxen der Differenzierung und Unterscheidung zur Konstitution und Reproduktion sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen. Damit werden sie bedeutsam für Prozesse der Ein- und Ausgrenzung und für die Stabilisierung oder auch Veränderung von Herrschafts- und Dominanzverhältnissen. Soziale Konstruktionen und Vorstellungen von „Fremden“ werden also alltäglich in Kommunikations- und Interaktionsprozessen, aber auch durch institutionelle Praxen immer wieder neu hergestellt, modifiziert und verändert, was Fenstermaker/West 5 als „doing difference“ bezeichnen. Diese Praxen der Unterscheidung sind jedoch keine neutralen Ausdifferenzierungen, sondern beziehen sich auf Kategorisierungen und Einteilungen in Gegensatzpaare: die binäre Unterscheidung von „Wir und die Anderen“, „die Eigenen und die Fremden“, „das Vertraute und das Fremde“, „Zugehörige und Nicht-Zugehörige“, usw. – deren Verhältnis zueinander jeweils als hierarchisch zu bezeichnen ist. Durch solche Prozesse der symbolischen Grenzziehung und hierarchischen Unterscheidung werden asymmetrische Verhältnisse hergestellt und reproduziert. Charakteristisch für die Konstruktion von Fremden und Anderen ist, dass diese jeweils im Bezug auf das jeweils eigene, vertraute „Wir“ erfolgt, auch wenn dieses „Wir“ nicht unbedingt explizit benannt ist. Das Eigene existiert und wirkt jedoch immer als unhinterfragter Bezugspunkt, als Ideal oder mystische Norm6 und als Fiktion einer Normalität.7 Als Andere werden diejenigen gesehen, die von der (selbstverständlichen und vorherrschenden) Norm abweichen und als nicht-zugehörig betrachtet werden. Die Konstruktion der Anderen ist mit einer Abwertung und (zumindest symbolischer) Ausgrenzung der Anderen verbunden und dient der eigenen Abgrenzung sowie der Aufrechterhaltung kultureller Hegemonie. 4| 5| 6| 7|

Vgl. Jerome S. Bruner, „The Narrative Construction of Reality“, in: Critical Inquiry, 18, 1, 1-21, 1991. Sarah B.,Fenstermaker/Candance West, „,Doing Difference‘ revisited: Probleme, Aussichten und der Dialog in der Geschlechterforschung“, in: Bettina Heintz (Hg.), Geschlechtersoziologie, Opladen 2001, 236-249. Vgl. Audre Lorde, „Age, Race, Class and Sex: Women Redefining Difference“, in: Sister Outsider (Hg.), Essays and Speechs, Trumansburg, New York 1984, 114-123. Vgl. Anne Broden/Paul Mecheril, „Migrationsgesellschaftliche Re-Präsentationen: Eine Einführung“, in: dies. (Hg.), Re-Präsentationen: Dynamiken der Migrationsgesellschaft, Düsseldorf 2007, 7-28.

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Die imaginäre Grenze zwischen „dem Wir“ und „den Anderen“ wird fortwährend erschaffen, verändert und ausgehandelt. Es ist nicht fest definiert, was fremd ist, sondern kann situativ und sozial variieren. Konzeptionalisierungen über das Eigene und das Fremde können sich dabei auf soziale Differenzlinien im natio-ethnisch-kulturellen Kontext beziehen, aber auch von anderen sozialen Kategorien, wie z. B. Geschlecht, Klasse, Alter, Körper, Sexualität usw. modifiziert und überlagert werden (vgl. dazu die aktuelle Diskussion um Intersektionalität und Interdependenzen8). So ist das, was als das Eigene, als die Normalität betrachtet wird, ebenso wie das, was als fremd und anders konzeptionalisiert wird, durch Relativität und potentielle Veränderbarkeit gekennzeichnet und Gegenstand von Aushandlungsprozessen um (prekäre) Zugehörigkeiten in einem gesellschaftlich umkämpften Feld. Dabei sind Vorstellungen ‚vom Eigenen und vom Fremden‘ immer auch mit einer bestimmten (Sprecher_innen-) Perspektive und Positionierung im durch soziale Ungleichheit und asymmetrische Machtverhältnisse geprägten gesellschaftlichen Raum verbunden. Bei Konstruktionen über Andere, oder wenn implizit oder explizit vom „Fremden“ im Gegensatz zum „Eigenen“ ausgegangen wird, ist also immer auch nach dem Kontext zu fragen, in dem dies geschieht, ebenso nach der jeweiligen Funktion solcher Zuordnungen und deren Folgen: t Was bzw. wer wird überhaupt als fremd oder anders wahrgenommen? t An welchen Differenzen und Kategorien wird dies festgemacht? Welche Differenzen bzw. sozialen Differenzlinien werden dabei aktualisiert und salient gemacht? t Von wem und aus welcher (Sprecher_innen-)Perspektive wird Fremdsein bestimmt? t Mit welchen Interessen und mit welchen Folgen ist dies verbunden? Mit dieser Perspektive werden im Folgenden Situationen aus dem pädagogischen Alltag untersucht. 8|

Vgl. dazu Kimberlé Crenshaw, „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine“, in: The University of Chicago Legal Forum: Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism, 1989, 139-167; Kathy Davis, „Intersectionality as a Buzzword: A Sociology of Science Perspektive on What Makes a Feminist Theory Successful“, in: Feminist Theory, Vol.9(1), 2008, 67-85; Gabriele Winker/Nina Degele, Intersektionalität: Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009.

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Fremdbilder und Konstruktion von Anderen im interkulturellen Bildungskontext Gesellschaftlich vorherrschende Diskurse und dichotome Bilder über „das Eigene und das Fremde“, wie sie u. a. in dominanten Integrationsvorstellungen, aber auch in stereotypen Bildern und Repräsentationen über Einwander_innen zum Ausdruck kommen, finden sich nicht nur in Medien-, Politik- und Alltagsdiskursen, sondern prägen auch die Kommunikation in der Schule. Es ist davon auszugehen, dass sie auch in den Denk- und Handlungweisen von Lehrer_innen und pädagogischen Mitarbeiter_innen in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit präsent sind. Im Folgenden wird mit Blick auf Situationen im interkulturellen Bildungskontext herausgearbeitet, in welcher Weise Repräsentationen des „Eigenen und Fremden“ sowie binäre Kategorisierungen und Zuschreibungen für das pädagogische Denken und Handeln im schulischen Kontext von Bedeutung sind. Ebenso werden Ambivalenzen von (kultureller) Differenzbildung herausgearbeitet, und aufgezeigt, wie es auch in Situationen interkultureller Bildungsarbeit zu Zuschreibungen, Ausgrenzung und Aussonderung von Menschen kommen kann, die als fremd oder abweichend konzeptionalisiert werden. Empirisch basieren folgende Beispiele auf Interviews mit Lehrkräften in Deutschland und in der Schweiz sowie auf Unterrichtsbeobachtungen im Rahmen der Interventions- und Evaluationsstudie zu „Prävention von Rechtsextremismus und ethnisierter Gewalt an Schweizer Schulen“ (Oser/Riegel/Tanner), das vom Schweizer Nationalfonds von 2004 bis 2006 gefördert wurde.9 Bipolare Bilder und Kategorisierungen: „die Integrier ten“ und „die Ausländer “ In der alltäglichen Kommunikation in der Schule werden vielfältige Einteilungen und Differenzierungen vorgenommen, u. a. auch solche, die auf eine Dichotomie von Eigenem und Fremden verweisen. Eine solche diskursive Einteilung erfolgt beispielsweise dann, wenn Pädagog_in9|

Zum gesamten Projekt und dessen Ergebnissen, die an dieser Stelle nicht dargestellt werden können, vgl. Fritz Oser/Christine Riegel/Sabine Tanner, „Changing Devils into Angels? Prevention of Racism and Right-Wing Extremism at School as a Sensitising Activity“, in: Marcel Alexander Niggli (Hg.), Right-wing Extremism in Switzerland: National and International Perspectives, Baden Baden 2009, 231-251 sowie Fritz Oser/Christine Riegel/ Sabine Tanner, Prävention von Rechtsextremismus und ethnisierter Gewalt an Schulen: Eine Interventionsund Evaluationsstudie mit Lehrerweiterbildungsmassnahmen in der Schweiz, Schlussbericht, Fribourg 2007.

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nen über ihre Schüler_innnen oder über die Zusammensetzung ihrer Schulklassen sprechen. Hier richtet sich der Blick fast automatisch auf Schüler_innen mit Migrationshintergrund, die nach dem Kriterium ihrer „Integration“ beurteilt und unterschieden werden. Die Kategorisierung in „die Integrierten“ und „die Ausländer“ stellt in diesen Zusammenhang ein dominantes und gängiges Unterscheidungsmuster in der Kommunikation von Lehrer_innen dar. So betont beispielsweise eine Lehrerin einer weiterführenden Schule in ihrer Überlegung, ob sie sich mit ihrer Klasse am oben genannten Projekt zur Prävention von Rechtsextremismus und ethnisierter Gewalt an Schulen beteiligen soll: „bei uns gibt es eigentlich keine Probleme, so richtige Ausländer haben wir keine, die meisten sind integriert.“ Diese Aussage impliziert zum einen, dass für ein interkulturell und rassismuskritisch angelegtes Präventionsprojekt eine spezifische Problematik vorliegen muss. Zum anderen, und dies ist in unserem Zusammenhang bedeutsam, werden hier die Probleme diskursiv in einen direkten Zusammenhang mit der Präsenz von so genannten ausländischen Schüler_innen gestellt.10 Schüler_innen mit Migrationshintergrund werden in dieser Aussage als potentielle Problemgruppe markiert – auch wenn diese Botschaft konterkariert wird, indem die ‚eigenen‘ Schüler_innen als „integriert“ betrachtet werden. Die Lehrkraft nimmt hier eine Differenzierung zwischen denjenigen vor, die sie für integriert erachtet, und denjenigen, die sie nach wie vor als „richtige Ausländer“ markiert. Ähnliche Kategorisierungen werden von Lehrer_innen vorgenommen, wenn sie auf die Zusammensetzung ihrer Schüler_innenschaft mit Blick auf Vielfalt und Unterschiede angesprochen werden. Auch hier wird v. a. auf Unterschiede und Zugehörigkeiten im ethno-natio-kulturellen Kontext verwiesen und der Blick auf Schüler_innen mit Migrationshintergrund gerichtet. So sagt die Lehrerin einer Grundschule in einem Interview zur heterogenen Zusammensetzung in ihrer Schule: „Wir haben zwar viele Migrantenkinder die jetzt Migrationshintergrund haben, aber so richtige, also äh (stockt) ausländische Kinder, die quasi auch wirklich zu Hause türkisch sprechen, haben wir höchstens so zehn Prozent.“

Und ein Kollege äußert in einem anderen Interview: „[Wir] haben schon ein ausgelesenes Publikum. Ich in meiner Klasse hab jetzt eins, ja ein Kind aus Frankreich. Kann man das zählen

10 | Mit dem Bezug auf ein Projekt zur Prävention von Rechtsextremismus, Alltags-

rassismus und ethnisierter Gewalt hätte durchaus auch eine andere Begründung erwartet werden können, so z. B.: „bei uns gibt es keine Probleme, wir haben keine rechten Schüler in der Klasse“.

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lassen? Also wirklich, zwei muslimische Kinder sind es bei mir. Und das ist sehr wenig.“

In den Ausführungen der beiden Lehrer_innen werden ebenfalls bipolare Kategorisierungen vorgenommen, die der vorhergehenden Unterscheidung zwischen „den Integrierten“ und den „richtigen Ausländern“ entsprechen. Es wird zwar nicht ausgeführt, was unter „integriert“ verstanden wird11 (vergleichbar mit der mangelnden Spezifizierung des Eigenen), allerdings wird expliziert, was diejenigen auszeichnet die als „richtige oder wirkliche Ausländer“ kategorisiert werden. Dazu werden v. a. diejenigen gezählt, die „zuhause türkisch sprechen“ oder als Muslime identifiziert werden. Hier werden sozial geteilte und dominante Zuschreibungen und Unterscheidungskriterien aktiviert, die an äußeren Merkmalen wie der nationalen oder religiösen Zugehörigkeit festgemacht werden. Gleichzeitig knüpfen sie an aktuelle Repräsentationen und Bezeichnungspraxen über Jugendliche mit Migrationshintergrund an. Hier hat in den letzten Jahren eine semantische Diskursverschiebung stattgefunden: Wurde früher allgemein von ausländischen Jugendlichen gesprochen, stellten lange Zeit türkische Jugendliche den Inbegriff von Jugendlichen mit Migrationshintergrund dar. Heute wird primär die Religion und v. a. der Islam fokussiert und entsprechend steht die Bezeichnung muslimische Jugendliche im Mittelpunkt. Diese Fokussierung und veränderte Begriffswahl spiegelt sich auch in den Aussagen der Lehrer_ innen wider. Der Verweis auf das „Kind aus Frankreich“ zeigt hingegen, dass Migrant_innen aus anderen mittel- und auch nordeuropäischen Ländern im Gegensatz dazu nicht so eindeutig als anders oder fremd kategorisiert werden. Schüler_innen mit einem solchen Migrationshintergrund und diejenigen, die als ‚integriert‘ gelten, können mit Blick auf ein multikulturelles Selbstverständnis einer Schule durchaus erwünscht sein. Hier werden Kategorisierungen vorgenommen, die einem dominanten Zuordnungsmuster mit ein- und ausgrenzender Wirkung entsprechen: Die Integrierten, die unauffällig sind, sich soweit der Mehrheitsgesellschaft angepasst haben oder so ähnlich sind, dass sie nicht (mehr) als Andere auffallen, und „die richtigen Ausländer“, die als auffällig und abweichend von der (wie auch immer konstruierten) Normalität betrachtet werden. Diese werden problematisiert und zumindest semantisch ausgegrenzt, indem von ihnen – unabhängig von ihrer tatsächlichen Staatsangehörigkeit – pauschal von „Ausländern“ gesprochen wird. Die

11 | Integration fungiert hier v. a. als Schlagwort, wobei dessen Bedeutung in der

alltäglichen Kommunikation offensichtlich nicht mehr geklärt werden muss und jede_r scheinbar weiß, was unter Integration verstanden wird.

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Einteilung von Schüler_innen mit Migrationshintergrund in ‚Integrierte und Ausländer‘ entspricht den von Zygmunt Bauman benannten gegensätzlichen Umgangsformen mit den Fremden, die er als die Unbestimmbaren und Nicht-Einordenbaren in dichotome symbolische Ordnungen bezeichnet:12 Der Umgang der Mehrheitsgesellschaft besteht entweder darin, sie zu assimilieren, zu integrieren in Form einer totalitären Vereinnahmung, oder sie als ethnisierte Andere, Nicht-Zugehörige auszugrenzen und auszusondern. Mit der dargestellten Einteilungspraxis in „Integrierte“ und „richtige Ausländer“ werden entsprechend aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft symbolische Ein- und Ausgrenzungsprozesse sowie Zuordnungen aus einer machtvollen Perspektive vorgenommen, was sich – so ist anzunehmen – auch auf den konkreten Umgang der Lehrer_innen mit den Schüler_innen auswirkt. Nicht nur die Kategorisierung entlang bipolarer Schemata, auch die Bezugnahme auf kulturelle Differenzlinien als symbolische Grenzmarker, kann zu Ein- und Ausgrenzungen führen. Im Folgenden möchte ich an zwei Interaktionssequenzen in der Schule die ambivalenten Folgen der Thematisierung von vermeintlich kulturellen Differenzen im Kontext interkultureller Bildung aufzeigen: zum einen das kommunikative Othering, zum anderen die ethnisierende Festschreibung.

Othering: durch Her vorheben und Zuschreibung zu Anderen machen Mit dem kritischen Begriff des „Othering“ so Anne Broden und Paul Mecheril,13 werden „Praxen bezeichnet, die Andere als positive, also sinnlich erkennbare, als einheitliche und kommunizierbare Phänomene konstituieren und darin den und die Anderen als Andere festschreiben und damit, in gewisser Weise, beständig verfehlen“. Im Kontext interkultureller Bildung, in der Bezugnahme auf kulturelle Differenzen und Kategorisierungen, besteht die Gefahr, dass solche Praxen des Othering wirksam werden. Dies möchte ich exemplarisch an einer Unterrichtssituation aufzeigen, in der das interkulturelle Zusammenleben als Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Lebensweisen thematisiert wird: Die Lehrerin der Klasse führt in die Thematik ein, indem sie auf positive Folgen von Einwanderung für die Schweizer Gesellschaft aufmerksam macht. Als Beispiele hierfür nennt sie Einflüsse von Musik, Speisen 12 | Zygmunt Bauman, „Moderne und Ambivalenz“, in: Uli Bielefeld (Hg.), Das Ei-

gene und das Fremde: Neuer Rassismus in einer alten Welt?, Hamburg 1991, 77.

13 | Broden/Mecheril 2007, 13.

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und Kochkunst aus der ganzen Welt. Die Schüler_innen ihrerseits sind zunächst zurückhaltend und bringen keine eigenen Beispiele ein. Dann wendet sich die Lehrerin relativ unvermittelt einer Schülerin zu und es entspinnt sich folgende Szene: Die Lehrerin fragt: „Wo kauft denn deine Mutter ein?“ Die Schülerin zögert zunächst mit ihrer Antwort, sagt dann jedoch: „Sie kauft überall ein, bei der Migros, Coop … [5 sec.] Meine Mutter kocht eigentlich gar nicht brasilianisch, viel mehr asiatisch.“ In dieser Situation wird das Mädchen zur Anderen gemacht, indem das vermeintlich „Fremde“, „Exotische“ und „Besondere“ des Mädchens angesprochen und hervorgehoben und sie zugleich auf ihre kulturelle Herkunft reduziert wird. Zu vermuten ist, dass dies in durchaus positiver Absicht der Lehrerin geschieht: möglicherweise will sie das Thema an einem konkreten Beispiel aus der eigenen Klasse veranschaulichen, das Mädchen als gelungenes Beispiel einer kulturellen Bereicherung präsentieren, oder einfach nur an der Lebenswelt einer Schülerin ansetzen, um den Schüler_innen den Zugang zum Thema zu erleichtern. Allerdings wird das Mädchen durch diese Hervorhebung und den Verweis auf ihre vermeintliche Herkunft zur Anderen und zur Fremden gemacht. Wie die Szene zeigt, kann sich das Mädchen jedoch nicht mit dieser Rolle identifizieren. So versucht sie, mit ihrer Antwort sich (und auch ihre Mutter) explizit in der Mehrheitsgesellschaft zu verorten und implizite Zuschreibungen abzuwehren, indem sie betont, dass ihre Mutter in etablierten Schweizer Lebensmittelketten einkauft und nicht herkunftsbezogen kocht, sondern sich an der internationalen Küche orientiert (wofür in Europa exemplarisch die asiatische Küche steht). In dieser Situation zeigt sich die Wirkungsmacht ethnisierter Zuschreibungen, aus der sich die Schülerin nur schwer befreien kann. Wie an diesen Beispielen deutlich wird, besteht bereits schon mit dem Hervorheben von Differenzen bzw. dem Fokus auf die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten14 oder den Herkunftskontext von Schüler_innen mit Migrationshintergrund die Gefahr, die Differenzen damit salient zu machen und die Individuen darauf festzuschreiben und so zu Anderen bzw. Nicht-Zugehörigen zu machen – mit negativen Folgen für deren Positionierung in der Mehrheitsgesellschaft, gerade im Kontext von gesellschaftlichen Kämpfen um Zugehörigkeit. Und hier zeigt sich auch eine spezifische Ambivalenz interkultureller Pädagogik. Mit der Thematisierung und Fokussierung von vermeintlich kulturellen Differenzen werden diese erst bedeutsam gemacht und können als symbolische Differenzmarker, die über Zugehörigkeiten bzw. Ein- und Ausgrenzung im Kontext der Mehrheitsgesellschaft entscheiden, wirksam werden. Und 14 | Vgl. Paul Mecheril, Prekäre Verhältnisse: Über natio-ethno-kulturelle (Mehr-

fach-) Zugehörigkeit, Münster 2003.

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solche Differenzierungspraxen haben – trotz bester Absicht – immer auch rassistisches Potential.

„Sprechen über die Anderen“ – Kulturalisierende und defizitäre Negativzuschreibungen Bei einer auf kulturelle Differenzen ausgerichteten interkulturellen Pädagogik besteht darüber hinaus immer auch die Gefahr, dass Bilder und Zuschreibungen über ethnisch Andere hervorgebracht und reproduziert werden: sowohl positiv konnotierte Zuschreibungen, als auch NegativBilder, die mit einer problematisierenden und defizitären Sichtweise auf Jugendliche mit Migrationshintergrund einhergehen. Diese Gefahr besteht v. a. dann, wenn aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft der Blick einseitig auf Jugendliche mit Migrationshintergrund gerichtet wird, über sie gesprochen und geurteilt wird. Dabei werden auch in der Bildungsarbeit gesellschaftlich vorherrschende Bilder und Diskurse, z. B. über Zwangsverheiratung, so genannte Ehrenmorde, den Zwang zum Kopftuch oder patriarchale Unterdrückungsverhältnisse in Einwanderungsfamilien aufgegriffen und zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht. Sie fließen zum Teil jedoch auch klischeehaft und pauschalisierend in das Sprechen über die Lebenslage von Migrant_innen ein und reduzieren sie auf diese Aspekte. In solchen Diskursen verbinden sich Ethnisierungen mit Geschlechterkonstruktionen und artikulieren sich in stereotypen Bildern über das „unterdrückte muslimische Mädchen“ auf der einen Seite und „die gewaltbereiten türkischen Machos“ auf der anderen.15 In der folgenden Szene wird deutlich, wie in einer interkulturellen Lernsituation solche gesellschaftlich dominanten Bilder aufgegriffen und aktiv reproduziert werden, und dabei im Sprechen über die (Kultur der) Anderen diese – trotz emanzipativer Absichten der Akteure – als ethnisch Andere markiert und pauschal abgewertet werden. Dabei handelt es sich um eine Unterrichtseinheit zum Thema Integration und Zusammenleben, die in einer Klasse stattfindet, in der es kaum Schüler_innen mit Migrationshintergrund gibt, auch die Lehrerin ist Mehrheitsangehörige. Im Anschluss an einen Filmausschnitt, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft über ihr Verständnis von Integration sprechen, entwickelt sich in der Klasse folgende Diskussion: 15 | Vgl. Christine Riegel, „Umgangsformen von jungen Migrantinnen mit eth-

nisiert-vergeschlechtlichten Fremdzuschreibungen“, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 26. Jg. (63/64), 2003, 59-76 sowie Chantal Munch/ Marion Gemende/Steffi Weber-Unger Rotino (Hg.), Eva ist emanzipiert, Mehmet ist ein Macho: Zuschreibung, Ausgrenzung, Lebensbewältigung und Handlungsansätze im Kontext von Migration und Geschlecht, Weinheim 2007.

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Schülerin1:

Ich finde, dass Ausländer, die in der Schweiz leben, sollen sich anpassen. Schülerin2: Aber man sollte ihnen schon das Eigene lassen. Schüler3: Man muss ihnen auch die Eigenarten lassen, z. B. die Religion. Lehrerin: Aber die Religion darf nicht einschränkend wirken. Mädchen zum Beispiel sollen nicht durch die Religion eingeschränkt werden, indem sie ein Kopftuch tragen müssen, nicht in den Sportunterricht gehen dürfen und solche Dinge. Wir haben ja schon darüber gesprochen. Was gibt es noch für Bereiche, in denen muslimische Mädchen eingeschränkt werden? Schülerin1: Sie dürfen nicht in Vereine. Schüler4: Sie dürfen keinen Freund haben. Lehrerin: ja, und manchmal werden sie auch gezwungen, gegen ihren Willen jemanden zu heiraten, den sie gar nicht kennen und werden wieder in die Türkei gebracht. Schüler3: Ja, aber dies ist nicht in allen Familien gleich, es gibt auch sehr offene Eltern, die gar nichts dagegen haben. Schüler5: das hängt immer von den Eltern ab. durcheinand.: es gibt auch sehr offene Ausländer.

Diese Situation kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet und analysiert werden. Hier möchte ich mich jedoch v. a. auf den Prozess der Differenzbildung und der darin reproduzierten Bilder über das „Eigene und das Fremde“ konzentrieren. Bereits in den ersten Beiträgen der Schüler_innen werden Differenzierungen vorgenommen. Hier erfolgt – aus der Mehrheitsperspektive – das Sprechen über die Anderen, die „Ausländer, die in der Schweiz leben“. Dabei wird mit dem Hinweis, dass „ihnen die Eigenarten gelassen werden sollen“, bereits von so etwas wie einer Kulturdifferenz ausgegangen. Interessant hinsichtlich der Herstellung von Fremdheit im pädagogischen Diskurs ist v. a. der Redeanteil der Lehrerin. Sie erarbeitet und konturiert in schultypischer Frage-AntwortManier ein Bild von muslimischen Mädchen – von denen jedoch keines in der Klasse ist. Sie nimmt dabei Bezug auf homogenisierende und pauschalisierende Zuschreibungen sowie die gesellschaftlich verbreitete Konstruktion des muslimischen Mädchens als unterdrücktes Opfer. Die Lehrerin gibt der zunächst noch allgemein gehaltenen Diskussion über (religiöse) Differenzen eine bestimmte Richtung, indem sie in ihrer Rede über die Anderen eine Assoziationskette aufmacht, die von Religion allgemein, zum Islam und weiter zu damit verbundenen Einschränkungen und Verboten für Mädchen führt. Dabei werden verschiedene Differenzlinien gestreift und aufgriffen (Religion, Kultur, Geschlecht, Generationenverhältnis) und zu einem defizitären und negativen Bild über muslimische Mädchen geformt. Implizit zeichnet sie hier ein Bild vom „Eigenen“ und vom „Fremden“, welches an das in der interkulturellen Pädagogik der 1980er bis 1990er Jahre dominante ModernitätsTraditionalitäts-Paradigma erinnert. Darin wird die eigene Kultur als

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modern, fortschrittlich und emanzipiert konzeptionalisiert im Gegensatz und in positiver Abgrenzung von der archaischen, traditionellen und patriarchalen Kultur der Anderen. Wenn auch die Lehrerin das Thema möglicherweise in emanzipatorischer Absicht aufgreift, richtet sie die Kritik am ungleichen Geschlechterverhältnis nur in eine Richtung und bezieht sich ausschließlich auf die Kultur und Religion der Anderen. Das Geschlechterverhältnis in der eigenen Gesellschaft bleibt damit unterbelichtet und wird hinsichtlich bestehender Hierachisierungen und Ungleichbewertungen verharmlost. Gleichzeitig geht diese Kritik auf Kosten „muslimischer Mädchen“, die hier pauschal als unterdrückte Opfer kategorisiert werden. So werden in diesem Diskurs verschiedene Kategorisierungen vorgenommen, die „das Eigene“ mit einem abwertenden Blick auf „das Fremde“ konturieren. Bedeutsam für das Thema der „Konstruktion von Anderen im interkulturellen Bildungskontext“ ist, dass die hier vorgenommenen Zuschreibungen und Kategorisierungen unmittelbar in die pädagogische Botschaft und in den Unterrichtsstoff eingebunden werden, und so auch die Bedeutung von schulspezifischem Wissen erhalten. Die Schüler_innen greifen dieses „Wissen“ auf, auch wenn sie sich, wie in dieser Situation, widerständig gegenüber den von der Lehrerin vorgenommenen Pauschalisierungen zeigen können. Aufgrund der Deutungshoheit der Lehrpersonen gestaltet sich ein solcher Widerstand jedoch als schwierig.

Fazit Wie nun deutlich wurde, werden auch im pädagogischen und sogar im interkulturellen Bildungskontext ethnisierende und kulturalisierende Zuschreibungen, bipolare Kategorisierungen und symbolische Grenzziehungen in Repräsentationen vom „Eigenen und Fremden“ vorgenommen, reproduziert und zum Teil noch verfestigt – und sie sind im schulischen Kontext durchaus wirkungsmächtig. Bei ein- und ausgrenzenden Kategorisierungen, wie z. B. der Unterscheidung von „Integrierten“ und „richtigen Ausländern“, wird der Blick einseitig auf Schüler_innen mit (vermeintlichem) Migrationshintergrund gerichtet und diese mit dem Verweis auf kulturelle Differenzen, ihren Herkunftskontext oder damit verbundene Eigenschaftszuschreibungen zu Anderen gemacht. Allerdings können sich die Schüler_innen selbst nur schwer von solchen Zuschreibungen und Zuordnungen befreien. Die Macht zu bestimmen, wer als „integriert“ gilt oder nicht, liegt nicht bei den Subjekten, über die gesprochen wird, sondern bei denjenigen, die über die kulturelle Hegemonie und diskursive Macht (hier als Lehrer_innen und als Mehrheitsangehörige) verfügen. Das „Sprechen

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über die Anderen“ – als Beschreiben, Zuschreiben und Festschreiben auf vermeintlich kulturelle (oder andere) Eigenschaften – hat für den Prozess, der Andere zu Anderen macht, eine konstitutive Bedeutung. Beim „Sprechen über“ geht es nicht um die Erhellung der individuellen Lebenslagen von denjenigen, die als Andere konzeptionalisiert werden oder um deren Sichtweise; es geht um die Kontrolle über sie, ihre Vereinnahmung oder Ausgrenzung, und den Erhalt der symbolischen Ordnung hegemonialer Zugehörigkeiten. Zuschreibungen und Klassifikationen, die in dieser Weise asymmetrischen Zuordnungen dienen, sind auch nur einseitig verwendbar, weil, so Mona Singer, „die Angesprochenen sich nicht damit identifizieren“.16 Vor diesem Hintergrund weist sie darauf hin, dass „sich das Monologisieren über andere aus sich heraus gar nicht von einem Diskriminierungsverdacht befreien kann“.17 Die Konstruktion des Fremden, in gleichzeitiger Abgrenzung zum eigenen Wir, stellt also im Rahmen sozialer Aushandlungsprozesse keinen neutralen oder egalitären Akt der Differenzierung dar, sondern eine Grenzziehung mit diskriminierender und zum Teil rassistischer Wirkung. So kann mit Blick auf die herausgearbeiteten Praxen der Differenzierung und Kategorisierung, den Prozessen, in denen bestimmte Schüler_innen zu Anderen gemacht werden, und die sich durch abwertende, ethnisierende Pauschalzuschreibungen auszeichnen, von Rassismus gesprochen werden.18 Dies sind folgenreiche Unterscheidungen und Grenzziehungen, die möglicherweise von den beteiligten Akteuren (Lehrer_innen und Schüler_innen) nicht als rassistisch intendiert sind, jedoch rassistische Folgen nach sich ziehen, die sich zum Nachteil derer auswirken, die als Fremde und Andere kategorisiert werden. Solche Zuschreibungen und hierarchischen Unterscheidungen sind in vielfacher Hinsicht folgenreich, auch über den konkreten Interaktionskontext hinaus: t Sie können zu einem Bias der Wahrnehmung und Bewertungen der Lehrer_innen gegenüber den Leistungen, Kapazitäten und Potentialen der Schüler_innen führen, mit diskriminierenden Folgen und ungleichen Bildungschancen für diejenigen, die als Andere konzeptionalisiert werden.19 16 | Mona Singer, Fremd. Bestimmung: Zur kulturellen Verortung von Identität, Tü-

bingen 1997, 45.

17 | Ebd. 18 | Vgl Rudolf Leiprecht, „Zum Umgang mit Rassismen in Schule und Unterricht:

Begriffe und Ansatzpunkte“, in: ders./Anne Kerber (Hg.), Schule in der Einwanderungsgesellschaft: Ein Handbuch, Schwalbach/Ts. 2005, 317-345. 19 | Vgl. dazu Isabell Diehm, „Ethnie und Migration“, in: Hans-Uwe Otto/Thomas Coelen (Hg.), Grundbegriffe Ganztagsbildung: Das Handbuch, 2. Aufl., Wiesbaden 2008; Mechthild Gomolla/Frank-Olaf Radtke, Institutionelle Diskrimi-

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t Bilder über Andere, wie sie im schulischen Kontext implizit oder explizit vermittelt werden, können zu faktischem Wissen und Bestandteil eines heimlichen Lehrplans werden. t Sie stellen in Schule und Gesellschaft eine ordnende Kraft dar, mit (unterschiedlichen) Folgen für die Positionierungs- und Handlungsmöglichkeiten von Jugendlichen im gesellschaftlichen Raum. So besteht – wie an verschiedenen Situationen aufgezeigt – die Gefahr, dass gesellschaftlich vorherrschende ein- und ausgrenzende Kategorisierungen und Zuschreibungen bei mangelnder Reflexion im Kontext interkultureller Bildungsarbeit festgeschrieben und tradiert werden und es ungewollt zu einer Reproduktion rassistischer Strukturen sowie vorherrschender Macht- und Ungleichheitsverhältnissen kommt. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine interkulturelle Bildungsarbeit, die sich (implizit oder explizit) an Differenzen und am bipolar konstruierten Verhältnis von Eigenem und Fremden orientiert, als äußerst ambivalent – nicht nur hinsichtlich der Gefahr der Festschreibung und des Othering. Mit der Bezugnahme auf gesellschaftlich dominante symbolische Differenzmarker, wie ‚Kultur‘ oder ‚Religion‘ läuft ein differenzbetonter Ansatz in gewisser Weise immer Gefahr, zur Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen beizutragen – solange diese nicht kritisch reflektiert und dekonstruiert werden. Unter vorherrschenden, durch soziale Ungleichheit und asymmetrische Machtverhältnisse geprägten gesellschaftlichen Verhältnissen kann die Aufgabe interkultureller und rassismuskritischer Bildungsarbeit v. a. in der Praxis der kritischen Reflexion bestehen: Die kritisch reflexive Auseinandersetzung... t mit bestehenden Fremdbildern, kulturalisierenden und zuschreibenden Deutungsmustern, t mit vorherrschenden ein- und ausgrenzenden Strukturen, t mit der eigenen gesellschaftlichen (Macht-) Positionierung sowie dem eigenen (widersprüchlichen) Denken und Handeln. Für pädagogisches Handeln im interkulturellen Bildungskontext ist erforderlich, den Blick nicht auf „die Anderen“ zu richten, sondern auf die

nierung: Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, 3. Aufl., Wiesbaden 2009.

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Voraussetzungen, unter denen diese zu Anderen gemacht werden – mit der Perspektive, gemeinsam alternative Deutungs- und Handlungsmuster jenseits von Ein- und Ausgrenzung, Auf- und Abwertung zu entwickeln. Dies ist jedoch unter gesellschaftlichen asymmetrischen Machtverhältnissen ein widersprüchlicher Prozess.

Zur Generierung des Fremden in medialen Diskursen am Beispiel des Frames „die Gewalt der Ehre“ OLGA MICHEL

1. Anstelle einer Einleitung Im Frühjahr 2008 berichteten zahlreiche deutsche Nachrichtenagenturen vermehrt über Beziehungstaten, die mit einem anschließenden Tötungsdelikt einer oder mehrerer Personen endeten: Ende Mai ereignete sich eine Familientragödie in Regensburg: der Mann erschießt seine Ex-Frau und anschließend sich selbst in Anwesenheit seines dreijährigen Sohnes. „Möglicherweise eine Eifersuchtstat“ – kommentiert Spiegel-Online am 28. Mai 2008 die Ereignisse in einer kurz gefassten Notiz und einem betont sachlichen Ton.1 „Eheprobleme“ werden auch in einem weiteren Fall vom 6. Juni 2008 in Breisgau von der Presse als Ursache für den Tod von drei Familienmitgliedern als Ursache für traurige Ereignisse konstatiert. Anschließend berichtet Spiegel-Online über die Tötung der Ehefrau „durch Gewalteinwirkung auf den Hals“. Danach rast der Vater mit seinem elfjährigen Sohn auf einer Bundesstraße in den Tod. Das Wort „Mord“ wird in den beiden Kurzartikeln des Internetmagazins Spiegel-Online vom 6. Juni 2008 nicht verwendet.2 Man spricht von einer Tragödie.

1| 2|

jjc/AP, „Familientragödie war möglicherweise eine Eifersuchtstat“, in: SpiegelOnline Panorama (http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,556099,00. html), 28.05.2008. amz/dpa, „Frau verblutet in der Wohnung – Ehemann und Sohn rasen in den Tod“, in: Spiegel-Online Panorama (http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,558017,00.html), 6.06.2008; jjc/ddp/AP, „Ermittler rätseln über Tatmotiv“, in: Spiegel-Online Panorama (http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,558133,00.html), 6.06.2008.

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Im Mai 2008 ereignete sich noch ein weiterer tragischer Vorfall: die 16-jährige Deutsch-Afghanin Morsal O. wird durch ihren 23-jährigen Bruder Ahmad O. in der Nacht vom 15. auf den 16. Mai in Hamburg mit mehr als 20 Messerstichen erstochen.3 Alle sind sich einig: es handelt sich um einen „Ehrenmord“. Die Onlineausgabe der Bildzeitung reagiert daraufhin mit mindestens 67 Artikeln.4 Spiegel-Online widmet diesem Thema mindestens 30 Artikel und fünf Videoclips.5 Die Resonanz dieses tragischen Falles allein bei Spiegel Online und Bild.de lässt sich im Vergleich zu den nicht weniger tragischen „Familiendramen“ kaum abstreiten. Auch die mediale Darstellung und Thematisierung der Ereignisse weist gravierende Unterschiede auf. Die Schilderung des Vorfalls wird von einer Bildergalerie des Opfers und seiner Familienangehörigen begleitet und mit den pathetischen Ausrufen untermauert.6 Man erinnert sich an die Tötung von Hatun Sürücü in Berlin 2005, rekonstruiert weitere „ähnliche“ Fälle, sucht nach Parallelen sowohl bundesweit als auch international. Es entwickelt sich das Bild einer zeitlichen Kontinuität solcher Delikte: man konstruiert ein Problem gesamtgesellschaftlichen Maßstabes.7 Es wird die besondere, sich von anderen familiären Tötungsdelikten abhebende Grausamkeit und Skrupellosigkeit vorgeführt: „Ahmad O. (23), der die 16-jährige Morsal wie ein Stück Vieh abschlachtete [sic!], trieb sich mit Huren rum, war oft sturzbetrunken, ein gewalttätiger Schläger.“8 Einer öffentlichen Stellungnahme der Politiker zu diesem Fall folgt die Analyse von Präventionsmaßnahmen und rechtlichen Regelungen: Auch hier wird die Ursache für diesen tragischen Fall klar definiert: „Die – potenziell auch lebensbedrohende – Gefährdung von insbesondere Mädchen und Frauen in derartig gewalttätig ausgeprägten Familienkonflikten vor dem Hintergrund traditionell-patriarchal-religiös geprägter Strukturen […].“9 Weitere Gründe für die Straftat (frühere Delinquenz des Täters und des Opfers, Drogen3| 4| 5|

6| 7| 8| 9|

„Hier beerdigen sie Morsal O“, in: Bild.de (http://www.bild.de/BILD/hamburg/ aktuell/2008/05/22/ehrenmord-beisetzung-0/in-hamburg.html), 22.05.2008. „Ergebnisse der Suche für Morsal O.“, in: Bild.de (http://www.bild.de/kddb/ cms/websearch.do?start=40&query=Morsal+O.), 12.12.2008. „Ergebnisse der Suche für Morsal O.“, in: Spiegel-Online Wissen (http://wissen. spiegel.de/wissen/resultset.html?pc=3&suchbegriff=%22o.%2C%20morsal%20 %20%22&fo=SPIEGEL), 03.03.2009; „Tumulte im Gerichtssaal: Lebenslänglich im Ehrenmord-Prozess“, in: Spiegel-Online Video (http://www.spiegel.de/ video/video-51408.html), 03.03.2009. „Wer hat versagt?“, „Morsal hätte nicht sterben müssen“, „Warum habt ihr alle nicht geholfen?“, „Das Protokoll der Schande“ und schließlich „Warum hat der Mörder einen deutschen Pass?“, in: Bild.de (www.bild.de), 12.12.2008. Spiegel-Online (www.spiegel.de), 12.12.2008. O. Schiel, „Der Ehrenmord. Das kriminelle Leben des Schwester-Killers“, in: Bild.de (http://www.bild.de/BILD/news/vermischtes/2008/05/20/ehrenmord/ das-kriminelle-leben-des-schwester-killers,geo=4583268.html), 19.05.2008. Jasmin Eisenhut, „Pressemeldung der Stadt Hamburg: Schutz für Mädchen vor Gewalt“, in: http://www.hamburg.de/pressearchiv/319554/2008-05-27-bsg-bsbopferschutz.html, 27.05.2008.

Z UR G ENERIERUNG

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IN MEDIALEN

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konsum, psychische Störungen u. ä.) werden in der Pressemeldung der Stadt Hamburg zu Gunsten von „Tradition“, „Patriarchat“ und „Religion“ ausgeblendet. Auf Spiegel-Online wird am 22. Mai 2008 eine Lösung für diese Problemsituation und beinahe schon eine Handlungsanweisung für die Politiker vorgeschlagen: „Es muss aber klar sein, dass kulturelle Identität nicht über die geltende Rechtsordnung gestellt werden darf. Und es muss klar sein, dass der demokratische Staat auf massive Rechtsbrüche auch massiv zu reagieren bereit ist,“ – so der SPD-Fraktionschef für Hamburg, Michael Neumann.10 Spiegel Wissen legt online im Lexikon der nächsten Generation am 22. April 2008 einen neuen Artikel mit dem Basiswissen über das Unwort11 des Jahres 2005 an, das in keinem einzigen offiziellen Wörterbuch der Deutschen Sprache12 bisher verzeichnet und definiert wurde.13 Diese Aufklärungsarbeit geht noch weiter: Der schwierige Begriff „Ehrenmord“ wird den Zuschauern des TV-Senders Kinderkanal (KIKA) sowohl in den Kindernachrichten, als auch als Basiswissen im Nachrichtenlexikon ZDFtivi-logo! erklärt.14 Dass es sich im Fall Morsal O. um einen Intensivtäter mit psychischen Störungen handelt, wird auch hier nicht erwähnt. Einträge hingegen zu den Stichworten „Familiendrama“ und „Familientragödie“ finden sich im Kindernachrichtenlexikon nicht. Die Masse an Presseartikeln und Videoclips zum tragischen Fall Morsal O. im Vergleich zu den am Anfang angeführten familiären Tötungsdelikten in deutschen Familien erscheint auf den ersten Blick überraschend. Man kann sich kaum der Frage verwehren, warum das Leben bzw. der Tod einer Deutsch-Afghanin Morsal O. auf dem Medienmarkt mehr „Wert“ hat als die Schicksale der minderjährigen Todesopfer aus den „Familiendramen“: Häufig werden nicht einmal ihre Namen in den Pressemeldungen genannt. Es werden keine Kommissionen einberufen, um die Handlungsmöglichkeiten der Behörden zu eruieren, keine 10 | rge/dpa/AP, „Politiker wollen Integrationsdruck auf Zuwanderer erhö11 | 12 | 13 |

14 |

hen“, in: Spiegel-Online Politik (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,554851,00.html), 22.05.2009. „Unwort des Jahres“, in: Gesellschaft für deutsche Sprache (http://www.gfds.de/ aktionen/wort-des-jahres/unwoerter-des-jahres/), 2005. Renate Wahrig-Burfeind (Hg.), Wörterbuch der deutschen Sprache, München 2007; Anette Auberle/Annette Klosa (Hg.), Duden: deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 2001. „Ehrenmord“, in: Spiegel Wissen: Lexikon der nächsten Generation (http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/96/10/dokument.html?titel=Ehrenmord&id= 56500169&top=Lexikon&suchbegriff=ehrenmord&quellen=&qcrubrik=recht), 22.04.2008. „Warum wurde Morsal ermordet?“, in: ZDFtivi – logo! (http://www.tivi.de/ fernsehen/logo/artikel/26423/index.html), 16.12.2008. Im Artikel erfahren minderjährige Internetnutzer des Kinderkanals, dass „Ahmad seine Schwester getötet hat, weil er und seine Familie es nicht gut fanden, wie das Mädchen in Deutschland gelebt hat. […] Solche Morde […] passieren meist in Familien, die aus fremden Ländern eingewandert sind“.

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Aufklärungsarbeit innerhalb der Bevölkerung oder der Sozialdienste gefordert. Kein Politiker äußert sich öffentlich zur Lage der Familien in Deutschland hinsichtlich dieser Taten, niemand fordert einen Eingriff des „demokratischen Staates“ gegen rechtswidrige Ereignisse. Man spricht auch nicht über „massive Rechtsbrüche“, sondern von Dramen und Tragödien. Wie lässt sich erklären, dass im Fall der „Ehrenmorde“ Empörung, Entsetzen und Wut in den medialen Darstellungen zum Ausdruck kommen, welche psychologisch gesehen auf die Wahrnehmung einer gebrochenen Norm hinweisen, und im Gegenteil dazu im Fall der „Familientragödien“ nur kurz gefasste, nüchterne Sachlichkeit geäußert wird?

2. Vorgehensweise Nach Angaben des Bundeskriminalamtes wurden im Zeitraum von 1996 bis 2005 etwa 55 „Ehrenmorde“ festgestellt. Diese Zahl setzt sich aus Fällen verschiedenen Typen zusammen: zum einen handelt es sich um „idealtypische Ehrenmorde“, bei denen die Strafe für das „Fehlverhalten der Frau“ als Legitimation für die Herstellung der Familienehre genutzt wurde. Zum anderen schließt diese Zahl 31 Grenzfälle ein, in denen im Rahmen einer Partnerbeziehung eine Tötung aus Eifersucht und „Blutrache“ vorlag.15 In einer anderen Untersuchung der familiären Tötungsdelikte des internationalen Projekts „The European Homicide-Suicide Study“ (EHSS) wird von 920 familiären Tötungsdelikten mit 1100 Opfern in Deutschland im Zeitraum von 1996 bis 2005 gesprochen,16 wobei diese Zahl im Artikel nicht nach ethnischer Zugehörigkeit weiter differenziert wurde. Dennoch erscheint die Popularität der „Ehrenmorde“ in den Massenmedien gegenüber den nicht weniger tragischen „Familiendramen“ vor dem Hintergrund dieser Relation klärungsbedürftig. Im Folgenden wird daher versucht, diesem Paradox nachzugehen. Nach der Klärung des Begriffes „Ehre“ soll auf die Besonderheiten des Phänomens der „fremden Ehre“ eingegangen und dieses mit den Erkenntnissen der Soziologie des Fremden begründet werden. Anschließend wird die soziale Kategorisierung der „fremden Ehre“ wissenssoziologisch mit der Theorie des sozialen Framings erklärt. Als Grundlage für die Identifikation und 15 | Bundeskriminalamt, „Presseinformation zu den Ergebnissen einer Bund-Län-

derabfrage zum Phänomenbereich „Ehrenmorde in Deutschland“, in: Bundeskriminalamt Wiesbaden (http://www.bka.de/pressemitteilungen/2006/060519_ pi_ehrenmorde.pdf), 19.05.2006. 16 | Dietrich Oberwittler, „The European Homicide-Suicide Study (EHSS): A new Collaborative Research Effort“, in: The Criminologist: The Official Newsletter of the American Society of Criminology (http://www.asc41.com/Criminologist/2008/2008_May-June_Criminologist.pdf, Vol. 33, No. 3, May/June 2008, 21-22).

Z UR G ENERIERUNG

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IN MEDIALEN

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Beschreibung des Frames „die Gewalt im Namen der Ehre“ werden 254 Online-Artikel und 5 Videosequenzen der am meisten in Deutschland gelesenen überregionalen Tageszeitung Bild und der Online-Ausgabe der Wochenzeitschrift Spiegel im Zeitraum vom 2000 bis 2009 zur Inhaltsanalyse verwendet. Die nach der Grounded Theory17 kodierten Artikel und V-Sequenzen beinhalten insgesamt 53 Fälle (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Sampling im Überblick Fallzahl

SpiegelOnline

Bild.de

Video

Gesamt

„Ehrenmorde“

4

50

84

5

134 + 5

„Familiendramen“ bei Einheimischen

46

40

69

109

„Familiendramen“ bei Migranten

3

5

6

11

Gesamt

53

95

159

5

254 + 5

Obwohl es sich in den analysierten Fällen (n=53) um Eifersuchts- oder Beziehungsdelikte handelt, wird das Augenmerk auf die unterschiedliche mediale Darstellung von den in den Delikt verwickelten Akteuren, Deliktursachen und Lösungsdefinitionen gerichtet, ohne dabei die Frage nach Mustern und Vergleichbarkeit zu erwähnen. 134 Artikeln zu vier „Ehrenmorden“ stehen insgesamt nur 109 Artikel zu 46 Fällen von „Familiendramen“ gegenüber. Anhand der durchgeführten Analyse werden im Folgenden einige Tendenzen in der Darstellung der familiären Tötungsdelikte dargestellt und theoretisch untermauert.

3. Soziales Framing Im Fall der Deutsch-Afghanin Morsal O. geht es nur zum Teil um den Tod des Mädchens. Der Fall wurde zum Anlass vieler Selbstpräsentationen und Fremdthematisierungen, die mit der Semantik der „Gewalt im Namen der Ehre“ überzogen wurden und das Bemühen der Presse um eine „passende“ Kategorie für den fremden Täter und das fremde Opfer widerspiegeln. Obwohl dieser Fall äußerst umstritten ist und weit über die klassischen Vorstellungen von einem „Ehrenmord“ hinausreicht, wurde er in der Presse gleich als ein „idealtypischer Ehrenmord“ dia17 | Barney G. Glaser/Anselm L. Strauss, Grounded Theory: Strategien qualitativer

Forschung, Bern 1998.

224 | O LGA M ICHEL

gnostiziert und als solcher in etwa 90 Artikeln bei Spiegel-Online und Bild.de behandelt. Der Widerruf dieses vorschnellen Urteils erfolgte nur in einem einzigen Artikel bei Spiegel-Online etwa ein Jahr später.18 Was löste die Einordnung dieses Falls zu den „idealtypischen Ehrenmorden“ aus? In der Sozialpsychologie spricht man in dieser Hinsicht über die Prozesse der sozialen Kategorisierung.19 Im Vordergrund steht das Wissen über eine wahrgenommene Differenz oder sozial markierte „Abweichung“. Differenzen, Distinktionen, Eigenschaften oder Merkmale, ob eigene oder fremde, werden benannt, eingeordnet, charakterisiert und erklärt. Dadurch erhalten sie nicht nur innerhalb von Interpretationsund Deutungsschemata ihr soziales Profil und ihre soziale Position, sondern auch in der jeweiligen sozialen Struktur und im sozialen Handeln.20 Nicht zufällig erscheint der „Fremde“ bei den Klassikern der Soziologie als sozialer Typus.21 Sowohl bei Georg Simmel (1992) als auch bei Alfred Schütz (1972) oder Erving Goffman (1975) handelt es sich nicht um das eigentliche Anderssein, um die Differenz als solche, sondern um eine Beziehung zur Differenz, eine kategorisierte Differenz, deren Institutionalisierung, deren Normierung in Deutungsmustern und Aufwertung in sozialen Relevanzstrukturen.22 Durch die soziale Kategorisierung bekommt eine Differenz somit ihre soziale Bedeutung und die Konsequenz für die Gestaltung und Entwicklung sozialer Beziehungen. 23 Damit wird das Fremde nicht „durch ein objektives Verhältnis zweier Personen oder Gruppen, sondern [durch] die Definition einer Beziehung“, durch die Einstufung bestimmter Personengruppen als fremd oder durch die Ziehung „einer empathischen Demarkationslinie“ zwischen verschiedenen Gruppen hergestellt.24 Nicht der Fremde, sondern die Differenz und de18 | Gisela Friedrichsen, „Doubts About German ‚Honor Killing‘“, in: Spiegel19 |

20 | 21 |

22 |

23 | 24 |

Online International (http://www.spiegel.de/international/germany/0,1518, 605777,00.html), 02.05.2009. Louise Pendry, „Soziale Kognition“, in: Klaus Jonas/Wolfgang Stroebe/Miles Hewstone (Hg.), Sozialpsychologie, Heidelberg 2007, 111-146. Rosemarie Mielke, „Soziale Kategorisierung und Vorurteil“, in: Jutta Gallenmüller-Roschmann/ Massimo Martin/Roland Wakenhut (Hg.), Ethnisches und nationales Bewusstsein – Studien zur sozialen Kategorisierung, Frankfurt a. M. 2000, 11-42. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt a. M. 1981. Peter-Ulrich Merz-Benz/Gerhard Wagner, „Der Fremde als sozialer Typus: Zur Rekonstruktion eines soziologischen Diskurses“, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/ Gerhard Wagner (Hg.), Der Fremde als sozialer Typus. Klassische soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen, Konstanz 2002, 9-38. Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, 51, 765; Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze: Studien zur soziologischen Theorie, Bd. II, Den Haag 1972, 52, 226; Erving Goffman, Stigma: über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1975, 12f. Frank Hillebrandt, „Differenz und Differenzierung in soziologischer Perspektive“, in: Helma Lutz/Norbert Wenning (Hg.), Unterschiedlich verschieden: Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001, 47-70. Alois Hahn, „Die soziale Konstruktion des Fremden“, in: Walter M. Spondel

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ren Verfremdung im Eigenen und durch das Eigene rücken damit in den Mittelpunkt. Die Geschichte liefert uns zahlreiche Belege dafür, dass sich die Verfremdung der Differenten auch gegenüber den „abweichenden“ Eigenen entwickeln konnte. So lässt sich in vielen Diktaturen das Bild der „inneren Feinde“ vorfinden, mit dem die Verfolgung der Andersdenkenden begründet wurde. Der in der Bevölkerung weit verbreitete Hexenwahn des Mittelalters und der frühen Neuzeit wäre eines von vielen solcher Beispiele für die Verfremdung des Differenten im Eigenen. Auch der „ethnisch Andere“ kann, neben vielen anderen Gruppen, eventuell der ausgrenzenden, exklusiven Logik der Differenz unterzogen werden. Die symbolische Stilisierung dieser Inkongruenz in Mythen, undifferenzierten Bildern, Pauschalurteilen, Stammtischparolen und Witzen verleiht dem Fremdbild seine Legitimation, begründet die eigene Positionierung gegenüber dem Fremden, dem Differenten, sowie das eigene Verhalten dem Differenten gegenüber: der Fremde erlangt dadurch sein soziales Profil, das durch die soziale Umgebung ständig aktualisiert und reproduziert wird. Die auf diese Weise sozial aufgeladenen Differenzen vom Eigenen werden dramatisiert 25 und tragen so zu einer inneren bzw. mentalen und emotionalen Distanz bei 26 und können sogar eine soziale Distanzierung27 von bestimmten sozialen Phänomenen und Gruppen hervorbringen. Die Verfremdung des Differenten benötigt daher nur wenig: eine sozial aufgeladene Kategorie und einen Anlass.28 Ob zur Bestätigung des Eigenen und zum Erhalt der positiven sozialen Identität in Abgrenzung vom Differenten29 oder aus Angst vor einer möglichen Bedrohung durch das Fremde,30 die Bilder über den „ethnisch Anderen“, aber auch über das Eigene sind ein nicht wegzudenkender Teil des geistigen Lebens im Allgemeinen und der Kommunikation im Besonderen: sie füllen mediale, öffentliche und wissenschaftliche Diskurse. Das Wissen über das Eigene und das Fremde wird (re-)produziert, aktualisiert, problematisiert, ausgeblendet, überspitzt formuliert, vergessen und erinnert, kurzum: organisiert. Dabei lauten die zentralen Fragen dabei: Wie entsteht das Wissen über das Eigene und das Fremde? Welche Wissensbestände werden als Wahrheit und soziale Norm etabliert? Wie wird

25 | 26 | 27 | 28 | 29 | 30 |

(Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion, Frankfurt a. M. 1994, 140-167. Ebd., 141. Vgl. Simmel 1992, 743. Hartmut Esser, Soziologie: spezielle Grundlagen, Bd. II: Die Konstruktion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, 298. Ders., Soziologie: spezielle Grundlagen, Band VI: Sinn und Kultur, Frankfurt a. M. 2001, 489ff. Otfried Schäffter, „Modi des Fremderlebens: Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit“, in: Otfried Schäffter (Hg.), Das Fremde: Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, 11-44. Werner Schiffauer, Fremde in der Stadt, Frankfurt a. M. 1997.

226 | O LGA M ICHEL

das Wissen über das Eigene und das Fremde mit Berücksichtigung von Verfremdungsprozessen in Konflikt- und Gewaltsituationen, wie „Familiendramen“ oder „Ehrenmorden“, organisiert? Sowohl die Geschichte, als auch aktuelle Debatten um so genannte „soziale Problemfelder“ geben unzählige Beispiele, die zum einen eine Re-Organisation des Wissens in sozialen Relevanzstrukturen aufzeigen und zum anderen die Folgen solcher Umwertungsprozesse unter Verwendung von normativen, kognitiven Interpretationsschemata mit gruppenbezogenen menschenfeindlichen Inhalten verdeutlichen. Die Untersuchung solch sozial normierter, unbewusst und blitzschnell in einer Situation aktivierbarer kognitiver Interpretationsschemata über die sogenannte „richtige“ Wirklichkeit – Frames (Rahmen) – geht auf den Kognitionspsychologen Gregory Bateson31 zurück und wurde im Rahmen der kognitiven Psychologie, Soziologie,32 Kommunikations- und Medienwissenschaften, 33 aber auch der Soziolinguistik 34 untersucht und weiter entwickelt. Frames ermöglichen die Orientierung des Akteurs, die Definition der Situation und seine Einstellung und dadurch eine relativ reibungslose Konstitution sozialer Systeme. Dies geschieht durch kulturell bedingte und sozial produzierte Bezugsrahmen, durch ein kollektives Wissensmuster, Mentalmodell, Interpretations- und Signifikationsschema, standard operating procedure, Handlungsschema, Attitüde, Stereotype und den Habitus. Frames konstituieren die Identität des Akteurs, aber auch sein Weltbild samt aller kulturellen und normativen Differenzierungen und Definitionen sozialer Beziehungen. Sie fungieren aber auch als „Akteursfiktionen“.35 Der Automatismus und die Unbewusstheit der Aktivierung von Einstellungen zu einer Situation, die Unbedingtheit normativer Orientierung und damit die Totalität des Bezugs des Akteurs auf die als „richtige“ Wirklichkeit gespeicherte Interpretation machen Frames zu solch wichtigen, für das Verständnis der Interaktion der Akteure entscheidenden Gegebenheiten. Die Aktivierung eines Frames genügt, um eine Person nicht mehr als einen individuellen, son31 | Vgl. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of the Mind, New York 1972. 32 | Erving Goffman, Rahmen-Analyse: Ein Versuch über die Organisation von All-

tagserfahrungen, Frankfurt a. M. 1977; David A. Snow/Robert D. Benford, „Ideology, Frame Resonance, and Participant Mobilization“, in: International Social Movement Research, Vol. I: From Structure to Action: Comparing Social Movement Research across Cultures, London 1988, 197-218; David A. Snow/Robert D. Benford, „Framing Processes and Social Movements: An Overview and Assessment“, in: Anual Review of Sociology, 26/2000, 611-639; Esser 2001. 33 | Jörg Matthes/Matthias Kohring, „The Content Analysis of Media Frames: Toward Improving Reliability and Validity“, in: Journal of Communication 58/2008, 258-279; Bertram Scheufele, Frames – Framing – Framing-Effekte: Theoretische und methodische Grundlegung des Framing-Ansatzes sowie empirische Befunde zur Nachrichtenproduktion, Wiesbaden 2003. 34 | Deborah Tannen, Framing in Discourse, New York 1993. 35 | Esser 2001, 259-264, 335.

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dern als einen kollektiven Akteur handeln zu lassen. Die Generierung kollektiver Handlungsrahmen erfolgt nach Benford und Snow36 auf folgende Weise: a) durch diskursive Praktiken, indem bestimmte Aspekte der Wirklichkeit zu Ungunsten anderer überbetont und damit die Wahrnehmung eingeengt wird; b) durch strategische Produktion zur Ressourcensteigerung und Mobilisierung einer Gruppe, indem zum Beispiel Frames verbunden, ausgeweitet, verstärkt oder transformiert werden; c) durch konfliktträchtige Auseinandersetzungen und Deutungskämpfe sowohl innerparteilich, als auch mit den außerstehenden Opponenten einer sozialen Bewegung. Die Organisation des Wissens innerhalb solcher Rahmen (Frames) erfolgt nach bestimmten Regeln. So unterscheiden Matthes und Kohring37 in Anlehnung an Entman38 folgende Identifikationsmerkmale von Frames: Problemdarstellung, Ursachenzuweisung, moralische Bewertung, Lösungsbegründung und Handlungsanweisung. Wenden wir uns nun der Analyse vom Framing der „Ehrenmorde“ und der „Familiendramen“ zu.

4. Framing von Akteuren in familiären Tötungsdelikten In der Literatur finden sich zahlreiche Arbeiten, die das soziale Framing des Fremden beschreiben. Das Täter-Opfer-Schema für die soziale Positionierung des Fremden ist eines der Beispiele, das in diesen Arbeiten besonders häufig identifiziert wurde.39 Die Häufigkeit der Anwendung dieses Täter-Opfer-Schemas in den Medien kann auf folgende Gründe zurückgeführt werden. Alfred Schütz40 und Zygmunt Bauman41 schreiben, dass das Fremdbild kaum adäquat sein kann, weil der Fremde sich „als Träger und Verkörperung des Inkongruenten wieder[findet]“.42 Die Anomalie des Fremden wird also in der eigenen Wahrnehmung vor- und einprogrammiert. Dies findet sich auch in den dem Fremden zugewiesenen sozialen Rollen wieder: sowohl der Opferrolle als auch der Täterrolle wohnt eine Differenz inne. Schon semantisch weisen sie auf Abwei36 | Benford/Snow 2000, 621. 37 | Matthes/Kohring 2008, 264. 38 | Robert M. Entman, „Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm“,

in: Journal of Communication, Heft 43 (4)/1993, 51-58.

39 | Hajo G. Boomgaarden, Framing the Others. News and Ethnic Prejudice, Amster-

dam et al. 2007; Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Massenmedien, Migration und Integration: Herausforderungen für Journalismus und politische Bildung, Wiesbaden 2006, 53-86; Klaus Eder/Valentin Rauer/Oliver Schmidtke (Hg.), Die Einhegung des Anderen: Türkische, polnische und russlanddeutsche Einwanderer in Deutschland, Wiesbaden 2004. 40 | Vgl. Alfred Schütz 1972. 41 | Zygmunt Bauman 2002. 42 | Ebd., 31.

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chung, Devianz, ein begangenes oder erlittenes Verbrechen bzw. Unrecht hin. In beiden Fällen werden dem Individuum die soziale Reife und die selbständige Entscheidungsfähigkeit abgesprochen, Bevormundung wird legitimiert und damit seine Abweichung manifestiert. Der Fremde wird entweder ohnmächtig/unfähig oder als überfähig/übermächtig dargestellt. Diese Rollen implizieren zudem eine Art der Selbstpositionierung dem Differenten gegenüber: sie erfordern eine bestimmte Stellungnahme und Reaktion. Die Bedürftigkeit des Opfers versetzt einen Menschen in die Position eines überlegenen Befreiers oder Gönners. Die Gefährlichkeit, Unmoral und Arroganz des Täters löst ebenfalls bestimmte Reaktionsmuster aus, die vom Beschützer über den bestrafenden Gerechtigkeitskämpfer bis hin zum moralisierenden Richter reichen. Diese Tendenzen finden sich auch in der medialen Darstellung der Täter und Opfer familiärer Tötungsdelikte wieder (siehe Tabelle 2): Tabelle 2: Darstellung der Täter familiärerer Tötungsdelikte Das Bild der Täter Betonung der Grausamkeit Betonung der Skrupellosigkeit

„Ehrenmorde“ Beispiele

„Familientragödien“

SpiegelOnline

Bild.de

SpiegelOnline

Bild.de

„Massaker“, „Menschenjagd“

17

23

1

10

„eiskalt“ etc.

13

15

1

1

Aggressive Fotos der Täter

15

Positive Eigenschaften der Täter

1

3

9

5

7

9

19

21

11

Täter als Opfer der Umstände

Psychische Krankheit, schwere Kindheit, finanzielle Probleme etc.

Täter als typischer Vertreter des Kulturkreis Täter als Idealtypus des Kulturkreises

„Verbrechen im Namen des Systems“

9

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Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, nimmt die Kategorie des Fremden in den „Ehrenmorden“ ihren festen Platz ein: in der Tendenz wird der Fremde als typischer Vertreter seines Kulturkreises dargestellt. Er wirkt brutaler und skrupelloser und sticht seltener als Opfer der Umstände hervor. Außerdem wird das Bild des Täters in den „Ehrenmorden“ ausschließlich auf sein Verbrechen reduziert, wogegen die Täter der „Familiendramen“ manchmal auch positiv beschrieben werden. Auf ähnliche Art und Weise wird das Bild der Opfer dargestellt. Neben der Darstellung des Opfers als eines typischen Vertreters des Kulturkreises bei „Ehrenmorden“ wird es obendrein in ein Symbol des Kampfes für Emanzipation verwandelt bei einer gleichzeitigen Ausblendung der eigenen Delinquenz. Diese beiden Tendenzen finden sich nicht in den „Familiendramen“ (siehe Tabelle 3): Tabelle 3: Darstellung der Opfer in familiären Tötungsdelikten Das Bild der Opfer

„Ehrenmorde“ Beispiele

SpiegelOnline

Vor- und Nachname der Opfer

„Familientragödien“

Bild.de

SpiegelOnline

Bild.de

40

74

4

17

Ausdrucksvolle Fotos (Trauer, Leiden)

5

28

Vorgeschichte der Unterdrückung

19

15

Frühere Gewalt oder Drohung durch den Täter

19

24

1

3

9

11

21

15

Glorifizierung der Opfer

Opfer als typischer Vertreter des Kulturkreises

„Sie kämpfte für alle und musste sterben!“

Außerdem erscheinen die Opfer der „Familiendramen“ als gesichtslose Fälle ohne Namen und ohne Vorgeschichte, wohingegen die Lebensläufe der Opfer der „Ehrenmorde“ detailliert beschrieben werden. Auffallend

230 | O LGA M ICHEL

ist auch die Tatsache, dass die Opfer in den „Ehrenmorden“ mit der Kategorie „Deutsch-Afghanin“ oder „Afghanin“ bezeichnet werden, wobei der Täter ausschließlich als Afghane kategorisiert wird. Das journalistische Framing von familiären Tötungsdelikten wird damit zu einem mächtigen Mechanismus, der nicht nur stereotypisierte Bilder des Differenten produziert, sondern auch eine Instrumentalisierung der Fälle mitbestimmt. 5. Framing von Ursachen und Handlungen in familiären Tötungsdelikten Es lassen sich ebenso viele Unterschiede in der Darstellung der familiären Tötungsdelikte selbst vorfinden. „Ehrenmorde“ werden häufiger als ein gesellschaftliches Problem in der Presse wahrgenommen, indem die Stellungnahmen von Politikern, Experten, Schauspielern, Menschenrechts- und Frauenrechtsorganisationen wiedergegeben werden. Zudem werden Studien zum Thema zitiert oder ein Bezug zu „ähnlichen“ Fällen sowohl im Ausland als auch bundesweit hergestellt. Die mediale Darstellung der Delikte geht weit über die übliche Berichterstattung hinaus, indem „Ehrenmorde“ als ein Teil eines ethnisch-nationalen Konfliktes mit dem Motto „The Whore Lived Like a German“43 dargestellt werden und somit die Ausweitung des Frames auf solche Themen wie Integration und „Parallelgesellschaften“, die Frage nach der Staatsangehörigkeit, Modernität, die wachsende Bedrohung durch den Islam, Terrorismus und sogar Genitalverstümmelung herbeiführen. All dies kommt in den „Familiendramen“ nicht vor. Wenn in den „Familiendramen“ die Tendenz in der Rekonstruktion der Umstände von Delikten liegt, wird der Fokus in den „Ehrenmorden“ auf die Rekonstruktion der Täterkarriere oder der Leidensgeschichte des Opfers gelenkt. Auch Ursachenattribution in den „Ehrenmorden“ wird in fast allen analysierten Artikeln gleich eindeutig genannt, ohne weitere mögliche Gründe für das jeweilige Delikt abzuwägen. In den „Familiendramen“ hingegen wird dafür mehr Raum für die Untersuchung der Fälle eingeräumt (siehe Tabelle 4):

43 | Jody K. Biehl, „The Whore Lived Like a German“, in: Spiegel-Online

International 03.02.2005.

(http://www.spiegel.de/international/0,1518,344374,00.html),

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Tabelle 4: Einige Ursachen- und Handlungsattributionen zu familiären Tötungsdelikten „Ehrenmorde“ Beispiele

Ursachen

Lösungen / Handlungen

SpiegelOnline

Bild.de

„Familientragödien“ SpiegelOnline

Bild.de

Unklar / Unbekannt

1

20

16

Scham über finanzielle Probleme

2

9

10

Beziehungsprobleme

3

15

20

Trennung / Eifersucht

3

14

14

Tradition / Patriarchat / Religion / Herkunft

37

60

Versagen von Fachdiensten, Justiz, Politik, Vereinen etc.

20

28

Eingriff des Rechtsstaates

12

12

Integrationsdruck auf Migranten

12

5

Wachsamkeit in der Bevölkerung

13

4

Schutz für die Opfer

9

10

Ausweisung der Täter / Verhärtung von Einreiseregelung

4

6

4

1

Sowohl in der Ursachenattribution als auch in den Lösungs- und Handlungsanweisungen wird das Fremde in den „Ehrenmorden“ thematisiert, indem „Kultur“, „Tradition“ oder „Religion“ als Erklärungsmuster für die Verbrechen herangezogen werden. Auch im umstrittenen Fall Morsal O. wurde dieses Muster bzw. Frame der „fremden Ehre“ aktiviert und überdauerte in der Presse für über ein Jahr, bis der vermeintlich eindeutige „Ehrenmord“ angezweifelt und wiederlegt wurde. Wie kommt es dazu, dass das Ehrkonzept als ein migrantenspezifisches Problem angesehen

232 | O LGA M ICHEL

und als Diagnose für Gewaltanwendung ohne näheres Hinsehen postuliert wird?

6. Framing der „Gewalt im Namen der Ehre“ In den üblichen „Familiendramen“ scheint die Ehre als Phänomen keine Rolle zu spielen. Zwar wird über Eifersucht und Besitzanspruch des männlichen Täters gegenüber seiner (Ex-)Partnerin gesprochen und seine Wut über ihre Entscheidung „anders zu leben“ thematisiert, – all dies wird aber mit der verletzten (Mannes-)Ehre kausal nicht verbunden. Die „fremde Ehre“ erlebt dagegen eine extreme semantische Ausweitung und wird nicht von häuslicher Gewalt unterschieden. Im wissenschaftlichen Diskurs finden sich mittlerweile zahlreiche Arbeiten zu dem Phänomen der Ehre, welches sehr unterschiedlich begriffen wird. Mindestens vier verschiedene Diskursstränge lassen sich in diesem Zusammenhang unterscheiden: zum einen gilt das besondere Augenmerk des wissenschaftlichen Diskurses dem „Kodex der Straße“ und dem damit verbundenen überspitzten Ehrgefühl von sozial unterprivilegierten Jugendlichen.44 Ein weiterer Diskussionsfokus richtet sich auf die nationale Ehre.45 Schließlich streitet sich die wissenschaftliche Welt über das Verhältnis von Moderne und Ehrbegriff,46 indem das mediterrane Ehrverständnis und dessen Ausdrucksformen am Beispiel von „Ehrenmorden“ problematisiert werden.47 Indem einige Autoren die Ehre auf einen Wert wie Keuschheit reduzieren und deren Platz in der Moderne damit abstreiten, sprechen andere über moderne Pendants der Ehre wie Stolz, Prestige, Respekt, Fairness, Würde und Status. Ob die Millionenbudgets für Poli44 | Siefried Lamnek/Jens Luedtke/Ralf Ottermann, Tatort Familie: Häusliche Ge-

walt im gesellschaftlichen Kontext, Wiesbaden 2006.

45 | Peter Gostmann/Gerhard Wagner, „Die Macht der Ehre – eine Theorie und Me-

thode zur Messung von Nationalprestige“, in: Peter Gostmann (Hg.), Macht und Herrschaft: Zur Revision zweier soziologischer Grundbegriffe, Wiesbaden 2007. 46 | Peter L. Berger/Brigitte Berger/Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a. M. 1975; Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und ‚Klassen‘, Frankfurt a. M. 1985; Hartmut Esser, Soziologie: spezielle Grundlagen, Bd. I: Situationslogik und Handeln, Frankfurt a. M. 1999; Erhard Stölting, „Scheinbarer Archaismus und scheinbare Authentizität: Der Mechanismus der Ehre im modernen Sozialleben“, in Sozialersinn: Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, Heft 3/2003, 465-479; Ludgera Vogt, Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft: Differenzierung, Macht, Integration, Frankfurt a. M. 1997. 47 | Christian Giordano, „Der Ehrkomplex im Mittelmeerraum: sozialanthropologische Konstruktion oder Grundstruktur mediterraner Lebensformen?“, in: Ludgera Vogt/Arnold Zingerle (Hg.), Ehre: Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt a. M. 1994, 172-192; Thomas Hauschild, Ritual und Gewalt: Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 2008; Werner Schiffauer, Die Gewalt der Ehre: Erklärungen zu einem deutsch-türkischen Sexualkonflikt, Frankfurt a. M. 1983; Werner Schiffauer, Parallelgesellschaften: Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz, Bielefeld 2008.

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zeieinsätze bei Fußballspielen zum Schutz vor der gekränkten Ehre von Fans oder beim Unmut über Affären von Politikern – die Ehrregelungen sind kaum wegzudenken oder nur auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu reduzieren. Das Ehrkonzept erscheint somit als ein facettenreiches soziales Phänomen, das die Identität, das Verhalten des Akteurs wie auch die Gruppendynamik regulierend beeinflusst sowie sozial etablierte Institutionen einer Gruppe wie Werte, Normen, aber auch die soziale Ordnung selbst widerspiegelt und deren Integration dient.48 Ein ehrenvolles Handeln kann damit folgendermaßen charakterisiert werden: Der Akteur übernimmt eine moralische Selbstverpflichtung, indem er aufrichtig ein bestimmtes Normenset einer Gemeinschaft selbst vorlebt und so verwirklicht.49 Subjektiv erlangt der Akteur dafür eine so genannte „innere Prämie“ in Form von Stolz, Zuwachs des Selbstwertgefühls, Selbstachtung, psychischem Wohlbefindens sowie soziale Wertschätzung durch Statuserhöhung, Vertrauensvorschuss der Gemeinde und eine bessere Einbindung in die Gruppe.50 Eine Ehrenhandlung in Konfliktsituationen wird als Frage der Gerechtigkeit, der Wertschätzung, des Respekts, des verletzten Stolzes, der verletzten Ehre oder Würde verbalisiert. Wird aber der Begriff der Ehre oder Würde, dessen Schutz und Erhaltung in einer Gruppe an einen bestimmten gruppenspezifischen Verhaltenskodex geknüpft, kann der Verstoß der Mitglieder gegen diese Regeln Sanktionen und damit auch psychische oder physische Gewaltanwendung begründen. „Idealtypische Ehrenmorde“ passen in dieses Muster. Aber auch diese Fälle unterliegen dem Ehrmechanismus und zeichnen sich durch eine ganze Reihe von Kriterien aus, die sie von anderen Delikten unterscheiden. Loyalität des Einzelnen gegenüber der Gruppe und sich selbst gegenüber, das Vorhandensein von festgelegten Regeln und Selbstverpflichtung gegenüber dem sozial bestimmten Verhaltenskodex, Angewiesenheit des Einzelnen auf die moralische Bewertung der Gruppe sowie die Erwartung der Wertschätzung ehrenvollen Verhaltens durch die Gruppe wären einige solcher Kriterien.51 Die Interpretation solcher Delikte erschwert sich nicht nur durch die Differenzierungsnotwendigkeit dieser Kriterien, sondern auch durch die Präsenz des unfassbaren Fremden. In der Literatur finden sich viele Beispiele, in denen sich die „fremde Ehre“ aus dem Bezug auf die kulturelle Modernität des Eigenen 52 speist 48 | Vgl. Bourdieu 1985, Esser 1999, Stölting 2003, Vogt 1997. 49 | Vgl. Erhard Stölting, „Scheinbarer Archaismus und scheinbare Authentizität:

Der Mechanismus der Ehre im modernen Sozialleben“, in Sozialersinn: Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, Heft 3/2003, 465-479. 50 | Vgl. Esser 1999. 51 | Pierre Bourdieu, „The Sentiment of Honour in Kabyle Society“, in: J. G. Peristiany (Hg.), Honour and Shame: The Values of Mediterranean Society, London 1969, 191-242. 52 | Heiner Bielefeldt, Das Islambild in Deutschland: Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2008. Berlin

234 | O LGA M ICHEL

und zur Projektionsfläche von Sehnsüchten nach einer exotischen und archaischen Welt wird, 53 was nicht nur das Phänomen der Ehre selbst archaisiert, sondern auch die Bevölkerungsgruppen als archaisch stigmatisiert. Diese Einengung des Ehrkonzeptes auf die „archaischen Fremden“ sowie dessen Ethnisierung und Kulturalisierung wird unter anderem auch durch den wissenschaftlichen Diskurs gefördert, indem die „Gewalt im Namen der Ehre“ von der „ehrlosen“ Gewalt nicht genügend abgegrenzt wird und eine monokausale Erklärung eines Verbrechens durch den kulturellen Hintergrund des Täters als Identifikationskriterium für solche Delikte angeführt wird. So finden sich in dem Buch Ehre: Das symbolische Kapital der Ethnologin Dagmar Burkhardt54 Fälle der so genannten „Gewalt im Namen der Ehre“, die einer genaueren Präzisierung und Differenzierung bedürfen. Auch in dem vom Ethnologen und Kulturanthropologen Werner Schiffauer geschriebenen Buch Die Gewalt der Ehre55 wird eine Gruppenvergewaltigung als ein „perfektes kulturelles Missverständnis“ abgehandelt. Ein deutsches Mädchen wird durch eine Gruppe von betrunkenen türkischen Jugendlichen brutal misshandelt. Der Autor beschreibt zwar eine ungeheure Brutalität der Täter. Er erzählt auch von den Marginalisierungserfahrungen des Haupttäters, der aus Furcht vor dem gewalttätigen und alkoholkranken Vater obdachlos lebte und sich selbst auf dem Homosexuellen-Strich als türkischer Mann (!) verkaufte. Auch wird erwähnt, dass andere „ehrlose“ Mädchen aus der Clique einfach ausgeschlossen wurden, ohne solch eine Brutalität zu erfahren. Trotz vieler weiterer solcher Evidenzen fungieren das Ehrkonzept und die Kultur der Täter als einige der Hauptargumente für dieses Delikt. Das Verbrechen wird damit als eine kulturell bedingte Norm dargestellt, die auf einer Unterscheidung zwischen einer „ehrenhaften“ und „unehrenhaften“ Frau sowie einer dominanten Männerrolle im muslimischen Kulturkreis beruht. Es gibt auch andere Schriften, in denen, wie Thomas Hauschild es nennt, „statische Bilder von der Mentalität und der Kultur der Einwanderer“ reproduziert werden.56 Zur semantischen Ausweitung der „fremden Ehre“ tragen auch einige Frauenrechtsorganisationen bei, die im Kampf gegen die Menschenrechtsverletzung unter dem Ehrbegriff alle Formen physischer und psychischer Gewalt (Erpressung, Drohung, Unterdrückung Misshandlung, Folter, Mord, Zwangsheirat, Vergewaltigung) zusammenfassen und sie pauschal den islamischen

53 | 54 | 55 | 56 |

Lutz Hoffmann, „Feindbild Islam: Warum man hierzulande den Islam erfinden würde, wenn es ihn nicht schon gäbe“, in: Tilman Hannemann/Peter MeierHüsing (Hg.), Deutscher Islam – Islam in Deutschland, Marburg 2000, 63-81. Vgl. Giordano 1994, 177f. Dagmar Burkhardt, Ehre: Das symbolische Kapital, München 2002. Werner Schiffauer, Die Gewalt der Ehre: Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt, Frankfurt a. M. 1983. Vgl. Hauschild 2008, 188.

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Ländern zuordnen.57 Ohne die Bedeutung der Arbeit der genannten Menschenrechtsorganisation schmälern zu wollen, muss auf ein Paradox hingewiesen werden: Wird der Begriff „Ehre“ zu weit gefasst, indem jegliche Vergewaltigung und Beziehungstat als „Gewalt im Namen der Ehre“ eingeschlossen wird, so müssen auch die in den nicht-muslimischen Gemeinden vorkommenden Vergewaltigungen und „Familiendramen“ als Ehrensache klassifiziert und als Kulturphänomen betrachtet werden, oder sogar mit dem so genannten „Ehrenmord“ gleichgesetzt werden. Denn auch in den „Familiendramen“ bzw. tödlich endenden Partnerkonflikten kommen eine Reihe von ehrverletzenden Erfahrungen in Form von Beschimpfungen, Demütigungen und Drohungen durch den Partner vor.58 Auch in „Familiendramen“ erteilt ein Partner dem anderen eine „gerechte Strafe“ – zum Beispiel wegen einer Trennung mit symbolischer Stilisierung (Mord an Kindern). Es ist nicht zu bestreiten, dass es eine „Gewalt der Ehre“ gibt. Nun gibt es aber auch sehr viel Gewalt ohne Ehre, die sich kaum auf monokausale Erklärungen wie „Kultur“, „Tradition“ oder „Religion“ reduzieren lässt. Wird die „Gewalt im Namen der Ehre“ aber derart weit aufgefasst und auf einen Kulturkreis begrenzt, so werden die sozialen Folgen der Stigmatisierung und Archaisierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen, der Ethnisierung der Kriminalität und der Kulturalisierung sozialer Probleme zu einer logischen Konsequenz.

57 | Myria Böhmecke/Marina Walz-Hildenbrand, Im Namen der Ehre misshandelt,

zwangsverheiratet, ermordet, Terre des Femmes e.V., Tübingen 2007, 10f.

58 | Peter Steck/Barbara Matthes/Claudia Wenger de Chàvez/Kerstin Sauter, „Töd-

lich endende Partnerkonflikte“, in: MSchrKrim, Jahrgang 80, Heft 6/1997, 404417.

Jesu Eintritt ins nir vāna . und Buddhas Kreuzestod Irrungen und Wirrungen komparativer Philosophie am Beispiel asiatischer Kulturen MICHAEL GERHARD

Einleitung Der indisch-stämmige Theoretiker der „postcolonial studies“, Homi K. Bhabha, zeigt in seiner Essaysammlung The Location of Culture von 19941 nachdrücklich auf, welche weitreichenden Folgen der ungenügende hermeneutische Zugriff auf fremde Kulturen hat, wenn die kommunikativen Eigenarten des Kulturkontaktes verkannt werden. So versteht Bhabha in seinem Konzept der „kulturellen Hybridität“ kulturelle Phänomene nicht von ihren vermeintlichen Gegensätzen oder Gemeinsamkeiten her, sondern aus ihrem gegenseitigen Ineinander-Verwobensein heraus. In diesem Sinne enthalten die „postcolonial studies“ Bhabhas wichtige Beiträge zur Frage des Kulturbegriffes und der Globalisierung. Sie treffen zentrale Punkte, welche um die Konzeptionen eines inter- und transkulturellen Philosophierens kreisen; so die Frage nach kultureller Differenz und in Verbindung hiermit die Frage nach der Hegemonie bestimmter abendländisch geprägter Vorstellungen, welche oftmals zu schnell und unzulässig universalisiert werden. Hierzu gehören beispielsweise Darstellungen von Philosophiegeschichte, welche diese nur im Abendland verorten, und Konzeptionen von Vernunft und Denken, welche eine bestimmte Form von abendländischer Rationalität privilegieren, dagegen spirituelle Erkenntnisquellen, intuitive Erkenntnis oder gar orale Traditionen und vieles mehr ausschließen. Aus Bhabhas Ansatz ergeben sich 1|

Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London/New York 1994.

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wichtige Infragestellungen inter- und transkulturellen Philosophierens hinsichtlich der Totalität von kultureller Differenz und der Vielfalt kultureller Traditionen. Das Konzept der „kulturellen Hybridität“ richtet den Blick auf die Vielfalt des Anderen und dessen Verwobenheit mit dem Eigenen und mit wiederum anderem Anderen und dies durchaus vertikal und horizontal, will heißen: binnen- und interkulturell. So gilt es im Fokus auf das kulturell Andere, dessen Vielheit zu denken, ohne dass hierdurch die Differenz vollständig aufgelöst wird. Kulturen als in sich vielfältig und als Mischung zu betrachten, stellt in der Tat einen Fortschritt dar, insofern der Differenzbegriff geöffnet und in die Kulturen hinein verlegt wird. Wenn wir zwischen Apfel und Birne oder zwischen Tisch und Bett unterscheiden, so werden wir schwerlich behaupten, daß eines dem anderen fremd ist. Das eine ist schlichtweg das andere des anderen, wenn wir es als dieses oder jenes bestimmen. […] Das Fremde befindet sich nicht einfach anderswo, es ist ähnlich wie Schlafen vom Wachen, Gesundheit von der Krankheit, Alter von der Jugend durch eine Schwelle vom jeweils Eigenen getrennt. Dabei steht keiner von uns jemals auf beiden Seiten der Schwelle zugleich. Dies gilt auch für die Geschlechterdifferenz und die kulturellen Unterschiede. Es gibt keinen neutralen ‚dritten Menschen‘, der zwischen Mann und Frau unterscheiden könnte, da doch zunächst der Mann sich von der Frau und diese sich vom Mann unterscheidet. Ebenso gibt es keinen kulturellen Schiedsrichter, der europäische und fernöstliche Kultur äußerlich voneinander unterscheiden könnte, da Europäer zunächst sich von Japanern und diese sich von Europäern unterschieden haben müssen, bevor ein Schiedsspruch einsetzen kann.2

Mit solchen Aussagen über das „Fremde“ und das „Andere“ zeigt Waldenfels unbeabsichtigt das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt, dass nämlich diese Fragen keinesfalls isoliert von kulturellen Vorverständnissen beantwortet werden können. Die Koexistenz von westlichem Wissenschaftsverständnis und kulturellen Annahmen muss grundsätzlich neu überdacht werden. Denn wie würde ein Mitglied der Hindu-Kulturen über die für den Abendländer sofort einsichtige Geschlechterdifferenz als Beispiel für das „Fremde“ urteilen? Er würde sie nicht verstehen, denn für ihn wäre diese Differenz auch nur das Waldenfels’sche „Andere“. Gibt es in den Hindu-Kulturen doch das „dritte Geschlecht“, die . Die  (u. a.) spricht von der Dreiteilung Wach-(), Traum-() und Schlafzustand () mit jeweils korrespondierenden Bewusstseinszuständen; im Buddhismus wird Wohlbefinden () als eine Variation über Leiden () und damit die vermeintlichen Antagonisten Wohlbefinden (Gesundheit) und Leiden (Krank2|

Bernhard Waldenfels, „Phänomenologie des Eigenen und des Fremden“, in: Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination: Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, 65-83, 69.

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heit) vor dem Hintergrund einer unumgänglichen conditio humana et animalis des Leidens verstanden. Und auch intrakulturell fällt Waldenfels’ (schwacher) Analogieschluß hinter Bhabhas kultureller Hybridität zurück: Denn was sollen der Japaner und der Europäer repräsentieren? So sehe ich wenig Sinn darin, weder vorab zwischen „Fremdem“, „Anderem“ (oder gar „Neuem“, „Drittem“ usf.) zu differenzieren, noch abstrakt eine Position zwischen Subjekt und Objekt bzw. Ich und Du einzunehmen. Ich werde im Folgenden den Philosophierenden als Vergleichenden selbst in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen rücken. Hier sehe ich den zentralen Angelpunkt von komparativer Philosophie. Der Vergleichende muss sich seiner kulturellen Herkunft, seiner eigenen Voraussetzungen bewusst sein und darum wissen, dass diese seinen Diskurs über die philosophischen Voraussetzungen seines Verstehenwollens beeinflussen. Diese Position wird redlicher Weise eingeräumt, steht aber selber zu jedem Zeitpunkt des Dialoges auf dem Prüfstand und ist sich der Möglichkeit ihrer Transformation bewußt. Nicht eine neue Philosophie, sondern eine neue Beziehung zwischen den (philosophischen) Kulturen von Orient und Okzident wird angestrebt. Dabei soll komparative Philosophie gerade kein Ort der Kompensation sein, will heißen: man findet bei dem Anderen eben gerade nicht das, was einem vermeintlicher Weise fehlt. In diesem Sinne wurde und wird bis heute aufgrund von Vorurteilen und Unkenntnis von „Orient“ und „Okzident“, von „europäischer Philosophie“ und „asiatischer Weisheit“ gesprochen. Komparative Philosophie geht Fragestellungen immanent und kommunikativ an und stellt sich widersprechenden und gegensätzlichen Problemlösungsstrategien. Dies fordert eine Konzeption von kultureller Differenz und setzt diese gleichzeitig voraus; ohne Differenz zu unterstellen ist das Bemühen um Verständigung nicht notwendig. Das Konzept der „kulturellen Hybridität“ scheint hierbei viele Probleme inter- und transkulturellen Philosophierens zu lösen, allerdings ist darauf zu achten, dass es sich nicht unter der Hand um eine Lösung durch Abschaffung des Gegenstandsbereiches handelt. Auch stellt sich die Frage, ob der allseitige Wunsch, von dem jeweils Andern zu lernen, nicht am Ende zu aberwitzigen Ideen führt. Nehmen wir einmal das „Schwarzfahren“. Vor einigen Jahren veröffentlichte die renommierte japanische Zeitung Asahi Shinbun hierüber einen Sonderbericht. Bemerkenswert war die Begründung für das mit Abscheu behandelte Phänomen: Man nahm nämlich an, die Japaner hielten sich nicht an die Regeln, weil sie areligiös seien. Ihnen fehle die Denkweise der Europäer, bei welcher alles Handeln unter dem Gebot und Urteil des christlichen Gottes stehe. Im Westen sei daher der Mensch religiös – und damit „besser“. Dass man auch im

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„religiösen“ Westen mit „Schwarzfahren“ und anderen Regelbrüchen zu kämpfen hat, zog man freilich nicht in Betracht.3

Das Beispiel zeigt, dass die Wahrnehmung von „Fremdem“ und „Eigenem“ Stereotypen unterliegt, deren Entstehungsgeschichten, historische Bilder, Schichten und Kontexte in ihrer gegenseitigen Durchdringung und Überlagerung bedacht werden müssen. Unreflektiert produziert diese Trennung unter der Annahme, dass das jeweils Andere „besser“ sei, manch eine Absurdität. So ist in einer komparativen Philosophie der Vergleich der eigenen Prämissen und Leitbegriffe mit den Gedanken und Orientierungen, welche sich mir im besten Falle als Gesprächspartner stellen und von denen ich mich meinerseits in Frage stellen lassen muss, anzustreben. Dies schließt eine gehörige Portion Selektivität ein, welche allerdings legitim sein muss. Denn ich sehe keinen Sinn darin, Denksysteme einfach nur nebeneinander zu stellen im Sinne eines akademischen Gesamtpanoramas des je Erdachten, sondern erstrebenswert ist meines Erachtens, die Prämissen, die Leitbegriffe und die Folgerungen des Anderen aufzugreifen und zu schauen, inwieweit diese für eine eigene Problematik fruchtbar zu machen sind.

Hermeneutik Wie sich aber nun der anderen Kultur, dem Anderen, dem fremden Text nähern? Hier muss vorab festgestellt werden, dass der oft geäußerte Gedanke, dass Kulturen a priori nicht miteinander kommunizieren könnten, weil sie keinen gemeinsamen Maßstab besäßen, eine rationalistische Voraussetzung ist, welche davon ausgeht, dass nur eine gemeinsame ratio mensurabilis das Instrument einer gemeinsamen Kommunikation sein kann. Fünfzehn Felssteine auf einem Bett von geharktem weißem Kies. Doch aus welchem Blickwinkel man den weltberühmten Steingarten des Ryoanji-Tempels in der alten japanischen Kaiserstadt Kyōto auch sieht – nie sind gleichzeitig alle Steine zu sehen. Mindestens einer bleibt dem Blick entzogen. Ein verwandtes Bild im NanzenjiTempel von Kyōto. Drei Sandhaufen, wieder auf einem Bett von geharktem Kies. Doch auch sie sind so angeordnet, dass der Betrachter immer nur zwei von ihnen gleichzeitig sehen kann. Das Ganze, von dem der an Hegel geschulte westliche Beobachter glauben möchte, dass eben nur es das Wahre sei, erschließt sich nicht auf einen Blick. 3|

Vgl. Hans-Volkmar Findeisen, „Gründe, den Zen zu vergessen: Der missverstandene Buddhismus, in: Anja Brockert (Redaktion), Reihe: Wissen der Weltreligionen (4), SWR 2 - Wissen, Radio-Sendung vom 02.02.2008.

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Das vermeintliche Ganze, wenn denn der Anspruch auf seine panoramatische Erschließung, etwa durch den Blick von oben, erhoben würde, wäre das Falsche. Aber auch der alternative Blick von innen verbietet sich. Dazu müsste man die geharkten Linien und Kreise betreten, also zerstören.

Orientiert man sich nun nicht an relativistischen oder skeptizistischen Positionen, so kann man konstatieren: Vierzehn Steine, zwei der Sandhaufen sehe ich immerhin. Und wichtiger: Ich reflektiere, dass und warum ich nicht alle sehe. Auch bewusst gelassene Wahrnehmungslücken sind keine bloße Nullinformation, sondern signifikant. Vielleicht müssten wir gar fragen, ob alles zusätzliche Wissen, ob alle Realien, die gewiss auch zu einem Fremden gehören, nicht doch den Blick einengen. Jeder Gewinn an Klarheit bringt einen Verlust an Unschärfe mit sich. Doch Luzidität ist nicht durch restlose Aufklärung zu gewinnen. Man müsste also eine paradoxe Verstehens-Unschärfe-Relation formulieren: Manches verstehen wir nur und so lange wir es nicht vollends verstehen. Oder anders: Wir verstehen wohl – und wissen doch, dass jedes Begreifen vorläufig und unzulänglich bleibt. Doch wenn man darum weiß, muss dies noch lange nicht bedeuten, dass man sich dessen auch bewusst ist. D. h., sich zu Verständigen bedeutet vorab nicht, sich zu verstehen; Intelligibilität ist nicht dasselbe wie Bewusstsein haben, denn wir können sehr wohl von etwas uns Unverständlichem ein Bewusstsein haben. So kann die Methodik gerade nicht eine sein, wie man sie von der Interpretation und dem Vergleich von Texten her gewohnt ist. Aber es darf auch nicht eine Hermeneutik von Kontexten sein. Um einen Text zu interpretieren, ist es notwendig, den Prä-Text, welcher ihn ermöglichte und in welchem er ursächlich eingebettet ist, zu kennen. Kulturelle Topoi sind verschieden, und wir können nicht annehmen, dass die Absichten, welche das Entstehen der verschiedenen Kontexte ermöglichte, gleich seien. Wir benötigen eine Hermeneutik, welche es den verschiedenen Kontexten erlaubt, miteinander in Beziehung treten zu können, so dass über diese Beziehung ein gewisses Verständnis zu erreichen ist. Allerdings können Kulturen auch nicht auf Texte reduziert werden, welche wiederum verschiedene Texte beherbergen und ihnen Sinn geben. Diese Texte können verschiedene Antworten auf ein Problem geben. Es sind die Kontexte, welche uns das Problem stellen, aber die Voraussetzung, dass die Probleme der verschiedenen Kulturen dieselben seien (und nur verschiedene Antworten beinhalten), ist illegitim. Es sind dieselben Fragen, die verschieden ausfallen. Auf diesem Felde des Verstehenwollens konkurrieren im Großen und Ganzen drei Typen von Hermeneutik miteinander. Es sind dies die Hermeneutiken der „Identität“, jene der „Differenz“ und jene des „Analo-

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gon“. Das Identitätsmodell erhebt das Selbstverstehen einer Kultur, Philosophie oder Religion zu einem exklusiven Paradigma und verleiht der sonst richtigen phänomenologischen Einsicht einen strengen Sinn: Das Unbekannte muss im Modus des Bekannten verstanden werden. Diese Hermeneutik lässt sich von der identitätsphilosophisch orientierten Fiktion einer totalen Kommensurabilität leiten. In ihrer angewandten Form besagt sie z. B.: Nur ein Buddhist kann einen Buddhisten verstehen. Da es aber den Buddhisten nicht gibt, führt diese Hermeneutik sich selbst ad absurdum. Die Hermeneutik der totalen Differenz dagegen verabsolutiert die Unterschiede und hängt der Fiktion einer völligen Inkommensurabilität an. Während nun die Fiktion der totalen Kommensurabilität das inter- und intrakulturelle Verstehen zu einer Farce werden lässt, verhindert die Fiktion der völligen Inkommensurabilität ein gegenseitiges Verstehen. Asiate: Europäer: Asiate: Europäer: Asiate: Europäer: Asiate: Stereotyp:

„Die japanische Bevölkerung setzt sich aus ca. 5% Christen, 2/3 Buddhisten und 2/3 Shintoisten zusammen.“ „1/3 Buddhisten!“ „Nein! 2/3 Buddhisten.“ „Na dann aber 1/3 Shintoisten.“ „Nein! 2/3 Shintoisten.“ „Ja aber – das ist ein Widerspruch!“ „Eben!“ „Asiaten denken“ nicht im exklusiven „Entweder-oder“ sondern im inklusiven „Sowohl-als-auch“ des „Ineinander-verwobenSeins“.

Abgesetzt von der Hermeneutik der Identität und jener der Differenz reduziert eine Hermeneutik des Analogon nicht und vermeidet die beiden angedeuteten Fiktionen. Sie geht von einem vorhandenen kulturellen Ineinander-verwoben-Sein in durchaus differenter Tiefen- und Reichweite im Sinne Bhabhas Theorie der kulturellen Hybridität aus und richtet ihren Blick auf voneinander abhängige Verbundenheiten, welche auf verschiedensten Ebenen den Kontext für die Unterschiede darstellen und so Kommunikation und Übersetzung erst ermöglichen. Ram Adhar Mall spricht an dieser Stelle von „Überlappungen“ und bezieht neben der philosophisch-reflexiven Erkenntnis wohl auch die Intuition und die meditative Erkenntnis mit ein.4 So begrüßenswert in seiner Toleranz solch ein Ansatz ist, so kontraproduktiv verhält er sich 4|

Von Husserls transzendentalem Ich ausgehend spricht Mall von einer „noematischen Haltung“, von einer „reflexiv-meditativen Einstellung“, welche erst Kommunikation und Übersetzung ermögliche. „Metonymisch“ will Mall „Überlappungen“ als ein intuitives, nicht-sprachliches Erlebnis des Analogischen auf der Basis von „Erfahrung eines Gemeinsamen, in dem wir uns alle befinden und in dem wir uns auch erfahren“, verstanden wissen (Ram Adhar Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen: Interkulturelle Philosophie – Eine neue Orientierung,

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letztlich in seiner Umsetzung, da sich die genannten Erkenntnisarten nicht auf der gleichen Diskursebene befinden, weshalb ich – mich hiervon auch begrifflich distanzierend – von einem „Ineinander-verwoben-Sein“ oder von „Hybridität“ spreche.5 Hier öffnen sich dem westlichen Denker nämlich sehr schnell Falltüren, denn wie soll er mit ,intuitiver‘ oder gar „meditativer Erkenntnis“ philosophisch umgehen?6 Solcherart Diskurse werden bis heute mit wechselnden Protagonisten (öhme usw.) auf der Basis einer sich der Kommunikation widersetzenden, nonverbalen Erfahrung, welche „Gleichheiten begründen“ (!) soll, fortgesetzt. Nicht nur dass divergierende Inhalte auf unvereinbaren Diskursebenen abgehandelt werden, zugleich liegt auch eine Herausforderung in dem Verständnis des Terminus’ „Erfahrung“ selber. Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen, ist eine wichtige, gleichwohl philosophiegeschichtlich problematische Funktion von Sprache. Die Lösungsversuche bewegen sich zwischen naivem Realismus, hier repräsentiert jeder Begriff ein wirkliches Objekt, welches unabhängig von einem Erfahrenden existiert, und Theorien absoluter Unausdrückbarkeit, nach denen ein Objekt der Erfahrung sowohl Konzeptionalisierung als auch sprachlichen Ausdruck transzendieren soll.7

„Hybride Kulturen“ Mit Hilfe des Konzeptes der „hybriden Kulturen“ wird die Andersheit des Anderen erreicht, ohne sie zu reduzieren oder zu vernachlässigen. Die Identitätsthese der Moderne und die Differenzthese der Postmoderne

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Darmstadt 1995, 45-54, hier 47). Auch scheint mir hier Mall stark von Walter Benjamins Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers beeinflusst zu sein. Beispielsweise werden aus diesem Grunde im Buddhismus drei didaktisch angeordnete Vermittlungs- und Erkenntnisebenen wohlbedacht voneinander geschieden. Es sind dies (1) der philosophische Diskurs für jedermann darüber, wie die phänomenale Welt ist (erscheint), (2) der meditative Diskurs einzig für den Meditierenden über das lebenspraktische Einüben der im philosophischen Diskurs gewonnenen intellektuellen Einsichten und (3) die Beschreibung der phänomenalen Welt aus der Sicht dieser lebenspraktisch umgesetzten Einsichten. Hierbei wird streng darauf geachtet, dass diese Ebenen nicht miteinander vermischt werden. Gegenüber stehen sich hier z. B. das Verständnis Kants von „intuitiver Erkenntnis“ im Sinne einer „ästhetischen Vollkommenheit“ nach Gesetzen der Sinnlichkeit, bar „objektiv- und allgemeingültiger Gesetze“ und subjektiv insofern, als daß diese den Grund eines „subjektiv-allgemeinen Wohlgefallens“ enthält (Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Bd. IX, Logik, hg. v. d. Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig 1923, 36f.) und z. B.   Position einer „intuitiven Erkenntnis“, welche gerade nicht „Sinnes- oder Symbolerkenntnis“ sondern „unmittelbar“ und „Seins-Erkenntnis“ sein will ( , An Idealist View of Life (The Hibbert Lectures for 1929), London 1932, hier: 51957, 138ff.). Im Buddhismus werden diese Klippen umschifft, indem hier sprachlich sehr genau unterschieden wird zwischen „Denken“ (), „Verstand“ () und „Bewusstsein“ ().

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verlieren so ihren Stachel, denn „hybride Kulturen“ lassen Auslegungen zu. Sie entstehen und sind nicht autonom. Sie sind in das (kulturelle) Leben eingebettet und hängen von Begründungszusammenhängen, Methoden, Erkenntnissen, Werten, Interessen und Interpretationen ab. Jenseits aller Ontologisierungen stellen solche „Hybride“ den zu erreichenden und zu begründenden Kontext von Gemeinsamkeit und Differenz dar. In diesem Sinne ist der ansonsten sicherlich mit einem sehr geringen Problembewusstsein in dieser Frage ausgestattete Dilthey zu verstehen, wenn er schreibt: „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre.”8 Wie schon erwähnt, können wir durchaus ein Bewusstsein von etwas uns Unverständlichem haben, und ist es doch gerade dieser Umstand, dem eine analogische Hermeneutik Rechnung trägt, wenn einem bewusst werden kann, was man nicht ist, sein kann oder sein will. Ein solches Verstehen verlangt weder ein Begreifen noch ein Überzeugen, dieses Verstehen vollzieht sich, wie Mall schon richtig bemerkt, im „Zurücknehmen-Können“ des je Einzelnen und erlaubt so durchaus nicht vorhergesehene Einblicke. So ist eine reine und objektive komparative Philosophie völlig unmöglich. Denn für eine authentische komparative Philosophie fehlt uns schlechterdings ein neutraler, unparteiischer und daher außerhalb der Philosophie liegender Bezugspunkt. So bleibt der gelungene Prozess zum Verstehen des Anderen nicht beim besseren Verstehen der eigenen Tradition stehen, mündet also im schlechtesten Fall nicht in Apologie der eigenen Tradition aufgrund des besseren Verständnisses des Anderen oder gar in Missionierung des Anderen, beides Gesichtspunkte, welche gerade beim interreligiösen Verstehen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Aber auch Inkulturation, d. h., das Erblühen der eigenen Tradition in einem anderen kulturellen Bereich, muss hinsichtlich der Motivation kritisch betrachtet werden. Trotz höchster methodischer Sensibilität verfügen wir über keine Konzepte, mit denen wir sicherstellen können, dass wissenschaftliche Beschreibungen externer Beobachter den Innenperspektiven des Beobachteten kongruent sind. Kein Abendländer kann garantieren, dass er den kulturellen Ausdruck eines Buddhisten wirklich verstanden hat. Er muss damit rechnen, durch sein Vorverständnis Entscheidendes immer schon verkannt zu haben. Wenn wir nun zum Beispiel wissen, dass Issa (1716-1783) ein berühmter japanischer Haiku-Dichter ist und dass in diesem Genre persönliche Beobachtungen eines Naturereignisses auf philosophische,

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Wilhelm Dilthey, Gesammelte Werke, Bd. 7, Göttingen 1973, 225.

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religiöse und psychologische Sinnebenen hindeuten, verstehen wir dann folgende Zeilen besser? Ein Mensch und eine Fliege im Raum9

Niemand kann gelebte Kultur ohne Begriffe verstehen, welche implizite normative Gehalte bergen. Und dennoch lassen sich kulturelle Gehalte nicht als kontingente kulturelle Artefakte ausweisen. Lässt sich nun aber überhaupt ein kulturelles Bewusstsein in analytischer Aussenperspektive erfassen oder muss man gar ein Katholik sein, um die Anrufung von Heiligen innerlich nachvollziehen zu können? Können vielleicht doch nur calvinistische Fromme Sündenangst und harte innerweltliche Askese verstehen? Bleibt uns damit das Verständnis des Anderen letztlich doch versperrt?

Komparation Zu fragen ist, wie man nun vorgehen soll im Prozess des Verstehenwollens des Fremden. Welches Kriterium der Aneignung bleibt? Wie soll man vergleichen? Die Komparation ist Voraussetzung für die philosophische Reflektion, in welcher es darum zu gehen hat, sich einen Begriff vom fremden Denken zu machen. So wird einem zunächst bewusst, inwieweit die Vorstellungen verschieden sind, d. h., das Verschiedene ist herauszuarbeiten und nicht vorab schon das Gleiche zu betonen. An die Stelle des „Identischen“ treten „verschiedene Entsprechungen“, „logische Identitäten“ finden ihr Äquivalent in „Analogien“ und „das Selbe“ in „Ähnlichkeiten“: Das Fremde ist vorerst vor zu schnellen Antworten zu schützen, denn weder ein postmoderner Nāgārjuna, noch ein advaitavedantischer Meister Eckehard kann oder darf das Ziel sein. Wurden in der Komparation die Verschiedenheiten herausgestellt, kann zum Schritt der Reflektion übergegangen werden, wobei zu beachten ist, dass ein philosophisches Gespräch zwischen Orient und Okzident immer auch eine hermeneutische Aufmerksmkeit voraussetzt, insofern ein Interpret der fremden Tradition mit bedenken muss, dass er kulturell gebunden ist. Die Unterschiedlichkeit europäischer und asiatischer philosophischer Grundbedingungen muss vorab festgestellt sein, bevor auf einer zu anfangs sehr allgemeinen „Überebene“ begrifflich und vor

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Dietrich Krusche, Haiku: Japanische Gedichte, München 1994, 57.

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allen Dingen inhaltlich Vergleichbares gesucht und untersucht werden kann. Auch sind beste Literatur- und Sprachkenntnisse nicht zwangsläufig eine Garantie für ein echtes Verständnis des Anderen. Wo eine echte hermeneutische Bewusstheit fehlt, setzen sich das Unverständnis und die Fehl- und Falschdeutungen der anderen Tradition philosophisch bis heute fort. Solch eine unreflektierte Gemengelage von Orient und Okzident muss eine komparative Philosophie in Frage stellen und veranlassen, nach Bedingungen der Möglichkeit einer Komparation zu suchen. Auf die prägnante Formel „Vergleichen heißt: bestimmen und reflektieren“, und paraphrasiert: „Vergleichen heißt nicht: Suchen und Finden.“ hat das Problem Jürgen Straub gebracht.10 Um eine „metaphilosophische“ Komparation verschiedener philosophischer Traditionen einzuleiten, müssen wir uns die grundsätzliche Frage nach der Aneignung dieser vergegenwärtigen, da jede Tradition in sich zunächst das Verständnis ihrer selbst weitergibt. So muss der kulturell und historisch Außenstehende seine Einsichtnahme vorab hermeneutisch, d. h. sein eigenes Ausgeschlossensein, bewusst reflektieren. Diese Kenntnis von der fundamentalen Verschiedenheit verlangt nun andererseits nach Möglichkeiten ihrer Überwindung. Die Unmöglichkeit einer rekonstruierenden Verstehensidentifikation mit dem Denker nicht nur einer fernen Epoche, sondern auch einer fremden Tradition führt uns notwendigerweise über diesen und dessen Denken hinaus. Einem Verstehenwollen folgt die geahnte Bedeutungsvorwegnahme, welche Bekanntes mit noch nicht Bekanntem zusammenbringen möchte und schlechterdings in einem „Das ist so etwas wie … !“ kulminiert – und dies begrifflich wie textlich. Doch ist dies kein neues Phänomen; trifft man doch in der Begegnung von Gnosis und Buddhismus an der Seidenstraße auf parthische Hymnen über den Tod Jesu mit der Bezeichnung ,Kreuzigungshymnen‘ (dārūßδagīftig bāšāhān). In einer dieser Hymnen heißt es: ,Erwacht, Brüder, Erwählte, an diesem Tage des geistlichen Heils [gyānēn bōxtagīft], […] als Jesus, der Sohn Gottes, in  einging.‘11 Auch findet man die Darstellung eines Bodhisattva als guten Hirten mit nestorianischem Kreuz, Bischofsstab und der buddhistischen Geste der Lehrdarlegung () auf einer Tempelfahne aus Tun-huang (ca. 8./9. Jh.).12

10 | Jürgen Straub, Verstehen, Kritik, Anerkennung: Das Eigene und das Fremde in

der Erkenntnisbildung interpretativer Wissenschaften, Göttingen 1999, 24, 38.

11 | Turfantext M 104, pth., in: Mary Boyce, A Reader in Manichaen Middle Persian

and Parthian, Leiden 1975, 127.

12 | Vgl. P. Yoshiro Saeki, The Nestorian Documents and Relics in China, Tokyo 1937,

Titelblatt und Abbildung 408a.

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In einem gelingenden Sinne erhellen sich Bekanntes und Unbekanntes dagegen in kreisender Wechselwirkung gegenseitig13 in schrittweisem Bedeutungserwerb bei gleichzeitiger Erweiterung des Gesamtverständnisses. Diese wiederum schließt aufgrund des reflektiven Selbstverständnisses des Interpretierenden dessen reflektierte Annäherungsbedingungen hinsichtlich eines methodologischen Bewusstseins mit ein. Da nun aber der Betrachtungsmaßstab einer bestimmten philosophischen Denkweise auf die Erschließung einer anderen Denkweise nicht angewendet werden darf, stellt sich „metaphilosophisch“ die Frage nach einer gemeinsamen Grundlage. So veranlaßt uns die vordergründige Unvereinbarkeit verschiedener philosophischer Traditionen zu der Suche nach einer Perspektive, welche, ohne auf derselben Ebene mit einer der jeweiligen zu vergleichenden Inhalte oder Philosophien zu liegen, diese dennoch als zwei verschiedene Inhalte einbeziehen könnte, und der Suche nach dem einen, von den jeweiligen Traditionen aus sich selber hervorgebrachten Kriterium, mit welchem diese Inhalte verglichen werden können. Dies möchte ich in der weiteren Darstellung nach Alexander Piatigorsky14 als „Meta-“ und „Subperspektive“ bezeichnen. Beide Anschauungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie den subjektiven Aspekt gewissermaßen „handhabbar“ machen. Die hermeneutische Bewusstheit gewährleistet, dass wir die ganze meta- und subtheoretische Struktur als unsere eigene Konstruktion denken und zugleich über diese reflektive Handlung wiederum reflektieren können. Diese Struktur eröffnet gleichfalls eine neutrale hermeneutische Stelle, sobald wir sie (die Struktur) als selbständige akzeptieren bzw. als einen objektiven Text, welcher als unabhängiger besteht. Die objektive Wahrnehmung und die subjektive Meta- und Subtheorie können so gemeinsam die Konstituenten einer abgelösten Struktur aufzeigen, welche den „Vergleich“ umfassen. Begriffe und Darstellungen wie Termini und Texte werden so nicht zuletzt durch den Vergleichsvorgang zu philosophischen Inhalten. Die Termini interpretieren wir zunächst über einen Text, welcher bereits unsere eigene Meta- und Subterminologie einbezieht und sich auf den ursprünglichen Zusammenhang entsprechend unserer Wahrnehmungsstruktur verlässt. Die Texte hingegen werden durch unsere eigenen Textinterpretationen wahrgenommen, in welche wir die schon interpretierten Termini mit einbeziehen. In der Praxis bedeutet dies nun, dass wir für unsere Meta- und Subperspektive eine allgemeine Vorkenntnis der kulturell verschiedenen 13 | Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 179, 270ff.,

296ff.

14 | Alexander Piatigorsky, The Buddhist Philosophy of Thought: Essays in Interpre-

tation, London 1984, passim.

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Inhalte besitzen müssen. Unser Meta- und Subbegriff einer homogenen philosophischen Interpretation der entsprechenden Kulturen wird methodologisch formell von einer axiomatischen allgemeinverbindlichen Grundannahme abgeleitet. Axiologisch stützt er sich auf vereinbarte Kriterien der verschiedenen Kulturen. Auf diesem Wege entwickelte Metaund Subbegriffe müssen so einfach wie möglich gehalten werden.15 Natürlich gibt es eine derartige unabhängige Position nicht außerhalb unseres eigenen Denkens, doch muss das Ganze um der methodologischen Rolle willen behandelt werden, „als ob“ es real wäre, und dies wiederum bedeutet, als tragende Kraft unserer hermeneutischen Bewusstheit. Auf praktischer Ebene wird der meta- und subphilosophische Vergleichsansatz als nötig erachtet, um zu verhindern, dass Fremdes in bekannte Formen „gegossen“ wird, wie auch umgekehrt. Dieser Ansatz, welcher als vergleichsphilosophische Leitlinie dient, muss sich wiederum beständig selbst mit überprüfen. Das Bewusstsein der verschiedenen kulturellen Bedingungen muss in der Praxis beständig erzeugt und erhalten werden, denn eine nicht weiter reflektierte Betrachtungsweise verliert ihre lenkend bewusste Kraft. Meta- und Subperspektive sind hier versuchsweise eine Betrachtungsart oder Technik der Bewusstseinslenkung, nicht eine gesonderte Philosophie mit eigenen Inhalten. Die abendländische Asienbetrachtung kann nie eine rein asiatische sein, da uns von der Tradition her ein innerer Standpunkt fehlt; sie darf aber auch keine eurozentrisch subjektive bleiben, welche Eigenes auf Fremdes projiziert. Verspricht nun, aufgrund des Gesagten, eine meta- und subperspektivische Anschauungsweise ein vorsichtiges Verstehen anderer Traditionen zu ermöglichen, so wäre andererseits auch eine Rückwirkung einer solchen Meta- und Subperspektive auf die Tradition, aus welcher sie hervorgeht, denkbar: Das meta- und subperspektivische Verstehen will eine Bewusstseinslage oder -intensität aufrecht halten, nicht nur Strukturen und Funktionen feststellen. In seiner pragmatischen Anwendung und Umsetzung auf das Fremde geht dieser hermeneutische Ansatz damit über Gadamer hinaus, welcher diesen nicht auf das Fremde anwendet, sondern an diesem Punkt gerade wieder hinter seine eigenen Erörterungen zurückfällt, wenn er die asiatischen, insbesondere die indischen, Denktraditionen als „rätselhafte Ausdruckformen von Tiefsinn und Weisheit“16 bezeichnet.

15 | Für die Begriffe „Religionsphilosophie“ und „Vernunft“ wurde dies von mir

exemplarisch durchgeführt in „Religionsphilosophie in Indien“, in: Stephan Grätzel/Armin Kreiner, Religionsphilosophie, Stuttgart/Weimar 1999, 239-284. 16 | Hans-Georg Gadamer, „Begriffsgeschichte als Philosophie“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Hamburg 14/1970, 137-151, 137.

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„Comparati“ Die Betonung der Komparation in der inter- und intrakulturellen Philosophie drückt meist den Bezug zu anderen Traditionen aus, ein Gegeneinander- und Ineinanderfügen von Tradition, welche als verstanden vorausgesetzt werden. Jedoch muss komparative Philosophie die Kenntnis anderer Traditionen in ihrem eigenen jeweiligen Recht, ohne Verlust des eigenen Standortes in einer oder mehreren Traditionen, bestehen lassen, da dieses gerade als Komparationsgrundlage von Nöten ist: Es geht um Gewahrwerden, Zueinanderfügen, Kontrastieren und gegenseitiges Beleuchten von Traditionen. Aber auch die Komparation ist nicht unproblematisch, setzt sie doch ihre eigene Begrenzung schon voraus: das Vergleichen selbst.17 Gerade wenn sich diese Methode zum Modell universaler Inklusion erhebt, in welcher dann andere Möglichkeiten, Kategorien zu entwerfen, integriert erscheinen, kann der Begriff „Komparation“ keine distinkte Kontur gewinnen. So fordern Jürgen Straub und Roland Faber pointiert,18 dass wir uns von einer wissenschaftlichen Tugend der Komparation entfernen müssen, welche dem unvoreingenommenen Standpunkt in der Begegnung von Traditionen Priorität zuschreibt und so dem Dialog als regulative Idee – und letztlich einzig haltbarem wissenschaftlichem Fundament des inter- und transkulturellen Dialoges – folgt, wenn wir „verstehen“ wollen. Und Faber fragt gezielt weiter: Was soll nämlich verglichen werden? Verschiedene Traditionen oder kulturelle Varianten derselben Tradition? Und wie läßt sich der Unterschied festmachen, wie eine Tradition abgrenzen? Woher kommt der Maßstab des Vergleichens: aus einer bestimmten Tradition, aus keiner, aus eigener synkretistischer Subjektivität? Und wenn der Maßstab erst im Vergleichen entsteht, werden dann nicht auch erst die Traditionen aus dem Vergleichen gewonnen? Wer vergleicht? Jemand aus einer Tradition oder jemand, welcher schon in verschiedenen Traditionen lebt? Und wenn wir alle immer schon in einem pluralen Traditionsgeflecht leben, wie kann dann ein Standort für das Vergleichen gewonnen werden? Warum wird verglichen? Um die Tradition ohne Übersteigung ihrer Integrität zu spiegeln oder dialektisch in einem tertium comparationis aufzuheben? Und wer oder was entscheidet darüber, welcher dieser Wege gewählt wird: die philosophische Vorliebe?19

Letztlich münden alle diese Fragen ein in: Wie können ich und der Andere sein, wie erklingen zwei Stimmen – getrennt durch Kultur und/oder 17 | Robert Cummings Neville, The Human Condition: A Theory and Case-Study of

the Comparison of Religious Ideas, New York 1999, vgl. 34-67.

18 | Straub 1999, 19; Roland Faber, Der transreligiöse Dialog: Zu einer Theologie

transformativer Prozesse, Wien 2003, passim.

19 | Faber, 2003, passim.

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Zeit – in einer Person? Wie lassen sich Orte wechselseitiger Übertragbarkeit entfalten und aufeinander zu bewegen? Die Mängel der gewöhnlichen wissenschaftlichen Komparation nämlich sind auf der einen Seite Aspekte wie Translation (das Übersetzen von und in Traditionen), Transformation (das Verändern und Verändertwerden durch Dialog) und Transmutation (das erneute Fügen zu einem Ganzen) und auf der anderen Seite Erinnerungswandel (die Veränderung der Erinnerung der eigenen Tradition) und lebenspraktische Umsetzung (die Integration von Lehre in Leben). Jede Komparation steht immer schon zwischen einer anvisierten Transformation und einem Bedenken der inneren Möglichkeiten für einen komparativen Dialog. Sowohl der Veränderungsprozess wie auch das innere Veränderungspotential werden nämlich (paradoxerweise) schon bestimmen, was verglichen werden kann, ob es verglichen werden soll und wie man sich durch ein solches Vergleichen verändern lassen möchte; d. h., der „Vergleichende“ selber steht am Kreuzungspunkt von externer Bewegung (Translation, Transformation, Transmutation) und innerer Möglichkeit (Erinnerungswandel und lebenspraktische Umsetzung) – und entscheidet. Schon immer haben Alternativen die Fragen in der philosophischen Arbeit bestimmt, Alternativen, welche man wenigstens um ihrer selbst willen verstehen können musste, um zu entgegnen oder zu bestätigen. Die Bewusstwerdung des schon immer in der Entscheidung Stehens ist die Öffnung für die inneren Möglichkeitsbedingungen eines transformativen Prozesses, für eine Komparation, welche dieser Prozess faktisch ist. So verliert die Komparation die ihr innewohnende Methodenstatik der Pluralität von Positionen. Denn schon binnenkulturell findet man sich a priori in einer Vielzahl von Traditionen wieder, welche sich auf- und ablösen und gegenseitig bedingen und in Schach halten, und dies ohne Legitimitätsverlust solcherart Hybride. Nicht wissenschaftlich komparatives Vergleichen, sondern Verstehen als Transformation ist das Ziel. Denn was soll z. B. das objektive Analogon zu , der buddhistischen „Leerheit“, in den abendländischen Traditionen sein? Oder was entspricht objektiv dem buddhistischen Grundaxiom der Non-Personalität in der Persönlichkeitsidentität des Abendlandes? Es geht der Transformation nicht um das Erkennen eines immer schon Vorgegebenen, sondern um eine sich emergierende Wirklichkeit als veränderliche Erfahrung von Welt. Transformation ist die Basis für den komparativen Prozess. Transformation ist Ziel und Voraussetzung von Komparation. Komparation ist das Moment in einem andauernden Prozess der Transformation – bildlich: eine Insel des kontrollierten Überganges. Transformation geschieht nun nicht im äußeren Dialog; Transformation geschieht in einer Introspektion, einer inneren Verwandlung der eigenen Tradition. Hier liegt der theoretische Ort der Transformation.

J ESU E INTRIT T

INS NIR VANA UND -

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Der äußere Dialog mit anderen Traditionen führt zu einer Veränderung durch die Reflexion auf die inneren Möglichkeitsbedingungen der eigenen Tradition(en) und ihrer Veränderung von innen im fortlaufenden Prozess: Kontinuität im Werden contra Identität von Essenz. Der Wissenszuwachs im Vorwissen transformiert die eigenen und des Anderen Voraussetzungen immer wieder aufs Neue. Komparative Philosophie fordert im besonderen Maße ein verantwortliches Problembewusstsein um philosophische Alternativen und die Bereitschaft zur Problematisierung von Philosophie selbst. Der Vergleichende kann letztlich von philosophischen Implikationen anderer Kulturen nicht unberührt bleiben, jedoch ohne gleich konvertieren zu müssen. Es geht im Besonderen um eine Haltung, eine Einstellung, gekennzeichnet durch Offenheit und Reflexion des eigenen Standortes. Die wesentliche Neubetonung solch eines Begriffes von Komparation liegt auf der Ebene des Persönlichen und damit aber auch des Verantwortlichen. Das tertium comparationis ist nicht länger eine überzeitliche, dem Denken vorausliegende Potenz (Gott, transzendentale Bedingungen, absolute Ideen u. a.), sondern der Vergleichende selbst, welcher das Ideal verständig und verantwortlich mit- und umgestaltet. Komparation heißt, so verstanden, neue Möglichkeiten des Wirklichseins als veränderliche Erfahrung von Welt zu entdecken. Diese Erfahrung ist nicht zufällig, sondern eine lebendige Haltung, eine Hingabe zwischen Eigenem und Fremden zur Überbrückung der Differenz. Die jeweiligen Begriffe und Phänomene der Komparation sind innerlich und an ein heuristisches Ideal gebunden, jedoch nicht streng teleologisch, womit etwas kreativ Neues entstehen kann. Komparation ist so eine genuin philosophische Tätigkeit.20 Diese Forderungen tangieren eine Diskussion, welche heute mit dem Begriff der „1. und 3.-Person-Perspektive“ ausgetragen wird. Hierbei berührt die 3.-Person-Perspektive die Felder Translation und Transmutation, die 1.-Person-Perspektive Transformation und „innere Möglichkeit“. Berechtigt ist an dieser Stelle die Frage, wie weit denn die 1.-Person-Perspektive überhaupt trägt. Sie trägt so weit, wie man von Gründen sprechen kann. Nur handelt es sich bei der 1.-Person-Perspektive nicht um Gründe von Aussagen, sondern um solche einer Praxis, und auf diese in der 1.-Person-Perspektive einzugehen heißt, dass die Praxis als solche erwogen wird. Ähnlich wie bei der Begründung von Aussagen kann 20 | Diese Art „heuristischer Innerlichkeit“ ist allerdings scharf abzugrenzen von

dem, was Max Weber um 1900 mit dem Begriff „Intellektuellenreligiosität“ belegt und womit er eine diffuse Modernitätskritik in den Erlebnisreligionen des Fin de Siècle kritisiert, welche seines Erachtens den okzidentalen Rationalismus bedrohe. In Anlehnung hieran ließe sich von einer „Intellektuellenkulturalität“ sprechen, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie zwischen einem Lob der Vielheit und einer identitätskulturellen Selbstbehauptung schwankt.

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ein Interpret natürlich in der 3.-Person-Perspektive verbleiben und sich darauf beschränken, die angegebenen Gründe und Sachverhalte lediglich zu verstehen, allerdings sollte er sich des Defizitären, besser: des Unabgeschlossenen seines Handelns bewusst sein. Zwar scheint mir die 1.-Person-Perspektive die wichtigere Fragerichtung zu sein, doch setzt sie die möglichst weitgehende Auseinandersetzung in der 3.-Person-Perspektive voraus. Denn wenn man eine Position nicht kennt, kann man sich banaler Weise auch nicht mit ihr auseinandersetzen. Und dennoch müssen Prioritäten gesetzt werden, und es ist eine Ermessensfrage, für welche Entscheidung die Verantwortung getragen wird, wie gut man eine Position meint kennen zu müssen, um sich mit ihr in der 1.-PersonPerspektive auseinandersetzen zu können. Einer so verstandenen Komparation geht es nicht um eine neue Metasynthese der Kulturen, sondern um die kreative Auseinandersetzung mit anderen Denktraditionen, so dass Neues zum translativen und transmutativen, d. h. zum lebendigen Moment in der je eigenen Kultur werden kann. In diesem Sinne ist Scheler zuzustimmen, wenn er vom „Ausgleich größten Maßstabes“ spricht, „der die Formung des Menschen betrifft“, ein Ausgleich zwischen Europa und den drei großen asiatischen Zentren, Indien, China und Japan […] – ein Ausgleich, der in Zukunft noch erheblich fortschreiten wird. Auch hier hat Europa längst aufgehört, der nur Gebende zu sein.21

21 | Max Scheler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: ders., Gesammelte

Werke, Bd. 9: Späte Schriften, Bonn 1976, 160.

Methodisch kontrollier tes Fremdverstehen im Konzept des pädagogisch reflexiven Inter views EVELINE CHRISTOF

In meinen Ausführungen werden zwei Linien verfolgt und diese dann miteinander verknüpft. Zum einen wird das pädagogisch reflexive Interview als ein qualitativ-empirisches Forschungsprogramm zur Anregung und zum Nachweis von Bildungsprozessen vorgestellt und zum anderen das methodisch kontrollierte Fremdverstehen als ein methodologischer Zugang, der vor allem in Interviews einen interessanten Aspekt bietet, dargestellt. Das pädagogisch reflexive Interview stellt im Kontext der qualitativen Sozialforschung ein Forschungsprogramm speziell für pädagogische Fragestellungen dar. Diese Forschungsmethode stellt damit genau jene Prozesse, die zwischen Forschenden und Beforschten bei dem Einsatz von sozialwissenschaftlichen Methoden – hier speziell auf das Interview bezogen – immer zumindest auch ablaufen, in den Mittelpunkt und wendet sie in einem pädagogischen Sinn, nämlich zur Anregung eines Bildungsprozesses bei den Befragten. Es kommt in jeder Situation der Erhebung von Daten zu einer Einflussnahme auf die Befragten und das Feld, in dem die Erhebung stattfindet, denn es handelt sich bei Erhebungssituationen immer auch um soziale Situationen. Diese Einwirkungen der Forschenden auf die Beforschten sollen im Verlauf von wissenschaftlichen Studien am besten ausgeschlossen werden. Dieser Umstand wird im Bereich der Sozialforschung auch unter dem Stichwort der „Gütekriterien von Erhebungsinstrumenten“ disku-

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tiert, wenn es darum geht, Objektivität im Forschungsprozess – in welcher Form auch immer, und hier gelten selbstverständlich unterschiedliche Kriterien für qualitative und quantitative Ansätze – herzustellen. Es werden von sozialwissenschaftlichen Forscherinnen und Forschern professionelle Zurückhaltung und Objektivität im Forschungsprozess gefordert. Letztlich ist es jedoch nicht möglich, diese Einflüsse und Prozesse ganz auszuschließen oder sie vollständig zu kontrollieren. Wir haben es hier mit einem strukturellen Problem zu tun, mit dem jede sozialwissenschaftliche Erhebung – das gilt nicht nur für qualitative, sondern auch für quantitative Verfahren, wo Forschende und Beforschte aufeinandertreffen – konfrontiert ist. Dieses Interview setzt somit an einem Punkt an, der gewöhnlich als „Schwäche“ in der Erhebung von Daten mit qualitativen Instrumenten angesehen wird. Jede Interviewsituation ist immer auch ein Interaktionsprozess, der den gleichen Regeln wie jede Interaktion im Alltagsgeschehen folgt. Der Symbolische Interaktionismus1 sowie das Konzept von Alltag und Lebenswelt2 sind Theorieprogramme, die die Regelmäßigkeit und Strukturlogik solcher Interaktionen untersuchen. Dabei wird deutlich, dass die im Forschungsprozess als notwendig dargestellte Zurückhaltung von Forscherinnen und Forschern, welche die von wissenschaftlichen Gütekriterien geforderte Objektivität in Erhebungen garantieren soll, unterlaufen wird, weil sich in Interaktionen das Gegenüber immer in irgendeiner, auch imaginären Form Präsenz verschafft. Die als Mangel identifizierte Problematik bei Erhebungen – das betrifft qualitative ebenso wie quantitative Erhebungsinstrumente – muss nicht als individuelle Fehlleistung von Interviewenden, sondern als ein strukturelles Problem gesehen werden. Diese Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten, die methodisch so schwer zu kontrollieren ist, ist aber aus einer bildungstheoretischen Sicht pädagogisch äußerst wertvoll, denn sie ist der Kern von Lern- und Bildungsprozessen. Man kann also davon ausgehen, dass sich in qualitativen Interviews über pädagogische Fragestellungen zwei Prozesse überkreuzen: Zum einen geht es um die Rekonstruktion subjektiven Sinns und, damit verbunden, um die Dechiffrierung allgemeiner Sinnstrukturen. Und um solche Sinnstrukturen ermitteln zu können, wird ein Forschungsverfahren in Gang gesetzt, das die Interviewten zwingt, ihren eigenen Alltag und ihr tägliches Handeln einem reflexiven Prozess zu unterziehen, der in der Regel dazu führt, über Veränderungen dieses Handelns nachzudenken. 1| 2|

Herbert Blumer, „Der methodische Standort des Symbolischen Interaktionismus“, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Band 1 [1969], Opladen 51981, 80-146. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie [1932], Frankfurt am Main 61993.

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In Forschungsprozessen werden notwendigerweise Prozesse angeregt, die als Lern- und – wenn sie reflektiert werden – als Bildungsprozesse verstanden werden müssen. Wir sehen uns also mit der strukturellen Überlagerung von Lernprozessen in Forschungssituationen, die mit sinnrekonstruierenden Methoden arbeiten, konfrontiert. Genau dieses Setting macht sich das pädagogisch reflexive Interview zunutze. In einem nächsten Schritt wird zunächst der Prozess des pädagogisch reflexiven Interviews3 vorgestellt, auf die verschiedenen Ebenen der Sinnrekonstruktion und spezifischen Formen des Wissens, die in diesem Forschungssetting produziert werden, eingegangen, bevor dann genauer das methodisch kontrollierte Fremdverstehen erläutert wird.

Der Prozess des pädagogisch reflexiven Inter views

3|

Eveline Christof, Bildungsprozessen auf der Spur: Das pädagogisch reflexive Interview, Wien 2009.

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Fragestellung und Leitfaden werden nach theoretischen Vorarbeiten von den Forschenden generiert. Der Fokus liegt auf der Anregung eines Bildungsprozesses bei den Befragten und dessen Dokumentation. Dazu werden die subjektiven Sichtweisen, auf deren Grundlage einzelne Personen als Vertreterinnen und Vertreter einer bestimmten Personengruppe in einer konkreten Situation, in einem bestimmten Praxisfeld auf eine für sie selbst unbefriedigende Weise handeln, erhoben, thematisiert, reflektiert, ausgewertet und einer Analyse des Strukturaufklärungsprozesses unterzogen. Die Forschungsfrage wird in einen Leitfaden umgesetzt, der dazu geeignet ist, in dem speziellen Forschungsfeld die subjektiven Sichtweisen der Befragten zu erheben und eben jenen gesuchten Bildungsprozess anzuregen sowie zu dokumentieren. Mit dem Leitfaden soll die Erzählung einer Handlungssituation, eines konkreten Ereignisses aus der Praxis, des Alltags der Personen angeregt und unterstützt werden. Es geht um eine sehr genaue Beschreibung und Exploration einer konkreten Handlungssituation, die für die Befragten einen nicht zufriedenstellenden Ausgang hatte. Dahinter verbirgt sich die These, dass solche vergangenen Situationen zum einen ein gewisses Potenzial an Aufklärung in sich tragen und zum anderen sehr gut und vor allem plastisch im Gedächtnis der Befragten sind und somit auch genau geschildert werden können. Bei der Durchführung des Interviews sind – mit dem Ziel der Anregung eines Bildungsprozesses bei den Befragten – bestimmte methodische Implikationen zu beachten. Der entwickelte Leitfaden dient der Unterstützung der Generierung der gesuchten Erzählungen, soll jedoch kein Hindernis oder ein starres Korsett darstellen, indem er wortwörtlich umgesetzt wird. Es geht vielmehr darum, sich an den vorher definierten Etappen, wie schließlich die Erzählung einer konkreten Situation aus dem Alltag der Befragten hervorgelockt werden kann, zu orientieren. Zum einen werden hier Zwänge und Mechanismen des Erzählens, wie sie Schütze4 bei der Konzeption des narrativen Interviews beschrieben hat, wirksam. Zum anderen kommen hier als Methoden das Paraphrasieren5 und das nachträgliche laute Denken6 zur Anwendung. Der Einsatz dieser Methoden soll den Befragten ein Klima wohlwollender Akzeptanz und Interesse an ihren Erzählungen vermitteln, sowie sie zu einer weiteren, 4| 5|

6|

Fritz Schütze, Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien – dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen, Manuskript 1977. Die Methode des Paraphrasierens wird zum Beispiel bei Rogers (Carl Rogers, Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie: Client-Centered Therapy [1972], Frankfurt a. M. 1997) in der Konzeption der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie verwendet. Andrea Seel, Von der Unterrichtsplanung zum konkreten Lehrerhandeln: Eine Untersuchung zum Zusammenhang von Planung und Durchführung von Unterricht bei Hauptschullehrerstudentinnen, Graz 1995.

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tieferen Exploration anregen. Dabei werden sie von den Interviewenden methodisch mit gezielten Fragen unterstützt. Diese genaue und detaillierte Betrachtung einer vergangenen Handlungssituation stellt einen ersten Schritt zu einer Reflexion der damaligen Situation – und da vor allem dem Anteil des eigenen Handelns – dar. Die Analyse des Interviews erfolgt orientiert am Konzept der Subjektiven Theorien,7 nach einer genauen Transkription des Interviews. Die Regeln, nach denen die Transkription8 verfasst wird, stehen im Zeichen des Ziels der Analyse. Ziel der Analyse ist eine genaue Darstellung der damaligen Sicht der Befragten, bezogen auf ihre subjektiven Theorien die geschilderte Situation betreffend. Die Analyse beschränkt sich auf die explizit im Interview gemachten Aussagen der Befragten und hat noch nicht zum Ziel implizite Annahmen herauszuarbeiten. Beim nächsten Schritt, der Rückmeldung der Ergebnisse an die Befragten werden ihnen diese aus dem Interview, nach der Analyse gewonnenen Subjektiven Theorien bezogen auf die damalige Handlungssituation in Form einer Paraphrase präsentiert. Im folgenden, eigentlich nur analytisch getrennten Schritt der Strukturanalyse des Aufklärungsprozesses geht es darum, den schon im Interview angeregten Bildungsprozess, in der Form einer Reflexion der eigenen Situationsdefinitionen und Zuschreibungen, die im Prozess der Wahrnehmung einer Situation getroffen werden, weiterzuführen. Die Basis für den Prozess der Wahrnehmung dieser Elemente bilden die Selbstund Weltbilder der befragten Person. Diese wiederum sind Resultate eigener Erfahrungen sowie der permanenten Veränderung, Erweiterung und Reflexion sich immer wieder verändernder Rahmenbedingungen sowie Strukturen, in welche Individuen immer eingebunden sind. Einen Bildungsprozess im Sinne des pädagogisch reflexiven Interviews anzuregen, betrifft immer Veränderungen im Bereich der Person – ihr Selbst- und oder Weltbild betreffend – wirkt sich aber immer auch auf die das Individuum umgebenden strukturellen Bedingungen aus. Um einen Bildungsprozess auslösen zu können, bedarf es eines bestimmten Anstoßes oder einer Irritation. Das Denken oder Handeln wie üblich wird in irgendeiner Form unterbrochen oder in Frage gestellt. Diesen Ansatzpunkt will die Strukturanalyse des Aufklärungsprozesses bieten, indem Elemente der damaligen Situationswahrnehmung extrahiert werden, die besonders deutungsgeladen, das heißt nicht der Realität angemessen und 7| 8|

Norbert Groeben/Diethelm Wahl/Jörg Schlee/Brigitte Scheele, Forschungsprogramm Subjektive Theorien: Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts, Tübingen 1988. Transkriptionsregeln, wie sie Forschauer und Lueger (Ulrike Froschauer/Manfred Lueger, Das qualitative Interview: Zur Praxis interpretativer Analyse sozialer Systeme, Wien 2003, 224f.) verwenden, sind durchaus auch für diese Form des Interviews und der Analyse angemessen.

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an Beobachtbarem orientiert sind. Mit den Befragten wird die damalige, analysierte Situation nach Elementen durchsucht, die möglicherweise auch anders gedeutet werden könnten. Das Denken und Handeln, das auf den eigenen empirischen Urteilen, die in einer Situation gefällt werden, aufbaut, wird ein Stück weit infrage gestellt. Es wird exemplarisch ein Ausschnitt der Situationswahrnehmung der Person, und da auch nur ein Element der damaligen Wahrnehmung, herangezogen, um diese zu hinterfragen und auf ihre Realitätsangemessenheit hin zu überprüfen. Einen Anstoß zur Überprüfung eigener Sichtweisen durch eine Reflexion liefern einerseits die Unzufriedenheit mit dem Ausgang der geschilderten Situation, die als nicht gelöst im Gedächtnis präsent ist und andererseits die Anregungen im Interview und der Rückmeldung. Befreit vom Handlungsdruck einer unmittelbar zu lösenden Situation eröffnet sich für den Befragten oder die Befragte die Chance, über andere Umgangsweisen nachzudenken. Die Interviewerin, der Interviewer versucht gemeinsam mit dem oder der Befragten ein Element der damaligen Situationswahrnehmung zu identifizieren, das auch anders gesehen werden könnte. Es wird versucht, das Element herauszufinden, bei welchem am offenkundigsten ist, dass es vorurteilshaft, verzerrt oder vorbelastet ist. Ziel dieses Schrittes ist es, ein Element der subjektiven Wahrnehmung umzudeuten und alternative Sichtweisen oder Lesarten zu einem bestimmten beobachtbaren Phänomen – einem kleinen Ausschnitt aus der damaligen Situationswahrnehmung – zu produzieren. Durch diese Umdeutung eines Elements der damaligen Wahrnehmung soll eine andere Sicht der Realität angestrebt werden, die ein Stück weit distanzierter ist und sich an eindeutig beobachtbaren Tatsachen orientiert. Die Umdeutung eines Elements der damaligen Situationswahrnehmung wirkt sich notwendigerweise auch auf andere Elemente der Situationsdeutung aus und auch diese müssen anders gedeutet werden. Deshalb müssen auch andere Teile der Wahrnehmung der damaligen Situation möglicherweise „umgeschrieben“ werden, um die Situation plausibel und für die handelnde Person logisch erscheinen zu lassen. Ein Element zu verändern, bedeutet zumindest eine Überprüfung auch anderer Elemente der vergangenen Situationsdefinition. Weiters wird in der Rückmeldung thematisiert, wie sich eine veränderte Situationsdefinition auf die Einschätzung der Möglichkeiten, in dieser Situation zu handeln – natürlich fiktiv, im Blick zurück – aus der Sicht der Befragten ausgewirkt hätte. Obwohl sich diese Frage auf eine bereits vergangene Handlungssituation bezieht, wirkt sich diese Überlegung – aufgrund einer veränderten Sichtweise neue Handlungsmöglichkeiten zu entwerfen – auch auf zukünftige, ähnliche oder verschiedene Situationen aus. Die Erfahrung in bestimmten vor allem problematischen Si-

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tuationen, einen größeren Spielraum an möglichen Handlungsoptionen zur Verfügung zu habenb stellt einen Schritt dar, das eigene Handeln zunehmend autonomer gestalten zu können. Die subjektive Zufriedenheit bezogen auf die autonome Gestaltung des eigenen Handelns wird erhöht. Als letzter Schritt des Programms des pädagogisch reflexiven Interviews ist eine zweite Rückmeldung mit den Beforschten gedacht. Ziel dieses Schrittes ist es, den durch das Interview angeregten Bildungsprozess nochmals zu reflektieren, indem in einem dritten, abschließenden Gespräch Erfahrungen mit dem Interview, der Rückmeldung, dem Versuch des Umdeutens eines Elements der damaligen Situationswahrnehmung und den daran anschließenden neuen Erkenntnissen thematisiert werden.

Produktion von „Sinn“ und „Wissen“ im Inter view In der qualitativen Sozialforschung wird Sprechen zumeist als Form sozialen Handelns begriffen. Als Vertreter für diese Richtung sind etwa Hans Georg Soeffner9 oder Ulrich Oevermann10 zu nennen, die sprachliche Äußerungen als soziale Handlungen und die daraus entstehenden Texte als die Produkte solcher Handlungen fassen. Diese Texte sind also als Produkte von Handlungen zu verstehen und sind zu deuten und zu interpretieren – um sie verstehen zu können. Sprachliche Äußerungen haben in ihrem Kontext, in der Abfolge von Handlungs- in der Form von Erzählsequenzen einen „Handlungssinn“, quasi einen objektiven Sinn. Diesen gilt es durch die Forschenden zu erschließen. Aber wie lässt sich das erreichen? Es wird in einem Interview Wissen auf verschiedenen Ebenen erzeugt. In der Interaktion zwischen Fragenden und Befragten entsteht eine erste Ebene des Verstehens und des Sinns – direkt auf das Geschehen im Interview bezogen. Aber in den Erzählungen der Befragten manifestiert sich auch deren Wissen über strukturelle Bedingungen, mit denen sie in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert sind. Ebenso wird ihr Handlungswissen durch die Verbalisation im Interview expliziert. Wir haben es in einem Interview mit der Produktion von verschiedenen Arten des Wissens auf verschiedenen Ebenen zu tun. Auf der Ebene der 9|

Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung, Konstanz 2004. 10 | Ulrich Oevermann, Fallrekonstruktionen und Strukturgeneralisierung als Beitrag der objektiven Hermeneutik zur soziologisch-strukturtheoretischen Analyse, 1981 (http://www.uni-frankfurt.de/~hermeneu/Fallrekonstruktion- 1981.PDF); ders./Tilman Allert/Elisabeth Konau/Jürgen Krambeck, „Die Methodologie einer ,objektiven Hermeneutik‘ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften“, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, 352-433.

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Interaktion zwischen Fragenden und Befragten – ad hoc wird kommunikatives Wissen verwendet, auf der Ebene des Individuums – kommt es zu einer Explizierung des Handlungswissens und auf der strukturellen Ebene – wird die Explikation von impliziten Regelwissen geleistet. Um das noch etwas zu verdeutlichen und den Zusammenhang mit dem Interview herzustellen, soll exemplarisch einer der zuvor angedeuteten Mechanismen erwähnt werden, der sich in Interviews immer in einer gewissen Weise nebenbei ereignet, wo sich strukturellen Tatsachen oder auch Problemen zeigen. Genau diese, wie es viele Autoren nennen „Schwachstellen“ oder „strukturellen Problemlagen“, die Interviews schaffen, können pädagogisch eingesetzt werden. An diesem Punkt kann auch der Einsatz des methodisch kontrollierten Fremdverstehens ansetzen und erklärt werden. In einem Interview muss die befragte der fragenden Person einen bestimmten Sachverhalt oder einen Ausschnitt aus ihrem Leben nachvollziehbar darstellen. In diesem Prozess der Verbalisierung von zuvor noch nicht geäußerten Gedanken, die in der Situation des Interviews einer anderen, fremden, in diesem Fall interviewenden Person verständlich werden sollen, verbirgt sich ein impliziter Reflexionsschritt. Muss einer anderen, zuhörenden Person eine Situation verständlich dargelegt werden, so kommt die erzählende Person in die Lage, selbst eine gewisse Außenposition zu dem vergangenen Geschehen einzunehmen, um dieses konsistent und logisch erläutern zu können. Zudem ist es so, dass die Routinisierung des Alltagswissens und Alltagshandelns prinzipiell darauf beruht, dass in einem alltäglichen Gespräch nicht alles gesagt oder gefragt werden muss, es muss nicht alles explizit gemacht werden. Alltägliches Handeln der Individuen steht unter Handlungs- und Entscheidungsdruck, es ist pragmatisch organisiert und implizites Wissen kommt dabei selbstverständlich zur Anwendung. Individuen besitzen von den sie umgebenden strukturellen Bedingungen eine Form von explizitem Wissen – welche Normen in einer Gesellschaft gelten, wie man sich in spezifischen Situationen verhält – aber auch implizites Wissen, das selbstverständlich, ohne hinterfragt zu werden, oder die geltende Regel explizit zu kennen, verwendet wird. Diese Regeln und Strukturen können jedoch bei Bedarf explizit gemacht werden, um die in einer spezifischen Situation wirksamen strukturellen Bedingungen aufzuzeigen. Im Verlauf des Interviews müssen manche Teile des impliziten, selbstverständlichen Wissens einer Person expliziert werden, um einen bestimmten Sachverhalt für die zuhörende Person verständlich und nachvollziehbar zu machen. Diese Explikation impliziten Wissens, man könnte es auch als eine Art Selbstaufklärungsprozess beschreiben, stellt einen weiteres Phänomen dar, das sich immer in Interviews in gewisser Weise ereignet und als Ansatzpunkt für die Anregung eines Bildungsprozesses gelten

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kann. Vor allem dann wenn dieses Phänomen methodisch noch weiter unterstützt wird. Diese Reflexions- oder Selbstaufklärungsprozesse, die in weiteren Schritten zu Bildungsprozessen zu transformieren sind, werden durch bestimmte methodische Griffe unterstützt. Die Interviewenden setzen im Interview und vor allem in der Analyse methodisch kontrolliertes Fremdverstehen ein, wenn sie versuchen, die Perspektive der Befragten möglichst genau – zuerst im Interview durch Paraphrasen, dann in der Analyse in Form der Rekonstruktion der Subjektiven Theorien – nachzuvollziehen.

Methodisch kontrollier tes Fremdverstehen Das methodisch kontrollierte Fremdverstehen wurde von der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen11 im Anschluss an Konzepte wie jene des symbolischen Interaktionismus12 oder im Gefolge von Theorien zu Alltag und Lebenswelt13 entworfen. Grundsätzlich wurde die Theorie des methodisch kontrollierten Fremdverstehens aus vier Wurzeln entwickelt – aus dem symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie, der Ethnotheorie und der Ethnographie des Sprechens. Menschliche Kommunikation und menschliches Handeln sowie deren Entstehung, Bedingungen und Strukturen sind Gegenstand dieser Ansätze. Im Handeln und im Sprechen von Individuen materialisiert sich dieser Gegenstand und kann interpretativ erschlossen werden. Grundlage und Voraussetzung für das Verstehen fremden Handelns ist es, Einblick in die Interpretationsprozesse und deren interaktive Zusammenhänge zu gewinnen. In der Form kommunikativer Interaktion ist es den Forschenden möglich, die in einem bestimmten Feld relevanten Aspekte gesellschaftlicher Wirklichkeit zu erfassen – und das durch die Perspektive der alltagsweltlich handelnden Mitglieder einer Gesellschaft.14 Dabei stoßen alle sozialwissenschaftlichen, kommunikativen Methoden auf Probleme. Wie kann das Verhältnis zwischen kommunikativer Sozialforschung, gesellschaftlicher Wirklichkeit und Alltagswissen gedacht werden? Im Alltagswissen der Beforschten, das durch gezielte Kommunikation – zum Beispiel durch ein Interview – erhoben wird und in Erzählungen alltäglicher Handlungen zum Vorschein kommt, sind struktu11 | Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Ethnotheorie und Ethnographie des

Sprechens, Bd. 2, Opladen 51981.

12 | Blumer 1981 13 | Schütz 1993. 14 | Vgl. Fritz Schütze/Werner Meinefeld/Werner Springer/Ansgar Weymann,

„Grundlagentheoretische Voraussetzungen methodisch kontrollierten Fremdverstehens“, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1981, 433-495, 433f.

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relle Bedingungen der Gesellschaft enthalten, in der die befragte Person lebt und handelt. Das die Individuen unmittelbar leitende Handlungsund Orientierungswissen, das zu großen Teilen implizit ist und in einer selbstverständlichen Weise angewendet wird, muss in einer Erzählung für ein Gegenüber – im Falle eines Interviews sind das die Interviewenden – dargelegt und expliziert werden. Forschungskommunikation als Fremdverstehen aufzufassen meint, die von den Forschenden geforderte Introspektion (den eigenen alltagsweltlichen Wissensbestand zu reflektieren und nicht mit jenem der Beforschten als identisch zu setzen) zu Gunsten einer kontrollierten Methode zu überschreiten. Es werden dazu kommunikative Basisregeln formuliert, welche die Methode des Fremdverstehens fundieren sollen. Prinzipiell baut diese Methodik auf den kommunikativen Fertigkeiten und Fähigkeiten auf, die jedes Gesellschaftsmitglied hat und die es normalerweise selbstverständlich in der alltäglichen Kommunikation anwendet. Auch Forschende müssen sich der alltagsweltlichen Methodik des Fremdverstehens bedienen, denn „nur so kann das Alltagswissen in seinen natürlichen Anwendungskontexten erfasst werden. Und allein dieses Wissen ist unmittelbar orientierungswirksam“.15 Würde die Methodik aber hier stehen bleiben, dann würde sie keinen wissenschaftlichen Kriterien genügen, da sie nicht nachvollziehbar und nicht intersubjektiv kontrollierbar wäre. Das führt zu einem Dilemma. Stützt sich wissenschaftliche Forschung nur auf restriktive Erfahrungsdaten, die mithilfe kontrollierter – im Sinne starrer, standardisierter – Methoden gewonnen werden, ist es nicht möglich, zu den tieferen Bedeutungen und den Sinnzuschreibungen der Beforschten vorzudringen. Gerade wenn der Forscher oder die Forscherin von diesen Tatsachen absehen will, sich dem naturwissenschaftlich restringierten Erfahrungsbegriff verpflichtet fühlt und allein objektive Daten erheben will, setzt er oder sie unkontrolliert sein oder ihr eigenes interpretatives Schema voraus, um auf der Grundlage vorverstandener sozialer Bedeutsamkeit bestimmte ,objektive‘ Variablen als analyserelevant auswählen zu können.16

Der Versuch, Methoden dahingehend zu kontrollieren, dass sie an naturwissenschaftliche Vorgehensweisen angepasst werden, löst das Problem der Eingebundenheit der Forschenden und deren Vorurteile, die auf den Forschungsprozess immer notwendigerweise Einfluss nehmen, nicht. Die Problematik des methodisch kontrollierten Fremdverstehens zeigt sich darin, dass die Kommunikation zwischen Forschenden und Beforschten durch normative Regeln und Basisregeln der Kommunika15 | Schütze et al. 1981, 441. 16 | Ebd., 442.

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tion gesteuert ist. Während die Basisregeln der Kommunikation universale Gültigkeit besitzen, ist das andere, das zweite Regelsystem, dem jede Kommunikation unterliegt, institutionenspezifisch und von den soziohistorisch besonderen Gehalten des jeweiligen Institutionenbereiches, in dem die Kommunikation stattfindet abhängig. Das heißt, dass sich die Forschenden vor allem auf jene Regeln zu konzentrieren haben, die für eine bestimmte Institution oder ein bestimmtes Feld Gültigkeit besitzen, denn die annähernd gleiche Verwendung der Basisregeln der Kommunikation kann zwischen den Interaktionspartnerinnen und -partnern im Forschungsprozess vorausgesetzt werden. Über die angemessene Verwendung dieser Regeln, um gelungen zu kommunizieren, machen sich Beforschte aber auch Forschende keine Gedanken, solange die Kommunikation reibungslos funktioniert. Über das normative Regelsystem, das in einem Feld den Kommunikationsprozessen zugrunde liegt, müssen die Forschenden im Vorfeld jedoch Informationen einholen, um relevante Themen zu kennen und das Interview entsprechend strukturieren, bzw. führen zu können. Aufgabe der Forschenden ist es, sich mit diesen Regelsystemen, nach denen Kommunikation und Interaktion in einem bestimmten Forschungsfeld abläuft, einerseits vorab vertraut zu machen und andererseits diese für die Vorbereitung der tatsächlich im Feld stattfindenden Interaktion – für die Konzeption des Interviews – heranzuziehen. Darüber hinaus ist es aber auch das Ziel des Forschungsprozesses und die Aufgabe der Forschenden, genau jene impliziten Regeln, nach denen Kommunikation in einem bestimmten Feld abläuft, zu explizieren. Mithilfe dieser Interaktions- und Kommunikationsregeln eines Felds lassen sich dessen wirkmächtige – weil handlungsleitende – Prinzipien und strukturelle Bedingungen rekonstruieren. Kontrolliertes Fremdverstehen im Forschungsprozess macht sich auf mehreren Ebenen bemerkbar. Zum einen geht es darum, sich als Forscherin und Forscher einem Feld anzunähern, seine Typik und Eigenheiten zu erfassen, die sich in seinem normativen Regelsystem abbilden, zum anderen geht es auch darum, dass die Forschenden ihre eigenen – durch ihre Sozialisation erworbenen – Regelsysteme reflektieren und diese als Hintergrundfolie für die Erforschung des fremden Systems verwenden. Es geht aber auch darum, im Forschungsprozess das eigene Wissen zurückzustellen – es ebenfalls methodisch zu kontrollieren – um das Feld von den Beforschten selbst explizieren zu lassen. Es geht schließlich auch darum, eine intersubjektiv überprüfbare Explikation dieses erhobenen Alltagswissens herzustellen. Das durch bestimmte Methoden erhobene Wissen und Handeln ist die Basis, auf welcher jene Interpretationen aufbauen, welche die dahinterliegenden Strukturen erschließen. Sowohl die Basisregeln als auch die normativen Regeln eines Felds kommen so zum

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Vorschein. Diese gilt es im Forschungsprozess nachvollziehbar zu explizieren und darzustellen. Verstehen heißt somit Sinnzuschreibungen im Kontext der jeweiligen Lebenswelt zu entschlüsseln – Forschende wollen sozusagen dieses Verstehen verstehen. Diese „Verstehensleistung zweiten Grades“ findet somit im Kontext der Forschung statt und ist die Konstruktion einer Typisierung im Sinnsystem von Wissenschaft. Äußerungen der Befragten im Interview können also nur verstanden werden, wenn sie zuerst in den eigenen Sinnzusammenhang der Fragenden geholt werden. Zusätzlich zu den eigenen Interpretationen kommen die Informationen über das Feld und den Entstehungskontext der Äußerungen der Befragten hinzu, die es den Forschenden möglich machen, eine erste Ebene des Verstehens zu erreichen. Das Vorverständnis der Forschenden muss aber offen dafür sein, zu hören und aufzunehmen, was ihm nicht entspricht und ist im Forschungsprozess systematisch zu reflektieren. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, sich das Vorverständnis zu vergegenwärtigen und zu reflektieren. Insofern geht das Fremdverstehen in einem Interview über die alltäglich verwendete Fähigkeit, in Kommunikation mit anderen das Gesagte immer ausgehend vom eigenen Horizont zu deuten, um es zu verstehen, hinaus.

Methodisch kontrollier tes Fremdverstehen im Konzept des pädagogisch reflexiven Inter views Ziel des Einsatzes qualitativer Forschungsansätze ist es, über das Erkennen der Strukturen der Alltagswelt eines bestimmten Felds hinaus, Ergebnisse für das Feld zur Verfügung zu stellen bzw. in die Praxis direkt einzugreifen. Auch wenn ein Eingriff in die Praxis nicht das erklärte Ziel des Einsatzes einer bestimmten Methode, z. B. eines Interviews ist, wirkt dieses in jedem Fall auf die Befragten und somit auch auf das sie umgebende Feld ein, muss deshalb mitberücksichtigt und im Verlauf des Forschungsprozesses auch reflektiert werden. Im Rahmen der aktuellen Diskussion qualitativ empirischer Zugänge sieht z. B. Lamnek17 Fremdverstehen als ein Verstehen einer anderen Person, welches durch ein Einfühlen oder Sich-Hineinversetzen erreicht werden soll. Grundlage dafür ist, dass sich die Lebenswelten der Forschenden und Beforschten nicht so fremd sind, sodass die Übernahme der Perspektive überhaupt möglich wird. Die Forschenden versuchen so

17 | Siegfried Lamnek, Qualitative Sozialforschung: Lehrbuch, Weinheim/Basel 4

2005.

M ETHODISCH

KONTROLLIERTES

FREMDVERSTEHEN | 265

zu tun, als würden sie selbst die Handlungen der Anderen vollzogen haben.18 Ein erster Aufklärungs- und Reflexionsschritt liegt in einem Interview in der Explizierung impliziten Wissens. Neben der Reflexionsmöglichkeit, die ein Interview für die Interviewten bereithält, sind Erzählungen von ihren strukturgebenden Eigenschaften her besonders gut geeignet, einerseits individuelle Identitätskonstruktionen zu erarbeiten und andererseits deren Einbettung in strukturelle Rahmenbedingungen aufzuzeigen. Das ist ein erklärtes Ziel, welches das pädagogisch reflexive Interview verfolgt und das sich in einem transitorischen Bildungsprozess19 – der gleichermaßen Subjekt und Struktur betrifft – materialisiert. In einem Interview findet eine Vermittlung zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit statt. Das pädagogisch reflexive Interview zielt auf eine Transformation der Bedeutungszuschreibungen der Befragten ab, indem deren Deutungen hinterfragt, ausgeweitet und möglicherweise umgedeutet werden. Das pädagogisch reflexive Interview verortet sich, was diese Überlegungen betrifft, im Bereich der dialogisch orientierten Interviews. Das bedeutet, dass im Interview mit dem Verstehen der Interviewten gearbeitet wird und versucht wird, den Sinn des Gesagten durch die Interviewenden möglichst gut zu erfassen. Insofern findet das methodisch kontrollierte Fremdverstehen im pädagogisch reflexiven Interview – bezogen auf die zuvor angesprochenen Ebenen von Wissen, die im Verlauf des Interviews produziert werden – auch Anwendung.

18 | Vgl. ebd., 720. 19 | Vgl. dazu Peter Alheit, „Transitorische Bildungsprozesse: Das ,biographische

Paradigma‘ in der Weiterbildung“, in: Wilhelm Mader (Hg.), Weiterbildung und Gesellschaft: Grundlagen wissenschaftlicher und beruflicher Praxis in der Bundesrepublik Deutschland, Bremen 1993, 343-417.

Autorinnen und Autoren

Bartmann, Sylke Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit Hochschule Emden/Leer [email protected] Christof, Eveline Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung Universität Innsbruck Österreich [email protected] Gerhard, Michael Philosophischen Seminar Johannes Gutenberg Universität Mainz [email protected] Hanke, Michael Universidade Federal de Rio Grande do Norte Natal, Brasilien [email protected] Immel, Oliver Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie Universität Vechta [email protected] Kirchhoff, Christine Zentrum für Literatur – und Kulturforschung Berlin [email protected]

268 | A UTORINNEN

UND

A UTOREN

Koller, Hans-Christoph Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft Universität Hamburg [email protected]. Michel, Olga Bielefeld Graduate School in History and Sociology Universität Bielefeld [email protected] Riegel, Christine Institut für Erziehungswissenschaft Eberhard Karls-Universität Tübingen [email protected] Sander, Sabine Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien Universität Erfurt [email protected] Stenger, Georg Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft Universität Wien Österreich [email protected] Stichweh Rudolf Kultur- und sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Luzern Schweiz [email protected] Vasilache, Andreas Fakultät für Soziologie Universität Bielefeld [email protected] Zizek, Boris Institut für Erziehungswissenschaft Johannes Gutenberg-Universität Mainz [email protected]

Kultur und soziale Praxis Isolde Charim, Gertraud Auer Borea d’Olmo (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden Januar 2012, ca. 400 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3

Sabine Hess, Nikola Langreiter, Elisabeth Timm (Hg.) Intersektionalität revisited Empirische, theoretische und methodische Erkundungen November 2011, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1437-4

Silja Klepp Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer September 2011, 428 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1722-1

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Kultur und soziale Praxis Adelheid Schumann (Hg.) Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz Dezember 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1925-6

Anne C. Uhlig Ethnographie der Gehörlosen Kultur – Kommunikation – Gemeinschaft Januar 2012, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1793-1

Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht Januar 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3

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Kultur und soziale Praxis Anıl Al-Rebholz Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980 Februar 2012, ca. 408 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1770-2

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Thomas Fröhlich, Yishan Liu (Hg.) Taiwans unvergänglicher Antikolonialismus Jiang Weishui und der Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft. Mit einer Übersetzung von Schriften Jiang Weishuis aus dem Chinesischen und Japanischen August 2011, 362 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1018-5

Daniel Gaxie, Nicolas Hubé, Marine de Lassalle, Jay Rowell (Hg.) Das Europa der Europäer Über die Wahrnehmungen eines politischen Raums März 2011, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1626-2

Martina Grimmig Goldene Tropen Die Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana September 2011, 296 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-751-6

Gertraud Marinelli-König, Alexander Preisinger (Hg.) Zwischenräume der Migration Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten Oktober 2011, 292 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1933-1

Janne Mende Begründungsmuster weiblicher Genitalverstümmelung Zur Vermittlung von Kulturrelativismus und Universalismus September 2011, 212 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1911-9

Minna-Kristiina Ruokonen-Engler »Unsichtbare« Migration? Transnationale Positionierungen finnischer Migrantinnen. Eine biographieanalytische Studie Februar 2012, ca. 348 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1876-1

Verena Schreiber Fraktale Sicherheiten Eine Kritik der kommunalen Kriminalprävention Juni 2011, 302 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1812-9

Jörg Gertel, Ingo Breuer (Hg.) Alltagsmobilitäten Aufbruch marokkanischer Lebenswelten November 2011, 452 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-928-2

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