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German Pages 328 Year 2023
Claudia-Susanne Günther
Das Eigene und das Fremde Eine Untersuchung zum Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht
Das Eigene und das Fremde
Claudia-Susanne Günther
Das Eigene und das Fremde Eine Untersuchung zum Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht
Claudia-Susanne Günther Universität Potsdam Potsdam, Deutschland Dissertation, Universität Potsdam, 2023
ISBN 978-3-658-42994-2 ISBN 978-3-658-42995-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Marija Kojic Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.
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Lehrerinnen und Lehrer stehen immer wieder vor der Aufgabe, zu verstehen, ob und was ihre Schülerinnen und Schüler verstanden haben. In der Mathematikdidaktik möchten wir verstehensorientierte Ansätze der Wissensvermittlung sehen. Was ist verstehensförderlich? Oft ist dabei unklar, was überhaupt mit „Verstehen“ gemeint ist. Wir können hoffen, dass wir aus den Bearbeitungen gut konstruierter Aufgaben auf das Verstehen der einzelnen Schülerinnen und Schüler schließen können. Doch die tägliche Arbeit der Lehrpersonen sieht anders aus: Aus der Beobachtung ihrer Schülerinnen und Schüler sollen sie in kürzester Zeit erkennen, wie sie den Lernprozess unterstützen können. Dabei ist es nur natürlich, dass die Lehrpersonen ihre eigene Sicht auf den und ihre eigenen Erfahrungen mit dem Verstehensprozess auf die von ihnen beobachteten Kinder übertragen. Sie erinnern sich an ihre eigenen Versuche, etwas zu verstehen, an ihre Aha-Erlebnisse, aber auch an ihre Vermeidungsstrategien. Das Verstehen des Lernprozesses hängt von ihren eigenen (mathematik-)biographischen Erfahrungen ab. Wir stehen hier einem praktisch relevanten Problem gegenüber: Ohne Fremdverstehen, also das Verstehen einer anderen Person, ist eine gezielte individuelle Förderung von Lernprozessen kaum möglich. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich dieser Frage wissenschaftlich zu widmen: Wie gestalten sich Fremdverstehensprozesse zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern? Obwohl ohne eine Antwort auf diese Frage kaum eine ernsthafte wissenschaftliche Befassung, weder mit dem Verhalten von Lehrkräften im Mathematikunterricht, der im steten Wechselspiel zwischen den Beteiligten und ihrer Reaktion auf ihr Verständnis der jeweils anderen abläuft, noch das Verständnis der durch Schülerinnen und Schüler erzeugten Bewegungen, Handlungen und Artefakte geschehen kann, ist die Didaktik der Mathematik als Wissenschaftsdisziplin hier bisher nicht rigoros und exakt genug. In der vorliegenden Arbeit gelingt es, einen
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wesentlichen Beitrag zur Erschließung neuer Methoden, aber auch einer neuen begrifflichen Exaktheit zu liefern, der über die konkreten Ergebnisse der Arbeit hinaus wirken kann. Pointiert führt Frau Günther im ersten Kapitel die Leserinnen und Leser mit klaren Beispielen in das Thema und seine Relevanz ein und baut die theoretische Einbettung auf. Parallel dazu erläutert sie ihr extrem reflektiertes Vorgehen bei der Analyse, welches auf Grund der mehrfachen Indirektion der aufwändigen Untersuchung notwendig ist: Bevor das Fremdverstehen der untersuchten Lehrpersonen differenziert betrachtet werden kann, muss die Autorin selbst einen Fremdverstehensprozess durchlaufen. Für beide Teiluntersuchungen sind ähnliche, aber doch verschiedene Wege der Datenerhebung und -auswertung notwendig. Mit dieser Vorbereitung entfaltet sich die Arbeit über sieben weitere Kapitel in drei Teilen. Das zweite Kapitel widmet sich dabei umfassend der Theorie des Fremdverstehens nach Alfred Schütz. Dieser soziologische Zugang, der bisher in der Mathematikdidaktik kaum Beachtung erfuhr, wird anhand mathematikdidaktischer Beispiele erklärt, so dass für die Leserinnen und Leser kaum Fragen offenbleiben – im Gegenteil, es handelt sich um eine kompakte und verständliche Einführung in die Theorie, die als Sekundärliteratur für einen schnellen Einstieg herangezogen werden kann. Die Begriffe werden im weiteren Verlauf der Arbeit tatsächlich benötigt: Die Datenanalyse basiert auf der Beherrschung der Begriffe und kann daher nur so durchgeführt werden. Die Einführung in die Theorie erfüllt damit auch einen weiteren Zweck: Wer die von Frau Günther eingeführte Methodik ebenfalls verwenden möchte, kann ihren Text als Grundlage für ein sauberes Begriffsverständnis heranziehen. Im dritten Kapitel erfolgt die noch deutlichere Anknüpfung des soziologischen Ansatzes an das Wissenschaftsgebiet der Mathematikdidaktik. Die fundamentale Kritik an existierenden und florierenden Strängen der Mathematikdidaktik ist dabei in der gebotenen Bescheidenheit ausgeführt. Dennoch wird deutlich, dass „teacher noticing“ auf Fremdverstehen als zentralem Konstrukt basiert, und dass dieses erst über eine saubere theoretische Fundierung, wie in dieser Arbeit vorgeführt, wissenschaftlich diskutiert werden kann. Auch das hochaktuelle Thema der Diagnosekompetenz profitiert von einer klaren Analyse von Fremdverstehensprozessen. Nach diesem ersten Teil beginnt der zweite, empirische, Teil der Arbeit mit dem vierten Kapitel, welches in aller Knappheit auf einer Seite das Forschungsziel formuliert: Frau Günther möchte einen Einblick in das Fremdverstehen von Lehrkräften gewinnen, die das Mathematiklernen von Schülerinnen und Schülern im Unterricht beobachten. Dieses Forschungsziel ist, wie gerade dargestellt, hochrelevant und auch in seiner Breite gerechtfertigt: Der aktuelle Stand der
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Wissenschaft erlaubt es noch gar nicht, Detailfragen an das Fremdverstehen zu stellen, da keine begründeten Theorien vorliegen, wie sich dieses ausgestaltet. Frau Günthers Arbeit ist hier explorativer Natur, sie generiert allgemeine Theorien aus der empirischen Beobachtung des Fremdverstehens zweier Lehrkräfte. Dabei soll das Fremdverstehen auch mit der mathematikbezogenen Biographie der Lehrkräfte abgeglichen werden, da diese mutmaßlich (und auch tatsächlich, wie sich herausstellen wird) das Fremdverstehen der Lehrkräfte beeinflusst. Der daraus folgende methodische Zweischritt einer Aufdeckung der mathematikbezogenen Biographie der beiden Lehrkräfte und der darauffolgenden Analyse ihres Fremdverstehens erfolgt mit zwei Instrumenten, dem biographisch-narrativen Interview nach Fritz Schütze und einem narrativen Interview, welches durch Frau Günther selbst für diesen Zweck angepasst wurde. Das fünfte Kapitel widmet sich nun zunächst der Erhebung der mathematikbezogenen Lebensgeschichten der beiden Lehrkräfte. Das Instrument des biographisch-narrativen Interviews nach Schütze und Rosenthal wird vorgestellt. Es existieren viele Publikationen außerhalb der Mathematikdidaktik zu diesem Instrument, doch die wesentlichen Merkmale werden in der vorliegenden Arbeit sehr geeignet aufgeführt. Es werden dabei entscheidende Merkmale dieser Interviews beschrieben – insbesondere die drei Zwänge Gestaltschließung, Kondensierungszwang und Detaillierungszwang. Diese sind besonders deswegen interessant, weil ein Beitrag im weiteren Verlauf der Arbeit ist, hier noch einen weiteren Zwang zu ergänzen. Weiterhin stellt Frau Günther auch dar, warum überhaupt ein neues Instrument zur Erhebung mathematikbezogener Biographien notwendig ist und die bisherigen Werkzeuge ihr nicht ausreichen. Die im weiteren Verlauf des Kapitels vorgestellte Analysemethode der rekonstruktiven Fallanalyse nach Rosenthal besteht im Wesentlichen aus der Entfaltung möglichst vieler Möglichkeiten und der darauffolgenden Reduktion dieser Möglichkeiten auf die plausibelste Alternative. Dieses mehrschrittige Verfahren von Abduktion, Deduktion und Induktion ist ungemein aufwändig und stellt eine Herausforderung dar, die diese Arbeit aber auf sich nimmt. Als Belohnung für diesen Aufwand erhalten wir zwei hochspannende, detailreiche und für sich allein lesenswerte mathematikbezogene Biographien von Camila und Luisa. Diese Biographien stellen aber nur die Grundlage für die eigentliche Untersuchung dar. Das sechste Kapitel stellt die Methode und Durchführung der narrativen Interviews dar, mit der erhoben wird, welches Fremdverstehen die beiden Lehrkräfte Camila und Luisa zeigen. Dabei muss zwischen dem erlebten und dem erzählten Fremdverstehen unterschieden werden. Besonders beeindruckend ist in diesem Kapitel die durch die Autorin selbst entwickelte Analysemethode, die durch den Rückgriff auf die Theorie des Fremdverstehens eine erschöpfende
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Analyse der narrativen Interviews ermöglicht. Wie schon vorher erwähnt, werden nun die Begriffe aus der Schütz’schen Theorie genutzt, um in zwei Richtungen das Gesagte zu strukturieren und alle Hinweise auf Fremdverstehen zu finden. Nun gilt es, dieses Fremdverstehen mit den erhobenen mathematikbezogenen Biographien strukturiert zu kontrastieren. Mit Zitaten aus den InterviewTranskripten belegt Frau Günther verschiedene berichtete Erlebnisse und Handlungen, die die Lehrkräfte berichten. Ich habe selten so detaillierte und interessante Analysen von Hospitationen gelesen wie hier! Diese werden dann auch noch mit den mathematikbezogenen Lebensgeschichten der beiden Lehrkräfte in Beziehung gesetzt und daraus die Strukturen des Fremdverstehens der beiden Lehrkräfte extrahiert. Die Ausführungen zu Polypersonalität, Mathematikungebundenheit, Erinnerungsfluss durch Personenvertauschung, Verifikation von Erlebnissen durch andere Erlebnisse und geringem Kontigenzbewusstsein bei positiven Erlebnissen bei Camila sind außerordentlich tief gehend und vor allem: Man hätte diese Strukturen ohne die wissenschaftliche Herangehensweise, also mit naiven oder anekdotischen Zugängen, nicht finden können. Noch viel umfangreicher gestaltet sich die Analyse des Fremdverstehens bei Luisa. Die Einsichten zu Begründen und Argumentieren im Mathematikunterricht (Abschnitt 6.4.2.3.3) sind dabei relevant für die curriculare Entwicklung des Mathematikunterrichts und der Lehrkräftebildung! Luisas Bild von Mathematik(unterricht) und die Replikation und Übertragung ihrer Verhaltensmuster im Fremdverstehen zeigen, wie schwierig eine substanzielle Veränderung des Unterrichts hin zu einer neuen Aufgabenkultur ist. Es ist auch eindrücklich, wie Parallelen im Fremdverstehen und der eigenen Biographie aufgedeckt werden. Manche der schon gefundenen Strukturmerkmale werden bestätigt, weitere Strukturmerkmale werden aufgedeckt, wie die Situationen der Bewertung durch Lehrpersonen, die besonders wichtig für die weitere Entwicklung der Unterrichtsqualität sind, die Erwartung fremder Erlebnisse, die zeigt, dass die eigene Biographie in Hospitationssituationen, aber natürlich auch im Unterricht, nicht nur für die nachträgliche Bewertung, sondern auch schon für das Bemerken von relevanten Situationen wichtig ist, und die vermeintliche Positivierungstendenz. Mit diesen Einzelfallanalysen im zweiten Teil liegt eine spannende Untersuchung vor, die um ihrer selbst willen gelesen werden sollte. Der dritte Teil schafft es nun, diese Erkenntnisse zu einem wissenschaftlichen Beitrag jenseits von Einzelfällen zu machen. Das siebte Kapitel verallgemeinert die Forschungsergebnisse der qualitativen Untersuchung, die in mehreren Abschnitten zusammengefasst werden:
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• Der beobachtete Rückgriff auf ein polypersonales ego erlaubt es Lehrkräften, auch in komplexen Situationen schnell situativ adäquat zu handeln. • Das erfasste Erleben wird genauer beleuchtet: Es fällt zunächst auf, dass die erfassten Erlebnisse nicht zwingend Bezug zur Mathematik haben müssen. Die Erfassung des Fremdverstehens über „Quasi-Handeln“ ist hoch spannend und gibt eine neue Perspektive auf das Fremdverstehen im Mathematikunterricht und darüber hinaus. • Ein weiterer Abschnitt widmet sich den Anzeichen, wobei hier zunächst ein neuer Zwang thematisiert wird, der die oben erwähnten drei Zwänge in biographisch-narrativen Interviews ergänzt: Der Zwang zur Ununterbrochenheit ist eine neue Erkenntnis, die erforscht werden sollte! • Die Arbeit beschreibt theoretisch und empirisch fundiert das anekdotisch beobachtbare „von sich auf andere schließen“. • Und schließlich wird die Problematik des unendlichen Prozesses einer vollständigen Überprüfung eines Fremdverstehensprozesses diskutiert, wobei herausgehoben wird, wie sehr die eigene Biographie zur Fehlinterpretation im Fremdverstehen beitragen kann. Das achte und letzte Kapitel zeigt dann mehrere Wege zur Anschlussforschung auf, die alle schlüssig und wichtig sind. Ich möchte davon nur einen herausheben, weil er essenziell für die schulpraktische Ausbildung und die Fortbildung von Lehrkräften sein kann: Der Vergleich verschiedener Fremdverstehensprozesse von Lehrkräften in der gleichen Unterrichtssituation. Die Theorie liefert hier eine hilfreiche Komplexitätsreduktion. Neben der Nutzung in Ausbildungssituationen sehe ich hier eine Möglichkeit, neue Impulse in der Fortbildungsforschung zu setzen, verbunden mit einer fertigen und soliden theoretischen Basis. Insgesamt zeigt diese Arbeit auf beeindruckende Weise, wie hochkomplex der Prozess des Fremdverstehens ist, aber auch, wie dieser über strukturierte Instrumente und aufwändige Analysen gezähmt und verstanden werden kann. Frau Günther öffnet mit dieser Arbeit einen neuen, vielversprechenden Weg in der Mathematikdidaktik und gibt Impulse für die Wissenschaftsdisziplin. Ich danke Frau Günther für diesen Beitrag und wünsche den Leserinnen und Lesern genauso viel Freude bei der Lektüre dieser Arbeit, wie ich sie haben durfte! Potsdam im Juni 2023
Ulrich Kortenkamp
Danksagung
Auf meinem Weg zu dieser Arbeit wurde ich von verschiedenen Menschen begleitet und unterstützt, bei denen ich mich bedanken möchte. Mein Dank gilt zunächst dir, Ulrich Kortenkamp. Du hast mir in den fünf Jahren, die ich nun bereits Teil deiner Arbeitsgruppe sein darf, immer die Freiheit gegeben, mich den Themen zu widmen, die mich interessierten. Ich bin mir bewusst, dass das keinesfalls selbstverständlich ist. Auch dem Thema dieser Arbeit standest du von Beginn an offen gegenüber: Du hast das Seminar ‚Begegnungen mit Mathematik‘, aus welchem später die Idee für diese Arbeit entstehen sollte, in das Lehrangebot aufgenommen, hast es mir ermöglicht, meine ersten Einsichten auf Konferenzen vorzustellen, und wann immer ich es benötigte, hast du mir ehrlich-kritische und hilfreiche Hinweise für meine Untersuchung gegeben. Für all das bin ich dir sehr dankbar. Andrea Hoffkamp, dir danke ich vor allem dafür, dass du solch Begeisterung ausgestrahlt hast, schon als ich dir das erste Mal vom Thema dieser Arbeit erzählte. Die Erinnerung daran konnte mich durch einige schwierige Momente tragen. Ich bin dir außerdem dankbar für die Hinweise zu meinen ersten Textentwürfen. Weiter möchte ich mich bei Ihnen, Günter Krauthausen, für die Begutachtung meiner Arbeit bedanken, welche Sie übernehmen, obwohl in ihr nicht mehr der ursprünglich vereinbarte Inhalt abgehandelt wird. Danke für Ihre Offenheit gegenüber meinem ‚neuen‘ Thema. Mein Dank gilt auch dir, liebe Karen Reitz-Koncebovski. Ohne dich hätte es diese Arbeit nicht gegeben. Denn du bist es, die das Seminar ‚Begegnungen mit Mathematik‘ überhaupt erst ins Leben gerufen hat. Obgleich ich es damals noch nicht ahnen konnte, so weiß ich doch jetzt, dass damit der Grundstein für meine
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Danksagung
Beschäftigung mit der Biographieforschung und dem Phänomen des Fremdverstehens gelegt wurde. Ich möchte dir außerdem für die gemeinsame Zeit in unserem Büro danken; ich hatte in dir wirklich die beste Kollegin und Büropartnerin, die ich mir zum Einstieg in das Arbeiten an der Universität überhaupt nur hätte wünschen können. Inga Gebel und Peter Klöpping, ich möchte euch – sowie Karen – für die Gespräche und Diskussionen danken, die wir führten, während wir unser Seminar ‚Begegnungen mit Mathematik‘ konzipierten, durchführten, reflektierten und weiterentwickelten. Sie haben maßgeblich zu dieser Arbeit beigetragen. Habt außerdem Dank dafür, dass ich mit euch die ersten Einsichten teilen konnte, zu denen mich die Beschäftigung mit der Biographieforschung führte. Ferner möchte ich mich bei all meinen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich im Laufe der letzten Jahre in der ‚AG Kortenkamp‘ zusammenarbeitete, für ihre vielen Ideen bedanken, die in diese Arbeit mit einflossen. Insbesondere dir, Heiko Etzold, danke ich darüber hinaus für deine unermüdliche Bereitschaft, mir auf meine unzähligen Fragen – ganz gleich, ob inhaltlicher, administrativer oder ästhetischer Natur – eine Antwort zu geben, oder aber: mit mir gemeinsam nach einer Antwort zu suchen. Und liebe Melina Fabian, auch dir bin ich besonders dankbar. Denn deine Leichtigkeit, mit vollster Gewissenhaftigkeit an deine beruflichen Aufgaben heranzutreten, hat mich in den letzten zwei Jahren beim Schreiben dieser Arbeit sehr inspiriert. Ohne die Bereitschaft meiner Interviewpartnerinnen und -partner, mir von ihrem Leben und ihrem Fremdverstehen zu erzählen, wäre meine Untersuchung nicht möglich gewesen. Ihnen gebührt deshalb mein ganz besonderer Dank. Ebenfalls danke ich den wissenschaftlichen Hilfskräften, die mir dabei halfen, diese Erzählungen zu transkribieren. Ich möchte mich auch bei meiner Familie und meinen Freunden bedanken. Ihr habt mich durch die Höhen und Tiefen begleitet, die diese Arbeit mit sich brachte, und mir dabei immer wieder auch den nötigen ‚reality check‘ verpasst. Und schließlich zu dir, Felix Lensing. Du warst mir auf dem Weg zu dieser Arbeit wohl die größte Unterstützung: Du warst es, der bemerkte, dass ich das Thema meiner Arbeit schon längst gefunden hatte, als ich selbst mich noch auf der Suche glaubte. Auch hast du mich auf Schütz’ ‚Theorie des Fremdverstehens’ hingewiesen, welche nun die Basis meiner Untersuchung bildet. Auf jedes Gespräch, das ich in den letzten drei Jahren über diese Arbeit führen wollte, hast du dich eingelassen. Und für meine unzähligen Textentwürfe hast du dir stets die Zeit genommen, sie zu lesen und mit mir zu diskutieren. Für all das möchte ich dir aus tiefstem Herzen danken!
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I
Theorie
2 Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz . . . . . . . . . . . 2.1 Zu ego und alter ego . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zu immanent und transzendent gerichteten intentionalen Erlebnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zum Anzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zu Handeln und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zur Zeitlichkeit des Fremdverstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zur Mehrdeutigkeit des Begriffs ‚Fremdverstehen‘ . . . . . . . . . . . . 2.7 Zum echten Fremdverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.1 Zum Verstehen eines fremden Handelns ohne kommunikative Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2 Zum Verstehen eines fremden Handelns mit kommunikativer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Zur Adäquatheit von Resultaten von Fremdverstehensprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen . . . . . . . 3.1 Zum Fremdverstehen im Diskurs zum ‚Teacher Noticing‘ . . . . . . 3.2 Zum Fremdverstehen im Diskurs zur ‚Diagnosekompetenz‘ . . . . Teil II
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9 9 13 16 20 22 24 27 28 31 41 45 45 51
Empirie
4 Das Forschungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
5 Die erste empirische Untersuchung: Mathematikbezogene Lebensgeschichten von Mathematiklehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Zur Erhebungsmethode: Das biographisch-narrative Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Zum Vorgehen in der Durchführung biographisch-narrativer Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ein Exkurs: Bisherige methodische Zugänge zu fremden mathematikbezogenen Bewusstseinserlebnissen . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse . . . . . . . . . . 5.3.1 Zu den drei Prinzipien der rekonstruktiven Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Zum Vorgehen einer rekonstruktiven Fallanalyse . . . . . . . 5.3.2.1 Zur Analyse der biographischen Daten . . . . . . . . 5.3.2.2 Zur Text- und Themenfeldanalyse . . . . . . . . . . . . 5.3.2.3 Zur Rekonstruktion der Fallgeschichte . . . . . . . . 5.3.2.4 Zur Feinanalyse einzelner Textstellen (im Sinne der objektiven Hermeneutik) . . . . . . . . . . . 5.3.2.5 Zur Kontrastierung der erlebten mit der erzählten Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Eine methodologische Anmerkung: Zum Zeichnen der eigenen Lebensgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Zu in der Erzählung expliziten Einflüssen der Kurve . . . . 5.4.2 Zu in der Erzählung impliziten Einflüssen der Kurve . . . . 5.4.3 Zu den methodischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3.1 Zu den Implikationen für die Durchführung der biographisch-narrativen Interviews . . . . . . . . 5.4.3.2 Zu den Implikationen für die rekonstruktive Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen mathematikbezogener Lebensgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Falldarstellung CAMILA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1.1 Zur Kontaktaufnahme, Interviewsituation und -verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1.2 Zur Text- und Themenstruktur der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1.3 Die Rekonstruktion von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte . . . . . . . 5.5.2 Falldarstellung LUISA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63 65 67 70 77 78 82 83 88 97 99 111 111 113 115 121 121 124 129 130 130 132 140 157
Inhaltsverzeichnis
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5.5.2.1 Zur Kontaktaufnahme, Interviewsituation und -verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2.2 Zur Text- und Themenstruktur der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2.3 Die Rekonstruktion von Luisas mathematikbezogener Lebensgeschichte . . . . . . . 6 Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zur Erhebungsmethode: Das narrative Interview . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Zum Vorgehen in der Durchführung narrativer Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zur Analysemethode: Die Rekonstruktion von Fremdverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Zum Identifizieren relevanter Interviewteile . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Zum Deuten mithilfe des begrifflichen Rahmens der ‚Theorie des Fremdverstehens‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Zum Kontrastieren mit der mathematikbezogenen Lebensgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Eine methodologische Anmerkung: Zu den Zeitlichkeiten einer Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen von Fremdverstehen im Mathematikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Fremdverstehen CAMILA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.1 Zur Interviewsituation und zum Interviewverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.2 Zu den situativen Bedingungen des Fremdverstehens von Camila . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.3 Die Rekonstruktion des Fremdverstehens von Camila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.4 Zu Strukturen des Fremdverstehens von Camila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Fremdverstehen LUISA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2.1 Zur Interviewsituation und zum Interviewverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2.2 Zu den situativen Bedingungen des Fremdverstehens von Luisa . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157 158 164 179 181 182 187 187 190 194 195 203 204 204 205 206 225 228 228 231
XVI
Inhaltsverzeichnis
6.4.2.3 Die Rekonstruktion des Fremdverstehens von Luisa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2.4 Zu Strukturen des Fremdverstehens von Luisa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil III
231 269
Schluss
7 Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Zum alter ego . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Zum erfassten Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Zum Anzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zum übertragenen Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Zur Adäquatheit von Fremdverstehensresultaten . . . . . . . . . . . . . .
277 281 285 291 297 300
8 Ein Rückblick auf kontingente Forschungsentscheidungen und ein Ausblick auf mögliche Anschlussuntersuchungen . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 5.1 Abbildung 5.2
Abbildung 5.3
Abbildung 6.1
Vorlage für die ‚mathematikbezogene Lebenskurve‘ . . . Das Kurvensegment zwischen zwei Ereignissen im ersten Quadranten liegt ebenfalls im ersten Quadranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Komplexität des vergangenen Erlebens (Fall A) kann auf verschiedene Weisen reduziert werden (Fall B & Fall C) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rekonstruktion des Fremdverstehens A vollzieht sich als Fremdverstehen B . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Eine Lehrerin beaufsichtigt eine Mathematikarbeit. Sie beobachtet eine Schülerin, die minutenlang aus dem Fenster starrt, und fragt sich: ‚Warum hat sie denn wieder nicht gelernt?‘ Ein Schüler löst Additionsaufgaben. Sein Lehrer sieht, dass er dabei unter dem Tisch rhythmisch seine Hände bewegt und denkt sich: ‚Er rechnet ja immer noch mit den Fingern.‘ Ein Lehrer korrigiert die Mathematikarbeit einer Schülerin. Neben den Aufgaben ‚10000 : 10 =‘, ‚5000 : 100 =‘ und ‚8000 : 10 =‘ liest er die Lösungen ‚100‘, ‚5‘ und ‚80‘. Der Lehrer versteht: ‚Sie hat beim Dividieren ein Problem mit den Endnullen.‘ Ein Schüler und eine Schülerin werden von ihrer Mathematiklehrerin einer Gruppe zugeteilt. Die Schülerin rollt mit den Augen. Die Lehrerin denkt sich: ‚Sie will wohl nicht mit ihrem Mitschüler zusammenarbeiten.‘ Solche oder ähnliche Situationen ereignen sich tagtäglich im Kontext von Mathematikunterricht. Ihnen allen liegt ein gemeinsamer Sachverhalt zugrunde, dessen Grundstruktur sich wie folgt beschreiben lässt: Eine Mathematiklehrkraft versteht das Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers, indem sie dieses Verhalten auf ein Erleben zurückführt. Weil die Schülerin den Test nicht bearbeiten kann (= Erleben), so die Deutung der Lehrerin, starrt sie aus dem Fenster (= Verhalten). Weil der Schüler seine Hände rhythmisch unter dem Tisch bewegt (= Verhalten), versteht der Lehrer, dass er ‚mit den Fingern rechnet‘ (= Erleben). Dass die Schülerin die Lösungen ‚100‘, ‚5‘ und ‚80‘ notiert hat (= Verhalten), weist für den Lehrer darauf hin, dass sie beim Dividieren ein Problem mit den Endnullen © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C.-S. Günther, Das Eigene und das Fremde, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_1
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Einleitung
hat (= Erleben). Und weil die Schülerin mit den Augen rollt (= Verhalten), versteht die Lehrerin, dass sie nicht mit ihrem Mitschüler zusammenarbeiten möchte (= Erleben). Kurzum: Jede Mathematiklehrkraft versucht sich fortwährend daran, das Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers zu verstehen. Und sie erbringt diese Verstehensleistung, indem sie das beobachtete Verhalten auf ein Erleben zurückführt, das dem jeweiligen Verhalten zugrunde gelegen haben könnte. Dieser Zugriff auf das fremde Erleben basiert dabei, wie man sich anhand der obigen Beispielsituationen sehr gut klarmachen kann, wesentlich auf der Deutung von Anzeichen. Zwar fließt das Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers aus ihrem oder seinem Erleben, einen Zugang zu diesem fremden Erleben verschafft sich die Lehrkraft allerdings genau in umgekehrter Richtung: Der minutenlange Blick aus dem Fenster dient der Lehrerin als Anzeichen dafür, dass ihre Schülerin den Test nicht bearbeiten kann. Die Handbewegungen fasst der Lehrer als Anzeichen dafür auf, dass sein Schüler noch ‚mit den Fingern rechnet‘. Und dass die Schülerin die Lösungen ‚100‘, ‚5‘ und ‚80‘ notiert hat, interpretiert der Lehrer als Anzeichen dafür, dass sie eine falsche Strategie beim Dividieren verfolgte. In all diesen Situationen deutet also die Lehrkraft das Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers (nämlich: aus dem Fenster starren, Hände bewegen, ‚falsche‘ Lösungen notiert haben) als Anzeichen für ein Erleben dieser Schülerin oder dieses Schülers (nämlich: den Test nicht bearbeiten zu können, ‚mit den Fingern zu rechnen‘, beim Dividieren ein Problem mit den Endnullen zu haben). Die Lehrkraft blickt gewissermaßen durch das Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers auf ihre oder seine Bewusstseinserlebnisse. Sie versteht dieses Verhalten, indem sie es auf ein Erleben zurückrechnet. Und es ist nun genau dieser Prozess, in dem die Lehrkraft sich daran versucht, sich das Erleben einer Schülerin oder eines Schülers transparent und damit ihr oder sein Verhalten verständlich zu machen, der als ‚Fremdverstehen‘ bezeichnet werden soll. Warum aber ist hier nur von einem ‚Versuch‘ die Rede? Wozu bedarf es einer solchen einschränkenden Spezifikation? Der Grund hierfür liegt in der schlichten Tatsache, dass es allein die eigenen Bewusstseinserlebnisse sind, die der Lehrkraft direkt zugänglich sind, dass es nur ihr eigenes Erleben ist, auf welches sie in der Reflexion unmittelbar hinzublicken vermag. Die Bewusstseinserlebnisse einer Schülerin oder eines Schülers hingegen – also das fremde Erleben bzw. die fremden Bewusstseinserlebnisse – sind für die Lehrkraft wesentlich unzugänglich. Im Fremdverstehen ihrer Schülerinnen und Schüler verschafft sich die Lehrkraft also einen Zugang zu etwas, zu dem sie eigentlich überhaupt gar keinen Zugang hat. Genauer gesagt: Gerade weil ihr die fremden Bewusstseinserlebnisse wesentlich unzugänglich sind, eben darum muss die Lehrkraft das Verhalten verstehen.
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Einleitung
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Sie muss sich über das fremde Verhalten einen indirekten Zugang zu etwas verschaffen, zu dem es keinen direkten Zugang geben kann. Doch wie gelingt das? Wie kann der Prozess des Fremdverstehens von Lehrkräften beschrieben werden? Und wie gestaltet sich das Fremdverstehen von Lehrkräften speziell im Kontext von Mathematikunterricht? Es sind genau diese Fragen, auf die ich in der vorliegenden Arbeit erste Antworten finden möchte. Den methodischen Weg, den ich dabei beschreiten werde, möchte ich nun erläutern: Im ersten Teil dieser Arbeit werde ich das ‚theoretische Fundament‘ errichten, auf welchem meine Untersuchungen des Fremdverstehens von Lehrkräften im Mathematikunterricht ruhen (Teil I). Hierfür werde ich die zentralen Begriffe der Theorie des Fremdverstehens entwickeln, wie sie vom Soziologen Alfred Schütz ausgearbeitet wurde (Kapitel 2). Dabei werde ich stets versuchen, den ‚Kontakt‘ zur Mathematikdidaktik aufrechtzuerhalten, indem ich Schütz’ allgemeine Begriffsbildungen entlang von Beispielen im Kontext von Schule und Mathematikunterricht veranschauliche. Als ein wesentliches Merkmal des Fremdverstehens wird sich in dieser Auseinandersetzung mit Schütz’ Theorie herausstellen, dass das Fremdverstehen eines Menschen ganz grundlegend auf seinem eigenen Erleben basiert. Dieses Merkmal wird, wie ich in Kürze noch näher ausführen werde, für meine empirische Untersuchung des Fremdverstehens von Mathematiklehrkräften von besonderer Bedeutung sein. Im zweiten Kapitel des theoretischen Teils soll dann gezeigt werden, wie sich das Vorhaben der vorliegenden Arbeit im Feld der Mathematikdidaktik verorten lässt (Kapitel 3). Ich werde mich hier zum einen mit dem Diskurs zum Teacher Noticing (Abschnitt 3.1) und zum anderen mit dem Diskurs zur Diagnosekompetenz (Abschnitt 3.2) auseinandersetzen. Im zweiten Teil der Arbeit soll das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht dann empirisch untersucht werden (Teil II). Dazu werde ich im vierten Kapitel zunächst die Zielstellung der Arbeit weiter konkretisieren und zugleich begründen, warum der empirische Teil der Untersuchung in zwei Teiluntersuchungen ‚zerfallen‘ muss (Kapitel 4). Geht man – wie bereits oben angedeutet – mit Schütz davon aus, dass das eigene Erleben die Basis eines jeden Fremdverstehens bildet und dass folglich auch für den Fall der Mathematiklehrkraft gilt, dass es ihr eigenes Erleben ist, auf dessen Grundlage sich ihr Fremdverstehen einer Schülerin oder eines Schülers erbaut, so muss ein methodischer Zweischritt erfolgen: Bevor ich das Fremdverstehen von Mathematiklehrkräften rekonstruieren kann (Kapitel 6), muss ich mir zunächst einen methodischen Zugang zum Erleben der untersuchten Lehrkräfte erarbeiten (Kapitel 5). Wie ich in der ersten Teiluntersuchung (= der Rekonstruktion eigener Erlebnisse der untersuchten Lehrkräfte) methodisch vorgehe, möchte ich in den
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Abschnitten 5.1–5.4 darlegen: Ich werde zunächst die Methode der Datenerhebung – das biographisch-narrative Interview (vgl. Schütze, 1976, 1977 & 1983) – vorstellen (Abschnitt 5.1). Sodann möchte ich in einem kurzen Exkurs aufzeigen, auf welchen methodologischen Überlegungen meine Methodenwahl für die Analyse dieser Interviews beruhte (Abschnitt 5.2). Schließlich werde ich die Analysemethode vorstellen, für die ich mich letztlich entschied – die rekonstruktive Fallanalyse (vgl. Rosenthal, 1987, S. 143–244 & 1995, S. 215– 226). Eine rekonstruktive Fallanalyse umfasst fünf Analyseschritte, die in diesem Abschnitt einzeln erläutert und anhand von Auszügen aus meiner Datenanalyse veranschaulicht werden sollen (Abschnitt 5.3). Nachdem damit die Erhebungsund Analysemethode der ersten Teiluntersuchung vorgestellt wurden, möchte ich noch eine kurze methodologische Anmerkung einfügen und diskutieren, inwiefern ich diese Methoden an die konkreten Bedingungen meiner Untersuchung angepasst habe (Abschnitt 5.4). Mit der Darstellung der Ergebnisse – den sogenannten ‚mathematikbezogenen Lebensgeschichten‘ der untersuchten Lehrkräfte – soll das Kapitel zur ersten empirischen Teiluntersuchung dann schließlich zum Abschluss gebracht werden (Abschnitt 5.5). In der zweiten Teiluntersuchung soll dann das Fremdverstehen der untersuchten Lehrkräfte im Mathematikunterricht rekonstruiert werden (Kapitel 6). Die Darstellung der zweiten Teiluntersuchung gliedert sich in vier Abschnitte: Im ersten Abschnitt werde ich die Methode der Datenerhebung diskutieren – das narrative Interview (vgl. Schütze, 1976, 1977 & 1983) (Abschnitt 6.1). Anschließend werde ich im zweiten Abschnitt mein Vorgehen in der Analyse dieser Interviews vorstellen: Ich werde hier ein dreischrittiges Analyseverfahren vorstellen, welches von mir eigens zum Zweck der Rekonstruktion von Fremdverstehen entwickelt wurde (Abschnitt 6.2). Eine besondere Schwierigkeit in der Analyse der narrativen Interviews betraf die Bestimmung des Zeitcharakters bzw. der Zeitlichkeit der Erzählungen, die in den Interviews vorgenommen wurden. Ich habe der Zeitlichkeitsfrage daher einen eigenen Abschnitt gewidmet und sie unter methodologischen Gesichtspunkten diskutiert (Abschnitt 6.3). Im vierten und letzten Abschnitt soll schließlich eine Darstellung der Ergebnisse der zweiten empirischen Untersuchung erfolgen: Ich werde hier das Fremdverstehen von zwei Lehrkräften rekonstruieren, das diese jeweils im Mathematikunterricht einer 7. bzw. zweier 9. Klassen vollzogen (Abschnitt 6.4). Im dritten Teil der Arbeit möchte ich dann auf die Untersuchung des Fremdverstehens von Lehrkräften im Mathematikunterricht zurückblicken und sie zu einem resümierenden Abschluss führen (Teil III): Dafür werde ich zunächst eine theoretische Verallgemeinerung der empirischen Forschungsergebnisse vornehmen und also diskutieren, welche Aussagen über das Fremdverstehen von
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Einleitung
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Lehrkräften im Allgemeinen sich aufgrund der Rekonstruktionen des Fremdverstehens spezifischer Lehrkräfte treffen lassen (Kapitel 7). Sodann werde ich noch auf einige der grundlegenden Entscheidungen zurückblicken, die ich in der Konzeption meines Forschungsvorhabens getroffen habe, und sie im Horizont möglicher Alternativen betrachten. Aus diesen Überlegungen werden sich dann schließlich Ansatzpunkte für mögliche Anschlussuntersuchungen ergeben, mit deren Entfaltung ich diese Arbeit beschließen möchte (Kapitel 8).
Teil I Theorie
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Das Phänomen des Fremdverstehens nimmt, wie bereits erkenntlich wurde, innerhalb dieser Arbeit eine zentrale – wenn nicht: die zentrale – Rolle ein. Ein geeignetes theoretisches Fundament der Arbeit kann also nur eine Theorie darstellen, welche dieses Phänomen in ihr Zentrum stellt. Diesem Anspruch wird die von Alfred Schütz im Jahr 1932 in Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt ausgearbeitete Theorie des Fremdverstehens gerecht. Schütz gelingt es hier nämlich, den Prozess zu beschreiben, in welchem ein Mensch (= ego) das Erleben eines Mitmenschen (= alter ego) erfasst. Im Folgenden möchte ich die Grundzüge von Schütz’ Theorie darstellen und dabei die zentralen Begriffe und Unterscheidungen der Theorie durch Beispiele aus dem Kontext von Schule und Mathematikunterricht veranschaulichen.1
2.1
Zu ego und alter ego
Zunächst möchte ich der Frage nachgehen, wer sich hinter den Hauptakteurinnen und -akteuren in Schütz’ Theorie – nämlich: hinter ego und alter ego – ‚verbirgt‘. Es wurde bereits erkenntlich, dass es sich bei ego und alter ego um Mensch und Mitmensch handelt. Der Unterschied, der dabei zwischen ego und alter ego besteht, darf daher nicht als ein absoluter Unterschied aufgefasst werden. Ein Mensch ist nicht in derselben Weise ego bzw. alter ego, wie er Träger einer 1
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Schütz’ Begriff des Fremdverstehens in der mathematikdidaktischen Forschungsliteratur bereits bei Beck & Jungwirth (1999), Bikner-Ahsbahs (2003) und Jungwirth (2003) Verwendung findet. Eine ausführlichere Darstellung der gesamten Theorie des Fremdverstehens existiert meines Wissens in der Mathematikdidaktik jedoch bislang noch nicht. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C.-S. Günther, Das Eigene und das Fremde, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_2
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
bestimmten Haarfarbe oder Körpergröße ist. Vielmehr ist jeder Mensch gewissermaßen stets ego und alter ego zugleich: Er ist alter ego aus der Perspektive seiner Mitmenschen und er ist ego für sich selbst. Man muss also zunächst eine Perspektive, einen Standpunkt festlegen, von dem aus man den Rest der Welt betrachten möchte, bevor sich für einen bestimmten Menschen entscheiden lässt, ob es sich um ego oder alter ego handelt. Diese Standpunktabhängigkeit lässt sich anhand der obigen Beispiele gut verdeutlichen: Während die Schülerin, die aus dem Fenster starrt, in der einen Situation als alter ego gilt, auf welches die Lehrerin (ego) in einer Testsituation ihr Fremdverstehen richtet, kann dieselbe Schülerin in einer anderen Situation selbst ego sein, nämlich beispielsweise dann, wenn auch sie ihren Mitschüler (alter ego) dabei beobachtet, wie er rhythmisch seine Hände unter dem Tisch bewegt. Und auch dieser Schüler kann wiederum in einer anderen Situation als ego gelten, nämlich z. B. dann, wenn auch er beobachtet, dass seine Mitschülerin (alter ego) nach der Gruppenzuteilung mit den Augen rollt. Doch nicht nur über verschiedene Situationen hinweg, sondern auch innerhalb derselben Situation, kann ein Mensch ego und alter ego zugleich sein. Die Unterrichtssituation, in welcher die Lehrerin das Augenrollen ihrer Schülerin beobachtet, mag dies verdeutlichen: Wenn man aus der Perspektive der Lehrerin auf diese Situation blickt und anschließend danach fragt, wie sie das Verhalten ihrer Schülerin versteht, so gilt die Lehrerin als ego. Sie kann in dieser Situation aber zugleich auch als alter ego gelten, und zwar aus Sicht ihrer Schülerin. Wenn die Schülerin nämlich anhand der Gruppenzuteilung durch die Lehrerin beispielsweise darauf schließt, dass diese sie damit maßregeln wollte, so ist sie das ego, das einen Prozess des Fremdverstehens vollzieht, und die Lehrerin wird zu dem alter ego, auf welches sich dieser Prozess richtet. Im Rahmen von Schütz’ Theorie des Fremdverstehens muss ein Mensch in der Rolle eines ego, das Fremdverstehen vollzieht, nun folgende Voraussetzung erfüllen: „Für unsere Zwecke genügt uns die Einsicht, daß auch das Du Bewußtsein überhaupt habe, daß es dauere, daß sein Erlebnisstrom die gleichen Urformen aufweise wie der meine.“ (Schütz, 1932/2016, S. 138)
Für Schütz’ Theorie wird also erstens vorausgesetzt, dass das fremdverstehende ego auch dem alter ego, auf welches sich egos Fremdverstehen richtet, überhaupt ein Bewusstsein zuschreibt. Und es wird zweitens aber auch vorausgesetzt, dass ego dem alter ego in diesem Bewusstsein einen Erlebnisstrom2 zuschreibt, 2
Als Erlebnisstrom oder auch Strom des Erlebens ist die Gesamtheit aller bisherigen Erlebnisse eines Menschen zu verstehen, die sich dadurch auszeichnet, dass kontinuierlich neue
2.1 Zu ego und alter ego
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der ‚die gleichen Urformen‘ wie der eigene Erlebnisstrom aufweist. Doch was genau ist unter diesen ‚Urformen‘ eines Erlebnisstroms zu verstehen? Schütz führt hierzu Folgendes aus: „Auch das alter ego hebt aus dem Strom seines Erlebens in der Dauer wohlumgrenzte Erlebnisse in besonderer Zuwendung heraus und vollzieht eine Selbstauslegung dieser Erlebnisse, indem es sie in Sinnzusammenhänge einordnet. Auch das Du ist befähigt, polythetisch sich aufbauende Akte in einem reflexiven Blick als Einheit zu erfassen, Sinnzusammenhänge schichtenweise zu sedimentieren und so seine Erfahrungswelt aufzubauen, eine Erfahrungswelt, die gleich meiner den Index des jeweiligen Jetzt und So trägt.“ (Schütz, 1932/2016, S. 138–139)
Unter den Urformen eines Erlebnisstroms versteht Schütz also eine Reihe von Bewusstseinsleistungen, zu deren Erbringung jedes alter ego (aber auch jedes andere gewöhnliche Bewusstsein) befähigt ist. Dazu gehört erstens, dass alter ego einzelne Erlebnisse aus dem kontinuierlichen Strom von Erlebnissen gegenüber ihnen vorausgehenden und nachfolgenden Erlebnissen ‚umgrenzen‘ und ‚herausheben‘ kann. Diese Umgrenzung und Heraushebung einzelner Erlebnisse vollzieht alter ego im Modus einer ‚besonderen Zuwendung‘. Darunter ist zu verstehen, dass alter ego eine reflexive Blickwendung vornimmt, sich also gegen den Fluss des Erlebnisstroms wendet und seine vergangenen Bewusstseinserlebnisse in den Blick nimmt – mit anderen Worten: dass alter ego eine Reflexion auf seine vergangenen Bewusstseinserlebnisse vollzieht (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 64). Auf dieser reflexiven Blickwendung auf vergangene Bewusstseinserlebnisse baut die zweite der oben genannten Urformen auf. Alter ego verfügt nämlich zweitens über die Möglichkeit, die reflexiv in den Blick genommenen Erlebnisse ‚in Sinnzusammenhänge einzuordnen‘, d. h., eine ‚Selbstauslegung‘ dieser Erlebnisse vorzunehmen.3 Hat alter ego ein Erlebnis in einen Sinnzusammenhang eingeordnet, so stellt dieses Erlebnis fortan für ihn ein ‚sinnhaftes‘ Erlebnis dar (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 94). Erlebnisse hingegen, denen sich alter ego (noch) nicht reflexiv zugewandt hat, sondern die sich vielmehr im Modus des ‚schlichten Dahinlebens‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 68) in den Erlebnisstrom einordnen, stellen demnach ‚nicht sinnhafte‘ Erlebnisse dar. Schütz bezeichnet Erlebnisse zu ihr hinzutreten. Dass das Erleben des Menschen ‚fließt wie ein Strom‘ steht als Sinnbild dafür, dass es ohne Unterbrechung verläuft, d. h., dass es zu keinem Zeitpunkt kein Erleben gibt. Vielmehr zeichnet sich das Erleben dadurch aus, dass sich zu jedem Zeitpunkt ein neues Erlebnis an ein vergangenes Erlebnis anschließt und alsbald selbst zum vergangenen Erlebnis wird, da sich wieder ein neues Erlebnis anschließt. 3 Es sind – nebenbei bemerkt – genau diese Selbstauslegungen eigener Erlebnisse, die alter ego in seinem Bewusstsein vollzieht, welche ego im Fremdverstehen zu erfassen versucht.
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
die Klasse der zweiten – also der ‚nicht sinnhaften‘ – Erlebnisse auch als präphänomenale Erlebnisse; die der ersten – also der ‚sinnhaften‘ – Erlebnisse als phänomenale Erlebnisse (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 100). Eine weitere Bewusstseinsleistung, die für Schütz zu den Urformen des Bewusstseins gehört, besteht schließlich drittens darin, ‚polythetisch sich aufbauende Akte in einem reflexiven Blick als Einheit zu erfassen‘. Unter ‚polythetisch sich aufbauenden Akten‘ sind zusammengesetzte Akte zu verstehen, die sich in einzelnen, aufeinander aufbauenden Akten konstituieren (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 101). In der Synthese dieser Einzelakte bildet sich nun ein ‚neuer‘ Akt, welchen Schütz auch als ‚Akt höherer Stufe‘ bezeichnet (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 92). Als diesen Akt höherer Stufe, also insbesondere: als einen Akt, kann das alter ego nun die Vielheit der aufeinander aufbauenden Einzelakte in reflexiver Zuwendung als ‚Einheit erfassen‘. Die letzte Urform des Bewusstseins, die Schütz benennt, ist viertens die Möglichkeit alter egos, ‚Sinnzusammenhänge schichtenweise zu sedimentieren und so seine Erfahrungswelt aufzubauen‘. Hat alter ego also eins bzw. mehrerer seiner Erlebnisse einmal in einen Sinnzusammenhang gestellt, so kann dieser Sinnzusammenhang in seinem Bewusstsein eine Spur, ein ‚Sediment‘ hinterlassen. So könnte beispielsweise die Schülerin, die von ihrer Lehrerin mit einem Mitschüler derselben Gruppe zugeteilt wird, ihr Erlebnis in den folgenden Sinnzusammenhang stellen: ‚Dass sie mich als Strafe mit ihm in eine Gruppe steckt, ist wirklich richtig gemein. Jetzt will ich am liebsten gar nicht mehr mitarbeiten.‘ Dieser Sinnzusammenhang, in den die Schülerin ihr Erlebnis einordnet, könnte in ihrem Bewusstsein nun folgendes Sediment hinterlassen: ‚Diese Lehrerin mag ich nicht.‘ Die Sedimente aller Sinnzusammenhänge, in die alter ego seine Erlebnisse gestellt hat, werden sich in seinem Bewusstsein ‚aufschichten‘. In ihrer Gesamtheit konstituieren diese Sedimente dann das, was Schütz als die ‚Erfahrungswelt‘ alter egos bezeichnet. In der Erfahrungswelt der Schülerin könnte sich beispielsweise neben dem Sediment ‚Diese Lehrerin mag ich nicht.‘ auch das Sediment ‚Der Vertretungslehrer in Mathematik ist viel netter.‘ eingezeichnet haben. Und so könnte die Schülerin dann – basierend auf diesen Erfahrungen – zu der Einsicht gelangen, dass sie Mathematik viel lieber mögen würde, wenn sie nur von einer anderen Lehrkraft unterrichtet würde. Würde die Schülerin im darauffolgenden Schuljahr tatsächlich von einer neuen Mathematiklehrerin unterrichtet werden und würde sie aber auch ein Erlebnis mit dieser Lehrerin in einen Sinnzusammenhang einordnen, der das Sediment ‚Diese Lehrerin mag ich nicht.‘ hinterließe, so würde dadurch die Erfahrungswelt der Schülerin eine wesentlich andere. Sie könnte dann – basierend auf ihrer ‚veränderten‘ Erfahrungswelt – beispielsweise zu der Einsicht gelangen, dass sie die Mehrzahl aller Mathematiklehrkräfte nicht mag
2.2 Zu immanent und transzendent gerichteten …
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und deshalb Mathematik höchstwahrscheinlich auch nicht lieber mögen würde, wenn sie von einer anderen Lehrkraft unterrichtet würde. Diese Überlegungen machen deutlich, dass es sich bei der Geltung der Erfahrungswelt der Schülerin um eine ‚zeitweilige‘ oder ‚vorläufige‘ Geltung handelt. In Schütz’ Worten: Die Erfahrungswelt alter egos trägt immer den Charakter eines ‚jeweiligen Jetzt und So‘. Denn jedes Mal, wenn alter ego ein Erlebnis seines Erlebnisstroms heraushebt und es in einen Sinnzusammenhang einordnet, kann dies ein weiteres Sediment hinterlassen. Und mit jedem weiteren Sediment wird dann immer auch die Erfahrungswelt eine andere und neue sein.
2.2
Zu immanent und transzendent gerichteten intentionalen Erlebnissen
Im Bereich der Bewusstseinserlebnisse eines Menschen führt Schütz neben der Unterscheidung zwischen den präphänomenalen und den phänomenalen Erlebnissen noch eine weitere Differenzierung ein. Dazu greift er eine Unterscheidung auf, die ursprünglich von dem Philosophen und Mathematiker Edmund Husserl stammt, und grenzt Erlebnisse, welche immanent gerichtet sind, von Erlebnissen ab, welche transzendent gerichtet sind. Husserl bestimmt diese beiden Arten von Erlebnissen wie folgt: „Unter immanent gerichteten Akten, allgemeiner gefaßt, unter immanent bezogenen intentionalen Erlebnissen verstehen wir solche, zu deren Wesen es gehört, daß ihre intentionalen Gegenstände [...] zu demselben Erlebnisstrom gehören wie sie selbst. [...] Transzendent gerichtet sind intentionale Erlebnisse, für die das nicht statthat, wie z. B. [...] auf intentionale Erlebnisse anderer Ich mit anderen Erlebnisströmen gerichtete Akte.“ (Husserl in Schütz, 1932/2016, S. 140)
Husserl führt seine Differenzierung also im Bereich der intentionalen Erlebnisse ein. Sowohl den immanent gerichteten als auch den transzendent gerichteten Erlebnissen ist gemeinsam, dass sie intentionale Erlebnisse sind. Das Adjektiv ‚intentional‘ ist hierbei nicht im Sinne von ‚absichtlich‘ zu verstehen. ‚Intentionale Erlebnisse‘ sind also nicht Erlebnisse, denen eine gewisse Absicht zugrunde liegt, sondern ‚Intentionalität‘ muss hier vielmehr im Sinne von ‚Gerichtetheit‘ verstanden werden. Ein ‚intentionales Erlebnis‘ ist ein Erlebnis, welches auf einen
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Gegenstand4 gerichtet ist. Wenn ich mir z. B. einen Zahlenteufel vor Augen stelle, dann ist es dieser Zahlenteufel, auf den ich in meinem Phantasieerlebnis gerichtet bin. Wenn ich mir die Zahl 156 vorstelle, dann ist es diese Zahl, welche den Gegenstand meiner Vorstellung bildet. Und wenn ich eine aus dem Fenster starrende Schülerin wahrnehme, dann ist es diese Schülerin, auf die ich in meinem Wahrnehmungserlebnis gerichtet bin. Bei allen Differenzen, die zweifelsohne zwischen diesen drei Erlebnisarten bestehen, stimmen Phantasie-, Vorstellungsund Wahrnehmungserlebnisse doch dahingehend überein, dass sie alle auf einen Gegenstand gerichtet, dass sie also alle intentionale Erlebnisse sind.5 Es ist nun dieser große Bereich der intentionalen Erlebnisse, in dem Husserl eine weitere Einteilung vornimmt, indem er zwischen immanent und transzendent gerichteten Erlebnissen unterscheidet. Bei einem immanent gerichteten intentionalen Erlebnis 4
Der Begriff ‚Gegenstand‘ wird bei Schütz – in Anlehnung an Husserl – in einem sehr weiten Sinne verstanden. Husserl selbst führt zu seinem Begriffsverständnis aus: „Um Mißverständnisse nicht aufkommen zu lassen, betone ich ausdrücklich, daß die Wörter Gegenständlichkeit, Gegenstand, Sache u. dgl. hier allzeit im weitesten Sinne, also in Harmonie mit dem von mir bevorzugten Sinn des Terminus Erkenntnis gebraucht werden. Ein Gegenstand (der Erkenntnis) kann ebensowohl ein Reales sein wie ein Ideales, ebensowohl ein Ding oder ein Vorgang wie eine Spezies oder eine mathematische Relation, ebensowohl ein Sein wie ein Seinsollen.“ (Husserl, 1900/1968, S. 228–229) 5 In seinen Untersuchungen des Phänomens Intentionalität verweist der Philosoph John R. Searle (1991) übrigens darauf, dass Intentionalität keinesfalls mit Bewusstsein gleichzusetzen ist: „Viele bewußte Zustände sind nicht intentional (z. B. ein plötzliches Gefühl der Hochstimmung), und viele intentionale Zustände sind nicht bewußt (z. B. habe ich viele Überzeugungen, an die ich jetzt nicht denke und an die ich vielleicht noch nie gedacht habe). Beispielsweise glaube ich, daß mein Großvater väterlicherseits sein ganzes Leben auf dem Festland der Vereinigten Staaten verbracht hat, aber bis zu diesem Augenblick habe ich diese Überzeugung noch nie bewußt formuliert oder erwogen. Bei solchen unbewußten Überzeugungen braucht es sich übrigens nicht um Fälle von (Freudscher oder andersartiger) Verdrängungen zu handeln; es sind einfach Überzeugungen, die man hat, ohne normalerweise an sie zu denken. Zur Verteidigung der Ansicht, Bewußtsein und Intentionalität seien ein und dasselbe, wird manchmal gesagt, daß alles Bewußtsein Bewußtsein von etwas sei, daß es immer etwas gebe, dessen man sich bewußt sei, wenn Bewußtsein vorliegt. Aber diese Auffassung verwischt einen entscheidenden Unterschied: Wenn ich ein bewußtes Erlebnis der Unruhe habe, dann gibt es da ja wirklich etwas, wovon mein Erlebnis eines ist, und zwar die Unruhe. Aber dieser Sinn von ‚von‘ ist ein ganz anderer als der des ‚von‘ der Intentionalität, der beispielsweise in der Feststellung vorliegt, daß ich eine bewußte Erwartung von baldigem Mißgeschick habe. Denn im Falle der Unruhe sind das Erlebnis von Unruhe und die Unruhe ein und dasselbe; aber die Erwartung von baldigem Mißgeschick ist nicht dasselbe wie baldiges Mißgeschick. Es ist charakteristisch für intentionale Zustände, so wie ich den Begriff verwende, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Zustand einerseits und andererseits dem, worauf der Zustand gerichtet ist, wovon er handelt, worum es in ihm geht.“ (S. 16–17, Hervorhebung i. O.)
2.2 Zu immanent und transzendent gerichteten …
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handelt es sich um ein Erlebnis, bei dem die ‚intentionalen Gegenstände zu demselben Erlebnisstrom gehören wie das Erlebnis selbst‘, während alle Erlebnisse transzendent gerichtet sind, ‚für die das nicht statthat‘. Am Beispiel der Situation, in welcher der Lehrer beobachtet, dass sein Schüler unter dem Tisch rhythmisch seine Hände bewegt, mag diese Unterscheidung verdeutlicht werden: Der Lehrer versteht das Verhalten seines Schülers als Anzeichen für sein Erleben. Konkreter: Er versteht die rhythmischen Handbewegungen als Anzeichen dafür, dass sein Schüler ‚mit den Fingern rechnet‘. Der Lehrer richtet also sein Verstehen (= intentionales Erlebnis) auf das Verhalten seines Schülers (= intentionaler Gegenstand). Das intentionale Erlebnis, das Verhalten seines Schülers zu verstehen, gehört nun zum Erlebnisstrom des Lehrers; das Verhalten des Schülers, auf welches sich das Verstehen des Lehrers richtet, hingegen nicht. Somit gehören intentionales Erlebnis und intentionaler Gegenstand nicht zu demselben Erlebnisstrom, es handelt sich beim Verstehen des Verhaltens seines Schülers also um ein transzendent gerichtetes intentionales Erlebnis des Lehrers. Bemerkt der Lehrer nun, dass er aufgrund des Handelns des Schülers irritiert ist, und wendet er sich daraufhin in einem reflexiven Akt seinem eigenen Erleben dieses Handelns zu, um etwa nach den Gründen seiner Irritation zu suchen, so zeigt sich in diesem reflexiven Akt eine ganz andere Struktur: Der Lehrer nimmt nicht das Verhalten und Erleben seines Schülers in den Blick, sondern vielmehr sein eigenes Erleben vom Schüler. Intentionales Erlebnis (= in den Blick nehmen) und intentionaler Gegenstand (= eigenes Erleben) gehören nun zu demselben Erlebnisstrom, nämlich zu dem Erlebnisstrom des Lehrers. Es handelt sich bei der Zuwendung des Lehrers zu seinem eigenen Erleben vom Handeln seines Schülers also um ein immanent gerichtetes intentionales Erlebnis. Abschließend sei kurz bemerkt, dass es ego selbstverständlich immer möglich ist, seinen Blick vom Verhalten und Erleben alter egos auf das eigene Erleben dieses Verhaltens und Erlebens zu wenden. ‚Wie fühlt sich das für mich an?‘, ‚Wie finde ich das?‘, ‚Was ‚macht‘ das mit mir?‘ etc. sind beispielhafte Fragen, bei deren Beantwortung ego eine derartige Blickwendung vornimmt. Jedes transzendent gerichtete intentionale Erlebnis kann so in ein immanent gerichtetes intentionales Erlebnis überführt werden.
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2
2.3
Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Zum Anzeichen
Bisher war bereits mehrfach die Rede von ‚Anzeichen‘, ohne dass der Begriff des Anzeichens einer genaueren Untersuchung unterzogen wurde. So trat der Anzeichenbegriff etwa in der Formulierung der Grundstruktur des Fremdverstehens auf: Ein Mensch (ego) versteht das Verhalten eines Mitmenschen (alter ego), indem er dieses Verhalten als Anzeichen für das Erleben alter egos deutet. Und entsprechend nahm der Begriff dann auch in der vorläufigen Analyse der eingangs formulierten Beispielsituationen eine zentrale Rolle ein: Das rhythmische Bewegen seiner Hände diente einem Lehrer als Anzeichen dafür, dass sein Schüler noch ‚mit den Fingern rechnet‘; die notierten Lösungen in einer Arbeit sah ein anderer Lehrer als Anzeichen dafür, dass seine Schülerin beim Dividieren ein Problem mit den Endnullen hat. Kurzum: Der Begriff des Anzeichens wurde in den bisherigen Überlegungen bereits mehrfach verwendet und ich möchte daher nun eine genauere Begriffsbestimmung ‚nachliefern‘. Dafür möchte ich zunächst Schütz’ Definition des Anzeichenbegriffs einführen, die wiederum ursprünglich von Edmund Husserl stammt: „Für das Anzeichen gilt, ‚daß irgendwelche Gegenstände oder Sachverhalte, von deren Bestand jemand aktuelle Kenntnis hat, ihm den Bestand gewisser anderer Gegenstände oder Sachverhalte in dem Sinne anzeigen, daß die Überzeugung von dem Sein der einen von ihm als Motiv [...] erlebt wird für die Überzeugung oder Vermutung vom Sein des anderen.‘“ (Husserl in Schütz, 1932/2016, S. 30)
Ein Anzeichen stellt also ein Verhältnis dar, das für einen Menschen und zwischen zwei ‚Gegenständen oder Sachverhalten‘ besteht. Dieses Verhältnis kann wie folgt charakterisiert werden: Die ‚Überzeugung vom Sein‘ des einen Gegenstandes oder Sachverhaltes motiviert die ‚Überzeugung oder Vermutung vom Sein des anderen‘ Gegenstandes oder Sachverhaltes. Dabei gilt, dass der Mensch vom ‚Bestand‘ des Gegenstandes oder Sachverhaltes, der zur Überzeugung oder Vermutung vom Sein des anderen Gegenstandes oder Sachverhaltes motiviert, ‚aktuelle Kenntnis‘ hat. Für den Bestand des anderen Gegenstandes oder Sachverhaltes aber gilt dies nicht. Die Handbewegungen eines Schülers oder die notierten Lösungen in einer Mathematikarbeit beispielsweise werden von ego wahrgenommen, d. h., ego hat durch seine Wahrnehmung ‚aktuelle Kenntnis‘ vom Bestand dieser Sachverhalte. Das Rechnen mit den Fingern oder ein Problem im Umgang mit den Endnullen beim Dividieren hingegen sind Erlebnisse von alter ego, also Gegenstände, die von ego nicht wahrgenommen werden können. Auf
2.3 Zum Anzeichen
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ihren Bestand wird ego durch das Augenrollen oder die notierten Lösungen lediglich hingewiesen bzw. ihr Bestand wird ego durch den Bestand des Augenrollens oder der notierten Lösungen angezeigt. Aus der obigen Definition des Anzeichens ergibt sich, dass ein Anzeichenverhältnis immer ‚egorelativ‘ ist, d. h., ob und welches Anzeichenverhältnis zwischen zwei Gegenständen oder Sachverhalten besteht, hängt davon ab, wie ego diese beiden Gegenstände oder Sachverhalte miteinander verknüpft.6 Diese Kontingenz7 des Anzeichenverhältnisses kann anhand der Schülerin verdeutlicht werden, die während eines Mathematiktests aus dem Fenster starrt: Für ihre Lehrerin fungiert das Starren aus dem Fenster als Anzeichen dafür, dass die Schülerin nicht gelernt hat. Ihrer Freundin hingegen, die zwei Bankreihen hinter der Schülerin sitzt und ebenfalls beobachtet, dass diese während des Tests aus dem Fenster starrt, könnte dieses Verhalten als Anzeichen dafür dienen, dass die Schülerin sich nicht auf den Test konzentrieren kann, da sie wohl an ihren kranken Vater denkt. Ein anderer Schüler wiederum könnte den Blick aus dem Fenster ebenfalls wahrnehmen, aber diesen überhaupt nicht als Anzeichen für irgendein Erleben der Schülerin deuten. Es zeigt sich: Für sich selbst betrachtet ist kein Gegenstand oder Sachverhalt jemals ein Anzeichen. Vielmehr wird etwas immer erst dadurch zu einem Anzeichen, dass es jemandem als Anzeichen für etwas anderes dient. Nun interessiert sich Schütz aber nicht für irgendwelche Anzeichenverhältnisse, sondern gerade für solche, die im Prozess des Fremdverstehens von besonderer Relevanz sind. Als solche gelten Anzeichenverhältnisse, durch welche sich ego einen Zugang zum Erleben alter egos verschaffen kann. Hierbei führt Schütz nun eine weitere Unterscheidung ein: „[W]ir vollziehen die Auffassung fremdseelischen Erlebens [...] entweder durch das Medium des fremden Leibes als Ausdrucksfeld [...] des fremden Erlebens oder eines Artefaktes im weitesten Sinn, d. h. eines Gegenstandes der äußeren Welt, dessen Existenz auf eine Erzeugung [...] durch einen Nebenmenschen zurückverweist.“ (Schütz, 1932/2016, S. 141, Hervorhebung CSG)
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Hierauf verweist insbesondere die Formulierung ‚daß die Überzeugung von dem Sein der einen von ihm als Motiv […] erlebt wird für die Überzeugung oder Vermutung vom Sein des anderen‘. 7 Der Begriff Kontingenz soll nach Niklas Luhmann (1991) wie folgt verstanden werden: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.“ (S. 152)
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Schütz unterscheidet also zwischen einerseits Veränderungen am fremden Leib und andererseits Artefakten, wenn er beschreibt, welche Gegenstände oder Sachverhalte ego als Anzeichen für das Erleben alter egos deutet. Veränderungen am fremden Leib dienen ego insofern als Anzeichen, als es davon ausgeht, dass sich das fremde Erleben in Veränderungen am fremden Leib Ausdruck verschafft. Ein Artefakt (‚ein Gegenstand der äußeren Welt‘) hingegen kann ego deshalb als Anzeichen für das Erleben eines alter ego dienen, da es ‚auf eine Erzeugung durch einen Nebenmenschen zurückverweist‘. Das Beispiel eines Schülers, der im Geometrieunterricht bereits zum vierten Mal innerhalb einer Minute seinen Bleistift anspitzt, mag diese Unterscheidung veranschaulichen: Seiner Mitschülerin dient das von ihr beobachtete, wiederholte Anspitzen als Anzeichen dafür, dass dem Schüler im Geometrieunterricht wohl langweilig ist. Ihr dient also eine Veränderung am Leib ihres Mitschülers (= wiederholtes Anspitzen) als Anzeichen für sein Erleben (= Langeweile). Würde der Schüler mit seinem sorgfältig gespitzten Bleistift nun anschließend sein Arbeitsblatt – ebenfalls in größter Sorgfalt – bis in die letzte Ecke mit Kritzeleien versehen, die für den Unterricht irrelevant sind, so könnten diese Kritzeleien seiner Lehrerin, die zwar das wiederholte Anspitzen nicht beobachtete, aber nun das Arbeitsblatt zur Kontrolle einsammelt, ebenfalls als Anzeichen für das Erleben des Schülers dienen. Auch sie könnte das bekritzelte Arbeitsblatt als Anzeichen dafür deuten, dass ihm während des Unterrichts wohl langweilig war. Was ihr dann als Anzeichen für das Erleben ihres Schülers (= Langeweile) diente, wäre ein Artefakt (= Kritzeleien), welches auf eine Erzeugung durch den Schüler (= Bekritzeln des Arbeitsblattes) während des Unterrichts zurückverweist. In seinen folgenden Überlegungen zum Fremdverstehen fokussiert Schütz v. a. die Anzeichen der ersten Klasse, also die Veränderungen am fremden Leib. Der Grund hierfür mag sein, dass Artefakte, sofern man sie als Anzeichen für fremdes Erleben auffasst, stets auf Veränderungen am fremden Leib zurückverweisen. Eine Analyse der einen Klasse von Anzeichen (Artefakte) würde also letztendlich zu einer Analyse der anderen Klasse (Veränderungen am fremden Leib) zurückführen. Am Beispiel des Schülers, der sein Arbeitsblatt mit Kritzeleien versieht: Als Anzeichen für das Erleben des Schülers dient seiner Lehrerin ein Artefakt, welches auf eine Erzeugung durch den Schüler zurückverweist. Konkret: Der Lehrerin dienen als Anzeichen für die Langeweile (= Erleben) ihres Schülers Kritzeleien auf seinem Arbeitsblatt (= Artefakt), die auf ein Bekritzeln durch den Schüler (= Erzeugung des Artefakts) zurückverweisen. Als Anzeichen für die Langeweile des Schülers während des Unterrichts nimmt sie nun also eigentlich nicht seine bloßen Kritzeleien, sondern vielmehr sein Bekritzeln während des Unterrichts, was diesen Kritzeleien vermutlich vorausgegangen ist. Für sie
2.3 Zum Anzeichen
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dient also nicht ausschließlich das Artefakt (= Kritzeleien) als Anzeichen für das Erleben ihres Schülers, sondern vielmehr auch sein vermutetes Verhalten oder Handeln (= Bekritzeln), deren Resultat das Artefakt darstellt. Dieses Bekritzeln des Arbeitsblattes deutet die Lehrerin nun aber nicht anders, als die Mitschülerin zuvor das beobachtete Anspitzen gedeutet hatte, nämlich als eine Veränderung am Leib des Schülers, die auf sein Erleben verweist. Es zeigt sich: Die Analyse eines Fremdverstehens, in welchem ego Artefakte als Anzeichen für das Erleben von alter ego dienen, liefe letztlich auf die Analyse eines Fremdverstehens hinaus, in welchem ego Verhalten oder Handeln von alter ego, also Bewegungen oder auch Nichtbewegungen am fremden Leib, als Anzeichen für das Erleben von alter ego dienen. Und so fokussiert Schütz in seinen Überlegungen die Analyse von Veränderungen am fremden Leib.8 Zu den Veränderungen am fremden Leib führt Schütz aus: „Unser Erlebnis von fremden Handlungen besteht in Wahrnehmungen vom fremden bewegten Leib, welche wir in einem Prozeß der Selbstauslegung sinnhaft gedeutet haben, und zwar als Wandlungen an jenem Ding der äußeren Welt, das unserer Erfahrung als ‚Leib des Anderen‘ vorgegeben ist. Aber dieser Leib des Anderen weist auf den bewußtseinserfüllten Dauerablauf des Du zurück, welcher diesem Leib in jedem Augenblick seiner Existenz als Jetzt und So der fremden Dauer zugeordnet bleibt. So wird die fremde Leibesbewegung nicht nur als Vorkommnis der gegenständlichen Dingwelt wahrgenommen, sondern auch als Signum für das fremde Erlebnis aufgefaßt, welches der Andere seiner Leibesbewegung in seinem Dauerstrom zuordnet.“ (Schütz, 1932/2016, S. 141)
Die Grundlage der Deutung von ‚Wandlungen‘ am ‚Leib des Anderen‘ als Anzeichen ist also die Wahrnehmung dieser Wandlungen. Nur wenn ego die Leibesbewegung von alter ego wahrgenommen hat, kann sich auf diesem
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Luckmann (2017) untersucht in seinem Beitrag Wirklichkeiten: individuelle Konstitution und gesellschaftliche Konstruktion übrigens die Bewusstseinsleistung des Menschen, die dazu führt, dass der ‚Leib‘ eines alter ego überhaupt als solcher verstanden wird. Er geht davon aus, dass ego zunächst eine „Sinnübertragung der eigenen Leiblichkeit als Einheit von innen und außen auf alles, das [ihm] in der Welt begegnet“ (S. 21), vollzieht. Diese Projektion – Luckmann nennt sie ‚universale Projektion‘ (vgl. S. 22) – kann jedoch anschließend durch Eigenschaften des Gegenstandes, auf den sie projiziert wird, eingeschränkt werden. Anlass zu einer solchen Einschränkung der ‚universalen Projektion‘ geben laut Luckmann: 1. gleichbleibender Ausdruck des Gegenstandes, also ‚physiognomische Starre‘ (vgl. S. 24– 25), 2. fehlende Beweglichkeit des Gegenstandes, d. h., sein Unvermögen, einen Standortwechsel zu vollziehen (vgl. S. 25) und 3. fehlendes Vermögen zu gegenseitiger Kommunikation (vgl. S. 26–27).
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Wahrnehmungserlebnis ein zweites Erlebnis aufbauen, in welchem ego das Wahrgenommene – also die Leibesbewegung alter egos – als ‚Wandlung an jenem Ding der äußeren Welt‘ auffasst, das gemäß seiner Erfahrung Leib des alter ego ist. Nun verweist der Leib eines alter ego, der zu Bewegungen in der Lage ist, d. h., der lebendige und gesunde Leib eines alter ego, direkt auf das Vorhandensein eines Bewusstseins (‚auf den bewußtseinserfüllten Dauerablauf des Du‘) bei diesem alter ego. Und dieses Vorhandensein eines Bewusstseins, also auch das Vorhandensein eines Erlebnisstroms, verweist wiederum auf ein prinzipielles Erleben alter egos seiner eigenen Leibesbewegungen. Ego nimmt die Leibesbewegung alter egos also nicht nur ‚als Vorkommnis der gegenständlichen Dingwelt‘ wahr, sondern es fasst sie auch als Anzeichen für das Erleben alter egos (‚als Signum für das fremde Erlebnis‘) auf. Mit anderen Worten: Ego nimmt nicht nur den Gegenstand selbst (= Leibesbewegung) wahr, sondern fasst diesen Gegenstand auch als Anzeichen für etwas (= Erleben alter egos) auf.
2.4
Zu Handeln und Verhalten
Soeben war die Rede vom ‚Erlebnis von fremden Handlungen‘, dessen Grundlage in ‚Wahrnehmungen vom fremden bewegten Leib‘ besteht. Diese Aussage könnte nun derart verstanden werden, dass jegliche körperliche Bewegung eines alter ego einem ‚Handeln‘ dieses alter ego entspräche. Tatsächlich jedoch unterscheidet Schütz im Bereich der körperlichen Bewegungen eines alter ego, die auf ein Erleben des alter ego verweisen, zwischen Handeln und Verhalten (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 148). Schütz grenzt diese beiden Begriffe wie folgt voneinander ab: „Es ist prinzipiell zweifelhaft, ob die von mir erfaßten Erlebnisse des Du durch dieses überhaupt in den reflexiven Blick genommen werden, ob sie einem spontanen Akt des Du entspringen und demgemäß ‚Verhalten‘ [...] sind und, falls dies zutrifft, ob sie an einem vorgegebenen Entwurf orientiertes Verhalten, also Handeln sind.“ (Schütz, 1932/2016, S. 148)
Zur Klärung der Begriffe ‚Handeln‘ und ‚Verhalten‘ zieht Schütz also zunächst die Unterscheidung zwischen präphänomenalen und phänomenalen Erlebnissen heran: Erstere zeichneten sich dadurch aus, dass sie von alter ego nicht ‚in den reflexiven Blick genommen werden‘, letztere hingegen durch das genaue Gegenteil. Verhalten und Handeln von alter ego unterscheidet Schütz nun voneinander, indem er auf die Erlebnisse zurückgeht, die der jeweiligen Leibesbewegung
2.4 Zu Handeln und Verhalten
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alter egos in seinem Bewusstsein entsprechen. Ob es sich bei einer gewissen Leibesbewegung um ein Verhalten oder ein Handeln handelt, hängt davon ab, wie die Erlebnisse beschaffen sind, die diese Leibesbewegungen bewusstseinsmäßig begleiten. Aus der obigen Textpassage geht zunächst hervor, dass es in beiden Fällen, also im Fall des Verhaltens wie auch im Fall des Handelns, phänomenale Erlebnisse sein müssen, welche die Leibesbewegung begleiten – das heißt: solche Erlebnisse, die alter ego ‚in den reflexiven Blick‘ nimmt, um sie in einen bestimmten Sinnzusammenhang einzuordnen. Doch was scheidet neben der Gemeinsamkeit, dass beide im Bewusstsein der oder des Sich-Verhaltenden bzw. der oder des Handelnden durch sinnhafte Erlebnisse begleitet werden, nun ein ‚Verhalten‘ von einem ‚Handeln‘? Die Antwort hierauf lautet: die An- bzw. Abwesenheit eines ‚vorgegebenen Entwurfes‘ für das Erlebnis. Wenn kein solcher Vorentwurf vorliegt, wenn es sich also um ‚einen spontanen Akt‘ handelt, so spricht Schütz von Verhalten. Verhalten orientiert sich also nicht an einem Vorentwurf, sondern es geschieht vielmehr spontan und ‚unentworfen‘. Häufig wird Verhalten deshalb auch jegliche ‚Absichtlichkeit‘ oder ‚Bewusstheit‘ abgesprochen (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 74–75). Stört eine Schülerin beispielsweise eine ruhige Arbeitsphase durch einen ‚Au‘-Schrei, weil ihr von hinten eine Papierkugel ans Ohr geschossen wurde, so wird ihr wohl kaum eine absichtliche oder bewusste Ruhestörung unterstellt werden können. Vielmehr handelt es sich bei ihrem Schrei um eine spontane und ‚unentworfene‘ Reaktion, gemäß obiger Definition also um ein Verhalten. Setzt dieselbe Schülerin nun aber zum Gegenangriff an und bereitet ihrerseits selbst einen Papierkugelbeschuss vor, so stellt dies zwar immer noch ein spontanes Verhalten dar, es schwindet jedoch der ‚unabsichtliche‘ und ‚unbewusste‘ Charakter dieses Verhaltens. Vielmehr orientiert sich ihr Verhalten an einem ‚vorgegebenen Entwurf‘, nämlich am Entwurf ihres Gegenangriffs. Und so liegt in diesem Falle – gemäß Schütz’ Definition – nicht mehr nur ein Verhalten, sondern ein Handeln der Schülerin vor. Im Vergleich zu Verhalten wird einem Handeln im alltagssprachlichen Gebrauch oft eine gewisse ‚Absichtlichkeit‘ oder ‚Bewusstheit‘ zugeschrieben (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 75). So vermutlich auch im obigen Fall der Schülerin: Während ihr wegen des ‚Au‘-Schreis wahrscheinlich noch keine absichtliche Unterrichtsstörung unterstellt werden würde, würde ihr Gegenangriff vermutlich als eine solche eingestuft werden.
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2.5
Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Zur Zeitlichkeit des Fremdverstehens
Die bisherigen Untersuchungen können den Anschein erweckt haben, dass ego im Fremdverstehen stets nur diejenigen Bewusstseinserlebnisse alter egos sinnhaft deutet, die dieses bereits selbst sinnhaft gedeutet hat. Insbesondere die vorausgehende Beschäftigung mit den Begriffen Handeln und Verhalten beschränkte sich ja explizit auf phänomenale Erlebnisse, also auf diejenigen Erlebnisse, denen sich alter ego bereits reflexiv zugewandt und die es sinnhaft gedeutet hat. Verfolgt man diesen Gedankengang jedoch weiter – also die Vermutung, dass dem Erfassen der fremden Erlebnisse eine Auslegung dieser Erlebnisse durch das alter ego selbst vorausgegangen sein muss –, so wird man früher oder später auf ein unüberwindbares Problem stoßen. Man wird sich der Frage stellen müssen, wie denn das fremdverstehende ego überhaupt zwischen sinnhaften und nicht sinnhaften Erlebnissen von alter ego unterscheiden kann. Und die Antwort wird dann lauten müssen: Das fremdverstehende ego kann diese Unterscheidung überhaupt nicht treffen. Denn wie bereits eingangs erwähnt, hat ego keinen Zugang zum Bewusstsein von alter ego. Ihm ist also weder zugänglich, welche Erlebnisse seines Erlebnisstroms alter ego überhaupt auslegt, noch, wie alter ego seine Erlebnisse auslegt. Alles, was das fremdverstehende ego zu wissen vermag, ist, dass alter ego prinzipiell dazu befähigt ist, Erlebnisse auszulegen und dies auch fortwährend tut. Diese Überlegungen führen nun zu der Einsicht, dass das Erfassen der fremden Erlebnisse im Fremdverstehen nicht davon abhängen kann, ob und wie alter ego seine Erlebnisse selbst auslegt. Vielmehr muss das Erfassen der fremden Erlebnisse durch ego irgendwie unabhängig von alter egos Auslegung seiner Erlebnisse erfolgen. Schütz schreibt hierzu: „Ich kann [...] ‚im bloßen Hinsehen‘ auch solche fremde Erlebnisse erfassen, auf welche der Andere die reflexive Zuwendung nicht vollzieht, die also für ihn präphänomenal und keineswegs wohlunterschieden sind. Indessen ich also meine eigenen Erlebnisse nur als abgelaufene entwordene Erlebnisse in den Blick bekommen kann, vermag ich auf fremde Erlebnisse in ihrem Ablauf hinzusehen.“ (Schütz, 1932/2016, S. 143, Hervorhebung i. O.)
Während sich alter ego seinen eigenen Erlebnissen also erst dann zuwenden kann, wenn diese bereits vergangen sind, kann ego auf diese fremden Erlebnisse bereits während ihres Vollzugs hinblicken. Wie aber kommt diese Differenz in der Zugänglichkeit des aktuellen Erlebens zustande? Wie kann es sein, dass ego in gewisser Weise einen unmittelbareren Zugang zu den fremden Erlebnisvollzügen hat als alter ego selbst? Die Differenz kommt dadurch zustande, dass
2.5 Zur Zeitlichkeit des Fremdverstehens
23
jedes Ich seine eigenen Erlebnisse nur reflexiv in den Blick nehmen kann. Wer sich in seinem Erleben eben diesem Erleben zuwenden möchte, muss eine reflexive Blickwendung vollziehen und bringt eben dadurch ein weiteres Erlebnis, ein Reflexionserlebnis, hervor, das wiederum in seinem aktuellen Vollzug nicht selbst in den Blick genommen werden kann.9 Und entsprechend sind dann auch die Erlebnisse in dem Moment, in welchem man sich ihnen in der Reflexion zuwendet, nicht mehr ‚aktuell vollzogene‘, sondern vielmehr ‚außer Vollzug geratene‘, vergangene Erlebnisse. Würde etwa der Schüler, der im Geometrieunterricht seinen Bleistift aus Langeweile immer wieder aufs Neue anspitzt und damit in seinem Erleben auf seinen Bleistift gerichtet ist, stattdessen seiner Langweile (= seinem Erleben der Situation) zuwenden, so würde sich seine Langeweile eben durch diese Zuwendung in ein vergangenes Erleben transformieren. Die reflexive Zuwendung wäre dann das Erlebnis, in dem der Schüler leben würde. Diese Zuwendung wäre es also, die das aktuelle Erlebnis im Erlebnisstrom des Schülers darstellen würde, während die Langeweile selbst augenblicklich in ein vergangenes Erlebnis überführt werden würde. Dem Schüler ist es also unmöglich, sich seiner Langeweile zuzuwenden, während er sie erlebt, denn im Moment der Zuwendung zu seiner Langeweile wird eben diese Zuwendung zu dem Erlebnis, das er vollzieht. Diese Unmöglichkeit, sich Erlebnissen während ihres Vollzuges zuzuwenden, besteht nun jedoch nicht, wenn ego seinen Blick auf Erlebnisse von alter ego richtet. Vielmehr ist es ego möglich, ‚auf fremde Erlebnisse in ihrem Ablauf hinzusehen‘. D. h., ego ist es möglich, Erlebnisse von alter ego während ihres Vollzuges durch alter ego zu erfassen. Es kann also auch solche Erlebnisse alter egos erfassen, auf welche alter ego ‚die reflexive Zuwendung nicht vollzieht‘ bzw. noch nicht vollzieht. Denn für alter ego gilt die obige ‚Einschränkung‘ in der Auslegung seiner eigenen Erlebnisse: Alter ego kann sich seinen eigenen Erlebnissen erst dann zuwenden, wenn sie vergangen sind. Ego hingegen kann 9
Für diese reflexive Zuwendung zu eigenen Bewusstseinserlebnissen gilt, was Bernhard Waldenfels (2018) in seinen phänomenologischen Untersuchungen des Leibes bzw. der Leiblichkeit beschreibt: Jedem Selbstbezug wohnt immer auch ein Moment des Selbstentzugs inne (vgl. S. 44). Konkret für den obigen Sachverhalt: Richtet sich ego in seinem Bewusstsein auf sein Bewusstsein (= Selbstbezug des Bewusstseins), so entzieht sich der Akt des ‚SichRichtens‘ auf das eigene Bewusstsein in seinem Vollzug egos Bewusstsein (= Selbstentzug des Bewusstseins). Ego wird sein Bewusstsein erst nach dem Aktvollzug darauf richten können, dann gewissermaßen auf das ‚Sich-Gerichtet-Haben‘. Hierbei wiederum besteht für ego dann erneut die prinzipielle Unmöglichkeit, sich auf den aktuell vollzogenen Akt des ‚SichRichtens‘ – also dann z. B. auf das ‚Sich-Richten‘ auf das ‚Sich-Gerichtet-Haben‘ – zu richten. Waldenfels (2018) schreibt, dass der prinzipielle Selbstentzug im Selbstbezug dazu beiträgt, dass ego sich selbst immer auch fremd ist (vgl. S. 44).
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
die Erlebnisse von alter ego bereits während ihres Erlebens erfassen und somit zu einem Zeitpunkt, an dem alter ego selbst noch keine Auslegung der Erlebnisse vorgenommen haben kann. So ist es der Lehrerin beispielsweise möglich, das wiederholte Anspitzen des Schülers als Anzeichen für seine Langeweile (= Erleben) zu deuten, während er diese erlebt. Dem Schüler selbst hingegen ist dies, wie oben bereits ausführlich ausgeführt wurde, nicht möglich. Zur Zeitlichkeit der Erfassung fremder Erlebnisse und der Auslegung eigener Erlebnisse vermerkt Schütz weiter, „daß der Selbstauslegung die eigene Dauer kontinuierlich und in Vollständigkeit, dem Fremdverstehen aber die fremde Dauer in diskontinuierlichen Segmenten und niemals in Vollständigkeit [...] vorgegeben ist“ (Schütz, 1932/2016, S. 148).
Während ego also in der Selbstauslegung seiner Erlebnisse sein gesamter Erlebnisstrom (‚die eigene Dauer kontinuierlich und in Vollständigkeit‘) zur Verfügung steht, gilt dies für die Erfassung der Erlebnisse von alter ego nicht. Zwar ist der Erlebnisstrom von alter ego auch ein kontinuierlicher, ego erfasst ihn jedoch nur ‚in diskontinuierlichen Segmenten und niemals in Vollständigkeit‘. Mit anderen Worten: Ego erfasst vom Erlebnisstrom des alter ego immer nur Ausschnitte oder ‚Bruchstücke‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 147).
2.6
Zur Mehrdeutigkeit des Begriffs ‚Fremdverstehen‘
Als Fremdverstehen – das konnten die bisherigen Ausführungen zeigen – wird im Rahmen von Schütz’ Theorie des Fremdverstehens der Prozess verstanden, in welchem ein Mensch (ego) das Verhalten eines Mitmenschen (alter ego) versteht, indem er dieses Verhalten auf ein Erleben zurückführt, das ihm zugrunde gelegen haben könnte. Im alltagssprachlichen Gebrauch jedoch wird der Begriff mitunter auch anders verwendet. Schütz stellt sogar fest, dass unter den Begriff des Fremdverstehens „gemeinhin […] ganz heterogene Sachverhalte subsumiert werden“ (Schütz, 1932/2016, S. 148): „Mit ‚Fremdverstehen‘ werden bald alle diejenigen Akte bezeichnet, welche überhaupt auf ein alter ego gerichtet sind, also alle meine Erlebnisse vom alter ego, bald nur jene, welche auf die Erfassung der Erlebnisse des alter ego abzielen [...].“ (Schütz, 1932/2016, S. 148–149, Hervorhebung i. O.)
Schütz präzisiert seine Rede von den ‚heterogenen Sachverhalten‘ also wie folgt: ‚Fremdverstehen‘ kann erstens diejenigen Verstehensakte des ego meinen, die
2.6 Zur Mehrdeutigkeit des Begriffs ‚Fremdverstehen‘
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‚überhaupt auf ein alter ego gerichtet sind, also alle [s]eine Erlebnisse vom alter ego‘ und es kann sich zweitens auf diejenigen Verstehensakte des ego beziehen, die auf die ‚Erfassung der Erlebnisse des alter ego‘ gerichtet sind. Zu der ersten Klasse an Verstehensakten gehören also solche Akte, in denen ego auf das Verstehen seiner eigenen Erlebnisse abzielt, zu der zweiten Klasse hingegen solche, in denen sich ego auf die Erfassung fremder Erlebnisse richtet. Diese zwei Klassen an Verstehensakten spezifiziert Schütz noch aus, sodass er letztlich vier Arten von Verstehensakten unterscheidet, die unter den Begriff des Fremdverstehens ‚gemeinhin subsumiert werden‘. Diese vier Arten von Verstehensakten ordnet er derart, dass jede Art von Verstehensakt auf die vorherige Art aufbaut und ihr etwas hinzufügt. Hinsichtlich der letzten, also der vierten Art von Verstehensakt spricht Schütz von ‚echtem Fremdverstehen‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 153). Die drei vorherigen Arten stellen also jeweils eine ‚Vorstufe‘ des echten Fremdverstehens dar. Mit dem Ziel zu verstehen, was Schütz nicht meint, wenn er von ‚Fremdverstehen‘ spricht, und um damit letztlich auch besser zu verstehen, was Schütz meint, wenn er von ‚Fremdverstehen‘ spricht, möchte ich diese vier Arten von Verstehensakten (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 149–150) kurz vorstellen: Verstehensakte des ego, die auf seine eigenen Erlebnisse (vom alter ego) gerichtet sind 1. Art: Zu dieser Art von Verstehensakten zählen Selbstauslegungsakte eigener Erlebnisse des ego vom alter ego als ein Mitmensch überhaupt. Es stellt beispielsweise die Einsicht einer Lehrerin (ego), dass ein ihr gegenüberstehender Schüler (alter ego) „ein Mitmensch ist und nicht etwa ein Schemen auf einer Tonfilmleinwand“ (Schütz, 1932/2016, S. 149), das Resultat einer Selbstauslegung der Lehrerin von ihren eigenen Erlebnissen vom Schüler dar. Die Lehrerin (ego) nimmt ihren Schüler (alter ego) hierbei zunächst als einen Gegenstand ihrer Außenwelt wahr und gelangt in der Selbstauslegung ihrer eigenen Erlebnisse von diesem Gegenstand zu der Einsicht, dass es sich dabei um einen Mitmenschen, nämlich um ihren Schüler handelt. 2. Art: An dem Gegenstand seiner Außenwelt, den ego als Mitmenschen erkannte, nimmt ego nun auch Veränderungen wahr. Genauer: Am Leib des Mitmenschen, als welchen es den Gegenstand seiner Außenwelt erkannte, nimmt ego Veränderungen wahr. Diese Veränderungen deutet ego wie „Veränderungen an einem unbelebten Ding der Außenwelt“ (Schütz, 1932/2016, S. 150), d. h., er deutet sie in einer Selbstauslegung seiner Erlebnisse von diesen Veränderungen. Man stelle sich vor, obiger Schüler würde während
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
einer ruhigen Arbeitsphase während des Unterrichts laut niesen (= Veränderung am Leib des alter ego). Die Lehrerin, so denn sie Fremdverstehen im Sinne dieser 2. Art vollzieht, würde nun das Niesen ihres Schülers wahrnehmen, ihren Blick jedoch nicht auf das Erleben des Schülers seines eigenen Niesens richten. Vielmehr würde sie ausschließlich ihr eigenes Erleben vom Niesen des Schülers auslegen, z. B. ihr Erschrecken aufgrund der Lautstärke des Geräusches oder ihren Ekel aufgrund der Art des Geräusches. Es zeigt sich, dass sowohl die erste als auch die zweite Art von Verstehensakten zwar auf ein alter ego gerichtet sind, sich aber ausschließlich in Selbstauslegungen des ego von seinen eigenen Erlebnissen vom alter ego vollziehen. Laut Schütz führen diese Akte deshalb nicht über die „Sinngebung im einsamen Seelenleben hinaus“ (Schütz, 1932/2016, S. 150). Eine Abwendung von der ‚Sinngebung im einsamen Seelenleben‘ vollzieht sich nun aber dadurch, dass ego seinen Blick auf die Erlebnisse von alter ego, also auf fremde Erlebnisse, richtet: Verstehensakte des ego, die auf die Erfassung fremder Erlebnisse (des alter ego) gerichtet sind 3. Art: Ego legt nun nicht mehr nur sein eigenes Erleben von den wahrgenommenen Veränderungen am Leib des Mitmenschen aus. Es erkennt nämlich vielmehr, dass den leiblichen Veränderungen alter egos auch Bewusstseinserlebnisse in alter egos Erlebnisstrom entsprechen. Welcher Art alter egos Bewusstseinserlebnisse sind, bleibt jedoch noch unbeachtet. Ego versteht also, dass alter ego seine eigenen leiblichen Veränderungen erlebt, es versucht aber nicht, zu verstehen, wie alter ego sie erlebt. Beim Fremdverstehen im Sinne dieser 3. Art gelangt ego meines Erachtens bereits zu der Einsicht, dass alter ego seine eigenen Leibesveränderungen wesentlich anders erleben kann als ego dieselben, für ihn aber fremden Leibesbewegungen. Denn da ego dem alter ego ein eigenes Bewusstsein mit eigenen Erlebnissen zuschreibt, eröffnet es die Möglichkeit, dass sich diese auch wesentlich von den Bewusstseinserlebnissen egos unterscheiden können. Die Lehrerin (ego) des niesenden Schülers beispielsweise könnte verstehen, dass der Schüler sich – im Gegensatz zu ihr – nicht unbedingt durch sein eigenes Niesen erschrecken oder ekeln muss. Sie schreibt ihm vielmehr die prinzipielle Möglichkeit eines eigenen Erlebens des Niesens zu. Welcher Art dieses Erleben aber ist, ob der Schüler das eigene Niesen vielleicht als peinlich, erleichternd, überraschend o. ä. erlebt, das
2.7 Zum echten Fremdverstehen
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erfasst sie, so denn sie Fremdverstehen im Sinne dieser 3. Art vollzieht, jedoch nicht. 4. Art (‚Echtes Fremdverstehen‘): Beim echten Fremdverstehen versteht ego nun nicht mehr nur – wie es in der 3. Art von Verstehensakt noch der Fall war –, dass alter ego seine eigenen Leibesveränderungen selbst auch erlebt. Vielmehr richtet ego seinen Blick nun zusätzlich darauf, wie alter ego seine eigenen Leibesveränderungen erlebt. D. h., ego nimmt die Leibesveränderungen alter egos in den Blick und deutet sie als Anzeichen für ein spezifisches Erleben alter egos. So würde obige Lehrerin nun nicht mehr nur verstehen, dass das eigene Niesen auch für ihren Schüler von einem Bewusstseinserlebnis begleitet wird, sondern vielmehr deuten, welches Bewusstseinserlebnis es für ihn begleitet. Sie würde sich beispielsweise fragen können, ob das eigene Niesen von ihrem Schüler selbst vielleicht als peinlich, erleichternd, überraschend o. ä. erlebt wurde. Ein solcher Verstehensakt, in dem ego die Veränderungen am Leib alter egos als Anzeichen für alter egos Erleben deutet, setzt wesentlich voraus, dass ego alter ego als Mitmensch erkennt (1. Art von ‚Fremdverstehen‘), dass es die Veränderungen am Leib alter egos wahrnimmt (2. Art) und dass es dem alter ego zuschreibt, seine Leibesveränderungen auch selbst zu erleben (3. Art). Es zeigt sich also: Echtes Fremdverstehen (4. Art) setzt wesentlich voraus, dass all die verschiedenen Verstehensakte (1.-3. Art), die Schütz voneinander differenziert, ebenfalls durchlaufen worden sind. Und so zeigt sich auch, dass jedes echte Fremdverstehen, obgleich es auf die Erfassung fremder Erlebnisse gerichtet ist, auf einer Selbstauslegung eigener Erlebnisse fundiert. Konkreter: Obgleich ego im Fremdverstehen seinen Blick auf die Erlebnisse des alter ego richtet, baut sein Fremdverstehen auf einer Selbstauslegung seiner eigenen Erlebnisse vom alter ego auf.
2.7
Zum echten Fremdverstehen
Der Prozess des echten Fremdverstehens wird von Schütz nun einer vertieften Analyse unterzogen. Hierzu geht Schütz zunächst von der grundlegenden Unterscheidung aus, ob es sich bei dem fremden, zu verstehenden Verhalten um ein Handeln mit oder ohne kommunikative Absicht handelt (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 151–152 & 157). Gemäß dieser Unterscheidung möchte ich nun zunächst die Grundzüge von Schütz’ Untersuchungen des Verstehens eines fremden Handelns
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
ohne kommunikative Absicht vorstellen und anschließend seine Erörterung des Verstehens eines fremden Handelns mit kommunikativer Absicht darstellen.10
2.7.1
Zum Verstehen eines fremden Handelns ohne kommunikative Absicht
Im Rahmen seiner Analyse des Verstehens eines fremden Handelns ohne kommunikative Absicht geht Schütz zunächst von folgendem Sachverhalt aus: Ego beobachtet alter ego und besitzt dabei keinerlei Vorwissen über alter ego; es kennt von alter ego also nicht mehr als seine Leibesbewegungen oder auch: den äußeren Ablauf seines Handelns. Ego deutet die Leibesbewegungen alter egos nun als den äußeren Ablauf eines Handelns ohne kommunikative Absicht und erfasst das Begleiterleben in alter egos Bewusstsein. Doch wie verläuft dieser Prozess
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Es wird in beiden Fällen, also sowohl im Fall des Verstehens eines kommunikativen als auch im Fall des Verstehens eines nichtkommunikativen Handelns, vorausgesetzt, dass alter ego für das fremdverstehende ego „unmittelbar und leibhaftig“ (Schütz, 1932/2016, S. 151) anwesend ist. Diese Voraussetzung kann aber selbstverständlich auch ‚zurückgenommen‘ werden: „[Das ego] weiß nicht nur von seiner (ihn umgebenden) Umwelt, sondern auch von seiner (entfernteren) Mitwelt. […] [Es] hat ferner Erfahrungen von seiner geschichtlichen Vorwelt und den Menschen in dieser Mit- und Vorwelt. […] [Es] findet sich von Dingen umgeben, die auf eine Erzeugung durch Andere zurückweisen, von Artefakten im weitesten Sinn, einschließlich Zeichensystemen und anderen Kulturobjekten. Diese Artefakte interpretiert […] [es] zunächst durch Einordnung in seinen Erfahrungszusammenhang. […] [Es] vermag aber jederzeit nach den Erlebnisabläufen im Bewußtsein desjenigen weiter zu fragen, der diese Artefakte erzeugte, nach dem ‚Worumwillen‘ der Erzeugung, nach den phasenweisen Abläufen der Erzeugung und nach den Sinnzusammenhängen, in denen diese für das fremde Bewußtsein standen.“ (Schütz, 1932/2016, S. 151) Das Fremdverstehen eines nicht unmittelbar und leibhaftig anwesenden alter ego vollzieht sich also anhand von Artefakten, die auf eine Erzeugung durch dieses alter ego zurückverweisen. Es konnte zuvor bereits gezeigt werden, dass ein Fremdverstehen, in welchem ego Artefakte als Anzeichen für das Erleben von alter ego dienen, letztlich auch auf ein Fremdverstehen hinausläuft, in welchem ego das Verhalten oder Handeln von alter ego als Anzeichen für das Erleben von alter ego dienen. Und so wird schließlich auch ein abwesendes alter ego im Prozess des Fremdverstehens gewissermaßen zu einem (in Phantasie) anwesenden alter ego. Die Analyse des Fremdverstehens eines nicht unmittelbar und leibhaftig anwesenden alter ego führt also letztlich auf eine Analyse des Fremdverstehens eines unmittelbar und leibhaftig anwesenden alter ego hinaus. Und so stellt die von Schütz für seine Analyse gesetzte Voraussetzung, dass alter ego für das fremdverstehende ego unmittelbar und leibhaftig anwesend ist, keine inhaltliche Einschränkung für seine Analyse des echten Fremdverstehens dar.
2.7 Zum echten Fremdverstehen
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genau? Wie vermag ego, den Erlebnisablauf im Bewusstsein von alter ego lediglich anhand dessen Leibesbewegungen zu erfassen? Schütz’ Antwort auf diese Fragen lautet: „Wir haben die Handlung des Anderen wahrgenommen und gedeutet. Von dieser Handlung her können wir die Serie der Bewußtseinserlebnisse, in welchen sich für den Handelnden die Handlung konstituierte, phantasierend nachvollziehen, indem wir die wahrgenommene und gedeutete Handlung als eine von uns zu setzende Handlung entwerfen und in einer Phantasie des Handlungsvollzuges unsere Bewußtseinserlebnisse bei dem nach diesem Entwurf orientierten Handeln intentional fixieren.“ (Schütz, 1932/2016, S. 158, Hervorhebung i. O.)
Die Grundlage des Fremdverstehens einer Handlung ohne kommunikative Absicht ist also die Wahrnehmung und Deutung dieser Handlung. Erst wenn ego die Handlung ‚wahrgenommen und gedeutet‘ hat, kann sich auf dieses Wahrnehmungs- und Deutungserlebnis ein weiteres Erlebnis aufbauen, in welchem ego die Bewusstseinserlebnisse alter egos, ‚in welchen sich für […] [alter ego] die Handlung konstituierte‘, in Phantasie nachvollzieht. Dieser phantasierende Nachvollzug der Bewusstseinserlebnisse alter egos verläuft nun in drei Schritten: Ego entwirft erstens die Handlung alter egos, die es zuvor wahrgenommen und gedeutet hat, ‚als eine von ihm zu setzende Handlung‘. Mit anderen Worten: Ego stellt sich vor, dass es sich bei der ‚wahrgenommenen und gedeuteten Handlung‘ alter egos um eine eigene Handlung handelt. Ego stellt sich dann zweitens vor, dass es selbst die Handlung vollziehen würde (‚in einer Phantasie des Handlungsvollzuges‘). Und richtet drittens seinen Blick darauf, welche Bewusstseinserlebnisse diese Handlung für ihn begleiten würden (‚unsere Bewußtseinserlebnisse bei dem nach diesem Entwurf orientierten Handeln intentional fixieren‘). Oder auch: Ego richtet seinen Blick auf seine eigenen potentiellen Bewusstseinserlebnisse. Das Fremdverstehen der Lehrerin beispielsweise, die ihre Schülerin dabei beobachtet, wie sie minutenlang aus dem Fenster starrt, könnte auf folgender Serie an von ihr phantasierten Bewusstseinserlebnissen basieren: ‚Wenn ich während einer Arbeit so lange aus dem Fenster starren würde, dann sicher, weil ich die Aufgaben nicht bearbeiten kann.‘ Statt eigener potentieller Bewusstseinserlebnisse kann ego aber auch eigene tatsächliche Bewusstseinserlebnisse intentional fixieren: „An Stelle einer bloßen Phantasie eines eigenen nachvollziehenden Handelns, welches das fremde Handlungsziel, das wir in der Phantasie zu unserem Entwurfe machen, schrittweise herbeiführen könnte, kann auch eine Reproduktion abgelaufener Erlebnisse von eigenem Handeln treten, welches ‚in der Tat‘ an einem vorentworfenen
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Handlungsziel orientiert war, und zwar an einem Handlungsziel, das mit demjenigen, an welchem der Beobachtete nunmehr sein Handeln orientiert, identisch ist.“ (Schütz, 1932/2016, S. 159)
Anstatt die wahrgenommene und gedeutete Handlung alter egos in Phantasie als seine eigene zu entwerfen, ist es ego also auch möglich, das Handeln alter egos mit einem eigenen Handeln aus der Vergangenheit zu identifizieren. Hierfür müssen das tatsächliche Handlungsziel, an welchem ego sein vergangenes Handeln orientierte, und das vermeintliche Handlungsziel, an welchem alter ego sein Handeln orientiert, von ego als ‚identisch-seiend‘ gesetzt werden. Ist dies der Fall, so entwirft ego die Bewusstseinserlebnisse, die sein Handeln begleiten würden, nun nicht mehr in Phantasie. Vielmehr reproduziert es stattdessen seine ‚abgelaufenen Erlebnisse von eigenem Handeln‘. Es vergegenwärtigt sich also in (seiner) Erinnerung, welche Erlebnisse sein vergangenes Handeln begleitet haben. Ego richtet seinen Blick somit nicht auf seine potentiellen, sondern auf seine tatsächlichen vergangenen Bewusstseinserlebnisse. Die Lehrerin, die ihre Schülerin während der Mathematikarbeit beobachtet, könnte sich etwa folgende Serie ihrer vergangenen Bewusstseinserlebnisse vergegenwärtigen: ‚Wenn ich früher während einer Arbeit aus dem Fenster gestarrt habe, lag es daran, dass ich die Aufgaben nicht bearbeiten konnte.‘ In beiden Fällen – dem Phantasieren eigener potentieller Erlebnisse sowie dem Reproduzieren eigener tatsächlicher Erlebnisse – überträgt ego nun seine eigenen Erlebnisse auf das alter ego. So erfasst die Lehrerin, dass die Handlung ihrer Schülerin (= aus dem Fenster blicken) von denselben Bewusstseinserlebnissen begleitet sein muss, wie es bei ihr selbst der Fall wäre oder war. Ego nimmt gewissermaßen eine ‚Personenvertauschung‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 159) vor, setzt sich selbst an die Stelle von alter ego und identifiziert seine eigenen Bewusstseinserlebnisse mit denen von alter ego (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 159). Es zeigt sich daran, dass das Verstehen von alter egos Handeln ohne kommunikative Absicht ganz grundlegend auf egos eigenen Bewusstseinserlebnissen basiert. Nämlich auf denjenigen Bewusstseinserlebnissen, die sein eigenes – potentielles oder tatsächliches – Handeln begleiten würden oder begleitet haben. Bisher basierte diese Untersuchung des Fremdverstehens eines nichtkommunikativen Handelns noch auf der Einschränkung, dass das ego keinerlei Vorwissen über das alter ego besäße, dass ihm also das ‚Vorher und Nachher‘ des Handelns unbekannt wäre (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 161). Und es konnte gezeigt werden, dass bzw. wie ego schon aufgrund einer derartigen ‚Momentphotographie‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 161) in der Lage ist, Fremdverstehen zu vollziehen. Würde die obige Einschränkung nun ausgesetzt, ginge man also davon aus, dass ego
2.7 Zum echten Fremdverstehen
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Vorwissen über das alter ego besäße – z. B. über sein Handlungsziel, seine vorangegangenen Erlebnisse in ähnlichen Situationen etc. (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 161) –, so würden die vorangehenden Überlegungen nicht an Gültigkeit verlieren. Vielmehr bliebe der Prozess des Fremdverstehens prinzipiell derselbe, seine Resultate hingegen würden eine ‚erhöhte Bestimmtheit‘ erlangen (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 161–162). Mit anderen Worten: Je mehr ego über alter ego weiß, desto ‚adäquater‘ wird seine Deutung von alter egos Handeln im Allgemeinen ausfallen. Bezüglich eines Handelns ohne kommunikative Absicht merkt Schütz noch an, dass die oder der Handelnde mit ihrem oder seinem Handeln zwar Bewusstseinserlebnisse ausdrückt, diese aber nicht auszudrücken intendiert (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 162). Schütz bezeichnet diese Art des Handelns als ‚Ausdrucksbewegung‘. Eine Ausdrucksbewegung zeichnet sich also dadurch aus, dass sie zwar „nicht in kommunikativer Absicht erfolgt“ (Schütz, 1932/2016, S. 163), dass sie aber dennoch etwas zum Ausdruck bringt. Sie hat somit zunächst nur für das beobachtende ego Sinn, nicht aber für das alter ego, an dem sie beobachtet wird (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 164). Der Ausdrucksbewegung gegenüber stellt Schütz das ‚Ausdruckshandeln‘. Unter einem Ausdruckshandeln versteht er jedes Handeln, „mit welchem ein Mensch Inhalte seines Bewußtseins ‚nach außen zu projizieren‘ wünscht, sei es, um sie für sich selbst festzuhalten […], sei es, um sie einem Anderen mitzuteilen“ (Schütz, 1932/2016, S. 162). Jedes Ausdruckshandeln stellt somit ein Handeln mit kommunikativer Absicht dar. Das echte Verstehen eines solchen kommunikativen Handelns soll nun im folgenden Abschnitt genauer analysiert werden.
2.7.2
Zum Verstehen eines fremden Handelns mit kommunikativer Absicht
Schütz bezeichnet ein Handeln mit kommunikativer Absicht auch als ein ‚Setzen von Zeichen‘. Und das Verstehen eines fremden Handelns mit kommunikativer Absicht kann demgemäß auch als ein ‚Deuten von Zeichen‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 165 & S. 175–182) verstanden werden. Anhand dieser beiden Bezeichnungen wird erkenntlich, dass der Begriff des Zeichens im Fall des Fremdverstehens eines kommunikativen Handelns eine entscheidende Rolle spielt. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Schütz dem Zeichenbegriff in seinen Untersuchungen einen eigenständigen Paragraphen (vgl. Schütz, 1932/2016,
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
§24 (S. 165–175)) widmet11 , auf welchen ich an dieser Stelle für all diejenigen verweisen möchte, die sich noch tiefer mit dem Begriff des Zeichens beschäftigen möchten. Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich dagegen nur diejenigen Überlegungen zum Zeichenbegriff kurz vorstellen, die für die nachfolgende Analyse des Verstehens eines fremden Handelns mit kommunikativer Absicht wirklich unabdingbar sind. Schütz definiert den Begriff Zeichen wie folgt: „Zeichen sind Handlungsgegenständlichkeiten oder Artefakte, welche nicht nach jenen Deutungsschemata ausgelegt werden, die sich aus Erlebnissen von ihnen als selbständigen Gegenständlichkeiten der Außenwelt konstituierten [...] (adäquate Deutungsschemata), sondern welche kraft besonderer vorangegangener erfahrender Erlebnisse in andere (inadäquate) Deutungsschemata eingeordnet werden [...].“ (Schütz, 1932/2016, S. 168)
Bei Zeichen handelt es sich gemäß dieser Definition also zunächst um ‚Handlungsgegenständlichkeiten oder Artefakte‘, wie z. B. einen erhobenen Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger (= Handlungsgegenständlichkeit, welche im Schulunterricht für gewöhnlich als ‚Melden‘ gedeutet wird) oder eine rote Ziffer ‚2‘ unter einer Mathematikklassenarbeit (= Artefakt, welches gemeinhin als Bewertung der Leistung in dieser Klassenarbeit gedeutet wird). Die Deutung dieser Handlungsgegenständlichkeiten und Artefakte vollzieht sich nun nicht nach denjenigen Deutungsschemata, ‚die sich aus Erlebnissen von ihnen als selbständigen Gegenständlichkeiten der Außenwelt konstituieren‘. Mit anderen Worten: Sie werden nicht nach einem ‚adäquaten Deutungsschema‘ ausgelegt. Stattdessen werden sie ‚kraft besonderer vorangegangener erfahrender Erlebnisse‘ in andere Deutungsschemata eingeordnet, welche Schütz als ‚inadäquate Deutungsschemata‘ bezeichnet. Diese Unterscheidung zwischen einem adäquaten und inadäquaten Deutungsschema sei durch ein Beispiel veranschaulicht: Die rote Ziffer ‚2‘ unter einer Klassenarbeit würde adäquat interpretiert werden, würde sie als visuell wahrnehmbarer Strich einer ganz bestimmten Farbe (rot) und Form (2) gedeutet werden. Sie würde hingegen inadäquat interpretiert, wenn sie als Zeichen für die Bewertung der Leistung in dieser Klassenarbeit durch eine Lehrkraft als ‚gut‘ gedeutet werden würde (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 167). Bei einem Zeichen 11
In diesem Fall fand zwischen zwei Menschen und mit etwa 100 Jahren ‚Zeitverzug‘ folgender Fremdverstehensprozess statt: Ich (ego) deute den ausführlichen Paragraphen zum Zeichenbegriff (= Artefakt) als Anzeichen dafür, dass Alfred Schütz (alter ego) der Begriff des Zeichens für die Analyse des Verstehens eines fremden Handelns mit kommunikativer Absicht von besonderer Wichtigkeit war (= Erleben alter egos).
2.7 Zum echten Fremdverstehen
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handelt es sich also um einen Gegenstand, auf welchen nicht „als den Gegenstand selbst“ (Schütz, 1932/2016, S. 166) hingesehen wird, sondern vielmehr „als Repräsentanten für das, was er repräsentiert“ (Schütz, 1932/2016, S. 166). Diese Formulierung (‚Repräsentant für etwas‘) trägt nun verschiedene Bedeutungen: „Die übliche Rede, Zeichen sei immer ‚Zeichen für‘, ist doppeldeutig. Das Zeichen ist einmal ‚Zeichen für‘ die Zeichenbedeutung, nämlich das, was es bezeichnet (Bedeutungsfunktion des Zeichens), das Zeichen ist aber auch ‚Zeichen für‘ das, was es ausdrückt, nämlich die Bewußtseinserlebnisse dessen, der das Zeichen gesetzt hat [...] (Ausdrucksfunktion des Zeichens).“ (Schütz, 1932/2016, S. 167, Hervorhebung i. O.)
Schütz unterscheidet also zwischen der ‚Bedeutungsfunktion‘ und der ‚Ausdrucksfunktion‘ eines Zeichens. In seiner Bedeutungsfunktion steht ein Zeichen lediglich für ‚das, was es bezeichnet‘, d. h., es wird insbesondere „nicht auf die Setzung durch ein alter ego rückbezogen“ (Schütz, 1932/2016, S. 167, Hervorhebung CSG). In seiner Bedeutungsfunktion wird dem Zeichen vielmehr ein objektiver Sinn zugeordnet, welcher sich dadurch auszeichnet, „daß jedermann […] unter dem Zeichen […] das Bezeichnete versteht, gleichgültig von wem und in welchem Zusammenhang es gebraucht wird“ (Schütz, 1932/2016, S. 172). Schütz spricht auch von der ‚Idealität des ‚Immer wieder“ eines Zeichens (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 172). Diesen Eigenschaften des ‚Immer wieder‘ und ‚Von jedermann‘ kommen dem Zeichen in seiner Ausdrucksfunktion nicht zu. In seiner Ausdrucksfunktion steht das Zeichen vielmehr für „das, was es ausdrückt, nämlich die Bewußtseinserlebnisse dessen, der das Zeichen gesetzt hat“ (Schütz, 1932/2016, S. 167, Hervorhebung i. O.). In seiner Ausdrucksfunktion verweist ein Zeichen also auf den Sinnzusammenhang, in welchem es für das zeichensetzende alter ego steht (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 173). Denn jedes zeichensetzende alter ego verbindet mit einem gesetzten Zeichen über den objektiven Sinn hinaus einen weiteren Sinn, den subjektiven Sinn, welcher den bisherigen Erfahrungen des zeichensetzenden alter ego mit diesem Zeichen entspringt (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 174). Diese zwei verschiedenen Arten von Sinn – objektiver und subjektiver Sinn – kommen jedem gesetzten Zeichen zu, sie schließen einander also nicht aus. Mit einem gesetzten Zeichen wird vielmehr immer ein objektiver und subjektiver Sinn zugleich verbunden. Schütz bezeichnet den objektiven Sinn eines gesetzten Zeichens auch als den ‚identischen Kern‘ eines Zeichens, welcher vom subjektiven Sinn des gesetzten Zeichens ‚umkleidet‘ wird (vgl. Schütz, 1932/ 2016, S. 174).
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Nach diesem kurzen Exkurs zum Begriff des Zeichens möchte ich mich nun den Prozessen der Zeichensetzung und Zeichendeutung zuwenden. Wie bereits zuvor erwähnt, spielen diese beiden Prozesse eine zentrale Rolle im Fremdverstehen eines Handelns mit kommunikativer Absicht: Beim Handeln mit kommunikativer Absicht setzt alter ego Zeichen, beim Verstehen dieses Handelns deutet ego Zeichen. Der Exkurs zum Zeichenbegriff legte nun aber bereits offen, dass alter ego, wenn es ein Zeichen setzt, dieses Zeichen immer auch in einen Sinnzusammenhang stellt. Schütz spricht deshalb statt von bloßer ‚Zeichensetzung‘ auch von ‚Sinnsetzung‘ durch alter ego (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 175–182). Analog für ego: Ego kann nicht nur das von alter ego gesetzte Zeichen deuten, sondern vielmehr auch den Sinnzusammenhang, in welchem dieses Zeichen für alter ego steht. In diesem Fall spricht Schütz statt von ‚Zeichendeutung‘ auch von ‚Sinndeutung‘ durch ego.12 Es deutet sich an, dass in der Analyse des Fremdverstehens eines fremden Handelns mit kommunikativer Absicht eigentlich zwei Deutungsprozesse zu untersuchen sind: Zum einen der Deutungsprozess egos, welches das sinnhaft gesetzte Zeichen alter egos auslegt. Zum anderen aber auch der Deutungsprozess dieses Zeichens durch das zeichensetzende alter ego selbst, welcher seinem Setzen des Zeichens vorausgeht (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 182). Es soll nun zunächst der Prozess der Sinndeutung durch ego und anschließend der Prozess der Sinnsetzung durch alter ego in den Blick genommen werden. Schütz legt seinen Untersuchungen dieser beiden Prozesse als Beispiel ein Gespräch zugrunde, also einen Gegenstand, der sich ganz wesentlich im kommunikativen Handeln und Verstehen eines fremden kommunikativen Handelns konstituiert (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 176). Der Prozess der Sinndeutung durch ego in einem Gespräch zeichnet sich laut Schütz dadurch aus, dass er sich parallel zum Prozess der Sinnsetzung durch alter ego ‚aufbauend vollzieht‘:
12
Die Bezeichnungen ‚Zeichensetzung‘ und ‚Sinnsetzung‘ können synonym verwendet werden, denn alter ego setzt, wenn es ein Zeichen setzt, dieses immer auch in einen Sinnzusammenhang. Für die Deutung dessen, was alter ego als Zeichen setzt, gilt dies jedoch nicht: Ego kann, wenn es ein Zeichen deutet, auch den Sinnzusammenhang deuten, in welchem dieses Zeichen für alter ego steht; es muss dies aber nicht tun. Vielmehr stehen ego zwei ‚Deutungsdimensionen‘ offen: Es kann ein Zeichen zum einen in seiner Bedeutungsfunktion auffassen, also den objektiven Sinn eines gesetzten Zeichens deuten (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 176). Es kann ein Zeichen zum anderen aber auch in seiner Ausdrucksfunktion auffassen, also den subjektiven Sinn eines gesetzten Zeichens deuten (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 176). Nur im zweiten Fall deutet ego dann auch den Sinnzusammenhang, in welchem das Zeichen für alter ego steht, d. h., nur hier käme egos ‚Zeichendeutung‘ einer ‚Sinndeutung‘ gleich (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 176).
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„Der Deutende empfängt den ihm zur Deutung aufgegebenen gesetzten Sinn keineswegs als konstituierte fertige Einheit, vielmehr baut sich dieser vor ihm in [...] Sinnsetzungsakten auf, und [...] [es] konstituiert sich phasenweise die Sinndeutung, welche der Deutende an den Setzungsakten während ihres Ablaufs aufbauend vollzieht.“ (Schütz, 1932/2016, S. 176)
Ego empfängt den von alter ego gesetzten Sinn seiner Rede also nicht als ‚konstituierte fertige Einheit‘, sondern vielmehr in einzelnen ‚Sinnsetzungsakten‘. Da alter ego in seiner Rede die Sinnsetzung nur in einer zeitlichen Abfolge vollziehen kann, also in einem Nacheinander der einzelnen Sinnsetzungsakte, empfängt ego sie auch so. D. h., die einzelnen Sinnsetzungsakte bauen sich nacheinander vor ego auf. Ego deutet diese Sinnsetzungsakte von alter ego nun ‚während ihres Ablaufs‘, also während ihres Vollzuges durch alter ego. Die Deutung des von alter ego gesetzten Sinnes durch ego konstituiert sich somit ‚phasenweise‘ und zwar parallel zur phasenweisen Sinnsetzung durch alter ego. Doch wie gelingt es ego, den von alter ego gesetzten Sinn zu deuten? Wie kann der Prozess der Sinndeutung genauer beschrieben werden? Laut Schütz vollzieht ego den Deutungsprozess eines von alter ego sinnhaft gesetzten Zeichens ähnlich wie den Deutungsprozess im Fall eines nichtkommunikativen Handelns: „Der Deutende entwirft die wahrgenommene Setzung gedeuteter Zeichen als ein von ihm zu setzendes Handeln und kann in einer Phantasie des Setzens seine Bewußtseinserlebnisse bei dem nach diesem Entwurf orientierten Handeln intentional fixieren. Er deutet also den subjektiven Sinn des Zeichens, welchen der Andere setzt, als wäre dieses Zeichen ein von ihm gesetztes Zeichen.“ (Schütz, 1932/2016, S. 177)
Die Grundlage der Sinndeutung ist also zum einen egos Wahrnehmung der Setzung eines Zeichens durch alter ego (‚die wahrgenommene Setzung gedeuteter Zeichen‘) und zum anderen egos Einsicht, dass alter ego selbst eine Deutung seiner gesetzten Zeichen vollzogen hat (‚die wahrgenommene Setzung gedeuteter Zeichen‘). Ego ist sich demnach bewusst, dass alter ego selbst seinem gesetzten Zeichen Sinn zuschreibt und es unternimmt im Fremdverstehen nun den Versuch, eben diesen, von alter ego gesetzten Sinn nachzuzeichnen. Ego ist also auf den subjektiven Sinn des von alter ego gesetzten Zeichens gerichtet, nicht auf den objektiven Sinn dieses Zeichens. Um den subjektiven Sinn des von alter ego gesetzten Zeichens zu deuten – und hier beginnt die Ähnlichkeit zum Deutungsprozess eines nichtkommunikativen Handelns –, entwirft ego nun erstens ‚die wahrgenommene Setzung gedeuteter Zeichen als ein von ihm zu setzendes Handeln‘. Ego stellt sich also vor, es handele sich beim Setzen des Zeichens
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
nicht um ein Handeln alter egos, sondern um sein eigenes Handeln. Ego vollzieht dann zweitens in Phantasie selbst das Setzen dieses Zeichens (‚in einer Phantasie des Setzens‘) und richtet drittens seinen Blick darauf, welche Bewusstseinserlebnisse dieses Handeln, also das Setzen des Zeichens, begleiten würden (‚seine Bewußtseinserlebnisse bei dem nach diesem Entwurf orientierten Handeln intentional fixieren‘). Wie schon beim Fremdverstehen eines Handelns ohne kommunikative Absicht nimmt ego also wieder eine Art Personenvertauschung vor: Es platziert sich an Stelle alter egos, vollzieht die Zeichensetzung in Phantasie selbst und überträgt dann denjenigen subjektiven Sinn auf alter ego, den es selbst mit dem Zeichen verbinden würde. Am Beispiel: Eine Lehrerin, die beobachtet, dass sich ein Schüler im Unterricht meldet und dabei fortwährend laut mit den Fingern schnipst, versteht die Geste dieses Schülers als einen Hinweis darauf, dass er dringend etwas mitteilen möchte. Sie nimmt die Geste des Schülers also als ein Zeichen wahr und deutet den dringenden Wunsch, eine Äußerung vornehmen zu dürfen, als subjektiven Sinn dieses Zeichens. Der Deutungsprozess, der die Lehrerin zu diesem subjektiven Sinn führt, könnte nun auf folgender Serie ihrer phantasierten Bewusstseinserlebnisse beruhen: ‚Wenn ich mich melden und dabei auch noch mit den Fingern schnipsen würde, dann sicher, weil ich darauf hinweisen möchte, dass ich unbedingt etwas sagen möchte.‘ Diese Bewusstseinserlebnisse überträgt die Lehrerin nun auf ihren Schüler. Der subjektive Sinn, den das Zeichen aus Sicht der Lehrerin für den Schüler trägt, orientiert sich also am subjektiven Sinn, den das Zeichen für die Lehrerin selbst tragen würde. Mit anderen Worten: Was alter ego mit seinem Zeichen aus Sicht von ego ausdrücken wollte, hängt davon ab, was ego selbst mit diesem Zeichen ausdrücken wollen würde. Wenngleich Schütz diese Möglichkeit nicht explizit erwähnt, so legt der durchgehende Parallelismus zwischen der Deutung eines nichtkommunikativen und kommunikativen Handelns doch nahe, dass ego sein Fremdverstehen eines Handelns mit kommunikativer Absicht nicht nur aufgrund potentieller Sinnsetzung vollzieht, sondern auch aufgrund tatsächlicher Sinnsetzung. D. h., hätte ego in der Vergangenheit eine Zeichensetzung vorgenommen, die zur Zeichensetzung, die alter ego nun vollzieht, ähnlich ist, so könnte ego den subjektiven Sinn, den es selbst mit diesem Zeichen verbindet, nicht nur in Phantasie nachvollziehen, sondern vielmehr auch ‚in Erinnerung‘. Es könnte ihn also tatsächlich reproduzieren. Dem Fremdverstehen der Lehrerin beispielsweise, die das Melden und Fingerschnipsen als Hinweis darauf versteht, dass der Schüler dringend etwas mitteilen möchte, könnte auch folgende Serie ihrer vergangenen Bewusstseinserlebnisse zugrunde liegen: ‚Als ich neulich im Restaurant meinen Arm gehoben und dabei geschnipst habe, habe ich das getan, damit der Kellner mich nicht
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übersieht. Ich wollte ihm unbedingt sagen, dass ich gegen Erdnüsse allergisch bin.‘ Es zeigt sich, dass – ebenso wie das Deuten eines nichtkommunikativen Handelns – auch das Deuten eines Handelns mit kommunikativer Absicht ganz grundlegend auf egos eigenen Bewusstseinserlebnissen basiert. Es basiert zum einen auf denjenigen Bewusstseinserlebnissen, die ego mit einem Zeichen, das dem von alter ego gesetzten Zeichen ähnlich ist, selbst ausdrücken würde, und zum anderen auf denjenigen Bewusstseinserlebnissen, die es bereits selbst in der Vergangenheit ausgedrückt hat.13 Nach dem Prozess der Sinndeutung durch ego soll nun kurz auch der Prozess der Sinnsetzung durch alter ego betrachtet werden. Schütz beschreibt den Prozess wie folgt: „[Der Zeichensetzende] setzt seine Zeichen, um vom Sinndeutenden verstanden zu werden. Und zwar sollen die zu setzenden Zeichen nicht nur in ihrer objektiven Bedeutungsfunktion, sondern als Ausdruck für die Erlebnisse des Sinnsetzenden verstanden werden. [...] Der Redende antizipiert [...] im Entwurf seiner Rede den Sinnzusammenhang, der sich beim Hörenden in der Deutung phasenweise aufbauend vollziehen soll. Hierbei interpretiert er die von ihm zu setzenden Zeichen nach jenen Deutungsgewohnheiten, nach denen er, der Sinnsetzende, von Anderen gesetzte und ihm zur Deutung aufgegebene Zeichen zu deuten pflegt. Dabei berücksichtigt er freilich auch alle jene Deutungsschemata, die ihm durch seine besondere Erfahrung von seinem Hörer zuwachsen.“ (Schütz, 1932/2016, S. 177)
Das Setzen eines Zeichens durch alter ego14 ist also dadurch motiviert, von ego ‚verstanden zu werden‘. Alter ego zielt dabei darauf ab, dass die von ihm gesetzten Zeichen ‚nicht nur in ihrer objektiven Bedeutungsfunktion‘, sondern vielmehr auch als Ausdruck seiner Bewusstseinserlebnisse gedeutet werden, also 13
Bezüglich der Adäquatheit der Resultate, zu denen das Deuten eines kommunikativen Handelns führt, gilt im Übrigen, was bereits für das Deuten eines nichtkommunikativen Handelns galt: Je mehr Vorwissen das fremdverstehende ego über alter ego besitzt, desto ‚adäquater‘ fallen im Allgemeinen die Resultate aus, die sein Fremdverstehen hervorbringt. 14 Nimmt man die Perspektive der Person ein, die das Zeichen setzt, ‚wird‘ nun eigentlich das bisherige alter ego zum ego und das bisherige ego zum alter ego. Das liegt daran, dass auch das Setzen eines Zeichens im Grunde ein Deutungsprozess ist, in welchem die Person, die das Zeichen setzt (bisher: alter ego), deutet, wie die Person, die das Zeichen empfängt (bisher: ego), dieses deuten wird. D. h., das bisherige alter ego vollzieht nun einen Prozess, der wiederum bisher ego zugeschrieben wurde und umgekehrt. Um diese Untersuchungen zur Sinnsetzung jedoch möglichst verständlich zu halten und um sie den Bezeichnungen der bisherigen Untersuchung anzupassen, möchte ich an die bisher verwendeten Bezeichnungen anknüpfen.
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als Zeichen in ihrer subjektiven Bedeutungsfunktion. Um dieses Ziel zu erreichen, antizipiert alter ego nun ‚im Entwurf seiner Rede den Sinnzusammenhang, der sich beim Hörenden in der Deutung phasenweise aufbauend vollziehen soll‘. D. h., alter ego entwirft seine Rede derart, dass sie von ego so gedeutet wird, wie alter ego sie gedeutet wissen will. Doch wie gelingt alter ego das? Schütz Antwort lautet: Alter ego führt vor dem Setzen eines Zeichens in Phantasie eine Interpretation des ‚von ihm zu setzenden Zeichens‘ durch. Es interpretiert das Zeichen dabei so, als sei es ihm selbst durch andere Personen zur Deutung aufgegeben (‚von Anderen gesetzte und ihm zur Deutung aufgegebene‘). Alter ego legt also sein zu setzendes Zeichen vor der Setzung nach ‚jenen Deutungsgewohnheiten‘ aus, nach welchen es selbst das ‚Zeichen zu deuten pflegt‘. Bei dieser Auslegung berücksichtigt alter ego ‚freilich‘ auch jene Deutungsschemata, die ihm von ego bekannt sind, d. h., alter ego legt sein zu setzendes Zeichen nicht nur so aus, wie es dies selbst zu deuten pflegt, sondern auch, wie es vermutet, dass ego es zu deuten pflegt.15 Nachdem sowohl der Prozess der Sinndeutung als auch der Prozess der Sinnsetzung untersucht wurden, soll nun das Verhältnis der beiden Prozesse zueinander betrachtet werden. Genau genommen kann gar nicht von dem Verhältnis die Rede sein, da laut Schütz die Sinnsetzung zur Sinndeutung in einem anderen Verhältnis steht als die Sinndeutung zur Sinnsetzung: „Die tatsächliche Sinndeutung durch den Sinndeutenden steht zu der Sinnsetzung (genauer zur Sinndeutung durch den Sinnsetzenden) im Verhältnis der Erfüllung oder Nichterfüllung. [...] Für den Sinndeutenden steht [...] der Entwurf des Sinnsetzenden, der ihm zur Deutung aufgegeben ist, zu den bereits vollzogenen Sinnsetzungsakten keineswegs im Verhältnis der Erfüllung oder Nichterfüllung. Der Entwurf des Sinnsetzenden ist, vom Deutenden her gesehen, den Sinnsetzungsakten vorangegangen, er wurde durch sie erfüllt oder nicht erfüllt, aber er erfüllt sie nicht.“ (Schütz, 1932/2016, S. 178, Hervorhebung i. O.)
Die Sinndeutung durch ego steht also zur Sinnsetzung durch alter ego im ‚Verhältnis der Erfüllung oder Nichterfüllung‘. Damit ist gemeint, dass die tatsächliche Sinndeutung durch ego die Sinnsetzung durch alter ego, oder vielmehr: alter egos antizipierte Sinndeutung seines Sinngesetzten durch ego, erfüllen oder nicht erfüllen kann. Mit anderen Worten: Wie ego die Zeichen, den gesetzten Sinn alter egos tatsächlich deutet, mag dem entsprechen, wie alter ego es erwartete
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Es zeigt sich: Nicht nur beim Verstehen eines kommunikativen Handelns vollzieht sich Fremdverstehen, sondern auch beim kommunikativen Handeln, also beim Sinnsetzen, selbst.
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bzw. phantasierte (Erfüllung). Es mag aber auch davon abweichen (Nichterfüllung). Die Sinnsetzung durch alter ego hingegen steht zur Sinndeutung von ego in einem anderen Verhältnis. Denn die Sinnsetzung durch alter ego, oder: alter egos antizipierte Sinndeutung durch ego, ist der tatsächlichen Sinndeutung durch ego vorausgegangen, d. h., der Moment der Sinnsetzung ist im Moment der tatsächlichen Sinndeutung bereits in die Vergangenheit gerückt. Und so kann die Sinnsetzung die tatsächliche Sinndeutung nicht erfüllen, sondern sie kann vielmehr rückwirkend von ihr erfüllt werden. Das Verhältnis von Sinnsetzung zu tatsächlicher Sinndeutung könnte also vielmehr als ein Verhältnis des ‚Erfüllthabens oder Nichterfüllthabens‘ bezeichnet werden. Sinndeutung und Sinnsetzung verhalten sich letztendlich – und hier erlaube ich mir ein Beispiel ohne Schulkontext – nicht anders zueinander als Weihnachtsgeschenk und Weihnachtswunsch: Ein Weihnachtsgeschenk (= Sinndeutung) kann einen Weihnachtswunsch (= Sinnsetzung) erfüllen, ein Weihnachtswunsch hingegen erfüllt ein Weihnachtsgeschenk nicht, sondern wird von ihm erfüllt.16 Zum Handeln mit kommunikativer Absicht sei abschließend noch kurz angemerkt, dass ego beim Verstehen dieses Handelns nicht nur das Sinngesetzte – also das gesetzte Zeichen, den gesetzten Sinn – in den Blick nehmen kann, sondern vielmehr auch das Sinnsetzen selbst (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 182): „[...] [Es] zielt die Ermittlung dessen, was der Kundgebende damit meint, daß er kundgibt, und zwar dieses sein Bewußtseinserlebnis kundgibt, zunächst auf das Umzu-Motiv des Kundgebenden ab. Denn gemeint ist seitens des Kundgebenden die Kundgabe immer nur innerhalb eines entworfenen Handelns, dessen Handlungsziel über den Akt des Kundgebens hinausreicht, so daß das Kundgeben durch eben jenes entworfene Handlungsziel motiviert ist. Dieser Sachverhalt ist jedem Kundgabehandeln wesentlich. Was immer ich zu dir spreche, ich spreche um eines Um-zu-willen, sei es nur, um von dir verstanden zu werden, sei es, um ein besonderes Verhalten deinerseits hervorzurufen.“ (Schütz, 1932/2016, S. 182)
Wenn ego also danach fragt, was alter ego mit dem Sinnsetzen überhaupt (nicht mit dem Sinngesetzten) meint, so beabsichtigt es, alter egos sogenanntes
16
Es gibt in diesem Kontext noch ein weiteres Verhältnis der Erfüllung oder Nichterfüllung, welches ich hier nur kurz benennen möchte: Auch der Akt des Sinnsetzens durch alter ego steht zum Entwurf des Sinnsetzens in einem derartigen Verhältnis (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 178). Der Entwurf des Sinnsetzens kann sich im Akt des Sinnsetzens erfüllen, er kann dies aber auch nicht tun: „[E]s bleibt für den Sinndeutenden […] ungewiß, ob die tatsächlich vollzogenen Setzungsakte den Entwurf des Sinnsetzenden, vom Deutenden adäquat verstanden zu werden, erfüllt haben oder nicht.“ (Schütz, 1932/2016, S. 178)
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
‚Um-zu-Motiv‘ zu ermitteln. Dieser Ermittlung muss eine Deutung der Bewusstseinserlebnisse, die alter ego mit seinem Sinnsetzen kundzugeben vermochte, vorausgegangen sein. Denn erst wenn ego die Bewusstseinserlebnisse alter egos gedeutet hat, kann es überhaupt danach fragen, wozu alter ego eben diese kundgibt. Das Um-zu-Motiv von alter ego, welches ego zu ermitteln beabsichtigt, ist als eine Art ‚Handlungsziel‘ zu verstehen, welches alter ego im Voraus seiner Handlung entworfen hat und welches nun seine Handlung, also sein Kundgeben motiviert. Am Beispiel: Die Schülerin, die mit der Gruppenzuteilung durch ihre Lehrerin unzufrieden ist, könnte mit den Augen rollen, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Oder auch: Der Schüler, der sich meldet und dabei mit den Fingern schnipst, könnte dies tun, um darauf aufmerksam zu machen, dass er dringend etwas mitteilen möchte. Auf ähnliche Weise, also auf eine Weise des ‚Um-zu‘, ist jedes Handeln mit kommunikativer Absicht von alter ego motiviert, ‚sei es, um ein besonderes Verhalten‘ bei ego hervorzurufen oder auch nur, um von ihm ‚verstanden zu werden‘.17 Über das Um-zu-Motiv hinaus kann ego auch nach dem ‚Weil-Motiv‘ des Sinnsetzens alter egos fragen (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 183): „Frage ich nach dem Weil-Motiv, so habe ich den subjektiven Sinnzusammenhang des fremden Um-zu-Motivs als fertig konstituierte Gegenständlichkeit vorgegeben, und von ihm her frage ich nach der Konstituierung der diesem subjektiven Sinnzusammenhang zugrunde liegenden Unterschichten.“ (Schütz, 1932/2016, S. 183)
Die Frage nach dem Weil-Motiv zielt also darauf ab, ‚den subjektiven Sinnzusammenhang des fremden Um-zu-Motivs‘ zu ermitteln – genauer: die ‚Konstituierung der diesem subjektiven Sinnzusammenhang zugrunde liegenden Unterschichten‘ zu ermitteln. Mit anderen Worten: Ego beabsichtigt mit der Frage nach dem WeilMotiv, die Gründe des Um-zu-Motivs alter egos genauer zu erforschen. Während das Um-zu-Motiv also ein Handeln erklärte (oder auch: nach dem ‚Wozu?‘ des
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Die Ermittlung des Um-zu-Motivs von alter egos Sinnsetzen kann im Übrigen nicht nur das sinndeutende ego vollziehen, an welches alter egos Sinnsetzen adressiert ist. Auch beobachtende Personen aus der sozialen Umwelt des sinnsetzenden alter ego sind zu dieser Deutung befähigt (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 183).
2.8 Zur Adäquatheit von Resultaten von Fremdverstehensprozessen
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Handelns fragte), erklärt das Weil-Motiv nun vielmehr den Entwurf dieses Handelns (oder auch: das ‚Warum?‘ des Handelns).18,19 Es ergibt sich hieraus als wesentliche Bedingung für die Untersuchung des Weil-Motivs, dass ego der subjektive ‚Sinnzusammenhang des fremden Um-zu-Motivs als fertig konstituierte Gegenständlichkeit vorgegeben‘ sein muss. Der Ermittlung des Weil-Motivs muss also die Ermittlung des Um-zu-Motivs vorausgegangen sein. Denn erst wenn der Entwurf eines Handelns bekannt ist, kann überhaupt nach seinen Gründen gefragt werden.
2.8
Zur Adäquatheit von Resultaten von Fremdverstehensprozessen
Zum Abschluss dieser Darstellung der grundlegenden Begriffe aus Schütz’ Theorie des Fremdverstehens möchte ich nochmals einen Gedanken aus der Einleitung dieses Kapitels aufgreifen. Dort war davon die Rede, dass die Bewusstseinserlebnisse eines alter ego für ego wesentlich unzugänglich sind. Vor diesem Hintergrund wurde festgestellt, dass sich ego im Fremdverstehen einen Zugang zu etwas verschafft, zu dem es eigentlich keinen Zugang hat. Die darauffolgenden Untersuchungen widmeten sich der Frage, wie ego dennoch Fremdverstehen vollziehen kann, wie es ihm also dennoch alltäglich gelingt, sich Zugang zu etwas zu verschaffen, zu dem es prinzipiell keinen Zugang hat.20 18
Es sollte nicht fälschlicherweise davon ausgegangen werden, Um-zu-Motive könnten immer anhand ihrer sprachlichen Gestalt erkannt werden. Vielmehr können sie nämlich auch in Gestalt ‚unechter Weil-Motive‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 120) auftreten. Obige Umzu-Motive könnten beispielsweise wie folgt zu einem logischen Äquivalent umformuliert werden, ohne ihre sprachliche Korrektheit einzubüßen: ‚Die Schülerin, die mit der Gruppenzuteilung durch ihre Lehrerin unzufrieden ist, rollt mit den Augen, weil sie ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen möchte.‘ Oder auch: ‚Der Schüler, der sich meldet und dabei mit den Fingern schnipst, könnte dies tun, weil er darauf aufmerksam machen möchte, dass er dringend etwas mitteilen möchte.‘ Unechte Weil-Motive erkennt man also daran, dass man sie in Um-zu-Formulierungen überführen kann, ohne den Inhalt der Aussage zu verändern (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 120). Bei echten Weil-Motiven ist dies nicht der Fall. 19 In einem gewissen Sinne kann die Frage nach dem Um-zu-Motiv als ‚vorwärtsgerichtet‘ gelten, da sie das Ziel des Handelns in den Blick nimmt; die Frage nach dem Weil-Motiv hingegen kann eher als ‚rückwärtsgerichtet‘ gelten, da sie die Gründe des Handelns in den Blick nimmt. 20 Schütz’ Herangehensweise an die Untersuchung des Fremdverstehens ist vor diesem Hintergrund gewissermaßen eine ‚kontrafaktische‘: Obgleich er es als unmöglich anerkennt, fremde Bewusstseinserlebnisse zu erfassen, untersucht er dennoch, wie dies geschehen kann (vgl. Schnettler, 2018, S. 104). Vielleicht könnte sogar formuliert werden: Gerade weil
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Die ‚Theorie des Fremdverstehens‘ nach Alfred Schütz
Was jedoch noch nicht untersucht wurde, ist die Möglichkeit egos, über die Adäquatheit oder Inadäquatheit der Resultate seines Fremdverstehens zu entscheiden. Mit anderen Worten: Es bleibt die Frage offen, ob und wie ‚überprüft‘ werden könnte, dass die tatsächliche Sinndeutung durch ego die antizipierte Sinndeutung durch alter ego erfüllt oder nicht erfüllt, oder auch: dass die Bewusstseinserlebnisse, zu denen ego in seiner Deutung gelangt, auch tatsächlich den Bewusstseinserlebnissen entsprechen, die alter ego vollzieht oder vollzog. Eine mögliche Antwort auf diese Frage mag lauten: Ego könnte alter ego selbst fragen. In vielen Fällen ist es ego ja möglich, alter ego um eine Einschätzung zu bitten, ob es mit seiner Deutung ‚richtig‘ lag. Doch tatsächlich birgt diese Möglichkeit der Prüfung ein Problem: Jede Antwort von alter ego auf eine derartige Frage wäre wieder als ein Zeichen für ein Bewusstseinserlebnis von alter ego zu verstehen. Schon egos bloßer Wunsch, die Antwort von alter ego auf seine Frage zu verstehen, würde also erneut einen Deutungsprozess erforderlich machen, nämlich die Deutung des Zeichens, welches die Antwort alter egos darstellt. Das heißt nun aber nichts anderes, als dass jeder Versuch, die Deutung eines Zeichens abzugleichen, nur zur Deutung eines weiteren Zeichens führt, die es wieder abzugleichen gilt usw. Oder auch: Jeder Abgleich eines Fremdverstehens kann nur durch ein weiteres Fremdverstehen vollzogen werden. Eine weitere Möglichkeit zur Überprüfung des Resultates eines Fremdverstehens, welche der eben genannten sehr ähnlich ist, aber nicht die unmittelbare und leibhaftige Anwesenheit alter egos erfordert, wäre: Das Resultat mithilfe der Deutung weiterer Anzeichen zu be- oder widerlegen. Das Resultat eines Fremdverstehensprozesses bekäme in diesem Fall den Status einer Lesart des Anzeichens, welche sich durch ein weiteres widersprüchliches Anzeichen ausschließen ließe oder welche durch weitere, mit der Lesart vereinbare Anzeichen an Plausibilität gewinnen würde. Es zeigt sich jedoch recht schnell, dass auch diese Möglichkeit der Überprüfung letztendlich darauf hinausliefe, dass jeder Versuch, die Deutung eines Anzeichens abzugleichen, nur zur Deutung eines weiteren Anzeichens führt, die es wieder abzugleichen gilt, und so auch hier jeder Abgleich eines Fremdverstehens nur durch ein weiteres Fremdverstehen vollzogen werden kann.21 Fremdverstehen trotz wesensmäßiger Unzugänglichkeit des fremden Bewusstseins ein so erfolgreiches alltagsweltliches Phänomen darstellt, untersucht Schütz es. Er strebt in seinen Untersuchungen gewissermaßen nach einer Erklärung, wie das eigentlich Unmögliche (Fremdverstehen) tagtäglich möglich werden kann. 21 An dieser Stelle möchte ich auch auf das Buchkapitel Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen verweisen, in welchem der Philosoph Charles Taylor eine gelungene Interpretation, also z. B. auch das Resultat eines ‚gelungenen‘ Fremdverstehensprozesses,
2.8 Zur Adäquatheit von Resultaten von Fremdverstehensprozessen
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Ein derartiger ‚unendlicher Progress‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 150) ist für das fremdverstehende ego für gewöhnlich jedoch nicht umsetzbar. Vielmehr ist es ego lediglich möglich, diesen Überprüfungsprozess endlich oft durchzuführen. Das Resultat dieser endlichen Anzahl an sich selbst-verifizierenden Fremdverstehensprozessen erlangt vor diesem Hintergrund den Status eines ‚Näherungswertes‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 150). Es nähert sich den Bewusstseinserlebnissen alter egos – also den für ego fremden Bewusstseinserlebnissen – an, es bleibt jedoch ungewiss, ob und wann es sie identisch abbildet. Schütz bezeichnet den Begriff fremde Bewusstseinserlebnisse deshalb auch als ein ‚Limesbegriff‘ (vgl. Schütz, 1932/2016, S. 150). Das Erfassen dieser fremden Bewusstseinserlebnisse, also das Fremdverstehen, könnte demnach auch als eine ‚Limestätigkeit‘ bezeichnet werden.
wie folgt definiert: „Eine gelungene Interpretation ist eine solche, welche die ursprünglich in verworrener, fragmentarischer, unklarer Form vorhandene Bedeutung klärt“ (Taylor, 1978, S. 171). Zur Möglichkeit der Überprüfung der Adäquatheit einer Interpretation schreibt Taylor: „Aber woher weiß man, daß diese Interpretation richtig ist? Vermutlich, weil sie den ursprünglichen Text verständlich macht: was an ihm seltsam, rätselhaft, verwirrend, widersprüchlich ist, ist dies nun nicht mehr, ist erklärt“ (Taylor, 1978, S. 172). Weiter untersucht Taylor – und hier zeigt sich dann auch der Bezug zur obigen Textstelle, welcher diese Fußnote als Erläuterung dienen soll –, welche Möglichkeit für Interpretierende besteht, wenn jemand die Adäquatheit ihrer Interpretation nicht akzeptiert: „Wir versuchen ihm zu zeigen, wie sie [die Interpretation, CSG] den ursprünglichen Un- oder Teilsinn verständlich macht. Aber um uns zu folgen, muß er die ursprüngliche Sprache so lesen, wie wir es tun, er muß diese Ausdrücke als irgendwie verwirrend erkennen und daher nach einer Lösung für unser Problem suchen. Tut er dies nicht, was können wir dann tun? Die Antwort lautet offenbar: in gleicher Weise fortfahren. Wir müssen ihm anhand der Lesart anderer Ausdrücke zeigen, warum dieser eine Ausdruck in der von uns vorgeschlagenen Weise gelesen werden muß. Aber damit dies gelingt, ist es erforderlich, daß er uns bei diesen anderen Lesarten folgt, und so weiter – offenbar ad infinitum.“ (Taylor, 1978, S. 172)
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Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen
In diesem Kapitel möchte ich aufzeigen, wie sich eine Untersuchung des Phänomens des Fremdverstehens von Lehrkräften im Mathematikunterricht in etablierte Diskurse der Mathematikdidaktik integrieren lässt. Ich werde hierfür zwei Diskurse in den Blick nehmen: den Diskurs zum ‚Teacher Noticing‘ (Abschnitt 3.1) und den Diskurs zur ‚Diagnosekompetenz‘ (Abschnitt 3.2). Dabei werde ich jeweils wie folgt vorgehen: Ich werde zunächst den Diskurs in seinen groben Zügen nachzeichnen und dann genauer herausstellen, in welchem Zusammenhang er mit der Untersuchung des Phänomens des Fremdverstehens steht.
3.1
Zum Fremdverstehen im Diskurs zum ‚Teacher Noticing‘
„Teachers […] must notice a plethora of things in order to be successful. They must notice what a young person is thinking, and they must notice what is important about it. They must notice that a particular task interests a pupil and that a certain book fascinates him. They must notice when students are engaged, and when they are understanding. They must notice what makes an idea difficult and what a child already knows that offers a bridge to the difficult idea.“ (Ball, 2011, S. xx)
Dieser Auszug entstammt dem Vorwort zu Mathematics Teacher Noticing. Seeing through Teachers’ Eyes (Sherin et al., 2011a), dem ersten Sammelband innerhalb der Mathematikdidaktik, welcher sich dem Phänomen des Teacher Noticing widmet (vgl. Sherin et al., 2011a, S. i). Die amerikanische Mathematikdidaktikerin Deborah L. Ball veranschaulicht hier, welch vielfältigen Aspekte es für Lehrerinnen und Lehrer im Unterrichtsgeschehen zu beachten gilt. Fragt man nun danach, wie es Lehrpersonen gelingt, diese vielfältigen Aspekte zu beachten, die für ihr unterrichtliches Handeln von Relevanz sind, so gerät ein Prozess in den © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C.-S. Günther, Das Eigene und das Fremde, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_3
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Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen
Blick, welchen Miriam Gamoran Sherin, Victoria R. Jacobs und Randolph A. Philipp – Herausgeberinnen und Herausgeber des erwähnten Sammelbandes – mit ‚managing the blooming, buzzing confusion of sensory data‘ beschreiben. Und es ist eben dieser Prozess, den sie als ‚Teacher Noticing‘ bezeichnen: „[…] [W]e use the phrase teacher noticing to encompass the processes through which teachers manage the “blooming, buzzing confusion of sensory data” with which they are faced […].“ (Sherin et al., 2011a, S. 4–5, Hervorhebung i. O.)
Teacher Noticing in der Forschung Außerhalb der Mathematikdidaktik wird das Phänomen des (Teacher) Noticing – mitunter unter abweichenden Bezeichnungen – bereits seit den späten 1980er-Jahren untersucht (vgl. Erickson et al., 1986 (‚teachers‘ ways of seeing and making sense’); Es & Sherin, 2002 (‚teacher noticing‘); Goodwin, 1994 (‚professional vision‘) & Mason, 2002 (‚professional noticing‘)). Spätestens mit der Veröffentlichung des oben erwähnten Sammelbandes hat sich das Phänomen aber auch fest als Forschungsgegenstand in der Mathematikdidaktik etabliert. Hier wird es seitdem meist unter der Bezeichnung ‚Teacher Noticing‘, seltener auch unter dem Titel ‚Mathematics Teacher Noticing‘ diskutiert. Laut Sherin et al. (2011a) wird Forschung, die sich auf Teacher Noticing richtet, von Fragen angeleitet, die gewissermaßen als die ‚Urfragen‘ des Unterrichtens bezeichnet werden können: Wohin schauen Lehrerinnen und Lehrer? Was sehen sie dort? Und welchen Sinn geben sie dem, was sie dort sehen? (vgl. S. 3) Ganz konkret stellen Sherin et al. (2011a) für die Untersuchung des Phänomens folgende Forschungsfragen als besonders bedeutsam heraus: Ist Teacher Noticing erlernbar? Wie unterscheiden sich die Noticing-Fähigkeiten von angehenden und praktizierenden Lehrkräften? Sind diese Fähigkeiten themenspezifisch? Und mit Blick auf die Forschungspraxis selbst: Wie kann Forschung zu Teacher Noticing möglichst produktiv gestaltet werden?1 (vgl. S. 10–11) 1
Dindyal et al. (2021) stellen als Besonderheit des Teacher Noticing heraus, dass es ‚internaler Natur‘ ist (vgl. S. 6), dass es sich also um ein psychisches – aus der Perspektive der Beobachterin oder des Beobachters: um ein fremdpsychisches – Phänomen handelt. Die Forschung zum Teacher Noticing sieht sich deshalb mit dem Problem konfrontiert, dass auf ihren Forschungsgegenstand nur indirekt zugegriffen werden kann (vgl. Dindyal et al., 2021, S. 6 & Sherin et al., 2011b, S. 86). Es haben sich in der (mathematik-)didaktischen Forschung drei Methoden etabliert, mit denen auf dieses Problem reagiert wird: 1. Lehrkräfte beschreiben ihr Noticing, welches sie während des Unterrichts von anderen Lehrkräften vollziehen. 2. Lehrkräfte reflektieren ihr Noticing, welches sie in der Vergangenheit während ihres eigenen Unterrichts vollzogen haben. 3. Lehrkräfte werden während ihres eigenen Unterrichts
3.1 Zum Fremdverstehen im Diskurs zum ‚Teacher Noticing‘
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Konzeptualisierungen von Teacher Noticing Wie oben bereits erwähnt, werden nach Sherin et al. (2011a) unter ‚Teacher Noticing‘ diejenigen kognitiven Prozesse zusammengefasst, mit denen Lehrkräfte die ‚blooming, buzzing confusion of sensory data‘ handhaben, als die ihnen das Unterrichtsgeschehen erscheint. Es besteht in der mathematikdidaktischen Forschung jedoch keineswegs ein Konsens darüber, welche konkreten Prozesse hiermit eigentlich gemeint sind (vgl. König et al., 2022, S. 2). Sherin et al. (2011b) machen unter denjenigen Publikationen, die das Teacher Noticing in einzelne kognitive Teilprozesse der Lehrkraft zerlegen, folgende drei Klassen aus: 1. Das Verständnis von ‚Teacher Noticing‘ umfasst nur einen Prozess: das ‚attending‘/,perceiving‘ seitens der Lehrkraft. (Diesem Verständnis folgen z. B. Star & Strickland, 2008 und Star et al., 2011.) 2. Das Verständnis von ‚Teacher Noticing‘ umfasst zwei Teilprozesse: das ‚attending‘/‚perceiving‘ und ‚interpreting‘ durch die Lehrkraft. (Diesem Verständnis folgen z. B. Erickson, 2011; Goldsmith & Seago, 2011 und Sherin et al., 2011b.) 3. Das Verständnis von ‚Teacher Noticing‘ umfasst drei Teilprozesse: ‚attending‘/‚perceiving‘, ‚interpreting‘ und ‚deciding (how) to respond‘ der Lehrkraft. (Diesem Verständnis folgen z. B. Es, 2011; Jacobs et al., 2010 & 2011; König et al., 2014 und Mason, 2016.)2 (vgl. Sherin et al., 2011b, S. 80–81) Das Verständnis der Autorinnen und Autoren unterscheidet sich also in dem Sinne, dass sie unter Teacher Noticing entweder nur den Prozess des ‚Zuwendens‘/‚Wahrnehmens‘ (1.) oder die Teilprozesse ‚Zuwenden‘/‚Wahrnehmen‘ und ‚Interpretieren‘ (2.) oder sogar die Teilprozesse ‚Zuwenden‘/‚Wahrnehmen‘, ‚Interpretieren‘ und ‚Entscheiden‘/‚Entwerfen eines Handelns‘ (3.) zusammenfassen. Doch auch, wenn sich die Auffassungen der jeweiligen Forscherinnen und Forscher dahingehend unterscheiden, in wie viele kognitive Teilprozesse auf Seiten der Lehrkraft sich das Phänomen Teacher Noticing zerlegen lässt, stimmen beobachtet. Anhand beobachtbarer Aktivitäten seitens der Lehrkraft wird dann auf ihr Noticing geschlussfolgert (vgl. Dindyal et al., 2021, S. 7 & Sherin et al, 2011b, S. 81–82). Allen drei Ansätzen ist gemein, dass sie häufig durch Videoaufnahmen unterstützt werden: Sowohl durch Videos von ‚fremdem‘ Unterricht (für methodischen Ansatz 1 und 3) als auch durch Videos von ‚eigenem‘ Unterricht (für methodischen Ansatz 2). 2 Einen guten Überblick darüber, wie die empirische Forschung zu Teacher Noticing ihre Analyseeinheit abgrenzt, geben Stahnke et al. (2016). Sie werten 60 empirische Studien aus, deren Verständnis von Teacher Noticing einer der obigen drei Klassen zugeordnet werden kann. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass 78.3 % der Studien ihren Forschungsfokus auf den Teilprozess ‚interpreting‘, 63.3 % auf ‚attending‘/‚perceiving‘ und 53.3 % auf ‚deciding (how) to respond‘ legten (vgl. S. 5–6). 19 der 60 Studien legten ihren Fokus zudem auf ‚attending‘/‚perceiving‘ und ‚interpreting‘, 15 der 60 Studien auf alle drei Teilprozesse, also ‚attending‘/‚perceiving‘, ‚interpreting‘ und ‚deciding (how) to respond‘ (vgl. S. 5–6).
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Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen
sie doch alle dahingehend überein, dass sie das Phänomen ausschließlich in kognitive Teilprozesse der Lehrkraft zerlegen. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass sie Teacher Noticing aus einer kognitionspsychologischen Perspektive (vgl. Santagata et al., 2021, S. 121) betrachten, nämlich als einen – aus unterschiedlich vielen Teilprozessen bestehenden – psychischen/kognitiven Prozess einer Lehrkraft. Weitaus seltener wird Teacher Noticing in der mathematikdidaktischen Forschung neben einer kognitionspsychologischen Perspektive zusätzlich auch aus einer soziologisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive (vgl. Santagata et al., 2021, S. 121) untersucht3 . Aus einer solchen Perspektive geraten soziale und kulturelle Aspekte des Teacher Noticing in den Fokus, z. B. die Bedeutung von Artefakten oder auch soziale und kulturelle Normen, die das Teacher Noticing beeinflussen (vgl. Santagata et al., 2021, S. 121). Als Beispiele für die Betrachtung des Teacher Noticing aus soziologisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive sind die Publikationen von Louie (2018) und Dominguez (2019) zu nennen: Louie (2018) arbeitet kulturelle und ideologische Hindernisse heraus, mit denen sich eine Lehrerin in ihrem Noticing von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern konfrontiert sieht. Dominguez (2019) arbeitet den Begriff ‚reciprocal noticing‘ aus. Er betont damit, dass Teacher Noticing immer auch ein soziales Phänomen ist, da es nicht ohne Student Noticing zu denken ist. In der unterrichtlichen Praxis – so Dominguez – erwidern sich Teacher Noticing und Student Noticing stets gegenseitig; es kommt zu ‚reciprocal noticing‘.4 Die bisherigen Konzeptualisierungen von Teacher Noticing werden in der mathematikdidaktischen Forschung nicht unkritisch betrachtet. Scheiner (2016) merkt beispielsweise an: „[S]everal papers seem to be guided by intuitive frames, speaking about teacher noticing as though its meaning were self-evident 3
König et al. (2022) führten eine systematische Literaturrecherche von 182 JournalBeiträgen zum Thema ‚Teacher Noticing‘ durch. Sie kamen dabei u. a. zu dem Ergebnis, dass in 74 % der untersuchten Beiträge eine kognitionspsychologische Perspektive und in 24 % der Beiträge eine soziologisch-kulturwissenschaftliche Perspektive auf das Teacher Noticing eingenommen wird (vgl. S. 8). 4 Diese Reziprozität, genauer: die Reziprozität des Wahrnehmens, also das Wahrnehmen des Wahrnehmens und Wahrgenommenwerdens, beschreibt auch der Soziologe Niklas Luhmann (2002) und stellt sie als ein Grundelement von Unterricht heraus: „Schließlich wird üblicherweise eine Kommunikation nur dann als Erziehung angesehen, wenn sie in einem System der Interaktion unter Anwesenden stattfindet. […] Damit ist garantiert, daß die Erziehung nicht nur verbale Kommunikation ist, sondern zugleich immer auch im Modus der Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens abläuft. […] [D]as Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens sichert eine eigentümliche und eigentümlich evidente Art von Sozialität, die es ermöglicht, die explizite Kommunikation auf den Unterricht zu konzentrieren.“ (S. 56–57)
3.1 Zum Fremdverstehen im Diskurs zum ‚Teacher Noticing‘
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[…].“ (Scheiner, 2016, S. 227) Er stellt also heraus, dass viele Publikationen innerhalb eines ‚intuitiven Rahmens‘ vorgenommen zu werden scheinen und dass die Bedeutung von Teacher Noticing in ihnen als selbstverständlich vorausgesetzt werde. An anderer Stelle derselben Schrift kommt Scheiner zu dem Schluss, dass es in der mathematikdidaktischen Forschung zu Teacher Noticing bislang noch an einem tiefen theoretischen Verständnis des Phänomens fehle5 (vgl. Scheiner, 2016, S. 237). Den Bedarf nach einer theoretischen Durchdringung des Teacher Noticing formulieren neben Scheiner auch weitere Mathematikdidaktikerinnen und didaktiker: So merken König et al. (2022) an: „[…] [O]ur understanding of the cognitive processes underlying noticing is still limited […]“ (S. 15). Und auch Erickson (2011) versteht das Phänomen noch als größtenteils ungeklärt (vgl. S. 33). Er fordert – wie auch Dindyal et al. (2021) – eine Untersuchung des ‚How‘ des Teacher Noticing (vgl. Dindyal et al., 2021, S. 5 & Erickson, 2011, S. 33). Andere Forscherinnen und Forscher setzen es sich explizit zum Ziel, dieses ‚How‘ zu ergründen (vgl. Es, 2011, S. 138: „[capture] how teachers notice“ & Jacobs et al., 2011, S. 99: „interested in how […] teachers notice children’s mathematical thinking“). Es ließe sich vermuten, dass sie also beabsichtigen, das Phänomen Teacher Noticing einer grundlegenden theoretischen Klärung zuzuführen. Tatsächlich jedoch wenden sich diese Autorinnen und Autoren der Untersuchung des ‚How‘ des Teacher Noticing im Verlauf ihrer Publikation entweder gar nicht zu (vgl. Jacobs et al., 2011) oder aber, die ursprüngliche Fragestellung verschiebt sich im Verlauf der Publikation zu einer zwar ähnlich klingenden, aber dennoch inhaltlich verschiedenen Frage (vgl. Es (2011), die ihre ursprüngliche Frage ‚How do teachers notice?‘ (vgl. S. 138) im Verlauf ihrer Publikation zunächst zu ‚How do teachers analyze what they notice?‘ (vgl. S. 138) und später zu ‚How do they reason about what they notice?‘ (vgl. S. 148) abändert). Zusammenfassend lässt sich also sagen: Das Phänomen Teacher Noticing theoretisch zu fassen, d. h., die Antwort auf die Frage, wie sich dieser kognitive Prozess ganz konkret vollzieht und von welchen Faktoren dieser Vollzug abhängt, stellt noch immer ein Desiderat in der mathematikdidaktischen Forschung dar. Die Rolle des Fremdpsychischen im Teacher Noticing Zu Beginn dieses Exkurses zum Teacher Noticing wurde herausgestellt, dass die Beforschung des Phänomens u. a. durch die Frage motiviert wird ‚Wohin 5
Scheiners eigener Beitrag zu der von ihm geforderten Theoretisierung des Phänomens Teacher Noticing liegt in der Entwicklung eines nicht-linearen Modells, welches Teacher Noticing als ein zyklisches Zusammenspiel aus kulturell-historischen, körperlich-ökologischen und sozial-materiellen Faktoren beschreibt (vgl. Scheiner, 2021, S. 91).
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Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen
schauen Lehrerinnen und Lehrer (im Unterricht)?‘ (vgl. Sherin et al., 2011a, S. 3). Anhand eines Zitats von Ball wurde ferner veranschaulicht, wie viele verschiedene Aspekte des Unterrichtsgeschehens für das unterrichtliche Handeln der Lehrenden relevant sind und auf was alles sich ihr Teacher Noticing daher richten mag. Größtenteils handelte es sich dabei um Gedanken, Erlebnisse und Kenntnisse anderer Personen: ‚what a young person is thinking‘, ‘that a particular tasks interests a pupil’, ‚that a certain book fascinates him‘, ‘when students are engaged’, ‘when they are understanding’ und ‘what a child already knows’. Teacher Noticing richtet sich also in vielen Fällen auf Fremdpsychisches. Auch in zahlreichen anderen Publikationen zum Phänomen Teacher Noticing wird deutlich, dass der ‚Gegenstand‘, auf den sich das Teacher Noticing laut den Autorinnen und Autoren richtet, zumeist fremdpsychischer Natur ist: In der Mehrzahl der Publikationen wird er mit ‚children’s/students’ (mathematical) thinking‘ bezeichnet (vgl. z. B. Cai et al., 2022; Dindyal, 2021; Dyer & Sherin, 2016; Es, 2011; Es & Sherin, 2021; Goldsmith & Seago, 2011; Jacobs et al., 2010; Mason, 2016 & Santagata, 2011), seltener auch mit ‚children’s/students’ ideas‘ (vgl. z. B. Schifter, 2011), ‚children’s/students’ (mathematical) strategies‘ (vgl. z. B. Jacobs et al., 2011) oder ‚children’s/students’ learning‘ (vgl. z. B. Santagata, 2011). Es lässt sich also zusammenfassend feststellen: Teacher Noticing ist nach Ansicht der meisten Forscherinnen und Forscher dieses Gebiets auf Fremdpsychisches gerichtet, sodass das Erfassen des Fremdpsychischen jedenfalls einen Teilprozess des Teacher Noticing darstellt. Teacher Noticing und Fremdverstehen Einerseits gilt also, dass die theoretische Durchdringung des Phänomens des Teacher Noticing noch immer ein mathematikdidaktisches Forschungsdesiderat darstellt. Anderseits konnte gezeigt werden, dass das Erfassen des Fremdpsychischen einen Teilprozess des Teacher Noticing ausmacht. Ein erster Schritt in Richtung einer Theorie des Teacher Noticing könnte daher darin bestehen, diesen Teilprozess, also das Erfassen von Fremdpsychischem, theoretisch zu klären. Und genau an dieser Stelle zeigt sich, inwiefern die Untersuchung des Phänomens Teacher Noticing im Zusammenhang mit der Untersuchung des Phänomens des Fremdverstehens von Lehrkräften steht. Denn es ist ja eben das Erfassen fremder Bewusstseinserlebnisse, also das Erfassen des Fremdpsychischen, welches als ‚Fremdverstehen‘ bezeichnet wird. Das Fremdverstehen von Lehrkräften stellt also einen Teilprozess des Teacher Noticing dar und eine Klärung, wie sich dieses Fremdverstehen vollzieht, kann damit dazu beitragen, näher aufzuklären, wie sich
3.2 Zum Fremdverstehen im Diskurs zur ‚Diagnosekompetenz‘
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Teacher Noticing vollzieht. Mit anderen Worten: Eine Untersuchung des Fremdverstehens von Lehrkräften kann eine der Grundlagen für die Theoretisierung des Teacher Noticing bilden.
3.2
Zum Fremdverstehen im Diskurs zur ‚Diagnosekompetenz‘
Diagnosekompetenz in etablierten Kompetenzmodellen Im Jahr 1986 führt der US-amerikanische Bildungswissenschaftler Lee S. Shulman im Bereich des Lehrkräftewissens (‚teacher knowledge‘) eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Wissensfacetten ein, u. a. zwischen fachlichem Wissen (‚content knowledge‘ (‚CK‘)) und fachdidaktischem Wissen (‚pedagogical content knowledge‘ (‚PCK‘)) (vgl. Shulman, 1986, S. 9–10).6 Bis heute wird auch in der mathematikdidaktischen Forschung auf Shulmans Konzept der verschiedenen Wissensfacetten – und insbesondere auf das Konzept des PCK7 – zurückgegriffen, wenn die Voraussetzungen für professionelles Handeln von Lehrkräften erfasst werden sollen8 . Shulmans Konzeptualisierung – und auch hier: insbesondere das Konzept des PCK – stößt jedoch auch auf Kritik innerhalb der mathematikdidaktischen Forschung (vgl. Depaepe et al., 2013, S. 13 für 6
Shulman führt insgesamt sieben Wissensfacetten ein. Bei den weiteren fünf Facetten handelt es sich um: allgemein-didaktisches Wissen (‚general pedagogical knowledge‘), Lehrplanwissen (‚curriculum knowledge‘), Wissen um psychologische Belange der Lernenden (‚knowledge of learners and their characteristics‘), Wissen um Organisation und soziale Strukturierung von Bildung (‚knowledge of educational context‘) sowie dem gewissermaßen bildungsphilosophischen und ethischen Wissen um Bildungsziele, -werte und deren historische Einbettung (‚knowledge of educational ends, purposes, and values, and their philosophical and historical grounds‘) (vgl. Shulman, 1986, S. 14 & Shulman, 1987, S. 8, sowie Helsper, 2021, S. 86–87 für die deutschen Bezeichnungen der letzten vier Wissensfacetten). 7 Shulman (1986) definiert PCK wie folgt: „[T]he most useful forms of representation of those ideas, the most powerful analogies, illustrations, examples, explanations, and demonstrations – in a word, the ways of representing and formulating the subject that make it comprehensible to others. […] Pedagogical content knowledge also includes an understanding of what makes the learning of specific topics easy or difficult: the conceptions and preconceptions that students of different ages and backgrounds bring with them to the learning of those most frequently taught topics and lessons.“ (S. 9) 8 Ich enthalte mich an dieser Stelle dem Versuch, auf konkrete mathematikdidaktische Publikationen, die auf Shulmans Unterscheidung basieren, zu verweisen, da die Anzahl von Publikationen dieser Art derart hoch ist, dass jede Nennung von einer geringen Anzahl an Publikationen immer vielmehr eine Nichtnennung von einer hohen Anzahl an Publikationen darstellt.
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Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen
eine Ausführung zu Kritikpunkten am PCK-Konzept). Es überrascht daher nicht, dass bereits einige Rekonzeptualisierungen in der Mathematikdidaktik vorgestellt wurden (vgl. Depaepe et al., 2013, S. 13 für eine Ausführung verschiedener Rekonzeptualisierungen in der internationalen Mathematikdidaktik); als einflussreichste unter ihnen ist wohl das Konzept des ‚mathematical knowledge for teaching‘ (vgl. Ball et al., 2008) herauszustellen (vgl. Depaepe et al., 2013, S. 13). ‚Mathematical knowledge for teaching‘ ist als ein dem CK und PCK übergeordnetes Wissen angelegt, welches selbst wiederum sechs Facetten besitzt, unter ihnen: ‚knowledge of content and students‘ (KCS) (vgl. Ball et al., 2008, S. 401).9 Es ist nun genau diese Wissensfacette des ‚mathematical knowledge for teaching‘ – das KCS –, in welcher die Diagnosekompetenz10 von Lehrkräften verortet werden kann (vgl. Ostermann et al., 2015, S. 47). Wissen innerhalb dieser Facette beschreiben Ball et al. (2008) als „knowledge that combines knowing about students and knowing about mathematics“ (S. 401). Mit ‚KCS‘ wird also dasjenige Wissen von Lehrkräften bezeichnet, welches Wissen über Schülerinnen und Schüler (‚knowing about students‘) mit Wissen über Mathematik (‚knowing about mathematics‘) verbindet. Ziel dieser Verbindung ist es, Wissen über Denkprozesse von Schülerinnen und Schülern zu mathematischen Inhalten zu generieren (vgl. Depaepe et al., 2013, S. 13 & Ostermann et al., 2015, S. 47). Die Rolle des Fremdpsychischen in der Diagnosekompetenz Es gibt in der mathematikdidaktischen Literatur vielfältige Definitionen des Begriffs der Diagnosekompetenz. Mein Anliegen ist es hier weder, eine allgemeingültige Definition des Begriffs vorzuschlagen, noch, einen Überblick über die Vielzahl der verschiedenen Begriffsbestimmungen zu geben.11 Vielmehr möchte ich in diesem Abschnitt einen ganz konkreten Aspekt an verschiedenen Definitionen hervorheben. Denn ich möchte aufzeigen, dass bei vielen Definitionen der Begriffe Diagnosekompetenz oder Diagnostizieren auf ein Phänomen
9
Des Weiteren stellen Ball et al. (2008) die Unterkategorien ‚common content knowledge‘, ‚specialized content knowledge‘, ,knowledge of content and teaching‘, ,horizon content knowledge‘, ,knowledge of content and curriculum‘ heraus (vgl. S. 399–401). 10 Im Diskurs zur Diagnosekompetenz finden mitunter verschiedene Bezeichnungen Verwendung. So ist in deutschen Publikationen beispielsweise häufig auch von ‚diagnostischer Kompetenz‘, in internationalen Publikationen neben ‚diagnostic competence‘ mitunter auch von ‚assessment competence‘ die Rede. 11 Für Letzteres sei z. B. auf Busch et al., 2015, S. 317–319, Hoth et al., 2016, S. 43– 44, Moser Opitz, 2022, Ostermann et al., 2015, S. 46–50 und Streit et al., 2019, S. 39–40 verwiesen.
3.2 Zum Fremdverstehen im Diskurs zur ‚Diagnosekompetenz‘
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verwiesen wird, in welchem das Erfassen von Fremdpsychischem eine besondere Rolle spielt. Hoth et al. (2016) und Ostermann et al. (2015) verstehen unter ‚Diagnosekompetenz‘ beispielsweise u. a. die Fähigkeit von Lehrkräften, Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern zu erfassen (vgl. Hoth et al., S. 43 & Ostermann et al., S. 47). Busch et al. (2015), Streit et al. (2019) und Moser Opitz (2022) hingegen fassen unter den Begriff u. a. die Fähigkeit, Lernstände von Schülerinnen und Schülern zu identifizieren (vgl. Busch et al., S. 319; Moser Opitz, S. 213 & Streit et al., S. 39). Und Enenkiel et al. (2022) zählen zur Diagnosekompetenz wiederum u. a. die Fähigkeit, Lernschwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern zu erkennen (vgl. S. 68). Allen diesen Auffassungen ist also gemein, dass in ihnen das Diagnostizieren als eine Tätigkeit von Lehrkräften verstanden wird, in der diese auf verschiedene Aspekte des Lernens ihrer Schülerinnen und Schüler, und damit: auf Fremdpsychisches, gerichtet sind. In anderen Publikationen wird angemerkt, dass sich Lehrkräfte im Diagnostizieren u. a. auf das Denken oder Verstehen ihrer Schülerinnen und Schüler richten (vgl. z. B. Hoth et al., 2016, S. 50; Kron et al., 2022, S. 137 & WildgansLang et al., 2020, S. 242: ‚student understanding‘ oder Larrain & Kaiser, 2022, S. 41 & Leuders et al., 2022, S. 14: ‚student thinking‘). Wie schon beim Lernen handelt es sich aus Sicht von Lehrkräften auch beim Denken und Verstehen von Schülerinnen und Schülern um fremdpsychische Aktivitäten. Oft findet unter den Fähigkeiten, die unter dem Begriff der Diagnosekompetenz zusammengefasst werden, auch das Identifizieren von Fehlvorstellungen von Schülerinnen und Schülern besondere Erwähnung (vgl. z. B. Blömeke & Delaney, 2012, S. 226; Hoth et al., 2016, S. 41; Leuders et al., 2022, S. 18; Loibl et al., 2020, S. 2; Philipp & Gobeli-Egloff, 2022, S. 175 & Wildgans-Lang et al., 2020, S. 242). (Fehl-)Vorstellungen einer Person sind aus Sicht einer zweiten Person selbstverständlich fremdpsychischer Natur. D. h., wenn Lehrkräfte in ihrem Diagnostizieren auf Fehlvorstellungen ihrer Schülerinnen und Schüler gerichtet sind, kann dies auch damit umschrieben werden, dass sie beabsichtigen, Fremdpsychisches zu erfassen. Schließlich wird in einigen Publikationen auch darauf verwiesen, dass sich Lehrkräfte im Diagnostizieren u. a. auf Interesse, Emotion oder Motivation ihrer Lernenden richten (vgl. Herppich et al., 2018, S. 3; Hoth et al., 2016, S. 50; Leuders et al., 2022, S. 15 & Loibl et al., 2020, S. 2). Und auch diese drei Phänomene lassen sich im Bewusstsein von Schülerinnen und Schülern verorten. Neben solch direkten Hinweisen finden sich in einigen mathematikdidaktischen Publikationen zum Diagnostizieren bzw. zur Diagnosekompetenz auch indirektere Hinweise darauf, dass das Erfassen von Fremdpsychischem als ein
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Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen
Teilprozess des Diagnostizierens verstanden wird. Denn nicht selten, wenn in empirischen Forschungsbeiträgen Beispielitems der Datenerhebung, Auszüge aus dem Kodierleitfäden der Datenanalyse oder auch Teile des erhobenen Datensatzes vorgestellt werden, wird damit auf Gegenstände fremdpsychischer Natur verwiesen. Anhand einiger Beispiele sei dies kurz veranschaulicht: Streit et al. (2019) erheben in einer explorativen Studie beispielsweise, wie sich der Prozess des Diagnostizierens und des Entscheidens für ein unterrichtliches Anschlusshandeln bei Lehrnovizinnen und -novizen und Lehrexpertinnen und -experten des Faches Mathematik ausgestaltet. Sie konfrontieren ihre Probandinnen und Probanden mit Lernendendokumenten und -interviews und stellen anschließend folgende Frage: ‚Was können Sie aufgrund der Schülerdokumente und -interviews über die Denkprozesse und Vorstellungen der Kinder sagen?‘ (vgl. S. 47). Sie beschreiben dann an späterer Stelle derselben Publikation, dass in den Antworten der Lehrkräfte z. B. Aussagen über das Stellenwertverständnis von Schülerinnen und Schülern oder ihre Vorstellungen von der Division angestellt werden. Es verweisen also sowohl das Beispielitem der Datenerhebung (‚Denkprozesse und Vorstellungen von Kindern‘) als auch die Auszüge aus den erhobenen Daten (‚Stellenwertverständnis‘, ‚Vorstellungen von Division‘) auf fremdpsychische Gegenstände. Kron et al. (2022) hingegen untersuchen, welche Rolle das mathematikdidaktische Interesse von Lehramtsstudierenden beim Diagnostizieren im Mathematikunterricht spielt. Unter anderem führen Lehramtsstudierende hierfür simulierte Interviews mit Schülerinnen und Schülern und schätzen diese im Anschluss u. a. bezüglich des Stellenwert- und Bündelungsprinzips, des Vergleichs von Dezimalstellen, des Grundkonzepts der Addition und Subtraktion und des Grundkonzepts der Multiplikation und Division ein (vgl. S. 148). Als Antwortoptionen stehen ihnen dabei ‚Schülerin oder Schüler beherrscht‘ (‚student mastered‘), ‚Schülerin oder Schüler beherrscht nicht‘ (‚student did not master‘) oder ‚Diagnose nicht möglich‘ (‚diagnosis not possible‘) zur Auswahl (vgl. Kron et al., 2022, S. 148). Sieht man von der letzten Antwortoption (‚Diagnose nicht möglich‘) ab, sind Aussagen, die innerhalb dieser Antwortoptionen möglich sind – z. B. ‚Schülerin beherrscht Bündelungsprinzip.‘ oder ‚Schüler beherrscht Stellenwertprinzip nicht.‘ –, ausschließlich Aussagen über Fremdpsychisches. Denn wo sonst ließe sich das Beherrschen des Bündelungs- oder Stellenwertprinzips verorten, wenn nicht im Bewusstsein von Schülerinnen und Schülern? In einer Vielzahl von weiteren empirischen Erhebungen, von denen hier nicht jede weitere einzeln nachgezeichnet werden soll, weisen Auszüge aus den erhobenen Daten darauf hin, dass beim Diagnostizieren von Schülerinnen und Schülern durch Lehrkräfte im Mathematikunterricht Fremdpsychisches erfasst wird. Ich
3.2 Zum Fremdverstehen im Diskurs zur ‚Diagnosekompetenz‘
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möchte nun nur kurz einige dieser Auszüge aus Datensätzen anführen, um eine Idee davon zu vermitteln, wie vielfältig Aussagen über Fremdpsychisches mit Bezug zu mathematischen Inhalten ausfallen können: • „Lea does mental arithmetic and uses symbolic approach. She does not have to use an iconic or enactive solution […].“ (Hoth et al., 2016, S. 47) • „Schüler hat den funktionalen Zusammenhang nicht erkannt. Sch[üler] sieht keine Abhängigkeit zweier Größenbereiche voneinander.“ (Busch et al., 2015, S. 331) • „She does not understand that the ones and the tens of the same number are related and belong together. […] Doesn’t know that in the units column there must continue being only units, thus she makes the sum and puts a number of 2 digits in that space.“ (Larrain & Kaiser, 2022, S. 51) • „Da der Quotient in der falschen Lösung größer ist als der Dividend [sic] könnte dies darauf hinweisen, dass das Konzept der Division noch nicht gefestigt ist. Die Erklärung des Kindes gibt aber auch Anlass zur Vermutung, dass Aspekte des Dezimalsystems noch nicht hinreichend verstanden sind. Es könnte auch sein, dass das Prinzip des Multiplizierens mit Stufenzahlen übergeneralisiert und auf die Division übertragen wird.“ (Moser Opitz, 2022, S. 220) • „[…] dass das Kind in der Lage ist, Vergleiche anzustellen, da es den Stuhl mit der Butter vergleicht.“ (Philipp & Gobeli-Egloff, 2022, S. 186) In diesem Abschnitt konnte nun also auf zwei Wegen gezeigt werden, dass das Erfassen von Fremdpsychischem einen Teilprozess des Diagnostizierens darstellt: Erstens stellte sich heraus, dass in vielen Definitionen der Begriffe Diagnosekompetenz und Diagnostizieren darauf verwiesen wird, dass Lehrkräfte im Diagnostizieren auf das Bewusstseinserleben ihrer Schülerinnen und Schüler gerichtet sind. Und zweitens wurde ersichtlich, dass Beispielitems aus Datenerhebungen oder Auszüge aus Kodierleitfäden und Datensätzen häufig auf das Erfassen oder ‚Erfassthaben‘ von Fremdpsychischem hinweisen. Zur Rolle des Fremdpsychischen beim Diagnostizieren sei abschließend noch kurz bemerkt, dass sich in einigen wenigen Publikationen zum Diagnostizieren bzw. zur Diagnosekompetenz im Kontext des Mathematikunterrichts auch Verweise darauf finden lassen, dass der Zugriff auf fremde Bewusstseinserlebnisse nicht auf direktem Wege möglich ist. Philipp & Gobeli-Egloff (2022) beispielsweise deuten dies in ihrem Beitrag an, indem sie die Bedeutung von ‚schriftlichen Produkten‘ (vgl. S. 176) oder auch ‚Arbeitsprodukten von Schülerinnen und Schülern‘ (vgl. S. 181) für das Diagnostizieren einer Lehrkraft betonen. Solche
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Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen
Produkte können nach Schütz’ Terminologie als ‚Artefakte‘ bezeichnet werden, also als ‚Gegenstände der äußeren Welt‘, welche auf ihr ‚Produziert-Worden-Sein‘ durch Schülerinnen oder Schüler zurückverweisen. In genau dieser Verweisungsfunktion können sie Lehrkräften einen indirekten Zugang zum Fremdpsychischen von Schülerinnen oder Schülern verschaffen, und zwar, indem sie als Anzeichen für ihr Bewusstseinserleben gedeutet werden. Auch Kron et al. (2022) verweisen darauf, dass ein Zugang zum Bewusstseinserleben von Schülerinnen und Schülern nur auf indirektem Wege möglich ist: Sie stellen heraus, dass ein Diagnostizieren des mathematischen Verständnisses von Schülerinnen und Schülern nur mithilfe von ‚evidence‘ (vgl. S. 137), oder sogar: ‚reliable evidence‘ (vgl. S. 139), vollzogen werden kann. Sie weisen also darauf hin, dass das Erfassen von Fremdpsychischem immer gewisser ‚äußerer‘ Anhaltspunkte bedarf, welche die Diagnose fundieren und insofern als Anzeichen für das Verständnis der Schülerinnen und Schüler dienen. Und schließlich assoziieren Heitzmann et al. (2019) das Diagnostizieren mit der Suche nach Gründen und Formen von Phänomenen (‚causes and forms of phenomena‘ (vgl. S. 4)). Sie schreiben etwa: „[…] [C]auses and forms [are] often not directly observable; they are latent or hidden and need to be identified through observable cues and by drawing inferences“ (Heitzmann et al., 2019, S. 3). Sie explizieren also erstens die Problemstellung, dass der Zugang zu Fremdpsychischem oft nicht auf direktem Wege möglich ist. Sie stellen zweitens heraus, dass ein solcher Zugang nur über Anzeichen (‚cues‘) möglich ist und betonen drittens sogar, dass es sich bei diesen Anzeichen um Gegenstände oder Sachverhalte handeln muss, die der Wahrnehmung zugänglich sind (‚observable cues‘). Theoretisierungen des Diagnoseprozesses Im mathematikdidaktischen Diskurs zum Diagnostizieren wird an mehreren Stellen das Desiderat formuliert, die Diagnosekompetenz und auch den Prozess des Diagnostizierens weiter theoretisch zu klären (vgl. z. B. Busch et al., 2015, S. 318 & Philipp & Gobeli-Egloff, 2022, S. 179 für das Desiderat der theoretischen Klärung von Diagnosekompetenz und z. B. Heitzmann et al., 2019, S. 8; Loibl et al., 2020, S. 8 & Moser Opitz, 2022, S. 217 für das Desiderat der theoretischen Klärung des Diagnoseprozesses). Der Prozess des Diagnostizierens wird mitunter als „nicht ausreichend untersucht und verstanden“ (Sommerhoff et al., 2022, S. 2) oder „unexplained and […] usually not investigated“ (Kron et al., 2022, S. 139) bezeichnet. Loibl et al. (2020) sprechen bezüglich des Prozesses von einer ‚theoretischen Lücke‘ („theoretical gap“ (S. 2)); Wildgans-Lang et al. (2020) fordern: „As a more general challenge, we need further research to better understand diagnostic processes“ (S. 252).
3.2 Zum Fremdverstehen im Diskurs zur ‚Diagnosekompetenz‘
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Gegenwärtig werden in der mathematikdidaktischen Forschungsliteratur vornehmlich drei theoretische Modelle diskutiert, die den diagnostischen Prozess und dabei u. a. auch die kognitiven Prozesse detaillierter beschreiben, die Lehrkräfte während des Diagnostizierens vollziehen. Es handelt sich dabei um die Modelle NeDiKo (vgl. Herppich et al., 2018), DiaCoM (vgl. Loibl et al., 2020) und COSIMA (vgl. Heitzmann et al., 2019). Allen dieser Modelle ist gemein, dass sie eine bestimmte Anzahl an Schritten ausformulieren, die eine Lehrkraft beim Prozess des Diagnostizierens vollzieht.12 Diese Schritte werden in den Modellen benannt sowie in den zugehörigen Ausführungen kurz erläutert und anhand von Beispielen veranschaulicht. Was jedoch in diesen Ausführungen offen bleibt, ist, wie sich der Vollzug der einzelnen Schritte ganz konkret ausgestaltet. So bleiben beispielsweise die in meinen Augen zentralen kognitiven Prozesse ‚processing of given information about students‘ (Schritt 2 im NeDiKo-Modell), ‚perceiving‘ und ‚interpreting‘ (Schritt 1 und 2 im DiaCoM-Modell) und ‚generating hypotheses (about students)‘ (Schritt 3 im COSIMA-Modell) insofern weiterhin ungeklärt, als nicht untersucht wird, wie sie sich ganz konkret ausgestalten. Bei genau diesen Prozessen spielt nun aber das Erfassen von Fremdpsychischem eine große Rolle. D. h., wenn man auf der Suche nach einer theoretischen Klärung eben dieses Teilprozesses des Diagnostizierens ist, so wird man also auch in den genannten Modellen und zugehörigen Ausführungen nicht fündig. Diagnostizieren und Fremdverstehen Es zeigt sich also, dass die theoretische Durchdringung der kognitiven Prozesse von Lehrkräften beim Diagnostizieren weiterhin ein Desiderat der mathematikdidaktischen Forschung darstellt. Und es zeigte sich auch, dass das Erfassen von Fremdpsychischem einen zentralen Teilprozess im Diagnostizieren darstellt. Ein möglicher Ansatz, um die theoretische Klärung der kognitiven Prozesse voranzutreiben, die beim Diagnostizieren von Lehrkräften vollzogen werden, bestünde folglich darin, diesen Teilprozess, also das Erfassen einer Lehrkraft von Fremdpsychischem, theoretisch zu klären. Es ist nun genau dieser Beitrag, also die 12
Im NeDiKo-Modell lauten diese Schritte: 1. Setting goal for assessment, 2. Processing given information about students, 3. Deciding whether additional information is needed, 4. Deciding whether hypotheses is needed, 5. Forming hypotheses, 6. Collecting information, 7. Deciding whether explicit approach is needed, 8. Selecting methods, collecting and analysing data, 9. Arriving at judgement (vgl. Herppich et al., 2018, S. 7–8). Im DiaCoM-Modell lauten sie: 1. Perceiving, 2. Interpreting, 3. Decision-Making (vgl. Loibl et al., 2020, S. 6). Die Schritte im COSIMA-Modell lauten (in Anlehnung an Fischer et al., 2014): 1. Identifying problem, 2. Questioning, 3. Generating hypothesis (about student), 4. Constructing artefacts, 5. Generating evidence, 6. Evaluating evidence, 7. Drawing conclusions, 8. Communication the process/results (vgl. Heitzmann et al., 2019, S. 5).
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Das Fremdverstehen in mathematikdidaktischen Diskursen
theoretische Klärung des Erfassens von Fremdpsychischem durch eine Lehrkraft, den eine Untersuchung des Fremdverstehens von Lehrkräften leisten kann. Und so kann – wie es schon beim Teacher Noticing der Fall war – die Untersuchung des Fremdverstehens von Lehrkräften eine der Grundlagen für die theoretische Durchdringung der kognitiven Prozesse von Lehrkräften beim Diagnostizieren bilden.
Teil II Empirie
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Das Forschungsziel
Ziel dieser Forschungsarbeit ist es, Fremdverstehen im Mathematikunterricht theoretisch zu beschreiben und empirisch zu rekonstruieren. Genauer: Ich möchte Fremdverstehen im Mathematikunterricht untersuchen, in welchem Mathematiklehrkräfte (ego) das Erleben einer Schülerin oder eines Schülers (alter ego) erfassen. Die Frage, die der vorliegenden Forschung zugrunde liegt, kann also wie folgt formuliert werden: Wie gestaltet sich das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht aus, in welchem diese auf das Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler gerichtet sind?
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, um also zu Aussagen über das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht im Allgemeinen zu gelangen, werde ich zunächst empirisch ansetzen: Ich werde das Fremdverstehen von spezifischen Lehrkräften untersuchen, welches diese im Mathematikunterricht vollziehen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werde ich dann theoretisch verallgemeinern. In Abschnitt 2.7 konnte im Rahmen der Auseinandersetzung mit Schütz’ Theorie des Fremdverstehens gezeigt werden, dass egos Fremdverstehen auf seinen eigenen tatsächlichen oder potentiellen Erlebnissen basiert, d. h., auf Erlebnissen, die es selbst vollzogen hat oder die es selbst vollziehen könnte. Vor diesem theoretischen Hintergrund ergibt sich für das Fremdverstehen, welches ich im Rahmen meines Forschungsvorhabens zu untersuchen beabsichtige, dass es auf tatsächlichen oder potentiellen eigenen Erlebnissen der untersuchten Mathematiklehrkräfte basiert. Und die Beantwortung der obigen Forschungsfrage setzt damit voraus, dass ich mir einen Zugang zu diesen Erlebnissen verschaffe. Denn nur dann, wenn ich einen methodischen Zugang zu den tatsächlichen oder potentiellen Erlebnissen der Lehrkräfte habe, vermag ich ihr Fremdverstehen überhaupt © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C.-S. Günther, Das Eigene und das Fremde, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_4
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Das Forschungsziel
erst zu analysieren und etwa festzustellen, ob und inwiefern sie sich selbst an die Stelle einer Schülerin oder eines Schülers setzen und ihre eigenen tatsächlichen oder potentiellen Erlebnisse mit denen der Schülerin oder des Schülers identifizieren. Für die Umsetzung meines Forschungsvorhabens bedeutet dies, dass letztlich zwei empirische Untersuchungsschritte notwendig sind: In einem ersten Untersuchungsschritt müssen die Erlebnisse und Erlebensstrukturen der untersuchten Lehrkräfte rekonstruiert werden, sodass dann – auf der Grundlage der Ergebnisse der ersten Untersuchung – in einem zweiten Untersuchungsschritt eine Analyse des Fremdverstehens dieser Lehrkräfte erfolgen kann. Es ist dieser ‚empirische Zweischritt‘, durch welchen der nun folgende Teil der Arbeit strukturiert ist: Zunächst soll hier die erste der beiden Untersuchungen abgehandelt werden (Kapitel 5). Diese Abhandlung wird zu einer Darstellung der mathematikbezogenen Erlebnisse – oder auch: der ‚mathematikbezogenen Lebensgeschichte‘ – der untersuchten Lehrkräfte führen. Im Anschluss daran soll dann die zweite Untersuchung vorgestellt werden (Kapitel 6), welche zu einer Rekonstruktion des Fremdverstehens der untersuchten Lehrkräfte in konkreten Unterrichtssituationen führen wird.
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Die erste empirische Untersuchung: Mathematikbezogene Lebensgeschichten von Mathematiklehrkräften
Bei dem Versuch, Erlebnisse von Mathematiklehrkräften methodisch zugänglich zu machen, stehe ich vor dem methodologischen Problem, wie solch ein methodischer Zugang aussehen kann. Dass ich diese methodologische Fragestellung als ‚methodologisches Problem‘ bezeichne, begründet sich auf zweifachem Wege: Erstens kann eine Methode meines Erachtens nur dann als Antwort auf diese Fragestellung gelten, wenn sie mich als wissenschaftliche Beobachterin gewissermaßen zu einer Reise in der Zeit befähigt. Zum einen suche ich nämlich nach einem Zugang zu tatsächlichen Erlebnissen von Mathematiklehrkräften, also Erlebnissen, die bereits vollzogen wurden. Diese Erlebnisse tragen den ‚Zeitcharakter der Vergangenheit‘ (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 73). Zum anderen möchte ich mir aber auch Zugang zu potentiellen Erlebnissen von Mathematiklehrkräften verschaffen, also Erlebnissen, die vollzogen werden könnten, d. h., dass sie entweder noch nicht vollzogen sind, oder aber auch, dass sie gar nicht vollzogen werden, sondern nur vollziehbar wären. Erlebnisse dieser Form sind mit dem ‚Zeitcharakter der Zukunft‘ (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 73) gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund dieser Anforderungen schließt sich für mein Forschungsvorhaben eine in der qualitativen Sozialforschung sehr etablierte Methode aus, nämlich die Methode der teilnehmenden Beobachtung. Ziel einer teilnehmenden Beobachtung ist es, an einer „Alltagspraxis […] teilzunehmen und mit ihr vertraut zu werden, um sie in ihren alltäglichen Vollzügen beobachten zu können“ (Lüders, 2017, S. 384–385). Das bedeutet: Im besten Fall wäre es mir mithilfe einer teilnehmenden Beobachtung möglich, das alltägliche Erleben der untersuchten Mathematiklehrkräfte – also: den gegenwärtigen Erlebensvollzug – erfassen zu können. Es wäre mir ferner vielleicht auch noch möglich, Strukturhypothesen über das Erleben der Lehrkräfte zu generieren und hieraus auf Erlebnisse zu schließen, die sie der Möglichkeit nach vollziehen könnten. Wozu © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C.-S. Günther, Das Eigene und das Fremde, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_5
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Die erste empirische Untersuchung …
ich jedoch nur zufällig Zugang bekäme, wären Erlebnisse, die in der Vergangenheit liegen, konkreter: in der Vergangenheit vor dem Beobachtungszeitraum. Ich bekäme nämlich nur dann einen Zugang zu ihnen, wenn sich die untersuchten Lehrkräfte in ihren alltäglichen Lebensvollzügen dazu entschließen würden, über ihr vergangenes Erleben zu sprechen. Zweitens geht Schütz in seiner Theorie des Fremdverstehens davon aus, dass die Erlebnisse eines alter ego für ego wesentlich unzugänglich sind. Seine gesamten Untersuchungen des Phänomens Fremdverstehen zielen ja gewissermaßen darauf ab, aufzuzeigen, wie ego dieser Herausforderung begegnet, also wie ego alltäglich versucht, sich Zugang zu Erlebnissen alter egos zu verschaffen, obwohl ihm diese unzugänglich sind. Meines Erachtens zeigt sich hier eine Parallelität zwischen diesem Versuch von ego und meiner methodologischen Fragestellung. So ging letzterer doch voraus, dass ich (ego) mir einen Zugang zu tatsächlichen und potentiellen Erlebnissen von Mathematiklehrkräften (alter ego) verschaffen, dass ich also selbst ebenfalls ein Fremdverstehen dieser Mathematiklehrkräfte vollziehen möchte. Für dieses Fremdverstehen gilt nun selbstverständlich all das in gleicher Weise, was für das Fremdverstehen im Allgemeinen gilt: Wenn ego die Erlebnisse von alter ego wesentlich unzugänglich sind, dann sind auch mir, der wissenschaftlichen Beobachterin, die tatsächlichen und potentiellen Erlebnisse der Mathematiklehrkräfte wesentlich unzugänglich. Während Schütz in seiner theoretischen Betrachtung des Fremdverstehens nun aufzeigen kann, wie es ego dennoch gelingt, Fremdverstehen im alltäglichen Leben zu vollziehen, weisen zahlreiche seiner Überlegungen darauf hin, dass sich dieses Alltagsvorgehen nicht für ein Fremdverstehen im wissenschaftlichen Kontext eignet.1 Vielmehr bedarf es für das Fremdverstehen im wissenschaftlichen Kontext eines methodisch kontrollierten und intersubjektiv kontrollierbaren Vorgehens. Es kann also zusammenfassend festgehalten werden, dass eine Methode folgende Anforderungen erfüllen muss, wenn sie das obige methodologische Problem lösen soll: Sie muss einerseits einen methodischen Zugang zu tatsächlichen – also vergangenen – und möglichen Erlebnissen der untersuchten Lehrkräfte verschaffen. Und sie muss andererseits methodisch kontrolliert erfolgen sowie intersubjektiv kontrollierbar sein. Einen Fall für eine Methode – oder vielmehr: 1
Schütz‘ Theorie des Fremdverstehens ist sowieso von deskriptivem und nicht von normativem Charakter, d. h., Schütz beschreibt den Prozess des Fremdverstehens; er schreibt insbesondere also nicht vor, wie der Prozess ablaufen sollte. Jeder Rezipientin oder jedem Rezipienten von Schütz‘ Theorie ist es natürlich dennoch möglich, Schütz‘ Beschreibungen normativ zu wenden, d. h., aus ihnen ‚Gelingensbedingungen‘ für Fremdverstehen zu formulieren.
5.1 Zur Erhebungsmethode: Das biographisch-narrative Interview
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einen Methodenkomplex –, der genau diesen Anforderungen gerecht werden kann, möchte ich in den folgenden Abschnitten vorstellen. Hierbei handelt es sich um das biographisch-narrative Interview (vgl. Schütze, 1976, 1977 & 1983), einer Methode zur Datenerhebung (Abschnitt 5.1), und um die rekonstruktive Fallanalyse (vgl. Rosenthal, 1987, S. 143–244 & 1995, S. 215–226), einer Methode zur Datenanalyse (Abschnitt 5.3).
5.1
Zur Erhebungsmethode: Das biographisch-narrative Interview
Die Durchführung eines biographisch-narrativen Interviews, wie es von Fritz Schütze entwickelt wurde, zielt darauf ab, autobiographische Stegreiferzählungen ‚hervorzulocken‘ und aufrechtzuerhalten (vgl. Schütze, 1983, S. 285). D. h., in biographisch-narrativen Interviews werden Personen dazu angeregt, aus der Situation heraus ihre Lebensgeschichte2 oder von einer bestimmten Phase bzw. von einem bestimmten Bereich ihres Lebens zu erzählen (vgl. Rosenthal, 1995, S. 187). Dass solche längeren Erzählungen gegenüber einer Person, die „selbst nicht in die zu berichtenden Ereigniszusammenhänge verwickelt war“ (Schütze, 1976, S. 224), auf spontane Weise überhaupt gelingen, führt Schütze auf Mechanismen zurück, die er als ‚Zugzwänge des Erzählens‘ bezeichnet (vgl. Schütze, 1976, S. 225). Er unterscheidet innerhalb dieser Zugzwänge zwischen dem Gestaltschließungs-, dem Kondensierungs- und dem Detaillierungszwang (vgl. Schütze, 1976, S. 224): Mit Gestaltschließungszwang bezeichnet Schütze den ‚Zwang‘, eine Erzählung so vornehmen zu müssen, dass diese „vollständig, verständlich und ausgewogen“ (Schütze, 1976, S. 224) ist. Auf diese Weise bewirkt die erzählende Person, dass 2
In der Primärliteratur zum biographisch-narrativen Interview (vgl. Schütze, 1977 & 1983) und zur rekonstruktiven Fallanalyse (vgl. Rosenthal, 1987, S. 143–244 & 1995, S. 215–226) stellt der Begriff der Lebensgeschichte einen ganz zentralen Begriff dar. Es wird sich in Abschnitt 5.3 dieser Arbeit noch zeigen, dass Rosenthal diesen Begriff in ihrer Theorie zur Gestalt und Struktur von Erzählungen der eigenen Lebensgeschichte weiter ausschärft und zwischen ‚erlebter Lebensgeschichte‘ und ‚erzählter Lebensgeschichte‘ unterscheidet (vgl. Rosenthal, 1995). An dieser Stelle sei bereits kurz erwähnt, dass unter der erlebten Lebensgeschichte eines Menschen die Gesamtheit aller vergangenen Erlebnisse dieses Menschen zu verstehen ist, unter erzählter Lebensgeschichte die Gesamtheit der in der Erzählung angeführten vergangenen Erlebnisse dieses Menschen. D. h., wenn bisher in dieser Arbeit – in Schütz‘ Terminologie – von ‚tatsächlichen Erlebnissen‘ eines Menschen die Rede war, kann die Gesamtheit dieser tatsächlichen Erlebnisse fortan – in Rosenthals Terminologie – als ‚erlebte Lebensgeschichte‘ bezeichnet werden.
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Die erste empirische Untersuchung …
auch eine fremde, ‚nicht in die zu berichtenden Ereigniszusammenhänge verwickelte‘ Person die Erzählung verstehen kann (vgl. Schütze, 1976, S. 224). Der Gestaltschließungszwang zeigt sich beispielsweise darin, dass eine erzählende Person jede begonnene Erzählung meist auch zu Ende führt, oder darin, dass sie versucht, alle für das Verständnis notwendigen Informationen bereitzustellen (vgl. Rosenthal & Loch, 2002, S. 4). Der Kondensierungszwang ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen Erlebens- und Erzählzeit (vgl. Rosenthal & Loch, 2002, S. 4). In den allermeisten Fällen steht zur Erzählung eines Erlebnisses nämlich weniger Zeit zur Verfügung, als das Erlebnis selbst in Anspruch nahm. Eine erzählende Person muss ihre Erzählung also auf die wirklich relevanten „Ereignisknotenpunkte“ (Schütz, 1976, S. 225) reduzieren. Diese Ereignisknotenpunkte erlauben Rückschlüsse auf das Relevanzsystem der erzählenden Person (vgl. Rosenthal & Loch, 2002, S. 4), denn sie lassen erkennen, was ihr relevant erscheint und was nicht. Dem Kondensierungszwang steht der Detaillierungszwang gegenüber. Er führt dazu, dass die ‚kausalen und motivationellen Übergänge‘ (vgl. Schütze, 1976, S. 4) zwischen bestimmten Ereignisknotenpunkten zum besseren Verständnis der Erzählung detaillierter ausgeführt werden. Der Detaillierungszwang zeigt sich dann, wenn eine erzählende Person in ihrer Erzählung auf Einzelheiten eingeht, die es für das Verständnis benötigt. Typische Formulierungen, die auf das ‚Wirken‘ des Detaillierungszwangs hinweisen, sind ‚Dazu muss ich noch kurz erklären, dass …‘ oder ‚Hier muss man jetzt aber wissen, dass …‘. Ich möchte an dieser Stelle auf weitere Ausführungen zur Methodologie des narrativen bzw. biographisch-narrativen Interviews verzichten und stattdessen auf einige der zahlreichen Publikationen hierzu verweisen: Fischer-Rosenthal & Rosenthal (1997, S. 139–147), Kraimer (1983), Küsters (2009 & 2014), Rosenthal (1995, S. 186–207; 2014, S. 512–514 & 2015, S. 163–188) sowie Schütze (1977 & 1983). Worauf ich jedoch näher eingehen möchte, ist das Vorgehen bei der Durchführung eines biographisch-narrativen Interviews. Ich möchte dieses Vorgehen am Beispiel der biographisch-narrativen Interviews veranschaulichen, die ich im Rahmen dieser Arbeit selbst erhoben habe. In diesen bat ich Mathematiklehrkräfte um die Erzählung ihrer Lebensgeschichte mit Fokus auf den Bereich ‚Mathematik‘, also um die Erzählung ihrer ‚mathematikbezogenen Lebensgeschichte‘. Dass ich die untersuchten Personen nicht um die Erzählung ihrer gesamten, sondern ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte bat, basierte zum einen auf der Annahme, dass es vor allem mathematikbezogene Erlebnisse sein könnten, die das Fremdverstehen einer Mathematiklehrkraft im Mathematikunterricht beeinflussen. D. h., ich erhoffte mir, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, an Erlebnisse der Mathematiklehrkräfte zu gelangen, die für meine Untersuchung relevant sind. Meine Entscheidung basierte aber zum
5.1 Zur Erhebungsmethode: Das biographisch-narrative Interview
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anderen auch auf der Vermutung, dass die Erzählung einer bereichsbezogenen Lebensgeschichte eine geringere Hürde darstellen könnte als die der gesamten Lebensgeschichte. Obwohl mir natürlich klar ist, dass sich einige Erzählthemen durch den Mathematikbezug ausschließen, bin ich dennoch der Überzeugung, dass diese ‚Eingrenzung‘ vor allem erzählgenerierend wirkt, da die untersuchten Personen gewissermaßen ‚einen roten Faden‘ haben, entlang dessen sie ihre Erzählung vornehmen können. Im Übrigen wird der Begriff ‚mathematikbezogen‘ von mir in einem eher weiteren Sinne verstanden. Das bedeutet, als ‚mathematikbezogen‘ gelten meines Erachtens beispielsweise auch solche Erlebnisse, die keinen direkten Bezug zur Mathematik, aber zur Beschäftigung mit oder zum Lernen von Mathematik aufweisen, also z. B. zum Mathematikunterricht. In den Interviews zeigte sich, dass die untersuchten Personen ein ähnlich weites Begriffsverständnis haben, keine von ihnen erzählte ausschließlich von Erlebnissen mit direktem Bezug zur Mathematik. Eher im Gegenteil: Die untersuchten Personen erzählten meistens von ihren Erlebnissen mit der Beschäftigung mit Mathematik.
5.1.1
Zum Vorgehen in der Durchführung biographisch-narrativer Interviews
Das Vorgehen meiner Durchführung von biographisch-narrativen Interviews orientiert sich an Überlegungen und Erfahrungsberichten zu dieser Interviewform von Küsters (2009 & 2014), Rosenthal (1995) und Schütze (1983). Gegenüber dem Vorgehen in diesen Publikationen weist mein Vorgehen in der Interviewführung neben vielen Gemeinsamkeiten auch einige Besonderheiten auf, da es – wie bereits erwähnt – nicht auf die Erhebung der gesamten, sondern der mathematikbezogenen Lebensgeschichte abzielte. Um genau diese Besonderheiten sichtbar zu machen und so die Transparenz meiner Datenerhebung zu erhöhen, möchte ich nachfolgend das speziell für mein Forschungsvorhaben konzipierte Vorgehen für die Durchführung von biographisch-narrativen Interviews schildern: Das biographisch-narrative Interview beginnt mit einem kurzen Vorgespräch. In diesem Vorgespräch spreche ich der interviewten Person zunächst meinen Dank für ihre Bereitschaft aus, ein Interview über ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte zu führen, und sichere ihr die vertrauliche Behandlung ihrer Daten zu. Anschließend informiere ich die interviewte Person über Besonderheiten in der Interviewführung, also darüber, dass ich sie anfangs um eine freie Erzählung bitten werde, die ich durch keinerlei Nachfragen unterbrechen werde. Ich kündige an, dass ich mir während ihrer Erzählung jedoch umfangreiche Notizen machen
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Die erste empirische Untersuchung …
werde, sodass ich mich im Anschluss an die Erzählung an meine Nachfragen erinnern kann. Am Ende des Vorgespräches starte ich, selbstverständlich nach vorheriger Ankündigung, die Audioaufnahme des Interviews. Es folgt die Erzählaufforderung, in der ich die interviewte Person um die Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte bitte. Die konkrete Erzählaufforderung meiner Interviews lautet wie folgt: Ich möchte heute von deiner mathematikbezogenen Lebensgeschichte erfahren. Ich möchte dich bitten, mir so ausführlich wie möglich von deinem ganz persönlichen mathematikbezogenen Erleben zu erzählen. Dabei interessieren mich Erlebnisse aus allen Lebensbereichen, also z. B. aus der Schule, Universität, Freizeit oder mit Freunden und Familie. Ich halte die Erzählaufforderung absichtlich recht allgemein, um zu verhindern, dass sie die Erzählung zu stark vorstrukturiert. Der Erzählaufforderung schließt sich – evtl. nach einer kurzen Absicherung seitens der interviewten Person, ob sie die Aufforderung richtig verstanden habe – die Eingangserzählung an. Diese Erzählung gilt es, unter keinen Umständen zu unterbrechen. Vielmehr wird der interviewten Person vollständig die „Regie bei der Gestaltung der Erzählung […] überlassen“ (Rosenthal, 1995, S. 189). So soll ihr „Raum zur Selbstgestaltung der Präsentation ihrer […] [Lebensgeschichte, CSG] und bei der Entwicklung ihrer Perspektive auf […] [ihre Lebensgeschichte, CSG]“ (vgl. Rosenthal & Loch, 2002, S. 1) gegeben werden. Aufkommende Fragen, z. B. bei Abschneidungen und Raffungen, die die erzählende Person in der Erzählung vornimmt, bei vermeintlich unwichtigen Informationen, die sie weglässt, oder bei mangelnder Plausibilisierung oder abstrahierender Vagheit in ihrer Erzählung (vgl. Schütze, 1983, S. 285), notiere ich erzählchronologisch, um diese Fragen im Anschluss an die Eingangserzählung auch erzählchronologisch stellen zu können. Den Erzählfluss der Eingangserzählung versuche ich durch Zustimmungs- bzw. Verständnisbekundungen (z. B. ein bejahendes ‚mmh‘), Blickkontakt und andere leibliche Aufmerksamkeitsbekundungen anzuregen und aufrechtzuerhalten (vgl. Rosenthal, 2014, S. 513). Das Ende der Eingangserzählung muss durch die erzählende Person selbst und in Form einer unmissverständlichen Erzählkoda (z. B. ‚Gut das wars.‘ oder ‚Mehr hab ich nicht zu erzählen.‘) eingeleitet werden (vgl. Schütze, 1983, S. 285). Erst dann endet die Eingangserzählung. Im anschließenden Nachfrageteil stelle ich zunächst immanente Nachfragen, d. h., ich stelle solche Fragen, die sich aus bzw. zu der konkreten Eingangserzählung ergeben haben. Ziel dieser immanenten Nachfragen ist es, die Eingangserzählung besser zu verstehen. Die Nachfragen werden gemäß dem Auftreten ihres zugrundeliegenden Themas in der Chronologie der Erzählung gestellt (vgl. Küsters, 2009, S. 62). Dabei versuche ich, mit meinen Nachfragen erneut
5.1 Zur Erhebungsmethode: Das biographisch-narrative Interview
69
eine narrative ‚Wirkung‘ auf die interviewte Person zu entfalten (vgl. Schütze, 1983, S. 285). Hierfür stelle ich zunächst den status quo ante im Erzählverlauf durch möglichst wortwörtliches Zitieren der entsprechenden Erzählsequenz her (vgl. Schütze, 1983, S. 285) und formuliere anschließend eine erzählgenerierende Frage (z. B. ‚Wie ging es dann weiter?‘, ‚Kannst du von diesem Punkt an noch einmal erzählen?‘, ‚Kannst du hierüber noch etwas mehr erzählen?‘, ‚Wie kam es dazu?‘ etc.). Um meinen Einfluss auf die Erzählung so gering wie möglich zu halten, achte ich darauf, den Text der entsprechenden Erzählsequenz nicht in eigene Worte oder Fachsprache umzuformulieren, sondern ihn gemäß dem originalen Wortlaut zu zitieren (vgl. Küsters, 2009, S. 59). An die immanenten Nachfragen schließen sich exmanente Nachfragen an, also erzählexterne Nachfragen, die vorrangig meinem Forschungsinteresse und nicht der Eingangserzählung entstammen. Die interviewte Person wird hier als ‚Expertin und Theoretikerin ihrer selbst‘ (vgl. Schütze, 1983, S. 285) befragt. Im Falle meiner Untersuchung versuche ich, durch meine exmanenten Nachfragen beispielsweise zu Vergleichen (‚Siehst du Gemeinsamkeiten zwischen [Erlebnis 1] und [Erlebnis 2] bzw. zwischen [Erlebnis 1] und anderen Erlebnissen?‘, ‚Erkennst du andere Zusammenhänge zwischen [Erlebnis 1] und [Erlebnis 2]?‘ etc.), Perspektivierungen (‚Warum, glaubst du, hat sich [Person] dir gegenüber wohl so verhalten?‘, ‚Wie hättest du gehandelt, wärst du [Person] gewesen?‘ etc.), Argumentationen bzgl. der eigenen Auswahl und Priorisierung (‚Warum, glaubst du, erzählst du genau [Erlebnis] und nicht etwas anderes?‘, ‚Wieso, glaubst du, ist [Erlebnis] so prägnant für dich?‘ etc.), Kontingenzentfaltung (‚Welche Möglichkeiten hätte es für [Person] in dieser Situation noch gegeben?‘ etc.) und kontrafaktorischem Denken (vgl. Roese, 1997) (‚Was wäre (gewesen), wenn …?‘, ‚Hättest du in dem Moment …?‘ etc.) anzuregen. Ziel dieser Phase ist es weniger, weitere Erzählungen zu generieren, sondern vielmehr, selbsttheoretisierende Beschreibungen und Argumentationen hervorzubringen (vgl. Küsters, 2014, S. 578). In allen Phasen des Interviews, insbesondere aber in der Phase der exmanenten Nachfragen, achte ich darauf, die interviewte Person nicht mit Widersprüchlichkeiten in ihren Äußerungen oder mit Theorien über sie zu konfrontieren (vgl. Küsters, 2009, S. 63). Mit dem exmanenten Nachfrageteil endet auch das gesamte Interview. Ich stoppe an dieser Stelle die Audioaufnahme; zu diesem Zeitpunkt sind meist 1.5–2.5 h vergangen. Dem Interviewende folgt ein kurzes Nachgespräch. Hier spreche ich der interviewten Person zunächst meinen Dank dafür aus, dass ich von ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte erfahren durfte. Die interviewten Personen werden in ihrer Erzählung sehr persönliche Informationen preisgegeben haben
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Die erste empirische Untersuchung …
und ich möchte ihnen zu erkennen geben, dass ich ihre Offenheit und ihr Vertrauen mir gegenüber sehr wertschätze. Danach bitte ich sie noch um Angabe einiger soziodemographischer Daten (Alter, Geschlecht, Studiengang, Semester, Bildungs- und Berufsweg in Stichpunkten, Beruf der Eltern, Geschwister) auf einem Fragebogen. Abschließend vereinbaren wir einen Termin für das zweite Interview, welches nach einer Hospitation im Mathematikunterricht stattfinden wird. Unmittelbar nachdem ich die interviewte Person verabschiedet habe, schreibe ich ein Interviewprotokoll. Dort protokolliere ich aus dem Gedächtnis die Geschehnisse vor Einschalten des Aufnahmegerätes, während des Interviews und nach Abschalten des Aufnahmegerätes. Ich notiere Beobachtungen über Interviewort und -situation (z. B. Temperatur, Lautstärke, Störfaktoren etc.), über die Interaktion zwischen mir und der interviewten Person (z. B. Sympathien, Antipathien) sowie über die interviewte Person selbst (Äußeres, emotionaler Zustand, Stimme, Redeart etc.) (vgl. Küsters, 2009, S. 64). Nicht zuletzt halte ich auch meinen eigenen emotionalen und sonstigen Zustand vor, während und nach dem Interview fest. Bevor ich nun gleich dazu übergehe, die Methode meiner Datenanalyse – die rekonstruktive Fallanalyse – vorzustellen (Abschnitt 5.3), möchte ich einen kurzen Exkurs vornehmen. In diesem möchte ich aufzeigen, von welchen methodologischen Überlegungen meine Wahl einer geeigneten Analysemethode für die biographisch-narrativen Interviews begleitet war (Abschnitt 5.2).
5.2
Ein Exkurs: Bisherige methodische Zugänge zu fremden mathematikbezogenen Bewusstseinserlebnissen
Es wurde zu Beginn dieses Kapitels ein ‚methodologisches Problem‘ herausgearbeitet, welchem ich im Rahmen meines Forschungsvorhabens gegenüberstehe. Es lautete: Wie kann man sich einen methodischen Zugang zu den mathematikbezogenen Erlebnissen von Mathematiklehrkräften verschaffen? In etwas allgemeinerer Form könnte diese Frage auch wie folgt formuliert werden: Wie kann ein methodischer Zugang zu mathematikbezogenen Erlebnissen von Personen geschaffen werden? In der mathematikdidaktischen Forschung, die sich im Laufe der letzten 20 Jahre um die beiden Schlüsselbegriffe Biographie und Identität herausgebildet hat, sind verwandte Fragen bereits diskutiert worden. Da viele Forschungsarbeiten in diesen beiden Diskursen ihren primären – oder auch wie bei mir:
5.2 Ein Exkurs: Bisherige methodische …
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sekundären – Forschungsfokus auf Bewusstseinserlebnisse legen, die Lernende, Studierende oder Lehrende mit Bezug auf das Fach Mathematik vollziehen (bzw. auf die Bewusstseinsstrukturen, die ihr Erleben regulieren), standen auch sie vor der praktischen Herausforderung, sich auf die eine oder andere Weise einen Zugang zum Erleben der untersuchten Personen verschaffen zu müssen. Es erschien mir daher zur Lösung des methodologischen Problems naheliegend, mich zunächst in diesen Forschungsarbeiten nach geeigneten Erkenntnismitteln umzusehen. Dabei stellte sich jedoch heraus, dass das Problem von Autorinnen und Autoren zwar zweifelsohne forschungspraktisch gelöst worden sein musste, denn es wurden immer wieder Aussagen über das Erleben von Lernenden, Studierenden oder Lehrenden getroffen, dass die methodologische Einordnung und Diskussion der verwendeten Analysemethoden jedoch oft sehr knapp ausfielen und teilweise sogar ganz ausblieben. Aus diesem Grund habe ich mich schließlich dagegen entschieden, mir eine der in der Mathematikdidaktik bereits verwendeten Analysemethoden anzueignen und mich stattdessen dazu entschieden, eine Analysemethode aus einer Bezugsdisziplin der Mathematikdidaktik – der Soziologie – in die Mathematikdidaktik einzuführen3 . Diese Entscheidung möchte ich nun entlang einer Diskussion einiger der methodologischen Limitationen plausibilisieren, auf welche ich bei der Durchsicht der mathematikdidaktischen Literatur gestoßen bin: 1. Informationen über das konkrete Analysevorgehen fehlen gänzlich: In einigen mathematikdidaktischen Publikationen zu den Konzepten Biographie und Identität wird keinerlei Einblick darin gegeben, wie sich das Vorgehen in der Analyse von Daten zu fremden mathematikbezogenen Bewusstseinserlebnissen konkret ausgestaltet hat (z. B. bei Andersson et al., 2015 & Di Martino & Sabena, 2011). So stellen beispielsweise Andersson et al. (2015), die Mathematiklernerlebnisse von Schülerinnen und Schülern innerhalb verschiedener Kontexte untersuchen, zwar den theoretischen Rahmen ihrer Analysemethode vor. Sie beschreiben jedoch nicht, wie sich ihre methodische Vorgehensweise – innerhalb dieses theoretischen Rahmens – letztlich konkret ausgestaltet. Bei Di Martino & Sabena (2011), die der Frage nachgehen, welche Emotionen angehende Grundschullehrkräfte gegenüber der Mathematik bzw. dem Unterrichten von Mathematik ausgebildet haben, bleiben methodische Überlegungen, die die Analyse ihrer Daten betreffen, sogar gänzlich unerwähnt. In beiden Fällen wird das konkrete Vorgehen in der Datenanalyse also nicht zureichend dargestellt und ist daher nicht 3
Meines Wissens hat die von mir angewandte Analysemethode in der mathematikdidaktischen Forschung bisher noch keine Anwendung gefunden. Nur vor diesem Wissenshintergrund spreche ich hier von der ‚Einführung‘ dieser Methode in die Mathematikdidaktik.
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Die erste empirische Untersuchung …
intersubjektiv kontrollierbar, geschweige denn: auf andere Forschungskontexte übertragbar. 2. Entscheidende Teile des Vorgehens in der Datenanalyse werden nicht beschrieben, begründet oder motiviert: In zahlreichen Publikationen werden die einzelnen Schritte der Datenanalyse zwar benannt, es wird aber nicht für alle dieser Schritte erläutert, wie, warum oder wozu sie vollzogen werden (z. B. bei Foote & Bartell, 2011; García González & Martínez Sierra, 2020; Kaasila, 2002; Kaasila et al., 2006; Kaasila, 2007a; Kaasila, 2007b; Kaasila et al., 2008; Kaasila et al., 2012; Lutovac & Kaasila, 2011; Lutovac & Kaasila, 2014; Lutovac & Kaasila, 2018; Lutovac & Kaasila, 2021; Turunen, 2012 & Uitto et al., 2018). Dadurch bleiben Gestalt (‚Wie?‘), Grund (‚Warum?‘) und Zweck (‚Wozu?‘) einzelner Analyseschritte – und in der Folge dann auch: der Abfolge aller angeführten Analyseschritte – uneinsichtig. Ich möchte diesen Kritikpunkt kurz an zwei der Studien veranschaulichen: Kaasila (2002) untersucht, wie bedeutsam es für angehende Grundschullehrkräfte des Faches Mathematik ist, eigene Schulerfahrungen vertieft zu reflektieren. Er analysiert hierfür Portfolios und beschreibt sein Vorgehen dabei wie folgt: „In the analysis of the portfolios, I attempt to identify the parts of the materials that appeared to be significant for the beliefs and the teaching practices of the students. I also look carefully at the language used by each student, including his or her method of narration, vocabulary, and use of metaphors.“ (Kaasila, 2002, S. 66)
Kaasila benennt also zwei Schritte seiner Datenanalyse (1. ‚identifying significant parts‘, 2. ‚looking at language (method of narration, vocabulary, use of metaphors)’). Bezüglich des ersten Analyseschrittes gibt er aber keinerlei Hinweis darauf, wie sich dieser näher ausgestaltet. Der zweite Analyseschritt wird dann zwar etwas konkreter beschrieben (‚including his or her method of narration, vocabulary, and use of metaphors‘), Kaasila erläutert jedoch nicht, warum oder wozu dieser Analyseschritt so vollzogen wird, wie er vollzogen wird, d. h., warum oder wozu ‚method of narration‘, ‚vocabulary‘ und ‘use of metaphors’ in der Analyse betrachtet werden. Foote & Bartell (2011) untersuchen Lebensgeschichten von Forscherinnen und Forschern in der Mathematikdidaktik, die sich damit identifizieren, an den Themen ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Diversität‘ interessiert zu sein. Sie führen hierfür ‚life story interviews‘; ihre Analyse dieser Interviews beschreiben Foote & Bartell wie folgt:
5.2 Ein Exkurs: Bisherige methodische …
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„Analysis began with the interview process. Emergent themes were noted in written field notes and in conversations between researchers at the end of some of the interviews, as were what seemed to us to be significant ‘reportable events’ […]. Analysis continued after interviews were complete with the construction of interim research texts (Clandinin & Connelly, 2000). These interim research texts were our narrative accounts of the life stories and emerging interpretations of those stories that had been elicited in the interviews. Drafting interim research texts allowed us to illuminate themes, narrative threads, and patterns within participants’ stories and allowed us to continue to engage in relational ways with participants.“ (Foote & Bartell, 2011, S. 51)
Als zentraler Analyseschritt stellt sich also das Erstellen eines sogenannten ‚interim research texts’ heraus. Foote & Bartell erwähnen in ihrer Beschreibung dieses Schrittes zum einen, was dieser Analyseschritt hervorbringt (‚our narrative accounts of the life stories and emerging interpretations of those stories that had been elicited in the interviews’) und zum anderen, wozu dieser Analyseschritt dient (‘allowed us to illuminate themes, narrative threads, and patterns within participants’ stories’, ‘allowed us to continue to engage in relational ways with participants’). Was jedoch offen bleibt, ist, wie solche ‚interim research texts‘ überhaupt erstellt werden. Der Verweis auf Clandinin & Connelly (2000) klärt zwar auf, was unter ‚interim research texts‘ zu verstehen ist („texts situated in the spaces between field texts and final, published research texts“ (Clandinin & Connelly, 2000, S. 133)). Auch dort bleibt jedoch offen, wie ‚interim research texts‘ konkret erstellt werden. Ich denke, diese zwei Beispiele veranschaulichen recht eindrücklich, dass es, sofern man sich auf der Suche nach einer ‚anwendbaren‘ Analysemethode befindet, eine Schwierigkeit darstellt, wenn nicht ersichtlich wird, wie, warum oder wozu einzelne Schritte in der Datenanalyse vollzogen werden. Ist die Gestalt, also das ‚Wie‘ eines Analyseschrittes unbekannt, so ist dieser Schritt – und letztlich auch: die Abfolge aller einzelnen Analyseschritte – nicht durch andere wiederholbar und damit auch nicht intersubjektiv kontrollierbar. Ist hingegen der Grund oder der Zweck, also das ‚Warum‘ oder ‚Wozu‘, eines Analyseschrittes unbekannt, so fällt es einerseits schwer, einzuschätzen, ob sich dieser Schritt und letztlich auch die Abfolge aller Analyseschritte für die eigene Forschung eignet; und es ist andererseits auch nicht möglich, das Analyseverfahren für die eigenen Forschungsziele zu adaptieren. 3. Datenanalyse basiert auf deduktiv gebildeten Kategorien: In mehreren Studien innerhalb der mathematikdidaktischen Diskurse zu Biographie und Identität basiert das Vorgehen in der Analyse von Daten zu fremden mathematikbezogenen Bewusstseinserlebnissen auf einem deduktiv gebildeten Kategoriensystem
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Die erste empirische Untersuchung …
(z. B. bei Drake, 2006; Esmonde et al., 2013; Machalow et al., 2022 & Phelps, 2010). Esmonde et al. (2013) gehen beispielsweise der Frage nach, welche alltäglichen Aktivitäten für Familienmitglieder als ‚Mathematik‘ gelten. Sie analysieren hierfür mündlich erzählte Kurzgeschichten einzelner Familienmitglieder und unterteilen diese anschließend anhand der zuvor festgelegten Kategorien ‚home stories‘ und ‚school stories‘ (vgl. S. 10). Machalow et al. (2022) untersuchen schriftliche Essays, in denen angehende Mathematiklehrkräfte ‚critical moments‘ ihres mathematikbezogenen Erlebens thematisieren, d. h., einzelne Aufgaben, Kurse, Tests oder Kommentare, die einen nachhaltigen Einfluss auf ihre Identität ausgeübt haben (vgl. S. 43). Sie kodieren diese Essays anschließend entlang von deduktiv festgelegten Kategorien, u. a. in Essays mit ‚positive narrative arc‘, ‚mixed narrative arc‘ oder ‚negative narrative arc‘ (vgl. S. 44). Und Phelps (2010) analysiert narrative Interviews mit angehenden Mathematiklehrkräften, um den Zusammenhang zwischen den vergangenen Erfahrungen mit Mathematik und den gegenwärtigen ‚motivational profiles‘ der angehenden Lehrkräfte zu untersuchen (vgl. S. 293). Sie ordnet hierfür relevante Teile der Erzählungen den deduktiv bestimmten Kategorien ‚vicarious experience‘, ‚verbal persuasion‘, ‚past performance‘, ‚classroom environment‘ und ‚social support‘ zu (vgl. Phelps, 2010, S. 299 i. V. m. S. 296). Ich möchte hier nun nicht diskutieren, ob sich eine Datenanalyse, welche auf deduktiv gebildeten Kategorien basiert, für die jeweiligen Forschungszwecke der genannten Studien eignet oder nicht. Sondern vielmehr möchte ich bloß herausstellen, warum ich ein derartiges Vorgehen für mein eigenes Forschungsvorhaben als ungeeignet erachte: Ich möchte nicht nur ganz bestimmte Erlebnisse (z. B. ‚critical moments‘) oder ausschließlich ihre Einordnung in einen gewissen Kontext (z. B. ‚home‘ oder ‚school‘) rekonstruieren bzw. einen spezifischen Aspekt ihrer Beschaffenheit (z. B. ‚vicarious experience‘, ‚verbal persuasion‘ etc.) bestimmen. Sondern ich möchte vielmehr mit größtmöglicher Offenheit an die Datenanalyse herantreten und erstens mathematikbezogene Erlebnisse jeglicher Art rekonstruieren sowie zweitens diese Erlebnisse so angemessen wie möglich nachzeichnen. Würde ich in meiner Analyse nun jedoch auf ein deduktives Kategoriensystem zurückgreifen, so wären die möglichen Ergebnisse meiner Analyse dagegen bereits stark vorbestimmt. Deshalb empfinde ich eine Datenanalyse, die auf deduktiven Kategorien basiert, für meinen spezifischen Forschungsgegenstand als nicht angemessen.4 4. Datenanalyse betrachtet den Inhalt, aber nicht die Form der Erzählung von Erlebnissen: Der Datensatz der meisten Studien, die innerhalb der beiden 4
Vgl. Strübing et al. (2018) zu Gütekriterien qualitativer Sozialforschung und insbesondere dem Gütekriterium ‚Gegenstandsangemessenheit‘ (S. 86–88).
5.2 Ein Exkurs: Bisherige methodische …
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Diskurse zu Biographie und Identität fremde mathematikbezogene Bewusstseinserlebnisse untersuchen, umfasst mündliche oder schriftliche Erzählungen, die in Interviews oder durch Schreibanlässe gewonnen werden. Nicht selten wird in der Analyse dieser Erzählungen nur untersucht, was erzählt wurde, nicht aber, wie erzählt wurde, was erzählt wurde. In anderen Worten: Es wird ausschließlich der Inhalt der Erzählung untersucht, aber nicht ihre Form (z. B. bei Esmonde et al., 2013; Foote & Bartell, 2011; García González & Martínez Sierra, 2020; Lutovac & Kaasila, 2011; Lutovac & Kaasila, 2021; McCulloch et al., 2013; Pepin, 2011 & Phelps, 2010). Meiner Meinung nach kann dieser fehlende Fokus auf die Form einer Erzählung als klares Defizit einer Analysemethode betrachtet werden. So bietet sich der Inhalt einer Erzählung einer außenstehenden Person doch überhaupt nur über den im Sprechen oder Schreiben geformten Text dieser Erzählung dar (vgl. Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997, S. 149). Ein Zugang zu dem, was erzählt wird, existiert also nur darüber, wie erzählt wird. Lieblich, TuvalMashiach und Zilber (1998) argumentieren sogar, dass eine Analyse der Form einer Erzählung aufzuzeigen vermag, was aus einer Analyse des Inhalts allein nicht ersichtlich werden würde (vgl. S. 141). Sie gehen davon aus, dass in der Struktur einer Erzählung Identität, Auffassungen (‚perceptions‘) und Werte der erzählenden Personen zum Ausdruck gelangen und schlussfolgern daher: „Analyzing the structure of a story will […] reveal the individual’s personal construction of his or her evolving life experience.“ (Lieblich et al., 1998, S. 88) Unter den oben genannten Studien möchte ich eine Studie näher diskutieren: McCulloch et al. (2013) untersuchen Erlebnisse von Mathematiklehrkräften und unter diesen Erlebnissen insbesondere solche, die als Auslöser für einen Wechsel von einer negativen zu einer positiven Einstellung gegenüber der Mathematik identifiziert wurden. Sie erheben in ihrer Untersuchung schriftliche ‚mathematics autobiographies‘ von Mathematiklehrkräften, zu deren Erstellung diese ca. zwei Stunden Zeit haben (vgl. S. 382). Über die erstellten Autobiographien schreiben McCulloch et al. (2013): „It is important to note that these stories were written in one sitting and were not revised over time. As a result, they contained grammatical errors and thoughts that were not necessarily well organized. This restriction also meant that the stories were likely unadulterated expressions of the teachers’ memories in that moment.“ (S. 382)
Als Besonderheit der schriftlichen autobiographischen Erzählungen wird hier also herausgestellt, dass es sich bei ihnen um Texte handelt, die aufgrund der Bedingungen der Datenerhebung nicht überarbeitet werden konnten, die deshalb ‚grammatikalische Fehler‘ und ‚unorganisierte Gedanken‘ enthielten und
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Die erste empirische Untersuchung …
bei denen wohl unverfälscht ‚gegenwärtige Erinnerungen der Lehrkräfte‘ zum Ausdruck gebracht wurden. Meines Erachtens hebt sich die Publikation von McCulloch et al. hier aus zwei Gründen von anderen Publikationen ab, die ebenfalls nur den Inhalt und nicht die Form von Erzählungen analysieren: Zum einen stellen die Autorinnen eigentlich selbst den Bedarf heraus, die erhobenen Texte auch als solche zu untersuchen, die autobiographischen Erzählungen also auch auf Textebene zu analysieren, gehen diesem aber nicht nach. Es erscheint mir methodisch gewissermaßen besonders inkonsequent, zunächst textliche Besonderheiten der autobiographischen Erzählungen herauszustellen, diese dann aber nicht auch in der Datenanalyse zu berücksichtigen. Zum anderen aber scheinen die Autorinnen den textlichen Besonderheiten nicht nur keinen Wert in der Analyse der autobiographischen Erzählungen zuzuschreiben, vielmehr scheinen sie diese sogar als Mangel des Datenmaterials anzusehen. Als Hinweis hierauf verstehe ich die Formulierungen ‚grammatical errors‘ und ‚thoughts that were not necessarily well organized‘. Beide verweisen auf eine ‚defizitäre Perspektive‘ auf die textlichen Eigenschaften der erhobenen Erzählungen. 5. Rückbezug von Ergebnissen der Analyse der Form einer Erzählung auf ihren Inhalt fehlt: In einigen Publikationen wird zwar ersichtlich, dass die Datenanalyse auch die Form der Erzählungen betrachtet, es wird jedoch nicht darauf verwiesen, inwiefern Ergebnisse, die hierbei gewonnen werden, dann bei der Analyse des Inhalts der Erzählung miteinbezogen werden. Mit anderen Worten: Es bleibt unklar, in welchen Zusammenhängen ein formales Merkmal der Erzählung mit dem Inhalt dieser Erzählung stehen kann (z. B. bei Kaasila, 2002; Kaasila et al., 2006 & Lutovac & Kaasila, 2014). So erwähnt beispielsweise Kaasila (2002), der untersucht, wie bedeutsam es für angehende Grundschullehrkräfte des Faches Mathematik ist, eigene Schulerfahrungen vertieft zu reflektieren, dass er in der Analyse von Portfolios folgenden Analyseschritt vollzieht: „I also look carefully at the language used by each student, including his or her method of narration, vocabulary, and use of metaphors“ (S. 66). Er erläutert jedoch nicht näher, wie die Ergebnisse dieses Analyseschrittes im weiteren Verlauf der Analyse des Inhalts der Erzählung genutzt werden. Und auch bei Kaasila et al. (2006), die der Frage nachgehen, welchen Einfluss Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit auf den Blick auf die Mathematik bei Studierenden des Primarstufenlehramts haben, verhält es sich ähnlich. Sie führen Interviews, in denen die untersuchten Personen ihre ‚mathematical autobiography‘ vortragen. Ihr beschriebenes Analysevorgehen umfasst u. a. den folgenden Schritt: „We also paid attention to the language, including his or her method of narration and vocabulary“ (Kaasila et al., 2006, S. 218). Doch auch hier wird nicht genauer angegeben, in welchem Zusammenhang die Ergebnisse dieses Analyseschrittes zum Inhalt der Erzählung stehen. In
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
77
beiden Fällen ergibt sich für mich – auf der Suche nach einer Analysemethode, die Form und Inhalt einer Erzählung betrachtet – also die Schwierigkeit, nachzuvollziehen, wie die Ergebnisse einer Formanalyse auf den Inhalt der Erzählung rückbezogen werden können. Es bleibt also letztlich offen, wozu die Analyse der Form einer Erzählung überhaupt dient. Es wurde nun also entlang einiger konkreter Beispiele aus der mathematikdidaktischen Forschungsliteratur erläutert, aus welchen Gründen ich mich für mein Forschungsprojekt dagegen entschieden habe, eine der Analysemethoden anzuwenden, die bereits in mathematikdidaktischer Forschung zu den Konzepten Biographie oder Identität Anwendung gefunden haben. Im folgenden Abschnitt soll nun die Methode vorgestellt werden, für welche ich mich letztlich entschieden habe: die rekonstruktive Fallanalyse.
5.3
Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
Bei der rekonstruktiven Fallanalyse handelt es sich um eine Methode zur Analyse von Erzählungen von Lebensgeschichten, wie sie im Rahmen von biographischnarrativen Interviews hervorgebracht werden. Die rekonstruktive Fallanalyse ist eine in der Soziologie5 – und dort vor allem: in der Biographieforschung – fest etablierte Methode.6 Entwickelt und erstmalig angewandt wurde sie von der Soziologin Gabriele Rosenthal in ihrer Dissertation ‚…Wenn alles in Scherben fällt…‘ – Von Leben und Sinnwelt der Kriegsgeneration (1987, vgl. S. 143–244). 5
Warum ich im Rahmen eines mathematikdidaktischen Forschungsvorhabens auf eine in der Soziologie etablierte Methode zurückgreife, möchte ich an dieser Stelle nicht diskutieren, sondern stattdessen auf Abschnitt 1.2 in Felix Lensings (2021) Dissertation Das Begreifen begreifen. Auf dem Weg zu einer funktionalistischen Mathematikdidaktik verweisen. Dort diskutiert Lensing den engen Bezug, den die Mathematikdidaktik zu den Disziplinen Mathematik, Epistemologie, Psychologie, Soziologie, Semiotik, Neurowissenschaften, Geschichte der Mathematik und Pädagogik aufweist. Er nennt diese Disziplinen ‚Bezugsdisziplinen‘ (vgl. S. 12) der Mathematikdidaktik und zeigt auf, dass sich ein ‚genuin mathematikdidaktischer Gegenstand‘ überhaupt nur in Bezug zu, aber immer auch in Abgrenzung von diesen Bezugsdisziplinen herausstellen lässt (vgl. S. 12–36). (vgl. zu den Bezugsdisziplinen der Mathematikdidaktik darüber hinaus auch Wittmann (1992 & 1998, S. 330–333)) 6 Beispielhaft seien hier drei Publikationen zu soziologischen Forschungsprojekten genannt, in denen Analysen biographisch-narrativer Interviews mittels rekonstruktiver Fallanalyse vorgenommen wurden: Schwestern. Interaktion und Ambivalenz in lebenslangen Beziehungen (Bollmann, 2011), Bildungserfolge mit Migrationshintergrund. Biographien bildungserfolgreicher MigrantInnen türkischer Herkunft (Tepecik, 2011) sowie Krisenbewältigung und Ressourcenentwicklung. Kritische Lebenserfahrungen und ihr Beitrag zur Entwicklung von Persönlichkeit (Hofer, 2017).
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5
Die erste empirische Untersuchung …
Einige Jahre später ‚reichte‘ Rosenthal in ihrer Habilitation Erlebte und erzählte Lebensgeschichte – Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen (1995) das theoretische Fundament der Methode ‚nach‘: Sie zeigt hier auf, wie sich Erkenntnisse aus der Gestalttheorie auf Erzählungen von Lebensgeschichten übertragen lassen (vgl. S. 22–166) und formuliert aus dieser gestalttheoretischen Perspektive auf erzählte Lebensgeschichten heraus methodologische Implikationen, die sich für die Analyse dieser Erzählungen ergeben (vgl. S. 186–226). Diese methodologischen Implikationen fasst sie als ‚Prinzipien einer rekonstruktiven Fallanalyse‘ (vgl. Rosenthal, 1995, S. 208–215) zusammen. Bevor ich im Folgenden auf das konkrete methodische Vorgehen der rekonstruktiven Fallanalyse genauer eingehe und es am Beispiel meines eigenen Forschungsvorhabens erläutere, möchte ich diese drei Prinzipien kurz vorstellen.
5.3.1
Zu den drei Prinzipien der rekonstruktiven Fallanalyse
1. Das erste Prinzip der rekonstruktiven Fallanalyse ist die Kontrastierung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal, 1995, S. 208–215). Zwischen diesen beiden Ebenen einer Lebensgeschichte – der erlebten und der erzählten – kann wie folgt unterschieden werden: Mit erlebter Lebensgeschichte ist die gelebte Vergangenheit eines Menschen gemeint, mit erzählter Lebensgeschichte hingegen ein von diesem Menschen produzierter Text, der auf seine gelebte Vergangenheit verweist (vgl. Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997, S. 149). Will man nun – anhand einer Erzählung der eigenen Lebensgeschichte, die im Rahmen eines biographisch-narrativen Interviews hervorgebracht wurde – die erlebte Lebensgeschichte eines Menschen analysieren, so kann dies nur gelingen, wenn man auch die Ebene der erzählten Lebensgeschichte analysiert (vgl. Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997, S. 149 & Rosenthal, 1995, S. 208). Denn es bietet sich in diesem Fall außenstehenden Menschen ja überhaupt nur über die Erzählung, also den „sich in der Gegenwart des Schreibens oder Sprechens konstituiert[en] [Text]“ (Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997, S. 149), ein Zugang zum Leben eines Menschen. D. h., die Präsentation der erlebten Lebensgeschichte steht immer unter dem Einfluss der gegenwärtigen Deutung der erlebten Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal, 1995, S. 215). Und mitunter können die Deutung eines Erlebnisses in der Vergangenheit (‚Vergangenheitsperspektive‘)
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
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und die Deutung dieses vergangenen Erlebnisses in der Gegenwart (‚Gegenwartsperspektive‘) (vgl. Rosenthal, 1995, S. 225) stark voneinander abweichen.7 Es ergibt sich also, wenn man das Ziel verfolgt, die erlebte Lebensgeschichte zu rekonstruieren, die Notwendigkeit, das ‚Wechselverhältnis‘ zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte zu erfassen (vgl. Rosenthal, 1995, S. 208). Denn „sowohl das Vergangene [konstituiert sich] aus der Gegenwart und der antizipierten Zukunft als auch die Gegenwart aus dem Vergangenen und dem Zukünftigen“ (Rosenthal, 1995, S. 17). Es bedarf also einer Analysemethode, mittels welcher sowohl die Vergangenheits- als auch die Gegenwartsperspektive rekonstruiert und anschließend miteinander kontrastiert werden können. 2. Das zweite Prinzip der rekonstruktiven Fallanalyse wird durch ihren Namen schon angedeutet: Es handelt sich um die Rekonstruktion von erlebter und erzählter Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal, 1995, S. 209–213). Das Prinzip der Rekonstruktion sieht vor, dass die tatsächliche Struktur einer erlebten und erzählten Lebensgeschichte nachgezeichnet werden soll, d. h., dass ihre ‚Gestalt‘ nicht dadurch zerstört werden soll, dass man sie entlang eines vorab festgelegten Klassifikations- oder Variablensystems analysiert (vgl. Rosenthal, 1995, S. 209). Dadurch unterscheidet sich das Vorgehen im Sinne der rekonstruktiven Fallanalyse von subsumtionslogischen Analysen, in welchen entweder auf induktiv oder auf deduktiv gebildete Kategorien zurückgegriffen wird (vgl. Rosenthal, 1995, S. 209): „[In rein induktiven und deduktiven Analysen, CSG] wird die Gestalt des Textes zerstört, werden die einzelne Elemente über [...] [mehrere Lebensgeschichten, CSG] hinweg aufgrund ihrer äußerlich gleichen phänomenalen Gegebenheit mit Hilfe von Kategorien gruppiert und nicht aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit in der funktionalen Bedeutsamkeit für den Gesamtzusammenhang [...] [einer Lebensgeschichte, CSG].“ (Rosenthal, 1995, S. 209)
Es ist also nicht im Sinne einer rekonstruktiven Fallanalyse, einzelne Elemente von Lebensgeschichten aufgrund ‚ihrer äußerlich gleichen phänomenalen Gegebenheit‘ kategorial zusammenzufassen. Vielmehr verfolgt sie das Ziel, die ‚funktionale Bedeutsamkeit‘ eines Elementes für den ‚Gesamtzusammenhang‘ einer Lebensgeschichte zu bestimmen. Diesem Ziel liegt die Annahme zugrunde, dass 7
Dass in der Gegenwart eine von der Vergangenheit abweichende Deutung eines Erlebnisses dargestellt wird, soll nicht als ‚Fehler‘ oder ‚Defizit‘ der Erzählung einer Lebensgeschichte verstanden werden. Vielmehr verhält es sich so, dass nicht ohne diese Abweichung erzählt werden kann und es deshalb einer Methode bedarf, die diese Abweichung mitbeachtet.
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Die erste empirische Untersuchung …
„[erzählte Lebensgeschichten, CSG] einheitliche Gebilde sind, die durch ein zugrundeliegendes Regelsystem erzeugt werden und sich nicht aufgliedern lassen in einzelne Gruppierungen [sic] für die jeweils eigene Regeln gelten. Teilheiten einer Gestalt können in ihrer Bedeutung nur anhand der Strukturierungsregeln dieser einen konkreten Gestalt, als deren Teil sie auftreten, bestimmt werden. Die Rekonstruktion einer Gestalt verbietet also regelrecht die Isolierung einzelner Elemente.“ (Rosenthal, 1995, S. 210)
Doch wie können erlebte und erzählte Lebensgeschichten nun analysiert werden, wenn ein rein kategorienbasiertes Vorgehen abgelehnt wird? Die Antwort hierauf lautet: mithilfe einer dreischrittigen Erkenntnislogik von Abduktion, Deduktion und Induktion (vgl. Reichertz, 2017, S. 276). Den Begriff Abduktion führt 1934 der Philosoph und Logiker Charles Sanders Peirce in die Wissenschaft ein (vgl. Reichertz, 2017, S. 276). Er versteht ihn wie folgt: „Abduction is the process of forming an explanatory hypothesis.“ (Peirce et al., 1974, CP 5.171) Anlass zu dieser Bildung einer erklärenden Hypothese gibt ein ‚überraschender Fakt‘, dem das Überraschende genommen werden soll (vgl. Reichertz, 2017, S. 285), bzw. ein empirisches Phänomen, welches durch eine Lesart oder eine Regel erklärt werden soll (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213). Im ersten Schritt dieser Erkenntnislogik, dem abduktiven Schritt, wird also eine Hypothese in Form einer Lesart oder Regel gebildet, die das Auftreten eines empirischen Phänomens erklärt. Wichtig dabei ist, dass nicht nur eine erklärende Lesart oder Regel gefunden wird, sondern alle zum Zeitpunkt der Auslegung möglichen (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213).8 Nach der Entdeckung der Hypothesen, welche den ersten Schritt der Erkenntnislogik ausmacht, folgen nun der zweite und dritte Schritt, welche beide der Überprüfung dieser Hypothesen dienen (vgl. Reichertz, 2017, S. 285). Im zweiten Schritt, dem deduktiven Schritt, werden aus der im ersten Schritt gebildeten Hypothese Voraussagen abgeleitet (vgl. Reichertz, 2017, S. 285). D. h., es werden aus einer erklärenden Lesart oder Regel jeweils empirische Fakten deduziert, die diese Lesart oder Regel bestätigen würden (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213). Im dritten Schritt, dem induktiven Schritt, erfolgt dann ein empirischer Test dieser Fakten im Sinne der Induktion (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213). D. h., es wird an dem konkreten Fall nach Indizien für die im vorherigen Schritt deduzierten Fakten gesucht (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213). Die Lesart oder Regel, die auf diesem Wege nicht widerlegt werden kann, „die also beim Hypothesentest in Abgrenzung von den unwahrscheinlichen Lesarten [oder 8
Für eine Ausführung dazu, welche Strategien zur Herbeiführung von Abduktionen angewandt werden können, verweise ich auf Punkt 3 (S. 281–284) des Artikels Abduktion, Deduktion und Induktion in der qualitativen Forschung von Jo Reichertz (2017).
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
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Regeln, CSG] übrig bleibt, gilt dann als die wahrscheinlichste“ (Rosenthal, 1995, S. 213). Stellt sich keine der Lesarten oder Regeln als ‚wahrscheinlich‘ heraus, so wird das Verfahren von neuem begonnen und so oft wiederholt, bis eine Lesart oder Regel gefunden werden kann, die als ‚wahrscheinlich‘ verbleibt (vgl. Reichertz, 2017, S. 285).9 3. Das dritte Prinzip der rekonstruktiven Fallanalyse fordert Sequentialität in der Analyse von erlebter und erzählter Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213–215). Unter einem sequentiellen Vorgehen wird ein Vorgehen verstanden, welches Handlungen und Erlebnisse (auf Ebene der erlebten Lebensgeschichte) und Themen (auf Ebene der erzählten Lebensgeschichte) in ihrem Nacheinander untersucht. Die Grundannahme dieses Vorgehens ist, dass jede Handlung und jedes Erlebnis bzw. jedes Thema eine Selektion darstellt zwischen verschiedenen, in der jeweiligen Situation möglichen Alternativen (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213). Jede Handlungs- oder Erlebnisselektion determiniert dann die weitere erlebte Lebensgeschichte, jede Themenselektion die weitere erzählte Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213). Die Selektion einer Handlung oder eines Erlebnisses bzw. eines Themas wirkt immer beschränkend und ermöglichend zugleich: Sie beschränkt insofern, als sie bestimmte Anschlusshandlungen und erlebnisse bzw. bestimmte Anschlussthemen ausschließt. Sie besitzt zugleich aber auch insofern eine ermöglichende Funktion, als sie bestimmte Anschlusshandlungen und -erlebnisse bzw. bestimmte Anschlussthemen ‚vorbereitet‘ und somit überhaupt erst möglich macht (vgl. Rosenthal, 1995, S. 213–214). Vor diesem Hintergrund entsteht für die Analyse der erlebten und erzählten Lebensgeschichte der Anspruch, zu erfassen, welche Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt der erlebten oder erzählten Lebensgeschichte offenstehen, welche Auswahl vorgenommen und welche vernachlässigt wird und was daraus für den Fortgang der erlebten oder erzählten Lebensgeschichte folgt (vgl. Rosenthal, 1995, S. 214). Diesem Anspruch wird die rekonstruktive Fallanalyse durch ihr sequentielles Vorgehen (in Kombination mit einem abduktiven Vorgehen) gerecht: In der Analyse der erlebten oder erzählten Lebensgeschichte wird von möglichen Lesarten über die funktionale Bedeutung einer Handlung oder eines Erlebnisses in der erlebten Lebensgeschichte oder über die funktionale Bedeutung eines Themas in der erzählten Lebensgeschichte auf mögliche weitere Fortgänge geschlussfolgert. Erst anschließend werden diese möglichen Fortgänge mit dem tatsächlichen Fortgang kontrastiert. In der Analyse der erlebten Lebensgeschichte folgt diese Kontrastierung der zeitlichen Aufeinanderfolge der Handlungen und Erlebnisse 9
Es sei an dieser Stelle auch auf die mathematikdidaktischen Publikationen von Meyer (z. B. 2007a, 2007b & 2009) verwiesen, in denen die Abduktion ausführlich thematisiert wird.
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Die erste empirische Untersuchung …
im Lebenslauf; in der Analyse der erzählten Lebensgeschichte folgt sie der Aufeinanderfolge der Themen in der tatsächlichen Erzählung (vgl. Tepecik, 2011, S. 68). Durch ein sequentielles Vorgehen in der Analyse von erlebter und erzählter Lebensgeschichte gelingt es, die Vielzahl aller möglichen Handlungen und Erlebnisse zu entfalten, ohne sich „in dem Deutungssystem […] [der Erzählerin oder des Erzählers, CSG] und in der Logik der konkreten Handlungssituation [zu] verfangen“ (Rosenthal, 1995, S. 214). Durch den Einbezug aller möglichen – wenn auch nicht tatsächlichen – Fortgänge entsteht eine Art Kontrastfolie, vor der sich die fallspezifische Besonderheit abhebt (vgl. Rosenthal, 1995, S. 214–215).
5.3.2
Zum Vorgehen einer rekonstruktiven Fallanalyse10
In Vorbereitung auf eine rekonstruktive Fallanalyse wird das gesamte biographisch-narrative Interview transkribiert.11 Die rekonstruktive Fallanalyse selbst verläuft dann in fünf aufeinanderfolgenden Schritten. Bei diesen Analyseschritten handelt es sich um 1. 2. 3. 4. 5.
die Analyse biographischer Daten, die Text- und Themenfeldanalyse, die Rekonstruktion der Fallgeschichte, die Feinanalyse einzelner Textstellen und die Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216).
Nachfolgend möchte ich diese fünf Analyseschritte erläutern und anhand von Ausschnitten aus der rekonstruktiven Fallanalyse eines biographisch-narrativen Interviews veranschaulichen, welches ich im Rahmen dieser Arbeit erhoben habe.
10
Es folgt eine recht ausführliche Darstellung des Vorgehens der rekonstruktiven Fallanalyse. Ich habe mich für eine derart detaillierte Darstellung des Analyseverfahrens entschieden, weil es eben genau seine Komplexität ist, die rechtfertigt, dass aus Erzählungen von Lebensgeschichten Rückschlüsse auf die erlebte Lebensgeschichte gezogen werden können. Mit der ausführlichen Darstellung des Analyseverfahrens möchte ich veranschaulichen, dass es sich um ein theoretisch fundiertes, systematisches und sorgfältiges Analyseverfahren handelt. 11 Die Transkription der biographisch-narrativen Interviews erfolgte im Rahmen dieser Arbeit mithilfe der Software MAXQDA und entlang der erweiterten Transkriptionsregeln (vgl. S. 21–23) von Dresing & Pehl (2015).
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
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5.3.2.1 Zur Analyse der biographischen Daten Im ersten Analyseschritt werden die biographischen Daten einer Lebensgeschichte analysiert. Zu diesen Daten gehören all die Ereignisse, die wenig an die Interpretation der Erzählenden gebunden sind, z. B. Beruf der Eltern, Anzahl der Geschwister, Schulbeginn, -wechsel sowie -abschluss, Studienbeginn, -wechsel sowie -abschluss etc. (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216). Diese Daten werden aus allen verfügbaren Quellen zusammengetragen (vgl. Rosenthal & FischerRosenthal, 2017, S. 460). Im Fall der vorliegenden Erhebung dienen neben den Erzählungen der mathematikbezogenen Lebensgeschichte auch Fragebögen als Informationsquelle, in denen Selbstangaben der untersuchten Personen zu soziodemographischen Merkmalen erfasst wurden. Die zusammengetragenen Daten werden nun in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge im Lebenslauf analysiert (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216). Hierzu wird der Kontext jedes Datums rekonstruiert, daraus resultierende Handlungsprobleme werden dargestellt und gedankenexperimentell Handlungsalternativen formuliert, die der Erzählerin oder dem Erzähler – oder in diesem Fall eigentlich: der ‚Erleberin‘ oder dem ‚Erleber‘ – in der Situation offenstanden (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216). Zu jeder dieser Handlungsalternativen werden mögliche, anschlussfähige Verläufe bestimmt (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216). Eine Handlungsalternative und ein möglicher Anschlussverlauf werden zusammen als ‚Lesart‘ eines Datums bezeichnet. Zu beachten ist, dass jedes einzelne biographische Datum in diesem ersten Analyseschritt unabhängig von seiner Interpretation durch die Erzählenden und zunächst unabhängig von den ihm folgenden biographischen Daten analysiert wird (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216). Erst nachdem ein Ereignis vollständig analysiert wurde, folgt die Analyse des nächsten (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216). Diese kann dann aufklären, welche Handlungsalternative die Erzählerin oder der Erzähler in der Situation des vorherigen Ereignisses tatsächlich wählte bzw. nicht wählte (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216).12 Mit fortschreitender Analyse werden so immer mehr Lesarten ausgeschlossen, sodass nur noch wenige Lesarten übrigbleiben (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216–217). Aufgrund des Wissens darüber, welche Handlungsalternativen die Erzählerin oder der Erzähler in der Situation eines Ereignisses wählte bzw. nicht wählte, können an dieser Stelle Hypothesen über die Struktur des Falles gebildet werden, die sogenannten ‚Strukturhypothesen‘ (vgl. Rosenthal, 1995, S. 216–217). 12
Natürlich kann auch erst die Analyse eines späteren – i. S. v. nicht direkt nächsten – Ereignisses einen Rückschluss auf die tatsächlich gewählte Handlungsalternative ermöglichen. Etwas allgemeiner formuliert lautet der Mechanismus also vielmehr wie folgt: Ein nachfolgendes Ereignis gibt rückwirkend an, welche Handlungsalternative in der Situation eines vorausgehenden Ereignisses tatsächlich gewählt bzw. nicht gewählt wurde.
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Die Analyse der biographischen Daten bildet die Grundlage für den dritten Analyseschritt – die Rekonstruktion der Fallgeschichte (vgl. Rosenthal, 1995, S. 217). In dieser wird die Analyse der biographischen Daten mit der Textund Themenfeldanalyse – dem zweiten Analyseschritt – kontrastiert (vgl. Rosenthal, 1995, S. 217). Ferner liefert die Analyse der biographischen Daten wichtige Hinweise für die Text- und Themenfeldanalyse insofern, als mit ihr aufgezeigt werden kann, welche biographischen Daten in der Erzählung ausgebaut werden und in welcher Reihenfolge dies geschieht, aber auch, welche biographischen Daten gar nicht oder nur beiläufig erzählt werden (vgl. Rosenthal, 1995, S. 217). Ich möchte zur Veranschaulichung dieses ersten Analyseschrittes die Analyse eines biographischen Datums aus der Lebensgeschichte von Luisa13 , einer 28jährigen Mathematiklehrerin für die Primarstufe, anführen: Biographisches Datum Ein Jahr vor Luisas eigener Einschulung wird ihre Schwester eingeschult. Luisa guckt ihrer Schwester regelmäßig bei den Hausaufgaben zu und bearbeitet diese auch mit. Zum Zeitpunkt ihrer eigenen Einschulung ist Luisa fünf Jahre alt und die Jüngste der Klasse. Sie kann zum Schuleintritt bereits lesen, schreiben und rechnen. Lesarten zum ‚Ersten Schuljahr der Schwester und Luisas Einschulung‘ Bereits mit vier Jahren beginnt Luisa, sich mit schulischen Inhalten zu beschäftigen. Diese Beschäftigung ist eher altersuntypisch und sie erfüllt damit Erwartungen, die an Luisas große Schwester in ihrer Rolle als Schülerin, nicht aber an Luisa selbst in ihrer Rolle als Kindergartenkind gestellt werden. Zum Zeitpunkt ihrer Einschulung ist Luisa ihren Mitschülerinnen und Mitschülern dann – trotz ihres jungen Alters – in Bezug auf schulische Inhalte des Anfangsunterrichts überlegen. Im Folgenden sollen mögliche Lesarten zu Luisas vorzeitiger Beschäftigung mit schulischen Inhalten sowie zum Vergleich der Leistungen der Schwestern untereinander (Lesarten 1 und 2) und zu Luisas Leistungsüberlegenheit gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in ihrer Schulklasse (Lesarten 3, 4 und 5) entwickelt werden.
13
Um eine Identifizierung der untersuchten Personen bestmöglich ausschließen zu können, wurden ihre Lebensgeschichten für die Darstellung in dieser Arbeit anonymisiert bzw. pseudonymisiert. Hierzu wurden schützenswerte Informationen entweder gar nicht mit aufgenommen, möglichst gleichwertig ersetzt oder abstrahiert (vgl. Gebel et al., 2015, Absatz 28).
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
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1. Luisa leidet unter der Abwesenheit ihrer Schwester, als diese in die Schule kommt und die beiden Schwestern fortan einen Teil ihres Tages getrennt voneinander verbringen. Dass Luisa die Schulaufgaben ihrer Schwester bearbeitet, kann in dieser Lesart als ein Anzeichen dafür verstanden werden, dass sie ihre Nähe sucht und gemeinsam mit ihr Zeit verbringen möchte. In dieser ersten Lesart sind für Luisa die Inhalte der Schulaufgaben zweitrangig gegenüber der Zeit, die sie mit ihrer Schwester während der Bearbeitung der Schulaufgaben gemeinsam verbringt. Es wäre in dem Fall eher unwahrscheinlich, dass sie mit ihrer Schwester bzgl. ihrer Leistungen konkurrieren oder sie gar überragen möchte. (Diese Möglichkeit wird in Lesart 2 entfaltet.) 2. Diese Lesart ähnelt zunächst der Lesart 1, nimmt dann aber die Möglichkeit in den Blick, dass Luisa beim gemeinsamen Bearbeiten der Schulaufgaben ein Konkurrenzdenken gegenüber ihrer Schwester entwickelt: Luisa bemerkt, dass sie ähnliche Leistungen wie ihre Schwester erbringen kann. Vor dem Hintergrund des Altersunterschieds der Schwestern, durch welchen die Schulaufgaben für Luisas große Schwester als altersadäquat und für Luisa jedoch noch als altersinadäquat gelten, erkennt Luisa, dass sie ihrer Schwester kognitiv überlegen ist. Luisa beginnt, sich mit der Rolle der kognitiv überlegenen Schwester zu identifizieren. Innerhalb dieser Lesart wäre es möglich, dass Luisa explizit Wettbewerbs- und Konkurrenzsituationen mit ihrer Schwester aufsucht oder sogar inszeniert, um ihre kognitive Überlegenheit zu etablieren. 3. Innerhalb ihrer Klasse identifiziert sich Luisa mit der Rolle der leistungsstärksten Schülerin, da sie zu Schulbeginn bereits lesen, schreiben und rechnen kann, also überdurchschnittliche Leistungen im Vergleich zu ihrem sozialen Umfeld in der Schule erbringt. Ihre Beliebtheit unter Mitschülerinnen und Mitschülern wird für Luisa zweitrangig hinter der Anerkennung für ihre sehr guten Leistungen. Innerhalb dieser Lesart wäre es möglich, dass Luisa explizit Wettbewerbs- und Konkurrenzsituationen in ihrer Klasse aufsucht oder sogar inszeniert, um die Erwartungen an ihre Rolle als leistungsstärkste Schülerin zu erfüllen. Aus dieser Lesart könnte – neben der Unbeliebtheit unter ihren Mitschülerinnen und Mitschülern – für Luisa folgen, dass sie ihren Selbstwert größtenteils in ihren sehr guten Schulleistungen sieht. Das dringende Bedürfnis nach der Aufrechterhaltung dieser sehr guten Schulleistungen könnte dann die Folge sein.
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Nachdem in Lesart 3 die Option beleuchtet wurde, dass Luisa ihre Beliebtheit unter ihren Mitschülerinnen und Mitschülern weniger wichtig ist als ihre schulischen Leistungserfolge, soll nun die gegenteilige Annahme getroffen werden: 4. Luisa ‚nutzt‘ ihre Leistungsstärke dafür, ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zu helfen. Sie erfüllt durch dieses Verhalten weiterhin die Erwartungen an die Rolle der leistungsstärksten Schülerin, ‚riskiert‘ aber ihre Beliebtheit weniger als in Lesart 3. (Stellt sich diese Lesart als wahrscheinlich heraus, wäre es besonders interessant zu schauen, wie sich Luisas Hilfe ausgestaltet, um auf mögliche Gründe und Funktionen ihrer Hilfe zu schließen: Kann von einer generellen Hilfsbereitschaft ausgegangen werden, die sich z. B. auch außerhalb des Unterrichts (und außerhalb der Aufmerksamkeit der Lehrkraft) zeigt? Soll Luisas Hilfsbereitschaft vorrangig ihre Beliebtheit sichern und ist deshalb nur bestimmten Personen vorbehalten? Könnte diese Hilfsbereitschaft als (unbewusste) Strategie Luisas verstanden werden, sich indirekt als beste Schülerin etablieren zu wollen, ohne dabei ihre Beliebtheit zu riskieren?) 5. Luisa versteckt – soweit möglich – ihre sehr guten Leistungen und fortgeschrittenen Fähigkeiten vor ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Sie meidet Situationen, in denen öffentlich Leistungen erbracht werden sollen und solche, in denen ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sie als leistungsstärker wahrnehmen könnten (z. B. auch Hilfestellung bei Aufgaben wie in Lesart 4). Ein möglicher Grund für dieses Verhalten könnte sein, dass Luisa ihre Beliebtheit innerhalb der Klasse nicht verlieren bzw. riskieren möchte. Ein weiterer möglicher Grund für dieses Verhalten könnte darin liegen, dass Luisa Angst vor einem öffentlichen Ausbleiben ihrer sehr guten Leistungen hat. Letzteres würde darauf hindeuten, dass Luisa die Ursachen für ihre Erfolge entweder ihrer Umwelt und nicht sich selbst zuschreibt oder sie sich zwar selbst zuschreibt, aber als instabil, d. h., nicht immer reproduzierbar, einstuft.
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
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Auswertung der möglichen Lesarten14 Es wird sich in der weiteren Analyse der biographischen Daten herausstellen, dass Luisa in ihrer folgenden Grundschulzeit mehrmals Konkurrenzsituationen mit ihrer Schwester eingeht. Und auch unter ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sucht sie häufig Wettbewerbssituationen auf, z. B. beim Spiel Bankrutschen, bei Mathematikwettbewerben oder beim Vergleich des Bearbeitungstempos des Wochenplans. Vor diesem Hintergrund stellt sich Lesart 1 als wenig wahrscheinlich heraus, Lesarten 2 und 3 hingegen werden zunächst wahrscheinlicher. Sowohl das ‚Weniger-Wahrscheinlich-Werden‘ der Lesart 1 als auch das ‚Wahrscheinlicher-Werden‘ der Lesart 2 deuten darauf hin, dass Luisas Schwester für Luisa in schulischen Belangen mehr eine Konkurrentin denn eine Verbündete darstellt. Es soll deshalb an dieser Stelle folgende vorläufige Strukturhypothese formuliert werden: Luisas Verhältnis zu ihrer ein Jahr älteren Schwester ist in schulischen Belangen ein konkurrenzhaftes. Luisa erbringt – u. a. motiviert durch diese Konkurrenzsituation – für sie altersuntypische Leistungen. Unklar ist zu diesem Zeitpunkt der Analyse noch, ob die Konkurrenz zur Schwester erst mit deren Schulbeginn eintrat oder schon vorher bestand. Lesart 4, innerhalb derer Luisa ihre Leistungsstärke zur Unterstützung ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler ‚nutzt‘, kann mithilfe der biographischen Folgedaten weder wider- noch belegt werden. Zwar wird sich in den biographischen Folgedaten zeigen, dass Luisa häufig Personen in ihrem sozialen Umfeld beim Lernen für das Fach Mathematik hilft, z. B. ihren Freundinnen in der Sekundarstufe 1 und 2 sowie ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen im Mathematikstudium, es kann jedoch daraus nicht geschlussfolgert werden, dass dies bereits in der Grundschule der Fall war. Stattdessen wäre genauso gut möglich, dass Luisa in der Grundschule Ablehnung erfuhr, weil sie trotz Leistungsstärke ihren Mitschülerinnen und Mitschülern nicht half, und sie ihr Verhalten daraufhin in der Sekundarstufe zur Vermeidung einer wiederholten Ablehnung anpasst. Lesart 4 bleibt also nach diesem Analyseschritt zunächst möglich.
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Dieser Schritt wird – wie bereits erwähnt – in der tatsächlichen Analyseaktivität eigentlich nach der Analyse weiterer biographischer Daten vollzogen. Denn erst nachfolgende Ereignisse können Aufschluss darüber geben, welche Handlungsalternativen bei vorhergehenden Ereignissen gewählt wurden. Um hier jedoch die vollständige Analyse eines biographischen Datums darstellen zu können, beziehe ich die Auswertung der möglichen Lesarten, die eigentlich auf nachfolgenden biographischen Daten beruhen, auch ohne die Darstellung der konkreten nachfolgenden biographischen Daten ein.
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Unter Einbezug weiterer biographischer Daten kann Lesart 5, in der Luisa ihre sehr guten Leistungen und fortgeschrittenen Fähigkeiten vor ihren Mitschülerinnen und Mitschülern versteckt, ausgeschlossen werden. Tatsächlich geht Luisa in ihrer Grundschulzeit nämlich häufig freiwillig Situationen ein, in denen sie öffentlich sehr gute Leistungen erbringt: das Spiel Bankrutschen, den Vergleich des Bearbeitungstempos beim Wochenplan und die Teilnahme an Mathematikwettbewerben. Zudem erscheint das strategische Verstecken der eigenen Leistungen aus genannten Gründen oder mit genannter Intention für eine Erstklässlerin, die gerade ihre ersten Erfahrungen innerhalb eines schulischen Sozialkontexts macht und dementsprechend womöglich noch kein ausgereiftes Konzept über die Korrelation von Schulleistung und Beliebtheit besitzt, sehr altersuntypisch. Solch eine Auslegung eines biographischen Datums wird nun für alle weiteren biographischen Daten wiederholt. Im Falle von Luisas Fallanalyse legte ich elf weitere, also insgesamt zwölf biographische Daten aus. Am Ende der Analyse aller biographischen Daten bleiben nur bestimmte Lesarten übrig. Diese Lesarten sowie die aufgestellten Strukturhypothesen sind es, die dann im dritten Analyseschritt einbezogen werden, in welchem die Analyse der biographischen Daten mit der Analyse des Textes und des thematischen Feldes kontrastiert wird. Ich möchte am Ende dieser Darstellung des ersten Analyseschrittes betonen, „daß die Analyse der biographischen Daten keineswegs alle Bedeutungsmöglichkeiten erfassen kann. Vielmehr schließt die Analyse des Textes immer wieder neue Bedeutungshorizonte auf, die uns vorab nicht zugänglich waren. Im Verlauf einer Fallrekonstruktion entdecken wir ständig Neues, das uns auch zu Reformulierungen bisheriger Konzepte verhilft. Nur dadurch lohnt sich auch der Aufwand eines solchen Verfahrens.“ (Rosenthal, 1995, S. 217–218)
5.3.2.2 Zur Text- und Themenfeldanalyse Während die Analyse der biographischen Daten das Ziel verfolgt, die funktionale Bedeutung eines Ereignisses für die erlebte Lebensgeschichte zu rekonstruieren, soll in der Text- und Themenfeldanalyse nun die funktionale Bedeutung einer Textsequenz für die erzählte Lebensgeschichte rekonstruiert werden (vgl. Rosenthal, 1987, S. 180). Den Untersuchungsgegenstand bilden nun nicht mehr die Ereignisse selbst, sondern vielmehr die erzählten Ereignisse als solche. Ziel dieses Analyseschrittes ist es, herauszuarbeiten, „welche Mechanismen die Auswahl [und Gestaltung, CSG] sowie die temporale und thematische Verknüpfung der
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[…] [Erzählteile, CSG] steuern“ (Rosenthal, 1995, S. 218). Es soll also nicht nur die den Erzählenden bewusst zugängliche Interpretation einzelner Ereignisse und der gesamten Lebensgeschichte (die sogenannte ‚biographische Gesamtevaluation‘) nachgezeichnet, sondern vielmehr der latent wirkende Mechanismus rekonstruiert werden, „der sowohl den Rückblick auf die Vergangenheit, als auch die gegenwärtigen Handlungen und Zukunftsplanungen steuert“ (Rosenthal, 1995, S. 13) (vgl. Rosenthal, 1995, S. 218). Diesen latent wirkenden Steuerungsmechanismus bezeichnet Rosenthal als ‚biographische Gesamtsicht‘15 (vgl. Rosenthal, 1995, S. 13–14). Für die Text- und Themenfeldanalyse wird zunächst der Text der Eingangserzählung in seiner zeitlichen Abfolge in Einheiten unterteilt, die je eine Analyseeinheit bilden (vgl. Rosenthal, 1995, S. 218). Die Unterteilung erfolgt dabei anhand folgender Kriterien: Redewechsel, Textsorte (z. B. Argumentation, Erzählung oder Beschreibung) und Themenwechsel (vgl. Rosenthal, 1995, S. 218–219). Anschließend werden die Texteinheiten sequentiell analysiert, d. h., es wird Texteinheit für Texteinheit gemäß der zeitlichen Abfolge des Erzähltextes – und damit insbesondere ohne Wissen über den folgenden Erzähltext – einzeln ausgelegt (vgl. Rosenthal, 1995, S. 219). Die Auslegung einer Texteinheit kann sich dabei u. a. an folgenden Fragen orientieren: • Warum wird dieses Thema an dieser Stelle im Erzähltext eingeführt? • In welches übergeordnete ‚thematische Feld‘ könnte die Erzählung des Themas eingebettet werden? (Am Ende der Analyse wird sich herausstellen, dass die gesamte Eingangserzählung meist in einem thematischen Feld vorgenommen wird.) • Auf welche möglichen Anschlussthemen verweist das Thema? (Die potentiellen Anschlussthemen werden dann später mit den tatsächlichen Anschlussthemen kontrastiert.) 15
Es scheint, dass Rosenthal den Begriff der biographischen Gesamtsicht in Erlebte und erzählte Lebensgeschichte – Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen (1995) selbst einführt. Für diese Annahme lassen sich zwei Hinweise anführen: 1. Es finden sich keine Verweise auf andere Publikationen, denen dieser Begriff entnommen worden wäre. 2. Auch in Rosenthals früherer Publikation ‚…Wenn alles in Scherben fällt…‘ – Von Leben und Sinnwelt der Kriegsgeneration (1987) findet dieser Begriff noch keine Erwähnung. Rosenthal (1995) diskutiert bei Einführung des Begriffes (vgl. S. 13) nun jedoch nicht, weshalb ihre Wahl auf die Bezeichnung ‚biographische Gesamtsicht‘ fällt. Meines Erachtens ist die Passung zwischen Bezeichnung (‚biographische Gesamtsicht‘) und Begriffsumfang (latent wirkender Mechanismus, ‚der sowohl den Rückblick auf die Vergangenheit, als auch die gegenwärtigen Handlungen und Zukunftsplanungen steuert‘) jedoch nicht ohne weiteres gegeben, geschweige denn selbsterklärend.
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• Gerät die Erzählerin oder der Erzähler zu diesem Thema in einen Erzählfluss? • Warum wird ein Thema nur knapp oder sehr ausführlich erzählt? • Scheint sich die Erzählerin oder der Erzähler an ihrem oder seinem eigenen Relevanzsystem oder an dem Relevanzsystem der Interviewerin oder des Interviewers zu orientieren? • Bei welchen Themen argumentiert, erzählt oder beschreibt die Erzählerin oder der Erzähler? Verweisen z. B. Argumentationen auf latente Themen, die sich von den manifesten, erzählinternen Themen unterscheiden? • Welche sprachlichen Besonderheiten treten in der Erzählung dieses Themas auf, z. B. ungewöhnliche Wortwahl, Störungen im Redefluss (z. B. Stottern), grammatikalische Fehler etc.? (vgl. Rosenthal, 1987, S. 178–179 & Rosenthal, 1995, S. 219) Bei der Analyse der Eingangserzählung empfiehlt es sich, insbesondere den Erzählanfang umfangreich auszulegen (vgl. Rosenthal, 1987, S. 180). Denn an dieser Stelle der Erzählung nehmen Erzählende häufig eine Globalevaluation ihrer Lebensgeschichte vor, d. h., sie verdeutlichen, wie sie ihre Lebensgeschichte verstanden wissen möchten (vgl. Rosenthal, 1987, S. 180). Und die Auslegung dieser Globalevaluation kann einen Hinweis darauf geben, mit welchen Intentionen die Erzählenden ihre Erzählung vornehmen (vgl. Rosenthal, 1987, S. 180). Im Laufe der weiteren Analyse können dann immer längere Textsequenzen analysiert werden (vgl. Rosenthal, 1987, S. 180). Die Analyse des Nachfrageteils unterscheidet sich von der Analyse der Eingangserzählung insofern, als der Erzähltext hierfür nicht mehr gemäß seiner zeitlichen Abfolge, sondern nach Themen bzw. Lebensphasen unterteilt wird (vgl. Rosenthal, 1987, S. 194). Im Fokus der Analyse stehen nun diejenigen Themen, die in der Eingangserzählung gar nicht oder nur beiläufig erzählt werden (vgl. Rosenthal, 1987, S. 194). Die Auslegung der Textsequenz(en) zu diesem Thema orientiert sich dann an der Frage, warum dieses Thema gar nicht oder nur beiläufig in der Eingangserzählung erzählt wird. Dabei muss zunächst davon ausgegangen werden, dass ein Thema, das erst im Nachfrageteil eingeführt wird, in der Eingangserzählung nicht ‚einfach nur vergessen‘ wurde oder nur deshalb nicht erzählt wurde, weil die Erzählerin oder der Erzähler am Anfang der Erzählung noch nicht in einen Erzählfluss geraten war (vgl. Rosenthal, 1987, S. 195). Rosenthal begründet dies wie folgt:
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„Solche Annahmen führen zu keinen Interpretationen des Falles. Meine methodische Grundeinstellung begreift daher die Nicht-Erwähnung von Themen in der Eingangserzählung als Manifestation erzählsteuernder Dimensionen wie z. B.: die Gegenwartsperspektive, Globalevaluationen und die Organisation thematischer Felder der Darstellung. Erst wenn diese Annahme zu keinen plausiblen Interpretationen führt, läßt sich immer noch auf die oben genannten Erklärungen zurückgreifen.“ (Rosenthal, 1987, S. 195)
Auch hier möchte ich zur Veranschaulichung dieses Analyseschrittes ein Beispiel aus der Analyse der lebensgeschichtlichen Erzählung von Luisa geben. Hierfür werde ich zunächst eine knappe Paraphrase der auszulegenden Textsequenz aus Luisas Eingangserzählung geben und anschließend auf textliche oder thematische Besonderheiten verweisen, zu denen verschiedene Lesarten formuliert werden sollen: Paraphrase der Textsequenz Luisa erzählt in der auszulegenden Textsequenz (Sequenz 3 der Eingangserzählung, Länge: 1 min 22 sec) von einem konkreten Ereignis, das sich im Rahmen ihrer Familie ereignete, als sie gerade in die 2. Klasse gekommen war: Luisas Vater – ein selbstständiger Handwerker – erzählt seiner Familie am Abendbrottisch, dass sein Lehrling die Multiplikationsaufgabe ‚3 · 37‘ (Luisa betont hier die Zuverlässigkeit ihrer Erinnerung: „Das weiß ich heute noch.“16 ) nicht lösen konnte. Daraufhin löst die 6- oder 7-jährige Luisa die Aufgabe ohne Probleme im Kopf („Und dann hab ich das eben da am Abendbrottisch eben ausgerechnet.“) und bekommt dafür großes Lob von ihrem Vater („Mein Vater hat mich SEHR dafür gelobt […].“). Luisa nimmt in der Erzählung eine mehrfache Betonung des ungleichen Alters bzw. Bildungsstandes zwischen sich und dem Lehrling ihres Vaters vor: „Mein Vater […] hat nen Lehrling gehabt, der dann ja also so, keine Ahnung, um die 16, 17 war vielleicht […]. Ich war, glaube ich, da gerade so Anfang zweite Klasse. […] Mein Vater hat mich SEHR dafür gelobt, dass ich das kann, obwohl sein (.) ähm (.) Auszubildender das selbst NACH dem Schulabschluss noch nicht kann.“ Mit der Erzählung dieses Ereignisses bezieht sich Luisa das erste Mal innerhalb der Eingangserzählung nicht auf ihre zuvor gezeichnete Kurve (Abschnitt 5.4). Ein Blick auf ihre Kurve deckt auf, dass sie dieses konkrete Ereignis dort
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Um hervorzuheben, dass es sich um Zitate aus den Erzählungen der untersuchten Lehrkräfte handelt, werden Auszüge aus den Transkriptionen dieser Erzählungen in der gesamten Arbeit kursiv gesetzt.
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gar nicht eingezeichnet hatte, sie es also spontan im Erzählfluss zu erinnern scheint. Luisa beendet die Erzählung des Ereignisses mit einer Evaluation darüber, dass sie „das [...] immer darin bestärkt [hat], dass Mathe so voll [ihr] Ding ist“. Sie berichtet abschließend kurz von ihrer Vorliebe für das Knobeln und Problemlösen („Ich glaube, ich mochte es auch einfach immer zu knobeln und ähm (...) ja so dieses (.) Problemlösen.“) sowie ihrer Teilnahme an „Matheolympiaden oder sowas“. Die gesamte Sequenz endet mit einer Evaluation, dass diese „Erfolgserlebnisse dazu bei[trugen], dass [sie] Mathe eigentlich ganz gut mochte“. Lesarten zur Textsequenz Luisa erzählt in dieser Textsequenz von ihrer kognitiven Überlegenheit gegenüber einem ca. zehn Jahre älteren, männlichen Handwerkerlehrling ihres Vaters. Wie kann ihre Entscheidung, diesen ‚Kopfrechensieg‘ in der Eingangserzählung erzählerisch auszugestalten, verstanden werden? 1. Luisa möchte mit der Erzählung dieses Ereignisses das besondere Ausmaß ihrer mathematikbezogenen Leistungsfähigkeit betonen. Sie möchte ihre mathematikbezogene Leistungsfähigkeit derart verstanden wissen, dass sie nicht nur sehr gut, sondern alters- und geschlechtsuntypisch war. 2. Die Erzählung dieses Ereignisses kann als ein Versuch von Luisa verstanden werden, ihre vorherige Selbsteinschätzung als sehr leistungsstarke Schülerin in Mathematik zu bekräftigen. Mit der Erzählung dieses Ereignisses führt Luisa ihren Vater in die Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte ein. Sie erwähnt ihn als ‚lobende Instanz‘. Ihre Schwester und Mutter bleiben an dieser Stelle unerwähnt. Wie können die Erzählung eines Ereignisses im familiären Kontext (Lesart 3), die Erwähnung des lobenden Vaters (Lesart 4), die Erwähnung des Vaters und Nichterwähnung der Mutter (Lesarten 5 und 6) sowie die Nichterwähnung der Schwester (Lesart 7) gedeutet werden? 3. Luisa möchte sich als mathematikbegabt und -interessiert nicht nur im Kontext Schule, sondern explizit im Kontext Familie darstellen. 4. Luisas Selbsteinschätzung als sehr leistungsstarke Schülerin im Fach Mathematik basiert eigentlich ausschließlich auf Fremdeinschätzungen durch ihr soziales Umfeld, in diesem Fall dem Lob ihres Vaters. Aus diesem Grund finden Fremdeinschätzungen gehäuft Erwähnung in ihrer Erzählung. In ihrer bisher noch sehr kurzen Eingangserzählung erwähnte
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sie neben dem Lob des Vaters bereits die Bezeichnung als „Matheküken“ durch die Klassenlehrerin und begründet diese Bezeichnung damit, dass sie „halt die Jüngste und Kleinste war, aber ja äh die Beste in Mathe“. Luisa schreibt ihrem Vater – einem Mann – höheres Urteilsvermögen über mathematische Leistungsfähigkeit zu als ihrer Mutter. (Dieser Lesart liegt zugrunde, dass Mathematik für Luisa eine eher typisch männliche Disziplin ist.) Für Luisa hat das Lob ihres Vaters – einem Mann – bezüglich ihrer mathematischen Leistungen eine höhere Relevanz als das ihrer Mutter. (Auch dieser Lesart liegt zugrunde, dass Mathematik für Luisa eine eher typisch männliche Disziplin ist.) Luisa meidet die Erwähnung ihrer ein Jahr älteren Schwester, um die Positivität des Themas der Erzählung nicht zu gefährden. Aus Perspektive der Schwester könnte dieses konkrete Ereignis nämlich durchaus negativ erlebt worden sein, z. B. als Beginn der Unterlegenheit gegenüber ihrer kleineren Schwester (Luisa). Wie bereits erwähnt, weicht Luisa bei der Erzählung des obigen Ereignisses erstmalig von ihrer zuvor gezeichneten Kurve ab. Was kann der Grund dafür sein, dass Luisa dieses Thema spontan in ihre Erzählung aufnimmt? Luisa möchte sich als genuin mathematikinteressiert verstanden wissen. Sie bemerkt zu diesem Zeitpunkt der Erzählung, dass sie in ihre bisherige Erzählung jedoch nur schulbezogene Ereignisse und Erfolge aufnahm, was von der Interviewerin als Hinweis gesehen werden könnte, dass Luisas Interesse an der Beschäftigung mit Mathematik nur im schulischen Kontext bestand. Um dieser Vermutung vorzubeugen, führt sie spontan eine Erzählung aus dem familiären bzw. Freizeitkontext ein. Luisa erzählt in der vorangegangen Erzählsequenz von einer Art überlegenen Sonderposition, die sie innerhalb ihrer Schulklasse einnimmt. Sie möchte ihre Überlegenheit gegenüber ihrem sozialen Umfeld erzählerisch weiter ausgestalten, indem sie sich auch innerhalb ihrer Familie, d. h., womöglich insbesondere gegenüber ihrer Schwester, als überlegen darstellt. In dieser Lesart würde die Erzählung des obigen Ereignisses sich spontan als ein geeignetes Anschlussthema zur vorherigen Textsequenz herausstellen, um ein thematisches Feld wie ‚Meine kognitive Überlegenheit gegenüber meinem sozialen Umfeld‘ weiter auszugestalten. Ihre Präferenz für das ‚Knobeln‘ und ‚Problemlösen‘ scheint Luisa als eine Art Beleg dafür anzuführen, dass Mathematik ‚voll ihr Ding sei‘. Warum aber erwähnt sie diese Präferenz nur in knapper Berichtform?
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10. Es ‚spricht‘ an dieser Stelle der mathematikdidaktische Diskurs durch Luisa. Sie benennt ‚Knobeln‘ und ‚Problemlösen‘ als ihre Präferenzen, da eine Präferenz für diese Tätigkeiten in der Mathematikdidaktik allgemeinhin als Anzeichen für Interesse an der Beschäftigung mit mathematischen Inhalten gesehen wird. Nach dieser Lesart wären ihre Präferenzen ‚frei erfunden‘, sodass Luisa sie deshalb auch nur benennen, aber nicht weiter erzählerisch ausgestalten kann. 11. Bei der Multiplikationsaufgabe ‚3 · 37‘, von deren Lösung Luisa in der obigen Textsequenz erzählt, handelt es sich eigentlich um eine relativ simple Rechenaufgabe, für deren Lösung lediglich das Wissen über eine passende Rechenstrategie benötigt wird. Luisa ist es in ihrer Erzählung jedoch wichtig, den Umfang und die Qualität ihrer Interessiertheit an der Beschäftigung mit Mathematik darzustellen, sodass sie der Erzählung des Ereignisses möglichst schnell – und deshalb nur in knapper Berichtsform – ihre weiteren mathematikbezogenen Präferenzen hinzufügen möchte. Im Anschluss an den Bericht über ihre Präferenz für ‚Knobeln‘ und ‚Problemlösen‘ berichtet Luisa von ihrer Teilnahme an „Matheolympiaden oder sowas“. Wie kann diese unspezifische Charakterisierung ‚oder sowas‘ verstanden werden? 12. Luisa hat eigentlich nicht an Mathematikolympiaden teilgenommen, sondern z. B. an anderen, möglicherweise weniger institutionalisierten Mathematikwettbewerben. Sie fügt ihrer Aussage in der Erzählung ein ‚oder sowas‘ im Sinne von ‚oder sowas ähnliches‘ hinzu, um die Falschheit der Aussage abzumildern. (In dieser Lesart unterliegt Luisa im Anschluss an eine bewusst falsche Darstellung eines Ereignisses einer Art ‚nachträglichem Ehrlichkeitszwang‘.) 13. Die Anmerkung ‚oder sowas‘ kann auch als nachträgliche Abwertung der zuvor erwähnten Mathematikolympiaden verstanden werden (im Sinne von ‚oder sowas blödes‘, ‚oder sowas unwichtiges‘ etc.). Luisas Teilnahme an Mathematikolympiaden besitzt in dieser Lesart aus ihrer Gegenwartsperspektive keine Wichtigkeit mehr. Eventuell verurteilt sie rückwirkend ihre Teilnahme an diesem Wettbewerb bzw. sogar das Konzept des Wettbewerbs an sich. 14. Luisa möchte ihre Teilnahme an Mathematikolympiaden nicht näher ausführen. ‚Oder sowas‘ kann hier als Unbereitschaft verstanden werden, weiter von diesen Ereignissen zu erzählen. Ein möglicher Grund für ihre Erzählunbereitschaft könnte darin bestehen, dass Luisas Teilnahmen an Mathematikolympiaden nicht erfolgreich waren.
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Nachdem sie dies bereits in der Sequenz 2 der Erzählung tat, nimmt Luisa auch in dieser dritten Sequenz zwei Evaluationen darüber vor, dass sie Mathematik wegen ihrer mathematikbezogenen Erfolge mochte: 1. Nach der Erzählung über ihr erfolgreiches Lösen der Multiplikationsaufgabe ‚3 · 37‘ evaluiert sie: „Ja ich glaube, das hat mich immer darin bestärkt, dass Mathe so voll mein Ding ist.“, 2. Die gesamte Textsequenz endet mit folgender Evaluation: „Das hat immer (..) ähm (.) eben durch diese Erfolgserlebnisse dazu beigetragen, dass ich Mathe eigentlich ganz gut mochte.“ Auffällig ist in der zweiten Evaluation der Gebrauch der relativierenden Adverbien ‚eigentlich‘ und ‚ganz gut‘. Es stellt sich hier die Frage: Wie können die wiederholten Evaluationen, dass Luisa Mathematik wegen ihrer mathematikbezogenen Erfolge mochte (Lesarten 15 und 16), und der Gebrauch relativierender Adverbien (Lesarten 17 und 18) gelesen werden? Luisa ist der Auffassung, dass ihr Interesse an der Beschäftigung mit Mathematik zu einem großen Teil durch ihre Erfolge in dem Fach geweckt und aufrechterhalten wurde. Die Intention ihrer wiederholten Evaluationen ist es, diesen Einblick mit der Interviewerin zu teilen. Luisa möchte in Gegenwart der Interviewerin erkenntlich machen, dass sie bereits ein hohes Reflexionsniveau gegenüber ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte erreicht hat bzw. hohe Reflexionsbereitschaft gegenüber ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte besitzt. Sie möchte sich durch ihre Evaluationen aus Gegenwartsperspektive von ihrer ‚unreflektierten‘ Vergangenheitsperspektive, in der ihr nicht bewusst war, dass sie Mathematik wegen ihrer mathematikbezogenen Erfolge mochte, explizit distanzieren. Der Gebrauch relativierender Adverbien in der Aussage ‚dass ich Mathe eigentlich ganz gut mochte‘ könnte darauf hinweisen, dass Luisa zum erzählten Zeitpunkt Mathematik eigentlich nicht deutlich mehr mochte als andere Unterrichtsfächer. Ihre Vorliebe für Mathematik gegenüber anderen Fächern war also in der erlebten Lebensgeschichte nicht derart ausgeprägt, wie sie es in ihrer erzählten Lebensgeschichte gern darstellen möchte. Ähnlich wie in Lesart 12 kann die Verwendung relativierender Adverbien derart gedeutet werden, dass Luisa bei einer bewusst falschen Darstellung eines Ereignisses einer Art ‚Ehrlichkeitszwang‘ unterliegt. Luisa möchte mit ihrer Erzählung überraschen. Sie hält durch den Gebrauch relativierender Adverbien die Erwartungen der Zuhörenden niedrig, um dann in der folgenden Erzählung mit der ‚Übererfüllung‘ dieser Erwartungen zu überraschen.
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Es zeichnet sich zu diesem Zeitpunkt der Erzählung langsam ab, dass Luisa generell zum Einschub von Evaluationen vor oder nach der Erzählung eines Ereignisses neigt. Diese Evaluationen thematisieren meist ihr Verhältnis zur Mathematik oder ihren Erfolg im Fach Mathematik. In der bisherigen, vierminütigen Eingangserzählung nahm Luisa folgende sechs Zwischenevaluationen (exklusive einer längeren Globalevaluation zu Erzählbeginn) vor: 1. „Ich hatte immer ein sehr gutes Verhältnis zur Mathematik“ (Sequenz 1), 2. „[Ich] war da, glaub ich, schon ganz gut dabei“ (Sequenz 2), 3. „[Ich] war da, glaube ich, schon dann ziemlich gut in Mathe“ (Sequenz 2), 4. „Und da äh gabs halt einfach einige sone Dinge, wo ich, glaub ich, ziemlich erfolgreich (.) war (.) schon so zeitig und deswegen auch Mathe immer mochte und es immer zu meinen Lieblingsfächern gehörte“ (Sequenz 2), 5. „Ja ich glaube, das hat mich immer darin bestärkt, dass Mathe so voll mein Ding ist“ (Sequenz 3), 6. „Das hat immer (..) ähm (..) eben durch diese Erfolgserlebnisse dazu beigetragen, dass ich Mathe eigentlich ganz gut mochte“ (Sequenz 3). Es entsteht die Frage, welche Funktion diese wiederholten Zwischenevaluationen in Luisas Erzählung erfüllen? 19. Luisa kann sich schwer einem Erzählfluss hingeben aus Angst, die Kontrolle darüber zu verlieren, wie ihre erzählten Ereignisse von der Interviewerin interpretiert werden. Sie nimmt regelmäßig Zwischenevaluationen vor, um die Interpretationen der Interviewerin zu lenken. 20. Luisa kann sich schwer einem Erzählfluss hingeben aus Angst, negative Ereignisse zu erinnern oder zu erzählen. Sie nimmt regelmäßig positive Zwischenevaluationen vor, um nicht von ihrer intendierten, positiven Darstellung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte ‚abzukommen‘. 21. Die wiederholten Zwischenevaluationen erfüllen die Funktion, die Interviewerin auf Luisas hohes Reflexionsniveau bzw. ihre hohe Reflexionsbereitschaft bezüglich ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte hinzuweisen. Auswertung der möglichen Lesarten Eine Darstellung der nun folgenden Auswertung aller 21 Lesarten würde den Rahmen dieses Kapitels überschreiten. Es sei an dieser Stelle stattdessen darauf verwiesen, dass die Auswertung analog der ‚Auswertung der möglichen Lesarten‘ in der Analyse der biographischen Daten vorgenommen wird, d. h.: Durch nachfolgende Textsequenzen können sich Lesarten zu vorausgehenden Textsequenzen als weniger wahrscheinlich oder wahrscheinlicher herausstellen. Als ein kurzes Beispiel sei hier die Auswertung der Lesart 20 angeführt:
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In dieser Lesart wird die Möglichkeit ausformuliert, dass sich Luisa aus Angst, negative Ereignisse zu erinnern oder zu erzählen, nur schwer einem Erzählfluss hingeben kann und stattdessen zu positiven Zwischenevaluationen neigt. In mehreren nachfolgenden Textsequenzen aus dem Nachfrageteil zeigt sich jedoch, dass Luisa zwar weiterhin zu positiven Zwischenevaluationen neigt, sie aber durchaus auch in der Lage ist, ausführlich und mehrfach von negativen Erlebnissen zu erzählen. Die Lesart, dass sie negative Erlebnisse nicht erinnern kann oder will, kann also nicht aufrechterhalten werden. Solch eine Auslegung einer Textsequenz wird nun für alle weiteren Textsequenzen der Eingangserzählung sowie des Nachfrageteils wiederholt. Im Falle von Luisas Fallanalyse legte ich weitere zwölf Sequenzen aus der Eingangserzählung sowie weitere 22 Sequenzen aus dem Nachfrageteil, also insgesamt 35 Textsequenzen, aus. Wie bei der Analyse der biographischen Daten verbleiben am Ende dieses Analyseschrittes nur bestimmte Lesarten als möglich. Diese sind es, die im nächsten und dritten Analyseschritt einbezogen werden, in welchem die Textund Themenfeldanalyse mit der Analyse der biographischen Daten kontrastiert wird.
5.3.2.3 Zur Rekonstruktion der Fallgeschichte Im dritten Analyseschritt – der Rekonstruktion der Fallgeschichte – werden alle weiteren Erlebnisse und Ereignisse der Lebensgeschichte, die im ersten Analyseschritt zunächst nicht als biographisches Datum klassifiziert wurden, zusammengetragen und in die biographischen Daten aufgenommen (vgl. Rosenthal, 1995, S. 220). Es entsteht also eine ‚neue‘ Sammlung biographischer Daten, die analog dem ersten Analyseschritt im chronologischen Verlauf der erlebten Lebensgeschichte rekonstruiert und nun jedoch – und das macht die Besonderheit dieses dritten Analyseschrittes aus – mit den Erzählungen und Interpretationen der Erzählerin oder des Erzählers kontrastiert wird (vgl. Rosenthal, 1995, S. 220). Jedes einzelne biographische Datum wird dabei im Zusammenhang mit all den Textsequenzen aus der Erzählung betrachtet, die sich auf dieses Datum beziehen. Die vorangegangene Text- und Themenfeldanalyse konnte hier Einblick in die Gegenwartsperspektive der Erzählenden auf ein Ereignis sowie die funktionale Bedeutung der Erzählung und Interpretation dieses Ereignisses für die erzählte Lebensgeschichte geben (vgl. Rosenthal, 1995, S. 220). Das Ziel der Rekonstruktion der Fallgeschichte ist es nun jedoch – analog zur Analyse der biographischen Daten – die funktionale Bedeutung eines Ereignisses für die erlebte Lebensgeschichte, also die Vergangenheitsperspektive der Erzählenden, zu rekonstruieren (vgl. Rosenthal, 1995, S. 220). Am Ende dieses Analyseschrittes
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können neben Hypothesen über die funktionale Bedeutung eines Ereignisses für die erlebte Lebensgeschichte auch Hypothesen über die biographische Gesamtsicht („den latent wirkenden Mechanismus, der sowohl den Rückblick auf die Vergangenheit, als auch die gegenwärtigen Handlungen und Zukunftsplanungen steuert“ (Rosenthal, 1995, S. 13, Hervorhebung CSG)) und Gesamtevaluation (‚die den Erzählenden bewusst zugängliche Interpretation einzelner Ereignisse und der gesamten Lebensgeschichte‘ (vgl. Rosenthal, 1995, S. 13)) aufgestellt werden (vgl. Rosenthal, 1995, S. 220). Auch dieser Analyseschritt soll durch ein kurzes Beispiel aus der Analyse von Luisas Lebensgeschichte verdeutlicht werden: Es wurde beispielhaft für den ersten Analyseschritt das folgende biographische Datum aus Luisas sehr frühen mathematikbezogenen Lebensgeschichte analysiert: Ein Jahr vor Luisas eigener Einschulung wird ihre Schwester eingeschult. Luisa guckt ihrer Schwester regelmäßig bei den Hausaufgaben zu und bearbeitet diese auch mit. Zu diesem biographischen Datum wurde u. a. die Lesart aufgestellt, dass Luisa unter der Abwesenheit ihrer Schwester leidet, als diese in die Schule kommt. Dass sie die Schulaufgaben ihrer Schwester bearbeitet, wurde in dieser Lesart als ein Anzeichen dafür gelesen, dass Luisa die Nähe ihrer Schwester sucht und mit ihr Zeit verbringen möchte. Die Analyse dieses biographischen Datums kann nun in der Rekonstruktion der Fallgeschichte u. a. mit folgender Textstelle aus dem Nachfrageteil angereichert werden, in der Luisa das schwesterliche Verhältnis evaluiert: „Dadurch, dass wir halt supernah beieinander sind, also ja nicht mal anderthalb Jahre Altersunterschied, sind wir (.) ähm zum großen Teil wie Zwillinge (.) aufgewachsen, deswegen war es für mich, glaub ich, immer total normal, dass ich alles so mache wie sie.“ Es zeigt sich, dass die Analyse des obigen biographischen Datums durch die Hinzunahme einer sich darauf beziehenden Textstelle inhaltlich verdichtet werden kann. Ganz konkret kann nun folgende Hypothese bezüglich der funktionalen Bedeutung der Einschulung von ihrer Schwester für Luisas erlebte mathematikbezogene Lebensgeschichte aufgestellt werden: Luisa hat zum Zeitpunkt des Schulbeginns ihrer ein Jahr älteren Schwester ein sehr enges Verhältnis zu ihr. Sie erlebt sich und ihre Schwester eigentlich als gleichaltrig, d. h., es fällt ihr schwer zu akzeptieren, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht auch wie ihre Schwester in die Schule kommt. Luisa sieht in ihrem – im Vergleich zur Schwester: geringeren – Alter den Grund für die erlebte Benachteiligung. Sie leidet zum Zeitpunkt der Einschulung der Schwester förmlich unter ihm. Luisa guckt ihrer
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Schwester in deren erstem Schuljahr nicht nur regelmäßig bei den Hausaufgaben zu, sondern führt sie auch selbst aus. Sie nimmt sich den Aufgaben an, um mehr Zeit in der Nähe ihrer Schwester verbringen zu können. Es scheint für sie zu diesem Zeitpunkt außerdem aufgrund des geringen Altersunterschiedes ganz ‚normal‘, sich denselben Themen und Aktivitäten wie ihre Schwester zu widmen. Die Kontrastierung bzw. Anreicherung eines biographischen Datums mit den Erzählungen und Interpretationen dieses Datums durch die Erzählenden wird für jedes weitere biographische Datum wiederholt. Natürlicherweise wirft dieser Analyseschritt Fragen bzw. Unklarheiten bezüglich der funktionalen Bedeutung bestimmter Ereignisse für die erlebte Lebensgeschichte auf. Es empfiehlt sich, diese zeitnah nach ihrem Auftreten zu notieren. So entstehen im Zuge dieses Analyseschrittes neben den Hypothesen auch ‚Interpretationsdesiderate‘, die im nächsten Analyseschritt – der Feinanalyse von Textstellen – bearbeitet werden können (vgl. Rosenthal, 1995, S. 221).
5.3.2.4 Zur Feinanalyse einzelner Textstellen (im Sinne der objektiven Hermeneutik) Die Feinanalyse einzelner Textstellen orientiert sich am Verfahren der Textauslegung im Sinne der objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann et al. (1979 & 1983).17 Das Ziel der Auslegung eines Textes im Sinne der objektiven Hermeneutik ist es, objektive Bedeutungsstrukturen eines Textes zu rekonstruieren (vgl. Oevermann et al., 1983, S. 95). Oevermann et al. (1983) begründen diesen Fokus auf die objektiven statt ‚subjektiven‘ Bedeutungsstrukturen eines Textes wie folgt:
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In der mathematikdidaktischen Forschung existieren bereits mehrere Arbeiten, die sich auf diese Methode bzw. ihre Methodologie stützen: So nimmt Voigt (1983) Feinanalysen von Unterrichtsszenen vor, um Interaktionsmuster zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern zu rekonstruieren. Und so legt Meyerhöfer (2005) Aufgaben aus PISA-Tests im Sinne der objektiven Hermeneutik aus, um latente Sinnstrukturen der Aufgabentexte herauszuarbeiten. (Es findet sich bei Meyerhöfer (2005) zudem eine sehr ausführliche Darstellung der Methodologie und Praxis des objektiv-hermeneutischen Auslegens eines Textes (vgl. S. 63–94). Grund dieser ausführlichen Darstellung ist, so Meyerhöfer (2005), dass „mit [seiner] Arbeit die Objektive Hermeneutik neu in die Mathematikdidaktik eingeführt wird“ (S. 12).) Krumsdorf (2017) hingegen nutzt die objektive Hermeneutik zwar auch als Forschungsmethode, aber vorrangig zur Theoretisierung seines Forschungsgegenstandes, dem beispielgebundenen Beweisen. Söhling (2017) interpretiert Problemlöseprozesse in Anlehnung an das Vorgehen der objektiven Hermeneutik. Und Vogler (2020) rekonstruiert in objektiv-hermeneutischen Analysen Mathematiklernen in Interaktionen zwischen Kindern und Erzieherinnen und Erziehern im Kindergarten.
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„Man kann das auch so ausdrücken, daß ein Text, wenn er einmal produziert ist, eine eigengesetzliche, mit eigenen Verfahren zu rekonstruierende soziale Realität konstituiert, die weder auf die Handlungsdispositionen und psychischen Begleitumstände auf seiten des Sprechers noch auf die innerpsychische Realität der Rezipienten zurückgeführt werden kann. Aus diesem Grunde halten wir es von vornherein für verfehlt, die Bedeutungen eines Textes durch Schlüsse über die Intention des Produzenten oder das Verständnis konkreter Rezipienten erschließen zu wollen und – wie in den Sozialwissenschaften allgemein üblich – Aussagen über die innerpsychische Realität von Handlungssubjekten, über deren Motive, Erwartungen und Wertorientierung also, ohne eine gründliche und gut abgesicherte hermeneutische Rekonstruktion der objektiven Bedeutungsstruktur ihrer Interaktionstexte gewinnen zu wollen.“ (S. 95–96)
Als Analyseschritt im Verfahren einer rekonstruktiven Fallanalyse nach Rosenthal zielt die Feinanalyse einzelner Textstellen im Sinne der objektiven Hermeneutik darauf ab, neben dem von der Erzählerin oder dem Erzähler intendierten bzw. dem manifesten Gehalt einer Erzählung auch ihren latenten Gehalt nachzuzeichnen. Mithilfe dieses Analyseschrittes können Hypothesen aus den vorherigen Schritten zur funktionalen Bedeutung von Ereignissen für die erlebte Lebensgeschichte sowie zur biographischen Gesamtsicht und Gesamtevaluation überprüft und bisher ungeklärte Mechanismen und Regeln der Fallstruktur nachgezeichnet werden (vgl. Rosenthal, 1995, S. 221). Es empfiehlt sich, für die Feinanalyse solche Textstellen auszuwählen, deren Bedeutung in der bisherigen Analyse noch gänzlich verschlossen blieb oder deren intendierter bzw. manifester Gehalt bisher gewonnenen (Struktur-)Hypothesen widerspricht (vgl. Rosenthal, 1995, S. 221). Letztere eignen sich besonders für die Feinanalyse dadurch, dass auf diese Weise bisherige Analyseergebnisse nicht einfach nur bestätigt werden, sondern vielmehr der Versuch unternommen wird, sie zu falsifizieren (vgl. Rosenthal, 1987, S. 205). In der Feinanalyse einer Textstelle sollte von bisherigen Analyseergebnissen und dem Wissen über die erlebte Lebensgeschichte der Erzählerin oder des Erzählers abstrahiert werden (vgl. Rosenthal, 1987, S. 204–205). Die Behauptung, eine solche Abstraktion umsetzen zu können, ist durchaus kritisierbar, denn tatsächlich kann Wissen ja nicht vorsätzlich wieder ‚vergessen‘ werden (vgl. Rosenthal, 1987, S. 205). Rosenthal beschreibt, warum das Bemühen um Abstraktion von Vorwissen dennoch sinnvoll ist und wie die Abstraktion im Verlauf der Feinanalyse einer Textstelle fast auf natürlichem Wege eintritt: „Sicher vergessen kann [man] nicht und will [man] auch nicht – wozu ansonsten der Aufwand der bisherigen Interpretationsarbeit –; es geht vielmehr um die Bemühung, bereits eingefahrenen Interpretationen entgegenzusteuern. Insbesondere dann, wenn
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es dem Interpreten nicht gelingt, seine bisherigen Interpretationen zeitweilig auszublenden, muß er sich bemühen, Gegenlesarten zu formulieren. Zeitweiliges Ausblenden vollzieht sich außerdem – jedenfalls nach meinen Erfahrungen – bei der aufwendigen Prozedur einer Feinanalyse meist ohne besondere Bemühungen. Konzentriert man sich auf die Auslegung einer einzelnen Äußerung, verliert man den konkreten Fall zunehmend aus dem Blick und es eröffnet sich ein umfassender, allgemeiner Bedeutungshorizont.“ (Rosenthal, 1987, S. 205)
Wie alle bisherigen Analyseschritte verläuft auch die Feinanalyse sequentiell, d. h., es wird Sinneinheit für Sinneinheit nacheinander ausgelegt (vgl. Rosenthal, 1987, S. 205). Eine Sinneinheit umfasst dabei jeweils eine nach ihrer hörbaren Gestalt transkribierte und unveränderte Äußerung der Erzählerin oder des Erzählers.18 Die Auslegung einer Äußerung verläuft wie folgt: Zu jeder Äußerung werden vielfältige Kontexte – in Form von kurzen ‚Geschichten‘ – entworfen, in denen die Äußerung sinnvoll erscheint (vgl. Reichertz, 1997, S. 44 & Wernet, 2006, S. 39). Es werden anschließend Strukturgemeinsamkeiten der einzelnen Geschichten herausgestellt und darauf basierend Lesarten über die Bedeutung der zu analysierenden Äußerung aufgestellt (vgl. Wernet, 2006, S. 39). Die Lesarten sollen den gesamten möglichen Bedeutungsraum der Äußerung aufzeigen. Dieses Vorgehen – Geschichten entwerfen, Strukturgemeinsamkeiten herausstellen und Lesarten entwickeln – wird für jede weitere Äußerung der Textstelle wiederholt. Im fortschreitenden Verlauf der Analyse wird es möglich, Lesarten zu vorangegangenen Äußerungen zu prüfen (vgl. Reichertz, 1997, S. 45 & Wernet, 2006, S. 40). Diese Prüfung findet vor dem Hintergrund des tatsächlichen und inneren Äußerungskontextes statt (vgl. Wernet, 2006, S. 40 & S. 43). Als tatsächlicher Äußerungskontext werden die nachfolgenden Äußerungen aus der zu analysierenden Textstelle bezeichnet, als innerer Äußerungskontext das „sich im Zuge der Sequenzanalyse [auftürmende] Selektionswissen“ (Reichertz, 1997, S. 45) über den Fall. Für die Erstellung von Strukturhypothesen zum Fall ist – wie bereits in allen vorangehenden Analyseschritten – nicht nur von Bedeutung, welche Lesarten sich erhärten, sondern auch, welche ausgeschlossen werden. So können an jeder Stelle der Feinanalyse Hypothesen über zwei komplementäre
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Bezüglich der Bestimmung des Umfangs einer solchen Sinneinheit vermerkt Rosenthal: „Es läßt sich […] schlecht definieren, welchen Umfang eine Sinneinheit für den Interpreten hat. Die Sinneinheiten werden eingeteilt nach Pausen, Abbrüchen oder inhaltlichen Einheiten. Um möglichst nichts an Interpretationsmöglichkeiten zu übersehen, um so viele Lesarten wie möglich entwickeln zu können, ist es sinnvoll, die ersten Sinneinheiten, die aufgrund der mannigfaltigen Wahlmöglichkeiten, die dem Fall noch offen stehen, am extensivsten ausgelegt werden, möglichst ‚klein‘ zu halten.“ (Rosenthal, 1987, S. 205)
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Aspekte aufgestellt werden: die offenstehenden Möglichkeiten und die faktische Selektivität eines Falles (vgl. Oevermann et al., 1979, S. 426). Ich möchte anhand von Auszügen aus der Feinanalyse einer Textstelle der Erzählung von Luisa diesen vierten Analyseschritt einer rekonstruktiven Fallanalyse – insbesondere das Auslegen einer Äußerung im Dreischritt ‚Geschichten entwerfen, Strukturgemeinsamkeiten herausstellen und Lesarten entwickeln‘ – beispielhaft darstellen. Zuvor möchte ich zur besseren Verständlichkeit kurz die Auswahl der Textstelle begründen und ihren Kontext im Interview erläutern sowie eine Kurzinterpretation der Interviewfrage (vgl. Wernet, 2006, S. 62–64) vornehmen: Zur Auswahl der Textstelle Die Auslegung der ausgewählten Textstelle, in der Luisa von ihren Lieblingsthemen in der Mathematik erzählt, dient zur Klärung ihrer Motivation für die Beschäftigung mit Mathematik. Der intendierte bzw. manifeste Gehalt der Erzählung in der ausgewählten Textstelle scheint zu sein, dass Luisa sich als sehr mathematikinteressierte und -affine Person darstellt, deren Beschäftigung mit Mathematik aus der Präferenz für bestimmte Themen heraus motiviert ist. In allen drei vorangehenden Analyseschritten wurde jedoch mehrfach die Hypothese aufgestellt, dass Luisas Motivation für die Beschäftigung mit Mathematik vorrangig an das Erbringen sehr guter Leistungen sowie die entsprechende Anerkennung – insbesondere in Form von sehr guten Noten und Lob – gebunden ist. Die vorliegende Textstelle wurde nun genau deshalb zur Feinanalyse ausgewählt, da sie auf manifester Erzählebene einen Widerspruch zur aufgestellten Hypothese darstellt. Durch diesen Widerspruch eignet sich die Stelle für die Widerlegung und Bekräftigung (letzteres selbstverständlich höchstens im Sinne von ‚wahrscheinlicher‘, nicht von ‚sicher‘ werden) der Hypothese. Zum Kontext der Textstelle im Interview Die Textstelle entstammt dem exmanenten Nachfrageteil, welcher den letzten Teil des Interviews darstellt und Nachfragen enthält, die auf selbsttheoretisierende Antworten der interviewten Person abzielen. Zu diesem Zeitpunkt beträgt die Länge des Interviews ca. 1 h 30 min. Der ausgewählten Textstelle geht voraus, dass Luisa von einem Forschungsprojekt erzählt, in dem unter Mathematiklehrkräften erhoben wurde, wie sie dem Thema ‚Wahrscheinlichkeitsrechnung‘ gegenüberstehen. Luisa erzählt
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von vorläufigen Funden innerhalb dieser Untersuchung. Von der recht erwartbaren Gegenfrage, wie sie dem Thema ‚Wahrscheinlichkeitsrechnung‘ gegenübersteht, scheint sie überrascht. Sie antwortet sehr oberflächlich, fast diffus und schließt ihre Antwort dennoch mit der Evaluation „und deswegen (.) finde ich das [die Wahrscheinlichkeitsrechnung, CSG] (.) eigentlich schön“ ab. Luisa wird daraufhin von der Interviewerin gefragt, ob es konkrete Themen in der Mathematik gibt, die ihr besonders Spaß gemacht haben. Kurzinterpretation der Interviewfrage Die Frage der Interviewerin lautet: „Kannst du, (..) ähm wenn du so zurückdenkst über die Zeit, wie du Mathe begegnet bist und so, (...) ist das (..) ähm (..) ist das irgendwie auch themengebunden? (...) Kommen bei dir besondere Themen auf, die dir Spaß gemacht haben?“ Diese Frage besteht – ob beabsichtigt oder nicht – eigentlich aus zwei Teilfragen: 1. Ist deine Beschäftigung mit Mathematik (in der Erinnerung) themengebunden? 2. Erinnerst du dich an Themen, die dir besonders Spaß gemacht haben? Während die erste Frage noch nicht eingrenzt, ob hier nach beliebten oder unbeliebten Themen der Mathematik gefragt wird, geschieht dies durch die zweite Frage jedoch. Warum aber könnte die Interviewerin an dieser Stelle die erste Frage expliziert und auf Themen eingegrenzt haben, die Luisa ‚Spaß gemacht haben‘? Mögliche Gründe hierfür sind folgende: 1. In der bisherigen Erzählung von Luisa wiesen positive Erzählthemen eher eine Verbindung zu sehr guten Leistungen und sozialer Anerkennung auf. Die Eingrenzung der Frage durch die Interviewerin kann als ein absichtliches Nachhaken danach verstanden werden, ob Luisa auch die Beschäftigung mit der Mathematik an sich als positiv erlebte. 2. Luisa unterliegt in ihrer Erzählung einer Art ‚Positivierungszwang‘ bzw. ‚Positivierungstendenz‘ (vgl. hierzu Abschnitt 5.5.2.2). Es wäre möglich, dass die Interviewerin ihre Frage diesem Erzählmuster anpasst, um mit der Frage so erzählgenerierend wie möglich auf Luisa einzuwirken. 3. Die im Laufe der bisherigen Erzählung stattgefundene Selbstdarstellung von Luisa als mathematikinteressierte und -affine Person wurde von der Interviewerin ‚übernommen‘ und damit Unbeliebtheit von Themen in der Mathematik als Antwortoption von Vornherein ausgeschlossen. Theoretisch hat Luisa nun die Auswahl, welche der zwei Teilfragen sie beantwortet. Es scheint jedoch wahrscheinlicher, dass sie auf die zweite Teilfrage eingeht, denn erstens ist die erste Teilfrage eher diffus formuliert und von Pausen durchzogen, was ihre Wirkung beeinträchtigen könnte. Zweitens kann die zweite Teilfrage als eine Reformulierung der fehlformulierten ersten Teilfrage
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verstanden werden und somit die erste Teilfrage nachträglich als ‚überholt‘ markieren. Und drittens mag die zweite Teilfrage aufgrund ihrer Position als letztgenannte Frage intensiver nachwirken und deshalb dominieren. Bezüglich dieser zweiten Frage fällt nun auf, dass es sich um eine Entscheidungsfrage (‚Ja-Nein-Frage‘) handelt. Luisa ist also formal nicht zu einer ausführlichen Antwort in Form einer Erzählung ‚verpflichtet‘, sie könnte stattdessen mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ antworten. Zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt des Interviews wissen beide Gesprächspartnerinnen jedoch um die Erwartungen an ihre Rollen in einem narrativen Interview, d. h. insbesondere, dass Luisa sich darüber bewusst ist, dass ausführliche Erzählungen ihrerseits explizit erwünscht sind.19 Es kann also davon ausgegangen werden, dass sich der zweiten Teilfrage unausgesprochenerweise eine Frage der Form ‚Wenn ja, welche?‘ anschließt. Feinanalyse Luisas20 Antwort auf die obige Frage beginnt mit folgender Äußerung: (A) „Mmh (bejahend). Gute Frage.“ Es werden nun zuerst Geschichten entworfen, in denen diese konkrete Äußerung sinnvoll verwendet werden könnte: a. Eine Professorin stellt ihre Forschungsresultate einem Publikum vor. Ihr wird eine Frage gestellt, mit der sie sich in ihrer Forschung umfangreich beschäftigt hat, sie sagt zu dem Fragesteller: ‚Mmh (bejahend). Gute Frage. Die ist tatsächlich sehr zentral für meine Forschung.‘ 19
Dieser Sachverhalt könnte auch wie folgt beschrieben werden: Luisa erwartet, dass von ihr erwartet wird, dass sie eine ausführliche Erzählung vornimmt. Es zeigt sich hier also eine erwartete Erwartung – oder auch: eine ‚Erwartungserwartung‘ (vgl. Luhmann, 1991, S. 412). Etablierte Erwartungserwartungen – also die Möglichkeit, dass ego erwarten kann, was alter ego von ihm erwartet – bilden, so Luhmann (1991), die Strukturen sozialer Systeme (vgl. S. 411–412). D. h., Erwartungserwartungen beschränken die Verhaltensmöglichkeiten der Beteiligten und ermöglichen so soziale Anschlusssicherheit (vgl. auch Lensing, 2021, S. 178–182 für eine Diskussion dieses Konzepts im mathematikdidaktischen Kontext). 20 Im tatsächlichen Analysevorgehen habe ich bewusst auf die Verwendung des Vornamens verzichtet und stattdessen stets die Bezeichnung ‚Die Erzählerin‘ verwendet. Auf diese Weise wollte ich verstärken, was Rosenthal als natürliche Entwicklung während der Feinanalyse beschreibt, nämlich den konkreten Fall zunehmend aus dem Blick zu verlieren und einen umfassenden, allgemeineren Bedeutungshorizont zu eröffnen (vgl. Rosenthal, 1987, S. 205). Für die beispielhafte Darstellung dieses Analyseschrittes verwende ich jedoch zur besseren Verständlichkeit den Vornamen der Erzählerin.
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
105
b. Ein Mathematiklehrer führt das Thema ‚Binomische Formeln‘ ein. Eine Schülerin unterbricht den Lehrer mit der Frage, warum die Formeln denn eigentlich ‚Binomische Formeln‘ heißen. Der Lehrer sagt daraufhin: ‚Mmh (bejahend). Gute Frage. Dazu wollte ich gerade kommen.‘ c. Die Fahrerin eines E-Autos fragt ihren Beifahrer, der gerade eine Nachricht auf seinem Handy schreibt: ‚Weißt du, wo hier in der Nähe die nächste Ladesäule ist?‘ Er weiß es nicht und antwortet: ‚Mmh (bejahend). Gute Frage. Aber ich hab keine Ahnung und kann auch gerade nicht nachschauen.‘ d. Ein Junge fragt seine Großmutter, ab wann und warum sie eigentlich Pastorin werden wollte. Sie antwortet: ‚Mmh (bejahend). Gute Frage. Darüber habe ich selbst noch nie nachgedacht.‘ Nun gilt es, Strukturgemeinsamkeiten der einzelnen Geschichten herauszustellen: In allen vier Geschichten wird eine generelle Zustimmung zur Frage gegeben bzw. ausgedrückt, dass die Frage berechtigt ist oder als interessant eingestuft wird. Die Geschichten unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Bedeutung, die dem Adjektiv ‚gut‘ in ‚gute Frage‘ zugeschrieben wird: In den Geschichten a und b gilt die Frage als ‚gut‘, weil die Befragten sie sich selbst auch schon gestellt haben. In diesen Geschichten scheint es eine Art ‚Überlegenheit‘ der befragten Person zu geben, weil sie sich die Frage bereits selbst stellte und sie zudem von der fragenden Person antizipierte. In den Geschichten c und d hingegen gilt die Frage als ‚gut‘, weil die Befragten sie sich selbst noch nicht gestellt haben, diese für sie also eine Frage darstellt, auf die sie selbst tatsächlich noch keine Antwort haben. In diesen Geschichten scheinen befragte und fragende Person entweder gleichgestellt oder es zeigt sich sogar eine Art ‚Unterlegenheit‘ der befragten Person, da sie sich die Frage bisher nicht selbst stellte, geschweige denn sie von der fragenden Person antizipierte. Des Weiteren unterscheiden sich die Geschichten hinsichtlich der ‚Antwortfähigkeit‘ der befragten Person und der ‚Schnelligkeit‘ ihrer Antwort: In den Geschichten a und b kann eine Antwort gegeben werden und dies vermutlich auch schnell, weil die Frage schon antizipiert und dementsprechend mögliche Antworten bereits vorformuliert wurden. In der Geschichte d kann zwar auch eine Antwort gegeben werden, im Gegensatz zu den Geschichten a und b aber vermutlich nicht derart schnell, da die befragte Person die Frage nicht antizipierte und keine Antwort vorformulieren konnte. In der Geschichte c kann hingegen keine Antwort gegeben werden.
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Die erste empirische Untersuchung …
Nun werden – basierend auf den Strukturgemeinsamkeiten der einzelnen Geschichten – Lesarten über die Bedeutung der zu analysierenden Äußerung aufgestellt: 1. Luisa signalisiert Interesse an der Frage. Sie hat sich mit dieser bereits beschäftigt. 2. Luisa signalisiert Interesse an der Frage. Sie hat sich mit dieser bereits beschäftigt, wollte sie selbst im Verlauf des Interviews noch thematisieren. 3. Luisa empfindet die Frage als gerechtfertigt. Sie hat sich jedoch noch nicht mit ihr beschäftigt und kann bzw. möchte dies auch im Interview nicht tun. 4. Luisa signalisiert Interesse an der Frage. Sie hat sich noch nicht mit ihr beschäftigt, möchte dies aber tun. Vor dem Hintergrund des tatsächlichen Äußerungskontextes werden sich die Lesarten 1, 2 und 3 im weiteren Verlauf der Analyse als eher unwahrscheinlich herausstellen. Lesarten 1 und 2 werden deshalb eher unwahrscheinlich, weil Luisa hierfür nicht ‚schnell genug‘ antwortet und damit anscheinend keine vorherige Beschäftigung mit der Frage stattgefunden hat. Lesart 3 wird deshalb ausgeschlossen werden, weil eine längere Antwort ihrerseits folgt, die auf Luisas Bereitschaft zur Beschäftigung mit der Frage schließen lässt. Es wird also nur Lesart 4 als eher wahrscheinlich verbleiben, was zu folgender Hypothese führt: Luisa hat sich zuvor womöglich schon länger nicht mehr oder noch gar nicht mit der Frage beschäftigt, an welchen konkreten Themen der Mathematik sie besonders Spaß hatte. Die folgende Äußerung lautet: (B) „[Mmh (bejahend). Gute Frage.] (..) Also (5 sec) mmh (bejahend). Schon ja. (.) Vielleicht schon so ein bisschen.“ Die zweite Analyseeinheit ist als Äußerung recht komplex, sodass es nicht sinnvoll erscheint, das Interpretationsmittel des Geschichtenerzählens auf die Äußerung als Ganze anzuwenden (vgl. Wernet, 2006, S. 73). Denn „wenn wir versuchen [würden], eine Geschichte zu erzählen, so müss[t]en wir den gedankenexperimentellen Kontext dieser Geschichte derart einengen, dass es die Geschichte des vorliegenden Falles selbst [...] [wäre], die wir erzählen“ (Wernet, 2006, S. 73). Die Äußerung wird stattdessen zur weiteren Analyse in einzelne Teiläußerungen zerlegt, deren Einzelinterpretationen am Ende zusammengeführt werden. Diese lauten: „(..) Also (5 sec)“ (1), „Schon ja.“ (2) und „Vielleicht schon so ein bisschen.“ (3).
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
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Zu 1. „(..) Also (5 sec)“ Bei der Analyse dieser Teiläußerung soll auf den Dreischritt ‚Geschichten entwerfen, Strukturgemeinsamkeiten herausstellen und Lesarten entwickeln‘ verzichtet werden.21 Offensichtlich scheint Luisa eine Explikation ihrer vorherigen Antwort zu beginnen. Die Art der folgenden Explikation könnte verschieden sein: Sie könnte einer Schlussfolgerung gleichen, wie z. B. ‚Mmh. Gute Frage. Also will ich darauf auch gut antworten. Lass mich mal genauer überlegen.‘ oder ‚Mmh. Gute Frage. Also ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, weil mir so viele Themen Spaß machen.‘. Sie könnte jedoch auch das zuvor Gesagte wiederholen, wie z. B. ‚Mmh. Gute Frage. Also wirklich sehr gute Frage.‘. Luisa führt aber ihre Explikation nicht fort, sondern bricht diese ab und entscheidet sich nach einer 5-sekündigen Pause, eine Wiederholung einer bereits zuvor getätigten Aussage (‚Mmh (bejahend)‘) vorzunehmen. Die Gründe dieses Abbruchs können vielfältig sein, ihnen gemein ist, dass Luisa ihre Explikation nicht fortführen möchte. Es soll deshalb an dieser Stelle die vorhergehende Hypothese wie folgt erweitert werden: Luisa hat sich zuvor womöglich schon länger nicht mehr oder noch gar nicht mit der Frage beschäftigt, an welchen konkreten Themen der Mathematik sie besonders Spaß hatte. Sie möchte sich eigentlich auch im Interview nicht mit dieser Frage beschäftigen. Zu 2. „Schon ja.“ Hier werden wieder Geschichten entworfen, in denen diese konkrete Äußerung sinnvoll verwendet werden könnte: a. Ein operierender Arzt wird gefragt, ob der Patient die soeben durchgeführte, höchst unkomplizierte und routinierte Zahnoperation wohl überleben wird. Er antwortet: ‚Schon ja.‘ b. Ein Schüler bekommt in einer Arbeit eine ‚4‘ und nicht wie zuvor häufig eine ‚5‘ oder ‚6‘. Er fragt die Lehrerin, ob sie bemerkt hätte, dass er für die Arbeit viel mehr gelernt hat als sonst. Sie antwortet: ‚Schon ja.‘
21
Ein Verzicht auf den Dreischritt kann wie folgt gerechtfertigt werden: „Das interpretatorische Vorgehen muss nicht notwendig den Dreischritt Geschichten, Lesarten, Fallstruktur im Einzelnen ausweisen. Es folgt ihm aber der Sache nach. Eine Kritik der Interpretation muss zu dem Dreischritt zurückkommen. Jede Lesartenstrittigkeit lässt sich auf die Frage zurückführen, ob ein Text in einem gedankenexperimentellen Kontext eine wohlgeformte Äußerung darstellt.“ (Wernet, 2006, S. 72)
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Die erste empirische Untersuchung …
c. Eine Frau erzählt ihrer Freundin von ihrem neuen Freund; er ist bereits der fünfte in den letzten zwölf Monaten. Sie fragt ihre Freundin, ob sie sich darauf freue, ihn kennenzulernen. Diese antwortet: ‚Schon ja.‘ d. Ein Mann fragt seine Frau, ob sie sein Portmonee gesehen hätte. Er könne es nirgendwo finden. Sie findet es sofort und fragt, ob er denn überhaupt gesucht habe. Der Mann antwortet: ‚Schon ja.‘ Strukturgemeinsamkeiten der Geschichten Allen vier Kontexten ist gemein, dass das ‚Schon‘ die Aussagekraft des folgenden ‚Ja‘ modifiziert. Diese Modifikation gestaltet sich jedoch verschieden aus: In Geschichte a entspricht das ‚Schon ja‘ einem ‚Ja klar‘. Das ‚Schon ja‘ ist hier fast ein sarkastisches, denn es stellt ein ‚klares‘ Ja als ein ‚nicht ganz so klares‘ Ja dar und betont damit, wie absurd es ist, ein ‚nicht ganz so klares‘ Ja überhaupt als Antwortoption in Erwägung zu ziehen. In den Geschichten b und c entspricht das ‚Schon ja‘ einem ‚Ja, aber eigentlich nein‘. Hier trägt die Antwort ‚Schon ja‘ also den Charakter, dass die ehrliche Antwort ‚Nein‘ gewesen wäre, diese aber aufgrund situativer Umstände (Rücksicht, Scham etc.) nicht gewählt wurde. In der Geschichte d trägt ‚Schon ja‘ die Bedeutung eines ‚Doch‘. Hier hat ‚Schon ja‘ einen verteidigenden, rechtfertigenden Charakter. Lesarten inkl. Konfrontation mit tatsächlichem Äußerungskontext Die Bedeutung des ‚Schon ja‘ in Geschichte a (ein sarkastisches ‚Ja klar‘) erscheint vor dem Hintergrund der bisher betrachteten Äußerungen bzw. Teiläußerungen als eher unwahrscheinlich. Insbesondere der Explikationsbeginn mit ‚Also‘, der tatsächlich Explikationsbedarf von Seiten Luisas signalisiert, schließt diese Bedeutung aus. Auch die Bedeutung des ‚Schon ja‘ in Geschichte d (‚Doch‘) erscheint vor dem Hintergrund als unwahrscheinlich, dass Luisa zuvor nicht mit einem Vorwurf konfrontiert wurde bzw. mit einer Aussage, der es zu widersprechen gilt. Dies wäre z. B. der Fall, wenn die Frage geheißen hätte ‚Gab es denn keine Themen, die dir besonders Spaß gemacht haben?‘. Es bleibt folglich nur eine Lesart übrig: Das ‚Schon ja‘ kann als ein ‚Ja, aber eigentlich Nein‘ gedeutet werden. Es kann hier folgende Hypothese aufgestellt werden: Es scheint keine konkreten Themen der Mathematik gegeben zu haben, an denen Luisa besonders Spaß hatte.
5.3 Zur Analysemethode: Die rekonstruktive Fallanalyse
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Zu 3. „Vielleicht schon so ein bisschen.“ Die Geschichten, in denen diese konkrete Äußerung sinnvoll verwendet werden könnte, lauten: a. Ein Mann macht seiner Freundin einen Heiratsantrag. Später fragt er sie, ob sie etwas geahnt habe. Sie antwortet: ‚Vielleicht schon so ein bisschen.‘ b. Ein Schüler bekommt in einer Arbeit wie immer eine ‚4‘ und fragt die Lehrerin, ob sie denn aber bemerkt hätte, dass er für die letzte Arbeit viel mehr gelernt hat. Diese antwortet: ‚Vielleicht schon so ein bisschen.‘ c. Eine Frau teilt sich mit ihrem neuen, sehr charmanten Kollegen ein Büro. Ihr Mann ist darüber gar nicht erfreut. Sie fragt ihn, ob er eifersüchtig sei. Er antwortet: ‚Vielleicht schon so ein bisschen.‘ d. Ein Musiker erklärt vehement, dass einzig und allein regelmäßiges Üben entscheidend beim Erlernen seines Instruments war. Er wird gefragt, ob nicht auch Talent eine Rolle gespielt haben könnte. Er antwortet: ‚Vielleicht schon so ein bisschen.‘ Strukturgemeinsamkeiten der Geschichten Allen Geschichten ist gemein, dass ‚Vielleicht schon so ein bisschen‘ dann verwendet wird, wenn eine klare Antwort mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ nicht möglich scheint. Ganz verschieden sind in den Geschichten jedoch die Gründe dafür, dass nicht mit einem klaren ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ geantwortet werden kann: In den Geschichten a und b wird aus Rücksicht auf die fragende (fremde) Person nicht mit einem klaren ‚Ja‘ bzw. ‚Nein‘ geantwortet. In den Geschichten c und d wird gewissermaßen aus Rücksicht auf die gefragte, also die eigene Person nicht mit einem klarem ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ geantwortet. Lesarten inkl. Konfrontation mit tatsächlichem und innerem Äußerungskontext ‚Vielleicht schon so ein bisschen‘ stellt immer noch die Antwort auf die Frage dar, ob es Themen in der Mathematik gibt, die Luisa besonders Spaß gemacht haben. Die Frage wurde von ihr schon mehrfach mit ‚Ja‘ beantwortet (zweifach mit ‚Mmh (bejahend)‘ und zudem mit ‚Schon ja‘), es scheint also unwahrscheinlich, dass mit ‚Vielleicht schon so ein bisschen’ an dieser Stelle wie in den Geschichten a, c oder d ein klares ‚Ja‘ umgangen werden soll. Ebenfalls spricht der innere Kontext, der bisher darauf verweist, dass es keine konkreten Themen in der Mathematik gegeben zu haben scheint, die
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Die erste empirische Untersuchung …
Luisa besonders Spaß machten, dafür, dass mit ‚Vielleicht schon so ein bisschen‘ wohl eher ein klares ‚Nein‘ als Antwort auf die Frage, ob ihr konkrete Themen in der Mathematik besonders Spaß machten, umgangen werden soll. Es schließt sich die Frage nach dem Grund für die Abschwächung des klaren ‚Neins‘ an: Als eher unwahrscheinlich scheint, dass Luisa aus Rücksicht auf die Interviewerin nicht mit ‚Nein‘ antworten möchte, da diese von der Verneinung ihrer Frage nicht berührt würde. (Insbesondere ihre Formulierung als ‚Ja-Nein-Frage‘ eröffnete diese Antwortmöglichkeit ja ganz konkret.) Es verbleibt also die Deutung, dass Luisa die Frage ‚aus Rücksicht auf sich selbst‘ nicht klar mit ‚Nein‘ beantworten kann. Es entsteht – durch die Zusammenführung aller Hypothesen zu den Teiläußerungen – folgende Hypothese: Luisa hat sich zuvor wohl schon länger nicht mehr oder noch gar nicht mit der Frage beschäftigt, an welchen konkreten Themen der Mathematik sie besonders Spaß hatte. Sie möchte sich eigentlich auch im Interview nicht mit dieser Frage beschäftigen, da es ihr womöglich unangenehm ist, dass es keine konkreten Themen der Mathematik gibt, an denen sie besonders Spaß hatte. An dieser Stelle soll der beispielhafte Auszug aus der sequentiellen Feinanalyse einer Textstelle im Sinne der objektiven Hermeneutik abgebrochen werden, obwohl die Feinanalyse natürlich noch für jede weitere Äußerung der Textstelle fortgeführt wurde.22 Dieser kurze Auszug konnte vermutlich einen Einblick darin geben, wie zeitintensiv die sequentielle Feinanalyse einer Äußerung ist. Dieser Zeitaufwand ist unbedingt zu erbringen, denn der „im Alltag stets und überall herrschende[…] und den Prozeß der Sinnexplikation stets vorzeitig abschneidende[…] Handlungsdruck“ (Reichertz, 1997, S. 37) stellt eines der Haupthindernisse auf dem Weg zur Rekonstruktion der objektiven Bedeutungsstrukturen einer Textstelle dar.23 22
‚Neugierigen‘ Leserinnen und Lesern möchte ich die vollständige Textstelle, die in der Feinanalyse untersucht wurde, zur Verfügung stellen: „Mmh (bejahend). Gute Frage. (..) Also (5 sec) mmh (bejahend). Schon ja. (.) Vielleicht schon so ein bisschen. Also ich glaube, ich mochte (.) auch immer gerne (..) alles, was so das klassische Rechnen war. Also ich denke jetzt auch an so so Sachen, wo man einfach Dinge schön (.) runterrechnen konnte und am Ende kam ein schönes Ergebnis raus. Keine Ahnung, Polynomdivision jetzt so später. Oder auch (..) ähm (5 sec) ja, wenn man / (..) ja also meistens so, wenn man erst das Gefühl hat, es ist kompliziert, und am Ende ist es nicht mehr so kompliziert. Also zum Beispiel auch (…) Gleichungen (..) ähm (..) ausgleichen oder ne so (.) kürzen oder (.) ja Terme kürzen oder halt so Sachen. (..) So dieses (.) Rechnerische an sich, sowas mochte ich auch immer we / also vor allem dann, wenn man am Ende ein schönes Ergebnis rausbekam.“ 23 Als weitere Hindernisse führt Oevermann neurotische und/oder ideologische ‚Verblendungen‘ der analysierenden Person sowie ihre fehlende Zugehörigkeit zu und Kompetenzen
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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5.3.2.5 Zur Kontrastierung der erlebten mit der erzählten Geschichte Im letzten Analyseschritt der rekonstruktiven Fallanalyse werden die erlebte und erzählte Lebensgeschichte miteinander kontrastiert (vgl. Rosenthal, 1995, S. 225). Generelles Ziel dieser Gegenüberstellung ist es, Mechanismen der Auswahl und Darstellung von Themen sowie Differenzen zwischen der Vergangenheits- und Gegenwartsperspektive und damit der Temporalität von erzählter und erlebter Geschichte nachzuzeichnen (vgl. Rosenthal, 1995, S. 225). Hat z. B. die Textund Themenfeldanalyse ergeben, dass Luisa sich in ihrer Erzählung als ehemalige Schülerin und Studentin darstellte, die mit sehr wenig Lern- und Arbeitsaufwand sehr gute Mathematikleistungen erzielte, so führte die Feinanalyse von Textstellen dagegen zu dem Ergebnis, dass sie tatsächlich eine eher fleißige Schülerin und Studentin gewesen sein muss, die relativ viel Zeit und Arbeit für ihre sehr guten Noten aufbrachte. Es kann nun die Frage gestellt werden, welche Funktion diese Darstellung für Luisa erfüllt oder umgekehrt, welche Erfahrungen zu dieser Darstellung führen (vgl. Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997, S. 155). Diesen letzten Analyseschritt werde ich an dieser Stelle nicht mehr beispielhaft vorführen, stattdessen verweise ich hierfür auf die ausführlichen Falldarstellungen von Camila und Luisa (Abschnitt 5.5.1 & 5.5.2). Dort wird die Darstellung der rekonstruierten mathematikbezogenen Lebensgeschichte – also der erlebten Lebensgeschichte – stets auch unter Einbezug bzw. in Kontrast zur Erzähl- bzw. Gegenwartsperspektive beider Frauen – also ihrer erzählten Lebensgeschichte – vorgenommen.
5.4
Eine methodologische Anmerkung: Zum Zeichnen der eigenen Lebensgeschichte
In den Abschnitten 5.1–5.3 konnte begründet und erläutert werden, dass ich mir dadurch einen Zugang zu der erlebten mathematikbezogenen Lebensgeschichte der untersuchten Lehrkräfte verschaffe, dass ich sie Erzählungen von diesem Teil ihrer Lebensgeschichte vornehmen lasse. Was in diesen Kapiteln jedoch noch nicht näher diskutiert wurde, ist die Tatsache, dass die Lehrkräfte in Vorbereitung auf diese Erzählung auch eine Zeichnung erstellen sollten – genauer: dass sie ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte in Form einer Kurve in in der untersuchten Sprach- und Interaktionsgemeinschaft an (vgl. Reichertz, 1997, S. 36– 37). Als günstige Bedingung hingegen gelte, wenn mehrere nahezu ‚streitsüchtige‘ Personen gemeinsam eine Textstelle auslägen (vgl. Reichertz, 1997, S. 36–37).
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Die erste empirische Untersuchung …
einem Koordinatensystem darstellen sollten. Für diese graphische Darstellung bekommen die Lehrkräfte eine Vorlage (s. Abbildung 5.1) und die Aufgabe gestellt, ihre ‚mathematikbezogene Lebenskurve‘ zu entwerfen. Eingezeichnete Punkte im Koordinatensystem stehen dabei für bestimmte mathematikbezogene Lebensereignisse, wobei die x-Koordinate den Lebenszeitpunkt angibt und die y-Koordinate auf die ‚positive‘ oder ‚negative‘ Tendenz im mathematikbezogenen Erleben (‚Mathelust‘ oder ‚Mathefrust‘) zu diesem Zeitpunkt verweist. Mathematikbezogene Lebensphasen können entsprechend durch Kurvensegmente dargestellt werden. Ziel des Erstellens dieser Kurve ist es, dass die erstellte Kurve unterstützend für die nachfolgende Erzählung wirkt, und zwar einerseits dadurch, dass die Lehrkräfte schon beim Zeichnen damit beginnen, sich ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte in Erinnerung zu rufen. Die Annahme ist hier, dass es ihnen dann im Anschluss leichter fällt, überhaupt eine längere zusammenhängende Erzählung zu ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte vorzunehmen. Denn im Gegensatz zu dem gewöhnlichen Fall einer biographischen Gesamtsicht auf die eigene Lebensgeschichte wird man im Fall der mathematikbezogenen Lebensgeschichte davon ausgehen müssen, dass sie von den Lehrkräften in vielen Fällen noch nie zuvor erzählt wurde. Das vorherige Zeichnen der Kurve soll den Lehrkräften also dazu dienen, ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte „zum Zwecke der Selbstvergegenwärtigung zu strukturieren“ (Marotzki, 1990, S. 137), um sie auf diesem Weg überhaupt erst ‚erzählbar‘ zu machen. Andererseits liegt den Lehrkräften ihre gezeichnete Kurve dann aber auch während des Erzählens vor, d. h., sie können sich an ihr orientieren und sich auf sie beziehen. Ich bitte die erzählenden Personen in meinem Erzählimpuls jedoch ausdrücklich darum, in ihrer Erzählung über die in der Kurve eingezeichneten Ereignisse und Lebensphasen hinauszugehen. Dies tue ich durch den folgenden Hinweis: Ich möchte heute von deiner mathematikbezogenen Lebensgeschichte erfahren. […] Du kannst anhand deiner Kurve erzählen, die du im Voraus gezeichnet hast. Mich interessiert aber auch alles, was dir über die Kurve hinaus spontan einfällt. Es ist nun davon auszugehen, dass es für die Erzählung der mathematikbezogenen Lebensgeschichte – und also auch für ihre Erhebung und Analyse – einen Unterschied macht, ob ihr das Zeichnen einer solchen Kurve vorausgeht oder nicht. Aus diesem Grunde soll im Folgenden eine methodologische Reflexion erfolgen, in der ich genauer zu identifizieren versuche, welche Einflüsse das Zeichnen der Kurve konkret auf die Erzählung haben kann und wie ich auf diese möglichen Einflüsse in der Datenerhebung und -analyse reagieren werde. Ich werde erstens darstellen, welche Einflüsse des Zeichnens der Kurve sich explizit in der Erzählung zeigen (Abschnitt 5.4.1). Zweitens gehe ich dann auf die Einflüsse impliziter Natur ein (Abschnitt 5.4.2). Und schließlich stelle ich drittens
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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Mathelust
Lebenszeit
Mathefrust
Abbildung 5.1 Vorlage für die ‚mathematikbezogene Lebenskurve‘
dar, welche methodischen Konsequenzen ich aus diesen möglichen Einflüssen für die Durchführung der biographisch-narrativen Interviews und die rekonstruktive Fallanalyse gezogen habe (Abschnitt 5.4.3).
5.4.1
Zu in der Erzählung expliziten Einflüssen der Kurve
Von einem Einfluss der Kurve auf die Erzählung, welcher sich explizit in der Erzählung zeigt, möchte ich immer dann sprechen, wenn in einer Erzählung die Kurve selbst zum Thema gemacht wird. Eine solche Thematisierung kann auf mindestens zwei verschiedene Weisen erfolgen: 1. Thematisierung des Verhältnisses von Kurve zu erlebter mathematikbezogener Lebensgeschichte: Bei einer solchen Thematisierung wird in der Erzählung auf die Passung bzw. Nichtpassung zwischen der Kurve und dem in ihr dargestellten Erleben eingegangen. Als Thematisierung dieser Art gilt, wenn Aussagen über Kurve und Erleben zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dies kann z. B. durch die Verwendung von logischen Konnektoren (z. B. darum, deswegen) oder indexikalischen Ausdrücken (z. B. da, hier, dort, an dieser Stelle, an diesem Punkt) erfolgen.
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Die erste empirische Untersuchung …
• Ein Beispiel24 für die Passung zwischen Kurve und Erleben wäre: „[O]bwohl ich eben vorzeitig eingeschult wurde und die Jüngste in der Klasse war, [hatte ich] schon sehr viele Erfolgserlebnisse, […] darum steigt das hier ziemlich schnell an.“ • Als ein Beispiel für die Nichtpassung zwischen Kurve und Erleben hingegen kann gelten: „Und dann kommt das Studium. Da geht es wieder so ein bisschen hoch. Da (..) ähm (.) hatte ich wieder ziemlich Erfolgserlebnisse, würde ich sagen. Also es könnte fast sogar noch ein bisschen (.) höher gehen in der Zeichnung.“ Die Thematisierung des Verhältnisses zwischen der Kurve und dem in ihr dargestellten Erleben kann meines Erachtens in zwei Richtungen verlaufen: Es kann durch die Kurve auf das Erleben ‚geblickt‘ werden oder aber – genau anders herum – durch das Erleben auf die Kurve. • Ein Blicken durch die Kurve auf das Erleben kann durch folgenden Erzählausschnitt veranschaulicht werden: „Ich würd sagen, son bisschen (.) runter ging es [= Kurve] dann (..) so (.) ja in der vierten Klasse. Da hatten wir dann nicht mehr unsere KLASSENlehrerin, sondern eine ANDERE Lehrerin in Mathe, (..) bei der es eigentlich auch ganz gut ging, aber die war ein bisschen strenger und hat mir, OBWOHL ich 1,5 stand, ne ZWEI auf dem Zeugnis gegeben. Und das hat mich schon gewurmt [= Erleben].“ • Ein Beispiel für ein Blicken durch das Erleben auf die Kurve wäre: „Da hatte ich dann zum ersten Mal auch einfach Phasen, wo ich Dinge nicht auf Anhieb verstanden hab, sondern auch manchmal ein bisschen gebraucht hab, eh ich da was durchstiegen habe. (..) Ähm (..) was aber immer ziemlich schnell dann auch wieder ging [= Erleben], deswegen sind es nur kleine Aufs und Abs [= Kurve].“ 2. Thematisierung des Erstellungsprozesses der Kurve: Bei einer solchen Thematisierung wird das Erstellen der Kurve thematisiert, z. B. die konkrete Vorgehensweise beim Zeichnen. • Als ein Beispiel für eine Thematisierung des Erstellungsprozesses der Kurve kann folgender Erzählausschnitt gelten: „Ich [habe] das hier vorne deutlich mehr in die Länge gestreckt. Und hier hinten ist es ja dann alles deutlich geraffter, weil kein Platz mehr war. Und hier habe ich ja dann auch immer angefangen so ne / Dann wollte ich nen Hoch zeichnen und hab gemerkt, nee 24
Die Beispiele in diesem Abschnitt entnehme ich den biographisch-narrativen Interviews, die ich führte. Die Überlegungen, die ich in diesem Abschnitt vorstelle, stellen jedoch theoretische Vorüberlegungen dar, die ich vor der Interviewerhebung anstellte. D. h., ich veranschauliche in diesem Abschnitt meine theoretischen Vorüberlegungen gewissermaßen nachträglich mit praktischen Beispielen aus den Interviews.
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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ich muss das kürzen, damit ich hier nicht zu weit rüberkomme. Das ist mir an manchen Stellen passiert, dass ich dann gedacht habe, nee ich muss nochmal ein bisschen raffen. Also immer, wenn man sieht, dass ich hier radiert habe, dachte ich, nee ich muss das mal ein bisschen (..) ähm (.) zusammenfügen wieder.“ Beide Arten der expliziten Thematisierung der Kurve deute ich nun als Anzeichen dafür, dass das vorherige Zeichnen der Kurve einen Einfluss auf die Erzählung ausübt. Ich gehe überdies aber davon aus, dass die Kurve auch einen Einfluss auf die Erzählung haben kann, welchen die erzählenden Personen selbst nicht zu explizieren vermögen. Von welcher Art dieser Einfluss sein kann, möchte ich im nächsten Abschnitt diskutieren.
5.4.2
Zu in der Erzählung impliziten Einflüssen der Kurve
Auch in Phasen der Erzählung, in denen keine der oben genannten expliziten Thematisierungen der Kurve vorgenommen wird, kann das vorherige Zeichnen der Kurve einen Einfluss auf die Erzählung haben. Das Zeichnen der Kurve kann nämlich – ohne, dass dies thematisch expliziert wird – die Struktur der Erzählung beeinflussen; in solch einem Fall möchte ich von einem impliziten Einfluss der Kurve auf die Erzählung sprechen. Die Basis meiner Überlegungen ist hier die folgende Annahme: Den untersuchten Lehrkräften sind – nicht zuletzt aus ihrer eigenen Teilnahme am Mathematikunterricht – sicher eine Vielzahl an Regeln und Gewohnheiten bekannt, die das Erstellen mathematischer Kurven betreffen und an denen sie sich nun – aller Wahrscheinlichkeit nach – auch beim Erstellen ihrer ‚mathematikbezogenen Lebenskurve‘ orientieren. Und da die erstellte Kurve den Lehrkräften dann im nächsten Schritt als Erzählgrundlage dient, werden diese Regeln und Gewohnheiten letztlich auch die Struktur der Erzählung beeinflussen. Auf drei solcher Regeln und Gewohnheiten beim Erstellen mathematischer Kurven, die meines Erachtens einen Einfluss auf die Struktur der Erzählung ausüben können, möchte ich genauer eingehen: 1. Beschriftung der Achsen, Richtung der Achsen: Die Beschriftung einer Achse in einem Koordinatensystem gibt üblicherweise vor, welche ‚Größe‘ auf dieser Achse abgetragen wird; eine Pfeilspitze an einer Koordinatenachse gibt üblicherweise vor, dass die Größenwerte, die auf dieser Achse abgetragen werden, in Richtung der Pfeilspitze aufsteigen. In der Vorlage, die den untersuchten Lehrkräften für das Zeichnen ihrer Kurve zur Verfügung gestellt wird, ist die
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Die erste empirische Untersuchung …
y-Achse des Koordinatensystems nun wie folgt gestaltet: Sie ist mit ‚Mathelust‘ und ‚Mathefrust‘ beschriftet, die Pfeilspitze weist bei ‚Mathelust‘ nach oben und bei ‚Mathefrust‘ nach unten (s. Abbildung 5.1). Den zeichnenden Personen wird durch die Beschriftung und Richtungsbestimmung der y-Achse also vorgegeben, im ersten Quadranten des Koordinatensystems eher ‚positiv bewertete‘ Erlebnisse ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte einzuzeichnen, nämlich solche, die zu ‚Mathelust‘ führten, und im vierten Quadranten eher ‚negativ bewertete‘ Erlebnisse, also solche, welche zu ‚Mathefrust‘ führten. Ziel dieser Vorgaben ist es, die untersuchten Personen beim Zeichnen anzuregen, sich nicht nur an für sie relevante Ereignisse der mathematikbezogenen Lebensgeschichte zu erinnern, sondern vielmehr auch einen ‚wertenden Blick‘ auf ihre vergangenen individuellen Affekte und Emotionen zu provozieren, die das Erleben der Ereignisse begleiteten. Denn diese vielfältigen Gemütsakte sind es ja, die darüber entscheiden, ob ein Ereignis oder eine Phase eher als ‚Mathelust‘ oder als ‚Mathefrust‘ aufgefasst werden kann. Da nun aber nicht davon ausgegangen werden kann, dass die untersuchten Lehrkräfte, würden sie ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte ohne eine derartige Vorgabe erinnern, stets eine solche Klassifizierung (‚Mathelust‘ versus ‚Mathefrust‘) vornehmen, sondern vielmehr zu vermuten wäre, dass sich zumindest einige von ihnen jeglicher Bewertung ihres Erlebens enthalten würden, so zeigt sich an dieser Stelle ein möglicher Einfluss der Vorlage der Kurve auf die Erinnerung und dann auch auf die Erzählung der mathematikbezogenen Lebensgeschichte. In der Vorlage, die den untersuchten Personen für das Zeichnen ihrer Kurve zur Verfügung gestellt wird, ist zudem die x-Achse des Koordinatensystems wie folgt gestaltet: Sie ist mit ‚Lebenszeit‘ beschriftet und mit einer nach rechts weisenden Pfeilspitze versehen (s. Abbildung 5.1). Der üblichen Lesart eines Koordinatensystems folgend wird den zeichnenden Personen also vorgegeben, dass der Koordinatenursprung den Beginn ihrer Lebenszeit darstellt und ihre Lebenszeit auf der x-Achse in Richtung der Pfeilspitze voranschreitet. Eine derartige Beschriftung der x-Achse legt den zeichnenden Personen also nahe, die erinnerten Ereignisse und Erlebnisse ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte in der objektiven Zeit zu verorten und sie dort chronologisch darzustellen. Wieder kann davon ausgegangen werden, dass nicht alle untersuchten Personen ihrer mathematischen Lebensgeschichte eine derartige zeitliche Ordnung gegeben hätten. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Kurvenvorlage die Erinnerung und letztlich auch die Erzählung der mathematikbezogenen Lebensgeschichte insofern beeinflusst, als der vorherrschende Mechanismus bei der Verknüpfung einzelner Ereignisse und Erlebnisse in der
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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Erzählung die Orientierung am chronologischen Fortschreiten der objektiven Zeit sein mag. 2. Unterbrechungsfreiheit der Darstellung: Da auf der x-Achse des Koordinatensystems die Lebenszeit dargestellt wird, also eine Größe, die kontinuierlich mit der objektiven Zeit voranschreitet, muss in Betracht gezogen werden, dass die untersuchten Personen dazu angehalten werden können, zu jedem Zeitpunkt auch ein mathematikbezogenes Erleben darzustellen.25 Eine solche Darstellung ist natürlich per se kein Problem, denn auch das Erleben der zeichnenden Person schreitet ja – in den allermeisten Fällen – ohne Unterbrechung voran. Es wird also tatsächlich annähernd zu jedem Lebenszeitpunkt der zeichnenden Person auch ein Erleben vorgelegen haben. Was jedoch ein Problem darstellt, ist die Tatsache, dass diese unterbrechungsfreie Darstellung der erlebten mathematikbezogenen Lebensgeschichte nicht durch die Erinnerung des konkreten Erlebens zu jedem Lebenszeitpunkt motiviert wird, sondern vielmehr durch die Tendenz der zeichnenden Person, zu jedem Zeitpunkt ein Erleben darstellen zu wollen. Das Zeichnen der Kurve orientiert sich also nicht ausschließlich an dem Erleben, das die Kurve abbilden soll, sondern vielmehr auch an einer Idee, wie die Darstellung letztendlich auszusehen hat. Mit anderen Worten: Phasenweise wird vielleicht weniger das, was die Kurve abbilden soll, in den Fokus des Zeichnens rücken, sondern das Abbild bzw. die Kurve selbst. Vor diesem Hintergrund muss ich davon ausgehen, dass die Kurve nicht zu jedem Lebenszeitpunkt das Erleben einer Person tatsächlich abzubilden vermag. An einem Beispiel kann das verdeutlicht werden: Erinnert sich eine Person an ein ‚positives‘ Erlebnis 25
Ein Teil der untersuchten Personen schilderte tatsächlich, dass sie beim Erstellen der Kurve zunächst einzelne konkrete Ereignisse und Erlebnisse zeitlich verorteten (also auf der x-Achse abtrugen) und sie bewerteten (also auf der y-Achse abtrugen), um ihnen dann eine Stelle im Koordinatensystem zuzuordnen. Anschließend setzten sie die so lokalisierten Ereignisse und Erlebnisse – dann in Form eines Punktes im Koordinatensystem – miteinander in Beziehung, indem sie eine Linie zeichneten, die alle Punkte miteinander verband. So entstand eine zusammenhängende, stetige Kurve, die die erlebte mathematikbezogene Lebensgeschichte abbilden sollte. Ein weiterer Teil der untersuchten Personen ging etwas anders vor: Sie zeichneten zuerst eine zusammenhängende, stetige Kurve, die in ihrem Verlauf in etwa die erlebte mathematikbezogene Lebensgeschichte abbildete. In einem zweiten Schritt markierten sie dann auf dieser Kurve einzelne Punkte, denen sie konkrete Ereignisse und Erlebnisse zuordneten. Mehrfach konnte beobachtet werden, dass Personen, die ihre Kurve auf die zweite Weise erstellten, rückwirkend Korrekturen vornahmen, da die Gesamtgestalt der Kurve, die sie bereits im allerersten Schritt bestimmten, der Bewertung einzelner konkreter Erlebnisse nicht gerecht wurde. Doch ganz gleich, nach welchem Vorgehen die untersuchten Personen ihre Kurve erstellten, ihnen allen war gemein, dass das Zeichnen ihrer Kurve darauf abzielte – oder zumindest darauf hinauslief –, die erlebte mathematikbezogene Lebensgeschichte als zusammenhängende, stetige Kurve darzustellen.
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Die erste empirische Untersuchung …
aus dem Mathematikunterricht in ihrem 3. Schuljahr und dann wieder an eines aus dem 6. Schuljahr, so zeichnet sie diese beiden ‚positiven‘ Erlebnisse als Punkte im ersten Quadranten des Koordinatensystems ein. Auf dieselbe Weise fährt sie fort, bis sie alle erinnerten Erlebnisse abgetragen hat. Anschließend verbindet sie die einzelnen Punkte im Koordinatensystem zu einer ununterbrochenen Kurve, d. h., auch die Erlebnisse aus ihrem 3. und 6. Schuljahr werden miteinander durch ein ununterbrochenes Kurvensegment verbunden. Und dieses Kurvensegment wird sich höchstwahrscheinlich ebenfalls im ersten Quadranten des Koordinatensystems befinden, also in dem Bereich, der ‚positive‘ Erlebnisse abbildet (s. Abbildung 5.2). Man könnte nun meinen, anhand dieses Kurvensegments Aussagen über das Erleben der Person zwischen ihrem 3. und 6. Schuljahr treffen zu können, z. B. die Aussage, dass sich in dieser Phase ausschließlich ‚positive‘ mathematikbezogene Erlebnisse vollzogen, oder die Aussage, dass sich in dieser Phase insgesamt eine positive Entwicklungstendenz im mathematikbezogenen Erleben zeigte. Tatsächlich entstand das Kurvensegment aber ja gerade deshalb, weil zu dieser Phase keine Erinnerung an das konkrete mathematikbezogene Erleben vorlag, mit anderen Worten: weil eine ‚Erinnerungslücke‘ überbrückt werden musste. Aussagen über das Erleben der Person in dieser Phase basieren also weniger auf ihrem tatsächlichen Erleben während dieser Phase als vielmehr auf einer Entscheidung über die angestrebte Form der Kurve. In der anschließenden Erzählung, in welcher die erzählende Person sich dann vielleicht auf ihre zuvor gezeichnete Kurve bezieht, kann es nun theoretisch passieren, dass die erzählende Person selbst zu derartigen Aussagen über sich verleitet wird. Es kann also dazu kommen, dass Teile ihrer eigenen Erzählung nicht unbedingt auf ihrem tatsächlichen Erleben bzw. auf ihren tatsächlichen Erinnerungen basieren, sondern auf der Form der Kurve, die ihrer Erzählung zugrunde liegt. 3. Darstellen einer eindeutigen Zuordnung: In Kurven, die den Verlauf einer Größe in Abhängigkeit von der objektiven Zeit beschreiben, wird häufig ein funktionaler Zusammenhang, also eine eindeutige Zuordnung dargestellt (z. B. bei der Darstellung des Börsenkurses einer Aktie im Tagesverlauf oder bei der Darstellung von Infektionszahlen im Verlauf einer Woche etc.). Es liegt nahe, dass die untersuchten Personen – vor dem Hintergrund dieser Gewohnheit – auch bezüglich ihrer ‚mathematikbezogenen Lebenskurve‘ dazu tendieren, mit ihr eine eindeutige Zuordnung darstellen zu wollen. Das würde bedeuten: Sie würden dazu tendieren, in ihrer Kurve eine Zuordnung darzustellen, bei der jedem Zeitpunkt (Wert auf der
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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Mathelust
Bankrutschen (3. Klasse)
Matheolympiade (6. Klasse)
Abbildung 5.2 Das Kurvensegment zwischen zwei Ereignissen im ersten Quadranten liegt ebenfalls im ersten Quadranten.
x-Achse) immer genau ein Gemütszustand zugeordnet wird, der das Erleben eines Ereignisses zu diesem Zeitpunkt begleitete (Wert auf der y-Achse). Es wäre im Falle einer solchen Zuordnung dann nicht möglich, dass einem Zeitpunkt verschiedenartige Gemütszustände zugeordnet werden. D. h., es wäre auch nicht möglich, darzustellen, wenn das Erleben eines Ereignisses sowohl von ‚positiven‘ als auch von ‚negativen‘ Emotionen begleitet worden war (s. Fall A in Abbildung 5.3). Es ist nun aber gar nicht unwahrscheinlich, dass das Erleben einer Person komplex und mitunter sogar paradox ist, dass etwa das Erleben ein und desselben Ereignisses durchaus von ‚positiven‘ und zugleich auch ‚negativen‘ Gemütszuständen begleitet wird.26 Doch in solch einem Fall würden die untersuchten Personen, sofern sie 26
Zwei erfundene Ereignisse sollen dies kurz veranschaulichen: Wenn eine Mitschülerin – meine beste Freundin – eine ‚1‘ in der Mathematikarbeit bekommt, während ich nur eine ‚3‘ geschrieben habe, kann dies in mir Freude für, aber zugleich auch Neid auf diese Freundin verursachen. Und wenn ich wegen anhaltender nicht ausreichender Leistungen im Schulfach
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Die erste empirische Untersuchung …
sie sich in der Einstellung befinden, mit ihrer ‚mathematikbezogenen Lebenskurve‘ eine eindeutige Zuordnung darstellen zu wollen, dann vermutlich (unwissentlich) folgende Reduktion vornehmen: Sie würden ihren nicht-eindeutigen Gemütszuständen eine eindeutige Form geben. Diese Formgebung kann meines Erachtens auf zweifache Weise erfolgen: Die untersuchten Personen können einerseits Verschiebungen in der Zeit vornehmen, sodass zwei verschiedenartige Gemütszustände nicht mehr das Erleben desselben Ereignisses begleiten. Es werden also zwei zeitgleiche, aber verschiedenartige Gemütszustände in zwei aufeinanderfolgende – und damit: nicht zeitgleiche –, verschiedenartige Gemütszustände überführt (s. Fall B in Abbildung 5.3). So würde dann etwa der Wechsel aus einer Leistungs- und Begabungsklasse in eine Regelklasse – laut der ‚mathematikbezogenen Lebenskurve‘ – nicht mehr gleichzeitig von Trauer und Erleichterung begleitet worden sein, sondern vielleicht zunächst von Trauer und erst später von Erleichterung. Es könnte andererseits aber auch eine Reduktion in der Komplexität der Gemütszustände erfolgen, die das Erleben der untersuchten Personen begleiteten. So könnte beispielsweise einer der Zustände mit dem anderen Zustand identifiziert werden oder eine Art ‚Mittelwertbildung‘ erfolgen, sodass die zwei ursprünglich zeitgleichen, aber verschiedenartigen Gemütszustände dann zu einem einzigen Gemütszustand würden. Oder es könnte auch schlicht gänzlich auf die Darstellung eines der zwei verschiedenartigen Gemütszustände verzichtet werden. In allen diesen Fällen würde es also dazu kommen, dass nur noch ein Gemütszustand abzubilden wäre (s. Fall C in Abbildung 5.3). Der Wechsel in die Regelklasse etwa könnte dann beispielsweise – laut der ‚mathematikbezogenen Lebenskurve‘ – nicht mehr zugleich von Trauer und Erleichterung, sondern ausschließlich von einem Gefühl der Erleichterung begleitet worden sein.
Mathematik aus einer Leistungs- und Begabungsklasse (LuBK) in eine parallele Regelklasse wechseln muss, kann dieser Klassenwechsel meinerseits von Trauer, aber zugleich auch Erleichterung begleitet sein.
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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Wechsel von LuBK in Regelklasse
Wechsel von LuBK in Regelklasse
Wechsel von LuBK in Regelklasse
Fall A
Fall B
Fall C
Abbildung 5.3 Die Komplexität des vergangenen Erlebens (Fall A) kann auf verschiedene Weisen reduziert werden (Fall B & Fall C).
5.4.3
Zu den methodischen Konsequenzen
Es stellt sich nun die Frage, wie ich die möglichen Einflüsse, die das Zeichnen der Kurve auf die Erzählung einer Person haben kann, methodisch ‚abfangen‘ kann. Meines Erachtens ergeben sich dabei aus den vorherigen Überlegungen sowohl Konsequenzen für die Methode der Datenerhebung, also für das Führen der biographisch-narrativen Interviews (Abschnitt 5.4.3.1), als auch für die Methode der Datenanalyse, also für die rekonstruktive Fallanalyse (Abschnitt 5.4.3.2). Diese Implikationen möchte ich im Folgenden diskutieren:
5.4.3.1 Zu den Implikationen für die Durchführung der biographisch-narrativen Interviews Die vorangehenden Überlegungen konnten zeigen, dass sowohl die Vorgabe, überhaupt eine ‚mathematikbezogene Lebenskurve‘ zu erstellen, als auch die Vorlage, innerhalb derer diese Kurve gezeichnet werden soll, für die Erzählung der mathematikbezogenen Lebensgeschichte strukturgebend sein kann. Ich sprach in diesem Fall von ‚Einflüssen der Kurve, welche sich in der Erzählung implizit zeigen‘. Hierzu zählten unter anderem, dass durch die Kurvenvorlage eine
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Die erste empirische Untersuchung …
Bewertung des eigenen Erlebens erforderlich und eine Darstellung verschiedenartiger Gemütszustände, die das Erleben desselben Ereignisses begleiten, erschwert werden. Beides kann nun dazu führen, dass das eigene Erleben – um es in der Kurve darstellbar zu machen – in seiner Komplexität reduziert wird: Es liegt dann gewissermaßen nahe, die Beschreibungen eines Erlebnisses auf seine Bewertung als ‚Mathelust‘ (also eher ‚positiv‘) oder ‚Mathefrust‘ (also eher ‚negativ‘) zu beschränken. Ferner kann die Darstellung verschiedenartiger, aber zeitgleicher Gemütszustände derart verzerrt werden, dass es letztlich so erscheint, als wäre jedes Erlebnis stets von genau einem Gemütszustand begleitet gewesen. Eben dieser Komplexitätsreduktion entgegenzuwirken, muss meines Erachtens nun eines der Hauptanliegen bei der Durchführung der Interviews sein. Ich führe deshalb Interviews, die eine möglichst komplexe Erzählung des eigenen Erlebens nicht nur erlauben, sondern diese vielmehr sogar explizit einfordern. Auf diese Weise erhoffe ich mir, dass die untersuchten Personen die Komplexität der Darstellung ihres Erlebens, die sie zuvor im Zeichnen der Kurve reduzierten, wieder steigern. Dieser Anforderung – nämlich: eine komplexitätssteigernde Wirkung auf das erzählerische Darstellen der eigenen mathematikbezogenen Lebensgeschichte zu entfalten – werde ich einerseits dadurch gerecht, dass ich überhaupt biographischnarrative Interviews führe. Wie in Abschnitt 5.1 gezeigt werden konnte, zielt diese Art der Interviewführung nämlich auf eine vertiefte Erzählung der eigenen Erlebnisse ab, d. h., sie stellt das Erleben einer Person ins Zentrum des Interesses. Biographisch-narrativen Interviews ist also gewissermaßen wesentlich, dass sie auf Seiten der Interviewten eine komplexe Darstellung ihres Erlebens erfordern. Andererseits setze ich es mir in allen Phasen des Interviews zum Ziel, auch durch mein konkretes Vorgehen bei der Interviewführung zur Steigerung der Komplexität der Erzählungen beizutragen: Im Erzählimpuls expliziere ich, dass eine vertiefte Darstellung der eigenen Erlebnisse erwünscht ist. Ich wähle dafür folgende Formulierung: Ich möchte heute von deiner mathematikbezogenen Lebensgeschichte erfahren. Ich möchte dich bitten, mir so ausführlich wie möglich von deinem ganz persönlichen mathematikbezogenen Erleben zu erzählen. Dabei interessieren mich Erlebnisse aus allen Lebensbereichen, also z. B. aus der Schule, Universität, Freizeit oder mit Freunden und Familie. Mit den Formulierungen ‚so ausführlich wie möglich‘, ‚von deinem ganz persönlichen Erleben‘ und ‚dabei interessieren mich Erlebnisse aus allen Lebensbereichen‘ möchte ich von Beginn an klarlegen, dass eine komplexe Darstellung der eigenen Erlebnisse erwünscht ist. Im immanenten Nachfrageteil des Interviews stelle ich dann erzählgenerierende Fragen, die darauf abzielen, dass die untersuchte Person die Erzählung ihrer Erlebnisse noch einmal vertieft (z. B. ‚Kannst du hierüber noch etwas mehr
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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erzählen?‘). Durch das Stellen der immanenten Nachfragen bekunde ich als Interviewerin also zum einen erneut mein Interesse an einer ausführlichen Darstellung des Erlebens. Zum anderen rege ich aber auch ganz konkret dazu an, die Darstellungen einzelner Erlebnisse komplexer zu gestalten. Indem im exmanenten Nachfrageteil Fragen gestellt werden, die vorrangig aus meinem Forschungsinteresse entspringen und sich also nicht zwingend aus der Eingangserzählung ergeben müssen, gibt mir dieser Teil die Möglichkeit, eine Komplexitätssteigerung der Darstellung der eigenen mathematikbezogenen Erlebnisse förmlich zu ‚provozieren‘. Wenn ich beispielsweise den Eindruck habe, dass ein Erlebnis komplexitätsreduziert dargestellt wurde, kann ich in diesem Teil des Interviews explizit um eine komplexere Darstellung bitten, z. B. mit Fragen wie ‚Wurde dieses Ereignis auch von verschiedenen oder gar widersprüchlichen Erlebnissen deinerseits begleitet?‘, ‚Kannst du zu diesem Ereignis nochmal all deine Erlebnisse entfalten?‘ etc. Weiter ist es mir möglich, Fragen zum Erstellungsprozess der Kurve zu stellen (z. B. ‚Wie bist du beim Zeichnen der Kurve vorgegangen?‘, ‚Wie hast du das Zeichnen der Kurve erlebt?‘, ‚Gab es Schwierigkeiten beim Zeichnen der Kurve?‘). Anhand der Antworten auf diese Fragen kann ich einen Einblick darin erlangen, ob und welche komplexitätsreduzierenden Mechanismen beim Zeichnen gewirkt haben könnten. Ebenso kann ich danach fragen, wie das Erzählen auf Basis der zuvor gezeichneten Kurve erlebt wurde (z. B. ‚Wie war es für dich, anhand der Kurve zu erzählen?‘), oder – aus Interesse an einer ‚Selbsttheorie‘ – auch danach, welchen Einfluss das vorherige Zeichnen der Kurve aus Sicht der erzählenden Person auf ihre Erzählung gehabt haben könnte (z. B. ‚Wie hättest du die Erzählung wohl vorgenommen, wenn du zuvor nicht die Kurve gezeichnet hättest?‘). Es zeigt sich also, dass und wie ich mit meiner Erhebungsmethode auf mögliche komplexitätsreduzierende Einflüsse, die das Zeichnen der Kurve bzw. die gezeichnete Kurve auf die Erzählung einer Person haben kann, reagiere: Zum einen wähle ich eine Erhebungsmethode, die per se schon eine komplexe Darstellung des Erlebens erlaubt. Zum anderen entwerfe ich den Erzählimpuls und ein Set an Nachfragen derart, dass ich während aller Interviewphasen dazu anrege oder mitunter gar einfordere, dass die erzählende Person die Komplexität der Darstellung ihres Erlebens steigert.
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Die erste empirische Untersuchung …
5.4.3.2 Zu den Implikationen für die rekonstruktive Fallanalyse In diesem Abschnitt soll diskutiert werden, welche methodischen Konsequenzen sich aus den obigen Überlegungen für die rekonstruktive Fallanalyse ergeben.27 Dieser Diskussion muss jedoch noch eine Entscheidung vorausgehen: Vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen können nämlich zwei Richtungen unterschieden werden, in denen eine Überarbeitung des Analyseverfahrens verlaufen könnte. So besteht einerseits die Möglichkeit, die Unterscheidung zwischen ‚erlebter Lebensgeschichte‘ und ‚erzählter Lebensgeschichte‘ um die dritte Dimension der ‚gezeichneten Lebensgeschichte‘ zu erweitern, welche in einem eigenen Analyseschritt rekonstruiert werden müsste. Es besteht andererseits aber auch die Möglichkeit, ganz gezielt nur denjenigen der fünf Analyseschritte zu überarbeiten, in welchem die Erzählung der mathematikbezogenen Lebensgeschichte analysiert wird: die Text- und Themenfeldanalyse. Denn die obigen Überlegungen hatten sich ja gerade damit beschäftigt, welche Auswirkungen das vorherige Zeichnen der Kurve auf die Erzählung der mathematikbezogenen Lebensgeschichte haben könnte. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit möchte ich diese zweite Möglichkeit weiterverfolgen und also die Text- und Themenfeldanalyse überarbeiten. Die Gründe für diese Entscheidung sind folgende: Erstens erscheint mir der Informationsgehalt der isolierten ‚mathematikbezogenen Lebenskurve‘ recht gering. So erfahre ich aus der Kurve über die dargestellten Erlebnisse beispielsweise nur, ob diese ‚eher positiv‘ oder ‚eher negativ‘ waren, da die Kurve für sich genommen im Normalfall keinerlei Einblicke gibt, wie Erlebnisse genau beschaffen waren, unter welchen Umständen sie sich einstellten und wie sie im Zusammenhang zu vorherigen oder sich anschließenden Erlebnissen stehen. Kurzum: Aus der isolierten Kurve können nur in einem sehr begrenzten – in meinen Augen: zu begrenzten – Ausmaß Informationen über die mathematikbezogene Lebensgeschichte einer Person gewonnen werden. Zweitens soll beim Zeichnen der Kurve der Hinweis gegeben werden können, dass diese ausschließlich als Erzählgrundlage dient und dass sie insbesondere nicht zur Einsicht für weitere Personen gedacht ist. Mit dieser Zusicherung möchte ich erreichen, dass die untersuchten Personen sich beim Zeichnen nicht vorrangig daran orientieren, ob ihre Darstellung für andere Personen verständlich
27
Es sei hier kurz daran erinnert, dass die rekonstruktive Fallanalyse ein Vorgehen in fünf Analyseschritten vorsieht: Es erfolgt erstens eine Analyse der biographischen Daten, zweitens die Text- und Themenfeldanalyse, dann drittens die Rekonstruktion der Fallgeschichte, viertens die Feinanalyse einzelner Textstellen im Sinne der objektiven Hermeneutik und schließlich fünftens eine Kontrastierung der erlebten mit der erzählten Geschichte.
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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ist, oder daran, was von ihrer Darstellung erwartet werden könnte. Die zeichnenden Personen gehen also zu keinem Zeitpunkt des Zeichnens davon aus, dass andere Personen Einblick in ihre Kurve erhalten. Es ‚verbietet‘ sich daher in meinen Augen, die Kurven dann anschließend doch zum Analyseobjekt zu erheben. Drittens gehe ich davon aus, dass die mathematikbezogene Lebensgeschichte innerhalb der Kurve in den meisten Fällen wohl ohnehin sehr ähnlich dargestellt wird wie in der anschließenden Erzählung, da ja im Vorfeld expliziert wird, dass die Kurve als Erzählgrundlage dienen kann. Und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, wenn etwa in der Erzählung eine nachträgliche Korrektur der Kurve vorgenommen werden würde, so würden die Gründe, die diese Korrektur notwendig machten, sicherlich ebenfalls in der Erzählung vorkommen. In diesem Fall würde die Kurve also durch die Erzählung nicht nur ‚aktualisiert‘ werden, sondern der Informationsgehalt der Erzählung würde den der Kurve vielmehr weit übersteigen, da sie sowohl Informationen über die Kurve als auch über die notwendigen Korrekturen an der Kurve enthalten würde. Es sind nun diese drei Gründe, die zusammengenommen dazu geführt haben, dass ich mich gegen eine separate Analyse der ‚mathematikbezogenen Lebenskurve‘ – also auch gegen die Einführung der separaten Analysedimension der ‚gezeichneten Lebensgeschichte‘ – entscheide. Ich möchte nun darstellen, wie ich stattdessen den Analyseschritt der Text- und Themenfeldanalyse angesichts meiner theoretischen Vorüberlegungen überarbeite. Überarbeitung der Text- und Themenfeldanalyse Die Text- und Themenfeldanalyse sieht vor, dass die Erzählung einer mathematikbezogenen Lebensgeschichte zunächst in einzelne Textsequenzen untergliedert wird und diese Sequenzen anschließend nacheinander ausgelegt werden (vgl. Abschnitt 5.3.2.2). Diese Auslegung orientiert sich dabei an einem Set an Fragen, welche ebenfalls in Abschnitt 5.3.2.2 ausführlich dargestellt wurden. Um nun die Text- und Themenfeldanalyse zu überarbeiten, möchte ich genau diese Fragen, die die Auslegung einer Textsequenz anleiten, in den Blick nehmen: Zum einen sollen die bestehenden Fragen vor dem Hintergrund der Überlegungen zu den Einflüssen der Kurve auf die Erzählung (vgl. Abschnitt 5.4.1 & 5.4.2) diskutiert und gegebenenfalls modifiziert werden. Zum anderen werde ich diesem Set neue Fragen hinzufügen, die sich aus denselben Überlegungen ergeben. Welche vier konkreten Modifikationen an und Hinzufügungen zu dem Set an Fragen ich vornehme, das sei im Folgenden erläutert: 1. Eine der Fragen, die im Rahmen der Text- und Themenfeldanalyse an jede Textsequenz gestellt werden, lautet: ‚Warum wird dieses Thema an dieser Stelle
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Die erste empirische Untersuchung …
im Erzähltext eingeführt?‘. Die Überlegungen in Abschnitt 5.4.2 hatten nun zu der Einsicht geführt, dass der vorherrschende Mechanismus bei der erzählerischen Verknüpfung einzelner Ereignisse und Erlebnisse die Orientierung am chronologischen Fortschreiten der objektiven Zeit sein könnte. Sollte dieser Mechanismus nun auf eine Erzählung wirken, so würde die obige Analysefrage zu wenig aufschlussreichen Antworten führen. Sie würde dann nämlich zu der Antwort führen, dass ein Thema an dieser Stelle im Erzähltext eben deshalb eingeführt wird, weil es sich chronologisch in der objektiven Zeit zwischen dem vorherigen und dem nachfolgenden Thema des Erzähltexts verorten lässt. Für die Text- und Themenanalyse ergäbe sich angesichts dessen dann die Notwendigkeit, vielmehr herauszuarbeiten, ob ein Thema nicht gemäß seiner chronologischen Verortung in der objektiven Zeit eingeführt wird, ob die erzählende Person also bei der Einführung dieses Themas aus ihrer chronologischen Darstellung ‚ausbricht‘. Und falls dies so wäre, so würden dann u. a. Anschlussfragen der folgenden Art relevant: ‚Warum wird dieses Thema nicht chronologisch eingeführt?‘, ‚Warum wird es an dieser Stelle im Erzähltext ‚vorgezogen‘?‘ oder ‚Warum wird es an dieser Stelle im Erzähltext ‚nachgetragen‘?‘. Natürlich muss ein Thema nicht zwingend einen Bezug zu einem konkreten, in der objektiven Zeit verortbaren Erlebnis oder Ereignis aufweisen. Insbesondere Textsequenzen, in denen globale Evaluationen vorgenommen werden, oder aber auch Textsequenzen, in denen eher erlebnisleitende Strukturen als konkrete Erlebnisse thematisiert werden, können ohne einen Bezug zur objektiven Zeit auftreten. Die Themen solcher Textsequenzen besitzen dann einen ‚allzeitlichen‘ Charakter, d. h., über ihre ‚Gültigkeit‘ entscheidet nicht ihre Stelle in der objektiven Zeit. Ich vermute aber, dass die erzählenden Personen meist aus einem Erzählfluss heraus zu derartigen Themen gelangen, dass es sich hierbei also eher um Themen handelt, die in der Kurve gar nicht vermerkt sind. Denn die Kurve legt ja, wie oben gezeigt, vor allem die Darstellung von Erlebnissen und Ereignissen nahe, die sich in der objektiven Zeit verorten lassen. In solchen Fällen, also wenn ein ‚allzeitliches Thema‘ eingeführt wird, das nicht in der Kurve abgebildet ist, bliebe es natürlich weiterhin relevant, danach zu fragen, warum dieses Thema an dieser Stelle im Erzähltext eingeführt wird. 2. Weitere Fragen, die im Zuge der Text- und Themenfeldanalyse gestellt werden, zielen auf die Bestimmung der Textsorte (‚Bei welchen Themen argumentiert, erzählt oder beschreibt die Erzählerin oder der Erzähler?‘) sowie auf die Erklärung der Länge (‚Warum wird von einem Thema nur knapp oder sehr ausführlich erzählt?‘) einer erzählten Textsequenz ab. Die Ausprägung dieser beiden Eigenschaften – Länge und Textsorte einer Sequenz – kann durchaus davon beeinflusst sein, dass der erzählenden Person ihre Kurve als Erzählgrundlage zur
5.4 Eine methodologische Anmerkung …
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Verfügung steht. Ich möchte erklären, wie ich zu dieser Annahme komme und welche Konsequenzen ich aus ihr ziehe: Das Vorliegen der Kurve kann einerseits darin resultieren, dass recht ‚kurvennahe‘ Erzählungen vorgenommen werden. Unter einer ‚kurvennahen Erzählung‘ verstehe ich dabei eine Art erläuternde Beschreibung der Kurve. Die Person ‚erzählt‘ ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte hier also dadurch, dass sie ihre zuvor gezeichnete Kurve beschreibt und dabei hin und wieder Erläuterungen vornimmt, die die Kurve ‚überschreiten‘. Als mögliches Anzeichen für solch ein ‚kurvennahes‘ Erzählen sehe ich wiederholte explizite Bezugnahmen auf die Kurve. Im Fall einer solchen ‚kurvennahen‘ Erzählung wäre die vorherrschende Textsorte dann vermutlich die der Beschreibung. Sie wäre dies, und hierin besteht der zentrale Punkt meiner Argumentation, jedoch nicht deswegen, weil das Thema diese Textsorte nahelegt, sondern vielmehr deshalb, weil das Vorliegen der gezeichneten Kurve in ihrer Funktion als Erzählgrundlage wirksam würde. In Anbetracht dieser Tatsache erscheint mir die Analysefrage ‚Bei welchen Themen argumentiert, erzählt oder beschreibt die Erzählerin oder der Erzähler?‘ dann kaum noch sinnvoll. Denn: Dass in einer Textsequenz eine Beschreibung vorgenommen wird, läge in diesem Fall ja eben gerade nicht im Thema dieser Textsequenz begründet. Was in meinen Augen aber dennoch weiterhin relevant wäre, wäre eine Untersuchung von Textsequenzen, in denen keine Beschreibung vorgenommen wird, in denen also etwa argumentiert oder erzählt wird. Für die Auslegung solcher Textsequenzen modifiziere ich die obige Frage, sodass sie lautet: ‚Warum gibt die Erzählerin oder der Erzähler die beschreibende Grundhaltung auf und nimmt stattdessen eine Erzählung oder Argumentation vor?‘. Dass die erzählenden Personen bereits vor dem Erzählen ihre ‚mathematikbezogene Lebenskurve‘ gezeichnet haben, kann andererseits ferner dazu führen, dass sie einer vertieften Erzählung nicht mehr gänzlich offen gegenüberstehen, weil sie ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte nun schon ‚zum zweiten Mal‘ darstellen müssen.28 Es wäre nun denkbar, dass die erzählenden Personen, sofern ihre Motivation für eine vertiefte Erzählung denn abnimmt, nur noch eine ‚geraffte‘ Darstellung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte vornähmen. Als ein Anzeichen hierfür deute ich, wenn von Ereignissen und Erlebnissen vornehmlich berichtet und weniger erzählt wird, wenn Ereignisse und Erlebnisse also bloß knapp und in geraffter Form dargestellt werden. In einem solchen Fall 28
Falls dieser erzählhemmende Mechanismus wirkt, gehe ich jedoch davon aus, dass er nur schwach wirkt. Als eine nachträgliche Bestätigung dieser Annahme sehe ich, dass alle untersuchten Personen eine mehrstündige Erzählung vornahmen und dabei mehrmals in einen Erzählfluss gerieten.
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Die erste empirische Untersuchung …
wäre es nun kaum noch sinnvoll, die Frage ‚Warum wird von einem Thema nur knapp oder sehr ausführlich erzählt?‘ zu stellen. Denn die Knappheit, in der ein Thema erzählt wird, stünde dann ja unter Umständen gerade nicht in einem direkten Zusammenhang zum Thema. Vielmehr könnte sie auch dadurch begründet sein, dass die erzählende Person ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte in der Erzählung zum wiederholten Male darstellt. Was mir jedoch weiterhin sinnvoll erscheint, ist eine Untersuchung der Textsequenzen, in denen nicht in einer knappen Weise erzählt wird, in denen also eine ausführliche Erzählung eines Themas auftritt. Für die Auslegung solcher Textsequenzen modifiziere ich die obige Frage wie folgt: ‚Warum wird genau dieses Thema nicht knapp, sondern sehr ausführlich dargestellt?‘. 3. Ich diskutierte in Abschnitt 5.4.1 auch, welche Möglichkeiten es für die erzählende Person gibt, ihre Kurve in ihrer Erzählung zum Thema zu erheben und sprach in diesen Fällen von einem ‚Einfluss der Kurve, der sich in der Erzählung explizit zeigt‘. Ist ein solcher Einfluss in einer Textsequenz zu erkennen, erzählt die untersuchte Person in dieser Sequenz also nicht nur anhand, sondern vielmehr von ihrer Kurve, so ergibt sich in meinen Augen daraus die Notwendigkeit, diese Textsequenz genau daraufhin zu untersuchen. Insbesondere dann, wenn in einer Lebenserzählung nicht häufig auf die Kurve Bezug genommen wird oder aber, wenn vor einer Textsequenz schon länger nicht mehr Bezug auf die Kurve genommen wurde, würde die Frage relevant, warum die erzählende Person während des Erzählens eines bestimmten Themas nun wieder explizit auf die Kurve verweist. Für die Auslegung solcher Textsequenzen füge ich dem Set an Analysefragen deshalb die folgende Frage hinzu: ‚Warum bezieht sich die Erzählerin oder der Erzähler genau bei diesem Thema explizit auf die zuvor gezeichnete Kurve?‘. 4. Meine Überlegungen zeigten außerdem, dass die untersuchten Personen durch die Vorlage dazu verleitet werden könnten, eine ununterbrochene ‚mathematikbezogene Lebenskurve‘ darzustellen. Eine solche Kurve könnte dann fälschlicherweise derart gelesen werden, dass sie das mathematikbezogene Erleben zu jedem Lebenszeitpunkt abzubilden vermag. Und in der Folge könnten dann – mitunter auch von der erzählenden Person selbst – Aussagen generiert werden, die auf das tatsächliche Erleben gar nicht zutreffen müssen. Für die Text- und Themenfeldanalyse wird es daher erforderlich zu untersuchen, ob dieser Mechanismus bei der Erzählung eines bestimmten Themas gewirkt haben könnte. Aus diesem Grunde füge ich dem Set an Fragen die folgenden Fragen hinzu: ‚Wird beim Erzählen dieses Themas auf konkrete Ereignisse oder Erlebnisse verwiesen? Wenn nicht, worauf basiert dieses Thema?‘ und ‚Worauf beruft sich die erzählende Person beim Erzählen dieses Themas?‘.
5.5 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen …
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Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass das vorherige Zeichnen der ‚mathematikbezogenen Lebenskurve‘ einen Einfluss auf die Erzählung der mathematikbezogenen Lebensgeschichte haben kann. In den vergangenen Abschnitten wurde herausgearbeitet, dass dieser Einfluss sowohl expliziter als auch impliziter Natur sein kann. Ferner wurde gezeigt, wie ich diesem Einfluss mithilfe einer Interviewführung, welche sich die Steigerung der Komplexität von Erlebensdarstellungen zum Ziel setzt, und einer überarbeiteten Text- und Themenfeldanalyse entgegenzuwirken gedenke.
5.5
Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen mathematikbezogener Lebensgeschichten
In diesem letzten Abschnitt zur ersten empirischen Untersuchung sollen nun die Ergebnisse vorgestellt werden, zu denen die rekonstruktive Fallanalyse der lebensgeschichtlichen Erzählungen zweier Mathematiklehrkräfte führte. Diese Darstellung – die sogenannte Falldarstellung (vgl. Rosenthal, 1987, S. 245) – strukturiere ich jeweils wie folgt: Ich schildere erstens die Bedingungen, unter denen das biographisch-narrative Interview erhoben wurde. Ich gehe hierbei auf die Kontaktaufnahme, die Interviewsituation und den Interviewverlauf ein. Zweitens stelle ich die Text- und Themenstruktur vor, die die Erzählung der mathematikbezogenen Lebensgeschichte aufwies. Hiermit möchte ich über die Gegenwartsperspektive der erzählenden Person informieren und Leserinnen und Lesern auf diese Weise ermöglichen, die Fallgeschichte reflexiv nachzuvollziehen und einzuordnen (vgl. Tepecik, 2011, S. 77). Drittens stelle ich dann die rekonstruierte mathematikbezogene Lebensgeschichte der untersuchten Person dar. Hierbei beziehe ich mich immer wieder auch auf Ergebnisse aus der Textund Themenfeldanalyse, um zu verdeutlichen, wie die Ebenen der erlebten und erzählten Lebensgeschichten aufeinander einwirken (vgl. Tepecik, 2011, S. 77).
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5.5.1
5
Die erste empirische Untersuchung …
Falldarstellung CAMILA29
5.5.1.1 Zur Kontaktaufnahme, Interviewsituation und -verlauf Camila war Teilnehmerin eines Vorbereitungsworkshops für ein Unterrichtspraktikum im Lehramtsstudium für das Fach Mathematik, den ich als Dozentin leitete30 . Ich fragte die Teilnehmenden des Workshops, ob sie daran interessiert wären, ein Interview über ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte zu führen, welche ich im Rahmen meiner Dissertation untersuchen wollte. Camila erklärte sich – neben zwei weiteren Teilnehmenden – sofort zu einem Interview bereit. Sie erwähnte, dass sie als Studentische Hilfskraft (SHK) einer erziehungswissenschaftlichen Professur arbeite und in dieser Rolle Interesse an der Mitwirkung an (m)einem Forschungsprojekt habe. Wir verabredeten noch während des Workshops einen Interviewtermin und trafen uns vier Wochen später am Nachmittag eines sehr heißen Spätsommertages in meinem Büro an der Universität wieder, um das Interview zu führen. Camila deutete zu Beginn des Gespräches an, dass sie wegen der Hitze (> 30 °C) etwas müde sei. Auch ich als Interviewerin 29
In die folgenden zwei Darstellungen der mathematikbezogenen Lebensgeschichte von Camila und Luisa werden zwei Arten von lebensgeschichtlichen Ereignissen aufgenommen: 1. Ereignisse mit konkretem Mathematikbezug, aber auch 2. Ereignisse ohne konkreten Mathematikbezug, wenn sie relevant für die mathematikbezogene Lebensgeschichte sein könnten. 30 Camila befand sich zum Zeitpunkt meiner Untersuchung also noch in der Ausbildung, d. h., sie war zu diesem Zeitpunkt eine angehende Mathematiklehrkraft. Dass es sich bei ihr nicht um eine ausgebildete, sondern vielmehr um eine sich in der Ausbildung befindliche Lehrkraft handelt, beeinflusst mein übergeordnetes Forschungsvorhaben – die Untersuchung des Phänomens ‚Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht‘ – aber meines Erachtens aus zwei Gründen nicht auf entscheidende Weise: Zum einen ist meine Forschung explorativer Natur; ich möchte herausarbeiten, wie sich das Phänomen überhaupt ausgestalten kann. Das bedeutet auch, dass ich das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht zunächst nicht unter spezifischeren Bedingungen untersuchen möchte, also z. B. nicht in Abhängigkeit von der Lehrerfahrung der untersuchten Personen. (Natürlich ist ein Vergleich des Fremdverstehens von Lehrexpertinnen und -experten und Lehrnovizinnen und -novizen für sich genommen ein interessantes Forschungsvorhaben. Ein solcher Vergleich bietet sich in meinen Augen aber erst im Anschluss an die vorliegende Forschung an.) Zum anderen vollzieht Camila ihr Fremdverstehen, welches ich in dieser Arbeit rekonstruieren werde, in einem Unterrichtspraktikum im Rahmen ihres Lehramtsstudiums. Ziel dieses Praktikums ist es u. a., dass Studierende selbst unterrichten, dass sie also die Rolle der Lehrkraft übernehmen. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass Camila – ähnlich wie eine ausgebildete Lehrkraft – während des Mathematikunterrichts, in dem sie das untersuchte Fremdverstehen vollzieht, eher in der Rolle der Mathematiklehrkraft auf das Unterrichtsgeschehen blickt und nicht etwa in der Rolle der Schulsozialarbeiterin, der Schulpsychologin oder der Mutter eines Kindes der Klasse.
5.5 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen …
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empfand die Hitze als ermüdend. Die Frage, ob sie sich dennoch in der Lage fühle, ein Gespräch über ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte zu führen, bejahte Camila mit Nachdruck. Camila stellte vor Interviewbeginn – scheinbar in ihrer Rolle als SHK – viele Fragen zu meinem Forschungsvorhaben und dem -verlauf. Sie erzählte zudem von einer empirischen Untersuchung, an der sie als SHK mitwirkte. Als das Interview beginnen sollte, stellte sich eines meiner zwei Aufnahmegeräte als defekt heraus. Camila bot mir sofort an, eine zweite Sicherheitsaufnahme mit ihrem eigenen Handy zu tätigen. Diese Aufnahme schickte sie mir unmittelbar nach Beenden des Interviews zu. Das Interview erstreckte sich über einen Zeitraum von 1 h 08 min und fand ohne Unterbrechung oder Pause statt. Zu Beginn des Interviews erklärte ich kurz, dass mein Hauptinteresse Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte galt und dass ich an einer ganz persönlichen Erzählung interessiert war. Ich schilderte mein Forschungsvorhaben jedoch nicht weiter im Detail, um die folgende Erzählung nicht zu stark zu beeinflussen. Stattdessen erläuterte ich grob die Gesprächsführung im Rahmen eines biographisch-narrativen Interviews, also dass nach einem Erzählimpuls meinerseits zunächst eine freie, ununterbrochene Erzählung von Camila erwartet wurde, während der ich keine Fragen stellen würde. Camila wirkte insbesondere zu Beginn ihres Interviews unsicher oder nervös: Ihre Hände zitterten leicht, ihre Stimme überschlug sich und sie versprach sich mehrmals. Auf den Erzählimpuls zu Beginn des Interviews reagierte sie eher ‚zurückhaltend‘: Ihre Eingangserzählung dauerte nur 8 Minuten und sie geriet nur zu wenigen Themen in einen Erzählfluss. Ihre Unsicherheit oder Nervosität schien während des Nachfrageteils abzunehmen, sie geriet jedoch weiterhin nur selten in einen Erzählfluss. Sie formulierte ihre Äußerungen während ihrer gesamten Erzählung, also der Eingangserzählung und dem Nachfrageteil, sehr vorsichtig und verhalten, dadurch wirkte sie auf mich vorerst verschlossen bzw. nicht gesprächsbereit. Nach Interviewende31 jedoch blieb Camila noch ca. 30 min 31
Das ‚Interviewende‘ wird nach 1 h 06 min mit der Frage eingeläutet, ob Camila zu ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte noch etwas einfalle, was ich als Interviewerin nicht gefragt hatte, was ihr aber wichtig sei. Nach einer 6-sekündigen Pause verneint sie die Frage und fügt hinzu: „Eigentlich fällt mir jetzt erstmal nichts ein.“ Ich bedanke mich bei ihr für das Gespräch und bitte sie, auf einem vorbereiteten Fragebogen einige Angaben zu ihren soziodemographischen Daten zu machen. Ich frage sie, ob ich mir derweil ihre gezeichnete Kurve für die Dokumentation des Interviews kopieren dürfte. Sie bejaht und erzählt, dass sie die Kurve aber gern selbst auch behalten würde, da sie die Arbeit mit der Kurve „tatsächlich sehr spannend“ fände und sie eine Idee hätte, wie sie die Kurve später im Unterricht einsetzen könne, „um vielleicht auch so auf Schüler eingehen zu können, die Mathe eher negativ besetzt haben“. Sie erzählt weiter, dass sie sich erhoffe, dadurch verstehen zu können,
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in meinem Büro und erzählte zunächst von ihren Erfahrungen als SHK, bevor sie begann, weitere universitätsorganisatorische Themen in unser Gespräch einzuführen. Insgesamt hinterließ das Gespräch mit Camila bei mir einen paradoxen Eindruck: Sie zeigte niedrige Gesprächsbereitschaft insofern, als sie recht knapp und verschlossen von ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte erzählte; sie zeigte jedoch gleichzeitig hohe Gesprächsbereitschaft insofern, als sie das Gespräch nach Ende des Interviews anscheinend doch noch weiterführen wollte. Zum Zeitpunkt des Interviews war Camila 24 Jahre alt. Sie studierte im achten Semester ihres Bachelorstudiums Mathematik und Chemie auf Lehramt für die Sekundarstufe.
5.5.1.2 Zur Text- und Themenstruktur der Erzählung Die folgende Darstellung von Camilas erzählter Lebensgeschichte nimmt zunächst die Struktur der Eingangserzählung in den Blick. Anschließend wird die Struktur des Nachfrageteils miteinbezogen, um die Struktur der gesamten Erzählung darzustellen. Eingangserzählung Camilas Eingangserzählung beginnt mit folgender Globalevaluation: „Eigentlich hat es schon vor der Grundschule angefangen. (.) Ich war nen sehr wissbegieriges Kind und hab von Anfang an meine Eltern gefragt, was welche Buchstaben bedeuten oder wie man rechnet.“
Diese Evaluation gleich zu Beginn der Erzählung verweist darauf, dass Camila ihre gesamte mathematikbezogene Lebensgeschichte vor dem Hintergrund verstanden wissen möchte, dass sie eine ‚wissbegierige‘ Person ist.32 Die anschließende Eingangserzählung nimmt Camila dann in dem thematischen Feld ‚Mein
„inwiefern und weshalb, warum“ diese Schülerinnen und Schüler Mathematik negativ besetzen. Sie merkt an, dass sie die Kurve eher im Einzelgespräch mit Schülerinnen und Schülern einsetzen würde, damit „nichts peinlich sein muss vor den Klassenkameraden oder so“. Nach Beenden dieses Erzählthemas stoppe ich die Aufnahme. Dieser Zeitpunkt markiert das ‚Interviewende‘. 32 Rosenthal (1987) weist darauf hin, dass Erzählerinnen und Erzähler meist zu Beginn der Erzählung ihrer Lebensgeschichte „die Globalevaluationen ihrer Darstellung verdeutlichen, die sie als Leitlinie für die folgende Lebensgeschichte vermitteln. Sie versuchen zu verdeutlichen, unter welcher Perspektive die Zuhörer das Folgende zu verstehen haben. Die interessengeleitete Rekonstruktion der Vergangenheit wird damit entschlüsselbar.“ (S. 180)
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Erleben eines konstanten Wechsels zwischen Unter- und Überforderung‘33 vor: Es werden sehr verschiedenartige Themen erzählt (nämlich sowohl von Unter- als auch Überforderung); eine Gemeinsamkeit dieser verschiedenartigen Erzählthemen besteht jedoch darin, dass äußere Leistungsanforderungen nicht zu Camilas Leistungsfähigkeit passten. Dies taten sie deshalb nicht, da sie entweder zu hoch oder eben zu niedrig angesetzt waren. Vor dem Hintergrund des thematischen Feldes ihrer Eingangserzählung kann Camilas anfängliche Globalevaluation als Versuch gelesen werden, Rückschlüsse aus den Erlebnissen und Ereignissen ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte – insbesondere denen der Überforderung – auf ihre allgemeine Leistungsfähigkeit zu verhindern. Mit anderen Worten: Sie scheint sicherstellen zu wollen, dass Ursachen für das Erleben von Überforderung in ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte nicht ihr, sondern ihrem sozialen – insbesondere schulischen – Umfeld oder institutionellen Bedingungen zugeschrieben werden. Wie bereits erwähnt, gerät Camila während ihrer Eingangserzählung selten in einen Erzählfluss. Stattdessen nimmt sie ihre Erzählung eher in Berichtsform vor, d. h., sie rafft ihre Erzählung zeitlich, teilweise auch inhaltlich. Häufig scheint sie vielmehr eine Zusammenfassung einer Phase ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte geben zu wollen als eine Erzählung von konkreten Erlebnissen dieser Phase. Die wenigen Themen, zu denen Camila dann doch in einen Erzählfluss gerät, stellen eher problematische oder gar krisenhafte Phasen ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte dar. Hierzu zählen die schlagartig steigenden Leistungsanforderungen nach dem Wechsel auf das Gymnasium in eine Leistungs- und Begabungsklasse (LuBK)34 (‚Überforderung‘), ihre Enttäuschung über die niedrigen Leistungsanforderungen in ihrem Leistungskurs Mathematik 33
Camila selbst verwendet in ihrer Eingangserzählung nur den Begriff ‚Unterforderung‘, nicht aber den Begriff ‚Überforderung‘. Sie beschreibt jedoch mehrfach Phasen, in denen sie hohen Leistungsanforderungen ausgesetzt war, denen sie – im Gegensatz zu vielen anderen Schülerinnen und Schülern bzw. Studentinnen und Studenten – nicht gerecht werden konnte und die sie an ihrer Leistungsfähigkeit zweifeln ließen. Derartige Phasen bezeichne ich – in meiner Rolle als wissenschaftliche Beobachterin – als Phasen der ‚Überforderung‘. 34 Seit dem Schuljahr 2007/2008 werden an 35 Gymnasien und Gesamtschulen im Bundesland Brandenburg besonders begabte und leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in sogenannten Leistungs- und Begabungsklassen gefördert (vgl. Vock & Gronostaj, 2014, S. 7 & MBJS, 2018). Die Aufnahme in eine LuBK erfolgt zur Jahrgangsstufe 5 (vgl. MBJS, 2018) und somit zwei Jahre vor dem regulären Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe. Ziel der LuBK ist die „Profilbildung und Förderung von Schülerinnen und Schülern, die sich durch überdurchschnittliche Fähigkeiten, ihre Interessen und ihre Leistungsbereitschaft auszeichnen“ (MBJS, 2018). Über die Aufnahme in eine LuBK entscheidet eine Empfehlung der Grundschule, ein Intelligenztest, die Schulleistungen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht oder Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache, deren Notensumme
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(‚Unterforderung‘), die hohen Leistungsanforderungen zu Beginn des Mathematikstudiums sowie ihre Überlegungen, das Mathematikstudium abzubrechen (‚Überforderung‘). Camilas gesamte Eingangserzählung orientiert sich an der chronologischen Verortung ihrer Erlebnisse in der objektiven Zeit, wie es die zuvor gezeichnete Kurve vorzugeben scheint. Camila strukturiert diese chronologische Verortung und ihre Erzählung mithilfe „sozial typisierter Statusübergänge“ (Rosenthal, 1995, S. 141): Kindergarten, Grundschule, Sekundarstufe 1, Sekundarstufe 2, Auslandsjahr/Freiwilligendienst, Studium. Ein sich wiederholendes Erzählmuster in ihrer Eingangserzählung, welches einen Hinweis auf Camilas Gegenwartsperspektive auf ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte liefert, ist folgendes: Camila ist vor einem Statusübergang hochmotiviert für die Beschäftigung mit Mathematik in der neuen Institution, ihre Motivation sinkt jedoch – teilweise bereits vor, teilweise erst nach dem Statusübergang – aufgrund äußerer Umstände (soziales Umfeld oder institutionelle Bedingungen), wodurch ihre erfolgreiche Beschäftigung mit Mathematik verhindert wird. Von den folgenden Statusübergängen erzählt sie nach eben diesem Muster: • Kindergarten zu Grundschule: Camila ist schon während ihrer Zeit im Kindergarten motiviert, sich mit schulischen Themen, u. a. auch im Fach Mathematik, zu beschäftigen. Sie wird jedoch „vor der Grundschule von [ihrer] Mama dann ausgebremst“, die ihr sagt: „Gut, jetzt fang mal erstmal in der Grundschule an.“ • Grundschule zu Gymnasium: Camila hat Spaß und Erfolg im Mathematikunterricht in der Grundschule, kommt sogar frühzeitig (zur 5. statt zur 7. Klasse) auf das Gymnasium in eine LuBK. Dort jedoch ist „das Niveau auf einmal (.) ganz woanders und dann (..) […] fielen die Noten ab“. Auch der ständige Leistungsvergleich unter den Schülerinnen und Schülern der Klasse nimmt Camila den Spaß an der Beschäftigung mit Mathematik: „Wenn man da nicht bei den Besten mit dabei war, (.) das kratzt dann dann schon sehr.“ • Sekundarstufe 1 zu Sekundarstufe 2: Camila freut sich am Ende der Sekundarstufe 1 auf den Mathematikleistungskurs, muss dann jedoch „feststellen, […] dass [sie] im Kurs mit den ganzen Leuten gelandet [ist], die Mathe eigentlich abwählen wollten“. Ihre Mathematiklehrerin fällt zudem krankheitsbedingt für
den Wert 5 nicht überschreiten darf, und ein persönliches Auswahlgespräch mit der Schulleitung der aufnehmenden Schule (vgl. MBJS, 2018 & Vock & Gronostaj, 2014, S. 7, 11 & 40).
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eine längere Zeit aus, die Schule hat jedoch „keine Kapazität […], Vertretungsunterricht zu machen“. Camila ist durch das niedrige Lernniveau und -tempo des Kurses „sehr unterfordert“ und frustriert. • Auslandsjahr/Freiwilligendienst zu Studium: Camila freut sich nach der Entscheidung gegen Spanisch als Studienfach und für das Fach Mathematik auf ihr Lehramtsstudium, ihre „Motivation für […] die […] Mathematik […] [ist] hoch“. Sie erlebt jedoch einen „tiefen Einbruch […] nach dem Studienbeginn, weil es dann ne ganz ganz andere Struktur war“. Viele ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen haben durch ihre Leistungskurssysteme einen „wesentlichen Vorsprung“. Camila gerät in eine „Krise“ und fragt sich: „Wieso tu ich mir das an?“ Dieses Erzählmuster weist auf die Gegenwartsperspektive hin, dass Camila ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte zu einem maßgeblichen Teil durch ihr soziales – insbesondere schulisches – Umfeld und institutionelle Bedingungen beeinflusst sieht, oder vielmehr: negativ beeinflusst sieht. Diese Vermutung wird durch eine weitere Besonderheit der Eingangserzählung bestärkt: Camila nimmt ihre Erzählung gehäuft im Passiv vor bzw. wählt Formulierungen, die ihre eigene Passivität in einer Situation unterstreichen, z. B. „dann wurde ich ein bisschen […] ausgebremst“, „als ich dann feststellen musste“, „dass ich im Kurs […] gelandet bin“, „diese ganzen negativen Eindrücke, […] die dann (.) mich zweifeln lassen haben“, „das hat die Motivation […] nach oben steigen lassen“. Es scheint, als sähe Camila sich selbst eher als Erlebende, nicht aber als Sich-Verhaltende oder Handelnde ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte. Dies wird besonders dadurch zu einer Auffälligkeit, dass Camila von Erlebnissen und Ereignissen erzählt, die sie durchaus nur durch eigenes Handeln – nämlich: das Betreiben eines erhöhten Lern- und Arbeitsaufwandes – erfolgreich bestanden haben kann (z. B. ihr jahrelanges Fortbestehen als Schülerin einer LuBK oder als Studentin des Mathematikstudiums). Den Lern- und Arbeitsaufwand, den sie aufgebracht haben muss und der ihr letztendlich zum Bestehen in einer LuBK und im Mathematikstudium verhalf, thematisiert sie jedoch nicht. Ein weiteres Erzählmuster der Eingangserzählung besteht darin, dass Camila wiederholt die schulischen Leistungen ihrer Lerngruppe erwähnt und ihre eigenen Leistungen in den Vergleich zu denen von Personen aus ihrer Lerngruppe bzw. der gesamten Lerngruppe setzt:
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„Und dann (.) ja besonders wars dann auch so dieser Vergleich zu den anderen. Ich war in ner Klasse, die sehr auf Leistung aus war und (..) äh ja (..) dementsprechend war / hat hat man sich immer unter / unternander verglichen. Und wenn man da nicht bei den Besten mit dabei war, (.) das kratzt dann dann schon sehr.“ „Dann gabs so den zweiten Dämpfer, als (.) als ich dann feststellen musste, dass ich im Kurs mit den ganzen Leuten gelandet bin, die Mathe eigentlich abwählen wollten und dadurch, dass es ja nen Pflichtkurs war, dann nur bes / also da warn, weil es Pflicht war. Und dementsprechend (.) sind wir langsa / nur sehr sehr langsam vorangekommen.“ „[...] und dementsprechend habe ich mich schon son bisschen hinterher gefühlt den anderen Studenten, was dann nochmal (.) dadurch gesteigert wurde, dass ich in diesem langsamen und schlechteren Kurs in der Schule war. Und (.) dann waren noch viele [...] Studenten da, die aus Berlin stammen und nur dieses Zwei- oder DreiLeistungskurssystem hatten, wodurch sie fünf Stunden die Woche hatten und dadurch schon wesentlich weiter waren in der Mathematik. Und zusätzlich zu den neuen Strukturen kam dann auch noch die ganze Nacharbeitung dazu, was (.) was ich in der Schule nicht hatte und wo die anderen dann nen (.) wesent / wesentlichen Vorsprung hatten. [...] Ja es war dann auch vor allem wieder der Vergleich. Andere haben das sofort irgendwie durchblicken können (.) und ich sitz Stunden an den Aufgaben und komm nicht weiter.“
Diese beispielhaften Auszüge aus der Eingangserzählung können zeigen, dass Camila ein gesteigertes Vergleichsdenken besitzt, vornehmlich in ‚Aufwärtsvergleichen‘, damit meine ich: in Vergleichen mit ihrem leistungsstärkeren sozialen Umfeld. Es zeigen sich in Camilas Erzählung ferner folgende vier Auffälligkeiten in der Text- und Themenstruktur: 1. Camila verwendet vermehrt Referenzen (‚es‘, ‚das‘, ‚dann‘) und Bezüge, die nicht eindeutig zurückverfolgt werden können. Die Zusammenhänge in ihrer Erzählung bleiben an diesen Textstellen unklar, ihre Erzählung wirkt dadurch in Teilen oberflächlich, fast floskelhaft. Als Beispiel kann hier bereits ihre Eingangsevaluation fungieren: „Eigentlich hat es schon vor der Grundschule angefangen. (.) Ich war nen sehr wissbegieriges Kind und hab von Anfang an meine Eltern gefragt, was welche Buchstaben bedeuten oder wie man rechnet.“ Aus der Erzählung geht weder hervor, was ‚es‘ ist, das schon vor der Grundschule anfing, noch, auf den ‚Anfang‘ welchen Ereignisses Camila sich bezieht. 2. Camila unterbricht sich häufig selbst und reformuliert ihre Äußerungen. Manchmal beginnt sie dabei zu stottern („Dann wurde ich ein bisschen vor der Grundschule von meiner Mama dann ausgebremst, als ich dann schon anfangen wollte zu multiplizieren oder zu zu divisi / äh äh (lacht) ja also ähm (.) die
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Division zu lernen.“, „Dann gab son son kleinen (.) Knick, (..) son son Abfall der der Mo / Motivation für Mathe.“). Sie wirkt sehr aufgeregt oder um ihre Außenwirkung besorgt. 3. Camila erwähnt in der gesamten Eingangserzählung keine konkreten, ‚objektiven‘ Leistungen, weder Schulnoten, Ergebnisse aus Wettbewerben, Lob, noch andere Fremdeinschätzungen. 4. Camila tendiert zu unpersönlichen Formulierungen (‚man‘), selbst wenn es um die Erzählung persönlicher Erlebnisse geht („Ich war in ner Klasse, die sehr auf Leistung aus war und (..) äh ja (..) dementsprechend war / hat hat man sich immer unter / unternander verglichen. Und wenn man da nicht bei den Besten mit dabei war, (.) das kratzt dann dann schon sehr.“, „Also ich war nen Jahr dann aus der Schule raus. (.) Ähm (..) da vergisst man dann auch einiges wieder (.) und dementsprechend habe ich mich schon son bisschen hinterher gefühlt den anderen Studenten […].“). Sie scheint, ihr eigenes Erleben generalisieren bzw. die Kontingenz ihres eigenen Erlebens verringern zu wollen, indem sie ihm förmlich Alternativlosigkeit unterstellt. Ihre Erzählung suggeriert gewissermaßen, dass ein Ereignis nur auf eine Art und Weise erlebt werden kann, weshalb dann die Formulierung ‚Man erlebt ein Ereignis.‘ angebracht ist. Camilas Eingangserzählung endet mit folgender Erzählkoda: „Und das wars jetzt eigentlich sogar erstmal, was ich so frei von der Seele erzähle.“ Diese Erzählkoda verweist darauf, dass Camila sich bewusst ist, dass sie in ihrer Eingangserzählung viele Themen unerzählt gelassen hat (‚eigentlich‘, ‚erstmal‘). Sie lässt zudem vermuten, dass Camila nur diejenigen Themen in ihre Eingangserzählung einführte, deren Erzählung ihr leichtfällt (‚frei von der Seele‘). Gesamte Erzählung Camila gerät auch im Nachfrageteil nur selten in einen Erzählfluss. Das Gespräch muss durch konstantes, vertieftes Nachfragen seitens der Interviewerin aufrechterhalten werden. Auf einige immanente, vermeintlich erzählgenerierende Nachfragen reagiert Camila mit Gegenfragen, z. B. antwortet sie auf die Frage danach, ob sie sich erinnere, was ihr in ihrer Grundschulzeit besonders Spaß bereitete, nach einer 4-sekündigen Pause mit „Inwiefern jetzt?“. Derartige Gegenfragen können auf eine Erzählunbereitschaft hinweisen, könnten aber natürlich auch nur eine bloße Vergewisserung der Erzählerin darstellen, dass die Frage richtig verstanden wurde. Camila unterbindet einen Erzählfluss mehrmals auch mit der Begründung, dass es ihr an konkreten Erinnerungen mangele: Als sie von der Wahl ihres Studienfaches erzählt, sagt sie: „Mit Chemie als Hauptfach hätte ich kein Mathe studieren können […], aber daran kann ich mich jetzt nicht mehr so
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richtig erinnern.“ Als sie von einer Phase am Gymnasium erzählt, in der sie von Mitschülerinnen gemobbt wurde, sagt sie: „Also es ist jetzt schon wirklich lange her. Also so an die ganzen Einzelheiten kann ich mich auch nicht mehr (.) erinnern.“ Auch auf die Nachfrage, ob und wie sich das Mobbing auflöste, antwortet sie: „Also ganz genau weiß ich nicht, wie das geendet hatte.“ Die Themen, zu denen Camila im Nachfrageteil in einen Erzählfluss gerät, sind dieselben Themen, von denen sie bereits in ihrer Eingangserzählung ausführlich erzählte. Dazu zählen: die schlagartig steigenden Leistungsanforderungen nach dem Wechsel in die LuBK, ihre Enttäuschung über die niedrigen Leistungsanforderungen in ihrem Leistungskurs Mathematik, die hohen Leistungsanforderungen zu Beginn des Mathematikstudiums und ihre Überlegungen und Gründe, das Mathematikstudium abzubrechen. Teilweise wiederholen sich die Erzählungen aus der Eingangserzählung regelrecht. Im Nachfrageteil zeigt sich, dass Camila einige Themen in ihrer Eingangserzählung gänzlich vermied. Hierzu zählen – erwartbarerweise – einerseits Themen, die nicht in das thematische Feld ‚Mein Erleben eines konstanten Wechsels zwischen Unter- und Überforderung‘ passen, und andererseits auch solche Themen, die keinen konkreten Mathematikbezug und deshalb vermeintlich keine Relevanz für die mathematikbezogene Lebensgeschichte besitzen. Darüber hinaus zeigt sich jedoch auch, dass Camila besonders in der Eingangserzählung, aber auch im Nachfrageteil, zu folgenden Themengebieten erzählgehemmt ist: Persönliche Beziehungen (z. B. Freundschaften, Familie, Mitschülerinnen und Mitschüler oder Kommilitoninnen und Kommilitonen) und ihr eigenes Erleben von Phasen oder Ereignissen. Camila beschreibt häufig mehr, als dass sie erzählt, d. h., sie schildert häufig statische Strukturen ohne konkreten Vorgangscharakter (vgl. Rosenthal, 1995, S. 241). Es scheint, dass Beschreibungen eines Ereignisses die Erzählung ihres persönlichen Erlebens dieses Ereignisses ersetzen, ganz so, als ob ein Ereignis oder eine Phase nur auf eine Art und Weise erlebt werden könne. Es erhärtet sich die Vermutung aus der Eingangserzählung, dass Camila ein vermindertes Kontingenzbewusstsein gegenüber ihrem Erleben eines Ereignisses haben könnte. Es zeigt sich im Nachfrageteil, dass Camila folgende konkrete Themen in der Eingangserzählung vermied: Ihren Familienhintergrund, ihren Grundschulwechsel zur 3. Klasse, ihren Wechsel in eine LuBK zur 5. Klasse, das Ausmaß des Leistungsdruckes in der LuBK, ihre konkreten schulischen Leistungen, das Mobbing in der 6. Klasse, ihre Freundschaften, die Pflicht zum Mathematikleistungskurs, den Anschluss bzw. Nichtanschluss an Lerngruppen im Studium, die Bewerbung und Entscheidung zum Studium, ihre Bilingualität, ihr Verhältnis zu Lehrkräften. Zwei dieser konkreten Themen lässt sie nicht nur in der
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Eingangserzählung unerwähnt, sondern sie vermeidet sie auch im Nachfrageteil: ihren Familienhintergrund (1) und ihre konkreten schulischen Leistungen (2). Zu 1. Auf Nachfragen zu ihrer Mutter und ihrem Bruder antwortet Camila sehr kurz; ihren Vater erwähnt sie auch im gesamten Nachfrageteil nicht. Besonders auffällig ist, dass sie ihn implizit erwähnt, wenn sie von ihrer bilingualen Erziehung berichtet, ihn dann aber nicht konkret als ‚Vater‘, sondern als ‚Elternteil‘ bezeichnet. Als Camila zu Nachteilen einer bilingualen Erziehung gefragt wird, antwortet sie beispielsweise: „Also ich glaub, das ist vor allem so, wenn man (.) dann die Sprache selbst in der Schule lernt (.) ähm und man dann einmal mit dem Elternteil telefoniert, hören alle so genau zu, versuchen was zu verstehen und fragen dich dann im Nachhinein (.) „Hab ich das richtig verstanden? (.) Kann kann ich das gut verstehen?““
Sie benennt ihren Vater auch nicht als ‚Vater‘, als sie gefragt wird, ob sie im Freiwilligendienst in Spanien Probleme mit der Landessprache hatte: „Besonders Sprich / Sprichwörter warn warn schwer für mich oder Jugendsprache, weil (.) die Elter / also das Elternteil sprach natürlich nicht Jugendsprache. Schon gar nicht die aktuelle. Und wenn man dann nach Spanien kam und dann mit Worten um sich geworfen wurde, die man noch nie gehört hat oder in nem anderen Zusammenhang, dann ist es schon schwer, das dann zu so zu interpretieren.“
Zu 2. Camila erwähnt auch im Nachfrageteil nur einmal konkrete Schulnoten, als sie von ihrem Leistungsanstieg in der Sekundarstufe 1 erzählt: „Und es hat sich dann auch in in meinen Noten widergespiegelt. Also es waren dann eigentlich nur immer Schusselfehler oder Rechenfehler, [...] die mir dann, sag ich mal, die Eins verwehrt haben und wodurch ich dann meistens immer so ein kleines Plus an an der Note dran hatte.“
Auffällig ist, dass sie hier zwar eine konkrete Note, aber auch nicht ihre konkrete Note benennt. Diese erwähnt sie auch hier nur indirekt, nämlich dadurch, welche Note ihr verwehrt blieb. Camila erwähnt auch im Nachfrageteil – und somit in der gesamten Erzählung – wiederholt ihr soziales Umfeld in der Schule bzw. ihre Lerngruppe und setzt ihre eigenen Leistungen in den Vergleich mit den Leistungen ihrer Lerngruppe. Es erhärtet sich der Verdacht, dass Camila ein gesteigertes Vergleichsdenken besitzt, vornehmlich in Aufwärtsvergleichen. Im immanenten Nachfrageteil zeichnet sich ab, dass sie die Ergebnisse ihrer Vergleiche jedoch
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meist abstrakt darstellt. Sie vermeidet es, konkret von ihrer Unterlegenheit bzw. ihren Misserfolgen zu erzählen. Neben dem Vergleichsdenken zeigt sich im Nachfrageteil auch ein erhöhtes Empfinden von eigener Benachteiligung, z. B. als Camila aus dem dritten Semester ihres Mathematikstudiums erzählt, in dem sie zwei Fachvorlesungen gleichzeitig besuchen musste, weil sie im Semester zuvor die Prüfung zu der einen Vorlesung nicht bestanden hatte: „Und das war dann so viel im Pensum und (..) dann hatte also dann hatte hatte ich (.) die Inhalte von der Linearen Algebra nochmal neu aufzuarbeiten und dann gleichzeitig die Analysis, die ich dann mit denen verstehen musste, die nur die Analysis 1 hörten und dann (.) / Die hatten ja schon die Lineare Algebra verstanden und bestanden, wodurch (.) sie sich darum nicht auch noch kümmern mussten.“
Diese Erzählung zu diesem und anderen Tiefpunkten im Mathematikstudium zeigt, dass Camila ihr soziales Umfeld häufig als mit günstigeren Bedingungen ausgestattet empfindet als sich selbst. Und noch ein weiterer Eindruck der Eingangserzählung erhärtet sich im Nachfrageteil, nämlich dass Camila sich in ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte mehr als erlebend als als handelnd sieht. Insbesondere die wiederholte Vermeidung von Erzählungen von Entscheidungsprozessen (z. B. für den Wechsel in eine LuBK, für den Mathematikleistungskurs oder für die Wahl des Studienortes) verweisen darauf. Es scheint, dass Camila ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte als etwas sieht, was ihr ‚einfach passierte‘ und nicht als etwas, an dem sie Anteil bzw. auf das sie Einfluss hatte.
5.5.1.3 Die Rekonstruktion von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte Familie und Vorschulzeit Camila wird als erstes Kind in einem Vorort Berlins in Brandenburg geboren. Ihre Mutter ist Sozialarbeiterin, ihr Vater Koch. (Später wird Camilas Vater eine Umschulung zum Buchhalter machen.) Als Camila fünf Jahre alt ist, wird ihr kleiner Bruder geboren. Camila wächst bilingual auf: Ihr Vater ist Spanier und spricht Spanisch mit ihr. Er ist jedoch vermutlich aus beruflichen Gründen häufig abwesend, Camila und ihr Bruder werden hauptsächlich von ihrer Mutter betreut. Camila hat eine weniger enge Bindung zu ihrem Vater als zu ihrer Mutter, ihre
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Bilingualität ist deshalb auch nicht gänzlich ausgeprägt, d. h., sie spricht Spanisch nicht auf muttersprachlichem Niveau.35 Camila ist ein „sehr wissbegieriges Kind“. Ihr vorschulisches Interesse an schulischen Themen besteht fächerübergreifend: Sie fragt ihre Mutter, was Buchstaben bedeuten und auch wie man rechnet. So erklärt Camilas Mutter, die selbst keinerlei Mathematikaffinität besitzt, ihrer Tochter, wie man subtrahiert und addiert. Camila übt die Rechenoperationen dann „freiwillig in [ihrer] Freizeit nach dem Kindergarten“, sodass sie zu ihrem Schuleintritt bereits addieren und subtrahieren können wird. Als sie jedoch vor der Schule auch anfangen möchte zu multiplizieren und zu dividieren, wird Camila „von [ihrer] Mama dann ausgebremst“. Camilas Mutter unterbindet Camilas Beschäftigung mit der Multiplikation und Division wohl, weil sie diese als nicht altersgerecht empfindet. Camila widersetzt sich dieser Unterbindung seitens ihrer Mutter nicht. Sie wendet sich z. B. mit ihren Fragen zur Multiplikation und Division nicht an andere Personen, die ihr die Rechenoperationen ebenfalls erklären könnten. Aus ihrer Gegenwartsperspektive zum Zeitpunkt der Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte sieht Camila sich in ihrer vorschulischen Beschäftigung mit schulischen Inhalten von ihrer Mutter nicht genug gefördert, vielmehr sogar darin behindert. Sie scheint sich zum Zeitpunkt der Erzählung als besonders wissbegieriges Kind zu sehen, das mehr hätte gefördert werden sollen. Camila spielt mit einem älteren Nachbarskind gern Schule: Meist ist Camila die Schülerin, das ältere Nachbarskind die Lehrerin. Camila freut sich sehr auf die Schule. Sie kann es kaum erwarten, eingeschult zu werden. Ihr Schulspiel scheint eine Art ‚Überbrückung‘ der Zeit darzustellen, bis sie endlich selbst zur Schule kommt.
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Als Camila z. B. von einem Auslandsaufenthalt nach dem Abitur in Spanien erzählt, schätzt sie ihre Sprachkenntnisse wie folgt ein: „Besonders Sprich / Sprichwörter warn warn schwer für mich oder Jugendsprache, weil (.) die Elter / also das Elternteil sprach natürlich nicht Jugendsprache. Schon gar nicht die aktuelle. Und wenn man dann nach Spanien kam und dann mit Worten um sich geworfen wurde, die man noch nie gehört hat oder in nem anderen Zusammenhang, dann ist es schon schwer, das dann zu so zu interpretieren.“ Und auf die Nachfrage, wie sie den Spanischunterricht in der Schule erlebte, erzählt Camila: „Ähm (.) ich muss ehrlich sagen, ich (.) hatte (.) gar nicht so / also ich hatte mündlich sehr viele Vorteile, klar. Aber was den Rest anging, nicht, weil ichs nie gelernt hab, zu schreiben oder die die korrekte Grammatik. Das war alles so organisch ausm (.) Sprechen entstanden und dementsprechend muss ich / musste ich die Grammatik und die Re / Orthographie genauso wie alle anderen lernen.“
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Grundschulzeit Im Alter von sechs Jahren wird Camila eingeschult. Sie ist in der Grundschule fächerübergreifend sehr leistungsstark. Die an sie gestellten Leistungsanforderungen in der Grundschule scheinen genau zu ihrer Leistungsfähigkeit zu passen („Mir ist eigentlich vieles leichtgefallen in der [Grund]schule.“). Dies stellt eine Besonderheit in Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte dar, welche ansonsten in weiten Teilen von entweder Unter- oder Überforderung geprägt sein wird. Auch im Fach Mathematik ist Camila in der Grundschule erfolgreich: Das Erledigen von Mathematikaufgaben fällt ihr leicht. Sie hat eine Vorliebe für „das Rechnen“ und ist durch ihre vorschulische Beschäftigung mit den Grundrechenarten kopfrechenstärker als viele ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler („Ich war nie die Person, die an den Fingern abzählen musste, (.) wenns jetzt irgendwie zur zur Addition oder Subtraktion ging. (.) Sondern es war dann eher schon alles im im Kopf.“). Sie ist dadurch erfolgreich im kalkülorientierten Mathematikunterricht ihrer Grundschule, u. a. auch in dem Spiel Bankrutschen. Camila spielt dieses Spiel mit Freude, eben weil sie darin erfolgreich ist („Meistens war ich jemand, der viel gerutscht ist.“). Es könnte an dieser Stelle auf ein Muster in Camilas Beschäftigung mit Mathematik geschlossen werden, welches wie folgt lautet: Camila wird genau dann zur Beschäftigung mit Mathematik motiviert, wenn sie gute Leistungen erbringt. Es wird sich jedoch im weiteren Verlauf ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte zeigen, dass dies auf Camilas Beschäftigung mit Mathematik nicht zutrifft, sondern dass diese insbesondere auch dann andauert, wenn Camila wenig erfolgreich ist. Camilas Eltern trennen sich, als Camila in der 2. Klasse ist, und Camila zieht daraufhin mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in einen Ort, der nur wenige Kilometer von ihrem bisherigen Wohnort entfernt ist. Zum Schuljahresbeginn der 3. Klasse wechselt Camila aufgrund des Umzugs die Grundschule. Sie erzählt hierzu: „Das Positive war, dass die Klasse sowieso neu zusammengewürfelt wurde, weil davor (.) eine Flexklasse und eine reguläre Klasse bestand. Und die wurden dann ab der Dritten dann gemeinsam in einen Topf geworfen. Dann gabs zwei Parallelklassen, die sich auch selbst noch kennenlernen mussten. Und dementsprechend / (.) Einige kannten sich schon, aber dementsprechend fiel ich nicht so auf in der neuen Klassenkon / (.) Konstellation.“
Camila wird also nicht die – mitunter unangenehme – Rolle der (i. S. v. einzigen) neuen Schülerin zugeschrieben. Sie kann sich wie alle anderen in die neue Klasse einleben. Sie erlebt den Schulwechsel zwar wie „neu eingeschult zu werden“, kann aber ohne Unterbrechung an ihre vorherigen sehr guten Schulleistungen
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anknüpfen. Auch an ihrer neuen Grundschule ist Camila fächerübergreifend sehr leistungsstark. Der Schulwechsel gefolgt von ihrem erneuten Einnehmen der Rolle der besten Schülerin scheint dazu beizutragen, dass Camilas sich mit dieser Rolle identifiziert. Camila ist in ihrer neuen Grundschule derart erfolgreich, dass sie bereits nach der 4. anstatt wie üblicherweise der 6. Klasse an ein Gymnasium in eine LuBK wechselt. Ihre Mutter scheint spätestens zu diesem Zeitpunkt einen Wechsel der Strategie im Umgang mit der Leistungsförderung ihrer Tochter vorgenommen zu haben: Hatte sie die altersuntypische Beschäftigung mit schulischen Inhalten vor der Grundschule noch unterbunden, fördert sie diese nun offensichtlich, indem sie Camilas vorzeitigen Wechsel an das Gymnasium in eine LuBK unterstützt.36 Übergang zum Gymnasium in die LuBK Die LuBK stellt die einzige 5. Klasse am Gymnasium dar, denn spätere Parallelklassen werden erst in der 7. Klasse hinzukommen. An die Schülerinnen und Schüler der LuBK werden hohe Leistungserwartungen gestellt. Camila erzählt hierzu: „Der erste Tag in dieser Klasse lief so ab: Die Klassenlehrerin und der Schulleiter kamen rein und sagten uns „Ihr seid die zukünftige Elite, verhaltet euch auch so“. [...] Es wurde von Anfang an in uns so reinindoktriniert [...], dass wir doch ja gute Leistungen (.) erbringen sollen. Wir sind ja schließlich die Leistungs- und Begabtenklasse und (.) wir sind nicht ohne Grund am Gymnasium.“
Das Lerntempo und -niveau in der LuBK liegen deutlich höher als an Camilas Grundschule („Es war schon ein anderer Schnack als in der Grundschule.“). Sie kann dem Unterricht nur mit viel Aufwand folgen, ihre Noten in Mathematik werden schlechter. Der Übergang in die LuBK stellt damit für Camila einen Wendepunkt in ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte dar: Sie kann erstmalig Leistungserwartungen aus ihrem sozialen – insbesondere schulischen – Umfeld an sie nicht mehr erfüllen. Sie erfüllt demgemäß auch nicht mehr die Rolle der besten Mathematikschülerin und kann in einer Klasse voller ehemaliger ‚Klassenbesten‘, die „meistens […] [ei]nen Zeugnisklassendurchschnitt von 1,6“ hat, nur Leistungen im unteren Mittelfeld erbringen. Sie scheint diesen Misserfolg derart zu verarbeiten, dass sie seine Ursachen den erschwerten Bedingungen in der LuBK – und damit explizit nicht sich selbst – zuschreibt („Da bin ich dann 36
Die Aufnahme in eine LuBK kann zwar von den Grundschullehrkräften einer Schülerin oder eines Schülers empfohlen werden, muss aber letztendlich von den Eltern der Schülerin oder des Schülers bei der aufnehmenden Schule beantragt werden (vgl. MBJS, 2018).
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zur Fünften aufs Gymnasium gegangen. (.) Und dann war das Niveau auf einmal (.) ganz woanders. Und dann (..) ja fielen die Noten ab.“). Der Leistungsvergleich unter den Schülerinnen und Schülern der LuBK ist stark ausgeprägt: „Jeder hat nach den besten Noten gestrebt. Das war sehr sehr Ellenbogengesellschaft, dass jeder auf seinen eigenen Vorteil aus war und (.) auf seine eigene beste Leistung.“ Camila erlebt diesen Leistungsvergleich mit und die Konkurrenz zwischen ihren Mitschülerinnen und Mitschülern als negativ, sie bezeichnet mit Bezug auf ihre gezeichnete Kurve diese Phase als „Knick“ und „Abfall“.37 Es deutet sich an dieser Stelle der Erzählung ein Muster an: Camila erlebt Vergleich und Konkurrenz mit ihrem schulischen sozialen Umfeld als positiv, wenn sie als erfolgreich aus ihnen hervorgeht; sie bewertet sie jedoch als negativ oder leidet unter ihnen, wenn sie nicht als erfolgreich hervorgeht. Sie selbst expliziert hierzu: „[Was sich durch mein Leben zog war, CSG] häufig [...] der Leistungsvergleich. (.) Sowohl im positiven als auch im negativen [Sinne]. Das hat ja theoretisch dann schon in der Grundschule angefangen, als ich eher eine der leistungsstärkeren Schülerinnen war. (.) Was dann (.) mit dem Wechsel zum Gymnasium (.) und ähm zur Uni ja dann eher im im niedrigeren Bereich war, (5 sec) dass dass ich mich sehr mit anderen verglichen habe und das so als Maßstab genommen habe.“
Das Vergleichsdenken unter den Schülerinnen und Schülern der LuBK wird in Camilas Augen durch folgende Angewohnheit ihrer Lehrkräfte gefördert: „Es wurden auch meist die Notenspiegel von den von den Lehrkräften angeschrieben, was ich jetzt so im Nachhinein selbst nicht machen würde. (.) Und dann wurde schon so immer spekuliert, wer hat denn jetzt diese eine Drei oder die eine Vier, die dann geschrieben wurde? (.) Und ja, das das war eher so die Mentalität.“
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In einer Erhebung des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg im Jahre 2014 an 33 Brandenburger Gymnasien und einer Brandenburger Gesamtschule wurden LuBK-Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 8 (n = 881) und 10 (n = 777) (vgl. Vock & Gronostaj, 2014, S. 16) u. a. zu ihrer Einstellung zur LuBK befragt (vgl. Vock & Gronostaj, S. 30–31). Knapp die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler gab an, dass sie sich „durch die hohen Erwartungen von Eltern und Lehrkräften unter Druck gesetzt“ (Vock & Gronostaj, 2014, S. 30–31) fühlte. Die Erhebung ergab außerdem, dass 30 % der Schülerinnen und Schüler „in ihrer Klasse einen störenden Wettbewerb“ (Vock & Gronostaj, 2014, S. 31) empfinden. Einige von ihnen würden sich – trotz kognitiver Eignung – aus genau diesem Grunde nicht noch einmal für den Eintritt in eine LuBK entscheiden (vgl. Vock & Gronostaj, 2014, S. 31).
5.5 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen …
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Auch Camila ist häufiger diejenige Schülerin, die in einem Test die schlechteste Note im Klassenvergleich erzielt. Ihre schlechten Noten im Fach Mathematik scheinen zum einen auf ihre Unaufmerksamkeit, zum anderen aber auch auf ihre mangelnde kognitive Leistungsfähigkeit zurückzuführen zu sein: Camila begeht in Tests häufig sowohl den Fehler, wichtige Informationen in der Aufgabenstellung zu übersehen, als auch den Fehler, wichtige Informationen fälschlicherweise als unwichtig einzustufen. Sie erlebt Testsituationen, in denen sie keine guten Leistungen erbringen kann, als sehr unangenehm. Sie vergleicht sich oft schon innerhalb der Testsituation mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern und stellt fest, dass sie selbst für die Bearbeitung viel Zeit benötigt und dass ihre Mitschülerinnen und Mitschüler deutlich früher mit der Bearbeitung fertig sind als sie. Es zeigt sich in der Erzählung dieser Themen (‚Schlechte Noten‘ und ‚Testsituationen‘), dass Camila die Ursachen für ihre damaligen schlechten Noten eigentlich in externen Faktoren sieht, z. B. in schwierigen Aufgabenstellungen. Sie scheint jedoch in der LuBK derart sozialisiert worden zu sein, dass Misserfolge nicht externen Faktoren, sondern sich selbst zuzuschreiben sind. Camila übernimmt diese ‚Zuschreibungsregelung‘ zwar formal, findet jedoch eine ‚Lücke‘ in ihr: Sie schreibt die schlechten Noten zwar sich selbst, aber nur situativen – also instabilen – Faktoren im Selbst zu. Sie führt ihre schlechten Noten z. B. auf „keine gute Tagesform“ oder „Unaufmerksamkeit an dem Tag“ zurück. Auf diese Weise gelingt es ihr, dass ihre schlechten Noten zwar auf sie selbst zurückzuführen sind, aber dennoch keine negativen Rückschlüsse auf ihre generelle Leistungsfähigkeit gezogen werden können. Es gibt einige wenige Mitschülerinnen und Mitschüler von Camila, die sich im Laufe der ersten zwei Jahre der Vergleichssituation und dem Leistungsdruck der LuBK entziehen. Camila selbst jedoch sagt, sie sei „nen zu schüchterner und stiller Mensch [gewesen], um das machen zu können“. Statt sich von den hohen äußeren Erwartungen und Anforderungen an sie als Schülerin der LuBK zu distanzieren, nimmt sich Camila ihnen trotz ihres Misserfolgs an. Sie denkt vielmehr: „Mathe am Gymnasium funktioniert [halt so].“ Sie wird in der LuBK nachhaltig derart sozialisiert, dass allein hohe Anforderungen und gute Leistungen der Norm entsprechen. Dies zeigt sich auch in ihrer Erzählung, also aus Camilas Gegenwartsperspektive: Bei der Erzählung einer schlechten Leistung thematisiert sie immer auch die Gründe für das Ausbleiben der guten Leistung. Sie zeigt also zu Ereignissen in ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte, in denen sie schlechte und damit nicht der Norm konforme Leistungen erbrachte, hohen Erklärungs- und Rechtfertigungsbedarf. Ihr eigenes persönliches Erleben
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von Misserfolgen scheint Camila zu ignorieren, vielmehr fokussiert sie sich stattdessen darauf, sie rechtfertigen und erklären zu können. Camila ist in der LuBK eine sehr stille und zurückhaltende Schülerin. Zu ihren Lehrkräften in der LuBK hat sie „kein übermäßig gutes, aber […] auch kein schlechtes“ Verhältnis; sie ist „von [kei]nem Lehrer die Lieblingsschülerin“. Ihr unliebstes Fach ist Geschichte. In Spanisch ist sie durch ihre bilinguale Erziehung in der mündlichen Mitarbeit bevorteilt, schriftlich hingegen nicht. Camila sieht sich durch ihre bilinguale Erziehung insgesamt nur teilweise bevorteilt. Auf die Nachfrage, welche Nachteile ihre bilinguale Erziehung mit sich brachte, erzählt sie von folgender, scheinbar wiederkehrenden Situation: „Also ich glaub, das ist vor allem so, wenn man (.) dann die Sprache selbst in der Schule lernt (.) ähm und man dann einmal mit dem Elternteil telefoniert, hören alle so genau zu, versuchen was zu verstehen und fragen dich dann im Nachhinein (.) „Hab ich das richtig verstanden? (.) Kann kann ich das gut verstehen?“. Und das ist dann son / Man kann nicht mal mehr in Ruhe telefonieren, was was eigentlich mal bei nem Gespräch auf Deutsch nicht passiert wäre.“
Mobbing In der 6. Klasse wird Camila von einigen Mädchen aus ihrer Klasse, die zuvor ihre Freundinnen waren, gemobbt: „Dann kam ne Zeit wo, (.) ich halts mal kurz, ich war wie so ne Art Mobbingopfer und (.) ausgeschlossen aus der Klasse so ein bisschen. [...] Etwa nen halbes Jahr. (.) Dreiviertel.“
In der Eingangserzählung spricht Camila diese Phase ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte gar nicht an, auch im immanenten Nachfrageteil berichtet sie davon nur knapp und signalisiert expliziert Erzählunbereitschaft (‚ich halts mal kurz‘). Bei weiteren Nachfragen verweist sie auf ihre fehlende Erinnerung: „Also es ist jetzt schon wirklich lange her. Also so an die ganzen Einzelheiten kann ich mich auch nicht mehr (.) erinnern.“ Ihr Erzählverhalten im Interview – genauer: die De-Thematisierung des erlebten Mobbings – scheint sich mit ihrem Verhalten während des Erlebens des Mobbings in der 6. Klasse selbst zu decken: Auch zu diesem Zeitpunkt thematisiert Camila es in ihrem sozialen Umfeld in der Schule nicht, weder vor Lehrkräften noch vor Mitschülerinnen und Mitschülern. Es scheint, dass Camila ihr Mobbingerlebnis sowohl aus der Vergangenheits- als auch der Gegenwartsperspektive nicht zum Thema erheben möchte. Dass Camila gemobbt wird, wird nur zufällig während einer Gruppenarbeit aufgedeckt:
5.5 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen …
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„Das ist durch ne (..) Gruppenarbeit so ein bisschen ans ans Licht gekommen. Und (.) / Also ich hab mich nicht an die Lehrerin gewendet. Das hat / das ist dann einfach so so passiert.“
Die Lehrerin führt daraufhin ein Gespräch mit den betreffenden Personen, also den Mädchen, die Camila mobbten, und auch Camila. Camila beschreibt dieses Gespräch als „ein Schritt in (.) in die Besserung“. Die Mädchen entschuldigen sich bei ihr. Camila beschreibt die Phase nach dieser Entschuldigung wie folgt: „Ich [hatte] mir, sag ich mal, ne andere Gruppe / ne andere Mädchengruppe aus der Klasse (..) ich würde es jetzt einfach mal sagen gesucht in Anführungszeichen, mit denen ich mich dann angefreundet hatte.“ „Dann irgendwann wars dann eher, dass man sich dann doch nochmal mit den (.) vorherigen Freunden getroffen hat und unterhalten hat. Und dass es dann so langsam (.) nicht zu Freundschaft wurde, aber dass man wieder normal miteinander reden konnte.“
Die genauen Gründe oder das Ausmaß des Mobbings bleiben auch nach der gesamten Erzählung von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte unbekannt. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die Phase des Mobbings eine Erfahrung für sie darstellt, die Camila langfristig in ihrem Verhalten in sozialen Gefügen in Bildungseinrichtungen beeinflussen wird: Ihr Verhalten ist dort von Zurückhaltung geprägt, sie findet nur schwer Anschluss an bestehende Gruppen und nimmt häufig die Position der Außenseiterin oder Einzelgängerin ein. Sekundarstufe 1 Ab Beginn des 7. Schuljahres, also nach – wie in Brandenburg üblich – sechs Grundschuljahren, wechseln weitere Schülerinnen und Schüler auf das Gymnasium. Sie werden in Regelklassen unterrichtet, die LuBK bleibt parallel dazu bestehen. Die Schülerinnen und Schüler der LuBK – unter ihnen Camila – mischen sich kaum mit den neuen Schülerinnen und Schülern: „Wir waren tatsächlich sehr stark in unserer Klasse geblieben und haben uns nicht so mit den anderen Parallelklassen vermischt. (...) Ich weiß nicht, wie es sonst bei den Leistungs- und Begabtenklassen abläuft. (.) Aber ja wir waren schon eher (.) / Wir wurden auch meist etwas anders von von den Lehrern behandelt, wodurch dann auch nochmal son / (.) so ne Spaltung zu den anderen Klassen aufkam.“
Da es nun Parallelklassen zur LuBK gibt, würde für Camila erstmalig ein Klassenwechsel aus der LuBK in eine Regelklasse möglich. Das LuBK-System ist
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nämlich „durchlässig für Wechsler“ (vgl. Vock & Gronostaj, 2014, S. 7). Camila zieht trotz ihrer mittleren bis schlechteren Schulleistungen in der 5. und 6. Klasse und auch, obwohl sie unter dem Leistungsdruck und -vergleich in der LuBK leidet, den Wechsel in eine Parallelklasse nicht in Betracht – vermutlich aus Angst vor der Enttäuschung äußerer Erwartungen: Ein Austreten aus der Leistungsund Begabungsklasse käme zu diesem Zeitpunkt einem Abspruch der eigenen Leistungsfähigkeit und Begabung gleich. Und so erbringt Camila stattdessen weiterhin höchsten Aufwand, um die äußeren Erwartungen an sie in der Rolle einer Schülerin der LuBK zu erfüllen. Im Laufe der Sekundarstufe 1 – in etwa ab der 8. Klasse – steigen Camilas Leistungen und es verändert sich dadurch ihre Position in der LuBK: „Dann hab ich irgendwann (.) mich wieder an an das / die Schulmathematik am Gymnasium gewöhnt. (.) Und dann hats mir wieder mehr Spaß gemacht. Und die Noten wurden auch dann auch viel wieder besser [...]. Da war ich zwar immer noch nicht eine der Besten im Mathematikunterricht aus der Klasse, aber (.) ich habs trotzdem anderen erklärt, die es langsamer verstanden haben, mit denen ich befreundet war.“38
Es zeigt sich, dass Camila bewusst ist, dass sie auf das Resultat eines Leistungsvergleichs mit ihrem sozialen Umfeld einwirken kann: Vergleicht sie sich mit einem leistungsschwächeren Umfeld (‚anderen […], die es langsamer verstanden haben‘), so ist sie vergleichsweise leistungsstärker (‚anderen erklärt‘). Im Vergleich zu einem leistungsstarken Umfeld (‚aus der Klasse‘) hingegen, ist sie vergleichsweise leistungsschwächer (‚immer noch nicht eine der Besten‘). Häufig verfehlt Camila – laut eigener Aussage – in dieser Zeit nur knapp Bestnoten: „Also es waren dann eigentlich nur immer Schusselfehler oder Rechenfehler, [...] die mir dann, sag ich mal, die Eins verwehrt haben und wodurch ich dann meistens immer so ein kleines Plus an an der Note dran hatte.“
Am Ende der Sekundarstufe 1 und mit Übergang in die Sekundarstufe 2 löst sich die LuBK nach sechsjährigem Bestehen auf. Camila scheint der Klassenauflösung ambivalent gegenüberzustehen: Sie ist einerseits froh über den nachlassenden 38
Dass Camila ihre eigenen Leistungen im Laufe der Sekundarstufe 1 immer positiver einschätzt, lässt sich auf ein Phänomen zurückführen, welches in Längsschnittuntersuchungen sichtbar wurde: Der negative Effekt auf das Selbstkonzept ist bei Schülerinnen und Schülern direkt im Anschluss an die Fähigkeitsgruppierung – im Falle der LuBK: zu Beginn der 5. Klasse – am stärksten ausgeprägt und nimmt im Laufe der Zeit immer mehr ab (vgl. Vock & Gronostaj, 2014, S. 26).
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Leistungsdruck, bedauert andererseits aber, dass sie nun nicht mehr der erlesenen Gruppe angehört, durch welche ihr per se Leistungsfähigkeit und Begabung zugeschrieben wurde. Es zeigt sich hier ein Muster in Camilas Erleben der Zugehörigkeit zu einer Lerngruppe, an die sehr hohe Leistungsanforderungen gestellt werden: Sie leidet unter den hohen Leistungsanforderungen, genießt aber gleichzeitig die Wertschätzung aus ihrem sozialen Umfeld, die mit der Zugehörigkeit zu dieser leistungsstarken Gruppe einhergeht. Mathematikleistungskurs Für alle Schülerinnen und Schüler an Camilas Gymnasium ist der Mathematikleistungskurs – neben dem Deutschleistungskurs – verpflichtend. Es bleibt unklar, ob Camila sich auch ohne diese Pflicht für den Mathematikleistungskurs entschieden hätte. In der Eingangserzählung deutet sie dies zwar an: „Und dann hab ich mich eigentlich schon auf den Matheleistungskurs oder beziehungsweise Mathe auf erhöhtem Leistungsniveau gefreut, (..) weil ich sowieso vorhatte, eigentlich in den Matheleistungskurs zu gehen.“
Im Nachfrageteil hingegen räumt sie diese Aussage wieder ein, als sie auf die Frage der Interviewerin danach, welche Leistungskurse sie gewählt hätte, wenn sie sich für zwei Leistungskurse hätte entscheiden müssen, antwortet: „Es gibt immer Einschränkungen, wie man das wählen durfte. Ich weiß / also ich weiß nicht, wie jetzt die Einschränkungen sind, aber entweder, ich hätte höchstwahrscheinlich Mathe Chemie oder Mathe Spanisch oder Chemie Spanisch gewählt.“
Die freiwillige Entscheidung für einen Mathematikleistungskurs, wäre dieser nicht verpflichtend gewesen, ist also nicht derart sicher, wie Camila sie ursprünglich gern darstellen möchte. In ihrem Mathematikleistungskurs erlebt Camila einen Tiefpunkt ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte: „Dann gabs so den zweiten Dämpfer, als (.) als ich dann feststellen musste, dass ich im Kurs mit den ganzen Leuten gelandet bin, die Mathe eigentlich abwählen wollten und dadurch, dass es ja nen Pflichtkurs war, dann nur bes / also da warn, weil es Pflicht war. Und dementsprechend (.) sind wir langsa / nur sehr sehr langsam vorangekommen. Dazu kam noch, dass die Lehrerin ne lange Zeit krank war, wodurch dann nochmal der Stoff ganz lange wiederholt werden musste, der eigentlich selbst erarbeitet werden musste, (..) weil die Schule keine Kapazität hatte, (.) dann Vertretungsunterricht zu machen. (..) Und (.) ja, das das war dann so der erste richtig richtige Tiefpunkt (..) in
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der Schulzeit, (...) weils dann so zu so nem Frust wurde, (.) dass es nicht weiter ging. Und (.) ja (.) ich war schon schon sehr unterfordert.“
Auffällig ist hier, dass Camila ihre Erzählung damit beginnt, ihren Mathematikleistungskurs als ‚zweiten Dämpfer‘ (der ‚erste Dämpfer‘ war zu diesem Zeitpunkt der Erzählung ihr Leistungsabfall zum Übergang in die LuBK) zu bezeichnen, diese Bezeichnung jedoch im weiteren Verlauf der Erzählung dann zum ‚ersten richtigen Tiefpunkt in der Schulzeit‘ ausweitet. Vermutlich möchte Camila mit der rückwirkenden Neuordnung betonen, dass sie Überforderung (z. B. in der LuBK) weniger negativ erlebt als Unterforderung (z. B. im Mathematikleistungskurs). Im Mathematikleistungskurs hat Camila kaum Kontakt zu anderen Kursteilnehmenden mit Ausnahme zweier ehemaliger Mitschülerinnen und Mitschüler aus der LuBK. Diese jedoch erleben den Kurs nicht derart frustrierend wie Camila: „Die haben Mathe gemacht, aber das hat denen nicht sonderlich Spaß gemacht. Das war / sie waren zwar gut drin. Sie haben die Zusammenhänge meist verstanden, die die im Matheunterricht dann besprochen wurden, aber denen war das nicht so wichtig. Also die waren nicht so frustriert.“
Camila gilt im Mathematikleistungskurs also als eine der besten Schülerinnen und Schüler. Sie fühlt sich ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, die zuvor nicht die LuBK besuchten, in dieser Zeit überlegen. Dies zeigt sich in ihrer Erzählung – also aus ihrer Gegenwartsperspektive – darin, dass es ihr besonders wichtig scheint, sich von ihnen abzusetzen: Sie betont nicht nur zu Beginn des Themas ihre eigene Freiwilligkeit, am Mathematikleistungskurs teilzunehmen, sondern auch die Nichtfreiwilligkeit ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler (‚die Mathe eigentlich abwählen wollten und dadurch, dass es ja nen Pflichtkurs war, dann nur bes / also da warn, weil es Pflicht war‘). Sie betont zudem an mehreren Stellen, wie niedrig das Lerntempo aufgrund ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler war, „die überhaupt keine Lust auf Mathe […] hatten [und] […] die das auch nicht verstehen wollten“: Es war „frustrierend, dass es nicht voranging und dass alles fünf Mal erklärt werden musste“ und „dass man immer so einfache Aufgaben dann lösen musste“. Camila macht für das niedrige Lerntempo und -niveau jedoch nicht nur ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, sondern auch institutionelle Bedingungen verantwortlich (‚Dazu kam noch, dass die Lehrerin ne lange Zeit krank war‘, ‚weil die Schule keine Kapazität hatte, (.) dann Vertretungsunterricht zu
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machen‘). So gelingt es ihr, sich selbst endgültig aus der Verantwortung dieses Tiefpunkterlebens zu nehmen. Camila ist „neidisch“ auf Schülerinnen und Schüler in anderen Leistungskursen, die „wesentlich schneller vorangingen und kamen und nen ganz anderes Niveau hatten“. Doch obwohl die Möglichkeit dazu bestünde, wechselt sie den Leistungskurs nicht. Sie wechselt ihn vermutlich deshalb nicht, weil sie die Rückkehr zu Leistungsvergleich und -druck (wie in der LuBK) eigentlich vermeiden möchte, solange dies möglich ist, ohne sich dadurch mit einer mathematikbegabten Person desidentifizieren zu müssen. Im Fall ihres Mathematikleistungskurses ist genau dies möglich: Sie kann sich als ‚unterfordert‘ erleben und sich so weiterhin mit der mathematikbegabten Person identifizieren, als die sie in ihrem Leistungskurs in Anspruch genommen wird, ohne dabei den Zustand der Unterforderung verlassen und in einen Zustand der Überforderung eintreten zu müssen. Interessant ist, dass Camila ihre Zuordnung zum Leistungskurs als völlig zufällig zu erleben scheint (‚als ich dann feststellen musste, dass ich im Kurs mit den ganzen Leuten gelandet bin, die Mathe eigentlich abwählen wollten‘). Auf diese Weise dethematisiert sie die Möglichkeit, dass sie absichtlich diesem Mathematikleistungskurs mit vornehmlich leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern zugeordnet wurde, z. B. aufgrund ihrer schwächeren Mathematikleistungen am Ende der Sekundarstufe 1. Es wäre möglich, dass sie so den Verdacht (ihren eigenen oder einen potentiellen fremden) unterdrücken möchte, dass sie in der Sekundarstufe 1 in Mathematik eigentlich nicht derart leistungsstark war, wie sie es in ihrer Erzählung darstellt. Camila wird das niedrige Lerntempo und -niveau ihres Mathematikleistungskurses später für ihre Misserfolge im Mathematikstudium mitverantwortlich machen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb Camila, die zum Zeitpunkt des Interviews mitten in ihrem Mathematikstudium ‚steckt‘ und ihre dortigen Misserfolge zu erklären oder zu rechtfertigen versucht, während der Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte zum Thema ‚Mathematikleistungskurs‘ mehrfach – sowohl in der Eingangserzählung als auch im Nachfrageteil – in einen Erzählfluss gerät: Das Thema ist für sie aus ihrer Gegenwartsperspektive zum Zeitpunkt des Interviews hochrelevant, da es eine Erklärung oder Rechtfertigung für ihre Misserfolge im Mathematikstudium bereitstellt. Freiwilligendienst und Entscheidung zum Studium Am Ende der Schulzeit möchte Camila zunächst Chemie und Spanisch auf Lehramt studieren:
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„Ja dann (..) hatte ich eigentlich gar nicht vor, Mathe zu studieren. (.) Und ursprünglich wollte ich Chemie und Spanisch als Kombination machen und (.) bin, um wirklich herauszufinden obs obs was für mich ist, hab ich nen Freiwilligendienst an ner Schule in Spanien gemacht als (..) ja so halb als Sprachassistentin für Deutsch.“
Camila absolviert in Vorbereitung auf ihr geplantes Spanischstudium einen einjährigen Jugendfreiwilligendienst an einem Instituto (10.–12. Klasse) mit Internat in Galizien. Ihre Aufgaben dort umfassen neben der Sprachassistenz die Mitarbeit im Sekretariat der Schule, die Unterstützung der Lehrkräfte im Deutschunterricht und die Aufsicht der Hausaufgaben sowie generell im Internat. Sie selbst bezeichnet ihre Rolle in dieser Zeit als „Mädchen für alles“. Camila stößt im Rahmen des Freiwilligendienstes gleich zweifach auf ‚sprachliche‘ Schwierigkeiten: 1. Sie kommt an ihre eigenen sprachlichen Grenzen („wenn man dann nach Spanien kam und dann mit Worten um sich geworfen wurde, die man noch nie gehört hat“) und bemerkt, dass ihre Spanischkenntnisse weit unter ihren eigenen Erwartungen liegen. 2. Ihr missfällt die Tätigkeit als Sprachassistenz für Deutsch, sie entwickelt eine generelle Abneigung gegenüber dem Unterrichten von Sprachen: „[Ich] hab dann (.) ja bemerkt, dass das Sprachenunterrichten so gar nicht meins ist. Also (.) ich hab Spaß an an Sprachen und die verstehe ich auch gut und / (.) aber das das Unterrichten das (.) fand ich (.) sehr sehr langweilig. Und auch unbefriedigend, weil es dann immer darauf hinausflauf / äh hinauslief, (.) ja es ist halt Grammatik, das müsst ihr auswendig lernen. Und da gabs nicht so viel zu erklären.“
An dieser Stelle scheint es Camila in ihrer Erzählung – also aus Gegenwartsperspektive – wichtig zu explizieren, dass ihr nur das Unterrichten von Sprachen keine Freude bereitet, Sprachen als solche jedoch schon (‚Also (.) ich hab Spaß an an Sprachen‘). Sie betont zudem ihre eigenen guten sprachlichen Fähigkeiten (‚und die verstehe ich auch gut‘). Sie scheint auf diese Weise verhindern zu wollen, dass ihre Abneigung gegenüber dem Unterrichten von Sprachen und damit auch ihre Abwendung vom Studienfach Spanisch auf Lehramt auf ihre fehlende Sprachbegabung oder -affinität zurückgeführt werden könnte. Etwas auffällig ist an dieser Textstelle, dass Camila von ‚Sprachen‘ im Plural spricht. Die Aussage ‚die verstehe ich auch gut‘ erscheint vor diesem Hintergrund eigentlich nicht sinnhaft, fast witzig, da es einem einzelnen Menschen in den allermeisten Fällen ja nur möglich ist, bestimmte Sprachen zu verstehen, nicht aber alle Sprachen bzw. Sprachen als solche. Dass Camila diese nicht sinnhafte, fast witzige Formulierung verwendet, bestärkt die Vermutung, dass sie sich unbedingt als sprachenbegabt verstanden wissen möchte.
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Camila gerät zu der Erzählung dieses Themas – dem Abwenden vom Studienfach Spanisch – in einen Erzählfluss. Die Entscheidung, nicht Spanisch studiert zu haben, scheint aus ihrer Gegenwartsperspektive sehr argumentationsbedürftig. Dies wird sie z. B. dadurch, dass Camila sich unsicher ist, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hat oder dadurch, dass die Entscheidung sich rückwirkend als Fehlentscheidung herausstellte. Mit der Abwendung vom Unterrichten von Sprachen geht in ihrem Freiwilligendienst die Zuwendung zur Mathematik einher: Als Camila Schülerinnen und Schülern des Instituto bei ihren Mathematikhausaufgaben hilft und ihnen Nachhilfe gibt, findet sie „diese Faszination von von Mathe und dem ganzen Logischen und Erklärbaren“ wieder. Da sie weiterhin an ihrem Berufswunsch Lehrerin festhält, stellt sie bzgl. ihrer Studienfachwahl folgende Überlegung an: „Naja wieso wieso nicht Mathe? (.) Wenns mir schon dann in der Nachhilfe sehr viel Spaß macht, dann / (.) und auch in der Schule immer sehr viel Spaß gemacht hat, dann dann wieso probiere ich es nicht?“
Camilas Studienfachwahl ändert sich also: Zog sie während oder direkt nach ihrer Schulzeit Mathematik nicht als Studienfach in Betracht, entscheidet sie sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu ihrer Schulzeit nun doch dafür. Sie kennt zu diesem Zeitpunkt keine Person, die Mathematik studiert oder studiert hat, d. h., sie hat kaum Wissen über die Inhalte, den Ablauf oder das Niveau eines Mathematikstudiums, sodass sie das Mathematikstudium zu diesem Zeitpunkt in seiner Schwierigkeit wohl unterschätzt. In ihrer Erzählung scheint Camila ihre Entscheidung für das Studienfach Mathematik mit ‚Ahnungslosigkeit‘ begründen zu wollen: Sie formuliert sehr unterkomplexe, fast kindliche Fragen (‚Naja wieso wieso nicht Mathe?‘, ‚wieso probiere ich es nicht?‘), stellt ihre Studienfachwahl als einen Versuch dar (‚wieso probiere ich es nicht?‘) und betont, dass sie keinerlei Vorwissen über das Mathematikstudium hatte („da bin ich ganz frisch alleine rein“). All diese Formulierungen liefern einen Hinweis darauf, dass Camila ihre Entscheidung für das Studienfach Mathematik rückwirkend als eher naive Entscheidung sieht oder sie als solche darstellen möchte. Camila bewirbt sich für ein Lehramtsstudium in den Fächern Mathematik und Chemie an drei Universitäten in Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Brandenburg. Sie ist sich zum Zeitpunkt ihrer Studienbewerbungen über ihre Fächerkombination sehr sicher, sodass sie sich ausschließlich für diese Fächerkombination und deshalb auch ausschließlich an Universitäten, an denen diese Fächerkombination angeboten wird, bewirbt. Sie entscheidet sich letztendlich für
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Potsdam als Studienort, „weils nah genug dran, aber auch weit genug weg von der Familie ist“. Beginn Bachelorstudium (1.–3. Semester) Nachdem vor Studienbeginn Camilas Motivation für die Beschäftigung mit Mathematik erheblich gestiegen war, erlebt sie einen „tiefen Einbruch […] nach dem Studienbeginn“: Sie versteht die Vorlesungsinhalte der ersten Fachvorlesung (Lineare Algebra) nur sehr schwer und benötigt viel Zeit zum Nacharbeiten der Vorlesungsinhalte. Neben den Vorlesungsinhalten muss sie zudem Themen nacharbeiten, die sie in ihrem Mathematikleistungskurs nicht behandelt hatte. Camila sieht sich gegenüber ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen aufgrund ihrer schulischen Vorbildung benachteiligt („was ich in der Schule nicht hatte und wo die anderen dann nen (.) wesent / wesentlichen Vorsprung hatten“). Sie vergleicht sich allgemein häufig mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen: „Ja es war dann auch vor allem wieder der Vergleich. Andere haben das sofort irgendwie durchblicken können (.) und ich sitz Stunden an den Aufgaben und komm nicht weiter.“ Vor allem nimmt Camila ‚Aufwärtsvergleiche‘ vor, d. h., sie vergleicht sich mit leistungsstärkeren Kommilitoninnen und Kommilitonen: „Also (...) wir hatten zwei im im Jahrgang, die ich nenn sie jetzt einfach mal kleine Mathegenies waren. Äh die schon in der Vorlesung nen guten Durchblick hatten und verstanden haben, was da vorne gemacht wurde und spezifische Nachfragen auch über vielleicht ähm Ausnahmen oder Spezialfälle stellen konnten. Und (.) wenn / das war dann so so dieser Vergleich, dass dass ich noch damit beschäftigt war, überhaupt nen Durchblick über das Thema zu finden, dass (.) dass ich weiß, was überhaupt da vorne an der Tafel mit den ganzen Beweisen gemeint ist.“
Die Bearbeitung der Übungsaufgaben zur Vorlesung nimmt Camila zunächst allein vor. Sie investiert sehr viel Zeit („ich sitz Stunden an den Aufgaben“) und bleibt dennoch erfolglos („und komm nicht weiter“). Obwohl sie eigentlich den Bedarf hat, schließt sich Camila zunächst keiner Lerngruppe an. Sie scheint sich für ihre Leistungsschwäche zu schämen und zudem zu schüchtern zu sein, um Kontakt zu ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen aufzubauen. Erst nach mehreren Wochen und nur auf explizite Einladung schließt sie sich einer Lerngruppe an. In der Lerngruppe ist Camila die leistungsschwächste Person, diese Rolle scheint sie als sehr unangenehm zu erleben. Camila besteht am Ende des ersten Semesters die Klausur zur Vorlesung nicht und muss die gesamte Vorlesung in ihrem übernächsten, also dritten, Semester wiederholen. Sie verlässt deshalb auch ihre Lerngruppe.
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In diesem übernächsten Semester belegt Camila nun zeitgleich die Vorlesungen Lineare Algebra und Analysis. Diese „Doppelbelastung“ bereitet ihr große Probleme, sie bezeichnet sie als einen der „zwei Tiefpunkte“ ihres Mathematikstudiums. (Der erste Tiefpunkt stellt eher eine Tiefphase dar, denn diesen verortet Camila „so stetig im ersten zweiten Semester“.) Ihr Negativerleben der Doppelbelegung der Vorlesungen Lineare Algebra und Analysis wird dadurch verstärkt, dass Camila sich wieder gegenüber anderen Studierenden benachteiligt fühlt: „Und das war dann so viel im Pensum und (..) dann hatte also dann hatte hatte ich (.) die Inhalte von der Linearen Algebra nochmal neu aufzuarbeiten und dann gleichzeitig die Analysis, die ich dann mit denen verstehen musste, die nur die Analysis 1 hörten und dann (.) / Die hatten ja schon die Lineare Algebra verstanden und bestanden, wodurch (.) sie sich darum nicht auch noch kümmern mussten.“
Camilas Tiefpunkte in den ersten Semestern des Studiums führen zu einer „Krise“. Sie fragt sich, „Wieso tu ich mir das an? (.) Was was soll das überhaupt? Wozu brauch ich das später (.) dann auch als als Lehrerin? [...] Es war alles auf einmal. Diese ganzen negativen Eindrücke vom / von der Mathematik im Studium, die dann (.) mich zweifeln lassen haben.“
Mehrere Male ist Camila „an dem Punkt, an dem […] [sie] fast aufgehört hätte“. Sie zieht sowohl einen Fachwechsel von ihrem Erstfach Mathematik als auch ihrem Zweitfach (Chemie) in Betracht, denn auch dieses erlebt sie im Studium als sehr zeitintensiv. Sie vergleicht ihre Fächerkombination mit denen anderer Studierender der Mathematik: „Ich [hab] mich dann gefragt, [...] wieso ich mir das eigentlich antue mit dem vielen / ähm (.) mit dem hohen Pensum. Wenn ich von anderen Studenten höre oder sogar anderen Lehramtsstudenten, die andere Fächerkombination haben, die sagen „Ja ich studiere eigentlich hauptsächlich Mathe. Und naja das andere Fach, das das schüttel ich so aus dem Ärmel. Die sind so leicht, da kann ich den Dozenten hinschreiben, (.) also was ich was ich will (.) und dann bestehe ich da und dann ja ist ist in Ordnung“. (.) Und äh dann bei Mathe und Chemie ist das schon nen sehr sehr hoher Zeit- und Lernaufwand, um dann zu bestehen überhaupt.“
Camila möchte unbedingt weiter Lehrerin werden, sie zieht deshalb keinen Studienabbruch, sondern einen Studienfachwechsel – konkret: zu Spanisch, ihrer ursprünglichsten Studienfachwahl – in Betracht. Sie steht hier jedoch in einem Zwiespalt, denn eigentlich hat sie den Wunsch bzw. die Erwartung an sich, später
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ihre Fächer „aus Leidenschaft“ zu unterrichten und nicht „nur, weil […] [sie es] nicht geschafft […] [hat], das Studium durchzuziehen (.) und aufgegeben [hat]“. Sie wechselt letztlich weder ihr Studienfach Mathematik noch Chemie, evaluiert hierzu selbst: „[Ich] hab mich dann wie so durchgebissen.“ Es zeigt sich, dass Camila eine hohe Frustrationstoleranz besitzt und trotz schlechter Leistungen und sinkender Motivation die Beschäftigung mit der Mathematik nicht aufgibt bzw. dass sie derart sozialisiert wurde, trotz schlechter Leistungen und sinkender Motivation, die Beschäftigung mit Mathematik nicht aufgeben zu dürfen. Bachelorstudium (4.–8. Semester) Ab dem vierten Semester tritt eine Wende in Camilas Erleben des Studiums ein: „Irgendwann hats dann aber wie so, (..) ich sag mal, Klick gemacht, (.) als ich dann schon nen paar Kurse gehört habe und dann (..) das auf einmal wie Sinn ergeben hat. Dass sich das ergänzt hat und nicht, (.) ja hier hab ich ne Information, dort hab ich ne Information, die gar nichts miteinander zu tun haben. Sondern es hat sich dann angefangen / ja es hat angefangen, dass ich aus (.) vorherigen Kursen was anwenden konnte, was dann auf einmal (.) / ja wo ich sagen konnte, ach dafür wirds gebraucht. (.) Und ja das hat die Motivation für die Mathematik dann auch wieder (..) ja (.) nach oben steigen lassen.“
Konkrete Ereignisse, die zu Camilas Motivationsanstieg beitragen, sind folgende: 1. Im vierten Semester belegt Camila die Vorlesung Elementargeometrie, die sie erfolgreich besteht („der Kurs hat mir […] sehr viel Spaß gemacht (.) und dadurch hatte ich dann nochmal son (..) son Motivationsschub“). 2. Es wechselt der Dozent der Vorlesung zur Analysis, in welcher sie zuvor durchgefallen war und die sie nun wiederholen muss. Camila „[kommt] mit dem Do / Do / Dozierendenstil wesentlich besser klar“. 3. Camila schließt sich einer neuen Lerngruppe an, „mit der […] [sie] dann besser arbeiten konnte und wo […] [die Gruppenmitglieder] Sachen vertiefter auch nochmal besprochen haben, durchgegangen sind, dass niemand so hinten abfällt“. In Camilas neuer Lerngruppe befinden sich Studierende aus dem Semester ‚unter ihr‘. Es fällt ihr leichter, sich der Lerngruppe anzuschließen, da sie bereits Vorwissen aus den letzten Semestern zu den Inhalten der Vorlesung hat. So kann sie in der neuen Lerngruppe nun die Rolle derjenigen erfüllen, die am leistungsstärksten ist und den anderen Gruppenmitgliedern helfen kann. Camila fühlt sich in dieser Rolle sehr wohl und arbeitet mit ihrer zweiten Lerngruppe längerfristig zusammen. Anhand ihres Verhaltens gegenüber bzw. innerhalb ihrer zwei Lerngruppen zeigt sich eine strukturelle Eigenschaft Camilas: Sie scheint sich in ihrem
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sozialen Umfeld in Bildungskontexten wohler zu fühlen bzw. eher soziale Kontakte eingehen zu können, wenn sie als leistungsstark innerhalb dieses sozialen Umfeldes gilt. Bei Leistungsschwäche innerhalb eines sozialen Umfelds hingegen scheint sie Scham für diese zu empfinden und soziale Kontakte eher zu meiden. Zum Zeitpunkt des Interviews absolviert Camila ein Praktikum, im Rahmen dessen sie erstmalig Mathematik unterrichtet. Sie absolviert dieses Unterrichtspraktikum an einem Gymnasium. Camila bezeichnet das Praktikum als „i-Tüpfelchen“ ihres derzeitigen Hochpunkterlebens im Mathematikstudium. Sie erlebt sich in den praktischen Anteilen ihres Studiums als erfolgreicher als in den theoretischen. Besonders die Erkenntnis von Zusammenhängen zwischen theoretischen Inhalten aus dem Studium und praktischen Anwendungsmöglichkeiten in der Schule („Wenn ich dann die die Stundenvorbereitung gemacht habe und dann die Verbindung zum (.) zum Vorlesungsinhalt beispielsweise dann dann sehen konnte. Und das hängt damit zusammen und das wird ja da gebraucht, deswegen hatten wir das in der Uni.“) erlebt sie als motivierend.
5.5.2
Falldarstellung LUISA
5.5.2.1 Zur Kontaktaufnahme, Interviewsituation und -verlauf Ich lernte Luisa während einer mathematikdidaktischen Summer School an einer Universität im europäischen Ausland kennen und fragte sie, ob ich mit ihr ein Interview über ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte führen könne. Sie erklärte sich sofort dazu bereit und signalisierte Interesse an sowie Unterstützungsbereitschaft für mein Forschungsvorhaben. Wir kannten uns zum Zeitpunkt des Interviews sehr kurz und recht oberflächlich, hatten uns erst einmal im Umfeld der Summer School gesehen. Das Interview stellte unser zweites Treffen dar. Wir führten das Interview an einem Vormittag in dem Zimmer eines Studierendenwohnheims, in dem wir während der Summer School untergebracht waren. Von Seiten beider Gesprächspartnerinnen gab es keinerlei Druck, das Gespräch zu einer bestimmten Zeit beendet haben zu müssen. Das Interview erstreckte sich über einen Zeitraum von zwei Stunden und fand ohne eine Unterbrechung oder Pause statt. Zu Beginn des Interviews erklärte ich kurz, dass mein Hauptinteresse Luisas mathematikbezogener Lebensgeschichte galt und dass ich an einer ganz persönlichen Erzählung interessiert war. Ich schilderte mein Forschungsvorhaben jedoch nicht weiter im Detail, um die folgende Erzählung nicht zu stark zu beeinflussen. Stattdessen erläuterte ich grob die Gesprächsführung im Rahmen eines
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biographisch-narrativen Interviews, also dass nach einem Erzählimpuls meinerseits zunächst eine freie, ununterbrochene Erzählung von Luisa erwartet wurde, während der ich keine Fragen stellen würde. Ich bekam den Eindruck, dass Luisas Gesprächsbereitschaft im Laufe des Interviews kontinuierlich zunahm: Ihre Eingangserzählung erstreckte sich über 15 Minuten, in großen Teilen wurde sie in Berichts- und Evaluationsform vorgenommen. Im immanenten Frageteil, der sich der Eingangserzählung anschloss, geriet Luisa jedoch zu Nachfragen meinerseits vermehrt in einen regelrechten Erzählfluss. Luisas ansteigende Erzählbereitschaft führe ich u. a. auf ihre anfängliche Unbekanntheit mit dem Format des biographisch-narrativen Interviews zurück sowie auf ihre Unsicherheit darüber, wie viel sie im Rahmen des Interviews erzählen sollte und wollte. Im exmanenten Frageteil, in dem die interviewte Person als „Expert[in] und Theoretiker[in] [ihrer] selbst“ (Schütze, 1983, S. 285) befragt wird, zeigte Luisa hohe Reflexionsbereitschaft: Sie beantwortete meine Fragen offen, ausführlich und selbstkritisch. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Luisa 28 Jahre alt. Sie ist ausgebildete Lehrerin für Mathematik und arbeitet seit wenigen Monaten als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Mathematikdidaktik an einer Universität in Bayern.
5.5.2.2 Zur Text- und Themenstruktur der Erzählung Die folgende Darstellung von Luisas erzählter Lebensgeschichte nimmt zunächst ausschließlich die Struktur der Eingangserzählung in den Blick. Anschließend wird die Struktur des Nachfrageteils miteinbezogen, um die Struktur der gesamten Erzählung darzustellen. Im Falle Luisas ist diese separate Darstellung deshalb sinnvoll, weil sich die Strukturen der beiden Teile der Erzählungen stark voneinander unterscheiden. Eingangserzählung Luisa nimmt ihre gesamte Eingangserzählung in dem thematischen Feld ‚Meine positive mathematikbezogene Lebensgeschichte‘ vor. Sie beginnt ihre Erzählung mit folgender Globalevaluation: „Ok. (..) Also wie man so generell in meiner Kurve schon sehen kann, ist sie eigentlich sehr im oberen Bereich. Also ich glaube, ich bin einmal generell ein positiver Mensch und äh konzentrier mich deswegen, glaube ich, häufig auch auf die guten Dinge, weniger auf die schlechten Dinge, deswegen sind mir auch die vor allem eingefallen. Und ich glaube, ich hatte immer ein sehr gutes Verhältnis zur Mathematik.“
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Diese Globalevaluation zu Erzählbeginn weist darauf hin, dass Luisa ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte als eine positive zu verstehen wissen will. Die erzählstrukturierende Wirkung des thematischen Feldes ‚Meine positive mathematikbezogene Lebensgeschichte‘ zeigt sich während ihrer Eingangserzählung zum einen in der Fokussierung auf überwiegend positive39 Themen; zum anderen in einem regelrechten ‚Positivierungszwang‘, der bei Erzählungen negativer oder neutraler Themen zu wirken scheint. Als ‚Positivierungszwang‘ soll hier derjenige Erzählmechanismus bezeichnet werden, der jedes Thema in ein positives zu überführen versucht. Dieser Erzählmechanismus wirkt in der Erzählung unfreiwillig (aber nicht zwangsläufig ungewollt) auf die Erzählerin ein. Mit anderen Worten: Sie kann nicht nicht bzw. sie kann nicht anders, als jedes Erzählthema in ein positives zu überführen. Dieser ‚Positivierungszwang‘ zeigt sich auf drei verschiedene Weisen: 1. Negative oder neutrale Themen werden stets von positiven Themen umrahmt, d. h., es geht ihnen die Erzählung eines positiven Themas voraus und es folgt ihnen die Erzählung eines positiven Themas • Beispiel: „[In der vierten Klasse] hatten wir dann nicht mehr unsere KLASSENlehrerin, sondern eine ANDERE Lehrerin in Mathe, (..) bei der es eigentlich auch ganz gut ging, aber die war ein bisschen strenger und hat mir, OBWOHL ich 1,5 stand, ne ZWEI auf dem Zeugnis gegeben. Und das hat mich schon gewurmt. Aber (.) ähm (.) irgendwie auch angespornt, dass ich da wieder die Eins haben wollte. Ich glaube, ich hab mich durch sowas auch immer ganz gut motivieren lassen.“ 2. Erzählungen negativer oder neutraler Themen werden unterbrochen, um eine positive Evaluation einzufügen • Beispiel: „Ja (..) dann kam die Zeit des Referendariats. Da (.) hab ich es jetzt wieder so ein bisschen nach unten gezeichnet […], weil (…) ähm (..) eigentlich hatte ich, glaube ich / (.) also ich hatte eine total schöne Referendariatszeit und da auch eine tolle Klasse, bei der ich in Mathe war […]. (..) Ähm (..) aber im Referendariat hab ich (.) eher mein anderes Fach […] als (..) noch (..) ähm (.) angenehmer erlebt, weil ich, glaub ich, da noch mehr Spaß am Unterrichten hatte und an den (.) Unterrichts(.)inhalten.“
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Die ‚Positivität‘ oder ‚Negativität‘ eines Themas oder Erlebnisses ist eine in der Erzählung generierte Bewertung, d. h., sie wird von Luisa selbst vorgenommen. Dass eine derartige Bewertung evtl. dadurch begünstigt worden sein konnte, dass dem Erzählen das Zeichnen der eigenen mathematikbezogenen Lebensgeschichte vorausging, wurde in Abschnitt 5.4 diskutiert.
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3. Erzählungen negativer oder neutraler Themen werden abgeschwächt bzw. relativiert • Beispiele: „Da gabs einige Mathekurse, die (.) ja (.) nicht so total motivierend waren.“, „Und auch die Begleitseminare waren (…) in Mathe / (.) also waren schon auch ok, aber irgendwie so ein bisschen (…) öder. Also das (.) ja war nicht immer so motivierend.“ Neben der Positivierung von Erzählthemen zeichnet sich Luisas Eingangserzählung durch eine weitere Besonderheit aus: Die erzählte mathematikbezogene Lebensgeschichte bezieht häufig externale40 Faktoren mit ein, v. a. Schulnoten, personale oder Rollenzuschreibungen aus dem sozialen Umfeld (z. B. durch Familienmitglieder, Lehrkräfte, Dozierende) oder soziale Anerkennung (z. B. bei Teilnahme an Mathematikolympiaden, Gewinne in Klassenspielen, Lob). Es zeichnet sich bezüglich der Bewertung mathematikbezogener Erlebnisse folgendes Muster ab: Sehr gute Schulnoten, positive personale oder Rollenzuschreibungen und soziale Anerkennung führen zu positiven Themen in der Erzählung. Weniger gute Schulnoten, ausbleibende positive personale oder Rollenzuschreibungen sowie ausbleibende soziale Anerkennung führen entweder zu negativen oder neutralen Themen in der Erzählung oder unterliegen dem oben erläuterten ‚Positivierungszwang‘. Die häufige Erwähnung externaler (meist positiver) Faktoren scheint in der Eingangserzählung auch die Funktion zu erfüllen, Luisas positive Darstellung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte zu ‚objektivieren‘: Sie scheint sowohl die Interviewerin als auch sich selbst von ihrer positiven mathematikbezogenen Lebensgeschichte überzeugen zu wollen, indem sie andere Sichtweisen als die eigene hinzuzieht. Diese ‚Überzeugungsarbeit‘ mag besonders deshalb nötig sein, weil Luisas erlebte mathematikbezogene Lebensgeschichte mitunter weniger positiv verlief, als sie es in ihrer Eingangserzählung darstellen möchte. Die Aufschichtung der Themen orientiert sich während der gesamten Eingangserzählung an der chronologischen Verortung der Erlebnisse, die ihr zugrunde liegen, in der objektiven Zeit. Dies scheint vorrangig durch die zuvor gezeichnete Kurve beeinflusst, die Luisa als Erzählgrundlage dient. Hierauf verweist die enge Bezugnahme auf die gezeichnete Kurve: „Also wie man so generell in meiner Kurve schon sehen kann, ist sie eigentlich sehr im oberen Bereich.“, „darum steigt das hier ziemlich schnell an“, „Ich würd sagen, son bisschen (.) runter ging es dann“, u. v. m. Luisa strukturiert ihre chronologische Verortung
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Als ‚external‘ gelten hier Faktoren, die außerhalb der Erzählerin als Erlebende ihrer Lebensgeschichte liegen, also z. B. in ihrem sozialen Umfeld.
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anhand „sozial typisierter Statusübergänge“ (Rosenthal, 1995, S. 141): Vorschulzeit, Grundschule, Sekundarstufe 1, Sekundarstufe 2, Studium, Referendariat, Berufseinstieg. Ihre Vorschulzeit stellt innerhalb dieser Statusübergänge eine Ausnahme dar: Sie bezeichnet diese nämlich nicht als ‚Meine Vorschulzeit‘, sondern erzählt stattdessen von der ‚Einschulung der Schwester‘, die nur ein Jahr vor Luisas eigener Einschulung stattfand. Die Einschulung der Schwester ist (nach der Globalevaluation) zudem das allererste Thema, welchem sich Luisa in der Eingangserzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte widmet. Diese beiden Besonderheiten, die die Erzählung der Einschulung der Schwester betreffen, weisen sowohl auf die Bedeutsamkeit der Schwester als auch deren Einschulung für Luisas erlebte mathematikbezogene Lebensgeschichte hin. Während der gesamten Eingangserzählung bricht Luisa nicht aus der chronologischen Verortung ihrer Erlebnisse in der objektiven Zeit aus. Sie weicht zudem thematisch von der zuvor gezeichneten Kurve nur wenige Male ab: 1. Für die Erzählung zweier Erfolgserlebnisse, welche sich in ihrer Kurve nicht wiederfinden, aber zum thematischen Feld der Erzählung (‚Meine positive mathematikbezogene Lebensgeschichte‘) passen, 2. Für die Nichterzählung eines Misserfolgserlebnisses, welches zwar in der Kurve dargestellt ist, aber nicht zum thematischen Feld der Erzählung passt. Beide Abweichungen sind der Bemühung zuzuschreiben, während der gesamten Eingangserzählung im thematischen Feld zu verbleiben. Gesamte Erzählung Im Nachfrageteil schwächt sich Luisas ‚Positivierungszwang‘ aus der Eingangserzählung zu einer ‚Positivierungstendenz‘ ab. Sie neigt weiterhin zur Erzählung positiver Themen und zum Einschub positiver Zwischenevaluationen, nimmt aber auch vermehrt Erzählungen neutraler oder sogar negativer Themen vor. Vermutungen derart, dass Luisa negative mathematikbezogene Erlebnisse gänzlich nicht erinnern kann oder will, können also nicht aufrechterhalten werden. Es bleibt jedoch die Frage, wieso Luisa in ihrer Eingangserzählung fast ausschließlich positive Erlebnisse anführt, obwohl ihr in der Erinnerung auch negative oder neutrale Erlebnisse zugänglich sind. Als Hauptmotiv hierfür kann das Bestreben gesehen werden, ihre gesamte mathematikbezogene Lebensgeschichte im thematischen Feld ‚Meine positive mathematikbezogene Lebensgeschichte’ zu erzählen. In der ununterbrochenen Eingangserzählung ist eine derartige Kontrolle der Auswahl und des Inhalts von Themen noch möglich, mit Fortschreiten des Interviews schwindet diese jedoch: Auch die Interviewerin kontrolliert nun die Themen, bittet z. B. explizit um detailliertere Erzählungen angedeuteter negativer oder neutraler Themen. So wird der Verbleib im thematischen Feld unmöglich: Die
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Differenz zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte wird zu groß, die erlebte Lebensgeschichte wäre bei einem Verbleib im thematischen Feld ‚Meine positive mathematikbezogene Lebensgeschichte‘ am Ende nicht mehr erzählbar. Wie bereits in der Darstellung der Kontaktaufnahme und der Gesprächssituation bzw. des Gesprächsverlaufs beschrieben, wirkt Luisas Eingangserzählung im Vergleich zu ihren Erzählungen im Nachfrageteil deutlich gehemmter. Sie verfällt seltener in einen Erzählfluss, erzählt vorrangig in Berichts- oder Evaluationsform. Im Nachfrageteil hingegen gerät sie regelmäßig in einen Erzählfluss. Besonders bemerkenswert ist, dass Luisa auf Nachfrage auch zu Erlebnissen, die in der Eingangserzählung bereits thematisiert wurden, erneut in einen Erzählfluss geraten kann, und dass sie dieselben Erlebnisse in deutlich höherer Detailliertheit und Komplexität erzählt. Es scheint so, als hätte Luisa in der Eingangserzählung Sachverhalte stark simplifiziert bzw. die Erzählung komplexer Sachverhalte vermieden. Ein Grund für diese zunehmende Erzählbereitschaft bzw. -möglichkeit ist sicher die zuvor genannte Ablösung vom thematischen Feld der Eingangserzählung, welches die möglichen – i. S. v. Kontinuität sichernden – Themen der Erzählung stark kontrollierte und dadurch die Erzählung hemmte. Darüber hinaus können auch Unbekanntheit mit und anfänglich fehlendes Vertrauen in die Interviewerin erzählhemmend gewirkt haben. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses im Laufe des Interviews führt dann zu zunehmender Erzählbereitschaft. In Luisas Fall zeigt sich noch ein dritter erzählhemmender Mechanismus: Luisa nimmt in ihre Eingangserzählung nur solche Themen auf, die einen Mathematikbezug im engeren Sinne aufweisen. Themen hingegen, die in einem weiteren Sinne Mathematikbezug besitzen, erscheinen ihr nicht relevant für die Eingangserzählung. Hierzu zählt z. B. ihr langjähriger Berufswunsch Lehrerin, welchen sie zunächst ohne eine Vorstellung darüber hegte, welche konkreten Fächer sie unterrichten möchte. Durch Nachfragen der Interviewerin, die auch diese scheinbar irrelevanten Themen adressieren und sie somit als relevant für die Erzählung einstufen, öffnet Luisa ihre Erzählung thematisch. Konkrete Themen, die Luisa in ihrer Eingangserzählung ausspart, zu denen sie aber im Nachfrageteil eine Erzählung vornimmt, sind folgende: Selbstkritik, ihre Eltern, ihr Verhältnis zur Schwester, ihre Entscheidung zum Lehramtsstudium, ihre Entscheidung zum Lehramtsstudium Mathematik für Primar- und gegen Sekundarstufe, ihre Entscheidung zur Wissenschaftlichen Mitarbeit an der Universität, ihre Zukunftspläne. Im immanenten Nachfrageteil zeigt sich – wie bereits in der Eingangserzählung –, dass Luisas Mathematikerleben maßgeblich durch externale Faktoren
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beeinflusst wird und ihr diese im Rahmen ihrer Erzählung als eine Art Absicherung ihrer Selbsteinschätzung dienen. Im exmanenten Nachfrageteil bestätigt Luisa diesen Eindruck explizit: „Also für mich ist es, glaube ich, (.) ähm (.) ganz viel diese (..) ähm naja äußere Rückmeldung des Erfolges, die bei mir auch [...] für Hochpunkte gesorgt hat. Ähm (.) ja wenn ich einfach darin bestätigt wurde, dass ich gut bin in dem, was ich dort getan habe.“
Im Verlauf der gesamten Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte thematisiert Luisa wiederkehrend ihr Konkurrenzempfinden gegenüber ihrem sozialen Umfeld. In der Eingangserzählung verbleibt es noch implizit; Konkurrenzgefühle gegenüber Luisas Schwester oder Mitschülerinnen und Mitschülern werden lediglich angedeutet. Diese impliziten Thematisierungen nehmen im immanenten Nachfrageteil stark zu, im exmanenten Nachfrageteil werden sie von Luisa selbst expliziert: „Ich glaube so ein bisschen auch dieses Konkurrenzding, auch wenn das ja eigentlich nicht so nett ist. Aber ich glaube, das war so hier das Entscheidende [...], dass ich da einfach (.) dann gegen diese (.) Angeberjungs gewonnen habe [...], dass ich (..) ähm (..) immer dann ganz (.) begeistert war, wenn ich (.) es geschafft hab, die Beste zu sein.“ „Speziell die, von denen ich den Eindruck hatte, dass sie auch gut waren in Mathe. Also (...) da wars mmh / ja ich glaube, da waren es eben die, (..) wo ich den Eindruck hatte, die waren halt so eine Konkurrenz, dass ich (.) ähm (...) denen das noch mehr beweisen (.) wollte oder ich mich darüber am meisten gefreut habe, wenn ich es ihnen bewiesen habe, dass ich (.) mithalten konnte oder besser war.“
Ein sich ebenfalls wiederholendes Thema der gesamten Erzählung ist die „Sonderrolle“, die Luisa gegenüber ihrem mathematikbezogenen sozialen Umfeld regelmäßig einzunehmen scheint: In der Erzählung ihrer Grundschulzeit betont sie, dass sie trotz des niedrigen Alters besser in Mathematik war als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. In der Erzählung ihrer Zeit in der Sekundarstufe 2 weist sie daraufhin, dass sie trotz ihres Geschlechts die besten Leistungen im Leistungskurs Mathematik erbrachte. Und in der Erzählung ihres Praxissemesters im Lehramtsstudium schildert sie, dass sie trotz ihrer Rolle als Praktikantin eine beratende Funktion für ihre Betreuungslehrerin einnahm. Gemein ist diesen Erzählungen, dass sie ihr eine überlegene ‚Sonderposition‘ gegenüber ihrem sozialen Umfeld aufgrund überraschender – weil alters-, geschlechts- oder rollenuntypischer – mathematikbezogener Erfolge zuweisen. Luisa thematisiert ihre Überlegenheit gegenüber ihrem sozialen Umfeld mehrfach auch auf implizite
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Weise: Es wiederholen sich Erzählungen, in denen sie als hilfsbereite und hilfreiche mathematische Beraterin für ihr soziales Umfeld (z. B. Schulfreundinnen, Kommilitoninnen und Kommilitonen, Betreuungslehrerin) fungiert.
5.5.2.3 Die Rekonstruktion von Luisas mathematikbezogener Lebensgeschichte Eltern und Großeltern Luisa wird als zweite Tochter in einer bayerischen Kleinstadt geboren. Ihre große Schwester ist ein Jahr älter als sie. Ihre Mutter ist gelernte pädagogische Fachkraft; Luisas Vater ist selbstständiger Handwerker. Eine ihrer Großmütter arbeitete als Lehrerin. Obwohl Luisa einen sogenannten bildungsfernen Familienhintergrund hat, erfährt sie seitens ihrer Eltern mit Bezug auf ihre Schulbildung Unterstützung. Sie ist dadurch und durch andere bildungsnahe Verwandte (ihre Großmutter und einen älteren Cousin), die ihr als Vorbild galten, nicht als prototypische ‚Bildungsaufsteigerin‘ zu bezeichnen. Einschulung der Schwester und eigene Einschulung Ein Jahr vor Luisas eigener Einschulung wird Luisas Schwester eingeschult. Luisa hat zu diesem Zeitpunkt ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Schwester. Sie erlebt sich und ihre Schwester eigentlich als gleichaltrig, d. h., es fällt ihr womöglich schwer zu akzeptieren, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht auch wie ihre Schwester in die Schule kommt. Luisa scheint in ihrem – im Vergleich zur Schwester: niedrigen – Alter den Grund für die erlebte Benachteiligung zu sehen. Luisa guckt ihrer Schwester in deren erstem Schuljahr nicht nur regelmäßig bei den Hausaufgaben zu, sondern führt sie auch selbst aus. Sie nimmt sich den Aufgaben vermutlich an, um mehr Zeit in der Nähe ihrer Schwester verbringen zu können. Es ist für sie außerdem ganz normal, sich denselben Themen und Aktivitäten wie ihre Schwester zu widmen: „Dadurch, dass wir halt supernah beieinander sind, also ja nicht mal anderthalb Jahre Altersunterschied, sind wir (.) ähm zum großen Teil wie Zwillinge (.) aufgewachsen, deswegen war es für mich, glaub ich, immer total normal, dass ich alles so mache wie sie.“
Zunächst ist Luisas Bestreben, zeitgleich mit ihrer Schwester lesen, rechnen und schreiben zu erlernen, nicht von Konkurrenzgefühlen begleitet. Als ihre Leistungen sich jedoch schnell steigern, sodass sie denen ihrer Schwester kaum nachstehen, und Luisa dafür positive Resonanz (Bewunderung, Lob etc.) aus
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ihrem sozialen Umfeld erhält, scheint sie Konkurrenzgefühle gegenüber ihrer Schwester zu entwickeln. Diese Phase stellt einen zentralen Wendepunkt im schwesterlichen Verhältnis dar: Aus Verbündeten werden – zumindest in schulischen Belangen – Konkurrentinnen. Luisa und ihre Schwester befinden sich fortan in einem Konkurrenzverhältnis, welches hauptsächlich von Luisa initiiert zu werden scheint. Luisa ist sich zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass ihre Schwester unter dem Konkurrenzverhältnis leiden könnte. Zu ihrer eigenen Einschulung ist Luisa noch 5 Jahre alt und die Jüngste der Klasse. Sie kann zum Schuleintritt bereits lesen, schreiben und rechnen und hat gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern einen großen Vorsprung. Sie vollzieht Erfolgserlebnisse dadurch, dass sie als jüngste Schülerin nicht nur sehr gute mathematikbezogene Leistungen erbringt, sondern den älteren Schülerinnen und Schülern sogar überlegen ist. Sie bekommt hierfür Anerkennung von Lehrkräften und ihren Eltern. Luisa beginnt, sich mit der Rolle der besten Mathematikschülerin, die altersuntypische Leistungen erbringt, zu identifizieren. Wohl aufgrund ihres Erfolgserlebens deutet Luisa ihr vergleichsweise niedriges Alter, unter dem sie im Vergleich mit ihrer Schwester bisher wohl eher litt, nun zu etwas Positivem um. Das Ergebnis dieser Umdeutung hat bis heute Bestand; dies zeichnet sich in Luisas Gegenwartsperspektive durch die fortwährende Betonung ihres jungen Alters in Verbindung mit Erzählungen von Erfolgserlebnissen ab: „Und (.) [ich] bin dann eben ein Jahr später eingeschult worden mit 5 und ähm (..) war da, glaub ich, auch schon dann ziemlich gut in Mathe, sodass ich, obwohl ich eben vorzeitig eingeschult wurde und die Jüngste in der Klasse war, schon sehr viele Erfolgserlebnisse hatte.“
Grundschulzeit Luisa ist in ihren ersten Grundschuljahren – vermutlich auch aufgrund ihres Lernvorsprungs – fächerübergreifend sehr erfolgreich: In ihrer Klasse wird mit dem Wochenplan als Unterrichtskonzept gearbeitet. Sie zählt immer zu den Ersten, die den Pflichtteil ihres Wochenplanes erfüllt haben, und hat dann keine Hausaufgaben auf. Speziell im Unterrichtsfach Mathematik hat sie viele Erfolgserlebnisse, sodass sie großes Vertrauen in ihre mathematikbezogene Leistungsfähigkeit entwickelt. Sie scheint danach zu streben, weiterhin eine Sonderposition innerhalb der Klasse einzunehmen. Während sie ihres Erachtens diese Sonderposition zu Schulbeginn aufgrund ihrer sehr guten Mathematikleistungen trotz ihres niedrigen Alters erfüllte, verhelfen ihr nun ihre sehr guten Mathematikleistungen trotz ihres Geschlechts dazu: Luisa wird vermutlich in ihrem sozialen Umfeld mit dem Geschlechterstereotyp konfrontiert, dass Mathematik eine eher männliche
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Domäne sei. Sie scheint diesen Stereotyp zu übernehmen und in ihren männlichen Mitschülern fortan besondere Konkurrenz zu sehen. Eine Überlegenheit gegenüber den Jungen aus ihrer Klasse erlebt sie deshalb als besonderen Erfolg. Auch zum Zeitpunkt des Interviews scheint dieses geschlechterstereotype Konkurrenzempfinden noch zu wirken. Hierauf verweist die Erzählung eines Erlebnisses aus der 2. oder 3. Klasse, als Luisa im Mathematikunterricht beim Bankrutschen gegen alle Mitschülerinnen und Mitschüler gewann: „Und ich ähm hab einfach noch diese Erinnerung, dass ich einmal durch die gesamte Klasse gewandert bin. Also gegen alle gewonnen habe, obwohl es so ein paar sehr selbstbewusste Jungs gab, die meinten „An MIR kommt sie nicht vorbei“.“
Auch aus gegenwärtiger Erzählperspektive scheint dieses Erlebnis immer noch genau deshalb einen besonderen Erfolg darzustellen, weil Luisa gegenüber den Jungen ihrer Klasse eine überlegene Position einnehmen konnte. Die Vergangenheits- und Gegenwartsperspektive scheinen sich zu decken: Luisa erlebt damals wie heute mathematikbezogene Überlegenheit gegenüber ihrem männlichen sozialen Umfeld als besonderen Erfolg. Luisa erlernt in der Grundschule den Umgang mit Erwartungen an sie in ihrer Rolle als beste Mathematikschülerin: Sie weiß, welche Erwartungen sie erfüllen und welche sie enttäuschen bzw. abweichend erfüllen kann oder muss, um ihrer Rolle gerecht zu werden. Ein konkretes Erlebnis aus der Einführungsstunde zum Thema ‚Vierecke‘ kann hier als Beispiel dienen: „Wir sollten vier Kreuze in das Heft malen und diese vier Kreuze miteinander verbinden. Und ich glaube, der Gedanke der Lehrerin war, dass daraus immer ein Viereck entsteht. [...] Aber ich war die Einzige, die die vier Punkte in eine Linie gezeichnet hat und bei mir kam kein Viereck raus. Und (.) ähm (...) da, (..) glaub ich, wusste meine Lehrerin, glaub ich, auch nicht so richtig gut mit umzugehen und meinte dann zu mir „Ja ach, DAS lernt ihr dann später“. Und es hat mir nie jemand später gesagt, warum bei mir kein Viereck rausgekommen ist. Aber ähm, ich glaube, das war so dieses / wo ich dann auch immer das Gefühl hatte, (..) ok ähm (..) ich tanze da so ein bisschen aus der Bahn [...]. Das (.) hat mich dann auch darin bestärkt, dass ich da ganz erfolgreich war.“
Luisa weicht in dieser Situation von den Erwartungen ihrer Lehrerin ab, deutet diese Abweichung jedoch positiv: Sie sieht in der Reaktion der Lehrerin eine Bestätigung ihrer Sonderposition (‚wo ich dann auch immer das Gefühl hatte, (..) ok ähm (..) ich tanze da so ein bisschen aus der Bahn‘) und erlebt diese Situation als Erfolg, welcher ihrer Rolle als beste Mathematikschülerin zuträglich ist (‚Das (.) hat mich dann auch darin bestärkt, dass ich da ganz erfolgreich war‘).
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Im Rahmen der Erzählung dieses Erlebnisses wird außerdem erkenntlich, dass Luisas Interesse an dem mathematischen Inhalt wohl auf die Beschäftigung mit ihm innerhalb des Mathematikunterrichts begrenzt ist: Wird das Problem der vier Kreuze in einer Linie, die nicht zu einem Viereck verbunden werden können, nicht innerhalb des Unterrichts unter der Verantwortung ihrer Lehrerin (oder folgenden Lehrkräften) gelöst, widmet sie sich ihm auch nicht von selbst und vor allem nicht außerunterrichtlich. Auf die Nachfrage der Interviewerin, ob sie sich im Laufe ihres bisherigen Lebens diesem mathematischen Problem noch einmal gewidmet hätte, antwortet Luisa nämlich: „Nee nee, leider nicht. Vielleicht sollte ich das mal tun.“ Luisa scheint für die Beschäftigung mit Mathematik also zu einem nicht geringen Anteil dadurch motiviert zu werden, dass sie die Rolle der besten Mathematikschülerin erfüllen und entsprechend Anerkennung bekommen möchte; ihre Beschäftigung mit der Mathematik ist dahingehend extrinsisch motiviert. Dieser Wunsch nach Anerkennung – auch in Form von guten Schulnoten – macht sie von der Zugewandtheit ihrer Mathematiklehrerin abhängig. Kritik oder negative Gefühle dieser gegenüber (wie z. B. während eines Erlebnisses in der 3. Klasse, als Luisa ‚Rechentürmchen‘ richtig ausrechnet, diese aber nicht untereinander aufschreibt und ihre Mathematiklehrerin daraufhin alle Rechnungen durchstreicht und Luisa auffordert, sie noch einmal aufzuschreiben) unterdrückt Luisa, womöglich, um ihre Beliebtheit bei der Lehrkraft und ihre guten Noten nicht zu gefährden. In ihrer Erzählung hebt Luisa diese ‚Autoritätsakzeptanz‘ sogar als eine generelle und nicht nur phasenweise Eigenschaft ihrer selbst hervor: „Ich [konnte] mich immer ziemlich gut mit so nem System abfinden und hab, glaube ich, deswegen auch immer total akzeptiert, was Lehrkräfte oder so getan haben.“ Auch innerhalb der Familie scheint sich Luisa mit der mathematikbegabten Person zu identifizieren, als die sie in der familiären Interaktion in Anspruch genommen wird, genauer: als die mathematikbegabtere der beiden Schwestern. Luisas Schwester ist bereits gut in Mathematik, sie hingegen noch besser. Luisas Eltern fördern den Vergleich und die daraus resultierende Etablierung einer Rangordnung zwar nicht explizit, verhindern ihn aber auch nicht. Hierfür soll folgendes Erlebnis als Beispiel dienen: Als Luisa in der 2. Klasse ist, erzählt ihr Vater am Abendbrottisch, dass sein Lehrling die Aufgabe „3 mal 37“ nicht ausrechnen konnte. Luisa löst diese Aufgabe in Anwesenheit der Familienmitglieder im Kopf und erhält dafür von ihrem Vater großes Lob. Diese familieninterne Situation erlebt Luisa als Erfolg: Sie ist sowohl ihrer Schwester als auch einem fast zehn Jahre älteren männlichen Jugendlichen überlegen, indem sie eine sowohl altersals auch geschlechtsuntypische Leistung vollbringt, und sie erhält hierfür die Anerkennung ihres Vaters in Gegenwart der gesamten Familie. Es ist das Erleben
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derartiger Erfolgsmomente, die die Identifikation mit der mathematikbegabten und -affinen Person für Luisa attraktiv werden lassen: „Mein Vater hat mich SEHR dafür gelobt, dass ich das kann, obwohl sein (.) ähm (.) Auszubildender das selbst NACH dem Schulabschluss noch nicht kann. Ähm (.) ja ich glaube, das hat mich immer darin bestärkt, dass Mathe so voll mein Ding ist.“
Es zeichnet sich ab, dass Luisas Identifikation mit der mathematikbegabten und -affinen Person zu einem nicht geringen Anteil auf personalen Zuschreibungen aus ihrem sozialen Umfeld basiert. Ein Ausbrechen aus diesen Zuschreibungen wird mit zunehmendem Erfolg für sie immer unmöglicher. Luisa scheint ihre Position als mathematikbegabtere Schwester jedoch zu genießen. Dass ihre Schwester den Vergleich negativ erleben könnte, spielt für sie wohl noch keine oder zumindest eine untergeordnete Rolle. Sie scheint sich ihrer Schwester zunehmend auch nicht mehr nur mit Bezug auf Mathematik überlegen zu fühlen, sondern ein allgemeines Überlegenheitsgefühl ihr gegenüber zu entwickeln, welchem sie in ihrem Verhalten Ausdruck verleiht, beispielsweise indem sie ihre Schwester gegen ihren Willen in Aktivitäten verwickelt: „Meine Schwester hatte immer so eine Zeitschrift. Und da gab es dann immer die Rätselseite, die hab ich dann immer gemacht. Und ich weiß auch noch, dass ich dann mit großer Begeisterung (.) ähm (.) dann irgendwann (.) einfach so ein Rätselblatt erstellt habe [...], was dann meine Schwester ausfüllen sollte (lacht). Ich glaub, sie fand es nicht so lustig wie ich.“
Ab der 4. Klasse scheint Luisa die Rolle der sehr guten Mathematikschülerin nur noch mit größerem Aufwand erfüllen zu können. Bisher fiel ihr die Erfüllung der Rolle quasi zu, doch nun schwindet ihr Lernvorsprung und auch die inhaltlichen Anforderungen im Mathematikunterricht steigen. In der 4. Klasse wechselt zudem ihre Mathematiklehrerin, in der Folge kann sich Luisa der Zugewandtheit ihrer Lehrerin plötzlich nicht mehr sicher sein. Sie kann sich außerdem nicht mehr darauf verlassen, dass ihr Verhalten im Mathematikunterricht vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfolgshistorie gedeutet wird. Sie erlebt ihren ersten mathematikbezogenen Misserfolg: Die neue Mathematiklehrerin gibt ihr bei einem Notenstand von 1,5 eine ‚2‘ auf dem Zeugnis. Da sie bisher ausschließlich Bestnoten erhalten hatte, stellt eine ‚2‘ für Luisa nun einen klaren Misserfolg dar. Sie scheint dieses Misserfolgserleben zu verarbeiten, indem sie die Ursache nicht sich selbst, sondern ihrer Lehrerin – genauer: deren Strenge – zuschreibt: „die war ein bisschen strenger und hat mir, OBWOHL ich 1,5 stand, ne ZWEI auf dem Zeugnis gegeben“. Dieses Muster wird sich in Luisas Erzählung häufiger
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zeigen: Die Ursachen für Erfolge schreibt sie sich eher selbst zu, die Ursachen für Misserfolge hingegen eher ihrer Umwelt. In der Folge ihres Misserfolgserlebens scheint Luisas Motivation für die Beschäftigung mit Mathematik abzunehmen. In ihrer Eingangserzählung umgeht sie diese Phase mit folgender Begründung: „Dann hab ich nicht mehr so sonderlich viele Erlebnisse, ja deswegen ist es hier [in der Kurve, CSG] recht leer geblieben.“ Im Nachfrageteil jedoch kann Luisa Erzählungen zu vielen konkreten Erlebnissen dieser Phase vornehmen. Es zeigt sich, dass es nicht die fehlende Erinnerung war, die sie in der Eingangserzählung am Erzählen hinderte, sondern wohl eher die Unpassung zum thematischen Feld ‚Meine positive mathematikbezogene Lebensgeschichte‘. Dass Luisa trotz abnehmender Motivation für die Beschäftigung mit Mathematik weiterhin gute, wenn auch nicht mehr sehr gute Noten erzielt, kann u. a. auf ihre Vorliebe für mathematische Fleißaufgaben (z. B. das Ausführen von regelgeleiteten, systematisierten mathematischen (Hilfs-)Tätigkeiten wie Algorithmen) zurückgeführt werden. Diese Vorliebe wird ihr nun insofern behilflich, als sie trotz schwindenden Interesses an der Beschäftigung mit Mathematik weiterhin den Anforderungen eines kalkülorientierten Mathematikunterrichts gerecht werden kann. Gymnasium (Sekundarstufe 1) Als Luisa in die Sekundarstufe 1 wechselt, nimmt ihr älterer Cousin ein Lehramtsstudium auf. Luisa entwickelt zu diesem Zeitpunkt ebenfalls den Wunsch, Lehrkraft zu werden, jedoch noch ohne konkrete Vorstellung davon, welche Fächer sie unterrichten möchte. Bereits in der Grundschulzeit scheinen Luisas Eltern – insbesondere ihr Vater – vor allem als lobende, aber weniger als fachlich unterstützende Instanz für Luisa von Bedeutung zu sein. Das elterliche Lob basiert v. a. auf Schulnoten oder anderen schulischen Erfolgen, die ihnen einen Einblick in die Leistungen ihrer Tochter geben („Meinen Eltern (.) ist schon auch so diese Phase der Erfolge in der Grundschulzeit sehr bewusst.“). Die fachliche Unterstützung der Eltern und auch ihr Einblick in Luisas Schulleistungen, insbesondere im Fach Mathematik, nehmen mit dem Übergang in die Sekundarstufe 1 noch weiter ab: Luisa durchläuft ab diesem Zeitpunkt sämtliche Etappen ihres Bildungswegs eher unabhängig von und unbeeinflusst durch ihre Eltern. Sie evaluiert hierzu: „Ähm ich glaube, hier so diese Phase um die Sekundarstufe 1 ist eher was, wo sie [die Eltern, CSG] nicht so viel Einblick hatten in das, was bei mir so schulisch groß ablief [...]. Also ich glaube, dass das für sie dann auch so ein schwarzer Fleck [...] ist (lacht). (.) Und ähm (.) ja ähnlich auch mit (..) einfach dem, was danach kam. Weil
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dann war ich so ein bisschen losgelöst von meinen Eltern, die dann nicht mehr so intensiv miterlebt haben, was so passiert. Aber ich glaube, sie haben schon immer mitbekommen, dass Mathe bei mir sehr gut lief.“
Nach dem Übergang auf das Gymnasium erbringt Luisa zwar weiterhin gute, aber keine sehr guten Leistungen mehr in Mathematik. Insbesondere bedeutet dies, dass sie die Erwartungen an die Rolle der sehr guten bzw. besten Mathematikschülerin nicht mehr erfüllen kann. Aus ihrem sozialen Umfeld wird sie jedoch weiterhin mit Erwartungen an sie als Inhaberin ihrer ehemaligen Rolle konfrontiert. Stellvertretend hierfür soll eine Erzählung Luisas über ihre Mathematiklehrerin, die eine Bekannte der Mutter und außerdem auch Mathematiklehrerin der Schwester ist, angeführt werden: „Also ich erinnere mich noch, als sie die negativen Zahlen einführen wollte. (.) Ähm (..) da hatte sie da ha / dann halt irgendwas an der Tafel und keiner ist drauf gekommen, was sie von uns will. Und das waren dann immer so diese klassischen Unterrichtsgespräche, wo dann aber nichts passiert, weil keiner weiß, was jetzt der Schritt ist, den wir verstehen sollen. Und ich war dann immer so (.) so (.) ihr / also so dieser Notnagel. Keiner keiner konnte irgendwas sagen, dann so dieses „Luisa, hast nicht mal DU eine Idee?“. (.) Ähm (..) also wo ich dann schon gemerkt habe, dass ich da irgendwie ein bisschen eine Sonderrolle habe [...]. Ich weiß, dass es in dem Fall nicht funktioniert hat [...], aber dass sie (.) ähm, (.) glaub ich, gehofft hat, dass ich dann die bin, die es hinkriegt und somit ihr Unterricht weitergehen kann. [...] Aber sie hat es versucht. Also ich glaube, sie hatte die Hoffnung darauf, dass ich diejenige bin.“
Luisa gibt zwei Freundinnen aus ihrer Klasse, die Schwierigkeiten im Fach Mathematik haben, Nachhilfe. Regelmäßig bearbeitet sie mit beiden getrennt voneinander Mathematikhausaufgaben, die die Schülerinnen und Schüler der Klasse aufbekommen, und lernt für bevorstehende Klassenarbeiten. Als Grundlage für diese Nachhilfetreffen dienen die Klassenarbeiten von Luisas älterer Schwester, die von derselben Mathematiklehrerin ein Jahr zuvor unterrichtet wurde und deren Klassenarbeiten in ähnlicher Weise nun auch in Luisas Klasse geschrieben werden. Die Nachhilfe für die Freundinnen kann weder als ‚erfolgreich‘ noch als ‚erfolglos‘ bezeichnet werden: Sie erbringen zwar keine schlechteren, aber auch keine deutlich besseren Leistungen. Und auch Luisa, die nun mit ihren Freundinnen getrennt voneinander und damit für jede Arbeit eigentlich mehrfach lernt, erbringt weiterhin keine sehr guten, sondern ‚nur‘ gute Leistungen. Im Verlauf der Sekundarstufe 1 sammelt Luisa auch erste Erfahrungen im pädagogischen Bereich: Sie babysittet regelmäßig das Kind einer Kollegin ihrer Mutter und erlebt sich darin als sehr selbstwirksam. Diese Erfahrung bestärkt Luisa darin, einen pädagogischen Beruf mit der Zielgruppe ‚(Klein-)Kinder‘
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ausüben zu wollen. Zudem absolviert Luisa in der 9. Klasse ein dreiwöchiges Schulpraktikum in einer Grundschule. Sie hospitiert in ihrer Rolle als Praktikantin hauptsächlich, gibt aber auch eine Stunde Vertretungsunterricht in einer 3. Klasse. Laut eigener Aussage ist sie dabei „natürlich vollkommen überfordert“. Für Luisa scheint ihr Berufswunsch bzw. ihre Berufswahl gegen Ende der Sekundarstufe 1 weitestgehend feststehend. So nutzt sie ihr Betriebspraktikum nicht, um sich in weiteren Berufsfeldern zu erproben, sondern um ihren bisherigen Berufswunsch zu bestätigen. Gymnasium (Sekundarstufe 2) Als Luisa die 10. Klasse besucht, wählt ihre Schwester Mathematik als Leistungskurs. Und auch Luisa entscheidet sich ein Jahr später für Mathematik als Leistungskurs. Luisa verfolgt immer noch den Berufswunsch Lehrerin und konkretisiert diesen: Sie möchte Mathematiklehrerin werden und zieht auch das Mathematiklehramt für die gymnasiale Oberstufe in Betracht. In ihrem Leistungskurs Mathematik befinden sich hauptsächlich Jungen und nur wenige Mädchen. Luisa wird u. a. durch diese Geschlechterverteilung angespornt, wieder gute bis sehr gute Leistungen in Mathematik zu erbringen: „Ich fand diese Stimmung war schon so, dass (..) ähm (..) also, ich glaube, gerade diese Jungs sich viel darauf eingebildet haben, dass sie sehr gut waren in Mathe. Und (.) ähm (.) mich hat das sehr angespornt, denen zu beweisen, dass ich auch als Mädchen da ganz gut mithalten kann.“
Insbesondere ein Mitschüler, der Schulsprecher und zudem sehr gut in Mathematik ist, löst in Luisa Konkurrenzgefühle aus. Sie scheint diesen Mitschüler nicht nur um seine fachlichen Leistungen, sondern auch um seine Position im Jahrgang zu beneiden: „Also ich weiß noch, gerade im Abi im Leistungskurs hatte ich einfach einen Mitschüler, der war auch (.) unser Schulsprecher und so. Ich glaube, das hat mich immer so ein bisschen getriggert, so das Verhältnis zu ihm. Dass ähm (...) ich mich da besonders gefreut habe, wenn ich bessere Noten hatte als er, (.) weil er halt zu der (.) Riege gehörte, (..) würde ich sagen, die ja / die sich schon als so die (.) Leistungsstärksten wahrgenommen haben und einfach so als die (..) Macher (lacht) unseres Jahrgangs und so.“
Der Unterrichtsstil des Mathematiklehrers im Leistungskurs ist für Luisa ungewohnt: Der Lehrer führt im Unterricht mathematische Beweise ein, unterrichtet im Allgemeinen eher frontal und legt die Übungsphasen in die Verantwortung
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Die erste empirische Untersuchung …
der Schülerinnen und Schüler. Luisa erlebt diesen Unterrichtsstil eher als frustrierend, da sie größeren Aufwand für die Erarbeitung von Themen aufbringen muss. Luisa gelingt es aber, gute bis sogar sehr gute Noten zu erlangen. Die Erfahrung, dass sie nicht alle Inhalte ohne Aufwand auf Anhieb versteht, scheint sie jedoch daran zweifeln zu lassen, ob ihre mathematikbezogene Leistungsfähigkeit und ihre Frustrationstoleranz für ein Mathematikstudium für das Gymnasiallehramt ausreichen. Zur selben Zeit beginnt eine Freundin von Luisa ein Mathematiklehramtsstudium für das Gymnasiallehramt in einer bayerischen Großstadt. Trotz guter Schulleistungen im Fach Mathematik hat diese Freundin große Probleme im Mathematikstudium. Luisa erfährt von ihr, dass das Universitätsstudium in Mathematik kaum etwas mit der Schulmathematik zu tun habe. Die Erfahrungen ihrer Freundin scheinen Luisas Zweifel an einem Mathematikstudium für das Gymnasiallehramt zu verstärken. Luisa erzielt in ihrer Vorabiturklausur 15 Punkte und damit in ihrem Leistungskurs die mit Abstand höchste Punktzahl. Sie scheint die Sonderposition unter ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zu genießen, die für sie damit einhergeht: „Aber ich weiß jetzt eben noch, wie gesagt, diese eine Vorabiklausur, die dann diese 15 Punkte waren. Da war ich so stolz, [...] dass vor allem die anderen das NICHT hatten. Ja aber da war es dann auch so, dass ähm ich diejenige war, an der der Lehrer gerechtfertigt hat, dass die Klausur fair war. Also weil (.) sonst ja alle recht schlecht waren ähm und es gab wirklich viele die unter fünf Punkten hatten. Ähm da kam dann ganz schnell die Kritik hoch, dass es einfach viel zu viel war und viel zu schwer. Aber dann hieß es immer „Naja, aber es gibt ja eine, die hat 15 Punkte, und damit war es ja machbar“. Also da hatte ich auch wieder so ein bisschen diese Sonderrolle, glaube ich.“
In einer Lerngruppe mit drei Mitschülerinnen und Mitschülern bereitet sich Luisa auf ihre Abiturprüfung in Mathematik vor, welche sie mit 14 Punkten besteht. Vor Studienbeginn Luisa geht nach ihrem Abitur ein Jahr als Au Pair nach Frankreich. Ihre Eltern besitzen eine hohe (Reise-)Affinität zu diesem Land, Luisas Länderwahl für ihr Jahr als Au Pair scheint also mindestens sehr konform zu den Vorlieben ihrer Eltern, möglicherweise sogar durch sie bedingt. Das Jahr als Au Pair stellt für Luisa einen berufsvorbereitenden Schritt dar, da sie Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern sammeln kann. Während ihres Au Pairs beginnt eine Freundin von Luisa ein Mathematikstudium für das Grundschullehramt an derselben Universität der bayerischen
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Großstadt, an der auch ihre andere Freundin bereits vorher ihr Mathematikstudium für das Gymnasiallehramt aufnahm. Die Erfahrungen ihrer Freundin aus dem Mathematikstudium für die Grundschule tragen dazu bei, dass Luisa sich in diesem Studium hohe Erfolgschancen beimisst. Sie steht nun vor der Entscheidung, ob sie Mathematik für die Grundschule oder das Gymnasium studiert: „Ich weiß noch, dass ich mit Mathe auch so ein bisschen gehadert habe. Also weil ich dann auch überlegt habe, ob ich Grundschullehramt oder Gymnasiallehramt studiere. Ähm (..) und ich habe von dem Mathestudium einfach immer so Horrorstories gehört. Also dass (.) es einfach [...] so schwer [ist] und gar nicht mehr das, was man in der Schule macht. Und ich glaube, weil ich immer so ehrgeizig war, hatte ich Angst, da viele Misserfolge zu erleben. Deswegen ähm war für mich dann auch klar [...] [bei] Grundschullehramt, dass da Mathe auf jeden Fall dabei ist, weil das super geht. Aber ähm wenn ich mich für Gymnasiallehramt entschieden hätte, weiß ich nicht unbedingt, ob Mathe dabei gewesen wäre.“
Basierend auf den Erfahrungen ihrer Freundinnen entscheidet sich Luisa also letztendlich, Mathematiklehramt für die Grundschule zu studieren. Diese Entscheidung scheint sie u. a. zu treffen, um mögliche Misserfolge in ihrem bevorstehenden Studium zu vermeiden und stattdessen ihre Erfolgschancen zu erhöhen. Luisa folgt der Studienortwahl ihrer Freundinnen und bewirbt sich an derselben Universität in einer bayerischen Großstadt. Sie zieht aus ihrer Heimatstadt in die ca. drei Stunden entfernte Studierendenstadt. Der Auszug aus ihrem Elternhaus stellt für Luisa nach ihrem Jahr als Au Pair in Frankreich kein Problem dar. Sie freut sich vielmehr über ihre neu gewonnene Unabhängigkeit und den Abstand zu ihren Eltern. Ihr Umzug in die neue Stadt verläuft unproblematisch, v. a. da Luisa mehrere Bekannte vor Ort und sogar im gleichen Studiengang hat. Bachelorstudium Luisa erlebt sich im Grundschulmathematikstudium von Beginn an als sehr selbstwirksam. Sie ist erfolgreich, ohne dafür besonders großen Aufwand betreiben zu müssen. Es scheint, als habe Luisa genau deshalb Spaß am Studium, weil es keine große Herausforderung darstellt und sie keinerlei Frustration erlebt: „Und dann kommt das Studium. Da geht es wieder so ein bisschen hoch [in der Kurve, CSG]. Da (..) ähm (.) hatte ich wieder ziemlich Erfolgserlebnisse, würde ich sagen. Also es könnte fast sogar noch ein bisschen (.) höher gehen in der Zeichnung. (.) Ähm (....) weil ich fand, in unserem Grundschulmathestudium (.) war es einfach fachlich (..) für mich nicht sonderlich herausfordernd. Also es war ein (.) angenehmes Mathe auf
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Die erste empirische Untersuchung …
einem angenehmen Level, was (.) noch Spaß gemacht hat, aber nicht so frustrierend war.“
Durch das positive Erleben ihres Studiums scheint sich für Luisa die Richtigkeit ihrer Entscheidung für ein Mathematiklehramtsstudium für die Grundschule und gegen ein Mathematiklehramtsstudium für die Sekundarstufe zu bestätigen. Im ersten Semester besucht Luisa im Mathematikstudium eine Fachvorlesung und eine dazugehörige Übung. Ihr Übungsleiter, der zwar ebenfalls Student ist, sich aber im Rahmen der Übung in einer ihr hierarchisch höheren Position befindet, scheint Luisas Konkurrenzempfinden zu wecken. Sie tritt mit ihm in einen als inhaltlich getarnten ‚Konkurrenzkampf‘, indem sie mit ihm in der Übung über Übungsinhalte diskutiert („Und da habe ich schon auch immer mal so ein bisschen nachgehakt (lacht). Und ich glaub, damit konnte er auch nicht immer umgehen.“). In Vorbereitung auf die Klausur zur Fachvorlesung im ersten Semester nimmt Luisa unter ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen recht selbstverständlich die Rolle der Lerngruppenleitung ein. Ihre Erfahrung aus der Schulzeit (gemeinsames Lernen mit Freundinnen) sowie ihre sehr guten Leistungen im Mathematikstudium prädestinieren sie dafür. Eine weitere Fachvorlesung im zweiten Semester schließt Luisa mit der bestmöglichen Note 1.0 in der Klausur ab. Sie wird von dem Professor gefragt, ob sie als Studentische Hilfskraft (SHK) am Lehrstuhl Mathematikdidaktik für die Primarstufe arbeiten möchte. Die Anfrage ihres Professors führt Luisa auf ihre sehr guten Leistungen in der Klausur zur Fachvorlesung zurück. Sie empfindet diese Anfrage als „eine Ehre“, womöglich, weil es ihr eine Sonderposition unter ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen zuspricht. Gesteigert wird dieses Empfinden wohl noch dadurch, dass ihr die Bestätigung dieser Sonderposition durch eine Autoritätsperson wie ihrem Professor zuteil kommt. Zunächst ist sich Luisa unsicher darüber, ob sie überhaupt als SHK am Lehrstuhl arbeiten möchte. Letztendlich sagt sie jedoch zu; in ihrem nächsten Semester beginnt Luisa dann ihre SHK-Tätigkeit. Zunächst besteht ihr Tätigkeitsfeld darin, zu einer ihr bekannten Fachvorlesung die Hausaufgaben von Studierenden zu kontrollieren und Tutorien durchzuführen. Später wird sie mit einer größeren Herausforderung konfrontiert, derer sie sich auch stellt: Sie korrigiert Hausaufgaben für zwei Vorlesungen, die sie selbst als Studentin nicht besuchte. Hierbei kann sie sich nicht auf ihre eigenen Unterlagen bzw. ihre eigenen Erfahrungen stützen. Es ist für Luisa also nicht von vornherein absehbar, ob sie diese Tätigkeit erfolgreich durchführen wird. Dass Luisa diese Aufgaben übernimmt, zeugt von ihrem großen Vertrauen in ihre mathematische Leistungsfähigkeit. Da sie sich neben ihrem eigenen Studium
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auch im Rahmen ihrer Tätigkeit als SHK mit Mathematik beschäftigt, nimmt Mathematik den größten fachlichen Anteil in Luisas Bachelorstudium ein. Masterstudium In ihrem Praxissemester während des Masterstudiums unterrichtet Luisa das Fach Mathematik in einer 1. Klasse an einer Grundschule in derselben bayerischen Großstadt, in der sie auch studiert. Das Themengebiet lautet: Geometrie. Während des Praktikums erhält Luisa keine spezifische fachliche Betreuung durch eine Mathematiklehrkraft, stattdessen ist ihre Betreuungslehrerin ausgebildete Englischlehrerin und unterrichtet eine 1. Klasse in allen Unterrichtsfächern, also auch in Mathematik. Im Hinblick auf ihre Praxiserfahrung im Fach Mathematik bedeutet dies, dass Luisa viele Freiheiten in der Unterrichtsgestaltung hat, aber auch, dass sie wenig fachliche bzw. fachdidaktische Kritik erhält. Zwischen Luisa und ihrer Betreuungslehrerin scheinen sich in der Planung des gemeinsamen Mathematikunterrichts sogar die Rollen zu vertauschen: Die Praktikantin wird zur Lehrerin, denn Luisa fühlt sich ihrer Betreuungslehrerin fachlich und fachdidaktisch überlegen. Luisa erzählt hierzu: „Und da war das Schöne halt irgendwie, dass die Klassenlehrerin, die dort auch so meine Betreuungslehrerin war, ähm eigentlich Mathe nicht studiert (.) hat. Und deswegen (.) Mathe so gemacht hat, wie es in den Arbeitsheften war. Und total dankbar war, dass ich kam mit (.) Ideen und Ansätzen, die irgendwie ein bisschen (...) ähm (..) ja didaktischer waren. Und irgendwie, (..) glaube ich, mehr an dem waren, wie man sich wünscht, dass Mathe unterrichtet wird.“
Luisa scheint sich im Vergleich mit ihrer Betreuungslehrerin als progressiv und kreativ zu erleben; ihre Ideen für die Unterrichtsplanung in Mathematik entsprechen wohl aber größtenteils den Studieninhalten eines Mathematiklehramtsstudiums („Dann (.) kam ich mal auf den Trichter, dass es total wichtig wäre, mit denen nochmal am Ist-gleich zu arbeiten so mit der Waage.“). Während des Praxissemesters scheint Luisa zu beginnen, ihre Berufswahl anzuzweifeln. Ihre Motivation für den direkten Berufseinstieg nach dem Studium sinkt dementsprechend und sie scheint zu versuchen, das Ende ihres Studiums hinauszuzögern: Bei der Erstellung ihrer Masterarbeit zögert Luisa mit ihrem Thema, ändert ihre Erhebungsmethoden mehrfach und durchbricht den Schreibprozess mit mehreren monatelangen Nebenjobs. All dies sorgt dafür, dass sich die Erstellung der Masterarbeit letztendlich auf fast 1.5 Jahre erstreckt. Während ihres Masterstudiums tritt eine Freundin von Luisa eine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an derselben Universität an, an der Luisa studiert. Vor dem Hintergrund ihrer beginnenden Zweifel an ihrem bisherigen
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Die erste empirische Untersuchung …
Berufswunsch Lehrerin wird wohl auch für Luisa eine solche Anstellung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität attraktiv. Referendariat Ein halbes Jahr nach ihrem Masterabschluss beginnt Luisa ihr Referendariat an einer Montessori-Grundschule. Sie unterrichtet Mathematik in einer jahrgangsübergreifenden Klasse, zu der mehrere Inklusionskinder gehören. Luisa scheint sich während ihres Referendariats in einem latenten inneren Konflikt zu befinden: Sie befürwortet das Schul- und Unterrichtskonzept, erlebt aber das Unterrichten einer jahrgangsübergreifenden Klasse mit mehreren Inklusionskindern auch als sehr anstrengend („da (.) ähm (…) hatte ich […] so ein bisschen dran zu (..) knabbern“). Dieser latente innere Konflikt scheint auf einen noch tieferliegenden zurückzuführen: Der Konflikt zwischen Luisas eigentlich sehr konservativen Ansichten aus ihrer Perspektive als Lernende (z. B. hohe Leistungsorientiertheit, Anerkennung von Hierarchien, Präferenz von Rechenalgorithmen) und der Ablehnung dieser Ansichten aus ihrer Perspektive als Lehrende. Diese Ablehnung begründet sich womöglich in dem mathematikdidaktischen Diskurs, an welchem Luisa in ihrer Rolle als Mathematiklehrkraft teilnimmt. Luisa scheint im Referendariat im Fach Mathematik unter den hohen Anforderungen ihrer Seminarleiterin sowie dem fehlenden positiven Feedback ihrer Seminarleiterin für ihre Unterrichtsbesuche zu leiden. Dass sie äußere Erwartungen an sich nicht erfüllen kann und in der Folge äußere Anerkennung ausbleibt, lassen möglicherweise Luisas Motivation für das Unterrichten von Mathematik sinken. Sie scheint sich in ihrer Rolle als Mathematiklehrkraft als unwirksam zu erleben und entfernt sich von ihr. Die Zuschreibung der Ursachen für dieses Misserfolgserleben verläuft in Luisas Erzählung wie folgt: Sie schreibt den Misserfolg weniger sich selbst, sondern vor allem ihrer Seminarleiterin zu. Sie begründet diese Zuschreibung zum einen durch die konservativen Ansichten der Seminarleiterin und die Unvereinbarkeit dieser Ansichten mit dem MontessoriSchulkonzept („Mein Eindruck war einfach, sie kam mit diesem (.) naja Chaos, das bei uns in dieser […] Schule halt herrschte, nicht ganz so gut klar.“). Sie führt zum anderen die in ihren Augen fehlplatzierte Fokussierung der Seminarleiterin auf die Form des Unterrichts statt auf den Inhalt als Grund ihres Misserfolgserlebens an. Als Beispiel hierfür kann folgende Erzählung dienen: „Also das ist halt so dieses eine Erlebnis, was noch total präsent ist. Ich weiß jetzt nicht so genau, ähm (..) obs da noch mehr so konkrete Erlebnisse gab oder zumindest waren sie vielleicht nie so frustrierend wie in diesem einen Moment. (.) Also ich weiß noch, dass im Ref die Seminarleiterin einmal an meinem Tafelbild gemeckert hat, weil
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ähm (.) / Also ich hab die Stunde in der Bibliothek gehalten, wo wir die Klasse geteilt haben. Das heißt, ich hatte gar keine Tafel, sondern hatte nur ein Flipchart. Und ich hab als ähm Feedback ne Zielscheibe gemalt und dann hab ich halt die Kreise der Zielscheibe per Hand gemalt. Und ich fand die jetzt nicht schlimm. Aber sie meinte, (.) das soll man dann schon mit nem Zirkel machen, was ja auf dem Flipchart / also ich hab jetzt keinen Zirkel für nen Flipchart. Sie meinte, dann soll man sich halt ne Schablone ausschneiden oder sowas. Ähm (..) da waren es halt dann wieder so Sachen, wo ich dachte, dass ich das jetzt nicht elementar dafür finde, dass der Unterricht gut ist oder die Kinder da viel mitnehmen. [...] Aber alle anderen, also meine Ausbildungslehrkraft und all die anderen Lehrerinnen und Lehrer, meinten zu mir „Na wenn sie sonst nichts zu kritisieren hat, dann ist das schon ok“. Also deswegen kann ich mich damit gut abfinden. Und dann habe ich natürlich für die Prüfungsstunde wieder eine Zielscheibe gemacht und mir da wunderschöne Schablonen / [...] da hab ich mir ganz viel Mühe gegeben mit den Kreisen. (.) Mmh (bejahend).“
Dieser Erzählung ist zu entnehmen, dass Luisa den Fokus der Seminarleiterin auf die Form des Unterrichtsmaterials – genauer: die saubere Zeichnung der Zielscheibe – statt auf den Inhalt als unangebracht empfindet. Die Erzählung zeigt außerdem, dass Luisa in ihrer Prüfungsstunde im Fach Mathematik versucht, ihrer kritischen Haltung gegenüber ihrer Seminarleiterin – in diesem speziellen Fall: gegenüber dem aus Luisas Perspektive unangebrachten Fokus auf Form statt Inhalt – Ausdruck zu verleihen. Dies tut sie jedoch derart, dass sie dabei ihre gute Benotung nicht riskiert. In diesem Umgang mit der Kritik ihrer Seminarleiterin in der Prüfungsstunde lässt sich Luisas Geringschätzung ihrer Seminarleiterin, aber gleichzeitig auch eine gewisse ‚Hierarchie- und Systemhörigkeit‘ erkennen. Insgesamt erlebt Luisa ihr Referendariat im Fach Mathematik als eher nicht erfolgreich. Viele Erlebnisse aus dem Referendariat scheint Luisa noch nicht verarbeitet zu haben. Hierauf deutet der wiederkehrende Erzählfluss hin, in den Luisa zum Thema Referendariat in der gesamten Erzählung immer wieder verfällt. Ihre negativen Erlebnisse im Referendariat scheinen dazu zu führen, dass Luisa sich nach dem Referendariat von ihrem Berufswunsch Lehrerin noch stärker abwendet, als sie es bereits gegen Ende ihres Studiums getan hatte. Wissenschaftliche Mitarbeit Luisa scheint für die Zeit nach ihrem Referendariat nach einer Alternative zum Beruf Lehrerin zu suchen. Sie stößt dabei auf den Beruf der Wissenschaftlichen Mitarbeiterin an einer Universität. Diese Option ist ihr einerseits bereits dadurch bekannt, dass ihre Freundin als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität arbeitete. Andererseits entließ ihr Masterarbeitsbetreuer sie am Ende ihres Studiums mit folgenden Worten: „Vielleicht sehen wir uns ja mal [an der Uni] wieder.“ Luisa sucht regelmäßig nach Ausschreibungen an Universitäten und bewirbt sich
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Die erste empirische Untersuchung …
noch während ihres Referendariats auf die Ausschreibung einer Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Mathematikdidaktik an der Universität, an der sie auch studierte. Zur Sicherheit bewirbt sie sich jedoch auch als Lehrerin an mehreren Schulen, u. a. auch an ihrer Referendariatsschule. Sie erlebt die Phase des Wartens auf eine Zu- oder Absage von der Universität als sehr „aufreibend“, vermutlich, da sie zu diesem Zeitpunkt nur noch sehr ungern als Lehrerin arbeiten möchte. Sie erzählt im Interview von dieser Phase in einer fast dramatischen Erzählung, in der mehrere Ereignisketten parallel verlaufen: „Und ich hatte dann (..) ähm (..) glaube ich so diese (.) naja Bewerbungsphase so parallel. Also mmh naja nachdem ich so meine Prüfungen durch hatte, lief das dann [...], dass ich mich beworben habe. Und aber auch noch an anderen Schulen, weil ich ja dann irgendwas brauchte. Und das waren dann echt (.) so (.) spannende und aufreibende Tage kurz bevor das Schuljahr zu Ende ging, weil klar war, (.) ähm (.) dann starte ich in die Sommerferien und [...] ich hatte dann (.) ähm (.) eine große Reise geplant. Und irgendwie war nicht so richtig klar, wie es danach weitergeht. Und dann hatte ich aber (.) eigentlich schon so gut wie (.) einer Schule [...] zugesagt, (.) ähm (..) die mich halt haben wollten. Und ähm (..) dann hab ich aber auch die Zusage von meinem Professor bekommen und dann (.) war es für mich eigentlich ziemlich klar, dass ich lieber das [...] erstmal ausprobieren will.“
Es wird erkenntlich, wie sehr Luisa zu diesem Zeitpunkt eine andere Anstellung als die im Schuldienst bevorzugt. Ihre Entscheidung für die Anstellung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin kann deshalb gewissermaßen auch als eine Art ‚Flucht‘ aus dem Lehramt gelesen werden.
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht
Nach Abschluss der ersten empirischen Untersuchung sind nun die Voraussetzungen für die Durchführung der zweiten empirischen Untersuchung geschaffen. Zur Erinnerung: Mein Forschungsvorhaben, Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht zu untersuchen, hatte zunächst die Rekonstruktion von mathematikbezogenen Erlebnissen dieser Lehrkräfte vorausgesetzt. Eben diese Rekonstruktionsleistung konnte nun im Zuge der ersten empirischen Untersuchung erbracht werden. Die Untersuchung führte zu einer Darstellung der mathematikbezogenen Lebensgeschichten von Camila und Luisa. In einer zweiten empirischen Untersuchung soll nun das Fremdverstehen untersucht werden, welches Camila und Luisa in konkreten Situationen des Mathematikunterrichts vollziehen. Das Fremdverstehen, welches hierfür analysiert wird, nahmen die beiden Lehrerinnen im Rahmen von Hospitationen im Mathematikunterricht vor: Camila hospitierte im Mathematikunterricht zweier 9. Klassen an einem Gymnasium und Luisa nahm ihre Hospitation im Mathematikunterricht einer 7. Klasse – ebenfalls an einem Gymnasium – vor1 . Die untersuchten Lehrkräfte vollzogen ihr Fremdverstehen also in Unterrichtssituationen, in denen sie nicht selbst unterrichteten. Dass ich mich dazu entscheide, ein derartiges Fremdverstehen zu analysieren, begründet sich wie folgt: Mein Ziel ist es, das Phänomen des Fremdverstehens von Lehrkräften gewissermaßen
1
Ich legte nicht fest, in welcher Schulform oder welcher Klassenstufe die untersuchten Personen hospitieren sollen. Da sich Fremdverstehen in jedem Mathematikunterricht vollzieht bzw. vollziehen lässt, bestand aus meiner Sicht kein Bedarf, derartige Einschränkungen vorzunehmen. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C.-S. Günther, Das Eigene und das Fremde, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_6
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
methodisch zu ‚isolieren‘.2 In Momenten, in denen Lehrkräfte selbst unterrichten, ist ihr Fremdverstehen nämlich vorrangig in Zwecke eingebunden, die ich als wissenschaftliche Beobachterin nicht ‚kontrollieren‘ kann, z. B. in den Zweck, über ein unterrichtliches Anschlusshandeln zu entscheiden. Lehrkräften hingegen, die nicht selbst unterrichten müssen, ist es möglich, ein Fremdverstehen im Unterricht vielmehr causa sui zu vollziehen, also: um seiner selbst willen. D. h. – etwas überspitzt formuliert –, sie können ihr Fremdverstehen vollziehen, einfach ‚nur‘, um dieses Fremdverstehen zu vollziehen (falls sie z. B. von einer wissenschaftlichen Beobachterin dazu angehalten werden). Sie verfügen zudem über die zeitlichen Kapazitäten, ihr Fremdverstehen bzw. die Resultate ihres Fremdverstehens zeitnah und ausführlich schriftlich zu dokumentieren. Dass solch eine zeitnah erstellte und ausführliche Dokumentation des eigenen Fremdverstehens für meine Untersuchung von entscheidender Bedeutung ist, wird sich in Abschnitt 6.1 zeigen. In Verbindung mit dem Vorhaben, Camilas und Luisas Fremdverstehen in konkreten Situationen des Mathematikunterrichts zu rekonstruieren, ergibt sich nun zum zweiten Mal im Verlauf meiner Forschung die Situation, dass auch ich selbst, als wissenschaftliche Beobachterin, ein Fremdverstehen vollziehen muss. Denn ich bin – wenn ich das Fremdverstehen von Camila und Luisa rekonstruiere, in welchem sie auf das Erleben einer Schülerin oder eines Schülers gerichtet sind (Fremdverstehen A) – ja selbst auf ein Bewusstseinserleben dieser beiden Lehrkräfte gerichtet (Fremdverstehen B) (s. Abbildung 6.1). Für dieses Fremdverstehen B, also mein Fremdverstehen in der Rolle der wissenschaftlichen Beobachterin, gilt nun – mit derselben Begründung wie bereits bei der ersten empirischen Untersuchung –, dass es methodisch kontrolliert sowie intersubjektiv kontrollierbar erfolgen muss.
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Gewiss könnte ich die ‚Isolation‘ des Phänomens Fremdverstehen noch ‚weitertreiben‘, das Fremdverstehen aus dem Unterrichtskontext ganz herauslösen und es unter Laborbedingungen (z. B. auf der Grundlage von videographierten Unterrichtssequenzen) untersuchen. Da ich die ‚Situations- und Kontextgebundenheit‘ des Fremdverstehens im Rahmen meiner Untersuchung jedoch nicht weiter als nötig aufheben möchte, habe ich mich dazu entschieden, das Fremdverstehen der Lehrkräfte nicht in einem solchen ‚künstlichen‘ Unterrichtssetting, sondern im ‚echten‘ Mathematikunterricht zu untersuchen.
6.1 Zur Erhebungsmethode: Das narrative Interview
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In den folgenden Abschnitten möchte ich nun zeigen, dass und wie meine zweite empirische Untersuchung diesen Anforderungen gerecht werden kann: Ich werde dafür zunächst auf die Methode der Datenerhebung eingehen, das narrative Interview (vgl. Schütze, 1976, 1977 & 1983) (Abschnitt 6.1). Insbesondere möchte ich hier mein konkretes Vorgehen bei der Durchführung eines solchen Interviews schildern, da es neben vielen Gemeinsamkeiten auch einige entscheidende Unterschiede zu der Durchführung der biographisch-narrativen Interviews im Rahmen der ersten Untersuchung aufweist. Anschließend werde ich dann das methodische Vorgehen in der Analyse der Interviewtexte erläutern (Abschnitt 6.2). Hierbei handelt es sich um ein dreischrittiges Vorgehen, welches von mir eigens für das Anliegen konzipiert wurde, Fremdverstehen zu rekonstruieren. Diesen Darstellungen der Erhebungs- und Analysemethode wird sich dann eine kurze methodologische Anmerkung anschließen (Abschnitt 6.3). In dieser soll erläutert werden, dass es sich in der Analyse der Erzählungen als notwendig herausstellt, verschiedene Zeitlichkeiten herauszuarbeiten, auf die Teile der Erzählung verweisen können. Schließlich werde ich am Ende des gesamten Kapitels die Ergebnisse dieser Untersuchung vorstellen (Abschnitt 6.4). Dort wird also das Fremdverstehen der Lehrkräfte Camila und Luisa rekonstruiert, welches sie in verschiedenen Unterrichtssituationen im Mathematikunterricht einer 7. bzw. zweier 9. Klassen vollzogen haben.
Wissenschaftliche Beobachterin
Fremdverstehen B
Lehrkraft
Fremdverstehen A
Schüler oder Schülerin
Abbildung 6.1 Die Rekonstruktion des Fremdverstehens A vollzieht sich als Fremdverstehen B
6.1
Zur Erhebungsmethode: Das narrative Interview
Mithilfe von narrativen Interviews sollen im Rahmen dieser zweiten Untersuchung Erzählungen generiert werden, in denen die untersuchten Mathematiklehrkräfte das von ihnen erfasste Erleben einer Schülerin oder eines Schülers innerhalb einer konkreten Unterrichtssituation darstellen. Ziel dieser Interviews
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
ist es zum einen, die Situationsdeutung der Lehrkräfte zu erheben, zum anderen aber auch, von ihren ‚Selbsttheorien‘ über dieses Deuten bzw. diese Deutung zu erfahren (vgl. Hopf, 2017, S. 350). Auf methodologische Ausführungen zum narrativen Interview möchte ich an dieser Stelle verzichten und stattdessen auf Abschnitt 5.1 dieser Arbeit sowie auf folgende Publikationen verweisen: Fischer-Rosenthal & Rosenthal (1997, S. 139– 147), Kraimer (1983), Küsters (2009 & 2014), Rosenthal (1995, S. 186–207; 2014, S. 512–514 & 2015, S. 163–188) und Schütze (1977 & 1983). Was ich jedoch weiter ausführen möchte, ist mein konkretes Vorgehen in der Durchführung der narrativen Interviews. Dieses weist nämlich, neben vielen Gemeinsamkeiten, auch einige Unterschiede zur Durchführung der biographisch-narrativen Interviews auf, wie ich sie im Zuge der ersten empirischen Untersuchung vorgenommen habe.
6.1.1
Zum Vorgehen in der Durchführung narrativer Interviews
Mitunter liegen einige Wochen zwischen der Hospitation, in der ein Fremdverstehen vollzogen wurde, und dem Interview, in welchem von diesem Fremdverstehen erzählt wird. Dieser Umstand könnte zur Folge haben, dass den interviewten Lehrkräften das gedankliche Repräsentieren ihres Fremdverstehens zum Zeitpunkt des Interviews bereits ‚schwerfällt‘, oder aber, dass das gedanklich Repräsentierte bereits von dem abweicht, was sich ihnen in ihrem Fremdverstehen eigentlich präsentierte. Unter anderem um diesen möglichen Einflüssen entgegenzuwirken, bitte ich die untersuchten Lehrkräfte, ihr Fremdverstehen zeitnah nach seinem Vollzug möglichst ausführlich zu dokumentieren; es kommen ihnen hierfür im Voraus ihrer Unterrichtshospitation folgende Aufträge zu3 : 1. Wähle eine Situation im Mathematikunterricht aus, von der du denkst, dass sie für eine Schülerin oder einen Schüler Auslöser für einen ‚Hochpunkt‘ in ihrem oder seinem Erleben gewesen sein könnte. a) Beschreibe die Situation, die du beobachtet hast. b) Wie könnte die Situation aus der Perspektive der Schülerin oder des Schülers erlebt worden sein? 3
Ich schreibe hier ‚unter anderem‘, da ich mit dem Bereitstellen der Hospitationsaufträge auch noch folgendes Motiv verfolge: Es soll bei den untersuchten Personen überhaupt ein Fremdverstehen ‚provoziert‘ werden, welches dann später Gegenstand meiner Untersuchung werden kann.
6.1 Zur Erhebungsmethode: Das narrative Interview
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2. Wähle eine Situation im Mathematikunterricht aus, von der du denkst, dass sie für eine Schülerin oder einen Schüler Auslöser für einen ‚Tiefpunkt‘ in ihrem oder seinem Erleben gewesen sein könnte. a) Beschreibe die Situation, die du beobachtet hast. b) Wie könnte die Situation aus der Perspektive der Schülerin oder des Schülers erlebt worden sein? Diese Hospitationsaufträge zielen also darauf ab, dass die Lehrkräfte sowohl ihre Beobachtungen zu der konkreten Fremdverstehsituation (Teilauftrag a) als auch die Resultate ihres Fremdverstehens (Teilauftrag b) dokumentieren. Das hierzu Dokumentierte soll dann – wie oben erwähnt – beim gedanklichen Repräsentieren des Fremdverstehens zum Zeitpunkt des Interviews als eine Art ‚Erinnerungsstütze‘ wirken. Direkt im Voraus des Interviews bekommen die untersuchten Personen dann noch einmal die Möglichkeit, ihre eigenen Dokumentationen erneut zu lesen. Außerdem können sie ihre Dokumentationen auch während des Interviews jederzeit hinzuziehen. Sie werden aber zu Beginn des Interviews auch explizit darauf hingewiesen, dass für mich als wissenschaftliche Beobachterin alles von Interesse ist, was ihnen über ihre Dokumentationen hinaus spontan einfällt, d. h., dass sie in ihren Erzählungen ihre Dokumentationen überschreiten dürfen, ja sogar: sollen. In der Durchführung der narrativen Interviews gehe ich nun wie folgt vor: In einem kurzen Vorgespräch danke ich der interviewten Person zuerst für ihre Bereitschaft, mit mir ein zweites Interview zu führen, dieses Mal über ihre Beobachtungen von Unterrichtssituationen und ihre Deutungen zum Erleben einer Schülerin oder eines Schülers in diesen Situationen. Anschließend sichere ich die vertrauliche Behandlung der Daten zu, die ich in diesem Interview erhebe. Ich informiere außerdem darüber, dass dieses zweite narrative Interview im Gegensatz zum ersten Interview nicht aus einem, sondern aus zwei verschiedenen narrativen Teilen bestehen wird, die jeweils durch einen eigenen Erzählimpuls meinerseits eingeleitet werden. Ich bitte um eine freie Erzählung zu jedem dieser zwei Erzählimpulse und erkläre, dass ich mir während der Erzählungen umfangreiche Notizen machen werde, um dann im Anschluss alle Fragen stellen zu können, die mir während der Erzählung aufkommen. Am Ende des Vorgespräches starte ich, natürlich erst nach vorheriger Ankündigung, die Audioaufnahme des Interviews. Es folgt die erste Erzählaufforderung, in der ich die interviewte Person darum bitte, von ihrer Beobachtung der Unterrichtssituation und der Deutung des Erlebens einer Schülerin oder eines Schülers zu erzählen. Die Erzählaufforderung lautet: Ich möchte von den zwei Situationen aus deiner Hospitation erfahren, die
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
für eine Schülerin oder einen Schüler einen Hoch- oder Tiefpunkt in ihrem oder seinem Mathematikerleben dargestellt haben könnten. Ich möchte dich bitten, mir so ausführlich wie möglich die Situationen, die du beobachtet hast, zu beschreiben und anschließend darauf einzugehen, wie die Situationen aus der Perspektive der Schülerin oder des Schülers erlebt worden sein könnten. Du kannst anhand deiner Notizen erzählen, aber mich interessiert auch alles, was dir darüber hinaus spontan einfällt. Der ersten Erzählaufforderung schließt sich – evtl. nach einer kurzen Absicherung seitens der interviewten Person, ob sie die Aufforderung richtig verstanden habe – die erste Erzählung der interviewten Person an. Wie auch in den biographisch-narrativen Interviews wird diese Erzählung meinerseits nicht unterbrochen, sondern nur durch Zustimmungs- bzw. Verständnisbekundungen (z. B. ein bejahendes ‚mmh‘), Blickkontakt und andere leibliche Aufmerksamkeitsbekundungen (vgl. Rosenthal, 2014, S. 513) aufrechterhalten. Außerdem notiere ich mir während der Eingangserzählung auch wieder alle Fragen, die mir während der Erzählung aufkommen, um sie dann im Anschluss stellen zu können. Ich notiere diese Fragen – wie bereits im ersten Interview – erzählchronologisch, um auch meine Nachfragen in der Chronologie der Erzählung stellen zu können. Die erste Eingangserzählung endet dann, wenn die erzählende Person selbst eine unmissverständliche Erzählkoda setzt (z. B. ‚Gut das wars.‘ oder ‚Mehr hab ich nicht zu erzählen.‘). Nach der Erzählkoda danke ich der interviewten Person für ihre erste Erzählung und beginne anschließend, meine ersten immanenten Nachfragen zu stellen, also diejenigen Fragen, die sich aus bzw. zu der konkreten ersten Erzählung ergeben haben. Mit diesem ersten immanenten Nachfrageteil verfolge ich das Ziel, die Beobachtung der Unterrichtssituationen und die Deutung des Erlebens der Schülerin oder des Schülers innerhalb dieser Unterrichtssituationen besser verstehen zu können. Ich formuliere meine immanenten Nachfragen derart, dass sie erneut eine narrative Wirkung bei der interviewten Person entfalten können. Wie schon im ersten Interview stelle ich hierfür den status quo ante im Erzählverlauf durch möglichst wortwörtliches Zitieren her (vgl. Schütze, 1983, S. 285) und lasse darauf eine erzählgenerierende Frage folgen (z. B. ‚Könntest du von diesem Punkt an nochmal erzählen?‘, ‚Wie ging es dann weiter?‘, ‚Kannst du mir [x] noch einmal genauer erzählen?‘, ‚Was hast du gemeint, als du [x] gesagt hast?‘, ‚Woran hast du [x] erkannt/festgemacht?‘ etc.). Auf die immanenten Nachfragen folgen an dieser Stelle – entgegen der eigentlichen Struktur eines narrativen Interviews – noch keine exmanenten Nachfragen. Der Grund dafür ist folgender: Exmanente Nachfragen zielen nicht darauf ab, weitere Erzählungen zu generieren, sondern vielmehr selbsttheoretisierende
6.1 Zur Erhebungsmethode: Das narrative Interview
185
Beschreibungen und Argumentationen (vgl. Küsters, 2014, S. 578). Die interviewte Person wird im exmanenten Nachfrageteil eines narrativen Interviews also nicht mehr in ihrer Rolle als Erzählerin, sondern vielmehr in der Rolle einer Expertin und Theoretikerin ihrer selbst (vgl. Schütze, 1983, S. 285) in Anspruch genommen. Es steht zu diesem Zeitpunkt im Interview jedoch noch eine weitere Erzählung aus, denn meine narrativen Interviews umfassen ja zwei verschiedene narrative Teile. Würde ich also nun obigen Rollenwechsel veranlassen, d. h., würde ich die interviewte Person fortan in ihrer Rolle als Expertin und Theoretikerin ihrer selbst befragen, müsste sie anschließend erneut einen Rollenwechsel vornehmen, da sie für ihre zweite Erzählung dann wieder in ihrer Rolle als Erzählerin in Anspruch genommen wird. Um eben diesen wiederholten Rollenwechsel zu vermeiden und so meines Erachtens auch das ‚Risiko‘ zu senken, dass die interviewte Person nicht mehr in ihre Rolle als Erzählerin zurückfinden könnte, verzichte ich an dieser Stelle des Interviews auf einen exmanenten Nachfrageteil und stelle meine exmanenten Nachfragen stattdessen gesammelt am Ende des gesamten Interviews. Es folgt also die zweite Erzählaufforderung. In dieser bitte ich die interviewte Person darum, mir von den Gründen für ihre Auswahl der zwei Unterrichtssituationen zu erzählen. Der Erzählimpuls lautet: Nachdem wir über die zwei Unterrichtssituationen gesprochen haben, würde ich gern ein wenig Abstand von den konkreten Situationen nehmen. Ich möchte stattdessen die Auswahl dieser Situationen in den Blick nehmen. Und zwar würde ich gern erfahren, was du denkst, warum du genau diese zwei Situationen als Hoch- und Tiefpunkt im Erleben einer Schülerin oder eines Schülers ausgewählt haben könntest. Für die nun folgende zweite Erzählung gilt, was auch für die erste Erzählung galt: Die Erzählung wird meinerseits nicht unterbrochen, aufkommende Fragen werden erzählchronologisch notiert und die Erzählung endet erst dann, wenn die erzählende Person selbst eine Erzählkoda setzt. Nach der Erzählkoda danke ich der interviewten Person für ihre zweite Erzählung und beginne, meine immanenten Nachfragen zu stellen, also diejenigen Fragen, die sich aus bzw. zu der zweiten Erzählung ergeben haben. In diesem zweiten immanenten Nachfrageteil verfolge ich das Ziel, die Erklärung der Auswahl der Unterrichtssituationen, welche die interviewte Person in ihrer zweiten Erzählung hervorgebracht hat, besser verstehen zu können. Mein Vorgehen beim Stellen der zweiten immanenten Nachfragen entspricht dem Vorgehen beim Stellen der ersten immanenten Nachfragen, d. h., ich stelle die Nachfragen möglichst derart, dass sie die interviewte Person erneut zu Narrationen anregen.
186
6
Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
Nachdem nun beide narrativen Teile des Interviews abgeschlossen sind, schließt sich der exmanente Nachfrageteil an. Ich stelle also erzählexterne Nachfragen, die vorrangig meinem Forschungsinteresse und nicht den Erzählungen der interviewten Person entspringen. Ich verfolge dabei das Ziel, das Bewusstsein der interviewten Person über die Kontingenz ihrer Fremdverstehensresultate sowie über den Einfluss der eigenen mathematikbezogenen Lebensgeschichte auf ihr Fremdverstehen nachzeichnen zu können. Ich stelle hierfür beispielsweise Fragen, die zunächst auf eine Steigerung der Kontingenz der Fremdverstehensresultate (‚Könnte die Schülerin oder der Schüler die Situation auch anders erlebt haben?‘) und anschließend auf eine Reduktion der Kontingenz (‚Warum hast du genau diese Interpretation ausgewählt gegenüber den anderen potentiellen Interpretationen?‘) abzielen. Ich frage zudem nach dem eigenen situativen Erleben (‚Wie hast du dich in der Situation gefühlt?‘, ‚War diese Situation auch für dich ein Hochoder Tiefpunkt?‘) und dem Zusammenhang zur eigenen Lebensgeschichte (‚Hätte diese Situation auch für dich als Schülerin oder als Schüler ein Hoch- oder Tiefpunkt sein können?‘, ‚Hast du ähnliche Situationen selbst erlebt oder miterlebt?‘, ‚Könnten dich deine eigenen Erfahrungen in der Interpretation dieser Situation beeinflusst haben? Wenn ja, inwiefern?‘). Wie auch in den Interviews der ersten Untersuchung vermeide ich es während des exmanenten Nachfrageteils, die interviewte Person mit Widersprüchlichkeiten in ihren Äußerungen oder mit meinen Theorien über sie zu konfrontieren (vgl. Küsters, 2009, S. 63). Mit dem exmanenten Nachfrageteil findet auch das gesamte zweite Interview sein Ende und die Audioaufnahme wird gestoppt. Es folgt ein kurzes informelles Nachgespräch. Ich danke der Person nochmal für ihre Bereitschaft, ein zweites Interview mit mir geführt zu haben. Und ich erkundige mich, ob ihrerseits Fragen bestehen, z. B. zu Form oder Inhalt der Interviews, und signalisiere meine Bereitschaft, diese Fragen zu beantworten. Wie auch im ersten Interview schreibe ich unmittelbar nach der Verabschiedung der interviewten Person ein Interviewprotokoll. In diesem notiere ich Geschehnisse vor Einschalten des Aufnahmegerätes, während des Interviews und nach Abschalten des Aufnahmegeräts. Ich mache Notizen zu Beobachtungen über Interviewort und -situation (z. B. Temperatur, Lautstärke, Störfaktoren etc.), über die Interaktion zwischen mir und der interviewten Person (z. B. Sympathien, Antipathien) sowie über die interviewte Person selbst (z. B. Äußeres, emotionaler Zustand, Stimme, Redeart etc.) (vgl. Küsters, 2009, S. 64). Zuletzt halte ich auch meinen eigenen emotionalen und sonstigen Zustand vor, während und nach dem Interview fest.
6.2 Zur Analysemethode: Die Rekonstruktion von Fremdverstehen
6.2
187
Zur Analysemethode: Die Rekonstruktion von Fremdverstehen
Ziel der Analyse ist es, anhand der Erzählungen, die die Lehrkräfte in den narrativen Interviews vornehmen, das Fremdverstehen zu rekonstruieren, welches sie in konkreten Unterrichtssituationen vollzogen haben. Diese Analyse basiert auf einer Transkription4 der narrativen Interviews und wird in drei Schritten vorgenommen: Es werden erstens die für eine Analyse des Fremdverstehens relevanten Interviewteile identifiziert (Abschnitt 6.2.1). Diese Interviewteile werden daraufhin zweitens vor dem begrifflichen Rahmen gedeutet, den Schütz‘ Theorie des Fremdverstehens bereitstellt (Abschnitt 6.2.2). Und es werden schließlich drittens die bisherigen Analyseergebnisse mit den Ergebnissen der ersten empirischen Untersuchung, also mit der mathematikbezogenen Lebensgeschichte der untersuchten Lehrkräfte, kontrastiert (Abschnitt 6.2.3). Wie sich diese drei Analyseschritte konkret ausgestalten, das sei im Folgenden ausgeführt:
6.2.1
Zum Identifizieren relevanter Interviewteile
In diesem ersten Schritt werden all diejenigen Interviewteile identifiziert, die für die Rekonstruktion eines Fremdverstehens relevant sein könnten. Die Identifikationsmerkmale, anhand derer über die Relevanz eines Interviewteils entschieden wird, wurden auf Basis der Theorie des Fremdverstehens von Schütz entwickelt: Ich trug die Gesamtheit der von mir in Kapitel 2 als zentral herausgearbeiteten Begriffe der Theorie zusammen und erstellte möglichst abstrakte Begriffsklassen, in welche die Begriffe der Theorie restlos ‚zerfielen‘. Aus diesem Vorgehen gingen die folgenden vier Begriffsklassen hervor: Bedingungen des Fremdverstehens in der Umwelt des Bewusstseins (1), Bedingungen des Fremdverstehens im Bewusstsein (2), der Fremdverstehensprozess an sich (3) und die Resultate des Fremdverstehens (4). Die einzelnen Klassen seien jeweils kurz erläutert: Zu 1. Den Bedingungen des Fremdverstehens in der Umwelt des Bewusstseins werden all diejenigen Theorieelemente zugeordnet, die sich nicht im Bewusstsein des fremdverstehenden ego verorten lassen. Hierzu zählen beispielsweise alter ego selbst oder die Leibesbewegungen alter egos (Achtung: Gemeint sind 4
Auch die Transkription der narrativen Interviews erfolgt – wie bereits die Transkription der biographisch-narrativen Interviews im Rahmen der ersten empirischen Teiluntersuchung – mithilfe der Software MAXQDA und entlang der erweiterten Transkriptionsregeln (vgl. S. 21–23) von Dresing & Pehl (2015).
188
6
Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
hier die reinen Leibesbewegungen und nicht die Leibesbewegungen als Anzeichen (vgl. hierzu Abschnitt 2.3)). Wenngleich Schütz sie in seiner Theorie nicht explizit begrifflich erfasst, ordne ich dieser Klasse auch die situativen Umstände des konkreten Fremdverstehens zu, da auch diese nicht im Bewusstsein des fremdverstehenden ego, sondern vielmehr in seiner Umwelt zu verorten sind. Als Interviewteile, die einen Bezug zu dieser Klasse aufweisen, gelten beispielsweise: • „der (..) Schüler […] hat geschrieben und geschrieben, hat mal im Raum geguckt, um zu überlegen, und hat dann weitergeschrieben und äh war recht schnell fertig und hat sich dann im Raum umgeguckt“ (Leibesbewegungen alter egos) • „[W]ir haben den ersten Tag hospitiert und dann auch noch den zweiten. Und äh in jeweils der ersten Stunde schrieben die Lehrkräfte Tests (.) äh über das grad behandelte Thema.“ (situative Umstände des Fremdverstehens) • „Es war ein Test. (.) Ähm also es warn zwei neunte Klassen und jeweils Tests über den Satz des Pythagoras. (.) Und ähm bei der einen Lehrkraft war es nur Aufgabenbereich 1 und (.) nen leichter Aufgabenbereich 2, der angeschnitten wurde. (.) Und bei der anderen Lehrkraft warens alle Aufgabenbereiche, also von 1 über 2 und dann äh ner (.) ner Aufgabe im Aufgabenbereich 3.“ (situative Umstände des Fremdverstehens) Zu 2. Zu der Klasse Bedingungen des Fremdverstehens im Bewusstsein werden all diejenigen Theorieelemente gerechnet, die auf die Bewusstseinsstruktur des fremdverstehenden ego verweisen. D. h., hierzu zählen Elemente, die sich im Bewusstsein des fremdverstehenden ego verorten lassen, die aber gewissermaßen von ‚allzeitlichem‘ Charakter, also insbesondere nicht an den Vollzug eines konkreten Fremdverstehens gebunden sind. Begriffe aus Schütz‘ Theorie, die in diese Klasse fallen, sind beispielsweise Erlebnisstrom und Erfahrungswelt von ego oder auch eigene vergangene Bewusstseinserlebnisse, auf welchen egos Fremdverstehen basiert. Beispielhafte Interviewteile, die auf diese Klasse verweisen, sind: • „In der Schule war mein / (.) für ne lange Weile Geschichte mein absolutes Hassfach, weil ich mir Zahlen sehr schlecht merken kann (.) ähm und äh dann auch (..) damit immer sehr sehr Probleme hatte, mir das einzuprägen.“ (Erfahrungswelt von ego) • „Man kennt das ja, glaube ich, auch selbst von Tests, wo man (.) mit den Aufgaben super zurechtkam. [Das] war […] dann ne Bestätigung für einen selbst. Dass äh man auch so vielleicht auch mal so rumguckt und sieht, ach ich bin ja schon fertig äh (.) mmh (.) bin also vielleicht doch äh (.) besser, als ich
6.2 Zur Analysemethode: Die Rekonstruktion von Fremdverstehen
189
erwartet hatte. Oder ähm (..) oder dann auch die Vorfreude vielleicht auf auf ne gute Note, die man dann mit nach Hause bringen kann.“ (eigenes vergangenes Bewusstseinserlebnis von ego, welches nicht nur einmalig, sondern vielmehr wiederholt vollzogen wurde) Zu 3. Zur Klasse Fremdverstehensprozess an sich werden all diejenigen Theorieelemente gezählt, die einen Teilprozess im Prozess des Fremdverstehens darstellen. Hierbei handelt es sich also um Ereignisfolgen, die zeitlich an den konkreten Fremdverstehensprozess gebunden sind, d. h., die sich während des Fremdverstehensprozesses ereignen. Die Mehrzahl der zentralen Begriffe aus Schütz‘ Theorie fällt in diese Klasse, z. B. Gerichtetheit, Deutung von Anzeichen, Personenvertauschung etc. Auf diese Klasse verweisen beispielsweise folgende Interviewteile: • „[D]ie Körperhaltung hat jetzt auch nicht für ähm / also dafürgesprochen, dass es ihnen leichtfiel. Also es war eher son son In-sich-zusammengekauert-sein.“ (Deutung von Anzeichen am Leib alter egos) • „Also tatsächlich hab ich mir eher einzelne Schüler rausgeguckt.“ (Gerichtetheit auf ein alter ego) • „Die beiden Schülerinnen / also man muss aber auch dazu sagen, die saßen sehr gut sichtbar für uns […].“ (egos Wahrnehmung von alter ego) • „und wenn ich äh mich dann in Schüler hineinversetzen (.) würde“ (Personenvertauschung) Zu 4. Dem Theoriebereich Resultate des Fremdverstehens werden all die Elemente aus Schütz‘ Theorie zugeordnet, die an das ‚Bereits-Vollzogen-Sein‘ eines Fremdverstehens gebunden sind. Hierzu zählen z. B. der Begriff der fremden erfassten Erlebnisse, zu dessen Inhalt es gehört, dass das Erfassen der fremden Erlebnisse bereits in der Vergangenheit liegt, oder aber auch der Begriff der Adäquatheit von Resultaten des Fremdverstehens, über welche erst dann entschieden werden kann, wenn sich ein Fremdverstehen bereits vollzogen und bestimmte Resultate hervorgebracht hat. Als Interviewteile, die einen Bezug zu dieser Klasse aufweisen, gelten beispielsweise: • „Und der Schüler hat halt / also der (..) Schüler, der damit keine Probleme hatte, hat geschrieben und geschrieben, hat mal im Raum geguckt, um zu überlegen, und hat dann weitergeschrieben und äh war recht schnell fertig und hat sich dann im Raum umgeguckt, um zu gucken, (..) ja wie viel Zeit habe ich noch? Wie kommen die anderen voran?“ (fremdes erfasstes Erlebnis)
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6
Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
• „Besonders bei den Tiefpunkten bin ich mir jetzt nicht so sicher, ob das dann wirklich so aufgefasst wurde. […] Bei den Mädchen weiß ich nicht, inwiefern deren Verhalten nur jetzt auf Mathe zutrifft vielleicht. (.) Aber dadurch, dass ich das Gefühl hatte, dass sie sich sehr sehr gleichgültig verhalten haben, könnte es natürlich auch so sein, dass (..) vielleicht ihnen nicht nur Mathematik egal ist, sondern auch die Schule. Ich ich will jetzt nicht irgendwas vermuten, aber äh sie haben sehr sehr gleichgültig gewirkt. Und dementsprechend könnte es natürlich auch so sein, dass ihnen die schlechte Note in Mathematik egal ist und ähm (..) ich das falsch interpretiert habe.“ (Adäquatheit von Resultaten eines Fremdverstehens) Diese vier Klassen fungieren nun wie folgt als Identifikationsmerkmale: Interviewteile, die die entsprechenden Merkmale aufweisen, werden als ‚relevant‘ für die Analyse eingestuft. Interviewteile hingegen, die keiner dieser vier Klassen zugeordnet werden können, gelten als ‚nicht relevant‘. Die Gesamtheit aller relevanten Interviewteile stellt dann fortan das ‚Material‘ dar, welches es zu analysieren gilt.
6.2.2
Zum Deuten mithilfe des begrifflichen Rahmens der ‚Theorie des Fremdverstehens‘
Auch der zweite Analyseschritt gründet sich auf Schütz‘ Theorie des Fremdverstehens: In diesem Schritt werden die Interviewteile, die sich im ersten Analyseschritt als ‚relevant‘ herausstellten, nämlich mithilfe des begrifflichen Rahmens von Schütz‘ Theorie gedeutet. D. h., die in Kapitel 2 als zentral herausgearbeiteten Begriffe von Schütz‘ Theorie werden als ‚Deutungsfolie‘ an die einzelnen Interviewteile herangetragen. Am Beispiel eines Interviewteils aus dem Interview mit Camila sei das Ergebnis einer solchen deutenden Erschließung einmal vorgeführt: „Also tatsächlich hab ich [= ego] mir eher einzelne Schüler [= alter ego] rausgeguckt. [...] Also in der ersten Klasse warens zum Beispiel zwei Mädchen [= alter ego], (..) wo auch im Laufe der / des Praktikums sichtbar war, die haben (.) Probleme mit mit Mathe oder beziehungsweise mit dem Matheunterricht, wie sie ihn bisher äh (.) hatten [= Erleben alter egos, egos Vorwissen über alter ego], und haben für sich selbst eigentlich mit Mathematik schon abgeschlossen [= Erfahrungswelt alter egos ]. [...] [D]ie saßen sehr gut sichtbar für uns [= egos Wahrnehmung von alter ego]. (.) Ähm und die beiden Schülerinnen haben halt (.) die ganze Zeit eher aufs Blatt gestarrt, nicht geschrieben [= Anzeichen am fremden Leib] oder (.) dann auch genervte [= Erleben
6.2 Zur Analysemethode: Die Rekonstruktion von Fremdverstehen
191
alter egos] Blicke [= Zeichen] (..) ähm ausgetauscht [= Handeln mit kommunikativer Absicht; Setzen von Zeichen]. Und (...) die Körperhaltung [= Anzeichen am fremden Leib] hat jetzt auch nicht für / ähm also dafürgesprochen, dass es ihnen leichtfiel [= Erleben alter egos]. Also es war eher son son In-sich-zusammengekauert-sein [= Anzeichen am fremden Leib].“5
Es zeigt sich also, dass in diesem Schritt einem Erzählteil derjenige Begriff aus Schütz‘ Theorie zugeordnet wird, für den er ein anschauliches Exempel darstellt. Um sicherzugehen, dass bei diesem Vorgehen möglichst keine Zuordnung ‚übersehen‘ wird, gehe ich anschließend noch einmal in der entgegengesetzten Richtung vor und überprüfe für jeden Begriff aus Schütz‘ Theorie, ob er durch eine Erzähleinheit zur Anschauung gebracht wird oder nicht. Für den obigen Interviewteil gelangt man durch diesen ‚Überprüfungsschritt‘ beispielsweise zu dem folgenden Ergebnis: Begriff aus Schütz‘ Theorie des Fremdverstehens
Erzählteil
Allgemein ego
Erzählerin
alter ego
„zwei Mädchen“
Erlebnis Erlebnisstrom Reflexion
nimmt Erzählerin (mindestens) im Erzählen vor
Selbstauslegung eigener Erlebnisse Erfassen fremder Erlebnisse
„Probleme mit mit Mathe oder beziehungsweise mit dem Matheunterricht“, „genervt […]“, „dass es ihnen [nicht] leichtfiel“
nicht sinnhafte/präphänomenale Erlebnisse sinnhafte/phänomenale Erlebnisse Erfahrungswelt
„haben für sich selbst eigentlich mit Mathematik schon abgeschlossen“ (Fortsetzung)
5
In der ‚eigentlichen‘ Analyse wird diese Zuordnung mithilfe von Codierungen in MAXQDA vorgenommen. D. h., jeder Begriff der Theorie von Schütz wird als Code angelegt, anschließend wird ein Erzählteil dann mit dem Begriff codiert, den er veranschaulicht. Zugunsten einer übersichtlichen Darstellung bilde ich das Resultat dieses Codierungsprozesses, wie es sich in MAXQDA ergibt, hier nicht ab, sondern stelle es in vereinfachter Form dar.
192
6
Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
(Fortsetzung) Begriff aus Schütz‘ Theorie des Fremdverstehens
Erzählteil
Gerichtetheit/Intentionalität
„eher einzelne Schüler rausgeguckt […] in der ersten Klasse warens zum Beispiel zwei Mädchen“
immanent gerichteter Akt transzendent gerichteter Akt
1. Fokussieren der Wahrnehmung der Erzählerin auf einzelne Schülerinnen und Schüler („einzelne Schüler rausgeguckt“), 2. Erfassen der Erlebnisse der zwei Schülerinnen
unechtes Fremdverstehen echtes Fremdverstehen Handeln ohne kommunikative Absicht Leibesbewegung als Anzeichen: Ausdrucksbewegung
„die beiden Schülerinnen haben halt (.) die ganze Zeit eher aufs Blatt gestarrt, nicht geschrieben“, „Und (…) die Körperhaltung hat jetzt auch nicht für / ähm also dafürgesprochen, dass es ihnen leichtfiel. Also es war eher son son In-sich-zusammengekauert-sein.“
Handeln
„nicht geschrieben“
Verhalten
„aufs Blatt gestarrt“, „In-sich-zusammengekauert-sein“
Personenvertauschung Potentielle eigene Erlebnisse Tatsächliche eigene Erlebnisse Handeln mit kommunikativer Absicht Leibesbewegung als Anzeichen: Ausdruckshandeln
„genervte Blicke ausgetauscht“ (genervt blicken & Blick austauschen)
Zeichen (Handlung)
„genervte Blicke ausgetauscht“ (genervter Blick selbst)
Zeichen (Artefakt) Bedeutungsfunktion eines Zeichens (objektiver Sinn) Ausdrucksfunktion eines Zeichens (subjektiver, okkasioneller Sinn) Setzen von Zeichen/Sinnsetzung
„genervte Blicke ausgetauscht“ (Aufsetzen des Blickes) (Fortsetzung)
6.2 Zur Analysemethode: Die Rekonstruktion von Fremdverstehen
193
(Fortsetzung) Begriff aus Schütz‘ Theorie des Fremdverstehens
Erzählteil
von alter ego erwartete/phantasierte Sinndeutung durch ego tatsächliche Sinndeutung durch ego Personenvertauschung potentieller eigener subjektiver Sinn eines Zeichens Tatsächlicher eigener subjektiver Sinn eines Zeichens Verhältnis Erfüllung oder Nichterfüllung (Sinndeutung zur Sinnsetzung) Verhältnis Erfüllthaben oder Nichterfüllthaben (Sinnsetzung zur Sinndeutung) Um-zu-Motiv Weil-Motiv unechtes Weil-Motiv
Es zeigt sich also, dass es mehrere Begriffe aus Schütz‘ Theorie gibt, denen noch keine Veranschaulichung in Form einer Erzähleinheit zugeordnet werden kann. Je mehr Interviewteile jedoch für ein bestimmtes Fremdverstehen analysiert werden, desto mehr Zuordnungen werden – für gewöhnlich – auch vorgenommen werden können. Es wird sich außerdem zeigen, dass durch die Hinzunahme weiterer Interviewteile die bisherigen Zuordnungen in vielen Fällen ‚angereichert‘ oder spezifiziert werden können. Für den Fall, dass bestimmten Begriffen auch nach der Analyse aller Interviewteile noch keine Erzählteile zugeordnet wurden, darf dann aber selbstverständlich nicht darauf geschlossen werden, dass dasjenige, was die Begriffe zu fassen vermögen, nicht auch Teil des konkreten Fremdverstehens war. Denn Schütz‘ Theorie des Fremdverstehens zielte ja eben genau darauf ab, das Wesen des Phänomens ‚Fremdverstehen‘ zu beschreiben, also zu bestimmen, welche Komponenten in jedem Fremdverstehen vorzufinden sind. Wenn auf eine dieser Komponenten nun in einer Erzählung nicht verwiesen wird, heißt das also vielmehr, dass sie in der Erzählung nicht abgebildet wird, und weniger, dass sie kein Merkmal des konkreten Fremdverstehens ist. Aus der beispielhaften Analyse eines Interviewteils wird auch ersichtlich, dass ein und derselbe Erzählteil mitunter mehreren Begriffen zugeordnet werden kann.
194
6
Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
So wird etwa der Erzählteil ‚genervte Blicke ausgetauscht‘ u. a. als Veranschaulichung der Begriffe ‚Leibesbewegung als Anzeichen: Ausdruckshandeln‘ und ‚Zeichen (Handlung)‘ verortet. In solch einem Fall der mehrdeutigen Zuordnung wird ersichtlich, dass der Erzählteil noch weiter analysiert werden muss. Es muss dann nämlich untersucht werden, welcher Aspekt an ihm es genau ist, der die jeweiligen Begriffe veranschaulicht. So zeigt sich dann beispielsweise, dass es das Blicken und Austauschen des Blickes in ‚genervte Blicke ausgetauscht‘ ist, was als ‚Ausdruckshandeln‘ bezeichnet werden kann, und dass es aber der genervte Blick selbst ist, der als ‚Zeichen‘ gilt.
6.2.3
Zum Kontrastieren mit der mathematikbezogenen Lebensgeschichte
Schließlich werden die bisherigen Ergebnisse der Analyse im dritten und letzten Analyseschritt mit den Ergebnissen der ersten empirischen Untersuchung – der mathematikbezogenen Lebensgeschichte einer untersuchten Person – kontrastiert. In diesen mathematikbezogenen Lebensgeschichten wurden sowohl vergangene Erlebnisse der untersuchten Lehrkräfte nachgezeichnet als auch Strukturen ihres Erlebens. Beide werden nun mit den bisherigen Ergebnissen kontrastiert. An folgenden Fragen orientiert sich diese Gegenüberstellung: • Zeichnet sich ein Zusammenhang zwischen einem erfassten Erlebnis und einem eigenen vergangenen Erlebnis der untersuchten Person ab? (Diese Frage zielt darauf, den Einfluss eigener tatsächlicher Erlebnisse des fremdverstehenden ego auf sein Fremdverstehen rekonstruieren zu können.) • Zeichnet sich ein Zusammenhang zwischen einem erfassten Erlebnis und einem Erlebnis ab, das die untersuchte Person gemäß ihrer Erlebensstruktur vollziehen könnte? (Diese Frage ist darauf gerichtet, den Einfluss eigener potentieller Erlebnisse des fremdverstehenden ego auf sein Fremdverstehen nachzeichnen zu können.) • Zeichnet sich ein Zusammenhang zwischen der Gerichtetheit auf ein bestimmtes Erlebnis und einem eigenen Erlebnis bzw. der Erlebensstruktur der untersuchten Person ab? (Diese Frage zielt darauf ab, den Einfluss des Erlebens bzw. der Erlebensstruktur des fremdverstehenden ego auf seinen Fokus beim Fremdverstehen rekonstruieren zu können.) • Zeichnet sich ein Zusammenhang zwischen der Erlebensstruktur der untersuchten Person und ihrem Erzählen eines erfassten fremden Erlebens ab?
6.3 Eine methodologische Anmerkung …
195
(Diese Frage hat das Ziel, den Einfluss der Struktur des Erlebens des fremdverstehenden ego auf die Darstellung des Fremdverstehens im Interview nachzeichnen zu können.) • Lassen sich anderweitige Auffälligkeiten oder Unklarheiten am Fremdverstehen der untersuchten Person vor dem Hintergrund ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte erklären?
6.3
Eine methodologische Anmerkung: Zu den Zeitlichkeiten einer Erzählung
Zum Abschluss der Darstellung des methodischen Vorgehens möchte ich noch kurz auf eine methodologische Herausforderung eingehen, welche sich in der Analyse der narrativen Interviews, also der Analyse von Erzählungen über vergangenes Fremdverstehen auftut: Die Bestimmung des Zeitcharakters (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 73) bzw. der Zeitlichkeit des Erzählten. An einem Interviewauszug soll diese Herausforderung veranschaulicht werden. Der folgende Erzählteil stammt aus dem narrativen Interview mit Camila. Ihm geht voraus, dass Camila von negativen Erlebnissen erzählt, die Schülerinnen und Schüler während des Bearbeitens eines Mathematiktests vollziehen könnten. Sie nennt als solche Erlebnisse: 1. Die Schülerinnen und Schüler verspüren Angst davor, ihre Eltern über die schlechte Schulnote zu informieren, die sie für ihre Leistungen in diesem Test erhalten werden; 2. Sie haben Angst davor, nicht in die nächsthöhere Klassenstufe versetzt zu werden; 3. Sie schämen sich vor ihren Mitschülerinnen und Mitschülern für ihre schlechte Schulnote. Zu diesem dritten Erlebnis gerät Camila dann in einen Erzählfluss: „Ich weiß nicht, wie die Lehrer (.) / oder nee, die Lehrer haben das zwar nicht so gehandhabt. Die haben keinen Klassenspiegel vorne an die Tafel geschrieben. Aber es machen ja immer noch manche manche Lehrer, (.) wo dann [...] in der Klasse fieberhaft nach der Person gesucht wird, die entweder die beste oder die schlechteste Leistung hat. [...] Wir waren ja auch relativ nah am Anfang des Schuljahres in der Klasse. Und äh beide Lehrerinnen hatten die Klassen auch erst seit dem Schuljahr. Also ich weiß nicht, inwiefern die Klasse auch schon mit den Lehrkräften Tests geschrieben (.) haben. Ich weiß nur, dass sie es dann nicht getan haben, (.) mit dem mit dem Klassenspiegel.“
Möchte man dieser Erzählung eine Zeitlichkeit zuordnen, möchte man also bestimmen, wann sich das in der Erzählung Erzählte zutrug bzw. zuträgt, so stößt man recht schnell auf das Problem, dass diese Erzählung gar nicht auf eine
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6
Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
Zeitlichkeit verweist. Vielmehr tragen einzelne Teile dieser Erzählung ganz verschiedene Zeitcharaktere. So trägt etwa der Erzählteil ‚Ich weiß nicht …‘ in ‚Ich weiß nicht, wie die Lehrer‘ oder ‚ich weiß nicht, inwiefern die Klasse auch schon mit den Lehrkräften Tests geschrieben hat‘ den Zeitcharakter von Camilas gegenwärtigem Bewusstsein. D. h., er verweist auf etwas, das seinem Wesen nach nicht in der objektiven Zeit – oder in anderen Worten: der ‚Weltzeit‘6 (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 81) – fortschreitet, sondern vielmehr in einer subjektiven Zeit, nämlich der Zeitlichkeit von Camilas Bewusstsein. Und zugleich verweist dieser Erzählteil auch auf die Gegenwärtigkeit dieses Bewusstseins, denn Camilas ‚Nichtwissen‘ konstituiert sich ja erst in der Erzählung, genauer: im Erzählen. Denn angenommen, Camila würde gar keine Erzählung vornehmen, so würde
6
Unter ‚Weltzeit‘ verstehen Schütz & Luckmann (2017) die „Zeitstruktur der intersubjektiven Welt“ (S. 70). Diese Zeitstruktur zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: 1. Fortdauer: Die Fortdauer der Weltzeit zeigt sich v. a. dann, wenn ich mich von ihr abkehre. Wenn ich beispielsweise schlafe, mich also zeitweise von der ‚alltäglichen Lebenswelt‘ abkehre, dauert die Weltzeit fort. So bleibt die Zeit während meines Schlafes nicht stillstehen und wenn ich morgens aufwache, „erfahre [ich] die Welt als älter geworden (gestern war Sonntag, heute ist Montag)“ (Schütz & Luckmann, 2017, S. 82). Die Weltzeit wird also als die eigene Zeit transzendierend erlebt (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 81–82). Und auch wenn ich beispielsweise sterbe, mich also nicht nur zeitweise, sondern für immer von der Welt abkehre, dauert die Weltzeit fort: „Ich werde älter, also weiß ich, daß ich sterben werde, und ich weiß, daß die Welt fortdauern wird.“ (Schütz & Luckmann, 2017, S. 83) Während der eigenen Dauer also Grenzen gesetzt sind, zeichnet sich die Welt durch ihre Fortdauer aus (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 83). 2. Zwangsläufigkeit: Die Zwangsläufigkeit der Weltzeit zeigt sich darin, dass es eine „objektive, außerhalb meines Einwirkens liegende Struktur von Gleichzeitigkeit und Abfolge [gibt]. Die Möglichkeit, eine Anzahl von Plänen zu verwirklichen, Handlungen zu unternehmen, Erfahrungen zu haben, ist auch schon nur von der Zeit her begrenzt. Gleichzeitig kann ich nur das eine, vielleicht noch das andere, aber nicht mehr das dritte tun.“ (Schütz & Luckmann, 2017, S. 85) Die zeitliche Abfolge der eigenen Handlungen muss also immer auch nach ‚Dringlichkeitsstufen‘ ausgearbeitet werden (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 85). Schütz & Luckmann (2017) führen hier beispielhaft folgende Situation an: „Ich muß mich rasieren, wobei ich zunächst warten muß, bis das Wasser heiß geworden ist, bevor ich zu einer Unterredung gehe, die eine Wendung in meinem Leben zur Folge haben mag.“ (S. 85) 3. Geschichtlichkeit: Unter der Geschichtlichkeit der Weltzeit ist zu verstehen, dass ich immer in eine bestimmte Zeit und keine andere, also in ‚eine geschichtliche Situation‘ (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 87), hineingeboren worden bin. Durch meine Geburt ist mir – sowie allen meinen Mitmenschen – die eigene geschichtliche Situation auferlegt (vgl. Schütz & Luckmann, 2017, S. 87). Menschen in der Vergangenheit wurden in eine andere geschichtliche Situation geboren. Diese ist mir jedoch nicht zugänglich, da die Weltzeit irreversibel ist. Geschichtlichkeiten können sich auch nicht wiederholen: „,Gleiches‘, wenn es sich zum zweiten Mal ereignet, ist nicht mehr das erste, sondern das zweite ‚Gleiche‘.“ (Schütz & Luckmann, 2017, S. 87).
6.3 Eine methodologische Anmerkung …
197
sie genau dieses Bewusstseinserleben – ihr ‚Nichtwissen‘ – höchstwahrscheinlich nicht vollziehen.7 Schreitet man in der Analyse der obigen Erzählung weiter voran und betrachtet den Erzählteil ‚die Lehrer haben das zwar nicht so gehandhabt. Die haben keinen Klassenspiegel vorne an die Tafel geschrieben‘, so wird ersichtlich, dass dieser Teil wiederum durch einen ganz anderen zeitlichen Charakter gekennzeichnet ist als der vorherige. Dieser Teil verweist nämlich auf die Zeitlichkeit der vergangenen Unterrichtssituation. Er verweist also auf etwas, das zum einen in der Vergangenheit liegt und das zum anderen in der objektiven Zeit fortschritt, dass also den Zeitcharakter der Weltzeit trägt. Und betrachtet man dann den nächsten Erzählteil (‚Aber es machen ja immer noch manche manche Lehrer, (.) wo dann […] in der Klasse fieberhabt nach der Person gesucht wird, die entweder die beste oder die schlechteste Leistung hat.‘), so zeigt sich, dass dieser noch einen anderen Zeitcharakter trägt. Denn dieser Erzählteil zeichnet sich durch eine gewisse ‚Allzeitlichkeit‘ aus; er verweist weniger auf ein konkretes Ereignis als vielmehr auf eine Struktur. Es zeichnet sich also recht eindeutig ab: Verschiedene Erzählteile können auf verschiedene Zeitlichkeiten verweisen; es kann also keinesfalls von der Zeitlichkeit einer Erzählung die Rede sein. In der Analyse einer Erzählung stellt sich folglich immer auch die Frage, auf welche Zeitlichkeit denn ein bestimmter Erzählteil nun verweist. Und in Vorbereitung auf eine solche Analyse muss dann die Frage geklärt werden, auf welche Zeitlichkeit ein bestimmter Erzählteil denn überhaupt verweisen kann. In meinem Versuch, diese Frage zu beantworten, habe ich die folgenden fünf möglichen Zeitlichkeiten identifiziert:
7
Der Zeitlichkeit des gegenwärtigen Bewusstseins kann die Zeitlichkeit des vergangenen Bewusstseins gegenübergestellt werden. So nimmt Camila an einer anderen Stelle des Interviews beispielsweise folgende Erzählung vor: „Und das hat man schon bei der Bearbeitung gesehen, dass ähm (..) ja manche Schüler da mit mit einem (..) hohen Tempo dann durch sind und schon recht früh fertig waren“ und „der hatte total Freude an a / (.) an Mathe und am Matheunterricht und äh bei dem merkte man auch, der würde gerne schneller äh vorangehen als die Klasse“. Die durch Unterstreichung markierten Segmente verweisen auf Bewusstseinserlebnisse, die Camila in der Vergangenheit vollzogen hat. D. h. insbesondere, diese Bewusstseinserlebnisse vollziehen sich nicht im Interview, sondern wurden zum Zeitpunkt des Interviews bereits vollzogen. Sie konstituieren sich also nicht erst im Erzählen; würde Camila also keine Erzählung vornehmen, so würden diese Bewusstseinserlebnisse dennoch als vergangene Erlebnisse existieren.
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
1. Die Zeitlichkeit der Unterrichtssituation: Auf diese Zeitlichkeit wird durch die Erzählung konkreter Ereignisse verwiesen, die sich in einer Unterrichtssituation ereigneten. Diese Zeitlichkeit trägt Vergangenheitscharakter, da die Unterrichtssituation zum Zeitpunkt des Erzählens immer bereits in der Vergangenheit liegt. Sie transzendiert außerdem die subjektive Zeit der Personen, die an der Unterrichtssituation teilnehmen, denn sie ist an die objektive Zeit der Welt bzw. an die Weltzeit gebunden. Dies sei kurz veranschaulicht: Blickt eine Schülerin während des Unterrichts für eine längere Zeit aus dem Fenster, wendet sie sich also zeitweise vom Unterrichtsgeschehen ab, so wird sie davon ausgehen müssen, dass der Unterricht während ihrer ‚Abwendung‘ nicht stillsteht. Vielmehr wird sich das Unterrichtsgeschehen während ihrer Abkehr fortsetzen. Und sie wird bei ihrer ‚Rückkehr‘ zum Unterricht beispielsweise bemerken, dass zwischenzeitlich ein neues Thema begonnen oder eine weitere Aufgabe gestellt wurde oder vielleicht auch, dass es schon längst zur Pause geklingelt hat. Auf der Ebene der Zeitlichkeit der Unterrichtssituation ist eine Unterscheidung zwischen Selbstsicht (Sicht der Person A, die von der Unterrichtssituation erzählt) und Fremdsicht (Sicht der Person B, der von der Unterrichtssituation erzählt wird) auf die Unterrichtssituation nur in Ungleichzeitigkeit möglich. Da Person B selbst an der Unterrichtssituation nicht teilnahm oder diese nicht beobachtete, kann sich ihre Sicht auf diese Situation nämlich nur im Nachhinein – und auch nur über die Erzählung von Person A – konstituieren, z. B. in Form von rekonstruktiven Hypothesen über das Unterrichtsgeschehen. Auf die Zeitlichkeit der Unterrichtssituation kann in Erzählungen dadurch verwiesen werden, dass Aussagen über das vergangene Unterrichtsgeschehen getroffen werden, z. B.: • „Und das hat man schon bei der Bearbeitung gesehen, dass ähm (..) ja manche Schüler da mit mit einem (..) hohen Tempo dann durch sind und schon recht früh fertig waren auch mit dem Test. Dann Zeit hatten, das nochmal zu kontrollieren. Und ähm (.) und andere haben halt sehr sehr lange an einer Aufgabe (.) gesessen und gebraucht.“ • „Ja das das war eigentlich so so die beobachtete Situation, wie wie eigentlich der gleiche Umstand von verschiedenen Schülern aufgefasst wurde. Und in einem Punkt dann ähm, (.) wie teilweise auch Angst und äh Verzweiflung hervorgeruf / äh hervor hervorgerufen haben und in der anderen Situation oder für andere Schüler dann wie so eine Art äh Bestätigung (.) auch des eigenen Könnens. Und ähm (.) das war erstmal so so die formale Beobachtung.“ • „Ich weiß nicht, wie die Lehrer (.) / oder nee, die Lehrer haben das zwar nicht so gehandhabt. Die haben keinen Klassenspiegel vorne an die Tafel geschrieben.
6.3 Eine methodologische Anmerkung …
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Aber es machen ja immer noch manche manche Lehrer, (.) wo dann aber in der Klasse fieberhabt nach der Person gesucht wird, die entweder die beste oder die schlechteste Leistung hat.“ 2. Die Zeitlichkeit der Interpretation der Unterrichtssituation: Dieser Zeitlichkeit sind Erzählteile zuzuordnen, in denen konkrete Bewusstseinsereignisse – genauer: Interpretationsereignisse – der erzählenden Person thematisiert werden. Sie tragen den zeitlichen Charakter der subjektiven Zeit dieser Person. Die Bewusstseinsereignisse können Vergangenheits- oder Gegenwartscharakter tragen: So kann es sich um vergangene Interpretationen der erzählenden Person handeln, z. B. um Interpretationen, die während der vergangenen Unterrichtssituation angestellt wurden. In diesem Fall geht der Interpretationsakt also dem Erzählakt voraus, das Erzählen erfüllt bezüglich der Interpretation nun eine kommunikative Funktion, nämlich: die Funktion, von der Interpretation zu berichten. Beispielhafte Erzählteile, denen diese Zeitlichkeit zugeschrieben werden kann, sind: • „Und das hat man schon bei der Bearbeitung gesehen, dass ähm (..) ja manche Schüler da mit mit einem (..) hohen Tempo dann durch sind und schon recht früh fertig waren auch mit dem Test. Dann Zeit hatten, das nochmal zu kontrollieren. Und ähm (.) und andere haben halt sehr sehr lange an einer Aufgabe (.) gesessen und gebraucht.“ • „Und da wurde recht schnell ersichtlich, dass dass es, wie häufig äh bei bei Tests, Schüler und Schülerinnen gab, die mit dem Thema super zurechtkamen.“ • „[D]er hatte total Freude an a / (.) an Mathe und am Matheunterricht. Und äh bei dem merkte man auch, der würde gerne schneller äh vorangehen als die Klasse.“ Die Zeitlichkeit der Interpretation der Unterrichtssituation kann sich aber auch in der Erzählung von gegenwärtigen Interpretationen zeigen, also von Interpretationen, die im Moment des Erzählens angestellt werden. In diesem Fall erfüllt das Erzählen eine interpretative Funktion. Es ist dann also das, was erzählt wird, nicht nur für diejenige Person, der es erzählt wird, ‚neu‘, sondern auch für die erzählende Person selbst. Erzählteile, die diese Zeitlichkeit veranschaulichen können, sind: • „Also ich weiß nicht mehr, ob es wirklich / (.) mmh jetzt, wo ich drüber nachdenke, (.) ähm (..) ich glaube, die Tests wurden zurückgegeben. (..) Ich bin mir jetzt
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
tatsächlich, wo nochmal nachgefragt wird, gar nicht mehr so sicher, ob er wirklich ausgegeben wurde.“ • „Besonders bei den Tiefpunkten bin ich mir jetzt nicht so sicher, ob das dann wirklich so aufgefasst wurde. Ich denke, äh beim Hochpunkt lieg ich vielleicht doch ganz richtig, weil ähm (.) der Schüler sehr enthusiastisch bezüglich Mathe war und auch ähm schon versucht hat, weiterzudenken. (.) Gut obs dann wirklich nen Hochpunkt war oder nen Auslöser für nen Hochpunkt weiß ich nicht, aber ähm ich denk jetzt nicht, dass es gleichgültig war, sondern er sich auf die gute Note zum Beispiel gefreut hat.“ • „Bei den Mädchen weiß ich nicht, inwiefern deren Verhalten nur jetzt auf Mathe zutrifft vielleicht.“ Je nachdem, ob von einer vergangenen oder einer gegenwärtigen Interpretation erzählt wird, kann auf Ebene der Interpretation einer Unterrichtssituation eine Unterscheidung zwischen Selbstsicht (Sicht der Person A, die erzählt) und Fremdsicht (Sicht der Person B, der erzählt wird) auf die Interpretation in Ungleichzeitigkeit oder Gleichzeitigkeit vorgenommen werden: Handelt es sich um ein vergangenes Bewusstseinsereignis von Person A, welches thematisiert wird, so kann Person B ihre Sicht auf dieses Bewusstseinsereignis erst im Nachhinein – und auch nur über die Erzählung von Person A – konstituieren. Handelt es sich jedoch um ein gegenwärtiges Bewusstseinsereignis von Person A, so kann es Person B möglich sein, dieses auch in seinem Vollzug – nämlich über das Deuten von Anzeichen – zu erfassen. Person B kann so mitunter zu Deutungen gelangen, die nicht unbedingt mit den erzählten Deutungen von Person A übereinstimmen müssen. 3. Die Zeitlichkeit der erzählten Interpretation der Unterrichtssituation: Diese dritte Zeitlichkeit weicht von der zweiten Zeitlichkeit dadurch ab, dass nicht der zeitliche Charakter der Interpretation bestimmt wird, sondern der erzählten Interpretation, also der Interpretation in der Weise, wie sie erzählt wird. Im Gegensatz zur Interpretation – oder vielmehr: zum Vollzug des Interpretationsaktes – vermag die erzählte Interpretation in der objektiven Zeit ‚hin- und herzuspringen‘, es kann z. B. zuerst von der Interpretation eines Ereignisses und erst danach von dem interpretierten Ereignis selbst erzählt werden. In der objektiven Zeit hingegen wird sich entweder zuerst das Ereignis und dann die Interpretation dieses Ereignisses vollzogen haben oder Ereignis und Interpretation werden sich in Gleichzeitigkeit aufbauen. Die Zeitlichkeit der erzählten Interpretation ist also an eine subjektive Zeit der erzählenden Person gebunden. Bei der Zeitlichkeit der erzählten Interpretation handelt es sich gewissermaßen um die Zeitlichkeit des Textes, wie er im Erzählen einer Interpretation produziert
6.3 Eine methodologische Anmerkung …
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wird. Auf dieser Ebene lassen sich Fragen formulieren wie ‚Was wird zuerst erzählt?‘, ‚Was erst später?‘, ‚Welche Reihenfolge haben die erzählten Teile?‘ etc. Auf der Ebene der erzählten Interpretation ist eine Unterscheidung zwischen Selbstsicht (Sicht der Person A, die erzählt) und Fremdsicht (Sicht der Person B, der erzählt wird) in Gleichzeitigkeit möglich. Denn die erzählte Interpretation konstituiert sich immer erst im Akt des Erzählens von der Interpretation. Und diesen vermag Person B als Gesprächspartnerin von Person A in seinem Vollzug zu beobachten. Erzählteile, die den zeitlichen Charakter der erzählten Interpretation einer Unterrichtssituation tragen, sind beispielsweise: • „Ok äh soll ich mit dem Hoch- oder mit dem Tiefpunkt anfangen oder was?“ „Wie du möchtest.“ „Ok naja irgendwie überschneiden die sich ja auch beide, also (.) ja / Und zwar war es so, wir haben den ersten Tag hospitiert und dann auch noch den zweiten. Und äh in jeweils der ersten Stunde schrieben die Lehrkräfte Tests (.) äh über das gerad behandelte Thema.“ • „Ja das das war eigentlich so so die beobachtete Situation, wie wie eigentlich der gleiche Umstand von verschiedenen Schülern aufgefasst wurde. Und in einem Punkt dann ähm, (.) wie teilweise auch Angst und äh Verzweiflung hervorgeruf / äh hervor hervorgerufen haben und in der anderen Situation oder für andere Schüler dann wie so eine Art äh Bestätigung (.) auch des eigenen Könnens. Und ähm (.) das war erstmal so so die formale Beobachtung.“ • „Die beiden Schülerinnen / also man muss aber auch dazu sagen, die saßen sehr gut sichtbar für uns. (.) Ähm und die beiden Schülerinnen haben halt (.) die ganze Zeit eher aufs Blatt gestarrt, nicht geschrieben oder (.) dann auch genervte Blicke (..) ähm ausgetauscht.“ 4. Die Zeitlichkeit der Erzählsituation und des Erzählens: Diese Zeitlichkeit verweist auf die gegenwärtige Situation, in der die Erzählung vorgenommen bzw. das Erzählen vollzogen wird. Sie verweist also auf die konkrete Interviewsituation, z. B. wenn die erzählende Person sagt ‚Ich erzähle das besser nochmal, weil es hier eben so laut war‘. Diese Zeitlichkeit ist also in die objektive Zeit der Welt eingebunden. Wie schon auf Ebene der erzählten Interpretation ist auch auf Ebene der Erzählsituation und des Erzählens die Unterscheidung zwischen Selbstsicht (Sicht der Person A, die erzählt) und Fremdsicht (Sicht der Person B, der erzählt wird) in Gleichzeitigkeit möglich. Denn Person B wohnt der Erzählsituation selbst bei,
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
ihre Sicht auf diese konstituiert sich also parallel zur Sicht der erzählenden Person A. Beispielhafte Erzählteile, die auf diese Zeitlichkeit verweisen, sind: • „Also ich weiß nicht mehr, ob es wirklich / (.) mmh jetzt, wo ich drüber nachdenke, (.) ähm (..) ich glaube, die Tests wurden zurückgegeben. (..) Ich bin mir jetzt tatsächlich, wo nochmal nachgefragt wird, gar nicht mehr so sicher, ob er wirklich ausgegeben wurde.“ • „Ähm (.) ich guck mal, ob ich noch irgendwas noch aufgeschrieben hab. (…) Ja und dass es dann […]“ 5. Die Allzeitlichkeit: Auf diese Zeitlichkeit verweisen Erzählteile, in denen nicht von einem konkreten Ereignis, sondern vielmehr von einer sich wiederholenden oder einer wiederholbaren Art von Ereignis erzählt wird. Die erzählende Person stellt in ihrer Erzählung also eine Ereignisstruktur oder Gesetzmäßigkeit heraus. Auf diese Zeitlichkeit verweisen auch solche Erzählteile, in denen die erzählende Person Theorien bildet. Diese Theorien können sich auf sie selbst, aber auch auf ihre Umwelt beziehen. Beispielhafte Erzählteile, in denen die erzählende Person allzeitliche Aussagen über sich selbst macht, sind: • „In der Schule war mein / (.) für ne lange Weile Geschichte mein absolutes Hassfach, weil ich mir Zahlen sehr schlecht merken kann (.) ähm und äh dann auch (..) damit immer sehr sehr Probleme hatte, mir das einzuprägen.“ • „Ich glaub, eine meiner Stärken ist es, dann doch recht spontan zu sein und umplanen zu können und mich anpassen zu können.“ • „Ich bin, glaub ich, nen recht realistischer Mensch. Ich geh nicht äh mit der (…) mit der Einstellung ran, dass jeder Mathematik lieben muss (.) oder sollte.“ Erzählteile, in denen die erzählende Person allzeitliche Aussagen über ihre Umwelt trifft, sind beispielsweise: • „Ich weiß nicht, wie die Lehrer (.) / oder nee, die Lehrer haben das zwar nicht so gehandhabt. Die haben keinen Klassenspiegel vorne an die Tafel geschrieben. Aber es machen ja immer noch manche manche Lehrer, (.) wo dann aber in der Klasse fieberhabt nach der Person gesucht wird, die entweder die beste oder die schlechteste Leistung hat.“ • „Und da wurde recht schnell ersichtlich, dass dass es, wie häufig äh bei bei Tests, Schüler und Schülerinnen gab, die mit dem Thema super zurechtkamen.“
6.4 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen von Fremdverstehen …
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• „Ja und dann auch im Umkehrschluss aber, dass äh Schülerinnen und Schüler, die das Thema nicht so verstanden haben, dann diese Angst haben, (.) ah ich bekomm schon wieder ne schlechte Note. Wie soll ich das meinen Eltern erklären? (.) Und ähm und vielleicht auch ähm (..) dann die Angst vielleicht der Nichtversetzung (..) in die nächste Schulstuf / äh in die nächste Klassenstufe (.) dann da mit reinspielt. Falls das nicht das einzige Fach sein sollte, äh wo die Leistungen nicht dem entsprechen, dass man ne Klasse aufrückt. Aber auch dann vielleicht ne Scham gegenüber den Mitschülern, die vielleicht auch mit reinspielen kann.“ Zum Abschluss der Erläuterung der fünf möglichen Zeitlichkeiten, auf die ein Erzählteil verweisen kann, noch ein kurzer Hinweis: In der Ergebnisdarstellung – also in den Rekonstruktionen des Fremdverstehens – wird sich zwar selten ein expliziter Verweis auf diese Zeitlichkeiten finden. Sie sind jedoch für die Analysen von großer Bedeutung, da nur mit ihnen überhaupt relevante Erzählteile identifiziert werden können. Und auch über diese ‚bloße Zuordnung‘ hinaus werden sie wirksam: Es kann in der Analyse nämlich immer auch die weiterführende Frage gestellt werden, warum bzw. wozu ein bestimmter Teil der Erzählung in einer bestimmten Zeitlichkeit vorgenommen wird. Oder für den Fall, dass die Zeitlichkeit innerhalb einer Erzählung (häufig) wechselt: Warum oder wozu wird in der Erzählung (häufig) zwischen den verschiedenen Zeitcharakteren gewechselt?
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Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen von Fremdverstehen im Mathematikunterricht
In diesem Abschnitt sollen die Ergebnisse der zweiten empirischen Untersuchung dargestellt, also das Fremdverstehen der Lehrkräfte Camila und Luisa in bestimmten Situationen im Mathematikunterricht rekonstruiert werden. Die Analysedokumente ermöglichen es zwar nicht, den zeitlichen Verlauf des Fremdverstehens von Luisa und Camila, also ihre Fremdverstehensprozesse als solche zu rekonstruieren. Sie erlauben es aber, wesentliche Merkmale ihres Fremdverstehens nachzuzeichnen. Ich gehe dabei jeweils wie folgt vor: Erstens schildere ich die Bedingungen, unter denen die Erzählungen über das Fremdverstehen von Lehrkräften erhoben wurden. Hierbei gehe ich auf die Interviewsituation und den Interviewverlauf ein. Zweitens beschreibe ich dann die Bedingungen, unter denen die Lehrkräfte das Fremdverstehen vollzogen, welches hier einer Analyse unterzogen wird. Drittens zeichne ich dann das Fremdverstehen der Lehrkräfte nach. Hier werde ich zunächst das Fremdverstehen der Lehrkräfte in verschiedenen
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
Unterrichtssituationen rekonstruieren. Anschließend werde ich herausarbeiten, welche Strukturen sich im Fremdverstehen der Lehrkräfte abzeichnen.
6.4.1
Fremdverstehen CAMILA
6.4.1.1 Zur Interviewsituation und zum Interviewverlauf Das zweite narrative Interview mit Camila führte ich im November 2020 durch. Ihr erstes Interview, also das biographisch-narrative Interview, lag zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Monate zurück. Und ihr Praktikum, in dessen Rahmen sie die Beobachtungsaufträge bearbeitete, welche als ‚Erzählgrundlage‘ für das zweite narrative Interview dienen, lag sechs Wochen zurück. Den genauen Termin für das zweite Interview vereinbarten wir bereits am Ende des ersten Interviews. Camila bat bei der Terminvereinbarung darum, das zweite Interview erst einige Wochen nach dem – zu diesem Zeitpunkt noch bevorstehenden – Semesterbeginn zu führen. Wir führten das Interview um 9 Uhr morgens in meinem Büro an der Universität. Camila teilte mir im Voraus mit, dass sie bis ca. 12 Uhr Zeit für das Interview hätte. Wir standen also unter keinem großen zeitlichen Druck. Das Interview erstreckte sich dann über einen Zeitraum von 1 h 08 min und fand ohne eine Unterbrechung oder Pause statt. Zu Beginn des Interviews erläuterte ich Camila, dass mein Hauptinteresse dieses Mal den Situationen galt, die sie im Praktikum beobachtet hatte. Ich erläuterte mein Forschungsvorhaben jedoch nicht weiter im Detail, um zu vermeiden, dass ihre Erzählung dadurch zu stark beeinflusst würde. Ich erwähnte stattdessen kurz die Unterschiede in der Gesprächsführung im Vergleich zum ersten Interview, dass ich also dieses Mal zwei Erzählimpulse setzen und zu beiden dieser Impulse eine freie Erzählung von ihr erwarten würde. Ich kündigte auch an, dass ich sie – wie beim ersten Interview – in ihrer Erzählung nicht unterbrechen, sondern meine Fragen erst im Anschluss an ihre Erzählung stellen würde. Camila wirkte während ihres Interviews – ähnlich wie im ersten Interview – sehr zurückhaltend. Ihre freien Erzählungen, welche auf meine zwei Erzählimpulse folgten, fielen recht knapp aus. Sie verblieb in ihnen außerdem auf einer sehr abstrakten Ebene: Zum Kontext der beobachteten Situation erzählte sie beispielsweise nur, dass „wir […] den ersten Tag hospitiert [haben] und dann auch noch den zweiten“ und dass „in jeweils der ersten Stunde […] [durch] die Lehrkräfte Tests (.) äh über das grad behandelte Thema“ geschrieben wurden. Sie führte nicht näher aus, um den ‚ersten Tag‘ wovon es sich handelte, wer sich hinter ‚wir‘ verbarg oder aber, welches das ‚behandelte Thema‘ war. (Im Nachfrageteil, also zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews, konnten diese
6.4 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen von Fremdverstehen …
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Informationen dann erhoben werden.) In der anschließenden Erzählung erwähnte Camila außerdem ausschließlich Erlebnisse und Handlungen, die mehrere, nicht genauer bestimmte Schülerinnen und Schüler vollzogen hatten. D. h., sie erzählte nicht von Erlebnissen und Handlungen einzelner, bestimmter Schülerinnen oder Schüler, sondern vielmehr von Erlebnissen und Handlungen einer Gruppe von nicht näher bestimmten Schülerinnen und Schülern. Auf Nachfrage konkretisierte Camila ihre Erzählung jedoch: Sie führte u. a. Details zu ihrem Praktikum, ihren Mitpraktikantinnen und Mitpraktikanten oder auch zum Thema des Tests an. Sie erzählte außerdem, auf welche konkreten Schülerinnen und Schüler sie sich in ihren Beobachtungen richtete. Es schien fast, als orientierte Camila sich in ihren Erzählungen an dem Konkretions- bzw. Abstraktionsniveau, das ihr durch mich – in meiner Rolle als interviewende Person – ‚vorgegeben‘ wurde: Auf einen allgemein gehaltenen Erzählimpuls reagierte sie mit allgemein gehaltenen Erzählungen, auf spezifische Nachfragen hingegen antwortete sie mit spezifischen Erzählungen. Nach Ende des Interviews blieb Camila – ähnlich wie nach dem ersten Interview – noch ca. 45 min in meinem Büro und erzählte von ihren Erlebnissen während der COVID-19-Pandemie. Sie erzählte dabei von ihrem Privatleben, ihrem Studium im Allgemeinen und ihrem Mathematikstudium im Besonderen. Dabei war sie es, welche diese Themen in das Gespräch einführte. Insgesamt hinterließ das Interview mit Camila – wie auch schon das erste Interview mit ihr – einen paradoxen Eindruck bei mir, denn Camila strahlte hohe und niedrige Gesprächsbereitschaft zugleich aus: Während sie im Interviewkontext wenig gesprächsbereit wirkte, da sie relativ knapp und zurückhaltend erzählte, wirkte sie im Anschluss jedoch sehr gesprächsbereit, da sie noch lange blieb und neue, mitunter recht private Themen in unser Gespräch einführte.
6.4.1.2 Zu den situativen Bedingungen des Fremdverstehens von Camila Camila vollzieht ihr Fremdverstehen, das hier einer Analyse unterzogen wird, im September 2020 im Rahmen eines Unterrichtspraktikums für das Fach Mathematik. Dieses Praktikum absolviert sie im Mathematikunterricht zweier 9. Klassen an einem Berliner Gymnasium. Zu Beginn ihres Praktikums hospitiert Camila jeweils eine Doppelstunde im Unterricht der Mathematiklehrkräfte beider Klassen. Erst im Anschluss an diese Hospitationen übernehmen Camila und ihre Mitpraktikantinnen und Mitpraktikanten für zwei Wochen die Planung und Durchführung des Mathematikunterrichts. Das Fremdverstehen, welches ich im Folgenden analysieren werde, vollzieht sich während der Hospitationsstunden zu
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
Beginn des Praktikums, also noch bevor Camila selbst in den Klassen unterrichtet hat. In beiden Hospitationsstunden wird zum Abschluss des Unterrichtsthemas ‚Satz des Pythagoras‘ ein Test geschrieben. Während des Tests sitzen die insgesamt drei hospitierenden Praktikantinnen und Praktikanten „hinten im Klassenzimmer“. Sie bewegen sich nicht im Raum, sondern bleiben auf den ihnen zugeteilten Plätzen sitzen und beobachten von dort die Schülerinnen und Schüler („haben dann […] auf die Schüler […] geachtet“). Ihnen kommt eine Kopie des Tests zu: „Wir haben die Testblätter bekommen und haben das mal durchgeguckt und haben selbst für uns auch (..) geguckt, inwiefern / also, was wir gleich oder was wir anders machen würden in dem Test.“ Auf die Frage, wie Camila es damit ging, dass in den ersten Hospitationsstunden ein Test geschrieben wurde, antwortet sie: „Ehrlich gesagt, fand ich es doof. (..) Ähm weil man da die Klasse nicht richtig beobachten kann. (.) Also es ist [...] nach dem beziehungsweise vor dem Test die Klasse ja sowieso immer anders durch die Aufregung und die Ners / Nervosität. Entweder wenn der Test in der zweiten Stunde geschrieben wird (.) oder danach, sind die Schüler häufig aufgekratzt nach dem Test oder und haben nen sehr sehr hohen Redebedarf, sich über den den Test auszutauschen. Wie der lief, was man rausbekam. (.) Und dementsprechend war ich dann doch nicht so begeistert, dass die (.) also die einzelne Doppelstunde vor dem eigenen Unterrichten dann nen Test mit der anschl / mit der anschließenden Stunde war. Weil man dann nicht wirklich nen Gefühl von der Klasse und der natürlichen (..) Verhaltensweise mitbekommt.“
Camila stellt dem gegenüber, dass es für ihr bevorstehendes Praktikum „andererseits [...] aber auch praktisch [war], weil dann das Thema abgeschlossen war und man [...] ohne [...] darauf achtzugeben, was die Lehrkraft jetzt wirklich in der Stunde davor gemacht hat, dann mit dem eigenen Thema anfangen [konnte]“.
Als sie später nochmal konkret danach gefragt wird, wie sie selbst die Hospitationsstunden erlebte, ob diese beispielsweise für sie eher einen Hoch- oder Tiefpunkt im Erleben des eigenen Praktikums darstellten, nimmt Camila folgende Einschätzung vor: „Für mich selbst (.) weder nen Hoch- oder Tiefpunkt. Das war eher so so neutral.“
6.4.1.3 Die Rekonstruktion des Fremdverstehens von Camila In ihrem Interview erzählt Camila in unterschiedlicher Ausführlichkeit von verschiedenen Fremdverstehensprozessen. In ihrer Eingangserzählung, also zu
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Beginn des Interviews, erwähnt sie dabei nur unkonkrete alter egos, d. h., sie erzählt von Erlebnissen und Handlungen, die mehrere, nicht genauer bestimmte Schülerinnen und Schüler beider 9. Klassen vollzogen: „Und da wurde recht schnell ersichtlich, dass dass es, wie häufig äh bei bei Tests, Schüler und Schülerinnen gab, die mit dem Thema super zurechtkamen. [...] Aber auch Schüler, die ein wenig äh (.) verzweifelten an dem Test. [...] [M]anche Schüler [sind] da mit mit einem (..) hohen Tempo dann durch [...] und [waren] schon recht früh fertig [...] auch mit dem Test. [Hatten] dann Zeit [...], das nochmal zu kontrollieren. Und ähm (.) und andere haben halt sehr sehr lange an einer Aufgabe (.) gesessen und gebraucht. Und (.) da hat man teilweise dann auch recht verzweifelte Blicke gesehen. Vielleicht auch mal zum Nachbarn rüber. [...] das war eigentlich so so die beobachtete Situation, wie wie eigentlich der gleiche Umstand von verschiedenen Schülern aufgefasst wurde. Und in einem Punkt dann ähm, (.) wie teilweise auch Angst und äh Verzweiflung hervorgeruf / äh hervor hervorgerufen [...] [wurde] und in der anderen Situation oder für andere Schüler dann wie so eine Art äh Bestätigung (.) auch des eigenen Könnens.“
Im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich jedoch, dass sich Camilas Fremdverstehen – zumindest teilweise – eigentlich auf ganz konkrete alter egos gerichtet hatte („tatsächlich hab ich mir eher einzelne Schüler rausgeguckt“), sie diese in der Eingangserzählung nur nicht erwähnte. Insgesamt lassen sich aus Camilas Erzählungen drei alter egos rekonstruieren, deren Erlebnisse und Handlungen sie in den Blick nimmt. Anhand dieses Merkmals – dem alter ego ihres Fremdverstehens – lassen sich die von Camila dargestellten Fremdverstehensprozesse also voneinander unterscheiden: • Fremdverstehen I, in welchem Camila auf die Erlebnisse und Handlungen eines Jungen der Klasse A gerichtet ist, • Fremdverstehen II, welches sich auf die Erlebnisse und Handlungen zweier Mädchen derselben Klasse A richtet sowie • Fremdverstehen III, in welchem Camila die Erlebnisse und Handlungen aller Schülerinnen und Schüler der Klasse B in den Blick nimmt. In den folgenden Ausführungen soll jedes Fremdverstehen nun zunächst einzeln rekonstruiert und daran anschließend einige Hypothesen zu Camilas Fremdverstehen ‚im Allgemeinen‘ diskutiert werden.
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6.4.1.3.1 Fremdverstehen I: „der würde gerne schneller äh vorangehen als die Klasse“ Im Fremdverstehen I ist Camila (ego) auf einen Schüler der 9. Klasse (alter ego) gerichtet. Die Unterrichtsstunde, in der Camila dieses Fremdverstehen vollzieht, stellt den Erstkontakt mit diesem Schüler dar. Camila besitzt also keinerlei Vorwissen über ihn. In der Unterrichtsstunde schreibt die Klasse einen Test zum Thema ‚Satz des Pythagoras‘; Camila nimmt das Erleben und Verhalten des Schülers während seiner Bearbeitung dieses Tests in den Blick. Mit dieser Blicknahme vollzieht sie einen transzendent gerichteten Akt, da der intentionale Gegenstand ihrer Blicknahme (= Erleben und Verhalten des Schülers) nicht Teil ihres eigenen Erlebnisstroms ist. Zum Erleben und Verhalten des Schülers erzählt Camila: „[D]a wurde recht schnell ersichtlich, dass dass es, wie häufig äh bei bei Tests, Schüler und Schülerinnen gab, die mit dem Thema super zurechtkamen. [...] Und das hat man schon bei der Bearbeitung gesehen, dass ähm (..) ja manche Schüler da mit mit einem (..) hohen Tempo dann durch sind und schon recht früh fertig waren auch mit dem Test. Dann Zeit hatten, das nochmal zu kontrollieren.“8 „Und der Schüler [...], der damit keine Probleme hatte, hat geschrieben und geschrieben, hat mal im Raum geguckt, um zu überlegen, und hat dann weitergeschrieben und äh war recht schnell fertig und hat sich dann im Raum umgeguckt, um zu gucken, (..) ja wie viel Zeit hab ich noch? Wie kommen die anderen voran?“ „Es [war] einer, der der hatte total Freude an a / (.) an Mathe und am Matheunterricht. Und äh bei dem merkte man auch, der würde gerne schneller äh vorangehen als die Klasse.“ „[D]as war eigentlich so so die beobachtete Situation, wie [der Test] [...] so eine Art äh Bestätigung (.) auch des eigenen Könnens [hervorgerufen hat].“
Camila kommt in ihrem Fremdverstehen also zu dem Ergebnis, dass der Schüler während der Bearbeitung des Tests folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollzieht: EH1. Er beherrscht die mathematischen Inhalte, die dem Thema ‚Satz des Pythagoras‘ zuzuordnen sind (‚mit dem Thema super zurechtkamen‘). Mit dieser 8
Wie zuvor erwähnt, bezieht sich Camila in ihrer Eingangserzählung zunächst auf unkonkrete alter egos und klärt erst im Nachfrageteil auf, dass und auf welche konkreten alter egos sie sich in ihrem Fremdverstehen richtete. Dieses Zitat entstammt ihrer Eingangserzählung, deshalb scheint sie sich auf die Erlebnisse und Handlungen mehrerer alter egos zu richten (‚Schüler und Schülerinnen […], die mit dem Thema super zurechtkamen‘). Im Nachfrageteil erklärt sie rückwirkend, dass sie sich dabei aber eigentlich auf die Erlebnisse des einzelnen Schülers der 9. Klasse bezog.
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Deutung verweist Camila darauf, dass der Schüler sich die Inhalte wohl zuvor im Unterricht oder auch außerhalb des Unterrichts erfolgreich erarbeitete. Als Anzeichen für seinen sicheren Umgang mit Inhalten zum Thema ‚Satz des Pythagoras‘ deutet Camila die Testbearbeitung des Schülers (‚Und das hat man schon bei der Bearbeitung gesehen‘). Hiermit meint sie nicht das Bearbeitete, also beispielsweise die Aufgabenlösungen des Schülers, die ihr im Nachhinein zugänglich wären und die als Artefakt darauf verweisen könnten, dass er die mathematischen Inhalte beherrscht. Sondern sie scheint vielmehr das Bearbeiten des Tests zu meinen, also ein Handeln des Schülers. Als ein solches erfasst sie, dass der Schüler den Test mit einer hohen Geschwindigkeit bearbeitet (‚mit einem (..) hohen Tempo dann durch‘). Ihr dienen für dieses Handeln mehrere Veränderungen am Leib des Schülers als Anzeichen: Sie nimmt zum einen wahr, dass der Schüler viel und zusammenhängend schreibt (‚hat geschrieben und geschrieben‘). Sie beobachtet zum anderen, dass er sein Schreiben kurz unterbricht und in den Klassenraum blickt. Diese Körperbewegung vollzieht der Schüler laut Camila mit folgendem Um-zu-Motiv: Er blickt in den Klassenraum, um zu überlegen (‚hat mal im Raum geguckt, um zu überlegen‘). Weiter nimmt sie wahr, dass der Schüler nach dieser Unterbrechung wieder das Schreiben aufnimmt (‚hat dann weitergeschrieben‘). All diese Verhaltensweisen scheint Camila als Handlungen ohne kommunikative Absicht zu verstehen, d. h., sie versteht diese derart, dass der Schüler mit ihnen nicht beabsichtigt, etwas zum Ausdruck zu bringen. EH2. Camila gelangt dann zu der Deutung, dass der Schüler sein Bearbeiten des Tests nach relativ geringer Zeit beendet (‚schon recht früh fertig‘, ‚recht schnell fertig‘). Sie verweist hiermit auf eine Handlung des Schülers, die er zu diesem Zeitpunkt wohl vollzogen haben wird: Er wird alle Aufgaben, die es im Rahmen des Tests zu bearbeiten galt, bearbeitet haben. Camila erfasst nun ein Anschlusshandeln des Schülers: Sie erfasst, dass er das von ihm Bearbeitete einer Überprüfung unterzieht (‚Zeit hatten, das nochmal zu kontrollieren‘). Mit dem Erfassen dieser Anschlusshandlung (‚Kontrolle‘) verweist Camila darauf, dass der Schüler zu der Einschätzung gelangt sein könnte, dass ihm möglicherweise beim Bearbeiten ein Fehler unterlief, er aber die Absicht verfolgt, den Test fehlerfrei zu bearbeiten. EH3. Camila erfasst nun, dass sich der Schüler im Klassenraum umblickt (‚hat sich dann im Raum umgeguckt‘). Sie nimmt also eine körperliche Veränderung am Leib des Schülers (‚Umblicken‘) wahr. Sie versteht diese Leibesveränderung als ein Handeln des Schülers, welches folgenden Um-zu-Motiven folgt: 1. Er blickt sich im Raum um, um in Erfahrung zu bringen, wie viel Zeit ihm für die Bearbeitung des Tests noch verbleibt (‚hat sich dann im Raum umgeguckt, um zu gucken, (..) ja wie viel Zeit hab ich noch?‘). 2. Er blickt sich im Raum um,
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um in Erfahrung zu bringen, wie weit fortgeschritten seine Mitschülerinnen und Mitschüler beim Bearbeiten des Tests sind (‚hat sich dann im Raum umgeguckt, um zu gucken, […] [w]ie kommen die anderen voran?‘). Mit ihrer Deutung des zweiten Um-zu-Motivs verweist Camila auf die Möglichkeit, dass der Schüler nun einen Vergleich vollzieht. In diesem könnte er sein Bearbeiten des Tests mit dem Bearbeiten seiner Mitschülerinnen und Mitschüler z. B. unter dem Gesichtspunkt ‚Dauer des Bearbeitens‘ vergleichen. EH4. Camila gelangt dann zu der Interpretation, dass der Schüler sich durch den Test in seinen Fähigkeiten bestätigt fühlt (‚wie [der Test] […] so eine Art äh Bestätigung (.) auch des eigenen Könnens [hervorgerufen hat]‘). Sie könnte mit der Interpretation dieses Erlebens auf folgenden vorausgegangenen Erlebnis- und Handlungsverlauf verweisen: Der Schüler vollzog einen Urteilsakt, in welchem er auf seine Fähigkeiten gerichtet war und diese dahingehend beurteilte, ob sie hinreichend sind, um den Anforderungen gerecht zu werden, die der Test an ihn stellte. Dieser Urteilsakt könnte ihn dann zu dem Urteil geführt haben, dass dies auf seine Fähigkeiten zutrifft. In der Folge dieses Urteils dann fühlt der Schüler sich in seinen Fähigkeiten bestätigt. EH5. In ihrem Fremdverstehen kommt Camila auch zu dem Ergebnis, dass der Schüler sich an der Beschäftigung mit Mathematik und am Mathematikunterricht erfreut (‚der hatte total Freude an a / (.) an Mathe und am Matheunterricht‘). Camila unterscheidet hier also zwischen Mathematik und Mathematikunterricht und expliziert, dass der Schüler sich beidem mit Freude widmet. Mit dieser Explikation könnte sie zum Ausdruck bringen wollen, dass sie zu der Deutung gelangt ist, dass der Schüler nicht nur an der Beschäftigung mit Mathematik im Kontext von Unterricht Freude hat, sondern dass er sich vielmehr auch an der außerunterrichtlichen Beschäftigung mit Mathematik erfreut. EH6. Letztlich deutet Camila, dass der Schüler sich wünscht, Inhalte im Unterricht in einem höheren Tempo zu bearbeiten (‚der würde gerne schneller äh vorangehen‘). Sie gelangt ferner zu der Deutung, dass dieser Wunsch des Schülers nicht den Wünschen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler entspricht (‚der würde gerne schneller äh vorangehen als die Klasse‘). Sie verweist hiermit darauf, dass der Schüler mit seinem Wunsch nach einem höheren Unterrichtstempo innerhalb seiner Klasse eine Art Sonderposition einnimmt. Es zeigt sich, dass Camila mit EH1-EH6 nicht nur erfasst, dass der Schüler eigene Erlebnisse vollzieht, sondern vielmehr auch, welche eigenen Erlebnisse er vollzieht. Mit anderen Worten: Es zeigt sich, dass Camila echtes Fremdverstehen vollzieht. Denn als ‚echtes Fremdverstehen‘ sollten laut Schütz ja genau diejenigen Verstehensakte eines ego bezeichnet werden, die auf die Erfassung spezifischer fremder Erlebnisse gerichtet sind.
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Camila scheint im Fremdverstehen I eine Personenvertauschung der Art vorzunehmen, dass sie sich selbst an Stelle des Schülers setzt und ihr eigenes tatsächliches Erleben und Handeln mit dem des Schülers identifiziert. Hierfür spricht, dass sie zu eigenen vergangenen Erlebnissen und Handlungen während Testsituationen in einen Erzählfluss gerät und dabei eigene Erlebnisse und Handlungen benennt, die große Ähnlichkeit zu den von ihr erfassten Erlebnissen und Handlungen des Schülers aufweisen: „Und wenn ich äh mich dann in Schüler hineinversetzen (.) würde, ich (.) / Man kennt das ja, glaube ich, auch selbst von Tests, wo man (.) mit den Aufgaben super zurechtkam. [Das] war [...] dann eine Bestätigung für einen selbst. Dass äh man auch so vielleicht auch mal so rumguckt und sieht, ach ich bin ja schon fertig äh (.) mmh (.) bin also vielleicht doch äh (.) besser, als ich erwartet hatte. Oder ähm (..) oder dann auch die Vorfreude vielleicht auf auf ne gute Note, die man dann mit nach Hause bringen kann. Dann spielt ja auch immer noch so der Vergleich zu den anderen Schülern häufig ne Rolle. (.) Äh wie schon mit dem Blick erwähnt um einen herum. (.) Auch / also damit man sich so selbst einschätzen kann, inwiefern man äh vor den anderen liegt oder zurückhängt. [...] Ja und dass es dann durch dieses gute und einfache Lösen und vielleicht schneller sein dann auch wie so nochmal so nen Motivationsschub gibt auch. (.) Dass man sieht, (.) hey wenn mir das so leichtgefallen ist, dann (.) wirds ja vielleicht so weitergehen.“
Camila beschreibt also, dass sie selbst während Situationen, in denen sie keine Schwierigkeiten bei der Bearbeitung eines Tests hatte (‚mit den Aufgaben super zurechtkam‘), folgende eigene Erlebnisse und Handlungen (EEH) vollzog: EEH1. Sie erfuhr Selbstbestätigung (‚Bestätigung für einen selbst‘) dadurch, dass sie den Test ohne Schwierigkeiten bearbeiten konnte. EEH2. Sie benötigte wenig Zeit, um den Test vollständig zu bearbeiten (‚ach ich bin ja schon fertig‘). EEH3. Sie übertraf ihre eigenen Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit (‚bin also vielleicht doch äh (.) besser, als ich erwartet hatte‘). EEH4. Sie blickte sich während und nach dem Bearbeiten eines Tests im Klassenzimmer um (‚auch mal so rumguckt‘, ‚mit dem Blick […] um einen herum‘). Diese Handlung folgte folgendem Um-zu-Motiv: Sie blickte sich im Klassenzimmer um, um einen Vergleich zwischen ihrem Bearbeiten des Tests und dem Bearbeiten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler unter dem Vergleichsaspekt ‚Dauer des Bearbeitens‘ vorzunehmen (‚damit man sich so selbst einschätzen kann, inwiefern man äh vor den anderen liegt oder zurückhängt‘). EEH5. Sie freute sich schon im Voraus darauf, ihren Eltern eine gute Note vorweisen zu können (‚die Vorfreude vielleicht auf auf ne gute Note, die man dann mit nach Hause bringen kann‘).
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EEH6. Ihre Motivation für die weitere Beschäftigung mit mathematischen Inhalten im Rahmen des Mathematikunterrichts nahm zu (‚Motivationsschub‘). Diese Zunahme begründete sich in der Aussicht, dass sie sich möglicherweise auch kommende mathematische Inhalte ohne Schwierigkeiten aneignen können würde (‚wenn mir das so leichtgefallen ist, dann (.) wirds ja vielleicht so weitergehen‘). Mehrere dieser von Camila geschilderten eigenen tatsächlichen Erlebnisse und Handlungen EEH1-EEH6, die sie in Testsituationen mehrfach vollzog, weisen Ähnlichkeiten zu den Erlebnissen und Handlungen auf, welche sie dem Schüler in ihrem Fremdverstehen I zuschreibt: • EEH1 (‚Selbstbestätigung‘) ist ähnlich dem von ihr erfassten Erlebnis EH4 des Schülers (‚Bestätigung der eigenen Fähigkeiten‘). • EEH2 (‚wenig Zeit zur Bearbeitung des Tests benötigen‘) ist nahezu identisch zum Erleben und Handeln EH2 des Schülers (‚Bearbeitung des Tests früh beenden‘). • EEH4 (‚im Klassenraum umblicken‘, ‚mit Mitschülerinnen und Mitschülern vergleichen‘) weisen Ähnlichkeiten auf zu der Handlung EH3 des Schülers (‚im Klassenraum umblicken, um in Erfahrung zu bringen, wie weit fortgeschritten seine Mitschülerinnen und Mitschülern beim Bearbeiten des Tests sind‘). Der Umstand, dass Camila direkt im Anschluss an die Erzählung der von ihr erfassten Erlebnisse und Handlungen des Schülers in einen Erzählfluss zu ihren eigenen vergangenen Erlebnissen und Handlungen gerät, sowie die Tatsache, dass einige dieser eigenen Erlebnisse und Handlungen, die sie beschreibt, große Ähnlichkeiten zu denen aufweisen, die sie dem Schüler zuschreibt, können als Hinweis dafür aufgefasst werden, dass Camila in ihrem Fremdverstehen des Schülers ihre eigenen tatsächlichen Erlebnisse und Handlungen mit denen des Schülers identifiziert. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Camila in ihrer Erzählung neben eigenen vergangenen Erlebnissen und Handlungen, die denen des Schülers ähnlich sind, auch eigene Erlebnisse und Handlungen benennt, die sie nicht als Erlebnisse und Handlungen des Schülers erfasst. Hierzu zählen: ‚Übertreffen der eigenen Erwartungen‘ (EEH3), ‚Vorfreude darauf, ihren Eltern eine gute Note vorweisen zu können‘ (EEH5) und ‚Zunahme der Motivation für die weitere Beschäftigung mit mathematischen Inhalten‘ (EEH6). Wenn Camila in ihrem Fremdverstehen nun aber einige Erlebnisse und Handlungen überträgt, die Erlebnisse EEH3, EEH5 und EEH6 jedoch nicht, stellt sich die Frage: Warum hat sie
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genau diese eigenen tatsächlichen Erlebnisse und Handlungen nicht mit denen des Schülers identifiziert? Ein Grund dafür, dass sie die Erlebnisse und Handlungen EEH3 und EEH5 nicht auch auf den Schüler übertrug, mag darin bestehen, dass sie hierfür deutlich mehr Vorwissen über den Schüler besitzen müsste: Sie müsste Kenntnis von seinen Leistungserwartungen haben, um entscheiden zu können, ob der Schüler diese im Bearbeiten des Tests übertrifft (EEH3). Und sie müsste einen Anhaltspunkt dafür haben, wie die Reaktionen seiner Eltern auf eine gute Note ausfallen könnten, um eine Deutung darüber aufzustellen, wie sie reagieren würden (EEH5). Dass Camila ferner ihr eigenes Erlebnis EEH6 nicht auf den Schüler überträgt, mag daran liegen, dass sie seine Motivation für und seine Leistungen in dem Fach Mathematik als generell sehr hoch einstuft. Das Erleben eines ‚Motivationsschubes‘ scheint in diesem Fall wenig wahrscheinlich, da seine Motivation bereits sehr hoch ist. Das Erleben eines ‚Motivationsschubes‘, welcher sich in der Aussicht begründet, dass möglicherweise auch kommende mathematische Inhalte ohne Schwierigkeiten angeeignet werden können, scheint auch wenig wahrscheinlich. Denn es würde implizieren, dass dieser Zustand (‚sich mathematische Inhalte ohne Schwierigkeiten aneignen können‘) für den Schüler nicht den Regelfall darstellt. Dass Camila im Fremdverstehen I ihre eigenen vergangenen Erlebnisse und Handlungen auf den Schüler überträgt, lässt sich auch mithilfe der Rekonstruktion von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte (vgl. Abschnitt 5.5.1) weiter bekräftigen. Es zeigt sich nämlich, dass zwei Erlebnisse und Handlungen, die Camila dem Schüler zuschreibt, auch Teil ihrer eigenen mathematikbezogenen Lebensgeschichte sind. Dabei handelt es sich um die Erlebnisse und Handlungen ‚in Erfahrung bringen, wie fortgeschritten Mitschülerinnen und Mitschüler beim Bearbeiten des Tests sind‘ (EH3) und ‚Wunsch nach höherem Unterrichtstempo‘ (EH6) des Schülers: Zu EH3. In ihrem Fremdverstehen erfasst Camila, dass sich der Schüler nach dem Bearbeiten seines Tests in der Klasse umblickt, um zu schauen, wie fortgeschritten seine Mitschülerinnen und Mitschüler beim Bearbeiten des Tests sind. Sie schreibt dem Schüler also zu, dass er seinen Blick ganz gezielt auf die Leistungen seines sozialen Umfelds richtet. In der Rekonstruktion von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte hatte sich gezeigt, dass Camila selbst diese Perspektive sowohl in ihrer Schul- als auch ihrer Studienzeit wiederholt einnahm: Sie schenkte den Leistungen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler in der LuBK (5.-10. Klasse) besondere Beachtung, nahm fortwährend Leistungsvergleiche vor und kam dabei zu dem Ergebnis, dass sie nicht zu den Leistungsstärksten der Klasse gehörte. Im Mathematikleistungskurs (11.-12. Klasse) richtete sie sich
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ebenfalls auf die Leistungen anderer Kursteilnehmender, verglich deren Arbeitstempo mit ihrem eigenen und kam zu dem Schluss, dass ihr das Arbeitstempo ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler zu langsam war. Auch im Studium (1.-3. Semester) achtete sie auf die Leistungen ihrer Mitstudierenden, verglich deren Lernaufwand mit ihrem eigenen und kam zu dem Ergebnis, dass andere viel weniger Aufwand betreiben mussten als sie, um die Studieninhalte zu erarbeiten. Mit dieser Aufzählung zeigt sich also, dass das Erleben und Handeln ‚Blick auf die Leistungen des sozialen Umfelds richten‘ gar nicht ein vergangenes Erlebnis oder eine vergangene Handlung von Camila darstellt, sondern vielmehr eine Klasse von Erlebnissen und Handlungen, die sie wiederholt vollzog. Zu EH6. In ihrem Fremdverstehen gelangt Camila ferner zu der Deutung, dass sich der Schüler ein höheres Unterrichtstempo wünscht. Mit Blick auf die Rekonstruktion von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte zeigt sich, dass sie selbst in ihrer Schulzeit Ähnliches erlebte: In ihrem Mathematikleistungskurs (11.-12. Klasse) wurde sie „mit den ganzen Leuten […], die Mathe eigentlich abwählen wollten“ in eine Gruppe eingeteilt, sodass sie nur „sehr sehr langsam voran[kamen]“. Camila entwickelte den Wunsch nach einem Mathematikunterricht, der ein höheres Unterrichtstempo aufweist, dieser Wunsch blieb aber unerfüllt. Sie erlebte diese Zeit als „Tiefpunkt (..) in der Schulzeit, (…) weils dann so zu so nem Frust wurde, (.) dass es nicht weiter ging [und] […] ich war schon schon sehr unterfordert“. Die Adäquatheit der Resultate, die sie in ihrem Fremdverstehen I hervorbringt, schätzt Camila wie folgt ein: „Ich denke [...] [beim Schüler] lieg ich vielleicht doch ganz richtig, weil ähm (.) der Schüler sehr enthusiastisch bezüglich Mathe war und auch ähm schon versucht hat, weiterzudenken.“
Camila ist sich bezüglich der Resultate ihres Fremdverstehens also relativ sicher. Als Gründe dafür, dass die Ergebnisse ihres Fremdverstehens als adäquat gelten können, führt sie weitere Erlebnisse und Handlungen des Schülers an, die den bereits gedeuteten Erlebnissen und Handlungen recht ähnlich sind: Sie benennt hier, dass der Schüler sich für Mathematik begeisterte (‚sehr enthusiastisch bezüglich Mathe‘) und dass er den Versuch unternahm, über die Inhalte des Unterrichts hinauszugehen (‚schon versucht hat, weiterzudenken‘). Ersteres weist eine Ähnlichkeit zum zuvor bereits erfassten Erleben und Handeln EH5 des Schülers (‚Freude an der Beschäftigung mit Mathematik und am Mathematikunterricht‘) auf, zweiteres weist zumindest in Teilen eine Ähnlichkeit zum zuvor erfassten
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Erleben EH6 (‚Wunsch nach höherem Unterrichtstempo‘) auf. Camilas erzählerisches Vorgehen lässt sich also wie folgt beschreiben: Um die Adäquatheit des im Rahmen ihres Fremdverstehens erfassten Erlebnisses ‚Freude an der Beschäftigung mit Mathematik und am Mathematikunterricht‘ (EH5) zu belegen, führt sie an, dass er auch das Erleben ‚Begeisterung für Mathematik‘ vollzog. Und die Adäquatheit des erfassten Erlebnisses ‚Wunsch nach höherem Unterrichtstempo‘ (EH6) belegt sie mit der Erzählung des Erlebnisses ‚Versuch, über Unterrichtsinhalte hinauszugehen‘. Um also die Adäquatheit eines erfassten Erlebnisses des Schülers zu belegen, führt sie jeweils ein weiteres Erlebnis an, welches der Schüler ebenfalls vollzog, und welches dem zuvor erfassten Erlebnis sehr ähnlich ist.
6.4.1.3.2 Fremdverstehen II: „die […] haben für sich selbst eigentlich mit Mathematik schon abgeschlossen“ Im Fremdverstehen II ist Camila (ego) auf ein ‚polypersonales‘ alter ego gerichtet. Sie richtet ihr Fremdverstehen nämlich auf zwei Schülerinnen, behandelt diese aber nicht wie zwei verschiedene alter egos, die verschiedene Erlebnisse vollziehen. Vielmehr erfasst sie für beide Schülerinnen dieselben Erlebnisse und Handlungen, d. h., sie behandelt die beiden Schülerinnen in ihrem Fremdverstehen so, als wären sie nur ein alter ego. Bei den beiden Schülerinnen, die dieses ‚polypersonale‘ alter ego bilden, handelt es sich um zwei Mädchen derselben 9. Klasse, der auch der Schüler aus Fremdverstehen I angehört. Camila vollzieht Fremdverstehen II in derselben Unterrichtsstunde wie Fremdverstehen I, also während die Klasse einen Test zum Thema ‚Satz des Pythagoras‘ bearbeitet. Zum Erleben und Verhalten der zwei Schülerinnen während der Bearbeitung des Tests erzählt Camila: „[Die] haben halt sehr sehr lange an einer Aufgabe (.) gesessen und gebraucht. Und (.) da hat man teilweise dann auch recht verzweifelte Blicke gesehen. Vielleicht auch mal zum Nachbarn rüber.“ „[D]ie beiden Schülerinnen haben halt (.) die ganze Zeit eher aufs Blatt gestarrt, nicht geschrieben oder (.) dann auch dann auch genervte Blicke (..) ähm ausgetauscht.“ „[D]ie Körperhaltung hat jetzt auch nicht für / ähm also dafürgesprochen, dass es ihnen leichtfiel. Also es war eher son son In-sich-zusammengekauert-sein.“ „[D]as war eigentlich so so die beobachtete Situation, wie [der Test] [...] teilweise auch Angst und äh Verzweiflung hervorgeruf / äh hervor hervorgerufen [...] [hat].“
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Camila kommt in ihrem Fremdverstehen also zu dem Ergebnis, dass die beiden Schülerinnen während der Bearbeitung des Tests folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollziehen: EH7. Den Schülerinnen fällt das Bearbeiten des Tests schwer (‚hat jetzt auch nicht […] dafürgesprochen, dass es ihnen leichtfiel‘). Als Anzeichen dafür dient Camila einerseits die Körperhaltung der Schülerinnen (‚die Körperhaltung hat jetzt auch nicht […] dafürgesprochen, dass es ihnen leichtfiel‘). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Schülerinnen eine eher ‚geduckte‘ Haltung einnehmen (‚son In-sich-zusammengekauert-sein‘). Andererseits dient Camila als Anzeichen, dass die Schülerinnen durchweg auf das Testblatt blicken (‚die ganze Zeit eher aufs Blatt gestarrt‘) und dass sie nicht schreiben (‚nicht geschrieben‘). Beide Leibesveränderungen – bzw. in diesem Fall: beide Leibesunveränderungen – versteht Camila als Anzeichen dafür, dass den Schülerinnen das Bearbeiten des Tests schwerfällt. Es sei an dieser Stelle noch einmal kurz an die besondere Beschaffenheit des alter ego in Camilas Fremdverstehen II erinnert: Camila erfasst zwar die Erlebnisse zweier Mädchen, behandelt diese aber wie die Erlebnisse eines alter ego. Bemerkenswert ist nun, dass diese besondere Beschaffenheit des alter ego auch dann nicht aufgegeben wird, wenn Camila davon erzählt, welche konkreten Veränderungen am Leib des alter ego ihr als Anzeichen für das Erleben und Handeln des alter ego gedient haben. Vielmehr scheint sie auch die Leibesveränderungen der beiden Schülerinnen miteinander zu identifizieren. So sind es beide Schülerinnen, die ‚eine zusammengekauerte Körperhaltung‘ einnehmen, ‚auf das Aufgabenblatt starren‘ und ‚nicht schreiben‘. EH8. Camila erfasst ferner, dass die Schülerinnen schon für das Bearbeiten einer einzigen Aufgabe des Tests viel Zeit benötigen (‚haben halt sehr sehr lange an einer Aufgabe (.) gesessen und gebraucht‘). Hiermit verweist sie darauf, dass die Schülerinnen es innerhalb der vorgesehenen Bearbeitungszeit für den Test (45 min) wohl nicht bewältigen werden, alle Aufgaben des Tests zu bearbeiten. EH9. Camila interpretiert, dass sich bei den Schülerinnen während des Bearbeitens des Tests Verzweiflung einstellt (‚Verzweiflung […] hervorgerufen‘). Sie weist in ihrer Erzählung jedoch nicht darauf hin, aus welchem Grund dies geschieht. Als Anzeichen dafür, dass die Schülerinnen Verzweiflung erleben, deutet sie Blicke der Schülerinnen (‚verzweifelte Blicke‘). Sie nimmt jedoch keine genauere Beschreibung darüber vor, wie diese Blicke beschaffen sind. Es bleibt also unklar, welches Merkmal der wahrgenommenen Blicke der Schülerinnen es ist, das sie für Camila zu einem Anzeichen für ihre Verzweiflung werden lassen. Neben ihrer Beschaffenheit scheint Camila aber auch die Richtung der Blicke als Anzeichen dafür zu dienen, dass sich bei den beiden Schülerinnen während
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des Bearbeitens des Tests Verzweiflung einstellt: Sie nimmt wahr, dass die Schülerinnen ihren Blick zu einem Banknachbar wenden (‚Vielleicht auch mal zum Nachbarn rüber‘). Es lässt sich jedoch nicht rekonstruieren, ob Camila hier die Blickrichtung auf den Test des Banknachbarn meint, ob sie also die Verzweiflung der Schülerinnen daran erkennt, dass diese bei einem Sitznachbar ‚abgucken‘. Oder aber, ob sie die Blickrichtung auf den Banknachbar selbst meint. EH10. Camila kommt in ihrem Fremdverstehen der beiden Schülerinnen außerdem zu dem Ergebnis, dass diese genervt sind (‚genervte Blicke (..) ähm ausgetauscht‘). Der Zustand des Genervt-Seins verweist für gewöhnlich auf einen Gegenstand, aufgrund dessen er sich einstellt. In diesem Fall kann jedoch nicht rekonstruiert werden, welcher ganz konkrete Gegenstand diesen Zustand laut Camila auslöst. Als Anzeichen dafür, dass die Schülerinnen genervt sind, dienen Camila – wie bereits bei EH9 – die Blicke der Schülerinnen (‚genervte Blicke‘). Camila beschreibt jedoch nicht genauer, wie die Blicke beschaffen sind, d. h., es kann auch hier nicht rekonstruiert werden, welches Merkmal der wahrgenommenen Blicke für Camila als Anzeichen für das Genervt-Sein der Schülerinnen dient. Camila gelangt nun jedoch nicht nur zu der Deutung, dass die Schülerinnen genervt sind, sondern auch, dass diese ihr Genervt-Sein untereinander zum Ausdruck bringen (‚genervte Blicke (..) ähm ausgetauscht‘). Sie versteht dieses Austauschen von Blicken als ein Handeln mit kommunikativer Absicht zwischen den beiden Schülerinnen. Hiermit weicht Camila von der Identifikation beider Schülerinnen als ein alter ego ab: Genau genommen stellt dieses Handeln mit kommunikativer Absicht nämlich nicht ein Handeln dar, sondern vielmehr zwei verschiedene, miteinander koordinierte Handlungen von zwei verschiedenen Menschen. EH11. Camila erfasst weiter, dass die Schülerinnen während des Bearbeitens des Tests Angst erleben (‚Angst […] hervorgerufen‘). Wie bereits mit ihren vorherigen beiden Interpretationen (EH9 & EH10) verweist Camila mit dieser Deutung auf einen konkreten Gegenstand, auf den sich die Angst der Schülerinnen richtet. Genauer: Sie verweist auf einen Gegenstand, dessen mögliches Eintreten von den Schülerinnen als Bedrohung erlebt wird. Camila weist in ihrer Erzählung jedoch nicht darauf hin, die Möglichkeit des Eintretens welches konkreten Gegenstandes die Schülerinnen als Bedrohung erleben. Camila äußert sich auch zum Erleben und Handeln der beiden Schülerinnen, welches sie nicht nur während der ersten Hospitationsstunde, sondern vielmehr im Verlauf des gesamten Praktikums erfasst. Sie erzählt hierzu: „[Es waren] zwei Mädchen, (..) wo auch im Laufe des Praktikums sichtbar war, die haben (.) Probleme mit mit Mathe oder beziehungsweise mit dem Matheunterricht, wie
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sie ihn bisher äh (.) hatten, und haben für sich selbst eigentlich mit Mathematik schon abgeschlossen.“
Camila kommt in ihrem Fremdverstehen also zu dem Ergebnis, dass die beiden Schülerinnen auch folgende wiederkehrenden bzw. andauernden Erlebnisse und Handlungen (EH) vollziehen: EH12. Sie haben Schwierigkeiten mit der Art von Mathematikunterricht, die sie bisher erlebten (‚haben (.) Probleme […] mit dem Matheunterricht, wie sie ihn bisher äh (.) hatten‘). Camila unterscheidet in der Erzählung dieses Erlebens zwischen ‚Mathematik‘ und ‚Mathematikunterricht‘ (‚Probleme mit mit Mathe oder beziehungsweise mit dem Matheunterricht‘). Und sie verortet die Schwierigkeiten der beiden Schülerinnen explizit im Mathematikunterricht und nicht in der Beschäftigung mit Mathematik überhaupt. D. h., Camila betont, dass es der Unterricht zum Fach Mathematik ist, der den Schülerinnen Schwierigkeiten bereitet, und nicht das Fach an sich. Sie betont weiter, dass es eigentlich auch nicht der Mathematikunterricht an sich ist, der den Schülerinnen Schwierigkeiten bereitet, sondern vielmehr der Mathematikunterricht, wie sie ihn bisher erlebten. Hiermit verweist sie darauf, dass die Schwierigkeiten der Schülerinnen mit dem Mathematikunterricht temporärer Natur sein könnten, dass diese sich also beispielsweise dann nicht mehr einstellen könnten, wenn die Schülerinnen an einer anderen Art von Mathematikunterricht teilnehmen würden. EH13. Camila kommt dann in ihrem Fremdverstehen zu dem Ergebnis, dass die Schülerinnen sich vom Fach Mathematik ‚abgewandt‘ haben (‚mit Mathematik schon abgeschlossen‘). Mit dieser Deutung verweist Camila darauf, dass die Schülerinnen aufgrund ihrer Schwierigkeiten im Mathematikunterricht möglicherweise eine ablehnende Haltung gegenüber der Mathematik an sich eingenommen haben. Es zeigt sich anhand der Erlebnisse und Handlungen EH7-EH13, dass Camila – wie schon gegenüber dem Schüler in Fremdverstehen I – auch gegenüber den beiden Schülerinnen echtes Fremdverstehen vollzieht. Ebenfalls wie in Fremdverstehen I scheint Camila auch im Fremdverstehen II eine Personenvertauschung der Art vorzunehmen, dass sie sich selbst an die Stelle der beiden Schülerinnen setzt und eigene tatsächliche Erlebnisse mit denen der Schülerinnen identifiziert. Hinweise darauf kann folgender Erzählteil liefern, in dem Camila von Erlebnissen und Handlungen von Schülerinnen und Schülern erzählt, welche diese während der Bearbeitung eines Tests vollziehen: „Ja und dann auch im Umkehrschluss aber, dass äh Schülerinnen und Schüler, die das Thema nicht so verstanden haben, dann diese Angst haben, (.) ah ich bekomm schon
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wieder ne schlechte Note. Wie soll ich das meinen Eltern erklären? (.) Und ähm und vielleicht auch ähm (..) dann die Angst vielleicht der Nichtversetzung (..) in die nächste Schulstuf / äh in die nächste Klassenstufe (.) dann da mit reinspielt. Falls das nicht das einzige Fach sein sollte, äh wo die Leistungen nicht dem entsprechen, dass man ne Klasse aufrückt. Aber auch dann vielleicht ne Scham gegenüber den Mitschülern, die vielleicht auch mit reinspielen kann. Ich weiß nicht, wie die Lehrer (.) / oder nee, die Lehrer haben das zwar nicht so gehandhabt. Die haben keinen Klassenspiegel vorne an die Tafel geschrieben. Aber es machen ja immer noch manche manche Lehrer, (.) wo dann aber in der Klasse fieberhabt nach der Person gesucht wird, die entweder die beste oder die schlechteste Leistung hat. (.) Und dass das vielleicht noch mit reinspielt (..) äh (.) [...] ja und das (.) einfach diese Angst über die schlechte Note, dann der Vergleich zu den anderen in der Klasse und auch das Selbstwertgefühl, wenn man merkt, selbst im Test, wo (..) wo normalerweise Aufgaben rankommen, die wir schon behandelt haben im im Unterricht, äh komm ich nicht mit und das bekomm ich nicht hin. Das ist dann wie so eine Art Teufelskreis, wo man dann sich selbst äh schlechter macht, als man ist, und dann gar nicht mit dieser Motivation oder mit der Offenheit an die nächsten Themen rangeht.“
Camila kommt in ihrer Erzählung also zu dem Ergebnis, dass Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung eines Tests haben, folgende Erlebnisse und Handlungen (EEH9 ) währenddessen vollziehen: EEH7. Sie verspüren Angst davor, ihre Eltern über die schlechte Schulnote zu informieren, die sie für ihre Leistungen in diesem Test erhalten werden (‚Angst haben, (.) ah ich bekomm schon wieder ne schlechte Note. Wie soll ich das meinen Eltern erklären?‘). Dieses Erleben verweist einerseits darauf, dass die Schülerinnen und Schüler erwarten, eine schlechte Schulnote zu erzielen, was wiederum darauf verweist, dass sie ihre Leistung selbst derart einschätzen, dass sie mit einer schlechten Schulnote bewertet wird. Das Erleben verweist andererseits aber auch darauf, dass es die erwartete Reaktion der Eltern sein mag, die die Schülerinnen und Schüler als bedrohlich empfinden. Hiermit wäre dann darauf verwiesen, dass die Eltern in der Vergangenheit bei einer schlechten Schulnote eine Reaktion zeigten, deren Wiedereintreten nun von den Schülerinnen und Schülern gefürchtet wird. EEH8. Camila erzählt ferner, dass die Schülerinnen und Schüler möglicherweise auch Angst davor haben könnten, nicht in die nächsthöhere Klassenstufe versetzt zu werden (‚Angst vielleicht der Nichtversetzung (..) in die nächste […] Klassenstufe‘). Dieses Angsterleben tritt aber laut Camila nur dann ein, wenn 9
Es wird sich sogleich herausstellen, dass es sich bei den Erlebnissen und Handlungen dieser nicht näher bestimmten Schülerinnen und Schüler eigentlich um eigene vergangene Erlebnisse und Handlungen von Camila zu handeln scheint, deshalb findet hier die Abkürzung ‚EEH‘ (Eigene Erlebnisse und Handlungen) Verwendung.
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auch in anderen Schulfächern schlechte Leistungen erzielt werden (‚Falls das nicht das einzige Fach sein sollte, äh wo die Leistungen nicht dem entsprechen, dass man ne Klasse aufrückt‘). EEH9. Sie führt weiter aus, dass Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung eines Tests haben, sich möglicherweise auch vor ihren Mitschülerinnen und Mitschülern für ihre schlechte Schulnote schämen (‚vielleicht ne Scham gegenüber den Mitschülern‘). EEH10. Camila benennt zudem, dass die Schülerinnen und Schüler sich mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern vergleichen (‚der Vergleich zu den anderen in der Klasse‘). Sie weist in ihrer Erzählung aber weder darauf hin, was die Vergleichsgegenstände sind, noch unter welchem Gesichtspunkt der Vergleich dieser Gegenstände vollzogen wird. EEH11. Sie erzählt, dass die Schülerinnen und Schüler eine Verletzung ihres Selbstwertgefühls dadurch erleben, dass sie eine Anforderung nicht erfüllen können, die an sie in der Rolle als Schülerin oder Schüler gestellt wird (‚das Selbstwertgefühl, wenn man merkt, […] [da] komm ich nicht mit und das bekomm ich nicht hin‘). Diese Anforderung besteht laut Camila darin, Aufgaben lösen zu können, wenn sie im Unterricht bereits bearbeitet wurden (‚wo normalerweise Aufgaben rankommen, die wir schon behandelt haben im im Unterricht‘). EEH12. Camila erzählt außerdem, dass Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung eines Tests haben, eine negative Selbstbewertung vornehmen, oder vielmehr: eine negativere Selbstbewertung vornehmen, als es angebracht wäre (‚sich selbst äh schlechter macht, als man ist‘). Hier verweist sie auf zwei Bewertungsakte: Sie verweist zum einen auf einen Akt der Selbstbewertung, nämlich den Bewertungsakt, welchen die Schülerinnen und Schüler bezüglich sich selbst vollziehen. Sie verweist zum anderen aber auch auf einen Akt der Fremdbewertung, nämlich den Bewertungsakt, den eine Person aus dem Umfeld der Schülerinnen und Schüler vollzieht, und welcher zu derjenigen Bewertung über die Schülerinnen und Schüler führt, die als eigentlich angebracht gelten kann, die also – in Camilas Worten – abzubilden vermag, wie die Schülerinnen und Schüler ‚sind‘. Erst ein Vergleich der Ergebnisse dieser beiden Bewertungsakte kann dann zu der Einsicht führen, dass die Schülerinnen und Schüler sich selbst schlechter bewerten als es ‚angebracht‘ wäre. EEH13. Letztlich erzählt Camila auch noch, dass in der Folge des Bearbeitens eines Tests, bei dem Schwierigkeiten erlebt werden, die Motivation und Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler für die Beschäftigung mit kommenden Unterrichtsthemen abnimmt (‚dann gar nicht mit dieser Motivation oder mit der Offenheit an die nächsten Themen rangeht‘).
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Bezüglich dieser Erlebnisse und Handlungen EEH7-EEH13 fallen mehrere Besonderheiten auf: 1. Camila gerät in der Erzählung dieser Erlebnisse und Handlungen in den langanhaltendsten Erzählfluss zu einem Thema in ihrem gesamten Interview. Ihr erhöhter ‚Erzählbedarf‘ kann als Anzeichen dafür gedeutet werden, dass das Thema für sie von hoher Relevanz ist. 2. Obwohl sie von Erlebnissen und Handlungen von nicht näher bestimmten Schülerinnen und Schülern erzählt, erzählt sie teilweise aus der Ich-Perspektive (z. B. ‚ah ich bekomm schon wieder ne schlechte Note. Wie soll ich das meinen Eltern erklären?‘ oder ‚selbst im Test, wo (..) wo normalerweise Aufgaben rankommen, die wir schon behandelt haben im im Unterricht, äh komm ich nicht mit und das bekomm ich nicht hin‘). 3. Einige der Erlebnisse und Handlungen weisen Ähnlichkeiten zu eigenen tatsächlichen Erlebnissen von Camila auf, die in der Rekonstruktion ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte nachgezeichnet wurden: Dort zeigte sich, dass Camila als Schülerin der LuBK (5.-10. Klasse) Testsituationen im Fach Mathematik häufig als unangenehm erlebte. Oft hatte sie Probleme mit den Aufgabenstellungen, verglich sich schon während der Testbearbeitung mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, die deutlich weniger Bearbeitungszeit benötigten als sie. Und häufiger war sie dann auch diejenige, die im Klassenvergleich die schlechteste Leistung erzielte. Üblicherweise veröffentlichten die Lehrkräfte der LuBK den Notenspiegel eines Tests, sodass die Schülerinnen und Schüler in Camilas Klasse gemeinschaftlich nach derjenigen Person suchten, die die schlechteste Leistung erzielte. Vor dem Hintergrund dieser drei ‚Auffälligkeiten‘ erscheint es möglich, dass Camila in der obigen Textstelle eigentlich nicht von den Erlebnissen und Handlungen irgendwelcher Schülerinnen und Schüler erzählt, sondern vielmehr von ihren eigenen Erlebnissen und Handlungen, die sie in der Bearbeitung von Tests als Schülerin selbst vollzog. Es zeichnet sich hier ab, dass ein Erzählmuster gewirkt haben könnte, welches auch in Camilas Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte – also im biographisch-narrativen Interview – gewirkt hatte: Dort hatte sie bei der Erzählung negativer Erlebnisse häufig unpersönliche Formulierungen (v. a. ‚man‘) verwendet, selbst wenn es um die Erzählung persönlicher Erlebnisse ging (z. B. „Ich war in ner Klasse, die sehr auf Leistung aus war und (..) äh ja (..) dementsprechend war / hat hat man sich immer unter / unternander verglichen. Und wenn man da nicht bei den Besten mit dabei war, (.) das kratzt dann dann schon sehr.“, „Also ich war nen Jahr dann aus der Schule raus, (.) ähm (..) da vergisst man dann auch einiges wieder (.) und dementsprechend habe ich mich schon son bisschen hinterher gefühlt den anderen Studenten […].“). Im Fall des zweiten Interviews könnte dieses Erzählmuster nun dazu geführt haben, dass
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sie statt von eigenen, negativen Erlebnissen von negativen Erlebnissen irgendwelcher Schülerinnen und Schüler erzählt. Obige Textstelle kann also als Indiz dafür gesehen werden, dass Camila im Fremdverstehen II eine Personenvertauschung vollzieht, bei der sie ihre eigenen tatsächlichen Erlebnisse teilweise mit denen der beiden Schülerinnen identifiziert. Darüber hinaus kann – mit Blick auf die Rekonstruktion von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte – auch in weiteren Fällen aufgezeigt werden, dass einige der Erlebnisse und Handlungen, die Camila den Schülerinnen im Rahmen von Fremdverstehen II zuschreibt, Ähnlichkeiten zu Erlebnissen und Handlungen aufweisen, die sie selbst in der Vergangenheit vollzog. Es handelt sich dabei um ‚viel Zeit für das Bearbeiten des Tests benötigen‘ (EH8), ‚Schwierigkeiten mit bisherigem Mathematikunterricht‘ (EH12) und ‚sich von der Mathematik abgewandt haben‘ (EH13): Zu EH8. In ihrem Fremdverstehen kommt Camila zu dem Ergebnis, dass die beiden Schülerinnen viel Zeit für die Bearbeitung einer einzelnen Testaufgabe benötigen. In der Rekonstruktion von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte zeigte sich, dass Camila in der Vergangenheit selbst – im Vergleich zu ihrem Umfeld – oft viel Bearbeitungszeit bei Mathematiktests oder Mathematikaufgaben benötigte: Während Mathematiktests in der LuBK (5.-10. Klasse) verglich sie sich häufig mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern bezüglich des Bearbeitungstempos und stellte fest, dass sie mehr Zeit benötigte und dass ihre Mitschülerinnen und Mitschüler die Bearbeitung des Tests deutlich früher beenden konnten als sie. Beim Bearbeiten des Tests beging Camila außerdem oft den Fehler, wichtige Informationen in der Aufgabenstellung zu übersehen oder aber den Fehler, wichtige Informationen fälschlicherweise als ‚unwichtig‘ einzustufen. Häufiger war Camila dann anschließend auch diejenige Schülerin, die im Klassenvergleich die schlechteste Note erzielte. Und auch im Mathematikstudium (1.-3. Semester) vollzog sie ein ähnliches Erlebnis: Camila war dort häufiger diejenige Studentin, die ‚Stunden‘ für die Bearbeitung einer Aufgabe benötigte. Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen verstanden – so Camila – Aufgaben hingegen häufig auf Anhieb. Zu EH12. Hier ist es weniger das Erlebnis, sondern vielmehr die Erzählung des Erlebnisses, die eine Ähnlichkeit zu Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte aufweist: Camila führt in der Erzählung des Erlebnisses EH12 der beiden Schülerinnen nämlich die Unterscheidung zwischen ‚Mathematik‘ und ‚Mathematikunterricht‘ ein. Genauer: Sie führt die Möglichkeit ein, dass die Schwierigkeiten der Schülerinnen weniger in der Mathematik als vielmehr im
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Mathematikunterricht zu verorten sind. Auch in der Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte konnte ein ganz ähnliches Attributionsmuster rekonstruiert werden: Dort zeigte sich, dass Camila die Ursachen ihrer Misserfolge im Mathematikunterricht ab der 5. Klasse vielmehr in den Unterrichtsbedingungen (hohes Anforderungsniveau, schnelles Arbeitstempo, Konkurrenzkampf zwischen den Schülerinnen und Schülern) sah als in der Disziplin der Mathematik selbst. Camila scheint in der Erzählung der Erlebnisse der Schülerinnen also dieselbe Unterscheidung zwischen ‚Mathematik‘ und ‚Mathematikunterricht‘ zu verwenden, die sie auch in der Attribution ihrer eigenen erlebten Schwierigkeiten anwandte. Zu EH13. In ihrem Fremdverstehen erfasst Camila auch, dass sich die Schülerinnen, auf die sich ihr Fremdverstehen richtet, vom Fach Mathematik ‚abgewandt‘ haben. Es finden sich in der Rekonstruktion von Camilas mathematikbezogener Lebensgeschichte einige Hinweise darauf, dass sie ein ähnliches Erlebnis selbst mehrfach vollzog: Ihre Zeit im Mathematikleistungskurs (11.-12. Klasse) erlebte sie beispielsweise als einen Tiefpunkt ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte. Sie ‚wandte‘ sich in der Folge von der Mathematik ‚ab‘ und beabsichtigte, nicht Mathematik, sondern Spanisch und Chemie auf Lehramt zu studieren. Während eines Freiwilligendienstes dann fand Camila jedoch die „Faszination von von Mathe und dem ganzen Logischen und Erklärbaren“ wieder. Und so entschloss sie sich dann doch zu einem Lehramtsstudium für das Fach Mathematik und Chemie. Die ersten Semester des Mathematikstudiums erlebte Camila dann jedoch erneut als Tiefpunkt ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte. Sie zog in dieser Zeit mehrere Male in Betracht, das Mathematikstudium zu beenden und einen Fachwechsel vorzunehmen, also: sich von der Mathematik ‚abzuwenden‘. Zur Adäquatheit der Resultate, die sie in Fremdverstehen II hervorbringt, äußert sich Camila wie folgt: „[Ich bin] mir jetzt nicht so sicher, ob das dann wirklich so aufgefasst wurde. [...] Bei den Mädchen weiß ich nicht, inwiefern deren Verhalten nur jetzt auf Mathe zutrifft vielleicht. (.) Aber dadurch, dass ich das Gefühl hatte, dass sie sich sehr sehr gleichgültig verhalten haben, könnte es natürlich auch so sein, dass (..) vielleicht ihnen nicht nur Mathematik egal ist, sondern auch die Schule.“
Camila scheint hier ausschließlich über die Adäquatheit der Deutung von EH13 (‚sich von der Mathematik abgewandt haben‘) zu urteilen. Denn kein weiteres der von ihr erfassten Erlebnisse und Handlungen EH7-EH12 der beiden Schülerinnen weist eine Ähnlichkeit zur hier thematisierten ‚Gleichgültigkeit gegenüber
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Mathematik‘ auf. Camilas Äußerung zeigt, dass sie sich bezüglich der Adäquatheit dieses Resultates ihres Fremdverstehens II unsicher ist (‚nicht so sicher, ob das dann wirklich so aufgefasst wurde‘). Sie führt als Kritikpunkt an ihrer Deutung von EH13 an, dass das von ihr erfasste Erleben und Handeln womöglich nicht ausschließlich im Kontext von Mathematikunterricht auftritt, sondern möglicherweise auch im Unterricht anderer Fächer auftreten könnte (‚weiß ich nicht, inwiefern deren Verhalten nur jetzt auf Mathe zutrifft‘). Sie zeigt dann, dass sie ihre Deutung als kontingent auffasst, d. h., dass sie sich bewusst ist, dass die Schülerinnen auch andere Erlebnisse und Handlungen vollzogen haben könnten. Konkret formuliert sie die Möglichkeit aus, dass den Schülerinnen nicht nur Mathematik gleichgültig sein könnte, sondern vielmehr die Schule überhaupt (‚könnte es natürlich auch so sein, dass (..) vielleicht ihnen nicht nur Mathematik egal ist, sondern auch die Schule‘).
6.4.1.3.3 Fremdverstehen III: „diese kleine Verzweiflung war dann da, wenn […] nicht gleich auf die Lösung gekommen wurde“ Auch im Fremdverstehen III ist Camila (ego) auf ein ‚polypersonales‘ alter ego gerichtet. Sie richtet ihr Fremdverstehen nämlich auf alle Schülerinnen und Schüler einer 9. Klasse (der Parallelklasse des Schülers und den Schülerinnen aus Fremdverstehen I und II), behandelt diese in ihrem Fremdverstehen aber, als wären sie nur ein alter ego. Dass die Erlebnisse aller Schülerinnen und Schüler der Klasse miteinander identifiziert werden können, begründet Camila damit, dass die Klasse „tatsächlich homogener“ ist. Camila vollzieht Fremdverstehen III, während auch diese Klasse einen Test zum Thema ‚Satz des Pythagoras‘ bearbeitet. In dieser Stunde hat Camila erstmalig Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern. Sie besitzt also – wie auch schon im Fremdverstehen I und II – keinerlei Vorwissen über das alter ego ihres Fremdverstehens. Zum Erleben und Verhalten der Schülerinnen und Schüler erzählt Camila: „Diese kleine Verzweiflung war dann da, wenn zum Beispiel nicht gleich auf die Lösung gekommen wurde. Wo dann (.) einfach ein bisschen mehr Zeit gebraucht wurde, bis dann (.) klar war, so muss man das lösen.“
Camila erfasst in ihrem Fremdverstehen also, dass die Schülerinnen und Schüler der Klasse während der Bearbeitung des Tests folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollziehen: EH14. Bei den Schülerinnen und Schülern stellt sich während des Bearbeitens des Tests Verzweiflung ein (‚Diese kleine Verzweiflung war dann da‘). Dieser Zustand wird laut Camila dadurch ausgelöst, dass die Schülerinnen und Schüler
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die Aufgaben des Tests nicht auf Anhieb lösen können (‚wenn zum Beispiel nicht gleich auf die Lösung gekommen wurde‘). EH15. Camila erfasst dann, dass die Schülerinnen und Schüler nach kurzer Zeit doch zu einer Einsicht darüber gelangen, wie die Testaufgaben zu lösen sind (‚ein bisschen mehr Zeit gebraucht wurde, bis dann (.) klar war, so muss man das lösen‘). Hiermit verweist Camila darauf, dass den Schülerinnen und Schülern das Bearbeiten des Tests letztlich doch nicht so schwerfällt, wie zunächst gedacht. Und dass sie den Test wohl anschließend bearbeiten. Es zeigt sich anhand der Erlebnisse EH14-EH15, dass Camila in ihrem Fremdverstehen erfasst, dass die Schülerinnen und Schüler Erlebnisse vollziehen, und darüber hinaus auch, welche Erlebnisse sie vollziehen. Damit zeigt sich, dass Camila – wie schon in Fremdverstehen I und II – auch gegenüber den Schülerinnen und Schülern der Klasse B echtes Fremdverstehen vollzieht. Da Fremdverstehen III im Gegensatz zu Fremdverstehen I und II im Interview mit Camila nicht ausführlicher thematisiert wird, können nicht mehr als die oben genannten Merkmale dieses Fremdverstehens rekonstruiert werden. Es sei hier jedoch angemerkt, dass im Rahmen dieser Analyse die Abwesenheit von Aussagen über bestimmte Merkmale eines Fremdverstehens nicht derart verstanden werden darf, dass sich in diesem Fremdverstehen bestimmte Aspekte des Phänomens, welche in Kapitel 2 theoretisch erarbeitet wurden, nicht erfüllten. Vielmehr verhält es sich so, dass diese Aspekte im Fremdverstehen zwar erfüllt, mir als wissenschaftliche Beobachterin auf Grundlage des Interviews mit Camila aber nicht gegeben waren.
6.4.1.4 Zu Strukturen des Fremdverstehens von Camila Es konnte nun Camilas Fremdverstehen rekonstruiert werden, welches sie in verschiedenen Situationen im Mathematikunterricht zweier 9. Klassen vollzog. Anhand dieser Rekonstruktionen lassen sich strukturelle Merkmale herausstellen, die Camilas Fremdverstehen anscheinend aufweist. Um welche Strukturmerkmale es sich dabei handelt, sei im Folgenden erläutert: Polypersonalität des alter ego In zwei der drei Rekonstruktionen zeigte sich, dass Camila sich in ihrem Fremdverstehen nicht notwendigerweise nur auf einen Menschen, sondern vielmehr auf eine Gruppe von Menschen richtet: Im Fremdverstehen II deutet sie die Erlebnisse und Handlungen zweier Schülerinnen, im Fremdverstehen III die Erlebnisse und Handlungen einer gesamten Klasse. Camila erfasst in diesem Fremdverstehen zwar fremde spezifische Erlebnisse und Handlungen, d. h., sie gelangt zu
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der Deutung, dass die Gruppe von Menschen, auf die sie in ihrem Fremdverstehen gerichtet ist, andere Erlebnisse und Handlungen vollzieht als ihre eigenen, und zudem, welche Erlebnisse und Handlungen die Gruppe von Menschen vollzieht. (In diesem Sinne vollzieht Camila auch echtes Fremdverstehen.) Was sie aber nicht erfasst, ist, dass die Individuen dieser Gruppen eigentlich voneinander verschiedene Erlebnisse und Handlungen vollziehen. Stattdessen identifiziert sie die Erlebnisse und Handlungen und kommt so in ihrem Fremdverstehen zu dem Ergebnis, dass alle Menschen der Gruppe dieselben Erlebnisse und Handlungen vollziehen. Mathematikungebundenheit Bezüglich aller Erlebnisse und Handlungen, die Camila im Fremdverstehen I, II und III erfasst, fällt auf, dass keines der von ihr erfassten Erlebnisse und Handlungen an den konkreten mathematischen Inhalt des Tests (‚Satz des Pythagoras‘) gebunden ist. Vielmehr könnten all die von ihr erfassten Erlebnisse und Handlungen genau so auch während der Bearbeitung eines Mathematiktests zu einem beliebigen Thema vollzogen werden. Und selbst zum Fach Mathematik überhaupt weisen die Erlebnisse und Handlungen nur wenig Bezug auf: Nur EH5 (‚Freude an Mathematik und am Mathematikunterricht‘) im Fremdverstehen I sowie EH12 (‚Schwierigkeiten mit bisherigem Mathematikunterricht‘) und EH13 (‚sich von der Mathematik abgewandt haben‘) im Fremdverstehen II beziehen sich auf das Fach Mathematik. Alle restlichen von Camila erfassten Erlebnisse und Handlungen könnten stattdessen genau so auch während der Bearbeitung eines Tests in einem beliebigen Schulfach vollzogen werden. ‚Erinnerungsfluss‘ durch Personenvertauschung Genau genommen handelt es sich bei dem folgenden Merkmal nicht um ein Merkmal von Camilas Fremdverstehen, sondern vielmehr um ein Merkmal ihres erzählten Fremdverstehens. Bezüglich des Fremdverstehens I, II und III konnte rekonstruiert werden, dass Camila wohl eine Personenvertauschung der Art vornimmt, dass sie sich an Stelle des alter ego setzt und ihre eigenen vergangenen Erlebnisse und Handlungen mit denen des alter ego identifiziert. In der Rekonstruktion von Fremdverstehen I und II zeigt sich außerdem, dass sie in ihrer Erzählung ihrer eigenen vergangenen Erlebnisse und Handlungen jeweils in einen Erzählfluss gerät, also dass sie hier eine längere, zusammenhängende Erzählung vornimmt. Innerhalb dieser Erzählungen thematisiert Camila teilweise eigene Erlebnisse und Handlungen, die zu dem von ihr erfassten Erleben und Handeln des alter ego ihres Fremdverstehens eine Ähnlichkeit aufweisen. Sie erzählt überdies aber auch von eigenen Erlebnissen und Handlungen, die keine Ähnlichkeit zu
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dem von ihr erfassten Erleben und Handeln des alter ego aufweisen: So erwähnt sie im Rahmen ihrer Erzählung zu Fremdverstehen I beispielsweise ihre eigenen vergangenen Erlebnisse und Handlungen EEH3 (‚eigene Erwartungen übertreffen‘), EEH5 (‚Vorfreude, den Eltern eine gute Note vorweisen zu können‘) und EEH6 (‚Zunahme der Motivation für Beschäftigung mit kommenden Unterrichtsthemen‘). Bei diesen Erlebnissen und Handlungen handelt es sich um eigene vergangene Erlebnisse und Handlungen Camilas, die sie in ihrem Fremdverstehen I allerdings nicht auf alter ego überträgt. Es scheint, als gerate Camila durch die Personenvertauschung, welche sie im Rahmen eines Fremdverstehens vornimmt, in eine Art ‚Erinnerungsfluss‘, innerhalb dessen sie sich über diejenigen eigenen vergangenen Erlebnisse und Handlungen, die sie mit denen des alter ego identifiziert, hinaus auch an weitere eigene vergangene Erlebnisse und Handlungen erinnert, die sie zwar nicht mit denen des alter ego identifiziert, die für sie aber mit dem Erleben und Handeln, das sie mit dem des alter ego identifiziert, in einer Art Erlebenszusammenhang zu stehen scheinen. Verifikation eines Erlebnisses durch ein anderes Erlebnis Auch das folgende Merkmal von Camilas Fremdverstehen ist genau genommen kein Merkmal ihres Fremdverstehens, sondern ein Merkmal ihres erzählten Fremdverstehens. Denn in ihren Erzählungen vom Fremdverstehen I und II thematisiert Camila die Adäquatheit ihrer Fremdverstehensresultate und folgt in beiden Fällen folgendem Erzählmuster: Um ein von ihr erfasstes Erleben oder Handeln A von alter ego zu verifizieren, zieht sie ein ebenfalls von ihr erfasstes Erleben oder Handeln B von alter ego heran, welches Erleben oder Handeln A ähnlich ist. Der Vollzug von Erlebnis oder Handlung B scheint dann insofern den Vollzug von Erlebnis oder Handlung A belegen zu sollen, als Erleben oder Handeln A und B gewöhnlicherweise zusammen vollzogen werden. Mit anderen Worten: Dass alter ego Erlebnis oder Handlung B vollzieht, scheint als Beleg dafür angebracht zu werden, dass alter ego auch Erlebnis oder Handlung A vollzogen haben muss. Diese Verifikationslogik, die sich in Camilas erzähltem Fremdverstehen zeigt, weicht von der Verifikationslogik ab, wie sie in der theoretischen Untersuchung des Phänomens ‚Fremdverstehen‘ beschrieben wurde: Dort stellte sich nämlich heraus, dass die Verifikation eines erfassten Erlebnisses über die Deutung weiterer Anzeichen vollzogen werden kann. Je nachdem, ob weitere Anzeichen ein erfasstes Erlebnis bekräftigten oder widerlegten, stellte sich die Deutung des Erlebnisses als adäquater oder inadäquat heraus. Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, dass Camila im tatsächlichen Vollzug ihres Fremdverstehens die Resultate dieses Fremdverstehens nicht auch über die Deutung weiterer Anzeichen verifiziert. Was hier vielmehr herausgestellt
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werden soll, ist, dass Camila – obgleich sie wahrscheinlich in ihrem Fremdverstehen die Resultate ihres Fremdverstehens über die Deutung weiterer Anzeichen verifiziert – in der Erzählung von den Resultaten ihres Fremdverstehens auf eine alternative ‚Verifikationsstrategie‘ zurückgreift: Statt weitere Anzeichen zu deuten, die auf den Vollzug eines Erlebnisses oder einer Handlung hinweisen, benennt sie weitere, ähnliche Erlebnisse oder Handlungen. Geringes Kontingenzbewusstsein gegenüber ‚positiven‘ erfassten Erlebnissen Die Rekonstruktion des Fremdverstehens I zeigte, dass Camila die Resultate dieses Fremdverstehens als adäquat einschätzt. Bezüglich des Fremdverstehens II konnte hingegen rekonstruiert werden, dass Camila sich hinsichtlich der Adäquatheit ihrer Resultate unsicher ist. Auf die Frage, ob sie sich vorstellen könne, dass die Personen, auf die sie in ihrem Fremdverstehen I und II gerichtet war, auch andere Erlebnisse und Handlungen vollzogen haben könnten, antwortet Camila: „Besonders bei den Tiefpunkten [Erlebnisse und Handlungen der Schülerinnen aus Fremdverstehen II, CSG] bin ich mir jetzt nicht so sicher, ob das dann wirklich so aufgefasst wurde. Ich denke, äh beim Hochpunkt [Erlebnisse und Handlungen des Schülers aus Fremdverstehen I, CSG] lieg ich vielleicht doch ganz richtig [...].“
Camila expliziert hier also, dass sie gegenüber den erfassten Erlebnissen und Handlungen des Schülers weniger Kontingenzbewusstsein besitzt als gegenüber den erfassten Erlebnissen und Handlungen der Schülerinnen. Die von ihr verwendete Unterscheidung (‚Hochpunkt‘ und ‚Tiefpunkt‘) verweist zudem darauf, dass es die Beschaffenheit der Erlebnisse und Handlungen sein könnte, die ihr Kontingenzbewusstsein beeinflusst: Bei ‚positiven‘ erfassten Erlebnissen und Handlungen besitzt sie ein geringeres, bei ‚negativen‘ erfassten Erlebnissen und Handlungen hingegen ein gesteigertes Kontingenzbewusstsein. Diese These bekräftigt sich dadurch, dass sie im Interview tatsächlich hinsichtlich Fremdverstehen I keine alternativen Erlebnisse und Handlungen anführt, welche der Schüler stattdessen vollzogen haben könnte, bezüglich Fremdverstehen II hingegen formuliert sie eine solche Alternative.
6.4.2
Fremdverstehen LUISA
6.4.2.1 Zur Interviewsituation und zum Interviewverlauf Das zweite narrative Interview mit Luisa fand im November 2021 statt. Zu diesem Zeitpunkt lag ihr erstes Interview, also das biographisch-narrative Interview, ca.
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zwei Jahre zurück. Die Hospitation im Mathematikunterricht, im Rahmen derer sie die Beobachtungsaufträge bezüglich des Erlebens von Schülerinnen und Schülern bearbeitete, welche nun im zweiten Interview als ‚Erzählgrundlage‘ dienen, lag fünf Tage zurück. Luisa organisierte sich in Vorbereitung auf das Interview selbst eine Möglichkeit, im Mathematikunterricht zu hospitieren. Ihre Hospitation fand im Mathematikunterricht an einem Gymnasium in ihrem Wohnort in Bayern statt. Im Anschluss an ihre Hospitation, also einige Tage vor dem Interview, informierte Luisa mich per E-Mail darüber, dass sie während der Hospitation mehrere Unterrichtssituationen dokumentierte, in denen sie auf das jeweilige Erleben einer Schülerin oder eines Schülers dieser Situationen gerichtet war. Sie fragte mich, ob sie im bevorstehenden Interview alle oder nur zwei dieser Situationen (einen ‚Hochpunkt‘ sowie einen ‚Tiefpunkt‘) fokussieren solle. Ich antwortete ihr, dass keine Beschränkung nötig wäre, also dass sie mir sowohl von allen beobachteten Unterrichtssituationen als auch von allen durch sie erfassten Erlebnissen erzählen könne. Im Interview zeigte sich, dass Luisa sechs verschiedene Unterrichtssituationen und das jeweilige Erleben einer Schülerin oder eines Schülers dieser Situationen dokumentierte: drei ‚Hochpunkte‘ sowie drei ‚Tiefpunkte‘.10 Am Tag des Interviews reiste ich mit dem Zug nach Bayern an. Wir führten das Interview um 13 Uhr in einem Büro an der Universität, an der Luisa arbeitet. Luisa teilte mir im Voraus mit, dass sie bis ca. 15.30 Uhr Zeit für das Interview hätte, d. h., wir standen unter keinem zeitlichen Druck. Das Interview erstreckte sich letztendlich über einen Zeitraum von 1 h 32 min und fand ohne Unterbrechung oder Pause statt. Zu Beginn des Interviews erklärte ich kurz, dass mein Hauptinteresse dieses Mal den beobachteten Situationen aus dem Praktikum galt. Ich schilderte mein Forschungsvorhaben jedoch nicht weiter im Detail, um die folgende Erzählung nicht zu stark zu beeinflussen. Stattdessen erläuterte ich kurz die Unterschiede zur Gesprächsführung des ersten Interviews, also dass ich dieses Mal zwei Erzählimpulse geben und zu beiden dieser Impulse eine freie Erzählung von Luisa erwarten würde. Ich erklärte auch, dass ich – wie beim ersten Interview – ihre
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Auf die Frage, ob es sich bei dieser Gleichverteilung um einen Zufall handelt, antwortet Luisa: „Ja das war Zufall ja. […] Schöne Zahl. (….) Das stimmt ja. Aber das war auch wirklich Zufall. Ich hab auch ähm hier ein so ein Schmierblatt mir erst gefüllt ähm (.) und hab immer oben die Tiefpunkte und unten die Hochpunkte immer als Stichpunkte notiert und kam wirklich bei jedem dann zufällig auf drei und dachte dann, das passt auch perfekt dann, alle aufzunehmen. Ich war mir halt nicht sicher, ob ich dann am Ende mir ja aus jedem eins raussuche, auf das ich auf das ich mich intensiver fokussiere. Aber nachdem du ja gesagt hast, es sind alle relevant, dachte ich, passt es ja super, dass ich drei drei hab.“
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Erzählung nicht unterbrechen, sondern meine Fragen erst im Anschluss an ihre Erzählung stellen würde. Luisa wirkte – ähnlich wie im ersten Interview – sehr gesprächsbereit. Dieser Eindruck entstand in mir aus drei Gründen: 1. Sie nahm eine 15-minütige, ununterbrochene Eingangserzählung vor. 2. Sie beantwortete in den Nachfrageteilen des Interviews die Fragen, die an sie gestellt wurden, offen und ausführlich. 3. Sie führte auch nach der Beendigung des Interviews, d. h., nach Beenden der Aufnahme, noch ca. eine Stunde ein inoffizielles Gespräch mit mir. Ihre Eingangserzählung beginnt Luisa wie folgt: „Dann würde ich anfangen mit den Tiefpunkten, die mir aufgefallen sind. (.) Ähm (.) erstmal würde ich schon mal sagen, dass es mir selbst fast schwerer fiel, Tiefpunkte zu identifizieren. Ich glaube, [...] dass ja das einfach nicht so von den Schülern offen gezeigt wurde. Es war ja eine siebte Klasse und ähm ja dann waren sie vielleicht emotional auch ein bisschen zurückhaltender.“
Luisa beabsichtigt also, ihre Eingangserzählung wie folgt zu strukturieren: Sie wird zunächst von den drei von ihr beobachteten ‚Tiefpunkten‘ erzählen. Im Anschluss wird sie dann die drei von ihr beobachteten ‚Hochpunkte‘ thematisieren. Obwohl Luisa zu Beginn ihrer gesamten Erzählung sowie auch im weiteren Verlauf des Interviews mehrfach erwähnt, dass und auch warum es ihr leichter fiel, Hochpunkte zu identifizieren11 , zeigt sich während des gesamten Interviews keine Tendenz, dass sie von den beobachteten Hochpunkten ausführlicher erzählen würde als von den Tiefpunkten. Nach Ende des Interviews bleibt Luisa – wie oben bereits erwähnt – noch ca. eine Stunde und wir sprechen über unsere Erfahrungen in der Online-Lehre während der COVID-19-Pandemie. 11
Es seien hier drei Auszüge aus Luisas Erzählung beispielhaft angeführt: 1. „[Es könnte daran liegen, CSG], dass (.) ähm (..) naja man vielleicht Freude eher zeigt als Unsicherheit oder als ne Schwäche, sodass es deswegen leichter zu beobachten ist.“; 2. „Ich habe auch überlegt […], ob es an mir liegt, ähm (.) dass ich eher auf Hochpunkte anspringe. Weil ich, glaube ich, ja generell (.) selber eher positive Erfahrungen in Mathematik hab und weil ich ähm, (.) glaube ich, generell ein sehr positiver Mensch bin und mir immer eher die schöneren Dinge im Leben stärker vor Augen führe als (.) nicht so schöne Dinge.“; 3. „Naja ich glaube […], dass ich äh vermuten könnte, dass ähm (.) ja die (..) Schüler(.)innen das nicht so gerne zeigen, wenn sie (..) ähm sich eben unsicher oder nicht gut fühlen in Situationen. Also dann (.) versuchen, das eher na zu unterdrücken oder zu überspielen. Ähm ich weiß nicht, ich denke jetzt auch gerade, Siebtklässler sind ja auch recht pubertär und da bedeutet ja die Peergroup auch ziemlich viel (lacht). Dass es ähm dann ums Ansehen geht möglicherweise (.) ähm und deswegen man Schwächen nicht so gerne zeigt und (..) und deswegen Tiefpunkte auch eher (.) überspielt werden oder RUNTERgespielt werden.“
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6.4.2.2 Zu den situativen Bedingungen des Fremdverstehens von Luisa Das Fremdverstehen, das hier einer Analyse unterzogen wird, vollzieht Luisa im November 2021 im Rahmen einer Hospitation in einer Doppelstunde im Mathematikunterricht einer 7. Klasse an einem Gymnasium in einer bayerischen Kleinstadt. Das Thema dieser Doppelstunde ist die „Hinführung zu Funktionen […] mit […] Schwerpunkt auf klassischen Darstellungen, deswegen ging es dann so viel um Diagramme“. Luisa sitzt während der Hospitation im Klassenraum „in der letzten Reihe mittig […], da wo Platz war [und] weil [sie] Abstand zu den Schülern halten wollte, auch am Tisch einzeln“. Sie bewegt sich während der Stunde nicht im Raum, sondern bleibt auf ihrem Platz sitzen und beobachtet von dort die Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse. Auf die Frage, wie Luisa selbst die Hospitation erlebte, antwortet sie: „Ich glaub, [...] die Umstände [waren] schon auch ein bisschen bisschen komisch. Also ich hab mich schon komisch gefühlt, da mit durchs Schulhaus zu laufen. Einfach wegen Corona. Und ähm dass ja dort auch / also (.) ich war ja in [...] [Ort in Bayern, CSG] an der Schule und da sind auch gerade richtig hohe Inzidenzen und ähm der Schulleiter hat gesagt, das ist ok, ich darf kommen. Aber trotzdem dachte ich so, eigentlich für die Schulen ist es besser, wenn hier keine Leute einfach rumspazieren, die nicht hierhergehören. Deswegen hab ich mich, glaube ich, nicht so hundertprozentig wohl gefühlt, einfach dort mit rumzulaufen. Aber von dem Hospitieren her selbst war das schon ok. [...] [E]s war für mich auch was anderes, mal an einer weiterführenden Schule zu hospitieren. (.) Ich glaube, an der Grundschule würde ich da auch nochmal souveräner ähm auch als Hospitierende sitzen im Vergleich jetzt zu so ner weiterführenden Schule.“
6.4.2.3 Die Rekonstruktion des Fremdverstehens von Luisa In ihrem Interview unterscheidet Luisa sechs verschiedene Situationen innerhalb der Doppelstunde Mathematik, in denen sie ein Fremdverstehen vollzieht, in denen sie also das Erleben einer Schülerin oder eines Schülers der 7. Klasse in den Blick nimmt. Jede dieser Situationen und die jeweiligen Erlebnisse behandelt sie in ihrer Erzählung als ein eigenes Thema, d. h., sie trennt in ihrer Erzählung klar zwischen ihnen („Derselbe Schüler ist mir nochmal bei einer anderen Situation aufgefallen, dann würde ich nämlich, glaube ich, da gleich weitermachen […]“; „Ja das war die zweite Situation. Und die dritte Situation, die ich als Tiefpunkt noch so wahrgenommen hab, war […]“; „Genau. Das waren die drei Tiefpunkte. Und dann will ich noch was zu den Hochpunkten erzählen […]“; „Ja die zweite Situation, die
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fand ich auch sehr prägnant als Hochpunkt […]“; „Ok und dann noch nen dritter Hochpunkt […]“). In zwei der sechs Fremdverstehensprozesse ist Luisa auf dasselbe alter ego – aber jeweils „in einer ganz anderen Unterrichtsphase“ — gerichtet, in den restlichen vier Fremdverstehensprozessen hingegen jeweils auf verschiedene alter egos. In den folgenden Ausführungen möchte ich nun Luisas eigene Unterscheidung übernehmen. Das bedeutet, ich werde ihr Fremdverstehen nachzeichnen, welches sie in sechs verschiedenen Unterrichtssituationen vollzieht. Es handelt sich hierbei um: • Fremdverstehen I, in welchem Luisa während einer ‚Täglichen Übung‘ am Anfang der Doppelstunde auf die Erlebnisse und Handlungen eines Schülers gerichtet ist, • Fremdverstehen II, in welchem sie während eines Unterrichtsgespräches die Erlebnisse und Handlungen desselben Schülers erfasst, • Fremdverstehen III, in welchem sie während einer Einzelarbeitsphase die Erlebnisse und Handlungen einer Schülerin in den Blick nimmt, • Fremdverstehen IV, in welchem sie sich während des Vergleichens der Hausaufgaben auf die Erlebnisse und Handlungen einer anderen Schülerin richtet, • Fremdverstehen V, in welchem sie während einer Gruppenarbeitsphase das Erleben und Handeln einer weiteren Schülerin erfasst und • Fremdverstehen VI, in welchem sie während einer Arbeitsphase am Ende der Doppelstunde die Erlebnisse und Handlungen zweier Schülerinnen in den Blick nimmt. Jedes Fremdverstehen soll nun zunächst einzeln nachgezeichnet werden. Im Anschluss sollen dann Strukturmerkmale abstrahiert werden, die Luisas Fremdverstehen im Allgemeinen auszeichnen.
6.4.2.3.1 Fremdverstehen I: „er [hat] versucht, […] über diesen Fehler, den er da in dem Moment gemacht hat, hinwegzutäuschen“ Luisa vollzieht Fremdverstehen I während folgender Unterrichtssituation: „Am Anfang der Stunde [wurde] so ne Tägliche Übung gemacht. [...] Und dann wurde das verglichen und ähm (.) ein Schüler hat sich gemeldet und sein Ergebnis gesagt. Und dann war das aber falsch und ähm (.) wurde eben auch vom Lehrer so kommentiert mit „Ah nicht ganz. Nochmal jemand anderes?“. Und dann hat jemand anderes das
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korrekte Ergebnis gesagt und ähm (.) der Lehrer hat das dann auch mal an der Tafel erklärt [...]. Und dann kam von diesem Schüler son „HÄ“.“
Auf die Frage, inwiefern das Ergebnis des Schülers ‚falsch‘ war, antwortet Luisa: „Also bei dieser Täglichen Übung ging es um ähm (..) äh na so Rechnen mit rationalen Zahlen. Also ganz viel Vorzeichengeschichten. Und ich glaube, sein Ergebnis hatte eben nur das verkehrte Vorzeichen.“
Luisa (ego) ist in ihrem Fremdverstehen I also auf einen Schüler der 7. Klasse (alter ego) gerichtet, der sein Ergebnis beiträgt, welches dann vom Lehrer als ‚falsch‘ beurteilt wird, woraufhin der Schüler die Äußerung ‚Hä‘ vornimmt. Die Hospitationsstunde stellt den ersten Kontakt zu diesem Schüler dar, d. h., Luisa besitzt keinerlei Vorwissen über ihn. Sie nimmt in ihrem Fremdverstehen nun das Erleben und Verhalten des Schülers während der obigen Unterrichtssituation in den Blick. Zum Erleben und Verhalten des Schülers während dieser Situation erzählt Luisa: „Ich hatte so den Eindruck, der Schüler war sich eigentlich ziemlich sicher, als er das Ergebnis genannt hat. Ähm sonst hätte er sich ja nicht unbedingt freiwillig gemeldet. Und war ziemlich überrascht davon, dass sein Ergebnis eben nicht korrekt war. Und (.) mmh (.) ich glaube, vielleicht hat er versucht, mit diesem Hä so über diesen Fehler, den er da in dem Moment gemacht hat, hinwegzutäuschen. Ähm also das so ein bisschen zu überspielen diese Unsicherheit.“ „Na ich denke so vielleicht ein bisschen in Richtung Niederlage, dass jetzt das, was er sich überlegt hat, falsch war. Und ähm (..) dann halt auch / also also ja es ging so vielleicht gegen sein Selbstbewusstsein. Ähm (.) und (..) dann [...] so diese Unsicherheit (..) mit diesem Hä, also dass er einfach nicht so richtig nachvollziehen konnte, warum jetzt nicht / also warum seins nicht richtig war. (.) Ähm also ein bisschen son Unglaube steckt da vielleicht noch dahinter.“
Luisa kommt in ihrem Fremdverstehen also zu dem Ergebnis, dass der Schüler während der obigen Unterrichtssituation folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollzieht: EH1. Luisa gelangt zu der Deutung, dass der Schüler in dem Moment, in dem er sein Ergebnis mitteilt, überzeugt davon ist, dass sein Ergebnis richtig ist (‚war sich eigentlich ziemlich sicher, als er das Ergebnis genannt hat‘). Mit dieser Deutung verweist sie auf eine Reihe vorangegangener Erlebnisse und Handlungen des Schülers: Sie verweist darauf, dass der Schüler selbst zuvor wohl einen Urteilsakt vollzogen hat, in dem er auf sein Ergebnis gerichtet war und darüber
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urteilte, ob dieses falsch oder richtig sei. Dieser Akt des Urteilens wird den Schüler dann zu dem Urteil geführt haben, dass sein Ergebnis richtig sei. Der Vollzug eines solchen Urteilsaktes wiederum mag auf einen vorangegangenen kognitiven Akt des Schülers verweisen: Denn um überhaupt ein Urteil über sein Ergebnis fällen zu können, wird er zuvor dieses Ergebnis hervorgebracht haben, also die entsprechende Aufgabe der ‚Täglichen Übung‘ bearbeitet und gelöst haben müssen. EH2. Luisa fasst nun eine Veränderung am Leib des Schülers als Handlung auf. Sie fasst nämlich eine Veränderung am Leib des Schülers – möglicherweise das Heben seines Arms – als ‚Meldung‘ auf (‚sonst hätte er sich ja nicht […] gemeldet‘). Sie versteht die Körperbewegung also als ein Handeln mit kommunikativer Absicht des Schülers. Mit seiner Meldung drückt der Schüler nämlich die Bereitschaft aus, einen weiteren Bewusstseinsinhalt auszudrücken, in diesem Fall: das Ergebnis seiner Aufgabenbearbeitung. Luisa interpretiert ferner, dass der Schüler seine Meldung ohne äußeren Zwang vollzieht (‚freiwillig gemeldet‘). Sie interpretiert also, dass der Schüler nicht nur ‚bereit‘ ist, sein Ergebnis vorzutragen, sondern dass er dies vielmehr auch ‚beabsichtigt‘ bzw. dass er sich dies ‚wünscht‘. Die Formulierung ‚sonst hätte er sich ja nicht‘ in ‚der Schüler war sich eigentlich ziemlich sicher, als er das Ergebnis genannt hat. Ähm sonst hätte er sich ja nicht unbedingt freiwillig gemeldet‘ verweist auf ein Interpretationserlebnis, welches Luisa vollzieht. (Ob sie dieses Interpretationserlebnis bereits im Voraus des Erzählens vollzog, es also Vergangenheitscharakter trägt, oder ob sie es im Erzählen vollzieht, es also Gegenwartscharakter trägt, kann nicht herausgearbeitet werden.) Luisa scheint zu interpretieren, dass die Handlung des Schülers (‚Meldung‘) folgendem Weil-Motiv folgt: Er meldet sich ohne äußeren Zwang, weil er von der Richtigkeit seines Ergebnisses überzeugt ist. Dieses Interpretationserlebnis von Luisa scheint auf folgender empirischen Gesetzmäßigkeit zu beruhen: Wenn eine Schülerin oder ein Schüler sich ohne äußeren Zwang meldet, ist diese Schülerin oder dieser Schüler gewöhnlicherweise von der Richtigkeit des Beitrags überzeugt, den sie oder er mitzuteilen bereit ist. EH3. Der Schüler – so Luisas Deutung – erlebt nun eine Erwartungsenttäuschung (‚war ziemlich überrascht davon, dass sein Ergebnis eben nicht korrekt war‘): Er wird in der Erwartung enttäuscht, dass sein Ergebnis sich als ‚richtig‘ herausstellen wird, d. h., dass der Mathematiklehrer bestätigen wird, dass es sich um das richtige Ergebnis handelt. Mit ihrer Deutung, dass der Schüler diese Erwartung hegt, könnte Luisa auf dieselbe Reihe möglicher vorangegangener Erlebnisse und Handlungen verweisen, wie sie in EH1 ausformuliert wurde: Sie könnte darauf verweisen, dass der Schüler erstens die entsprechende Aufgabe
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der ‚Täglichen Übung‘ bearbeitet und gelöst hat, dass er zweitens zu dem Urteil gelangt ist, dass dieses Ergebnis richtig ist und dass er drittens von der Richtigkeit dieses Urteils überzeugt ist. Auf Basis dieser Erlebnisse und kognitiven Akte könnte der Schüler nun die Erwartung entwickelt haben, dass auch der Mathematiklehrer zu dem Urteil kommen wird, dass es sich um das richtige Ergebnis handelt. EH4. Luisa nimmt nun wahr, dass der Schüler ein ‚Hä‘ äußert. Sie fasst dieses Äußern als ein Handeln mit kommunikativer Absicht des Schülers auf. Im weiteren Verlauf des Interviews stellt sich heraus, dass sie vermutet, dass die Äußerung des Schülers weniger an eine konkrete Person gerichtet ist, sondern vielmehr „einfach allgemein in den Klassenraum hinein“. Luisa scheint folgendes Um-zu-Motiv für das Handeln des Schülers zu erkennen: Er nimmt die Äußerung des ‚Hä‘ vor, um zu verhindern, dass seine Mitschülerinnen und Mitschüler ihre Aufmerksamkeit darauf richten, dass er ein Ergebnis vortrug, welches sich als ‚falsch‘ herausstellte (‚hat er versucht, mit diesem Hä so über diesen Fehler, den er da in dem Moment gemacht hat, hinwegzutäuschen‘). Mit diesem Um-zuMotiv verweist Luisa auf eine Verkettung verschiedener Erlebnisse des Schülers: Sie verweist zunächst darauf, dass er sich wünscht, dass seine Mitschülerinnen und Mitschüler ihre Aufmerksamkeit nicht darauf richten, dass er ein Ergebnis vortrug, welches sich als ‚falsch‘ herausstellte. Dass der Schüler diesen Wunsch überhaupt hegt, könnte ferner wiederum darauf verweisen, dass er selbst mittlerweile davon ausgeht, dass es sich bei seinem Ergebnis um ein ‚falsches‘ Ergebnis handelt. Luisa scheint auch noch ein zweites Um-zu-Motiv für das Handeln des Schülers zu ermitteln. Dieses könnte wie folgt lauten: Der Schüler nimmt die Äußerung des ‚Hä‘ vor, um zu verhindern, dass seine Mitschülerinnen und Mitschüler ihre Aufmerksamkeit darauf richten, dass er sich unsicher fühlt (‚hat er versucht, mit diesem Hä […] ein bisschen zu überspielen diese Unsicherheit‘). Dieses von Luisa zugeschriebene Um-zu-Motiv scheint auf folgenden Erlebniszusammenhang zu verweisen: Der Schüler wünscht sich, dass seine Mitschülerinnen und Mitschüler ihre Aufmerksamkeit nicht darauf richten, dass er sich unsicher fühlt. Und dieser Wunsch wiederum verweist darauf, dass er sich tatsächlich unsicher fühlt. EH5. Luisa kommt in ihrem Fremdverstehen nun zu dem Ergebnis, dass der Schüler ein Misserfolgserleben vollzieht (‚Niederlage, dass jetzt das, was er sich überlegt hat, falsch war‘). Dieses Erleben vollzieht er – so Luisa –, weil seine Bearbeitung der Aufgabe zu einem Ergebnis führte, welches sich als ‚falsch‘
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herausstellt. Mit ihrer Deutung, dass der Schüler dieses Misserfolgserleben vollzieht, verweist Luisa darauf, dass er selbst bereits glaubt, dass es sich bei seinem Ergebnis um ein falsches Ergebnis handelt. EH6. Luisa erfasst ferner, dass der Schüler möglicherweise in seinem Selbstbild irritiert wird (‚es ging so vielleicht gegen sein Selbstbewusstsein‘). EH7. Sie kommt in ihrem Fremdverstehen außerdem zu dem Ergebnis, dass der Schüler einerseits nicht verstehen kann, warum sein Ergebnis nicht richtig ist (‚dass er einfach nicht so richtig nachvollziehen konnte, warum jetzt nicht / also warum seins nicht richtig war‘), und dass er andererseits nicht glauben kann, dass es nicht richtig ist (‚dass er einfach nicht so richtig nachvollziehen konnte, warum jetzt nicht / also warum seins nicht richtig war. (.) Ähm also ein bisschen son Unglaube‘). Der Schüler scheint laut Luisa also einerseits den Grund dafür, dass sein Ergebnis falsch ist, nicht einsehen zu können (‚nicht verstehen, warum‘). Und er scheint andererseits die Gültigkeit des Urteils seines Lehrers anzuzweifeln (‚nicht glauben, dass‘). Es zeigt sich, dass Luisa mit EH1-EH7 nicht nur erfasst, dass der Schüler eigene Erlebnisse und Handlungen vollzieht, sondern vielmehr auch, welche eigenen Erlebnisse und Handlungen er vollzieht. Mit anderen Worten: Es zeigt sich, dass Luisa echtes Fremdverstehen vollzieht. Denn als ‚echtes Fremdverstehen‘ sollten laut Schütz ja genau diejenigen Verstehensakte eines ego bezeichnet werden, die auf die Erfassung spezifischer fremder Erlebnisse oder Handlungen gerichtet sind. Im Fremdverstehen des Schülers scheint Luisa eine Personenvertauschung der Art vorzunehmen, dass sie sich selbst an die Stelle des Schülers setzt und eigene tatsächliche Bewusstseinserlebnisse mit denen des Schülers identifiziert. Dass sie solch eine Personenvertauschung vollzieht, darauf verweist u. a. folgende ‚selbsttheoretisierende‘ Aussage: „[Ich hatte] bei dieser Situation einfach [direkt diesen Blick darauf], er sagt was und das ist falsch [...], wird das ein Tiefpunkt? Und dass ich diesen Blick draufhatte, könnte ähm (..) daran liegen vielleicht, dass äh ich in so ner Situation / also wenn ich was als Schüler damals im Unterricht irgendwas gesagt habe und das war falsch, [...] ne Unsicherheit empfinde. Und deswegen erwarte ich das vielleicht auch von den Schülern in dieser Situation.“
Luisa selbst fühlte sich also unsicher in Situationen, in welchen sie als Schülerin im Unterricht etwas äußerte, das sich als ‚falsch‘ herausstellte. D. h., sie vollzog in ihrer Vergangenheit wiederholt das gleiche Erlebnis, welches sie nun dem Schüler zuschreibt. Denn sie gelangt in ihrem Fremdverstehen nämlich zu der Deutung, dass auch der Schüler sich in einer Unterrichtssituation, in welcher
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sich sein Ergebnis als ‚falsch‘ herausstellt, unsicher fühlt (EH4). Luisa führt – weiterhin in der Rolle einer ‚Theoretikerin ihrer selbst‘ – die Möglichkeit aus, dass ihr Fremdverstehen im Allgemeinen aufgrund dieser eigenen vergangenen Erlebnisse folgende Struktur aufweist: In Situationen, in denen sich ein Beitrag einer Schülerin oder eines Schülers im Unterricht als ‚falsch‘ herausstellt, gelangt sie zu der Deutung, dass diese Schülerin oder dieser Schüler sich – wie sie selbst in der Vergangenheit auch – unsicher fühlt. Auch vor dem Hintergrund von Luisas mathematikbezogener Lebensgeschichte (vgl. Abschnitt 5.5.2) bestärkt sich die Vermutung, dass Luisa im Fremdverstehen I eigene tatsächliche Erlebnisse auf den Schüler übertragen haben könnte: Hier konnten nämlich Erlebnisse von Luisa herausgearbeitet werden, die zu den von ihr erfassten Erlebnissen EH3 (‚Erwartungsenttäuschung‘) und EH6 (‚Verletzung des Selbstbewusstseins‘) des Schülers Ähnlichkeiten aufweisen. So zeigte sich einerseits, dass im gesamten Verlauf von Luisas mathematikbezogener Lebensgeschichte äußere Bestätigung durch Lehrkräfte, Dozierende etc. („äußere Rückmeldung des Erfolges […], wenn ich einfach darin bestätigt wurde, dass ich gut bin in dem, was ich dort getan habe“) zu ‚Hochpunkten‘ in ihrem Erleben führten. Ausbleibende positive Anerkennung durch Lehrkräfte, Dozierende etc. hingegen führte bei ihr zu ‚negativen‘ Erlebnissen. (Es zeigt sich hier eine Ähnlichkeit zwischen Luisas eigenem tatsächlichen Erleben und dem von ihr erfassten Erlebnis EH3 des Schülers.) Es konnte andererseits rekonstruiert werden, dass Luisa in ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte ein gesteigertes Konkurrenzempfinden gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern besaß und dass sie über längere Phasen hinweg nach einer ‚Sonderrolle‘ unter ihnen strebte. Wenn sie die Erwartungen an sich in dieser Sonderrolle nicht erfüllen konnte, schien sie unter diesem Statusverlust zu leiden. (Hier zeigt sich eine Ähnlichkeit zwischen Luisas eigenem tatsächlichen Erleben und dem von ihr erfassten Erlebnis EH6 des Schülers.) Zur Adäquatheit der Resultate, die sie in Fremdverstehen I hervorbringt, äußert sich Luisa wie folgt: „[Es kann auch sein], dass ich das überinterpretiert habe, also (.) gerade so dieser Junge […] mit dem Hä […]. Kann auch sein, dass das für ihn gar nicht so krass war.“ Luisa scheint sich also zum Zeitpunkt des Interviews unsicher darüber, ob die Resultate ihres Fremdverstehens als ‚adäquat‘ gelten können. Sie expliziert die Möglichkeit, dass sie die Erlebnisse des Schülers falsch interpretiert haben könnte, genauer: dass sie die Erlebnisse als intensiver interpretiert haben könnte, als sie der Schüler tatsächlich vollzog (‚überinterpretiert‘, ‚Kann auch sein, dass das für ihn gar nicht so krass war‘). Luisa versteht ihre Deutung der Erlebnisse des Schülers also als kontingent. Auf die Frage, welche alternativen Erlebnisse der Schüler vollzogen haben könnte, antwortet Luisa:
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„Mmh (....) also jetzt bei dem Hä zum Beispiel könnte es auch sein zum Beispiel, dass das gar nicht unbedingt mit seiner Unsicherheit selbst zu tun hat, sondern eher auch aus ihm heraus ähm (.) ja eigentlich Selbstsicherheit spricht. Ähm (.) dieses Hä so laut zu äußern, also es könnte auch sein, dass er ähm (...) damit also gar nicht unbedingt einen Tiefpunkt beschreibt, sondern eher nen / (....) naja eigentlich offene Kritik an den Lösungen des Lehrers. Könnte auch sein, dass er damit eigentlich sagt ‚Hä das kann doch überhaupt nicht stimmen, was du da hast‘. Ähm (....) und dann wär es ja kein Tiefpunkt mehr, sondern wirklich eher ja ein Ausdruck von Selbstsicherheit. Das wär auch möglich.“
Luisa fasst also auch in ihrer Reinterpretation der Unterrichtssituation, welche sie auf Nachfrage, d. h., im Moment des Erzählens anstellt, die Äußerung des ‚Hä‘ als Handlung mit kommunikativer Absicht des Schülers auf. Sie erkennt jedoch ein alternatives Um-zu-Motiv, dem diese Handlung folgt. Dieses kann wie folgt beschrieben werden: Der Schüler nimmt die Äußerung des ‚Hä‘ vor, um seine Zweifel am Urteil des Lehrers offen kundzutun (‚offene Kritik an den Lösungen des Lehrers‘, ‚dass er damit eigentlich sagt, hä das kann doch überhaupt nicht stimmen, was du da hast‘). Mit der Zuschreibung dieses Um-zu-Motivs verweist Luisa auf folgenden Erlebensverlauf des Schülers: Sie verweist zunächst auf den Wunsch des Schülers, seine Zweifel am Urteil des Lehrers offen kundzutun. Dass der Schüler diesen Wunsch hegt, verweist darauf, dass er das Urteil des Lehrers wohl anzweifelt. Und dieses Anzweifeln des Urteils des Lehrers wiederum könnte darauf verweisen, dass der Schüler selbst zu einem anderen Urteil als der Lehrer gelangt ist. In diesem Fall: Dass der Schüler selbst glaubt, dass sein Ergebnis vielmehr richtig als falsch ist. Es zeigt sich, dass die Deutungen, die Luisa in der Reinterpretation der Unterrichtssituation anstellt, sich grundlegend von ihren vorherigen Deutungen unterscheiden: Hatte sie die von ihr erfassten Erlebnisse und Handlungen EH1-EH7 noch als ‚Tiefpunkt‘ des mathematikbezogenen Erlebens des Schülers bewertet, kommt sie bezüglich obiger Erlebnisalternative nun zu dem Ergebnis, dass es sich dabei gar nicht um solch einen ‚Tiefpunkt‘ gehandelt haben muss.
6.4.2.3.2 Fremdverstehen II: „die Sorge, dass er jetzt deswegen, weil er was Falsches gesagt hat, ähm komisch dasteht“ Fremdverstehen II vollzieht Luisa während folgender Unterrichtssituation: „Später im Unterrichtsgespräch da (.) ähm ging es um n Diagramm und die Schüler(.)innen sollten sagen, ähm was die Aussage des Diagramms ist. Und (.) er [der Schüler aus Fremdverstehen I, CSG] hat eben sich wieder gemeldet, hat was gesagt und das war nicht so ähm korrekt. Und der Lehrer ist eben nochmal auf einen anderen Schüler eingegangen, dass nochmal jemand anderes was dazu sagt. (.) Und da hat der
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Schüler das nicht wirklich kommentiert, aber mmh ich hab so seinen suchenden Blick gesehen, wie er so sich im Klassenzimmer umgeguckt hat.“
Luisa (ego) ist im Fremdverstehen II wieder auf denselben Schüler (alter ego) gerichtet, auf den sie bereits in ihrem Fremdverstehen I gerichtet war. Sie besitzt somit zum Zeitpunkt des Vollzuges dieses zweiten Fremdverstehens bereits Vorwissen über das fremdzuverstehende alter ego: Sie ‚weiß‘ nämlich von den Erlebnissen, die der Schüler zu Beginn derselben Unterrichtsstunde während der ‚Täglichen Übung‘ vollzogen hat. Zum Erleben und Verhalten des Schülers erzählt Luisa: „Ich hab so seinen suchenden Blick gesehen, wie er so sich im Klassenzimmer umgeguckt hat. Und da dachte ich auch, dass das ja ne Art Tiefpunkt war. Wieder so dieser Rückschlag, dass das nicht korrekt war, was er gesagt hat. Und ähm mein Eindruck war der, dass er es eben halt wieder so erlebt hat mit er war eigentlich ziemlich sicher, hat es deswegen sagen wollen. Und als er gehört hat, ok das ist nicht korrekt, war so dieser suchende Blick in die Klasse ähm die Frage, was sagen die anderen dazu? Also vielleicht die Sorge, dass er jetzt deswegen, weil er was Falsches gesagt hat, ähm komisch dasteht. Und ich vermute mal, dass er (.) ähm bei diesem Rumschauen festgestellt hat, die anderen interessieren sich gar nicht so groß für seinen Fehler, sondern sind dabei, den nächsten Schüler(.)innen zuzuhören und ähm zu gucken, was kommt da jetzt wirklich raus, dass er festgestellt hat, ok war gar nicht so schlimm und hat wieder beim normalen Unterrichtsgeschehen weitergemacht.“ „Ich hatte auch wieder so den Eindruck, dass es eben in dem Fall viel in die Richtung so Unsicherheit ging. Ähm aber dieses Mal jetzt weniger das Unsicher im Hinblick aufs Fachliche, sondern eher das Unsicher im Hinblick aufs Soziale. Also ähm (..) naja so dieser suchende Blick, den habe ich so interpretiert, dass ich dachte, naja er macht sich jetzt Sorgen, dass er vielleicht dafür gehänselt wird, dass er Quatsch erzählt hat. Ähm (.) und (..) ja eher so eher so der Gedanke, (.) wie steht er jetzt vor den anderen da.“ „Mein Eindruck war [...], dass ähm er wohl durch diesen suchenden Blick festgestellt hat, ok es interessiert jetzt gar keinen so groß. Also dass das für ihn dann vielleicht auch eine Beruhigung war.“
Luisa erfasst in ihrem Fremdverstehen also, dass der Schüler während obiger Unterrichtssituation folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollzieht: EH8. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass der Schüler zunächst überzeugt davon ist, dass seine Deutung des Diagramms ‚richtig‘ ist (‚er war eigentlich ziemlich sicher‘). Mit der Interpretation dieses Erlebnisses verweist Luisa auf eine Reihe an Erlebnissen, die der Schüler zuvor vollzogen haben mag: So mag er, bevor er zu der Überzeugung gelangte, dass seine Deutung des Diagramms ‚richtig‘ ist,
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wohl zunächst einen Urteilsakt vollzogen haben, in welchem er auf diese Deutung gerichtet war und sie dahingehend beurteilte, ob sie ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist. Dieser Urteilsakt wird ihn vermutlich zu dem Ergebnis geführt haben, dass seine Deutung als ‚richtig‘ gelten kann. Dass er solch einen Urteilsakt über seine Deutung des Diagramms überhaupt vollzog, verweist wiederum auf einen vorangegangenen kognitiven Akt des Schülers. Er wird nämlich im Voraus seines Urteilens das Zu-Beurteilende dieses Urteilsaktes überhaupt erst bestimmt, in diesem Fall: seine Deutung des Diagramms überhaupt erst aufgestellt haben müssen. EH9. Luisa erfasst nun, dass der Schüler am Unterrichtsgespräch teilnehmen und seine Deutung des Diagramms vorstellen will (‚hat es […] sagen wollen‘). Sie interpretiert, dass der Schüler dieses Erlebnis nur vollzieht, weil er zuvor EH8 vollzogen hat. D. h., sie interpretiert, dass der Schüler seine Deutung vorstellen will, weil er der Überzeugung ist, dass diese ‚richtig‘ ist. Als Hinweis darauf, dass – laut Luisa – das Vollzogen-Haben von EH8 eine Bedingung für das Vollziehen von EH9 darstellt, dient folgende Formulierung aus ihrer Erzählung: ‚er war eigentlich ziemlich sicher, hat es deswegen sagen wollen‘. Luisa beobachtet nun folgenden Ereignisverlauf: Der Schüler meldet sich und stellt seine Deutung des Diagramms vor. Diese stellt sich als ‚falsch‘ heraus. EH10. Luisa versteht, dass der Schüler daraufhin ein Misserfolgserleben vollzieht (‚Rückschlag‘): Er erlebt es – so Luisa – als Misserfolg, dass seine Deutung des Diagramms sich nicht als ‚richtig‘ herausstellt (‚Rückschlag, dass das nicht korrekt war, was er gesagt hat‘). Mit ihrer Deutung, dass der Schüler solch ein Misserfolgserleben vollzieht, verweist Luisa auf verschiedene Erlebnisse und Handlungen des Schülers, die er im Voraus vollzogen haben wird: So scheint er beispielsweise das Urteil des Lehrers akzeptiert zu haben, welches seine Deutung als ‚falsch‘ einstuft. Er wird also sein selbstgefälltes Urteil, dass seine Deutung ‚richtig‘ ist, revidiert und korrigiert haben. EH11. Luisa kommt nun zu dem Ergebnis, dass der Schüler sich sorgt, dass seine Mitschülerinnen und Mitschüler ein negatives Urteil über ihn fällen, weil seine Deutung des Diagramms sich als ‚falsch‘ herausstellt (‚die Sorge, dass er jetzt deswegen, weil er was Falsches gesagt hat, ähm komisch dasteht‘, ‚er macht sich jetzt Sorgen, dass er vielleicht dafür gehänselt wird, dass er Quatsch erzählt hat‘). Sie kommt also zu dem Ergebnis, dass der Schüler in seinem Bewusstseinserleben in diesem Moment auf ein mögliches Bewusstseinserlebnis seiner Mitschülerinnen und Mitschüler gerichtet ist, dass er also einen transzendent gerichteten Akt vollzieht. EH12. Luisa nimmt dann eine Leibesveränderung des Schülers wahr: Sie beobachtet, dass er sich im Klassenzimmer umblickt (‚seinen […] Blick gesehen,
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wie er so sich im Klassenzimmer umgeguckt hat‘). Sie fasst dieses ‚Umblicken‘ des Schülers als Handeln auf, genauer: als Handeln ohne kommunikative Absicht. Sie scheint folgendes Um-zu-Motiv für das Handeln des Schülers zu erkennen: Er blickt sich im Klassenzimmer um, um in Erfahrung zu bringen, welches Urteil seine Mitschülerinnen und Mitschüler über ihn fällen, nachdem sich seine Deutung des Diagramms nicht als ‚richtig‘ herausstellt. Oder auch: Sie versteht das ‚Umblicken‘ des Schülers als Anzeichen dafür, dass er in Erfahrung bringen möchte, welches Urteil seine Mitschülerinnen und Mitschüler über ihn fällen. Der Schüler ist laut Luisa nun also nicht mehr wie in EH11 auf ein mögliches Bewusstseinserlebnis seiner Mitschülerinnen und Mitschüler gerichtet, sondern vielmehr versucht er, in Erfahrung zu bringen, welches Bewusstseinserlebnis seine Mitschülerinnen und Mitschüler wirklich vollziehen. In anderen Worten: Der Schüler vollzieht nun ein Fremdverstehen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler. D. h., es ergibt sich hier folgender Sachverhalt: Ego (Luisa) ist in ihrem Fremdverstehen nun auf die Bewusstseinserlebnisse eines alter ego (Schüler) gerichtet, welches selbst ein Fremdverstehen vollzieht, welches also selbst auf die Bewusstseinserlebnisse von mehreren alter egos (Mitschülerinnen und Mitschüler) gerichtet ist. Luisa kommt dann in ihrem Fremdverstehen des Schülers zu dem Ergebnis, dass er im Fremdverstehen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler wiederum zu dem Ergebnis kommt, dass diese ihre Aufmerksamkeit nicht darauf richten, dass seine Deutung des Diagramms nicht ‚richtig‘ war (‚ich vermute mal, dass er […] bei diesem Rumschauen festgestellt hat, die anderen interessieren sich gar nicht so groß für seinen Fehler‘). Der Schüler – so ergibt es Luisas ‚Fremdverstehen zweiter Ordnung‘12 – kommt zu dem Ergebnis, dass seine Mitschülerinnen und Mitschüler ihre Aufmerksamkeit vielmehr auf die Aufgabe richten sowie auf die Schülerinnen und Schüler, die im Anschluss an ihn ihre Deutungen des Diagramms vorstellen (‚sondern sind dabei, den nächsten Schüler(.)innen zuzuhören und ähm zu gucken, was kommt da jetzt wirklich raus‘). EH13. Luisa erfasst nun, welches Erlebnis des Schülers sich an sein Fremdverstehen anschließt. Sie deutet, dass der Schüler erleichtert über das Resultat seines Fremdverstehens ist, also darüber, dass seine Mitschülerinnen und Mitschüler ihre Aufmerksamkeit nicht darauf richten, dass seine Deutung des Diagramms 12
Als ‚Fremdverstehen zweiter Ordnung‘ soll ein Fremdverstehen bezeichnet werden, welches sich selbst auf ein Fremdverstehen richtet, also ein Fremdverstehen eines Fremdverstehens darstellt. Diese Bezeichnung ist in Anlehnung an Heinz von Foerster gewählt, der – ganz allgemein – eine Operation, die reflexiv wird, die sich also auf eine Operation desselben Typs bezieht, als ‚Operation zweiter Ordnung‘ bezeichnet (vgl. Foerster, 1985, S. 196 & Foerster, 2015, S. 285–286).
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nicht ‚richtig‘ war (‚dass das für ihn dann vielleicht auch eine Beruhigung war‘, ‚festgestellt hat, ok war gar nicht so schlimm‘). EH14. Sie gelangt letztlich zu der Deutung, dass der Schüler seine Aufmerksamkeit wieder auf das Unterrichtsgeschehen richtet (‚hat wieder beim normalen Unterrichtsgeschehen weitergemacht‘). Als Anzeichen hierfür scheint ihr das Handeln des Schülers zu dienen, hierauf verweist die Formulierung ‚weitergemacht‘. Es lässt sich jedoch nicht rekonstruieren, welche Handlungen ihr hier als Anzeichen gedient haben. Wie schon in Fremdverstehen I zeigt sich auch mit EH8-EH14, dass Luisa echtes Fremdverstehen vollzieht. Luisa selbst gelangt zu dem Urteil, dass sie im Fremdverstehen II eine Personenvertauschung der Art vornimmt, dass sie sich selbst an die Stelle des Schülers setzt und eigene potentielle Bewusstseinserlebnisse mit denen des Schülers identifiziert: „Der Junge mit dem suchenden Blick das könnte ich mir schon auch vorstellen, (..) ähm (...) dass das schon auch zu mir passen würde, so zu reagieren. Also dass ich äh / (...) und dann in so einer Situation einen Fehler gemacht hätte und wenn dann so einer passiert, wäre ich äh / (..) ja hoffen würde, dass es einfach (.) den anderen nicht so auffällt oder so.“
Dass Luisa selbst zu diesem Urteil gelangt, darauf verweist ihr konsequenter Gebrauch des Konjunktivs in obigem Auszug ihrer Erzählung: ‚könnte ich mir schon auch vorstellen‘, ‚ zu mir passen würde‘, ‚einen Fehler gemacht hätte‘, ‚passiert wäre‘ und ‚hoffen würde‘. Mit diesem verweist sie darauf, dass es sich um die Erzählung einer Möglichkeit handelt. Zur Gegenüberstellung: Von ihrer Personenvertauschung im Vollzug des Fremdverstehens I hatte sie im Indikativ erzählt (‚dass ich diesen Blick draufhatte, könnte ähm (..) daran liegen vielleicht, dass äh ich in so ner Situation / also wenn ich was als Schüler damals im Unterricht irgendwas gesagt habe und das war falsch, […] ne Unsicherheit empfinde‘). Mit dem Gebrauch des Indikativs verwies sie vielmehr auf eine Wirklichkeit als auf eine Möglichkeit, konkreter: auf eine vergangene Wirklichkeit. Die Adäquatheit der Resultate, die ihr Fremdverstehen II hervorbringt, schätzt Luisa im Interview zunächst ebenso ein wie die Adäquatheit der Resultate ihres Fremdverstehens I: „[Es kann auch sein], dass ich das überinterpretiert habe, also (.) gerade so dieser Junge [...] mit diesem suchenden Blick. Kann auch sein, dass das für ihn gar nicht so krass war. (..) Ähm (...) das kann definitiv von mir interpretiert sein.“
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Sie scheint sich also auch hier unsicher darüber zu sein, ob die Resultate ihres Fremdverstehens als ‚adäquat‘ gelten können. Und sie expliziert auch hier die Möglichkeit, dass sie die Erlebnisse des Schülers falsch interpretiert haben könnte, nämlich dass sie die Erlebnisse als intensiver interpretiert haben könnte, als sie der Schüler tatsächlich vollzog (‚überinterpretiert‘, ‚Kann auch sein, dass das für ihn gar nicht so krass war‘). Es zeigt sich dann, dass Luisa ihre Deutungen der Erlebnisse des Schülers als kontingent versteht. Auf Nachfrage führt sie nämlich folgende alternative Erlebnisse an, welche der Schüler auch vollzogen haben könnte: „Bei dem suchenden Blick (....) also kann auch sein, dass er damit gar nicht unbedingt nach seinen Mitschülern geschaut hat oder beziehungsweise nicht aus dem Grund, weil er da gerade was Falsches gesagt hat. (.) Könnte auch sein, dass er (...) ja einfach generell den Blick rumschweifen lässt, also (.) [...] dass er sich da gar nicht mmh (..) naja so groß emotional dran aufgehangen hat, dass da jetzt seine Antwort nicht korrekt gegeben wurde.“
Luisa nimmt also auf Nachfrage, d. h., im Moment des Erzählens, eine Reinterpretation des Erlebens des Schülers vor. Sie gelangt hierbei zu der Deutung, dass es sich bei dem Umherblicken des Schülers im Klassenraum gar nicht um ein Handeln, also um ein an einem vorgegebenen Entwurf orientiertes Verhalten gehandelt haben muss. Vielmehr formuliert sie die Möglichkeit aus, dass es sich bei dem Umherblicken auch um ein Verhalten des Schülers ohne Vorentwurf gehandelt haben könnte (‚einfach generell den Blick rumschweifen lässt‘). Vermutlich, weil diese alternative Deutung mit zuvor gedeuteten Weil- und Umzu-Motiven nicht vereinbar ist, expliziert Luisa die Kontingenz dieser Motive: Mit dem Erzählteil ‚nicht aus dem Grund, weil er da gerade was Falsches gesagt hat‘ verweist sie darauf, dass ein von ihr zuvor gedeutetes Weil-Motiv das Handeln des Schülers nicht bestimmt haben muss. Mit dem Erzählteil ‚dass er damit gar nicht unbedingt nach seinen Mitschülern geschaut hat‘ hingegen verweist sie darauf, dass ein von ihr zuvor gedeutetes Um-zu-Motiv nicht vorgelegen haben muss. Nachdem sie diese Erlebensalternativen des Schülers im Interview ausformuliert, fügt Luisa hinzu: „Aber da / (..) äh (..) das, glaube ich, ist nicht unbedingt so realistisch wie bei der ersten Situation. Also ich glaube, da bin ich mir schon mit meiner Interpretation (.) verhältnismäßig sicher.“
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Sie kommt letztendlich also doch zu der Einschätzung, dass sie sich bezüglich der Adäquatheit der Resultate ihres Fremdverstehens II ‚verhältnismäßig sicher‘ ist. Auf die Frage, warum sie sich in ihrer Deutung der Erlebnisse im Fremdverstehen II sicherer ist als in Fremdverstehen I, antwortet sie: „Mmh (..) ich glaub, ähm dass [ich mir sicherer bin], liegt an dem Zusammenhang der Situation. Dass ähm (..) na so wie diese Situation passiert ist, sie (.) äh (.) ja einfach in dem Zusammenhang für mich irgendwie keine andere logische Erklärung zulässt. Und das ist bei der ersten Situation [Unterrichtssituation aus Fremdverstehen I, CSG] anders, dass ich da / aus diesem Zusammenhang könnte es eben auch was anderes bedeuten. Wie ich es gerade geschildert habe jetzt bei dieser zweiten Situation, ist dieser Zusammenhang irgendwie find ich konkreter da, sodass / (..) ähm oder oder ist dieser Zusammenhang einfach nur aus dieser Perspektive logisch.“
Dass sie sich ihrer Deutung der Erlebnisse im Fremdverstehen II sicherer ist als in Fremdverstehen I, begründet Luisa also durch die Beschaffenheit der Situation, innerhalb welcher sie ihr Fremdverstehen vollzieht: Sie begründet es durch den Zusammenhang der Situation (,Zusammenhang der Situation‘)‚ d. h., durch die Einheit der in dieser Situation vollzogenen Ereignisse (‚Ereigniszusammenhang‘) einerseits und die Einheit des in dieser Situation vollzogenen Erlebens und Handelns des Schülers (‚Erlebnis- und Handlungszusammenhang‘) andererseits. Während dieser Ereignis- sowie Erlebens- und Handlungszusammenhang in der Situation, in der Luisa Fremdverstehen II vollzieht, so beschaffen ist, dass ihr kaum eine andere Deutung als die ihre zulässig scheint (‚keine andere logische Erklärung zulässt‘), ist er in der Situation, in der sie Fremdverstehen I vollzieht, hingegen derart beschaffen, dass er laut Luisa auch anders gedeutet werden könnte (‚könnte es eben auch was anderes bedeuten‘). Es kann jedoch nicht rekonstruiert werden, worin sich die Ereignis- sowie Erlebens- und Handlungszusammenhänge der beiden Situationen für Luisa voneinander unterscheiden, geschweige denn, warum für Luisa bei dem Zusammenhang der Unterrichtssituation aus Fremdverstehen II alternative Deutungen eher nicht zulässig und bei dem Zusammenhang der Unterrichtssituation aus Fremdverstehen I eher zulässig sind.
6.4.2.3.3 Fremdverstehen III: „dass sie einfach nicht so richtig wusste, was sie da jetzt machen soll“ Luisa vollzieht Fremdverstehen III während folgender Unterrichtssituation: „Die sollten dann selbstständig Aufgaben lösen ähm die Kinder. Und da war eine Aufgabe, (.) dass passend zu ner Sachsituation aus drei Diagrammen das korrekte
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Diagramm ausgewählt werden sollte. (.) [...] Es sollte noch dazu beschrieben werden, warum man dieses Diagramm auswählt [...], also diese Begründung. Und das eine Mädchen meinte dann eben „Ich hab einfach eins gewählt“. Und ne andere Schülerin hat dann zu ihr gesagt „Na dann schreib doch einfach, warum du das gewählt hast“. Und das / die Antwort dieses Mädchens war „Na einfach so“.“
Luisa (ego) ist in ihrem Fremdverstehen III auf obige Schülerin der 7. Klasse (alter ego) gerichtet, die die Äußerung ‚Ich hab einfach eins gewählt‘ und ‚Na einfach so‘ vornimmt. Zu dieser Schülerin hat Luisa im Rahmen der Hospitationsstunde das erste Mal Kontakt, sie besitzt also keinerlei Vorwissen über sie. Zum Erleben und Verhalten der Schülerin während obiger Unterrichtssituation erzählt Luisa: „[Das Mädchen] meinte dann eben „Ich hab einfach eins gewählt“. Und ne andere Schülerin hat dann zu ihr gesagt „Na dann schreib doch einfach, warum du das gewählt hast“. Und das / die Antwort dieses Mädchens war „Na einfach so“. Und dann ähm / (.) [...] da war dieser Tiefpunkt, glaube ich, mmh für dieses Mädchen darin, dass sie diese Aufgabe nicht beantworten konnte. Weil es vielleicht für sie ne sehr untypische Aufgabenstellung war, dass man mal was begründen sollte. Und nicht so dieses Klassische, wie man Mathematik gewöhnt ist, richtig oder falsch. (.) Und sie einfach diesen Aufgabentyp nicht so richtig ähm ja (.) umsetzen konnte und ähm (.) in dieser Unsicherheit lieber gar nichts schreiben wollte, als (.) ähm jetzt irgendwas hinzuschreiben.“
Luisa kommt in ihrem Fremdverstehen also zu dem Ergebnis, dass die Schülerin während obiger Unterrichtssituation folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollzieht: EH15. Sie hört, dass die Schülerin ‚Ich hab einfach eins gewählt’ und – nach Aufforderung einer Mitschülerin, den Grund ihrer Auswahl zu notieren – ‚Na einfach so‘ äußert. Sie versteht diese Äußerungen der Schülerin als Handlungen mit kommunikativer Absicht. Im weiteren Verlauf des Interviews schildert Luisa den Kommunikationsverlauf detaillierter: Sie erzählt, dass die Schülerin, auf die sich ihr Fremdverstehen richtet, sich in ihrem kommunikativen Handeln eigentlich an ihre „Banknachbarin“ richtet, dass diese aber keine Anschlusskommunikation vollzieht. Stattdessen schließen die oben bereits erwähnte Mitschülerin und ein Mitschüler kommunikativ an die Äußerung der Schülerin an. Erstere fordert die Schülerin auf, den Grund ihrer Auswahl zu notieren, zweiterer erklärt ihr – nachdem sie auf die Aufforderung ihrer Mitschülerin antwortet ’Na einfach so’ –, was seine Begründung wäre. Luisa gibt im weiteren Verlauf des Interviews außerdem an, dass insbesondere ein Aspekt am Verhalten der Schülerin ihr als Anzeichen für das Erleben der
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Schülerin dient: „[Das war] auch noch ihr Tonfall, wie sie das gesagt hat, dass ähm ja ich ja irgendwie drauf angesprungen bin, dass ich das als Tiefpunkt dann fokussiert hab.“ Es dient Luisa also nicht nur als Anzeichen, dass die Schülerin die Äußerungen ‚Ich hab einfach eins gewählt‘ und ‚Na einfach so‘ vornimmt, sondern vielmehr auch, wie sie diese Äußerungen vornimmt (‚ihr Tonfall, wie sie das gesagt hat‘). Auf die Frage, in welchem Tonfall die Schülerin ihre Äußerungen vornimmt, gibt Luisa folgende Antwort: „Na eher so in Richtung [...] Überforderung. Dass sie einfach nicht so richtig wusste, was sie da jetzt machen soll und ähm (...) ja das Ganze vielleicht auch mit so nem gewissen (.) ganz kleinem Hauch von Trotzigkeit, der ähm da so mit zum Ausdruck bringt ähm dieses (..) dieses ‚Wie soll ich das denn überhaupt hinkriegen?‘“
Den Tonfall, in dem die Schülerin ihre Äußerung vornimmt, beschreibt Luisa also nicht anhand von akustischen Merkmalen wie beispielsweise Sprachmelodie, Intonation oder Klangqualität. Vielmehr zieht sie zur Beschreibung des Tonfalls weitere Erlebnisse der Schülerin heran, für welche der Tonfall ebenfalls als Anzeichen dient. EH16. Die Sprachhandlung der Schülerin (EH15) trägt für Luisa folgende Erlebenskomponente: Die Schülerin kann die an sie gestellte Aufgabe nicht bearbeiten (‚dass sie diese Aufgabe nicht beantworten konnte‘). D. h., sie kann ihre Auswahl eines Diagramms nicht begründen. Mit der Deutung dieses Erlebnisses verweist Luisa auf einen Erlebensverlauf der Schülerin, der sich zuvor vollzogen haben mag: Sie verweist darauf, dass die Schülerin wohl zuvor versuchte, die Aufgabe zu bearbeiten, also eine Reihe von kognitiven Akten vollzog, die jedoch nicht zu dem Ergebnis führten, dass die Schülerin ihre Auswahl eines Diagrammes begründen kann. Luisa erfasst folgenden Grund dafür, dass die Schülerin die Aufgabe nicht bearbeiten kann: Sie ist mit der Aufgabenstellung nicht vertraut, also damit, Begründungen hervorzubringen. Begründen stellt – so Luisa – für die Schülerin einen für den Mathematikunterricht ‚untypischen‘ Tätigkeitstyp dar (‚Weil es vielleicht für sie ne sehr untypische Aufgabenstellung war, dass man mal was begründen sollte‘). Vielmehr entspräche es nach Luisas Deutung der Erwartung der Schülerin, wenn die Aufgabenstellung vorsähe, dass zwar ein Urteil über die Passung der Diagramme zum Sachverhalt gefällt, dieses aber nicht begründet werden muss (‚Weil es vielleicht für sie ne sehr untypische Aufgabenstellung war, dass man mal was begründen sollte. Und nicht so dieses Klassische, wie man Mathematik gewöhnt ist, richtig oder falsch‘).
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EH17. Luisa interpretiert nun, dass die Schülerin sich überfordert fühlt, weil sie die an sie gestellte Anforderung (‚Bearbeiten der Aufgabe‘) nicht erfüllen kann (‚so in Richtung […] Überforderung‘). Mit dieser Interpretation verweist Luisa auf eine Reihe an Erlebnissen, die die Schülerin zuvor vollzogen haben könnte: Sie wird einerseits die Bearbeitung der Aufgabe als Anforderung an sich in ihrer Rolle der Schülerin verstanden und diese Anforderung überdies akzeptiert haben. Sie wird andererseits – wie bereits in EH16 herausgearbeitet – wohl zuvor versucht haben, die Aufgabe zu bearbeiten. Dieser Aktverlauf wird jedoch letztlich nicht dazu geführt haben, dass sie die Aufgabe löste. EH18. Luisa kommt in ihrem Fremdverstehen weiter zu dem Ergebnis, dass die Schülerin sich unsicher ist, wie sie nun, da sie die Aufgabe nicht lösen kann, vorgehen soll (‚in dieser Unsicherheit lieber gar nichts schreiben wollte, als (.) ähm jetzt irgendwas hinzuschreiben‘). Mit der Erfassung dieses Erlebnisses könnte Luisa auf folgende Verkettung von Erlebnissen der Schülerin verweisen: Die Schülerin ist sich unsicher, wie sie vorgehen soll, weil sie sich nicht zwischen mehreren, ihr möglichen Vorgehensweisen entscheiden kann. Dass sie sich nicht zwischen mehreren, ihr möglichen Vorgehensweisen entscheiden kann, verweist wiederum darauf, dass sie überhaupt mehrere Vorgehensweisen für sich in Betracht zieht. Und dass sie mehrere Vorgehensweisen für sich in Betracht zieht, weist darauf hin, dass ihr mehrere mögliche Vorgehensweisen bekannt sind. In umgekehrter Reihenfolge würde diese Erlebnisreihe wie folgt lauten: Der Schülerin sind verschiedene Möglichkeiten für ihr weiteres Vorgehen bekannt, sie zieht mehrere dieser Vorgehensweisen für sich in Betracht, kann sich zwischen ihnen nicht entscheiden und ist sich so schließlich unsicher, wie sie vorgehen soll. EH19. Luisa gelangt zu der Deutung, dass die Schülerin es letztlich vorzieht, keine Aufgabenlösung zu formulieren als eine möglicherweise falsche (‚lieber gar nichts schreiben wollte, als (.) ähm jetzt irgendwas hinzuschreiben‘). D. h., dass sie es vorzieht, die Auswahl ihres Diagramms gar nicht zu begründen, als eine möglicherweise falsche Begründung zu geben. Mit der Deutung, dass der Schülerin nur ‚keine Begründung formulieren‘ oder ‚eine vermutlich falsche Begründung formulieren‘ als Handlungsmöglichkeiten offenstehen, verweist Luisa darauf, dass die Schülerin der Überzeugung ist, dass sie selbst nur eine Begründung formulieren kann, die sich als ‚falsch‘ herausstellen würde. EH20. Luisa erfasst für die Sprachhandlungen der Schülerin aus EH15 (‚Ich hab einfach eins gewählt’, ‚Na einfach so‘) folgendes Um-zu-Motiv: Die Schülerin nimmt diese Sprachhandlungen vor, um ihre Ablehnung gegenüber der Aufgabenstellung auszudrücken (‚mit so nem gewissen (.) ganz kleinem Hauch von Trotzigkeit, der ähm da so mit zum Ausdruck bringt ähm dieses (..) dieses
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‚Wie soll ich das denn überhaupt hinkriegen?“). Dass Luisa dieses Um-zu-Motiv für das Handeln der Schülerin erfasst, verweist darauf, dass sie zu der Deutung gelangte, dass die Schülerin Ablehnung gegenüber der Aufgabenstellung verspürt. Ein möglicher Grund dafür, dass die Schülerin diese Ablehnung verspürt, liegt laut Luisa darin, dass sie die Aufgabenstellung als für sich nicht bearbeitbar einschätzt, genauer: dass sie die Anforderungen als zu hoch einschätzt, die durch die Aufgabe an sie gestellt werden (‚Wie soll ich das denn überhaupt hinkriegen?‘). Luisa verweist hiermit darauf, dass die Schülerin die Anforderung nicht akzeptiert, die an sie gestellt werden. Wie auch bei Fremdverstehen I-II zeigt sich, dass Luisa mit E15-E20 nicht nur erfasst, dass die Schülerin eigene Erlebnisse und Handlungen vollzieht, sondern vielmehr auch, welche eigenen Erlebnisse und Handlungen sie vollzieht. Mit anderen Worten: Es zeigt sich, dass Luisa echtes Fremdverstehen gegenüber der Schülerin vollzieht. Luisa nimmt im Fremdverstehen der Schülerin eine Personenvertauschung vor. Im Modus dieser Personenvertauschung scheint sie, eigene tatsächliche Erlebnisse mit denen der Schülerin zu identifizieren. Sie erzählt hierzu: „Naja ich interpretiere das jetzt als Tiefpunkt, weil ich so denke, (..) mmh für mich als Schülerin ist es Ziel gewesen, alle Aufgaben zu erfüllen. Und wenn ich eine nicht erfüllen kann, ja dann stoppt man an dieser Situation und es ist komisch. Und weil man nicht dieses Ziel erfüllen kann, (.) ähm deswegen hab ich das als Tiefpunkt eingeordnet.“
Dass es sich um eine Personenvertauschung der Art handelt, dass eigene tatsächliche Erlebnisse auf das alter ego übertragen werden, darauf verweist Luisas Gebrauch des Indikativs in der entsprechenden Stelle der Erzählung (‚nicht erfüllen kann‘, ‚dann stoppt man‘, ‚es ist komisch‘). Dieser weist nämlich darauf hin, dass hier von einem wirklichen – im Gegensatz zu einem möglichen – Sachverhalt erzählt wird: Luisa selbst setzte es sich in der Vergangenheit zum Ziel, die Anforderungen zu erfüllen, die an sie in ihrer Rolle als Schülerin gestellt wurden. Wenn es ihr nicht gelang, sämtliche dieser Anforderungen zu erfüllen, führte dies bei ihr zu einem negativen Erleben (‚Tiefpunkt‘). Dass Luisa in ihrem Fremdverstehen III eine Personenvertauschung vornimmt und anscheinend eigene tatsächliche Erlebnisse mit denen der Schülerin identifiziert, lässt sich auch bezüglich eines konkreten, von Luisa gedeuteten Erlebnisses der Schülerin rekonstruieren: Luisa kam in ihrem Fremdverstehen nämlich u. a. zu dem Ergebnis, dass die Schülerin ‚Begründen‘ als eine für den Mathematikunterricht ‚untypische‘ Tätigkeit bewertet (vgl. EH16). Zu einem späteren Zeitpunkt
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des Interviews zeigt sich, dass es sich bei dieser Bewertung auch um ein eigenes tatsächliches Bewusstseinserlebnis von Luisa handelt: „Also ich hab einfach diesen Blick drauf, dass ich aus meinem Studium kenne und jetzt von der Arbeit [...], dass es immer wieder heißt, das Argumentieren und Begründen kommt viel zu kurz. Und so das Klassische, was im Mathematikunterricht passiert, ist das Rechnen und ähm, dass es immer um richtig und falsch geht. Und dass halt eben, wenn mal Begründungen gefordert sind, das eher (.) selten ist.“
Es scheint hier gewissermaßen ‚der mathematikdidaktische Diskurs durch Luisa zu sprechen‘. Darauf verweist die Formulierung ‚dass ich aus meinem Studium kenne und jetzt von der Arbeit‘. Aus der Rekonstruktion der mathematikbezogenen Lebensgeschichte ist bekannt, dass es sich bei Luisas Studium um ein Studium des Faches Mathematik für das Lehramt und bei ihrer Arbeit um eine Anstellung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Didaktik der Mathematik an einer bayerischen Universität handelt. Luisa kommt zu dem Urteil, dass die Tätigkeiten Argumentieren und Begründen im Mathematikunterricht zu wenig Beachtung finden, dass sie folglich als für den Mathematikunterricht eher ‚untypische‘ Tätigkeiten bezeichnet werden können. Es zeigt sich hier also, dass es sich bei dem von Luisa erfassten Erleben der Schülerin um ein eigenes tatsächliches Erleben von Luisa handelt: Sie selbst bewertet Argumentieren und Begründen als für den Mathematikunterricht ‚untypische‘ Tätigkeiten. In der Rekonstruktion von Luisas mathematikbezogener Lebensgeschichte konnte auch nachgezeichnet werden, dass Luisa selbst als Schülerin eine Vorliebe für mathematische Fleißaufgaben (z. B. das Ausführen von regelgeleiteten, systematisierten mathematischen (Hilfs-)Tätigkeiten wie Algorithmen) besaß. Es konnte dann auch rekonstruiert werden, dass ihr diese Vorliebe am Ende ihrer Grundschulzeit dazu verhalf, dass sie trotz schwindenden Interesses an der Beschäftigung mit Mathematik weiterhin den Anforderungen eines ‚kalkülorientierten‘ Mathematikunterrichts gerecht werden konnte. Es wäre nun durchaus denkbar, dass Luisa Aufgabenstellungen, die nicht durch den Vollzug regelgeleiteter, systematisierter mathematischer Tätigkeiten bearbeitet werden konnten, wie z. B. eine Aufgabe, die darauf abzielt, Begründungen vorzubringen, weitaus weniger genoss. Und so wäre es auch denkbar, dass solche Aufgabenstellungen in ihrem eigenen mathematikbezogenen Erleben zu einem ‚Tiefpunkt‘ geführt haben, so wie sie nun – laut Luisas Fremdverstehen III – im Erleben der Schülerin zu einem ‚Tiefpunkt‘ führen. Zur Adäquatheit der Resultate, die sie in Fremdverstehen III hervorbringt, äußert sich Luisa wie folgt:
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„[N]aja und bei dem Mädchen, das nicht begründen konnte, da hab ich auch so ein bisschen / ah ja (..) da war ich unsicher. Aber ja da hab ich auch drüber nachgedacht, ob das vielleicht auch gar nicht unbedingt so ein Tiefpunkt ist für sie.“
Luisa scheint sich also unsicher darüber, ob die Resultate ihres Fremdverstehens als ‚adäquat‘ gelten können. Sie ist sich der Kontingenz ihrer Erlebnisdeutungen bewusst (‚da hab ich auch drüber nachgedacht, ob das vielleicht auch gar nicht so ein Tiefpunkt ist für sie‘) und formuliert auf Nachfrage alternative Erlebnisse und Handlungen, welche die Schülerin auch vollzogen haben könnte: „Ich mein, es könnte natürlich auch sein, dass [...] es ja vielleicht auch eher so eine kleine Kritik an der Aufgabe ist. ‚Warum sollen wir denn hier begründen? Ist doch Quatsch. Ich kann es richtig auswählen und das reicht.‘ Könnte ja auch sein, dass sie das damit ausdrücken wollte.“
Luisa scheint in diesem Moment des Erzählens eine Reinterpretation des Erlebens der Schülerin vorzunehmen. Hierauf verweisen die Formulierungen ‚es könnte natürlich auch sein, dass‘ und ‚dass […] es ja vielleicht auch eher so‘. Tatsächlich aber gelangt sie zunächst zu einer Deutung, die einer ihrer anfänglichen Deutungen (EH20) sehr ähnlich ist: Sie deutet nämlich als Um-zu-Motiv des kommunikativen Handelns der Schülerin, dass diese ihre Äußerungen vollzieht, um Ablehnung gegenüber der Aufgabenstellung zu äußern (‚vielleicht auch eher so eine kleine Kritik an der Aufgabe ist‘, ‚Könnte ja auch sein, dass sie das damit ausdrücken wollte‘). Mit diesem Um-zu-Motiv verweist Luisa auf eine ähnliche Reihe an Erlebnissen der Schülerin wie in EH20: Sie verweist darauf, dass die Schülerin die Aufgabenstellung wohl zuvor hinterfragte, sie als nicht angemessen beurteilte und deshalb nicht akzeptierte. Luisas Reinterpretation des Erlebens der Schülerin unterscheidet sich von ihrer initialen Interpretation jedoch dadurch, dass sie nun zu der Deutung gelangt, dass Begründen für die Schülerin weniger eine ‚untypische‘ Tätigkeit im Mathematikunterricht darstellt als vielmehr eine ‚unnötige‘. Hierauf verweist sie, als sie einen Gedankengang ausformuliert, den die Schülerin ihres Erachtens zu dem Zeitpunkt vollzieht: ‚Warum sollen wir denn hier begründen? Ist doch Quatsch. Ich kann es richtig auswählen und das reicht‘. Insbesondere mit den Formulierungen ‚Ist doch Quatsch‘ und ‚das reicht‘ weist Luisa darauf hin, dass die Schülerin es nicht als notwendig erachtet, eine Begründung hervorzubringen. Mit der Ausformulierung dieses Gedankengangs der Schülerin verweist Luisa nun letztlich doch auf einen Erlebniszusammenhang der Schülerin, der eine tatsächliche Alternative zu ihren vorherigen Deutungen darstellt: Sie verweist darauf, dass die Schülerin zuvor einen Urteilsakt vollzogen haben muss, in dem
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sie auf ihre Zuordnung von Diagramm zu Sachverhalt gerichtet war, und darüber urteilte, ob ihre Zuordnung ‚falsch‘ oder ‚richtig‘ sei. Dieser Urteilsakt führte dann zu dem Ergebnis, dass ihre Zuordnung ‚richtig‘ sei. Und angesichts dieses Urteils vermag sie dann zu äußern: ‚Ich kann es richtig auswählen und das reicht‘. Hatten Luisas anfängliche Deutungen also erfasst, dass die Schülerin ihre Aufgabenlösung, so denn es eine gab, selbst eher als ‚falsch‘ einschätzt, deutet sie nun, dass sie ihre Lösung vielmehr als ‚richtig‘ beurteilt.
6.4.2.3.4 Fremdverstehen IV: „dass sie dann einfach stolz war, dass SIE dort den Fehler entdeckt hat“ Fremdverstehen IV vollzieht Luisa während folgender Unterrichtssituation: „Es wurden die Hausaufgaben verglichen und da hat der Lehrer dann am Smartboard vorne die Musterlösungen zu den Hausaufgaben angeworfen, damit (.) die Kinder das vergleichen konnten. Und einer Schülerin ist ähm (..) dann ein Fehler in der Musterlösung aufgefallen. Das war ein Diagramm und da gings irgendwie darum / also um die Körpergröße und da stand dann 1,40 [...], aber als Einheit dran Zentimeter. Und da ist ihr aufgefallen, dass das nicht zueinander passt. Also dass das Meter sein müsste oder halt eben ohne Komma. Und ähm sie hat das aber als Frage formuliert. Nicht „Da ist ein Fehler“, eher so „Hä stimmt das so? Muss das nicht anders?““
Der Mathematiklehrer reagiert auf die Frage der Schülerin wie folgt: „Der Lehrer hat [...] dann kommentiert, dass das richtig ist, dass sie das gefunden hat. Und hat ja über die Musterlösungen aus dem Lehrbuch geschimpft.“
Luisa (ego) ist im Fremdverstehen IV also auf eine Schülerin (alter ego) gerichtet, die einen Fehler in den Musterlösungen zu den Hausaufgaben findet. Sie begegnet auch dieser Schülerin im Rahmen der Hospitationsstunde das erste Mal, sie besitzt demnach kein Vorwissen über die Schülerin. Luisa erzählt vom Erleben und Verhalten der Schülerin: „Da hat man ziemlich gemerkt, dass sie dann einfach stolz war, dass SIE dort den Fehler entdeckt hat. Und der Lehrer hat dann auch noch so kommentiert „DIESE Lösungen“. Also bezogen darauf, dass (.) ähm das die Lösungen aus dem (.) Lösungsheft zum Lehrwerk waren und die halt einfach manchmal nicht korrekt sind. (.) Ja (.) da ähm fand ich eben so diesen Stolz, den das Mädchen da empfunden hat, irgendwie als prägnanten Hochpunkt. (...) Und aus der Perspektive von dieser Schülerin ähm hatte ich den Eindruck, dass sie erst noch eher unsicher war, ob das jetzt richtig ist, was sie da entdeckt hat. Darum hat sie es ja erst so als Frage formuliert. Und ähm (..) erst durch die Bestätigung des Lehrers, dass er ihr recht gegeben hat, (..) wurde sie dann
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naja selbstsicher darin, dass das korrekt war. Und ähm sie wurde irgendwie darin bestärkt, dass sie das so aufmerksam (..) verfolgt hat / aufmerksam beobachtet hat, was da dran ist. Und ähm (..) ja deswegen so diese / dieser Stolz, der da so aus ihr sprach.“
Luisa erfasst in ihrem Fremdverstehen also, dass die Schülerin während oben beschriebener Unterrichtssituation folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollzieht: EH21. Luisa versteht die Äußerung der Schülerin ‚Hä stimmt das so? Muss das nicht anders?‘ als ein Handeln mit kommunikativer Absicht. Es kann zwar nicht rekonstruiert werden, ob und an wen die Schülerin ihre Sprachhandlung konkret richtet. Es zeigt sich aber in Luisas Nacherzählung der Unterrichtssituation, dass es der Mathematiklehrer ist, der eine Anschlusskommunikation vollzieht (‚der Lehrer hat […] dann kommentiert, dass das richtig ist, dass sie das gefunden hat. Und hat ja über die Musterlösungen aus dem Lehrbuch geschimpft‘). Luisa versteht die Äußerung der Schülerin als eine Frage (‚sie hat das aber als Frage formuliert‘). Sie gelangt deshalb zu der Deutung, dass dem Handeln der Schülerin folgendes Erleben zugeordnet ist: Die Schülerin ist nicht überzeugt davon, dass es sich bei dem von ihr gefundenen Fehler in der Musterlösung tatsächlich um einen Fehler handelt (‚erst noch eher unsicher war, ob das jetzt richtig ist, was sie da entdeckt hat‘). Luisa expliziert in ihrer Erzählung, dass dieses Erleben der Schülerin in ihren Augen der Grund dafür sei, dass sie ihre Äußerung als Frage formuliert: ‚aus der Perspektive von dieser Schülerin ähm hatte ich den Eindruck, dass sie erst noch eher unsicher war, ob das jetzt richtig ist, was sie da entdeckt hat. Darum hat sie es ja erst so als Frage formuliert‘. Mit ihrer Interpretation, dass die Schülerin nicht davon überzeugt ist, dass sie tatsächlich einen Fehler in der Musterlösung gefunden hat, verweist Luisa auf einen Erlebensverlauf der Schülerin, welcher sich zuvor vollzogen haben mag: So scheint die Schülerin nacheinander zwei Urteilsakte vollzogen zu haben, wobei sich der zweite Urteilsakt auf das Urteil richtet, zu welchem der erste Urteilsakt geführt hatte. In chronologischer Reihenfolge könnten sich diese Urteilsakte also wie folgt vollzogen haben: Die Schülerin ist in einem ersten Urteilsakt auf die Musterlösung gerichtet. Sie urteilt darüber, ob die Musterlösung ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist. Sie gelangt in diesem ersten Urteilsakt zu dem Urteil, dass die Musterlösung ‚falsch‘ ist. In einem zweiten Urteilsakt richtet sich die Schülerin dann auf eben dieses Urteil. Sie urteilt nun darüber, ob sie in ihrem ersten Urteilsakt zu einem ‚richtigen‘ Urteil gelangte, d. h., ob es ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist, dass die Musterlösung ‚falsch‘ ist. In diesem zweiten Urteilsakt gelangt sie nun aber
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scheinbar zu keinem eindeutigen Ergebnis. Denn sie kann kein klares Urteil darüber fällen, ob ihr erstes Urteil ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist. Und so ist sie letztlich nicht überzeugt davon, dass es sich bei dem von ihr gefundenen Fehler in der Musterlösung tatsächlich um einen Fehler handelt. EH22. Luisa beobachtet dann folgenden Ereignisverlauf: Der Mathematiklehrer bestätigt, dass es sich bei dem Fehler, den die Schülerin in der Musterlösung gefunden hat, tatsächlich um einen Fehler handelt. Luisa kommt in ihrem Fremdverstehen zu dem Ergebnis, dass die Schülerin nun überzeugt davon ist, dass es sich bei dem von ihr gefundenen Fehler in der Musterlösung tatsächlich um einen Fehler handelt (‚wurde sie dann naja selbstsicher darin, dass das korrekt war‘). Oder vielmehr: Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Schülerin nun überzeugt davon ist, dass es sich tatsächlich um einen Fehler handelt, weil der Mathematiklehrer dies bestätigt (‚erst durch die Bestätigung des Lehrers, dass er ihr recht gegeben hat, (..) wurde sie dann naja selbstsicher darin, dass das korrekt war‘). Luisa scheint also zu der Deutung zu gelangen, dass das Urteil des Mathematiklehrers das Urteil der Schülerin beeinflusst. Wie genau sich dieser Einfluss ausgestaltet, also ob das Urteil des Lehrers beispielsweise an die Stelle des Urteils der Schülerin tritt oder ob sein Urteil ihr vielleicht dazu verhilft, letztlich selbst ein klares Urteil zu fällen, bleibt unklar. Doch ganz gleich, auf welche Weise das Urteil des Lehrers das Urteil der Schülerin genau beeinflusst, scheint – laut Luisa – die Schülerin das Urteil des Lehrers für richtig zu halten. EH23. Luisa erfasst, dass die Schülerin stolz ist, einen Fehler in der Musterlösung entdeckt zu haben (‚dass sie dann einfach stolz war, dass SIE dort den Fehler entdeckt hat‘, ‚eben so diesen Stolz, den das Mädchen da empfunden hat‘‚ ‚dieser Stolz, der da so aus ihr sprach‘). Ihr dient eine Veränderung am Leib der Schülerin als Anzeichen dafür, dass die Schülerin dieses Erlebnis vollzieht. Im weiteren Verlauf des Interviews antwortet Luisa nämlich auf die Frage, woran sie erkannte, dass die Schülerin stolz war: „Ich glaub, so ein bisschen an ihrem Lächeln einfach. Es war definitiv dezenter […], aber ja sie hat dann einfach sich so ein bisschen lächelnd zurückgelehnt.“ Luisa dient also ein ‚lächelndes Zurücklehnen‘ der Schülerin als Anzeichen dafür, dass sie stolz ist. Genau genommen handelt es sich bei dieser Veränderung am Leib der Schülerin um zwei körperliche Veränderungen – einerseits um das ‚Lächeln‘ der Schülerin und andererseits um ihr ‚Zurücklehnen‘ –, die sich zeitgleich vollziehen. Luisa versteht das ‚Lächeln‘ und ‚Zurücklehnen‘ der Schülerin als Leibesbewegungen, die zwar etwas zum Ausdruck bringen, aber nicht in kommunikativer Absicht vollzogen werden. D. h., Luisa versteht das Handeln der Schülerin als Handeln ohne kommunikative Absicht.
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EH24. Luisa kommt in ihrem Fremdverstehen der Schülerin schließlich zu dem Ergebnis, dass die Schülerin sich in ihrem Verhalten ‚bestärkt‘ fühlt. Konkreter: Dass die Schülerin sich darin ‚bestärkt‘ fühlt, ihre Aufmerksamkeit auf die Unterrichtsinhalte gerichtet zu haben (‚sie wurde irgendwie darin bestärkt, dass sie das so aufmerksam (..) verfolgt hat / aufmerksam beobachtet hat, was da dran ist‘). Es scheint der Verlauf der Unterrichtssituation und ihr Erleben dieser Situation also letztlich dazu geführt zu haben, dass die Schülerin ihr Handeln (‚Aufmerksamkeit auf Unterrichtsinhalte richten‘) als ‚richtig‘ ‚bescheinigt‘ sieht. Wie auch schon bei Fremdverstehen I-III zeigt sich, dass Luisa in Fremdverstehen IV erfasst, dass und welche eigenen Erlebnisse und Handlungen alter ego vollzieht. Es handelt sich also auch hier um echtes Fremdverstehen. Luisa erzählt im Interview von eigenen Erlebnissen und Handlungen, die denen der Schülerin ähnlich sind: „Also ich glaube, das Mädchen, das so den Fehler entdeckt hat, [...] ich glaube, ich wär ganz genauso gewesen. Also (..) äh dass ich sowas versuche, rauszupicken. Und wenns dann auch noch richtig ist, ich äh mich sehr freue, dass ich klüger bin als die, die das Mathebuch schreiben. So / also ich glaube, so eine Schülerin WAR ich.“
Diese Erzählung von Luisa weist darauf hin, dass sie im Fremdverstehen der Schülerin eine Personenvertauschung vornimmt, also dass sie sich selbst an die Stelle der Schülerin setzt und ihr eigenes Erleben und Handeln mit dem der Schülerin identifiziert. Zunächst verweist Luisa in ihrer Erzählung darauf, dass es sich dabei um eine Personenvertauschung der Art handelt, dass sie eigenes potentielles Erleben und Handeln mit dem der Schülerin identifiziert (‚ich wär ganz genauso gewesen‘). Doch anschließend scheint sie diese Aussage dahingehend zu korrigieren, dass sie eigenes tatsächliches Erleben und Handeln überträgt (‚ich glaube, so eine Schülerin WAR ich‘). Sie erzählt, dass sie als Schülerin die Absicht verfolgte, Fehler im Mathematikbuch zu finden (‚dass ich sowas versuche, rauszupicken‘). Und dass sie, wenn sie einen Fehler fand, daraus schlussfolgerte, dass sie den Autorinnen und Autoren dieses Buches kognitiv überlegen war (‚dass ich klüger bin als die, die das Mathebuch schreiben‘). Diese Erkenntnis wiederum löste in ihr Freude aus (‚ich äh mich sehr freue, dass […]‘). Dass ihre vermeintliche kognitive Überlegenheit gegenüber Schulbuchautorinnen und Schulbuchautoren in der Vergangenheit bei Luisa Freude auslöste, verweist auf ein Erzählthema, welches sich auch in der Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte mehrfach gezeigt hatte: Dort thematisierte Luisa wiederholt, dass sie zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer mathematikbezogenen
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Lebensgeschichte eine ‚Sonderrolle‘ in mathematikbezogenen Interaktionen einnahm. In der Erzählung ihrer Grundschulzeit betonte sie, dass sie trotz des niedrigen Alters besser in Mathematik war als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. In der Erzählung ihrer Zeit in der Sekundarstufe 2 wies sie daraufhin, dass sie trotz ihres Geschlechts die besten Leistungen im Leistungskurs Mathematik erbrachte. Und in der Erzählung ihres Praxissemesters im Lehramtsstudium schilderte sie, dass sie trotz ihrer Rolle als Praktikantin eine beratende Funktion für ihre Betreuungslehrerin einnahm. Die Erzählung ihres eigenen Erlebens im zweiten Interview scheint nun eben dieses Erzählthema aufzugreifen: Luisa erzählt hier nämlich von ihrer Freude darüber, dass sie den Autorinnen und Autoren ihres Mathematikschulbuches kognitiv überlegen sei (‚ich äh mich sehr freue, dass ich klüger bin als die, die das Mathebuch schreiben‘). Sie verweist hiermit auf einen Sachverhalt, der wie folgt beschrieben werden könnte: Die Schülerin Luisa nimmt die ‚Sonderposition‘ ein, den Autorinnen und Autoren ihres Schulbuches trotz ihrer Rolle (Schülerin) und trotz ihres Alters (7. Klasse, also ca. 13 Jahre) kognitiv überlegen zu sein. Luisa erzählt bezüglich ihres eigenen tatsächlichen Erlebens und Handelns weiter: „Wenn ich jetzt so denke, siebte Klasse da (..) mmh (..) würde ich jetzt schon auch denken, dass ich da auch eher so dieses / (....) schon also einerseits ausreichend selbstsicher war, um mich zu trauen, überhaupt äh sowas anzusprechen, wenn mir sowas auffällt. Aber auf der anderen Seite (..) nicht so selbstsicher, dass man das wirklich als ‚Ich hab da einen Fehler gefunden‘ formuliert, sondern eher als Frage. (.) Von daher denke / doch so WAR ich auch (lacht), nicht nur so WÄRE ich gewesen (..) ja.“
Es stellt sich hier eine große Ähnlichkeit zwischen Luisas eigenem Erleben und Handeln als Schülerin und den von ihr gedeuteten Erlebnissen und Handlungen der Schülerin der 7. Klasse heraus: Mit EH21 hatte Luisa ja erfasst, dass die Schülerin aus fehlender Überzeugung davon, dass es sich bei dem von ihr entdeckten Fehler in der Musterlösung tatsächlich um einen Fehler handelte, ihre Entdeckung nicht als Aussagesatz formuliert. Stattdessen – so Luisas Deutung – bevorzugt die Schülerin es, eine Frage (‚Hä stimmt das so? Muss das nicht anders?‘) zu formulieren. In obigem Erzählteil verweist Luisa nun darauf, dass sie als Schülerin selbst auch so gehandelt hat (‚nicht […] als ‚Ich hab da einen Fehler gefunden‘ formuliert, sondern eher als Frage‘). Es zeigt sich also, dass sie im Fremdverstehen IV Erlebnisse und Handlungen der Schülerin erfasst, die zu ihren eigenen vergangenen Erlebnissen und Handlungen nahezu identisch sind.
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In ihrem Fremdverstehen kommt Luisa ferner zu dem Ergebnis, dass die Schülerin, auf die sich ihr Fremdverstehen richtet, durch ein Urteil des Lehrers an Sicherheit bezüglich ihres eigenen Urteils gewinnt (EH22). Vor dem Hintergrund von Luisas mathematikbezogener Lebensgeschichte wäre es denkbar, dass Luisa auch dieses Erlebnis der Schülerin im Modus der Personenvertauschung erfasst. Dort konnte nämlich rekonstruiert werden, dass Luisas Mathematikerleben maßgeblich durch externale Faktoren, u. a. durch das Lob ihrer Lehrkräfte, beeinflusst wurde und dass diese ihr als Absicherung ihrer Selbsteinschätzung dienten. Es wäre folglich möglich, dass sie auch dieses Erlebnis, welches sie in der Vergangenheit selbst wiederholt vollzog, in ihrem Fremdverstehen IV nun auf die Schülerin überträgt. Luisa scheint sich bezüglich der Resultate, die ihr Fremdverstehen IV hervorbringt, sehr sicher zu sein. Sie zeigt kein Kontingenzbewusstsein gegenüber den von ihr erfassten Erlebnissen der Schülerin. Auch auf die konkrete Nachfrage, welche alternativen Erlebnisse die Schülerin vollzogen haben könnte, antwortet Luisa: „Mmh (.) ist schwierig. Ähm (7 sec) also ja ich glaub, [...] da fällt mir gerade spontan nichts äh (.) anderes gut passendes ein. Oder wenn, dann wär ich dann nur auf der Suche nach Synonymen für Stolz.“
Also auch, wenn von ihr – aufgrund der Nachfrage durch die Interviewerin – ein Kontingenzbewusstsein gegenüber den Ergebnissen ihres Fremdverstehens förmlich ‚erzwungen‘ wird, scheint Luisa ein solches nicht zu entwickeln. Hier stellt sich ein deutlicher Unterschied zu ihren bisher analysierten Fremdverstehensprozessen (Fremdverstehen I-III) heraus: In diesen zeigte Luisa nicht nur ein abstraktes Kontingenzbewusstsein gegenüber den von ihr erfassten Erlebnissen von Schülerinnen und Schülern, sondern formulierte sogar konkrete Erlebnisalternativen, also Erlebnisse, die die Schülerinnen und Schüler stattdessen vollzogen haben könnten. Oder spezifischer: Es zeigte sich ein Kontingenzbewusstsein gegenüber den von ihr erfassten ‚Tiefpunkt‘-Erlebnissen der Schülerinnen und Schüler. Und sie formulierte jeweils konkrete Erlebnisalternativen, die die Schülerinnen und Schüler nicht nur stattdessen vollzogen haben könnten, sondern die sogar vielmehr zu einem ‚Hochpunkt‘-Erleben der Schülerinnen und Schüler geführt haben könnten. Luisa scheint sich in ihrem Fremdverstehen I-III also bewusst zu sein, dass die Schülerinnen und Schüler, auf die sich ihr Fremdverstehen richtet, nicht nur andere, sondern vielmehr grundlegend andere Erlebnisse vollzogen haben könnten als diejenigen, die sie ihnen in ihrem Fremdverstehen zuschrieb.
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6.4.2.3.5 Fremdverstehen V: „dieser Stolz, dass das dann hervorgehoben wurde […], dass SIE es auch war die das gemacht hat“ Luisa vollzieht Fremdverstehen V während folgender Unterrichtssituation: „Da gabs ne Klassenaufgabe. Also die / (.) ähm (.) alle Kinder der Klasse sollten gemeinsam in fünf Minuten ne Wertetabelle und nen Säulendiagramm zur Schuhgröße und der Anzahl der Personen / also der Anzahl der Kinder, die diese Schuhgröße haben, anfertigen. [...] Und erst war ziemliches Chaos und ähm alle Kinder sind nach vorne gestürmt und wussten / naja dann wurde wild reingerufen, wer welche Schuhgröße hat, aber es hat nicht so gut funktioniert. Und dann hat ein Mädchen die Initiative ergriffen und hat ne ordentliche Abfrage gestartet. Also hat immer laut die Schuhgrößen angesagt und dann haben sich die anderen Kinder gemeldet und jemand anderes hat das geschrieben. Und ähm sie hat halt das sehr gut moderiert diese Abfrage. (.) Und ähm (.) dann kam / also waren diese fünf Minuten zu Ende, die Übung war abgeschlossen und sie haben irgendwie die Hälfte geschafft. Also ne Wertetabelle war da, das Säulendiagramm nicht. Und dann wurde eben darüber reflektiert, WIE das jetzt so ging, wie die Schüler das so fanden und was jetzt gut und was jetzt schlecht war an ihrem Arbeitsprozess. Und die Kinder haben sich erst eher darauf fokussiert, dass sie nicht komplett fertig geworden sind und dass sie viel zu chaotisch waren. Und dann hat aber der Lehrer auch nochmal hervorgehoben, WARUM hat denn aber auch ein Teil funktioniert, warum haben sie denn ein Ergebnis hingekriegt und hat erst auch das Ganze eher so (.) allgemein gelobt, also im Sinne von ‚Die Kommunikation unter euch war gut‘ und ‚Jemand hat die Initiative ergriffen‘. Und da habe ich schon immer gesehen, wie das Mädchen so auf dem Platz so saß und sich so umgeguckt hat und den Lehrer angeguckt hat. Und irgendwann hat er dann auch ihren Namen gesagt und „Du warst das doch oder?“ und dann hat sie sich so stolz auf die Brust geschlagen und durchs Klassenzimmer geguckt.“
Luisa (ego) ist in ihrem Fremdverstehen V also auf eine Schülerin der 7. Klasse (alter ego) gerichtet. Zwar stellt die Hospitationsstunde den Erstkontakt zwischen Luisa und dieser Schülerin dar, Luisa besitzt jedoch bereits Vorwissen über die Schülerin: Ihr ist von dem Mathematiklehrer der Klasse zugetragen worden, dass diese Schülerin häufig sehr selbstbewusst auftritt, oder in Luisas Worten: dass es ihr „nicht unbedingt an Selbstbewusstsein mangelt“. Zum Erleben und Verhalten der Schülerin während oben beschriebener Unterrichtssituation erzählt Luisa: „[U]nd dann hat sie sich so stolz auf die Brust geschlagen und durchs Klassenzimmer geguckt. (.) Ähm also ich glaube, da war dieser Hochpunkt einfach das Lob dafür dafür, (.) ähm (.) ja dass sie dort diesen Mut zusammengenommen hat, sich ja über die ganze Klasse hinwegzusetzen. [...] sie [war] dann ziemlich stolz, als DAS auch noch vom Lehrer honoriert wurde. (.) Also ich glaube, nicht nur der Erfolg in der Aktion
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selbst, sondern vor allem die Honorierung durch die Lehrkraft haben da zu diesem Hochpunkt geführt, würde ich denken. (..) Mmh (....) also weil ich so denke, sie war / also es war ja auch sehr mutig von ihr, dass sie ähm (..) äh ja sich da so (.) dann über diese Klasse gestellt und das Ganze dann so moderiert hat.“ „Als das Ganze dann gelobt wurde, (..) glaube ich, war es für sie einmal so ne Bestärkung in dem, wie sie dort agiert hat. Und halt eher, wie ich schon gesagt hab, so einfach dieser dieser Stolz, dass das dann hervorgehoben wurde. Also (..) ähm (..) ja also wirklich der Fokus, dass es nochmal erwähnt wurde, [...] dass SIE es auch war die das gemacht hat.“
Luisa kommt in ihrem Fremdverstehen also zu dem Ergebnis, dass die Schülerin während obiger Unterrichtssituation folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollzieht: EH25. Sie gelangt zu der Deutung, dass die Schülerin Mut aufbringt, um ihre Mitschülerinnen und Mitschüler bei der Bearbeitung der an sie gestellten Aufgabe anzuleiten (‚dass sie dort diesen Mut zusammengenommen hat‘). Diese Deutung verweist darauf, dass die Schülerin eine Hemmung überwinden musste, um diese Position einzunehmen, in welcher sie sich über ihre Mitschülerinnen und Mitschüler stellt (‚dass sie dort diesen Mut zusammengenommen hat, sich ja über die ganze Klasse hinwegzusetzen‘). Welche konkreteren Aspekte dieser ‚Sonderposition‘ die Schülerin laut Luisa hemmten, kann jedoch nicht rekonstruiert werden. EH26. Luisa kommt in ihrem Fremdverstehen dann zu dem Ergebnis, dass die Schülerin im Anschluss an die Bearbeitung der Aufgabe ein Erfolgserlebnis vollzieht: Sie erlebt sich als erfolgreich in der Anleitung ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler bei der Bearbeitung der Aufgabe (‚der Erfolg in der Aktion selbst […] [hat] da zu diesem Hochpunkt geführt‘). Mit diesem gedeuteten Erlebnis (‚Erfolgserleben‘) verweist Luisa darauf, dass die Schülerin eine Erwartung hegte, dessen Erfüllung sie nun als Erfolg erlebt. Anhand von Luisas Erzählung lässt sich jedoch nicht nachzeichnen, welche Erwartung die Schülerin gehabt haben mag. Möglich wäre beispielsweise, dass sie erwartete, zu einer Lösung der bearbeiteten Aufgabe zu gelangen. Es wäre aber auch denkbar, dass die Erwartung der Schülerin darin bestand, in ihrer Rolle als Leiterin der gemeinsamen Bearbeitung von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern akzeptiert zu werden. Während der Auswertung der Aufgabenbearbeitung im Plenum nimmt Luisa nun folgenden Ereignisverlauf wahr: Der Lehrer lobt die Klasse für ihre Kommunikation untereinander während der gemeinsamen Bearbeitung der Aufgabe (‚und hat erst auch das Ganze eher so (.) allgemein gelobt, also im Sinne von ‚Die Kommunikation unter euch war gut“). Er hebt die Leistungen der Schülerin hervor, auf die sich Luisa in diesem Fremdverstehen V richtet, ohne sie zunächst
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zu benennen (‚und dann hat aber der Lehrer auch nochmal hervorgehoben […] ‚Jemand hat die Initiative ergriffen“). Anschließend erwähnt der Lehrer sie dann jedoch namentlich (‚irgendwann hat er dann auch ihren Namen gesagt‘). EH27. Luisa interpretiert, dass die Schülerin stolz darauf ist, vom Lehrer gelobt zu werden (‚sie [war] dann ziemlich stolz, als DAS auch noch vom Lehrer honoriert wurde‘, ‚vor allem die Honorierung durch die Lehrkraft […] [hat] da zu diesem Hochpunkt geführt‘). Als Anzeichen für dieses Erleben (‚Stolz verspüren‘) scheinen Luisa Veränderungen am Leib der Schülerin zu dienen, nämlich, dass diese sich auf die Brust schlägt und sich im Klassenraum umblickt (‚dann hat sie sich so stolz auf die Brust geschlagen und durchs Klassenzimmer geguckt‘). Dieses Schlagen auf die eigene Brust und das Umblicken im Klassenraum versteht Luisa als Handeln mit kommunikativer Absicht der Schülerin. Sie erzählt hierzu: „Es war auf jeden Fall jetzt nicht so was nur für sie selbst, sondern das war schon was für die Öffentlichkeit.“ Luisa ist sich zwar sicher, dass es sich um ein Handeln mit kommunikativer Absicht handelt, sie ist sich jedoch nicht sicher, an wen sich die Schülerin mit ihrem kommunikativen Handeln richtet: „Ich denke, es ging so generell in die Klasse. (.) Möglicherweise auch so ein bisschen an / also vor ihr saßen zwei Mädchen und neben ihr saß ein Mädchen / so ein bisschen in diese kleine Runde. Es kann auch sein, dass die eher adressiert waren.“
Das Handeln der Schülerin, welches Luisa als Anzeichen für die Erlebnisse der Schülerin dient, beschreibt Luisa im weiteren Verlauf des Interviews noch detaillierter: „Dieses Mädchen [hat] das ja sehr zum Ausdruck gebracht [...] durch / also einmal durch ihre Haltung. Sie saß am Fenster und ähm in ner / ja weiß nicht zweite Reihe oder so, also recht weit vorn. Und sie saß aber nicht nach vorn ausgerichtet, sondern hat sich dann auch so richtig zur Klasse umgedreht, sodass sie so seitlich auf ihrem Stuhl saß, damit möglichst viele sie vielleicht auch sehen. Und hat sich eben so auf die Brust geschlagen stolz, als ihr Name dann erwähnt wurde als die, die dort (.) so diese Initiative ergriffen hat.“
Dass die Schülerin im Vollzug ihrer Leibesbewegungen tatsächlich Zeichensetzung vollzieht, dass sie also wirklich in kommunikativer Absicht handelt, dafür dient Luisa also die körperliche Positionierung der Schülerin als Anzeichen: Diese ist im Vollzug ihrer Handlungen nämlich nicht in Richtung des Lehrers ausgerichtet (‚nicht nach vorn ausgerichtet‘), sondern positioniert sich vielmehr in Richtung ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler (‚hat sich dann auch so richtig
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zur Klasse umgedreht, sodass sie so seitlich auf ihrem Stuhl saß‘). Dieses Positionieren folgt laut Luisa folgendem Um-zu-Motiv: Die Schülerin positioniert sich derart, um von möglichst vielen Mitschülerinnen und Mitschülern gesehen zu werden (‚damit möglichst viele sie vielleicht auch sehen‘). EH28. Luisa gelangt dann zu der Deutung, dass die Schülerin sich darin bestätigt fühlt, wie sie die gemeinsame Bearbeitung der Aufgabe angeleitet hat (‚es für sie einmal so ne Bestärkung in dem, wie sie dort agiert hat‘). Es lässt sich jedoch nicht rekonstruieren, wodurch sich die Schülerin laut Luisa in diesem Handeln bestätigt fühlt. Es wäre denkbar, dass die Schülerin ihr Handeln dadurch bestätigt sieht, dass es zu einer (teilweisen) Lösung der Aufgabe führte. Es wäre aber auch möglich, dass sie es zu diesem Zeitpunkt derart bewertet, weil es zu einem Lob des Lehrers führte. Es zeigt sich, dass Luisa mit EH25-EH28 nicht nur erfasst, dass die Schülerin eigene Erlebnisse vollzieht, sondern vielmehr auch, welche eigenen Erlebnisse sie vollzieht. Mit anderen Worten: Es zeigt sich, dass Luisa – wie bereits im Fremdverstehen I, II, III und IV – echtes Fremdverstehen gegenüber der Schülerin vollzieht. Luisa nimmt im Fremdverstehen der Schülerin eine Personenvertauschung vor. Wie sich diese Personenvertauschung ausgestalten mag, lässt sich anhand des erfassten Erlebens und Handelns EH25 sowie EH27 der Schülerin nachzeichnen: Mit EH25 erfasste Luisa, dass die Schülerin Mut aufbringen musste, um ihre Mitschülerinnen und Mitschüler beim Bearbeiten der Aufgabe anzuleiten. Luisa selbst verweist in ihrem Interview darauf, dass sie hier ihr eigenes potentielles Erleben dieser Situation auf die Schülerin überträgt: „Wenn ICH mich jetzt in diese Situation hineinversetze, dann würde ich denken, ich hätte ähm vielleicht auch ne gute Idee gehabt, aber hätte mich aber vielleicht nicht unbedingt GETRAUT, sowas dann alleine (.) ähm durchzuziehen. (..) Oder hätte darauf gewartet, dass jemand zu mir sagt „Mach mal“. DANN hätte ich das auch gemacht.“
Luisa selbst gibt an, dass sie in einer ähnlichen Situation also zunächst auch gehemmt gewesen wäre, Mitschülerinnen und Mitschüler beim Bearbeiten einer Aufgabe anzuleiten (,hätte mich aber vielleicht nicht unbedingt GETRAUT, sowas dann alleine (.) ähm durchzuziehen‘), auch wenn sie hierzu in der Lage gewesen wäre (‚hätte ähm vielleicht auch ne gute Idee gehabt, aber […]‘). Sie sagt über sich, dass sie solch eine Anleitung vielmehr erst dann übernommen hätte, wenn sie hierzu aufgefordert worden wäre (‚hätte darauf gewartet, dass jemand zu mir sagt „Mach mal“‘). Sie glaubt also, dass sie selbst auch ihre Hemmung hätte überwinden müssen, um ihre Mitschülerinnen und Mitschüler bei der Bearbeitung
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einer Aufgabe anzuleiten. Es ist nun anscheinend genau dieses eigene potentielle Erleben, welches Luisa in ihrem Fremdverstehen auf die Schülerin überträgt. Luisa erfasst in ihrem Fremdverstehen ferner, dass die Schülerin stolz darauf ist, von ihrem Mathematiklehrer gelobt zu werden (EH27). Es zeigt sich, dass Luisa hier im Modus der Personenvertauschung wohl ihr eigenes tatsächliches Erleben mit dem der Schülerin identifiziert. Sie selbst gibt einen Hinweis darauf: „Wenn ich jetzt auch zurückdenke, ich glaub, ich fand es schon auch immer schön, ähm eben gelobt zu werden, oder für gute Dinge hervorgehoben zu werden.“ Es finden sich auch in der Rekonstruktion ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte zahlreiche konkrete Erlebnisse, durch welche dieses abstrakte, wiederkehrende Erlebnis von Luisa veranschaulicht werden kann: So freute sie sich beispielsweise über das Lob ihres Vaters, als sie in der 2. Klasse eine Kopfrechenaufgabe zu lösen vermochte, die sein Lehrling nicht lösen konnte, oder genoss die Anerkennung ihres Mathematiklehrers, als sie als einzige Schülerin des Leistungskurses Mathematik 15 Punkte in der Vorabiturklausur erzielte, während ihre Mitschülerinnen und Mitschüler deutlich schlechtere Ergebnisse erzielten. Weiter empfand sie es als ‚Ehre‘, dass sie aufgrund ihrer sehr guten Leistungen von einem Professor im Bachelorstudium gefragt wurde, als SHK für ihn zu arbeiten. Allen dieser Erlebnisse ist gemein, dass Luisa Anerkennung durch eine ‚Autoritätsperson‘ (Vater, Lehrer, Professor) erfährt, dass sie außerdem eine Sonderposition innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppen (Geschwister, Mitschülerinnen und Mitschüler, Kommilitoninnen und Kommilitonen) einnimmt, und dass sie beides – Anerkennung und Einnahme einer Sonderposition – als positiv erlebt. Es werden hier Parallelen zum Erleben der Schülerin deutlich, auf welche Luisa in ihrem Fremdverstehen gerichtet ist: Auch die Schülerin erfährt Anerkennung durch eine ‚Autoritätsperson‘ (Lehrer), nimmt eine Sonderposition innerhalb ihrer Klassengemeinschaft (Mitschülerinnen und Mitschüler) ein und erlebt – so Luisa – diesen Zustand als ‚Hochpunkt‘. Zur Adäquatheit der Resultate, die sie in Fremdverstehen V hervorbringt, äußert sich Luisa wie folgt: „Das Mädchen mit dieser Klassenaufgabe, mit dem auf die Brust klopfen, das war ja ein sehr prägnanter / also sehr prägnante Gestik. Und ich finde, deswegen ist das Reininterpretieren von diesem Stolz ziemlich naheliegend. Und ähm (.) deswegen würde ich schon denken, da bin ich mir sehr sicher.“
Luisa ist sich bezüglich der Resultate ihres Fremdverstehens also ‚sehr sicher‘. Sie scheint die Leibesveränderung der Schülerin (‚auf die Brust schlagen‘, ‚im Klassenraum umblicken‘) als mehr oder weniger eindeutige Anzeichen dafür zu
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verstehen, dass die Schülerin Stolz verspürt. Sie bezeichnet ihre Deutung dieses Erlebnisses als ‚naheliegend‘, fügt im weiteren Verlauf des Interviews noch hinzu, dass sich „andere logische Schlüsse nicht so leicht herleiten“ ließen. Es scheint zu Luisas Sicherheit bzgl. ihrer Deutungen beizutragen, dass die Ergebnisse ihres Fremdverstehens mit dem Eindruck des Mathematiklehrers der Schülerin vereinbar sind: „Also von dem Lehrer kenne ich so ein bisschen den Hintergrund zu diesem Mädchen. Und da passt das dann auch schon ganz gut, also was so ein sehr starkes Selbstbewusstsein angeht.“
Wie zuvor bereits erwähnt wurde, weiß Luisa von dem Mathematiklehrer, dass die Schülerin häufig sehr selbstbewusst auftritt. Diese Zuschreibung des Lehrers ist in ihren Augen mit den Ergebnissen ihres eigenen Fremdverstehens vereinbar (‚da passt das dann auch schon ganz gut‘), wodurch sie sich bestätigt zu fühlen scheint, in ihrem eigenen Fremdverstehen zu adäquaten Resultaten gelangt zu sein. Da es sich bei der Zuschreibung des Lehrers genau genommen auch um das Resultat eines Fremdverstehens handelt, nämlich um das Resultat eines Fremdverstehens des Lehrers (ego) von der Schülerin (alter ego), kann obiger Sachverhalt wie folgt beschrieben werden: Luisa gleicht die Resultate ihres eigenen Fremdverstehens von der Schülerin mit den Resultaten eines fremden Fremdverstehens von derselben Schülerin ab und kommt zu dem Ergebnis, dass sie in ihrem eigenen Fremdverstehen zu adäquaten Resultaten gelangte, da die Resultate ihres eigenen Fremdverstehens mit den Resultaten des fremden Fremdverstehens vereinbar sind. Ein letztes Merkmal des Fremdverstehens V, welches hier nachgezeichnet werden soll, ist genau genommen gar kein Merkmal dieses Fremdverstehens, sondern vielmehr ein Merkmal von Luisas Erzählung dieses Fremdverstehens: Im Anschluss an ihre Erzählung des Fremdverstehens V thematisiert Luisa, dass sie sich mit den von ihr erfassten Erlebnissen der Schülerin nicht identifizieren kann. Sie thematisiert diese Desidentifikation in ihrer Erzählung recht ausführlich: „Also da zum Beispiel dieses Mädchen, ähm (..) was da so stolz war bei dieser Klassenaufgabe. (.) Also einmal, glaub ich, (...) wär ich nicht so eine Person gewesen, die sich so da in der Situation hinstellt und über die ganze Klasse hinwegsetzt. Also so dann die Initiative ergreift. (.) Ich glaub, ich wär die gewesen, die ne kluge Idee hat und dann jemanden dazu anstiftet, die Initiative zu ergreifen. Ähm (..) und auch in dieser Situation des Lobs bin ich eher jemand, der dann, glaube ich / ich freu mich dann in mich hinein, aber auch also / ich glaube an sich, (..) ähm ich würde schon auch / oder hätte schon auch wie sie gehofft, dass der Lehrer dann auch meinen Namen
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nennt ne, dass man dieses Lob bekommt. Ich glaub, darüber hätte ich mich schon auch sehr gefreut. Aber ich hätte das dann nicht so nach außen präsentiert, dass ich mich darüber freue, sondern hätte eher (..) ja mich für mich gefreut. [...] Na ich glaub, ich bin einfach nicht so ein Charakter ne [...]. Mir wäre dann so dieses Präsentieren des ja / (.) also ja einfach so dieses / sie hat sich ja dann sehr selbst präsentiert in dem Zeigen ihres Stolzes. Und das wär mir eher unangenehm, ja glaub schon. [...] Aus der jetzigen Perspektive würde ich einfach denken, das hätt ich nicht nötig, weil ich so denke, ähm ich bin auch / also ich freu mich darüber, gelobt zu werden, aber ähm das reicht auch einfach für mich. Und ähm ich brauch da keine Bühne [...]. Ich glaub, ich fand es schon auch immer schön, ähm eben gelobt zu werden oder für gute Dinge hervorgehoben zu werden, aber gleichzeitig stehe ich, glaube ich, dann doch nicht so einfach gerne in diesem Mittelpunkt. Und das ist ja das, was dann damit einhergeht. Und da hab ich schon den Eindruck, dieses Mädchen das fand das gerade gut da in dem Mittelpunkt. Und das ist, glaube ich, das, was mich dann eher stören würde.“
Luisa fährt fort: „Oder mmh ja ja ich glaube, vielleicht kann ich das gar nicht so generell sagen. An sich hatte ich auch (.) in vielen Situationen kein Problem damit, im Mittelpunkt zu stehen. Und auch jetzt gibt es auch Situationen, wo ich gerne im Mittelpunkt stehe. Aber dann vielleicht, wenn ich drauf vorbereitet bin (.) und nicht so so überraschend. Und an sich ist das ja schöne Sachen hier. Sie steht ja im Mittelpunkt, weil sie für etwas gelobt wird, (.) ähm (...) aber (..) mmh (..) ja ich glaube, das hat einfach sowas mit dem mit dem Ego zu tun, dass (.) sie da einfach anders gestrickt ist.“
Es wird anhand der Länge obiger Textauszüge deutlich, dass Luisa bezüglich dieses Erzählthemas regelrecht in einen Erzählfluss gerät. Das Ziel ihrer Erzählung scheint einerseits zu sein, sich als Person von der Schülerin abgrenzen zu wollen. Hierauf verweisen Formulierungen wie ‚wär ich nicht so eine Person gewesen‘, ‚auch in dieser Situation […] bin ich eher jemand, der […]‘ oder ‚dass (.) sie da einfach anders gestrickt ist‘. Andererseits scheint Luisa sich von dem konkreten Verhalten der Schülerin abgrenzen zu wollen. Hierauf verweisen Erzählteile, in denen Luisa ihr eigenes, alternatives Verhalten ausformuliert: ‚Ich glaub, ich wär die gewesen, die ne kluge Idee hat und dann jemanden dazu anstiftet, die Initiative zu ergreifen‘ oder ‚ich hätte das dann nicht so nach außen präsentiert, dass ich mich darüber freue, sondern hätte eher (..) ja mich für mich gefreut‘. Als grundsätzlichen Unterschied zwischen sich und der Schülerin stellt Luisa zunächst heraus, dass sie einen verschieden stark ausgeprägten Wunsch danach besitzen, im Mittelpunkt zu stehen (‚ich [stehe] […] nicht so einfach gerne in diesem Mittelpunkt […] dieses Mädchen das fand das gerade gut da in dem Mittelpunkt‘). Im Laufe ihrer Erzählung kommt sie jedoch selbst zu der Einsicht, dass auch sie eigentlich gern im Mittelpunkt steht (‚An sich hatte ich auch (.)
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in vielen Situationen kein Problem damit, im Mittelpunkt zu stehen. Und auch jetzt gibt es auch Situationen, wo ich gerne im Mittelpunkt stehe‘). Es entstehen daraufhin in der Erzählung argumentative Lücken, sodass sie letztlich nicht mehr fortsetzbar ist (‚auch jetzt gibt es auch Situationen, wo ich gerne im Mittelpunkt stehe. Aber dann vielleicht, wenn ich drauf vorbereitet bin (.) und nicht so so überraschend. Und an sich ist das ja schöne Sachen hier. Sie steht ja im Mittelpunkt, weil sie für etwas gelobt wird, (.) ähm (…) aber (..) mmh (..)‘). Luisa beendet ihre Erzählung daraufhin mit einer – zu diesem Zeitpunkt argumentationslogisch nicht anschlussfähigen – Globalevaluation (‚ja ich glaube, das hat einfach sowas mit dem mit dem Ego zu tun, dass (.) sie da einfach anders gestrickt ist‘). Ich möchte an dieser Stelle nun nicht darauf eingehen, warum es Luisa in diesem konkreten Fall nicht ‚gelingt‘, das Thema ‚Desidentifikation mit der Schülerin‘ erzählerisch konsistent umzusetzen. Vielmehr möchte ich es als Merkmal von Luisas Erzählung ihres Fremdverstehens V hervorheben, dass sie im Anschluss an die Erzählung der erfassten Erlebnisse der Schülerin ihre Desidentifikation mit diesen Erlebnissen bzw. mit dieser Schülerin thematisiert. Diese Tatsache weist eine besondere Beschaffenheit auf, die wie folgt beschrieben werden kann: Luisa vollzieht ein Fremdverstehen, im Rahmen dessen sie zwangsläufig eine Identifikation mit dem alter ego insofern vollzieht, als sie ihre eigenen Erlebnisse mit denen des alter ego identifiziert. In der Erzählung dieses Fremdverstehens verweist Luisa anschließend jedoch darauf, dass sie sich mit den erfassten Erlebnissen sowie der Person des alter ego desidentifiziert. Oder kürzer: Ego identifiziert sich mit alter ego, verweist anschließend aber darauf, dass es sich mit alter ego nicht identifizieren kann. Es wäre denkbar, dass dieses Erzählthema, also die Desidentifikation von ego mit alter ego, die Funktion erfüllt, Rückschlüsse zu unterbinden, in denen die durch ego erfassten Erlebnisse von alter ego auf ego ‚rückübertragen‘ werden.
6.4.2.3.6 Fremdverstehen VI: „in dem Moment fühlte sie sich darin bestärkt, dass es auch gut ist, nicht vorne zuzuhören, sondern fleißig weiterzurechnen, weil man dann keine Hausaufgaben hat“ Fremdverstehen VI vollzieht Luisa während folgender Unterrichtssituation: „Es wurden dann ähm im zweiten Teil der Stunde von den Schüler(.)innen Aufgaben selbstständig gelöst und ähm die wurden am Ende der Stunde verglichen. Es gab irgendwie Aufgabe 1 bis 5 und es wurden nur Aufgaben 1 bis 3 verglichen. Und ähm es war auch so vom Lehrer klar, naja es sind nicht alle fertig geworden. Und ähm (.) nach
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dem Vergleichen hat er dann gesagt „Ok und wer jetzt Aufgabe 4 und 5 noch nicht zu Ende gelöst hat, der macht das als Hausaufgabe noch zu Ende“. Und ähm (.) als das so genannt wurde, haben sich zwei Mädchen in der letzten Reihe so eingeschlagen [...]. [D]ann am Ende [...] hat das eine Mädchen gesagt „Ich muss ehrlich sagen, ich war noch nie so produktiv“.“
Luisa (ego) ist in ihrem Fremdverstehen VI also auf zwei Schülerinnen der 7. Klasse gerichtet. Diese beiden Schülerinnen behandelt sie jedoch nicht wie zwei verschiedene alter egos mit verschiedenen Erlebnissen. Vielmehr erfasst sie für beide Schülerinnen dieselben Erlebnisse, d. h., sie behandelt beide Schülerinnen in ihrem Fremdverstehen so, als wären sie nur ein alter ego. Luisas Fremdverstehen richtet sich hier also auf ein ‚polypersonales‘ alter ego. Später nimmt Luisa in ihrem Fremdverstehen dann nur noch die Erlebnisse der Schülerin in den Blick, die die Äußerung ‚Ich muss ehrlich sagen, ich war noch nie so produktiv‘ vornimmt. Hier richtet sie sich also wieder auf ein ‚einfaches‘ alter ego. Zu beiden Schülerinnen hat Luisa im Rahmen der Hospitationsstunde das erste Mal Kontakt, d. h., sie besitzt keinerlei Vorwissen über sie. Luisa erzählt zum Erleben und Verhalten der Schülerinnen bzw. der Schülerin: „[A]ls das so genannt wurde, haben sich zwei Mädchen in der letzten Reihe so eingeschlagen, ähm weil sie festgestellt haben, yeah sie müssen keine Hausaufgaben mehr machen, weil sie hatten schon alles geschafft. Und mir war schon vorher aufgefallen, dass die beiden während des Vergleichens der Aufgaben nicht wirklich mitgemacht haben, sondern die haben weiter ihre Aufgaben gelöst, also die haben nicht vorne zugehört, sondern weitergerechnet. Und ähm (..) als sie dann am Ende festgestellt haben, dass sie keine Hausaufgaben machen müssen, hat das eine Mädchen gesagt „Ich muss ehrlich sagen, ich war noch nie so produktiv“. Das fand ich einen spannenden Satz, deswegen ist mir das als Hochpunkt aufgefallen. (.) Ähm also ich denke, aus ihrer Perspektive war es eben für sie dann ein Hochpunkt, (.) keine Hausaufgaben machen zu müssen, weil sie so fleißig im Unterricht war und ähm (.) ja irgendwie fleißig weitergearbeitet hat, obwohl sie es in dem Moment nicht hätte tun müssen. Eigentlich hätte sie ja eigentlich an der / am Aufgabenvergleichen teilnehmen sollen, ähm aber ich glaub, in dem Moment fühlte sie sich darin bestärkt, dass es auch gut ist, nicht vorne zuzuhören, sondern fleißig weiterzurechnen, weil man dann keine Hausaufgaben hat. (.) Und das schien für sie nicht so oft vorzukommen, sonst hätte sie es nicht mit ähm ‚Sie war noch nie so produktiv‘ kommentiert.“ „Also ich denke halt einfach, irgendwie so so diese Freude, ähm (..) dass sie ja jetzt nichts mehr zuhause machen muss. Und ähm (.) na auch vielleicht in Hinblick / also mit so ner / so ein bisschen Bestärkung darin, ok es war jetzt in dem Fall auch total richtig, nicht zuzuhören, sondern weiterzumachen, weil sie wird ja jetzt dafür belohnt, weil sie keine Hausaufgaben machen muss.“
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Luisa erfasst also folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) der Schülerinnen: EH29. Zunächst erfasst Luisa, welches Handeln die Schülerinnen unterlassen: Sie nehmen nicht am Vergleichen der Aufgaben teil (‚während des Vergleichens der Aufgaben nicht wirklich mitgemacht‘) und verfolgen auch nicht das Unterrichtsgespräch (‚die haben nicht vorne zugehört‘). Stattdessen vollziehen die beiden Schülerinnen laut Luisa folgende Handlung: Sie bearbeiten gemeinsam Rechenaufgaben (‚die haben weiter ihre Aufgaben gelöst, also […] weitergerechnet‘). Auf die Frage, woran sie erkannt habe, dass die Schülerinnen diese Handlung vollziehen, antwortet Luisa: „Mir ist aufgefallen, dass die beiden die ganze Zeit noch leise beschäftigt waren während vorne verglichen wurde. Ähm (..) also sie waren da ganz (.) aktiv, aber halt eben damit, gemeinsam zu lösen.“ Luisa dient also das ‚Beschäftigt-‘ oder ‚Aktiv-Sein‘ der Schülerinnen als Anzeichen dafür, dass diese gemeinsam Aufgaben bearbeiten. Sie scheint hier auf körperliche Betätigungen der Schülerinnen zu verweisen. Welche konkreten körperlichen Betätigungen ihr als Anzeichen dienen, kann jedoch nicht rekonstruiert werden. EH30. Luisa beobachtet nun folgenden Ereignisverlauf: Der Lehrer teilt den Schülerinnen und Schülern der 7. Klasse mit, dass zwei Aufgaben, die noch nicht verglichen wurden, als Hausaufgaben zu bearbeiten sind (‚nach dem Vergleichen hat er dann gesagt „Ok und wer jetzt Aufgabe 4 und 5 noch nicht zu Ende gelöst hat, der macht das als Hausaufgabe noch zu Ende“‘). Luisa erfasst, dass die Schülerinnen nun erkennen, dass sie keine Hausaufgaben bearbeiten müssen, da sie die zwei noch nicht verglichenen Aufgaben bereits gelöst haben (‚weil sie festgestellt haben, yeah sie müssen keine Hausaufgaben mehr machen, weil sie hatten schon alles geschafft‘, ‚als sie dann am Ende festgestellt haben, dass sie keine Hausaufgaben machen müssen‘). Mit dieser Deutung verweist sie darauf, dass das vorherige Handeln der beiden Schülerinnen (‚Aufgaben bearbeiten‘ (EH29)) dazu führte, dass die Schülerinnen bereits alle Aufgaben bearbeitet haben. EH31. Luisa nimmt nun folgende Veränderung an den Leibern der Schülerinnen wahr: Die beiden Schülerinnen klatschen ein (‚haben sich zwei Mädchen in der letzten Reihe so eingeschlagen‘). Es handelt sich hierbei also um die Koordination zweier Leibesbewegungen. Diese Leibesbewegungen können zwar als ‚ähnlich‘, aber nicht als ‚identisch‘ beschrieben werden: Denn beide Schülerinnen vollziehen zwar die Bewegung ‚Einklatschen‘, jedoch unterscheidet sich jeder der beiden Vollzüge dieser Bewegung hinsichtlich bestimmter Merkmale voneinander, wie z. B. hinsichtlich seiner genauen Zeit- oder Raumstelle. Der miteinander koordinierte Vollzug der Leibesveränderung ‚Einklatschen‘ kann als ein Handeln mit kommunikativer Absicht verstanden werden. Es dient mindestens der Kommunikation zwischen den Personen, die sich einklatschen; es kann darüber hinaus aber auch eine kommunikative Absicht gegenüber den Personen verfolgen, die die
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Personen umgeben, die sich einklatschen. Luisa dient das ‚Einklatschen‘ der beiden Schülerinnen nun als Anzeichen dafür, dass diese sich darüber freuen, dass sie keine Hausaufgaben bearbeiten müssen (‚Freude, ähm (..) dass sie ja jetzt nichts mehr zuhause machen [müssen]‘). Oder vielmehr: Sie versteht die Freude darüber, keine Hausaufgaben bearbeiten zu müssen, als Weil-Motiv des Handelns ‚Einklatschen‘ der Schülerinnen (‚als das so genannt wurde, haben sich zwei Mädchen in der letzten Reihe so eingeschlagen, ähm weil sie festgestellt haben, yeah sie müssen keine Hausaufgaben mehr machen‘). Luisa kommt dann in ihrem Fremdverstehen zu dem Ergebnis, dass diejenige der beiden Schülerinnen, die die Äußerung ‚Ich muss ehrlich sagen, ich glaub ich war noch nie so produktiv‘ vornimmt, während obiger Unterrichtssituation folgende Erlebnisse und Handlungen (EH) vollzieht: EH32. Die Schülerin vollzieht die Äußerung ‚Ich muss ehrlich sagen, ich glaub ich war noch nie so produktiv‘ in kommunikativer Absicht. Sie richtet diese Äußerung – so Luisa – an ihre „Banknachbarin“, also an diejenige Mitschülerin, mit der sie zuvor eingeklatscht hat. Luisa interpretiert anhand der Äußerung der Schülerin, dass diese nur selten in der Position ist, keine Hausaufgaben machen zu müssen. Sie erzählt hierzu: „Ja na weil sie das so gesagt hat „Ich muss ehrlich sagen, ich war noch NIE so produktiv“, da habe ich irgendwie reininterpretiert, dass das vielleicht nicht so oft vorkommt, dass sie schon alles fertig hat.“
Luisa scheint also insbesondere die Betonung, welche die Schülerin vornimmt, als Anzeichen für ihr Erlebnis zu dienen. Hierauf verweist die Tatsache, dass Luisa das Wort ‚nie‘ in ihrer Nacherzählung besonders betont. (In der Transkription ist dies durch die Verwendung von Großbuchstaben abgebildet.) Dass die Schülerin dieses Wort betont, verweist für Luisa darauf, dass es insbesondere die Seltenheit des Ereignisses ist, welchem die Schülerin Ausdruck verleihen möchte. EH33. Luisa erfasst in ihrem Fremdverstehen abschließend, dass die Schülerin sich darin bestätigt fühlt, nicht das Unterrichtsgeschehen verfolgt, sondern stattdessen Aufgaben bearbeitet zu haben (‚so ein bisschen Bestärkung darin, ok es war jetzt in dem Fall auch total richtig, nicht zuzuhören, sondern weiterzumachen‘). Sie kommt ferner zu dem Ergebnis, dass die Schülerin dieses Erleben (‚sich im eigenen Verhalten bestätigt fühlen‘) vollzieht, weil sie nun keine Hausaufgaben mehr bearbeiten muss (‚so ein bisschen Bestärkung darin, ok es war jetzt in dem Fall auch total richtig, nicht zuzuhören, sondern weiterzumachen, weil sie wird ja jetzt dafür belohnt, weil sie keine Hausaufgaben machen muss‘).
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Luisa verweist mit dieser Deutung auf folgenden Erlebnis- und Handlungsverlauf der Schülerin: Die Schülerin versteht es als Konsequenz ihres Unterlassens des einen Handelns (‚dem Unterrichtsverlauf nicht folgen‘ (EH29)) und dem Vollziehen des anderen Handelns (‚Aufgaben bearbeiten‘ (EH29)), dass sie nun keine Hausaufgaben bearbeiten muss. Sie erlebt diese Konsequenz (‚keine Hausaufgaben bearbeiten müssen‘) als positiv, als ‚Belohnung‘, und glaubt, dass es richtig war, dem Unterrichtsverlauf nicht zu folgen und stattdessen selbstständig Aufgaben zu bearbeiten. Es zeigt sich mit EH29-EH33 – wie schon bei Fremdverstehen I-V –, dass Luisa auch im Fremdverstehen VI echtes Fremdverstehen vollzieht. Die Resultate von Luisas Fremdverstehen, also die von ihr erfassten Handlungen und Erlebnisse der Schülerinnen, weisen Ähnlichkeiten zu einem Thema auf, das Luisa in der Erzählung ihrer eigenen mathematikbezogenen Lebensgeschichte einführte: In dieser erzählte sie nämlich, dass sie in der Grundschule immer zu denjenigen Schülerinnen und Schülern gehörte, die als Erste den Pflichtteil des Wochenplans erfüllen konnten und dadurch keine Hausaufgaben zu bearbeiten hatten. Konkret erzählte sie hierzu: „Wir haben auch immer so Wochenplanarbeit gehabt in der Grundschule und (.) ähm (.) ja da war ich einfach unter den Leistungsstarken, die am schnellsten zum Wahlteil gekommen sind.“ „Es mussten einfach alle diesen Pflichtteil schaffen. Und wer das nicht geschafft hat, sollte es halt als Hausaufgabe [...] machen [...] und (.) ähm (.) ja ich hatte da nie Schwierigkeiten, den Teil schnell zu absolvieren.“
Luisa selbst musste in ihrer Grundschulzeit also regelmäßig keine Hausaufgaben bearbeiten, weil sie die an sie gestellten Aufgaben bereits bearbeitet hatte. Sie bewertet dieses Erlebnis zum Zeitpunkt ihrer Erzählung als ein ‚positives‘ und stuft es als ‚Hochpunkt‘ ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte ein. Es wäre nun denkbar, dass Luisa in ihrem Fremdverstehen ihr eigenes vergangenes, ‚positives‘ Erleben der Situation, keine Hausaufgaben bearbeiten zu müssen, auf die Schülerinnen überträgt. Luisa ist sich bezüglich der Resultate, die ihr Fremdverstehen VI hervorbringt, sehr sicher. Sie scheint kein Kontingenzbewusstsein gegenüber den von ihr erfassten Erlebnissen zu besitzen. Auch auf die konkrete Nachfrage, welche alternativen Erlebnisse die Schülerin vollzogen haben könnte, antwortet Luisa: „Mmh (9 sec) ja ich glaube, äh (..) es fällt mir jetzt schwer, da andere Emotionen reinzudeuten. (..) [...] mmh (11 sec) mmh also ich glaube, das, was ich bis jetzt genannt
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hab, ist für mich auch weiterhin das Naheliegendste. Und (...) da finde ich es gerade (.) einfach nicht so naheliegend, da jetzt noch irgendwas anderes mit reinzuziehen.“
Es scheint – ähnlich wie bei Fremdverstehen IV–, dass selbst dann, wenn von Luisa ein Kontingenzbewusstsein förmlich ‚erzwungen‘ wird, sie ein solches nicht entwickelt. Und so zeichnet sich auch hier ein deutlicher Unterschied zu ihren Erzählungen der Fremdverstehensprozesse I-III ab: In der Erzählung dieser zeigte Luisa nicht nur Kontingenzbewusstsein gegenüber den von ihr erfassten Erlebnissen von Schülerinnen und Schülern, sondern benannte zudem konkrete alternative Erlebnisse, also Erlebnisse, die die Schülerinnen und Schüler auch vollzogen haben könnten. Unter anderem formulierte sie auch Erlebnisalternativen, die statt zu einem ‚Tiefpunkt‘ zu einem ‚Hochpunkt‘ im Erleben der Schülerinnen und Schüler geführt haben könnten. D. h., Luisa schien sich bewusst gewesen zu sein, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur andere, sondern vielmehr grundsätzlich andere Erlebnisse vollzogen haben könnten als diejenigen, die sie ihnen in ihrem Fremdverstehen I-III zuschrieb.
6.4.2.4 Zu Strukturen des Fremdverstehens von Luisa Es wurde nun Luisas Fremdverstehen rekonstruiert, welches sie während sechs verschiedener Situationen im Mathematikunterricht einer 7. Klasse vollzog. Auf der Grundlage dieser Rekonstruktionen lassen sich einige allgemeine Strukturen aufzeigen, die Luisas Fremdverstehen aufzuweisen scheint. Im Folgenden seien diese Strukturmerkmale von Luisas Fremdverstehen dargestellt: Geringes Kontingenzbewusstsein gegenüber erfassten ‚Hochpunkt‘-Erlebnissen Die Rekonstruktion von Fremdverstehen IV-VI (‚Hochpunkte‘) zeigte, dass Luisa die Resultate, die diese Fremdverstehensprozesse hervorbrachten, als adäquat einschätzt. Zum Fremdverstehen I-III (‚Tiefpunkte‘) konnte hingegen rekonstruiert werden, dass Luisa sich hinsichtlich der Adäquatheit der Resultate dieser Fremdverstehensprozesse weniger sicher ist, dass sie sich also nicht sicher ist, ob die von ihr erfassten Erlebnisse und Handlungen das tatsächliche Erleben und Handeln der fremdverstandenen alter egos adäquat abbilden. Es konnte rekonstruiert werden, dass Luisa vielmehr davon ausgeht, dass die fremdverstandenen alter egos auch grundlegend andere Erlebnisse und Handlungen vollzogen haben können, dass die Ergebnisse ihres Fremdverstehens I-III also kontingent sind. Sie formulierte alternative Ergebnisse in Form von konkreten Erlebnissen und Handlungen, die das jeweilige alter ego auch vollzogen haben könnte. Bezüglich der Ergebnisse ihres Fremdverstehens IV-VI zeigte Luisa ein solches Kontingenzbewusstsein jedoch nicht. Selbst auf konkrete Nachfrage benannte sie keine
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Erlebnis- und Handlungsalternativen („Mmh (.) ist schwierig. Ähm (7 sec) also ja ich glaub, […] da fällt mir gerade spontan nichts äh (.) anderes gut passendes ein. Oder wenn, dann wär ich dann nur auf der Suche nach Synonymen für Stolz.“ (zum Fremdverstehen IV), „Mmh (9 sec) ja ich glaube, äh (..) es fällt mir jetzt schwer, da andere Emotionen reinzudeuten. (..) […] mmh (11 sec) mmh also ich glaube, das, was ich bis jetzt genannt hab, ist für mich auch weiterhin das Naheliegendste. Und (…) da finde ich es gerade (.) einfach nicht so naheliegend, da jetzt noch irgendwas anderes mit reinzuziehen.“ (zum Fremdverstehen VI)). Zusammenfassend stellt sich also folgendes Strukturmerkmal von Luisas Fremdverstehen heraus: Luisa scheint gegenüber erfassten ‚Hochpunkt‘-Erlebnissen und -Handlungen ein geringeres Kontingenzbewusstsein zu besitzen als gegenüber erfassten ‚Tiefpunkt‘-Erlebnissen und -Handlungen. Mathematikungebundenheit In der Gesamtheit aller Erlebnisse und Handlungen (EH1-EH33), die Luisa während des Mathematikunterrichts der 7. Klasse erfasst, fällt auf, dass diese nicht an die Unterrichtsthemen ‚Funktionen‘ und ‚Diagramme‘ gebunden sind. Vielmehr könnte eine Vielzahl der Erlebnisse und Handlungen genau so auch während der Bearbeitung eines ganz anderen mathematischen Themas vollzogen worden sein. Aber selbst zum Schulfach überhaupt, also zum Fach Mathematik, weisen nur wenige Erlebnisse und Handlungen einen unmittelbaren Bezug auf (z. B. ‚Begründen als ein für den Mathematikunterricht ‚untypischen‘ kognitiven Akt bewerten‘ (EH16)). Es wäre also für eine Vielzahl der Erlebnisse und Handlungen, die Luisa in ihrem Fremdverstehen im Mathematikunterricht erfasst, möglich, dass sie nicht nur auch während der Bearbeitung eines anderen Unterrichtsthemas vollzogen werden könnten, sondern vielmehr sogar während des Unterrichts in einem ganz anderen Schulfach. Situationen der Bewertung durch Lehrperson Das rekonstruierte Fremdverstehen von Luisa zeichnet sich dadurch aus, dass sie in ihm überwiegend das Erleben und Handeln einer Schülerin oder eines Schülers in den Blick nimmt, nachdem die Lehrperson einen Beitrag dieser Schülerin oder dieses Schülers öffentlich bewertet: In Fremdverstehen I und II richtet Luisa ihren Blick auf die Erlebnisse und Handlungen eines Schülers, nachdem der Mathematiklehrer seine Aufgabenlösungen als ‚falsch‘ bezeichnet. In Fremdverstehen IV erfasst sie die Erlebnisse und Handlungen einer Schülerin, nachdem der Mathematiklehrer ihr Recht gibt, als sie beim gemeinsamen Vergleichen der Hausaufgaben einen Fehler in einer Musterlösung anmerkt. Und in Fremdverstehen V nimmt Luisa das Erleben und Handeln einer weiteren Schülerin in den
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Blick, die während der Auswertung einer Gruppenarbeit vom Mathematiklehrer dafür gelobt wird, die Gruppenarbeit angeleitet zu haben. Da Luisa eine eindeutige Zuordnung vornimmt, welche Erlebnisse in ihren Augen als ‚Hochpunkt‘ und welche als ‚Tiefpunkt‘ im mathematikbezogenen Erleben und Handeln einer fremdverstandenen Schülerin oder eines fremdverstandenen Schülers gelten können, lässt sich obige Strukturhypothese sogar wie folgt spezifizieren: Wenn die Lehrperson den Beitrag einer Schülerin oder eines Schülers als ‚falsch‘ bewertet, erfasst Luisa einen ‚Tiefpunkt‘ im Erleben dieser Schülerin oder dieses Schülers. Wenn die Lehrperson den Beitrag einer Schülerin oder eines Schülers aber als ‚richtig‘ bewertet, erfasst sie hingegen einen ‚Hochpunkt‘ im Erleben dieser Schülerin oder dieses Schülers. Es zeichnet sich hier eine Parallelität zu Luisas eigenem Erleben ab: In der Rekonstruktion ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte konnte nämlich herausgearbeitet werden, dass soziale Anerkennung durch Familienmitglieder, Lehrkräfte, Dozierende etc. bei Luisa zu Erlebnissen führten, die sie als positive Themen (‚Hochpunkte‘) in die Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte einführte, ausbleibende soziale Anerkennung hingegen zu Erlebnissen, die sie als negative (‚Tiefpunkte‘) oder neutrale Themen einführte oder die sie überhaupt nicht thematisierte. Erwartung fremder Erlebnisse Im exmanenten Nachfrageteil des zweiten Interviews, in welchem Luisa in der Rolle einer ‚Expertin‘ und ‚Theoretikerin‘ ihrer selbst (vgl. Schütze, 1983, S. 285) adressiert wird, wird sie nach ihrem allgemeinen Vorgehen im Erfassen der Erlebnisse und Handlungen der Schülerinnen und Schüler gefragt. Luisas Antwort lautet: „[Ich] hab mir dann auch schon überlegt, was für Situationen [...] mich so zum Beispiel erwarten könnten, damit ich dann in entsprechenden Phasen nach [...] Dingen gucke. [...] Ich hab ja immer nach den Situationen geguckt [...], wo ich mir denken würde, da hätte ich mich als Schüler schlecht gefühlt, also gucke ich, kommt da auch bei dem Schüler nen Tiefpunkt. Und da hätte ich mich als Schüler gut gefühlt, kommt da jetzt auch für den Schüler ein Hochpunkt.“
Luisa beschreibt, dass sie ihr Fremdverstehen im Rahmen der Doppelstunde Mathematik wie folgt ‚vorbereitet‘ hat: Sie gibt an, verschiedene Situationen antizipiert zu haben, die der Möglichkeit nach eintreten könnten (‚hab mir dann auch schon überlegt, was für Situationen […] mich so zum Beispiel erwarten könnten‘). Sie merkt an, innerhalb dieser Situationen dann zwischen Situationen unterschieden zu haben, in denen sie sich als Schülerin ‚schlecht‘ gefühlt
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Die zweite empirische Untersuchung: Fremdverstehen …
hätte, und solchen, in denen sie sich als Schülerin ‚gut‘ gefühlt hätte. Trat eine der erwarteten Situationen ein – so Luisa–, wurde ihr Fremdverstehen innerhalb dieser Situation dann von der Frage angeleitet, ob die Schülerinnen und Schüler dieselben Erlebnisse vollziehen, die sie vollziehen würde (‚gucke ich, kommt da auch bei dem Schüler nen Tiefpunkt‘, ‚kommt da jetzt auch für den Schüler ein Hochpunkt‘). Sofern diese Selbstbeschreibung zutrifft, ergibt sich hier also, dass Luisa bereits im Voraus ihrer Fremdverstehensprozesse bestimmte Resultate erwartet, d. h., dass sie erwartet, dass Schülerinnen oder Schüler in bestimmten Situationen bestimmte Erlebnisse vollziehen werden. Innerhalb des Fremdverstehensprozesses wäre sie dann nicht mehr insofern auf die Erlebnisse und Handlungen von Schülerinnen und Schülern gerichtet, als sie sich fragt, welche Erlebnisse und Handlungen vollzogen werden, sondern vielmehr insofern, als sie ‚prüft‘, ob die vollzogenen den von ihr erwarteten Erlebnissen und Handlungen entsprechen oder nicht. Luisas Erfassen fremder Erlebnisse und Handlungen wäre also ganz grundlegend durch ihr bereits vollzogenes Erwarten dieser fremden Erlebnisse und Handeln strukturiert. Vermeintliche Positivierungstendenz Bei dem folgenden Strukturmerkmal handelt es sich eigentlich nicht um ein Merkmal von Luisas Fremdverstehen, sondern um ein Merkmal ihres erzählten Fremdverstehens. Zu Beginn des zweiten Interviews verweist Luisa nämlich darauf, dass ihr die Identifikation von ‚Tiefpunkten‘ im mathematikbezogenen Erleben der Schülerinnen und Schülern schwerer fiel als die Identifikation von ‚Hochpunkten‘ („erstmal würde ich schon mal sagen, dass es mir selbst fast schwerer fiel, Tiefpunkte zu identifizieren“). Sie selbst bringt hierfür folgende Begründung vor: „Ich habe auch überlegt [...], ob es an mir liegt, ähm (.) dass ich eher auf Hochpunkte anspringe. Weil ich, glaube ich, ja generell (.) selber eher positive Erfahrungen in Mathematik hab und weil ich ähm, (.) glaube ich, generell ein sehr positiver Mensch bin und mir immer eher die schöneren Dinge im Leben stärker vor Augen führe als (.) nicht so schöne Dinge.“
Luisa selbst begründet ihre Schwierigkeit, ‚Tiefpunkte‘ bei Schülerinnen und Schülern zu identifizieren, also damit, dass sie ein ‚sehr positiver Mensch‘ sei, der seine Aufmerksamkeit eher auf positive (‚die schöneren Dinge im Leben‘) als auf negative Ereignisse (‚nicht so schöne Dinge‘) richtet. Diese Schwierigkeit Luisas zeichnet sich in ihrer anschließenden Erzählung allerdings nicht ab. Es zeigt sich
6.4 Zu den Ergebnissen: Die Rekonstruktionen von Fremdverstehen …
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nämlich keine Tendenz dahingehend, dass sie von den erfassten ‚Hochpunkt‘Erlebnissen ausführlicher erzählen würde als von den ‚Tiefpunkt‘-Erlebnissen. Vielmehr vermag sie, zu den erfassten ‚Tiefpunkt‘-Erlebnissen sogar insofern mehr zu erzählen, als sie zu ihnen ausführliche Erlebnisalternativen formuliert. Es scheint sich hier ein Erzählmuster von Luisa herauszustellen. Denn auch während ihres ersten Interviews in der Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte nahm sie eine ähnliche Äußerung wie die obige vor: „Ok. (..) Also wie man so generell in meiner Kurve schon sehen kann, ist sie eigentlich sehr im oberen Bereich. Also ich glaube, ich bin einmal generell ein positiver Mensch und äh konzentrier mich deswegen, glaube ich, häufig auch auf die guten Dinge, weniger auf die schlechten Dinge, deswegen sind mir auch die vor allem eingefallen.“
Auch hier verwies Luisa also darauf, dass sie ein ‚positiver Mensch‘ sei, der seine Aufmerksamkeit eher auf positive (‚die guten Dinge‘) als auf negative Ereignisse (‚die schlechten Dinge‘) richtet. Sie führte mit dieser Äußerung in ihre Erzählung ein. Dass sie ihre Erzählung mit dieser Globalevaluation begann, wurde derart gedeutet, dass sie ihre mathematikbezogene Lebensgeschichte als eine positive verstanden wissen wollte. Im Verlauf ihrer Erzählung führte sie dann jedoch häufig auch negative Erzählthemen ein und geriet zu diesen Themen in einen Erzählfluss (z. B. in der Erzählung von ihrer Referendariatszeit). Das Erzählmuster, das sowohl in Luisas Erzählung ihrer mathematikbezogenen Lebensgeschichte, also in ihrem ersten Interview, als auch in der Erzählung von ihren Fremdverstehensprozessen, also in ihrem zweiten Interview, gewirkt haben könnte, ließe sich wie folgt beschreiben: Luisa selbst expliziert in ihren Erzählungen, dass sie ein ‚positiver Mensch‘ sei, der sich auf positive Ereignisse fokussiert, um ihre Erzählung als eine positive verstanden zu wissen. Luisas Erzählverhalten impliziert hingegen, dass ihr Fokus auf positive Gegenstände weniger stark ausgeprägt ist, als sie zu vermitteln beabsichtigt.
Teil III Schluss
Die vorausgehenden Teile dieser Arbeit zielten darauf ab, Antworten auf die Frage zu finden, wie sich das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht ausgestaltet. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage mündete zunächst in einer theoretischen Untersuchung des Phänomens des Fremdverstehens im ersten Teil dieser Arbeit und wurde dann, im zweiten Teil, durch eine empirische Untersuchung des Fremdverstehens von Lehrkräften im Mathematikunterricht einer 7. und zweier 9. Klassen weitergeführt. Im dritten und letzten Teil dieser Arbeit soll meine Untersuchung nun zu einem vorläufigen Ende geführt werden. Hierfür möchte ich zunächst eine Verallgemeinerung der empirischen Forschungsergebnisse vornehmen. D. h., ich möchte diskutieren, welche Aussagen über das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht im Allgemeinen sich aus den Rekonstruktionen des Fremdverstehens der spezifischen Lehrkräfte gewinnen lassen (Kapitel 7). Zum Abschluss dieser Arbeit möchte ich dann noch einmal auf einige der zentralen Entscheidungen zurückblicken, die ich in der Konzeption und Durchführung meines Forschungsvorhabens getroffen habe. Dabei werde ich für jeden dieser ‚Selektionspunkte‘ stets auch alternative Entscheidungsoptionen diskutieren und so zugleich Ansatzpunkte für mögliche Anschlussuntersuchungen gewinnen. Rückblick und Ausblick sollen sich in diesem letzten Kapitel also miteinander verschränken (Kapitel 8).
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
Die Verallgemeinerung von Forschungsergebnissen stellt einen zentralen Schritt im qualitativen Forschungsprozess dar (vgl. Mayring, 2007, Absatz 4). Oft wird jedoch davon ausgegangen, dass dieser Schritt im Rahmen von qualitativer Forschung gar nicht möglich wäre. Larsson (2009) schreibt hierzu: “The phrase ‘one cannot draw any conclusions about any other situation than the investigated cases’ is sometimes used in defence of qualitative studies. Taken seriously, it will reduce the interest in many qualitative studies to practically nothing. If someone has made a study of a classroom in the spring of 2005, it is difficult to take seriously if there are no ambitions to say something that can be of use outside this situation in time and space and the persons involved […].” (S. 31)
Larsson beschreibt hier also erstens, dass es bezüglich qualitativer Forschung manchmal zu Aussagen der Art ‚Man kann vom untersuchten Fall nicht auf andere Fälle schließen‘ kommt. (Nicht selten – so meine eigene Beobachtung – sind es sogar die Forscherinnen und Forscher selbst, die die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ihrer qualitativen Untersuchungen als derart limitiert einschätzen.) Wenn man solche Aussagen nun aber ernst nimmt, so argumentiert Larsson zweitens, würden damit viele qualitative Studien gänzlich ‚uninteressant‘ werden, da sich ihr Geltungsbereich dann eben auf den Einzelfall beschränken würde. Die Untersuchung des Fremdverstehens einer angehenden Lehrkraft im Mathematikunterricht einer 9. Klasse während der Bearbeitung eines Tests zum Thema ‚Satz des Pythagoras‘ – ich orientiere mich hier merklich an Larssons überspitzter Darstellung eines Beispiels – wäre wohl kaum ernst zu nehmen, wenn aus ihr keinerlei Aussagen getroffen werden könnten, die über die konkrete Situation, also über Zeitpunkt, Ort und Personen des Fremdverstehens hinaus von Nutzen sein könnten. Mit den Worten des Bildungsanthropologen Harry F. Wolcott fasst © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C.-S. Günther, Das Eigene und das Fremde, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_7
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
Larsson seine Argumentation anschließend wie folgt zusammen: „‘… there must be a capacity for generalization; otherwise there would be no point to giving such careful attention to the single case’“ (Wolcott in Larsson, 2009, S. 31). Sofern also mit den Resultaten einer qualitativen Untersuchung nicht nur Aussagen über den Einzelfall getroffen werden sollen, muss im Forschungsprozess ein Schritt der Verallgemeinerung erfolgen. Dieser Einsicht schließt sich die Frage an, wie dieser Schritt denn vollzogen werden kann, wie also die Ergebnisse qualitativer Forschung verallgemeinert werden können. Bevor ich eine Antwort auf diese Frage gebe, möchte ich zunächst kurz darauf eingehen, wie dieser Schritt nicht vollzogen werden kann, nämlich: nicht im Sinne der numerischen Verallgemeinerung. Ziel dieser Art der Verallgemeinerung ist es, von Aussagen über die Häufigkeitsverteilung der Ausprägungen eines Merkmals innerhalb einer Stichprobe zu Aussagen über die Häufigkeitsverteilung der Ausprägungen eines Merkmals innerhalb einer Gesamtpopulation zu gelangen. In qualitativer Forschung wird aber für gewöhnlich nur eine sehr geringe Zahl von Fällen untersucht, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass mit ihnen eine repräsentative Stichprobe aus der Gesamtheit aller Fälle vorliegt. So wäre es beispielsweise wohl kaum haltbar, anhand des Fremdverstehens zweier Lehrkräfte auf das Fremdverstehen von insgesamt ca. 827.000 Lehrkräften in Deutschland1 schließen zu wollen. Doch wie, wenn nicht numerisch, können die Ergebnisse qualitativer Forschung denn dann verallgemeinert werden? Die Antwort lautet: im Sinne einer theoretischen Verallgemeinerung. Die theoretische Verallgemeinerung basiert auf der ‚Logik des Verallgemeinerns am Einzelfall‘ (vgl. Rosenthal, 2015, S. 13). Lewin (1927) fasst diese Art des Verallgemeinerns wie folgt zusammen: Von einem einzelnen Fall wird auf alle gleichartigen Fälle geschlossen (vgl. S. 385). Konkret vollzieht sich ein solcher Schluss wie folgt: In präziser Analyse eines einzelnen Falles werden seine Strukturen herausgearbeitet. Anhand dieser Strukturen lässt sich ein Falltypus bilden. (Für die Charakterisierung eines Typus, so Lewin (1927), ist es dabei völlig irrelevant, mit welcher Häufigkeit er auftritt; von Bedeutung ist vielmehr nur sein ‚Sosein‘ (vgl. S. 389).) Dem Falltypus, der anhand des Einzelfalles gebildet wurde, können dann auch weitere Fälle entsprechen. Es wird also vom einzelnen Fall insofern auf alle gleichartigen Fälle geschlossen, als von ihm auf diejenigen Fälle geschlossen wird, die demselben Typus zugeordnet werden können. D. h.,
1
Laut den Statistischen Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz waren 2020 in Deutschland insgesamt ca. 827.600 Personen als Lehrkräfte beschäftigt (vgl. KMK, 2022, S. XVIII).
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
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es wird gewissermaßen von einer Wirklichkeit (= dem Einzelfall) auf weitere mögliche Wirklichkeiten (= alle gleichartigen Fälle) geschlossen. Larsson (2009) und Mayring (2007) merken an, dass es zur Qualitätssteigerung einer theoretischen Verallgemeinerung beiträgt, wenn expliziert wird, welche konkreten Ziele mit ihr verfolgt werden (vgl. Larsson, S. 26 & Mayring, Absatz 4). Sie stellen drei (vgl. Larsson, 2009, S. 31–36) bzw. acht (vgl. Mayring, 2007, Absatz 14) solcher möglichen Ziele heraus. Ich möchte hier zwar nicht im Detail auf diese Aufzählungen eingehen, aber immerhin kurz erläutern, welche Ziele ich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung verfolge: Ein erstes Ziel der theoretischen Verallgemeinerung in dieser Arbeit ist es, Muster und Strukturen herauszuarbeiten, die das Fremdverstehen der zwei untersuchten Lehrkräfte im Mathematikunterricht aufweist. Die Idee hinter dieser Zielsetzung sei mit einem Zitat von Larsson (2009) erläutert: „Research texts can communicate ways of seeing something, often with the ambition to transcend old or taken-for-granted ways of understanding the studied phenomena […]. Qualitative research often produces such interpretations – theoretical constructions, concepts or descriptions, i.e. patterns or configurations, which can be recognized in the empirical world. The reader is invited to notice something they did not see before. We can view this as a variant of generalization, the communicated pattern is recognized in new cases. […] The line of reasoning here is that generalization is about the potential use of a piece of research: generalization is an act, which is completed when someone can make sense of situations or processes or other phenomena with the help of the interpretations, which emanate from research texts.“ (S. 33–34)
Übertragen auf den konkreten Fall der vorliegenden Untersuchung heißt das: Indem ich Muster und Strukturen im Fremdverstehen zweier Lehrkräfte im Mathematikunterricht herausarbeite, schlage ich ‚neue‘ Sichtweisen auf dieses Phänomen vor, die bisherige, mitunter als selbstverständlich hingenommene Sichtweisen überschreiten. Leserinnen und Lesern der vorliegenden Arbeit wird es dadurch einerseits möglich, Muster und Strukturen im Fremdverstehen der zwei untersuchten Lehrkräfte im Mathematikunterricht zu erkennen, die sie zuvor möglicherweise nicht erkannt haben bzw. nicht erkannt hätten. Es wird ihnen aber andererseits auch möglich, diese Muster und Strukturen im Fremdverstehen anderer Lehrkräfte im Mathematikunterricht wiederzuerkennen. Die theoretische Verallgemeinerung zielt hier also darauf ab, Muster und Strukturen des Fremdverstehens herauszuarbeiten, die bei der Deutung weiterer Vollzüge von Fremdverstehen nützlich sein können. Ein zweites Ziel besteht darin, die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung auf kontextspezifische Aussagen zu verallgemeinern (vgl. Larsson, 2009, S. 32 &
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
Mayring, 2007, Absatz 14). Mit Blick auf die vorliegende Untersuchung bedeutet dies: Die Rekonstruktionen des Fremdverstehens von Camila und Luisa, welches diese im Mathematikunterricht einer 7. bzw. zweier 9. Klassen vollzogen, sollen zu Aussagen über das Fremdverstehen in ähnlichen Kontexten verallgemeinert werden, in diesem Fall: über das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht. Das Motiv dieser ‚Verallgemeinerungsstrategie‘ besteht darin, Beschreibungen des Phänomens Fremdverstehen „unter bestimmten Bedingungen […], in ähnlichen Situationen oder Zeiten, für ähnliche Personen“ (Mayring, 2007, Absatz 14) zu generieren. Nach diesen Vorüberlegungen zur theoretischen Verallgemeinerung in qualitativer Forschung soll eine solcher Schritt nun durchgeführt werden. Ein erster Verallgemeinerungsschritt wurde gewissermaßen bereits im Rahmen der Rekonstruktionen des Fremdverstehens von Camila und Luisa vorgenommen. Dort wurden nämlich Strukturmerkmale herausgearbeitet, die das Fremdverstehen der beiden Lehrkräfte im Mathematikunterricht jeweils aufzuweisen scheint (vgl. Abschnitt 6.4.1.4 & 6.4.2.4). Die Rekonstruktionen wurden hier insofern verallgemeinert, als aus ihnen Aussagen über das Fremdverstehen der beiden Frauen ‚im Allgemeinen‘ – im Unterschied zu ihrem Fremdverstehen in den konkreten Situationen – gewonnen werden konnten. Die nachfolgende Verallgemeinerung wird nun sowohl auf den Rekonstruktionen des Fremdverstehens in konkreten Situationen als auch auf den Ergebnissen dieses ersten Verallgemeinerungsschrittes, also auf den herausgearbeiteten Strukturmerkmalen des individuellen Fremdverstehens von Camila und Luisa, basieren. Dabei werde ich allgemeine Aussagen über fünf Merkmale des Fremdverstehens von Lehrkräften im Mathematikunterricht treffen: Ich werde einen Typ von alter ego herausarbeiten, auf den sich Lehrkräfte in ihrem Fremdverstehen richten können (Abschnitt 7.1) sowie drei potentielle Merkmale der fremden Erlebnisse diskutieren, welche sie erfassen (Abschnitt 7.2). Sodann werde ich verschiedene Arten von Anzeichen diskutieren, anhand derer Lehrkräfte das Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler erfassen können (Abschnitt 7.3), bevor ich untersuche, welche Art von Erleben Lehrkräfte in ihrem Fremdverstehen auf Schülerinnen und Schüler übertragen können (Abschnitt 7.4). Abschließend werde ich zwei Einflüsse diskutieren, die auf die Selbsteinschätzung von Lehrkräften über die Adäquatheit ihrer Fremdverstehensresultate einwirken können (Abschnitt 7.5).
7.1 Zum alter ego
7.1
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Zum alter ego
Unter Fremdverstehen – so zeigten es die Ausführungen zu Schütz’ Theorie des Fremdverstehens – kann derjenige Prozess verstanden werden, in welchem ego versucht, mittels Anzeichen die Bewusstseinserlebnisse von alter ego zu erfassen. In Abschnitt 2.1 dieser Arbeit wurde der Frage nachgegangen, wer sich hinter den ‚Hauptakteurinnen und -akteuren‘ dieses Prozesses, also hinter ego und alter ego, verbirgt. Es stellte sich dort u. a. heraus, dass es sich bei ego und alter ego um Mensch und Mitmensch handelt. Und dass die Unterscheidung zwischen ego und alter ego keine absolute, sondern vielmehr eine relative ist. Es zeigte sich nämlich, dass ein Mensch innerhalb derselben Situation sowohl ego des einen Fremdverstehens als auch alter ego eines anderen Fremdverstehens sein kann. Fremdverstehen war dabei stets als ein Prozess zu verstehen, in welchem ein ego auf ein alter ego gerichtet ist. Das heißt: Es handelt sich um einen Prozess, der sich zwischen genau zwei Menschen vollzieht.2 Die zweite empirische Untersuchung dieser Arbeit zeigte nun aber, dass Lehrkräfte im Mathematikunterricht in einem Fremdverstehen nicht zwangsläufig auf das Bewusstsein einer Schülerin oder eines Schülers gerichtet sein müssen. Vielmehr können sie auch auf ‚das Bewusstsein‘ einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern gerichtet sein (vgl. Abschnitt 6.4.1.3.2 & 6.4.1.3.3 (Fremdverstehen II & III von Camila) sowie Abschnitt 6.4.2.3.6 (Fremdverstehen VI von Luisa)). Ein Fremdverstehen dieser Art ist dann zwar insofern weiterhin auf ein alter ego gerichtet, als ein Bewusstseinserleben erfasst wird, das alle Schülerinnen und Schüler dieser Gruppe vollziehen. Das Bewusstseinserleben mehrerer Schülerinnen und Schüler wird also (mindestens) für den Zeitraum des Fremdverstehens identifiziert, d. h., die Schülerinnen und Schüler werden gewissermaßen ‚behandelt‘, als seien sie Trägerinnen und Träger desselben Erlebens. Es kann vor diesem Hintergrund aber wohl kaum von einem ‚normalen‘ alter ego im
2 Hierauf verweisen einerseits textliche Merkmale in Schütz’ Ausführungen zu ego und alter ego bzw. in seinen gesamten Ausführungen zum Fremdverstehen. So wird dort ausnahmslos der Singular gebraucht, wenn ego auch mit ‚(der/ein) Mensch‘ oder ‚(das/ein) Ich‘ und alter ego auch mit ‚(der/ein) Mitmensch‘, ‚(der/ein) Nebenmensch‘ oder ‚(das/ein) Du‘ bezeichnet wird. Andererseits finden sich aber auch Hinweise im Inhalt von Schütz’ Ausführungen: Denn Fremdverstehen wird dort grundsätzlich als eine Bewusstseinsaktivität verstanden, welche sich auf weitere, und zwar fremde Bewusstseinsaktivitäten richtet. Da nun jedem Bewusstsein immer genau ein Mensch ‚zugeordnet‘ werden kann, der als sein Träger bzw. seine Trägerin fungiert, so folgt daraus: Fremdverstehen vollzieht sich im Bewusstsein eines Menschen, nämlich des ego, und richtet sich auf das Bewusstsein eines anderen Menschen, nämlich des alter ego.
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7
Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
Sinne von Schütz’ Theorie des Fremdverstehens die Rede sein, sondern vielmehr von einer Art ‚polypersonalem‘ alter ego, also von einem alter ego, das sich aus mehreren Personen – in diesem Fall: aus mehreren Schülerinnen und Schülern – zusammensetzt. Wenn es aber von Zeit zu Zeit vorkommt, dass Lehrkräfte in ihrem Fremdverstehen im Mathematikunterricht auf solch ein polypersonales alter ego gerichtet sind, so stellt sich die Frage, wie man sich diese eigentümliche Form des Fremdverstehens verständlich machen kann. Wieso kommt es dazu, dass Lehrkräfte das Erleben mehrerer Lernender identifizieren? Oder noch einmal anders gefragt: Welches unterrichtliche Problem wird durch das ‚Gerichtet-Sein‘ einer fremdverstehenden Lehrkraft auf ein polypersonales alter ego gelöst? Mit dieser Art der Fragestellung orientiere ich mich an dem Vorgehen einer funktionalen Analyse (vgl. Lensing, 2021, S. 81–89): In dieser Art der Analyse wird ein beobachtetes Phänomen immer als ‚Inkarnation bereits gelöster Probleme‘ (vgl. Luhmann, 2018, S. 1045) aufgefasst. D. h., ein beobachtetes Phänomen wird gewissermaßen als Problemlösung definiert. Es kann dann herausgearbeitet werden, für welches Problem das Phänomen eine Lösung darstellt und anschließend danach gefragt werden, welche alternativen Lösungsmöglichkeiten für dieses Problem bestehen (vgl. Lensing, 2021, S. 86). Statt also beispielsweise das ‚Gerichtet-Sein‘ einer fremdverstehenden Lehrkraft auf ein polypersonales alter ego selbst als Problem aufzufassen und danach zu fragen, wie es gelöst werden könnte, frage ich im Sinne der funktionalen Analyse ‚umgekehrt‘: Welches Problem bzw. welche Probleme löst diese Art des ‚Gerichtet-Seins‘? Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte nun wie folgt lauten: Indem eine Lehrkraft in ihrem Fremdverstehen auf ein polypersonales alter ego gerichtet ist, vermag sie die Komplexität zu reduzieren, mit welcher sie im Mathematikunterricht konfrontiert wird. Sie löst also das ‚Komplexitätsproblem‘: Statt ihr Fremdverstehen auf einzelne – oder gar: alle einzelnen – Schülerinnen und Schüler richten zu müssen, richtet sie sich in einem Fremdverstehen auf mehrere Schülerinnen und Schüler zugleich. Sie ‚bündelt‘ also ihr Fremdverstehen und erwirkt auf diese Weise, dass sie mittels weniger Fremdverstehensprozesse das Bewusstseinserleben möglichst vieler ihrer Schülerinnen und Schüler erfassen kann. Das ‚Ausmaß‘ der Reduktion kann dabei variieren: So kann eine Lehrkraft mit nur einem Fremdverstehen zu der Deutung gelangen, dass alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse dasselbe Bewusstseinserleben vollziehen (vgl. z. B. Abschnitt 6.4.1.3.3 (Camilas Fremdverstehen III)). Sie kann mit einem Fremdverstehen aber beispielsweise auch ‚nur‘ für zwei Schülerinnen und Schüler erfassen, dass diese dasselbe Erlebnis vollziehen (vgl. z. B. Abschnitt 6.4.2.3.6 (Luisas
7.1 Zum alter ego
283
Fremdverstehen VI) & Abschnitt 6.4.1.3.2 (Camilas Fremdverstehen II)). In beiden Fällen – sowie in allen Fällen zwischen diesen beiden ‚Extremen‘ – wird es der Lehrkraft möglich, das Fremdverstehen mehrerer Schülerinnen und Schüler mit einem geringeren zeitlichen Aufwand zu vollziehen. Hätten die untersuchten Lehrkräfte nun selbst unterrichtet, so lässt sich vermuten, dass Fälle von Fremdverstehen mit einem polypersonalen alter ego wohl sogar noch häufiger aufgetreten wären. Denn unterrichtende Lehrkräfte stehen vor dem Dauerproblem der ‚Anschlusssicherung‘ und geraten damit unter einen ständigen Handlungsdruck: Eine unterrichtende Lehrkraft muss durch ihr unterrichtliches Handeln gewährleisten, dass der Mathematikunterricht ohne größere Unterbrechungen verläuft, sich also kontinuierlich und ‚reibungslos‘ fortschreibt. Da ihr dabei aber immer auch gewisse curriculare Ziele aufgegeben sind, kann und wird sie ihr unterrichtliches Handeln nicht allein danach bemessen, ob der Unterricht unterbrechungsfrei verläuft, sondern sich vielmehr stets auch daran versuchen, inhaltlich gehaltvolle Anschlüsse zu wählen. Sie wird also versuchen, ihr unterrichtliches Handeln so zu wählen, dass sie mit diesem Handeln möglichst vielen Lernenden geeignete Lernanlässe verschafft und sie auf diese Weise in ihrer mathematischen Denkentwicklung unterstützt. Und so wird sie dann beispielsweise beim Vergleichen einer Reihe von Aufgaben, die aufeinander aufbauen, darauf achten müssen, dass die Lösung einer Teilaufgabe A von möglichst vielen Lernenden verstanden wurde, bevor sie dazu übergeht, Teilaufgaben B und C zu vergleichen. Sie müsste dann also für viele – oder gar: alle – ihrer Lernenden einen eigenen Fremdverstehensprozess vollziehen, was jedoch praktisch – angesichts des Zeitdrucks, unter dem ihr unterrichtliches Handeln steht – ganz ausgeschlossen erscheint. Denn im Unterrichtsalltag ist es für eine Lehrkraft schlicht unmöglich, ihren Unterricht so lange zu ‚pausieren‘, bis sie ein Fremdverstehen jeder Schülerin und jedes Schülers vollzogen hat. Unterrichtende Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Fremdverstehen also möglichst zeitökonomisch vollziehen, oder in Balls (2011) Worten: „Teachers […] must notice important aspects of learners’ thinking […]. And they must learn to do that for many learners at one time […].“ (S. xxi). Mit dem Fremdverstehen eines polypersonalen alter egos können unterrichtende Lehrkräfte eben diesem Anspruch gerecht werden.3 3
Mit diesen Analysen ist natürlich nicht gesagt, dass ein solches Vorgehen nicht auch zu unterrichtlichen Schwierigkeiten führen kann. Eine Lehrkraft etwa, die sich im Fremdverstehen durchweg an ihre leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler hält und glaubt, damit den ‚Leistungsstand ihrer Klasse‘ erfasst zu haben, wird wohl spätestens bei der nächsten Klassenarbeit eine ‚böse Überraschung‘ erleben. Aber im Ganzen bleibt es doch dabei, dass eine Fall-für-Fall-Behandlung im Kontext von Unterricht nicht möglich erscheint und dass
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
Abschließend sei noch kurz angemerkt, dass das Zusammentreffen einer Vielzahl von Individuen, wie es innerhalb einer Schulklasse zu beobachten ist, natürlich nicht nur für das Fremdverstehen einer Lehrerin oder eines Lehrers ein Problem darstellt. Vielmehr sieht sich eine Lehrkraft in ihrem gesamten professionellen Handeln mit dem Problem konfrontiert, dass sie stets für Individuen, aber auch für die Gruppen, die sich aus diesen Individuen zusammensetzen, verantwortlich ist. Luhmann & Schorr (1988) schreiben hierzu: „Bei allen intentionalen Handlungen des Lehrers, die auf Wirkungen abzielen, kann sich ein Widerspruch ergeben zwischen der Orientierung an einzelnen Schülern und der Orientierung ‚an der Klasse‘. Der Unterricht muß weitergehen, auch wenn einzelne Schüler zurückbleiben, und er kann sehr oft denen nicht folgen, die mehr lernen könnten. Disziplinarprobleme können nicht unbeachtet bleiben, wenn sie im Aufmerksamkeitshorizont der Klasse liegen, auch wenn das Übergehen und Ignorieren im Einzelfall pädagogisch sinnvoll wäre. Die Dauer der Beschäftigung mit einzelnen Schülern muß begrenzt werden, sollen nicht anderen unerträgliche Wartezeiten zugemutet werden und Ablenkung und Langeweile um sich greifen. Das Vorführen von Lernerfolgen eines Einzelnen als Demonstration für die Klasse mag diesem Primusallüren anerziehen, so wie umgekehrt Mißerfolge stärker deprimieren und motivieren, wenn sie zum Gegenstand klassenöffentlicher Aufmerksamkeit gemacht werden.“ (S. 123)
Anhand dieses Zitats von Luhmann & Schorr wird nachvollziehbar, warum Lampert (1985) Lehrkräfte auch als ‚dilemma managers‘ (vgl. S. 178) bezeichnet: Einige Probleme, denen Lehrkräfte gegenüberstehen, sind nämlich – so Lampert – praktisch unlösbar, müssen aber dennoch gelöst werden; es kommt zu einem ‚practical dilemma‘ (vgl. S. 181). Einen möglichen Umgang mit diesen Dilemmata beschreibt sie wie folgt: „The work of managing dilemmas [...] requires admitting some essential limitations on our control over human problems. It suggests that some conflicts cannot be resolved and that the challenge is to find ways to keep them from erupting into more disruptive confrontations.“ (S. 193)
Auch Breidenstein (2018) schlägt einen ähnlichen Umgang vor, er schreibt: „Lehrerhandeln [ist] in konstitutive ‚Antinomien‘ eingespannt […], also in Widersprüche, die sich nicht auflösen, sondern höchstens reflexiv bearbeiten lassen.“ (S. 316)
also die ‚Bündelung‘ von Schülerinnen und Schülern im Fremdverstehen jedenfalls auch zur Lösung von Unterrichtsproblemen beiträgt.
7.2 Zum erfassten Erleben
7.2
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Zum erfassten Erleben
In diesem zweiten Teil der Verallgemeinerung meiner Forschungsergebnisse sollen nun die fremden erfassten Erlebnisse untersucht werden, also diejenigen Erlebnisse, die Mathematiklehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern in ihrem Fremdverstehen ‚zuschreiben‘. Konkret sollen drei Merkmale herausgestellt werden, die diese Erlebnisse aufweisen können: Ich möchte erstens diskutieren, dass es sich bei ihnen um ‚mathematikungebundene‘ Erlebnisse handeln kann. Es soll zweitens thematisiert werden, dass Lehrkräfte möglicherweise insbesondere in Bewertungssituationen auf die Erlebnisse ihrer Schülerinnen und Schüler gerichtet sind. Und drittens möchte ich einen Zusammenhang zwischen dem Erwarten und Erfassen von fremden Erlebnissen untersuchen. Mathematikungebundenheit Die empirische Hauptuntersuchung dieser Arbeit ergab, dass das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht zu Deutungen führen kann, die keinen direkten Bezug zum Unterrichtsthema bzw. zum Schulfach ‚Mathematik‘ aufweisen (vgl. Abschnitt 6.4.1.4 & 6.4.2.4). Auf der Grundlage dieser Analysen lässt sich nun zunächst die allgemeine Aussage treffen, dass Mathematiklehrkräfte in ihrem Fremdverstehen offenbar nicht ausschließlich auf Erlebnisse und Handlungen ihrer Schülerinnen und Schüler blicken, die auch einen Mathematikbezug aufweisen. Sie sind also nicht ausschließlich auf die ‚mathematikbezogenen Anteile‘ des Bewusstseinserlebens ihrer Schülerinnen und Schüler gerichtet, sondern richten sich auch auf Erlebnisse, die ‚anderer Natur‘ sind. Diese Einsicht lässt sich auch aus rein theoretischen Überlegungen heraus plausibilisieren: Denn das fremdverstehende Deuten dessen, was die Lernenden im Mathematikunterricht sagen und tun, kann natürlich immer unter verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen. So werden Mathematiklehrkräfte in ihrem Fremdverstehen im Mathematikunterricht beispielsweise auch regelmäßig zu Deutungen gelangen, welche die sozialen Beziehungen der Lernenden untereinander betreffen (also z. B. anhand ihres Augenrollens verstehen, dass eine Schülerin eine Zusammenarbeit mit ihrem Sitznachbarn ablehnt) oder Schüleräußerungen etwa auch unter grammatischen Gesichtspunkten deuten (also z. B. bei seiner Äußerung ‚Das ist ein Quadrat, weil es hat vier rechte Winkel‘ bemerken, dass ein Schüler wohl die Verbzweitstellung in Nebensätzen, welche durch subordinierende Konjunktionen eingeleitet werden, verinnerlicht hat). Mathematiklehrkräfte sind eben niemals nur Mathematiklehrkräfte. Sie blicken also nicht allein als ‚Vertreterin‘ oder ‚Vertreter‘ des Faches Mathematik auf das Bewusstseinserleben ihrer Lernenden. Sondern sie betrachten und deuten das unterrichtliche Geschehen immer
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
auch unter alternativen Gesichtspunkten, treten etwa als ‚Pädagoginnen‘ und ‚Pädagogen‘ oder als ‚Germanistinnen‘ und ‚Germanisten‘ in Erscheinung. Die Rekonstruktionen des Fremdverstehens der beiden Lehrkräfte, welche im Rahmen dieser Arbeit untersucht wurden, könnten nun weiter die Vermutung nahelegen, dass sogar ein Großteil der von Mathematiklehrkräften erfassten Erlebnisse ihrer Schülerinnen und Schüler keinen Mathematikbezug aufweisen. Denn in den Abschnitten 6.4.1.4 & 6.4.2.4 wurde ja in beiden Fällen als ein Strukturmerkmal des Fremdverstehens herausgearbeitet, das hauptsächlich ‚mathematikungebundene‘ Erlebnisse erfasst werden. Eine derartige ‚numerische Verallgemeinerung‘ ist jedoch – neben der generellen Problematik einer solchen Verallgemeinerungsweise in qualitativen Untersuchungen – auch mit Blick auf die konkrete Gestaltung der durchgeführten Erhebung eher mit Vorsicht zu betrachten. Die gewählte Erhebungsmethode könnte die Forschungsergebnisse nämlich auf mindestens zwei Weisen in dieser Richtung (= fehlender Mathematikbezug der erfassten Erlebnisse) beeinflusst haben: 1. Die untersuchten Lehrkräfte berichteten in ihren Interviews von Erlebnissen von Schülerinnen und Schülern, welche sie als Hospitantinnen im Mathematikunterricht einer anderen Lehrkraft erfassten. Die Lehrerinnen standen in der konkreten Situation, in der sie ihr Fremdverstehen vollzogen, also nicht unter dem Handlungsdruck, einen inhaltlich gehaltvollen Unterricht gestalten zu müssen. In der Rolle der Hospitantin war es ihnen vielmehr möglich, ihren Blick auf Aspekte des Unterrichtsgeschehens zu richten, auf die sie sich in der Rolle der Lehrkraft nicht in gleicher Weise hätten richten können.4 Mit anderen Worten: Wären sie die verantwortliche Lehrkraft gewesen, hätten sie möglicherweise andere – und vielleicht: ‚mathematikbezogenere‘ – Erlebnisse erfasst, als sie tatsächlich erfassten. 2. Die Interviews, in denen sich die untersuchten Lehrkräfte an die von ihnen erfassten Erlebnisse der Schülerinnen und Schüler erinnerten, wurden mit zeitlicher Verzögerung zu den Hospitationen geführt. Allein aufgrund der zeitlichen Distanz zwischen Beobachtung und Erzählung könnten Erinnerungen an Details der beobachteten Situationen also bereits ‚verblasst‘ und deshalb nicht erzählt worden sein. Zwar waren die Lehrerinnen angehalten, bereits
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Luisa, eine der untersuchten Lehrkräfte, verweist in ihrem Interview auch darauf, dass es für sie einen Unterschied macht, ob sie als Lehrkraft im eigenen Unterricht auf eine Klasse blickt oder als Hospitantin im fremden Unterricht dieser Klasse: „Es [wäre] total toll, wenn man sich als Lehrkraft mal rausnehmen könnte und als Hospitierende mit drin sitzen könnte, also ähm wenn andere Lehrkräfte die eigene Klasse unterrichten.“
7.2 Zum erfassten Erleben
287
während bzw. kurz nach der Hospitation Notizen zum Erleben der Schülerinnen und Schüler zu machen. Dennoch mussten sie ihre Erzählung teilweise ‚aus der Erinnerung‘ vornehmen: Zum einen gingen sie in ihren freien Erzählungen nämlich inhaltlich über ihre Notizen hinaus. Zum anderen wurden ihnen im Interview Nachfragen gestellt, die sie nicht antizipieren konnten, deren Antworten sie also spontan und damit ‚aus der Erinnerung heraus‘ geben mussten. Es ist daher durchaus denkbar, dass eine gewisse Diskrepanz besteht zwischen den Erlebnissen, die im konkreten Vollzug des Fremdverstehens erfasst wurden, und den Erlebnissen, die im Rahmen des Interviews erinnert wurden. Und es wäre entsprechend auch möglich, dass die untersuchten Lehrkräfte im Unterricht zwar mathematikbezogene Erlebnisse der Schülerinnen und Schüler erfassten, sich aber zum Zeitpunkt des Interviews vorherrschend an Erlebnisse ohne Mathematikbezug erinnerten. Bewertungssituationen In den Rekonstruktionen des Fremdverstehens der untersuchten Lehrkräfte zeigte sich ferner, dass vorwiegend Erlebnisse in den Blick genommen wurden, die Schülerinnen und Schüler in Situationen vollzogen, in denen sie durch ihre Lehrkraft bewertet wurden bzw. in denen ihnen eine Bewertung durch die Lehrkraft bevorstand (z. B. nachdem eine Äußerung durch eine Lehrkraft als ‚falsch‘/ ‚richtig‘ bewertet wurde, während der Bearbeitung eines Tests etc.). Für dieses Phänomen lassen sich mehrere mögliche Erklärungen angeben: 1. Möglicherweise nehmen Lehrkräfte das Erleben von Schülerinnen und Schülern verstärkt in Bewertungssituationen in den Blick, weil es sich bei diesen – für sie in ihrer Rolle der Lehrkraft – um besonders dilemmatische Situationen handelt. Im Kontext von Leistungsbewertung ‚gipfelt‘ nämlich eines der ‚Grunddilemmata‘ von Lehrerhandeln: Das Dilemma zwischen Fördern und Auslesen (vgl. Breidenstein, 2018, S. 318 & Streckeisen et al., 2006). So müssen Mathematiklehrkräfte beispielsweise einerseits leistungsschwache Schülerinnen und Schüler bei der Bearbeitung des Themas ‚Satz des Pythagoras‘ unterstützen und motivieren, sie müssen ihnen andererseits aber auch eine ‚5‘ geben, wenn sie zu dem Ergebnis kommen, dass ihre Leistungen im Test zu diesem Thema nur zu dieser Note reichen. Dieser Widerspruch ist – zumindest an ‚Regelschulen‘ – unauflösbar: Lehrerinnen und Lehrer müssen die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler bewerten, ganz gleich, ob sie wollen oder nicht. Es wäre nun vorstellbar, dass Lehrkräfte besonders in solchen – aus ihrer Sicht: dilemmatischen – Situationen, in denen eine Bewertung von Schülerinnen und Schülern erfolgt bzw. erfolgen muss, auf das Erleben
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
von Lernenden achten, eben weil sie sich für die ‚Auswirkungen‘ des Dilemmas, also z. B. für die ‚Konsequenzen‘ einer Bewertung im Lernendenerleben besonders interessieren. 2. Eine zentrale gesellschaftliche Funktion von Schule besteht in der Selektion (vgl. Fend, 1981, S. 29–39)5 . Erfüllt wird diese Selektionsfunktion durch das Handeln von Lehrkräften: Diese bewerten ihre Lernenden und ‚sortieren‘ sie daraufhin (vgl. Breidenstein, 2018, S. 317). Breidenstein (2018) schreibt hierzu: „[D]er Alltag schulischer Leistungsbewertung [ist] durch und durch geprägt […] von der Selektionsfunktion der Schule“ (S. 323). Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird ein Großteil aller Schülerinnen und Schüler im Laufe der Schulzeit also Erfahrungen sammeln bzw. Erlebnisse vollziehen, die im Zusammenhang mit der Selektionsfunktion von Schule, also auch: mit der Leistungsbewertung durch Lehrkräfte, stehen. D. h., höchstwahrscheinlich werden auch alle Lehrkräfte in ihrer eigenen Schulzeit derartige Erfahrungen gesammelt bzw. derartige Erlebnisse vollzogen haben. Diese vergangenen Erfahrungen und Erlebnisse könnten nun nicht nur maßgeblich beeinflussen, wie sich ihr gegenwärtiges Fremdverstehen als Lehrkraft vollzieht, also zu welcher Art von Erleben sie in ihren Deutungen gelangen, sondern möglicherweise auch: wann sie ihr Fremdverstehen vollziehen, also beispielsweise dazu führen, dass Lehrkräfte insbesondere in Situationen, die für sie selbst in ihrer Schulzeit besonders prägend waren, das Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler in den Blick nehmen. 3. Die Tatsache, dass die beiden untersuchten Lehrkräfte insbesondere das Erleben von Schülerinnen und Schülern in Bewertungssituationen in den Blick nehmen, könnte letztlich auch durch die konkreten Erhebungsumstände beeinflusst worden sein. So wurden die zwei Lehrerinnen im Rahmen des Interviews um die Erzählung eines ‚Hochpunktes‘ und eines ‚Tiefpunktes‘ im Erleben einer Schülerin oder eines Schülers im Mathematikunterricht gebeten (vgl. Abschnitt 6.1). Sie waren also gewissermaßen angehalten, ihren Fokus auf ‚Extrema‘ im Erleben einer Schülerin oder eines Schülers zu legen. Insbesondere Bewertungssituationen können nun zu solchen ‚extremen‘ Erlebnissen von Schülerinnen und Schülern führen. Und so könnte es den untersuchten Lehrkräften besonders in Bewertungssituationen möglich gewesen sein, einen 5
In einer späteren Publikation spricht Fend hinsichtlich dieser Funktion des Bildungswesens auch von ‚Allokation‘: „Die Aufgabe, die Verteilungen auf zukünftige Berufslaufbahnen und Berufe vorzunehmen, soll Allokationsfunktion genannt werden. Ich spreche deshalb nicht von Selektion, da nicht die Ausschließung aus erwünschten Bildungslaufbahnen im Vordergrund stehen kann, sondern eine legitimierbare Allokation von Personen mit bestimmten Qualifikationen zu Aufgaben mit bestimmten Anforderungen.“ (Fend, 2008, S. 50)
7.2 Zum erfassten Erleben
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‚Hochpunkt‘ sowie einen ‚Tiefpunkt‘ im Erleben einer Schülerin oder eines Schülers auszumachen. Erwarten und Erfassen von fremden Erlebnissen In Abschnitt 6.4.2.4 dieser Arbeit konnte herausgearbeitet werden, dass bei Lehrkräften im Mathematikunterricht ein Zusammenhang zwischen dem Erwarten und Erfassen von Erlebnissen von Schülerinnen und Schülern bestehen kann: Wenn Lehrkräfte bereits im Voraus ihres Fremdverstehens erwarten, dass ihre Schülerinnen und Schüler in bestimmten Situationen bestimmte Erlebnisse vollziehen werden, so können sie im Vollzug ihres Fremdverstehens dazu tendieren, diese erwarteten Erlebnisse auch tatsächlich zu erfassen. D. h., in einem Fremdverstehen dieser Art nähern sich Lehrkräfte den Erlebnissen ihrer Schülerinnen und Schüler gewissermaßen nicht mehr ‚ergebnisoffen‘, sondern vielmehr sind die Ergebnisse eines derartigen Fremdverstehens schon vorab determiniert. Es gilt nun für menschliches Erleben und Wahrnehmen im Allgemeinen, dass dieses erwartungsmäßig präfiguriert ist. Der Psychologe Ulric Neisser, der dieses Phänomen der ‚inattentional blindness‘ untersucht hat, schreibt hierzu beispielsweise: „Because we can see only what we know how to look for, it is these schemata (together with the information actually available) that determine what will be perceived“ (Neisser, 1976, S. 20). Erwartungen fungieren im Wahrnehmen also gewissermaßen als ein Filter bzw. ein Selektionsmechanismus. Sie filtern bzw. selektieren, welchen Gegenständen sich ein Mensch in seiner Wahrnehmung zuwendet, und reduzieren auf diese Weise die Komplexität von anderenfalls für das menschliche Erleben viel zu komplexen Umweltlagen. Das Wahrnehmen oder Erleben von Erwartetem ist also keineswegs ein lehrkraftspezifisches, geschweige denn ein mathematiklehrkraftspezifisches Phänomen. Vielmehr lässt sich sagen: Es erfolgt – ebenso wie bei anderen Personen und in anderen Kontexten – auch bei Lehrkräften im Mathematikunterricht.6 6
Diese Behauptung – also, dass das Erleben und Wahrnehmen einer Lehrkraft in Abhängigkeit zu ihren Erwartungen steht – gründe ich übrigens nicht allein auf die Ergebnisse meiner empirischen Untersuchung. Auch in einigen mathematikdidaktischen Publikationen wird dieser Zusammenhang herausgestellt. So stellen Sherin & Star (2011) beispielsweise fest: „what the teacher sees in the world is strongly driven by […] expectations“ (S. 73). Und Mason (2016) merkt an: „[teachers] notice what they are attuned to notice“ (S. 220). Er veranschaulicht seine Aussage mithilfe von empirischen Forschungsergebnissen von Hoth et al. (2016): Diese weisen nach, dass Mathematiklehrkräfte mit hohem mathematischem Fachwissen (‚high average of mathematical knowledge‘) eher eine fachinhaltliche Perspektive auf das Unterrichtsgeschehen einnehmen als Mathematiklehrkräfte mit niedrigerem mathematischem Fachwissen (‚mathematical content knowledge […] below the average‘) (vgl. S. 50).
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7
Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
Bezüglich eines Fremdverstehens von Lehrkräften, welches stark durch ihre Erwartungen bestimmt ist, lässt sich leicht aufzeigen, dass und wie es zu unterrichtlichen bzw. didaktischen Problemen führen kann: So kann es zum einen dazu kommen, dass situationsspezifische Anzeichen ‚übergangen‘ werden, wenn sie ein zuvor erwartetes Fremdverstehensresultat ‚gefährden‘. Zum anderen wäre es möglich, dass bei einem Fremdverstehen dieser Art ein bestimmtes Erleben in die Lernenden ‚hineinprojiziert‘ wird. Statt jedoch meinen Fokus auf die Probleme zu legen, zu denen ein Erfassen von fremden Erlebnissen führt, welches stark auf dem Erwarten dieser Erlebnisse basiert, möchte ich stattdessen vielmehr – wieder im Sinne der funktionalen Analyse – der Frage nachgehen, welches Problem für eine Lehrkraft in ihrem unterrichtlichen Handeln durch das Erfassen von zuvor erwarteten Erlebnissen gelöst wird. Eine mögliche – zunächst scheinbar tautologische – Antwort lautet: Es reduziert die Anzahl von unerwarteten erfassten Erlebnissen. Dass eine solche Reduktion den Charakter einer Problemlösung trägt, lässt sich wie folgt begründen: Unerwartete fremde Erlebnisse – oder vielmehr: das Erfassen unerwarteter fremder Erlebnisse – kann größere Herausforderungen für Lehrkräfte mit sich bringen als das Erfassen erwarteter fremder Erlebnisse (vgl. Morgan, 1998, S. 1827 ). Im Falle von Letzteren können Lehrkräfte ihr Anschlusshandeln nämlich bereits vorentworfen oder vielleicht sogar – in einer vergangenen, ähnlichen Unterrichtssituation – vollzogen haben. In dem Falle, dass sie unerwartete Erlebnisse erfassen, ist ihnen dieser ‚Rückgriff‘ auf bereits entworfenes oder bereits erprobtes Anschlusshandeln jedoch höchstwahrscheinlich nur in geringerem Ausmaß möglich. Vielmehr stehen sie dann unter dem ‚Druck‘, spontan über ein sinnvolles Anschlusshandeln entscheiden zu müssen. Es stellt sich nun natürlich noch die Frage, warum im Fremdverstehen der untersuchten Lehrkräfte, die ja zum Zeitpunkt ihres Fremdverstehens gerade nicht unter dem Zeit- und Handlungsdruck einer unterrichtenden Lehrkraft standen, dennoch Mechanismen gewirkt haben, die zu einer ‚Erleichterung‘ für das unterrichtliche Handeln einer Lehrkraft führen. Eine Antwort auf diese Frage könnte folgendermaßen lauten: Die untersuchten Lehrkräfte hospitieren zwar im Mathematikunterricht, sie blicken dabei aber weiterhin aus Sicht einer Lehrkraft auf das Unterrichtsgeschehen. Sie vollziehen ihr Fremdverstehen gewissermaßen immer im Kontext eines ‚Quasi-Handelns‘. Damit meine ich, dass sie sich 7
Morgan (1998) verbleibt in der Publikation, auf welche ich hier verweise, deutlich allgemeiner: Sie schreibt, dass Unerwartetes bzw. Ungewöhnliches im Allgemeinen ein Problem für Lehrkräfte darstellen kann (vgl. S. 182). Ich nehme hier also eine Spezifikation von Morgans Aussage vor, wenn ich vom Erfassen von unerwarteten oder ungewöhnlichen fremden Erlebnissen spreche.
7.3 Zum Anzeichen
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vermutlich immer auch Fragen der Art ‚Wie würde ich als Lehrkraft in dieser Situation handeln?‘ stellen. Sie blicken also durchaus mit Distanz auf das Unterrichtsgeschehen, beispielsweise wenn sie alternative Praxen imaginieren (z. B. mit Aussagen wie ‚In dieser Situation hätte ich anders bzw. wie folgt gehandelt: ….‘). Doch auch mit solchen ‚Abweichungsüberlegungen‘ verbleiben sie immer noch im Bereich der unterrichtlichen Praxis und vollziehen unterrichtliches ‚Quasi-Handeln‘.
7.3
Zum Anzeichen
In Schütz’ Theorie des Fremdverstehens spielt der Begriff des Anzeichens eine zentrale Rolle; in Abschnitt 2.3 dieser Arbeit wurde er deshalb näher untersucht. Dort konnte herausgearbeitet werden, dass ein Anzeichen ein Verhältnis zwischen zwei Gegenständen oder Sachverhalten darstellt, welches sich wie folgt ausgestaltet: Die Überzeugung vom Sein eines Gegenstandes oder Sachverhaltes (des ‚Anzeigenden‘, z. B. eines Augenrollens oder eines bekritzelten Arbeitsblattes) motiviert die Überzeugung oder Vermutung vom Sein eines anderen Gegenstandes oder Sachverhaltes (des ‚Angezeigten‘, z. B. des Ablehnens einer Zusammenarbeit oder der Langeweile eines Schülers). Und im Fremdverstehen gilt: Während ego das Anzeigende in seiner Wahrnehmung zugänglich ist, handelt es sich beim Angezeigten – dem fremden Erleben – um etwas, das es sinnlich nicht wahrnehmen kann. Auf seinen Bestand wird ego ‚lediglich‘ hingewiesen bzw. sein Bestand wird ihm angezeigt. Es stellte sich in Abschnitt 2.3 auch heraus, dass Schütz im Bereich der Gegenstände und Sachverhalte, die ego als Anzeichen für das Erleben von alter ego dienen können, zwischen zwei Arten unterscheidet: zwischen Veränderungen am fremden Leib und Artefakten. Fremde Leibesveränderungen können ego insofern als Anzeichen dienen, als es davon ausgeht, dass sich das fremde Erleben in ihnen Ausdruck verschafft; Artefakte hingegen dienen ego insofern als Anzeichen, als sie auf einen Prozess des Erzeugens durch einen oder mehrere Nebenmenschen zurückverweisen, von dem sie – die Artefakte – ein ‚Zeugnis‘ sind. Bevor ich im Folgenden verschiedene Arten von Anzeichen diskutiere, anhand welcher Lehrkräfte im Mathematikunterricht die Erlebnisse ihrer Schülerinnen und Schüler deuten können, möchte ich zuvor noch kurz auf eine Besonderheit eingehen, welche sich hinsichtlich der Erzählung von Anzeichen herausstellte: In den Rekonstruktionen des Fremdverstehens anhand der Erzählungen der Lehrkräfte wurde sichtbar, dass die untersuchten Lehrkräfte häufig nur ein oder zwei Anzeichen benannten, danach aber von einer deutlich höheren Anzahl an
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
fremden Erlebnissen erzählten, die sie anhand dieser Anzeichen erfasst hatten. Es bildeten sich in vielen Fällen regelrecht ‚Erlebnisketten‘ in den Erzählungen, an deren Beginn nur die Nennung von ein oder zwei Anzeichen standen.8 D. h., es entstanden ganze Abfolgen von erzählten Erlebnissen, in denen einige Erlebnisse anscheinend weniger im Zusammenhang mit einem wahrgenommenen Anzeichen als vielmehr im Zusammenhang mit einem vorausgehenden, erzählten Erlebnis standen. Erklären ließe sich dieses beobachtete Phänomen möglicherweise wie folgt: Im Erzählen des fremden Erlebens könnte eine Art ‚Zusammenhangszwang‘ wirken. In Abschnitt 5.1 konnten bereits drei verschiedene Zugzwänge des Erzählens überhaupt herausgestellt werden (Gestaltschließungs-, Kondensierungs- und Detaillierungszwang (vgl. Schütze, 1976, S. 224–225)); im Spezialfall des Erzählens von fremden Erlebnissen könnte nun eine weitere Form eines Zugzwanges wirken, nämlich der Zwang, das fremde Erleben als Zusammenhang darzustellen. Die zugrundeliegende Annahme hierbei ist, dass ein Mensch sein eigenes Erleben als zusammenhängend versteht, also seinen eigenen Erlebnisstrom als ununterbrochen erlebt, und diese grundsätzliche ‚Ununterbrochenheit‘ auch dem Erlebnisstrom seines Mitmenschen zuschreibt. Und weil er also auch das fremde Erleben als zusammenhängend versteht, kann er sich in seiner Erzählung dieses fremden Erlebens gezwungen fühlen, es auf genau diese Weise abzubilden. Er kann also den Zwang spüren, ein fremdes Erlebnis im Rahmen einer Erzählung in einen Erlebniszusammenhang stellen zu müssen, also auch von Erlebnissen erzählen zu müssen, die sein Mitmensch davor oder danach vollzogen hat oder vollzogen haben könnte. Ich möchte nun – wie bereits erwähnt – eine weitere Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse vornehmen und diskutieren, anhand welcher Arten von Anzeichen Lehrkräfte im Mathematikunterricht zu Deutungen über das Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler gelangen. Drei solcher Anzeichenarten sollen hierbei unterschieden werden: Ich werde erstens Ausdrucksbewegungen von Schülerinnen und Schülern näher untersuchen, also Veränderungen am Leib der Lernenden, die ohne kommunikative Absicht vollzogen werden. Zweitens möchte
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Ein Beispiel für eine solche erzählte Erlebniskette findet sich in Luisas Erzählung ihres Fremdverstehens I (vgl. Abschnitt 6.4.2.3.1): Ihr dient zunächst das Melden eines Schülers als Anzeichen dafür, dass er ausdrücken möchte, ein Ergebnis mitzuteilen. Seine Äußerung eines ‚Hä‘ versteht sie dann als Anzeichen dafür, dass er darüber hinwegtäuschen möchte, dass sich sein Ergebnis als ‚falsch‘ herausstellte. Ab hier erzählt Luisa dann zwar weiter vom Erleben des Schülers, allerdings ohne jegliche Nennung eines Anzeichens. Sie erzählt, dass der Schüler ein Misserfolgserleben vollzieht, in seinem Selbstbild irritiert wird und dass er nicht verstehen kann, warum und nicht glauben kann, dass sein Ergebnis falsch ist.
7.3 Zum Anzeichen
293
ich Ausdruckshandeln von Schülerinnen und Schülern betrachten, also Leibesveränderungen, die Lernende mit kommunikativer Absicht vollziehen. Und drittens werde ich Artefakte als eine weitere Art von Anzeichen im Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht diskutieren. Ausdrucksbewegungen Als Ausdrucksbewegung gilt das Handeln einer Schülerin oder eines Schülers dann, wenn sie oder er mit diesem Handeln zwar Bewusstseinserlebnisse ausdrückt, diese aber nicht auszudrücken beabsichtigt (vgl. Abschnitt 2.7.1). In der vorliegenden Untersuchung konnten verschiedene solcher Ausdrucksbewegungen herausgearbeitet werden, die den untersuchten Lehrkräften als Anzeichen für das Erleben einer Schülerin oder eines Schülers dienten: ein suchender Blick in die Klasse, ein lächelndes Zurücklehnen, eine zusammengekauerte Körperhaltung etc. Es zeigte sich außerdem, dass die untersuchten Lehrkräfte Ausdrucksbewegungen und Ausdruckshandlungen von Schülerinnen und Schülern gleichermaßen wahrnahmen. Fremdverstehenden Lehrkräften dienen also sowohl Leibesveränderungen, die von Schülerinnen und Schülern ohne kommunikative Absicht vollzogen werden, als auch Leibesveränderungen, die sie mit kommunikativer Absicht vollziehen, als Anzeichen. Mit anderen Worten: Das Fremdverstehen von Lehrkräften richtet sich nicht allein auf Schülerinnen und Schüler, die in kommunikativer Absicht handeln, die also für den Moment ihres Handelns die Aufmerksamkeit einer anderen Person – z. B. der Lehrkraft – zu binden beabsichtigen. Sondern es richtet sich gleichermaßen auch auf Lernende, die die Aufmerksamkeit einer zweiten Person gar nicht ‚einfordern‘, da sie ohne kommunikative Absicht handeln. Hinsichtlich der Ausdrucksbewegungen von Schülerinnen und Schülern zeigte sich anhand der Rekonstruktionen ferner, dass es sich bei diesen nicht immer um Bewegungen handeln muss, sondern dass auch ‚Nichtbewegungen‘, also das Unterlassen von Bewegungen, als Ausdrucksbewegungen verstanden werden können. Wenn eine Schülerin während eines Tests keine Schreibbewegungen vollführt, so kann dies durchaus als ein Handeln ohne kommunikative Absicht verstanden werden und als solches beispielsweise darauf verweisen, dass sie die Testaufgaben nicht bearbeiten kann. Und auch ein Schüler, der seinen Blick nicht auf die Tafel richtet, kann als Handelnder verstanden werden. Sein Verhalten – sein ‚Nichtblicken‘ – kann beispielsweise als Anzeichen dafür dienen, dass er dem Unterrichtsgeschehen nicht folgt, also als ein Handeln ohne kommunikative Absicht gedeutet werden. Lehrkräfte können also auch das Unterlassen eines Verhaltens einer Schülerin oder eines Schülers als nicht-kommunikatives Handeln
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
verstehen; dass ein erwartetes Verhalten ausbleibt, dient ihnen dann als Anzeichen für das Erleben dieser Schülerin oder dieses Schülers in dieser Situation.9 Ausdruckshandeln Ein Handeln einer Schülerin oder eines Schülers stellt ein Ausdruckshandeln dar, wenn sie oder er beabsichtigt, mit diesem Handeln einen bestimmten Bewusstseinsinhalt auszudrücken (vgl. Abschnitt 2.7.2). In den Rekonstruktionen des Fremdverstehens der untersuchten Lehrkräfte stellten sich verschiedene Leibesveränderungen oder Äußerungen von Schülerinnen und Schülern heraus, die die Lehrkräfte als Ausdruckshandlungen verstanden: eine Meldung, das Rufen eines ‚Hä‘, ein Schlag auf die eigene Brust etc. Im vorherigen Abschnitt zu den Leibesveränderungen, die ohne kommunikative Absicht vollzogen werden – den Ausdrucksbewegungen –, konnte auch bereits ein Merkmal von Leibesveränderungen herausgearbeitet werden, die in kommunikativer Absicht vollzogen werden, die also als Ausdruckshandlungen verstanden werden können: Es zeigte sich dort nämlich, dass Lehrkräfte Ausdrucksbewegungen und Ausdruckshandlungen von Schülerinnen und Schülern gleichermaßen wahrnahmen. Und auch ein weiteres Merkmal ist Ausdrucksbewegungen und Ausdruckshandlungen gemein: Auch Ausdruckshandeln kann die Form eines ‚Nichthandelns‘ annehmen. Also auch ein Ausdruckshandeln kann durch das Unterlassen eines Handelns vollzogen werden. So kann beispielsweise eine Schülerin nicht antworten, wenn ihr Mathematiklehrer ihr eine Frage stellt, obwohl sie diese gehört hat. Und ein Schüler kann sich nicht melden, obwohl er vernommen hat, dass seine Banknachbarin ihn dazu auffordert. In beiden Fällen kann das Unterlassen eines Handelns dann als Handeln mit kommunikativer Absicht verstanden werden, z. B. als kommunikatives Ablehnen der Kommunikation mit dem Lehrer oder der Banknachbarin. Anhand der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lässt sich nun noch ein drittes Merkmal von Ausdruckshandlungen herausstellen. Unter all den gestischen Handlungen, die Lernende in kommunikativer Absicht vollziehen, wird – sofern sie von einem fremdverstehenden ego als solche verstanden werden sollen – nämlich eine Unterscheidung zwischen ‚standardisierten‘ und ‚nicht standardisierten‘ 9
Dass das Unterlassen eines Handelns mitunter auch ein Handeln darstellen kann, wird auch mit Blick auf andere Kontexte als Mathematikunterricht sichtbar: Im Strafrecht beispielsweise werden Handlungen, die zu einem Straftatbestand führen, in ‚Begehungsdelikte‘ und ‚Unterlassungsdelikte‘ unterschieden (vgl. Bock, 2021, S. 687–688). Wird eine Person eines Unterlassungsdeliktes beschuldigt, so wird ihr vorgeworfen, „eine Körperbewegung aus eigener Kraft bewusst nicht vollführt zu haben“ (Bock, 2021, S. 688, Hervorhebung CSG).
7.3 Zum Anzeichen
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Gesten relevant: Die standardisierte Geste des ‚Sich-Meldens‘ kann beispielsweise als Anzeichen gelten, welches weitestgehend situationsunabhängig ist, also innerhalb des Kontextes von Unterricht wiederholt auf ein ähnlich geartetes Erleben verweist.10 Ein Schlag auf die eigene Brust hingegen kann im Kontext von Unterricht eher als nicht standardisierte Geste verstanden werden. Es bedarf also des Einbezugs weiterer, situationsabhängiger Aspekte, um diese Geste als Anzeichen für ein bestimmtes fremdes Erleben zu deuten. Auf der Ebene der Erzählung vom fremden Erleben können standardisierte Gesten – bzw. vielmehr die Nennung von standardisierten Gesten – eine besondere Funktion erfüllen. Das Nennen von standardisierten Gesten kann innerhalb einer Erzählung von fremden erfassten Erlebnissen nämlich dazu dienen, das eigene Fremdverstehen gewissermaßen als ein intersubjektiv wiederholbares Erfassen des fremden Erlebens zu charakterisieren. Wenn eine Lehrkraft beispielsweise erzählt, dass sie anhand des ‚Sich-Meldens‘ eines Schülers versteht, dass dieser etwas zum Unterrichtsgespräch beitragen möchte, so kann sie davon ausgehen, dass ein Großteil der zuhörenden Personen denken wird: ,So und nicht anders hätte ich das auch verstanden‘. Ist auf diese Weise dann eine gewisse ‚Glaubhaftigkeit‘ des Fremdverstehens einer Person ‚etabliert‘ worden, so kann sie womöglich auch von weniger konventionellen Deutungen erzählen, ohne dass diese sofort ‚angezweifelt‘ werden. Mit anderen Worten: Dass standardisierte Gesten im Rahmen einer Erzählung als Anzeichen für ein fremdes Erleben fungieren, kann dazu beitragen, dass die Resultate eines Fremdverstehens auch von anderen als ‚adäquat‘ eingeschätzt werden. Artefakte Es soll nun noch eine dritte Art von Anzeichen untersucht werden, anhand derer sich das Fremdverstehen von Lehrkräften vollziehen kann: die Artefakte. Ein Artefakt ist ein ‚Gegenstand‘, der insofern als Anzeichen für das Erleben einer Schülerin oder eines Schülers dienen kann, als er auf die Erzeugung durch diese Schülerin oder diesen Schüler zurückverweist (vgl. Abschnitt 2.3). Das bekritzelte Arbeitsblatt eines Schülers, welches am Ende des Mathematikunterrichts eingesammelt wird, kann beispielsweise auf das Bekritzeln durch diesen Schüler während des Unterrichts verweisen und so als Anzeichen dafür dienen, dass er sich während des Mathematikunterrichts gelangweilt haben mag. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung konnte nun kein einziges Fremdverstehen rekonstruiert werden, welches sich auf Artefakte als Anzeichen für 10
Kellermann & Wulf (2011) sprechen hinsichtlich des Meldens auch von einer im institutionellen Feld der Schule ‚konventionalisierten Geste‘ (vgl. S. 27).
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
das Erleben einer Schülerin oder eines Schülers stützte. Stattdessen dienten den untersuchten Lehrkräften in ihrem Fremdverstehen ausschließlich Ausdrucksbewegungen oder -handlungen der Schülerinnen und Schüler als Anzeichen. Diese ‚Artefaktlosigkeit‘ der Anzeichen im Fremdverstehen der untersuchten Lehrkräfte lässt sich meines Erachtens jedoch nicht auf das Fremdverstehen von Lehrkräften überhaupt übertragen, sondern vielmehr auf die konkrete Erhebungsmethode bzw. die konkreten Erhebungsumstände zurückführen: So nahmen die untersuchten Lehrkräfte am Mathematikunterricht, in dem sie ihr Fremdverstehen vollzogen, als Hospitantinnen teil. Beide Lehrerinnen gaben außerdem an, dass sie sich während des Unterrichts nicht im Klassenraum bewegten, sondern auf dem Platz sitzen blieben, der ihnen zugeteilt wurde. Im Fall der beiden Lehrkräfte war das Wahrnehmen von Anzeichen also auf zweifache Weise limitiert: Da sie sich nicht im Raum bewegten, konnten sie während des Unterrichts keine Arbeitsprodukte (schriftlich durchgeführte Rechnungen, Zeichnungen etc.) der Schülerinnen und Schüler in den Blick nehmen. Und aufgrund ihrer Rolle als Hospitantin waren sie zudem auch nicht in der Position, diese Arbeitsprodukte nach dem Unterricht einzusehen, sie also etwa zur Begutachtung einzusammeln. Beide dieser Umstände können nun dazu geführt haben, dass die untersuchten Lehrkräfte ihr Fremdverstehen nicht anhand von Artefakten, sondern ausschließlich auf der Grundlage von Leibesveränderungen von Schülerinnen und Schülern vollzogen. Generell ist hinsichtlich des Fremdverstehens von Lehrkräften im Mathematikunterricht aber sogar davon auszugehen, dass es sich zu einem nicht geringen Anteil auf Artefakte als Anzeichen stützt. Hierauf verweisen auch verschiedene mathematikdidaktische Publikationen: Philipp & Globeli-Egloff (2022) betonen beispielsweise die Bedeutung von ‚schriftlichen Produkten‘ und ‚Arbeitsprodukten‘ für die Arbeit einer Lehrkraft (vgl. S. 176 & 181), Streit et al. (2019) die Bedeutung von ‚Schülerdokumenten‘ (vgl. S. 55). In allen drei Fällen – also bei ‚schriftlichen Produkten‘, ‚Arbeitsprodukten‘ und ‚Schülerdokumenten‘ – handelt es sich um Artefakte, also um Gegenstände, die auf das Produzieren durch eine Schülerin oder einen Schüler zurückverweisen und Lehrkräften so einen Hinweis auf die Bewusstseinserlebnisse dieser Schülerin oder dieses Schülers geben. Ihnen allen ist außerdem gemein, dass sie auch über den begrenzten Zeitraum des eigentlichen Unterrichts hinaus als Anzeichen dienen können, dass sie Lehrenden also auch nach dem Unterricht noch ein Fremdverstehen ihrer Lernenden ermöglichen (vgl. Goldsmith & Seago, 2011, S. 170). Vor diesem Hintergrund kann das Fremdverstehen von Lehrkräften anhand von Artefakten gewissermaßen als eine weitere Lösung des oben erwähnten ‚Komplexitätsproblems‘ (vgl. Abschnitt 7.1) gesehen werden: Wenngleich Lehrkräfte während
7.4 Zum übertragenen Erleben
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des Unterrichtsgeschehens immer nur die Bewusstseinserlebnisse einiger weniger Schülerinnen und Schüler erfassen können, so haben sie immerhin nach dem Unterricht die Möglichkeit, sich auf der Grundlage von Erzeugnissen der Lernenden (‚Artefakten‘) allen ihren Schülerinnen und Schülern fremdverstehend zuzuwenden.
7.4
Zum übertragenen Erleben
Ein zentrales Ergebnis, zu dem Schütz’ Untersuchungen des Fremdverstehens führten, war die Einsicht, dass egos Erfassen fremder Bewusstseinserlebnisse auf seinen eigenen Bewusstseinserlebnissen basiert. So stellte sich in Abschnitt 2.7 heraus, dass ego im Prozess des Fremdverstehens eine Personenvertauschung vornimmt, sich selbst an die Stelle des alter ego setzt und seine eigenen tatsächlichen oder potentiellen Erlebnisse mit denen von alter ego identifiziert. Vor dem Hintergrund eben dieser Einsicht ergab sich für das Forschungsvorhaben der vorliegenden Arbeit dann die Notwendigkeit, einen Zugang zu dem Erleben der Lehrkräfte zu bekommen. Sofern Lehrkräfte im Fremdverstehen nämlich ihr eigenes Erleben übertragen, kann ihr Fremdverstehen ja überhaupt nur dann rekonstruiert werden, wenn ein Zugang zu diesem Erleben besteht.11 In diesem vierten Abschnitt der theoretischen Verallgemeinerung möchte ich nun diskutieren, welche Aussagen die Forschungsergebnisse hinsichtlich der Arten des Erlebens zulassen, welches Mathematiklehrkräfte im Fremdverstehen auf Schülerinnen und Schüler übertragen. Ich möchte hierfür zum einen – gemäß Schütz’ Theorie des Fremdverstehens – das eigene tatsächliche und potentielle Erleben der Lehrkräfte in den Blick nehmen. Zum anderen möchte ich aber auch die Möglichkeit diskutieren, dass Lehrkräfte in ihrem Fremdverstehen gewissermaßen auch zuvor bereits erfasste fremde Erlebnisse übertragen können, damit meine ich: Erlebnisse von Schülerinnen und Schülern, die sie schon einmal in einem Fremdverstehen in der Vergangenheit erfasst haben. Eigenes tatsächliches und potentielles Erleben Im Rahmen der ersten empirischen Untersuchung konnten in dieser Arbeit Erlebnisse zweier Lehrkräfte rekonstruiert werden, die sie im Zusammenhang
11
In Kapitel 5 wurde dann erläutert, von welchen methodologischen Herausforderungen der Versuch begleitet war, einen Zugang zum fremden Erleben zu bekommen, und wie diesen Herausforderungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit begegnet wurde.
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
mit Mathematik bzw. Mathematikunterricht vollzogen.12 Anhand der Ergebnisse der zweiten empirischen Untersuchung stellte sich dann unter diesen eigenen vergangenen Erlebnissen eine Vielzahl von Erlebnissen heraus, die die untersuchten Lehrkräfte in ihrem Fremdverstehen zu übertragen haben schienen: das Vergleichen der eigenen Leistung mit der Leistung von Mitschülerinnen und Mitschülern, die Freude über das Finden eines Fehlers im Mathematikbuch, der Wunsch nach einem höheren Arbeitstempo etc. All diese erfassten Schülererlebnisse und -handlungen wiesen eine große Ähnlichkeit zu eigenen vergangenen Erlebnissen oder Handlungen der fremdverstehenden Lehrkräfte auf und wurden also anscheinend von den Lehrkräften in ihrem Fremdverstehen übertragen. Genau genommen vermag eine Ähnlichkeit zwischen einem fremden erfassten und einem eigenen vergangenen Erlebnis natürlich nicht zu beweisen, dass ego in dem Erfassen des fremden Erlebens seine eigenen tatsächlichen Erlebnisse auf alter ego überträgt. Und so wurden auch immer nur Aussagen darüber getroffen, welches eigene tatsächliche Erleben eine Lehrkraft in einem Fremdverstehen zu übertragen haben schien, nicht aber, welches eigene tatsächliche Erleben sie in einem Fremdverstehen übertragen hat. Es wurde also nie davon ausgegangen, dass mit absoluter Gewissheit bestimmt werden könne, ob in einem Fremdverstehen ein tatsächliches, oder vielleicht letztlich doch ein potentielles Erleben übertragen wurde. Bezüglich der herausgestellten tatsächlichen Erlebnisse, die die untersuchten Lehrkräfte in ihrem Fremdverstehen zu übertragen haben schienen, zeigt sich nun, dass es sich ausschließlich um vergangene Erlebnisse handelt, also um Erlebnisse, die die Lehrkräfte zum Zeitpunkt des Fremdverstehens bereits vollzogen haben. Es ist jedoch theoretisch ebenso möglich, dass im Fremdverstehen nicht bloß eigene vergangene Erlebnisse übertragen werden, sondern auch solche, die in der Gegenwart vollzogen werden. So können Lehrkräfte in ihrem Fremdverstehen im Unterricht etwa nicht nur übertragen, was sie in ihrer eigenen Schulzeit in der Rolle der Schülerin oder des Schülers erlebt haben. Sondern vielmehr können sie auch ihr gegenwärtiges Erleben in der jeweiligen Unterrichtssituation übertragen. Günther et al. (2022) weisen in ihrer Dokumentation eines Begleitseminares für ein Unterrichtspraktikum auf eine derartige Übertragung hin: Zwei angehende Lehrkräfte für das Fach ‚Mathematik‘ gaben dort an, dass sie in einer Unterrichtssituation deshalb einen ‚Tiefpunkt‘ im Lernendenerleben erfassten, weil diese
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Selbstverständlich konnten dabei nicht alle mathematikbezogenen Erlebnisse einer Lehrkraft nachgezeichnet werden, sondern nur solche, die auf irgendeine Art Erwähnung in der Erzählung fanden.
7.4 Zum übertragenen Erleben
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Situation ‚auch für sie ein Tiefpunkt war‘ bzw. weil sie sich in dieser Situation ‚selbst unwohl fühlten‘ (vgl. S. 134). Es bestätigte sich in den Rekonstruktionen des Fremdverstehens außerdem, was theoretisch zu erwarten war: Die Selbst- und Fremdsicht darauf, welche eigenen Erlebnisse in einem Fremdverstehen wohl übertragen wurden, können mitunter recht erheblich voneinander abweichen. So arbeitete ich als wissenschaftliche Beobachterin – vor dem Hintergrund der mathematikbezogenen Lebensgeschichten der Lehrkräfte – eigene vergangene Erlebnisse heraus, die die untersuchten Lehrkräfte im Fremdverstehen auf ihre Schülerinnen und Schüler womöglich übertrugen. Die Lehrkräfte selbst jedoch führten diese Erlebnisse oft nicht als Erlebnisse an, welche sie übertragen hatten. Die vorliegende Untersuchung veranschaulicht also, dass die Wirkmuster eines Fremdverstehens einer Lehrkraft die Selbsttheorien dieser Lehrkraft über ihr eigenes Fremdverstehen unterlaufen können. Oder mit anderen Worten: Was eine Lehrkraft darüber denkt, was sie in ihrem Fremdverstehen einer Schülerin oder eines Schülers im Unterricht anleitet, muss nicht damit übereinstimmen, was sie in ihrem Fremdverstehen dieser Schülerin oder dieses Schülers im Unterricht tatsächlich anleitet. Bereits erfasstes fremdes Erleben In der vorliegenden Arbeit wurde bisher in erster Linie diskutiert, dass das Fremdverstehen von Lehrkräften davon beeinflusst wurde, was diese selbst in der Rolle der Schülerin oder des Schülers bzw. der Studentin oder des Studenten erlebten. Ich möchte nun noch einen weiteren möglichen Einflussfaktor in den Blick nehmen: Auch das, was Lehrkräfte in der Rolle der Lehrerin oder des Lehrers bereits erlebt haben, kann einen Einfluss auf ihr Fremdverstehen haben. Damit meine ich, dass Lehrkräfte auch Erlebnisse auf eine Schülerin und einen Schüler übertragen können, die sie – in der Rolle der Lehrkraft – in der Vergangenheit schon mal als Erlebnisse einer anderen Schülerin oder eines anderen Schülers erfasst haben. So mag etwa eine Lehrerin, die in ihrem Mathematikunterricht bereits einmal zu der Deutung gelangt ist, dass ein Schüler, der während der Bearbeitung eines Tests die meiste Zeit aus dem Fenster schaute, die Testaufgaben nicht bearbeiten konnte, und deren Deutung sich – z. B. durch die Einsicht, dass sich auf dem Testblatt des Schülers tatsächlich keine notierten Lösungen fanden – ‚bestätigte‘, diese Deutung nun auch auf eine andere Schülerin übertragen, die in einer gegenwärtigen Unterrichtsstunde während der Bearbeitung eines Tests ein ganz ähnliches Verhalten wie der Schüler zeigt. Dass sich ein solches Übertragen eines bereits erfassten fremden Erlebens in den Rekonstruktionen des Fremdverstehens der beiden untersuchten Lehrkräfte nicht zeigte, lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass es sich bei ihnen um
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
Lehrkräfte mit kaum bzw. wenig Lehrerfahrung handelte. So war eine Untersuchungsperson zum Zeitpunkt des untersuchten Fremdverstehens Studentin des Lehramts, also angehende Lehrkraft. Die andere Untersuchungsperson hatte zwar ihr Referendariat absolviert, begann aber danach eine Anstellung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Universität. Sie hatte somit zum Zeitpunkt des rekonstruierten Fremdverstehens ca. 2 Jahre Lehrerfahrung gesammelt. Keine der beiden Lehrkräfte besaß also langjährige Lehrerfahrung. Möglicherweise ist es aber genau diese Lehrerfahrung, und damit auch die Erfahrung, dass ähnliche Anzeichen in ähnlichen Unterrichtssituationen auf ein ähnliches Erleben einer Schülerin oder eines Schülers verweisen können, die Lehrkräfte dazu befähigt, das Erleben einer Schülerin oder eines Schülers mit dem Erleben einer anderen Schülerin oder einem anderen Schüler zu identifizieren. Und vielleicht ist es ferner auch das schlichte Fortschreiten der Zeit und damit das ‚Verblassen‘ der eigenen Erfahrung in der Rolle der Schülerin oder des Schülers, welches das Auftreten von dieser Art der Erlebnisübertragung bei ‚erfahrenen‘ Lehrkräften wahrscheinlicher macht.
7.5
Zur Adäquatheit von Fremdverstehensresultaten
Am Ende der Darstellung von Schütz’ Theorie des Fremdverstehens wurde in Abschnitt 2.8 der Frage nachgegangen, wie ego über die Adäquatheit der Resultate seines Fremdverstehens entscheiden kann. Es wurde also gefragt, wie ego entscheiden kann, ob die Erlebnisse, die es fremdverstehend erfasst hat, auch dem entsprechen, was alter ego tatsächlich erlebt bzw. erlebt hat. Zwei mögliche ‚Entscheidungsverfahren‘ wurden dargestellt: Ego kann zum einen alter ego selbst fragen, ob es mit seiner Deutung ‚richtig‘ lag; es kann zum anderen aber auch weitere Anzeichen deuten und so sein Fremdverstehensresultat selbst bekräftigen oder widerlegen. In beiden Fällen gerät ego dabei theoretisch in einen ‚unendlichen Progress‘: Jeder Versuch, die Resultate eines Fremdverstehens auf ihre Adäquatheit hin zu überprüfen, kann nur durch ein weiteres Fremdverstehen erfolgen, über dessen Adäquatheit wiederum nur durch weiteres Fremdverstehen entschieden werden kann usw. Da solch ein unendlicher Fremdverstehensprozess jedoch praktisch nicht umsetzbar ist, bricht ego diesen Überprüfungsprozess faktisch stets nach endlich vielen Schritten ab. Das Resultat eines Fremdverstehens kann also immer nur als eine Art ‚Näherungswert‘ betrachtet werden: Es nähert sich den Erlebnissen von alter ego zwar an, ob es diese Erlebnisse jedoch identisch abzubilden vermag, bleibt letztlich ungewiss.
7.5 Zur Adäquatheit von Fremdverstehensresultaten
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Im zweiten narrativen Interview dieser Arbeit, in welchem die untersuchten Lehrkräfte vom Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler erzählten, wurde u. a. die Nachfrage gestellt, wie die Lehrkräfte die Adäquatheit ihrer Fremdverstehensresultate einschätzten. Anhand ihrer Antworten lässt sich nun zwar nicht rekonstruieren, welche ganz konkrete Strategie die fremdverstehenden Lehrkräfte beim Einschätzen der Adäquatheit ihrer Fremdverstehensresultate verfolgt haben könnten. Es lassen sich aber immerhin zwei Einflussfaktoren herausstellen, die ihre Einschätzungen beeinflussen können: So zeichnete sich einerseits ab, dass die Adäquatheit von Fremdverstehensresultaten von den Lehrkräften dann als ‚höher‘ eingeschätzt wird, wenn sie mit den Resultaten eines ‚fremden‘ Fremdverstehens vereinbar sind, genauer: mit den Resultaten eines Fremdverstehens einer anderen Lehrkraft. Andererseits zeigte sich eine Tendenz dahingehend, dass die Adäquatheit eines Fremdverstehensresultates als ‚höher‘ eingeschätzt wird, wenn im Fremdverstehen ‚positive‘ Erlebnisse von Schülerinnen und Schülern erfasst werden, und dass sie als ‚niedriger‘ eingeschätzt wird, wenn ‚negative‘ Erlebnisse erfasst werden. Beide Einflussfaktoren sollen im Folgenden kurz erläutert werden: Fremdverstehensresultate anderer Lehrkräfte Die Rekonstruktion eines Fremdverstehensprozesses der Lehrkraft Luisa (vgl. Abschnitt 6.4.2.3.5) verwies darauf, dass sie sich dadurch in ihrem Fremdverstehen bestätigt fühlte, dass ihre eigenen Deutungen vom Erleben einer Schülerin mit den Zuschreibungen des Mathematiklehrers dieser Schülerin vereinbar waren. Mit anderen Worten: Die Resultate ihres eigenen Fremdverstehens wurden von einer Lehrkraft deshalb als ‚adäquat‘ eingeschätzt, weil sie mit den Fremdverstehensresultaten einer anderen Lehrkraft übereinstimmten. Nun ist es natürlich theoretisch nicht bloß möglich, dass Lehrkräfte ihre eigenen Fremdverstehensresultate mit denen von anderen Lehrkräften vergleichen, sondern vielmehr auch, dass die Resultate ihres Fremdverstehens durch die Resultate des Fremdverstehens einer anderen Lehrkraft mitbestimmt werden. So wusste Luisa beispielsweise bereits im Voraus ihres Fremdverstehens, zu welcher Art von Deutungen der Mathematiklehrer bezüglich des Erlebens bzw. der Erlebensstruktur der Schülerin bisher gekommen war und kam dann in ihrem Fremdverstehen zu recht ähnlichen Deutungen. Es wäre also denkbar, dass sie die Erwartungen der anderen Lehrkraft an das Erleben bzw. die Erlebensstruktur der Schülerin übernahm und diese – nun eigenen Erwartungen – dann ihre Deutung des Erlebens der Schülerin präfigurierten (vgl. zum Erwarten und Erfassen von fremden Erlebnissen auch Abschnitt 7.2).
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Eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse
In einem solchen Fall scheint das von einer Lehrkraft erfasste Erleben einer Schülerin oder eines Schülers also dem tatsächlichen Erleben dieser Schülerin oder dieses Schülers gewissermaßen ‚vorauszueilen‘. Lehrkräfte vermeinen dann mitunter, schon zu ‚wissen‘, was eine Schülerin oder ein Schüler erleben wird, noch bevor diese Schülerin oder dieser Schüler es überhaupt erlebt. Und unter diesen Bedingungen kann es dann, wie man sich leicht klarmachen kann, zu ‚stereotypen‘ Deutungen des Erlebens und Handelns kommen, und zwar auch in Situationen, in denen die Schülerin oder der Schüler ein solches Erleben oder Handeln eigentlich gar nicht vollzieht. ‚Positivität‘ und ‚Negativität‘ von erfassten Erlebnissen Im Fremdverstehen beider Lehrkräfte konnte ferner auch ein Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit eines erfassten Erlebnisses und der Einschätzung der Adäquatheit dieses Erlebnisses durch die fremdverstehende Lehrkraft rekonstruiert werden. Dieser Zusammenhang gestaltete sich wie folgt: War das erfasste Erlebnis ‚positiver‘ Natur, so wurde seine Adäquatheit durch die Lehrkräfte eher als ‚hoch‘ eingeschätzt. Wurde hingegen ein ‚negatives‘ Erlebnis einer Schülerin oder eines Schülers erfasst, so wurde die Adäquatheit dieses erfassten Erlebnisses als ‚niedriger‘ eingeschätzt. Es zeichnete sich außerdem ab, dass die untersuchten Lehrkräfte gegenüber ‚negativen‘ erfassten Erlebnissen – also Erlebnissen, deren Adäquatheit sie als ‚niedriger‘ einschätzten – dann ein höheres Kontingenzbewusstsein besaßen, also ein gesteigertes Bewusstsein darüber, dass auch ein anderes (als das von ihnen erfasste) Erleben vollzogen worden sein könnte. Auf die Nachfrage, welches Erleben eine Schülerin oder ein Schüler alternativ vollzogen haben könnte, wurden meist ‚weniger negative‘ Erlebnisse angeführt. Es zeigt sich dann also gewissermaßen ein Kontingenzbewusstsein der folgenden Art: Eine Schülerin oder ein Schüler könnte durchaus auch ein anderes, nämlich ein ‚positiveres‘ Erleben vollzogen haben. Diese Phänomene lassen sich möglicherweise wie folgt erklären: Es entspricht einer zwar ungeschriebenen, aber dennoch gesellschaftlich etablierten Norm, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht eher ‚positives‘ Erleben vollziehen sollen. So sollen sie etwa interessiert im Unterricht mitarbeiten, sich Lerninhalte erfolgreich aneignen, zielführend mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zusammenarbeiten, in die nächste Klasse versetzt werden etc. Erfassen Lehrkräfte für eine Schülerin oder einen Schüler nun ein derartiges Erleben, so erfassen sie also ein normkonformes Erleben. Und wenn sie ein solches normkonformes Erleben erfassen – so die Vermutung –, schätzen sie seine Adäquatheit als ‚hoch‘ ein. Erfassen Lehrkräfte nun aber ein Erleben, welches diese ungeschriebene Norm verletzt, also beispielsweise, dass eine Schülerin oder ein Schüler
7.5 Zur Adäquatheit von Fremdverstehensresultaten
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desinteressiert ist, die verhandelten Lerninhalte nicht beherrscht, nicht mit Mitschülerinnen oder Mitschülern zusammenarbeiten will etc., so kommt es eher dazu, dass sie das Erfassen dieses Erlebens hinterfragen, und in der Folge: dass sie die Adäquatheit des erfassten Erlebnisses als ‚niedriger‘ einschätzen. Der grundlegende Wirkmechanismus wäre hier also: Was der ungeschriebenen Norm entspricht, wird weniger hinterfragt und eher als ‚adäquat‘ aufgefasst; was diese Norm verletzt, wird hingegen eher hinterfragt und als ‚weniger adäquat‘ angesehen. Und außerdem: Wenn für ein erfasstes Erleben, das die Norm verletzt, Alternativen entwickelt werden, so ‚nähern‘ sich diese Erlebensalternativen der ungeschriebenen Norm wieder ‚an‘. Wenn also Lehrkräfte Alternativen für das ‚negative‘ erfasste Erleben einer Schülerin oder eines Schülers formulieren, so sind diese eher ‚positiver‘ Natur.
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Ein Rückblick auf kontingente Forschungsentscheidungen und ein Ausblick auf mögliche Anschlussuntersuchungen
Über den gesamten Verlauf der vorliegenden Untersuchung habe ich eine Vielzahl an Entscheidungen getroffen bzw. treffen müssen. Dabei hätte ich mich jedes Mal – also z. B. bezüglich des methodischen Vorgehens in der Datenerhebung oder der Datenanalyse – auch anders entscheiden können, als ich es letztlich getan habe. Im achten und letzten Kapitel dieser Arbeit möchte ich daher auf drei Entscheidungen zurückblicken, über deren Kontingenz ich mir im besonderen Maße bewusst bin: Die Entscheidung, dass die untersuchten Lehrkräfte ihr Fremdverstehen in Situationen vollziehen sollten, in denen sie selbst nicht unterrichten (1); die Entscheidung, dass die Unterrichtssituationen, in denen sich das untersuchte Fremdverstehen vollzog, nicht miterhoben wurden (2) und die Entscheidung, dass die Lehrkräfte nicht gesondert dazu angeregt wurden, sich insbesondere auf das mathematikbezogene Erleben der beobachteten Schülerinnen und Schüler zu richten (3). Im Rückblick möchte ich nun die Kontingenz dieser drei Entscheidungen entfalten, also explizit diskutieren, welche Entscheidungen ich stattdessen hätte treffen können. Aus der Diskussion dieser Entscheidungsalternativen werden sich dann jeweils Ideen für mögliche Anschlussuntersuchungen ergeben, die das Bild, was sich aus der vorliegenden Untersuchung ergibt, komplettieren könnten. Zu 1. Wie bereits in Kapitel 6 erläutert, entschied ich mich dazu, Fremdverstehen von Lehrkräften zu untersuchen, welches diese im Kontext eines Mathematikunterrichts vollzogen, den sie selbst nicht leiteten. Meine Entscheidung begründete sich dadurch, dass ich das Phänomen des Fremdverstehens von Lehrkräften methodisch ‚isolieren‘, also aus seiner Gebundenheit an unterrichtliche Zwecke herauslösen wollte. Mein Anliegen war es, dass die untersuchten Lehrkräfte ihr Fremdverstehen vorrangig um seiner selbst willen vollziehen konnten und nicht, um etwa über ein geeignetes unterrichtliches Anschlusshandeln zu entscheiden. Ferner wollte ich sicherstellen, dass den Lehrkräften die zeitlichen © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C.-S. Günther, Das Eigene und das Fremde, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42995-9_8
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Kapazitäten zur Verfügung stehen, ihr Fremdverstehen und seine Resultate zeitnah und ausführlich zu dokumentieren. Wenn sie selbst unterrichtet hätten – so meine Vermutung –, wäre wohl immer nur eins von beidem umsetzbar gewesen: entweder eine zeitnahe, dafür aber nicht ausführliche Dokumentation, oder aber eine ausführliche, dafür dann aber nicht zeitnahe Dokumentation. Es zeichneten sich in der zweiten empirischen Untersuchung nun einige komplexitätsreduzierende Mechanismen ab, die im Fremdverstehen von Lehrkräften wirken können. So erfassten die untersuchten Lehrkräfte die Erlebnisse eines polypersonalen alter ego (vgl. Abschnitt 7.1) oder schrieben Schülerinnen und Schülern mitunter vielmehr erwartetes als erfasstes Erleben zu (vgl. Abschnitt 7.2). Mit diesen beiden ‚Vorgehensweisen‘ gelang es den untersuchten Lehrkräften, die Komplexität zu reduzieren, mit welcher sie in ihrem Fremdverstehen konfrontiert wurden. Hätten die untersuchten Lehrkräfte nun unter größerem Zeit- und Handlungsdruck gestanden, etwa weil sie selbst unterrichtet hätten, so ist wohl davon auszugehen, dass solch komplexitätsreduzierende Mechanismen in ihrem Fremdverstehen noch stärker ausgeprägt gewesen wären. Darüber hinaus scheint es möglich, dass sich unter derartigen Umständen sogar noch weitere Typen von komplexitätsreduzierenden Mechanismen gezeigt hätten, die sich in der vorliegenden Untersuchung noch gar nicht abzeichneten. Angesichts dieser Annahmen lässt sich hier eine erste mögliche Anschlussuntersuchung ableiten, nämlich: die Untersuchung des Fremdverstehens von Lehrkräften, welches sie vollziehen, während sie selbst unterrichten. Eine solche Untersuchung könnte dann dazu beitragen, insbesondere die komplexitätsreduzierenden Mechanismen im Fremdverstehen von Lehrkräften noch genauer zu typisieren. Im Rahmen einer solchen Untersuchung wäre es dann auch möglich, das Fremdverstehen in Abhängigkeit der Lehrerfahrung der fremdverstehenden Lehrkraft zu betrachten. D. h., es könnte ein Vergleich des Fremdverstehens von Lehrexpertinnen bzw. -experten und Lehrnovizinnen bzw. -novizen vorgenommen werden. Denn vielleicht – so nur eine mögliche forschungsleitende Fragerichtung – lässt sich ja ein Zusammenhang identifizieren zwischen der Entwicklung von komplexitätsreduzierenden Mechanismen im Fremdverstehen und der Lehrerfahrung der fremdverstehenden Lehrkraft. Man könnte etwa vermuten, dass sich in Abhängigkeit von der Lehrerfahrung sehr unterschiedliche Stile der Komplexitätsreduktion ausbilden. Und noch auch aus einem weiteren Grund könnte eine Untersuchung des Fremdverstehens von Lehrkräften während des eigenen Unterrichts die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung erweitern: Sofern die Lehrkräfte dabei nämlich in einer Klasse unterrichten würden, die sie bereits seit einiger Zeit
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kennen, so würde in ihrem Fremdverstehen vermutlich das Vorwissen über die Schülerinnen und Schüler eine andere Rolle spielen als in der vorliegenden Untersuchung. In dieser trafen die untersuchten Lehrkräfte nämlich zum ersten Mal auf die Schülerinnen und Schüler, deren Erlebnisse sie dann erfassten, und besaßen also – bis auf eine Ausnahme – keinerlei Vorwissen über die alter egos ihres Fremdverstehens. Nun geht Schütz in seiner Theorie des Fremdverstehens aber davon aus, dass das Vorwissen über alter ego einen wesentlichen Einfluss auf egos Fremdverstehen hat. Wie sich dieser Einfluss tatsächlich ausgestaltet, könnte dann in einer Untersuchung, in der die untersuchten Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler bereits längere Zeit kennen, genauer untersucht werden. Zu 2. In der zweiten empirischen Untersuchung entschied ich mich auch dazu, die konkreten Unterrichtssituationen, in denen die untersuchten Lehrkräfte ihr Fremdverstehen vollzogen, nicht mitzuerheben, was ja z. B. durch eine teilnehmende Beobachtung oder durch Videoaufnahmen durchaus möglich gewesen wäre. Der Grund hierfür war, dass mein Untersuchungsziel nicht darin bestand, einen ‚Abgleich‘ zwischen der Situation und dem Fremdverstehen der Lehrkräfte in dieser Situation vorzunehmen, also Fragen der Art ‚Erfassen sie denn überhaupt das, was in der Situation zu erfassen ist?‘ nachzugehen. Vielmehr wollte ich das Fremdverstehen einer Schülerin oder eines Schülers, wie es von den Lehrkräften vollzogen wurde, in den Fokus meiner Untersuchung rücken. Und die Rekonstruktionen dieses Fremdverstehens wollte ich dann keinesfalls durch das Fremdverstehen dieser Schülerin oder dieses Schülers, wie ich es vollzogen hätte, beeinflussen. Obgleich ich diese Forschungsentscheidung wohl auch zum jetzigen Zeitpunkt wieder in der gleichen Weise treffen würde, bin ich mittlerweile der Ansicht, dass sich vielversprechende Erkenntnismöglichkeiten ergäben, wenn darüber hinaus noch die Unterrichtssituation erhoben würde, in der ein Fremdverstehen erfolgt. Das Fremdverstehen einer Lehrkraft könnte dann beispielsweise nicht mehr länger nur dahingehend analysiert werden, welche Erlebnisse oder Handlungen einer Schülerin oder eines Schülers sie erfasste, sondern auch daraufhin befragt werden, welche Erlebnisse und Handlungen sie hätte erfassen können, wenngleich sie sie nicht erfasst hat. Angesichts dessen könnte dann die Selektivität im Erfassen des fremden Erlebens – und in der Folge: ein weiterer Aspekt der Struktur eines Fremdverstehens – nachgezeichnet werden. Es ergibt sich hier also eine weitere mögliche Anschlussuntersuchung, und zwar: die Untersuchung von Fremdverstehen, in welcher die Unterrichtssituation, in der das Fremdverstehen erfolgt, miterhoben wird.
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Und noch eine weitere mögliche Untersuchung lässt sich meines Erachtens aus diesen Überlegungen ableiten. Denn auch der Vergleich von Fremdverstehensprozessen, die verschiedene Lehrkräfte in derselben Unterrichtssituation bezüglich derselben Schülerin oder desselben Schülers vollziehen, könnte Auskunft über die Selektivität des Fremdverstehens geben. Es könnte dann nämlich immer das erfasste Erleben der einen Lehrkraft mit dem erfassten Erleben der anderen Lehrkraft kontrastiert werden. Anschließend könnte der Frage nachgegangen werden, ob abweichende Resultate des Fremdverstehens verschiedener Lehrkräfte in derselben Unterrichtssituation durch die Verschiedenheit der eigenen Erlebnisse dieser Lehrkräfte – auf welchen ihr Fremdverstehen ja laut Schütz’ Theorie beruht – erklärt werden können. Eine vierte Untersuchung, die sich an die vorliegende Untersuchung anschließen könnte, wäre also: die Untersuchung des Fremdverstehens mehrerer Lehrkräfte, in welchem sie jeweils in derselben Unterrichtssituation auf dasselbe alter ego gerichtet sind. Zu 3. Weiter entschied ich mich in der Konzeption der zweiten empirischen Untersuchung, die Lehrkräfte dazu anzuregen, einen Hoch- bzw. Tiefpunkt im Erleben einer Schülerin oder eines Schülers auszumachen. Damit entschied ich mich u. a. auch dagegen, ihr Fremdverstehen dahingehend zu lenken, dass es sich auf das mathematikbezogene Erleben einer Schülerin oder eines Schülers richtete. Diese Entscheidung begründete sich durch den explorativen Charakter meiner Untersuchung: Ich wollte ein erstes Bild davon zeichnen, wie sich das Fremdverstehen von Lehrkräften im Mathematikunterricht überhaupt ausgestaltet. Dabei wollte ich möglichst ergebnisoffen vorgehen. Und so wollte ich nicht bereits im Vorfeld ausschließen, dass Lehrkräfte sich auch auf außermathematische Erlebnisse richten konnten, sofern dies ihrem ‚natürlichen‘ Fremdverstehen im Mathematikunterricht entsprach. In den Untersuchungsergebnissen zeigte sich nun, dass die durch die untersuchten Lehrkräfte erfassten Erlebnisse und Handlungen in vielen Fällen keinen direkten Bezug zur Mathematik aufwiesen. D. h., ihr Fremdverstehen führte kaum zu Aussagen darüber, ob bzw. was eine Schülerin oder ein Schüler hinsichtlich eines mathematischen Inhalts dachte, sich vorstellte, verstand usw. In der Verallgemeinerung der Ergebnisse wurde diese Beobachtung bereits ausführlich diskutiert (vgl. Abschnitt 7.2). Ich möchte diese Diskussion hier nicht erneut aufgreifen, sondern vielmehr darauf hinweisen, dass sich vor diesem Hintergrund eine weitere mögliche Anschlussuntersuchung ergibt: In einer solchen Untersuchung könnten Lehrkräfte nämlich explizit dazu angeregt werden, in ihrem Fremdverstehen einer Schülerin oder eines Schülers das mathematikbezogene Erleben dieser Schülerin oder dieses Schülers zu erfassen. Auf diese Weise könnten Fremdverstehensresultate mit höherem Mathematikbezug gewissermaßen
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provoziert werden. Und in deren Analysen würden sich dann höchstwahrscheinlich Aspekte des Fremdverstehens von Lehrkräften im Mathematikunterricht aufzeigen, die innerhalb der vorliegenden Untersuchung noch verborgen blieben. Zum Abschluss dieses Kapitels – und damit auch zum Abschluss der gesamten Arbeit – sei noch eine letzte wichtige Anmerkung vorgenommen: Jeder Mensch erfasst das Erleben seiner Mitmenschen, d. h., jeder Mensch vollzieht Fremdverstehen. Für den Unterricht bedeutet das: Nicht nur Lehrkräfte erfassen das Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler, sondern auch in umgekehrter Richtung gilt, dass Schülerinnen und Schüler stets das Erleben ihrer Lehrkräfte erfassen. Und natürlich vollziehen auch Schülerinnen und Schüler untereinander Fremdverstehen. Mit der vorliegenden Arbeit wurde also nur eine Art des Fremdverstehens, welches tagtäglich im Mathematikunterricht vollzogen wird, untersucht. Die anderen Arten des Fremdverstehens bilden dagegen nach wie vor ein interessantes Untersuchungsfeld für zukünftige mathematikdidaktische Forschung. Besonders interessant wäre hierbei aus meiner Sicht die Erforschung des Fremdverstehens, das dem von mir untersuchten Fremdverstehen genau entgegengesetzt ist – also eine Untersuchung des Fremdverstehens, welches Schülerinnen und Schüler von ihren Mathematiklehrkräften vollziehen. Denn während es sich bei jeder Lehrkraft immer auch um eine ehemalige Schülerin bzw. um einen ehemaligen Schüler handelt, hat wohl kaum eine Schülerin oder ein Schüler bereits die Rolle einer Lehrkraft eingenommen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Art der Übertragung des eigenen Erlebens in einem Fremdverstehen, in welchem eine Lehrkraft auf ihre Lernenden gerichtet ist, sich grundlegend von der Art der Übertragung in einem Fremdverstehen der entgegengesetzten Richtung unterscheidet. Und so ergeben sich gleich mehrere – in meinen Augen: hochinteressante – Forschungsfragen: Welche Arten von Erlebnissen erfassen Schülerinnen und Schüler im Fremdverstehen ihrer Lehrkräfte? Wie vollzieht sich bei ihnen wohl der Akt der Personenvertauschung? Und welche Arten von eigenen Erlebnissen übertragen sie dabei? Insgesamt ließe sich dann für Lehrkräfte nicht nur nachzeichnen, wie sie fremdverstehen, sondern auch: wie sie fremdverstanden werden.
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