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German Pages [257] Year 2019
Neue Phänomenologie
Jürgen Hasse (Hg.)
Das Eigene und das Fremde Heimat in Zeiten der Mobilität
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495817568
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NEUE PHÄNOMENOLOGIE
A
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Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 30
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Walter Burger Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Hilge Landweer
https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Jürgen Hasse (Hg.)
Das Eigene und das Fremde Heimat in Zeiten der Mobilität
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Jürgen Hasse (Ed.)
One’s Own and the Other What it means to have a Home in the Age of Mobility The very word »home« brings with it an atmospheric salvaging emotion. As such »home« is a tension-filled but also fruitful concept that is continuously influenced by diverse developments of society. In the age of globalisation the conditions of what constitutes a home are constantly transformed by mobility, migration, social instability, and ideologization. The contributions of this volume discuss the conflicts between what is one’s own and what is perceived as foreign from a variety of theoretical perspectives. The Editor: Jürgen Hasse, born 1949, is a habilitated Doctor of the Natural Sciences. From 1993 until 2015 he was professor at the Institute of Human Geography of the Johann Wolfgang Goethe University of Frankfurt on the Main. His research focuses on Spatial Socialisation of Human Beings, Perception of Space and Environment, Phenomenological Urban Studies, Relations between Humans and Nature, and Aesthetics. He is the author of several books on Culture Studies.
https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Jürgen Hasse (Hg.)
Das Eigene und das Fremde Heimat in Zeiten der Mobilität Als atmosphärisch bergendes Gefühl steht Heimat in einem fruchtbaren Spannungsfeld vielfältiger gesellschaftlicher Einflüsse. In Zeiten der Globalisierung verändern sich die Voraussetzungen für die Konstitution von Heimat insbesondere durch Mobilität, Migration, soziale Unsicherheit und Ideologisierung. Die Beiträge des Bandes diskutieren das Spannungsfeld von Eigenem und Fremdem aus verschiedenen theoretischen Perspektiven. Der Herausgeber: Jürgen Hasse, geb. 1949, Dr. rer. nat. habil., war von 1993 bis 2015 Professor am Institut für Humangeographie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Forschungsschwerpunkte: Räumliche Vergesellschaftung des Menschen, Raum- und Umweltwahrnehmung, phänomenologische Stadtforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse, Ästhetik; Autor zahlreicher kulturwissenschaftlicher Bücher.
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Gefördert durch die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49029-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81756-8
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Inhalt
Jürgen Hasse Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Hermann Schmitz Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen . . . . . . . .
25
Jürgen Hasse Heimat – ambivalente Gefühle
. . . . . . . . . . . . . .
39
Gernot Böhme Der Fremde ist der Gast, der bleibt . . . . . . . . . . . .
68
Karen Joisten Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen? Anmerkungen zur Lebensaufgabe, der zu werden, der man sein könnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Nina Trčka Über Heimatverlust und Heimatlosigkeit. Vereinzelung, Selbstverlust und der Zerfall der gemeinsamen Welt . . 107 Reinhard Knodt Vom gelobten Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Amalia Barboza Bewegte Heimat. Topografien des Provisorischen und des Traumhaften in der Migration . . . . . . . . . . . . . . . 156 7 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Inhalt
Simone Egger About Heimat. Leben und Wohnen in der postmodernen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Carolin Stapenhorst Heimat entwerfen? Eine Annäherung durch Programme und Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 247
8 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Jürgen Hasse
Einleitung
Der vorliegende Band setzt sich mit einem Thema von wechselhafter Aktualität auseinander. Auf einer seismographischen Zone kollektiver Befindlichkeiten drücken sich im Phänomen der Heimat emotionale Spannungen aus. Heimat steht daher auch weniger für paradiesische Homöostase als für Ungleichzeitigkeiten zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und darauf bezogenen Gefühlen. Heimatliche Referenzräume sind neben den Nationalstaaten auch Regionen, (historische) Kulturlandschaften und Kommunen. Heimat »ist« jedoch nicht im tatsächlichen Raum wie der Kirchturm in der Mitte des historischen Dorfes. Sie kann als ein atmosphärischer Dunst verstanden werden, der sich – auf kognitiv konstruierten Umwegen – in »begehbaren« Räumen verorten lässt. Sie kann sogar ganz von räumlichen Milieus entbunden sein, muss eine lokalisierbare Gegend folglich gar nicht voraussetzen. Immer wieder auflebende Heimat-Debatten sind in erster Linie Befindlichkeits-Resonanzen im Medium individueller wie kollektiver Gefühle des Mit- oder Fremd-Seins in einer aktuellen Lebenssituation. Heimat wird selten zum Thema, solange das Leben mit dem Anderen und Fremden in einem produktiven Gleichgewicht gleichsam schwimmt. Wenn Fremdes (nicht nur ethnisch Fremdes, sondern auch Fremdes an Dingen, Reiseeindrücken oder tagtäglichen Erfahrungen) Impulse liefert, das eigene So-Sein auf befriedigende Weise denkwürdig zu machen, um das Gewohnte und Vertraute in ein kritisches Licht zu setzen, erübrigt sich die Reklamation von Heimat als ein aufnehmendes, bergendes, behagendes wie beruhigendes Gefühl. Oft sind es gar keine individuellen Schieflagen vom Charakter verstimmter Beziehungen zwischen 9 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Jürgen Hasse
Selbst und einem Anderem, die einen Verlust von Heimat bewusst machen, sondern gesellschaftliche Situationen und Entwicklungen. Eine vermisste Heimat soll dann als Utopie ein Unbehagen kompensieren. Dessen thematische Ränder sind in aller Regel eher unscharf bis dunkel als klar konturiert und in der Sache eindeutig. Gefühle des Fremd-Werdens im nur noch bedingt Vertrauten können wegen ihrer Schwammigkeit allzu leicht für parteipolitische und ideologische Zwecke instrumentalisiert werden. Weil Menschen, deren Behaglichkeit aus dem Lot geraten ist, meistens nicht genau »wissen, was sie wollen«, können empfundene SinnDefizite mit unterschiedlichsten Bedeutungen gefüllt werden, solange sie nur in der Lage sind, eine »Rettung« aus der Not zu suggerieren. Nicht nur Heimat, sondern auch ihr subjektiv empfundener Verlust wurzelt meist in diffusen und wabernden Situationen. Was im Heimatlichen Halt sucht, ist eher das, was nicht exakt benannt werden kann. Die Thematisierung von »Heimat« wird in aller Regel nicht durch positive Eindrücke induziert, sondern durch den gefühlten Mangel und die sich spürbar ankündigende Verlusterfahrung: »Je mehr Heimatlosigkeit die mobile, flexible neoliberale Welt mit sich bringt, desto mehr drängt sich Heimat auf.« 1 Heimat kann ebenso als eine Schattengestalt aufgefasst werden, in der sich abgeschwächte Verwurzelungs-Gefühle und ein emotionaler Verlust von Eigenem abzeichnen. Sie repräsentiert dann etwas Diffus-Festhaltendes bis Drückend-Halbdunkles und lässt ein Milieu erkennen, in dem das Licht der konstruktiven Suche nach zukunftsorientierten Perspektiven fahl geworden ist. Der emotional zehrende Mangel treibt die furchtvolle Abwehr des Fremden an, nicht dagegen den Wunsch nach einer produktiven Synthese von Eigenem und Fremdem. Wo »Heimat« öffentlich diskutiert wird, ist sie meistens schon in politische Zusammenhänge eingespannt. Nicht jede Auseinandersetzung mit dem Fremden ist fruchtbar und verspricht eine Bereicherung. Oft lähmt sie den konstruktiven Blick nach vorne 1
Christoph Türcke: Heimat. Eine Rehabilitierung, Springe 2006, S. 8.
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Einleitung
und wendet sich restaurativ ins Alte, Vergangene und aus lebendigen Zusammenhängen schon längst Herausgefallene. Virulente Beziehungen zu etwas Fremdem haben deshalb in aller Regel auch keinen homöostatischen Charakter; viel eher sind sie von spannungsbedingten Rissen durchzogen. Auch aktuelle Heimat-Renaissancen haben ihre Wurzeln oft in Spannungen, die sich zwischen politisch regulierten Affekt-Regimen und persönlichen Befindlichkeiten aufgebaut haben. Deshalb haben politische Antworten auf spürbares Unbehagen auch eher symbolischen Charakter. Gesellschaftliche Veränderungen lassen sich jedoch nur in konkreten Politikfeldern (Landwirtschaft, Verkehrsplanung, Bevölkerungspolitik etc.) realisieren. Heimat-Politik im engeren Sinne kann es nicht geben. Auf sie kann nur rhetorisch und ideologisch Bezug genommen werden. Und so stellt sich die neue Gründung von Heimatministerien auf der Ebene der Länder wie des Bundes als eine symbolische Politik dar, die insbesondere auf migrationsbedingte Unzufriedenheit in der Bevölkerung reagiert. Dass die gewählten Programme plakative Wirkungen erzeugen sollen, ist nur Ausdruck ihrer symbolischen Überladung. In diesem Sinne darf das Votum von CSU-Funktionären zur Anbringung des Kreuzes als Zeichen des christlichen Glaubens in Amtsstuben (in einer säkularen Gesellschaft) angesehen werden. Auf der Internetseite des Nordrhein-Westfälischen Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung ist zu lesen: »Nordrhein-Westfalen bietet uns allen eine lebenswerte Heimat im Herzen Europas. Weltoffenheit und Toleranz, Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn schaffen einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt – ob in den großen Städten oder in den ländlichen Regionen.« 2
Unterschiedlichste Aufgabenfelder, die in keinem logischen Rahmen stehen, kommen hier zusammen. Schon die Beschreibung 2
Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): »Heimat«, unter: https://www.mhkbg.nrw/index. php (Stand: 16. 03. 2018).
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Jürgen Hasse
steht im offenen Widerspruch zur strukturellen Situation des Landes, wird Nordrhein-Westfalen doch bis in die Gegenwart von den nicht nachhaltig bewältigten Spätfolgen einer strukturell wie fiskalpolitisch anhaltenden Transformationskrise erdrückt, die aus dem weitgehenden Kollaps der Montanindustrie (in den 1960er/70er Jahren) hervorgegangen sind. So steht die konstatierte »lebenswerte Heimat« unter dem massiven Druck einer atmosphärisch dahingärenden Problemlage, die noch zusätzlich durch ungelöste Herausforderungen der Integration von Migranten verschärft wird, sodass insgesamt politische wie administrative Insuffizienz droht. Auch das im Rahmen der Konstituierung einer neuen Bundesregierung im Jahre 2018 geschaffene Heimatministerium dürfte weniger Ausdruck von konkretem, das heißt heimatspezifischem Handlungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsbedarf sein, als vielmehr Spiegel krisenhafter innenpolitischer Verhältnisse, die sich kurzfristig kaum lösen, bestenfalls symbolisch verdecken lassen. Der Zuständigkeitsumfang des Ministeriums lässt auch auf nationalem Niveau erkennen, dass vieles zu einer vermeintlichen Einheit zusammengefügt worden ist, was im engeren Sinne unter fachlich spezieller Zuordnung immer schon behandelt worden ist. Mit anderen Worten: Administrative Handlungsfelder zu Themen der Gesundheits- und Pflegeversorgung, der Sicherung des Breitbandausbaus bis hin zur Extremismus-Prävention haben mit der Wahrung und Sicherung der Heimat genauso viel oder wenig zu tun wie andere Aufgabenfelder, die jedoch nicht in den Bereich der Zuständigkeit des neuen Ministeriums aufgenommen worden sind – die militärische Landesverteidigung, die Überwindung einer umweltpolitisch und ethisch höchst krisenhaften Landwirtschaft und Agroindustrie, die Natur- und Umweltpolitik und nicht zuletzt die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Das folgende Beispiel macht den geradezu zwanghaften und zugleich ideologischen Charakter der Instrumentalisierung des Heimat-Begriffs sehr deutlich: Zu den Kernaufgaben des Ministeriums gehört innerhalb einer fachbereichsübergreifenden Finanzpolitik das Ziel der Herstellung »Gleichwertige[r] Lebensver12 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Einleitung
hältnisse« 3 im ganzen Bundesgebiet. Damit kündigt sich aber keine neue Politikstrategie an; vielmehr wird ein uraltes politisches Ziel rezitiert, das schon in Artikel 72 des Grundgesetztes festgeschrieben ist. Von 1949 bis 1994 war noch von der »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« die Rede, seit 1975 ist das Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ein Leitsatz der Raumordnungspolitik, der sich vor allem durch die Strukturschwächen in ländlich geprägten Räumen entlang der Grenze zur ehemaligen DDR begründet hat. Später galt das Ziel für alle ländlichen (Problem-)Gebiete mit infra- und gewerbestrukturellen Ausstattungsdefiziten. Von »Heimat«-Politik war dabei aber nie die Rede. In letzter Konsequenz heißt dies, dass schlicht jedes Politikprogramm, das notwendigerweise nationale Interessen verfolgt, rhetorisch auch als »Heimatpolitik« etikettiert werden könnte. Es ist kaum übersehbar, dass die Fokussierung von Heimat in der aktuellen Politik in einem Zusammenhang mit dem seit dem Jahre 2015 weitgehend unregulierten Zustrom von Migranten steht. Politische Debatten, die von scharfer Polarisierung mitunter gegensätzlicher Positionen gekennzeichnet waren und sind, haben jedoch kaum Einfluss auf strukturelle demographische Verhältnisse. Zudem erweisen sich sowohl naiver Optimismus als auch praktizierte Ansätze einer Problemlösung in der Wirkung eher als enttäuschend denn als hoffnungsvoll. Daher bieten sich in besonderer Weise rhetorische Strategien als Nachweis einer oft erklärten Sorge um die Wahrung nationaler Interessen an. Der Heimat-Begriff fungiert – wie oft schon in der Geschichte – als ideologischer Platzhalter und Neutralisierungsmedium von Angst vor dem Verlust von (vermeintlich) Eigenem. Es ist ein Ziel des vorliegenden Bandes, dieses ideologische Feld der Heimat-Diskurse in ihrer politischen Bedeutung zum 3
Janina Lückoff: »Neues Heimatministerium: Dient Bayern Seehofer als Blaupause?«, in: Bayerischer Rundfunk 24 vom 14. 03. 2018; https://www.br.de/ nachrichten/dient-bayern-seehofer-als-blaupause-fuer-den-bund-100.html (Stand: 16. 03. 2018).
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Gegenstand des rekonstruierenden Verstehens zu machen. Ein weiterer thematischer Strang entfaltet sich in der Erfassung von Heimat als anthropologischem Phänomen. Auf diesem Wege soll gezeigt werden, inwieweit sich Heimat in der Performativität des gelebten Lebens als Gefühl konstituiert – auch ganz ohne ideologisch lenkenden Zugriff auf das moralisch für »gut« und »richtig« erklärte Denken und Fühlen der Menschen. Wissenschaftlich aufschlussreich und politisch brisant ist die Schnittstelle beider Prozessfelder – was die Menschen gleichsam von sich aus (aus dem Verlauf ihrer Biographie) selbst als Heimat empfinden und was sie machtpolitisch in der Durchsetzung bestimmter Ideologien denken und fühlen sollen. Ideologieanfälligkeit von Heimat bedeutet aber nicht, dass sie a priori in »rechte« Programme eingespannt ist. Ebenso gibt es eine »linke« Heimat-Programmatik, die mit eigenen Themen aufwartet und (mit anderen Argumenten) die Wahrung von Eigenem anmahnt. Traditionell »linke« Themen in diesem Sinne sind (a) der schrankenlose Landschaftsverbrauch, (b) der ökologische Raubbau sowie (c) eine »raubtierkapitalistische« Boden- und Immobilienspekulation. Weil die Art und Weise, in der Heimat wie (aufkeimende) Heimatlosigkeit empfunden wird, von persönlichen wie kollektiven Beziehungen (zu einem mehr sozialen als räumlichen Herum) abhängt, sind die politischen Kontexte ebenso offen wie die Felder dessen, was als (potentiell) Eigenes angesprochen werden kann. Schon deshalb gab es nie allein »rechte« Instrumentalisierungen von Heimat, die auf der emotionalen Verklärung nationalistischer Ideologien von (mehr oder weniger) Eigenem basierten, wie die Appelle zur Heimat- und Vaterlandsliebe im Dritten Reich, die direkt auf eine totalitäre Politik bezogen waren. Heimat-Versprechen und -Diagnosen verdienen vor allem deshalb generelle Aufmerksamkeit, weil ihr politischer Ideologiegehalt in aller Regel nicht offen zutage liegt, sondern in Latenz gleichsam darauf wartet, Resonanzen hervorzurufen. Ein Beispiel liefert der 1923 von Eduard Spranger gehaltene Vortrag zum Bildungswert der Heimatkunde, der in seinem Orts- und Raumbezug wie in seiner Grundorientierung weniger politisch als anthropologisch akzentuiert 14 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Einleitung
war. 4 Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – konnte er von den Nationalsozialisten für die Ideologie der Kriegsvorbereitung in geradezu idealer Weise in Anspruch genommen werden. Zahllose Diskussionsbeiträge mit politischen Leerstellen bieten sich in der Heimat-Debatte für eine Einschreibung in die unterschiedlichsten Zielsysteme an. Solch emotionalisierte Ganzheitlichkeits-, Verbundenheits- und Identitätsmythen weisen dann oft einen ausgeprägten Orts- und Raumbezug auf. Sie wurzeln schließlich nicht in einer geistigen Welt der Ideen und Überzeugungen, im Glauben oder der Liebe, sondern sind ganz direkt auf den Boden 5 einer Gegend projiziert. Heimat lässt sich so in die ideologisch unterschiedlichsten politischen Programme aufnehmen. Mit anderen Worten: Das politische Recycling von Heimat-Gefühlen ist nicht auf spezifische (partei-)politische Werteordnungen beschränkt. In besonderer Weise sind es die Ortsund Raumbezüge des Heimatlichen, die sich ideologisch nutzen lassen. Und so bildet Heimat als thematischer wie ideologischer Anker auch in der Programmatik der Parteien der bürgerlichen Mitte politische Anknüpfungspunkte. Es gibt eine »Grüne« Heimat, die keinen nationalistischen Zuschnitt hat, sondern einen »grünen Weg [sucht], mit dessen Hilfe wir vor Ort, in den Ländern und auf europäischer Ebene die verbliebenen, virtuellen Schlagbäume überwinden wollen« 6. Für die Partei Die Linke verbindet sich zukunftsorientierte Heimat-Politik eher mit der Überwindung ökonomischer Differenzen zwischen Ost und West. 7 4
Vgl. Eduard Spranger: Der Bildungswert der Heimatkunde (zuerst 1923), Stuttgart 1967. 5 Die im Dritten Reich propagierte »Blut und Boden«-Ideologie lässt erkennen, das unter bestimmten politischen Voraussetzungen der Boden-Bezug in einem nicht nur wörtlichen, sondern mythisch überwölbenden Sinne zugleich als vaterländische Beschwörungsformel aufgefasst werden kann. 6 Bündnis 90 / Die Grünen (Hrsg.): »Was ist Heimat?«, unter: https://www. gruene.de/partei/was-ist-heimat.html (Stand: 29. 03. 2018). 7 Vgl. Ann-Kathrin Liedtke: »Heimat, (k)ein linkes Konzept. Im Gespräch mit Bodo Ramelow«, in: taz, o. J., vgl. auch http://www.taz.de/!165056/ (Stand: 29. 03. 2018).
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Jede Renaissance neuerlichen Nachdenkens über Heimat fächert sich in ein breites und heterogenes Spektrum von Weltund Menschenbildern auf. Wenn darin »rechte« Positionen von vielen Massenmedien auch oft in den Vordergrund gespielt werden, so spiegeln sich in klischeehaften Resonanzkalkülen oft eher Aufmerksamkeitsbegehren wider als das Interesse, über strukturverschiedene Orientierungen differenziert zu informieren. Diesseits parteipolitischer Kalküle sind solche heimatprogrammatischen Ansätze bemerkenswert, die eine kritische (parteipolitisch nicht gebundene) Stimme verlauten lassen, Denkwürdigkeit stiften, also nicht die eine oder andere Heimat durchsetzen wollen. In diesem Sinne ist neben marxistischen 8 Konzepten an feministische 9 oder philosophische 10 zu denken, die Heimat fragwürdig machen – unabhängig von der Leichtigkeit einer Identifikation bzw. der Möglichkeit, sich in der einen oder anderen auch individuell beheimaten zu können. Mit Heimat-Debatten verbinden sich, auch wenn sie rückwärtsgewandt sind, in aller Regel zukunftsorientierte Programme gesellschaftlicher Transformation. Wo Orte und Räume zum Medium von Utopien, Ideen, Überzeugungen und Werten werden, Heimat also mit raumbezogenen Gefühlen aufgeladen wird (von der Kommune [Dorf und Stadt] über die Region und die Nation bis zum Kontinent), werden Räume zu »Behältern« für Lebensformen und gesellschaftliche Praktiken. Das »Geografische« der Heimat ist in aller Regel aber nichts Eigenständiges, sondern etwas Abgeleitetes, das wie ein Schwamm für die Einlagerung nahezu beliebiger Bedeutungen fungiert. Wenn selbst der Planet als »Garten Erde« zum Referenzraum der Beheimatung wird, 11 offen8
Vgl. Jürgen Hofmann: »Heimat als Realitätsbezug. Überlegungen zum marxistischen Heimatbegriff«, in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, 7. Jg., Heft 14, 1987, S. 24–30. 9 Vgl. Elisabeth Strauß / Hanna Lauterbach: »Sophia peregrina. Von der Heimatlosigkeit der Frauen in der Philosophie«, in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, 7. Jg., Heft 14, 1987, S. 31–39. 10 Vgl. Raulet, Gérard: Natur und Ornament. Zur Erzeugung von Heimat. Darmstadt und Neuwied 1987. 11 Frank H. Hellwig: »Heimat denken – ein biologischer Streifzug«, in: Costadu-
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Einleitung
baren sich nur noch leere rhetorische Muster. Wissenschaftssprachlich modische Abstraktionsrituale heben jedoch von jeder Lebbarkeit dessen ab, was Eduard Spranger »bedeutsames Milieu« 12 nannte und Christoph Türcke angesichts aller mit Beheimatung verbundenen Entfremdungsprozesse als »eine Art Vernarbung« 13. Heimat bildet sich im Laufe eines Lebens schrittweise, oft genug aber auch abrupt heraus – als eine sich immer wieder häutende Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem. Deshalb muss sie sich stets aufs Neue bilden. Insofern ist sie an die Sinne gebunden, als sie Spiegel eines leiblich (und nicht nur intellektualistisch) gelebten Lebens ist. Wo die Bindung von Gefühlen der Beheimatung an die eigenleibliche Erfahrung verloren geht oder rhetorisch-diskursiv vergessen gemacht wird, entsteht ein ideologischer Boden der Fremdbestimmung. Wo die Gewissheit des Eigenen nicht mehr der Irritation durch das Fremde bedarf, verliert sich Heimat ins Erratische, wird undynamisch und letztlich lebensfeindlich. * * * Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren die auf dem XXV. Symposium der Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V. (21. bis 23. April 2017) zum Thema »Das Eigene und das Fremde. Heimat in Zeiten der Mobilität« gehaltenen Vorträge. Das Spektrum wurde um einen Aufsatz von Reinhard Knodt ergänzt. Hermann Schmitz widmet sich in seinem thematisch hinführenden Beitrag dem Verständnis der grundlegenden Beziehungen zwischen Eigenem und Fremdem. Darin zeigt sich, dass sich maßgebliche Grundfragen innerhalb dieser Spannung nicht erst in der krisenhaften Konfrontation mit ethnisch Fremden stellen, sonra, Edoardo / Klaus Ries (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 81–106, hier 103 f. 12 Eduard Spranger: Der Bildungswert der Heimatkunde (zuerst 1923), Stuttgart 1967, S. 14. 13 Türcke: Heimat, S. 78.
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dern schon in Situationen alltäglichen Lebens. Als fremd kann schon das in einem anderen Menschen Erscheinende erfahren werden, somit etwas, das uns vielleicht sehr nahe ist. Indem Fremdes als etwas auftaucht, das im affektiven Betroffensein leiblich spürbar wird, kann auch das ethnisch Fremde im Spiegel subjektiver Begegnung zur Sache des Eigenen werden. Dies heißt auf die Bedingungen der Konstitution von Heimat bezogen, Heimat gedeiht nicht, weil es diese oder jene Eigenschaften in einer räumlichen Umgebung gibt, sondern weil Menschen aufgrund der Subjektivität dessen, was für sie eine subjektive Tatsache ist, in ganz besonderer Weise involviert sind. Schmitz spricht sich deshalb auch gegen eine »umweltgeografische Begründung« von Heimat aus, in deren Mitte es auf positiv erlebte Beziehungen zu Orten und Räumen ankäme. Vielmehr votiert er für eine ontologische Begründung; darin ginge es um die Bewusstmachung einer Qualität der Differenz zwischen subjektiven und neutralen Tatsachen. Heimat hat in diesem Sinne nicht wesentlich etwas mit Veränderungen einer räumlichen Umwelt zu tun, sondern ist vielmehr durch die (Änderung einer) Einstellung der Menschen zu ihrem Herum bedingt. Damit bestätigt er eine theoretische Position, die auch die Essenz aller nicht-dogmatischen und ideologiekritischen Reflexionen von Heimat ausmacht. Der Herausgeber setzt sich mit der Ambivalenz heimatlicher Gefühle auseinander. Heimat tritt – vor allem in einem breiten Spektrum belletristischer und filmischer Erzeugnisse – oft in erster Linie als romantisches Symbol gelingenden Lebens par excellence hervor. In aller Regel sind atmosphärisch umwölkende Gefühlsfelder des Zuhause-Seins aber auch von Störungen durchzogen. Im Sinne eines »Akkordes« (Hellpach) wirken vielfältige Einflüsse auf das Befinden eines Individuums ein: biographische Ereignisketten, aktuelle soziale und räumliche Entwicklungen, politische Ideologien und Profile des Zeitgeistes. In dieser Gemengelage entfalten sich nicht nur heimatbildende und -unterstützende, sondern auch -beeinträchtigende Eindrücke. Mit Hilfe des Schmitz’schen Situations-Begriffs wird deren Zusammenwirken auf den verschiedenen Wirkungsebenen diskutiert. In den Mittelpunkt rückt damit der spezifische Zusammenklang orts18 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Einleitung
wie zeitspezifischer Sachverhalte, Programme und Probleme. In der Stimmung verdichtet sich das atmosphärische Gefühl von Heimat zu einer persönlich ergreifenden Macht. Heimat entsteht als komplexe Gefühls-Collage vor dem Hintergrund der subjektiven Verarbeitung historischer Ereignisse, sozialer Geschehnisse, persönlicher Widerfahrnisse, der Suggestionen politischer Akteure sowie aller möglichen individuell wie kollektiv bedeutsam werdenden Eindrücke. Im historischen Rückblick wird beispielhaft aufgezeigt, in welcher Weise zwischen ideologischer Konstruktion und biographischer Konstitution bergende aber eben auch spannungsreiche bis idiosynkratische – und zudem unter Umständen höchst wechselhafte – Affektrahmen der Beheimatung entstehen. Gernot Böhme bezieht die aktuelle Flüchtlingsproblematik auf das Thema des Heimatverlustes und ihrer (angestrebten) Rekonstitution in der Fremde. Dabei kommen Reibungen bzw. Reibungspotentiale zwischen der aufnehmenden Gesellschaft und den sozialen Gruppen, die zunächst als Gäste wahrgenommen werden, in den Blick. Vor dem historischen Hintergrund der deutschen Geschichte, die allein seit dem Zweiten Weltkrieg mehrmals mit Migrationsbewegungen konfrontiert war und die sich stellenden Herausforderungen bewältigen musste, sensibilisiert Böhme für Spannungen, die von beiden Seiten verlangen, sich mit dem Neuen im Fremden produktiv auseinanderzusetzen. Mit Bezug auf Augustinus und Nietzsche fokussiert der Beitrag von Karen Joisten das grundsätzliche Dilemma der Beheimatung und damit den a priori utopischen Charakter von Heimat. Schon als Folge seiner biographischen Entwicklungsdynamik ist der Mensch das nicht-festgestellte Wesen und daher in anthropologischer Hinsicht auf dem Wege – wenigstens solange er vital und nicht nur biologisch lebt. Auf dem Weg sein impliziert die Offenheit für Gabelungen und die Nicht-Fixiertheit des eigenen Selbst, weder in der Orientierung auf einen lebensgeschichtlich finalen Ort noch auf eine letztendlich Identität stiftende Situation. Der Mensch ist im (temporär) Heimischen fremd, wie er im Fremden heimisch sein muss, um in und mit seinem Leben voranzukommen. Diese Doppelstruktur disponiert auch seine Beziehungen zu Situationen, Mitmenschen und Din19 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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gen. Was ihm und mit ihm geschieht, vollzieht sich im Sowohlals-Auch, im Nicht-Mehr und Noch-Nicht, im Hafen wie auf See, im Schiffbruch wie in der Rettung, im Wohnen wie im Wandern. Auch der Text von Nina Trčka rückt Lebensbewegungen – hier in Gestalt von Migrationsprozessen – ins Zentrum ihrer Überlegungen, die im aktuellen Weltgeschehen eine politische, ökonomische und kulturelle Ereignisdimension haben. Die Bedingungen der Rekonstitution von Heimat stellen sich unter der Voraussetzung eines vorausgegangenen Heimatverlustes in ganz anderer Weise dar als im Fluss der kontinuierlichen Lebbarkeit gemeinschaftlicher wie individueller Werte. Die Herangehensweise der Verfasserin an die Frage der Konstitution von Heimat ist dadurch charakterisiert, dass sie diese nicht in (vereinzelten) persönlichen Situationen verankert sieht, sondern in (historisch, sprachlich und kulturell) vieldimensional gewachsenen sozialen Bindungen. Heimat ist zwar auch in diesem Fokus für das individuelle Leben von emotional großer Bedeutsamkeit (im Hinblick auf rahmende Gefühle der Geborgenheit, des Zuhause-Seins, der Erfahrung von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit etc.); aber sie verdankt sich doch nie allein – und schon gar nicht in erster Linie – persönlich-individueller (z. B. emotionaler) »Investitionen«. Um die Verwurzelung individueller Biographien im Leben anderer, im Metier des Sozialen und Gesellschaftlichen zu illustrieren und die Reflexion dieser Bindungen theoretisch zu fundieren, greift sie auf zwei konzeptionell verschiedene, sich aber doch ergänzende Ansätze zurück: zum einen auf das in der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz entwickelte Konzept der Situation (u. a. der gemeinsamen Situationen) und zum anderen auf den WeltBegriff bei Hannah Arendt. Entwurzelung und Weltverlust werden so vor dem Hintergrund des Fremd-Werdens in einer Welt verständlich, in der es an Schnittstellen des Gemeinsamen mangelt. Heimatlosigkeit entbindet den Menschen folglich von seinem bergenden Herum und stellt ihn ins Unheimliche. Im Fokus des Interesses von Reinhard Knodt steht »Heimat« nicht als anthropologische Beziehung zu einem vertraut gewordenen Milieu, das im Strom des Lebens gleichsam immer wieder 20 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Einleitung
neu justiert werden muss. Zwar wäre Heimat auch dann ein »Korrespondenzphänomen«, wie Knodt schreibt; aber dem Verfasser geht es nicht um diese oder jene Korrespondenzen als etwas, das man in seiner Affektqualität für sich betrachten könnte, sondern um die darin wirksamen dynamischen Momente. So versteht und illustriert er Heimat als multipel verstricktes Beziehungsgeschehen von prozesshaftem Charakter. Darin blendet er bevorzugt jene Spannungen zwischen Eigenen und Fremdem ein, die wenig Spielraum für Harmlosigkeiten lassen. Vor dem Hintergrund kulturgeschichtlicher und politischer Querverweise provoziert sich aus dem Vakuum einer Dekonstruktion »guter« und behagender Heimat die Frage, ob es nicht doch (oder zumindest auch) konstruktive Beheimatungen geben könnte. Dies wären dann solche, die ohne das Schwert und die niederwerfende Macht der Verachtung von allem, was nicht wir selbst sind, sondern mit dem Anderen und den Anderen geschaffen werden könnten – im Sinne sozialer Räume der Pluralität und Heterogenität, in denen sich Viele und vor allem Verschiedene beheimaten dürften, um eine zählflüssige Heimat im Plural zu generieren, die auf alles Vereinfachend-Singuläre verzichtete. Heimat muss keine singuläre Beziehung repräsentieren und sie muss auch nicht auf Orte bezogen sein. Die Ethnologin Amalia Barboza zeigt in ihrem sich auf Befunde qualitativer Sozialforschung stützenden Text, welche Rolle biographische Situationen der Migration bei der Wieder(er)findung von Heimat (in der Fremde) spielen können. An vier Beispielen werden »bewegte Heimaten« illustriert, die durch (freiwillige oder erzwungene) Mobilität weniger »verloren gegangen« sind, als dass sie sich unter veränderten geographischen und sozialen Bedingungen neu finden und ausrichten müssen. Die heimatrelevanten Eindrücke von Migrationsgeschichten unterscheiden sich darin von denen einer Reise, dass Wandernde – letztendlich an einem Ziel angekommenen – nicht so schnell und leicht zur Ruhe kommen wie Reisende, die nach dem Ende einer Tour in ihr Zuhause wieder zurückkehren. Das Gefühl des Bewegt-Seins bestimmt nicht nur die Passage der Migration, es dauert über die RaumZeit der Wanderung hinaus an, sodass sich die betroffenen Menschen fortan 21 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Jürgen Hasse
»in Bewegung« fühlen. Auch ihre Beheimatungen vollziehen sich im Modus der Bewegung, der Unruhe und des Unbestimmten. Die Betroffenen orientieren sich im Versuch neuerlicher Verwurzelung bevorzugt am Flüchtigen: an (kleinen und leichten) Dingen, die in ähnlicher Weise zu den Medien des Durchhaltens auf der Wanderung gehörten wie Träume und Imaginationen. Dinge sind wie mnemonische Magnete; sie sind im Leben nicht einfach nur da, bieten als Brücken des Sinns vielmehr Halt. »Verlorene« oder in der Ferne einer Herkunftswelt aufgegebene Heimaten werden auf diese Weise in atmosphärische Blasenwelten gleichsam fraktal mitgenommen und neuerlich synchronisiert. Die Herkunftswelt Brasilien wurde von den Wandernden ins Mediale transferiert, sodass Spuren des »ursprünglich« Heimatlichen in Erlebnissequenzen und symbolischen Beziehungen im Hier-undJetzt wieder aufgehen konnten. Heimat bedarf aber nicht zwingend der (kleinen) Dinge als schwammartige Medien des Atmosphärischen; sie kann auch im Unterwegs-Sein gefunden werden, in der Arbeit an einem Ort vorübergehenden Aufenthaltes, wie ihn die aus Sāo Paulo stammende Martha als »Ärztin ohne Grenzen« bis auf weiteres in Moçambique gefunden hat. Heimat ist schließlich in der Sprache oder – abermals ganz anders – in der (traditionellen Tanz-) Bewegung, in der habituelle Wurzeln vertrauten Aufgehoben-Seins in einer komplexen sozialen Herkunftswelt fortleben. Mit der Krise auf dem Wohnungsmarkt der Stadt München setzt sich Simone Egger auseinander. Heimat wird in ihrem Beitrag zu einer Ressource, die nicht zuletzt in der Hand von Immobiliengesellschaften, Investoren und anderen machtvollen Akteuren liegt. Damit spricht sie eine Facette der Verfügung über Heimat an, die besonders in den Metropolen und ökonomischen Zentren einen spürbaren Druck existenzieller Beengung erzeugt. Im Fokus neophänomenologischer Begrifflichkeit rückt hier eine Polarisierung von persönlichen und gemeinsamen Situationen im Spannungsfeld konträrer Interessen in den Fokus. Carolin Stapenhorst gibt in ihrem abschließenden Beitrag einen Einblick in die Ausbildung von Architektur-Studierenden der RWTH Aachen. Sie illustriert vier Beispiele eines Entwurfs22 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Einleitung
Seminars, in dem beheimatende Bauten unterschiedlicher programmatischer Struktur entworfen worden sind. Dabei handelt es sich um fiktive Bauwerke, die für ein Grundstück in Dresden entworfen wurden. In ihnen konkretisieren sich zum einen Heimat-Vorstellungen Studierender; zum anderen zeigen sich in Umrissen methodische Strategien einer professionsspezifischen Herangehensweise an die Erarbeitung raumgestalterischer Entwürfe, wie sie von Architekten auch als Aufgabe der Verbildlichung gelebter Weltbeziehungen bewältigt werden müssen. In den konkreten Plänen drücken sich Ideen aus, wie unter bestimmten RaumBedingungen die Konstitution von Heimat gefördert werden könnte. Alle Entwürfe bieten Raumgebilde, die auf den ersten Blick fremd wirken, dann aber darin hohe architektonische Qualitäten bieten, dass sie sich konstruktiv auf die Rahmung von Wohnsituationen einlassen, in denen Menschen eine bzw. ihre Heimat – in einer je aktuellen biographischen Lebenssituation – finden können. Bibliographie Bündnis 90 / Die Grünen (Hrsg.): »Was ist Heimat?«, unter: https://www.gruene. de/partei/was-ist-heimat.html (Stand: 29. 03. 2018). Hellwig, Frank H.: »Heimat denken – ein biologischer Streifzug«, in: Costadura, Edoardo / Klaus Ries (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 81–106. Hofmann, Jürgen: »Heimat als Realitätsbezug. Überlegungen zum marxistischen Heimatbegriff«, in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, 7. Jg., Heft 14, 1987, S. 24–30. Liedtke, Ann-Kathrin: »Heimat, (k)ein linkes Konzept. Im Gespräch mit Bodo Ramelow«, in: taz, o. J., vgl. auch http://www.taz.de/!165056/ (Stand: 29. 03. 2018). Lückoff, Janina: »Neues Heimatministerium: Dient Bayern Seehofer als Blaupause?«, in: Bayerischer Rundfunk 24 vom 14. 03. 2018; https://www.br.de/ nachrichten/dient-bayern-seehofer-als-blaupause-fuer-den-bund-100.html (Stand: 16. 03. 2018). Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): »Heimat«, unter: https://www.mhkbg.nrw/ index.php (Stand: 16. 03. 2018).
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Jürgen Hasse
Raulet, Gérard: Natur und Ornament. Zur Erzeugung von Heimat. Darmstadt und Neuwied 1987. Spranger, Eduard: Der Bildungswert der Heimatkunde (zuerst 1923), Stuttgart 1967. Strauß, Elisabeth / Hanna Lauterbach: »Sophia peregrina. Von der Heimatlosigkeit der Frauen in der Philosophie«, in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, 7. Jg., Heft 14, 1987, S. 31–39. Türcke, Christoph: Heimat. Eine Rehabilitierung, Springe 2006.
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Hermann Schmitz
Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen
Was aber ist das Eigene? Anthropologisch und grundsätzlich gesprochen ist das Eigene das, was dem Betroffenen so nahegeht, dass er nicht umhin kann, sich selbst als den so Betroffenen zu spüren. Ich spreche dann vom affektiven Betroffensein. Das affektive Betroffensein ist also die Grundlage des Selbstbewusstseins unabhängig davon, ob der Betroffene reflektieren und sprechen kann. Dies ist erst eine relationale Charakteristik des affektiven Betroffenseins als Eigenschaft von etwas, was dem Betroffenen widerfährt. Es ist nun aber wichtig, zu suchen, ob dieses affektive Betroffensein auch eine absolute Eigenschaft hat, irgendein Merkmal, das es von anderem abhebt, damit man tatsächlich sagen kann, das was dieses Merkmal besitzt, ist geeignet, als affektives Betroffensein dem Betroffenen nahezugehen. Ein solches absolutes Merkmal findet man, wenn man zu den Sachverhalten übergeht. Sachverhalte sind ganz oberflächlich und noch begrifflich nicht endgültig, wohl aber richtig und auch eindeutig zu charakterisieren als dasjenige, was im Deutschen etwa in Dass-Sätzen beschrieben und als wahr behauptet werden kann. Sachverhalte haben die Eigenschaft, dass sie in Frage gestellt und behauptet werden können, und unter den Sachverhalten sind die Tatsachen diejenigen Sachverhalte, die in wahren Behauptungen ausgesagt werden können. Bei genauer begrifflicher Einführung auch der Wahrheit muss man das alles etwas anders fassen. Aber diese Einführung ist erstmal klar genug, um zu sagen, was Sachverhalte und Behauptungen sind. Nun gibt es unter den Sachverhalten und den Tatsachen eine genaue Unterscheidung, auf die es mir jetzt ankommt. Objektiv oder neutral sind solche Sachverhalte, die jedermann aussagen 25 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Hermann Schmitz
und behaupten kann, wenn er nur genug weiß und gut genug sprechen kann, mindestens also der allmächtige und allwissende Gott. Nicht alle Sachverhalte und Tatsachen sind in diesem Sinne neutral oder objektiv. Ich gebrauche diese Worte sinngleich, neutral und objektiv. Objektiv etwa in dem Sinn, wie man sagt, dass man in einer rein objektiven Sicht irgendetwas prüft, dass man objektiv urteilt und dergleichen; dann hat man es mit solchen neutralen Behauptungen zu tun. Es gibt nun aber außerdem noch subjektive Tatsachen und das sind die Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass höchstens einer im eigenen Namen sie aussagen kann. Für den Fall, dass beispielsweise ich traurig oder fröhlich bin, ein anderer dasselbe sagt, dass ich traurig oder fröhlich bin, so kann er nicht denselben Sachverhalt meinen, denn er ist nicht ich. Wohl aber kann er sagen, dass Hermann Schmitz traurig oder fröhlich ist. Das ist nämlich ein neutraler Sachverhalt, der also auch unabhängig davon, dass ich selbst Hermann Schmitz bin, ausgesagt und behauptet werden kann. Es gibt auch andere Sachverhalte als die des affektiven Betroffenseins. Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins haben nun die Eigenschaft, dass sie nicht nur aus sprachlichen, sondern auch aus sachlichen Gründen nur von höchstens einem ausgesagt werden können, nämlich dem Betroffenen. Es gibt zwar auch sprachliche Formulierungen, bei denen man ebenso sagen kann, sie können doch von keinem anderen nachgesprochen werden und dennoch denselben Sachverhalt behaupten. Um ein Beispiel eines amerikanischen Theoretikers heranzuziehen, der Sachverhalt, der durch die Worte »ich bin Thomas Nagel« ausgedrückt wird, für den Fall, dass diese Tatsache jetzt keineswegs im Licht des affektiven Betroffenseins steht, sondern lediglich eine gleichgültige Feststellung ist, etwa bei irgendeiner Behörde oder wenn man sich irgendwo vorstellt. ln diesem Fall ist es zwar nicht möglich, dass ein anderer dieselbe Tatsache meint, wenn er dieselben Worte gebraucht, aber eine Umformulierung ist ganz leicht möglich, indem er etwa sagt, »die hier anwesende und sich vorstellende Person heißt Thomas Nagel«; das ist in der Tat dieselbe Tatsache. Es kommt auf die Formulierung in der ersten Person, die unvertretbar ist, nicht an. Es ist auch eine Formulierung möglich, 26 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen
die irgendein anderer vornehmen kann. Ganz anders steht es aber bei den Tatsachen des affektiven Betroffenseins, wenn ich nicht merke und nicht weiß, dass ich gerade der Betroffene bin. Bei der Umformung in die objektive Tatsache, dass Hermann Schmitz so betroffen ist, kommt etwas ganz anderes heraus, sofern ich nicht gleichzeitig dessen inne bin, dass ich selbst dieser Hermann Schmitz bin. Diesen ganz großen Unterschied, der die Tatsachen des affektiven Betroffenseins auszeichnet, kann man an einer Erzählung ablesen, die ich frei nach Dürrenmatt gestaltet habe. Diese Erzählung geht so: Ein schmächtiger Besucher, der einen hünenhaften Dichter bewundert, kommt zu seinem Idol zu Besuch und empfängt von diesem Idol die Mitteilung, dass der Dichter die Absicht hat, einen lebenden Menschen zum Fenster heraus zu stürzen, um die Reaktion des Geängsteten in Todesangst in vivo zu studieren, was für des Dichters Menschenkenntnis notwendig sei. Der Besucher hört sich diese Mitteilung mit behaglichem Grausen an, bis er an der allmählich immer genaueren Beschreibung des zu stürzenden Opfers plötzlich merkt, dass er selbst es ist, der gestürzt werden soll. ln diesem Augenblick verwandelt sich sein behagliches Grausen in ein Entsetzen, das sich an seinen panischen Reaktionen abzeichnet und von seinem vorherigen Benehmen deutlich unterscheidet. Was ist denn nun geschehen? Es handelt sich nicht darum, dass irgendeine Eigenschaft oder irgendein Merkmal des Betreffenden hinzugekommen ist. Das kann kein ganz gleichgültiges äußeres Merkmal, etwa eine Warze an der Nase, sein, sondern es handelt sich darum, dass der Betreffende den Sachverhalt gemerkt hat, dass er selbst derjenige ist, der zum Fenster herausgestürzt werden soll. Das ist nun keine weitere Eigenschaft, kein weiteres Merkmal, sondern alle diese Merkmale, die auf den betreffenden Menschen zutreffen, können beliebig genau charakterisiert werden, aber nur der Sachverhalt, die Tatsache, dass er selbst das ausersehene Opfer ist, diese Tatsache allein, nicht irgendeine Eigenschaft oder irgendeine Beziehung, also nicht irgendein Attribut des ausersehenen Opfers, ist dasjenige, was dem Sachverhalt dieses ganz besondere Gewicht gibt und ihn vor bloß objektiven oder neutralen Sachverhalten auszeichnet. Diesen 27 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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Sachverhalt aber kann tatsächlich nur er selbst beschreiben, denn eine Umschreibung, wie sie bei affektiv gleichgültigen Sachverhalten leicht möglich wäre, lässt gerade das Entscheidende, das Gewicht dieses besonderen Sachverhaltes für den Betroffenen außer Acht. Hier handelt es sich also um eine ganz besondere Klasse von Sachverhalten und namentlich von Tatsachen, die auch qualitativ nicht nur dadurch, dass sie den Betroffenen auf sich aufmerksam machen, von den neutralen oder objektiven Tatsachen unterschieden sind, dass höchstens der Betroffene selbst im eigenen Namen sie aussagen kann, obwohl die anderen sehr wohl in der Lage sind, sie zu benennen und zu kennzeichnen und daher darüber so gut wie er zu sprechen. Aber aussagen und behaupten können sie die betreffenden Tatsachen nicht. Dieses besondere Merkmal der Tatsachen des affektiven Betroffenseins wird im Folgenden wichtig werden, um sie auch qualitativ von anderen Tatsachen zu unterscheiden und durch ein präzises Merkmal dafür zu sorgen, dass die Tatsachen des affektiven Betroffenseins nicht mit irgendwelchen objektiven oder neutralen Tatsachen verwechselt werden, die lediglich in anderer Einstellung zur Kenntnis genommen würden, etwa besonders besorgt oder besonders intensiv. Diese Tatsachen des affektiven Betroffenseins haben ein Merkmal, das sie von den neutralen oder objektiven Tatsachen unterscheidet, dass höchstens ein einziger sie im eigenen Namen aussagen kann und das ist nicht nur an diesem Beispiel aus der Selbstbeobachtung zu entnehmen, sondern es ist auch allgemeiner Sprachgebrauch. Ich zeige das gerne an folgendem Beispiel, wofür ich eine Person mit dem Namen Peter Schulze als fiktive Figur benutze. Hier handelt es sich um ein Zwiegespräch, das eine Liebeserklärung enthalten soll. Das Zwiegespräch zwischen dem betreffenden Mann und der angesprochenen Frau verläuft so: Mann: »Peter Schulze liebt dich«, Frau: »Warum sagst Du nicht, ich liebe Dich?«, Mann: »Das ist doch ganz überflüssig«, Frau: »Das ist gar nicht überflüssig. Gerade darauf kommt es mir an.« Die Frau ist verstimmt. Diese Liebeserklärung ist missglückt. Was ist schiefgegangen? Der Mann will nur eine Formulierung gebrauchen, die beliebige andere ihm nachsprechen können, eine Formulierung, die zwar eine Tatsache behauptet, 28 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen
also selbst wahr ist, aber nicht nur ihm möglich ist, sie auszusprechen. Die Frau aber will etwas von ihm hören, was unter allen anderen Menschen nur er ihr sagen kann. Eine Tatsache, die ihr gegenüber nur er von sich behaupten kann; diese Tatsache betrifft sein affektives Betroffensein von der Liebe zu ihr. Das Verhalten der Frau ist ganz natürlich und entspricht der üblichen Ausdrucksweise. Daraus ergibt sich also, dass schon der ganz gewöhnliche Sprachgebrauch mit solchen Tatsachen des affektiven Betroffenseins rechnet, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Das ist nicht nur ein Ergebnis, das sich aus der Selbstbesinnung ergibt, sondern man kann es auch am gemeinen Sprachgebrauch ablesen. Hiermit ist klar, dass die Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die jemandem nahegehen, wie etwa dem Besucher im Beispiel von Dürrenmatt, der merkt, dass er selber der ist, der zum Fenster herausgestürzt werden soll, vor den objektiven Tatsachen ausgezeichnet sind. Es ist klar, dass alle diese Tatsachen einen besonderen Bereich ausmachen im Gebiet derjenigen Tatsachen, die tatsächlich jedem zugänglich und jedem verständlich sind. Jeder versteht auch ein Liebesgeständnis, aber er kann es nicht dem Sinn nach gleich nachsprechen. Insofern haben die Tatsachen des affektiven Betroffenseins eine Sonderstellung. Es ist nicht mehr möglich, sie auf die Einstellung des Betroffenen zu genau denselben Sachverhalten und Tatsachen zurückzuführen. Vielmehr sind dies in ganz besonderem Sinne seine ihm vorbehaltenen Tatsachen und Sachverhalte, die höchsten er im eigenen Namen aussagen kann, und in der Weise, dass er im Betroffensein von diesen Tatsachen spürt, dass er selbst der ist, um den es sich handelt. Diese Charakteristik des affektiven Betroffenseins ermöglicht nun eine genauere Charakteristik des Eigenen im Gegensatz zum Fremden. Zunächst sind eigen für jemanden genau die Tatsachen, die durch die Subjektivität für ihn ausgezeichnet ist, dass höchstens, wenn auch nicht immer, er in der Lage ist, sie im eigenen Namen auszusagen. Zweitens gehören zum Eigenen aber auch noch weitere Bedeutungen, wie ich sage, nämlich außer den Tatsachen auch noch viele andere untatsächliche Sachverhalte, Wünsche und Sorgen, also Programme und Probleme, und zwar haben 29 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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sie dieselbe Eigenschaft der exklusiven Aussagemöglichkeit. Ich zeige das an den Wünschen und an den Sorgen, indem ich von Offizieren vor einer und während einer Schlacht spreche. Es kann sich auch um die Politiker vor und während eines demokratischen Wahlkampfes handeln. Für die Offiziere vor der Schlacht ist der Schlachtplan nicht nur ein Programm, sondern auch ein Wunsch, nämlich der, dass die Schlacht nach diesem Plan erfolgreich verlaufen möge. Und während des kritischen Standes der Schlacht ist der Schlachtplan nicht nur ein Wunsch, sondern auch eine Sorge, ein Problem, nämlich ein sie subjektiv in Anspruch nehmendes, im affektiven Betroffensein in Anspruch nehmendes Problem, ob das nun gelingen wird. Für den nachträglich urteilenden Historiker oder den Geschichtslehrer, der einer gelangweilten Klasse davon erzählt, ist das betreffende Programm, das betreffende Problem ein nur noch neutrales oder objektives Programm beziehungsweise Problem genau in dem Sinn, wie das auch bei den Sachverhalten und Tatsachen der Fall ist. Unter den Sachverhalten nun sind einige mit der exklusiven Subjektivität des Aussagenkönnens behaftet, andere aber nicht. Behaftet damit sind diejenigen Sachverhalte, die für den Betroffenen mit affektivem Betroffensein beladen sind, also mit all dem, was er hofft oder fürchtet oder wohin er sich mit affektivem Betroffensein hineinträumt, auch dann, wenn es sich dabei um Illusionen handelt, sodass die betreffenden Sachverhalte keine Tatsachen sind. Dagegen gibt es viele Sachverhalte, die nicht in diesem Sinne für jemand subjektiv sind, wenn es sich etwa um bloße neutrale Annahmen handelt, die man ebenso gut verwerfen kann oder wenn einer sich verstellt und eine Lüge erzählt. Bei den Sachverhalten muss man also unterscheiden. Ich fasse alle diese Sachverhalte, Programme und Probleme unter dem Titel der Bedeutungen zusammen. Unter den gesamten Bedeutungen gibt es mit der angegebenen Eigenschaft außer den neutralen und objektiven auch die für jemand subjektiven. Es gibt nun aber auch im Bereich des Eigenen im Gegensatz zum Fremden sehr viele Sachen, die nicht nur solche Bedeutungen sind, nicht nur Sachverhalte, Programme und Probleme, sondern irgendwelche Sachen, und diese Sachen kann man durch folgendes Merkmal charakterisie30 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen
ren: Sie gehören zum Eigenen, wenn der Sachverhalt – ganz egal, ob es eine Tatsache ist –, dass sie existieren, die Eigenschaft besitzt, dass die betreffenden Sachverhalte für den Sprecher subjektive Sachverhalte sind, die höchstens er im eigenen Namen aussagen kann. Wenn das der Fall ist, dann gehören auch die betreffenden Sachen für den betreffenden Menschen zu dem, was ihm eigen ist. Man kann dieses begriffliche Merkmal auch populär so ausdrücken: Zum Eigenen gehört an Sachen alles Beliebige, woran der Betreffende mit Zuneigung oder Abneigung, mit Zuwendungs- oder Fluchttendenz hängt, wovon er also affektiv so betroffen ist, dass diese Reaktionen bei ihm ausgelöst werden. Hier müssen wir noch einen Unterschied machen. Es gehört nämlich vieles nicht zum Eigenen, obwohl der Betreffende es wichtig nimmt, wenn es ihm nämlich nicht an ihm selbst wichtig ist, sondern nur wegen seiner Dienlichkeit für etwas anderes. Als Beispiel wähle ich einen Schüler, der die Mathematik hasst oder dem sie völlig gleichgültig ist. Obwohl er mathematisch unbegabt und mathematisch gar nicht interessiert ist, nimmt er im Unterricht die Mathematik wichtig und versucht, sich bei Mathematikaufgaben mit einigem Geschick mindestens durchzuhelfen, weil er weiß, dass der Erfolg in Mathematik für seinen gesamten Schulerfolg, der ihm auch affektiv wichtig ist, unerlässlich ist. ln einem solchen Fall gehört also der gesamte mathematische Lehrstoff für einen solchen Schüler nicht etwa zu dessen Eigenem, sondern zum Fremden, weil er nur sekundär durch seine Dienlichkeit für ihn wichtig ist und nicht an sich selbst. So kann der Bereich des Eigenen im Gegensatz zum Fremden abgegrenzt werden. Es ist nun außerordentlich wichtig, dass es vom Fremden keinen Übergang zum Eigenen gibt. ln der Tat können genau dieselben Attribute, dieselben Merkmale, seien es Eigenschaften oder Relationen, einer Sache zukommen, wenn diese, also etwa derselbe Mensch, affektiv betroffen ist und zwar so, dass es sowohl die objektiven oder neutralen Tatsachen gibt, als auch das betreffende Merkmal des affektiven Betroffenseins. Daraus ergibt sich, dass durch gar keine Anhäufung von Eigenschaften und Merkmalen von den objektiven Tatsachen aus die subjektiven zu erreichen sind, denn welche Merkmale und Eigenschaften auch im31 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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mer noch hinzukommen, sie können ja im Bereich der subjektiven Tatsachen ebenso auftauchen, und dann gibt es keineswegs irgendeinen Überschuss an solchen Eigenschaften. Also die Distanz zwischen den objektiven und den subjektiven Sachverhalten bleibt genauso groß wie auch immer man Attribute des Betreffenden bei der Darstellung objektiver Tatsachen anhäufen mag. Es kann zum Beispiel keinen kausalen Übergang geben durch irgendeine Eigenschaft objektiver Tatsachen, die ja daraus subjektive Tatsachen machte, denn das wäre eine solche Relation, und es wurde bereits bewiesen, dass sie keineswegs den Übergang schafft. Es ist also unmöglich, von objektiven Tatsachen auch durch noch so große Anhäufung ihres Inhaltes die subjektiven Tatsachen aufzubauen. Wohl aber und das ist jetzt für den Gegensatz des Eigenen und Fremden wichtig, ist es möglich, die Subjektivität für jemand von den subjektiven Tatsachen abzuschälen, so dass nur noch die bloß objektiven Tatsachen übrigbleiben. Was dabei verlorengeht, wird vielleicht deutlich aus einer Bemerkung im 11. Kapitel des 1. Buches von Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre. Wilhelm erzählt dabei von einem Jugenderlebnis, bei dem er zum ersten Mal von einem schönen und freundlichen jungen Mädchen erotisch gefesselt war und zum ersten Mal einen Freund hatte, mit dem er hoffte darüber sprechen zu können, was dann nur durch einen unglücklichen Zwischenfall vereitelt wurde. Wilhelm fügt nun folgende Reflexion daran: »Und wenn ich hier noch eine Betrachtung anknüpfe, so darf ich wohl bekennen: daß im Laufe des Lebens mir jenes erste Aufblühen der Außenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles übrige, was uns nachher zu den Sinnen kommt, nur Kopien zu sein scheinen […]. Wie müßten wir verzweifeln, das Äußere so kalt, so leblos zu erblicken, wenn nicht in unserm Innern sich etwas entwickelte, das auf eine ganz andere Weise die Natur verherrlicht, indem es uns selbst in ihr zu verschönen eine schöpferische Kraft erweist« 1.
1
Goethe, Johann Wolfgang: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, zweites Buch, 11. Kapitel, in: Goethes Sämtliche Werke (hrsg. von Curt Noch), Berlin 1829, 41. Band, S. 226.
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Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen
Soweit Wilhelm Meister. Was ist hier nun verlorengegangen? Im Anfang, in dem ersten Erlebnis sind alle Tatsachen, Programme und Probleme, alle Bedeutungen noch für den Betroffenen Subjektivität, erfüllt mit seinem affektiven Betroffensein. Später lernt er die Entfremdung, diese ganz besondere Bedeutung, wie sie für den Besucher von Dürrenmatt ein gewisses bevorstehendes Ereignis durch den Umstand gewinnt, dass er selbst zum Fenster herausgestürzt werden sollte. Diese ganz besondere Bedeutsamkeit fehlt eben weitgehend im späteren Leben, beim ersten Aufblühen der Außenwelt ist sie noch ganz da. Das heißt, die subjektiven Tatsachen, die subjektiven Bedeutungen sind um Vieles reicher, das heißt gewissermaßen blutvoller, intensiver, lebendiger als die bloß noch objektiven Tatsachen, die nach Abschälung der Subjektivität übrigbleiben, obwohl quantitativ, der Ausdehnung des Horizontes nach, diese Tatsachen mit denen der erwachsene Mensch lebt, sehr viel umfangreicher und sehr viel besser durchgegliedert sind. Aber es geht gewissermaßen eine Qualität, eine Eigenart verloren, die ich als die Subjektivität der Bedeutungen eben beschrieben habe. Das ist nun der Weg des Abstiegs von der ursprünglichen Subjektivität aller Bedeutungen zu dem Zustand, den die Bedeutungen weitgehend im späteren Leben annehmen. Der Mensch lernt nämlich, die Subjektivität, dass es sich bei etwas um ihn selber handelt und zwar im affektiven Betroffensein, diese Subjektivität abzuschälen, indem er das, was ihn betroffen macht, andererseits auch als neutrale Tatsache in Augenschein zu nehmen lernt, wobei sehr oft die subjektive Tatsache und Bedeutung nicht ganz verlorengeht, sondern mehr oder weniger erhalten bleibt, aber gewissermaßen vermischt mit einer objektiven Tatsache oder einer objektiven Bedeutung oder davon wenigstens begleitet. Das ist der Normalzustand des Erwachsenen. Die Abgrenzung zwischen der persönlichen Eigenwelt und der persönlichen Fremdwelt in der persönlichen Welt ist der entscheidende Schritt zur Konsolidierung der Person. Die Person erhebt sich aus dem Leben in primitiver Gegenwart, indem alle Situationen vom Affekt überschwemmt sind, durch personale Emanzipation zu einer Person, die sich als Fall mehrerer Gattungen vereinzelt und einen Spielraum gewinnt, sich als dieses oder als jenes, je 33 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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nachdem, wie sie das Gewicht auf die einzelnen Gattungen legt, selbst zu bestimmen. Diese Fähigkeit der Person ist also abhängig einerseits von der Vereinzelung und andererseits von der Neutralisierung der Bedeutungen. Die Vereinzelung besteht darin, dass aus den Situationen Bedeutungen verschiedener Art, Sachverhalte, Programme und Probleme und dann auch unter den Sachverhalten Gattungen freigesetzt werden, unter denen etwas als Fall dieser Gattungen einzeln sein kann und als Fall mehrerer Gattungen identisch mit etwas im Sinne relativer Identität. Dadurch gewinnt die Person ihren Spielraum der Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung entwickelt sich aber nur, wenn zugleich die Person die ursprünglich für sie subjektiven Bedeutungen die Sachverhalte, Programme und Probleme, mindestens zum Teil zu neutralisieren lernt, das heißt so, dass sie nicht mehr als ihr Eigenes im affektiven Betroffensein unmittelbar zugehören, sondern in die Distanz von neutralen Bedeutungen gesetzt sind, die jeder sagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann. Und aus der Neutralität solcher Bedeutungen ergibt sich in der angegebenen Weise das Fremde im Gegensatz zum Eigenen. Damit gewinnt die Person nicht nur eine persönliche Fremdwelt, der sie ihre persönliche Eigenwelt einordnen kann, sondern diese persönliche Eigenwelt gewinnt auf diese Weise auch einen Umriss, eine Kontur, während sie anderenfalls mehr oder weniger in alles ergossen wäre, wie im vorpersonalen Leben mit affektivem Betroffensein, wo die Person noch nicht einzeln ist, wenn auch schon absolut identisch. Indem die Person sich in dieser Weise abgrenzt, gewinnt sie die Möglichkeit, innerhalb ihrer persönlichen Eigenwelt ihre persönliche Situation zu entwickeln, ihre Persönlichkeit, worüber ich an anderer Stelle viel gesagt habe, was ich hier nicht zu wiederholen brauche. Diese Konturierung der Person durch Abgrenzung der persönlichen Eigenwelt gegen die persönliche Fremdwelt ist ein ganz entscheidender Gewinn, an dem das Reifen über das Kindesalter hinaus hängt. Insbesondere ist auch die Zeit der Pubertät eine wichtige Vermittlung zwischen der noch weniger abgegrenzten Persönlichkeit des Kindes und der dann durch Vereinzelung und Neutralisierung von Bedeutungen viel stärker abgegrenzten 34 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen
Persönlichkeit des Erwachsenen, wobei man aber immer bedenken muss, dass es breite Grauzonen zwischen Eigenwelt und Fremdwelt gibt, in denen das Eigene in das Fremde ausströmt, sei es in Parallelführung oder in Vermischung. Wenn die Abhebung der persönlichen Eigenwelt gegen die persönliche Fremdwelt ausbleibt, befindet sich die Person noch auf einer mehr oder weniger kindnahen oder kindlichen Stufe. Sie wird dann weitgehend von Impulsen geleitet, die nicht ihrer Besonnenheit als Person und ihrer Entscheidung als Person unterstehen. Ich habe drei Menschentypen unterschieden in Anlehnung an die Typologie von C. G. Jung und bereichert durch einen weiteren Menschentyp, die sich auf diese Abgrenzung zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt beziehen. Zunächst den des extravertierten Menschen, das ist ein Mensch, bei dem die Grenze zwischen Eigenwelt und Fremdwelt verhältnismäßig schwach gezogen ist, sodass er also in Gefahr ist, sich zu verzetteln, indem er sich nicht in seine Eigenwelt zurückziehen kann und die Umwelt von ihm in gewisser Weise beschlagnahmt wird, indem er einerseits zu großartigen Opfern fähig ist, indem er sich einsetzt für das, was ihm sonst fremd sein könnte, aber nicht wirklich geworden ist und indem er andererseits irgendeine Herrschaft, irgendeine großartige maßgebende Rolle gegenüber diesem Umgebenden auszuüben sucht, weil es ihm nicht im Vollsinn fremd geworden ist. Diese Kindlichkeit hindert aber natürlich andererseits nicht unbedingt die Entwicklung einer mehr oder weniger reifen eigenständigen Persönlichkeit, die sich von den anderen abhebt. Aber die Grenze ist nicht so deutlich. Bei beiden anderen Menschentypen ist die Grenze zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt scharf gezogen. Der eine Typ ist der des Introvertierten, der also diese scharfe Grenze kennt und dabei den Akzent seiner Zuwendung auf die persönliche Eigenwelt legt. Seine Gefahr ist also die Bedrohung an der Grenze, gegen die er sich eventuell durch Rückzug oder durch Abpanzerung zu wehren sucht. Der dritte Typ nun, den ich hinzugefügt habe, ist der des Ultrovertierten, des nach Jenseits gewendeten, und damit meine ich, dass für diesen Menschentyp die Grenze zwischen persön35 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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licher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt genauso scharf ist wie für den Introvertierten, aber der Schwerpunkt seiner Zuwendung auf der persönlichen Fremdwelt liegt und zwar deswegen, weil Vieles von seiner persönlichen Eigenwelt in der vorhin angegebenen Weise in die persönliche Fremdwelt mit unscharfer Begrenzung ausfließt. Zu diesem Menschentyp des Ultrovertierten gehören die rein sachlich orientierten Menschen, beispielshalber Tyrannen, wie Napoleon, die man ganz gewiss nicht als introvertiert oder als extrovertiert bezeichnen wird. Sie kennen sehr wohl die Grenze zwischen dem Eigenen und Fremden, aber das Eigene ist ihnen nicht so wichtig, sie gehen darüber hinweg, und sie suchen etwas Fremdes, etwa die Weltherrschaft oder dergleichen. Andere Möglichkeiten sind nun zum Beispiel der kühle Manager, der rein sachlich denkende Gelehrte und auch der Arzt, der sächsische Grundtoffel, der sich für irgendwelche sachlichen Probleme, wenn sie nur knifflig sind, um ihrer selbst willen interessiert (wieviel von ihm dabei involviert ist, das ist ihm ziemlich egal) und viele andere Menschen, zum Beispiel auch Fanatiker, die bloß von einer unpersönlichen Idee fasziniert sind und alles Persönliche dagegen hintan setzen; das alles sind Ultrovertierte. Sie kennen den Unterschied, aber sie überspielen ihn durch den Schwerpunkt ihrer Zuwendung, der nach Jenseits, nämlich in die persönliche Fremdwelt gelegt wird. Diese drei Menschentypen markieren Möglichkeiten, mit der Grenze zwischen den beiden Teilwelten in der persönlichen Welt des Individuums umzugehen. Wenn diese Grenze nicht entwickelt wird, wenn also keine persönliche Fremdwelt von genügender Stärke so zur Verfügung steht, dass sich die persönliche Eigenwelt dagegen abheben kann, so bleibt die Persönlichkeit in gewissem Sinne unreif. Dies ist nun auch außerordentlich wichtig für das Verhältnis zur Heimat. Die Heimat ist ein Teil der persönlichen Eigenwelt des Individuums, und zwar derjenige Teil, der aus Sachen besteht, die im angegebenen Sinnen eigen und nicht fremd geworden sind, dadurch dass das Individuum in Zu- und Abneigung daran hängt oder in exakter Ausdrucksweise, dass der Sachverhalt, dass diese Sachen existieren, für es subjektiv ist, sei er eine Tatsache oder wie bei Täuschungen und Fiktionen ein untatsächlicher 36 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen
Sachverhalt. Die Heimat gehört also in dieser Weise zum Eigenen der Person, und zwar als der geografische Bereich, der entweder angestammt ist oder (es kann auch eine erworbene Heimat sein) in die man sich so eingewöhnt hat, so dass sie zur persönlichen Eigenwelt gehört. Die Art und Weise dieser Heimat, welche natürliche Beschaffenheit, natürliche oder von Menschen bewirkte Beschaffenheit, das ist für ihre Qualität als Heimat ziemlich gleichgültig. Es kommt nur auf die Zugehörigkeit zur persönlichen Eigenwelt an, und deswegen ist es vollkommen falsch, wenn man die Heimat gewissermaßen verniedlicht, wenn man zu ihr als notwendiges Zubehör irgendwelche idyllischen oder sentimentalischen Züge rechnet. Das ist keineswegs nötig. Die Heimat ist nicht an Dörfer gebunden, an besonders schöne Lagen oder an stille Täler und dergleichen. Es kann ebenso die Heimat in einer Großstadt liegen, zum Beispiel in Berlin, in Wedding, wo Maler wie Zille und dergleichen die Hinterhöfe gezeichnet haben. So ein Hinterhof kann ebenso als Heimat empfunden werden. Ich erinnere an den Schlager »Eine Tüte Luft aus Berlin möge mir mal wieder durch die Nase ziehen«, wo die Sträucher oder die Blumen so schön blühen. Das ist genauso gut ein Heimatgefühl, ohne dass eine besonders üppige Vegetation erforderlich wäre. Aber immerhin ganz ohne Vegetation wäre es für die Erinnerung schwer, sich daran zu halten, doch ist das auch möglich, wenn die Heimat auf einem Areal von Hinterhöfen zwischen Häuserblocks beschränkt ist. Ebenso sind die Russen für ihre Heimatliebe berühmt, und ich kenne dafür auch ein sehr prägnantes Beispiel, das sich auf eine Landschaft von weiten, öden Flächen, der Steppe und schwer durchdringlichen Wäldern bezieht. Das hat gewiss seinen Reiz, aber es ist eigentlich kein besonders idyllischer und nicht besonders niedlicher Reiz. Insofern ist die Heimat relativ unabhängig von irgendwelchen besonders einladenden und das Gemüt ansprechenden Reizen. Es kommt vielmehr nur auf die Subjektivität an, die sich eine persönliche Eigenwelt verschafft, in der nun die besondere Intensität der subjektiven Tatsachen, der subjektiven Bedeutungen überwiegt und das Fremde relativ wenig Einlass hat. Mag auch diese Heimat nun beschaffen sein wie sie wolle; Heimat ist in diesem Sinne ein ontologischer Begriff, letztlich zurück37 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Hermann Schmitz
gehend auf die Differenz zwischen subjektiven und neutralen Tatsachen. Sie ist nicht gebunden an irgendwelche Eigenschaften, die die Welt vielleicht durch die Umgestaltung zum neutralen Raum des Umherreisens, des beliebigen Umherreisens erhalten hat. Wohl aber ist die Abgrenzung zwischen der Heimat und dem was draußen ist, außerordentlich wichtig für die Reifung der Persönlichkeit. Wenn ein Mensch als Kosmopolit einfach überall und gleichmäßig wohnen kann, dann entgeht ihm ein großer Teil der Möglichkeit, seine Persönlichkeit zu konsolidieren durch Einbettung in eine persönliche Eigenwelt, in der seine Persönlichkeit, seine persönliche zuständliche Situation gedeihen kann. Insofern ist also der Kosmopolitismus, der heute im Überhandnehmen der Reisemöglichkeiten liegt, eigentlich ein Gegensatz für das Ideal persönlicher Reifung, der Ausbildung von konsolidierten Persönlichkeiten. Die Absicht dieses meines Vortrages war, den Irrtum zu beseitigen, dass die Heimat im Wesentlichen etwas mit Veränderungen der Umwelt in unserer Zeit zu tun hat. Das Schwinden der Heimat und ihrer Bedeutsamkeit für die Entfaltung von Persönlichkeiten ist vielmehr bedingt durch die Änderung in der Einstellung der Menschen, dass sie nämlich diese vielfältige Veränderung der äußeren Umwelt benützen, um sich die Heimat gewissermaßen abzugewöhnen, was gar nicht nötig wäre, weil die Heimat in vielen, in ganz verschiedenen Umwelten gleichermaßen gedeihen kann als das, was dem Menschen eben eigen ist aufgrund der Subjektivität dessen, was für ihn eine subjektive Tatsache ist, dadurch dass er in sie in ganz besonderer Weise involviert ist. Diese ontologische Begründung der Heimat anstelle einer gewissermaßen umweltgeografischen Begründung wollte ich mit diesem Vortrag deutlich gemacht haben.
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Jürgen Hasse
Heimat – ambivalente Gefühle
Es mag für die Massenkultur der Spätmoderne charakteristisch sein, dass die Weisheiten von Popsängern und anderen Stars der Kulturindustrie tiefer und nachhaltiger ins Bewusstsein der Menschen eindringen als Substanzielles. So war es Herbert Grönemeyer, der in einem Lied zum Besten gab, dass Heimat kein Ort, sondern ein Gefühl sei. In einem Blog wurde das umgehend vielfarbig annotiert und variiert. 1 So groß die spontane Zustimmung auch sein mochte – so einfach scheint es mit dem Tausch »Ort gegen Gefühl« nicht zu sein. Schon auf dem Niveau der Lokalpresse verwirrt sich der Sinn. Die Tegernseer Stimme (eine Online-Zeitung für die Gemeinden um den Tegernsee) fragt mit unmittelbarem Bezug zu Grönemeyers Heimat-Philosophie: »Was tust Du eigentlich für Dein Tal?« 2 Die Antwort der Internet-Gemeinde lässt nicht lange auf sich warten: »also sollte es mal ein Wochenende geben, an dem ich wirklich frei hab, dann bin ich im Tal, versteht sich ja von selbst; warum weit fahren, wenns bei uns vor der haustüre so schön ist!?«. Deutlicher könnte es kaum werden. Der Gegensatz von Raum und Gefühl geht ins Leere. Heimat scheint zumindest etwas Doppeltes zu sein: Raum und Gefühl. In welcher Beziehung stehen Raum und Gefühl zueinander? Und welche Rolle spielt die Zeit? Dabei darf schon an dieser Stelle vorausgesetzt werden, dass Heimat nichts mit dem geodätischen 1
Vgl. N.N.: Zitate online.de, unter: http://www.zitate-online.de/sprueche/pro minente/18313/heimat-ist-kein-ort-heimat-ist-ein-gefuehl.html (Stand: 18. 06. 2018). 2 Tegernseer Stimme, Ausgabe 01. 09. 2011, unter: http://www.tegernseerstimme. de/heimat-ist-kein-ort-heimat-ist-ein-gefuhl-oder-was-tust-du-eigentlich-furdein-tal/27378.html (Stand: 10. 02. 2014).
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Jürgen Hasse
Raum und ebenso wenig mit der abstrakten Zeit zu tun hat. Gefühle der Zugehörigkeit entfalten sich im gelebten Raum (Dürckheim) und in der gelebten Zeit (Minkowski). In der Dauer des Mit-seins im Prozess eines vielschichtigen Werdens bilden sich emotionalisierte Netze in und zu einem Herum. In dem, was Menschen auf bestimmte Weise in und mit einer Umgebung tun, spinnen sich die Fäden ebenso wie durch die Art und Weise, wie sie sind – zu Dingen, zur Stadt, zur Landschaft und zu anderen Menschen. Weil Heimat einen utopischen Kern hat, gibt es sie nur als Kompromiss, als eine ambivalente Zustimmung zu raumund ortsbezogenen Lebensformen mit anderen. 1.
Heimat – ein ambivalentes Gefühl
Das folgende Beispiel illustriert gebrochene Heimaten, in denen sich – fern jedes Romantizismus – Momente der Heimatlosigkeit gewissermaßen im heimatlichen Provisorium ausdrücken. New Yorker Bauarbeiter stießen im Jahre 1991 auf Menschen, die in den dunklen Gängen und Räumen eines stillgelegten Eisenbahntunnels lebten. Die »homeless people« hatten sich in der Weite der Dunkelheit und der Enge der unterirdischen Räume mit einfachsten Mitteln eingerichtet. »Manny«, der zur Zeit des mit ihm geführten Interviews seit ungefähr einem Jahr im Tunnel lebte und Sozialhilfe bezog, sagte: »Im Tunnel fühle ich mich sicher, denn ganz egal, was du für ein Mordskerl bist, selbst wenn du ’ne Pistole hast oder eine andere Waffe – wenn du nie drin warst und nicht weißt, wohin der Weg führt –, hier ist nicht mal ein Schimmer Licht, alles stockdunkel. Da bis du aufgeschmissen. […] es ist dermaßen finster, daß du nicht mal die Hand vor den Augen siehst.« 3
Die Enge der Tunnelarchitektur wie die Weite der Dunkelheit vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Dabei steht die emp3
Margaret Morton: Der Tunnel. Die Obdachlosen im Untergrund von New York City (OU), München u. a. 1995, S. 55.
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Heimat – ambivalente Gefühle
fundene Enge des Tunnels in einer Beziehung zur Weite des Dunklen und der sich in einem scheinbaren Nichts verästelnden Räume. Aus der Perspektive eines in »normalen« Verhältnissen (oberirdisch) Wohnenden dürften ähnliche Bedingungen ein angstvolles Gefühl der Enge evozieren. Dagegen sieht Manny in der Fremdheit der unterirdischen Welt eine Garantie für seine Sicherheit, denn in der Dunkelheit des Tunnels kann sich nur zurechtfinden, wer auch im Tunnel lebt. Die Dunkelheit ist ein »zähes Medium«, das in ihrer spezifischen Weite »wenig Bewegung zuläßt und gerichtete Impulse hemmt oder erst gar nicht aufkommen läßt.« 4 Für den, der in der Dunkelheit der unterirdischen Räume lebt, scheint das anders zu sein. In der Vertrautheit der »Tunnelmenschen« mit der dunklen Weite kehrt sich die Erlebnisqualität des atmosphärischen Raumes gleichsam herum. Die Weite der Dunkelheit und Enge der Räume vermittelt ihnen kein Gefühl des Fremd- und Bedroht-Seins, sondern ganz im Gegenteil eines gewissen Wohlbehagens und (zumindest vorübergehend) guten AufgehobenSeins: »Ich fühle mich wohl hier« sagt Manny. Larry, der einen anderen Tunnelraum bewohnt, sagt sogar explizit: »Das hier ist mein Zuhause« 5. In diesen Geschichten scheinen dystopische Facetten der Vergesellschaftung des Menschen vor. Im Allgemeinen gilt aber auch mit Christoph Türcke: »Je mehr Heimatlosigkeit die mobile, flexible neoliberale Welt mit sich bringt, desto mehr drängt sich Heimat auf.« 6 Ihre gänzliche, partielle oder temporäre Abwesenheit macht auf problembeladene Facetten aufmerksam. Im gesellschaftlichen Leben ist jeder heimatliche Raum mehr oder weniger von idiosynkratischen Störfeldern überspannt. Deshalb haben für Levinas »Heimat, Entfremdung und Entwurzelung eine positive Bedeutung« 7, denn die »Fremdheit gegenüber dem Sein« sei die 4
Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. 3: Der Raum. Teil 5: Die Wahrnehmung, Bonn 1989, S. 58. 5 Morton: Der Tunnel, S. 58. 6 Christoph Türcke: Heimat. Eine Rehabilitierung, Springe 2006, S. 8. 7 Ludger Hagedorn: »Heimat«, Stichwort in: Helmuth Vetter (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, Hamburg 2004, S. 256.
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»irreale Realität der Menschen« 8. Zur mythisch-utopischen Heimat gehört zumindest ihr dystopischer Schatten. Ohne ihn gäbe es keinen Grund für den bergenden und zugleich sedierenden Mythos des Heimatlichen. 1.1 Der Ort als »Drehpunkt« sozialer Beziehungen Die immer wieder aufscheinende Frage nach dem emotionalen Verhältnis von Ort und Heimat diskutierte in den 1960er Jahren der Soziologe Holger Treinen vor dem Hintergrund gesellschaftlich üblicher Formen des Wohnens an übersichtlichen Orten in Landschaften und Regionen. Er unterschied zwischen »symbolischer Ortsbezogenheit« und »Heimatgefühl«. Der Ort sei »das Vehikel, das die Vielzahl von Gefühlszusammenhängen trägt.« 9 Treinen verstand den Ort als »Drehpunkt« sozialer Beziehungen 10. Ortsbezogenheit drücke »nicht die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner physischen Umwelt« 11 aus, sie symbolisiere vielmehr menschliche Beziehungen. »Voraussetzung für die emotionale Besetzung eines Ortssymbols ist offenbar die Interaktion mit Menschen in einem bestimmten Situationszusammenhang, der den Ort betrifft.« 12 Ein Ort, eine Gegend oder ein landschaftlicher Raum wird als Ausdruck persönlicher und oft auch kollektiver Beziehungen mit Gefühlen aufgeladen. Landschaften spielen als räumliche Katalysatoren des Heimatlichen eine historisch herausragende Rolle. 13 Medium der Beheimatung ist aber nie die (Stadt-)Landschaft für sich. Gerade Landschaften sind – mit Nachdruck in spätmodernen Industrie- und High-Tech-Gesellschaften – Spiegel dessen, wie Menschen im Sinne Heideggers wohnen. Indem sich mit dem gesellschaftlichen Wandel auch die 8
Ebd. Holger Treinen: »Symbolische Ortsbezogenheit«. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 1 (1965), S. 78. 10 Ebd., S. 80. 11 Ebd., S. 79. 12 Ebd., S. 293. 13 Vgl. ebd., S. 295. 9
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Heimat – ambivalente Gefühle
Landschaften verändern, geraten sie als Milieu der Beheimatung auf einen Grat. Was sie in ihrem Gesicht atmosphärisch zu spüren geben, drückt sich auf dem Hintergrund persönlicher Bedeutungswelten oft in ambivalenten Gefühlen aus. Weil die ihnen anhaftenden Bedeutungen (über Identifikation oder idiosynkratische Abwehr) letztlich darüber mitentscheiden, ob Menschen bleiben wollen wo sie sind, ist die symbolische Besetzung von Landschaften und dem was sie verändert, politisch umkämpft. Der in Deutschland derzeit vor sich gehende Umbau der historischen Kulturlandschaft in eine Regenerative-Energien-IndustrieLandschaft illustriert eine zeitgemäße Form der Ideologieanfälligkeit von Heimat. Die Medien der Beheimatung stimmen die Gefühle nur auf Zeit, denn nicht nur sie sind im Wandel, sondern ebenso die, die sie herstellen, mit ihnen leben wollen oder müssen. Ludger Hagedorn beschreibt Heimat als einen Ort, »den ich als Mensch am stärksten durchdrungen habe, wo die Dinge fast schon unsere Lebensorgane sind«. 14 Wenn man einmal davon absieht, dass es Menschen geben mag, die sich allein in einer zwischenmenschlichen Beziehung oder einer anderen rein imaginären Situation – gewissermaßen ort- und raumlos – beheimatet fühlen, ist Heimat ohne Orts- oder Raumbezug schwer vorstellbar. In Hagedorns Formulierung fällt indes der aktive Akzent auf, wonach der Beheimatete seinen Ort durchdrungen hat. Bemerkenswerterweise schließt die Formulierung aus, dass nicht das Individuum einen Ort durchdrungen hat, sondern umgekehrt, ein Ort bzw. eine Region oder eine Landschaft das Individuum. Auch bei Treinen spaltet der Begriff der »Interaktionen« (s. o.) alles ab, was in einem pathischen Sinne, unabhängig von einer aktiven Rolle der »Aneignung« auf das Individuum einwirkt. Im Blick auf den Konstitutions-Charakter von Heimat fragt sich jedoch, ob lokale Milieus nicht auch dann »fast schon unsere Lebensorgane« werden können, wenn wir (ohne sie zu »produzieren«) alltäglich von ihnen umgeben sind und mitweltlich in ihnen aufgehen. Mit anderen Worten: Welche Bedeutung kommt Dingen und 14
Hagedorn: Heimat, S. 256.
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Situationen in der Stiftung von Heimat zu, die aus einem Distanzraum, auf den wir beinahe gar nicht einwirken, mehr er- als gelebt werden? 1.2 Beheimatung durch »zielstrebensfreies« Tun (Dürckheim) Nicht alle Beziehungen, die Menschen zu ihrem sozialen Milieu wie ihrer räumlichen Umwelt haben, sind Spiegel aktiver Aneignung. Widerfahrnisse konstituieren eine ganz andere Qualität des Erlebens als das, was Menschen über Handlungen in der Verfolgung von Zielen bewirken können. Was widerfährt, ergreift in einem pathischen Sinne. In der Dynamik des täglichen Lebens spielen die Widerfahrnisse schon deshalb keine geringere Rolle als die Handlungen im handlungstheoretischen Sinne, weil die meisten Umstände, unter denen Menschen in einer Gegend leben, ohnehin dem individuell gestaltenden Zugriff entzogen sind. Mit welcher atmosphärischen Macht sich eine herumwirkliche Welt als Milieu der Beheimatung erweist oder ins reine Unbehagen und Gefühl des Fremd-Seins kippt, hängt deshalb auch nur zum Teil vom mehr oder weniger Beheimateten ab. Es entzieht sich dort in Gänze seiner Macht, wo »das Leid und das Elend der Umstände […] einen Menschen so zermürben und in Anspruch nehmen, dass es nur noch um das nackte Weiterleben geht.« 15 Karen Joisten nimmt den Menschen als ein in Geschichten verstricktes Individuum in den Blick, betrachtet ihn also nicht in sozialkonstruktivistischer Verklärung als jemanden, der sich und seine Verhältnisse zu jeder Zeit ganz selbst im Griff hat. 16 Die »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten [liegen] allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus« 17. Das Nachdenken
15
Karen Joisten: »Woher komme ich? Wohin gehe ich? Oder: Eine Annäherung an das Phänomen Heimat aus der Sicht der narrativen Philosophie«. In: Klose, Joachim / Ralph Lindner (Hrsg.): Zukunft Heimat, Dresden 2012, S. 11–41, S. 15. 16 Vgl. ebd., S. 17. 17 Ebd., S. 19.
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Heimat – ambivalente Gefühle
über Heimat reklamiert nicht zuletzt deshalb die Auslotung möglicherweise gestörter Gleichgewichte zwischen »Notwendigkeit und Freiheit« 18. In der Konstitution von Heimat drückt sich die situierende Macht um- wie mitweltlicher Geschehnisse aus. Heideggers Philosophie fokussiert die existenziale Seite des Seins, die sich in Situationen des Da-Seins aktualisiert. Aus dem »Da« des Seins schöpfen sich die »Augenblicksstätten« des Daseins. 19 Es ist dies ein Sein-in-der-Welt und mit anderen, das nicht aus der Hand intelligibler Akteure planvoll gestaltet wird; es ereignet sich performativ. »Das Menschsein [geschieht] als geschichtliches durch die das Da-sein so oder so fordernde Er-eignung.« 20 Ohne den Begriff explizit zu verwenden, rückt bei Heidegger die Performativität menschlichen Lebens in den Mittelpunkt. Insbesondere die in den Sozialwissenschaften ubiquitäre Rede von »Praktiken« der »Aneignung« und solchen der »Aushandlung« impliziert ein konstruktivistisches Verständnis menschlicher Handlungen. Daraus erwächst die Vorstellung, Heimat sei ein herstellbares Produkt. Und tatsächlich spricht der Geograph Egbert Daum vom »Heimatmachen«, das er mit »Beheimatung« gleichsetzt. 21 Man kann sich einen Raum vertraut machen, indem man zum Beispiel wiederholend immer dieselben Wege geht, indem man immer wieder dieselben U-Bahn-Linien benutzt oder ein Viertel auf ähnlichen Routen durchquert. Man kann sich einen Raum aber auch (im wörtlichen Sinne) aneignen, indem man Grundstücke kauft und damit Eigentums- und Verfügungsrechte erwirbt. Aber man kann sich in dieser Weise keine Heimat
18
Vgl. ebd., S. 21. Vgl. Martin Heidegger: Gesamtausgabe (Bd. 65). Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), Frankfurt am Main 1989; vgl. dazu auch, Rüdiger H. Rimpler: Prozessualität und Performativität in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, Würzburg 2008, S. 107. 20 Heidegger: GA 65, S. 235 f. 21 Egbert Daum: Heimatmachen durch subjektives Kartographieren. Kinder entwerfen Bilder ihrer Welt und setzen sich damit auseinander, in: Sachunterricht, unter: www.grundschulunterricht.de, H. 2/2010, S. 17 (Stand: 25. 03. 2014). 19
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aneignen. Sie ist ein komplexes Gefühl, das sich als Folge unterschiedlichster Beziehungen zu Situationen gleichsam von selbst einstellt. Wir tun dies oder jenes, ohne dabei programmatisch Zielen zuzustreben. Nicht alles was wir tun, folgt einem strategischen Plan. Graf Dürckheim hatte zwischen zielstrebensfreiem und zielstrebensbestimmtem Verhalten unterschieden. Das letztere charakterisierte er durch »ein Streben zu einem anderen Jetzt« 22, bzw. einer Zielsituation. »Sofern der Erlebende zielstrebig erlebt, ist er in der eigentümlichsten Weise e i n s mit dem Ziel; er faßt das Ziel als etwas durchaus ihm selbst z u g e h ö r i g e s auf.«23 Zielstrebiges Erleben »ist nämlich als emotionale Bedingung […] nicht eine bestimmte Gemütslage, eine Stimmung […], sondern das zielbestimmte I n t e r e s s e , dies persönliche Anteilhaben« 24. Heimat, die persönlich ergreift und nicht nur politisch oder ideologisch definiert wurde, ist aber eine Stimmung (als persönliche oder gemeinsame Situation) und kein Interesse. Auch auf der Ebene der Erlebnisse unterscheidet Dürckheim nach den Kategorien des zielstrebensfreien und zielstrebensbestimmten Verhaltens. So differenziert er zwischen »Wunscherlebnissen« und »Handelnserlebnissen« 25. Die Wunscherlebnisse verdanken sich der begleitenden Teilhabe an einem Prozess, zu dessen Gelingen man wenig beitragen kann. Man lässt sich eher von ihm mitnehmen. Das ist bei »Handelnserlebnissen« anders, denn sie verdanken sich der planvollen Einwirkung auf den Fortgang einer Entwicklung. Sie werden in erster Linie von Interessen getragen. Das zielstrebensfreie Erleben zeichnet sich nach Dürckheim (als »ungerichtete« Erlebensform) durch das weitgehende Fehlen einer affektiven Beziehung aus 26. Das Gegebene ist »für sich da«, wird »für sich hingenommen […], ohne Bezug auf ein a n d e r e s 22
Karfried Graf von Dürckheim: »Erlebensformen. Ansatz zu einer analytischen Situationspsychologie. Ein Beitrag zur Psychologie des Erlebens«, in: Archiv für die gesamte Psychologie, XLVI. Bd. (hrsg. von W. Wirth), Leipzig 1924, S. 304. 23 Ebd., S. 309. 24 Ebd., S. 322. 25 Ebd., S. 325. 26 Vgl. ebd., S. 273.
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Heimat – ambivalente Gefühle
(einen Zweck, Ziel, Wunsch, Vergleichsgegenstand usw.) und damit stets ein in sich geschlossenes – wenn auch noch so gegliedertes G a n z e s .« 27 Dies ist der situative Rahmen, in dem sich Heimat konstituiert. Sie wird nicht programmatisch angestrebt. Sie wächst im Wechsel gerichteter und ungerichteter Erlebnisformen sowie im Wechsel zielstrebensbestimmten und zielstrebensfreien Verhaltens. Sie entsteht – wie ihre dystopische Umkehrgestalt der Heimatlosigkeit – beiläufig im Milieu des Pathischen. Heimat kann als Gefühl ebenso wenig »gemacht« werden, wie die Liebe zu einem anderen Menschen oder die »Vor«-Liebe für etwas. Weil die Menschen den sie potentiell beheimatenden Milieus ausgesetzt sind, sind auch die meisten Prozesse, die den Wandel eines Lebensraumes tragen, von Spuren des Fremden verzeichnet. Das Fremde kann faszinieren und heimatliche Bindungen stärken; es kann aber auch entfremden und Heimat auflösen. Heimat ist vielschichtig, ambivalent und oft genug in den sie tragenden und rahmenden Bedeutungen widersprüchlich; nur selten ist sie allein behagend. Meistens gibt es in ihr auch Störendes, das, wenn nicht aversiv, so doch mindestens neutral (mit einer gewissen Gleichgültigkeit) hingenommen wird. 1.3 Heimat vermittelt Orientierung Die Ambivalenz von Gefühlen der Beheimatung ist eine Voraussetzung für die Erfüllung einer sozialpsychologischen Aufgabe: der Kompensation von Unübersichtlichkeit der Welt wie des eigenen Selbst. 28 Dem kommt der mythische Charakter von Heimat unterstützend entgegen. Nach Hans Blumenberg hilft der Mythos der »Menschheit dabei, etwas zu bearbeiten und zu verarbeiten, was ihr zusetzt, was sie in Unruhe und Bewegung hält.« 29 Auch für Ernst Cassirer schafft der Mythos eine »Einheit in der 27
Ebd., S. 277. Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos (zuerst 1984), Frankfurt am Main 2001, S. 303. 29 Ebd. 28
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Vielfalt« 30. Er ist »Ausdruck des Gefühls« 31, das er zugleich anschaulich macht und der zwischenmenschlichen Verständigung vermittelt. »Was bisher dunkel und undeutlich gefühlt wurde, nimmt nun eine bestimmte Gestalt an.« 32 Der Mythos hat damit nicht zuletzt eine »Aufgabe der Objektivierung« 33. Auch der Mythos »Heimat« macht in einem kompensatorischen Sinne existenzielle Unruhe-Situationen glatt – solange sich die idiosynkratischen Brüche noch glätten lassen und das im Prinzip schwer Erträgliche am Fremden oder fremd Gewordenen noch übersehen werden kann. Heimat zeichnet sich durch starke Tendenzen der Harmonisierung dessen aus, was sich als gespalten und widersprüchlich darstellt. Die Autosuggestion harmonischer »Ganzheitlichkeit« bietet dann in einem utopischen Sinne Orientierung. In solcher Kompensationslogik war auch das ideologische Programm der Heimatschutzbewegung um 1900 begründet, die sich als sozialpsychologisches Konzept und Programm der Verwindung von Entfremdungserlebnissen verstehen lässt, welche mit der Ausbreitung der Industrialisierung ubiquitär geworden waren. Heimat breitet sich nie im fiktiven Raum einer monadenhaften Welt vereinzelter Individuen aus. Sie ist Resultat dessen, was andere, aber auch abstrakte Institutionen in bewohnten Gegenden gemacht und hinterlassen haben. Die Zustände gesellschaftlicher Systeme und globaler Verhältnisse schreiben sich in die Atmosphären beheimatungsfähiger Orte und Regionen ein und stimmen das Individuum in einem weit aufgespannten Netz gefühlsmäßiger Bindungen. So konstituiert sich Heimat in der Dynamik des gelebten Lebens 34 und auf den Bruchzonen zwischen Utopien und Dystopien. Ihr utopisch verklärender Kern entfaltet seine größte Macht aus der Distanz: »Denn als er sich umwandte 30
Ernst Cassirer: »Der Mythus des Staates«, in: Wilfried Barner / Anke Detken / Jörg Weschke (Hrsg.): Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart 2007, S. 39 f. 31 Ebd., S. 44. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Vgl. Christopher G. Flood: »Politischer Mythos. Eine theoretische Einführung«, in: Wilfried Barner / Anke Detken / Jörg Weschke (Hrsg.): Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart 2007, S. 309.
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Heimat – ambivalente Gefühle
um sein Pferd wieder zu besteigen, fiel sein Auge noch einmal auf das Heim das er verlassen wollte, und er sah es, und siehe da, es war so schön, daß er sofort wieder zurückkehrte.« 35 An den tatsächlichen Verhältnissen des Lebens verändert der heimatliche Mythos wenig. Aber an dieser Unmöglichkeit bildet sich die Aufgabe des Mythos: die imaginäre »Deformation« 36 des Faktischen. So macht Heimat als Mythos erträglich, was bei sachlich-nüchterner Betrachtung als widrig erschiene. 2.
Zum Situations-Charakter von Heimat
Heimat hat den Charakter einer Situation. »Eine Situation, wie ich das Wort verstehe, ist Mannigfaltiges, das ganzheitlich d. h. nach außen mehr oder weniger abgehoben und in sich zusammenhängend, zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen, d. h. Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen, besteht.« 37 Situationen sind vielsagende Eindrücke. Zu einer Situation gehören mindestens Sachverhalte 38, oft auch Programme und Probleme. Bedeutungen kommen dabei auf drei Ebenen vor: der der »Sachverhalte (daß etwas ist, überhaupt oder irgendwie), der Programme (daß etwas sein soll oder möge) und der Probleme (ob etwas ist).« 39 Die Sachverhalte variieren mit der Lebensform und der sozialen Situiertheit eines Individuums. Das Leben in einem Penthaus entfaltet sich auf der Grundlage ganz anderer Sachverhalte als das »auf der 35
Søren Kierkegaard: Furcht und Zittern / Die Wiederholung (zuerst 1843), Jena 1923, S. 159. 36 Roland Barthes: Mythen des Alltags (aus dem Französischen von Horst Brühmann), Frankfurt am Main 2010, S. 267. 37 Hermann Schmitz: »Heimisch sein«, in: Jürgen Hasse (Hrsg.): Die Stadt als Wohnraum (= Neue Phänomenologie, Bd. 12), Freiburg und München 2008, S. 36. 38 Vgl. auch Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 70. 39 Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? (= Studien zur Neuen Phänomenologie, Bd. 8), Rostock 2003, S. 89.
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Jürgen Hasse
Platte«. Folglich unterscheiden sich auch die Erlebniswelten und die sich in ihnen konstituierenden Affekte und Bedeutungen je nach der Art einer Situation. Was in einem sachverhaltlichen Sinne »ist«, wirkt über Protentionen auf den Prozess der Beheimatung ein. Mit Programmen haben wir es im Bereich der Heimat dagegen zu tun, wo auf dem Wege politischer Ideologien beheimatende Milieus hergestellt werden, um die Massen zu stimmen. Weil individuelle Zugehörigkeitsgefühle in aller Regel in kollektiven Treibhauseffekten aufgehen, sieht Patočka im Phänomen der Heimat auch eine »tief eingewurzelte gemeinsame Geborgenheit« 40. Kollektive Gefühle der Zusammengehörigkeit werden insbesondere in politischen Krisen beschworen und suggestiv wie dissuasiv hergestellt. Auch auf dem Horizont der Probleme (der Frage, »ob etwas ist«) wird nicht Heimat an sich fragwürdig. Vielmehr sind es konkrete Situationen des Lebens oder Wohnens, deren Problemgehalt in ein zunehmend gebrochenes Gefühl des Beheimatet-Seins ausstrahlt. So stellte sich auch die Wohn- und Lebenssituation der Tunnelmenschen dar (s. o.), ist ihr Proto-Wohnen doch in hohem Maße von Problemen behaftet, die es im luxurierten Wohnen des ökonomisch privilegierten Bürgertums gar nicht gibt. Probleme der Heimat kündigen sich damit aber nicht an. Genau genommen stellen sie sich auch nicht als Probleme des Wohnens dar, sondern als solche der Sicherheit, der Versorgung mit Wärme und Lebensmitteln, der alltäglichen Organisation des sozialen Miteinanders, des Zusammenlebens mit Haustieren, des Lebens in und mit der Dunkelheit usw. Jede Problemlösung läuft deshalb auch »nur« auf eine gegenstandsbezogene Veränderung hinaus und bedeutet nur mittelbar eine »Aneignung« von Heimat. Hermann Schmitz macht mit seinem differenzierten Situations-Konzept auf eine vielfältige Rahmung der Konstitutionsbedingungen von Heimat aufmerksam. An dieser Stelle sei auch auf die Bedeutung der Verzahnung von persönlichen und gemeinsamen Situationen im Prozess der Beheimatung aufmerksam gemacht. Kein Mensch wohnt sich als sozialer »Solitär« in eine Hei40
Patočka 1990, zit. bei Hagedorn: Heimat, S. 256.
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Heimat – ambivalente Gefühle
mat ein; schon in anthropologischer Sicht bedarf er gemeinsamer Situationen mit anderen Menschen und oft auch Tieren. Schließlich hat Heimat sowohl den Charakter einer zuständlichen als auch den einer aktuellen Situation, womit das Moment der Dauer zur Geltung kommt und damit die Dynamik, die auf den Prozess der Herausbildung von Heimat einwirkt. 3.
Beheimatende Atmosphären – beheimatende Stimmungen
Heimat erwächst aus Vertrautheit und Selbstverständlichkeit, nicht aus Fremdheit. Am Fremden reibt sie sich in gewisser Weise. Das Fremde dient ihr als Kontrastmittel, um im Differenzerleben das Eigene zu festigen – oder auszuweiten. Vertraut sind uns insbesondere die alltäglich gegebenen Dinge und Situationen, die sich in beinahe ritualisierter Weise wiederholen. So entstehen Eindrücke, die sich als locker geschichtete Gefühlssedimente behaglichen Zuhause-Seins absetzen. Zusammengehalten werden diese Schichten durch die Erinnerung an Situationen ästhetischer Berührung und Begegnung. Das Erlebnis- und Erinnerungsgebilde »Heimat« verklammert sich so zu einem ganzheitlichen Konglomerat. Dabei ist die Sphäre der Sinnlichkeit von herausgehobener Bedeutung. Je ferner die Räume, je anästhetischer die Erfahrungen, desto mehr treten tendenziell abstrakte, symbolische Ortsbezüge an die Stelle atmosphärischer Umwölkungen. In der Suche nach einer Essenz von Heimat wie ihrer Medien provoziert sich die Differenzierung zwischen Atmosphären und Stimmungen. Was die Atmosphäre angeht, werde ich mich im Folgenden im Wesentlichen auf Hermann Schmitz beziehen, was die Stimmungen betrifft, auf Otto Friedrich Bollnow und Hubert Tellenbach. Atmosphären sind nach Hermann Schmitz spürbare Schnittstellen, an denen Menschen ihr Herum in gefühlsräumlichen Qualitäten leiblich erleben. Es sind dies Gefühle, die in gelebten Situationen wurzeln. In einer Atmosphäre befindet man sich nicht wie in einem umbauten Raum, sondern wie in einem umwölkenden Herum. Solche Umgebungen werden als flüchtige und nicht »ding«-fest zu machende »Herumwirklichkeiten« erlebt 51 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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– als etwas »am eigenen Leibe, aber nicht als etwas vom eigenen Leib« 41. Atmosphären sind in anderer Weise wirklich als Dinge. Sie sind »Halbdinge«, die sich dadurch von den Dingen unterscheiden, »daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind.« 42 Auch sind sie anders »lokalisiert« als Dinge, wie zum Bespiel ein Haus im Häusermeer der Stadt. Sie umweben einen Ort vielmehr, hüllen ihn ein und machen ihn als situativ besonderen Ort spürbar. Nach Schmitz 43 sind »Gefühle nicht private Zustände seelischer Innenwelten, sondern räumlich ausgedehnte Atmosphären«. 44 In ihrer Räumlichkeit weisen sie zwar ein Volumen auf; dieses hat aber keine messbare Form und gehört nicht in den Bereich der dreidimensionalen Welt. Ihr räumlicher Charakter ist »prädimensional«; ihr »ausgefülltes« Volumen hat keine Flächen und Kanten wie ein physischer Körper. Im leiblichen Spüren gerät man in ihren Bann. Deshalb werden Atmosphären auch nicht kognitiv »verstanden«, sondern leiblich erlebt. An ihrem Erleben sind »Mächtigkeit, Energie, Kraftentfaltung und Andringen gegen Widerstand wesentlich beteiligt«. 45 Da sie zu den Halbdingen gehören, sind sie unteilbar wie der Wind, die Wärme oder das Gefühl der Heiterkeit. Auch Heimaten sind leibliche Empfindungswelten und keine semiotisch decodierbaren Räume. Sie konstituieren sich in einer Gemengelade von Gefühlen, die subjektive Bedeutungen wider41
Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. 3: Der Raum, Teil 5: Die Wahrnehmung, Bonn 1989, S. 118. 42 Schmitz: Neue Grundlagen, besonders § 245. 43 In der Skizzierung eines Atmosphärenbegriffs stütze ich mich im Großen und Ganzen auf Hermann Schmitz, dessen Phänomenologie große begriffliche Differenziertheit in der Analyse menschlicher Gefühle erreicht hat und den Vorteil für sich in Anspruch nehmen kann, ontologische Fragen der Gefühle erkenntnistheoretisch systematisch eingebettet zu haben; vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, 5 Bd. in 10 Bd., Bonn 1964 bis 1980. 44 Hermann Schmitz: »Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen«, in: Hinrich Fink-Eitel / Georg Lohmann (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt am Main 1993, S. 33. 45 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. 3: Der Raum. Teil 1: Der leibliche Raum (zuerst 1967), Bonn 1988, S. 388.
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spiegeln, die mit gelebten Orten und Räumen verknüpft sind. In ihnen wird die Welt nicht rational erkannt, sondern im Medium der Gefühle als etwas mitweltlich »Umwölkendes« 46 erlebt. Auch Erwin Straus unterscheidet zwei kategorial verschiedene Arten des In-der-Welt-Seins: eine mit erkennendem Bezug zur Welt und ein leiblich-sinnliches Verwickelt-Sein in diese. Während es beim Erkennen um das Was eines Gegenstandes geht, hebt sich im Metier des Mitseins (des Pathischen 47) »das Wie des Gegebenseins hervor.« 48 Das atmosphärische Gefühl der Heimat wurzelt mehr in mitweltlichen als in umweltlichen Situationen. Der Charakter affektiver Teilhabe spricht Straus mit dem Begriff des »Pathischen« an. »Das pathische Moment in Wahrnehmung und Empfindung konstituiert sich […] als eine unmittelbar vorbegriffliche Kommunikationsweise mit den Dingen auf sympathetischem Wege.« 49 Die Sinne haben eine pathetische Funktion in der Kommunikation mit der Welt, welche allem Erkennen vorhergeht. 50 Wenn Heimat den Charakter eines atmosphärisch behagenden Milieus hat, dann verdient die Bedeutung des in diesem Sinne Atmosphärischen eine klärende Präzisierung. Daher soll zwischen heimatlichen Suggestionen zum einen und beheimatenden Atmosphären zum anderen unterschieden werden. Da Heimat als Gefühl der Zugehörigkeit nicht im Raum ist wie der Wassergraben unter der Burg, sondern wie ein gestimmtes Gewölk in einer affizierenden Gegend, soll hier zwischen Heimat als Stimmung und den sie stimmenden Medien, die im atmosphärischen Raum vernehmbar und spürbar sind, diesen aber nicht unabhängig von persönlichen Situationen in einen Stimmungsraum verwandeln müssen, unterschieden werden. Deshalb spricht Hubert Tellen46
Vgl. Hubert Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre, Salzburg 1968. Vgl. Erwin Straus: »Die Formen des Räumlichen. Ihre Bedeutung für die Motorik und die Wahrnehmung« (zuerst 1930), in: Ders.: Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin u. a. 1960, S. 167. 48 Ebd., S. 151. 49 Torsten Passie: Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie (= Schriften zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. XIII), hrsg. von Armin Geus und Guido Pressler, Hürtgenwald 1995, S. 152. 50 Vgl. ebd., S. 153. 47
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bach die Atmosphäre als »eine unpersönliche Wirklichkeit«, die Stimmung aber als »die Einheit von Ich- und Weltgefühl« 51 an. Wenn die Stimmung auch (wie die Atmosphäre) aus keiner Innerlichkeit kommt, sondern (mit Heidegger) »als Weise des In-derWelt-seins aus diesem selbst« 52 aufsteigt, so ist sie dem individuellen Erleben doch näher als die Atmosphäre. Deshalb spricht Bollnow der Stimmung auch eine charakterprägende Rolle zu. Sie entscheide nach seiner Auffassung darüber, »was dem Menschen begegnen kann und was nicht« 53. Versteht man in diesem Sinne Heimat als Stimmung, so entscheidet sie (als individuelle wie als kollektive affektive Disposition) darüber, welche potentiell beheimatenden Atmosphären (wozu Heimat suggerierende politische Ideologien gehören) das persönlichen Gefühl der Heimat stimmen oder umstimmen können. Auch die Heidegger’sche Stimmung der Sorge lässt sich auf die der Heimat beziehen, ist Heimat als Stimmung doch immer auch Sorge um die Zukunftsfähigkeit einer beheimatungsfähigen Welt. In diesem Sinne achtet die Sorge darauf, dass die glückliche, zumindest aber beruhigte Stimmung des Menschen nicht dauerhaft verlassen wird. 54 Auch Johannes Volkelt trennte zwischen Atmosphären und Stimmungen. Nach seiner Auffassung ist eine Atmosphäre »auf eine bestimmte Person, eine bestimmte Sache, ein bestimmtes Ereignis oder auf eine Anzahl solcher« 55 gerichtet und hat in dieser Ausrichtung ihr Thema. 56 Dagegen verstand er »unter Stimmungen […] solche Gefühle […], denen die Vorstellung eines bestimmten Gegenstandes, auf den sie sich bezögen, fehlt.« 57 Sobald sich das mit einer Atmosphäre verbundene Gefühl so tief im indi51
Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre, S. 9. Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen (zuerst 1941), Frankfurt am Main 1995, S. 40. 53 Ebd., S. 135. 54 Vgl. ebd., S. 130. 55 Johannes Volkelt: System der Ästhetik, Werk in drei Bd., erster Bd.: Grundlegung der Ästhetik, München 1905, S. 206. 56 Hermann Schmitz sieht eine Stimmung als thematisch nicht gerichtet an, vgl. Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 192. 57 Volkelt: System der Ästhetik, S. 206. 52
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viduellen Betroffensein festfrisst, dass es eine persönliche Stimmung grundiert, verliert es seinen thematischen Bezugspunkt und – so auch Theodor Lipps – »die Stimmung, die im Raume lebt, ist meine Stimmung.« 58 Es ist kaum übersehbar, dass im Unterschied zu Schmitz, der alle Gefühle als Stimmungen ansieht 59, die terminologische Trennschärfe zwischen Atmosphären und Stimmungen sich oft verliert. Das ist schon im Zitat von Theodor Lipps daran zu erkennen, dass er zum einen von einer Stimmung »im Raum« und zum anderen von eben dieser als »meiner« Stimmung spricht. Auch bei Bollnow sind die Grenzen verwischt. Einerseits spricht er in seinem Buch Vom Wesen der Stimmungen nicht über Atmosphären und in einem später erschienenen Buch über die pädagogische Atmosphäre bestenfalls beiläufig über Stimmungen. Dennoch ist es offensichtlich, dass beides nicht dasselbe bedeutet und zwischen Atmosphären und Stimmungen Beziehungen bestehen. Ich halte mit Tellenbach ein Merkmal der Stimmung in der Unterscheidung von Atmosphäre für hilfreich; danach geht die Stimmung in einem mehr aktuellen als zuständlichen subjektiven Befinden auf, während eine Atmosphäre in ihren herumräumlich ausgebreiteten Vitalqualitäten auch spürbar sein kann, ohne das subjektive Befinden stimmen zu müssen. 4.
Heimat – politische Implikationen
Der Hinweis auf den Situations-Charakter von Heimat, insbesondere ihre erkenntnistheoretisch damit in den Blick kommende Programmierbarkeit hatte bereits auf ihre Instrumentalisierbarkeit für politische Zwecke aufmerksam gemacht. Schon der Umstand, dass sich Heimat in der Spannung zwischen Eigenem und Fremdem konstituiert, fordert den ideologischen Zugriff gerade58
Theodor Lipps: Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, zwei Bd., Leipzig und Hamburg 1903, Bd. 2, S. 190. 59 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. 3: Der Raum, Teil 2: Der Gefühlsraum (zuerst 1969), Bonn 1981, S. 264.
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wegs heraus. Und dies nicht erst auf dem nationalen, sondern schon dem lokalen Maßstab und erst Recht zum Zwecke der Durchsetzung regionaler Ziele der Kultur- und Wirtschaftspolitik. Prädestinierte Medien sind suggestive Programme vom Charakter der Parole. 60 Sie wurzeln in ideologischen Konstruktionen und in aller Regel nicht im mindesten im leiblichen Erleben des Hin- und Hergehens zwischen vertrauten Orten. Gerade daran macht Hermann Schmitz aber den Charakter von Heimat fest. 61 Jede territoriale Identifikation (Bundesland, Staat, Staatenverbund wie die Europäische Union) ist viel weiter vom sinnlichen Erleben entfernt, als die heimatliche Beziehung zum lokalen und regionalen Lebensraum. Türcke weist darauf hin, dass auch in demokratischen Gesellschaften die Suggestion nationaler Zugehörigkeitsgefühle schon aus politischen Machtkalkülen heraus unverzichtbar sei. »Ohne ein Mindestmaß solcher Propaganda ist die Bevölkerung eines Staates kaum in der Lage, sich als Nation zu fühlen.« 62 Aber auch in der Politik der Kommunen und Regionen spielen Zugehörigkeitsgefühle eine wichtige Rolle. Letztlich bilden sie den Nährboden von Akzeptanz gegenüber politischen Entscheidungen, die auf einer »reinen« Sachebene nur schwer kommuniziert werden könnten. Ein historisches Beispiel illustriert die Verzahnung beider Ebenen. Um 1900 gab die Heimatkunst eine Antwort auf die Entfremdungserfahrungen der Industrialisierung – vor allem in den großen Städten. Sie wandte sich gegen die globalisierungsbedingte 60
Hierbei handelt es sich aber »nur« um ideologische Versatzstücke, die auf individuelle und kollektive Gefühlsregime Einfluss nehmen können. Gleichwohl sind solche Ideologeme in ihrer Wirkung auf das persönliche Befinden von affektiv begrenzter Reichweite. Das wird z. B. daran erkennbar, dass der sogenannte »Generationenvertrag« auf nationalem Niveau schon lange kein affektives Bindemittel gemeinschaftlicher Zusammengehörigkeit mehr ist. Christopher Flood merkt in diesem Sinne an »dass die Herstellung von Mythen ein normaler Grundzug des politischen Lebens ist«; Flood: Politischer Mythos, S. 315. 61 Schmitz: Heimisch sein, S. 32. 62 Türcke: Heimat, S. 43. Türcke weist darauf hin, dass Heimatbewusstsein nicht mit Nationalstolz gleichzusetzen sei, vgl. S. 71.
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Überlagerung von Segmenten fremder Kulturen und distanzierte sich von der großbürgerlichen Repräsentationskunst etwa eines Pablo Picasso oder anderer Künstler, die ein Gespür für die dystopischen Facetten des aufschäumenden Kapitalismus ins Bild zu setzen verstanden. Nicht der kritische Blick nach vorne sollte der Suche nach Heimat möglichen Halt bieten; Sicherheit versprach allein die überhöhte Rückbindung ans heimatlich-kulturell Vertraute. So schrieb Otto Julius Bierbaum 1904: »Da wir Deutsche sind, freuen wir uns auch, wenn wir in der Kunst Spuren von dem finden, was wir als unser Eigenstes erkennen, und die Kunst kann sehr gut eine Antwort sein auf die Frage: was ist deutsch? Sie kann ebenso gut wie die Sprache, ein Band unserer Gemeinsamkeit sein, wenn auch nicht des Denkens so doch unseres Fühlens. Für uns Deutsche wird die Kunst nie lange Zeit bloß eine Prunk- und Luxussache sein können – wir werden immer suchen müssen, sie zu einer Herzenssache zu machen« 63.
Die Heimatkunst wollte weder die Irritation von Eigenem noch die Konfrontation mit dem Fremden, sondern vielmehr dessen Abwehr. So heroisierte sie das Eigene in der Übersteigerung dessen, was sich mythisch als Bollwerk heimatlich-umfriedender Festungen suggerieren ließe. Auf dem Hintergrund antimoderner Sehnsuchts-Programme wurde die deutsche Landschaft ins Milieu erhabener Atmosphären stilisiert, der säende Bauer zum hypermuskulären Titanen und der Arbeiter zum hand-werkenden Helden. Diesen und weiteren Ideologemen war eines gemeinsam: sie bezogen ihre Kräfte aus den Ressourcen eines Eigenen, das autosuggestiv erst produziert werden musste. Landwirtschaftlicher Grund und Boden wurde zur Scholle und zum Medium einer nationalistischen Blut- und Boden-Ideologie. Und so beackerte der Bauer sein Feld nicht, indem er Korn oder Kartoffeln anbaute, sondern weil er sich um eine mit dem Blut des Volkes verbundene Heimatscholle verdient machte, für die er geboren war. Als mus63
Zit. bei Anke Kepler: »Heimatkunst, Bauerntum, Scholle, Blut und Boden«, in: Kai Buchholz / Rita Latocha / Hilke Peckmann / Klaus Wolbert (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 2, Darmstadt 2001, S. 299.
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kelstrotzender Sämann war es gerade der Bauer, der »das Teureste« 64 eines Volkes schlechthin kultivierte – die Heimat. Diffusität und Ambivalenz sind auch Folge einer politisch motivierten Instrumentalisierung heimatlicher Gefühle. Im Dritten Reich wurde das affektive Zentrum von Heimat ideologisch in die nationalistische Vaterlandsliebe umgelenkt und psychologisch für die Kriegsvorbereitung missbraucht. Diese Seite der Instrumentalisierung von Gefühlen bildet eine Facette in der Geschichte des deutschen Faschismus. Gleichwohl folgt die »Vergangenheitsbewältigung« einem unkritischen Impuls. In der ideologischen Rekonstruktion der Verformungen des kollektiven Denkens und Fühlens wird leicht übersehen, dass Heimat ganz und gar kein spezifisch nationalsozialistisches Ideologieformat ist. In der Folge fataler Denk-Tabus wird der Heimat-Begriff noch bis in die Gegenwart vor allem in »kritischen« sozialwissenschaftlichen Diskursfamilien verzerrt. Das geht vor allem auf Kosten der Reflexion anthropologischer Implikationen von Heimat. Aus ideologischen Gründen verordnete Sichtblenden führen auf kürzestem Wege in Zustände der Gegenaufklärung und sodann erneut in die Ideologie. 65 Die Themen der Instrumentalisierung emotionaler Territorialbeziehungen haben sich historisch verändert. Nicht aber die Zumutungen aus der politischen Indienstnahme von Gefühlen für Interessen der Macht und der Herrschaft. Auf dem Hintergrund einer verblendeten Umgehensweise mit dem Heimat-Begriff plädierte Günter Grass schon vor mehr als 40 Jahren dafür, Heimat neu zu definieren und den Begriff nicht aufgrund seiner historisch dunklen Schleppen fallen zu lassen. 66 64
Vgl. i. d. S. Julius Langbehn 1890, zit. bei Kepler: Heimatkunst, S. 301. Wenn die im März 2014 amtierende deutsche Verteidigungsministerin von der Leyen angesichts russischer Interventionen in der Ukraine die Unterstützung östlicher Mitgliedsstaaten der NATO forderte (vgl. N.N.: »Krim-Krise: Von der Leyen fordert mehr Militär an Nato-Grenzen«, unter: http://www.spiegel.de/ politik/ausland/krim-krise-von-der-leyen-fordert-mehr-praesenz-der-nato-a-960 187.html [Stand: 24. 03. 2014]), schürt sie in der emotionalen Interpretation der Aufgabe eines supranationalen Militärbündnisses die Glut des kalten Krieges, denn von keiner russischen Aktion war ein NATO-Land betroffen. 66 Vgl. Alexander Mitscherlich / Gert Kalow (Hrsg.): Hauptworte – Hauptsachen. 65
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Es gibt Heimat nicht als verinselte Welt. »Der Raum, die begrenzten Räume, in denen wir leben, werden jeweils miteinander verknüpft, in sich und im ganzen als Teilräume gegliedert durch die Beziehung des Aufenthaltes zur Heimat.« 67 Straus setzt hier bereits eine Heimat voraus, die auf das Leben in anderen Gegenden bezogen ist. In den spätmodernen und zunehmend mobilen Industriegesellschaften wird die Tendenz zur Pluralisierung der Heimat stärker. Sie verliert ihren alles umfriedenden Ausschließlichkeitscharakter, das singuläre Band gefühlter Zugehörigkeit zerfasert und es entsteht ein räumliches Gewebe mitunter spannungsreich aufgeladener Heimat-Beziehungen. Heimat wird schließlich fraktal, optional, disponibel und kombinierbar. Immer weniger bildet sie sich nur noch an einem Ort. Sie konstituiert sich in einem Koordinatennetz affektiv konkurrierender Räume. Selbst Bollnow warnte vor der Fiktion einer Beheimatung in fixen Welten der Sesshaftigkeit. Heimat sei zum einen durch den sesshaften Spießer bedroht, der die Festigkeit des Eigenen idealisiert, zum anderen aber auch durch den Abenteurer, der sich an nichts und alles verliere. »Es gibt keine bleibende Sicherheit. […] Jede Heimat bleibt relativ.« 68 Plurale Heimaten gibt es im Prinzip schon so lange wie Menschen mobil sind. Heimat entfaltet sich zwischen dem Wohnen und dem Gehen bzw. dem Wandern 69. »Im Heim wohnt der Zwei Gespräche: Heimat – Nation, München 1971, S. 25. In diesem Zusammenhang thematisierte Heinrich Böll einen gegenwartspolitischen Konflikt: Die Verhinderung von Beheimatung durch den illegitimen Umgang mit Großgrundbesitz. »Zunächst verhindert’s die Architektur und die rücksichtlose Industrialisierung, die geradezu kriminell ist, finde ich.« (ebd., S. 49). Böll rückt Heimat in einen Kontext des Politischen. Heimat wird als ein Resonanz-Affekt gegenüber Zugriffen auf emotional besetzte Räume verstanden. Es ist bemerkenswert, dass Böll einen gesellschaftlichen Verteilungskonflikt als Brücke zur Heimat bzw. Beheimatung anspricht. Darin zeichnet sich ab, dass Heimat als Begriff einen abstrakten Charakter hat. Als Phänomen wird Heimat allein in konkreten mitweltlichen Beziehungen leiblich spürbar. 67 Straus: Formen, S. 176. 68 Otto Friedrich Bollnow: Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existenzialismus, Stuttgart und Köln 1955, S. 188 f. 69 Vgl. ebd., S. 31 sowie Ute Guzzoni: Wohnen und Wandern, Düsseldorf 1999.
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Mensch den Raum ein, im Weg eröffnet er ihn sich und gewinnt Welt.« 70 Bei Heidegger ist das Wohnen selbst als eine Form existenziellen Sich-Bewegens gedacht. 71 Auch darin steckt die Ambivalenz zwischen dem Bleiben im Immer-so-Weiter und dem nötigen Aufbruch in die eigene Entwicklung und in eine neue und noch fremde Welt – zwischen Einwohner und Anwohner, mit anderen Worten: getragen von dem behagenden Gefühl gelassener und zufriedener Geborgenheit im Hier-und-Jetzt bzw. dem Gefühl des »vitalen Elans« im Sinne von Eugéne Minkowski. 72 Zwar wohnt der Mensch im Raum; in der Praxis des gelebten Lebens muss sich dieser als Sphäre einer umfriedenden und behagenden Ordnung immer wieder aufs Neue bewähren. Heimat umfasst über den Raum der Wohnung und des Hauses hinaus »das Ganze der Lebensordnungen«, in denen der Mensch heimisch ist. 73 Eine im Sinne dieses Pendelns frühe Erfahrung nicht allein an einem Ort beheimatet zu sein, machten die Seefahrer, die neben ihrem Heimathafen in aller Regel ebenso auf ihrem Schiff (der Heterotopie par excellence) zu Hause waren – einem heimatlichen Ort in Bewegung. Die Geschichte der Seefahrt kennt ein ganzes Netz von Beziehungen, die die Synthese temporär zerrissener Welten besorgten. Die besondere Stimmungsmacht der Herkunftsheimat auf festem Boden illustriert die Geschichte der Borkumer Walfänger, die im 18. Jahrhundert leere Eichensärge mit ins Nordmeer nahmen, um die Opfer, die im Kampf mit dem Sturm, der See und dem Wal einkalkuliert wurden, nach
70
Karen Joisten: Philosophie der Heimat. Heimat der Philosophie, Berlin 2003, S. 76. 71 Vgl. Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken« (zuerst 1951), in: Eduard Führ (Hrsg.): Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, Münster u. a. 2000, S. 31–49. 72 Eugène Minkowski: Die gelebte Zeit, Bd. I: Über den zeitlichen Aspekt des Lebens (zuerst 1933). Ins Deutsche übersetzt von Meinrad Perrez und Lucien Kayser, Salzburg 1971. 73 Bollnow: Neue Geborgenheit, S. 187.
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der guten Heimkehr im Sand der Insel bestatten zu können. 74 Eine ganz andere historische Perspektive auf einen sozialen Heimatverlust erzählt das Gemälde Die wahnsinnige Kate (1806/ 1807) von Johann Heinrich Füssli, das die Angst um den auf See vermissten Seemann veranschaulicht. Hier steht das Ganze einer heimatlichen Lebens-, Beziehungs- und Sinnordnung im Mittelpunkt, weit mehr als nur eine Ordnung der Dinge im unmittelbaren Sinne. Heimat ist in keinem Irgendwo, sondern an einem Ort persönlicher Verankerung. So sagt Heidegger, dass »alles Wesentliche und Große nur daraus entstanden ist, daß der Mensch eine Heimat hatte und in einer Überlieferung verwurzelt war« 75. Diese Heimat gilt ihm in einem zweifachen Sinne als angeboren: als Ort und Raum sowie als Lebenswelt. Die Idee einer angeborenen Heimat geht aber im regressiven Rückzug aus einer fremden und befremdenden Welt auf; sie vermag keine Perspektiven ins Offene und Neue zu erschließen. In diesem Sinne merkte selbst Eduard Spranger kritisch an: »Es ist eine ganz falsche Vorstellung, daß man schon in eine Heimat hineingeboren werde. Zur Heimat wird diese gegebene Geburtsstätte erst dann, wenn man sich in sie hineingelebt hat.« 76 Spranger sagt nicht »Aneignung«, sondern »Hineinleben«. Wer sich in eine Situation hineinlebt, lässt sich von Bewegungsströmen und Entwicklungen mitnehmen, fädelt sich mehr mimetisch als plan- und absichtsvoll in gegebene Verhältnisse ein, findet sich in Situationen, die schon ohne eigenes Zutun existieren und macht sich nicht nur mit Handlungsmöglichkeiten vertraut, sondern zunächst – oder sogar mehr noch – mit dem was ist. Mit dem Begriff des »Hineinlebens« kommt eine pathisch-mitweltliche Beziehung zur Geltung, mit dem Begriff der »Aneignung« eine gnostische Umwelt-Beziehung. Zwar spricht Spranger Heimat als »geistiges Wurzelgefühl« 77 74
Vgl. dazu auch Jürgen Hasse: Versunkene Seelen. Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert, Freiburg / Basel / Wien 2016. 75 Zit. bei Hagedorn: Heimat, S. 255. 76 Eduard Spranger: Der Bildungswert der Heimatkunde, Stuttgart 1967, S. 14. 77 Ebd.
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an. Heimat wurzelt in biographisch gelebter Geschichte, also in vergangenen Erlebnis- und Erfahrungssedimenten, in denen identitive, aber eben auch idiosynkratische Beziehungen übereinander liegen. So gesehen ist Heimat a priori konservativ, weil sie mehr in Vergangenheit ruht, als dass sie für den Aufbruch in ein neues, erst zu erschließendes Feld stünde. Nach Bollnow ist Vergangenheit, »was als Druck auf der Gegenwart lastet und mit Forderungen auf sie eindringt.« 78 Es ist aber nie »die« Vergangenheit, die in eine subjektive Heimat hineinwirkt. Vielmehr sind es Spuren des Vergangenen, die als heimatspezifische Protentionen in die gelebte Gegenwart einstrahlen. Heimat ist aber auch dann, wenn sie auf Neues und Ungewohntes gefasst ist, also dem Gegenwärtigen in einer zukunftsoffenen Haltung begegnet, in einer Vergangenheit fundiert, an der das orientierende Gewicht der Vertrautheit hängt. Beheimatung stößt an ihre Grenzen, wenn das Neue nur noch über zersplissene Fäden am biographisch Vertrauten hängt. Im Unterschied zur nationalen oder regionalen Identität (im Sinne symbolischer Orts- wie Raumbezogenheit) ist Heimat aufgrund ihrer biographischen Verwurzelung eher kleinräumlich. Bausinger versteht sie als »eine räumlich-soziale Einheit mittlerer Reichweite«. 79 Zweifel sind angesichts dessen an normativ motiviertem Übermut in der grenzenlosen Überschreitung beheimatungsfähiger Räume bis hin zum sogenannten »global village« 80 angebracht. Schon die Europäische Union wird sich in der Vielfalt ihrer Sprachen, Heterogenität ihrer Kulturen und Konflikthaftigkeit ihrer Geschichten kaum als Heimat erweisen können, bestenfalls als eine Raum gemeinsamer politischer und wirtschaft78
Otto Friedrich Bollnow: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, Schriften in 12 Bänden, hrsg. von Ursula Boelhauve / Gudrun Kühne-Bertram / HansUlrich Lessing / Frithjof Rodi, Bd. 4, Würzburg 2009, S. 228. 79 Hermann Bausinger: »Heimat und Identität«, in: Konrad Köstlin / Hermann Bausinger (Hrsg.): Heimat und Identität – Probleme regionaler Kultur, Neumünster 1980, S. 21. 80 Edurardo Costadura / Klaus Ries: »Heimat – ein Problemaufriss«, in: Dies. (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 18.
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licher Interessen. Die »territoriale Einheit eines subjektiv erlebten Raumbereiches, mit dem der Mensch eine besondere Verbundenheit empfindet« 81, sieht Bausinger als Lebensmöglichkeiten versprechende Heimat und nicht als Herkunftsnachweis 82. Solche Verbundenheit ankert nicht a priori in der Retrospektive. Ebenso kann sie sich – gleichsam utopisch – an noch ausstehendem Sinn bilden. Grenzen setzt dabei das allzu Fremde. 5.
Heimat der Beheimateten – Heimat der Heimatlosen
Heimat ist auch deshalb ambivalent, weil sie als bergendes Milieu zwar mit positiven Gefühlen der Weite verbunden ist, nach Heidegger letztendlich aber doch in der Heimatlosigkeit gründet. Sie sei »der einzige Zuspruch, der die Sterblichen in das Wohnen ruft.« 83 Wer wohnt, lebt im Hin- und Vorblick auf eine zumindest für möglich gehaltene Heimat. Bei Heidegger steht das Wohnen unter dem normativen Gebot der Schonung des Gevierts. 84 Aber erst im Horizont biographisch bedeutsamer Heimat findet die Norm der Schonung die sie vermittelnde Resonanz der Verantwortlichkeit. Dabei ist die sich im Wohnen konstituierende Heimat kein Produkt reiner Handlung. Keine Situation des Wohnens kann sich in einem atmosphärischen Rückzugs-Vakuum entfalten, das unmittelbares Resultat planender Konstruktion wäre. Heimat ist ein Nebeneffekt des Wohnens. In ihrer behagenden Form bildet sie sich nach Bausinger als »Kompensationsraum, in dem die Versagungen und Unsicherheiten des eigenen Lebens ausgeglichen werden, in dem aber auch die Annehmlichkeiten des eigenen Lebens überhöht erscheinen« 85. Heimat wird so zu einem »Gegenbegriff zu Entfremdung« 86. Das 81
Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 2007, S. 333. Vgl. Bausinger: Heimat und Identität, S. 23. 83 Heidegger: Bauen, S. 49. 84 Vgl. ebd. sowie Jürgen Hasse: Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft, Bielefeld 2009, Kapitel 3.5. 85 Bausinger: Heimat und Identität, S. 12. 86 Ebd., S. 20. 82
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romantizistische Moment der Heimat wird bei Binswanger besonders stark. 87 Wo die Heimat zu einem »Raum des liebenden Miteinanders« 88 wird, spitzen sich idealisierende Konnotationen zu. Dagegen gibt es für Bollnow nicht die »ewige Heimat« der Liebe 89, bzw. nur, »insofern sie in dieser irdischen Wirklichkeit einen gemeinsamen Raum des Lebens schafft« 90, das heißt, in einer »Bindung an diesen bestimmten Ort« 91 zur Geltung kommt. Gleichwohl gründet auch für Otto Friedrich Bollnow der soziale Rahmen, aus dem heraus die Menschen einen »gemeinsamen Raum« schaffen können, in der Paarbeziehung und nicht in der Vielfalt möglicher sozialer Bindungen des Individuums an die soziale Welt 92. Auch er denkt Heimat als Zweisamkeit, die sich »durch gemeinsam einträchtiges Wohnen« 93 entwickelt. Das steht – wie vieles bei Bollnow – im Widerspruch zu seiner schon viel früher geäußerten Skepsis gegenüber allem, was eine Festigkeit des Eigenen suggeriert. Bibliographie Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 2010. Bausinger, Hermann: »Heimat und Identität«, in: Köstlin, Konrad/ Bausinger, Hermann (Hrsg.): Heimat und Identität – Probleme regionaler Kultur, Neumünster 1980, S. 9–24. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos (zuerst 1984), Frankfurt am Main 2001. Bollnow, Otto Friedrich: Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existenzialismus, Stuttgart und Köln 1955. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart u. a. 1963. Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen (zuerst 1941), Frankfurt am Main 1995. 87
Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart u. a. 1963, S. 264. Hier bezogen auf Binswanger. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 266. 90 Ebd., S. 265. 91 Ebd., S. 266. 92 Vgl. ebd., S. 267. 93 Ebd.
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Heimat – ambivalente Gefühle
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Heimat – ambivalente Gefühle
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Gernot Böhme
Der Fremde ist der Gast, der bleibt
1.
Eigene Erfahrungen
Die Irritation angesichts der sog. Flüchtlingsströme ist erstaunlich. Man sollte wohl daran erinnern, dass ein sehr großer Teil der deutschen Bevölkerung, insbesondere der älteren, selbst einmal Flüchtling war und dass überhaupt das deutsche Volk im Umgang mit Flüchtlingen und ihrer Integration viel Erfahrung hat. Die Fakten sind folgende: Nach dem Zweiten Weltkrieg, das heißt im Wesentlichen in den Jahren 1945 bis 1947 bewegten sich 12 bis 14 Millionen Deutsche aus dem Osten, das heißt im Wesentlichen aus Schlesien und Pommern in den Westen Deutschlands – man nannte das damals Treck. Es handelte sich um die Flucht vor der Sowjetarmee, aber auch um Vertreibung nämlich aus den Gebieten, aus denen Deutsche wegen der Verschiebung der Grenzen der Sowjetunion nach Westen und entsprechend einer großen territorialen Verschiebung von Polen ebenfalls nach Westen – bis hin zur Oder-Neiße-Linie vertrieben wurden. Dann kamen, nachdem Deutschland aufgeteilt war, zunächst in die 4 Besatzungszonen und dann später in die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik – bis der Mauerbau dem ein Ende setzte – täglich bis zu tausend Flüchtlinge über die Grüne Grenze, vor allem aber von Ost- nach Westberlin. Ferner gab es eine ähnliche Wanderung innerhalb von Deutschland, nämlich nach der sog. Wiedervereinigung: Nach 1989 siedelten etwa 3 Millionen aus den neuen Bundesländern in die alten, und das ergibt, wenn man die umgekehrte Bewegung mitrechnet, eine innerdeutsche Flüchtlingsbewegung von etwa einer Million Menschen. Hinzukommt, dass nach den Verträgen, 68 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Der Fremde ist der Gast, der bleibt
die Adenauer in Moskau aushandelte, ab 1950 etwa 4,5 Millionen Spätaussiedler aus der UDSSR mit dem Status Volksdeutsche, das heißt mit dem Anspruch, die volle deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, in den Westen zogen. Zieht man hiervon ab, dass viele von ihnen weiterwanderten, so bleibt doch ein Nettozuwachs durch die Spätaussiedler von 3,2 Millionen. Die Integration dieser Ostflüchtlinge war schwierig, aber im Ganzen ist sie doch gelungen. Wir können also davon ausgehen, dass Deutschland mit der Erfahrung, wie es einem Flüchtling geht, aber auch mit der Integration von Flüchtlingen viel Erfahrung hat. Wenn man die angegebenen Zahlen der Wanderungsbewegung, die Deutschland verarbeitet hat, noch einmal betrachtet, dann werden sie umso gewichtiger, wenn man berücksichtigt, dass Deutschland in der frühen Nachkriegszeit nur 62 Millionen Einwohner hatte. (Es sind heute etwa 20 Millionen mehr.) All diese Ostflüchtlinge haben zunächst sehr unter dem Verlust ihrer Heimat gelitten. Doch in den 70 Jahren, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen sind, haben sie im Westen, im heutigen Deutschland, wieder eine Heimat gefunden. Traditionell war Heimat primär das Land der Kindheit, das Territorium, aus dem man stammte. Das konnte für viele bedeuten, dass sie ihrer Heimat trotz des Verlustes lebenslang nostalgisch anhingen. Doch wenn man die eigenen Erfahrungen als Flüchtling berücksichtigt und sie in den Rahmen der weltweiten Wanderungsbewegungen stellt – die OECD gibt an, dass heute etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind – doch das ist ja nur ein kleiner Teil der Wandernden: Hinzukommen die Wanderarbeiter und die große Menge der Menschen, die durch die Globalisierung von Wirtschaft und Industrie einen erheblichen Teil ihres Lebens außerhalb ihres Herkunftslandes verbringen. Angesichts dieser Tatsache muss der Begriff Heimat wohl neu gedacht werden bzw.: er wird bereits anders gelebt. Worin diese Veränderung besteht, kann man gut mit Versen aus Goethes Gedicht Fels-Weihegesang an Psyche bezeichnen 1. Es stammt aus 1
Gernot Böhme: »Poetisches Leben im Darmstädter Kreis der Empfindsamen«, in: Ders. (Hrsg.): Über Goethes Lyrik (Schriften der Darmstädter Goethegesell-
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Gernot Böhme
einer Lebensperiode, in der Goethe sich selbst als Wanderer bezeichnete und ständig zwischen Wetzlar, Frankfurt, Bad Homburg und Darmstadt unterwegs war: Da, wo ich liebe ist Vaterland Wo ich genieße, ist Haus und Hof
Was Goethe hier spielerisch – nämlich im Kreis der sog. Empfindsamen – formuliert, hat der Soziologe Zygmunt Bauman als Grundzug der postmodernen Gesellschaft, die er liquide Gesellschaft nennt, behauptet. Der Prototyp des Menschen in der postmodernen Gesellschaft sei, wie er sagt, der Tourist oder der Vagabund. Diese Ausdrücke scheinen mir nicht gut gewählt zu sein, weil ja der Tourist immer seinen Heimatort beibehält und der Vagabund gar kein Interesse an territorialer Bindung hat. Viel treffender ist, als Prototyp des Menschen der postmodernen Gesellschaft den Migranten zu bezeichnen. Das ist schon provokativ genug, weil der Ausdruck Migrant gewöhnlich als Bezeichnung für einen Menschen einer gesellschaftlichen Randgruppe verwendet wird. Wenn man von jemandem sagt, er habe Migrationshintergrund, dann schreibt man ihm zugleich eine prekäre Zugehörigkeit zu uns, nämlich den Ansässigen, zu. Sollten etwa die Migranten die Avantgarde in der postmodernen oder der globalisierten Gesellschaft sein? Die Erinnerung an die Tatsache, dass ein sehr großer Teil der deutschen Bevölkerung selbst einmal Flüchtling war bzw. ein großer Teil von ehemaligen Flüchtlingen abstammt, dann kann man sagen, dass sehr viele der Deutschen ebenfalls Migrationshintergrund haben. Baumans These zielt darauf, diese Erfahrungen ernst zu nehmen und legt die Maxime nahe, Migration als eine Grundmöglichkeit postmodernen Lebens, also auch des Lebens in der globalisierten Gesellschaft anzusehen. Das verlangt ein Umdenken, aber mehr noch die Einübung in eine Lebenspraxis, zu der Wanderungsbewegung und schaft V), Bielefeld 2015. Zur Interpretation des Gedichts im Blick auf das Thema Heimat siehe meinen Aufsatz »Da wo wir lieben, ist Vaterland …« (dt. und engl.), in: J. Alexander Schmidt / Reinhard Jammers, Stadt als Heimat? Essener Forum Baukommunikation, Essen 2009, S. 10–20.
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Der Fremde ist der Gast, der bleibt
neue territoriale Zugehörigkeit und Wechsel in der gesellschaftlichen Zugehörigkeit gehören. Wenn man nun daran appelliert, dass viele Deutsche selbst Flüchtlingserfahrungen haben bzw. Erfahrungen mit der Integration von Flüchtlingen, dann darf aber nicht übersehen werden, dass bei den großen Wanderungsbewegungen aus dem Osten in den Westen 1945 und danach vieles auch anders war. Insbesondere waren ja die damaligen Flüchtlinge auch Deutsche und teilten mit der Bevölkerung, zu der sie kamen, die Sprache und die Rechtsstrukturen. Ferner gab es für die Integration der Flüchtlinge gewisse institutionelle Instrumente, insbesondere die sog. Wohnungsämter: Schon infolge des Bombenkrieges hatten die Nationalsozialisten Wohnraum bewirtschaftet. Sogenannte Wohnungsämter waren befugt, Flüchtlingen Wohnraum zuzuweisen, das heißt sie durchaus auch in die Wohnungen anderer Menschen einzuquartieren. Es war nicht ungewöhnlich, dass mehrere Familien in einer Wohnung wohnten und sich Küche und Bad oder Toilette teilen mussten. Was durch gemeinsame Sprache und geteilten kulturellen Hintergrund die Aufnahme erleichterte, wurde konterkariert durch die erzwungene Nähe, in der man aufeinandertraf. Diese Ambivalenz von geteilter Kultur und Sprache und durch die Umstände erzwungener Nähe wirkte sich besonders deutlich dort aus, wo Flüchtlinge aus dem Osten »natürlich« ein Unterkommen bei ihren Verwandten im Westen gesucht hatten. Was sich dabei ereignete, ist treffend von dem Soziologen Georg Simmel in seinem Buch Soziologie formuliert worden. Das Diktum, das ich zur Überschrift und als Motto für diesen Aufsatz gewählt habe, nämlich Der Fremde ist der Gast, der bleibt, ist allerdings nicht ganz korrekt. In dem genannten Buch heißt es genauer: »Der Fremde ist der, der heute kommt, und morgen bleibt« 2. Der ausführlichere Satz beschreibt noch besser als das verkürzende Diktum die Entwicklung zwischen dem aufnehmenden Gastgeber und dem Flüchtling, der das Gastrecht in Anspruch nimmt. Erst im Zuge der Entwicklung zwischen beiden 2
Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908 (Exkurs über den Fremden), S. 509–512.
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Gernot Böhme
Parteien tritt die Fremdheit des anderen zutage und spielt eine Rolle. In der ersten Phase nämlich wird der Flüchtling auf der Basis des Gastrechtes oder auch, wie in Deutschland, auf der Basis der organisierten staatlichen Wohnungszuweisung – als einer von uns – aufgenommen. Für das, was man als Gastgeber in dieser Phase dem Gast bzw. dem Flüchtling an menschlicher Zuwendung zukommen lässt, spielt zunächst noch keine Rolle, dass er möglicherweise in irgendeiner Weise anders ist. Doch das Zusammenleben auf der Basis von Gastrecht ist im Prinzip mehr oder weniger zeitlich begrenzt. Kritisch wird es, wenn sich herausstellt, dass der Gast bleibt. Dann nämlich lässt sich nicht mehr verbergen, was ihn von uns, den Aufnehmenden, unterscheidet. Dann nämlich wird quasi das Hoheitsrecht des Gastgebers infrage gestellt bzw. ein weiteres Zusammenleben oder, wie wir heute sagen: Eine Integration wird dann erst möglich, wenn man sich von beiden Seiten näherkommt. Das heißt, wenn auch die aufnehmende Partei bereit ist, sich zu ändern. Sowohl die Aufnehmenden wie auch die aufgenommenen Flüchtlinge haben damit zunächst nicht gerechnet. Im Gegenteil glaubten sehr viele der Ostflüchtlinge zunächst, sie würden nach einiger Zeit in ihre Heimat zurückkehren können. Als klar war, dass dies nicht möglich sein würde, begannen die Probleme: Der Fremde ist der Gast, der bleibt. So gesehen, enthält für uns das Diktum eine Warnung. Man sollte sich durch die sog. Willkommenskultur nicht darüber täuschen lassen, dass die eigentlichen Probleme erst nach einiger Zeit auftreten werden. Wenn in der ersten Phase den Flüchtlingen Asyl und sonstiger Schutz gewährt wird, so unter der Perspektive, dass sie quasi Gäste sind. Wenn sich jedoch nach einiger Zeit herausstellt, dass sie nicht zurückkehren können oder wollen, dann stellt sich die Frage nach neuen Formen des Zusammenlebens. Dann erst stellt sich für die Aufnehmenden wie die Aufgenommenen das Problem der Fremdheit. Noch einmal ein Rückblick. Es ist kein Wunder, dass nach 1945 die Flüchtlinge aufgrund ihrer Frustrationserfahrungen sich relativ bald als eine Schicksalsgemeinschaft verstanden und sich in Flüchtlingsverbänden, Landsmannschaften und schließlich sogar 72 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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in einer Partei, nämlich dem Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten zusammenschlossen. Diese Partei, nämlich der BHE, spielte in den Jahren 1950 bis 1960 eine nennenswerte Rolle 3. Die Differenz zwischen der aufnehmenden Bevölkerung und den Flüchtlingen wurde zum Politikum. Und die organisierten Flüchtlinge haben ihre Gleichberechtigung, die ihnen in den persönlichen und nachbarschaftlichen Verhältnissen, die, wie gesagt, ursprünglich durch das Gastrecht zugestanden wurde, erst rechtlich einklagen und politisch durchsetzen müssen. Das sichtbarste Zeichen dafür ist der sog. Lastenausgleich, die erste große und bisher wohl letzte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen denen, die durch den Krieg nichts verloren hatten, und denen, die alles verloren hatten. Durch das Lastenausgleichsgesetz wurde langfristig von staatlicher Seite erzwungen, was in der ersten Phase der Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Motiven gegeben wurde. Der Lastenausgleich erbrachte im Ganzen eine Umverteilung von etwa 120 Milliarden Deutsche Mark, war aber gleichwohl – objektiv gesehen – für die Abgabenpflichtigen keine so große Belastung, weil ihre Leistungen auf 30 Jahre verteilt werden konnten und so nur 1,68 % des jeweiligen Vermögens pro Jahr ausmachten. Natürlich waren auch die Klagen darüber sehr groß, doch im Ganzen muss man sagen, dass durch diese staatliche Organisation die für die Flüchtlinge erbrachte Solidaritätsleistung sehr beachtlich ist. 2.
Psychosomatische Probleme
So etwas wie einen Lastenausgleich zugunsten der gegenwärtig zu uns kommenden Flüchtlinge wird es nicht geben. Gleichwohl sind die staatlichen Leistungen, die unser Land aufgrund der Fürsorgepflicht für die Aufgenommenen eingegangen sind, erheblich. Zwar geht in Zeiten der Prosperität – »Wir schaffen das« (Angela Merkel) – aufgrund dieser Leistungen niemandem etwas ab. 3
Der BHE war Koalitionspartner im II. Kabinett Adenauer 1953–1955. Das Lastenausgleichsgesetz wurde allerdings bereits 1952 verabschiedet.
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Gleichwohl muss erhebliche Aufklärung und Legitimationsarbeit geleistet werden, um Ressentiments bei Rentnern und prekär Beschäftigten gegenzusteuern. Diese Ressentiments haben bereits zu erheblichem politischen Druck geführt und haben sich zum Teil mit nationalistischen, um nicht zu sagen völkischen Motiven verbündet. Das hat bereits zu umfangreichen Maßnahmen geführt, die Flüchtlingsströme zu verringern mit dem Ziel, Zuwanderung nicht zu einem Dauerzustand werden zu lassen. Die viel größeren und nicht durch politische Maßnahmen zu bewältigenden Probleme liegen jedoch auf psychosozialem Gebiet. Bereits jetzt muss man sagen, dass ein sehr großer Teil der Zugewanderten unter posttraumatischen Störungen leidet. Die Erfahrungen im Krieg, die Erfahrung von Verfolgung und auch Folter und schließlich die Erlebnisse der oft lebensgefährlichen Flucht haben bei den Flüchtlingen Spuren hinterlassen. Wenn es sich um Krankheiten oder Verletzungen handelt, dann ist es selbstverständlich, medizinische Behandlung für Flüchtlinge zu organisieren. Viel schwieriger ist es, psychosomatische Störungen zu identifizieren, obgleich in sehr vielen Fällen therapeutische Behandlung geradezu eine Voraussetzung für die viel geforderte Integration ist. Das führt zu dem zweiten Komplex psychosomatischer Probleme, den man mit dem Buchtitel von Samuel Huntington als Clash of Civilisations 4 bezeichnen kann. Huntington hatte allerdings eher die Entwicklung der internationalen Beziehungen nach dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes im Auge. Das Zusammentreffen von Kulturen ist für uns heute aber keineswegs nur eine Frage der Außenpolitik – freilich auch das –, sondern vielmehr und dringender etwas, was sich bei uns, quasi im Hause abspielt. Dieses Problem wird durch die Forderung der Integration und die neuerdings wieder aktuelle Rede von einer Leitkultur 5 unter4
Samuel Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996 (dt.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1998). 5 S. dazu Thomas de Maizière: »Wir sind nicht Burka«, unter: http://www.zeit. de/politik/deutschland/2017–04/thomas-demaiziere-innenminister-leitkultur/ seite-2 (Stand: 25. 5. 2017).
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Der Fremde ist der Gast, der bleibt
schätzt. Beides bezieht sich nämlich im Wesentlichen auf das Leben in der Öffentlichkeit. Natürlich ist klar, dass ein Zuwanderer die allgemeinen Gesetze und vor allem das Grundgesetz respektieren muss, und das heißt auch, Prinzipien wie Gleichberechtigung der Geschlechter, Trennung von Kirche und Staat, Toleranz gegen andere Religionen. Die hier geforderten Verhaltensweisen lassen sich relativ leicht durch ein bestimmtes Rollenverhalten oder eine Art Kleid erbringen – man könnte das als eine Art Umkehrung des Verhaltens, wie es aus dem Iran bekannt ist, verstehen: Dort sind die verschleierten Frauen unter ihrem Tschador bzw. im häuslichen Kreise moderne Menschen. Doch die kulturelle Prägung etwa durch den Islam wird man durch dieses Verhalten nicht ablegen. Vielmehr vielleicht auch nicht ablegen wollen, um nämlich die eigene Identität zu wahren. Diese kulturelle Prägung bezieht sich ja auf die Familienverhältnisse und auch auf das Verhältnis zu sich selbst, das heißt vor allem zum eigenen Körper. 6 Das wird dazu führen, dass die von uns Aufgenommenen trotz aller Integration unter erheblichen Spannungen leiden, den Clash of Civilisations praktisch am eigenen Leibe erfahren werden. Das wird wahrscheinlich auch dazu führen, dass Integration im Sinne von Vermischung nicht stattfindet und die islamischen Bevölkerungsteile weitgehend unter sich bleiben. Es werden ungeschriebene Heiratsregeln wieder aktualisiert werden, die wir in Deutschland erst vor etwa ein, zwei Generationen überwunden haben. Davor waren Heiraten etwa zwischen protestantischen und katholischen Partnern ein Problem. Natürlich könnte man sagen, dass das die Öffentlichkeit nichts anginge und Religion Privatsache sei. Nur hat inzwischen der Staat auch gewisse Zugangsrechte im Privatbereich, so etwa bei Gewalt oder Vergewaltigung in der Ehe, Kindesvernachlässigung und durch die Trennung von Ehefähigkeit und Ehemündigkeit. 7 6
S. dazu Farideh Akashe-Böhme: Sexualität und Körperpraxis im Islam, Frankfurt am Main 2006. 7 S. dazu den Artikel von Farideh Akashe-Böhme zum Thema in: Gernot Böhme (Hrsg.): Der mündige Mensch. Denkmodelle der Philosophie, Geschichte, Medizin und Rechtswissenschaft, Darmstadt 2009.
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Gernot Böhme
Es ist selbstverständlich, dass von den Flüchtlingen verlangt werden muss, sich zu integrieren, das heißt sich in die öffentlich geltende Ordnung einzufügen. Man darf nur nicht übersehen, dass diese Integrationsleistung ganz erhebliche Probleme bei den betroffenen Personen und Familien auf psychosozialer Ebene erzeugen wird. Ferner muss man damit rechnen, dass nach einiger Zeit sich bei vielen der Flüchtlinge das Gefühl der Enttäuschung und als Folge davon Demotivation bis Depression einstellen werden. Ein Großteil der Flüchtlinge kommt als Kriegsflüchtlinge oder auch als politisch Verfolgte. Man versucht in polemischer Absicht davon einen anderen Teil zu unterscheiden und als Wirtschaftsflüchtlinge zu diskreditieren. Nur, in gewisser Hinsicht sind alle Flüchtlinge Wirtschaftsflüchtlinge, weil sie ja, wie in Syrien, durch die Verwüstung der Infrastruktur und den Verlust der Produktionsmittel, aber auch individuell durch Verlust der Ressourcen für die eigene Reproduktion ihrer wirtschaftlichen Grundlagen beraubt sind. Und für sehr viele Flüchtlinge ist zwar in der ersten Phase noch wirksam, dass sie vor allem Frieden und Sicherheit suchen und trotz aller Mühsal der Aufnahmebedingungen nach der Flucht schlicht aufatmen. Doch die Flucht hatte auch ein Ziel und wenn dieses Ziel Deutschland war oder vielleicht auch nur Europa im Allgemeinen, so war die Vorstellung dieses Ziels quasi die eines Paradieses. Und in der Tat müssen wir mit Galbraith und Marcuse sagen, dass wir in einer Überflussgesellschaft leben, und dass im Prinzip durch Rechtssicherheit, soziales Netz und prosperierende Wirtschaft für jeden die Subsistenz gesichert ist. Nur es gibt eben auch das Phänomen des Unbehagens im Wohlstand, das mit den Zwängen zusammenhängt, die die technische Zivilisation und die Leistungs- und Konsumgesellschaft, in der wir leben, dem Einzelnen auferlegen. Das Durchschnittsleben, in das die Flüchtlinge hineinkommen, ist nicht einfach ein glückliches, sondern in der Regel ein stressvolles. Wenn die Flüchtlinge nach ihrer Integration dieses, was man vielleicht als Unkosten des Wohlstandes bezeichnen könnte, kennenlernen, wird sich eine Enttäuschung über dieses Land, in das sie geflüchtet sind, einstellen. Einen Vorgeschmack von dieser Enttäuschung erleben sie in der 76 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Der Fremde ist der Gast, der bleibt
Regel in der Auseinandersetzung mit der Bürokratie. Hier werden sie mit einer Fülle von vielfach unverständlichen Anforderungen konfrontiert, denen zu entsprechen in der Regel nicht ohne Hilfe gelingt und unter Umständen Jahre in Anspruch nimmt. 3.
Allgemeine Überlegungen – langfristige Perspektiven oder: Das Leben mit den Fremden und das Leben in der Fremde
Für die Migranten wird es nicht leicht werden, denn wir haben in Europa historisch gesehen keine gute Fremdenkultur. Das hat uns ein ursprünglich Fremder, der Schwarzafrikaner Munasu DualaM’bedy, Professor für Soziologie in Kamerun in seinem Buch Xenologie: Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie 8 vorgerechnet. Diese Kultur ist derart, dass das Eigene jeweils in Absetzung von den Anderen artikuliert und verstanden wurde, wobei das Eigene gegenüber dem Anderen immer als das Bessere angesehen wurde. Es fängt schon an bei den Griechen, die sich als Griechen im Gegensatz zu den Barbaren verstanden. Es folgten die Christen, die sich von den Heiden als den Ungläubigen absetzten, es folgte im Zeitalter der Aufklärung das Selbstverständnis Europas als der zivilisierten Menschen, die sich von den Wilden und Primitiven absetzten, eine Denkweise, die sich bis heute im Reden über die Entwicklungsländer fortsetzt. Im 19. Jh. bildete sich die Deutsche Nation in der Unterscheidung von Frankreich als den Welschen, wobei die Deutschen in Anspruch nahmen, Kultur zu haben und sich von dem absetzten, was bloß als Zivilisation verstanden wurde. Im Nationalsozialismus haben wir in Deutschland erlebt, wie man sich als Arier im Unterschied von den Juden verstand und damit als die Herrenrasse. Dieses Denken ist keineswegs überwunden, wie man etwa im Blick auf Lévi-Strauss und seine strukturale Anthropologie erwarten könnte. Es kehrt heute wieder bei Fraktionen und Ländern 8
Munasu Duala-M’bedy: Xenologie: Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie, München 1977.
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Gernot Böhme
wie Ungarn und Polen, die sich als christliche Länder verstehen und ihre Kultur als christliche von der moslemischen absetzen. 4.
Schwierigkeiten bei der Anerkennung des Fremden
Diese Art des Selbstverständnisses und des Selbstbewusstseins kann man als angestrengtes Selbstsein bezeichnen. Das wird schon im Blick auf die Logik deutlich. Die Unterschiede zwischen dem Eigenen und dem Fremden sind, mit Hegel zu sprechen, definiert als bestimmte Negation: Das Eigene und das Andere definieren sich gegenseitig durch das, was sie nicht sind. Die Identität bestimmt sich gegen das Andere als dem heteron, das es nicht ist. Dass hier das Verhältnis vom Eigenen und Fremden in besonderer Weise gedacht wird, kann man sich deutlich machen dadurch, dass es von der griechischen Logik her noch einen weiteren Begriff des Anderen oder des Unterschiedes gibt, nämlich diaphora: der Unterschied, der bloß dazu dient, das Eine vom Anderen zu unterscheiden, nicht aber das Eine vom Anderen her zu definieren. So unterscheidet sich eine rote Tasse zwar von einer blauen, die Eigenschaft des Blauseins besteht jedoch nicht darin, im Gegensatz zu Rotsein zu stehen. So könnte man das Eigene und das Andere auch verstehen, nämlich dass man selbst ohne den Blick auf den Anderen entwickelt, was man ist, und der Andere desgleichen. In der Tradition des europäischen Verständnisses des Eigenen und Anderen dagegen gehört zum eigenen Selbstverständnis, dass man nicht so ist wie der Andere: Selbstsein durch Absetzung vom Anderen. Eine solche Art des Selbstverständnisses enthält nun gefährliche psychodynamische Probleme. Auf die hat die ethnologische Forschung hingewiesen, insbesondere im Verhältnis der zivilisierten Völker zu den Primitiven. Es kann sein, dass man im Anderen erblickt und dem Anderen zuschreibt, was man sich selbst versagt. Das kann bedeuten, dass man mit Hass und Neid auf das blickt, was man in dem Anderen erkennt, aber eben auch, dass es eine darauf gerichtete, unterschwellige, nicht zugelassene Liebe gibt. Mit diesem Problem müssen beide Seiten rechnen. Natürlich 78 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Der Fremde ist der Gast, der bleibt
fällt einem dabei zunächst ein, dass die einwandernden Moslems in den aufnehmenden europäischen Ländern Verhaltensweisen, Kleidersitten und einen Umgang zwischen den Geschlechtern beobachten, den sie sich selbst versagen müssen. Das scheint auf der Hand zu liegen. Nur, dass auch das Umgekehrte gelten könnte, fällt kaum jemandem auf. Deshalb müssen wir es hier betonen mit der These: Das Ernstnehmen des Anderen kann nicht nur in Toleranz bestehen, also z. B. in dem interesselosen Zulassen, dass es auch andere Religionen gibt. Vielmehr impliziert es auch ein Stück Selbstkritik. Soll Integration gelingen, so können wir nicht einfach von den Zuwanderern verlangen, dass sie sich auf unser Leben und unsere Kultur einlassen. Vielmehr verlangt der Prozess der Integration der Anderen, der Flüchtlinge, in unseren Staaten, in unserer Kultur auch eine Revision des eigenen Lebens. Diese Integration, soll sie gelingen, kann nicht in Assimilation der Anderen an unsere Lebensformen allein bestehen. Oder besser gesagt, sie muss misslingen, weil sie das besondere Wesen der Anderen praktisch negiert und ausschließt. Wir haben mit dem bisher betriebenen Typ von Integration, nämlich durch Angleichung, in Deutschland Erfahrungen und müssen auf schlimme politische Fehler zurückblicken, so etwa bei der sog. Wiedervereinigung. Ich sage sogenannten Wiedervereinigung, weil nämlich die Vereinigung der Bundesrepublik mit dem, was die DDR war, nicht darin bestand, dass jeder Teil, was vom Eigenen gut war, in ein neues Ganzes einbrachte. Vielmehr musste sich die DDR erst in eine Reihe von »Ländern« umwandeln, die sich dann der Bundesrepublik anschlossen. Dabei wurde das Grundgesetz für die dann sog. neuen Bundesländern schlicht übernommen, das heißt es kam nicht zu einer Revision des Grundgesetzes und zu einer Integration derjenigen Elemente in die Grundrechte, die aus der Verfassung der DDR gut waren. Es kam also nicht zu einer neuen verfassungsgebenden Versammlung. Dadurch wurde das Gefälle, das nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf Achtung und Selbstachtung zwischen der Bundesrepublik und der DDR bestand, auf Jahrzehnte zementiert. Worin besteht gegenwärtig, was man Integration nennt? Die 79 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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Integrationskurse, die für Zuwanderer angeboten werden und in der Regel sogar verpflichtend sind, umfassen 600 Stunden Sprachkurs und 100 Stunden Orientierung. Diese 100 Stunden informieren über die bundesrepublikanische Rechtsordnung, die leitenden Werte, sie informieren über Religionsfreiheit, über die Gleichberechtigung der Frau, über Trennung von Kirche und Staat und Toleranz gegenüber anderen Religionen. Sie informieren, das heißt es werden in diesen 100 Stunden quasi im Schnellkurs nur Informationen über das aufnehmende Land, die Bundesrepublik Deutschland, vermittelt. Übungen und praktisches Kennenlernen einzelner Lebensbereiche gehören nicht dazu. Insbesondere sind Begegnungen, sagen wir in Gesprächskreisen, Workshops usw. durch Personen der aufnehmenden Kultur nicht vorgesehen. Wenn man den Begriff der Integration ernstnehmen würde und von dem schlechten Beispiel der Wiedervereinigung Deutschlands lernen könnte, dann müsste es auch Integrationskurse für Deutsche, also für Personen des aufnehmenden Landes geben. Wir, die Deutschen, der deutsche Staat und die deutsche Kultur werden uns faktisch durch die Zuwanderung ändern. Auch wenn diese Zuwanderung nicht einen solchen Umfang haben wird wie in dem Jahr 2015, sondern nur in der Größenordnung von Zahlen stattfindet, die auch die CSU akzeptabel findet, so wird das, über lange Zeit hochgerechnet, doch zu einem Bevölkerungsanteil von Migranten führen, die dann keine Minderheit mehr sind. Wenn die Bundeskanzlerin einmal sagte, »der Islam gehört zu Deutschland«, so war das zwar zu dem Zeitpunkt 9, als sie es sagte, keine faktische Feststellung, sondern eine Prognose und die Aufforderung, sich für die Zukunft darauf einzustellen. Deutschland ist de facto schon zu einem Einwanderungsland geworden und das muss zur Folge haben, dass das Nebeneinander und Miteinander unterschiedlicher Kulturen für dieses Land zur gelebten Lebenspraxis werden muss. Dafür muss heute die Frage gestellt wer9
Sie war nicht die erste, die diesen Satz aussprach, vielmehr wurde er prominent durch den damaligen Bundespräsidenten; s. Christian Wulff: »Der Islam gehört zu Deutschland«, unter: http://www.zeit.de/2015/09/christian-wullf-angela-mer kel-islam-deutschland (Stand: 20. 7. 2017).
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Der Fremde ist der Gast, der bleibt
den: Was können wir vom Islam lernen und, noch allgemeiner, was kann der Norden vom Süden lernen? Dieses Lernen muss in der Bereitschaft, sich selbst zu ändern, also in einer Selbstkritik bestehen. Wenn man dafür Beispiele sucht, es sind folgende: • Unsere deutsche, wie allgemein die westliche Zivilisation ist inzwischen durch einen radikalen Individualismus geprägt. Das zeigt sich z. B. darin, dass man in der öffentlichen Debatte zum Schutz des Privaten Privatheit generell als die Sphäre des Individuums betrachtet. Das ist aber eine Entwicklung, die sich erst mit dem 20. Jh. durchgesetzt hat. Davor war Privatheit eher etwas, was man mit anderen teilte, also etwa der private Raum der Familie. Heute setzen Jugendliche ihre Privatheit bereits gegen die Familie. Gemeinschaftliches Leben wurde zunächst auf die Familie reduziert und heute setzt sich diese Tendenz in der Ausbildung von Single-Haushalten – in manchen Großstädten bereits 50 % – fort. Unser wohlorganisiertes Gemeinwesen ist, wie Norbert Elias sagt, eine Gesellschaft der Individuen. Die Verpflichtung dem Ganzen gegenüber und die Solidarität mit anderen entwickelt sich nicht in gemeinschaftlichen Lebensformen, sondern wird über Steuern, karitative Verbände und Spenden organisiert. Diese Lebensform, die sich historisch stets als Fortschritt geriert hat – man denke nur an die verschiedenen Wellen der Emanzipationsbewegung –, ist durchaus defizitär und gibt Anlass zu der Frage, ob wir in dieser Hinsicht von den Zuwanderern etwas lernen können. • Unsere Gesellschaft ist eine Leistungsgesellschaft. Wenn man das so allgemein ausspricht, dann heißt das, dass der Leistungsgedanke nicht bloß auf Sport und Arbeit eingeschränkt ist, sondern wie bereits Marcuse in Eros and Civilisation 10 1955 feststellte, auch den Bereich der Bildung und sogar der Freizeit erfasst hat. Diese Durchorganisation unserer Gesellschaft bedeutet für ihre Teilnehmer ein Leben nach der Uhr und nach 10
Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1978. S. auch Gernot Böhme (Hrsg.): Kritik der Leistungsgesellschaft, Bielefeld und Basel 2010.
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Gernot Böhme
der Terminzeit. Es bedeutet, dass alle an Zeitknappheit leiden und im Stress leben. Das impliziert ein besonderes Verhältnis zur Zeit, einer Zeit, die wesentlich aus Terminen und Zeitquanten besteht. Qualitativ unterschiedliche Zeiten gibt es nicht, wie sie etwa noch die griechische Kultur kannte, nämlich den kairos als Zeit für … und günstigen Augenblick. Eine Zeitauffassung qua Terminzeit kennen die, die zu uns wandern, in der Regel nicht, insbesondere nicht die Flüchtlinge aus Afrika. Man muss damit rechnen, dass sie erhebliche Probleme dabei haben werden, in dieses Zeitregime einsozialisiert zu werden, und noch mehr als die Deutschen die Erfahrung von Stress machen. Umgekehrt können wir uns fragen, was wir aus ihren traditionellen Lebensformen lernen können. Das könnten beispielsweise rituelle Lebensvollzüge sein, ein Praktizieren von Muße oder das Verweilen beim Jeweiligen: der Aufenthalt. • Ethnologen haben häufig unsere, die westliche Kultur als eine Schuldkultur von östlichen, insbesondere von fernöstlichen Kulturen als Schamkulturen unterschieden. Wie weit diese Unterscheidung reicht, kann hier nicht entschieden werden, doch wir müssen damit rechnen, dass zumindest unsere muslimischen Zuwanderer traditionell eine Schamkultur gepflegt haben. Es ist geradezu grotesk, diese auf das äußere Kennzeichen des Kopftuches zu reduzieren und es noch dazu als ein Symbol für die Unterdrückung der Frau zu verstehen. Das mag zwar auch ein Aspekt sein, den aber primär die Betroffenen bearbeiten müssen. Tatsächlich ist aber Scham etwas, was den Umgang mit dem eigenen Körper und die Beziehung der Geschlechter weitgehend bestimmt. Und vor allem ist diese Schamkultur keineswegs nur eine, die lediglich das weibliche Geschlecht betrifft. Vielmehr gibt es auch am männlichen Körper Schambereiche und entsprechende Regeln, die nicht nur die Beziehung zu anderen und die Sichtbarkeit, sondern auch die Beziehung zum eigenen Körper bestimmen. Das wird in der Begegnung mit westlicher Kultur, insbesondere im medizinischen Bereich relevant. Häufig ist die medizinische Untersuchung nach westlichen Methoden nicht nur bei Frauen, 82 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Der Fremde ist der Gast, der bleibt
sondern auch bei Männern ein Problem. 11 Seit dem 20. Jh. wird in westlichen Kulturen das Zurückweichen der Schamgrenze als Fortschritt gefeiert. Insbesondere ging es um die Frage, was vom menschlichen Körper und von Körperpraxen im Film und dann auch im Theater gezeigt werden konnte. Heute in Zeiten des Internets gibt es überhaupt keine konsentierten Schamgrenzen mehr. Kann man das weiterhin als Fortschritt verstehen? Im 20. Jh. war die Eroberung der Nacktheit und die Enttabuisierung von Sexualität ein Fortschritt, weil man sich aus der Prüderie des 19. Jh. emanzipierte. Doch das liegt schon weit zurück und kann kaum eine Motivation für allgemeine Schamlosigkeit sein. Deshalb ist auch hier Selbstkritik erforderlich und die Frage, was wir aus Schamkulturen, deren Träger zu uns kommende Flüchtlinge häufig sind, lernen können. Das sind nur wenige, aber doch gewichtige Beispiele dafür, dass Integration nur gelingen kann, wenn wir Bürger des aufnehmenden Landes und Träger der hiesigen Kultur zu Selbstkritik fähig sind und bereit sind, von unseren Neubürgern und Trägern anderer Kulturen zu lernen. Wie für die Zuwanderer so wird auch für uns, die Aufnehmenden, das nicht ohne Übungen und konkrete Lebenspraxis realisierbar sein. Die Bemühung darum bedeutet, dass die Zuwanderung nicht nur im Sinne der Bevölkerungspolitik und der Wirtschaft uns nützt – was immer wieder in legitimatorischem Tonfall betont wird –, sondern zu einer Erweiterung und Fortentwicklung unserer eigenen Kultur beiträgt. Bibliographie Böhme, Gernot: »Da wo wir lieben, ist Vaterland …« (dt. und engl.), in: Schmidt, J. Alexander / Reinhard Jammers, Stadt als Heimat? Essener Forum Baukommunikation, Essen 2009, S. 10–20. Böhme, Gernot (Hrsg.): Kritik der Leistungsgesellschaft, Bielefeld und Basel 2010. 11 S. dazu Farideh Akashe-Böhme: Sexualität und Körperpraxis im Islam, Frankfurt am Main 2006 und Farideh Akashe-Böhme / Gernot Böhme: Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen, München 2005.
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Gernot Böhme
Böhme, Gernot: »Poetisches Leben im Darmstädter Kreis der Empfindsamen«, in: Ders. (Hrsg.): Über Goethes Lyrik (Schriften der Darmstädter Goethegesellschaft V), Bielefeld 2015, S. 81–95. Böhme, Gernot (Hrsg.): Der mündige Mensch. Denkmodelle der Philosophie, Geschichte, Medizin und Rechtswissenschaft. Darmstadt 2009. Akashe-Böhme, Farideh: Sexualität und Körperpraxis im Islam, Frankfurt am Main 2006. Akashe-Böhme, Farideh / Gernot Böhme. Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen, München 2005. Duala-M’bedy, Munasu: Xenologie: Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie, München 1977. Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996 (dt.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1998). Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1978. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908.
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Karen Joisten
Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen? Anmerkungen zur Lebensaufgabe, der zu werden, der man sein könnte Geht es um die Frage nach der Lebensaufgabe, der zu werden, der man sein könnte, werden wir in unserer philosophischen Perspektive keine inhaltliche Antwort im Sinne einer Allweltweisheit geben wollen. Inhaltlich würde dann nämlich bedeuten, genau dieses oder jenes zu benennen und zu fixieren, was konkret jeder Einzelne (trotz der Vielzahl an Differenzen zu anderen Einzelnen) zu tun oder auch zu lassen hat, um der zu werden, der er/sie sein könnte. Man hätte dann rasch kluge Hinweise an der Hand, die in noch klügere Ratschläge zur Selbstentfaltung einmünden und – auf die Spitze getrieben – Lebenshilfepatentrezepte für jedermann/jedefrau darstellen, die nur strikt zu befolgen sind, um die optimale Entfaltung eines Menschen zu ermöglichen. Augenzwinkernd gesagt: Man hätte einen optimistischen Lebenshilfefehlschluss, bei dem vom Inhalt des Seins menschlichen Lebens auf das Sollen konkreten Handelns geschlossen wird. Was wollen wir also tun, um einer solchen inhaltlichen Universalisierungsfalle zu entgehen? Wir wollen eine strukturelle Ausdeutung der Themenstellung, wie sie im Titel des Beitrages »Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?« angezeigt wird, vornehmen. Wir wollen demnach über das Verhältnis des Menschen zu sich selbst nachdenken und eine Struktur aufweisen, die eine anthropologische Grundstruktur ist. Sie ist konstitutiv für den Menschen, für seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen, für seine Bezüge innerhalb eines kulturellen Systems, das seine je spezifischen Wertungen, Bedingungen und Bedingtheiten in sich birgt. Natürlich fange ich bei diesen Überlegungen nicht vorausset85 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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zungslos bei null an, werde ich doch Gedankenfäden miteinander verbinden und ineinander verweben, die mich seit längerem beschäftigen: etwa die bereits angezeigte, aber noch nicht eigens ausgesprochene Deutung des Menschen als Heim-weg und deren Anwendung in unterschiedlichen Kontexten; 1 auch das berühmte Wort aus den »Pythischen Oden« von Pindar »Werde, der du bist« 2 läuft im Hintergrund unserer Überlegungen mit, das von Friedrich Nietzsche im dritten Buch seiner »Fröhlichen Wissenschaft« im Aphorismus 270 aufgegriffen wird. Hier schreibt er: »Was sagt Dein Gewissen? – ›Du sollst der werden, der du bist.‹« 3 Daneben ist eine weitere Gedankenreihe, wie sie Heraklit ausspricht, ebenfalls im Hintergrund präsent. So sagt er: »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, wenn du auch alle Wege absuchtest; so tiefgründig ist ihr Wesen.« 4 1
Die Strukturdeutung des Menschen als Heim-weg findet sich detailliert in meiner Monographie: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003. – Anwendungen dieser Strukturdeutung auf konkrete Praxisfelder finden sich in: Karen Joisten: Aufbruch. Ein Weg in die Philosophie, Berlin 2007. Siehe auch die Publikationen: Karen Joisten: »Auf der Suche nach Heimat. Oder: Der Menschen zwischen Wohnen und Gehen«, in: Fabienne Liptay u. a. (Hrsg.): Heimat. Suchbild und Suchbewegung, Remscheid 2005, S. 81–100. (überarbeitet auch in: Martin Heinze u. a. (Hrsg.): Utopie Heimat. Psychiatrische und kulturphilosophische Zugänge, Berlin 2006, S. 103–123.) – Karen Joisten: »Der Mensch als Heimweg«, in: Die politische Meinung, Nr. 512, Osnabrück 2012, S. 39–46. – Karen Joisten: »Heimat und Heimatlosigkeit. Philosophische Perspektiven«, in: Jürgen Manemann/Werner Schreer (Hrsg.): Religion und Migration heute. Perspektiven – Positionen – Projekte, Regensburg 2012, S. 215–226. – Karen Joisten: »Der Mensch als Heim-weg. Und der Prozess des Verheimens. Ein kleiner Streifzug durch heimatliche Gefilde«, in: Joachim Klose / Hans-Gert Pöttering (Hrsg.): Wir sind Heimat. Annäherungen an einen schwierigen Begriff, Dresden 2012, S. 13–30. 2 Nähere Ausführungen finden sich bei Erich Thummer: »Die zweite pythische Ode Pindars«, unter: http://www.rhm.uni-koeln.de/115/Thummer.pdf (Stand: 5. 6. 2018). 3 Friedrich Nietzsche: KSA 3 (= Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3), hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, S. 519. Eine Antwort darauf hat Nietzsche meines Erachtens in seiner Schrift »Also sprach Zarathustra« vorgelegt, der wir uns später zuwenden werden. 4 Wilhelm Capelle (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, S. 148.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
Um uns bei diesen Gedankenreihen nicht zu verheddern, gehen wir in drei Schritten vor: Wir werden in einem ersten Schritt eine hermeneutisch-strukturelle Lektüre von Aurelius Augustinus durchführen und in einem zweiten Schritt eine hermeneutischstrukturelle Lektüre von Friedrich Nietzsche vornehmen. Denn, so die These, das jeweilige Denkmodell legt jeweils den Akzent auf eine der beiden Seiten, die in der Überschrift unseres Beitrages genannt werden: Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen. Um diese beiden Lektüren näher aneinander heranrücken zu lassen, fokussieren wir uns auf das metaphorische Feld des Schiffes (u. a. mit Hafen, Meer, Seefahrern, Schiffbrüchigen), das in den beiden unterschiedlichen Positionen je spezifisch ausgedeutet und angewendet wird. Im Zuge dessen wird auch das Heimische und das Fremde different gewichtet und gewertet und der Mensch unterschiedlich gefasst und strukturell bestimmt. In einem dritten Schritt werden wir vor dem Hintergrund unserer Deutung des Menschen als Heim-weg diese beiden Positionen aufeinander beziehen und einige Anmerkungen zur Lebensaufgabe, der zu werden, der man sein könnte, geben. 1.
Die Heim-Kehr zum »Festland des Glücks« (Augustinus). Oder: Fremdsein im Heimischen
Während Augustinus insbesondere in seinem frühen Dialog »De beata vita«, auf den wir unser Augenmerk richten wollen, das Fremdsein im Heimischen ins Zentrum rückt und die Implikationen, die damit verbunden sind, herausarbeitet, steht Friedrich Nietzsches Konzeption, wie er sie im »Zarathustra« entfaltet, für ein Denken, in dem das Heimische im Fremden besondere Beachtung erfährt. Bei Augustinus geht es nämlich darum, dass der Mensch zu Gott heimkehrt und das heißt, dass er sich vom Draußen abwendet, in sein Eigenstes/Innerstes zurückkehrt und in Gott Ruhe findet und in ihm wohnt. Die Fremde ist daher letztlich primär eine graduelle Fremdheit, die im Draußen, dem Foris zu lokalisieren ist und die aufgrund des Wandelbaren, Veränderlichen und Unstetigen alles dessen, was ist, im Menschen in unter87 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Karen Joisten
schiedlichen Ausgestaltungen erfahrbar wird. Dieses Draußen flüchtiger Gegebenheiten kann der Mensch in einer Ab- und Umkehrbewegung hin ins eigene Innere hinter sich lassen, wodurch er in eine ursprüngliche Nähe zu Gott gelangt. 5 Aus einer anderen Perspektive gesagt: Aurelius Augustinus ist Repräsentant einer metaphysischen Konzeption, bei der am Anfang die beiden Axiome stehen: Gott ist. Und: Der Mensch wohnt aufgrund seiner Geschöpflichkeit und Ebenbildlichkeit Gottes in der Nähe Gottes und hat eine wesentliche Beziehung zu ihm. In der Konsequenz eines solchen Ansatzes, ist ein Selbstgespräch, das Augustinus mit sich führt, konstitutiv ein Gespräch mit Gott. Programmatisch heißt es daher bereits zu Beginn in den »Soliloquia«: »Augustinus: So habe ich nun zu Gott gebetet. Vernunft: Was willst du also wissen? A.: All das, was ich im Gebet gesagt habe. V.: Faß es kurz zusammen. A.: Gott und die Seele will ich erkennen. V.: Weiter nichts? A.: Gar nichts. V.: Also, fang an zu fragen.« 6
Dem Menschen, dem das Göttliche als Bestes, Wahrstes, Höchstes und gewissermaßen Menschlichstes innewohnt, wird Gott in der Flüchtigkeit, Wandelbarkeit und Unstetigkeit menschlichen Lebens nicht finden können. Er hat sich daher vom Äußeren mit seinen Äußerlichkeiten abzuwenden und ins Innere zu gehen. Er hat sich demnach in seinem Leben willentlich und wissentlich nach Gott auszurichten, um im Überstieg über sich selbst das Göttliche als das ihm immanente Telos anzuzielen und in seinen 5
Die folgenden Ausführungen zu Augustinus lehnen sich eng an einige Absätze in meiner Monographie: »Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie« an. Einige Abschnitte wurden paraphrasiert, andere wörtlich übernommen. 6 Aurelius Augustinus: »Selbstgespräche«, in: Ders.: Selbstgespräche. Von der Unsterblichkeit der Seele. Lateinisch und Deutsch. Einführung, Übertragung, Erläuterungen und Anmerkungen von Hanspeter Müller (SG), München und Zürich 1980, S. 7–153, S. 19.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
eigenen Ursprung zurückzukehren. Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gehen daher ebenso Hand in Hand, wie die Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis dem Menschen seine Glückseligkeit ermöglicht. 7 Die Frage nach dem ›Wohin‹ menschlichen Lebens ist in einer solchen Konzeption durch die bereits gesetzte Antwort auf die Frage nach dem ›Woher‹ beantwortet. Der Mensch, der von Gott kommt, hat, um in sein wahres Wohnen zu finden und den Ort seiner echten Heimat zu erreichen, eine Umkehrbewegung vorzunehmen, sich vom Äußeren abzuwenden, nach Innen zu gehen und auf diese Weise zu Gott zurückzukehren. Verwandelt sich die Antwort auf die Frage nach dem ›Woher‹ in einem solchen Kontext in die Frage nach dem ›Wohin‹, zeigt sich der Vollzug einer Re-version des Menschen in seiner Denkhaltung, wobei die Vorsilbe »Re« im Sinne von ›zurück‹, präziser gesagt, von ›heim‹ zu verstehen ist. 8 Vor diesem Hintergrund könnte man die Differenzen aufzeigen, die zwischen einer solchen Position im Kontext des Denkens von Augustinus und unserer heutigen Zeit bestehen. Fragt man heutzutage »woher komme ich?«, können mögliche Antworten lauten: von der Arbeit, von zu Hause, aus München, Mainz oder Hamburg. Das Fragewort »Woher« fragt für unsere Ohren nach einem bestimmten örtlichen Bezugsrahmen (Arbeit oder das Haus) oder auch nach einem bestimmten Ort (München, Mainz oder Hamburg), wodurch die Frage nach dem »woher?« sich auch mit der Angabe dieses Ortes zu klären scheint. Sichtbar wird da7
Im Blick auf Augustinus’ Ethik schreibt daher Hanspeter Müller: »In der Dualität von Körper und Seele gebührt der Seele der Vorrang. Im Sinne des Neuplatonismus, der sich darin mit den christlichen Lehren deckt, nennt Augustin das sittliche Leben eine fortwährende Läuterung. Diese bedeutet in allen Fällen […] daß die Ansprüche des Leibes abgeworfen werden; so in der mildesten Form, daß man ein Leben der Liebe führe, mit Freunden zusammen, ohne Leidenschaft, Eßund Trinklust oder andere sinnliche Lüste (wie Faulheit, Schlaf, Baden) ohne allen Egoismus (Ehrgeiz, Neid, Haß, Dünkel werden ausdrücklich erwähnt). Das der Vernunft gemäße Leben verbürgt Glückseligkeit.« Einführung, S. 234. In: Augustinus: SG, S. 207–249. 8 Nähere Ausführungen finden sich in: Joisten, Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, S. 201 ff.
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Karen Joisten
ran, dass sich das Fragen nach dem »Woher« und dem »Wohin« durch Antworten innerhalb eines immanenten Horizontes beruhigt und Antworten, die gewissermaßen quer stehen und transzendenten Charakter haben, Seltenheitswert besitzen. Man erwartet die Nennung konkreter Orte, an denen man sich aufhält und von denen man deshalb auch wieder weggehen oder auch wieder hingehen muss und gibt sich mit dieser Nennung zufrieden. Unter Umständen ließe sich aus kulturphilosophischer Perspektive darin ein Brachliegen der Frage nach der Sterblichkeit des Menschen erblicken. Ist nämlich die Frage nach dem »Woher« zum Beispiel als die Frage nach dem Ursprung, der Archē, dem absoluten Anfang, dem Göttlichen und Gott, mit der Frage nach dem »Wohin« untrennbar verbunden, lässt sie sich auch als Frage nach seiner Endlichkeit und seinem Tod lesen, die ihn dazu herausfordert, sich auf die ›Zeit‹ in und nach seinem Leben zu besinnen. 9 Versuchen wir das Gesagte mit Hilfe von Augustinus’ Schrift »De beata vita« und ihren metaphorischen Umschreibungen zu veranschaulichen. Wir finden: den »Hafen der Philosophie«, d. i. die Heimat; das »Festland«, d. i. das Glück, das durch den Hafen der Philosophie erreicht werden kann; das »Meer«, d. i. die Lebenswirklichkeit, das Fremde und Flüchtige; der »Leuchtturm«, d. i. das philosophische Werk; ein »riesiger Berg«, der die Hafeneinfahrt verengt, d. i. die Skepsis; »drei Arten von Seefahrer«, d. s. verschiedene Typen von Menschen, die unterschiedliche Weisen repräsentieren, wie man zur Philosophie gelangen kann. Zu Beginn hebt Augustinus heraus, dass der Mensch »in diese Welt wie in ein stürmisches Meer geworfen [ist] – zufällig gleichsam und aufs Geratewohl« (1) und gewissermaßen nun in seinem Leben herumirrt. 10 Er hat nämlich größte Schwierigkeiten und 9
Weitere Ausführungen finden sich in meinem Aufsatz: »Woher komme ich? Wohin gehe ich? Das Phänomen ›Heimat‹ aus der Sicht der narrativen Philosophie«, in: H. Van Uffelen u. a. (Hrsg.): Heimatliteratur 1900–1950 – regional, national, international, Wien 2009, S. 35–54. (= H. van Uffelen u. a. [Hrsg.]: Wiener Schriften zur niederländischen Sprache und Kultur. Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Kulturwissenschaft/Universität Wien, Band 5). 10 Die folgenden Zitate finden sich in: Augustinus: De beata vita/Über das Glück.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
Mühe, einen Halt zu finden und Zeichen zu erkennen, die ihm den Weg der Rückkehr zeigen. Den Menschen im stürmischen Meer, die sich von ihrem Ursprung entfernt haben, fehlen epistemologische Sicherheiten und emotional/habituelle Gewissheiten und sind daher als »nescientes errantesque« – als Nichtwissende und (Herum)irrende – zu bezeichnen. Allerdings gibt es für Augustinus angesichts dieser Lage die Möglichkeit, dass sie durch einen Sturm »gegen Willen und Widerstand ins heißersehnte Land« (1) verschlagen werden oder aber einen von Vernunft und reinem Willen bestimmten Kurs einschlagen können. Dies kann geschehen, da der Mensch trotz aller Stürme, die ihn in seinem Leben widerfahren, prinzipiell »auf den Hafen der Philosophie, durch den man Zugang hat zum Festland des Glücks« (1), bezogen bleibt. Fragt man nun nach den Menschen, »denen die Philosophie [der Hafen; K. J.] Aufnahme gewähren kann, lassen sich, […] drei Arten von Seefahrern unterscheiden« (2): Der eine Typus Seefahrer ist letztlich niemals auf die hohe See hinausgefahren. Vielmehr hat er sich, kaum ist er dazu vernünftig genug, recht mühelos in den ruhigen Hafen zurückgezogen. Dort hält er sich auf, um ein »eigenes Werk als Leuchtzeichen« (2) aufzurichten, das die Funktion hat, Mitmenschen zu mahnen und sie zu sich zu locken. Dieser Typus ließe sich als der Theoretiker bzw. als der kontemplative Typus umschreiben, der seit Platon, wenn man Hannah Arendt folgt, in der Hierarchie menschlicher Tätigkeiten den Vorrang hat. Sprechend schreibt sie: »Dennoch ist der außerordentliche Vorrang, den die Kontemplation vor Tätigkeiten jeglicher Art, auch der politischen des Handelns, in der Tradition besitzt, nicht christlichen Ursprungs. Wir begegnen ihm bereits in Platos politischer Philosophie, in der nicht nur die utopische Ordnung der Polis von der überlegenen Einsicht der Philosophen geleitet wird, sondern die bereits als Ordnung kein
Lateinisch/Deutsch. Stuttgart 1982, S. 5 ff. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Abschnitte im Fließtext.
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Karen Joisten
anderes Ziel hat, als die Lebensweise des Philosophen zu ermöglichen.« 11 Der zweite Typus Seefahrer, die zweite Gruppe von Menschen, lässt sich vom trügerischen Glanz des Meeres verführen und wagt sich weit auf das hohe Meer hinaus. Fern der Heimat schweifen sie nun umher und vergessen sie dabei oftmals. Allerdings finden sie ihre Situation alles andere als betrüblich oder niederdrückend, »da der trügerische Glanz von Vergnügungen und Ehren sie allenthalben umschmeichelt.« (2) Ein solches Leben führt für Augustinus »in tiefstes Elend«, weshalb diesen Menschen ein »widriges Wetter« oder sogar ein »tobender Sturm und Gegenwind« (also schwere Schicksalsschläge und Krisen) zu wünschen ist, der sie wieder zu »steten und echten Freuden« hinführt, unabhängig davon, ob sie »weinen und klagen«. (2) Hier ließen sich sicherlich nicht nur Bezüge zur ethischen Lebensweise, wie sie uns Sören Kierkegaard in »Entweder – Oder« mit Hilfe der Person A. umschreibt, herstellen, sondern auch zum Charakter bzw. zur »Charaktermaske« des »Ästheten« in Alasdair MacIntyres Buch »Der Verlust der Tugend«. Der reiche Ästhet ist bei MacIntyre, wie Walter Reese-Schäfer zusammenfasst, »der anspruchsvolle Konsument von Dingen und menschlichen Beziehungen […]. In dieser Gestalt des Müßiggängers, der die Langeweile durch Manipulation anderer Menschen bekämpft, liegt eine der radikalsten Formen von Modernität vor.« 12 Rückt man den ersten Teil dieser Überlegungen ins Zentrum, ist der Ästhet Ausdruck eines Seefahrers, dem es primär um das Sich-Vergnügen geht. Während bei Augustinus allerdings der Mensch durch schwere Schicksalsschläge und Krisen zu einem Umdenken gelangen kann, wird der Mensch der Moderne zu einem anderen typischen Charakter der Moderne, das ist der Therapeut, gehen und sich von ihm – im Sinne der Fortführung seines Charakters – behandeln lassen: »Und wenn Maßlosigkeit in seiner Verzweiflung 11
Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München und Zürich 1992, S. 20. 12 Walter Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus?, Frankfurt am Main und New York 1995, S. 62.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
seine Fähigkeit zum Vergnügen zu beeinträchtigen scheint, wird er sich zum Therapeuten begeben, wie er es auch bei übermäßigem Alkoholgenuss tun würde, und aus seiner Therapie eine weitere ästhetische Erfahrung machen.« 13 Die dritte Gruppe von Seefahrern, die sich ebenfalls auf das hohe Meer hinausbegeben hat, tritt ihre Rückkehr am »Ende ihrer Jugend oder nach langen und vielen Verirrungen« an, da sie dennoch »gewisse Wegzeichen [erblickt] und auf hoher See« sich an ihre Heimat erinnert. Das meint, dass die Seele, die sich von ihrem Ursprung in der Fremde entfernt hat, sich wieder an ihre wahre Heimat erinnern kann und den Weg zurück auf sich zu nehmen vermag. Überblickt man eine solche Konzeption und liest sie als eine anthropologische Struktur, bei der der Mensch innerstrukturell zwischen dem Heimischen (dem Hafen/dem Festland) und dem Unterwegssein (dem Meer) ausgespannt ist, kommt das Primat dem Heimischen zu. Ziel menschlichen Lebens ist es nämlich, diese inwendige Struktur ihr entsprechend konkret zu realisieren und das heißt, inwendig und handelnd eine Heim-Kehr zu vollziehen und das Fremdsein im Heimischen so gut wie möglich hinter sich zu lassen. Liegt dergestalt bei Augustinus der Akzent auf einem bloß graduellen Fremdsein im Heimischen, wird axiologisch gesehen die Fremderfahrung und mit ihr das Unterwegssein abgewertet. Der Mensch gerät meines Erachtens dadurch in Gefahr, sich primär auf sich und Gott zu beziehen, schärfer gesagt, sich abzukapseln und abzuschotten. In den Hintergrund gerät konsequenterweise, dass er sich, seine Mitmenschen und die Welt in permanenten Erfahrungsprozessen immer wieder neu aneignend entdecken will und die schwierige Aufgabe des unermüdlichen Ausbalancierens zwischen dem Inneren und dem Äußeren, der Einsicht und der Erfahrung, dem Eigenen und dem Fremden, Gott und Welt, auf sich nimmt. Die im Horizontalen zu situierenden Lebenswelten rücken in den Hintergrund, und in den Vordergrund drängt sich die Vertikale einer aeternitas, einer Ewig13
Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main 1995, S. 103.
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Karen Joisten
keit, die immer stehend ist und durch (echten) Glanz ausgezeichnet über und außerhalb der Zeit steht. Lesen wir Augustinus in dieser Weise als eine metaphysische Konzeption, können wir sie, wenn wir sie als eine strukturelle Lesart begreifen, nicht nur auf die im Kontext der christlichen Offenbarung zu situierenden Theologen wie zum Beispiel Thomas von Aquin oder Nicolaus Cusanus beziehen, sondern auch auf Platon, Aristoteles, Plotin, Hegel, Max Scheler und Martin Heidegger. 14 Aber nicht nur das. Sie liegt unausgesprochen auch einem Denken, wie dem von Friedrich Nietzsche zugrunde, allerdings mit einer anderen Strukturform, nämlich der des Heimischen in der Fremde. 2.
»Als Zarathustra einst durch einen Schiffbruch ans Land gespien wurde« – oder: Heimisch in der Fremde
Aurelius Augustinus haben wir als Repräsentanten einer metaphysischen Konzeption gedeutet, bei der am Anfang die beiden Axiome stehen: Gott ist. Und: Der Mensch wohnt aufgrund seiner Geschöpflichkeit und Ebenbildlichkeit Gottes in der Nähe Gottes. Diese anthropologische Setzung hat zur Folge: Der Mensch hat sich in seinem Leben willentlich und wissentlich nach diesem Göttlichen in sich auszurichten, also im Überstieg über sich es selbst als das ihm immanente Telos anzuzielen, um auf diese Weise in seinen eigenen Ursprung zurückkehren zu können. Das Primärphänomen ist bei Augustinus daher das Heimische, dessen 14
Eine Nebenbemerkung: Wir könnten von hier her einen Bogen zu den Untersuchungen von Hans Blumenberg spannen, wie er sie u. a. in seinem Büchlein »Schiffbruch mit Zuschauer« vorgelegt hat. So macht er deutlich, dass Montaigne noch den »Rat« gegeben hat, »nicht aus dem Hafen in See zu gehen«. (S. 39). Allerdings wendet sich bereits Voltaire und dessen »ebenso weltkluge wie gelehrte Freundin auf dem Chateau von Cirey, die Marquise du Chatelet« in ihrem Traktat »Über das Glück« explizit gegen ein »Liegenbleiben im Hafen der vernünftigen Überlegung«. Denn dieses Liegenbleiben führt zum »Verfehlen der Lebenschance des Glücks«. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1997, S. 39.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
Fremdheitsgrade (all das Veränderliche, Wandelbare, Flüchtige in der Vielzahl seiner Repräsentationen) in einer Heim-Kehr zu Gott möglichst abzubauen sind. Liest man den frühen Augustinus in dieser Weise, ist auf den ersten Blick die strukturelle Übereinstimmung mit Nietzsches »Zarathustra« frappierend. An die Stelle Gottes rückt der Sache nach nun der Wille zur Macht, dem der Mensch zu entsprechen hat. Am Anfang stehen bei ihm die beiden Axiome: Der Wille zur Macht ist. Und: Der Mensch kann der Bewegung der permanenten Selbstüberwindung und -steigerung, die dem Willen zur Macht immanent ist und in ihm wirksam ist, entsprechen. So ist es nicht verwunderlich, dass wir auch bei Zarathustra eine Heimkehrbewegung finden, die er mühsam durch moralisch-verkümmerte Verkrustungen hindurch vollzieht, um endlich bei sich sein zu können. Das Axiom: ›Der Wille zur Macht ist‹ in der Verbindung mit seiner Bezogenheit auf den Menschen: ›er waltet durch den Menschen hindurch‹ zeigt sich deutlich in der bekannten anthropologischen Grundthese im »Zarathustra«. Sprechend heißt es in der »Vorrede«: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.« 15 Der Mensch ist aus dieser Sicht eine gerichtete Bewegung, ein gerichtetes Unterwegssein mit dem Intentum, in der Steigerung seiner selbst zu wachsen, zu reifen, komplexer und reicher zu werden, um sich selbst hinter und unter sich zu lassen. Unter der Hand wurde bereits die anthropologische Grundthese mit der ethischen Forderung kombiniert, dieser menschlichen Verfasstheit der permanenten Selbstüberwindung zu entsprechen. Auf diese Weise wird der Mensch konstitutionell als derjenige gedeutet, der lebenslang wissentlich und willentlich 15
Nietzsche, KSA 4, S. 16 f.
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den schwierigen und mühsamen Prozess des Reicher- und Tieferwerdens auf sich zu nehmen hat, mit einer anderen Bildlichkeit gesagt, der lebenslang »Wanderer« und »Bergsteiger« zugleich ist. Auch hierzu ein anschauliches Zitat aus dem »Zarathustra«: »Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem Herzen, ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen.« 16 In dieser Lesart kann die Konzeption des »Zarathustra« durchaus als eine metaphysische Konzeption gedeutet werden, in der der Wille zur Macht das Primärphänomen ist, das mit der Radikalität menschlichen Unterwegsseins gekoppelt wird. Der Mensch soll sich während seines lebenslangen Steigerungsprozesses nicht verlieren, sondern hat diesen Prozess anzunehmen, umschreibend gesagt, in ihm zu wohnen. Zarathustra geht es daher um ein Wohnen im Unterwegssein, bei dem das Fremde das Primärphänomen ist. Zwar kennt Zarathustra auch das Gefühl beheimatet zu sein, das sich während dieses Prozesses immer wieder in verdichteten Momenten einstellen kann (nämlich dann, wenn er all das, was ihn im Laufe seiner moralischen Entwicklung entfremdet hat, hinter sich lassen kann), aber die willentlich und wissentlich zu vollziehenden Selbstüberwindungen treiben ihn stets weiter und voran. Beziehen wir das Gesagte nun auf den metaphorischen Kontext des Schiffes, wie wir ihn auch bei Nietzsche finden. Schauen wir uns dazu das Fragment »Vom Getümmel« an, das Nietzsche während seiner Arbeit am »Zarathustra« geschrieben hat: »Als Zarathustra einst durch einen Schiffbruch ans Land gespien wurde und einst auf einer Welle ritt, wunderte er sich: ›wo bleibt mein Schicksal? Ich weiß nicht, wo hinaus ich soll. Ich verliere mich selber.‹ Er wirft sich ins G e t ü m m e l . Dann von Ekel überwältigt sucht er etwas z u m Trost – sich«. 17
Während bei Augustinus der Mensch derjenige ist, der als Seefahrer zurück in seinen Hafen und auf das Festland möchte, ist 16 17
Ebd., S. 193. Nietzsche, KSA 10, S. 568.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
bei Nietzsche der Mensch zunächst der Schiffbrüchige. Er findet auf dem Land buchstäblich keinen Boden unter den Füßen, ist orientierungs- und haltlos, weiß nicht, wohin er gehen soll, findet sich selbst nicht. Weitet man den Blick und verortet diese Äußerung in das Werk Nietzsches und den gesamten »Zarathustra«, ist diese existentielle Krisensituation des zu verspürenden Selbstverlustes alles andere als verwunderlich. Denn die Figur Zarathustra sieht sich zunächst einem Wertloswerden aller bisherigen Werte gegenüber, das durch den Tod Gottes, der Garant der bisherigen dualistischen Wertungsweise ist – hier das Gute, dort der scharfe Gegensatz: das Böse –, herbeigeführt wurde. Der Mensch, der den Glauben an Gott verloren und ihn dadurch getötet hat, taumelt buchstäblich umher, ohne eine Ausrichtung und ohne ein Ziel. Als ein Beleg kann auf den berühmten 125. Aphorismus aus der »Fröhlichen Wissenschaft« verwiesen werden, in dem sich die existentiellen Fragen finden: »Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?« 18 Diese radikale Krisensituation, dieser Nihilismus als Inbegriff des Wertloswerdens der bisherigen höchsten Werte, muss allerdings nicht das letzte Wort haben. Denn – denken wir an die anthropologische Grundthese – Zarathustra darf als Ausdruck eines Menschen verstanden werden, der dieses Wertloswerden der bisherigen Werte, Normen und Wertungsweise in gewisser Weise hinter sich lassen kann. So wird der Schiffbruch die Voraussetzung, sich auf den Weg hin zum eigenen Land zu machen (der Mensch dreht sich um sich selbst im Über-sich-hinaus-gehen), trotz und in lebenslang zu vollziehenden Überwindungsbewegungen sich nicht zu verlieren, im Unterwegssein zu wohnen, in einer relativen Weise heimisch in der Fremde zu sein, niemals stehen zu bleiben. 19 18 19
Nietzsche, KSA 3, S. 481. Während des Unterwegsseins, während der Veränderungen, die der Mensch
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Überblickt man eine solche Konzeption und liest sie als eine anthropologische Struktur, bei der der Mensch innerstrukturell zwischen dem Unterwegssein (als ein Schiffbrüchiger wird er zum Wanderer und Bergsteiger) und dem Heimischen (der Akzeptanz dieses Unterwegsseins im Bei-sich-sein) ausgespannt ist, kommt das Primat dem Unterwegssein zu. Ziel menschlichen Lebens ist es aus der Sicht Nietzsches nämlich, diese inwendige Struktur ihr entsprechend konkret zu realisieren und das heißt, inwendig und handelnd den Selbstüberwindungsprozess zu vollziehen und ihn so gut wie möglich auszuhalten. Gelingt dies dem Menschen nicht mehr, etwa weil die Kräfte fehlen und der Wille nachlässt, legt Zarathustra es nahe, sich selbst zu töten, weniger scharf klingend formuliert, den freien Tod zu wählen: »Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will. […] Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein-sager, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja: also versteht er [d. i. der Mann; K. J.] sich auf Tod und Leben.« 20
Liegt dergestalt der Akzent auf einem prinzipiellen Sich-überwinden- und Wachsen-können des Menschen, wird axiologisch gesehen die Fremde und mit ihr das Unterwegssein aufgewertet. 21 vollzieht, gelingen ihm Momente des In-sich-Ruhens, die im »Zarathustra« z. B. mit der metaphorischen Umschreibung »Wie solch ein müdes Schiff in der stillsten Bucht« angezeigt wird: »Wie solch ein müdes Schiff in der stillsten Bucht: so ruhe auch ich nun der Erde nahe, treu, zutrauend, wartend, mit den leisesten Fäden ihr angebunden.« (Nietzsche, KSA 4, S. 343). 20 Ebd., S. 94 f. 21 Von hier her könnte man das berühmte Gedicht »Abschied« von Nietzsche näher untersuchen, dessen letzter Vers lautet: Die Krähen schrei’n /Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:/Bald wird es schnei’n – /Weh dem, der keine Heimat hat!« (Nietzsche, KSA 11, S. 329.). Berücksichtigt man die Hauptüberschrift, die zumeist nicht zitiert wird, nämlich »Der Freigeist«, wird sichtbar, dass die vermeintliche Klage (»Weh dem, der keine Heimat hat!«) keinen Verlust bejammert, sondern im Gegenteil zum Ausdruck bringt: Weh dem, der in der Fremde als Freigeist noch nicht heimisch ist. An dieser Aufgabe der Loslösung und Befreiung alles Tradierten gibt es nichts zu rütteln, im Gegenteil. Lassen wir Nietzsche selbst zu Wort kommen und zitieren wir die erste Strophe seines Gedichtes »Antwort«, das direkt nach dem Gedicht »Abschied« ebenfalls unter der Hauptüberschrift »Der Freigeist« zu finden ist. Hier heißt es: »Daß Gott erbarm’! /Der meint, ich
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
Der Mensch gerät meines Erachtens dadurch in Gefahr, sich primär auf sich in der Potentialität seiner Steigerungsfähigkeit zu beziehen, ständig darum bemüht, immer wieder eine innere Maximierung in der Umwandlung des Fremden ins Eigene zu erzielen. Ohne Mitmensch und Welt ist er auf seinen eigenen Wegen der Selbstüberwindung unterwegs, weg von der bisherigen Moral hin zu einer Immoral, jenseits von Gut und Böse. Eine solche Konzeption hat ihre Grenzen in der Ausblendung des Mitmenschen und ihre Möglichkeiten im Appell an den Einzelnen, auf sich zu schauen und im Rahmen seiner Fähigkeiten diese zum Äußersten und Höchsten zu entfalten und auszuschöpfen. 3.
Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen
Im Folgenden werden wir diese beiden Strukturen, die in den Wendungen Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen ausgesprochen werden, als Teilaspekte eines dynamischen Strukturgefüges deuten, das wir, wie oben erwähnt, als Heim-weg bezeichnen. Das meint, dass wir von einer Doppelstruktur des Menschen ausgehen, die der Leiblichkeit des Menschen eingeschrieben ist. So ist der Mensch mit seiner Geburt durch und durch leiblich und dies in der Weise, dass er stets heimisch und zugleich weghaft ist. Um Missverständnisse von vornherein aus dem Weg zu räumen, ist der Mensch – auch in der Fokussierung auf seine heimische Seite – niemals voll und ganz bei sich und kann es auch gar nicht sein. Denn der Stachel des Weghaften, der in der heimischen Seite nistet, verhindert es, voll und ganz in sich selbst bleiben zu können. Und in der Fokussierung auf die weghafte Seite ist der Mensch niemals voll und ganz außerhalb seiner selbst unterwegs, ohne Rückbindung an ein Selbst, das relative Dauer ermöglicht. 22 sehnte mich zurück/In’s deutsche Warm./In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!« (ebd., S. 330.). 22 Würden wir den Bogen zur Psychiatrie schlagen, könnte man psychische Erkrankungen unter Rückgriff auf die Doppelstruktur und der Art und Weise ihrer
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Der Mensch ist (mit dem Akzent auf das Heim-) in den Beziehungen zu seinen Mitmenschen, aber auch in den vielfältigen Bezügen zu seiner kulturellen Welt in zeitlicher, räumlicher, sprachlicher, moralischer Hinsicht darauf angewiesen, (relativen) Halt zu finden, eine (relative) Orientierung zu gewinnen und (relative) Realisierung im konkreten Leben deuten. Es wäre beispielsweise möglich, die vier Grundformen der Angst, wie sie Fritz Riemann in seinem Psychologie-Klassiker »Grundformen der Angst« aus dem Jahre 1961 beschrieben hat, auf die beiden Pole der Doppelstruktur zu beziehen und sie von hier her zu deuten. Riemann zufolge sollen wir erstens »uns der Welt, dem Leben und den Mitmenschen gegenüber öffnen« [also die weghafte Seite unserer selbst realisieren; K. J.], womit die Angst einhergeht, »unser Ich zu verlieren, abhängig zu werden, uns auszuliefern, unser Eigensein nicht adäquat leben zu können, es anderen opfern zu müssen, in der Anpassung zuviel von uns selbst aufgeben zu müssen«. Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie (GA), München 1974, S. 12. Zweitens wird gefordert, »daß wir alle, jeder für sich, ein einmaliges Individuum werden sollen, unser Eigendasein bewahrend und abgrenzend gegen andere, daß wir unverwechselbare Persönlichkeiten werden sollen, nicht ein austauschbarer Massenmensch und nicht Kind bleiben sollen«. Riemann: GA, S. 13. Mit dieser Weise der Selbstdeutung geht häufig die Angst einher, isoliert und allein aus der Geborgenheit eines mitmenschlichen Zusammenhangs herauszufallen und nicht heimisch sein zu können. Drittens sehen wir uns der Forderung gegenüber: »Wir sollen uns in dieser Welt gleichsam häuslich niederlassen und einrichten, planen, zielstrebig sein, nach vorwärts blicken, als ob wir unbegrenzt leben würden und als ob alles stabil wäre und bliebe, voraussehbar – mit dem gleichzeitigen Wissen, […] daß unser Leben also jeden Augenblick zu Ende sein kann«. Riemann: GA, S. 14. – Mit dieser Forderung wird an die weghafte Seite unserer selbst appelliert, sich auf Neues, Unbekanntes einzulassen und die Endlichkeit unseres Lebens zu akzeptieren. Die Angst, die damit verbunden ist, ist die vor dem Wagnischarakter unseres Daseins und die vor der Unberechenbarkeit menschlicher Existenz. Die vierte Forderung zielt darauf ab, die weghafte Seite zu verwirklichen und besteht darin, »daß wir immer bereit sein sollen, uns zu wandeln, Veränderung und Entwicklung bejahend, Vertrautes aufgebend, Tradition, Überkommenes und Gewohntes hinter uns lassend, uns lösend und Abschied nehmend, alles nur als Durchgang erlebend.« Riemann: GA, S. 14 f. Die Angst, die sich hier Bahn brechen kann, ist die, sich nicht vom Tradierten lösen zu können und in dem engen Korsett von Gewohnheiten ausharren zu müssen. Aufgabe des Menschen ist es daher, die Ambivalenz, die menschliches Leben zwischen einerseits Verlässlichkeit und andererseits dem Bedürfnis nach Veränderung ausmacht, angemessen auszuhalten und es als Chance zu verstehen in einer provisorischen Sicherheit, in einem gelingenden Spannungsverhältnis Sicherheiten und Unsicherheiten zu meistern.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
Sicherheiten zu erhalten. Er ist folglich darauf angewiesen, im Kontext seiner Beziehungen und Bezüge bei sich und dem Anderen in einer der Tendenz nach eher gelingenden Weise zu sein. Dies lässt sich entwicklungspsychologisch veranschaulichen: Ein Kind, das niemals Urvertrauen gewonnen hat, weil es in der frühen Phase seines Lebens vernachlässigt wurde, hat es in seinem Leben sehr schwer, mit einer gehörigen Portion Vertrauen die Beziehungen zu seinen Mitmenschen zu gestalten. Haben es die ersten Bezugspersonen demnach leiblich nicht so angenommen und angesprochen, dass sein zugleich flehendes wie stummes Vertrauenwollen und -können erhört wurde, werden die im Heimischen liegenden Spuren hin zum Mitmenschen überschrieben und können nur mühsam wieder freigelegt werden. 23 Im Menschen finden sich nicht nur Vorzeichnungen, die ihm eine gelingende Resonanz 24 in seinen mitmenschlichen Beziehungen eröffnen, nämlich dann, wenn er gleichsam zwischen sich und seinen Mitmenschen auf diese hören, achten und ihnen entsprechend sich verhalten kann, sondern auch Vorzeichnungen, die gelingende Bezüge zur Welt ermöglichen. ›Welt‹ ist dabei Inbegriff eines Mensch-Welt-Gewebes, in das u. a. räumliche und zeitliche, aber auch sprachliche und moralische Stränge eingewoben sind. Entwicklungsgeschichtlich und der Sache nach haben diese Vorzeichnungen in der heimischen Seite des Menschen das Primat 23
Nicht nur das Neugeborene ist prinzipiell auf einen Mitmenschen angewiesen, sondern letztlich jeder Mensch, insofern er der Anerkennung eines anderen Menschen bedarf. Anschaulich kommt dieser Sachverhalt durch eine Äußerung von Umberto Eco zum Vorschein, die sich in einem Gespräch mit Carlo Maria Martini findet: »Ohne den anerkennenden Blick eines anderen kann das Neugeborene, das im Wald ausgesetzt wird, nicht zu einem Menschen werden […], und wir würden sterben oder verrückt werden, wenn wir in einer Gemeinschaft leben müßten, in der ausnahmslos alle beschlossen hätten, uns nie anzusehen und sich so zu benehmen, als ob wir nicht existieren.« Umberto Eco: »Wenn der andere ins Spiel kommt, beginnt die Ethik«, in: Carlo Maria Martini / Umberto Eco: Woran glaubt, wer nicht glaubt? Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber und Karl Pichler, München 2000, S. 82–93, S. 86 f. 24 Eine umfangreiche äußerst gelungene Studie zur Resonanz hat Hartmut Rosa vorgelegt. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main 2016.
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(vor denen in der weghaften Seite), weshalb es überhaupt möglich wird, von gelingenden Resonanzen in den unterschiedlichen Strängen zu sprechen. Vermag der Mensch auf die inwendigen räumlichen Vorzeichnungen zu achten und diese in ein Resonanzverhältnis mit den konkreten räumlichen Verhältnissen zu bringen, und zwar in der Weise, dass er sich, wie man unpräzise sagt, ›im Raum‹ 25 geborgen fühlt, dann ist die Stimmung der Geborgenheit ein Indiz für einen gelingenden Bezug. Wendet man sich den inwendigen zeitlichen Vorzeichnungen in der heimischen Seite des Menschen zu und sieht diese in ihrem Verhältnis zu den konkreten zeitlichen Gegebenheiten, kann der Mensch in der Ruhe in einem gelingenden Bezug wohnen. Das Wort ›Wohnen‹ bringt dabei ohne Wertung und normative ›Hintergedanken‹ die Realisation der Beziehungen und der Bezüge des Menschen im Mensch-Welt-Gewebe zum Ausdruck, meint also den Vollzug der menschlichen Bezüge innerhalb des kulturellen Relationenzusammenhangs, in den er eingebunden ist. Der Mensch wohnt demnach mit seinen Mitmenschen, er wohnt im Raum, in der Zeit, in der Sprache, in einer Kultur – und zwar inwendig und auswendig: inwendig mittels der ihm innewohnenden Vorzeichnungen, auswendig mittels der konkreten Gegebenheiten, wodurch zwischen dem Inwendigen und dem Auswendigen ein Resonanzverhältnis besteht. Vor diesem Hintergrund ist das Konzept von Augustinus zu situieren. Es legt den Akzent angesichts der Doppelstruktur des Menschen als Heim-weg auf die eine Strukturseite, nämlich die des Heim- und macht kenntlich, dass der Mensch ein Fremdsein im Heimischen ist. In der Fokussierung auf diese Seite gelingt es, die Verbindungen (u. a. in den bereits genannten Dimensionen: mitmenschlich, räumlich, zeitlich, sprachlich und moralisch) zu vertiefen und dem Menschen dauerhafte, stabile und gewohnte Beziehungen und Bezüge zu gewähren. Den Menschen, der primär diese Seite seiner selbst zu verwirklichen versucht, kann sein Streben nach Verlässlichkeit und Beständigkeit befriedigen und
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Die Wendung ›im Raum‹ ist unpräzise, da sich der Mensch zum Raum verhält.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
Fremdes, das in Distanzierungsvollzügen kraft des Stachels des Weghaften eindringen könnte, von sich fernhalten. 26 Blickt man auf die andere Seite der Doppelstruktur, die weghafte Seite, macht diese sichtbar, dass der Mensch konstitutionell betrachtet durch und durch ein Anderswerden ist. Er ist ein Prozess, der mit der Geburt in die Leiblichkeit eingeschrieben ist und es letztlich verhindert, eine Position im absoluten Sinne halten zu können. Die Weghaftigkeit betrifft dabei nicht nur die körperliche Dimension, sondern auch die anderen Dimensionen, die den Menschen als leibliches Wesen ausmachen: all seine Vermögen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, sein Handeln, seine Emotionalität und seine Rationalität. So ist es dem Menschen letztlich in seiner Weghaftigkeit nicht möglich, auf einer Position, sei diese zum Beispiel die einer Handlung, eines Denkaktes, einer Gewohnheit oder eines Gefühls, verharren zu können und sich dem Lauf des Lebens, in den er eingewoben ist, zu entziehen – es sei denn, er wäre so beschädigt worden, dass er sich selbst diesem Prozess nicht anvertrauen kann. 27 26
Versucht man sich in einem Gedankenexperiment einen Menschentypus vorzustellen, der ausschließlich diese Seite der Doppelstruktur verwirklicht, könnte man ihn als Massenautisten umschreiben. Der Wortbestandteil Massen-autist macht deutlich, dass dieser Typus millionenfach auf der Welt vorkommt – nicht zuletzt begünstigt durch die neuen digitalen Möglichkeiten und sich als Massenautist primär auf sich selbst bezieht und sich auf sich eingrenzt. Siehe dazu meinen Beitrag: Karen Joisten: »Der Massenautist und der Massenvagabund. Formen der Ent-Leiblichung im 21. Jahrhundert« (MM), in: Beate Beckmann-Zöller / René Kaufmann (Hrsg.): Heimat und Fremde. Präsenz im Entzug, Dresden 2015, S. 61–69. 27 Versucht man sich in einem Gedankenexperiment einen Menschen vorzustellen, der ausschließlich die weghafte Seite seiner selbst verwirklicht, kann dieser Typus als ein Massenvagabund bezeichnet werden. Über ihn habe ich an anderer Stelle geschrieben: »Die Selbstbezogenheit verwirklicht sich hier in der Weise einer radikalen Fremdbezogenheit, da das ›bei-sich-Sein‹ ein ›beim-Fremdenund-Anderen-Sein‹ bedeutet. In dieser gesteigerten Form kann sie dazu führen, dass der Mensch sich auf alles und jedes ausrichtet, nur nicht auf sich selbst und dadurch sich selbst auch permanent verfehlt. Ruhe- und rastlos, ohne Dauer, permanent in der Fremde unterwegs gelingt es ihm nicht, zumindest graduell in sich selbst heimisch zu sein. Er ist sich buchstäblich stets einen Schritt voraus, da er dasjenige, was er erfährt und erlebt, nicht in seine Leiblichkeit integrieren kann.
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Nietzsche vertritt im »Zarathustra« ein Konzept, das die Realisation der weghaften Seite des Menschen in der Figur des Zarathustra bis zum Äußersten durchspielt. Denn Zarathustra ist derjenige, der sich von allem Gewohnt-Gewöhnlichen der Tradition entfernt und sich radikal dem Ungewohnt-Ungewöhnlichen, dem Unheimischen und Fremden aussetzt. Es gelingt ihm schließlich, wie die letzte Rede anzeigt, mit der Aussicht darauf, dass seine Kinder, seine geistigen Samen, ihm nahe sind, auf sich gestellt und aus sich heraus, den Prozess der Veränderung seiner selbst zu vollziehen. Die Konzeption repräsentiert daher eine Weise, wie die weghafte Seite angeeignet werden kann, ohne sich (zumindest in der Sicht Nietzsches) zu verlieren und – wie oben herausgehoben wurde – heimisch in der Fremde zu sein. Dass dies allerdings höchst problematisch ist, wurde angezeigt. Denn Zarathustra kann diesen Prozess nur um den Preis durchstehen, dass er die Beziehungen zu seinen Mitmenschen überwindet, schärfer gesagt, sie nach und nach kappt und allein und einsam seine Wege erleidet und durchlebt. Vor diesem Hintergrund besteht die Lebensaufgabe des Menschen darin, angesichts seiner Doppelstruktur beiden Seiten Rechnung zu tragen und sich der Tragik menschlichen Lebens, den Konflikt zwischen ihnen nicht lösen zu können, zu stellen und ihn auszuhalten. So ist der Mensch sowohl sonant als auch re-sonant, er will Intimität und Distanz, er braucht Nähe als auch Abstand, er will Ruhe, Geborgenheit und Vertrauen in gewohnten Verhältnissen, aber ebenso begibt er sich auf die Suche, stellt sich dem Wagnis und der Unsicherheit, will neue Erfahrungen machen und fremden Menschen begegnen, macht sich offen auf den Weg, voller Neugier und Sehnsucht. So verwandelt sich der Appell »werde, der du bist!« in die lebenslang zu vollziehende Aufgabe um: Wage es, den Konflikt deiner beiden Strukturseiten auf dich zu nehmen! Unterminierungen des bisherigen Lebens zuzulassen! Neues zu erfahren! Dich zu vertiefen! Kurz gesagt: Wage es, dich lebenslang zu verheimen! So kommt er sich selbst nicht ›hinterher‹ und verflüchtigt und versprengt sich in eine Vielzahl von Momenten.« Joisten, MM, S. 67.
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Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?
Bibliographie Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München und Zürich 1992. Augustinus, Aurelius: De beata vita/Über das Glück. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1982. Augustinus, Aurelius: Selbstgespräche. Von der Unsterblichkeit der Seele. Lateinisch und Deutsch. Einführung, Übertragung, Erläuterungen und Anmerkungen von Hanspeter Müller, München und Zürich 1980. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1997. Capelle, Wilhelm (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968. Erich Thummer: »Die zweite pythische Ode Pindars«, unter: http://www.rhm. uni-koeln.de/115/Thummer.pdf (Stand: 5. 6. 2018). Joisten, Karen: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003. Joisten, Karen: »Auf der Suche nach Heimat. Oder: Der Menschen zwischen Wohnen und Gehen«, in: Fabienne Liptay u. a. (Hrsg.): Heimat. Suchbild und Suchbewegung, Remscheid 2005, S. 81–100. (überarbeitet auch in: Martin Heinze u. a. (Hrsg.): Utopie Heimat. Psychiatrische und kulturphilosophische Zugänge, Berlin 2006, S. 103–123. Joisten, Karen: Aufbruch. Ein Weg in die Philosophie, Berlin 2007. Joisten, Karen: »Woher komme ich? Wohin gehe ich? Das Phänomen ›Heimat‹ aus der Sicht der narrativen Philosophie«, in: H. Van Uffelen u. a. (Hrsg.): Heimatliteratur 1900–1950 – regional, national, international, Wien 2009 (= H. van Uffelen u. a. [Hrsg.]: Wiener Schriften zur niederländischen Sprache und Kultur. Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Kulturwissenschaft/Universität Wien, Band 5), S. 35–54. Joisten, Karen: »Der Mensch als Heim-weg. Und der Prozess des Verheimens. Ein kleiner Streifzug durch heimatliche Gefilde«, in: Joachim Klose / Hans-Gert Pöttering (Hrsg.): Wir sind Heimat. Annäherungen an einen schwierigen Begriff, Dresden 2012, S. 13–30. Joisten, Karen: »Heimat und Heimatlosigkeit. Philosophische Perspektiven«, in: Jürgen Manemann/Werner Schreer (Hrsg.): Religion und Migration heute. Perspektiven – Positionen – Projekte, Regensburg 2012, S. 215–226. Joisten, Karen: »Der Mensch als Heim-weg«, in: Die politische Meinung, Nr. 512, Osnabrück 2012, S. 39–46. Joisten, Karen: »Der Massenautist und der Massenvagabund. Formen der EntLeiblichung im 21. Jahrhundert«, in: Beate Beckmann-Zöller / René Kaufmann (Hrsg.): Heimat und Fremde. Präsenz im Entzug, Dresden 2015, S. 61– 69. MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main 1995. Martini, Carlo Maria / Eco, Umberto: Woran glaubt, wer nicht glaubt? Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber und Karl Pichler, München 2000.
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Karen Joisten
Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980. Reese-Schäfer, Walter: Was ist Kommunitarismus?, Frankfurt am Main und New York 1995. Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, München 1974. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main 2016.
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Nina Trčka
Über Heimatverlust und Heimatlosigkeit Vereinzelung, Selbstverlust und der Zerfall der gemeinsamen Welt In welchem Kontext sind Heimatverlust und Heimatlosigkeit in der Moderne zu verorten? Ich schlage im Folgenden vor, sie im Kontext von Vereinzelung und fortschreitendem Zerfall der gemeinsamen Welt zu verstehen, weil nur dann das intersubjektive Ausmaß von Heimatverlust zutage tritt. Ich habe zwei Punkte, die ich damit zur Heimat-Diskussion beitragen möchte. Zum einen den Begriff der gemeinsamen Situation, wie ihn Hermann Schmitz entwickelt hat, zum anderen den Weltbegriff von Hannah Arendt. Mit Hilfe beider Konzepte soll das Augenmerk weg von den Einzelnen und ihrem Heimatverlust als einem vermeintlich nur individuell-privaten Schicksal auf das Unheimlichwerden der gemeinsamen Welt gelenkt werden. Dieser Text steht im Horizont der übergeordneten Frage, was die Lokalisierung menschlicher Existenz ausmacht und was der Verlust einer solchen Lokalisierung impliziert. Hierbei werde ich zum einen auf die Neue Phänomenologie zurückgreifen, um bei der Frage nach der Lokalisierung die Abhängigkeit menschlichen Personseins von intersubjektiv einbettenden gemeinsamen Situationen eines bestimmten Typs aufzuzeigen. Vereinzelung ist dann die Konsequenz des Zerreißens solcher gemeinsamen Situationen durch Heimatverlust und durch dauerhafte Heimatlosigkeit. Zum anderen beziehe ich mich auf Hannah Arendts Überlegungen zur gemeinsamen Welt, welche die Verortung menschlicher Existenz in einen weiteren Kontext stellt, der von ihrer Untersuchung der menschlichen Tätigkeiten und deren Lokalisierung gebildet wird. Ertrag soll sein, die Perspektive auf Heimatverlust zu erweitern – und (sozial-)psychologische Parameter von Traumatisierung und Reintegration in einen angemessenen Kontext 107 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Nina Trčka
zu stellen: der phänomenologisch ausgewiesenen und politiktheoretisch gerahmten Lokalisierung menschlicher Existenz in einer gemeinsamen Welt. 1.
Einleitend
Seit dem ersten Weltkrieg sind immer wieder Menschenmassen von Heimatverlust und langfristiger Heimatlosigkeit betroffen. 1 Dies geschieht unter anderem durch Krieg, Vertreibung und Flucht sowie durch wirtschaftlich bedingte Migrationsbewegungen. Immer mehr Menschen verlieren ihren Ort in der Welt, einen Ort der Akzeptanz und Zugehörigkeit, der Geborgenheit und Vertrautheit sowie des Schutzes, den »dunklen« Ort, wie Arendt es nennt, der Voraussetzung dafür ist, um an das Licht der Öffentlichkeit zu treten und um sich handelnd und redend an der Gestaltung der gemeinsamen Welt zu beteiligen. Mit der Heimat haben die Vertriebenen und Flüchtenden aber nicht nur die Einbindung in die gelebte Gemeinschaft verloren, sondern zugleich die Voraussetzung für die Mitgestaltung der gemeinsamen Welt. Was daraus resultiert, ist ein zunehmend bezugloses und weltloses Dasein der Heimatlosen, das durch eine Art Narrenfreiheit gekennzeichnet ist, weil ihr Tun und Reden kein Gewicht hat; es wird nicht gehört, es wird nicht aufgegriffen, es zählt nicht. Denn Flüchtlinge gehören nicht mehr zu einer gemeinsamen Welt. Mitnichten aber ist es nur »ihre« gemeinsame Welt, an der die Heimatlosen nicht mehr teilhaben – es ist zugleich unser aller gemeinsame Welt, aus der sie fallen und die damit bedroht ist. 1
Heimatverlust gibt es natürlich seit jeher, er hat jedoch eine neue Dimension erreicht. Die Auflösung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie sowie des Russischen Reiches brachten Massen von displaced persons, Staatenlosen und Flüchtlingen hervor. Inzwischen kann man von einer »Globalisierung der Flüchtlinge« sprechen. Vgl. Wolfgang Heuer: »Europa und seine Flüchtlinge. Hannah Arendt über die notwendige Politisierung der Minderheiten« (EF), in: HeinrichBöll-Stiftung (Hrsg.): Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? (VT), Berlin 2007, S. 331–341.
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2.
Heimatverlust als Entwurzelung ist ein intersubjektives Schicksal
Heimatverlust ist nicht adäquat erfasst, wenn man ihn als bloß privates und individuelles Schicksal betrachtet – ohne dessen intersubjektive und welthafte Implikationen in den Blick zu nehmen. Denn Heimatverlust bedeutet nicht bloß einen »Zusammenbruch« der »privaten Welt« 2 von Einzelnen, sondern der Heimatverlust von Vertriebenen und Geflohenen betrifft stets auch die Gemeinschaft mit den Daheimgebliebenen. Hannah Arendt fasst dies in ein pointiertes Bild, wenn sie in ihrem Denktagebuch zum Stichwort »Wurzellosigkeit« notiert: »Die Präzision des Bildes: Die Einen, die Verjagten, liessen meist ihre Wurzeln zurück, sind gleichsam abgerissen, also wurzellos im exakten Sinne von ohne Wurzeln. Für die, denen es gelang, ihre Wurzeln mitzunehmen, sind diese nun ohne den Boden, in dem sie wurzelten, nicht mehr tragfähig, und sie haben sie sich darum gleichsam an den Schuhsohlen abgelaufen. Den Anderen, die zu Hause bleiben durften, ist der Grund und Boden, in dem sie wurzelten, unter den Füssen weggespült worden, ihre Wurzeln liegen bestenfalls offen zu Tage und werden doppelt verzehrt: durch Verkümmerung beraubt des nährenden Bodens und durch die Helle der Sichtbarkeit selbst, durch den Mangel an schützendem Dunkel […].« 3
Entwurzelung, so lässt sich dieses Bild verstehen, betrifft auch die Daheimgebliebenen, da durch die Vertreibung der »Einen«, die eine Entwurzelung ist, der gemeinsame Boden, in dem auch »die Anderen« wurzelten, aufgerissen ist und der Zerstörung preisgegeben. 4 Der »Boden« in diesem Bild steht für die Gemeinschaft, 2
Vgl. Hannah Arendt: »Wir Flüchtlinge« (1943) (WF), in: dies.: Zur Zeit. Politische Essays, hrsg. v. Marie Luise Knott, Hamburg 1999, S. 7–21, S. 8. 3 Hannah Arendt: Denktagebuch: 1950 bis 1973, Bd. 1, hrsg. v. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, 2. Auflage, München 2003, S. 39 [Hervorh. i. O. als Unterstreichung]. Zu Entwurzelung als modernem Massenphänomen siehe auch Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben (VA), München und Zürich 1999, S. 329. 4 Die Boden-Metapher ist älter, für den Heimatdiskurs typisch und teils ideologisch ausgeschlachtet worden. Vgl. hierzu z. B. Karen Joisten: Philosophie der
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er ist das Element, das die Einzelnen trägt, zusammenhält und erhält. Er ist durch die Entwurzelung ohne Zusammenhalt in sich und kann fortgespült werden, wie bei einer Erosion. Er erhält dann die Wurzeln nicht mehr. Seltsam an diesem Bild ist, dass die Wurzeln verdinglicht sind; es ist möglich, sie »mitzunehmen« und sie werden dann »gleichsam an den Sohlen abgelaufen«. Das ist, im Bild gesprochen, grundverkehrt, da Wurzeln nicht zum Laufen taugen, sie sind zum Verankern im Boden da und sie nähren die Pflanze, also hier die Identität der Person. 5 Die Wurzeln scheinen hier nicht nur für die (gefühlsmäßigen) Bindungen an die Gemeinschaft zu stehen, sondern auch für die kulturelle, religiöse und andere Traditionen – auch die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft –, für Sitten und Bräuche, die eine Person in ihre Gemeinschaft einbinden (im Bild gesprochen: verwurzeln) und einen Teil ihrer Identität ausmachen. 6 Die Wurzeln kann man, so das Bild, mitnehmen oder sie reißen ab – das heißt man kann versuchen, außerhalb der Gemeinschaft, aus der man gerissen ist, die eigenen Traditionen, Sitten, Bräuche und entspreHeimat – Heimat der Philosophie (PH), Berlin 2003, S. 56, bes. Fußnote 7. Bei Arendt steht die Metapher in einem anderen Kontext, wie nachfolgend deutlich werden wird: dem Abbrechen der Traditionsbestände sowie kollektiver Verlassenheit als Ergebnis des Zerfalls der gemeinsamen Welt. 5 Diese Deutung des Tagebucheintrags geschieht im Rahmen von Arendts anderen Schriften, ohne dass dies hier im Einzelnen gezeigt werden kann. Zum Identitätsbegriff und zum Personsein bei Arendt vgl. Rahel Jaeggi: Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts (WP), Berlin 1997; Anja Kathrin Hild: »Der Erscheinungsraum der Person. Eine Annäherung mit Hannah Arendt«, in: Michael Großheim / Anja Kathrin Hild / Corinna Lagemann / Nina Trčka (Hrsg.): Leib, Ort, Gefühl. Perspektiven der räumlichen Erfahrung (LOG), Freiburg und München 2015, S. 152–176. 6 Zum Traditionsbegriff bei Arendt vgl. das Buch von Jürgen Förster, der die Rolle der Tradition und des Traditionsbruchs für das Denken einerseits und für die Welt andererseits unterscheidet (Jürgen Förster: Die Sorge um die Welt und die Freiheit des Handelns. Zur institutionellen Verfassung der Freiheit im politischen Denken Hannah Arendts (SWFH), Würzburg 2009, S. 52). Vgl. auch Jerome Kohn: »The Loss of Tradition«, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): VT, S. 37– 47 sowie Jerome Kohn: Stichwort »Tradition«, in: Wolfgang Heuer / Bernd Heiter / Stefanie Rosenmüller (Hrsg.): Arendt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (AH), Stuttgart 2011, S. 320–322.
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chend die eigene Identität aufrechtzuerhalten (mitzunehmen) oder sie aufzugeben (dann sind sie abgerissen). Wenn man sie mitnimmt, läuft man sie sich »an den Sohlen« ab – das heißt, sie tragen nicht, sondern werden verbraucht und zerstört. Das könnte so verstanden werden, dass ohne die Gemeinschaft, welche die Traditionen und Bräuche lebt, diese ohne Widerhall sind und sich erschöpfen (»abgelaufen«). 7 Hier entspricht das Bild der Situation von Verjagten oder Flüchtenden sehr genau, die in einer anderen Kultur versuchen, ihre eigene weiter zu praktizieren und zwar ohne eine entsprechende Gemeinschaft. Dies funktioniert nicht, da die Traditionen am neuen Aufenthaltsort nicht auch von Anderen gelebt und bestätigt werden. Sie bleiben kurios und fremd in der neuen Umgebung und statt dass sie die Person orientieren und ihr Halt geben, müssen sie verteidigt und legitimiert werden. Es muss immer wieder erläutert werden: »Bei uns war das/ist das eben anders …« Entscheidend für die These dieses Artikels ist nun, dass nach Arendt auch die Gemeinschaft für die Daheimgebliebenen beschädigt ist (»Grund und Boden weggespült«; s. o.). Die Menschen, die verjagt wurden, fehlen dort. Aber nicht nur psychologisch, sondern ihr massenhaftes Fehlen hat eine intersubjektive Dimension zerstört, so lässt sich das Bild verstehen, und zwar nach zwei Seiten: Zum einen sind Traditionen zerstört, zum anderen die im privaten bestehende Gemeinschaft als eigene Sphäre, die man vom Öffentlichen unterscheiden kann. Was heißt es nun, dass die Wurzeln der Daheimgebliebenen »offen zu Tage« (s. o.) liegen? Die Erosion der Gemeinschaft führt erstens zu einer Freisetzung und nachfolgenden Zerstörung der Traditionsbestände (im Bild: der Wurzeln). Werden nämlich die Gemeinschaften, welche die Traditionen praktizieren, aufgelöst, bleiben nur noch funktionslose Relikte, die als verdinglichte Spu7
Oder sie funktionieren wie »Flugwurzeln« und können an anderem Ort wieder »anwachsen«. Denkt man nämlich die Metaphorik Arendts weiter und zwar im Kontext der Urteilskraft, dann muss nach dem Verlust der Wurzeln der Tradition der Baum der Urteilskraft wie mit »Flugwurzeln« neu, wenn auch etwas fragiler, verwurzelt werden. Vgl. Stefanie Rosenmüller: Der Ort des Rechts. Gemeinsinn und richterliches Urteilen nach Hannah Arendt, Baden-Baden 2013, S. 363 f.
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ren der aufgelösten Gemeinschaften und ihrer Traditionen in den Raum ragen – man denke etwa an leer stehende Kirchen und Dörfer in den ehemaligen Sudetengebieten oder Synagogen im Nachkriegseuropa. Dass die Wurzeln der Daheimgebliebenen nicht mehr verborgen sind, sondern offen daliegen, lässt sich im Rahmen von Arendts Werk zweitens so interpretieren, dass mit der Entwurzelung eine Umstrukturierung einhergeht: Was verborgen war und sein sollte, ist sichtbar geworden. Dunkles und Helles, Privates und Öffentliches, Verborgenes und Sichtbares begrenzen und ermöglichen einander nicht mehr. Diese Umstrukturierung ist destruktiv: Daher heißt es in dem Bild auch, die »Helle der Sichtbarkeit« und der »Mangel an schützendem Dunkel« (s. o.) ließen die Wurzeln verkümmern – sie sind ans Licht der Öffentlichkeit gezogen. 8 Mit Hilfe des Bildes wird zunächst deutlich, dass Entwurzelung ein Schicksal von intersubjektivem Ausmaß ist und mitnichten reduziert werden kann auf eine individuelle Privatsache jener, die sich nun woanders zurechtfinden müssen. Jedoch ist hiermit immer noch ein Verständnis vereinbar, nach welchem von Flucht und Vertreibung primär nur Einzelne – hier die Geflohenen, dort die Daheimgebliebenen – betroffen sind. Es sind jedoch nicht nur die Einzelnen, die geschädigt wurden und »zerrissen« sind etwa im Sinne einer zerrissenen Identität. Eben ein solches Verständnis soll ausgeräumt werden. Darauf deutet ja die Metapher vom Boden bei Arendt hin. Jedoch bleiben im Bild Fundierungsverhältnisse (Boden – die Einen – die Anderen) noch unklar oder unberücksichtigt. Es wird nämlich nicht fassbar, dass es sich bei Entwurzelung, wie sie hier beschrieben wird, um Vereinzelung handelt – und zwar weil die Perspektive auf Heimatverlust von einzelnen Personen ausgeht (die Einen und die Anderen) und diese zumindest im alltäglichen Verständnis als primär Einzelne aufgefasst werden. In einer solchen Perspektive wären es 8
An dieser Stelle greift meine Interpretation von Arendts Bild vor und bringt hier die von Arendt in Vita activa entwickelte Struktur der Lokalisierung menschlicher Existenz in die Deutung des Bildes ein: im Privaten und im Öffentlichen. Vgl. dazu den Abschnitt 4 in diesem Text.
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noch Einzelne, die »dort waren« und nun »woanders« sind, wobei natürlich Kontakte und Beziehungen verloren gegangen sind, die eben neu geknüpft werden müssen. Damit wird das Verhältnis von intersubjektiver Dimension und persönlicher Dimension nicht erkennbar. Wir benötigen dafür einen Perspektivenwechsel hin zum Gemeinschaftlichen sowie zum Gemeinsamen. 3.
Heimatverlust und Heimatlosigkeit als Vereinzelung: Das Zerreißen der Verankerung in gemeinsamen Situationen
Die phänomenologischen Ausgangsprämissen, die einen Perspektivenwechsel weg von Heimatverlust als einem bloß privat-individuellen Schicksal ermöglichen, betreffen zum einen die leibräumlich-affektive Existenz der Menschen als Grundlage ihres »Hierseins«, ihrer Lokalisierung, zum anderen die leibliche, vorobjektive und vorprädikative Dimension von Sozialität als Grundlage des Personseins. 9 Heimatverlust kann nur im Rahmen einer phänomenologischen Raumkonzeption verstanden werden – die menschliche Verankerung in Mitwelt und Umgebung kann sonst nicht thematisch werden. 10 Es ist oft aufgezeigt worden, dass die mathematische Raumkonzeption und der Raum der klassischen Physik weder der leibräumlichen Existenz der Menschen gerecht werden noch dem Charakter des Wohnens entsprechen. 11 Im Folgenden 9
Zum Fehlen der leiblichen Dimension in der soziologischen Forschung zu Heimat vgl. Jürgen Hasse: »Stadt als Heimat« (SH), in: Heinz Paetzold (Hrsg.): Integrale Stadtkultur, Weimar 2006, S. 156–179, S. 169. 10 Vgl. Jürgen Hasse: Räume der Stadt. Zum Nutzen der Phänomenologie für die sozialwissenschaftliche Stadtforschung, Rostocker Phänomenologische Manuskripte, Rostock 2014, S. 31, Fußnote 6. 11 Vgl. u. a. Miriam Fischer-Geboers / Tom Geboers: »Aisthesis des Raums. Ansätze zu einer Kritik des mathematischen Vorstellungsraums«, in: Michael Großheim / Anja Kathrin Hild / Corinna Lagemann / Nina Trčka (Hrsg.): LOG, S. 262–284; im Kontext von »Heimat« vgl. Hasse, SH, bes. S. 163 f., 166; Bernhard Waldenfels: »Heimat in der Fremde« (HIF), in: Bundeszentrale für politi-
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hebe ich daher nur den Aspekt hervor, dass Heimat nicht einen langfristigen Aufenthaltsort im Kontext eines relationalen Raumes meinen kann, zu welchem eine Person sekundär gefühlsmäßige und habituelle Bindungen aufbaut. Denn die gefühlshafte und soziale Bindung des Menschen an »Heimat« ist nichts Sekundäres, das auf der Ebene der Person sich etabliert, wie ich mit Hilfe der Phänomenologie zeigen will, sondern gehört vielmehr zum Fundament des Personseins und wird großteils auf präpersonaler, leiblich-intersubjektiver Ebene gebildet. Diese Ebene ist primär. Die nachfolgenden Grundüberlegungen zum Heimatverlust legen dar, dass ein spezifisches Sein-in-gemeinsamer-Situation zerstört ist, das eine jede Person fundiert. Dieses ist als ein leibliches Verwurzeltsein mit Anderen an einem von Menschen gestalteten Ort sowie in Traditionen und Kulturen zu verstehen. Ein solches situatives, die einzelne Person leiblich verankerndes Mitsein kann im Sinne der Metapher vom gemeinsamen Boden, wie wir sie bei Arendt fanden, verstanden werden. 3.1 Die leiblich-affektive Lokalisierung im Raum Zunächst zur leiblichen Lokalisierung ›im‹ Raum. Die Lokalisierung menschlichen Daseins ist primär ein Hiersein am absoluten Ort des Leibes. Der Leib bildet dabei zum einen den absoluten Nullpunkt der Orientierung oder der Raumkonstitution, so schon bei Husserl, von dem aus erst ein orientierter Raum (oben und unten, links und rechts, vorne und hinten) möglich ist. 12 Hermann Schmitz erfasst diese Dimension leiblicher Räumlichkeit in seiner Raumtheorie als leiblich zentrierten Richtungsraum, in welchem von dem absoluten Ort des Leibes, der leiblich spürbaren Enge, motorische Richtungsbahnen ausgehen, die in die sche Bildung (Hrsg): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven (H-ATP), Bonn 1990, S. 109–121, S. 110; Joisten, PH, S. 55, 71–73. 12 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (PhW), aus dem Französischen von Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 123–127; Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main 2000, S. 110–122; Waldenfels, HiF, S. 110.
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Weite führen. 13 Darauf aufbauend bildet sich die kognitive und leibferne Raumform und Raumvorstellung aus, der Ortsraum. 14 Hermann Schmitz hat nun herausgestellt, dass das leibliche Hiersein darüber hinaus ganz grundlegend fühlend erfahren wird als ein Betroffensein des spürenden Leibes. Hierbei wird der Leib (im Unterschied zum Körper) in seinem Erleben erfasst und beschrieben als »Inbegriff von Regungen, die jemand von sich, als zu sich gehörig in der Gegend […] seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne und des aus ihren Erfahrungen […] habituell gewordenen perzeptiven Körperschemas zu bedienen.« 15 Wir leben nicht neutral in einem orientierten Raum, sondern erleben unser Hiersein leiblich so, dass uns etwa spürbar nahegeht, dass uns etwas erfreut oder bedrängt und beengt, dass uns etwas entspannen und aufatmen lässt etc. 16 Das primäre, leiblich spürbare Eingebettetsein in die Mitwelt und Umwelt ist gerade ein gespürtes affektives Betroffensein von ihr 17 und sich abheben von ihr und als solches zugleich ein Selbstgewahren, ein Sich-selbst-Bewussthaben. 18 Das Sich-Vorfinden ist im leiblichen Erleben ein Hiersein, das zugleich gewahr ist, wie ich mich hier und jetzt in der Umgebung mit Anderen spürbar befinde. 19 In dieser Dimension sind soziale und gefühlshafte Bindungen zu Orten und Ge13
Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/1: Der leibliche Raum (LR), Bonn 2005, S. 54–64 sowie Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie (UG), Bonn 2007, 280–291, 124 f. 14 Vgl. Schmitz, LR, S. 72–102. 15 Hermann Schmitz: selbst sein. Über Identität, Subjektivität, Personalität (ISP), Freiburg und München 2015, S. 180 f., vgl. auch Schmitz, UG, S. 115. 16 Das leibliche Befinden hat eine dialogische Grundstruktur und oszilliert zwischen spürbarer Enge und Weite. Aus Raumgründen kann ich hier auf die Grundstruktur des Leibes nicht genauer eingehen. Vgl. hierzu Schmitz, UG, S. 121–126, im Kontext von Heimat vgl. Hasse, SH, S. 163 f. 17 Vgl. z. B. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart (AG), Bonn 2005, S. 82. 18 Zum affektiven Betroffensein und Selbstbewusstsein vgl. das Kapitel: Von der Subjektivität zur Intersubjektivität, in: Schmitz, ISP, S. 53–72, bes. 63 sowie ebd. S. 156–159, 166 das Kapitel: Die Person im affektiven Betroffensein. 19 Vgl. Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 73–86.
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meinschaften im Sinne von Heimat fundiert. 20 Denn, wie im Folgenden kurz skizziert werden soll: Das leibliche Eingebettetsein bildet gemeinsame zuständliche Situationen aus, in welche eine Person präpersonal so hineinwachsen kann, dass eine Ablösung nicht mehr ohne Verluste – für die Person, aber auch für die Gemeinschaft – gelingt. 3.2 Die Verankerung in gemeinsamen Situationen Das, was gemeinhin als tragende soziale Beziehung bezeichnet wird, ist von der Leibphänomenologie her gesehen ein durch leibliche Interaktionen sich herausbildendes intersubjektives Eingebettetsein von Personen in gemeinsamen Situationen. Eine der Grundlagen der neueren Phänomenologie, von Merleau-Ponty sowie von Hermann Schmitz, die ich hier zur Ausgangsprämisse nehme, ist, dass menschlicher Weltbezug stets ein Sein-in-Situation ist. 21 Situationen kann man fassen als im vorprädikativen leiblichen Erleben gegebene ganzheitliche Zusammenhänge. Mit Ganzheit ist die Form eines bedeutsamen Zusammenhangs gemeint, keine romantisch verklärte Ursprünglichkeit. Sie kann charakterisiert werden als »Abgehobenheit nach außen und (thematische[r] oder atmosphärische[r]) Zusammenhang in sich.« 22 Typisch für Situationen ist ihre Unbestimmtheit; ihre Bedeutsamkeit wird nicht durch eine Anzahl diskreter Bedeutungen konstituiert, sondern bietet eine Fülle an Bedeutungsmöglichkeiten, die unbestimmt aber doch umrissen sind. Situationen sind nicht aus 20
Das bedeutet natürlich nicht, dass Heimat nicht auch ambivalente oder negative und abgelehnte gefühlsmäßige Bindungen mit sich bringt. Daher verlassen Menschen regelmäßig die »angestammte« Heimat und suchen sich eine neue. Zu Heimat als gefühlsmäßig ambivalenter Situation vgl. Hasse, SH, S. 168–171, Joisten, PH, S. 73 f. 21 Zu Situationen vgl. z. B. Merleau-Ponty, PhW, S. 104, 125 f.; Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung (SK), Freiburg und München 2005, S. 18–32; Michael Großheim: »Der Situationsbegriff in der Philosophie«, in: Birk Schmoll / Andreas Kuhlmann (Hrsg): Symptom und Phänomen, Freiburg und München 2005, S. 114–149. 22 Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? (NPh), Rostock 2003, S. 91.
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Einzelnem 23 zusammengesetzt und sie erlauben es nicht, eine eindeutige Grenze zu ziehen zwischen vereinzeltem ›Subjekt‹ und verdinglichtem ›Objekt‹, Mensch und Umwelt, etc. In situativem Erleben ist der Andere nicht verdinglicht. 24 Vielmehr bilden umgekehrt die Situationen mit ihrer unbestimmt bedeutsamen Fülle den Rahmen oder Kontext dafür, dass einzelne Tatsachen aus einer Situation hervortreten und objektiviert werden können, z. B. wenn wir uns reflektierend ein Bild der Lage machen und einzelne Faktoren gewichtend aus der ganzheitlichen Situation isolieren und zueinander in Beziehung setzen. 25 »Eine Situation […] ist charakterisiert durch Ganzheit (d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen […] nicht sämtlich […] einzeln sind.« 26
Hermann Schmitz hat differenzierte Unterscheidungen zur Charakterisierung von Situationen entwickelt. Den Bedeutungsgehalt kann man nach Schmitz in drei Hinsichten unterscheiden: Sachverhalte (dass etwas ist), Programme (dass etwas sein sollte) und Probleme (ob etwas ist). 27 Wir erfassen Situationen nicht primär kognitiv und nicht in Form einzelner Sachverhalte oder Tatsachen, sondern leiblich-ganzheitlich und ›entsprechen‹ ihnen leib23
Eine Situation kann nicht auf eine Anzahl von Tatsachen reduziert werden – vgl. hierzu Steffen Kammler / Steffen Kluck: »Der Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zur Bedeutung von Situationen in sozialer Hinsicht« (GZO), in: Michael Großheim / Anja Kathrin Hild / Corinna Lagemann / Nina Trčka (Hrsg.): LOG, S. 35–55, S. 41; zu Situationen allgemein ebd. S. 39–47. 24 Vgl. Hilge Landweer: »Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästehtik« (SfA), in: Kerstin Andermann / Undine Eberlein (Hrsg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 57–78, S. 67. 25 Vgl. Schmitz, SK, S. 28. 26 Ebd., S. 22. [Hervorh. i. O.] 27 Vgl. das anschauliche Beispiel eines Konzertbesuchs als Situation in: Kammler / Kluck, GZO, S. 42 f. Ich kann in diesem Rahmen nicht detailliert auf die Differenzierungen eingehen. Vgl. Schmitz, NPh, S. 89–97.
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lich. Dieses implizite leibliche Wissen um bestimmte Situationen und das Verhalten in ihnen erwerben wir durch leibliches Teilnehmen an aktuellen Situationen. Es wird im Laufe des Lebens habitualisiert. Situatives Erleben ist oft atmosphärisch geprägt, ein Gang durch eine düstere Tiefgarage kann z. B. bedrohlich wirken, ein Morgenspaziergang im Urlaub am Strand heiter. Auch gemeinsame Situationen haben oft eine spezifische Atmosphäre, die impressiv schlagartig wahrgenommen wird: z. B. die unternehmungslustige Atmosphäre in einer Familie, bei der man zu Besuch ist oder die kompetitive an einem Institut, an dem man einen Vortrag besucht. Wenn Menschen miteinander umgehen, und zwar bei direktem Kontakt in Kopräsenz, teils auch in vermittelteren Weisen, stellen sich durch die leibliche (nicht allein durch die personale) Dimension der Interaktion gemeinsame Situationen her. 28 Das leibräumliche Eingebettetsein, das bereits Thema war, ist Vollzug und Ergebnis einer leiblichen Interaktion oder Kommunikation 29 mit Um- und Mitwelt, die in leiblich-affektivem Betroffensein spürbar wird. Die leibliche Kommunikation greift am Ausdruck an, da der Leib nicht nur selbst ausdruckshaft ist, sondern mit Ausdruckshaftem einer Umgebung ›kommuniziert‹. Natürlich kann eine Person ohne eine gemeinsame Situation auf andere Bezug nehmen – etwa, wenn eine Verwaltungsangestellte eine Anweisung an jemanden erlässt. Im Normalfall jedoch stiftet bereits ein Kontakt in Kopräsenz zwischen Menschen eine gemeinsame Situation. Diese kann sich leicht wieder lösen, zum Beispiel bei einer kurzen Begegnung im Fahrstuhl oder wenn sich 28
Zu Einleibung als »Quelle oder Nährboden gemeinsamer Situationen« siehe Schmitz, AG, S. 52; vgl. auch Schmitz, SK, S. 239 f. 29 Und zwar im Kanal des vitalen Antriebs, über leibnahe Brückenqualitäten wie Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere. Vgl. Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Freiburg und München 2016, S. 183–209. Hilge Landweer bestimmt leibliche Interaktion bzw. leibliche Kommunikation treffend als »wechselseitige[s] Spüren oder Erleben« (Landweer, SfA, S. 67). Im Folgenden verwende ich hierfür nur den Ausdruck »leibliche Kommunikation«.
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zwei Personen gegenseitig mit Misstrauen begegnen und einander mehr taxieren und zu übervorteilen suchen, als sich aufeinander einzulassen. Die aktuelle Situation kann aber auch länger andauern und sich zu eine Art Binnenwelt verfestigen; sie wird dann, so der Fachterminus, »zuständlich«. Eine gemeinsame Situation ist dann aktuell, wenn ihr Verlauf oder ihre Veränderung in kurz aufeinanderfolgenden zeitlichen Momenten verfolgbar ist. Sie ist zuständlich, wenn Veränderungen erst nach geraumer Zeit erfolgen. 30 Aktuelle gemeinsame Situationen können durch leibliche Kommunikation nicht nur entstehen, sondern ihre spezifische Gestalt gewinnen; besonders in solchen, die zuständlich werden, also sich über längere Zeit entwickeln, spielen sich Menschen leiblich aufeinander ein. 31 Dies meint nicht unbedingt, dass sich eine Art positiver Gemeinschaft dabei bildet; es kann auch eine negative Situation sein, in welcher Personen langfristig involviert und vergemeinschaftet sind, etwa in Nachbarschaftskonflikten, oder Feindseligkeiten am Arbeitsplatz, wo manchmal ein Konfliktgeschehen eine längere Geschichte hat und keiner der Betroffenen mehr aus dieser Situation heraus kann. Solche gemeinsamen zuständlichen Situationen haben ein je spezifisches ›Gesicht‹ – abhängig von den Eigenarten der einzelnen Personen – sowie eine spezifische Bedeutsamkeit. Zu gemeinsamen Situationen gibt es in der Neuen Phänomenologie eine für das vorliegende Thema wichtige Differenzierung; es werden verschiedene Modi des Seins-in-gemeinsamer-Situation unterschieden. Einer dieser Modi ist Verwurzelung oder Verankerung. Der Fachausdruck lautet »Implantiertsein«. In manche gemeinsamen zuständlichen Situationen sind Personen nur locker eingefügt, d. h. »includiert« 32, in andere derart »implantiert«, d. h. tief »eingewachsen« oder in ihnen »verwurzelt«, dass eine Ablösung für die Person schwierig wird, weil diese dann einen Teil ihrer Identität verlieren und damit bis ins leiblich-präpersonale 30
Vgl. Schmitz, SK, 24 f. Vgl. Landweer, SfA, S. 67. 32 Der Terminus »includieren« hat nichts mit der Debatte um Inkusion von Menschen mit Behinderung zu tun. 31
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Fundament ihres Personseins geschädigt werden könnte. 33 Eine solche implantierende Situation ist familiäre Zugehörigkeit. Das bedeutet, die Familienmitglieder sind nicht nur aktuell in die gemeinsame zuständliche Situation »Familie« gestellt, sondern »sie tragen sie mit sich« als Hintergrund ihrer Existenz – etwa als eine Situation des liebevollen Umgangs miteinander, die von einem speziellen Klima wie der Geborgenheit erfüllt sein kann und die die Mitglieder der Familie überallhin begleitet, auch wenn diese aktuell nicht bei der Familie sind. 34 Eine Person ist stets in eine Vielzahl von Situationen eingebettet, auch in gemeinsame. Die zuständlichen davon bilden für die Person einen Hintergrund ihrer Situiertheit, vor diesem tritt sie in weitere zum Beispiel aktuelle gemeinsame Situationen ein, die dann vielleicht nur includierenden Charakter haben – wie etwa ein Gespräch. 35 Auch die Zugehörigkeit zu einer Kultur und zu bestimmten Traditionen sowie das Sprechen einer Sprache gehören, phänomenologisch gesehen, zum situativen ›Wissen‹ oder genauer: sind ein Implantiert-Sein-in-Situation, das durch (habitualisiertes) leibliches Verhalten ausgeübt wird. Bei jeder aktuellen gemeinsamen Situation stehen im Hintergrund einer jeden beteiligten Person solche zuständlich gewordenen Situationen, in welche eine Person mit Ihrer Identität »eingewachsen« ist. Da gemeinsame (zuständliche) Situationen einen gemeinsamen Bedeutungshorizont oder gemeinsamen Hof von Bedeutsamkeit haben, aus dem die einzelnen Personen (bei ihrer interpersonalen Differenzierung) schöpfen, integriert dieser die Personen, die Teil der Situation sind und die an den Traditionen und Kulturen teilhaben. 36 Ein kurzes Negativbeispiel soll diesen gemeinsamen Bedeutungshorizont veranschaulichen, und zwar im Falle von Heimatverlust; der Fokus liegt auf dem Verlust der situativen Einbettung in eine Kultur. 33
Vgl. Schmitz, SK, S. 25 f. Zur Stabilität einer solchen Atmosphäre vgl. Schmitz, AG, S. 50. 35 Zum Ineinander unterschiedlicher Situationen in einem Gespräch vgl. Schmitz, NPh, S. 92 f. Vgl. auch Schmitz, UG, S. 76 f. 36 Vgl. Schmitz, SK, S. 27. Anhand eines Dialogs als Beispiel geteilter Bedeutsamkeit siehe auch Merleau-Ponty, PhW, S. 406. 34
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Wird z. B. ein Flüchtlingskind von einem anderen Kind im neuen Ankunftsland zu einer Geburtstagsparty eingeladen, so hat es möglicherweise kein Wissen um die Situation »Gebutstagsparty« im neuen Land und kann deren Bedeutsamkeit nicht erfassen (um was es dort geht). Es weiß zum einen vielleicht nicht, was dazugehört (wird es ein Familienessen geben, bei dem nur wenige Kinder zugegen sind, oder werden nur Kinder da sein, wird es ein Spielenachmittag oder ein Ausflug), zum anderen, wie es sich verhalten soll (werden beide Geschlechter, Jungen und Mädchen teilnehmen, wie soll es sich diesen gegenüber und gegenüber den Erwachsenen verhalten, soll es ein Geschenk mitbringen und was eignet sich dafür usw.?). D. h. die aktuelle gemeinsame Situation Geburtstagsparty wird nicht durch situatives Wissen im kulturellen Bereich gestützt und das Kind verliert seine natürliche Selbstverständlichkeit, die es bei einem ähnlichen Ereignis in seiner Heimat hätte. Es muss reflektieren. Immerhin ist es eingeladen, das heißt durch die Teilnahme kann sich nach und nach der kulturspezifische Sinngehalt der Situation Geburtstagsparty erschließen und habitualisiertes leibliches (implizites) Wissen dazu ausbilden. Das gelingt natürlich nur bei kontinuierlicher und breit angelegter Integration. Ein Gespräch (eine aktuelle gemeinsame Situation mit geteilter Bedeutsamkeit) in einem solchen Rahmen stellt bereits eine Schwierigkeit dar, weil das Kind aus seinen implantierenden Situationen gerissen ist, die den notwendigen Hintergrund (Hintergrund an Bedeutsamkeit) für die aktuelle bilden. Dies erschwert es der Person, in aktuelle gemeinsame Situationen im Ankunftsland einzutreten und wirkt (zusätzlich) exkludierend. Wenn man dieser Umkehrung der ›Konstitutionsverhältnisse‹ folgt, dann zeigt sich Folgendes. Ausschlaggebend für ein gelingendes Heimathaben ist das leiblich-präpersonale Eingebettetsein von Personen in gemeinsame zuständliche Situationen, in denen sie verwurzelt sind, die nicht permanent wechseln und ein ständiges Sich-Einstellen verlangen, sondern die einen Hintergrund bilden für das Eingehen in und Gestalten von aktuellen Situationen. Die gefühls- oder stimmungsmäßige Seite von Heimat bildet sich – im Rahmen der bisherigen Überlegungen – beispielsweise als Atmosphäre der Geborgenheit in gemeinsamen zuständlichen Si121 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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tuationen, in welchen die jeweiligen Personen implantiert sind. Heimatverlust zeigt sich aus dieser Perspektive als das Herausgerissenwerden einer Person aus ihrer langfristigen und tiefgehenden (weil die Person fundierenden) Verankerung in spezifischen gemeinsamen zuständlichen Situationen sowie aus weiteren gemeinsamen bloß includierenden Situationen, die hieran hängen. Die Situationen sind solche der zwischenmenschlichen Gemeinschaft an einem Ort als auch ein Verankertsein in Traditionen und kulturellen Mustern. D. h. Heimatverlust greift auf der Ebene intersubjektiv-leiblich gebildeter Gemeinschaften an und damit in der vorprädikativen und vorobjektiven Dimension sozialer Erfahrung. Er unterminiert das Personsein. Heimatverlust vereinzelt in dieser Dimension und nicht nur auf der Ebene interpersonaler Bezüge. Diese phänomenologische Sichtweise hat Vorteile gegenüber soziologischen und psychologischen Theorien, die aufgrund ihrer Prämissen davon ausgehen müssen, dass die Flüchtenden am neuen Ankunftsort wie zuvor schon Einzelne unter Einzelnen sind und lediglich Kontakte und Beziehungen verloren haben, die sie einfach erneut knüpfen müssen, um sich in bestehende Netzwerke einzupassen. In einem solchen Rahmen können Erfahrungen wie »wir haben unsere Welt verloren«, »uns ist der Boden unter den Füßen weggerissen« auf nichts Wirkliches bezogen werden und erscheinen bloß metaphorisch oder dramatisierend. Eine wesentliche Dimension von Traumatisierung ist damit ausgeblendet. Soziale Beziehungen sind jedoch grundgelegt auf der Ebene leiblich-intersubjektiv sich bildender und umbildender gemeinsamer Situationen. Der Ausgangspunkt im Rahmen der (Neuen) Phänomenologie sind keine fertig vereinzelten Subjekte, geistige Personen oder rational kalkulierenden Akteure, die sekundär zueinander in Beziehung treten. Mit Hilfe der phänomenologischen Ausgangsprämisse können wir nun erfassen, dass bei Heimatverlust Dimensionen im Spiel sind, die sich nicht auf das einzelne Individuum beschränken, sondern die Situation im Ankunftsland wie auch im Herkunftsland betreffen. Denn das Zerreißen der gemeinsamen zuständlichen Situationen, in denen die Heimatlosen einst verwurzelt waren, führt zu Vereinzelung auch bei den 122 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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Daheimgebliebenen, insofern auch deren gemeinsame Situation nun keine mehr ist – eine solche muss sich erst neu einspielen unter den Verbliebenen (was nur unter bestimmten gelingenden, friedlichen Lebensbedingungen überhaupt möglich ist und nur wenn keine massenweise Flucht und Vertreibung vorliegt). Und hier zeigt sich eine Nähe zu Arendts oben besprochenem Bild von der Wurzellosigkeit. Insofern nun die Vereinzelung wegen Heimatverlust massenweise erfolgt, und oft von Exklusion gefolgt ist, befördert dies zusätzlich die in der Moderne ohnehin zunehmende Isolierung der Menschen. Weiterhin bleibt, in einer am Einzelnen ausgerichteten Perspektive, außer Betracht, was mit den gemeinsamen Situationen und was mit der gemeinsamen Welt im Falle von massenhaftem Heimatverlust geschieht. 3.3 Gemeinsame zuständliche Situationen als Fundament der Person Nun ist eine weitere phänomenologische Ausgangsannahme heranzuziehen, die aufschlussreich für ein Verständnis von Heimatverlust ist und die bereits erwähnt wurde: Gemeinsame zuständliche implantierende Situationen sind für die Person (im Sinne eines fertig vereinzelten Daseins) fundierend, insofern das Personsein eines konstitutiven Bezugs auf diese bedarf, um überhaupt ein authentisches Selbst ausbilden und sein zu können. Denn die Person ist »gehalten von gemeinsamen Situationen, aus denen sie hervorwächst oder in die sie eingeht.« 37 Dieser »Halt« – verstanden als Implantiertsein in den gemeinsamen zuständlichen Situationen – ermöglicht erst die Ausdifferenzierung der Person in interpersonalen Beziehungen. Denn implantierende Situationen geben »den mit ihren persönlichen Situationen eingepflanzten Personen Selbständigkeit […], weil diese Personen an gemeinsamen Überzeugungen, Programmen und Problemen einen Boden zum Maßnehmen in der Auseinandersetzung damit und
37
Schmitz, SK, S. 25.
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zum Finden eines eigenen Standpunktes« 38 haben. Die jeweilige persönliche Situation besteht demnach nicht für sich, sondern bildet sich aus gemeinsamen Situationen heraus und bleibt in Bezug zu ihnen – auch bei negativer Abgrenzung. Im Hintergrund steht die phänomenologische Erkenntnis, dass Personsein ein Prozess der permanenten Bildung der Person in leiblich-intersubjektiven Kontakten ist. »In der leiblichen Kommunikation bilden sich beständig neue aktuelle Situationen, die (wie z. B. Gespräche) in […] zuständliche Situationen eingebettet sind; auf diesem Wege wächst die persönliche Situation lebenslang in gemeinsame Situationen hinein.« 39 Die personale Bildung geschieht teils durch die Auseinandersetzung mit Eindrücken in affektivem Betroffensein aus interpersonalen Bezügen, die offen sind ins leiblich-präpersonale Leben: »Die eigene persönliche Situation ist […] für die Person nach unten offen zum aktuellen leiblich-affektiven Betroffensein, das sich in leibliche Kommunikation fortsetzt, in der die Person mit vielsagenden Eindrücken konfrontiert ist, aus denen ihre persönliche Situation reiche Anregung zur Weiterbildung […] schöpft.« 40
Die Person differenziert sich aus einem Involviertsein in gemeinsamen Situationen und den darin möglichen interpersonalen Bezügen aus. Manche dieser Situationen müssen nicht nur includierend, sondern implantierend sein, um dieser Halt und Orientierung für ihre Abhebung geben zu können. Wird dieses implantierende Eingebettetsein langfristig brüchig oder schwach, droht eine Form personalen Selbstverlusts – Schmitz spricht von einer »Selbstverwirklichung ohne Selbst« 41. Wenn man diese Analyse nach Schmitz hinzuzieht, werden Heimatverlust, Exklusion und Heimatlosigkeit erkennbar als ein Problem, das erstens die ganze Person betrifft bis in ihre präpersonalen Fundamente hinein und nicht nur das Fehlen von be38
Ebd., S. 252. Schmitz, NPh, S. 96 f. 40 Ebd. Ich kann im Rahmen dieses Beitrags nur kursorisch auf die Bildung der Person eingehen. 41 Schmitz, SK, S. 250. 39
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stimmten Bezügen. Die Fähigkeit zum Personsein ist in präpersonalen Fundamenten erschüttert; es kommt zu einer Einbuße an intersubjektivem Wirklichkeitserleben und an Spielraum zur Selbstentfaltung der Person. Und die Fähigkeit, in Interaktionen zu treten ist deshalb grundlegender eingeschränkt, als es nur durch einen Ortswechsel oder durch das Abbrechen bestimmter sozialer Beziehungen zu erklären wäre. Zweitens lässt sich nun sehen, dass massenhafter Heimatverlust und anschließende langfristige Heimatlosigkeit die Situativität menschlicher Existenz generell gefährden. Die Welt bietet für Fliehende und Vertriebene sehr wenige Ressourcen für gemeinsame Situationen – im Sinne des Gemeinschaftlichen aber auch im Sinne des (bloß includiernden) Gemeinsamen. Damit wird wiederum die Situationsfähigkeit der Person längerfristig geschädigt. 3.4 Die Leere zerrissener Situationen Aus phänomenologischer Perspektive sahen wir, dass die Vereinzelung das Ergebnis des Zerreißens gemeinsamer zuständlicher Situationen ist, in denen die Person verwurzelt ist. Sie kann, in dem Maße, in dem Heimatverlust nicht durch Inklusion überwunden wird und bei langfristiger Heimatlosigkeit, zu Selbst- und Wirklichkeitsverlust führen. Der Wirklichkeitsverlust bleibt jedoch nicht auf die ›Innenwelt‹ der Fliehenden beschränkt. Die zerrissenen einst gemeinsamen Situationen sind nämlich nicht spurlos verschwunden – ihr Zerrissensein bleibt präsent. Dieses ist nicht ›greifbar‹ oder materiell sichtbar, die Spuren können jedoch sehr wohl als soziale Ruinen spürbar wahrgenommen werden. Eine Atmosphäre oder Stimmung der Leere im Sinne von Sinnlosigkeit, Ziellosigkeit, Kontaktlosigkeit und Fremdheit durchzieht den spürbaren Raum zwischen den Menschen. 42
42 Zur Stimmung der Leere bzw. zu ennui vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühlsraum, Bonn 2005, S. 219–232.
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Deutlich erkennbar ist dies am Befinden und Verhalten der Menschen, bei denen das Zerreißen der Situationen Spuren hinterlassen hat, bei Vertriebenen und Geflüchteten sowie bei den Daheimgebliebenen: Die einst in den gemeinsamen zuständlichen Situationen gegebenen Atmosphären wie etwa Geborgenheit sind zerstört – die Situationsruinen haben indes auch andere Atmosphären oder Stimmungen. Nun durchziehen Leere, Verlassenheit und Fremdheit die persönlichen Situationen der Vereinzelten. Darüber hinaus durchziehen sie aber auch die Ränder unserer gemeinsamen Situationen in den Ankunfts- und Transitländern, weil diese Atmosphären sich über leiblichen Ausdruck mitteilen und niederschlagen. 4.
Heimatverlust als Moment von Weltverlust
Im Folgenden geht es darum, massenhaften Heimatverlust, die jahrelangen Wanderungen und Abschiebungen von einem Land in ein anderes und langfristige Heimatlosigkeit als ein Moment von Weltverlust bzw. von Zerfall der gemeinsamen Welt sichtbar zu machen; nicht als Verlust einer Privatwelt einiger Betroffener, sondern als Verlust unserer gemeinsamen Welt. 43 Zwar spricht Arendt in ihrem Text Wir Flüchtlinge vom »Zusammenbruch unserer privaten Welt« 44, aber ausgehend von ihrer Untersuchung zur Lokalisierung menschlicher Tätigkeiten in Vita activa und vor dem Hintergrund der »Sorge um die Welt« 45 lassen sich Heimatverlust und Heimatlosigkeit sehr wohl als Momente von Weltverlust erfassen. Dazu müssen zunächst Überlegungen Arendts zum Weltbegriff sowie zur Lokalisierung menschlicher Existenz in der gemeinsamen Welt vorangestellt werden.
43
Dieser Aspekt ist zentral. Heimat ist gerade nicht das beschauliche Wohnen oder das geschützte Privatleben. Derart weltlos wäre – oder ist – es bereits eine Verfallserscheinung. Dies wird nachfolgend sichtbar gemacht. Vgl. Hasse mit kritischem Bezug auf Bollnow in: Hasse, SH, S. 169. 44 Arendt, WF, S. 8. 45 Arendt, WP, S. 24.
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4.1 Die gemeinsame Welt »Welt« ist kein systematisch entwickelter Begriff in Hannah Arendts Werk. 46 Sie spricht in zweierlei Hinsichten von Welt. 47 In beiden Fällen handelt es sich um eine gemeinsame Welt, die den Einzelnen vorgängig ist, jedoch ihrem gestaltenden Zugriff offensteht. Zum einen bezieht sich Arendt mit »Welt« auf das Produkt menschlichen Herstellens und Gestaltens der Dinge und Umgebungen, das der gemeinsamen Welt einen »objektiven« sowie das einzelne menschliche Leben überdauernden Charakter verleiht. Es ist keine bloß natürliche, sondern eine gestaltete Welt, in der menschliches Leben sich vollzieht. Die Welt in dieser Hinsicht ist etwas relativ Beständiges; sie war vor unserer Geburt da und wird über unsere jeweilige Lebensspanne hinaus da sein. Die Welt ist damit durch »Faktizität« und »Vorgängigkeit« charakterisiert. 48 Der objektive, teils dinghafte Charakter der Welt vermittelt einerseits zwischen den Menschen, andererseits stellt er für das In-Erscheinung-Treten der Menschen voreinander den gestalteten Raum bereit. Zum anderen – und nur um diese Dimension von Welt wird es im Folgenden gehen – spricht Arendt von Welt als einem Erscheinungsraum und zwar nicht so sehr der Dinge, sondern der Fokus liegt auf den Personen, die voreinander in Erscheinung treten können und sich dabei als die jeweilige Person, die sie sind, in ihrer Besonderheit zeigen. Welt in diesem zweiten Sinne ist ein interpersonaler Erscheinungsraum, der auf dem »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« 49 beruht. Welt konstituiert sich nach Arendt jedoch nicht ohne weiteres als ein allgemeines soziales Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen, 50 sondern nur 46
Vgl. Rahel Jaeggi: Stichwort »Welt/Weltentfremdung« (WE), in: Wolfgang Heuer / Bernd Heiter / Stefanie Rosenmüller (Hrsg.): AH, S. 333–335, S. 333; Förster, SWFH, S. 53. 47 Vgl. Jaeggi, WE, S. 333. 48 Ebd. 49 Arendt, VA, S. 222. 50 Gesellschaft bildet den Gegenbegriff zu Welt bei Arendt. Vgl. Jaeggi, WP, S. 49; Förster, SWFH, S. 56 f.
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dann, wenn Menschen redend und handelnd in der Öffentlichkeit das Gemeinwesen betreffende Dinge verhandeln, also im politischen Sinne reden und handeln. Die gemeinsame Welt ist das, was dabei »zwischen« den Menschen entsteht. 51 Denn: Es ist die je eigene, von anderen sich aktiv unterscheidende Perspektive der jeweiligen Person, mit der letztere sich in die gemeinsamen Belange einschaltet, um sich zu zeigen aber zugleich auch, um die anderen zu überzeugen und ein Zusammenhandeln anzustoßen. Gemeinsamkeit meint hier also nicht Gemeinschaftlichkeit, sondern eine Multiperspektivität divergierender Standpunkte und Interessen: »Eine gemeinsame Welt […] existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.« 52 So schreibt treffend Rahel Jaeggi: »Welt ist […] intersubjektiv konstituiert und unhintergehbar ›multiperspektivisch‹.« 53 Denn eine gemeinsame Angelegenheit oder Sache kann nach Arendt nur »Erscheinen«, in die Wirklichkeit eintreten, weil sie intersubjektiv sich konstituiert in verschiedenen Perspektiven. Die gemeinsame Welt funktioniert damit nur unter Bedingungen der Pluralität und sie bringt Pluralität ihrerseits hervor, indem die Personen sich voreinander und teils auch gegeneinander mit ihrer Perspektive auf eine zu verhandelnde gemeinsame Sache zur Erscheinung bringen. Hierdurch konstituiert sich zum einen eine Form der interpersonalen Wirklichkeit, zum anderen differenziert sich die Person in der Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven aus. Mit Pluralität ist jedoch keine Verschiedenheit im Sinne eines gegebenen Andersseins gemeint, sondern ein Tun: Die Menschen unterscheiden sich aktiv voneinander, indem sie redend und handelnd voreinander in Erscheinung treten. Dieses aktive Sich-Unterscheiden ist »keine einfache, natürliche Differenz« 54. Es ist eine Sache des Handelns, weswegen es auch konflikthafter 51
Zu Arendts Begriff des »Zwischen« als einem politischen Raum vgl. Kumiko Yano: Stichwort »Politischer Raum/Zwischen«, in: Wolfgang Heuer / Bernd Heiter / Stefanie Rosenmüller (Hrsg.): AH, S. 309–311, bes. S. 310. 52 Arendt, VA, S. 73. 53 Jaeggi, WE, S. 333. 54 Vgl. Étienne Tassin: Stichwort »Pluralität/Spontaneität« in: Wolfgang Heuer / Bernd Heiter / Stefanie Rosenmüller (Hrsg.): AH, S. 306 f., hier: 307.
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Natur sein kann und Mut erfordert. »Die gemeinsame Welt, auf die die Pluralität hinstrebt, ist keine einheitliche Welt: Es ist eine immer noch in sich geteilte Welt, deren Gemeinsamkeit in ihrer Pluralität besteht.« 55 Das (Fort-)Bestehen einer gemeinsamen Welt ist an bestimmte Bedingungen gebunden und nichts, was sich von selbst ergibt. 56 Solche Gelingensbedingungen rekonstruiert Arendt unter anderem anhand der Verhältnisse in der antiken Polis. Es handelt sich dabei um eine spezifische Lokalisierung grundlegender menschlicher Tätigkeiten und damit menschlicher Existenz. Die Moderne ist dagegen nach Arendt durch Weltentfremdung, Weltlosigkeit und Weltverlust 57 gekennzeichnet und wird von Arendt im Rahmen einer Verfallsgeschichte interpretiert. Für die vorliegende Untersuchung sind folgende Aspekte zentral: 1. Welt – im zweiten Sinne des Erscheinungsraums – ist eine gemeinsame Welt im interpersonalen Sinne. Es hat gerade nicht »jeder seine Welt«. Sie entsteht durch spezifische Bezugnahmen von Personen aufeinander und hat einen spezifischen Bereich, der ihr zugehört: Die gemeinsame Welt konstituiert sich im Öffentlichen. Weiterhin: Die gemeinsame Welt ist nicht an einen spezifischen Ort oder an eine konkrete Gemeinschaft gebunden, 58 sie ist unbegrenzt offen und geradezu angewiesen darauf, dass ständig neue Menschen und Generationen »hineinfluten«. 59 2. Pluralität und Multiperspektivität sind konstitutiv für die gemeinsame Welt und zugleich wiederum angewiesen auf diese, da sie sich nur in ihr entfalten können. Das heißt für das Personsein: Es ist von einer Abhängigkeit der einzelnen Person von interpersonalen Bezügen in einer gemeinsamen Welt auszugehen – Bezüge, aus denen heraus die Person sich ausdifferenzieren und in 55
Ebd. Der Bestand der gemeinsamen Welt ist »keine unhintergehbare anthropologische Grundtatsache, sondern eine nicht immer realisierte und stets bedrohte Möglichkeit.« (Jaeggi, WE, S. 334). 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. Arendt, VA, S. 250: »›Wo immer Ihr seid, werdet Ihr eine Polis sein.‹« 59 Vgl. ebd., S. 238. 56
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ihrer Einzigartigkeit abheben kann. Ihre Partizipation an einer gemeinsamen Welt hat nach Arendt Voraussetzungen. Zu diesen gehört es, in spezifischer Weise einen eigenen Platz in der Welt zu haben. 4.2 Der eigene Platz in der gemeinsamen Welt Im Folgenden wird es darum gehen, die Implikationen von Heimatlosigkeit sichtbar zu machen, indem wir Heimat – mit Referenz auf Arendt – im Rahmen einer bestimmten, historisch identifizierbaren Lokalisierung menschlicher Existenz verorten. Es handelt sich um die Struktur Privates-Öffentliches oder EigenesGemeinsames, die Arendt als eine Art Idealtypus anhand antiker Verhältnisse rekonstruiert. Eine Interpretation von Heimathaben im Sinne einer Lokalisierung im Privaten/Eigenen in Bezug auf das Öffentliche/Gemeinsame erlaubt es zu sehen, dass Heimatverlust niemals bloß eine private Sache ist, sondern auch Moment des Weltverlusts, des Herausfallens von Menschen aus der gemeinsamen Welt. Grundsätzlich bildet die Lokalisierung menschlicher Existenz in der Welt im Sinne der Heimat als eines angestammten Ortes die Voraussetzung dafür, an öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen zu können, an der gemeinsamen Welt zu partizipieren. Die Lokalisierung menschlicher Existenz vollzieht sich, so werde ich Hannah Arendts Überlegungen aus Vita activa aufgreifend kurz darlegen, in einem räumlichen Strukturzusammenhang zwischen Privat und Öffentlich, Eigen und Gemeinsam. Der Mensch ist nach Arendt in diesen beiden voneinander abhängigen und aufeinander bezogenen ›Orten‹ oder besser ›Sphären‹ lokalisiert. Arendt nimmt in ihren Analysen Bezug auf die Antike, die griechische und römische Welt, um eine Art Idealtypus gelingender Welthaftigkeit und Pluralität menschlichen Daseins zu entwickeln. 60 Für die alten Griechen gehörten das Private und das 60
Vgl. Christina Thürmer-Rohr: Stichwort »Öffentlichkeit/Privatheit« (ÖP), in: Wolfgang Heuer / Bernd Heiter / Stefanie Rosenmüller, AH, S. 302–304, S. 302.
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Öffentliche, das Eigene und das Gemeinsame zwei verschiedenen Seinsordnungen zu, 61 die jedoch im Zusammenhang stehen. Arendts Orientierung an der antiken Polis, wenn es um die Bestimmung dessen geht, was politisches Handeln ausmacht, ist keine rückwärtsgewandte Glorifizierung der Antike, sondern muss gesehen werden vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts und ihrer Analysen des Totalitarismus. 62 In deren Licht zeigt sich eine Verfallsgeschichte zunehmender Weltentfremdung. 4.2.1 Heimat im Rahmen bloß privater Existenz Heimathaben kann, folgt man Arendts Antike-Aufgriff, zunächst als Zugehörigkeit zum Bereich des Privaten, zu einer Familiengemeinschaft und zu dem von ihr bewohnten Ort verstanden werden. Der Privatbereich hatte nach Arendt zunächst einen privativen Sinn; die bloß private menschliche Existenz kennzeichnete einen Zustand, in welchem man wesentlicher, das Menschliche auszeichnender Möglichkeiten beraubt ist, nämlich der Freiheit und der Ebenbürtigkeit, als Gleiche untereinander zu sein, die typisch für das Öffentliche sind, denn: »Der private Raum war bestimmt von natürlicher Ungleichheit, von Naturnotwendigkeiten und lebenserhaltender Arbeit, erledigt von Sklaven und Frauen. Er galt als heilig […] weil er das Leben sichert und schützt […].« 63 Eine bloß private Existenz beraubt der Möglichkeit, die eigene Person in ihrer Einzigartigkeit zur Erscheinung zu bringen. Der »Privatmensch tritt nicht in Erscheinung, […] [w]as er tut oder läßt bleibt ohne Bedeutung.« 64 Der Privatbereich entbehrt daher
61
Vgl. ebd. Vgl. Richard J. Bernstein: »Nicht Geschichte, sondern Politik: Ursprünge totaler Herrschaft«, in: Waltraud Meints / Katherine Klinger (Hrsg.): Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt, Hannover 1994, S. 87–104, S. 95; Thürmer-Rohr, ÖP, S. 303. 63 Thürmer-Rohr, ÖP, S. 302. Vgl. Arendt, VA, S. 79. 64 Arendt, VA, S. 73. 62
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der intersubjektiv sich bildenden und bestätigenden Realität. 65 Nach Arendt ist ein nur im Privaten verbrachtes Leben defizitär, weil sich in ihm die Person nicht voll und ganz ausbilden kann. Heimat in diesem privativen Sinne ist weltlos (auch wenn Arendt manchmal von der privaten Welt spricht), weil sie den Gegensatz zur gemeinsamen Welt bildet, die sich im Erscheinungsraum zwischen den Menschen entfaltet, die redend und handelnd zueinander in Beziehung treten. 4.2.2 Heimat als Strukturmoment der gemeinsamen Welt Der Privatbereich hat aber nicht nur diesen privativen, sondern ebenso einen positiven und für das Politische produktiven Sinn, er ist zugleich als (Privat-)Eigentum zu verstehen. Dies meint nicht Besitz und Reichtum, sondern eine Lokalisierung menschlicher Existenz. Zunächst, in der Antike, ist das Private also Eigentum und bindet an einen Ort und einen intergenerationellen Zusammenhang; erst später, seit der Neuzeit, wird Eigentum zunehmend als Besitz und Reichtum aufgefasst. 66 »Eigentum war ursprünglich an einen bestimmten Ort in der Welt gebunden und als solches nicht nur ›unbeweglich‹, sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm. Kein Eigentum zu haben hieß, keinen angestammten Platz in der Welt sein eigen zu nennen, also jemand zu sein, den die Welt und der in ihr organsierte politische Körper nicht vorgesehen hatte.« 67
Das Eigentum zeigt »den Teil der uns gemeinsamen Welt [an], der uns privat zu eigen ist«, sein Schutz gehört »zu den elementarsten politischen Bedingungen für die Entfaltung der Weltlichkeit menschlichen Daseins.« 68 Als Privateigentum und Ort der familiären Lokalisierung in der Welt steht das Private nicht im Gegen65
Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 76 und 80. Vgl. auch Rainer Piepmeier: »Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs«, in: Bundeszentrale für politische Bildung, H-ATP, S. 91– 108, S. 95. 67 Arendt, VA, S. 76 f. 68 Ebd., S. 324. 66
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satz zum Öffentlichen 69, sondern ist »wesentlich für das Politische« 70. »Und es war nicht so sehr der Respekt vor Privatbesitz in unserem Sinne, der die Polis daran hinderte, den privaten Bereich ihrer Bürger zu ruinieren, als das Gefühl dafür, daß ohne ein gesichertes Eigentum niemand sich in die Angelegenheiten der gemeinsamen Welt mischen konnte.« 71
Nur wer Privates im Sinne des Eigentums hatte – und dies meint in der Antike (das muss stets dazu gesagt werden) einen Haushalt mit Rechtlosen: Frauen, Kindern und Sklaven –, konnte an den öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen und als Person in Erscheinung treten; seine Worte und Taten wurden so sichtbar und hörbar und damit Teil der gemeinsamen Wirklichkeit. Dazu musste er den auf Gemeinschaftlichkeit beruhenden Bereich des Privaten verlassen. Die Regelung der gemeinsamen Belange verlangte ein Sich-Hervortun, das durchaus agonalen und antagonistischen Charakter hatte; das Gemeinsame ist gerade vom Gemeinschaftlichen zu scheiden, das in der Politik nicht seinen rechten Ort hat. 72 Der interpersonale politische Erscheinungsraum fordert es, »den jeweils Anderen in seiner Andersartigkeit, ja Fremdheit anzuerkennen und zu belassen.« 73 Daher schreibt Arendt, dass das Private als Eigentum »mehr als eine Wohnstätte« 74 meint; es ist jedoch auch mehr als bloß eine Voraussetzung der Partizipation an öffentlichen Angelegenheiten, es ist nämlich Teil der Struktur öffentlich-privat und dieser Strukturzusammenhang als ganzer ist es erst, welcher die menschliche Existenz vollständig lokalisiert: im Privaten wie im Öffentlichen, verankert im Gemeinschaftlichen und als eine einzigartige Person in Beziehung zu Anderen hervortretend und als solche beteiligt an der Gestaltung der gemeinsamen Welt. Denn beide Bereiche sind 69 70 71 72 73 74
Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Ebd., S. 40. Vgl. Thürmer-Rohr, ÖP, S. 303. Förster, SWFH, S. 62. Arendt, VA, S. 77.
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abhängig voneinander und existieren nur in Bezug aufeinander: das dunkle (erscheinungslose) Private und die Helle der Öffentlichkeit. Nicht das Innere des privaten Bereichs ist jedoch von politischer Bedeutung, sondern seine Begrenzung, 75 es ist ein Eingehegtes oder Eingegrenztes. Das öffentliche Gemeinwesen hat diese Grenzen des Eigentums zu schützen, die »das Eigentum und Eigenste eines Bürgers von dem seines Nachbarn trennen und gegen ihn sicherstellen.« 76 Diese umgrenzende Lokalisierung entspricht der Lokalisierung des politischen Lebens der Stadt (und ist ihr Gegenstück), welche selbst wiederum eingehegt ist, und zwar durch die Gesetze der Polis. Die beiden Bereiche, das Private und das Öffentliche sind als einander umgrenzende Lokalisierungen aufeinander bezogen und hängen als solche voneinander ab: »Der dunkle, verborgene Raum des Privaten bildete gleichsam die andere Seite des Öffentlichen« 77. Sie begrenzen einander gegenseitig und ermöglichen einander. Heimat in diesem Sinne ist Teil der Lokalisierung menschlicher Existenz, wobei die Lokalisierung nicht nur im Privaten geschieht, sondern auch als Teilmoment des übergreifenden Strukturzusammenhangs zu verstehen ist – in welchem menschliche Existenz in der Antike eine gelingende Form gefunden hat. Der Boden aus Arendts Metapher von der Entwurzelung zu Anfang dieses Textes zeigt sich nun als der angestammte, eigene (gemeinschaftlich mit der Familie geteilte) Platz in der Welt im Sinne des Privaten. Er ist Voraussetzung und Schwelle für das Eintreten in die Helle des öffentlichen Raumes und für die Einschaltung in die Belange der gemeinsamen Welt. Er ist in der Entwurzelung zerrissen. Weil damit aber ein Moment des Strukturzusammenhangs privat-öffentlich bzw. Eigen-Gemeinsam zerrissen ist, ist die Dimension Weltlosigkeit oder Weltverlust mit Heimatverlust aufgerufen.
75 76 77
Vgl. ebd., S. 77 f. Ebd., S. 78. Arendt, VA, S. 79.
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4.3 Heimatlosigkeit: Weltverlust, Selbstverlust und Narrenfreiheit Was lässt sich ausgehend von Arendts Untersuchungen zur gemeinsamen Welt und zur Lokalisierung menschlicher Existenz über Heimatverlust und Heimatlosigkeit erkennen? Zunächst einmal ist es offensichtlich, dass Flüchtende, Vertriebene und langfristig Heimatlose von der gemeinsamen Welt ausgeschlossen sind. Insofern sie im Ankunftsland oder im Transitland sehr geringe bis keine Möglichkeiten und Rechte zur Partizipation haben (weil ihnen z. B. Sprachkenntnisse fehlen, weil sie keine Arbeit aufnehmen oder nicht lernen können, weil sie keine Kontakte knüpfen können), sind sie von dem Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten ausgeschlossen. Insofern sie nun ihre Sprache nicht einsetzen sowie ihre Kultur und ihre Traditionen nicht zur Geltung bringen können, um ihre persönlichen Interessen in das Gemeinsame zu übersetzen, ihre Stimme zu erheben, ihre Perspektive zu äußern und Stellung zu nehmen, z. B. um sich gegen das, was geschieht zur Wehr zu setzen, haben sie einen Weltverlust erlitten. Sie sind zurückgeworfen auf ihre bloß private Existenz. Im Vorangehenden wurde jedoch deutlich, dass genau diese zerstört wurde. So beschreibt Arendt die Situation aus eigener Erfahrung in ihrem Text Wir Flüchtlinge: »Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.« 78
Mit Arendt sahen wir sehr genau, dass im Fall von Entwurzelung gerade die private Welt zusammengebrochen ist. Und dies meint 78
Arendt, WF, S. 7 f. Diese Charakteristik ist karikaturhaft und ironisch – deswegen jedoch gerade nicht gehaltlos, vgl. Heuer, EF.
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nicht nur die privaten Gemeinschaften, die nicht mehr bestehen, sondern ebenfalls die Traditionen, die abgebrochen sind, in welchen die Personen standen und aus denen sie Orientierung, Halt und Perspektive auf die Welt entwickelten; ganz im Sinne der phänomenologisch aufgewiesenen gemeinsamen zuständlichen Situationen, in welchen eine Person implantiert ist. Die ganze Struktur menschlicher Lokalisierung ist den Heimatlosen zerbrochen, nicht nur vom Gemeinsamen sind sie ausgeschlossen, auch ein Eigenes gibt es nicht mehr. Damit sind Heimatlose in einer Art Niemandsland. Weder sind sie mehr dort, wo sie herkamen, noch sind sie in einem vollen Sinne »hier« – weil wir mit Hilfe der Neuen Phänomenologie und Arendts Analysen genau sehen können, dass »Hiersein« meint: eine situativ einbettende Lokalisierung menschlicher Existenz geöffnet hin auf eine gemeinsame Welt. Dass Heimatlose in einem Niemandsland sind, verraten ihre sozialen »Aufenthaltsräume« ganz deutlich: Es sind (Not-) Unterkünfte und Auffanglager, administrative Transitbereiche. Dieser Ortlosigkeit und Bezuglosigkeit korrespondiert die »Narrenfreiheit« der Fliehenden und Vertriebenen. So schreibt Arendt über den Rechtlosen: »Seine Meinungsfreiheit erweist sich als Narrenfreiheit, weil das, was er denkt, für nichts und niemanden von Belang ist.« 79 Die Fliehenden und Vertriebenen sind nicht Teil der gemeinsamen Welt – sie sind nicht integriert über eine geteilte Bedeutsamkeit und haben keinen Anteil an der intersubjektiv-interpersonal sich bildenden Wirklichkeit. Insofern nun aber massenhaft Menschen von Heimatverlust betroffen sind, ist die gemeinsame Welt bedroht. Und zwar auch ›unsere‹ gemeinsame Welt, insofern gemeinsame Welt nie Gemeinschaftliches meint (die Welt dieser Gruppe oder jener), weil der öffentliche Bereich per se stets offen ist für neu Hinzukommende und weil eine geringere Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten die Pluralität der Perspektiven einschränkt, welche aber konstitutiv für eine gemeinsame
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Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986, S. 613.
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Welt ist, weil Welt nur in einer Vielfalt von Perspektiven erscheint. 80 Weiterhin lässt sich erkennen: In einer bestimmten Hinsicht wird der Selbstbezug der Heimatlosen geschädigt oder geschwächt. Durch den Ausschluss von der gemeinsamen Welt haben sie keine Möglichkeit, als Person in Erscheinung zu treten und ihre Perspektive in der gemeinsamen Welt zur Geltung zu bringen. Der Assimilationsdruck sowie häufige Wechsel des Aufenthaltsortes können zu dem paradoxen Versuch führen, gewaltsam eine neue Identität zu schaffen, was letztlich einem Selbstverlust entspricht. Dies beschreibt Arendt ebenfalls in Wir Flüchtlinge: »Aber dennoch haben wir sofort nach unserer Rettung – und die meisten von uns mußten mehrmals gerettet werden – ein neues Leben angefangen und versucht, all die guten Ratschläge, die unsere Retter für uns bereithielten, so genau wie möglich zu befolgen. Man sagte uns, wir sollten vergessen […]. Auf ganz freundliche Weise wurde uns klargemacht, daß das neue Land unsere neue Heimat werden würde; und nach vier Wochen in Frankreich oder sechs Wochen in Amerika gaben wir vor, Franzosen bzw. Amerikaner zu sein. Die größeren Optimisten unter uns gingen gewöhnlich sogar so weit, zu behaupten, sie hätten ihr gesamtes vorheriges Leben in einer Art unbewußtem Exil verbracht und erst von ihrem neuen Leben gelernt, was es bedeute, ein richtiges Zuhause zu haben. […] die Optimisten unter uns sind schon nach einem Jahr der festen Überzeugung, sie sprächen Englisch so gut wie ihre eigene Muttersprache […].« 81
Der Versuch, in dieser zerrissenen Situation eine neue Identität zu finden, ist jedoch aussichtslos, gerade weil er nicht der Verfügbarkeit der einzelnen Person untersteht, sondern eine Sache der gemeinsamen Welt ist: »Doch die Erschaffung einer neuen Persön-
80
Daher ist, was den Prozess des Überflüssigmachens von Menschen angeht, stets zu berücksichtigen, dass er nie nur die Überflüssigen selbst betrifft, sondern unser aller gemeinsame Welt gefährdet. Zu Exklusion vgl. Waltraud Meints-Stender: »Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine Aktualisierung«, in: Heinrich-Böll-Stiftung, VT, Berlin 2007, S. 251–258. 81 Arendt, WF, S. 7 f.; vgl. ebd., S. 16 f.
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Nina Trčka
lichkeit ist so schwierig und so hoffnungslos wie eine Neuerschaffung der Welt.« 82 4.4. Unheimliche Welt und die Stimmung der Fremdheit unter den Menschen Wir sagten zu Beginn, dass eine neuphänomenologische und mit Arendt kombinierte Perspektive zeigen kann, dass Heimatverlust eine Dimension nicht bloß privat-persönlichen Schicksals allein, sondern des Schicksals oder des (Fort-)Bestands der gemeinsamen Welt ist. Es ist die Sorge um die Situationen bei Schmitz und die Sorge um die Welt bei Arendt, 83 die eine Umkehr des Denkens anregten. Wir können nun mit Blick auf die intersubjektiv-interpersonale Dimension der gemeinsamen Welt sagen: Die Welt wird unheimlich. Unheimlich ist, was einst vertraut gewesen ist. 84 Dies gilt auch für den hier betrachteten Zusammenhang von Heimat und Welt. Die Welt ist erstens unheimlich, insofern sie immer mehr Menschen keine Heimat mehr bietet, im Sinne eines eigenen Platzes in der gemeinsamen Welt. Dies ist das Ergebnis nicht nur der kapitalistischen Enteignungs- und Akkumulationsprozesse, der Entwertung und Verschlingung der dinglichen Welt 85, sondern auch das Ergebnis von massenhafter Flucht, Vertreibung, langfristigen Transitaufenthalten und anschließender Exklusion der Geflüchteten. Über die grundlegende Diagnose bei Arendt zu Weltverlust, Weltlosigkeit und Weltentfremdung hinaus können wir sagen: Die Welt wird zweitens in einem weiteren Sinne unheimlich: 82
Ebd., S. 17. Vgl. Schmitz, SK, S. 9–15; Arendt, WP, S. 24; Förster, SWFH, S. 61 f. – Nur eine gemeinsame Welt ermöglicht Freiheit, da sich letztere nur im Zusammenhandeln verwirklicht. 84 Vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche« (1919), in: ders.: Studienausgabe Bd. IV, Frankfurt am Main 1970, S. 241–274, bes. ebd. S. 250: »Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.« 85 Vgl. Jaeggi, WE, S. 334; Förster, SWFH, S. 63 f. 83
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Über Heimatverlust und Heimatlosigkeit
Das Unheimliche der neuen ›gemeinsamen‹ Situation – oder eher Konstellation – in den Ankunfts- und Transitländern besteht darin, dass die Fliehenden und Vertriebenen eine ambivalente Präsenz erleiden. Sie sind da und doch nicht da. Sie sind zwar präsent, begegnen leibhaft und wären also mögliche Partner für Interaktionen und für die Bildung gemeinsamer Situationen, zugleich werden sie jedoch nicht als Partner angenommen und treten nicht in interpersonale Beziehungen ein. Sie schweigen, sie sind keine Gesprächspartner, sie sind weder KollegInnen, MitarbeiterInnen oder NachbarInnen, sie sind auch keine KontrahentInnen – wenn sie nicht sogar gänzlich unsichtbar werden in den Auffanglagern und Transitunterkünften, sodass sie uns nicht einmal mehr begegnen. Oft werden sie durch bestimmte Formen diffamierender Exklusion sogar ihres Personstatus beraubt und als eine Art Gattung, als »die da«, für jegliche Kontaktaufnahme disqualifiziert. 86 Dies gilt insbesondere für die Perspektive auf Flüchtlinge in den Medien: Sie werden entpersonalisiert und als gesichtslose Masse gezeigt. 87 Phänomenologisch kann man hier sagen: Es entstehen kaum gemeinsame zuständliche Situationen im bloß locker includierenden Sinne, schon gar nicht im implantierenden Sinne; es handelt sich fast um ein bezugloses Nebeneinander von isolierten Menschen. Das Unheimliche dieser Situation wirkt sich auf die Öffentlichkeit der Ankunftsländer aus, es dringt in deren Erscheinungsraum selbst ein und entwirklicht ihn, der doch die Grundlage für die Konstitution intersubjektiver Wirklichkeit ist: Wirklich kann nur werden, so Arendt, was in den Erscheinungsraum des gemeinsamen Redens und Handelns gestellt ist. Eine ambivalente Präsenz beraubt nicht nur die Fliehenden und Verjagten der Möglichkeit zur Teilhabe und unterminiert ihr Personsein, sondern beraubt auch die Menschen in den Ankunftsländern einer gemeinsamen Wirklichkeit, in die sie 86
Vgl. Schmitz zur »Entschränkung der Partnerschaft« in: Schmitz, AG, S. 63 f. Vgl. Wolfgang Heuer: »Ein Bild von den Flüchtlingen. Erfahrung, Sichtbarkeit, Einbildungskraft«, in: Waltraud Meints / Michael Daxner / Gerhard Kraiker (Hrsg.): Raum der Freiheit. Reflexionen über Idee und Wirklichkeit, Bielefeld 2009, S. 359–372, S. 369.
87
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– so der Grundwiderspruch – doch aber durch gemeinsame Gegenwart schon gestellt sind, bzw. die durch diese leibhafte Kopräsenz schon eröffnet ist. So schlägt Heimatlosigkeit in die Ankunftsgesellschaft; ihre Öffentlichkeit ist reduziert, da die Perspektiven der anwesenden Neuankömmlinge nicht berücksichtigt werden. Es kommt zu einer nicht nur reduzierten interpersonalen Wirklichkeit, sondern diese wird durch die ambivalente Präsenz entwirklicht, daher kann man sagen: Die Welt wird unheimlich. Nach Arendt produzieren nun Weltentfremdung, der Verfall des öffentlichen Raumes und die zunehmende kollektive Verlassenheit unter den Menschen die Stimmung der Fremdheit zwischen ihnen. »In diesem Zwielicht 88, in dem niemand mehr weiß, wer einer ist, fühlen Menschen sich fremd, nicht nur in der Welt, sondern auch untereinander; und in der Stimmung der Fremdheit und Verlassenheit gewinnen die Gestalten der Fremdlinge unter den Menschen, die Heiligen und die Verbrecher, ihre Chance.« 89
Dies gilt auch bei massenhafter und langfristiger Heimatlosigkeit. Es sind dabei gerade nicht ›die Fremden‹, die die Ursache der empfundenen Fremdheit sind, sondern der Zerfall der gemeinsamen Welt, der zum Beispiel durch deren Exklusion weiter forciert wird. Unter Bedingungen einer zunehmenden Weltentfremdung ist Heimat nur mehr eine Sehnsucht. Der unerkannte Verlust der Weltlichkeit menschlicher Existenz im Sinne eines Mitseins mit Anderen in einer gemeinsamen Welt führt zu falschen Heimatidyllen, die bloß den Weltverlust verdecken, der die eigentliche Ursache für die Stimmung der Fremdheit ist. 90
88
Zum Kontext dieser Passage: Es geht um den Untergang des politischen Raumes. Die Helle der Öffentlichkeit, die Sichtbarkeit im Erscheinungsraum, ist, da dieser Raum verfällt, nur mehr ein »Zwielicht«. 89 Arendt, VA, S. 221. 90 Zum ideologischen Gehalt des Heimatdiskurses vgl. u. a. Hasse, SH, S. 163 f., 170.
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Reinhard Knodt
Vom gelobten Land
»Wir lernen aus den neuen Möglichkeiten einen neuen Heimatbegriff zu konstruieren. Ich glaube allerdings nicht, dass ein Wir im Sinne einer universellen Weltgemeinschaft jemals entstehen kann.« (Wolfgang Kaschuba 1) »I like to think of home as a verb, something, we keep recreating.« (Madeleine Thien)
1.
Heimat als Korrespondenzphänomen
Der Buddhismus lehrt seine Anhänger, dass die »Hauslosigkeit« ein anzustrebender Zustand sei und deutet damit den Vorrang einer spirituellen Heimat an, die nicht an bestimmte Orte, Zeitpunkte, Biographien oder spezielle Weisen des Zusammenseins gebunden ist. – Die christlichen Mönche sind im Unterschied dazu zur »Ortsfestigkeit« ermahnt, da in ihrer dualistischen Welt zwar das Reich Gottes »nicht von dieser Welt« ist, dennoch aber ganz augenscheinlich mit Ritus, atmosphärischer Symbolarbeit und reguliertem Klosterleben korrespondiert, ein Zusammenhang, der durch Reisetätigkeit gestört wird. Beiden Entwürfen einer spirituellen Heimat könnte man, so unterschiedlich sie auch konzipiert sind, eine Reihe »profaner« Heimaten gegenüberstellen, etwa solche, wie sie die Soziologie als »Resonanz-Inseln« geographischer, beruflicher, zweckrationaler oder biographischer Art beschreibt. 2 Zugleich müsste man aber auch wieder zugeben, dass 1
Vgl. »Heimat, Annäherung an ein schwieriges Gefühl«, Wolfgang Kaschuba im Gespräch mit Beate Mitzscherlich, in: Spiegel-Wissen Nr. 6, Juni 2016. 2 Vgl. etwa bei Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
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spirituelle Entwürfe von den profanen Heimaten gar nicht sinnvoll zu trennen sind und streng genommen als kosmologisch atmosphärische Zusatzveranstaltungen angesehen werden müssen, die die alltäglichen Inseln der Heimat in einem imaginierten Meer der Gefahren und des Unbekannten reflexiv abstützen, indem sie ihren Anhängern etwa ermöglichen, sich als von einem Gott geführt zu verstehen oder sich in Anbetracht des Karmastroms, des Dao usw. richtig, günstig oder leidfrei zu verhalten. Weitere Vorbemerkungen ergäben sich, wenn man nicht von der Heimat, sondern von jenem »Ich« ausgeht, das beheimatet sein soll. Dann stellt sich nämlich schnell heraus, dass auch diese Instanz wenig Greifbares enthält. »Ich« fühle mich in Berlin beheimatet, insofern ich dessen kosmopolitische und liberale Atmosphäre als wohltuend und meinen Zwecken und meinem Beruf als förderlich und strukturgebend betrachte. Ansonsten konstatiere ich die Tatsache, dass ich früher in anderen Städten gelebt habe, nach denen ich mich gelegentlich sehne. Auch erinnere ich mich daran, dass mir zum Beispiel nach zwei Jahren in New York, Berlin eher provinziell und schäbig vorkam oder daran, dass ich wechselweise ein Jesuitencolleg, eine Universität, eine Kunsthochschule aber auch einen Rundfunksender als Berufsheimat betrachtet und belebt habe. Es korrespondieren also unterschiedlichste Heimaten in mir, die mich am Ende formten, sodass die Korrespondenz aus Ich und Umgebung eher als fortwährendes Heimatgeschehen anzusehen wäre, und man gar nicht von vielen Heimaten sprechen sollte, die dazu noch auf unterschiedlichsten soziologischen, psychischen, historischen, oder begrifflichen Ebene liegen. Wenn man schließlich noch den Gedanken hinzunimmt, dass sich ja auch immer wieder neue Formen des Zusammenseins bzw. der Vertrautheit entwickeln – denken wir etwa an die Revolution der digitalen Welt – dass sich Heimat also gewissermaßen ständig im Verhältnis von Ich und Welt einrichtet und umorientiert, gerät die Lage vollends in Fluss. Ist das umklammerte Mobiltelephon eines auf einer Parkbank schlafenden Flüchtlings ein HeimatPhänomen? – Ist die Ansprache der Bavaria auf dem bayerischen Nockerberg vor provinziellen Politgrößen ein Heimatphänomen? 145 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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Und womöglich ginge es sogar um das Verhältnis beider Phänomene, und wir müssten nun also schließlich Heimat als ein im Fluss befindliches »Geschehen« betrachten, als etwas, das aus einer Reihe von Bezügen Akten, Ritualen, Gewohnheiten, kombinatorischen Gesten, Umgebungen, Glaubenswahrheiten oder philosophischen Einsichten besteht. Dies sind nur Präliminarien, doch seien sie an den Anfang gestellt, um zu erläutern, warum wir in den folgenden Gedankenzügen darauf verzichten wollen, gewisse »Was-Fragen« zu beantworten. Heimat ist Resonanz, Heimat ist Korrespondenz, Heimat ist Atmosphäre, Heimat ist Herkunft, Heimat ist Utopie … – dies alles wäre sicher erhellend, soll uns aber angesichts der Heimat als Geschehen nicht genügen. Stattdessen soll das Augenmerk nun auf die Zusammenhänge und Verhältnisse gelenkt sein, die verschiedenste Heimatentwürfe miteinander eingehen, auf ihre Korrespondenzen also, und erst nachdem wir beschrieben haben wie verschiedene Heimatentwürfe sich gegenseitig interpretieren, beeinflussen und schärfen, kann vielleicht deutlich werden, »was« denn korrespondiert, wenn von Heimat die Rede ist, jenem sich heute aus der Folklore-Ecke zum politischen Topos emanzipierenden Begriff, der auch nicht mehr das Signum provinzieller Beschränkung trägt, sondern den Anspruch dessen markiert, was wir als Philosophie des Zusammenseins, bzw. als Korrespondenzdenken betreiben könnten. 3 2.
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»Heimat« als Korrespondenzphänomen kann durch einen kulturgeschichtlichen Rückgriff verdeutlicht werden, der zunächst vielleicht überrascht, der aber bei genauerem Hinsehen selbstverständlich sein müsste, nämlich durch den Hinweis auf die Suche nach dem gelobten Land des Volkes Israel, dessen Bericht im 5. Buch Mose den Begriff der Heimat nicht nur im christlichen 3
Vgl. Reinhard Knodt, Der Atemkreis der Dinge. Einübung in die Philosophie der Korrespondenz, Freiburg und München 2017 (2. Aufl. 2018).
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Europa, sondern auch im Islam unterfängt. Das »Volk Israel«, eine durch die Geburtslinien eines Dutzends von Familienclans definierte Gruppe ehemaliger ägyptischer Sklaven, die sich das gelobte Land zuallererst einmal erobern musste und es als Land der Väter (speziell Abrahams) imaginierte, tat dies einerseits durch Treue zu einem immer wachenden, ja sogar »eifersüchtigen« Gott, also etwa durch stark ritualisierter Lebensführung, sodann aber auch durch Kampf, ja sogar durch Vernichtungsfeldzüge im Gebiet der zukünftigen, zwar erst einzurichtenden, aber auch als »Land der Väter« apostrophierten Heimat. Das 5. Buch Mose enthält – fast wie ein Lehrbuch der Sehnsucht nach Heimat – eine ganze Reihe von Topoi, die bis heute angesichts des Heimatgedankens virulent sind. An bezeichnender Stelle heißt es etwa: »Du hüte Dich aber, mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, einen Bund zu schließen; sie könnten dir sonst, wenn sie in Deiner Mitte leben, zu einer Falle werden. Ihre Altäre sollt ihr vielmehr niederreißen. Ihre Steinmahle zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen. Du darfst Dich nicht vor einem anderen Gott niederwerfen. Denn JHWH trägt den Namen »Der Eifersüchtige«. Ein eifersüchtiger Gott ist er. Hüte Dich einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen […]« 4.
Noch deutlicher wird Deuteronomium 20, wo die Einnahme entfernt von Kanaan liegender Städte (»Was Du bei Deinen Feinden geplündert hast, darfst Du verzehren; denn der Herr, dein Gott hat es dir geschenkt«) von der Einnahme jener Städte unterschieden wird, an deren Stelle der Staat Israel eingerichtet werden soll. Dort nämlich müssen nach der Einnahme die Einwohner geopfert (mit Eisen erschlagen) und das Gut der Stadt auf dem Marktplatz verbrannt werden. Der Religionswissenschaftler Jan Assmann nennt das Verfahren, nach dem man eine einzunehmende Stadt seinem Gott im Ganzen zum Brandopfer macht, »okkasionelle Adolatrie«, für die er noch weitere Belege außerhalb der Israelischen Landnahme beibringt. 5 Assmann führt aus, dass, 4
Exodus 34,12–16, zit. nach Jan Assmann: Totale Religion (TR), Wien 2016, S. 47. 5 »Da legte Israel JHWH ein Gelübde ab und sagte: Wenn Du dieses Volk wirklich in
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wenn die Eroberung sehr wichtig ist, die betreffende Stadt bereits vor der Schlacht dem Gott geweiht wird, von dem man sich Beistand erhofft, dass sie diesem Gott dann aber auch eben ganz zum Opfer gebracht werden muss. Auch diejenigen aus dem eigenen Volk, die sich nicht an die Vorschrift halten, werden nach dem Zeugnis des 5. Buches »geopfert.« Karl V. soll die betreffenden Stellen am spanischen Hof verlesen haben lassen, um nach beunruhigenden Berichten von Blutbädern während der südamerikanischen Landnahme die Bedenken seiner Berater zu zerstreuen. 6 Die Suche nach dem »gelobten Land« als der ehemaligen, nun wieder versprochenen aber eben doch zurückzuerobernden Heimat ist insofern keine historisch überholte Angelegenheit, als sie sich von einem psychosozialen Muster nährt, das sich bis in die Biographien des modernen »westlichen« Individuums und selbst ins staatliche Handeln erstreckt. Es lautet: »Heimat« ist das Land der Sehnsucht, aus dem man vertrieben ist, sei es das der Väter oder der Kindheit, das Paradies oder das Land des Glücks; und es ist dasjenige, das es nun wieder zu erobern gilt, sei es in metaphysischen Ritualen, nostalgischen Bräuchen oder im Kampf einer Heimatschaffung. Sich »niederlassen« nach langer Fahrt und Wanderung ist der Topos des »getting setteled down« der Pilgrim Fathers und des »going West« der amerikanischen Landnahme. Vom gleichen Gedanken beseelt baute Wagner sich »Wahnfried«, das Haus (»in dem mein Wähnen Frieden fand«) und entdeckte Carl Peters Afrika als neue Bewährungs-Heimat für die Deutschen. Der Grundgedanke der Heimat neben seinem folkloristisch idyllischen Sinn, etwa des Brauchtums oder bestimmter Lebensgewohnheiten bzw. geschönter Kindheitserinnerungen, heißt also nicht Herkunft, Kindheit, Geburtsort oder biographische Verwurzelung! Er heißt Sehnsucht nach dem gelobten Land (nostalgia). Streben nach Ruhe vor bedrängender Arbeit unter fremdem meine Hand gibst, dann werde ich seine Städte mit dem Bann belegen« (Num 21,1) JHWH hört das Gelübde »und gab die Kanaaniter in ihre Hand«, Assmann, TR, S. 51. 6 Exodus 34,12–16, vgl. auch Assmann, TR.
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Dienst. Suche nach Siedlungsmöglichkeiten und Sicherheit in ersehnter Differenz zum Zustand von Vertreibung, Fremdbestimmung, Flucht, Eroberung und Neueinrichtung von Heimat, als dem bedauerlichen Normalfall der Geschichte; und nicht nur die Geschichte der Antike, sondern auch die neuzeitliche Kolonialgeschichte, die Besiedelung des amerikanischen Kontinents, die Vertreibungskriege Europas im 20. Jahrhundert, sie alle haben dieses Muster, was man kaum überblicken würde, würde man angesichts des Wortes »Heimat« etwa erst im Deutschland der Frühromantik ansetzen, wie es die englische wikipedia tut, die behauptet, »Heimat« sei »a german concept.« Heimat und Heimatsuche ist damit zunächst einmal zu bezeichnen als das Drama der Kultur, in dessen kleinen Pausen dann vielleicht jene Phänomene ihren Platz findet, die folkloristisch ausgestalten, was der Krieg erbracht hat und was man übrigens auch sehr gut sehen kann, wenn man folkloristische Paraden mit denen des Militärkults vergleicht. Der Gleichschritt von Soldaten und die Bewegungen eines Folklorefestzugs haben einiges gemeinsam; und die Fahnen einer Dorf-Kirchweih sind nicht völlig verschieden von der einer Parade. Zart und anspielungsreich weht also die Grausamkeit am Grunde aller guten Dinge, und auch der heimatlichen. Die enge Verbindung aus Heimatseligkeit und Krieg, die nicht nur das »Volk Israel« idealtypisch auszeichnet, hat zwei kulturbeherrschende Typen geschaffen die das öffentliche Geschehen über Jahrhunderte (sozusagen heimatpflegerisch) bestimmten, nämlich Priester und Soldaten. Die Autoren des deuteronomischen Archaikums oder entsprechender Koranpartien mögen dabei die Personalunion des priesterlichen Heerführers bzw. des militärischen Akteurs der Gebote Allahs bevorzugt haben. Die Geschichte der modernen Staaten sieht eher den arbeitsteiligen dualen Modus der Ritualbeamten des Himmels einerseits und des militärischen Heimatschutzes andererseits, und man sollte nicht davon ausgehen, dass die Erläuterung dessen, was aus bestimmten Gründen auf dem Schlachtfeld getan werden muss und die Konstruktion kosmologischer Zusammenhänge heute schon ausreichend miteinander ins Verhältnis gesetzt sind, weswegen auch die Hoffnung auf eine Weltgesellschaft, die die Heimat aller sein könnte, 149 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Reinhard Knodt
bis heute wissenschaftlich kaum als mögliche Option erscheint. (vgl. das Eingangszitat). Dass »Heimat« dagegen ein Verb werden könnte, dass wir also ständig damit befasst sind, uns zu beheimaten und dass »Heimat« mithin weder verteidigt noch erobert, sondern eben nur ständig neu eingerichtet, umgestaltet und vor allem gepflegt werden sollte, ist ein Gedanke, dem man zunehmendes Schwergewicht wünschen möchte. 3.
Heimat und nationale Eukosmia oder: Romantik und Raumdenken
Im Zusammenhang mit der Heimat als »Verb« bzw. als permantem Korrespondenz-Geschehen sei nun genauer auf den griechischen Sinn der Eukosmia hingewiesen, also der »guten Ordnung«, die nicht nur im Sinne der Urheimat des Menschen, sondern überhaupt mit jedem eingerichteten sozialen oder politischen Raum und das heißt, mit dem Raum-Ordnungsdenken verbunden ist. Das Wort Eukosmia gilt im antiken Griechenland einerseits für die Marktordnung, im Phaidon Platos bedeutet sie aber auch die Gesamt-Ordnung der Welt. Der Vorsokratiker Empedokles von Akragas spielt mit dem Gegensatzpaar von »eukosmia« und »akosmia«, dem die elementaren Gegensätze von Liebe und Streit korrespondieren. Der Liebe entspricht die menschliche Heimat der guten Ordnung und die aus ihr entspringenden Paarungs- und Zeugungswunder. Diesen gegenüber steht die akosmia, die Unordnung, welche Unfruchtbarkeit, Verfall und Verwüstung markiert. Liebe und Streit sind für Empedokles als Arzt und Naturwissenschaftler sowohl biologische als auch physikalische Prinzipien der Anziehung und Abstoßung. Selbst die Geschichte nimmt er unter sein Schema und sieht sie in langen, mitunter über Generationen schwingenden Phasen im Rhythmus politischer Kriegs- und Friedenszustände pendeln. Das europäische »Heimat«-Denken als Ordnungs- und Raumdenken, vor allem im Deutschland des 20. Jahrhunderts ist von solchen Überlegungen mitbeeinflusst, etwa in Form des Raum150 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Vom gelobten Land
denkens des deutschen Nationalsozialismus, der sich durch Carl Schmitt beeinflusst zu kolonialen Modellen des Raumgewinns und der Raumausdehnung nach Osten bekannte. Was es allerdings aus Sicht der schon erwähnten englischen Wikipedia nahegelegt haben könnte, dass Heimat im engeren Sinne tatsächlich als ein »german concept« verstanden werden kann 7 dürfte der dahinterstehende Zusammenhang sein. »Heimat« in ihrem »deutschen« Sinne ist nämlich ein nationales Gemüts-Konzept im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation von 1808 – ein Begriff, der erst in der Romantik, das heißt nach dem Verlust desselben gebildet wurde, um das, was an alter Eukosmia zusammengebrochen war, überhaupt zu benennen. »Heimat« war ab jetzt die Frage nach völkischer Identität, Geburtsort, Eltern und Ahnen, und schließlich vor allem auch das große Thema des empfundenen Verlustes von Eigenständigkeit durch den Einmarsch Napoleons, des neuen »Attilas« (Moritz v. Arndt) und die untergründige Rückeroberungsabsicht der nun sich findenden »Deutschen.« Dass zugleich mit der Nationalisierung der Angelegenheit der Adel des zersplitterten deutschen Landes aus seiner führenden politischen Rolle verdrängt wurde, war ein weiteres »Heimat«-Problem. Hierzu muss man Gustav Freitags Soll und Haben lesen oder Ernst Moritz Arndts Buch »Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Friedrich von Stein«. 8 Die Franzosen hatten 7
Das Korrespondenzverhältnis von Militär und Priestertum herrscht allerdings auch hier: Fichte sprach in den Reden an die deutsche Nation von der »Bildung« einer Nation qua »Geistes-Bildung«, was ihn nicht daran hinderte, selber martialisch mit dem Schleppsäbel durch die Straßen Berlins zu marschieren. Die »romantische Bewegung« einschließlich »christlicher Stammtische« (von denen, wie bei der Tafel Achim v. Arnims gut nachweisbar Juden explizit ausgeschlossen und Ziel vaterländischen Spottes waren), hatten enge Bezüge zum preußischen Militäradel, sodass wir zum Beispiel in der Literatur das Dioskurenpaar Militär und Priestertum antreffen, auf der einen Seite den Pfarrer Eichendorf und auf der anderen den Sohn eines Generals (Der Schöpfer des Undinenmythos Henry de la Motte-Fouqué), der sein Studium abbrach um als Freiwilliger seine deutsche Heimat gegen Napoleon zu verteidigen. 8 Ernst Moritz Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein, Berlin 1858.
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Reinhard Knodt
ja unter der Heimatperspektive das rechtsrheinische Erbe Karls des Großen »gestohlen«, was es in der »Rheinkampagne« eben nicht nur dichterisch zurückzuholen galt. Die tausend Jahre deutscher »Heimat« seit Karl d. Großen sind ab diesem Zeitpunkt keineswegs nur ein poetisch sentimentaler, sondern eben auch ein militärischer Kriegsgrund gegen Frankreich, ein Ur-Kriegsgrund sozusagen, der über mehr als hundert Jahre in drei Kriegen ausagiert wird, bis das deutsche Heimat-Konzept sich unter den Schlägen der Siegermächte des 2. Weltkriegs auflöst und dann dank des Europagedankens wenigstens teilweise erübrigt, was nicht heißt, dass es verschwunden ist. Das Buch »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« der beiden Berliner Studenten Wackenroder und Tieck ist ansonsten schon dem Titel nach die geradezu geniale Umschreibung vieler Phänomene des »deutschen« Heimatdenkens, also Gefühlstiefe, Kunstorientierung und Mittelaltersehnsucht; ansonsten durchweht das Buch der Duft der Wälder, der Burgenkult, die Wanderlust, die Ehrfurcht vor der Kapelle am Wegkreuz, die Vorstellung der Natur als Altar und das Motiv des guten alten Handwerks, vorzugsweise das des Hans Sachs, des deutschesten aller deutschen Schuhmacher. – Dieser »deutsche« Heimatkomplex, so dürfte schon aus diesen wenigen Anspielungen klar sein, wurde keinesfalls erst durch das dritte Reich »korrumpiert«, wie man gelegentlich hört. Ganz im Gegenteil. Er hat sich dort in wesentlichen Zügen nur besonders gut als Gemütspolster eines überhaupt nicht korrumpierten, sondern folgerichtig auf ihm aufbauenden großangelegten politischen Verbrechens bewährt, eines Verbrechens das wir als Verbrechen deswegen bezeichnen, weil es die für das Heimatdenken oberflächlich zwar zunächst kaum sichtbare, aber eben doch am Grunde mitspielende Vernichtungsund Versklavungs-Absicht gegenüber dem Gegner bis zur höchsten Konsequenz, bzw. in geradezu »biblischem« Ausmaß betrieb. In diesem Zusammenhang wäre die Frage, wie viel »Heimat« gut ist und ab wann das Konzept notgedrungen ins Verbrechen umschlägt, nicht uninteressant. Die Betonung von »Eigenem« gegenüber Fremden, die Verehrung der »Ahnen« oder symbolische Kleinkulte, die sich zwischen Tätowierung, Keltentümelei oder 152 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Vom gelobten Land
gelegentlicher Mordlust nicht auf Dorffeste, Motorrad-Gangs und Fußballvereine beschränken lassen, wäre hier das soziologisch oder gar religions-soziologisch zu bestellende Feld. Die heute spürbare neue »Heimatliebe,« deren xenophobischen Verselbstständigungswehen die offizielle Politik heute (etwa mit der Einrichtung eines Heimatministeriums statt eines Einwanderungsministeriums) nachzuspringen hat, ist hier bereits an einem Punkt angelangt, von dem ab es sich entscheiden muss, ob Heimat ein nostalgisch regressiver Traum bleibt, oder ob sie ein gefräßiges Tier wird. Schließlich ist mit ihrem Aufflammen auch immer »die Treue« zum Codewort entartet. »Heimatliebe« wäre dann also keineswegs mehr das unschuldig folkloristische Gemüts-Lämmchen, als das es heute gelegentlich verkauft wird, so als gäbe es gewisse Inseln, auf denen oder in denen wir uns bestätigt, geliebt und verstanden fühlten, während drumherum das Meer des Fremden wogt. Die Korrespondenzen sind ganz im Gegenteil gewaltig und nicht alle klingen und schwingen. Manche schweigen auch und warten am Grunde der guten Dinge, denn auf der Suche nach dem gelobten Land wachte, wie wir wissen einst ein eifersüchtiger Gott, der uns befahl, fremde Altäre sicherheitshalber erst einmal »umzuhauen«. 4.
Fazit
Der Kern eines systematischen Heimatbegriffs dürfte sich heute am besten als Korrespondenzphänomen darstellen lassen, das heißt als ein Geschehensablauf nach gewissen kulturellen Mustern im atmosphärischen Raum dessen, was landläufig als das Beziehungsgeflecht aus Herkunft, Gefühl, Besitzfreude, Traditionsverhaftung, Identität und Sicherheit bezeichnet wird und seine politischen wie psychologischen Korrespondenzen birgt. Weiterhin kann man eine konvergierende Kraft der Separation (das israelische Volk trennt sich von Ägypten, wo es bisher »diente«) und eine Kraft der atmosphärischen Integration beobachten (»America first«), die gegen alle scheinbar »objektive Vernunft« siegreich ist und die mit einer neue atmosphärischen »Ratio« umschrieben 153 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Reinhard Knodt
werden könnte. Das Europa der friedlich konkurrierenden Regionen und ihrer »heimatlichen« Spezialmilieus, das vor einer Generation noch im Horizont des Möglichen lag, hat sich in den letzten zehn Jahren in ein Europa verwandelt, das sich gerade beginnt in rivalisierende Nationen zurückzuverwandeln, die sowohl in ihren Idealen wie auch in ihren Zwecken kleiner und enger schwingen als das Bisherige. Dass uns die »Heimat«, das Heimatdenken, der Regionalismus und die nach vorn gebrachte verminderte Vertikalspannung von Ideal und Zweckdenken (also eine Reduzierung der ehemals wünschenswert erschienenen Weltläufigkeit) im Aufbau des größten humanen Experiments der Neuzeit derart blockieren könnte, war vor einer Generation allenfalls ahnbar. Gleichwohl gibt es jetzt neue Atmosphären des Zusammensein, und es zeigt sich, dass die Gesellschaft gespalten ist in ein Lager gutausgebildeter multinational agierender junger Menschen, die die Welt bereisen, digital kommunizieren und kulturelle Vielfalt einer Welt genießen, in der sie überall »zuhause« sind – und in ein zweites Lager der Verdammten, die keinen Zugang zu höherer Bildung und keine nennenswerten Einkommensquellen haben, und die damit zwangsweise eine neue »Ortsfestigkeit« kennzeichnet. Wer registriert, was für ein Geschehen »Heimat« ist, kann die beiden Gruppen leicht erkennen. Er muss dazu in Rechnung stellen, dass Heimat kein Ort, keine spezielle Tradition und auch nicht das Phänomen einer politischen Richtung ist, sondern ein Korrespondenzgeschehen. Heimat ist dann also keine Insel der Sehnsucht oder der gelingenden oder höheren Resonanz, sondern eine bleibende Jeweiligkeit die sich in verschiedene Lager aufteilt eine Reihe von Ersatz-Heimaten bzw. miteinander korrespondierende Gemeinschaften – seien diese politisch, modisch, wirtschaftlich, meditativ, religiös oder eskapistisch. Deswegen sei vorgeschlagen, den Heimatbegriff nicht mehr lokal oder symbolisch, traditionsgebunden oder biographisch zu definieren, sondern als Tätigkeit, als Milieu und Schaffen eines Milieus, als etwas, das wir selber sind, auch wenn das eine oder andere »heimatliche« uns gelegentlich nostalgisch oder sehnsuchtsvoll anzuwehen scheint. Und vielleicht tragen wir die Heimat ja nur an uns wie eine Fähigkeit, uns einzurichten, etwas wie 154 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Vom gelobten Land
eine Fähigkeit zum bleibenden Asyl – obwohl wir natürlich zugegebenermaßen immer die Sehnsucht haben, wirklich anzukommen am Lethefluss, an dem wir dann – Vergangenheit und Zukunft endlich miteinander tauschen dürfen. Bibliographie Assmann, Jan: Totale Religion, Wien 2016. Arndt, Ernst Moritz: Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein, Berlin 1865. Knodt, Reinhard: Der Atemkreis der Dinge. Einübung in die Philosophie der Korrespondenz, Freiburg und München 2017 (2. Aufl. 2018). Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
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Amalia Barboza
Bewegte Heimat Topografien des Provisorischen und des Traumhaften in der Migration Das Phänomen »Heimat« wird sehr oft mit einer Vergangenheit oder mit einem konkreten Ort aus alten Zeiten in Verbindung gebracht – mit einer Zeit und einem Ort, denen wir starke, uns besonders intensiv prägende Gefühle zuschreiben. Die Diskussion über Heimat ist deswegen häufig mit der Idee der Rückkehr zu diesem verlassenen Ort oder mit dem Phänomen des Schützens des sich zu ändern Drohenden verbunden. Wir finden diese Anwendung des Heimatbegriffs in den aktuellen Diskursen rechter Politik, die sich gegen eine Bedrohung der Heimat durch Flüchtlinge und Fremde stark profiliert. Auch in der Migrationsforschung wird der Heimatbegriff in diesem Sinne verwendet – als ein konkreter Ort, der durch die Migration verloren wurde und der vielleicht durch einen neuen Lebensort, der dann als zweite Heimat bezeichnet wird, ersetzt werden kann. Ich möchte in meinem Beitrag eine andere Form von Heimatkonstruktion analysieren, die gerade dadurch charakterisiert ist, keiner Ortsgebundenheit zu bedürfen, um Heimatgefühle zu wecken. Ich nenne dieses Phänomen »Bewegte Heimat«, um zu betonen, dass es sich um raumübergreifende Konstruktionen handelt. Es bedeutet nicht nur, dass der Raum und eine konkrete Raumfixierung nicht notwendig sind, sondern noch mehr, dass gerade die Überwindung einer Raumfixierung charakteristisch ist. Man könnte auch von tragbaren Heimaten sprechen oder von einer Heimat des Provisorischen, des Schwebenden und des Traumhaften. Meine These lautet, dass diese Art von Heimatkonstruktion ein wichtiges Phänomen ist, um Heimat in der Migration und im Leben von MigrantInnen zu verstehen. Ein Phänomen, das meines Erachtens sehr oft in Vergessenheit gerät, weil 156 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Bewegte Heimat
die Migrationsforschung hauptsächlich auf Modelle bzw. Diskurse der Integration oder der Multikulturalität fokussiert, die das Ankommen und das Sich-Fixieren an einem Ort als grundlegend für die Konstitution von Identität betrachten. Das Modell der Integration verlangt von MigrantInnen den Verzicht auf die Kultur der Herkunftsgesellschaft, um eine Integration (und räumliche Fixierung) in der neuen Gesellschaft zu ermöglichen. Das Modell der Multikulturalität geht im Gegenteil von einer Einwanderungsgesellschaft aus, die aus verschiedenen MigrantInnengruppen besteht und in der sich alle eine Art Enklave aufbauen, in der sie weiter so wie in ihrer Herkunftsgesellschaft leben können. Das Phänomen, das ich besprechen möchte, bewegt sich außerhalb dieser Dichotomie zwischen Anpassung und Bewahrung und zeigt, dass aus der Erfahrung der Migration eine neue Form von Heimat entstehen kann: eine provisorische und bewegte Heimat. Die Beispiele, die ich besprechen werde, knüpfen an eine Forschung über BrasilianerInnen in Frankfurt am Main an, die ich in den letzten vier Jahren realisiert habe. 1 Hauptsächlich vier Biografien veranschaulichen aus verschiedenen Perspektiven, wie sich eine bewegte Heimat konzipieren lässt. Bevor ich zu diesen Beispielen komme, möchte ich in Auseinandersetzung mit einer früheren Untersuchung über MigrantInnenbiografien die Relevanz des Nachdenkens über eine Heimat in Bewegung unterstreichen. 1.
Exil: Das Leben wird wie ein Traum
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud erzählt in einem Brief, den aus dem Londoner Exil an einen Freund schreibt, die erste Zeit im Londoner Exil wie einen Traum erlebt zu haben. 1
Zurzeit bereite ich die Publikation dieser Forschung vor, die 2018 erscheinen soll; siehe auch: Amalia Barboza: »Wahrhaftige Historia. Brasilien – Transkulturelle Biographien«, in: Zeitschrift Maecenas, Hessische Kulturstiftung, Herbst 2015.
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Amalia Barboza
»Lieber Freund, Ich habe Ihnen in den letzten Wochen wenig Nachrichten gegeben. Dafür schreibe ich Ihnen heute den ersten Brief aus dem neuen Hause, noch ehe ich neues Briefpapier bekommen habe. Es ist noch alles traumhaft unwirklich. […] Die Affektlage dieser Tage ist schwer zu fassen, kaum zu beschreiben. Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt […] die frohen Erwartungen eines neuen Lebens werden durch die Unsicherheit gehemmt, wie lange ein müdes Herz noch Arbeit wird leisten wollen […].« (Brief am Max Eitingon, 6. Juni 1938). 2
Dieser Brief wurde in dem berühmten Buch Psychoanalyse der Migration und des Exils (1984) der argentinischen Psychoanalytiker León und Rebeca Grinberg zitiert, um nicht nur die Biografien der von ihnen behandelten Patienten aus Argentinien zu besprechen, sondern auch einige Biografien berühmter Psychoanalytiker, die ebenfalls emigrieren mussten, darunter Sigmund Freud. In diesem Brief wird ein bestimmter Zustand der Migration, den die Grinbergs als ein charakteristisches Moment des Exils betrachten, gut beschrieben. Für die Grinbergs handelt es sich um einen typischen Zustand von Unwirklichkeit und Traumhaftigkeit, der erst überwunden wird, wenn es dem Migranten oder der Migrantin gelingt, in der neuen Gesellschaft »richtig anzukommen«, bzw. sich zu integrieren. Wie wird dieser Zustand von Freud beschrieben? Er erlebt die erste Zeit im Londoner Exil wie einen Traum, der sich schwer fassen lässt. Alles Erlebte wird als Unwirkliches und Traumhaftes wahrgenommen. Einerseits sind in dieser Lage die großen Hoffnungen auf ein neues Leben zu finden, andererseits aber auch die Ängste, wie lange der Körper diese Erneuerung überstehen kann oder überhaupt dafür bereit ist. Triumphgefühle der Befreiung und Trauer wegen des verlorenen Orts vermischen sich in einem undefinierten Gefühl. Freud berichtet in diesem Brief nicht nur 2
León Grinberg / Rebeca Grinberg: Psychoanalyse der Migration und des Exils (Psychoanalyse), München 1990, S. 252–254. Über die Bedeutung von den ersten Briefen im Exil siehe: Detlef Garz / David Kettler (Hrsg.): Nach dem Krieg! – Nach dem Exil? Erste Briefe/First Letters, München 2012.
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Bewegte Heimat
über seine ambivalenten Gefühle, sondern auch über alle Schritte, die in der Migration vollzogen wurden: wie die Reise war, wie er empfangen wurde und wo er gerade lebt. Er beschreibt dem Freund ein Haus, das sein Sohn, der Architekt war, für die Familie ausgesucht und eingerichtet hatte. Eine Einrichtung, die Freud, wie er berichtet, als schön und bequem empfindet. Aber er erwähnt auch, dass in zwei Monaten die eigenen Möbel kommen und dann alle in ein anderes Haus umziehen würden, das mit diesen eigenen Möbeln eingerichtet sein würde. Er wartet auf den Moment der Ankunft der Wiener Möbel, als würde er hoffen, dass er mit den alten Einrichtungsgegenständen in London in der Lage sein würde, einen Teil seiner Wiener Umgebung wieder aufzubauen. Freud musste Wien 1938 verlassen und damit auch die Wohnung auf der Berggasse 19, die heute ein Museum ist. Es war die Wohnung und gleichzeitig auch die Praxis, in der Freud lange Zeit seines Lebens verbracht hatte, wo er der Psychoanalyse eine Form gab und wo er auch viele Bücher und die verschiedensten Dinge gesammelt hatte, zum Beispiel viele kleine Skulpturen der sogenannten Weltkunst, die Freud wiederum benutzte, um mit seinen Patienten über bestimmte Gefühle zu sprechen. Freud kommentierte in seinem Brief mit Ironie, dass seine Wiener Wohnung wie ein Gefängnis war, aus dem er fliehen und befreit werden musste. Gleichzeitig war es aber auch der Ort, mit dem er sich verbunden fühlte und den er weiter »stark liebte«. Er ließ deswegen die komplette Einrichtung nach London transportieren, um sich, im Sinne des multikulturellen Modells, eine Wiener Enklave in London einzurichten. Der Brief gibt preis, dass Freud einerseits die Erneuerung, die die Migration erzwingt, begrüßt, sich gleichzeitig aber nach dem alten Zurückgelassenen sehnt und es rekonstruieren möchte. Diese erste Phase, die er als irreal und traumartig beschreibt, scheint für Freud eine vorübergehende zu sein, die durch die Erneuerung oder durch das Einrichten der alten gewohnten Umgebung überwunden wird. Die argentinischen Psychoanalytiker León und Rebeca Grinberg identifizierten in diesem Brief einen typischen Zustand der 159 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Amalia Barboza
Migration, den sie auch bei ihren nach Spanien migrierten argentinischen PatientInnen beobachten konnten. Beide waren 1976, in der Zeit der Militärdiktatur, nach Spanien emigriert und analysierten dort zahlreiche ebenfalls migrierte ArgentinierInnen. Nach einigen Jahren Exil verfassten sie mithilfe des aus den Analysen gewonnenen Materials ihr Werk Psychoanalyse der Migration und des Exils, das bis heute eine zentrale Publikation für dieses Thema ist. Die Kapitel des Buchs folgen den typischen Etappen der Biografie eines Migranten und den damit verknüpften Phänomenen: Gehen, Ankommen, Integration, Bleiben, Zurück? Für mein Thema »Bewegte Heimat« war die Erkenntnis dieses Buchs sehr wichtig, dass in der Psychoanalyse Migration und Exil als schmerzhafte, gleichzeitig aber auch als sehr produktive Phänomene wahrgenommen und als Chance der Erneuerung verstanden werden. Diese These der Produktivität der Migration wird interessanterweise hauptsächlich in der Einleitung des Buchs besprochen, während in den Einzelfallanalysen Migration überwiegend als sehr schmerzhaftes Erlebnis, als Verlust und Krisensituation beschrieben wird – eine Phase, die sich überwinden lässt, indem der Patient oder die Patientin, oft nach einer gelungenen Analyse, in der Lage ist, sich ein neues Leben aufzubauen. »Richtig anzukommen« bedeutet also in der Therapie, dieses Schwebende und den traum-ähnlichen Zustand zu verlassen und sich eine feste und stabile Umwelt einzurichten. Das wird ganz deutlich in der Geschichte einer Patientin, die sich, wie die Grinbergs berichten, am Anfang der Behandlung nur mit provisorischen Elementen einrichtet: mit Tüchern und Kissen. Die Patientin erzählte in den Sitzungen, zuerst »ihre ganze Wohnung im neuen Land mit einem Übermaß an Kissen, Tüchern, Matratzen, die auf dem Boden lagen, Wandteppichen usw. eingerichtet« 3 zu haben. Die Grinbergs kommentieren: »Die Beschreibung [der Patientin] erinnerte an ein Beduinenzelt, das reichlich ausgeschmückt und ausstaffiert sein kann, das aber aus Elementen besteht, die leicht zu transportieren sind und die
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Grinberg / Grinberg: Psychoanalyse, S. 84.
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einem Nomaden- oder Zigeunerleben entsprechen.« 4 Die Grinbergs interpretieren diesen Einrichtungsstil als Symptom einer Unsicherheit in der neuen Welt, die die erwachsene Frau in »ein unsicheres Mädchen verwandelt […], dem alles nur vorübergehend vorkam, daß ihm nichts die Sicherheit geben konnte, daß es nicht nochmals aufbrechen müßte; deswegen müßte alles leicht transportierbar sein […].« 5 Diese Haltung wird nicht nur als Zeichen der Unsicherheit, sondern auch als eine Regression interpretiert, als ein Sich-Zurücksehnen, wieder ein Kind, ein Baby zu sein: »Die Kissen waren die weichen, lockeren und warmen Brüste der anderen, mit denen sie sich umgeben musste, um der Erfahrung des Waisenkindes und der Verlassenheit standhalten zu können.« 6 Die Grinbergs schreiben, dass ihre Patientin diesen regressiven Zustand des Provisorischen erst nach einer Weile und nach einiger Zeit Therapie überwinden konnte. Erst dann war sie in der Lage, sich feste und schwere Möbel zu kaufen und damit ihre Verankerung in der neuen Welt zu stabilisieren. Die Betonung der Überwindung dieses repressiven Zustands durch den Kauf stabiler Möbel verdeutlicht, dass das Modell der Psychoanalyse von den Grinbergs auch die räumliche Verankerung als ein Indiz für eine »gesunde« Identitätsbildung voraussetzt. Das Erlebnis des Exils und die Erfahrung, sich in einem schwebenden Traumzustand, wie ihn Freud berichtete, zu befinden, wird durch eine gelungene Therapie zugunsten eines verwurzelten Zustands und einer stabilen Umwelt aufgehoben bzw. überwunden, in der eine Trennung zwischen Traum- und Wachwelt wieder deutlich hergestellt werden kann. Dieser Heilungsprozess könnte dann in zwei Richtungen geschehen: nach dem Modell der Integration oder nach dem Modell der Multikulturalität. Es könnte eine stabile Umgebung mit einer stabilen Wohneinrichtung im Sinne der Aufnahmegesellschaft oder der Herkunftsgesellschaft geschaffen werden. Wie die Einrichtung mit 4 5 6
Ebd. Ebd. Ebd.
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Amalia Barboza
stabilen Möbeln der Patientin aussah, wird von den Grinbergs nicht mehr besprochen. Ihnen war es lediglich wichtig zu betonen, dass es sich um stabile und schwere Möbel handelte. Von Freud wissen wir, dass er auf die stabilen Möbel seiner Wiener Einrichtung wartete. Ich forsche seit vielen Jahren über die Einrichtungen in Deutschland lebender MigrantInnen und habe mich bei der Analyse des gesammelten Materials immer wieder gefragt, inwieweit dieser schwebende, traumähnliche Zustand und diese Einrichtungen des Provisorischen im Leben der MigrantInnen bestehen bleiben und sich darüber hinaus zu einer besonderen Seinsform konstituieren können. Die zu untersuchende Frage lautet also, ob in diesem Zustand des Provisorischen eine Art bewegte Heimat möglich ist, die nicht die stabile und an einen Raum fixierte Identitätsbildung anstrebt, wie sie in der Psychoanalyse gesucht wird. Bevor ich die Biografien bespreche, möchte ich klären, dass meine Perspektive nicht die der Psychoanalyse ist. Die Psychoanalyse hat ein klares Ziel: Heilung und Stabilisierung krisenhafter Lebenssituationen. Ich biete meinen InterviewpartnerInnen dagegen keine Therapie und verspreche keine Heilung, sondern versuche, aus ihren Lebensgeschichten zu verstehen, wie unterschiedlich das Leben von MigrantInnen sein kann. Aus einer soziologischen Perspektive könnte man, anhand dieser unterschiedlichen Lebenswege, eine Typologie ähnlicher Haltungen in der Migration erarbeiten, üblicherweise also solcher, die an soziale Variablen (z. B. Generation, Gender, soziale Klasse oder Milieu) angelehnt sind. Auch die Psychoanalyse arbeitet typologisch, wenn zum Beispiel zwischen phobischen, hysterischen oder manischen Persönlichkeitstypen unterschieden wird, die in einer übertriebenen Form auch zu psychischen Krankheitstypen werden können. Bei der Tagung der Neuen Phänomenologie in Rostock habe ich erfahren, dass die Typologisierung von Menschen ebenfalls eine Praxis der Neuen Phänomenologie ist. Hermann Schmitz unterschied in seinem Vortrag zwischen dem extrovertierten und dem introvertierten Menschen – eine Unterscheidung, die aus der Psychologie C. G. Jungs stammt. Ähnlich wie bei den Grinbergs wird hier eine gesunde Persönlichkeit in der Stabilität und in der Her162 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Bewegte Heimat
stellung einer klaren Grenze zwischen Eigen-Welt und FremdWelt gesehen. Wenn die Eigen-Welt sich zu sehr öffnet, wie bei den extrovertierten Menschen, werden Instabilität, fehlende persönliche Reifung oder Kindlichkeit (Regression) diagnostiziert. Im Unterschied zur Psychoanalyse bietet die Neue Phänomenologie allerdings keine Therapie. Ich habe nicht vor, die hier zu analysierenden Biografien einer psychoanalytischen oder soziologischen Typologisierung zu unterwerfen. Mir geht es stattdessen darum zu eruieren, in welchen Formen sich eine Bewegte Heimat und eine Topografie des Provisorischen und Traumhaften konstituieren. Das Material meiner Forschung über BrasilianerInnen in Frankfurt besteht aus narrativen Interviews und Fotos von Einrichtungen und Gegenständen aus den Wohnungen der Interviewten. Einige Fotos habe ich selbst gemacht, andere haben mir die ProtagonistInnen geschickt. Viele der BrasilianerInnen haben sich im Sinne des interkulturellen Modells ein Brasilien in Frankfurt eingerichtet, eine BrasilienEnklave – oder wie eine der Interviewpartnerinnen sagte: »eine brasilianische Blase«. Anderen war Brasilien als Herkunftsort nicht wichtig, sondern eher diese spezifische Heimat der Migration, diese bewegte Heimat, die ich hier besprechen werde. Es handelt sich dann um Menschen, die die Erfahrung der Migration als nicht beendet empfinden und immer noch das Gefühl haben, in Bewegung zu sein und sein zu wollen. 2.
Elis und die Träume
Als ich Elis kennerlernte, arbeitete sie in einem kleinen Lebensmittelladen in Frankfurt, in dem brasilianische Produkte zu kaufen sind. Sie betonte, dass sie dank ihrer Arbeit täglich brasilianisch isst, zu Hause aber nicht selbst kocht. In ihrer Wohnung konnte man kaum Sachen aus Brasilien erkennen. Alles war sehr neutral und modern eingerichtet. Als ich sie fragte, ob sie etwas aus Brasilien habe, zeigte sie mir ein paar kleine Souvenirs mit der brasilianischen Fahne – verschiedene Objekte, die für sie keine persönliche Bedeutung hatten. Alle diese Informationen gaben 163 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Amalia Barboza
mir schon den Hinweis, dass Elis nicht darauf angewiesen war, sich mit Gegenständen aus Brasilien zu umgeben. Elis kommt aus einem Vorort von São Paulo und wohnt schon seit zehn Jahren in Deutschland. Bei unseren Treffen sprach sie von ihrer starken Verbindung zu ihrer Familie, hauptsächlich zu ihrer Mutter und zu ihrer Schwester. Dank dem Internet kann sie täglich mit beiden per Skype reden und auch eine aktuelle brasilianische Fernsehserie verfolgen. Wir könnten hier von einem medialen Brasilien sprechen, das nicht verortet sein muss, um erlebt zu werden. Diese mediale Verbindung zu ihrer Heimat brachte mich aber nicht dazu, Elis als eine Person zu sehen, die eine bewegte Heimat hat. Erst als sie mir über ihre Lektüre und Beschäftigung mit Träumen erzählte, wurde mir klar, dass Elis nach einer Heimat sucht, die sich eher in diesen Welten der Träume und der Fiktionen verbirgt. Sie liest viele Bücher des brasilianischen Autors Paulo Coelho und auch Literatur über Neuro-Linguistisches Programmieren. In diesen Lektüren folgt Elis der Möglichkeit, ihrem Leben einen spirituellen, tieferen Sinn zu geben. Als interessant empfand ich, dass sie nicht dem, was sie in Brasilien verlassen hat, nachtrauert, wie es die Grinbergs bei ihren Patienten oft beobachten konnten. Sie sucht mithilfe der Literatur eher eine neue Heimat in der Zukunft und gleichzeitig auch in der Vergangenheit, die aber nicht eine in Brasilien erlebte, sondern eine viel tiefer im Unterbewussten und in einer nicht selbst erlebten Vergangenheit liegende ist. Elis ist der Meinung, dass diese »tiefe Vergangenheit« ihr in ihren Träumen erscheint. Sie sprach deswegen viel über ihre Träume. Wir können hier sehen, wie die Traumwelt eine andere Bedeutung bekommt als die, die ihr normalerweise beigemessen wird. Freud erzählte in seinem Brief von dem traumhaften Zustand seiner ersten Tage in London, einem Zustand, der die Alltagswirklichkeit vernebelte. Die Grinbergs begreifen diesen Zustand als typisch für die regressive Phase bei MigrantInnen, die noch nicht richtig (stabil) in der neuen Gesellschaft angekommen ist. Bei Elis handelt es sich aber nicht um eine erste Phase. Sie lebt schon seit vielen Jahren in Deutschland und die Traumwelt ist für sie immer noch ein wichtiger Bezugspunkt – mehr als die Wachwelt und die 164 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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täglich geleistete Arbeit, der sie in dem kleinen Laden nachgeht. Aus Sicht einer psychoanalytischen Therapie könnten wir hier vielleicht eine lang andauernde Regression diagnostizieren und Elis einem bestimmten Menschentypen zuordnen. Diese mögliche diagnostische Zuschreibung ist für mich bei der Analyse, inwieweit bei Elis’ Einstellung die Möglichkeit einer bewegten Heimat gegeben ist, irrelevant. Aufschlussreich ist es, sich mit den Inhalten ihrer Träume zu beschäftigen. In der Zeit, als ich die Interviews durchführte, träumte sie viel von afrobrasilianischen Frauen, die mit verschiedenen Gegenständen tanzen. Sie sprach auch viel mit einem brasilianischen Freund darüber, der schon seit Langem in Frankfurt lebt und ihr vom Museum der Weltkulturen erzählte. Der Freund war der Meinung, dass in dem Museum viele Gegenstände der afrobrasilianischen Kultur aufbewahrt sind, die ihr bestimmt helfen würden, ihre Träume zu entziffern. Elis Suche nach einer Interpretation ihrer Träume verwandelte sich somit in eine Suche nach ihren Vorfahren aus Afrika. Als würden die Bilder ihrer Träume auf eine Art kollektives Unbewusstes hinweisen, das in ihr gespeichert ist. Ich sehe in dieser Suche Elis’ nach einer Geschichte, die sich in den Träumen verbirgt, die bewegte Heimat, die mich interessiert. Es ist nicht eine Heimat, die an einen Ort in der Vergangenheit gebunden ist. Nicht einmal die Vergangenheit als vergangener Zeitpunkt oder eine Fixierung auf Erlebtes sind hier gegeben. In den Träumen vermischen sich Bilder der Vergangenheit mit Bildern der Zukunft. Die Traumwelt ist gerade durch diese übergreifende Zeit- und Ortsbestimmung charakterisiert. In folgender Aussage Elis’ über ihre Geschichte wird diese Suche, in der sich Vergangenheit und Zukunft vermischen, ganz deutlich: »Meine Urgroßmutter mütterlicherseits war Indianerin. Die Vorfahren meines Vaters waren Sklaven. Meine Großmutter ist in Rio de Janeiro geboren, mein Großvater in Paraná, ich in der Umgebung von São Paulo. Wenn ich ein Kind bekäme, würde es in Deutschland geboren werden.« Und genau in diesem In-Bewegung-Sein zwischen Vergangenheit und anvisierter Zukunft ist die bewegte Heimat von Elis zu »verorten«: zeit- und ortsübergreifend. 165 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Amalia Barboza
3.
Martha: Carrancas und Ärzte ohne Grenzen
Martha ist heute 40 Jahre alt. Sie kam vor 20 Jahren nach Deutschland, um Deutsch zu lernen, blieb dann und studierte Medizin. Heute arbeitet sie als Assistenzärztin in einem Krankenhaus in Frankfurt. Sie ist in São Paulo geboren und kommt aus einer reichen Familie. Die Familie verarmte, als Martha klein war, weil der alkoholabhängige Vater sich stark verschuldete. Die Eltern trennten sich und sie blieb eine Weile beim Vater in São Paulo, bis sie nach Deutschland ging, wohin ihre Mutter zuvor migriert war. Martha erzählt ihre Migrationsgeschichte als eine glückliche Geschichte, die es ihr ermöglichte, einer Gesellschaft zu entkommen, die von großen sozialen Ungleichheiten geprägt war. Am Anfang unserer Gespräche erzählte sie immer wieder, dass sie aus Brasilien nichts Materielles besitzt und, seitdem ihr Vater gestorben ist, nicht mehr den Wunsch verspürt, dorthin zurückzukehren. Ihre Einstellung gegenüber Brasilien ist eine klare Ablehnung. Aber eine starke Verbindung zu ihrem neuen Lebensort Deutschland hat sie auch nicht. Als ich die Interviews mit ihr führte, wollte sie gerade aus Frankfurt wegziehen und hatte ihre Sachen schon gepackt. Sie hatte eine Stelle bei »Ärzte ohne Grenzen« in Moçambique bekommen und erzählte mir, dass es ihr Traumberuf ist, als Ärztin überall in der Welt zu arbeiten – dort wo die Menschen am meisten Hilfe brauchen. Auf meine Frage, ob sie etwas aus Brasilien habe, erwähnte sie nur ein Objekt. Es passt sehr gut zu einer bewegten Heimat: eine Carranca, die Skulptur eines Tierkopfs aus Holz (s. Abb. 1). Carrancas wurden früher stets ganz vorne am Bug eines Schiffs angebracht und zeigen mit offenem Mund ihre Zähne, um das Schiff vor bösen Geistern zu schützen. Es ist also ein Objekt, das für das Reisen gemacht ist. Einerseits wirkt es als eine Art Amulett, das während der Reise Glück bringt. Andererseits funktioniert es aber auch als eine Einrichtung, die die Spitze eines Schiffs konfiguriert. Die Geschichte, wie Martha dieses Objekt gekauft hatte, war auch sehr wichtig, um die Bedeutung dieses Objekts verstehen zu 166 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Bewegte Heimat
Abb. 1: Martha (Bild: Amalia Barboza)
können. Sie erzählte, dass sie die Carranca zusammen mit ihrem Vater in einer kleinen Stadt in der Nähe von São Paulo, in der viele KünstlerInnen und HandwerkerInnen leben und die sich an Wochenende in einen großen Markt verwandelt, gekauft hatte. Die Stadt heißt »Embu das Artes« und wurde 1554 von Jesuiten 167 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Amalia Barboza
gegründet. Erst später, im Jahr 1937, wurde die Stadt zum Lebensort vieler KünstlerInnen, als der Bildhauer Cassio M. BoyIhr sich hier ansiedelte. Heute ist es ein Ort, an den viele KunsthandwerkerInnen aus der Region kommen und gehen, ähnlich wie im Kloster der Jesuiten, die die Stadt gründeten. Georg Simmel beschreibt in seiner Soziologie des Raums, dass Kirchen Gebilde seien, die sich der räumlichen Verankerung entziehen. Sie sind unräumlich bzw. überräumlich, da sie als Repräsentation des Reichs Gottes überall aufgebaut werden können. 7 Auch die Ansiedlungen der »Ärzte ohne Grenzen« sind raumübergreifende (Grenzen überwindende) Orte. Ihre Zelte werden dort aufgebaut, wo gerade ärztliche Hilfe benötigt wird. Und dies auch nur für eine beschränkte Zeit, da die »Ärzte ohne Grenzen« wie die Jesuiten oder die Franziskaner immer wandern. In allen diesen Einrichtungen – Zelten, Schiffen, Carrancas – drückt sich Marthas Neigung zu einer Heimat aus, die nicht an einem Ort verankert ist, sondern sich gerade durch ein In-Bewegung-Sein konstituiert. 4.
Márcia: Die Sprachen und die Götter im Exil
Das nächste Beispiel bezieht sich auf Márcia, eine Frau um die 50, die seit 25 Jahren in Frankfurt am Main lebt. Sie kommt aus Piripiri, einer Kleinstadt im Nordosten Brasiliens. So ähnlich wie Embu das Artes wurde Piripiri im Jahr 1850 von Franziskanern gegründet. Nach der Gründung siedelten sich hauptsächlich MigrantInnen aus Europa an. Wenn man sich die Stadt via Google Earth anschaut, werden die Namen einiger Stadteile angezeigt, zum Beispiel Germano, Barcelona und Russinha (Klein-Russland), als sollten diese Stadteile die Herkünfte der Siedler markieren. In der Mitte der Stadt gibt es den »Berg der Sehnsucht«. Piripiri ist also eine Stadt wie viele andere in Lateinamerika, die sehr 7
Georg Simmel schreibt: »Das Prinzip der Kirche ist unräumlich und deshalb, obgleich über jeden Raum sich erstreckend, von keinem ein gleich geformtes Gebilde ausschließend«; Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Band 11, Frankfurt am Main 1992, S. 693.
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Bewegte Heimat
stark von Migrationsbewegungen geprägt ist. Die Namensgebung der Quartiere weist uns darauf hin, dass es in dieser Stadt eine lange Tradition von Heimatverankerungen gibt, die eigentlich raumübergreifend sind. Der Ort, an dem man lebt, ist ein Sehnsuchtsort oder ein Ort, der auf einen anderen Ort in Europa verweist. Márcia verließ die Stadt als sie 17 Jahre alt war, um in der großen Stadt nebenan, in Fortaleza, zu studieren. Sie studierte Sprachen, Germanistik und Literaturwissenschaft. Während ihres Studiums kam sie nach Deutschland, um mit einem Jahresstipendium Deutsch zu lernen. Als sie zurückkehrte, merkte sie, dass sie nicht mehr in Brasilien leben wollte, und versuchte, wieder ein Stipendium zu finden, um weiter in Deutschland leben zu können. Man könnte also sagen, dass sie in diesem Studienjahr in Deutschland eine Art zweite Heimat fand, in die sie zurückkehren wollte. Sie bekam ein DAAD-Stipendium und ging nach Heidelberg. In dieser Zeit lernte sie einen Mann kennen. Sie heirateten und bekamen ein Kind. Heute lebt sie noch mit ihm in Frankfurt, sie sind aber seit langem getrennt und Márcia wartet, bis ihr Kind anfängt, unabhängig zu sein, um auch wegziehen zu können. Sie will Deutschland verlassen, aber nicht nach Brasilien zurückkehren. Márcia hat vor, nach Finnland auszuwandern. Sie erzählte, dass sie von diesem Land glaube, sich dort gut fühlen zu können. Sie war schon zweimal in Finnland im Urlaub und berichtet, dass sie vor allem die finnische Sprache liebt. Sie lernt deswegen schon seit Langem Finnisch. Als sie nach Deutschland ging, waren für sie die deutsche Sprache und Literatur und nicht so sehr das Land Deutschland wichtig. Und dasselbe scheint jetzt mit Finnland der Fall zu sein. Sie hofft, in Finnland einen neuen Lebensort zu finden, eine andere Heimat, die ihr jetzt mehr zu versprechen scheint als die zweite Heimat Deutschland. An der Wand neben ihrem Bett hängt ein Foto, das sie selbst in Finnland gemacht hat (s. Abb. 2). Es ist gerahmt und mit einem Traumfänger dekoriert. Diese Einrichtung verdeutlicht, dass sie in Finnland einen neuen Ort sucht, der sich zuerst in einer Art geträumten Welt zeigt. Anders als bei Elis handelt es sich bei Márcia nicht um eine des Nachts geträumte Welt, sondern eher um eine Welt der Wachträu169 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Amalia Barboza
Abb. 2: Márcia (Bild: Márcia Cruz)
me, die sie an Finnland bindet und die mit der Lektüre von Texten, mit dem Lernen von Sprachen und mit Reisen verknüpft ist. Wir haben es hier auch mit einer Person zu tun, die sich (wie Martha) nicht an einen Ort bindet, sondern bereit ist, weiterzuziehen. Zur Zeit des Interviews bereitete sie sich mental bereits auf ihre Auswanderung nach Finnland vor und erzählte, dass sie schon einige Sachen eingepackt hat und nicht viel mitnehmen will. Sie hatte kaum Objekte, die für sie wichtig waren. Sie erwähnte nur die Musik (ihre CDs) und Bilder, die sie seit einiger Zeit malt und wie eine Art Tagebuch führt. In diesen Bildern malt sie alles, was sie träumt, ihre Gedanken und Gefühle, und klebt häufig Alltagsdinge auf die Leinwand. Diese »Bilder ihres inneren Lebens«, wie sie es selbst formulierte, wollte sie auf jeden Fall mitnehmen, da sie ihre Eigenwelt und ihr Sein konstituierten. Während Elis und Martha kaum Objekte mitnehmen wollten, besaß Márcia eine große Sammlung an Bildern. 170 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Bewegte Heimat
Erst nach einigen Treffen zeigte sie mir eine Halskette und fing an, viel darüber zu erzählen. Diese Kette hatte zwei Anhänger: die Doppelaxt des Gottes Shango, ein Gott aus der afrobrasilianischen Kultur, und einen Hammer als Symbol des Gottes Thor der indogermanischen Völker. Sie trägt also Symbole von Göttern aus verschiedenen Kulturen, die aber Ähnliches repräsentieren: Beide sind Götter des Blitzes und des Feuers. Márcia erklärte mir, dass sie nicht religiös ist, es aber interessant findet, dass Götter von unterschiedlichen Orten der Welt ähnliche Bedeutungen haben. Für sie sind alle diese Götter symbolische Verweise auf Kräfte der Natur und gleichzeitig auch auf Kräfte in den Personen selbst. Sie schämte sich ein bisschen wegen dieser »Esoterik«, wie sie es selbst ausdrückte, versuchte aber auch, mir dies zu erklären. Vor allem erklärte sie mir ihre Neigung aus biografischer Perspektive, indem sie schilderte, dass in Brasilien der Synkretismus zwischen den Religionen, vor allem zwischen Katholizismus und afrobrasilianischen Religionen, sehr wichtig ist. Sie selbst kommt aus einer sehr katholischen Familie, fand aber ihre eigene Spiritualität nicht im Katholizismus, sondern in diesem Synkretismus und in einer offenen Interpretation dieser Symbole. Und interessanterweise erzählte sie, in der afrobrasilianischen Kultur erst in Europa eine Verankerung gefunden zu haben. Die Ferne war für sie ganz wichtig, um diesen Aspekt ihrer ersten Heimat fühlen und sich aneignen zu können, zum Beispiel der Tanz- und Kampfsport Capoeira, den sie erst in Frankfurt kennenlernte. Capoeira ist ein Kampftanz, der von den afrikanischen Sklaven in Brasilien entwickelt wurde und intensiv mit religiösen Praktiken, wie der Candomblé, verbunden ist. Márcia fand in Frankfurt eine CapoeiraGruppe, an der sie regelmäßig teilnahm. Sie hörte erst auf, als sie beim Trainieren verunglückte und sich einen Fuß brach. Als sie wegen des gebrochenen Fußes zu Hause bleiben musste, begann sie zu zeichnen und zu malen, was sie vorher nicht gemacht hatte. Die ersten Zeichnungen fertigte sie aus Bildern eines Katalogs, den sie in einer Ausstellung gekauft hatte, die sie faszinierend fand und die ihr einen weiteren tieferen Blick in die afrobrasilianische Kultur ermöglichte. Es war die Ausstellung des französischen Fotografen Pierre Verger »Schwarze Götter im Exil«. Sie erzählte mir, 171 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Amalia Barboza
dass dieser Fotograf mehr von diesen afrikanischen Religionen weiß als alle brasilianischen Forscher. Das ist ein Phänomen, das sich in vielen Biografien von MigrantInnen wiederholt: Erst in der Ferne wird über die eigene Herkunftskultur reflektiert, wodurch dann das, was Heimat in Bezug zum Herkunftsland ist, zu einem Thema der Reflexion wird. Vor der Migration war die Frage nach Heimat oft nicht wichtig. Nicht nur die Ferne ist notwendig, um ein bis dahin unreflektiertes Brasilien zu entdecken, sondern oft ist es auch der fremde Blick, der hilft, sich mit dem Selbst neu und anders auseinanderzusetzen. Der fremde Blick eines Franzosen, hier des Fotografen Pierre Verger, oder der fremde Blick von jemandem aus Deutschland, der an Brasilien interessiert ist, zeigt, dass, wenn wir Heimat an einem Ort verankern, dieser Ort ständig neu interpretiert werden kann und an dieser Interpretation nicht nur die BrasilianerInnen, sondern auch die anderen mitarbeiten. Auch in dieser Hinsicht ist die ortsgebundene Heimat in einer diskursiven Bewegung. Aber kehren wir zu der Frage einer bewegten, nicht an einen Ort gebundenen Heimat zurück. Am Beispiel Márcias sehen wir, dass sie auf der Suche ist und in Finnland einen neuen Lebensraum gefunden hat, an dem sie in Zukunft leben möchte. Aber vermutlich findet sich das, was sie sucht, eher bei diesen »Göttern im Exil«, die sowohl in den afrikanischen Religionen als auch bei den indogermanischen oder skandinavischen Völkern zu finden sind. Die Halskette mit den beiden Anhängern symbolisiert diesen Ort im Exil, der nicht unbedingt mit einem konkreten Ort verbunden ist, sondern ortsübergreifend sein kann: wie der Blitz oder das Feuer. 5.
Zadiquiel: Der Tanz und die Ginga
Zadiquiel lebt schon seit 5 Jahren in Deutschland und hat einen Verein für Capoeira und brasilianischen Tanz in Frankfurt am Main gegründet (s. Abb. 3). In seiner Geschichte gibt es schon sehr früh eine entscheidende Raumüberwindung, noch bevor er nach Deutschland emigriert ist. Er lebte mit seiner Familie in 172 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Bewegte Heimat
Abb. 3: Zadiquiel (Bild: Amalia Barboza)
einer Favela, in einem armen Stadtteil Recifes, der Hauptstadt des Bundesstaats Pernambuco im Nordosten Brasiliens. Direkt neben dem Haus seiner Familie befindet sich eine Universität und diese ist durch eine hohe Mauer von dem armen Stadtteil getrennt. Es gab damals nur einen Eingang zur Universität, der von einem Pförtner kontrolliert wurde, welcher nur die Studierenden passieren ließ. Zadiquiel pflegte mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft immer über die Mauer zu klettern, da sie auf dem UniCampus viel mehr Bewegungsmöglichkeiten und Grünfläche zum Spielen hatten als in ihrem eng bebauten Viertel. Auf der anderen Seite der Mauer spielte Zadiquiel Fußball mit den Studierenden und gewann so Freunde unter ihnen. Eines Tages erzählten sie ihm von einem neuen Lehrer, der Capoeira als Sportfach anbot. Zadiquiel schaute sich ein Training an und war von Capoeira sehr fasziniert. Der Lehrer entdeckte sein Talent und nahm ihn als Schüler auf, obwohl er erst acht Jahre alt war. Zadiquiel erzählt seine Biografie als die Geschichte einer Rettung durch Capoeira: Seinem Capoeira-Lehrer hat er zu verdan173 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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ken, dass er der Armut und, was oft damit verbunden ist, den Drogen und dem Verbrechen entfliehen konnte. Dieser erste Ort, an dem er mit seiner Familie lebte, ist für Zadiquiel heute nicht mehr wichtig. Seine Mutter lebt nicht mehr dort und sein Capoeira-Lehrer starb schon sehr jung. Zadiquiel ist heute hauptsächlich über Capoeira mit Brasilien verbunden und er erwähnt in seiner Lebensgeschichte alle Orte seiner Capoeira-Ausbildung und seiner Tätigkeit als Lehrer. Im Prinzip ist er dort verortet, wo er seine Tätigkeit als Capoeira- und Tanzlehrer weiter ausüben kann. Die Capoeira-Prüfungen werden in Brasilien abgenommen, sodass diese Sportart eine nationale Verortung behält – im Unterschied zu den Klöstern der Franziskaner oder zu den Lagern der »Ärzte ohne Grenzen«. Aber die Frage nach dem Ursprung der Capoeira wird stets sehr leidenschaftlich und kontrovers diskutiert. Dieser Kampfsport entstand in Brasilien durch die Sklaven aus Afrika, denen das Kämpfen verboten war. Die Capoeira, als Kampftanz mit Gesang und instrumentaler Musik, war damals eine durch Tanz camouflierte Möglichkeit des Trainierens und auch des Zusammenhalts in Sklaverei. In der Diskussion über den Ursprung der Capoeira wird regelmäßig darauf hingewiesen, dass dieser Kampftanz tiefe Wurzeln in Afrika hat, obwohl er in Brasilien entwickelt wurde. Und in der Tat finden sich in Afrika ähnliche Kampftänze. Besonders in Europa wird Capoeira als eine Sportart wie viele andere praktiziert. In Brasilien ist Capoeira aber eng mit der Religion des Candomblé verbunden. Die Lieder, die in den Capoeira-Rodas (Tanz-Kreis) gesungen werden, verweisen immer auf afrobrasilianische Götter und erzählen von Situationen der afrikanischen Sklaven im brasilianischen Exil. Die Texte der Lieder (in portugiesischer Sprache) prägen mit ihren Themen auch den Rhythmus des Tanzes. Ein Lied lautet: »Eu não sou daqui / Chor: Marinheiro só« (Ich bin nicht von hier / Chor: Ich bin ein Seefahrer). 8 Dieser Seefahrer fühlt sich nicht an einem Ort zu Hause, sondern hat die Seereise zu einer Lebensform und zu einer 8
In der Capoeira-Forschung wird die globale Verbreitung der Capoeira als eine durch Multilokalität gekennzeichnete Transnationalisierung analysiert (siehe u. a. Daniel Ferreira: »Adaptação em movimento: o processo de transnacionalização da
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Bewegte Heimat
Heimat in Bewegung erklärt. Auch andere Lieder verweisen auf die Situation, in Bewegung zu sein wie ein Seefahrer. Ganz wichtig für Capoeira ist die Ginga, eine grundlegende Bewegung, die immer ganz am Anfang eines Kampfs vollzogen wird, nachdem die Kämpfer sich die Hand gegeben haben. Die Ginga ist ein Schritt, der – kombiniert mit Saltos und Drehungen – den Tanz konstituiert. Die Capoeira-LehrerInnen erzählen den SchülerInnen, dass die Ginga von zentraler Bedeutung ist. Sie bedeutet ein Immer-in-Bewegung-Bleiben und das Verbleiben in einer Balance, um dynamisch zum Angreifen oder zum Rückzug bereit zu sein. Ganz wichtig bei Capoeira ist es, nicht stehen zu bleiben, weshalb dieser Basisschritt von den LehrerInnen als so zentral weitergegeben wird. In der Ginga haben wir ein ganz konkretes Phänomen des Immer-in-Bewegung-Bleibens und gleichzeitig ein Symbol einer bewegten Heimat. Zadiquiel erzählt, dass seine Capoeira-Gruppe nicht an einem bestimmten Ort sein muss, sondern überall trainieren kann. Er selbst gibt an verschiedenen Orten Unterricht, und oft veranstaltet er auf der Straße eine Capoeira-Roda (Kreis). Er hofft, damit PassantInnen zu interessieren, die sich der Capoeira anschließen. Und in der Tat ist Capoeira ein Kampftanz, der sich in Europa stark verbreitet hat. Für viele EuropäerInnen ist dieser Tanz auch zu einer bewegten Heimat geworden. Einige Interviews während eines Projektseminars in Saarbrücken offenbarten, dass CapoeiraSchülerInnen diesen Tanz als eine Lebensform verstehen, der zwar als mit Brasilien verknüpft wahrgenommen, aber als ortsübergreifend erlebt wird. 9 Genau diese überräumliche Heimat wird von Zadiquiel praktiziert und an seine SchülerInnen weitergegeben.
capoeira na França«, in: Antropolítica – Revista Contemporânea de Antropologia 24, 2009, S. 64–86). 9 Siehe u. a. die Forschung über Capoeira in Deutschland von Sarah Lempp: Über den Black Atlantic. Authentizität und Hybridität in der Capoeira Angola, Baden-Baden 2003.
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6.
Eine bewegte Heimat: Zwischen Träumen und Carrancas
Ich möchte nach diesen vier Beispielen abschließend fragen: Wenn Migration Bewegung von einem Ort zu einem anderen ist, welche Utensilien und Phänomene verkörpern diese Bewegung und konstituieren eine Heimat in Bewegung? Ich habe einige Beispiele und Variationen vorgestellt. Es gibt aber bestimmt noch viel mehr Formen. Im Prinzip kann man in allen Biografien von MigrantInnen Elemente und Momente einer bewegten Heimat finden, auch wenn sich viele der BrasilianerInnen, die ich kennengelernt habe, in die neue Heimat integriert oder sich eine brasilianische Nische aufgebaut haben. Diese drapierten Einrichtungen, die sich schnell abbauen und wieder aufbauen lassen, wie die Kissen oder Tücher bei der Patientin der Grinbergs, finden wir im Haushalt von Martha in Form einer Carranca oder bei Márcia als Traumfänger, der auf einen neuen Lebensort verweist. Vor allem haben wir anhand der Beispiele sehen können, dass Heimatgefühle nicht mit einem Ort verknüpft sein müssen. Viele Menschen, besonders diejenigen, die Migrationserfahrung haben, sehnen sich nach raumübergreifenden und überräumlichen Phänomenen. Eine bewegte Heimat konnten wir in Elis’ Traumwelt sehen, in der sie eine tieferliegende Vergangenheit sucht und gleichzeitig eine Zukunft anvisiert, die sie mithilfe von Lektüre und der Entzifferung ihrer Träume bewältigen möchte. Eine weitere raumübergreifende Heimat fanden wir in Marthas Wunsch, ihr Leben und ihre Arbeit als »Ärztin ohne Grenzen« zu verbringen. Auch in dem Tanz Capoeira finden wir ein Phänomen, das eine Heimat in Bewegung ermöglichen kann – und bemerkenswerterweise nicht nur für Personen, die emigriert sind, sondern auch für Menschen, die sich am eigenen Geburtsort heimatlos fühlen und nach einer starken Anbindung suchen. Mit diesen Beispielen lässt sich die Position der Grinbergs revidieren, dass sich MigrantInnen einen stabilen Wohnort schaffen müssen, um ein gelungenes neues Leben einzurichten. Es gibt eben auch die Möglichkeit, die Migration ernst zu nehmen, und das In-Bewegung-Bleiben nicht nur als einen vorübergehenden Moment, sondern als eine Heimat in Bewegung zu verstehen. 176 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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In der Zeit Sigmund Freuds gab es viele andere WissenschaftlerInnen, die migrieren mussten, die diese bewegte Heimat der Migration erkannten und dezidiert verteidigten. Daran sollen wir uns heute erinnern. Wichtig wäre es, ihre Stimmen zu versammeln. Hannah Arendt beispielsweise verfasste ihren programmatischen Text Wir Flüchtlinge im Exil. Der Text erschien 1943 auf Englisch unter dem Titel We Refugees. 10 Sie plädiert darin ganz deutlich für eine jüdische Identität, die als MigrantInnen-Identität verstanden werden muss, die keine Integration in eine neue Gesellschaft will, sondern die raumübergreifende Identität der Paria als Lebensmodell für sich verteidigt. Sie plädiert dafür, dass die Juden ihre Identität als Pariavolk ernst nehmen und nicht dem Weg des jüdischen Parvenü folgen sollen, der ständig nach Anerkennung und Integration in den Ankunfts-Gesellschaften sucht. Auch Joseph Roth plädierte in seinem Text Juden auf Wanderschaft für eine Identität der Heimatlosen. Er warnte vor der Neigung vieler Juden seiner Zeit, diese Wander-Identität durch ein neues Vaterland ersetzen zu wollen. Folgendes Zitat bringt diese Warnung treffend zum Ausdruck: »Aber selbst, wenn es den Juden gelingen würde, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Rumänien, in Deutschösterreich alle Rechte einer ›nationalen Minderheit‹ zu erkämpfen, so erhöbe sich immer noch die große Frage, ob die Juden nicht noch viel mehr sind, als eine nationale Minderheit europäischer Fasson; ob sie nicht mehr sind, als eine ›Nation‹, wie man sie in Europa versteht, und ob sie nicht einen Anspruch auf viel Wichtigeres aufgeben, wenn sie den auf ›nationale Rechte‹ erheben.« 11 Für Roth ist es gerade die Wanderschaft, die die Juden (und ich würde ergänzen: auch alle MigrantInnen) zu ihrer Heimat erklären sollen. Auch Ernst Blochs Idee von einer Heimat in einer nicht erlebten Kindheit, die er während seiner Migration in den USA ent10
Zuerst erschienen in der jüdischen Zeitschrift Menorah Journal. Hannah Arendt: »Wir Flüchtlinge«, in: dies.: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S. 7–21. 11 Joseph Roth: »Juden auf Wanderschaft«, in: ders.: Orte. Ausgewählte Texte, Leipzig 1990, S. 218.
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wickelte, folgt dem Modell einer Heimat in Bewegung. Es ist eine Heimat, die sich wie bei Elis in einer Vergangenheit zu verorten scheint, aber in Wirklichkeit nicht erlebt wurde und nur in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft anvisiert wird. Folgende Passage aus Blochs Das Prinzip Hoffnung wird in diesem Kontext häufig zitiert: »[…] so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« 12 * * * In meinem Vortrag auf dem Symposium der Gesellschaft für Neue Phänomenologie zeigte ich ein Bild, das zu dieser Zeit auf meiner Website der Universität zu sehen war: das Bild eines Mannes, der Mate trinkt. Ich zeigte nicht nur das Bild, sondern brachte selbst auch einen Mate mit, um den TeilnehmerInnen der Tagung das Mate-Phänomen vor Ort zu präsentieren. Das MateTrinken kommt aus Argentinien. Das Foto zeigt aber nicht einen Argentinier, sondern einen Syrer, der Mate trinkt. Ich war überrascht, als ich entdeckte, dass in Syrien viel Mate getrunken wird. Es ist nach Argentinien das Land, das am meisten Mate importiert. Fast 70 % der Mate-Ausfuhr Argentiniens gehen nach Syrien. Ich entdeckte dieses Phänomen, als es vor zwei Jahren in Deutschland plötzlich sehr einfach wurde, Mate zu kaufen. Ich fand nicht nur Mate-Tee, sondern auch sämtliche notwendigen Utensilien und erfuhr, dass seit der Einwanderung vieler Syrer die arabischen und türkischen Lebensmittelläden Mate zum Kauf anbieten. Das Phänomen hat eine Migrationsgeschichte: Im 19. Jahrhundert emigrierten viele Syrer nach Argentinien. Als sie zurückkehrten, hatten sie sich das Mate-Trinken angeeignet und machten Mate zu ihrem Getränk. Jetzt ist der Mate dank der Syrer in Deutschland angekommen. Das Mate-Trinken ist wie eine Capoeira-Roda: ein Phänomen, das Gemeinschaft gestaltet, weil man Mate nicht nur alleine trinkt, sondern auch in der Gruppe. Der Flaschenkürbis mit dem Mate-Gras wird mit heißem Wasser gefüllt, man trinkt den entstehenden Mate-Sud aus und reicht 12
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main 1973, S. 1628.
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Bewegte Heimat
den (neu mit Wasser gefüllten) Kürbis an den Nächsten weiter, damit dieser in der Runde zirkuliert. Rebeca und León Grinberg haben bestimmt selbst auch im spanischen Exil viel Mate getrunken, sicher auch ihre PatientInnen. Sie schrieben aber leider nichts darüber. Dafür waren sie viel zu sehr auf stabile Möbel fixiert. Bibliographie Arendt, Hannah: »Wir Flüchtlinge«, in: dies.: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S. 7–21. Barboza, Amalia: »Wahrhaftige Historia. Brasilien – Transkulturelle Biographien«, in: Zeitschrift Maecenas, Hessische Kulturstiftung, Herbst 2015. Barboza, Amalia: »¿Cuándo Ilegaré? Topographien des Ankommens«, in: Barboza, Amalia u. a. (Hrsg.): Räume des Ankommens. Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht, Bielefeld 2016, S. 123–136. Barboza, Amalia: Brasilien am Main. Gekreuzte Wege, Berlin 2018. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main 1973. Ferreira, Daniel: »Adaptação em movimento: o processo de transnacionalização da capoeira na França«, in: Antropolítica – Revista Contemporânea de Antropologia 24, 2009, S. 64–86. Garz, Detlef / Kettler, David (Hrsg.): Nach dem Krieg! – Nach dem Exil? Erste Briefe/First Letters, München 2012. Grinberg, León und Grinberg, Rebeca: Psychoanalyse der Migration und des Exils, München 1990. Lempp, Sarah: Über den Black Atlantic. Authentizität und Hybridität in der Capoeira Angola, Baden-Baden 2003. Roth, Joseph: »Juden auf Wanderschaft«, in: ders.: Orte. Ausgewählte Texte, Leipzig 1990. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Band 11, Frankfurt am Main 1992.
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Simone Egger
About Heimat Leben und Wohnen in der postmodernen Stadt
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Situationen »Ok, versuchen wir es mal so: Wir (kleine Familie, 36, 36 und 3 Jahre alt) suchen eine Wohnung in München. 3,5 oder 4 Zimmer – am liebsten in Giesing, Au, Thalkirchen, Westend, Sendling, Harlaching, Haidhausen, Pasing, im Zweifelsfall sind wir da aber auch flexibel – wer was weiß: Bitte melden!« 1
Zu lesen war dieser Text im Frühsommer 2017 im News-Feed von Facebook, einem sozialen Medium, mit dem der Autor der Anzeige nicht nur in den Strukturen der Münchner Stadtgesellschaft vernetzt ist. Über die Plattform lassen sich neben Seiten von Nachrichtenportalen oder Institutionen vor allem berufliche Netzwerke und persönliche Kontakte in einem digitalen Raum miteinander verknüpfen. Der Aufruf, der mit großer Wahrscheinlichkeit nicht der erste Versuch war, an eine entsprechende Wohnung zu kommen, richtete sich an das nähere und weitere Umfeld der Suchenden in München. Die junge Familie kann wie ihr Freundeskreis vornehmlich einer akademisch gebildeten, städtischen Mittelschicht zugeordnet werden. Was den Habitus angeht, lässt sich aus den Informationen des Nutzerprofils und darüber hinausreichenden Erkenntnissen auf eine Zugehörigkeit zu eben diesem gesellschaftlichen Milieu schließen. Von der Nennung der Quartiere, die als Wohnorte in Frage kommen, ist außerdem ein Lebensstil abzuleiten, für den die genannten Viertel und ihre ebenfalls in erster Linie einer gesellschaftlichen Mitte zuzuord1
Wohnungsgesuch, Eintrag im News Feed von Facebook, unter: www.facebook. de (Stand: 14. 5. 2017).
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About Heimat
nenden Bewohner_innen bekannt sind. Gleichzeitig werden diese Stadtteile etwa in Gestalt von Lokalen und Läden mit explizit in Bezug zu dieser Art von Lebenswelten stehenden ästhetischen Qualitäten spürbar geprägt. »Im Begriff und Phänomen von Urbanität klingt neben großer Komplexität auch vielschichtige Heterogenität an. In einem singulären Sinn lässt sich aber kaum zusammenbringen, was in urbanen Lebensweisen zwischen Gefühl und Verstand mit dem Wechsel der Situationen variiert, um schon bald in anderen Formen der Lebendigkeit wieder aufzugehen.« 2 Um den »dynamisch gelebten Raum der Stadt« 3 zu verstehen, proklamiert der Geograph Jürgen Hasse ein phänomenologisches Denken in Situationen. Diese Perspektive setzt bei Hermann Schmitz’ philosophischem Konzept der Situation an und betont dessen ganzheitliche Auffassung von Bedeutungszusammenhängen. »Situationen bestehen mindestens aus Sachverhalten (z. B. der Wolkenkratzerbebauung der inneren City), oft auch aus Programmen (z. B. der Normen und technischen Vorkehrungen zur Sicherung eines möglichst reibungslos fließenden Verkehrs) und Problemen (z. B. der unsicheren Frage nach dem sozialen Frieden unter dem Druck neoliberaler Transformationen der Gesellschaft).« 4 Die in spezifischer Weise von Seiten der sozialen Mitte positiv bewerteten Qualitäten des Urbanen, die den eingangs aufgezählten Gegenden im Münchner Stadtgebiet zugeschrieben werden – und nicht umliegenden Quartieren wie dem Hasenbergl, Neuperlach oder Milbertshofen –, eine Fülle von Angeboten und Verfügbarkeiten, Netzwerken und Atmosphären, verdeutlichen die enge Verknüpfung von Leben und Wohnen im städtischen Raum, die sich über die Quadratmeter des eigenen Wohnraums hinaus auf den bepflanzten Grünstreifen an der Straße genauso bezieht wie auf den Freizeitwert des Umlands, das Sortiment des Bio-Supermarkts um die Ecke, die Gestaltung der Kindertagesstätte im Haus gegenüber 2
Jürgen Hasse: Der Leib der Stadt. Phänomenographische Annäherungen (LS), Freiburg und München 2015, S. 13. 3 Hasse, LS, S. 13. 4 Hasse, LS, S. 13–14.
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oder den in der Physis der Stadt zur Verfügung stehenden Spielraum. Das gute Leben wird an der Schnittstelle von gebautem Setting und sozialen Strukturen, kulturellen Äußerungen und Möglichkeitsräumen, die abhängig von Habitus und Kapital als solche wahrgenommen werden, verortet und sowohl als Bedingung als auch als Utopie eines ganzheitlich gedachten Zusammenhangs von Leben und Wohnen in der Stadt gesehen. Als Sachverhalt der zu diskutierenden Situation kann dabei die Wohnbebauung der Münchner Innenstadtteile aufgefasst werden, als Programm die politische und rechtliche Ordnung der Stadtbebauung durch Erhaltungssatzungen oder die Streuung von gefördertem Wohnraum und als Problem der Mangel an bezahlbaren Unterkünften, durch den sich das soziokulturelle Gefüge der Stadtgesellschaft mittels Zuzug und Wegzug, Gentrifizierung, Verdrängung und Homogenisierung nachhaltig verschiebt. Der vorliegende Beitrag basiert empirisch auf einer langjährigen kulturanalytischen Beschäftigung mit Stadtentwicklung und Kommunalpolitik und setzt theoretisch bei den Überlegungen der interdisziplinären Forscher_innengruppe »Urbane Ethiken« an der Ludwig-Maximilians-Universität München an, die in einem Teilprojekt am Exempel des Immobilienmarkts der bayerischen Landeshauptstadt danach fragt, wie der Topos des guten Lebens über Wohnraumpolitiken verhandelt wird. 5 Aus diesem Kontext heraus ist das Forschungsprojekt mit Edward P. Thompsons Idee der moralischen Ökonomien und der Konstruktion ethischer Subjekte im urbanen Raum verknüpft. 6 Der Fokus richtet sich dabei vorwiegend auf Akteur_innen, die im weitesten Sinne einer gesellschaftlichen Mittelschicht zugeordnet werden können und blickt auf Taktiken und Strategien, die vor dem Hintergrund eines spürbar wachsenden ökonomischen, kulturellen und sozialen Drucks rund um das Thema Wohnen erdacht und 5
Moser, Johannes u. a.: Wohnen und Wohnraumpolitiken in München, Projekt in der DFG-Forschergruppe »Urbane Ethiken«, unter: http://www.urbane-ethiken. uni-muenchen.de/forschergruppe/muenchen/index.html (Stand: 9. 7. 2017). 6 Edward P. Thomson: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main und Berlin 1980.
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umgesetzt werden und zugleich auf Diskurse verweisen, in denen damit verbundene Vorstellungen und Praktiken eingebettet sind. Auf dieser Basis lässt sich ausgehend von Alexander Mitscherlichs 1965 erstmals erschienenen Überlegungen zu einer Unwirtlichkeit der Städte wieder oder noch immer danach fragen, wie Menschen heute in urbanen Räumen leben und wohnen, Zugehörigkeit empfinden, sich verorten, heimisch sind oder auch abgestoßen werden. 7 Was bedeutet es, wenn etwas wie das Wohnen, das die Kulturanthropologin Johanna Rolshoven als »lebensweltliches Grundthema« 8 bezeichnet, sogar für die Mittelschicht zum fundamentalen Problem wird? Diese Frage soll insbesondere vor dem Hintergrund einer möglichen oder unmöglichen Beheimatung im Stadtraum diskutiert werden. 2.
Bedingungen
Die Stadt ist gewissermaßen ein Spiegel, ein Brennglas, durch das sich Prozesse und Phänomene eines gesellschaftlichen Wandels in besonders verdichteter Form beobachten und leiblich spüren lassen. Trotz aller Innovationen und Verbesserungen, die die Moderne gerade im Stadtraum etwa auf dem Gebiet der Medizin errungen hat, haben politische Entscheidungen und ökonomisches Handeln vor allem in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts diverse Formationen (seien es Machtverhältnisse, Kapitalflüsse oder Wirtschaftsbeziehungen) das Zusammenleben von Menschen rund um den Globus nicht nur wesentlich beeinflussen, sondern lokale Problemkomplexe damit auch mittelbar oder unmittelbar hervorrufen und multiplizieren. »In einer Welt, in der Konsumismus, Tourismus, Kultur- und Wissensindustrien und eine ständige 7 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main 1970. 8 Johanna Rolshoven: »Wohnbewegungen. Dynamik und Komplexität alltäglicher Lebenspraxen«, in: Johannes Moser / Gerlinde Malli / Georg Wolfmayr / Markus Harg (Hrsg.): Wissenschaft als Leidenschaft. Gedenkschrift für Elisabeth Katschnig-Fasch (WB), München 2013, S. 45–51, hier: S. 45.
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Flucht in die Ökonomie des Spektakels zu wesentlichen Aspekten der urbanen politischen Ökonomie geworden sind«, diagnostiziert der Stadtforscher David Harvey, »ist städtische Lebensqualität, wie auch die Stadt selbst, zu einer Konsumware für Menschen mit Geld geworden.« 9 Die sprichwörtliche Freiheit der Wahl, die für die Postmoderne so charakteristisch erscheint, sagt in diesem Sinne zuallererst etwas über die zur Verfügung stehenden Kapitalsorten aus. »Wohnungssuchende müssen jeden Tag ganz stark sein. Der Blick ins Onlineportal Immobilienscout24 geht für sie durchaus als Mutprobe durch: Wie weit kann ich nach unten scrollen, bevor mein Tag verdorben ist?«, 10 fragt die Journalistin Anna Hoben in der Süddeutschen Zeitung und führt weiter aus: »Kleine Stichprobe: Exklusive Dachterrassenwohnung, Sendlinger Straße, 25 Euro monatliche Kaltmiete pro Quadratmeter. Erstbezug in Perlach, 18,50 Euro kalt. 19 Euro kalt in Moosach. Ganz zu schweigen von möblierten Wohnungen von Anbietern wie Mr. Lodge.« 11 Postmetropolis nennt der Geograph Edward Soja entsprechend die spät- oder postmoderne Stadt, deren wesentliche Dimensionen in sechs Diskursen gefasst werden können. 12 Gegenüber der modernen Stadt sind nachhaltige Veränderungen festzustellen, vor allem der Wandel von industriell geprägten Arbeits- und Lebensverhältnissen hin zu einer Wertschöpfung, die in erster Linie von Professionen des tertiären Sektors und damit von Dienstleistungen aller Art ausgeht, hat massiv dazu beigetragen, dass Stadträume umgewertet wurden und sich Zuschreibungen fundamental verschoben haben. Ein Exempel sind die in Lofts übersetzten Fabriketagen in New York City, die für weite Teile der Stadtbevöl9
David Harvey: Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution, Berlin 2013, S. 45. 10 Anna Hoben: »Viele Wohnungen landen gar nie auf dem Markt«, in: Süddeutsche Zeitung (VW), 16. 5. 2017, unter: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/ studie-viele-wohnungen-landen-gar-nie-auf-dem-markt-1.3508593, (Stand: 5. 7. 2017). 11 Hoben, VW. 12 Edward W. Soja: Postmetropolis. Critical Studies of Cities and Regions, Oxford 2000.
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kerung nicht oder nicht mehr zu finanzieren sind. 13 Die Sozialwissenschaftler Ulrich Beck, Wolfgang Bonß und Christoph Lau sprechen angesichts der Entwicklungen im ausgehenden 20. Jahrhundert von einer reflexiven Modernisierung und skizzieren damit »einen Meta-Wandel, in dem sich die Koordinaten, Leitideen und Basisinstitutionen einer bestimmten, längere Zeit stabilen Formation westlicher Industriegesellschaften und Wohlfahrtsstaaten verändern. […] Gegenüber […] monokausalen oder zumindest einseitigen Theoremen bezieht sich das Erklärungsmodell reflexiver Modernisierung auf den Wandel in seiner ganzen Breite.« 14 Die Folgen und Effekte dieser Modernisierung werden ihren Akteur_innen dabei erst nach und nach bewusst. In der Gegenwart zeigen sich Auswirkungen, die die Ausformungen der Moderne seit den 1970er Jahren langfristig mit sich bringen. Edward Soja konstatiert eine Zersplitterung gebauter Formen, von einer immer schärfer durch das heterogene urbane Gefüge schneidenden sozialen Segregation, aber auch von der Projektion einer Simcity und ihren hyperrealen Repräsentationen sowie der gleichzeitigen Etablierung einer Cosmopolis, in der eine anwachsende Diversität in Stadtraum und -gesellschaft zum Selbstverständnis wird. 15 Der Soziologe Oliver Nachtwey spricht in Anlehnung an Beck gegenwärtig auch von einer »regressiven Moderne« 16, die ihre Errungenschaften – etwa durch den Abbau des Sozialstaats – wieder abgibt. Vor dem Hintergrund dieses Strukturwandels ist auch das Wohnen in München oft nichts Selbstverständliches, allgemein Zugängliches mehr und damit in weiten Teilen auch keine moralische Ökonomie. Gerade die Immobilienbranche scheint in den 13
Sharon Zukin: Loft Living: Culture and Capital in Urban Change, Baltimore 1982. 14 Ulrich Beck / Wolfgang Bonß / Christoph Lau: »Theorie reflexiver Modernisierung. Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme«, in: Ulrich Beck / Wolfgang Bonß (Hrsg.): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt am Main 2000, S. 31. 15 Soja, PM. 16 Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (AG), Berlin 2016.
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letzten Jahren zum Sinnbild kapitalistischer Auswüchse und ethisch zu debattierender Verfehlungen geworden zu sein – Stichwort: »Luxuswohnen« In der spätmodernen, insbesondere der neoliberalen Entwicklung der Stadt«, konstatiert auch Jürgen Hasse, »rückt das in existenzphilosophischer Sicht bedeutsame Wohnen stark in den Hintergrund richtungsweisender Themen des Städtebaus. Dieser orientiert sich mit zunehmender Ausschließlichkeit an schnellstmöglicher Profitmaximierung.« 17 Längst sind weite Kreise der Stadtgesellschaft von exorbitant wachsenden Immobilienmärkten betroffen, und diese weltweit festzustellende wie von einer medialen und ökonomischen Globalisierung abhängige Situation wirkt sich nicht zuletzt auf das soziale und politische Gefüge von Städten und damit auf konkrete lokale Zusammenhänge aus. Recht auf Stadt hat in München und anderswo heute insbesondere mit dem exklusiven Vermögen zu tun, dass auf die eine oder andere Weise bewerkstelligen lässt, überhaupt in der Stadt zu leben, zu arbeiten, sich zu bewegen, heimisch zu werden, Netzwerke zu bilden, Infrastrukturen zu nutzen, am kulturellen Angebot teilzuhaben etc. etc. Diese Möglichkeitsräume bilden gleichsam die Basis dafür, dass sich Stadtbewohner_innen aktiv ins Geschehen einbringen, selbst mitwirken, sich verantwortlich fühlen und letztlich auch Aufgaben im Sinne der Kommune übernehmen. »Der wohnende Mensch findet sich im Zentrum dieses Gefüges platziert, in das er sich vor dem Hintergrund ungleicher Voraussetzungen als Akteur und Raumproduzent interaktiv einschreibt.« 18 Gegenwärtig ist daher nicht nur eine Krise in Bezug auf das Wohnen auszumachen, auch wenn der Mangel an Wohnraum als Motiv der städtischen Narration in München schon seit über 100 Jahren tradiert wird, sondern mehr noch eine soziale Krise, die unmittelbar zu der Frage führt: in welcher Gesellschaft wollen wir wohnen und, ganzheitlicher gedacht, leben? Und wer soll zu dieser Gesellschaft gehören?
17 18
Hasse, LS, S. 74. Rolshoven, WB, S. 45.
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3.
Stadt
»Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt«, bemerkte der Sozialwissenschaftler Georg Simmel schon im Jahr 1903, »ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.« 19 Basis von Simmels Überlegungen bildete die Entstehung der modernen Großstadt nach 1800, die er vor allem im europäischen Raum verfolgte. In seinem populären Artikel beschäftigte er sich ausgehend von städtischen Lebenswelten und ihrer ökonomischen Organisation mit der Frage, welche Auswirkungen die Bedingungen der Großstadt auf das Geistesleben und damit auch auf das Verhalten einer urbanen Gesellschaft haben. Simmel konstatiert zunächst eine fundamentale Blasiertheit, die auf den rationalen Formen der Geldwirtschaft gründet und sich im städtischen Raum als rationale Distanziertheit entfaltet. Diese Indifferenz ist auf der einen Seite als Entfernung der Menschen voneinander zu begreifen und damit durchaus negativ konnotiert, schafft auf der anderen Seite aber auch die Voraussetzung dafür, dass Menschen angesichts der Komplexität einer Stadt und der Vielzahl von Äußerungen, denen sie sich permanent ausgesetzt sehen, nicht vollkommen orientierungslos werden. Eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Eindrücken und Beeinflussungen, die für ein Subjekt der Großstadt nicht von Belang erscheinen, kann demnach Ignoranz erzeugen und gleichwohl Möglichkeiten eröffnen, die das städtische Leben so überaus reizvoll erscheinen lassen. Wie Georg Simmel hervorhebt, bedarf es, »nur des Hinweises, dass die Großstädte die eigentlichen Schauplätze dieser, über alles Persönliche hinauswachsenden Kultur sind. Hier bietet sich in Bauten und Lehranstalten, in den Wundern und Komforts der raumüberwindenden Technik, in den Formungen des Gemeinschaftslebens und in den 19
Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung (Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, hrsg. von Th. Petermann), Dresden 1903, S. 185–206, unter: http://socio.ch/ sim/verschiedenes/1903/grossstaedte.htm (Stand: 10. 5. 2017).
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sichtbaren Institutionen des Staates eine so überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes, dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann.« 20 Ein wiederkehrendes Motiv in der Betrachtung und textlichen wie bildlichen Übersetzung von Urbanität ist die Stadt als Ort der Befreiung, ein Babel, das tausend Sprachen spricht und auf ein besseres, ein gutes Leben hoffen lässt. Menschen machten und machen sich auf, suchen sich zu verorten, auf die Weise sind weltweit die Großstädte der Gegenwart, Kairo, Beirut, Los Angeles, Lagos, Rio de Janeiro, ChongChing etc. etc. entstanden. Mit dieser Thematik beispielhaft auseinandergesetzt hat sich der kanadische Journalist Doug Saunders, der die Arrival City als Knotenpunkt einer Welt in Bewegung versteht. 21 Das Urbane in seiner Dichte, Größe und Heterogenität, wie Georg Simmel festgehalten hat, eröffnet Möglichkeitsräume oder lässt zumindest vorstellen, was die Realisierung einer Utopie sein kann. Gegenbild dazu ist die Stadt als wabernder Organismus, ein urbaner Moloch, in dem Leben mehr dem Dahinsiechen im Fegefeuer, denn dem Paradies auf Erden entspricht. Entscheidend ist die Gleichzeitigkeit von – vielen – Biografien und Lebensstilen, die Analogie von Verknüpfungen und Verwerfungen in einer lokal verankerten urbanen und transnational vernetzten Gesellschaft und darüber hinaus, die Präsenz von verschiedenen Phasen der Vergangenheit im Gegenwärtigen, etwa in Gestalt einer städtischen Physis aus Schichten, die Koexistenz einer ungeheuren Fülle an Ideen und Bildern, Perspektiven und Wahrnehmungsweisen, Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten, Verbindungen und Brüchen, die permanente Praxis von diversen, auch divergierenden Aktionen variierender Reichweite. Mit den Entwicklungen, die Edward Soja als Diskurse der spätmodernen Stadt nachzeichnet, wird diese Gleichzeitigkeit als weitere zentrale Qualität von Urbanität jedoch fundamental in Frage gestellt, weil sich territoriale Verschiebungen oder sich verschärfende Differenzen städtischer Milieus unmittelbar auf Zusam20
Simmel, GG. Doug Saunders: Arrival City: Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab, München 2011.
21
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menleben und Zugehörigkeit auswirken – und sich ganz besonders im Wohnen kulturell artikulieren. 4.
Heimat
Im Frühjahr 2017 lag ein Flugblatt in den Briefkästen des Münchner Stadtteils Maxvorstadt. Dieses Areal erstreckt sich vom Hauptbahnhof aus in nördlicher Richtung und umfasst große Wohnquartiere ebenso wie die Pinakotheken, die LudwigMaximilians-Universität, die TU München und zahlreiche andere städtische und staatliche Institutionen. Das Gebiet wird aufgrund der vielen öffentlichen Einrichtungen und seiner zentralen Lage alltäglich von besonders vielen Menschen frequentiert. Auf der Postwurfsendung war Folgendes zu lesen: »500,– € Belohnung. Liebe Nachbarn, seit 6 Jahren wohne ich (26, Studentin, Bürge vorhanden) in der schönen Maxvorstadt. Nun verliere ich wegen Eigenbedarfs meine Wohnung und bin dringend auf der Suche nach einer 1- bis 2-Zimmer-Wohnung – egal ob jetzt oder später. Die Maxvorstadt ist mein Zuhause: hier wohnt auch meine Schwester, Nachbarn sind zu Freunden geworden und ich arbeite und studiere hier. Ich wäre sehr dankbar, wenn Ihr mir helfen würdet, dass ich hier bleiben kann. Wenn es aufgrund Eures Tipps zum Vertragsabschluss kommt, gibt es eine Belohnung von 500,– €. Tel.: 0170-19513XX. Vielen Dank!« 22
Auf der Rückseite des Blatts ist der Text in Englisch abgedruckt, allerdings ohne den Hinweis auf den drohenden Verlust der Heimat. Wohnen und Leben haben als ganzheitliche Verbindung gedacht offenkundig etwas mit dem Empfinden von Zugehörigkeit zu tun. Der Gedanke liegt nahe, dass Zugehörigkeiten von wesentlicher Bedeutung für alle Menschen sind und Heimat damit als conditio humana verstanden werden kann. Wie mit einem solchen Bedürfnis umgegangen wird, drückt sich durchaus in differierenden kulturellen Praktiken oder sozialen Umgangsformen 22
Heimatsuche, Postwurfsendung, München Maxvorstadt, April 2017.
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aus. Der städtische Raum mit seiner Vielfalt an Lebensstilen und Akteur_innen bietet vielen unterschiedlichen Menschen gleichzeitig die Möglichkeit, sich zu verorten und verstanden zu fühlen. Eine Stadt kann für die Bewohner_innen aller Milieus, gerade auch abseits ethnischer Kategorisierungen und Nationalitäten zum Ort der Identifikation werden. Die Ermöglichung von Zugehörigkeit ist demnach eine wesentliche Funktion der modernen wie auch der postmodernen Stadt. Am Exempel des Wohnens verdichten sich Bedingungen und Situationen, individuelle und kollektive Befindlichkeiten. In diesem Kontext stellt sich die Frage, was Heimat angesichts von massiven Verschiebungen in der Gegenwart bedeuten kann. Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus thematisiert in ihrer grundlegenden Studie »Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch über das Heimatphänomen« 23, was es mit menschlichen Bedürfnissen auf sich hat. Die bestimmenden Konzepte, die in den Kultur- und Sozialwissenschaften verfolgt werden, gehen wesentlich von einer dominierenden Rolle der soziokulturellen Modifikation menschlichen Denkens und Handelns aus. Ina-Maria Greverus versteht Bedürfnis hingegen »als eine personeninterne Disposition« 24, die nach einer Deckung des jeweiligen Bedarfs verlangt. »Dabei wird unterstellt, daß ein breites Spektrum von historischen, erlernten Modifikabilitäten für eine wahrscheinlich sehr geringe Zahl von angeborenen Bedürfnissen vorliegt.« 25 Anknüpfend an diese Überlegungen konstatiert die Kulturanthropologin, dass der Mensch als »ein wesentlich sozio-kulturell determiniertes Wesen nicht nur einen physischen […], sondern auch einen soziokulturellen« 26 Bedarf hat. Kulturelle Werte und damit verknüpfte Einstellungen sind auf diese Weise fundamental mit der Befriedigung von Bedürfnissen verbunden, als »intentionale Setzungen« 27 dienen sie schließlich den Mitgliedern einer Gruppe, Gemeinschaft 23
Ina-Maria Greverus: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch über das Heimatphänomen (TM), Frankfurt am Main 1972. 24 Ebd., S. 12–13. 25 Ebd., S. 13. 26 Ebd. 27 Ebd.
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oder Gesellschaft als Orientierungspunkte für ihr Handeln. Werte stehen aus dieser Perspektive nicht für sich alleine, können immer wieder verändert und ergänzt werden und drücken sich stets in Verhalten aus. Erst mittels Positionierungen oder einem beobachtbaren Agieren wird manifest, was ein Wert sein kann. Ina-Maria Greverus geht es in ihrer Analyse um die Beziehung von Menschen und ihren auf Aktivität abzielenden Werten sowie deren Interaktion mit einer objektiven Umwelt. 28 Auf der Basis von Erkenntnissen aus der zoologischen Verhaltensforschung und ausgehend von philosophischen Überlegungen zur Lebenswelt, wie sie Edmund Husserl geprägt hat, entwickelt sie eine Idee von Territorialität, die diverse Stränge miteinander verwoben sieht. Dabei steht der Begriff durchaus für variierende Zusammenhänge. »Ist Heimat bzw. Beheimatung ein Bedürfnis, das als primär bezeichnet werden kann oder liegen dem Schema Heimat andere Bedürfnisse zugrunde, die in ›Heimat‹ eine spezifische historische Modifikation gefunden haben?« 29 Heimat wird aus dieser Sicht grundlegend als »eine zu erforschende Relation« 30 begriffen, die kontextualisiert werden muss, analog ist der historisch gewordene Begriff mit verschiedenartigen, vor allem auch individuell empfundenen Bedeutungen aufgeladen. Konkrete Orte, sich verschiebende Bedingungen und vielfältige Beziehungsgefüge haben ebenso damit zu tun wie Symbole oder Affekte. Auf Heimat als Satisfaktionsraum richten sich laut der Kulturanthropologin ganz besonders Sehnsüchte, die retrospektiv von etwas Bekanntem ausgehen und gleichzeitig prospektivische Utopien sein können. 31 5.
Sicherheit
»Das Territorium als ein konkreter und selbstgeschaffener Raumausschnitt mit fließenden Grenzen« 32 bildet nach Ina-Maria Gre28 29 30 31 32
Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Ebd., S. 27. Ebd., S. 32. Ebd., S. 25.
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verus die Basis »zum Ablauf der Territorialität, die die Bedürfnisse Sicherheit, stimulierende Aktivität und Identifikation befriedigt« 33. Unter dem Titel »Urban Shelter?« zeigte die Berliner Künstlerin Anett Zinsmeister von September 2016 bis Februar 2017 eine Auswahl ihrer Arbeiten in München. Der BNKR, ein Kunstraum, ist im Eingangsbereich sowie im Untergeschoss eines ehemaligen Hochbunkers im Norden der Stadt untergebracht. Das Gebäude aus den 1940er Jahren wurde komplett umgestaltet, der Bau mit erklärter Schutzfunktion dient heute in erster Linie als Wohnraum. Im Stadtgebiet gibt es inzwischen mehrere Beispiele für eine solche Nutzung. Anett Zinsmeister hat ihre Arbeiten unmittelbar auf diesen Ort mit seinen spezifischen Qualitäten bezogen, einige sind neu entstanden, andere, schon bestehende Installationen gingen eine neue Verbindung mit dem meterdicken Gemäuer an der Ungererstraße ein. In der Ankündigung ist die Rede von »einem vielschichtigen Ausstellungsparcours«, »in welchem […, die Künstlerin] die Frage nach Schutz und Schutzräumen von unterschiedlichen Seiten in den Blick nimmt: zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen Vergangenheit und Zukunft« 34. In der konkreten Umsetzung war einmal der nach innen gekehrte Außenraum ein Thema, aus zahllosen Fenstern scheinen unsichtbare Augen die/den Besucher_in unvermittelt anzublicken. Es ging der Künstlerin dabei um den Stadtraum und seine Module, deren Wahrnehmung und Adaption. In diesem Kontext war auch von Heimat die Rede. Im Untergeschoss war im Rahmen der Schau analog eine Projektion mit Bildern aus dem zerstörten Sarajevo zu sehen, der physische Raum ragte in Ruinen aus der Stadtlandschaft. Daneben kommentierten Grundrisse auf Sand einen urbanen Alltag, im sogenannten Ernstfall sollten Menschen, die sich in den Bunker flüchten, durch Sandfilter geschützt werden. An einem Ort, der per se aus Sicherheitsgründen errichtet wurde, sind Qualitäten wie Unsicherheit und die konstant im Raum zu empfindende Verletzbarkeit der 33
Ebd. »Urban Shelter?« Einführungstext zur Ausstellung von Annett Zinsmeister im B*NK*R München, kuratiert durch sektion.a, Wien, 30. 9. 2016–26. 2. 2017.
34
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Stadt und ihrer Bewohner_innen auf diese Weise spürbar. Von ambivalenter Gleichzeitigkeit in der Stadt der Gegenwart kündet in dem Kontext jedoch der Umstand, dass auch der Kunstraum selbst von einem Immobilienunternehmen betrieben wird. »München-Neuperlach: 4-Meter-Mauer gegen Flüchtlinge errichtet«, 35 titelte der Münchner Merkur im November 2016. Der Beitrag, zu dem ein Mitglied des örtlichen Bezirksausschusses angeregt hatte, schlug hohe Wellen. Berichtet wurde bald auch von anderen Medien – überregional und sogar international. Die ARD teilte auf ihrer Facebook-Seite einen Bericht des Bayerischen Rundfunks: »Nebenan entsteht eine Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge. Deshalb haben Anwohner in München vor Gericht den Bau einer Mauer erstritten. Die Mauer ist nun fast fertig – und vier Meter hoch.« 36 Die entsprechende Überschrift lautete: »Die Mauer von München« 37. Es sollte nicht lange dauern, da wurde der Lärmschutzwall selbst zum Stein des Anstoßes. Kamerateams, Schaulustige und Aktivist_innen suchten das Münchner Quartier am Rande der Stadt auf, Häuser wurden markiert, selbst ein Grenzübergang wurde aufgebaut. 38 Die Konfliktlinien verliefen nun nicht zwingend da, wo man sie auf den ersten Blick vermutet hätte. 39 Die Wirkung des Baus war als ästhetische Setzung in Anbetracht der politischen Situation jedoch fatal. Das Bild der 35
Carmen Ick-Dietl: »München-Neuperlach: 4-Meter-Mauer gegen Flüchtlinge errichtet«, in: Münchner Merkur, 17. 11. 2016 (MM), unter: https://www.mer kur.de/lokales/muenchen/ramersdorf-perlach-ort43348/muenchen-neuperlach4-meter-mauer-gegen-fluechtlinge-errichtet-6937101.html (Stand: 9. 7. 2017). 36 Anton Rauch: »Die Mauer von München«, in: Bayerischer Rundfunk, 5. 11. 2016, unter: http://www.br.de/nachrichten/oberbayern/inhalt/nailastrassemuenchen-fluechtlinge-100.html (Stand: 30. 11. 2016). 37 Rauch, MM. 38 Michael Schilling: »Satire-Aktion geplant: ›Münchner Tag des Mauerfalls‹«, in: Abendzeitung, 8. 11. 2016, unter: http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt. planer-sprechen-in-der-az-satire-aktion-muenchner-tag-des-mauerfalls.0710e66 8-f87e-4cbd-94dd-2820b62f79bd.html (Stand: 8. 7. 2017). 39 Anne Hoben: »Das ist irgendwie gelaufen wie bei so einer Facebook-Party«, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 11. 2017, unter: http://www.sueddeutsche.de/muen chen/neuperlach-das-ist-irgendwie-gelaufen-wie-bei-so-einer-facebook-party-1.3 267187 (Stand: 8. 7. 2017).
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Mauer symbolisierte Sicherheit vor dem Hintergrund von Verunsicherung. »Das Bedürfnis eines Menschen, enge, überschaubare und schöpferische Beziehungen zu einem überschaubaren Umfeld auszubilden, seine Lebensumstände zu gestalten, ist m. E. als natürliches Bedürfnis anzusehen«, 40 schreibt der Historiker Jürgen Hoffmann. »Die ›Suche nach Heimat‹ ist zunächst erst einmal Ausdruck dieses Bedürfnisses. Die Polemik ist deshalb nicht gegen das Bedürfnis nach Heimat, sondern vielmehr gegen die Manipulation dieses Bedürfnisses, seine Deformation und seinen politischen Missbrauch zu richten.« 41 6.
Entwicklungen
Quer, ein investigativ-satirisches Format des Bayerischen Fernsehens, befasste sich im Sommer 2016 zum wiederholten Mal mit dem Thema Wohnungsnot. »Die Mieten steigen und steigen«, hieß es dazu im Kommentar, »das hat vor allem einen Grund – Niedrigzinsen. Nullzinsen – was nach News für Börseninsider klingt, betrifft in Wirklichkeit uns alle.« 42 Verwiesen wurde damit auf den Konnex globaler Märkte und lokaler Phänomene wie der historischen Wohnraumknappheit in der bayerischen Landeshauptstadt. Wenngleich in Vergangenheit und Gegenwart die neoliberale Entwicklung der Märkte in Abhängigkeit von politischen Entscheidungen die Profitabilität von Wohnen erst konditioniert und damit die Physis der Stadt zum Speicher eines kapitalistischen Überflusses gemacht haben, wie David Harvey sagt, verdeutlicht ein Blick auf die Mikroebene des städtischen Alltags, dass der viel beschworene Ausverkauf der Städte gleichsam von vielen Akteur_innen befeuert wird. »So billig wie jetzt wird das Geld nicht mehr«, lautet eine Aussage, die in den vergangenen 40
Jürgen Hofmann: »Heimat als Realitätsbezug. Überlegungen zum marxistischen Heimatbegriff«, in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie: Heimat. Zwischen Ideologie und Utopie 1987 (HR), S. 29. 41 Ebd. 42 Wohnungsnot, Eintrag auf der Facebook-Seite des TV-Magazins Quer, unter: https://www.facebook.com/quer/?fref=ts (Stand: 25. 8. 2016).
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Jahren besonders häufig zu hören ist, und kommerzielle wie private Eigentümer_innen, Vermieter_innen und ihre Mieter_innen an ganz konkreten Orten mit einer ökonomischen Globalisierung verbindet. Investiert wird aufgrund der günstigen Kredite nicht nur in den Kauf von Immobilien, eine der beliebtesten, weil sicher erscheinenden Anlagemöglichkeiten ist die Investition in Betongold, sondern beispielsweise auch in den Ausbau von Dachgeschossen; diese Aktivität ist in der Regel mit begleitenden Arbeiten wie dem Einbau eines Lifts verbunden. Ohne Aufzug lässt sich der fünfte Stock nicht erschließen. Die Kosten für diese Maßnahme aber lassen sich auf die Mieten sämtlicher Bewohner_innen eines Hauses umlegen. Die gewonnenen Quadratmeter unter dem Dach bewegen sich üblicherweise im Bereich der gehobenen Ausstattung. 43 Die Politikwissenschaftler Jens Sambale und Volker Eick beschäftigten sich bereits Anfang der 2000er Jahre mit der Frage, wie sich der Abbau des Sozialstaats in der Bundesrepublik auf alltägliche Lebenswelten auswirken wird. Zu diesem Zeitpunkt äußerte sich eine neoliberal ausgerichtete Politik beispielsweise im Verkauf von gefördertem Wohnraum. Zu nennen ist in diesem Rahmen auch die Privatisierung von staatlichen Institutionen wie Post und Bahn. Eine These von Jens Sambale und Volker Eick lautete nun, dass der Rückzug staatlicher Strukturen gerade über das Wohnen erfahrbar werden und diese Politik anhaltenden Einfluss sowohl auf die Objekte, die Wohnungen und Mietshäuser, als auch auf die Subjekte, also auch auf die Menschen, die in den Häusern leben und wohnen, haben wird. 44 Durch derart modifizierte Ordnungen verändern sich die Bedingungen im gesamten Stadtgefüge. Auf verschiedenen Ebenen führen Entwicklungen so zur Verschärfung der Situation. Ebenfalls in der Maxvorstadt ent43
Andrej Holm: Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert (MW), München 2014. 44 Jens Sambale / Volker Eick: »Ein neuer Nexus zwischen Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Lokale Fallbeispiele aus den USA, Kanada und der BRD«, in: Dies. (Hrsg.): Sozialer Wohnungsmarkt, Arbeitsmarkt(re)integration und der neoliberale Wohlfahrtsstaat in der Bundesrepublik und Nordamerika, Working Paper 3, JohnF.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien Berlin, S. 2–14.
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steht seit 2016 die auch medial viel beachtete Wohnanlage »Therese«. Ein »Zuhause im Herzen Münchens« mit 123 Quadratmetern kostet hier 1 260 400 Euro. 45 Besondere Aufmerksamkeit in der Stadtöffentlichkeit erfuhr ein Video, mit dem die Wohnungen im Vorfeld beworben wurden. Eine Frau mit blonden Haaren fährt auf dem Fahrrad durch die Umgebung des entstehenden Wohnareals vorbei an Buchläden und DIY-Geschäften. Der Umstand, dass die gezeigten Läden und Lokale im Stadtraum nicht so zu erfahren sind, weil sie sich nicht nebeneinander befinden, verweist auf Edward Sojas Rede von der hyperrealen Simcity, die zusehends an Bedeutung gewinnt. Mit dokumentarischem Anspruch wurde aus einzelnen Ansichten der Stadt ein Viertel gezeichnet, dass es in dieser Form und zumal an dieser Stelle nicht gibt. Zusammengesetzt aus Versatzstücken des lokalen Alltags, die viel über den gewünschten Lebensstil erzählen und ebenso über die Manifestation eines guten Lebens verknüpft mit Exklusivität, ist damit ein Raum entstanden, der in erster Linie auf Auslassungen basiert. Der Gemüsehändler, der seinen Laden mehrere Jahre unmittelbar neben der Durchfahrt zu »Therese« führte, kam nicht nur nicht im Film vor, sondern hat sein Geschäft inzwischen aufgegeben. Analog bewegen sich Infrastrukturen und die Bedingungen im Viertel, also das, was man als Lebensqualität bezeichnen kann, ohnehin auf einem hohen Niveau. Mit »Therese« bebaut wird das Gelände des ehemaligen Lichtwerks der Münchner Filmfirma ARRI, der Name ist eine Reminiszenz an die zweite bayerische Königin. Mit einem solchen Eingriff, der Umwandlung einer industriellen Nutzung in die größte noch zu bebauende Fläche im innerstädtischen Raum, kommen nicht nur andere Bewohner_innen in die Gegend, vor allem steigt mit den Preisen in der Anlage auch der gesamte Mietspiegel. 46 Wer ist von den Verschiebungen in einer ökonomisierten und zusehends mit Kapital aufgeladenen Stadt betroffen? Die Milieus der Oberschicht, die mit wachsenden Preisen auf längere Sicht 45
Instone Real Estate Development GmbH (Hrsg.): Therese – Maxvorstadt, unter: http://www.therese-maxvorstadt.de/ (Stand: 6. 7. 2017). 46 Holm, MW.
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keine Probleme haben, werden den Wandel wahrscheinlich über Veränderungen im städtischen Alltag feststellen, dessen Qualität gerade in München hochgepriesen wird. Diejenigen, deren Kosten im Verhältnis zum Einkommen am meisten zulegen, wohnen bei aller Heterogenität der Stadtteile ohnehin meist nicht oder nicht mehr in den Quartieren, von deren Bewohner_innen exorbitante Immobilienpreise beklagt werden, sondern separiert in Quartieren am Rande der (Innen)stadt. »47,8 Prozent der Bevölkerung gehören zur Mittelschicht«, 47 stellt die Wirtschaftswissenschaftlerin Judith Niehues im Rahmen einer Studie für das Institut der Deutschen Wirtschaft fest. »Derzeit gehört etwa jeder zweite in Deutschland zur Mittelschicht im engen Sinne. Besonders häufig sind dies Facharbeiter und Angestellte in qualifizierter Tätigkeit. Selbstständige, Beamte ab dem gehobenen Dienst und Angestellte mit hochqualifizierter Tätigkeit oder Leitungsfunktion erreichen hingegen häufig mindestens die obere Mittelschicht und zählen damit zu dem reichsten Fünftel der Gesellschaft.« 48 In diesem Bereich ist noch immer ein wesentlicher Teil an Personen auszumachen, der das Vermögen besitzt, – wenn nicht alleine doch zumindest gemeinsam mit der Partnerin oder dem Partner – in Häuser und Wohnungen zu investieren. Unbefristete und sehr gut dotierte Beschäftigungen in der Privatwirtschaft und der Faktor Erben machen es möglich, auch unverhältnismäßige Summen zu bezahlen. Inzwischen ist der Markt jedoch so angespannt, dass selbst ökonomisches Kapital, wenn es zur Verfügung steht, das Wohnen im Stadtraum auch für die Mittelschicht nicht zwingend garantiert. Die Suche nach einer passenden Wohnung allein stellt bereits ein massives Problem dar.
47
Judith Niehues: »Die Mittelschicht in Deutschland – vielschichtig und stabil«, in: IW Trends. Vierteljahresschrift zur empirische Wirtschaftsforschung, 1/2017, S. 3–20 (MO), unter: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-trends/beitrag/judithniehues-die-mittelschicht-in-deutschland-vielschichtig-und-stabil-322410 (Stand: 23. 6. 2017). 48 Niehues, MD.
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7.
Taktiken
»The ache for home lives in all of us, the safe place where we can go as we are and not be questioned«, 49 schreibt die Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou in ihrer Autobiografie. Ausgehend von Michel de Certaus Überlegungen zu einer »Kunst des Handelns«, ist im München der Gegenwart angesichts des knappen Wohnraums in besonders exponierter Weise das zu beobachten, was der Philosoph als Taktiken und Strategien bezeichnet. Wie die Kulturwissenschaftlerin Gabriella Muri mit Blick auf den Stadtraum erläutert, ermöglichen Strategien den Subjekten »über ein gewisses Maß an Eigenem zu verfügen, während mit Taktiken nur der Ort des Anderen angeeignet werden kann« 50. Während die Strategien den Raum organisieren und auf diese Weise mit »Macht durch Disziplinierung« 51 verbunden sind, versteht de Certau unter Taktiken »die widerständigen Praktiken der gewöhnlichen Leute, die Voraussetzungen der Welt zu unterlaufen« 52, wie Gabriella Muri ausführt. Der Blick ist zunächst auf die Taktiken gerichtet, mit denen Individuen – Singles, Wohngemeinschaften, Paare oder Familien – versuchen, an eine Wohnung zu kommen bzw. teuren Wohnraum zu finanzieren. »Bei den Mietern mit neuen Verträgen (bei denen das Mietverhältnis in den letzten vier Jahren begonnen hat und noch keine Mieterhöhung erfolgt ist), zeigte sich folgende Verteilung: 52 Prozent haben ihre Wohnung über eine Internetplattform gefunden, 31,8 Prozent über Freunde, Bekannte oder Kollegen. Der Rest wurde über Makler, Zeitungsinserate oder auf anderen Wegen fündig.« 53 Wie die Süddeutsche Zeitung im Sommer 2017 berichtete, kommen viele Wohnungen gar nicht erst auf den Markt. Das heißt,
49
Maya Angelou: All God’s Children Need Traveling Shoes, New York 1986, S. 196. 50 Gabriela Muri: Die Stadt in der Stadt: Raum-, Zeit- und Bildrepräsentationen urbaner Öffentlichkeiten, Wiesbaden 2016, S. 373. 51 Ebd., S. 107. 52 Ebd., S. 107. 53 Hoben, VW.
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wer über kein entsprechendes Netzwerk verfügt, kann nur schwer Teil der Stadtgesellschaft werden. Der städtische Immobilienmarkt ist mit Blick auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mindestens zweigeteilt. Am Beispiel von München verläuft bei allen strategischen Setzungen von Seiten Kommunalpolitik und Stadtverwaltung, was die Heterogenität der Milieus in den verschiedenen Quartieren angeht, eine nicht ausgesprochene, aber auf Immobilienseiten, in Wohnungsgesuchen oder Shopping-Guides deutlich artikulierte Grenze um die Territorien, auf die sich die Bemühungen von vermögenden Akteur_innen wesentlich konzentrieren. Niemals die Rede ist hier von Immobilien in Milbertshofen, an der U-Bahn-Haltestelle Dülferstraße, oder im Hasenbergl. Die Taktiken von Bewohner_innen mit wenig ökonomischem Kapital lassen sich wiederum in diesen Stadträumen verorten und funktionieren vor allem über soziale Netzwerke und eine Anbindung an kommunale Förderstrukturen. Spezifisch für die Mittelschicht ist eine Verknüpfung von sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital, das bei der Wohnungssuche oder der Finanzierung von Wohnraum eingesetzt wird. Wer zum Beispiel »über Freunde, Bekannte oder Kollegen an seine Wohnung gekommen ist, zahlt im Durchschnitt nur so viel wie die Mieter von Bestandswohnungen«, 54 berichtete die Süddeutsche Zeitung im Sommer 2017 auf der Grundlage eines Interviews mit dem Statistiker Göran Kauermann. Um sich im Stadtraum positionieren und vor allem halten zu können, wird massenhaft individuelle Kreativität eingesetzt. Mieten und Wohnen bedeutet dann, in einen taktischen Wettbewerb einzutreten. Die »Schlupflöcher«, mit denen es möglich ist, in bestimmten Stadtteilen trotz explodierender Preise noch etwas zu finden, werden auf diese Weise systematisch von der gesellschaftlichen Mitte ausgelotet und genutzt. Diese Besetzung von Räumen ist aber durchaus ambivalent zu sehen und wird auf die Dauer zu einer maßgeblichen Bedrohung für die soziale Ausgeglichenheit der Stadt. »Ein Paar mit einem Kind, das zweite wird bald geboren, lebt in einer Kleinstadt in Bayern. Da der Ehemann 54
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weiterhin in München arbeitet, hat er noch ein WG-Zimmer in der Stadt. Die Familie ist Hauptmieterin. Die Wohnung hat drei Räume, es gibt einen weiteren Mitbewohner. Aktuell ist die Wohnung renoviert worden, das dritte Zimmer soll nun ebenfalls vergeben werden. Die Familie verlangt für 23 qm rund 750 Euro im Monat. Auf die Frage, ob das nicht ein bisschen teuer ist, meint die Frau: ›Das kann man schon verlangen!‹« 55 Nahe der ebenfalls prosperierenden Kleinstadt hat die Familie vor einiger Zeit ein Einfamilienhaus erworben. Der Gedanke liegt nahe, dass das Münchner WG-Zimmer des Hauptmieters durch die Untervermietung der beiden anderen Räume zu einem sehr hohen Preis bereits finanziert ist. Dieser Fall, und das Szenario ist keine Ausnahme, unterstreicht, dass sich das Moralische einer solchen Taktik oder Wirtschaftsweise für Angehörige der Mittelschicht nicht auf Kollektiv oder Klasse, sondern im Wesentlichen auf den eigenen Klassenerhalt, das eigene gute Leben bezieht. Soziales und kulturelles Kapital ersetzt in Teilen ein ökonomisches Unvermögen. In anderen Fällen sind es die ökonomischen Mittel, die das fehlende soziale und kulturelle Kapital aufwiegen. Ein Neben- oder Miteinander vermögender und weniger vermögender Akteur_innen besteht nur noch in den wenigsten Hausgemeinschaften, oft in den Häusern von historisch gewachsenen Genossenschaften. Auf Grund der enormen Nachfrage besteht aber inzwischen nur noch in seltenen Fällen die Möglichkeit, überhaupt Mitglied zu werden, um in den Genuss von hochwertigem und durchaus bezahlbarem Wohnraum zu kommen. Durch das Vorschlagsrecht von Mitgliedern mit einer bestimmten Menge von Anteilen, das einige Genossenschaften praktizieren oder hohe finanzielle Einlagen, die vorab geleistet werden müssen, wird auch in diesen auf Gemeinschaft ausgerichteten Modellen die Verfügbarkeit von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital zunehmend entscheidend. Eine derart verfasste Stadtgesellschaft produziert Exklusion. Laut einer Studie von 2017 spielen die Kategorien Race, Class und Gender dabei eine wesentliche Rolle. »Je angespannter der 55
Simone Egger: »Feldnotiz zum Thema Wohnen«, 7. 8. 2016.
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Wohnungsmarkt, desto größer das Risiko für Diskriminierung. Wir sehen auch einen Trend, dass bestimmte Gruppen, Nationalitäten oder Asylsuchende von vornherein in Wohnungsanzeigen ausgeschlossen werden«, 56 sagt Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, zu den Untersuchungsergebnissen. Benachteiligungen für Bewerber_innen mit Kindern oder Migrationshintergrund sind offensichtlich. 57 Bei einem entsprechenden Einkommen sind Geschlecht und ethnische Zuschreibung weniger virulent. Die Kategorie Fremd wird im Wechsel mit dem Eigenen mittelbar über den Wohnungsmarkt produziert, wenngleich derartige Ausschlüsse rechtlich nicht zulässig sind. Partizipieren darf augenscheinlich, wer sich auf ein soziales Netzwerk stützen kann. Das individuelle Handeln wirkt sich damit immer auf einen kollektiven Zusammenhang aus, auch wenn dieser Effekt nicht intendiert ist. Die skizzierte Ambivalenz lässt sich auch auf anderen Ebenen beobachten. »Die heutigen Mittelklassen haben durch Aktienkäufe und Finanzanlagen dazu beigetragen, dass die Finanzmärkte so stark zugenommen haben, sind aber nun selbst auf Gedeih und Verderb in deren Volatilitäten verstrickt«, 58 kommentiert der Soziologe Oliver Nachtwey. Die Effekte dieser Entwicklungen aber prägen die Situation auf dem städtischen Wohnungsmarkt fundamental. Angesichts solcher Beispiele zeigt sich, dass das Wohnen ein komplexes Problemund Politikfeld ist, für das es aufgrund der verschiedenen Interessen und angesichts der Entwicklungen, die der gegenwärtigen Lage über die Immobilienfrage hinaus vorausgegangen sind, weder einfache Erklärungen noch einfache Lösungen geben kann.
56
dpa: »Ausländischer Name ist bei der Wohnungssuche eine Hürde«, in: Die Zeit, 22. 6. 2017, unter: http://www.zeit.de/news/2017-06/22/gesellschaft-aus laendischer-name-ist-bei-der-wohnungssuche-eine-huerde-22152805 (Stand. 1. 7. 2017). 57 Beate Brehm: »Keine Wohnung für Ausländer?«, in: Puls, 29. 6. 2017, unter: http://www.br.de/puls/tv/puls/experiment-rassismus-wohnungssuche-auslaender -100.html (Stand: 7. 7. 2017). 58 Nachtwey, AG, S. 82.
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Simone Egger
8.
Strategien
Eine Stadt hat das Potential, sich neu zu erfinden, zu verändern und vor allem verändert zu werden. Menschen, die den unterschiedlichsten Kategorien zuzuordnen sind, können die Räume der Stadt nutzen, um sich zu entfalten oder zu etablieren. Die Stadtsoziologin Saskia Sassen spricht inzwischen jedoch von einer De-Urbanisierung westlicher Städte. Mit einer Privatisierung in dem Ausmaß, das in den vergangenen zehn Jahren zu beobachten ist, gehen urbane Qualitäten verloren. Vormals kleinteilig angelegte Stadtviertel und -quartiere mit öffentlichen Plätzen und unterschiedlichen Besitzer_innen von Wohneigentum und Ladenflächen werden in ihrer Mischung von privatwirtschaftlichen Großprojekten abgelöst, die Stadt als Lebensraum wird überformt und umverteilt. Die Sozialwissenschaftlerin verfolgt im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts deshalb die Frage, wer in der Gegenwart an der Entwicklung von (westlichen) Städten beteiligt ist und was mit urbanen Gesellschaften angesichts immer komplexerer Kräfte und Dynamiken geschieht. »Who owns the City?«, lautet die Kernthematik ihrer Überlegungen. 59 Daran schließt der Gedanke an, wohin die gerade zu beobachtenden Prozesse und Phänomene in Zukunft führen. Eine Stadt ist generell gekennzeichnet durch Vielheit und eine gewisse Unabgeschlossenheit, was sich sowohl im Sinne einer sozialen und territorialen Zugänglichkeit als auch im Sinne einer Arrival City, um das Konzept von Saunders wieder aufzugreifen, interpretieren lässt. Saskia Sassen betont, dass es diese Verschiebungen gerade in Metropolen zu allen Zeiten gegeben hat. Oft sind die Veränderungen etwa in Gestalt einer Gentrifizierung von Arealen auch mit dem Verdrängen von Angehörigen bestimmter Milieus einhergegangen, so im Londoner Stadtteil Islington, in München Schwabing oder in Brooklyn, New York. 59
Saskia Sassen: »Who owns our cities – and why this urban takeover should concern us all«, in: The Guardian, 24. 11. 2015 (WC), unter: https://www.the guardian.com/cities/2015/nov/24/who-owns-our-cities-and-why-this-urbantakeover-should-concern-us-all (Stand: 3. 7. 2017).
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Auch ein Blick in die Münchner Stadtgeschichte illustriert exemplarisch die Kämpfe, die bereits in den 1960er Jahren – meist von Angehörigen einer Mittelschicht – um bezahlbaren Wohnraum geführt worden sind. 60 Eine Vorgehensweise, die erst in Aushandlung mit den sozialen Strukturen der modernen Stadt errungen wurde, ist etwa die Bürgerbeteiligung bei Bauvorhaben. Mit den gegenwärtigen Entwicklungen sieht Saskia Sassen dennoch einen Punkt erreicht, der die Zukunft der Stadt entscheidend mitbestimmt. Durch die Konzentration einer High-End-Immobilienentwicklung wird allen voran London in seiner physischen Struktur derart modifiziert und mit Geldwert belegt, dass Wandel und Aneignung, so die Prognose, bald nicht mehr möglich sein werden. Das urbane Leben wird verschwinden, sagt Saskia Sassen, Dichte und Heterogenität treten in den Hintergrund. Die Größe als drittes Kriterium von Georg Simmel bleibt allein bestehen. 61 »München ist attraktiv und beliebt. Die Bevölkerung wächst und die Wohnungsnachfrage ist hoch. Wohnungssuchende und Mieterinnen und Mieter müssen mit einem knappen Angebot und mit hohen Miet- und Immobilienpreisen leben. Die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum gehört zu den zentralen Herausforderungen der Stadt und des Münchner Wohnungsmarkts.« 62 Auf diese Herausforderung versuchen Politik und Verwaltung zu reagieren, indem beispielsweise mit dem München Modell regulierend auf die Ökonomisierung des urbanen Raums eingewirkt wird. Konkret geht es dabei um die Schaffung von gefördertem Wohnraum bei Bauvorhaben. »Tatsächlich kann man argumentieren, ist es beeindruckend, wie es der Landeshauptstadt München seit 1994 kontinuierlich gelingt, grundlegend in die 60
Simone Egger: »München – der urbane Lebensraum. Stadtplanung im Diskurs der 1960er und 70er Jahre«, in: Ute Elisabeth Flieger / Barbara Krug-Richter / Lars Winterberg: Ordnung als Kategorie der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung (Saarbrücker Beiträge zur Historischen Anthropologie 1), Münster und New York 2017, S. 235–237. 61 Sassen, WC. 62 Landeshauptstadt München: Ausstellung »München: einfach wohnen?« der Landeshauptstadt München in der Rathausgalerie 2012 (MÜ), unter: http:// www.zukunft-findet-stadt.de/zukunft/standderdinge.html (Stand: 19. 02. 2012).
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Privatnützigkeit der Eigentumsrechte privater Grundbesitzer_innen einzugreifen und eine Abschöpfungsquote des Planungsmehrwerts von 70 Prozent festzulegen (und zu erreichen). Wir deuten diesen in München praktizierten Eingriff in den Bodenmarkt explizit als eine Politisierung der Planungspraxis in Richtung einer Allgemeinwohlorientierung. Dies geschieht auf Grundlage eines agonistischen Impetus zur Beschneidung der Profitrate privater Grundbesitzer_innen beziehungsweise einer Durchsetzung der sozialen Verpflichtung von Eigentum.« 63 Was die Planerinnen Ilse Helbrecht und Francesca Weber-Newth skizzieren, ist jedoch nur ein Strang der Immobilienentwicklung. Die Landeshauptstadt München hat gleichzeitig ein Programm von über 800 Millionen Euro aufgelegt, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Demgegenüber steht die extreme Belegung des Stadtraums mit Kapital, eine Tendenz, die im Moment nicht umkehrbar erscheint. Angesichts dieser Besetzungen scheinen die Strategien von öffentlicher Seite dennoch zu kurz zu greifen, weil die Stadt über einzelne Segmente hinaus nicht als ganzheitliches Gefüge gedacht wird und die Wechselwirkung von Leben und Wohnen in der Regel kein Thema ist. Bereits der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich machte darauf aufmerksam, »daß ohne einen zureichenden Begriff von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen geplant wird, und ohne eine Neuordnung des Grund- und Bodenbesitzes Planung nicht möglich ist« 64. In der Reihe »Zukunft findet Stadt 2012« zeigte das Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Landeshauptstadt München zu Beginn des Jahres eine Ausstellung mit dem Titel »München: einfach wohnen? Wohnraum schaffen – Spielräume nutzen« 65. In der städtischen Rathausgalerie wurden ideale Wohnformen und konkrete Modelle für ein nachhaltiges Miteinander 63
Ilse Helbrecht / Francesca Weber-Newth: »Die Abschöpfung des Planungsmehrwerts als Repolitisierung der Planung? Eine neue Perspektive auf die aktuelle Wohnungsfrage«, in: Sub/Urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung 2017, S. 76–77. 64 http://www.suhrkamp.de/buecher/die_unwirtlichkeit_unserer_staedte-alexan der_mitscherlich_10123.pdf, (Stand: 17. 6. 2017). 65 MÜ.
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präsentiert. Ein Besucher kommentierte diese Inszenierung urbaner Lebenswelten im ausliegenden Gästebuch: »In München gibt es inzwischen fast nur Sozialwohnungen/gef[örderte] Wohnungen/Mü[nchen] Modell u. teure Miet- u. Eigentumswohnungen, ›Normalverdiener‹ sollen an den Stadtrand ziehen!!! (…) Für die Mittelschicht wird so gut wie nichts getan! Was für eine Politik ist das?« 66 Gegenüber der Baustellenzufahrt von »Therese« hat – eine räumliche Koinzidenz – die von der Landeshauptstadt München geförderte »Mitbauzentrale« ihren Sitz, die Bürger_innen dabei unterstützen will, über genossenschaftliche Modelle und Kollaborationen als selbstorganisierte Akteur_innen im Wohnbau aufzutreten. 67 Die Debatte um steigende Mieten und die Leistbarkeit der Stadt ist zugleich ein Ringen um Zugehörigkeit und Teilhabe. 9.
Aktivität
Der Ort, an dem man sich befindet, an dem man sich leiblich spüren und einschreiben kann, bleibt bedeutsam. »Man braucht«, so der Philosoph Rüdiger Safranski, »die Verankerung in einer jeweiligen lokalen Gemeinschaft, die zwar wechseln kann, aber nicht allzu häufig. Wir können global kommunizieren und reisen, wir können aber nicht im Globalen wohnen. Wohnen können wir nur hier oder dort, aber nicht überall zugleich.« 68 Zumeist ist es die unmittelbare Betroffenheit, die Bürger_innen in der Stadt aktiv werden lässt. Akut von der Verdrängung aus »ihren Vierteln« bedroht, sind – neben denjenigen, die gar nicht erst zur Mittelschicht gezählt werden – in erster Linie diejenigen Akteur_innen einer gesellschaftlichen Mitte, die mit begrenztem Gehalt zum Beispiel im öffentlichen Dienst tätig sind, künstlerisch arbeiten 66
Eintrag im Gästebuch der Ausstellung »München: einfach wohnen?«, 16. 1. 2012. 67 Landeshauptstadt München (Hrsg.): mitbauzentrale münchen, unter: http:// www.mitbauzentrale-muenchen.de/ (Stand: 18. 6. 2017). 68 Rüdiger Safranski, zitiert nach dem Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, unter: http://www.boersenblatt.net/637725/?t=newsletter (Stand: 24. 9. 2013).
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oder sich hochqualifiziert, aber ohne regelmäßiges Einkommen, freiberuflich an Projekten beteiligen und damit in prekären Verhältnissen leben. Mit dem Verlust der Wohnung ist in diesen Fällen zugleich ein Statusverlust verbunden, ebenso stehen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Bezug zum sozialen Netzwerk auf dem Spiel. Über die exorbitant wachsenden Preise zu klagen, gehört jedoch ebenso zum guten Ton wie die Selbstverständlichkeit, sich diese Summen auch leisten zu können. Nur selten ist die Rede von den Stadtbewohner_innen, die gar nicht erst an diesem Diskurs teilhaben. Der Stadtraum ist Wohnort und zugleich etwas, mit dem man sich auseinandersetzt, das von sozialen Bindungen durchzogen wird, das fremd bleiben kann, in jedem Fall aber Affekte auslöst. 69 Die Diskussion um bezahlbaren Wohnraum und die Zugänglichkeit der Stadt kann durchaus als Diskussion um Heimat verstanden werden. In Anlehnung an die Rede vom Recht auf Stadt, lässt sich die Frage nach einem Recht auf Partizipation, nach einem Recht auf Heimat für alle stellen. Der Topos »Eigen und Fremd« und dessen permanente Herstellung spielen in dieser Hinsicht ebenfalls eine zentrale Rolle, schließlich geht es in einem politischen Sinne um Teilhabe, um Einschließen und Ausschließen, um Vorteilsnahme und Zugehörigkeit. Die Mitte sucht sich zu differenzieren und wird vor allem im politischen Diskurs von »Anderen«, d. h. sowohl von oben als auch von unten, abgegrenzt. Mit Blick auf US-amerikanische Studien zu soziopolitischen Bedingungen und Strukturen, insbesondere am Exempel des Verhältnisses von Migrant_innen zu einer etablierten Mehrheitsgesellschaft, soll Heimat nach Ina-Maria Greverus nicht in einer faktischen Verquickung mit Gemeinschaft oder Tradition und damit überindividuell verstanden und Heimatlosigkeit entsprechend als Unwert aufgefasst werden. »Die auf ›adjustment‹ hin ausgerichtete Forschung versucht Heimat von der Person her als zu gewinnenden sozial-kulturellen Satisfaktionsraum abzustecken […].« 70 Durch die Globalisierung verändert sich die Wirt69 70
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schaft und ebenso die soziale und kulturelle Welt, die man erfahren kann oder auch vermessen muss. Die Postmoderne steht für die Ausdifferenzierung und Verknüpftheit der Gegenwart, für die mediale und infrastrukturelle Vernetzung und die angewachsene Beweglichkeit von Menschen, Dingen und Wissensbeständen jedweder Art. Vom Zustand der Großstadt lassen sich Prozesse und Entwicklungen ableiten, die die globale Gegenwart maßgeblich prägen. Deutlich wird auch, dass eine Behandlung der Symptome kurzoder langfristig nichts an den Kausalitäten, die hinter den Entwicklungen liegen, verändern wird, wenn sich die Motivation des Handelns nicht wandelt. »Beseelung statt Entseelung ist unser Antrieb«, heißt es beispielsweise über das Kollektiv SynCity. »Wir sind eine Gruppe von Stadtplanern, Architekten, Sozialwissenschaftlern, Journalisten und Kreativen, die für München – 50 Jahre nach Olympia – im gleichen Geiste eine neue, nachhaltige und spannende Stadtentwicklung umsetzen wollen – im Sinne von innovativ, lebensfroh, mutig, inklusiv, wandelbar, interdisziplinär, erschwinglich, sozial durchmischt, organisch, ökologisch, energieautark, lebendig, bunt, nachhaltig, gewachsen, amorph. Hierfür haben wir das Projekt SynCity entworfen – eine Stadt von allen für alle im Sinne von syntopisch.« 71 Diese Selbstbeschreibung verweist auf eine Gruppe von Akteur_innen, eine von mehreren, die sich in der jüngsten Zeit zusammenschließen, darunter auch die »Kooperative Großstadt« 72. Seit einigen Jahren setzt sich das »Bündnis bezahlbares Wohnen« 73 für die Rechte von Mieter_innen ein. Wie der »Münchner Mieterverein« 74 ist das Interesse der Initiative überindividuell und geht nicht von einem konkreten Fall aus, sondern stellt die Stadtgesellschaft als Kollektiv ins Zentrum der Bemühungen. 71
SynCity, unter: https://www.facebook.com/syncitymuc/ (Stand: 4. 7. 2017). Kooperative Großstadt e. G. (Hrsg.): Deine Idee in unserem Wohnhaus!, unter: http://kooperative-grossstadt.de/ (Stand: 4. 7. 2017). 73 Bündnis Bezahlbares Wohnen e. V. (Hrsg.): »Bündnis bezahlbares Wohnen«, unter: https://www.bezahlbares-wohnen.de/ (Stand: 4. 7. 2017). 74 Mieterverein Münchner e. V. (Hrsg.): »Münchner Mietermagazin«, unter: https://www.mieterverein-muenchen.de/ (Stand: 4. 7. 2017). 72
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10. Res Publica An Bedeutung gewinnt die Frage danach, was Heimat sein soll, ganz häufig dann, wenn es nicht mehr so klar ist, wo man sich zugehörig fühlen kann, wenn etwas passiert oder etwas verschwindet. Besonders greifbar wird das, was Heimat ist, also im Moment einer gefühlten oder konkreten Bedrohung. Etwas soll umgebaut oder abgerissen, die Umwelt nachhaltig verändert werden. Durch Naturkatastrophen, Krisen jedweder Art oder gar Kriege kann das, was als Heimat verstanden wird, auch unwiederbringlich zerstört sein. 75 In einer Disziplin, die sich aus der historischen Volkskunde heraus entwickelt hat und heute Kulturanalyse, Kulturanthropologie, empirische Kulturwissenschaft oder Europäische Ethnologie heißt, stand die Beschäftigung mit Heimat insbesondere seit den 1960er Jahren für eben die kritische politische Haltung, die ein Fach einnehmen kann, das alltäglichen Lebenswelten und deren Kontextualisierungen nachspürt, sich selbst reflektiert und nach kulturellen Ausdrucksweisen und sozialen Strukturen fragt. Eine kritische Analyse der Stadt muss in diesem Sinne bedeuten, die Situationen, in denen Menschen sich verhalten, leben, wohnen, denken und leiblich spüren, möglichst ganzheitlich, auf einer rationalen und ästhetischen Ebene, zu erfassen. Die Aufteilung der Stadt meint nicht nur Kapital und Planen, es geht um Empfindungen und soziale Strukturen, um Sehsüchte und Bedürfnisse. Was ausgehend vom Wohnen gedacht werden kann, gilt darüber hinaus auch für die Frage nach Zugehörigkeit. Heimat als Assemblage aus diversen beweglichen, affektiven wie territorialen Bestandteilen, lässt sich nicht ohne Weiteres reproduzieren oder eindimensional mit Geld bezahlen. Das AktivSein-Können, das Versichert sein, diese Dichte macht Heimat zu etwas, das der Postmoderne in ihrer ambivalenten Vielseitigkeit entspricht, weil es vieles gleichzeitig ist und damit zwischen Wohnraum und Stadt, Individuum und Kollektiv, zwischen Eigen und Fremd vermittelt. 75
Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden, München 2014.
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Um den Begriff der Situation von Jürgen Hasse aufzugreifen, müssen die von Herrmann Schmitz unterschiedenen gemeinsamen und persönlichen, aktuellen und zuständlichen Situationen in Bezug auf die Stadt zusammengedacht werden. »Individuelle Formen des Erlebens städtischer Szenen sind den persönlichen Situationen zuzurechnen, die jedoch stets durch das Leben in und Erleben von gemeinsamen Situationen bestimmt werden.« 76 Die Situationen wiederum sind auf der Ebene des Selbstverständlichen angesiedelt und markieren einen »Wahrnehmungs- und Erlebnisrahmen, in dem auch die Keimzellen für Bedeutungen liegen, die Menschen über ihr Empfinden hinaus mit etwas verbinden« 77. Die Frage, die sich daran knüpfen lässt, richtet sich auf den Punkt, an dem das Eigene als Bestandteil eines übergeordneten Zusammenhangs begriffen wird, d. h. wann beginne ich über meine eigenen Interessen hinaus aktiv zu werden, anderes nicht als fremd, sondern im Kontext mit mir und dabei durchaus auch in meinem eigenen Interesse wahrzunehmen? Oder ist es gerade die Kollaboration, die eben nicht oder noch nicht in der entsprechenden Reichweite geschieht? »Was Gemeinsinn bedeutet, gerät immer mehr in Vergessenheit. Eine demokratische Gesellschaft entsteht aber nur dort, wo sie über die partikularen, narzisstischen Interessen der Einzelnen hinausgeht«, 78 schreibt Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung über die Kategorie Wir. In ihrem Kommentar denkt die Journalistin über die Frage nach, wann Menschen beginnen, überindividuell im Sinne eines Kollektivs oder einer Gemeinschaft zu denken oder zu agieren. »Dass es im eigenen politischen oder demokratischen Interesse liegen kann, mehr Steuern zu zahlen oder die Schulden anderer abzubauen, dass es gute Gründe geben kann, religiöse Freiheiten zu schützen, auch wenn es nicht die eigene Konfession betrifft, dass es möglich ist, die Erfahrungen anderer zu verstehen, auch wenn man sie selbst nicht erlebt hat, dass die soziale Ausgrenzung einzelner Per76 77 78
Hasse, LS, S. 14. Ebd. Emcke, Carolin: »Wir«, in: Süddeutsche Zeitung (Wir), 17./18. 6. 2017, S. 5.
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sonen oder Gruppen alle als Gemeinwesen verletzen kann – eben das, was sich Gemeinsinn nennen kann, das droht verloren zu gehen.« 79 Auch die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist individuell nicht zu lösen. Das eigene Haus, das Oikos, ist zunächst einmal das Zentrum dieser Lebenswelt. Um Unterbringung und Ausstattung sorgt man sich, sichtbar wird dieser Zugang beispielsweise in der Materialität des Wohnens, im Erwerb von Gemütlichkeit. Hygge heißt ein aktuelles Produkt auf dem deutschsprachigen Zeitschriftenmarkt, das dänische Wort beschreibt die ästhetische Qualität des Wohlfühlens im Zuhause. 80 Wenn Bürger_innen den Zwang ihres Alltags, ihr Oikos, überwinden und in einen ethisch geführten Diskurs eintreten, bewegen sie sich im Sinne der klassischen Philosophie auf dem Gebiet der Polis. 81 Was bedeutet »sich solidarisch zu fühlen« und in einem kollaborativen Sinne zu handeln? Wie lässt sich ein gutes Leben überindividuell verwirklichen? Hannah Arendt setzte ebenfalls bei der Frage an, was die Polis für den einzelnen bedeutet, und weist darauf hin, dass Wirtschaftspolitik nicht die zentrale Ausrichtung einer Gesellschaft bestimmen kann und darf. 82 Weit über Diskussionen zu einem ethischen Bauen und einer gerechteren Verteilung von Eigentum hinaus, zielt auch ihr Nachdenken vor allem auf die Frage, an welchen Werten und Prämissen sich individuelles und kollektives Handeln orientiert. Die Akteurin aus der Familie mit der teuer vermieteten Münchner Wohnung ist in ihrer kleinstädtischen Lebenswelt analog um das Wohlergehen von Asylsuchenden bemüht. Stadt, Heimat, Wohnen, alle drei Topoi lassen sich ausschließlich als ambivalente soziale Komplexe verstehen. Während Edward P. Thomson die Idee der moralischen Ökonomie ausgehend von der Arbeiterklasse denkt, ist zu überlegen, was es für eine Ge79
Ebd., S. 5. Hygge-Magazin, unter: http://www.hygge-magazin.de/ (Stand: 4. 7. 2017). 81 Stephen J. Collier/Andrew Lakoff: »Ehics and the Anthropology of modern reason«, in: Anthropological Theory 4/2004, S. 425. 82 Hans-Martin Schönherr-Mann: Hannah Arendt: Wahrheit, Macht, Moral, München 2006, S. 126–131. 80
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sellschaft und ihre Mitte heißen kann, ethisch legitimierbar zu wirtschaften und ein urbanes Gemeinwesen im Blick zu haben. Klassen und Generationen übergreifende Aktionen werden notwendig sein, um die gegenwärtige Situation nachhaltig zu verändern. »Es braucht […] einen öffentlichen Diskurs, der ein demokratisches ›Wir‹ denken kann, das sich im gemeinsamen Sprechen und Handeln entdeckt und entwickelt«, 83 fordert Carolin Emcke in der SZ. Bibliographie Angelou, Maya: All God’s Children Need Traveling Shoes, New York 1986. Beck, Ulrich / Wolfgang Bonß / Christoph Lau: »Theorie reflexiver Modernisierung. Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme«, in: Beck, Ulrich / Wolfgang Bonß (Hrsg.): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt am Main 2000, S. 11–59. Brehm, Beate: »Keine Wohnung für Ausländer?«, in: Puls, 29. 6. 2017, unter: http://www.br.de/puls/tv/puls/experiment-rassismus-wohnungssuche-auslaen der-100.html (Stand: 7. 7. 2017). Bündnis Bezahlbares Wohnen e. V. (Hrsg.): »Bündnis bezahlbares Wohnen«, unter: https://www.bezahlbares-wohnen.de/ (Stand: 4. 7. 2017). Collier, Stephen J. / Andrew Lakoff: »Ehics and the anthropology of modern reason«, in: Anthropological Theory 4/2004, S. 416–434. dpa: »Ausländischer Name ist bei der Wohnungssuche eine Hürde«, in: Die Zeit, 22. 6. 2017, unter: http://www.zeit.de/news/2017–06/22/gesellschaft-auslaen discher-name-ist-bei-der-wohnungssuche-eine-huerde-22152805 (Stand. 1. 7. 2017). Egger, Simone: »München – der urbane Lebensraum. Stadtplanung im Diskurs der 1960er und 70er Jahre«, in: Flieger, Ute Elisabeth / Barbara Krug-Richter / Lars Winterberg: Ordnung als Kategorie der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung (Saarbrücker Beiträge zur Historischen Anthropologie 1), Münster und New York 2017, S. 213–240. Egger, Simone: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden, München 2014. Emcke, Carolin: »Wir«, in: Süddeutsche Zeitung, 17./18. 6. 2017, S. 5. Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch über das Heimatphänomen, Frankfurt am Main 1972. Harvey, David: Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution, Berlin 2013. 83
Emcke, Wir, S. 5.
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Simone Egger
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Simone Egger
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214 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Carolin Stapenhorst
Heimat entwerfen? Eine Annäherung durch Programme und Formen 1
1.
Heimat als Entwurfsthema
Die im Masterstudium der Architektur gestellten Entwurfsprojekte geben die Gelegenheit, neben den zwingend zu bearbeitenden Bedingungen des Entwurfs – wie seine Funktionalität, die Einhaltung legaler und normativer Setzungen, die Korrektheit seiner konstruktiven Fügung – weitere Aspekte theoretischer Natur zu vertiefen. Die Studien in Bereichen, die nicht direkt in das architekturimmanente Bedingungsfeld gehören, tragen zur Definition von Leitgedanken für den Entwurf bei und führen im Idealfall zu einem Mehrwert für das Projekt, das der Architekt und Theoretiker Oswald Mathias Ungers mit dem Begriff der »Thematisierung der Architektur« umschreibt. 2 Unter dieser Prämisse nennen die Lehrenden in der Aufgabenstellung zum Entwurf neben den Angaben zum Ort und der Funktion der zu planenden Intervention weitere Aspekte, die innerhalb des Entwurfsprozesses zu entwickeln sind. Im hier beschriebenen Fall wurde den Studierenden aufgetragen, in Bezug auf den abstrakten und gleichzeitig klischeebeladenen Begriff »Heimat« persönliche Stellnahmen zu Programmen und Formen zu entwickeln, die diesen Begriff innerhalb einer entworfenen Ar1
Bei diesem Text handelt es sich um die Beschreibung eines Entwurfsprojektes innerhalb des Architekturstudiums, geschrieben aus der Sicht des Fachbereichs. Begrifflichkeiten wie »Raum«, »Ort« und »Kommunikation« werden aus dieser Perspektive heraus verwendet und sind in Präzisionsgrad und Bedeutung nicht in allen Teilen deckungsgleich mit ihren Definitionen innerhalb der Neuen Phänomenologie. 2 Oswald Mathias Ungers: Die Thematisierung der Architektur, Salenstein 1983.
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Carolin Stapenhorst
chitektur reflektieren – sie sollten Heimatformen bzw. Formen von Heimat entwickeln. 3 Wie es zu dieser Aufgabe kam und auf welche Weise mit ihr umgangen wurde, wird im Folgenden beschrieben. 1.1 Ein Fundstück Die thematische Setzung der Entwurfsaufgabe »Heimat formen« ergab sich durch ein Fundstück (Abb. 1). In der Vorbereitungsphase des Kurses besichtigten wir verschiedene Teile Dresdens, da schon früh feststand, dass wir ein Entwurfsprojekt in Dresden anbieten möchten. Eigentlich auf der Suche nach einem geeigneten Grundstück zeigte mir meine Kollegin Carola Neugebauer die Großwohnsiedlung Prohlis im Südosten Dresdens, in der sie selbst aufgewachsen war. Die Erscheinung von Prohlis wird durch bis zu siebzehngeschossige, in der Nachwendezeit sanierte, Plattenbauten geprägt. Wohnbauten wie auch öffentliche Gebäude sind in den Systembauweisen der DDR ausgeführt, dazwischen liegen großzügige und gut genutzte Grünanlagen. Zu meiner (durch Vorurteile gegenüber Plattenbausiedlungen bedingten) Überraschung erschien Prohlis als ein Quartier, das von seinen Bewohnern gerne bewohnt wird. In einem der grünen Zwischenräume zwischen den siebzehngeschossigen Punkthochhäusern stießen wir auf eine kleine Gartenhütte mit einem umgebenden Nutzgarten. Die Hütte selbst schien ein vorgefertigtes Exemplar aus dem Baumarkt zu sein, wurde aber gekrönt von einem eigens angefertigten, sternförmigen Schild, zum Teil mit Graffiti angesprüht, mit einem Schriftzug aus Glühbirnen: HEIMAT; direkt über dem zum Nutzgarten gehörenden Komposthaufen. Wie sich zeigte, stand die Hütte in unmittelbarer Nähe des einzigen bis heute erhaltenen Hofgebäudes des ursprünglichen 3
Das Masterprojekt »Heimat formen« wurde im Wintersemester 2015/16 und im Sommersemester 2016 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University von der Juniorprofessur »Werkzeugkulturen« in Kooperation mit der Juniorprofessur »Sicherung kulturelles Erbe« durchgeführt.
216 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Heimat entwerfen?
Abb. 1: Ein Fundstück zur Heimat
Dorfs Prohlis, dem Palitzsch-Hof. 4 Das Bild der HEIMAT-Hütte, entstanden als schnell mit dem Mobiltelefon gemachtes Foto – ein Fundstück, eine Kuriosität – ließ uns nicht mehr los. War die Hütte das Zeichen einer positiven Aneignung der Freiräume durch die Bewohner? War der Heimat-Schriftzug sachte ironisch gemeint oder eine Kritik an der drastischen Überformung des ehemals ländlichen Ortes durch die Gebäude der Großwohnsiedlung? Stand sie deshalb neben dem scheinbar einzig erhaltenen Fragment der Ortsgeschichte – als Ausdruck von Nostalgie? Und aus der Sicht der Architektur: wie sehr führt die Hinzufügung eines grundsätzlich einfachen und direkten Zeichens – das sternförmige Schild mit dem Schriftzug – zur Bedeutungsaufladung eines so banalen Objekts wie einer massengefertigten Hütte aus dem Baumarkt? Kann diese zum Objekt einer theoretischen Untersuchung werden wie die von Marc-Antoine Laugier analysierte Vitruvianische Urhütte? 5 Wird die Hütte zu einem identitätsstiftenden Element?
4
Im Jahr 2005 wurde dort das Palitzsch-Museum eingerichtet, in dem es unter anderem eine Dauerausstellung zur Ortsgeschichte von Prohlis gibt. 5 Vgl. Marc-Antoine Laugier: Essai sur l’architecture, Paris 1753.
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Carolin Stapenhorst
Die Anzahl der Fragestellungen veranlasste uns letztendlich dazu, das Bild der Hütte zum Ausgangspunkt für die Formulierung einer Entwurfsaufgabenstellung zu machen, innerhalb derer überprüft werden sollte, ob und wie man Heimat entwerfen kann: »HEIMAT ist [normativ] kontrovers. Sie ist zum einen ein wertvolles Gut, das im besten Fall dem Menschen Geborgen- und Vertrautheit, Bindung und Identität, Kontinuität und Verwurzlung ist. Sie ist zum anderen – im schlimmsten Fall – für Menschen verloren durch Vertreibung, Krieg oder exklusives Handeln und Denken, das sie von Räumen, Netzwerken und/oder Aktivitäten ausschließt. HEIMAT ist zudem ein vielschichtiges Konzept bzw. Gefühl, das gebunden ist an Räume, Formen, Mitmenschen/Interaktionen, Tätigkeiten, Erinnerungen, Kommunikation, Traditionen, Zeit … Was und wie ist also HEIMAT für jene, die sie haben und für jene, die sie suchen? Welche HEIMATformen bieten Stadtraum und Architektur? Wie formen wir als Architekten und Stadtplaner HEIMAT? Das sind die zentralen Fragen, denen Sie und wir uns konzeptionell-theoretisch wie praktisch-entwerferisch im Projekt HEIMATformen annehmen. Sensibilisiert durch thematisch gebundene Übungen und eine Exkursion nach Dresden, dem Ort der konkreten Auseinandersetzung, ist letztlich ein kritisches Verständnis des HEIMATkonzeptes und dessen architektonische Positionierung / Ausformung Ziel des Semesterprojektes.« 6
1.2 Ein Ort – Dresden Der Ort Dresden war gesetzt und das Fundstück in Prohlis bestärkte diese Entscheidung zusätzlich, zeigt doch gerade die Geschichte der Stadt Dresden exemplarisch, wie weitgehend Ereignisse und Systemwechsel Orte transformieren und dabei auch die Konzepte von Identität und Heimat involvieren. Gleichzeitig erschien die Kombination des Heimatbegriffes mit dem Ort Dres6
Carolin Stapenhorst / Carola Neugebauer: »Heimat formen. Formulierung der Aufgabenstellung des M1|M2.1-Projektes im Semesterprogramm«, unter: www. wk.arch.rwth-aachen.de/go/id/kvha (Stand 22. 12. 2017).
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Heimat entwerfen?
den riskant – genau in die Vorbereitungszeit der Entwurfsaufgabe fielen die Dresdner Pegida-Kundgebungen mit stetig steigenden Teilnehmerzahlen, die im Oktober 2015 ihren Höchststand erreichten. Das hatte Auswirkungen auf uns Lehrende, die wir die Aufgabe stellten, wie auch auf die Studierenden, die sie bearbeiteten. Die Relevanz einer ernstgemeinten Reflexion des HeimatBegriffes erschien angesichts des tagespolitischen Geschehens besonders hoch, gleichzeitig wollten wir eine Politisierung der Entwurfsaufgabe und der Entwurfsergebnisse vermeiden – Architektur ist eine in hohem Maße öffentliche Aufgabe, die in der Gestaltung unserer Zivilgesellschaft eine aktive Rolle hat; wir wollten sie allerdings nicht als Ausdrucksmittel politischer Haltungen verstanden wissen. Jede materielle Überschreibung eines Ortes bringt auch immaterielle Überschreibungen mit sich. In Dresden erscheinen die materiellen Überschreibungen tiefgreifend – vom Dresdner Barock über die Würdigung der Stadt als »Elbflorenz« Anfang des 19. Jahrhundert, sodann fast vollständig durch die Bombardierungen des 2. Weltkriegs zerstört, wiederaufgebaut mit der Rhetorik und den baulichen Mitteln des sozialistischen Ostdeutschlands bis zur erst ökonomisch spekulierenden und dann rekonstruierenden Tendenz der Nachwendezeit. Wie definiert nun ein Dresdner seine Heimat; mit welchem Zeitabschnitt identifiziert man sich. Wie stellt man in der Stadt, in der das Denkmal der Ruine der Frauenkirche durch ihre Rekonstruktion ersetzt wurde, die Frage nach der Authentizität? Kann ein Trauma wie das der Kriegszerstörung dazu führen, dass man in seiner Heimatstadt fremd wird? Und verhilft dann die Reparatur oder eher die Rekonstruktion dazu, in ihr wieder heimisch zu werden? Dieser Fragenkomplex, der vor allem in der Denkmalpflege intensiv diskutiert wird, berührte auch unsere Aufgabenstellung für einen Entwurf in Dresden. Für die Studierenden erfolgte die wichtigste Annäherung an den Ort Dresden durch eine mehrtätige Exkursion (Abb. 2). Es fanden Besichtigungen mit architektonischen Schwerpunkten statt wie eine ausführliche Führung durch die Dresdner Innenstadt, in der die verschiedenen Standpunkte zu den Transforma219 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Carolin Stapenhorst
Abb. 2: Eindrücke der Dresden-Exkursion: Stadtsilhouette am Elbufer, Großformen und Kunst im öffentlichen Raum in Prohlis, Internationaler Garten in Johannstadt (von links nach rechts)
tionen der Nachwendezeit thematisiert wurden, sowie die Besichtigung des Dresdner Landtags, der Großwohnsiedlung Prohlis, der Elbvillen und der Stadtvillen (Würfelhäuser genannt) im Stadtteil Striesen. Daneben gab es eine Reihe von Treffen mit Akteuren des Dresdner Stadtgeschehens – mit Mitarbeitern des Stadtplanungsamtes, Vertretern des Ausländerrates und den Initiatoren des »Internationalen Gartens« in Dresden-Johannstadt. Insbesondere vom letztgenannten Treffen im »Internationalen Garten« 7, einem Gemeinschaftsgarten, in dem kleine Nutzgartenflächen für Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern angeboten werden, um dort Obst und Gemüse anzubauen, zeigten sich die Studierenden tief beeindruckt. Wie stark kann ein kleines abgestecktes Feld, in dem man die Kräuter seines Herkunftslandes anbauen kann – das man sich also anzueignen und somit sich selbst auszudrücken vermag – Heimat-stiftend sein?
7
Internationale Gärten Dresden e. V.: »Gärten ohne Grenzen«, unter: www. gaerten-ohne-grenzen.org (Stand 22. 12. 2017).
220 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Heimat entwerfen?
Abb. 3: Das Grundstück und seine Umgebung im Schwarzplan
Neben dem Verständnis der Stadt Dresden und seiner Geschichte als Gesamtgefüge bot die Exkursion den Studierenden die Gelegenheit, das konkrete Grundstück der zu planenden Intervention zu analysieren (Abb. 3). Östlich der Inneren Altstadt liegt das Grundstück genau zwischen den Stadtteilen Johannstadt und Striesen, die von jeweils sehr unterschiedlichen Bebauungsstrukturen geprägt werden. In Johannstadt wurden die kriegszerstörten Blockrandbebauungen in der Nachkriegszeit durch Großformen wie Zeilenbauten und Punkthochhäuser ersetzt, während in Striesen die prägende Struktur von »Würfelhäusern«, freistehenden, drei-bis viergeschossigen Mehrfamilienhäusern mit der äußeren Anmutung von Stadtvillen aus der Gründerzeit, größtenteils erhalten geblieben ist. Das trapezförmige Grundstück liegt zudem entlang der Fetscher Straße, die zur Waldschlößchenbrücke führt und als wichtige Verbindungslinie zwischen Großem Garten und Radeberger Vorstadt fungiert. Baurechtlich führt diese besondere Position dazu, dass sowohl die Dichte der Striesener Bebauung wie auch die punktuell großen Bauhöhen aus Johannstadt aufgenommen werden können. Mit welchen Mitteln die 221 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Carolin Stapenhorst
Abb. 4: Sammlung zum Heimat-Begriff in der Architektur
Studierenden über die rechtlichen Bedingungen hinaus die Charakteristika des Grundstücks als Ort erfahren haben, wird im Folgenden beschrieben. 2.
Annäherungen an einen komplexen Begriff
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Entwurfsaufgabe, die die Studierenden bekamen, aus einem konkreten Ort – hier im Sinne eines Grundstück mit seiner Positionierung in der Stadt, Typen der Umgebungsbebauung und baurechtlichen Vorgaben – und einem abstrakten Begriff (Heimat) bestand. Das funktionale Programm des Entwurfs war von ihnen in Bezug auf diese zwei Setzungen selbst zu entwickeln. Die wichtige, initiale Phase des Entwurfsprozesses bestand nun darin, den Ort detailliert zu erfassen und eigene Inhalte in Bezug auf den Heimatbegriff zu entwickeln, die sich in städtebauliche und architektonische Setzungen transferieren ließen. Mit einer gegebenen Sammlung von 222 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Heimat entwerfen?
Abb. 5: Übung 1: Heimat-Boxen
Assoziationen zum Heimatbegriff (Abb. 4), die über die Klischees hinaus auf die Bearbeitbarkeit des Begriffs in der Architektur verwiesen, näherten sich die Studierenden in mehreren Übungen an die Übertragung in eigene Positionen an. Übung 1: die Heimat-Box Die erste von den Studierenden zu bearbeitende Übung war die sogenannte »Heimat-Box«. Jeder Teilnehmende bekam einen weißen (Torten-)Karton ausgehändigt, in dem am ersten Tag der Exkursion zu präsentieren war, was für sie Heimat ausmacht. Dreizehn Studierende unterschiedlicher Herkunftsländer zeigten teils abstrakte, teils konkrete Objekte, die mit ihrer Heimat – in dieser Übung oft verstanden im Sinne der Herkunft – verknüpft waren (Abb. 5): Katasterpläne des Elternhauses, Bronzepyramiden, Butterbretzeln, gemischte Tüten aus dem Kiosk, Erdboden, Kohle, Musikstücke, orientalische Duftspender, Kohle, Fotografien, 223 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Carolin Stapenhorst
Äpfel und ein Karton voller Gelatine, der von seinem Verfasser wie folgt beschrieben wurde. »Die Heimat ist ein Körper. Sie ist das Innen, durch das sich der Heimische wie getragen bewegt. Und wo er die vertrauten Dinge mit warmen Augen durchblinzelt.« 8
In dieser ersten Sichtung wurde der Heimatbegriff in fast allen Fällen mit den Themen Herkunft, Erinnerung, Vertrautheit und Sicherheit verknüpft, in allen Fällen wurde er auf der ganz persönlichen Gefühlsebene angeordnet. Übung 2: Subjektive Karten Die zweite Übung, die während der Exkursion durchgeführt wurde, war die zeichnerische Analyse des Grundstücks und seiner Umgebung durch subjektive Karten. Noch vor der Exkursion bekamen die Studierenden einen Impulsvortrag durch die belgischniederländische Gruppierung »Dear Hunter«, die im Auftrag verschiedener öffentlicher Träger Ortsanalysen in städtischen Transformationsprozessen durchführt, indem sie sich mehrere Monate mit einem Container im zu analysierenden Bereich platzieren, um so vor Ort zu leben, Karten zu zeichnen und zu schreiben. Sie unterstreichen die bewusste Subjektivität ihrer Karten, die »spezifisches, symbolisches und ›intimes‹ Wissen enthalten […], eine andersartige Perspektive auf eine bestehende Situation liefern und zu Einsichten führen, die in räumlichen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen angewendet werden können.« 9 So zeichnete auch jeder Studierende vor Ort eine Karte, in der 8
Adrian Heints: Begleittext zur Heimat-Box. Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. 9 Marlies Vermeulen / Remy Kroese: »our maps contain specific, symbolic and ›intimate‹ knowledge […] the maps […] offer a different perspective on an existing situation and lead to insights applicable within spatial, economical or cultural development.«, unter: www.dearhunter.eu/About-Dear-Hunter (Stand 22. 12. 2017).
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Heimat entwerfen?
das Grundstück mit seiner näheren Umgebung abgebildet wurde. Die Subjektivität der Karten konnte dabei als selektiver Filter verstanden werden – die Studierenden hatten nicht zum Ziel, eine möglichst realistische und vollständige Abbildung des Ortes anzufertigen, sondern zeichneten nach einem langen Rundgang im Gebiet aus der Erinnerung heraus die Gegebenheiten, die sie als besonders ortsprägend empfunden hatten (Abb. 6). Diese erste Schicht der Zeichnung, mit schwarzem Stift ausgeführt, zeigte ausschließlich die Wahrnehmung des jeweiligen Verfassers. In einem weiteren Schritt sprachen die Studierenden mit den Bewohnern der näheren Umgebung und befragten sie zu ihrer Meinung nach wichtigen Merkmalen des Orts. Diese wurden mit einem roten Stift auf der Karte eingetragen. In vielen Fällen zeigten sich die roten Eintragungen als Ergänzungen oder Präzisierungen, in einigen Fällen als Korrekturen oder Widersprüche zu den von den Studierenden hinsichtlich ihrer eigenen Wahrnehmungen gemachten Eintragungen. In allen Fällen versuchten die Studierenden, neben der rein visuellen Information auch die narrativen Elemente zu zeichnen, die charakterisierend auf den Ort wirkten. Insbesondere durch die Gespräche mit Bewohnern der Umgebung hatten sie Geschichten erfahren, die die Vergangenheit und die Zukunft des Gebiets betrafen, die also für den Außenstehenden unsichtbar waren und trotzdem die Identifikation der Bewohner mit ihrem Quartier beeinflussten. Die erzählten und dann gezeichneten Informationen der Bewohner zeigten ihre Bewertungen zu den Eigenschaften des Gebietes – zum Beispiel Stolz über die Nähe zum Campus der Universitätskliniken, oder Sorgen über die anstehende Einrichtung einer temporären Flüchtlingsunterkunft auf der gegenüberliegenden Seite des Entwurfsgrundstücks. Übung 3: Stegreifentwürfe zur Heimat Als letzte Übung zur Annäherung an das Thema wurde am letzten Tag der Exkursion ein Stegreifentwurf aufgegeben, der zwei Wochen später fertigzustellen war und in dem »kleine Projekte zu pervasiven, temporären Interventionen im Quartier […] Installa225 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Carolin Stapenhorst
Abb. 6: Übung 2: Subjektive Karte zum Grundstück, Luzie Edelhoff
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Heimat entwerfen?
Abb. 7: Übung 3: »Das Haus der Fremde«, Nils Oehler
tionen, Ereignisse, Objekte, Maschinen, […], mit denen Sie das Quartier von Dresden-Striesen bespielen, beleben, besetzen« 10, gefragt waren. Viele der Studierenden nutzten die Stegreifübung zur Initialisierung ihre eigentlichen Entwurfsarbeit und entwarfen auf dem Grundstück temporäre Zwischennutzungen, die in vielen Fällen auch in den folgenden Programmen und Projekten eine Rolle spielen sollten: die Nutzung des von Erdhügeln bedeckten Grundstücks für eine BMX-Fahrrad-Trainingsstrecke, die Nutzung als Spielplatz oder für Kleingärten. Es wurden verschiedene Mini-Interventionen für die Umgebung vorgeschlagen, die vor allem der Kommunikation und der Aktivierung dienen sollten: Bushaltestelle, deren Wände als schwarze Bretter fungieren, Stelen, die Quartiersgeschichte erzählen oder öffentliche Bücherschränke an strategischen Stellen. Ein Stegreifentwurf, der sich auf besonders eindrückliche Weise direkt mit dem Heimat-Begriff auseinandersetzte, war das »Haus der Fremde« (Abb. 7). Als große, temporäre Installation 10
Formulierung der Aufgabenstellung im Exkursionsreader. Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University.
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Carolin Stapenhorst
auf dem Grundstück hat das »Haus der Fremde« 11 nach außen hin die Anmutung der umgebenden Würfelhäuser mit dem Habitus einer Stadtvilla. Allerdings ist das Gebäude im wörtlichen Sinne entwurzelt, ihm fehlt das Fundament, und seine metallischen Wurzeln klammern es mühsam am Erdboden fest. Wer in das Innere gelangen möchte, muss das Haus über eine freie, steile Treppe ohne Geländer erklimmen. Einmal im Innenraum angekommen, überrascht das von außen so vertraut wirkende Haus mit einer den ganzen leeren Innenraum füllenden Grafik, die ein Schwindelgefühl erzeugt. In einer weiteren Variante des Innenraums ist dieser völlig dunkel und macht eine Orientierung unmöglich. Die Installation ist als Testraum für all diejenigen gedacht, die erfahren möchten, wie es sich im Kontrast zum Heimisch-Sein anfühlt, ein Fremder oder in der Fremde zu sein. Bedeutet nicht das Heimisch-Sein vor allem, dass man orientiert ist? Man kann alle Zeichen lesen, einordnen und sich ihnen entsprechend verhalten – man kennt sich aus. In der Fremde dagegen ist man desorientiert, man versteht die Zeichen und Regeln anfänglich nicht und deshalb unterlaufen Fehler – man verirrt sich, womöglich verhält man sich falsch. Ist die Heimat also der Ort, über den wir die größte Expertise haben? Und können wir in der Fremde heimisch werden, weil wir diese Expertise im Laufe der Zeit entwickeln? 3.
Heimat als Programm
Die Entwurfsaufgabe zu »Heimat formen« ist ohne die Festsetzung einer bestimmten Funktion formuliert worden, sodass die Studierenden aufgefordert waren, Programme zur Heimat zu entwerfen. Nach der Bearbeitung der drei Übungen formulierten sie ein programmatisches Manifest zur Heimat, in dem sie in Form eines Kurztextes darlegten, welche Nutzungen einer Architektur in besonderer Weise mit dem Heimatbegriff verbunden sind bzw. welche Funktionen als besonders Heimat-stiftend begriffen wer11
Stegreifentwurf von Nils Oehler, Heimat in der Sprache.
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Heimat entwerfen?
den können. In einer folgenden theoretischen Ausarbeitung wurde der Zusammenhang zum Heimat-Begriff vertieft und schrittweise in ein detailliertes Raumprogramm für einen Architekturentwurf übertragen. Die Exkursion nach Dresden hatte den Studierenden eindrücklich gezeigt, dass das Spektrum von Reaktionen auf den Zuzug von Fremden von xenophoben Protestmärschen bis zu aktiven Angeboten zum Miteinander reichte. Eine große Zahl der entwickelten Programme reflektierte dies und schlug diverse Funktionen vor, die der Integration und somit dem Heimisch-Werden in der Fremde dienen konnten. Das Projekt »Heimat in Kochkulturen« entwarf eine halböffentliche Gemeinschaftsküche, die den verschiedenen Ritualen und Regeln der Essenzubereitung entsprach und mehrere große Räume für die Zeremonien des gemeinsamen Mahls zur Verfügung stellte. Das Projekt »Heimat durch Feste und Traditionen« entwickelte in ähnlicher Weise einen polyfunktionalen Veranstaltungsraum, in dem Feste wie zum Beispiel anlässlich der Einschulung, asiatische Mondfeste oder Familientreffen zur Bar Mitzwa stattfinden konnten. Gleich vier Programme und Projekte beschäftigten sich damit, inwieweit das Finden einer neuen Heimat mit den Möglichkeiten, sich selbst zu bilden, sich zu zeigen – auch in Bezug auf die ursprüngliche Herkunft – auszudrücken und mitzuteilen, zusammenhängt. Die Projekte »Schule für das Kunsthandwerk«, »Heimat durch Bildung. Räume für die Erwachsenenbildung«, Heimat durch Alltagsbewältigung. Eine Theaterwerkstatt für Flüchtlinge« und »Heimat durch Handel. Eine Markthalle« gingen diesen Aspekten nach. Einer andersartigen Überprüfung des Begriffs folgte das Projekt »Heimatliche Klischees in der Immobilienvermarktung. Eine Seniorenresidenz«. Hier wurden Werbeanzeigen für Wohnimmobilien auf die Verwendung des Heimat-Begriffs untersucht und analysiert, mit welchen Bildern der Begriff verknüpft wird. Die auffällig verbreitete Verwendung des Begriffs in der Vermarktung von Altersheimen – der in Teilen negativ belegte Begriff »Heim« wird hier oft durch den Begriff »Heimat« ersetzt – führte zu der Übertragung der theoretischen Recherche in das funktionale Programm einer Seniorenresidenz. 229 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Carolin Stapenhorst
Die theoretischen Vertiefungen und funktionalen Programme von vier Projekten, die im vierten Teil in ihrer architektonischen Ausformungen noch beschrieben werden, sollen hier in Auszügen kurz vorgestellt werden. Das Projekt »Partizipative Architektur und Heimat. Wohnkomplex mit Selbstbauanteilen« untersuchte den Heimat-Begriff in Bezug auf den näheren Lebensraum des Menschen (insbesondere gesehen als der private Wohnraum) und die Frage, inwiefern die aktive Mit-gestaltung dieses Raums die Identifikation und damit das Wohlbefinden in ihm steigert. Der Verfasser begründet sein Programm in Bezug auf den Heimat-Begriff wie folgt: »In den meisten Fällen aber ist der nähere Lebensraum eines Menschen zumindest mitprägend für dessen Heimatbild, dazu definiert Hermann Bausinger: ›Heimat als Nahwelt, die verständlich und durchschaubar ist, als Rahmen, in dem sich Verhaltenserwartungen stabilisieren, in dem sinnvolles, abschätzbares Handeln möglich ist – Heimat also als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der Aneignung, der aktiven Durchdringung, der Verlässlichkeit.‹ 12 Bezieht man diese Definition von Heimat nun auf Architektur, erscheint die Typologie des Wohnens am engsten mit ihr verbunden. Der Ort an dem ein Mensch wohnt, ist gleichzeitig sein engster Lebensraum sowie privater Rückzugsort, die Wahl sich an eben diesem Ort niederzulassen und sesshaft zu werden, bedingt die Voraussetzung einer gewissen Sicherheit und Stabilität des Umfeldes. Der nach Bausinger dazugehörige Bereich der ›Aneignung‹ setzt voraus, dass das Umfeld dem Menschen erlaubt, sich in diesem frei entfalten zu können, somit eine persönliche Entwicklung an diesem Ort als Individuum vorzunehmen. Im Umkehrschluss muss der Mensch also auch die Freiheit besitzen, sich den Ort anzueignen, an dem er lebt und ihn nach seinem Belieben verändern zu können, um seine eigene Entwicklung und ungestörte Lebensplanung zu verwirklichen. Den persönlichen Wohnraum eines Menschen als ›Bereich der Aneignung‹ zu bezeichnen, ist im Wohnungsbau des 20. und 21. Jahrhunderts jedoch mit Widersprüchen verbunden. Seitdem der Mensch in modernen Industriegesellschaften lebt, und besonders 12
Hermann Bausinger: »Kulturelle Identität – Schlagwort und Wirklichkeit«, in: Ders. (Hrsg.): Ausländer – Inländer, Tübingen 1986, S. 141–159.
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Heimat entwerfen?
in der heutigen, postindustriellen Gesellschaft, wird Wohnen vielmehr als ›bequemes Konsumgut denn als Aktivität‹ gesehen. Die oft fertig bezugsfähige und weitestgehend unveränderliche Behausung läuft damit Gefahr, besonders unpersönlich und austauschbar zu sein. Weiterführend ist sie oft zu statisch, um auf sich ständig wandelnde Lebenssituationen der Bewohner reagieren zu können. Daraus resultiert das Problem der Einschränkung in der freien Entfaltung eines Menschen bei Erhalt der bezogenen Unterkunft, oder er sieht sich dazu gezwungen seinen Lebensraum zu wechseln, um seinen persönlichen Lebensentwurf nach eigenen Wünschen ausführen zu können. Im ersten Fall bedeutet das eine Minderung des Heimatgefühls, da man sich nach beschränkenden, äußeren Rahmenbedingungen richtet und im zweiten Fall droht, durch Wechsel und die Austauschbarkeit des eigentlich intimsten privaten Raumes, sogar der Verlust von Heimat. Eine mögliche Lösung für das Problem könnte die sogenannte ›partizipative Architektur‹ darstellen. Auf den Wohnungsbau bezogen bedeutet dies, dass die Bewohner ein signifikantes Mitentscheidungsrecht haben, was die Planung und Gestaltung ihrer Unterkunft angeht.« 13
Das Projekt »Heimat und Grenzen. Wohntypologien und ihre Freiflächen« untersuchte das menschliche Bedürfnis der Abgrenzung zur Erstellung von Schutzräumen in Bezug auf verschiedene Typologien von Wohngebäuden und Freiflächen, wie sie auch in der direkten Umgebung des Grundstücks zu finden waren: Die Zeilenbauten, deren umgebende Freiflächen halböffentlich und nicht abgegrenzt sind und deshalb zusätzliche räumlich-architektonische Schwellen um das Gebäude herum erfordern, und die Würfelhäuser, die in einem abgezäunten gemeinschaftlichen Garten stehen, der ausschließlich privater Natur ist. Die Verfasserin des Entwurfes führte die Zusammenhänge von Heimat, Grenze, Privatheit und Öffentlichkeit wie folgt ein: »Die Heimat wird oft als ein persönlicher Ort, der Sicherheit und Vertrautheit bietet, beschrieben. Diese kulturell vertraute Umgebung schafft der Mensch sich selbst. Die Heimat ist so Gegenpol zum Be13
Simon Goliasch: Partizipative Architektur und Heimat, Auszug aus der theoretischen Ausarbeitung zum Entwurf, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University.
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griff der Fremde. Eine eindeutige, kompakte Definition dieses in seiner Gesamtheit nicht klar zu umgrenzenden Begriffes ist jedoch schwierig, da er viele verschieden Aspekte besitzt und zu unterschiedlichen Zeiten und für unterschiedliche Menschen verschiedene Bedeutungen hat. Wenn man den Begriff Heimat im Kontext des physischen Raumes als konkreten Ort untersucht, bezieht er sich auf die Gegend des gewöhnlichen Aufenthaltes des Menschen, als das eigene Territorium, das Habitat oder Lebensraum. Er besitzt dann einen klaren räumlichen Kristallisations-Kern. […] Norberg-Schulz erklärt in seiner Schrift ›Existenz, Raum und Architektur‹, dass der existentielle Raum des Menschen nicht gleichzusetzen ist mit einer abstrakten Räumlichkeit aber konkretisiert wird in der Erfahrung von Zentrum und Ort. Das Wahrnehmen eines Ortes verbindet er mit Begriffen wie Nähe, Zentralität und Schutz. Der existentielle Raum des Menschen beinhaltet viele Orte, die Teil eines größeren Territoriums, einer Domäne, sind und untereinander verbunden werden durch Pfade oder Wege. Da wo ein Pfad eine Grenze des Territoriums überschreitet, befindet sich eine Schwelle, ein Übergangsbereich. Die existentiell bedeutungsvolle Beziehung zwischen Ort, Pfad und Territorium findet auf verschiedenen Niveaus statt: In der Geographie, der Landschaft, auf städtischem Niveau, im Bereich des Hauses und auf der Ebene von Gegenständen, die miteinander in Beziehung stehen. 14 […] ›Kleine Kinder spielen gerne auf Flächen, deren Grenzen erkennbar sind – auf einem Teppich, unter einem Tisch, auf einer Decke, die auf dem Boden ausgebreitet ist. Die Welt eines Zimmers scheint ihnen zu groß, sie suchen Grenzen und Begrenzung, sie suchen ein Häuschen im Haus, das ihnen zu groß ist. Sie suchen sich ihren Raum, sie suchen sich Heimat. So lehren uns die Kinder: Wir sind zu klein, um in der puren Grenzenlosigkeit zu leben. Wir sind keine Riesen, wir brauchen Menschenmaße. […] Heimat ist kein unendlicher Ort, es ist ein Ort mit Grenzen und Konturen. In der ganzen Welt kann man nicht zuhause sein. Dazu ist sie zu groß und sind wir zu klein‹. 15 Es wird beschrieben, dass Heimat immer ein begrenzter 14
Vgl. Christian Norberg-Schulz: Existenz, Raum und Architektur, London 1972, S. 762. 15 Fulbert Steffensky: »Ein kleines Haus in einer großen Welt – Heimat finden in unbehausten Zeiten«, in: Klaus Hofmeister / Lothar Bauerochse (Hrsg.): Wissen wo man hingehört. Heimat als neues Lebensgefühl, Würzburg 2006, S. 163.
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Heimat entwerfen?
Ort und nie der unendliche Raum sein kann. Auf der anderen Seite kann Heimat aber auch als beengend erfahren werden.« 16
Das Projekt »Heimat in der Sprache. Ein Zentrum für Sprachkultur und Sprachkunst« nannte den Verlust der Heimat als eigentliches Moment der Bewusstwerdung derselben und zeigte in Bezug auf die Texte von Hilde Domin auf, inwieweit einer innere Heimat in der Sprache gefunden werden kann. »Das Bewusstsein für Heimat tritt in der Regel erst dann in einer Person hervor, wenn all das nicht mehr da ist, was Heimat bedeutet. Das Gefühl, welches doch eigentlich so selbstverständlich sein sollte. Die Fremde also als die unvermeidbare Verknüpfung und Opposition des Heimatgefühls? Heimat […], bildet ein dichtes Gewebe aus emotionalen, sozialen, räumlichen und symbolischen Strukturen, ist extrem subjektiv und nicht in ihrer Allgemeinheit definierbar. Sie betrifft vielmehr den einzelnen Menschen und seine Empfindungen und Erfahrungen. Was aber bleibt, nachdem sich in der Fremde alles als verloren erwiesen hat? Sicherlich ist es nicht verallgemeinerbar, sondern auch hier muss noch einmal der individuelle, persönliche Charakter der Heimat herausgestellt werden. Hilde Domin schreibt: ›Für mich ist die Sprache das Unverlierbare, nachdem alles andere sich als verlierbar erwiesen hatte. Das letzte, unabnehmbare Zuhause. Nur das Aufhören der Person (der Gehirntod) kann sie mir wegnehmen‹ 17. […] Der Sprache kommt dabei also viel mehr als die bloße Rolle eines funktionalen Kommunikationsmittels zu: ›Die Sprache, in der ich die Welt gewissenhaft benenne, gewissenhaft mitteilbar mache (und auch so mitteile, daß ich gehört werde), die kann nicht wegnehmbar sein, sie ist die äußerste Zuflucht. Dieses Zuhause verteidige ich bis zu meinem letzten Atemzug. Wie früher ein Bauer seine Scholle. Ich kann gar nicht anders.‹ 18 […] Die Bedeutung der menschlichen Sprache für das Heimatgefühl 16
Luzie Edelhoff: Heimat und Raum. Grenzen als definierender Faktor, Auszug aus der theoretischen Ausarbeitung zum Entwurf, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. 17 Hilde Domin: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, München 1992, S. 16. 18 Ebd.
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ist also etwas zutiefst Inneres und Persönliches. Etwas was nur die Person und ihr Denken selbst betrifft. Heimat aber muss in einem nächsten Schritt unweigerlich auch immer räumlich definiert werden. Die sprachliche Basis besitzt mit der Sprachgemeinschaft immer einen kulturellen Ort und einen architektonisch-räumlichen Bezug in der konkreten Welt. Was also ist Heimat und welche Rolle kann Sprache und architektonischer Raum bei der Entstehung von Heimatempfinden zukommen? […] Nachdem den Prinzipien der sprachlichen Struktur nachgegangen wurde, soll den Prinzipien des architektonischen Ausdruckssystems nachgeforscht werden. Dabei stellt sich vor allem auch die Frage nach der Analogie zwischen sprachlichen Strukturen und den Strukturen des räumlichen Ausdruckssystems. In welchem Maße kann also die Sprache der Architektur, neben der Sprache des Menschen, Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung und das Denken einer Person und inwieweit kann der architektonische Raum dadurch die sprachliche Basis des Heimatgefühls fördern und beeinflussen, oder vielleicht selbst zur Basis werden?« 19
Das Projekt »Heimat im Sterben. Ein Hospiz« kontrastierte den Heimat-Begriff mit dem Moment des finalen Verlusts und der Auseinandersetzung mit etwas zutiefst Fremden – dem Tod. Für das Moment des Fremd-werdens, das Sterben, entwickelt das Projekt auf der Ebene seines funktionalen Programms die Räume eines Hospizes. »Der Begriff der Heimat hat im Kontext der deutschen Geschichte eine belastete Konnotation. Im gegenwärtigen Verständnis wird Heimat auch deshalb selten verwendet, um einen Ort zu benennen, zu dem eine aktive Beziehung gepflegt wird. Geläufiger ist die Verwendung im Kontext einer Rückschau auf Herkunft und Kindheit. Diese historische Autorität des Ortes, als Erzeuger des sozialen Wesens und des Selbstverständnisses des einzelnen Menschen büßt er, im Laufe der Geschichte ein. Dies steht in engem Zusammenhang mit der Ausweitung räumlicher Ungebundenheit und Mobilität. Die Bewegung ist sowohl physiologisch wie psychologisch das 19
Nils Oehler: Heimat in der Sprache. Ein Zentrum für Sprachkultur und Sprachkunst, Auszug aus der theoretischen Ausarbeitung zum Entwurf, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University.
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Heimat entwerfen?
Wesensmerkmal des Lebendigen. Sie bildet aber auch die Grundlage einer differenzierten Wahrnehmung von Ich und Umwelt. Nach Freuds Modell der Entwicklung eines Realitätsprinzips lernt man ›durch absichtliche Lenkung der Sinnestätigkeit und geeignete Muskelaktion‹ zu unterscheiden zwischen den zwei Sphären: ›Innerliches – dem Ich angehöriges – und Äußerliches – einer Außenwelt entstammendes.‹ 20 So ist Bewegung grundlegend für Selbstreflektion und Verantwortungsfähigkeit. […] Vielleicht ist die Angst vor dem Sterben vor allem die Angst vor der Erfahrung einer Fremde in sich Selbst. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung und Anerkennung des Sterbens führt zu einer Differenz des Bewusstseins und verortet das einzelne Leben in Raum und Zeit und innerhalb einer Gemeinschaft. […] Gleichzeitig ist die Nachfrage nach einer Einrichtung, die würdevolle und persönliche Rahmenbedingungen für das Sterben ermöglicht, ebenso faktisch, wie der allgemeine Wunsch zuhause zu sterben. 21 Für die Befriedigung dieser Bedarfslage erscheint die Erweiterung des Verständnisses von ›Zuhause‹, die Überschreitung des Privaten und die Integration von Ort und Thema des Sterbens in das persönliche Leben unerlässlich. Als Symptomträger wie als bewusstes Ausdrucksmedium stellt Architektur eine soziale Äußerung dar. Im Kontext des Hospizes bezieht sich diese Äußerung auf den fürsorgebedingten Lebensabschnitt des Sterbens. Welchen Wert die Sterblichkeit des Einzelnen für sein Leben hat, koppelt sich an die Frage, welchen Wert die Begleitung der Sterbenden für die Gesellschaft hat. Das Hospiz ist die räumliche Kultivierung dieser gesellschaftlichen Wertschätzung, die sich nicht trennen lässt von der Kultivierung des Bewusstseins, persönlich betroffen zu sein.« 22
20
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930, S. 11. Vgl. Tanja Jankowiak: Architektur und Tod. Zum Architektonischen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Eine Kulturgeschichte, München 2010, S. 18. 22 Adrian Heints: Heimat im Sterben. Ein Hospiz, Auszug aus der theoretischen Ausarbeitung zum Entwurf, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. 21
235 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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4.
Heimat als Form
Nach der programmatischen Annäherung an den Heimat-Begriff stellte sich in allen Projekten die Frage nach der formalen Fassung des Begriffs – wie kann eine Architektur zur Heimat beschaffen sein? Drei grundsätzliche Ansätze bildeten sich dabei in den Projekten der Studierenden heraus und in den vier abschließend kurz vorgestellten Projekten, deren programmatische Vertiefung wir im dritten Teil kennengelernt haben, sind sie alle drei ablesbar. In Teilen wurde die formale Ausarbeitung mit großer Konsequenz aus der programmatischen Festlegung des Heimat-Begriffs heraus entwickelt und führte somit zu durchaus radikalen, auf den ersten Blick womöglich fremd wirkenden Architekturen, die aber hohe räumliche Qualitäten aufweisen und durch ihre stringente Logik überzeugen – oder die Klarheit ihrer Thematisierung, um zu unserem Ausgangsbegriff zurückzukehren. In anderen Projekten wurden sehr autonom entwickelte Architekturformen verwoben mit Zitaten und Verweisen zu kleinteiligen Situationen des umgebenden Stadtraums, die als besonders charakterisierend und bedeutungsvoll für alltägliche Lebenssituationen und die sich wiederholenden Rituale städtischen Lebens empfunden wurden: der Kiosk, die Bushaltestelle, der Kinderspielplatz, gestaltete Grundstücksgrenzen, die Schwellenräume zwischen öffentlichem und privatem Raum. Der dritte Ansatz zeigte sich in der gebäudetypologischen Angleichung; hier wurde der heimat-stiftende Aspekt in der bewussten Vermeidung von fremd-artigen Formen gesucht, indem man die Gebäudetypen der Umgebung mit einem deutlichen Wunsch nach Homogenität – und mit großer Achtung ihrer scheinbaren Banalität – in den eigenen Architekturen klar nachempfunden hat. Alle Projekte haben gemeinsam, dass sie sich in einen gezielten städtebaulichen Dialog mit der heterogenen Umgebung setzen. Zur stark frequentierten Fetscher Straße und den architektonischen Großformen auf der Westseite des Grundstücks platzieren viele Projekte abschirmende, geschlossene Baukörper, zur schwach frequentierten Gluckstraße und den freistehenden, dreibis viergeschossigen Wohnhäusern auf der Ostseite geht man in vielen Fällen in stärker aufgelöste, vereinzelte Baukörper über. 236 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Heimat entwerfen?
Abb. 8: Projekt »Partizipative Architektur und Heimat«, Simon Goliasch
Das Projekt »Partizipative Architektur und Heimat. Wohnkomplex mit Selbstbauanteilen« (Abb. 8) sucht die Essenz von Heimat im nächsten Lebensumfeld der Menschen, dem privaten Schutzraum des Wohnens. Im tendenziell hochpreisigen, privaten Wohnungsbau kann eine starke Individualisierung der Wohnung oder des Hauses stattfinden und somit nicht nur in besonderer Weise den Bedürfnissen ihrer Nutzer entsprechen, sondern ihnen auch eine direkte Form der Selbstdarstellung nach außen ermöglichen. Die Techniken der Vorfertigung und Standardisierung im kostengünstigen (Massen-)Wohnungsbau bedingen dagegen häufig eine formale Anonymisierung, die weder den persönlichen Bedürfnissen, noch dem Wunsch nach Selbstdarstellung der Bewohner entspricht. Das Projekt von Simon Goliasch hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, ein kostengünstiges Mehrparteienhaus zu entwickeln, das von seinen Bewohnern – organisiert in Form einer Baugruppe oder einer Baugenossenschaft – aktiv mitgestaltet wird. Diese Mitgestaltung betrifft formale Aspekte wie die Fassadengestaltung nach außen, wie auch räumliche Zusammenhänge – es soll den Bewohnern ermöglicht werden, das Haus in unterschiedlichen Lebensphasen zu bewohnen, in denen Raumanforderungen wachsen und wieder schrumpfen können. Zu diesen Zwecken kann das Haus in zwei Ebenen weitergebaut werden: zum einen ist ein personalisierter Ausbau des Rohbaus möglich, der die Gestaltung und die Materialien der raumabschließenden Elemente 237 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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betrifft (wie Wände und Decken). Zum anderen ermöglicht die Struktur des Hauses ein kontrolliertes Wachstum in Form von Anbauten an das Gebäude. Das Ziel des Aus-und Anbauens bedingt eine Reihe von baulichen Themen, die vor allem konstruktiver und organisatorisch-rechtlicher Natur sind. Simon Goliasch entwirft das Gebäude als einen gut funktionierenden Rohbau, in dem die Statik und die technischen Installationen von ihm als Entwerfer präzise definiert werden und auf einer potentiellen Baustelle vom Fachmann ausgeführt würden, während die nichttragenden Teile des Innenausbaus und der Fassadenverkleidung individuell vom Bewohner gebaut werden können. Gleichzeitig gibt es ein Regelsystem des kontrollierten Wachstums, das innerhalb des zur Verfügung gestellten Raumtragwerks stattfindet, das zur Westseite in Richtung Fetscher Straße und Johannstadt von Anfang an vollständig dicht mit Volumen besetzt ist und sich im offenen, winkelförmigen Grundriss zur Ostseite und nach Striesen hin langsam auffüllt. Dass Gebäude bekommt insbesondere durch die dominierende Präsenz des Raumtragwerkes einen fast maschinenartigen Ausdruck; der Verzicht des Entwerfers auf eine vollständige formale Kontrolle lässt es roh wirken. Zudem bedingt das über längere Zeiträume stattfindende Weiterbauen und Wachsen einen baustellenhaften, unfertigen Charakter. Aber gerade das Zurücktreten des Gestalters von eigenen ästhetischen Vorstellungen ermöglicht den Bewohnern eine starke Mitwirkung und damit Identifizierung mit ihrem Gebäude, das ihnen dank der Organisation von Wachstum und Raumtausch über unterschiedliche Lebensabschnitte hinweg eine Heimat sein kann. 23 Das Projekt »Heimat und Grenzen. Wohntypologien und ihre Freiflächen« untersucht anhand verschiedener, umgebender Gebäudetypologien die spezifischen Qualitäten von Grenzen und Schwellenräumen und definiert in diesem Zusammenhang artikulierte Sequenzen vom privaten zum öffentlichen Raum (Abb. 9). Luzie Edelhoff sieht eine Überbauung des Grundstücks 23
Simon Goliasch (Entwurfsverfasser): Partizipative Architektur und Heimat. Wohnkomplex mit Selbstbauanteilen, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University.
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Heimat entwerfen?
Abb. 9: Projekt »Heimat und Grenzen«, Luzie Edelhoff
mit drei verschiedenen Gebäudetypen vor: einem langgestreckten Zeilenbau entlang der stark befahrenen Fetscher Straße und zwei an den Striesener Würfelhäusern orientierte freistehende Gebäude, von denen das an der Grundstücksspitze zur Kreuzung stehende Haus am Beispiel der Sonderlösungen zu Eckbauten (eine existierende Variante der Würfelhäuser) entwickelt wird. Die scheinbare Banalität des Zeilenbaus wird im Grundstückszusammenhang mit dem großbürgerlichen Habitus der Würfelhäuser in Beziehung gesetzt, wobei es in der Gesamtwirkung des Ensembles vor allem darum geht, eine Anmutung des Alltäglichen zu schaffen, indem es ein gut funktionierendes Gefüge von privaten Wohnräumen und öffentlichen Freiflächen gibt. Zu diesem Zweck arbeitet die Verfasserin des Entwurfs an den jeweils unterschiedlichen Qualitäten der Typen von Zeilenbau und Würfelhaus in der Gebäudestruktur und im Bezug zum Freiraum. Der Zeilenbau wird in seiner langestreckten Kubatur mit dem typischen Satteldach aufgenommen, allerdings mit einer verbesserten Nutzung des Dachgeschosses, das bis unter die geneigten Dachflächen geöffnet wird. Des Weiteren werden Loggien als private Freiflächen für jede Wohneinheit entworfen. Die Typologie der Loggia gewährleistet dabei, dass die privaten Freiflächen in der Fassadengestaltung des Gebäudes kaum in Erscheinung treten und die einfache Geometrie des langen Riegels erhalten bleibt. Die Würfelhäuser, die unter anderem wegen ihrer starken Adressbildung durch die dekorierten, großbürgerlichen Fassaden und 239 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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der hochgeschossigen Altbauwohnungen mit großen Fensterflächen als Erfolgsmodell gelten können, werden in ihren Qualitäten in einer zeitgenössischen Interpretation nachempfunden. Dabei werden die Kernqualitäten von hohen Räumen und großen Fensteranteilen der Fassade, die in vielen Nachbauten der Typologie in den letzten Jahren übergangen wurden, bewahrt. Statt die Fassaden mit neoklassizistischen Stuckornamenten zu dekorieren, wird ein unterschiedlich hoher Dämmputz dazu genutzt, den Fassaden eine Plastizität zu verleihen und sie geometrisch zu strukturieren. Für beide Gebäudetypen von Zeile und Würfelhaus ergibt sich im Bezug zur Anbindung an das städtische Umfeld eine Neuerung durch das Anlegen eines gemeinsamen, halböffentlichen Freibereichs im Zwischenraum. An der Grundstücksspitze dagegen wird ein steinerner, öffentlicher Platz, bespielt von gewerblichen Nutzungen im Erdgeschoss des Eckgebäudes, angeordnet. Die beiden anderen Wohngebäude können durch die Ausbildung eines Hochparterres die Bewahrung der Privatsphäre in den Erdgeschosswohnungen gewährleisten. Zum gemeinsamen Schwellenraum wird für alle Teile des Gebäudeensembles der halböffentliche Freibereich, der eine Distanzfläche schafft, aber gleichzeitig großzügig genug bleibt, um als kleiner Park und nicht nur als Abstandsgrün zu funktionieren. Zusätzlich geschützt wird diese Grünfläche durch einen mit Ornamenten dekorierten Zaun, der die gusseisernen Grundstücksumzäunungen der Würfelhäuser zitiert, und an gezielt platzierten Stellen Öffnungen aufweist, um die unkomplizierte Zirkulation der Bewohner und der Besucher aus dem Quartier zu gewährleisten. Die Zugänge zu den Häusern zitieren die typische Eingangslösung der Umgebung; die Wohnungsgrundrisse arbeiten unter anderem mit dem Mittel der Enfilade, um Übergänge von öffentlich, zu halböffentlich und privat zu inszenieren. 24 Das Projekt »Heimat in der Sprache. Ein Zentrum für Sprachkultur und Sprachkunst« entwickelt das Raumprogramm einer 24
Luzie Edelhoff (Entwurfsverfasserin): Heimat und Grenzen. Wohntypologien und ihre Freiflächen, Masterprojekt »Heimat formen«, Sommersemester 2016 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University.
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Heimat entwerfen?
Abb. 10: Projekt »Heimat in der Sprache«, Nils Oehler
Stiftung für Sprachkultur, bestehend aus einer Bibliothek, Studien-und Seminarräumen, einer Druck-und Buchbindewerkstatt, einem Ausstellungsbereich, einem Auditorium, einer Gastronomie und mehreren temporären Wohnungen für Gastwissenschaftler (Abb. 10). In der Analogie von Sprache und Architektur definiert das Projekt Grammatiken auf verschiedenen Maßstabsebenen. Im städtebaulichen Maßstab bedeutet dies, dass sich die verschiedenen Funktionseinheiten des Programms ablesbar in verschiedene Gebäude artikulieren, die sich um einen Innenhof gruppieren. So entsteht die Anmutung einer autonomen Stadt der Sprache, die relativ hermetisch zwischen dem Innen und Außen unterscheidet. Zum Quartier Striesen hin wird diese Introvertiertheit allerdings durch einen großzügigen, wenige Stufen höher gelegenen Schwellenraum unterbrochen, der durch eine Kolonnade vom dahinter liegenden Innenhof abgeschirmt und somit der kleinen Straße als öffentlicher Bühnenraum zugeschlagen wird, während der innere Hof der Anlage ein privater Schutzraum bleibt. Die einzelnen Gebäude des Ensembles treten mit unterschiedlicher Deutlichkeit in Erscheinung, wobei das viergeschossige Volumen an der Grundstückspitze, an der sich die Bibliothek befindet, als inszenierter Haupteingangsraum fungiert. Deutliche Präsenz weisen auch das Gebäude mit dem Auditorium und das Wohngebäude für die Gastwissenschaftler auf, während das Werkstattgebäude, die Seminarräume und die Gastronomie zwischengeschaltete Bindeglieder sind. Eingeschoben in die Reihung 241 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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werden zudem zwei Freilichtzimmer und das bühnenartige Plateau auf der östlichen Grundstücksseite. Das Thema der Grammatisierung betrifft neben der Fügung des Ensembles auch die Fassadengestaltung, die sich in den unterschiedlichen Teilen mit spezifischen Rhythmisierungen und einer detailliert differenzierten Behandlung der gestaltenden Elemente wie den Fensteraufteilungen, den Fensterlaibungen und der Fassadenbekleidung zeigt. Die beidseitig oder einseitig freistehenden Kolonnaden setzen diese Rhythmen fort. Die insgesamt drei Zugänge zum Innenhof haben sehr unterschiedliche Grade von Permeabilität. Es gibt den imposanten Haupteingang durch das Bibliotheksgebäude, der durch ein gebäudehohes Foyer führt, das durch Bücherregale über vier Geschosse gerahmt wird. Daneben gelangt man von Striesen aus durch die Durchquerung des Plateaus und des Säulengangs und von der Fetscher Straße aus durch das Hindurchschlüpfen durch eine schmale Passage in das Innere der »Stadt der Sprache«. Und während die Gebäudeteile in allen Details sehr präzise gestaltet sind, zeigt sich der Innenhof bewusst als einfache Rasenflächen, auf der einige Birken stehen und auf der sich im Laufe der Zeit die Hauptlaufwege der Gebäudenutzer als eingetretene Pfade abbilden werden. Der Kontrast zwischen sichtbarem Gestaltungwillen an den Gebäuden und der Zurückhaltung in der Behandlung der Grünfläche wird von einem Kontrast akustischer Natur begleitet. Wer das Ensemble durch die Passage an der Fetscher Straße betritt, kommt aus einem von starken Verkehrsgeräuschen geprägten Raum in einen konzentrierten Ruheraum, in dem man das Geräusch der Birkenblätter und den Gesang der Vögel hören kann. 25 Das Projekt »Heimat im Sterben. Ein Hospiz« entwirft die Räumlichkeiten, die dem Menschen in der letzten Lebensphase zu einem Zuhause werden (Abb. 11). Der Moment des Sterbens wird im Programm für das Gesamtgrundstück durch einen Moment expliziter Lebendigkeit – einem Kinderspielplatz – ergänzt. 25
Nils Oehler (Entwurfsverfasser): Heimat in der Sprache. Ein Zentrum für Sprachkultur und Sprachkunst, Masterprojekt »Heimat formen«, Sommersemester 2016 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University.
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Abb. 11: Projekt »Heimat im Sterben«, Adrian Heints
Adrian Heints beschäftigt sich in seinem Projekt ausführlich mit der Fragestellung, auf welche Art und Weise ein Sterbehaus in Erscheinung treten soll. Er entwickelt das Hospiz in Anlehnung an die umgebenden Würfelhäuser – um es anzugleichen und zu unterstreichen, dass ein Hospiz dem Sterbenden vor allem ein Wohnhaus ist. In der Hauptgeometrie den Striesener Häusern ähnlich, platziert er das Gebäude an die Spitze des Grundstücks, zur Straßenkreuzung und damit einer sehr öffentlichen Seite orientiert. Beigestellt wird dem quaderförmigen Volumen ein Turm, der Sondernutzungen wie ein Pflegebad beinhaltet und unter dem sich (klar markiert) die Zufahrt für den Leichenwagen befindet. Die Position des Gebäudes an der nördlichen Grundstücksspitze lässt nach Süden Raum für einen geschützten kleinen Park, in dem der Kinderspielplatz angelegt ist und der dem angrenzenden Wohnquartier dient. Hier wie in weiteren Aspekten reflektiert das Projekt kontinuierlich das Zusammentreffen der Lebenden und der Sterbenden, das Herstellung von Sichtbarkeit und Bewusstsein für den Moment des Sterbens, ohne schockieren zu wollen und bei gleichzeitiger Gewährleistung des nötigen Schutzes für die Hospizbewohner. So ist das Gebäude exponiert positioniert und wird durch den Turm zusätzlich markiert, die Zufahrt des Leichenwagens wird bewusst inszeniert. Gleichzeitig erscheint es als ein Wohnhaus unter mehreren ähnlichen Nachbarn. Der Grundriss des Gebäudes ist introvertiert aufgebaut: zur Kreuzung hin orientiert sich ein öffentlicher, halbkreisförmiger Außenraum 243 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
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mit Bestuhlung im freien Erdgeschoss unter dem Gebäude. Der Halbkreis setzt sich als kreisförmige Öffnung in den Obergeschossen des Gebäudes fort; die Sterbezimmer sind kaleidoskopartig um diesen kreisförmigen Lichthof angeordnet. Die Fenster der Zimmer zum Innenhof liegen so, dass ein Blick nach draußen und zum Licht möglich ist, ohne dass man sich gegenseitig in die Zimmer schauen kann. Nach außen wird durch umlaufende Wandelgänge eine zusätzliche Schutzschicht eingezogen, die gleichzeitig den Bewohnern und ihren Angehörigen als Aufenthaltsraum an der frischen Luft dient. Der umlaufenden Wandelgang weist diverse Nischen und Sitzgelegenheiten auf; man kann hier nach draußen auf eine kleine Welt – die Straßenkreuzung, das Wohngebiet, den Spielplatz – schauen, ohne zwangsläufig selbst gesehenen werden. Das Undenkbare bekommt einen wohnlichen Raum, der schützt, aber nicht isoliert, der Sterbende und mit ihm die Trauernden bekommen eine letzte Heimat. 26 Bibliographie Bausinger, Hermann: »Kulturelle Identität – Schlagwort und Wirklichkeit«, in: Bausinger, Hermann (Hrsg.): Ausländer – Inländer, Tübingen 1986, S. 141– 159. Domin, Hilde: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, München 1992. Edelhoff, Luzie (Entwurfsverfasserin): Heimat und Grenzen. Wohntypologien und ihre Freiflächen, Masterprojekt »Heimat formen«, Sommersemester 2016 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. Edelhoff, Luzie: Heimat und Raum. Grenzen als definierender Faktor, Auszug aus der theoretischen Ausarbeitung zum Entwurf, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930. Goliasch, Simon (Entwurfsverfasser): Partizipative Architektur und Heimat. Wohnkomplex mit Selbstbauanteilen, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University 26
Adrian Heints (Entwurfsverfasser): Heimat im Sterben. Ein Hospiz, Masterprojekt »Heimat formen«, Sommersemester 2016 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University.
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Heimat entwerfen?
Goliasch, Simon: Partizipative Architektur und Heimat, Auszug aus der theoretischen Ausarbeitung zum Entwurf, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. Heints, Adrian: Begleittext zur Heimat-Box. Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. Heints, Adrian (Entwurfsverfasser): Heimat im Sterben. Ein Hospiz, Masterprojekt »Heimat formen«, Sommersemester 2016 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. Heints, Adrian: Heimat im Sterben. Ein Hospiz, Auszug aus der theoretischen Ausarbeitung zum Entwurf, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. Jankowiak, Tanja: Architektur und Tod. Zum Architektonischen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Eine Kulturgeschichte, München 2010. Laugier, Marc-Antoine: Essai sur l’architecture, Paris 1753. Norberg-Schulz, Christian: Existenz, Raum und Architektur, London 1972. Oehler, Nils (Entwurfsverfasser): Heimat in der Sprache. Ein Zentrum für Sprachkultur und Sprachkunst, Masterprojekt »Heimat formen«, Sommersemester 2016 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. Oehler, Nils: Heimat in der Sprache. Ein Zentrum für Sprachkultur und Sprachkunst, Auszug aus der theoretischen Ausarbeitung zum Entwurf, Masterprojekt »Heimat formen«, Wintersemester 2015/16 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University. Stapenhorst, Carolin / Carola Neugebauer: »Heimat formen. Formulierung der Aufgabenstellung des M1|M2.1-Projektes im Semesterprogramm«, unter: www.wk.arch.rwth-aachen.de/go/id/kvha (Stand: 22. 12. 2017). Steffensky, Fulbert: »Ein kleines Haus in einer großen Welt – Heimat finden in unbehausten Zeiten«, in: Klaus Hofmeister / Lothar Bauerochse (Hrsg.): Wissen wo man hingehört. Heimat als neues Lebensgefühl, Würzburg 2006. Ungers, Oswald Mathias: Die Thematisierung der Architektur, Salenstein 1983. Vermeulen, Marlies / Kroese, Remy: »our maps contain specific, symbolic and ›intimate‹ knowledge […] the maps […] offer a different perspective on an existing situation and lead to insights applicable within spatial, economical or cultural development«, unter: www.dearhunter.eu/About-Dear-Hunter (Stand: 22. 12. 2017).
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Zu den Autorinnen und Autoren
Amalia Barboza, geb. 1972 in Buenos Aires, Studium der Soziologie in Madrid und Konstanz, Promotion 2002, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Dresden, Fach »Kulturwissenschaft Spanien und Lateinamerika«, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt am Main, seit 2013 Juniorprofessorin für »Theorien und Methoden der Kulturwissenschaften« an der Universität des Saarlandes. Wichtigste Publikationen: Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims (2005); zus. mit C. Henning, (hrsg.): Deutsch- jüdische Wissenschaftsschicksale. Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft (2006); Karl Mannheim (2009); Im Rampenlicht. Expeditionen in die Ästhetik des Alltags (2012); zus. mit anderen (hrsg.): Räume des Ankommens. Topographische Perspektiven auf Flucht und Migration (2016). Gernot Böhme, geb. 1937 in Dessau, promoviert 1965, habilitiert für Philosophie 1972; 1969–1977 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt (C. F. v. Weizsäcker, J. Habermas), 1978–2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Seit 2005 ist er Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e. V., IPPh., zudem 1. Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft. Zahlreiche Bücher und Aufsätze; u. a.: Theorie des Bildes (1999); Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre (2001); Architektur und Atmosphäre (2013); Atmosphäre. Essays zur neue Ästhetik, 7. erw. u. überarb. Aufl. (2013); Ästhetischer Kapitalismus (2016); Be247 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Zu den Autorinnen und Autoren
wusstseinsformen, 2. Aufl. (2017); Über Goethes Naturwissenschaft. Schriften der Frankfurter Goethe-Gesellschaft (hrsg. 2017). Simone Egger, geb. 1979, Studium der Europäischen Ethnologie, Ethnologie und Kunstgeschichte in München, Promotion 2011, 2008 bis 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2014–2016 Senior Lecturer am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck, seit 2016 PostDoc-Assistentin am Institut für Kulturanalyse an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, seit 2015 Co-Betreuerin des Teilprojekts »Wohnen und Wohnraumpolitiken in München« in der DFG-Forschergruppe »Urbane Ethiken« an der LMU. Seit 2013: Habilitationsprojekt »Über Liebe. Über Kosmopolitismus. Über Europa. Zur transnationalen Biografie von Aspasia Schönwald aus Smyrna/Izmir (1891– 1954)«. Wichtigste Publikationen: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden (2014); München wird moderner. Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren (2013). Jürgen Hasse, geb. 1949, Promotion 1978, Habilitation für sozial- und Wirtschaftsgeographie 1988; 1985–1993 Hochschulassistent für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, 1993–2014 Univ.Prof. für Geographie und Didaktik der Geographie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze; u. a.: Atmosphären der Stadt. Aufgespürte Räume (2012); Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes (2014); Der Leib der Stadt. Phänomenographische Annäherungen (2015), Versunkene Seelen. Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert (2016); Die Aura des Einfachen. Mikrologien räumlichen Erlebens. Band 1 (2017); Märkte und ihre Atmosphären. Mikrologien räumlichen Erlebens. Band 2 (2018). Karen Joisten, geb. 1962, Prof. Dr. phil., M.A. Studium der Philosophie, Germanistik, Pädagogik an der Johannes GutenbergUniversität in Mainz, 2001–2010 Hochschuldozentur in Mainz, 248 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Zu den Autorinnen und Autoren
2010–2011 Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, 2013–2016 Gastprofessur an der Universität Kassel, 2017 Tätigkeit am Max-Weber-Kolleg in Erfurt, seit 2018 Professorin an der TU-Kaiserslautern. Wichtigste Publikationen: Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche (1994); Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie (2003); Aufbruch. Ein Weg in die Philosophie (2007); Philosophische Hermeneutik (= Reihe Akademie Studienbücher) (2009); Herausgeberin von: Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (Sonderband 17 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie) (2007); Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit (unter Mitarbeit von Nicole Thiemer) (2010); Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie (= Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften. Hg. im Auftrag des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums [HKFZ] Mainz-Trier von M. Dreyer u. a.) (2010); Hrsg. zus. mit Jan Schapp: Wilhelm Schapp: Philosophie der Geschichten (2015). Reinhard Knodt, geb. 1951, Studium der Philosophie bei Hans Georg Gadamer, Friedrich Kaulbach und Manfred Riedel. Er lehrte zunächst am päpstlichen Jesuitencolleg Maynooth und an der Universität Bayreuth Germanistik, später als akademischer Rat für Philosophie an der Universität Erlangen Nürnberg. Er ist Literaturpreisträger der bayerischen Akademie für Sprache und Dichtung und Preisträger des Bayerischen Kultusministers. 1989 Habilitationsstipendium in Pennsylvania State (vgl. auch »Ästhetische Korrespondenzen« 1994). 1990 Lehrstuhlvertretung an der HDK Kassel für Hannes Böhringer und Wechsel zum Bayerischen Rundfunk. 2004 bis 2013 regelmäßig Philosophie-Veranstaltungen als Gastdozent an der Universität der Künste in Berlin; lebt heute in Berlin und betreut einen philosophischen Salon in seiner süddeutschen Heimat (www.Schnackenhof.de). Wichtigste Publikation: Der Atemkreis der Dinge. Einübung in die Philosophie der Korrespondenz (2017/2. Aufl. 2018). Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor 249 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Zu den Autorinnen und Autoren
für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Karl Alber Verlag erschienen: Bewusstsein (2010); Jenseits des Naturalismus (2010); Das Reich der Normen (2012); Kritische Grundlegung der Mathematik. Eine phänomenologisch-logische Analyse (2013); Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 4. Aufl. (2014); Atmosphären (2014); Phänomenologie der Zeit (2014). Carolin Stapenhorst, geb. 1976, Prof. Dipl.-Ing., Ph.D. Studium der Architektur in Aachen und Venedig, ab 2003 Tätigkeit als Architektin in Venedig, ab 2007 Zusammenarbeit mit Luciano Motta als »Studio Motta-Stapenhorst«. Ab 2007 Promotionsstipendium in Turin, 2008 Promotionsaufenthalt in Lausanne, Promotion 2012, 2014 Berufung auf die Juniorprofessur »Werkzeugkulturen« in Aachen. Wichtigste Publikationen: »Robustheit«, in: Hiatus. Architekturen für die gebrauchte Stadt (2017); »Land Art as a Form of Applied Cartography«, in: Architecture, cartography and architectural design machines (2016); Concept. A dialogic Instrument in Architectural Design (2016); »Grids. Projektdokumentationen als Denkinstrument«, in: Manifestationen im Entwurf: Design – Architektur – Ingenieurwesen (2016); »Organizzare l’addizione«, in: Atlante di progettazione architettonica (2014). Nina Trčka, geb. 1973, Studium der Philosophie, Psychologie und Germanistik in Freiburg, Zürich und Berlin (M.A.). 2008–2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin, wo sie derzeit promoviert. Arbeitsgebiete: Phänomenologie, Philosophie der Emotionen, Intersubjektivitätstheorien, Sozialphilosophie. Wichtigste Publikationen: »Collective Moods. A Contribution to the Phenomenology and Interpersonality of Shared Affectivity«, in: Philosophia (2017); »Sinn für das Maßlose: Das mathematisch Erhabene und der horror vacui«, in: Michael Großheim / Anja Katrin Hild / Corinna Lagemann / Nina Trčka (Hrsg.): Leib, Ort, Gefühl. Perspektiven der räumlichen Erfahrung (2015); »Ein Klima der Angst. Über Kollektivität und Geschichtlichkeit von Stimmungen«, in: Kerstin Andermann / Undine Eberlein (Hrsg.): Gefühle als Atmosphären (2011). 250 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie
Das Interesse der Neuen Phänomenologie gilt den Phänomenen selbst. Sie eicht ihre Begriffe an der unwillkürlichen Lebenserfahrung. Dadurch gibt sie Gelegenheit zu neuen Einsichten, die über übliche Perspektiven hinausgehen. Insbesondere Themenbereiche wie Leib, Gefühl und Subjektivität können so in neuer Weise der Erkenntnis zugänglich gemacht werden. Zugleich öffnet die Neue Phänomenologie den Blick auf andere Kulturen. Mit der Reihe, in der Monographien und Textsammlungen erscheinen, wird diesem Anliegen Raum zur Diskussion gegeben. Band 1 Hermann Schmitz Situationen und Konstellationen Wider die Ideologie totaler Vernetzung 304 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48146-2 Band 2 Anna Blume (Hg.) Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung 176 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48147-9 Band 3 Dirk Schmoll / Andreas Kuhlmann (Hg.) Symptom und Phänomen Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen 332 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48148-6
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Band 4 Jürgen Hasse Fundsachen der Sinne Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens 436 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48130-1 Band 5 Jan-Peters Janssen (Hg.) Wie ist Psychologie möglich? 224 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48189-9 Band 6 Sven Sellmer Formen der Subjektivität Studien zur indischen und griechischen Philosophie 380 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48179-0 Band 7 Ute Gahlings Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen Erweiterte Neuausgabe 720 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48802-7 Band 8 Stefan Volke Sprachphysiognomik Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Lautwahrnehmung 280 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48209-4 Band 9 Anna Blume (Hg.) Was bleibt von Gott? Beiträge zur Phänomenologie des Heiligen und der Religion 224 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48231-5
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Band 10 Hermann Schmitz Freiheit 168 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48297-1 Band 11 Hans Jürgen Wendel / Steffen Kluck (Hg.) Zur Legitimierbarkeit von Macht 184 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48330-5 Band 12 Jürgen Hasse (Hg.) Die Stadt als Wohnraum 212 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48334-3 Band 13 Michael Großheim / Stefan Volke (Hg.) Gefühl, Geste, Gesicht Zur Phänomenologie des Ausdrucks 292 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48412-8 Band 14 Hermann Schmitz Jenseits des Naturalismus 392 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48381-7 Band 15 Michael Großheim / Steffen Kluck (Hg.) Phänomenologie und Kulturkritik Über die Grenzen der Quantifizierung 256 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48427-2 Band 16 Gudula Linck Leib oder Körper Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie 360 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48451-7 253 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Band 17 Barbara Wolf Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit Eine qualitative Studie unter Einbeziehung von Richard Sennetts Flexibilitätskonzept und Hermann Schmitz’ Neuer Phänomenologie 444 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48536-1 Band 18 Steffen Kluck / Stefan Volke (Hg.) Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens 404 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48537-8 Band 19 Steffen Kammler Die Seele im Spiegel des Leibes Der Mensch zwischen Leib, Seele und Körper bei Platon und in der Neuen Phänomenologie 200 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48563-7 Band 20 Sabine Dörpinghaus Dem Gespür auf der Spur Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe 440 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48605-4 Band 21 Lenz Prütting Homo ridens Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens Erweiterte Neuausgabe 2028 Seiten. Gebunden mit Leseband. ISBN 978-3-495-48829-4
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Band 22 Michael Großheim / Anja Kathrin Hild / Corinna Lagemann / Nina Trcka (Hg.) Leib, Ort, Gefühl Perspektiven der räumlichen Erfahrung 416 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48643-6 Band 23 Steffen Kluck Pathologien der Wirklichkeit Ein phänomenologischer Beitrag zu Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt 384 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48592-7 Band 24 Henning Nörenberg Der Absolutismus des Anderen Politische Theologien der Moderne 312 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48694-8 Band 25 Isabella Marcinski Anorexie – Phänomenologische Betrachtung einer Essstörung 132 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48683-2 Band 26 Hilge Landweer / Dirk Koppelberg (Hg.) Recht und Emotion I Verkannte Zusammenhänge 456 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48817-1 Band 27 Stefan Volke / Steffen Kluck (Hg.) Körperskandale Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit 256 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48857-7 255 https://doi.org/10.5771/9783495817568 .
Band 28 Hilge Landweer / Fabian Bernhardt (Hg.) Recht und Emotion II Sphären der Verletzlichkeit 376 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48880-5 Band 29 Robert Gugutzer / Charlotte Uzarewicz / Thomas Latka / Michael Uzarewicz (Hg.) Irritation und Improvisation Zum kreativen Umgang mit Unerwartetem 376 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-49027-3
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