Polyphonie des Elends: Psalm 9/10 im konzeptionellen Diskurs und literarischen Kontext 9783161511196, 3161490886

Dirk Sager versteht Psalm 9/10 als einen programmatischen Text, der vorhandene Gebetsäußerungen (Lob, Klage, Vertrauen)

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German Pages 305 [307] Year 2007

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Einleitung: Psalm 9 / 10 im Horizont gegenwärtiger Psalmenforschung
Ps. 9 / 10 als Bezugstext
Zur Formkritik und Poetologie
Zur Mentalitäts- und Sozialgeschichte
Zur Kompositions- und Redaktionsgeschichte
Zum Aufbau der Arbeit
Teil I: Ps. 9 / 10 und sein individuelles Profil
1. Kapitel: Übersetzung und Textkritik
2. Kapitel: Ps. 9 / 10 als Einheit
2.1 Einführende Überlegungen
2.2 Gliederungen
2.3 Schlussfolgerungen
3. Kapitel: Perspektiven
3.1 Die Redesituation
3.2 Das Zeitverständnis
3.3 Die Raumwahrnehmung
4. Kapitel: Semantische Konstellationen
4.1 Die Personen- und Gruppenkonstellation
4.2 Querbezüge und Leitwörter
5. Kapitel: Funktionen
5.1 Verarbeitete Psalmenmuster
5.2 Ps. 9 / 10 im formalen Diskurs
5.3 Der literarische Charakter und die Frage nach der Verwendungsweise
6. Kapitel: Verarbeitung bestehender Motivzusammenhänge
6.1 Die feindlichen Frevler
6.1.1 Die Selbstverstrickung der Frevler und ihr Ende
6.1.2 Die Frevler als Gottesleugner und Verbrecher
6.1.3 Die „Heiden“ als Frevler
6.2 „Die Erniedrigten und Beleidigten“
6.2.1 Lob und Klage der Verlassenen
6.2.2 Das Vertrauen der JHWH Suchenden
6.2.3 Das Ergehen der Bedrängten
6.2.4 Die Fürbitte für die Erniedrigten
6.3 JHWH
6.3.1 JHWH im Abseits
6.3.2 JHWH als schützende Zuflucht auf dem Zion
6.3.3 JHWH, der universale Richter und König
7. Kapitel: Zusammenfassung Teil I
7.1 Ps. 9 / 10 – eine dialektische Einheit mit gedanklichem Fortschritt
7.2 Ps. 9 / 10 – ein Text ohne exklusive Armenmentalität
7.3 Ps. 9 / 10 – die Bewährung der Königsherrschaft JHWHs
Teil II: Ps. 9 / 10 im konzeptionellen Diskurs
8. Kapitel: Ps. 9 / 10 im Diskurs mit parallelen Entwürfen
8.1 Einführende Überlegungen
8.2 Psalmen
8.2.1 Ps. 22
8.2.2 Ps. 74
8.3 Propheten
8.3.1 Jes. 24–27*
8.3.2 Jes. 29,15–24
8.3.3 Joel 3f.
9. Kapitel: Ps. 9 / 10 im Diskurs mit tangentialen Entwürfen
9.1 Einführende Überlegungen
9.2 Psalmen
9.2.1 Ps. 34
9.2.2 Ps. 37
9.2.3 Ps. 94
9.2.4 Ps. 97
9.3 Propheten
9.3.1 Jes. 56,9–57,21
9.4 Weisheit
9.4.1 Hi. 24
9.4.2 Prov. 1,10–19; 31,10–31
10. Kapitel: Der Diskursrahmen von Ps. 9 / 10 und sein historischer Hintergrund
10.1 Der theologiegeschichtliche Ort von Ps. 9 / 10
10.1.1 Die Diskursivität paralleler und tangentialer Entwürfe
10.1.2 Die Polyphonie der Diskurse als Modell für literarische Zusammenhänge
10.2 Der soziologische Ort von Ps. 9 / 10
10.3 Der historische Ort von Ps. 9 / 10
10.3.1 Ps. 9 / 10 am Übergang von der persischen zur hellenistischen Epoche
10.3.2 Die sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen
11. Kapitel: Zusammenfassung Teil II
Teil III: Ps. 9 / 10 im literarischen Kontext
12. Kapitel: Ps. 9 / 10 im Kontext der Psalmengruppe Ps. 3–14
12.1 Das Ausgangsproblem
12.2 Die Psalmengruppe Ps. 3–14
12.3 Das Profil von Ps. 9 / 10 im literarischen Kontext
12.3.1 Die Personen- und Gruppenkonstellationen
12.3.2 Die Redesituationen
12.3.3 Die Zeitverständnisse
12.3.4 Die Raumwahrnehmungen
12.4 Ps. 9 / 10 im Duktus der Psalmengruppe Ps. 3–14
12.5 Ps. 9 / 10 und die Komposition der Psalmengruppe Ps. 3–14
12.6 Die Überschrift (Ps. 9,1)
12.7 Die Verwendung von Ps. 9 / 10 im Kontext von Ps. 3–14
13. Kapitel: Ps. 9 / 10 im Kontext des Psalters
13.1 Ps. 9 / 10 und die Polyphonie des Elends im 1. Davidpsalter (Ps. 3–41)
13.2 Ps. 9 / 10 im Rahmen des „messianischen Psalters“ (Ps. 2–89)
13.3 Ps. 9 / 10 und die JHWH-König-Psalmen (Ps. 93–100)
13.4 Ps. 9 / 10 und das „Schlusshallel“ (Ps. (145).146–150
14. Kapitel: Zusammenfassung Teil III
Literaturverzeichnis
Quellen und Übersetzungen
Hilfsmittel
Kommentare
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Übrige Literatur
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Polyphonie des Elends: Psalm 9/10 im konzeptionellen Diskurs und literarischen Kontext
 9783161511196, 3161490886

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DIRK SAGER

Polyphonie des Elends

Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe 21

Mohr Siebeck

Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) . Mark S. Smith (NewYork) Hermann Spieckermann (Göttingen)

21

Dirk Sager

Polyphonie des Elends Psalm 9/10 im konzeptionellen Diskurs und literarischen Kontext

Mohr Siebeck

DIRK SAGER, geboren 1975; Studium der ev. Theologie in Münster lllld Marburg; 2006 Promotion; Pastor der Evanglisch-Freikirchlichen Gemeinde Varel.

e-ISBN PDP 978-3-16-151119-6 ISBN 3-16-149088-6 ISBN-13 978-3-16-149088-0 ISSN 1611-4914 (Forschllllgen zum Alten Testament, 2. Reihe)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeiclmet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http.//dnb.d-nb.deabrufbar. © 2006 Mohr Sieb eck Tübingen.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmllllg des Verlags unzulässig lllld strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigllllgen, Übersetzungen, Mikroverfihnllllgen lllld die Einspeicherllllg lllld Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterllllgsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2005 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Sie stellt für mich das äußere Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit der Rede von den "Elenden und Armen" in den Psalmen dar. Die Auseinandersetzung mit den Texten begann 1999 in einem Seminar zum Thema bei Professor Dr. Rainer Kessler. Er gab mir nach dem Examen die Möglichkeit, Ideen aus meiner Diplomarbeit über die Psalmengruppe 11-14 aufzugreifen und unter seiner Obhut eine detaillierte Untersuchung in Angriff zu nehmen. So landete ich schließlich beim Doppelpsalm 9/ 10, der sich als Dreh- und Angelpunkt des gesamten Vorhabens entpuppte. Rainer Kessler gewährte mir sämtliche Freiheiten bei der inhaltlichen und methodischen Vorgehensweise, und er war gleichzeitig eine verlässliche Stütze, wenn ich dabei Orientierung suchte. Psalm 9/10 begleitete mich fünf Jahre über mehrere Stationen, angefangen in Marburg, über Elstal (bei Berlin), Kassel und Varel. Ohne die zahlreichen Gespräche mit Verwandten, Freunden und Kollegen wäre die Arbeit nicht erfolgreich zum Abschluss gekommen. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Nennen möchte ich stellvertretend Dr. Judith Gärtner und PD Dr. Klaus-Peter Adam, die zentrale Thesen mit mir im Umfeld des Doktorandenkolloquiums diskutierten. Dieser Kreis war für mich eine wertvolle Anlaufstelle, insofern als ich sonst ohne festen Anschluss an die Universität gearbeitet habe. Für die Hinweise von Professor Dr. Jörg Jeremias, der meine Arbeit mit Interesse begleitet und das Zweitgutachten erstellt hat, bin ich ebenfalls sehr dankbar. Seine Anregungen gaben den Anstoß, den zweiten Hauptteil für die Veröffentlichung einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und ihn teilweise umzuarbeiten. Danken möchte ich an dieser Stelle auch den Angehörigen der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Varel, die mir im "Windschatten" des Pastorenalltags genügend freie Zeit gewährten, um das Manuskript fertig zu stellen. Ein besonderer Dank geht hier an Dirk-E. Schaefer für die aufmerksame Lektüre des gesamten Textes und seine konstruktiven Rückmeldungen. Frau Kirsten Witte hat mir als freie Lektorin bei der Durchsicht und Aufbereitung des Textes für die Veröffentlichung zur Seite gestanden. Ihr

Vorwort

VI

danke ich für diese umfangreiche Arbeit und alle Tipps in Sachen Formatvorgaben. Ich freue mich sehr, dass diese Dissertation in die vorliegende zweite Reihe der Forschungen zum Alten Testament aufgenommen worden ist. Mein aufrichtiger Dank geht an ihre Herausgeber Professor Dr. Bemd Janowski, Professor Dr. Hermann Spieckermann sowie Professor Dr. Mark S. Smith. Meine Frau Anke hat in allen Phasen den Arbeitsprozess liebevoll mitgetragen. Für die umfassende Förderung seitens meiner Eltern und Großeltern über die gesamte Studienzeit hinweg danke ich ihnen von Herzen. Angeregt durch ihren Glauben wurde in mir die Liebe zur Hebräischen Bibel geweckt, die meine nachhaltige Motivation ist, mich mit der Literatur des alten Israel zu beschäftigen. Varel, im November 2006

Dirk Sager

Inhaltsverzeichnis vorwort ...................................................................................................... V Abkürzungen ............................................................................................. XI

Einleitung: Psalm 9 / 10 im Horizont gegenwärtiger Psalmenforschung .... 1 Ps. 9/ 10 als Bezugstext ....................................................................... 1 Zur Formkritik und Poetologie ............................................................. 3 Zur Mentalitäts- und Sozialgeschichte ...................... ........................... 5 Zur Kompositions- und Redaktionsgeschichte ..................................... 9 Zum Aufbau der Arbeit ...................................................................... 13

Teil I: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

I. Kapitel: Übersetzung und Textkritik .......... ................ ................. ......... 17 2. Kapitel: Ps. 9/ 10 als Einheit ....................... ........................................ 23 2.1 Einführende Überlegungen ................................................................. 23 2.2 Gliederungen .................................... ................. ................. ................ 24 2.3 Schlussfolgerungen ........................................................................... 40 3. Kapitel: Perspektiven ............................................................................ 42 3.1 Die Redesituation .................... ................ ................. ................ ......... 42 3.2 Das Zeitverständnis ............................................................................ 46 3.3 Die Raumwahrnehmung ...................................................... ............... 53 4. Kapitel: Semantische Konstellationen ................. ................ .. ............... 56 4.1 Die Personen- und Gruppenkonstellation ........................................... 56 4.2 Querbezüge und Leitwörter ............................................................... 64 5. Kapitel: Funktionen .............................................................................. 69 5.1 Verarbeitete Psalmenmuster ............................................................... 71 5.2 Ps. 9/ 10 im formalen Diskurs ........................................................... 75 5.3 Der literarische Charakter und die Frage nach der Verwendungsweise .................................................................................................. 77

Inhaltsverzeichnis

VIII

6. Kapitel: Verarbeitung bestehender Motivzusammenhänge ................... 82 6.1 Die feindlichen Frevler ..................................................................... 83 6.1.1 Die Selbstverstrickung der Frevler und ihr Ende .................................... 83 6.1.2 Die Frevler als Gottesleugner und Verbrecher. ...................................... 88 6.1.3 Die "Heiden" als Frevler ................................... . ................ . ............. 94

6.2 "Die Erniedrigten und Beleidigten" .................... ................. ............ 102 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4

Lob und Klage der Verlassenen ................. .. ...... .. ...... ... ...... .. ........... 103 Das Vertrauen der JHWH Suchenden ........... . ....... . ....... .. ....... . ........... 111 Das Ergehen der Bedrängten ...................... . ....... . ....... .. ....... . ........... 117 Die Fürbitte für die Erniedrigten ...................................................... 119

6.3 JHWH ................................................................ .. ...... .. ...... .. ............ 121 6.3.1 ffiWH im Abseits ......................................................................... 121 6.3.2 ffiWH als schützende Zuflucht auf dem Zion ........ . ................ . ........... 124 6.3.3 ffiWH, der universale Richter und König ............. . ................ . ........... 125

7. Kapitel: Zusammenfassung Teil I ...................................................... 128 7.1 Ps. 9/ 10 - eine dialektische Einheit mit gedanklichem Fortschritt .128 7.2 Ps. 9/10 - ein Text ohne exklusive Armenmentalität .................... 130 7.3 Ps. 9/10 - die Bewährung der Känigsherrschaft JHWHs ............... 132

Teil II: Ps. 9/ 10 im konzeptionellen Diskurs

8. Kapitel: Ps. 9 / 10 im Diskurs mit parallelen Entwürfen ..................... 135 8.1 Einführende Überlegungen ............................................................... 135 8.2 Psalmen .............................................. .. ...... .. ...... .. " ..... .. ...... .. ........... 13 8 8.2.1 Ps. 22 ......................................................................................... 13 8 8.2.2 Ps. 74 ........................... .. .............. .. .............. .. ............... .. ........... 143 8.3 Propheten ........................................................................................ 145 8.3.1 Jes. 24-27' .......... .. ....... .. ...... .. ...... .. ...... .. ...... .. ...... .. " ..... .. ........... 147 8.3.2 Jes. 29,15-24 .......................................................... .................... 155 8.3.3 Joe! 3f. ...................................................................................... 160 9. Kapitel: Ps. 9 / 10 im Diskurs mit tangentialen Entwürfen """"""" ... 169 9.1 Einführende Überlegungen ............................................................... 169 9.2 Psalmen ................................................................ ............................ 170 9.2.1 Ps. 34 .......................... """" .. " .... .. " ...... " .... .. " ...... " ...... .. ........... 170 9.2.2 Ps. 37 .................................................................... .. ................... 173 9.2.3 Ps. 94 .................. .. ................ .. .............. .. .............. .. ................... 176 9.2.4 Ps. 97 ......................................................................................... 179 9.3 Propheten .................. .. ...... .. ...... .. ....... .. ...... .. ...... .. ....... .. ...... .. ........... 180 9.3.1 Jes. 56,9-57,21 ............................................................................. 180

Inhaltsverzeichnis

IX

9.4 Weisheit ................................... ......... ........ ........ ........ ......... .............. 184 9.4.1 Ri. 24 ......................................................................................... 184 9.4.2 Provo 1,10-19; 31,10-31 ................................................................ 191

10. Kapitel: Der Diskursrahmen von Ps. 9/ 10 und sein historischer Hintergrund .................................................................................... 197 10.1 Der theologiegeschichtliche Ort von Ps. 9/ 10 .............................. 197 10.1.1 Die Diskursivität paralleler und tangentialer Entwürfe ....................... 197 10.1.2 Die Polyphonie der Diskurse als Modell für literarische Zusmnmenhänge ........................................................................ 199

10.2 Der soziologische Ort von Ps. 9/ 10 .............................................. 201 10.3 Der historische Ort von Ps. 9/ 10 .................................................. 203 10.3.1 Ps. 9/10 mn Übergang von der persischen zur hellenistischen Epoche. 203 10.3.2 Die sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen ............................... 206

11. Kapitel: Zusammenfassung Teil II .................................................... 213

Teil III: Ps. 9 / 10 im literarischen Kontext

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext derPsalmengruppe Ps. 3-14 ............. 219 12.1 Das Ausgangsproblem ................................................................... 219 12.2 Die Psalmengruppe Ps. 3-14 .......................................................... 223 12.3 Das Profil von Ps. 9 / 10 im literarischen Kontext.. ....................... 224 12.3.1 Die Personen- und Gruppenkonstellationen ..................................... 225 12.3.2 Die Redesituationen ........................................... .. ......... ............. 228 12.3.3 Die Zeitverständnisse ................................................................. 230 12.3.4 Die Raumwahrnehmungen .......................................................... 232

12.4 12.5 12.6 12.7

Ps. 9 / 10 im Duktus der Psalmengruppe Ps. 3-14 ......................... 235 Ps. 9/ 10 und die Komposition der Psalmengruppe Ps. 3-14 ........ 236 Die Überschrift (Ps. 9,1) ................................................................ 242 Die Verwendung von Ps. 9 / 10 im Kontext von Ps. 3-14 ............. 244

13. Kapitel: Ps. 9/ 10 im Kontext des Psalters ....................................... 246 13.1 Ps. 9/ 10 und die Polyphonie des Elends im 1. Davidpsalter (Ps. 3-41) ......................................................... 246 13.2 Ps. 9/ 10 im Rahmen des "messianischen Psalters" (Ps. 2-89) ..... 250 13.3 Ps. 9/10 und die JHWH-Känig-Psalmen (ps. 93-100) ................. 255 13.4 Ps. 9/10 und das "Schlusshallel" (Ps. (145).146-150) ................. 258 14. Kapitel: Zusammenfassung Teil III ................................................... 261

x

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis .......... ......... ........ ........ ......... ........ ........ ........ ............ 263

Stellenregister ................... .. .............. .. ............... .. .............. .. ................... 277 Namenregister ............ ................ ................. ................ ................ ............ 290 Sachregister .............. ........ ........ ........ ......... ........ ........ ........ ......... ............ 292

Abkürzungen Die Abkürzungen richten sich nach: Schwertner, A.M, Theologische Realenzyklopädie, AbkÜTzungsverzeichnis, 2., überarb. und erw. Aufl., Berlin; New York 1994. In Ergänzung bzw. abweichend davon werden folgende Kürzel verwendet: AK cstr. Hg(g) Hiph. Imp. Inf. Koh. Kap. Ms(s).

MT Niph. Nom. o.g.

Part. Pers.

PK PI. Sg. Vrs. vs.

,

Affonnativkonjugation (Perfekt) (status) constructus Herausgeber Hiphil hnperativ Infinitiv Kohortativ (Selbstaufforderung) Kapitel Hebräische Handschriften Masoretischer Text Niphal Nominativ oben genannt Partizip Person Präfonnativkonjugation (Imperfekt) Plural Singular (alle oder einige) Versionen (antike Übersetzungsvarianten zum masoretischen Text) versus hinter einer Stellenangabe bedeutet, dass sich der Bezug nicht auf den vollständigen Textumfang richtet.

Einleitung

Psalm 9 / 10 im Horizont gegenwärtiger Psalmenforschung Die Psalmen 9 und 10, die einen zusammengehörigen Text ergeben (im Folgenden Ps. 9 / 10) und ihren festen Platz im Psalter innehaben, stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Sie ist von dem Interesse geleitet, den Text in seiner Gesamtkonzeption als Teil eines "Diskursgeschehen(s)"} kennen und verstehen zu lernen. Damit soll ein Beitrag zu einem Ausschnitt der Sozial- und Mentalitätsgeschichte sowie der Literaturgeschichte des Alten Testaments geleistet werden. Ps. 9/10 fungiert in diesem Zusammenhang als Fixpunkt, um den herum verschiedene Texte inner- und außerhalb des Psalters in den Blick genommen werden, um Konvergenzen und Spannungen zu verdeutlichen. Nicht zuletzt dient dieser Ansatz auch als Korrektiv neuerer literar- und redaktionsgeschichtlicher Analysen des Psalters und seiner Teilkompositionen. Bevor ich den Aufbau der Arbeit erläutere, soll mein methodischer Ansatz vor dem Hintergrund der neueren Psalmenforschung aufgezeigt werden.

Ps. 9 / 10 als Bezugstext Ein exegetisches Vorhaben von einem Einzeltext ausgehend durchzuführen, hat seine Vorbilder in der jüngeren Forschung. In den letzten zwei Jahrzehnten sind eine Reihe vergleichbarer Untersuchungen zu Einzelpsalmen veröffentlicht worden. 2 Motiviert waren sie insbesondere durch neuere Fragestellungen zur Kompositions- und Redaktionsgeschichte des Psalters sowie der stärkeren Konzentration auf die poetische Gestaltung und deren Sachprofil. Auch die vorliegende Untersuchung hat mit Psalm 9/10 einen Einzeltext zum Gegenstand, der bisher nahezu keine monographische Aufmerk-

eHR. HARDMEIER, Systematische Elemente, 112. Vgl. u. a.: W. BEYERLIN", 52. Psalm; DERS., 107. Psalm; K.-P. ADAM, Held; G. BRUNERT, Psalm 102; P. HUGGER, Zuflucht; F. v. D. VELDEN, Psalm 109; B. WEBER, Psalm 77. I

2

2

Einleitung

samkeit gefunden hat 3 Zwar findet sich zu ihm eine nicht geringe Zahl von Aufsätzen, doch behandeln diese in der Regel nur spezielle Probleme, wie z. B. die Zusammengehörigkeit des Doppelpsalms4 oder bestimmte Übersetzungsfragen 5 Und wo Ps. 9/ 10 nicht lediglich unter formkritischen, sondern auch unter inhaltlichen Aspekten untersucht wird/ geben die Verfasser damit meist erst den Anstoß für weitere Fragestellungen. Das betrifft u. a. auch die großkontextuelle Rolle, die dem Text in neueren Psalmenkommentaren, wie z. B. dem von F.-L. Hossfeld und E. Zenger/ zugeschrieben wird. Es lohnt sich daher, den Text mithilfe verschiedener inzwischen zur Verfügung stehenden Mittel genauer zu betrachten. Dabei geht es mir nicht darum, nur eine ganz bestimmte neuere Methode - z. B. die der Poetologie - in ihrer Effektivität noch stärker zu erproben 8 Vielmehr soll Psalm 9 / 10 beispielhaft für den nachexilischen Diskurs um die Königsherrschaft m\VHs, die Situation der "Annen" und deren Drangsalierung durch die sog. "Frevler" / "Heiden" untersucht und in seiner Beziehung zu ihm verwandten Texten dargestellt werden. Von da ausgehend gilt es, Position und Funktion des Textes auch im Zusammenspiel mit der Komposition des Psalters genauer zu bestimmen. Hierbei spielt die fonnalinhaltliche Konzeption des Textes eine entscheidende Rolle: "Wider den Anschein" so H. Spieckermann "hängt [nämlich1 die verstärkte Frage nach den Sammlungen sowie dem Psalter insgesamt mit der verstärkten Frage nach dem Profil des einzelnen Psalms zusammen. ,S Dazu muss einerseits der Doppelpsalm in seiner inneren Struktur untersucht werden, andererseits ist es notwendig, sein konzeptionelles und literarisches Umfeld in die Fragestellung einzubeziehen. Inwiefern dabei an bestehende Untersuchungen und Forschungsansätze angeknüpft wird, soll im Folgenden kurz erläutert werden.

3 Die Untersuchung von G. SCHMUTTERMAYR, Psalm 9/10, richtet sich schwerpunktmäßig auf Text und Übersetzung. 4 Z. B.: R. P. BERGER, Strophen; J. LEEVEN, Psalm X; P. W. SKEHAN, Broken Acrostic. 5 S. N. ROSENBAUM, Evidence; W. H. SIMPSON, Translation. 6 Z. B.: R. GORDIS, Psalm 9-10; N. FÜGLISTER, Hoffnung, W. BRUEGGEMANN, Psalm 9-10. 7 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZEN GER, Kommentar 1993. 8 Vgl. den Ansatz von B. WEBER; Psalm 77. 9 H. SPIECKERMANN, Hymnen, 140.

Psalm 9/10 im Horizont gegenwärtiger Psalmenforschung

3

Zur Formkritik und Poetologie War man in der Psalmenexegese bis in die siebziger Jahre hinein weitgehend darauf konzentriert, den venneintlichen "Sitz im Leben" des je einzelnen Psalms zu bestimmen lO, haben sich das Interesse und die Methodik auf dem Gebiet der Formkritik in den letzten Jabrzehnten merklich verschoben. Mittlerweile sind die Grenzen bei den Versuchen, die verschiedenen Texte einer konkreten Gattung zuzurechnen, deutlicher hervorgetreten. In dem Wissen, dass sich kein Psalm zu hundert Prozent in ein bestimmtes Gattungsschema pressen lässt, wird inzwischen mehr und mehr das Augenmerk darauf gerichtet, dass jeder Psalm ein sehr spezifisches Sprach- und Sachprofil aufweist.!! Ein solches Profil vereint dabei eine Vielzahl von Gattungselementen, die für sich genommen ihre eigene Geschichte aufweisen und einen eigenen Sitz im Leben gehabt haben. Im konkreten Text jedoch fügen sie sich zu einem neuen Bild zusammen und verändern dabei mitunter ihre ursprüngliche Fonn. Zum Teil stellen sich bestimmte Psalmelemente als Zusätze zweiter oder dritter Hand heraus, die im Laufe der Überlieferungsgeschichte angefügt worden sind. Innerhalb der letzten J abrzehnte ist es jedoch bedingt durch die fortscbreitende Differenzierung der Gattungsbausteine immer schwieriger geworden, Zusätze von integralen Bestandteilen eines Psalms abzuheben. Hier scheiden sich freilich die Geister: Anscheinend existieren in den Augen mancher Exegeten Psalmen fast nur noch mehrfach "geschichtet", und Traditionsgeschichte bedeutet hier offenbar etwa dasselbe wie Literarkritik. 12 Hingegen können andere Forscher zeigen, dass sich manche Textbestandteile literarkritisch nur um den Preis isolieren ließen, dass der Psalm in seiner meist kunstvollen Architektur erheblich gestört würde. Um die Methode der Literarkritik nicht ad absurdum zu führen, wird sie von jenen daher deutlich behutsamer angewendet. 13 In der Konsequenz tritt dafür die Anzahl nennbarer Einzelgattungen zurück und deren Rahmendefinition wird allgemeiner.

10 Vgl. z. B. für den institutionellen Hintergrund der Klagen des Einzelnen: L. DELEKAT, Asylie. 11 Vgl. F.-L. HOSSFELD IE. ZENGER, Kommentar 1993, 19. 12 Vgl. eHR. LEVIN, Gebetbuch, 380 f. 13 Vgl. M.1vfILLARD, Komposition, 47-50, der in der klassischen Fonngeschichte die Gefahr sieht, sie lediglich als "Hilfsmittel der Literarkritik" (a. a. 0.,48) zu missbrauchen. Allerdings bestreitet auch MnLARD nicht generell die Berechtigung von Literarkritik (vgl. DERS., Anmerkungen, 316), hingegen spielt sie in seiner Dissertation auch aus arbeitsökonomischen Gründen eine untergeordnete Rolle (vgl. Komposition, 5). Als berechtigt sehen es auch F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Antworten, 334, an, "den Hypothesenüberschwang der Literarkritiker zu dämpfen."

Einleitung

4

Da nun die verschiedenen Psalmen nichts desto weniger ein für sie spezifisches theologisches und sprachliches Profil aufweisen, werden gegenwärtig auf breiter Basis Methoden der literaturwissenschaftlichen Forschung angewendet, um das Phänomen ihrer sprachlichen Individualität besser verstehen zu können. Bei dieser exegetischen Tendenz, die man mit F.-L. Hossfeld / E. Zenger "unter dem Oberbegriff ,poetologische Analyse' zusammenfassen,,14 kann, handelt es sich allerdings nicht um eine einheitliche Forschungsrichtung. In ihr fließen unterschiedliche Erkenntnisse des Strukturalismus, der Sprechaktanalyse und anderer Ansätze zusammen. Mit der vorliegenden Arbeit wird nicht der Anspruch verbunden, auf diesem Gebiet methodisches Neuland zu betreten. Die Forschungssituation erfordert es jedoch, bereits gewonnene Erkenntnisse aus anderen Untersuchungen auf Psalm 9 / 10 anzuwenden. Unumgänglich ist aus meiner Sicht insbesondere die möglichst präzise Beschreibung des Parallelismus Membrorum (Verhältnis von Grafik, Phonetik und Semantik - Mikrostruktur), die Analyse der Wiederaufnahme von Wörtern!5 (Verhältnis von Stophik und Semantik - Makrostruktur) sowie die Erhebung von Zeit- und Sprecherperspektiven. Da mithilfe der Poetologie Psalmen in erster Linie als "Text" wahrgenommen werden, tritt das Interesse nach dessen historischem Hintergrund entsprechend zurück. Hand in Hand mit den darin enthaltenen methodischen Prämissen wird neuerdings in stärkerem Maße die Schriftlichkeit der Psalmen betont, meist unter Berufung auf die von F. Stolz vorgenommene Kategorisierung vieler Texte als "nachkultisch,,16. Problematisch wird dieser Ansatz m. E. jedoch dann, wenn darüber seine mündliche und damit auch in der Bevölkerung verankerte Bezugsebene verloren geht. Dabei entsteht zuweilen der Eindruck, als seien die Texte lediglich zum Zweck der Binnenkommunikation einzelner gelehrter Kreise verfasst worden. 17 In der vorliegenden Arbeit möchte ich zeigen, dass die meisten Psalmen (wie die anderen Texte des Alten Testaments) zwar durchaus von den geistigen Eliten des nachexilischen Judentums verfasst wurden - aber beileibe nicht lediglich für sie allein. Tatsächlich gehört hier das soziale Umfeld der Verfasser als Impulsgeber für die Textentstehung F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 1993,20 (Hervorhebung im Original). Vgl. B. WEBER, Werkbuch, 25 ff. 16 V gl. F. STOLZ, Psalmen. Hier muss man sich allerdings vor Missverständnissen schützen: "Nachkultisch" bedeutet im Sinne von STOLZ gerade nicht unkultisch; mit dem Begriff wird vielmehr eine Kultform definiert, die durch die Infragestellung bestehender Weltdeutungen evoziert wird (vgl. DERS., a. a. 0., 18-21). Insofern können nachkultische Psalmen durchaus mündlich verwendet worden sein. 17 Vgl. z. B. O. H. STECK, Abschluß, 109, der Texte wie Ps. 9710 "in den Rahmen eines literarischen Lesegebrauchs von Psalmen im Dienste sich vergewissernder Frömmigkeit" verweist. 14

15

Psalm 9/10 im Horizont gegenwärtiger Psalmenforschung

5

SOWIe als Rezipient derselben dazu. Es wird also darauf ankommen, das Verhältnis von Originalität und Konventionalität sowie dasjenige von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Zusammenhang mit Ps. 9/ 10 besser ins Auge zu fassen.

Zur Mentalitäts- und Sozialgeschichte Mit dem zunehmenden Interesse der poetologischen Forschung am Sachprofil des je einzelnen Psalms rücken inhaltliche Fragestellungen ebenfalls deutlicher in den Vordergrund. Was ist der spezifische Aussagegehalt eines Psalms, welche theologische Konzeption liegt ihm zugrunde? Die vorliegende Arbeit versucht die im Rahmen der Formkritik entwickelten Ansätze auch für die Mentalitäts- und Sozialgeschichte der exilischnachexilischen Zeit fruchtbar zu machen. Hinsichtlich des Interesses nach der Entwicklung von Vorstellungen hat es immer wieder Versuche gegeben, einzelne Motive der Glaubenstraditionen Israels näher zu bestimmen. So blickt z. B. die Suche nach einer spezifischen "Annenfrämmigkeit" in Israel auf eine hundertfünfzigjährige Forschungsgeschichte zurück. 18 Hier wurden beachtliche Ergebnisse erzielt, z. B. dass das in den Psalmen oft vertretene Adjektiv ~~li mehr bedeutet als materiell "ann" oder dass mit den C~~~li nicht nur einzelne "Anne", sondern auch Israel als Ganzes in seiner Gefahrdung von innen wie von außen gemeint sein kann. Gleichwohl wird der Gehalt dieser Motive nicht selten implizit vorausgesetzt, insbesondere dann, wenn sie (vor) schnell in den Dienst redaktionsgeschichtlicher Fragestellungen gestellt werden. Hinzu kommt jedoch ein Weiteres: Der Nachteil vieler bisheriger Ansätze besteht m. E. darin, dass sie in der Regel nur einen sehr begrenzten Motivkreis in die Untersuchung einbeziehen,t9 wodurch wichtige Vernetzungen und Überschneidungen mit verwandten Vorstellungen und Aussagen ausgeblendet werden. Ferner wird im Einzelfall suggeriert, die Motive hätten ihren Ort nur in einer ganz bestimmten Epoche der Geschichte Israels und damit auch eine nur sehr eingeschränkte Bedeu. 20 · tungs dImenSlOn. 18 Vgl. dazu den aufschlussreichen Forschungsbericht von N. LOHFINK, AnawimPartei. Ferner H. BIRKELAND, 'ani und 'anaw; P. v. D. BERGHE, 'ani et 'anaw; E. S. GERSTENBERGER, j"j.lll 11, dort bes. 259 ff., D. 1vfICHEL, Armut, 73 ff. 19 V gl. in diesem Zusammenhang die berechtigte Kritik von H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 18 f., gegenüber einer "flächendeckenden Belegkumulation" von Einzelaussagen, "bei der die Texte in der Regel ihr Gesicht verlieren." 20 V gl. die neuere Arbeit zur "Armenfrömmigkeit" von J. UN-SOK Ro, der zwar richtig erkennt, dass Armenfrömmigkeit spirituelle Aspekte enthält, jedoch an den Bezügen

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Einleitung

An dieser Stelle hilft jedoch ein selbstkritischer Seitenblick in die Methoden der französischen Historiographie. Dort hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der sog. Schule der ,,Annales,,21 ein Forschungszweig herausgebildet, der Geschichte nicht lediglich als Abfolge politischer Entscheidungen zu verstehen sucht, sondern v. a. nach den sich wandelnden Mentalitäten und Einstellungen fragt. Vorreiter der Gruppe waren L. Febvre und M. Bloch. Einer der bedeutendsten Vertreter der Annales, Femand Braudei, hat in seinem bis heute grundlegenden Aufsatz "Geschichte und Sozialwissenschaften. Die lange Dauer" darauf hingewiesen, dass sich die V orstellungen der Menschen ausgesprochen langsam verändern. Man müsse in der Geschichtswissenschaft "zwischen langen Rhythmen und kurzen Stößen und Schüben unterscheiden", so Braudei, "wobei wir die kurzen leicht bis zu ihrer unmittelbaren Quelle zurückverfolgen können, während sich die langen in einer femen Zeit verlieren.,,22 In Deutschland sind die Ergebnisse der Annales lange Zeit ignoriert worden, mittlerweile fordern jedoch nicht nur deutsche Historiker, sondern auch Alttestamentler ihre stärkere Beachtung. 23 Die wechselseitige Dynamik von Ereignisgeschichte und "langer Dauer" stellt für Rainer Kessler die methodische Grundlage seiner Einführung in die Sozialgeschichte des alten Israel dar. 24 Zu den epochenübergreifenden Aspekten gehört nach seinen Beobachtungen, "dass einmal entstandene soziale Formen die Tendenz haben, erhalten zu bleiben und dabei zugleich ihre konkrete Gestalt zu wandeln. ,lli), dient dem Verfasser geradewegs als Aufhänger für die nun wieder direkt an lHWH ergehende Aufforderung, die Erniedrigten nicht zu vergessen (V.12b). V. 12 und V.13 sind formalsyntaktisch miteinander gepaart, da auf den Imperativ (wie in 9,20 f.; 10,1) eine Warum-Frage folgt. Schließlich wirkt der gesamte Block durch den nochmaligen Ausdruck "er [der Frevler] spricht in seinem Herzen" (1:":1 ,~~) in V. 13b durch seinen Rückbezug aufV. 11a zusätzlich kompakt. V14 Der 1-Zeile wird von den Masoreten nur ein einzelner Vers zugeordnet. Als Parallelismus ist sie äußerst kunstvoll gestaltet, wobei eine chiastische Anordnung sowohl von der Wahl der Tempora (AK 2. Sg. in V. 14aa bzw. V.14b) als auch von der Stilistik her (Präposition + Suffix 2. Sg. in V. 14aß bzw. V. 14ay) erkennbar ist. Auffällig ist in diesem Zusammenhang das zweimalige Personalpronomen iili~ "du", das sich ebenfalls in die Überkreuzstellung einpasst und die Dringlichkeit des vorgebrachten Anliegens unterstreicht. Über die I,-Zeile hinweg wird darüber hinaus ein antithetischer Bogen zurück zu V. 11 geschlagen, und zwar indem der Behauptung des Frevlers, Gott "sehe nicht" (;r~'-':I) mit der Anrede an lHWH widerstanden wird, er sehe "das Leid" (,~~ vgl. 10,7) eben doch. Metrisch wird die Untereinheit durch ein 4+3 (5+4) _Schema34 geprägt. Damit setzt sie sich in dieser Hinsicht vom vorhergehenden Teilbereich ab. V 15 f Dass die tb-Zeile in sich als Untereinheit betrachtet werden kann, wird von den meisten Exegeten in der Regel nicht erwogen, da der Nominalsatz in 34 Unter der Voraussetzung, dass man ~,n" noch zu V. 14ay zählt. Die von K. SEYBOLD, Kommentar 1996, 54, vorgeschlagene Textumstellung ergäbe ein Schema 3+4114+3!7

2. Kapitel: Ps. 9/10 als Einheit

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V. 16a mit seiner Designation JHWHs als König den hymnischen Schluss akkord des gesamten Psalms bilde. 35 Doch ergeben beide Verse durchaus eine sachliche Parallele. Denn die Aufforderung an JHWH, den Arm des Frevlers und des Bösen zu zerbrechen (Ili- und ~-Alliterationen) bzw. seinen Frevel zu ahnden, so dass von ihm gewissermaßen nichts mehr bleibt, deckt sich recht gut mit dem triumphalen Ausruf, dass die Heiden aus dem Land "verschwunden" (':l~) sind. Ich möchte daher vorschlagen, V. 15 f. als synthetischen Parallelismus zu verstehen. Eine zusätzliche Stütze wäre gegeben, wenn man die jeweiligen Schlussalliterationen ~-, ~-, ~- beachtet. Zweifellos lässt sich natürlich eine noch bessere Analogie über die Schlussposition der Vokabel f1~ "Land", welche die Verse 16-18 zusammenhält, ausmachen. Wie man hier erneut sieht, sperrt sich der Text - und ich vermute, das ist vom Verfasser bzw. den Verfassern auch beabsichtigt - gegen allzu glatte Schematismen. V. 17 f Die letzte, mit n beginnende Zeile führt nun allerdings den Nominalstil aus V. 16 nicht weiter fort; und dass der hymnische Abschluss erst in jenem Vers beginne, kann man aufgrund der syntaktischen und stilistischen Ähnlichkeit zwischen der zuvor besprochenen Einheit V. 14 einerseits und V. 17 f. andererseits nicht behaupten. 36 Geht es dort um das "Sehen" und "Schauen" JHWHs (einmal mit einer AK- und einmal mit einer PK-Form ausgedrückt), so hier um das "Hören" der Armen (~~Ili) und "Festmachen" (ll~ hiph.) ihrer Herzen (ebenfalls einmal mit AK, einmal mit PK). In bei den Zeilen wird JHWH als Retter der Armen profiliert, und diese werden jeweils durch zwei Begriffe bezeichnet: ;r~,n ("der Schwache", vgl. 10,8) und 0111' ,("die Waise") in V. 14 und ebenfalls 0111' plus l ' ("der Bedrückte", vgl. 9,10) in V. 18. Hinzu kommt, dass dem JHWHs Handeln bezeichnenden Prädikat je eine Infinitiv-Konstruktus-Form als Ausdruck der Konsequenz dieses HandeIns folgt (nn, "um zu geben" in V. 14 und tlDIli' "um zu rechten" in V. 18). Insofern ist es durchaus sinnvoll, die li-Zeile ebenso als komplementären Parallelismus zu verstehen, zumal er sich durch seine 4+4 (5+5) Metrik heraushebt.

35 Vgl. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 109; F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Kommentar 1993, 88. K. SEYBOLD, Kommentar 1996, 58, nimmt V. 15-18 als zweiten Argumentationsgang innerhalb einer Reihe ab 10,12 an - markiert durch die beiden Imperativformen. 36 Vgl. R. GORDIS, Psalm 9/10,108.

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

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V 12-18 als Einheit Nach der ausführlichen Notschilderung in 10,3-11 bilden die Verse 12-18 auf der Makroebene besehen den Abschluss des gesamten Psalms. Dass auch ihr Übergang wegen der strukturellen Verbindungen zwischen V. 1113 fließend ist, wurde bereits erwähnt. Aufgrund der besonders anhand der letzten Untereinheit aufgezeigten Struktur- und Sachparallelen zwischen der ,- und n-Zeile, könnte man geneigt sein, den Schlussabschnitt (als reinen Hynmus) erst in V. 14 beginnen zu lassen. Doch steht dazwischen ja noch V. 15 f., der sich über die Imperativform eng mit V. 12 berührt 37 Insofern ergibt der Bereich V. 12-18 dennoch in etwa ein rundes Bild.

2.3 Schlussfolgerungen Auf die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen der akrostichischen Reihe, durch die der äußere Umfang des Textes festgelegt ist, und den poetischen Strukturen auf der Basis des Parallelismus Membrorum kann nun eine weiterführende Antwort gegeben werden. An manchen Stellen deckt sich die Zeilenstruktur des Akrostichons unmittelbar mit den zu Doppelverspaaren gestalteten Untereinheiten (wie z. B. in 9,14 f. oder 9,17 f.). In anderen Textteilen schließen sich beide Prinzipien nicht gegenseitig aus, doch beansprucht die entsprechende Konsonantenzeile nicht, dass ihr zugehöriges Doppelverspaar als ein geschlossenes poetisches Versatzstück festzulegen ist (so schließt z. B. die 1- wie die p-Zeile den ihr je vorhergehenden Vers zu einer trikolonischen Einheit ein). Schließlich läuft die alphabetische Folge auch völlig unabhängig vom Bauprinzip des Parallelismus (vgl. die Passage 10,6-9). Insgesamt gesehen muss man H. Gunkel zugestehen, dass die Form des Akrostichons durchaus Einfluss auf die Dichtungsweise der / des Verfasser(s) gehabt hat,'8 doch unterlagen die Schreiber damit keinem mechanistischen Zwang, der ihnen jegliche poetologischen Möglichkeiten im Weiteren verbaut hätte. 39 Ähnlich wie andere Texte ist Ps. 9/10 kein Psalm, "an dem der Form des Akrostichons mühsam Inhalte angepaßt werden. ,,40 Andererseits trägt die Konsonantenreihe auch nicht in jeder Hinsicht zur F onnvollendung bei - zumindest nicht in fonnalistischer Manier. Im Blick auf die äußerste Komplexität und Dichte der Gebetssprache, die es dem neuzeitlichen Betrachter nur mühsam erlaubt, etwas Ordnung darin zu schaffen, ließe sich die Funktion des Akrostichons V gl. die Argumentation von K. SEYBOLD z. St. Das betrifft naturgemäß in erster Linie den Zeilenumfang des Gedichtes. 39 V gl. H. JUNKER, Dnite, 166. 4 0 So mit Recht H. SPIECKERMANN, Hymnen, 148. 37

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2. Kapitel: Ps. 9/10 als Einheit

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möglicherweise folgendermaßen präzisieren: Es soll der Absicht des / der Verfasser(s) Ausdruck verleihen, dass der Psalm einen "roten Faden" bzw. einen Vorwärtsdrang41 besitzt - sprich: Dass Ps. 9 / 10 eine wohl überlegte Konzeption darstellt, wird dabei äußerlich durch die alphabetische Reihe markiert. Des Weiteren kann man zwar einzelne Absätze des Psalms erkennen (deren Reihenfolge unumkehrbar ist), diese heben sich jedoch stärker durch Grenzbereiche und Übergangspassagen voneinander ab als durch feste Einschnitte 42 Dabei wurde ebenfalls die Schlüsselrolle des vierten Absatzes - also des mittleren - deutlich, insofern sich hier tendenziell der Übergang vom Lob in die Bitte / Klage vollzieht. Darüber hinaus stellt der letzte Abschnitt den Zielpunkt der gesamten Dichtung dar, weil in diesem Bereich alle zuvor angesprochenen Gebetsdimensionen (Klage, Bitte und Lob) zusammenfließen. Unter diesem Vorbehalt lassen sich sieben Abschnitte vorsichtig unterscheiden: I. II. III.

IV. V. VI. VII.

Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps. Ps.

9,2-7 9,8-11 9,12-17 9,18-10,2 10,3-7 10,8-11 10,12-18

Da es sich hierbei nicht um "Strophen" / "Stanzen" handelt, die sich randscharf abgrenzen ließen, werden - je nach Fragestellung und Beobachtung - im Folgenden auch andere Passagen zur Besprechung markiert.

41 Texte können in den meisten Fällen nicht von hinten nach vorne gelesen werden, ohne ihren Aussagegehalt zu verlieren. Doch im Vergleich zu Ps. 9/10 kann man sich bei Ps. 37, der von seiner Form dem weisheitlichen Spruchgut nicht fern steht, durchaus fragen, welcher Gedankenfortschritt vom Anfang bis zum Schluss eigentlich erzielt worden ist. Auch wenn der Text natürlich eines bestimmten Aufbaus nicht entbehrt, scheint immerhin ein Zentralthema von immer anderen Seiten beleuchtet zu werden. Gerade deswegen geht das Akrostichon auch hier mit den einzelnen Bauteilen so vorzüglich Hand in Hand. Hätte der Verfasser von Ps. 9/10 ähnliches versucht, wäre dem Text insgesamt die Spannung verloren gegangen. 42 Die These B. WEBERS, Werkbuch I, 79, Ps. 9/10 gliedere sich in zehn gleich umfangreiche Einheiten, bestehend aus jeweils zwei zusammengehörigen Stanzen des Akrostichons, ist m. E. zu schematisch ausgerichtet.

3. Kapitel

Perspektiven Im vorangegangenen Kapitel wurden schon vielfaltige Gesichtspunkte zur Gliederung von Ps. 9/10 deutlich. Diese Ergebnisse werden im Folgenden weitergeführt, wobei der Fokus auf den im Text enthaltenen zeitlichen und räumlichen Vorstellungen sowie auf der Perspektive der Sprechenden bzw. des Psalmisten liegt. Damit tritt eine weitere Vennittlungsperspektive zwischen Form und Inhalt hervor. Diese Vorgehensweise ist allein deshalb notwendig, weil in jüngerer Zeit mehr und mehr die Erkenntnis Raum gewinnt, dass ein hinreichendes Verständnis von Psalmen nur dann erfolgen kann, wenn ihr spezifisches Profil so genau wie möglich erfasst wird, bevor sie einem übergeordneten Texttyp zugeschrieben werden. Im Übrigen werden hierbei wichtige Weichenstellungen getätigt, um die Mentalität und Vorstellungswelt des Psalmisten besser verstehen zu können.

3.1 Die Redesituation Zur Gliederung des Psalms wurde u. a. das Kriterium der Rederichtung und der Sprecherperspektive herangezogen. Dabei hat die Untersuchung bereits zeigen können, dass der Text nicht aus einer Sprecherperspektive allein redet, sondern offensichtlich mit verschiedentlich stilisierten Redesituationen arbeitet. Im Folgenden wird der Gesamttext unter diesem Aspekt gesondert untersucht - einmal, um die verschiedenen Sprechakte präzise herauszuarbeiten, zum anderen, um das Verhältnis des Verfasser(kreises) zu seinem Text zu beschreiben. Innerhalb des Abschnitts Ps. 9,2-7 erhebt ein Ich seine Stimme zum Lob JHWHs. Dieses Ich meldet sich anfangs in der Form von vier Kohortativen (Selbstaufforderungen) zu Wort (V. 2: "Ich will preisen" ;r,,~; "Ich will erzählen" ;r'DO~; V. 3: "Ich will mich freuen" ;rMil1~; Ich will musizieren" ii'~i~). In den beiden folgenden Versen ist dieser Sprecher immer noch präsent, erkennbar an den Suffixen der 1. Pers. Sing. ("meine Feinde" ~~~i~ V.3; "mein Recht und meine Sache" ~~~'i ~~Dtb~ V.4). Implizit spricht er sich auch in V. 6 f. aus, denn der Betende redet JHWH von V. 2 ab immer direkt an. Für die Verse 2-7 kann also eine konstante Redesituation festgestellt werden.

3. Kapitel: Perspektiven

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Mit V. 8 tritt eine Veränderung ein: JHWH wird nicht mehr direkt angesprochen, sondern in Form beschreibender Rede (3. Pers.). Dieser Wechsel der Rederichtung gilt zunächst als konstitutiv für die Gattung des Dankliedes 1 Insofern ließe sich der Abschnitt 9,8 ff. in Bezug auf den Psalmsprecher problemlos mit dem vorhergehenden in Einklang bringen. Das ändert sich jedoch in den darauffolgenden Versen. In V. 11 kehrt zunächst die Sprechrichtung wieder zurück in die direkte Anrede an JHWH, so dass man darin eine Weiterführung von V. 7 sehen könnte. Doch wird nicht mehr aus der Perspektive der 1. Person heraus gesprochen, sondern in "unpersönlicher" Form - gewissermaßen durch eine (oder mehrere?) Stimme(n) aus dem "Off,2 Diese Stimme befiehlt JHWH eine Gruppe von Menschen an, die als diejenigen, die JHWH "suchen" (Ili") bzw. seinen Namen (Ctb) kennen, bezeichnet werden. Von dieser Warte aus ergibt sich eine auf den Psalm intern angewendete Deutung, welche die Begründung dafür abgibt, weshalb sich in V. 2 f. überhaupt ein Einzelner lobend zu Wort meldet: Er ist nämlich genau ein Vertreter dieser JHWH Suchenden, der sich - seinen Namen kennend (~" V. 11) und diesen preisend ('~l V. 3) - bei Gott in Sicherheit birgt. In Ps. 9,2-11 zirkulieren also die Redehaltungen, was zu dem Schluss führt, dass die klassische Form des individuellen Dankliedes durchbrochen wird. Theoretisch könnte man - bei V. 11 angekommen - den Psalm wieder von vorne anfangen zu lesen. Dabei ergäbe sich sogleich die Konkretion des llIWH-Suchens: unvermittelt einsetzender Lobpreis. Die sich gegenseitig abwechselnden Gebetshaltungen finden ab V. 12 f. eine ähnliche Fortsetzung. Die pluralisch formulierte Aufforderung, JHWH zu loben, ergeht wiederum von einem nicht unmittelbar in Erscheinung tretenden Sprecher (oder von mehreren Sprechern). Auf die Begründung des Lobes - dass JHWH nämlich die einzelnen "Armen" erhört hat - folgt die kleine Demonstration eines Bittrufes: Es ändert sich wieder die Sprecherperspektive, ein einzelner Notleidender konunt - wie in 9,2 ff. - selbst zu W ort 3 Er bittet darum, dass Gott sein Elend ansieht. Von der Erhörung seines Gebets wird in den Versen 16 f. berichtet. Dort redet hingegen wieder der "unsichtbare" Sprecher. Dieser Rückblick über die erfolgte Erhörung des Bittrufes könnte ebenso gut Anlass sein, nun wieder das Loben llIWHs für diese Tat zu beginnen (wie dies beispielsweise in Ps. 30,12 f. geschieht).

Vgl. F. CRÜSEMANN, Studien, 225 f., 282 f. Vollständig: "offthe screen" engl.: "nicht auf der Bildfläche". Der Ausdruck stammt aus der modemen Tonpräsentation. Im Gegensatz zu "on (the screen) " ist der Sprecher des Textes nicht im Bild zu sehen. Man könnte probeweise Ps. 9/10 mit verteilten Rollen lesen (vgl. E. S. GERSTENBERGER, Perserzeit, 278). 3 Vgl. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 106. I

2

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Ab 9,18 ff. bleibt der unpersönliche Redestil, auch wenn JHWH nunmehr wieder direkt angesprochen wird (9,20-10,1). Innerhalb der ausführlichen Notlagenschilderung wird ferner die relative Distanz des Sprechers zum ablaufenden Geschehen deutlich. Er ist in der Lage, das frevlerische Handeln des litb1 zu beschreiben und kann sogar dessen Gedanken lesen (10,4.6)4 "Hingegen weist nichts daraufhin, daß der Betende sich persönlich als Opfer des ,Frevlers' zu beklagen hat. Gewiß leidet er mit den an Leib und Leben betroffenen Armen. [ ... ] Die daraus für den Psalmisten resultierende existentielle Notlage veranlaßt ihn zur Wiederholung des schon zu Beginn des eigentlichen Gebets leidenschaftlich vorgetragenen An- und Anrufen Gottes (vgl. 9,20).,,5 Dieses Beten wird im sechsten Abschnitt zusammen mit lobenden Worten fortgeführt. Die Rederichtung ist dabei konstant von dieser "unpersönlichen" Stimme an JH\VH, angesprochen in der 2. Pers., gerichtet. Lediglich in 10,16 wird von JHWH in der 3. Pers. gesprochen (Nominalsatz). Insgesamt besehen stößt man auf das überraschende Phänomen, dass sich die Ich-Reden (9,2-7; 9,14 f.) überhaupt nicht auf den gesamten Text von Ps. 9/ 10 erstrecken, sondern nur partiell vorzufinden sind. Darin unterscheidet sich sein Stil von dem der anderen Akrosticha des Psalters. In Ps. 25 ist die Ich-Perspektive (von V. 22 abgesehen, der über die n-Zeile hinausreicht6) ununterbrochen durchgehalten (Y. 1 f.4 f.7 f.l1.15-21). Ps.34 beginnt ähnlich wie Ps. 9 mit einer Selbstaufforderung zum Lob (V. 2 f). Daran knüpft der Beter sogleich die Aufforderung an eine Gruppe, mit ihm zusammen (,.,n") das Lob zu vollziehen (Y. 4), was in 9,12 f so explizit nicht geschieht. 34,5 enthält einen Rückblick des Beters auf seine Erhörung durch ffiWH, aus dem in den folgenden Versen weitere Konsequenzen gezogen werden. In 34,12 schließlich fordert der Beter seine Zuhörer auf, sich in die Gottesfurcht unterweisen zu lassen, woraufhin das Schlusskorpus des Psalms (V. 14-22) eben diese Belehrung sentenzenartig durchführt. Darin gibt der Sprecher seine "Erfahrungsweisheit" weiter. Bis auf zwei Verse (25.35) erscheint ein Sprecher-Ich in Ps. 37 kein einziges Mal. Allerdings ist der Text von K bis n als eine Mahmede an den Hörer gestaltet, infolgedessen können die entsprechenden autobiographischen "Einwürfe" als Verstärkung ihrer Evidenz verstanden werden. Damit ergibt sich auch für Ps. 37 eine konstante Sprecherperspektive. Das gilt auch für Ps. 111, dessen "Ich" einen kleinen ffiWH-Hymnus einleitet, und für Ps. 112, der wiederum ganz im unpersönlichen Stil gestaltet ist. Die Sprecherperspektive des größten Akrostichons im Psalter, Ps. 119, lässt sich am ehesten mit derjenigen von Ps.25 vergleichen, da beide aus der Sicht eines sich vor JHWH demütigenden Menschen gestaltet sind. 4 D. h. es liegt hier gewissermaßen das negative Pendant zu den im Stil der Ich-Rede gehaltenen Lob- (9,2 ff) und Klagerufen (9,14 f) vor. Diese lassen sich auch als Zitate verstehen, die der Psalmist ins Spiel bringt. 5 N. FÜGLISTER, Hoffnung, 108 f 6 Hier liegt aller Wahrscheinlichkeit nach eine spätere Ergänzung vor, vgl. K. SEYBOLD, Einführung, 66.91; F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Thronsitz, 386.

3. Kapitel: Perspektiven

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Schließlich ist Ps. 145 zu nennen, der aufgrund seiner Thematik (Königtum ffiWHs V. 1.11-13 und dessen Konkretion in der Fürsorge für die Armen und Schwachen V. 1416) mit Ps. 9/10 verwandt ist, wenngleich die Unterschiede zwischen beiden Texten nicht verwischt werden dürfen. 7 Der Verfasser nutzt, Ps. 9,2 f; 34,2; 111,1 vergleichbar, den x-Einsatz für eine Selbstaufforderung zum JHWH-Lob (V. 2 f). Die hymnische Grundstimmung durchzieht den gesamten Psalm, bis sich schließlich der Sprecher in V. 21 noch einmal selbst zum Lob auffordert ("0 "mein Mund"). Gerade hier zeigt sich der Gegensatz zu Ps. 9/10 besonders deutlich: Auch wo der Verfasser den Spannungsbogen des hymnischen Lobpreises gegen Ende wieder auffangt (10,16 ff), geschieht keine Anbindung an eine individuell erkennbare Einzelperson, die man mit dem Sprecher des Gesamttextes identifizieren könnte.

Ps. 9 / 10 ist also durch die Vielstimmigkeit oder "Polyphonie"s verschiedener Redesituationen gekennzeichnet. Diese zunächst formalen Beobachtungen gewinnen dort ihren heuristischen Wert, wo mit ihrer Hilfe ein Beitrag zum Verständnis von Ps. 9 / 10 im Ganzen zu leisten ist - und das bedeutet vor allem die Verhältnisbestimmung des Einzelnen zum Kollektiv. Sollte die Tatsache, dass das zu Wort kommende Ich in 9,2 ff. bzw. 9,14 f. eine vom Verfasser bewusst vorgenommene Stilisierung beinhaltet - vereinfacht gesagt - dazu fuhren, dass "alle individuelle kultische Terminologie und Phraseologie des Psalms kollektivierend auf das V 01k,,9 zu übertragen ist? Meines Erachtens kann man diese Art der N euinterpretation aus Ps. 9/ 10 nicht exegesieren, da die Sil1l1spitze des Textes Ja gerade 1ll der Bewältigung der je einzelnen Not liegt, die selbstverständlich "mit der Not Israels untrennbar verbunden ist (V. 1921).,,10 Die Botschaft des Textes zielt eben darauf ab, dass der hier und jetzt isolierte und der Gefahr ausgesetzte Einzelne (10,3-11) die Hoffnung nicht verlieren soll, in der Gemeinschaft Israels zu bleiben, da JHWH immer wieder die Schreie der Hilferufenden gehört hat (9,12 ff.). Es geht darum, als Einzelner die Erfahrung in der Gegenwart machen zu können, die Feinde bereits auf dem Rückzug zu sehen (9,4), weil ihr völliger Untergang von jeher schon im Gang ist (9,5-7). Der Psalmist nimmt in diesem (zeitlichen und personellen) Erfahrungsraum eine Vermittlerrolle ein, und gerade deshalb tritt er als eigenständiges 7 Insbesondere hinsichtlich des je eigenen Zeitverständnisses, worauf J. JEREMIAS, Königtum, 146, nachdrücklich hinweist. Der Blick ist in Ps. 145 ganz auf die Gegenwart gerichtet (vgl. dazu insbesondere Kap. 4.2). 8 In Anlehnung an M. M. BACHTIN, Probleme, der den Begriff auf die Strukturen der direkten Rede in den Romanen F. M. DOSTOJEWSKIJS angewendet hat. Diese Strukturbeschreibung der internen Vielstimmigkeit von Ps. 9 110 wird für die Frage seiner Verortung im literarischen Zusammenhang von vertiefender Bedeutung sein (vgl. 10.4). 9 J. BECKER, Israel, 62. 10 J. JEREMIAS, Königtum, 144, Anm. 3, der mit Recht darauf aufmerksam macht, dass eine einseitige kollektive Deutung des Psalms seiner ureigenen Intention nicht entspricht. Damit ist natürlich noch nicht gesagt, dass der Verfasser des Psalms notwenig eine Einzelperson ist.

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

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Subjekt nicht unmittelbar in Erscheinung. Der nächste Absatz versucht diese These zu stärken mit dem Hinweis darauf, dass der Verfasser(kreis) darüber hinaus gar keine Möglichkeit hat, mit der ausschließlich an seine Person gebundenen Zeit, solche Erfahrungen mit Gott weiterzugeben, die für die Hörer eine neue Perspektive eröffnen können.

3.2 Das Zeitverständnis In der Erforschung von Ps. 9/10 als einer Texteinheit ist viel und zu Recht diskutiert worden, wie denn ein Lob- und Danklied, das ja nonnalerweise von einer Rettungstat berichtet, vor dem Hintergrund eines breit ausgeführten Klageteils, der die zurückliegende Befreiung zu konterkarieren scheint, zu verstehen sei. Dazu musste geklärt werden, wie sich die verschiedenen Textbereiche zeitlich zueinander verhalten. Sind bestinunte Aussagen an zeitliche Kategorien gekoppelt, die eindeutig der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft zugeordnet sind? Wie stellt sich das Verhältnis von Lob zu Klage zeitlich dar, wenn der Schreiber des Psalms selbst und seine Persönlichkeit nicht zum Maßstab der Orientierung erhoben werden? Müssen ausgehend davon möglicherweise andere Wege gesucht werden, um die vorgefundenen Phänomene zu beschreiben? Jene Ausleger, die das "Ich" des Beters, wie es sich in 9,2 ff.14 f. ausspricht, direkt mit dem Psalmisten identifizieren, sind in besonderer Weise mit dem Problem konfrontiert, die verschiedenen Aussageprofile des Textes in ein zeitliches Verhältnis zur konkret betroffenen Person des Beters zu setzen. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, es werde eine individuelle Rettungserfahrung als zeitlich zurückliegendes Ereignis thematisiert. Die Not des Beters gelte als überwunden. Gott habe eingegriffen. Da nun im Kontext von Ps. 9/ 10 trotz der Rettungstaten JHWHs immer noch mit der Not gekämpft wird, sind in der Auslegung verschiedene Lösungswege angeboten worden, die damit verbundenen Zeitverhältnisse zu koordinieren. Eine Antwortmöglichkeit besteht darin, die im Klageteil beschriebene Not von der Person des Psalmisten abzukoppeln und zeitlich zu neutralisieren. Nach dieser Deutung (die ich im Ansatz teile) lässt sich mit H. J. Kraus vermuten, der Beter habe seine persönliche Rettungserfahrung zum Anlass genommen, zu einer "umfangreichen Belehrung der Zuhörer"!! überzugehen. Hier läge dann "das Einfallstor für die verschiedenen Mitteilungen, die - über das persönliche Rettungserlebnis hinausgehend - in anderen Gattungen vorgebracht werden. ,,12 In diesen diversen 11

H. J. KRAus, Kommentar, 220.

12

Ebd.

3. Kapitel: Perspektiven

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Mitteilungen hätte dann auch die Klage, wie man sie am ausführlichsten in Ps. 10 wiederfindet, ihren berechtigten Platz. Dabei würden die Zuhörer zur Auseinandersetzung mit Problemen herausgefordert, "die durch die Hiobdichtung und Ps. 73 in nachexilischer Zeit aktuell waren [ ... ].,,13 H. J. Kraus verweist hinsichtlich des belehrenden Charakters auf Thr. 3, der oben zunächst aufgrund der Formverwandtschaft mit ins Auge gefasst wurde. 14 Ist nun aber der Beter, der in Ps. 9,2 ff. zu Wort kommt, seinen vermeintlichen Hörern die Erfahrungen betreffend ebenfalls einen Schritt voraus? Dies kann nach dem, was V. 4 zu dieser Frage hergibt, nur insofern der Fall sein, als dass er seine Feinde bereits im Fliehen begriffen sieht. Doch diese Gewissheit gibt dem Beter bzw. dem Verfasser keinen direkten Anlass dazu, die Hörer zu belehren. Es geht nicht darum, die anwesende Gemeinde zu motivieren, zu ermahnen und zu einer neuen Perspektive zu bewegen (vgl. Thr. 3,40 ff.); sonst müsste man hierzu bestimmte Formulierungen und Wendungen erwarten. Als näher liegende Parallele innerhalb des Psalters, aus dem Lob heraus in eine Belehrung und Unterweisung der Zuhörer überzuwechseln, kommt Ps. 34 - ebenfalls ein Alphabet-Akrostichon - in Frage. Wie in Ps. 9,2 ff beginnt der Beter auch hier mit einer Selbstaufforderung zum Lob (34,2 f), die in V. 4 und V. 9 f. mit einer entsprechenden Aufforderung an die Umstehenden gepaart wird (vgl. 9,12 f). V. 12 geht dann explizit in die Unterweisung über, die in weisheitlicher Prägung die Bevorzugung der Gerechten vor den Frevlern durch JHWH verdeutlichen will. An diesem Punkt ist Kraus insofern Recht zu geben, als hier tatsächlich eine Art Scheitelpunkt im Text überschritten wird (ähnlich wie von Ps. 9,17 zu 9,18 ffl5) Die extensive Klage, zu der in Ps. 9/10 wesenhaft die direkten Bitten an JHWH gehören, hat in Ps. 34 bezeichnenderweise keine Funktion. Dementsprechend erzeugt der Text auch kein zeitliches Spannungsverhältnis zwischen zurückliegender Rettung, gegenwärtiger Not und noch ausstehender Befreiung aus derselben: Der Psalmist will ja gerade die Regelmäßigkeit des Handelns ffiWHs bezeugen (vgl. V. 10 f.). Lediglich der endgültige Untergang der "Frevler" stehe noch aus (V. 22), doch werde deswegen nicht die fortwährende Bewahrung der "Gerechten" verhindert (V. 18-21).

Eine andere Möglichkeit, die Situationen von Not und Klage mit der Person des Betenden in Bezug zu setzen, besteht darin, die zeitlich zurückliegende Rettungserfahrung auf eine allgemeine Ebene zu heben. Für diese Option spricht, dass die Schilderungen in Ps. 9,2 ff. - auch wenn sie mit einem betenden Ich in Verbindung stehen - einen vergleichsweise "unpersönlichen" Eindruck erwecken. Der Beter hebt in V.2 dazu an, nichts weniger als "alle Wunder", die 1lI\VH getan hat, zu erzählen. Aber 13 Ebd. 14 "Von diesem Bemühen her, aus der persönlichen Glaubenserfahrung heraus der Volksgemeinde neue Hoffnung und Orientierung zu vermitteln", so urteilt auch R. ALBERTZ, Exilszeit, 133, "lassen sich alle Besonderheiten erklären, mit denen Thr. 3 von einem normalen Danklied abweicht." 15 Vgl. Kap. 2.2.

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

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nicht nur das: Er will sich freuen, jubeln und musizieren - eine Einzelperson vereint das gesamte Gotteslob auf sich. Redet ein Mensch hier überhaupt noch speziell von seinen Erfahrungen? W. Beyerlin hat daher vorgeschlagen, Ps. 9 / 10 als eine "t8dii der Heilsvergegenwärtigung" aufzufassen, d. h. ,,(i)ndem sich der Beter die machtvollen Erweise des Gottesgerichts in der Vergangenheit ins Bewußtsein erhebt, weiß er zugleich, daß damit auch das Gericht längst seinen Anfang genommen hat, durch das ihm in seiner eigenen Sache Recht zuteil wird (v. 5)."!6 Damit trifft Beyerlin einen wesentlichen Aspekt der Intention. Problematisch an seiner Deutung ist lediglich, dass er einerseits die Heilstaten zu einseitig von konkreten Geschichtsereignissen abzuleiten versucht (Landnahmeüberlieferung), andererseits - und hier liegt die eigentliche Spannungkann er die Vergangenheitsperspektive nicht konsequent nachweisen. Denn, wie er selbst einräumt, manifestiert sich das Heilshandeln m\VHs, auf das der Beter rekurriert, "ebenso aber auch in den fortgehenden Strafgerichten an den Frevlern und Bedrängern der Schwachen wie umgekehrt auch in jeder Errettung eines Schutz bedürftigen und Bedrängten.,,!7 [Hervorhebung D. S.]. Richtet sich der Blick dann möglicherweise gar nicht zurück, sondern nach vom? Diese Frage führt zur dritten Alternative, Ps. 9 als lobpreisende Vorwegnahme der zukünftigen Heilsereignisse aufzufassen 18 bzw. das einleitende Lob des Ich-Beters im Sinne eines Lobgelübdes zu verstehen 19 Die gegenwärtige Situation des Beters sei die Klage- und Notsituation. Daraus ergeben sich dann seine Bitten für die Zukunft. Wenn aber JHWH das Gericht endgültig vollzogen habe, erst ,,(d)ann will der Beter das von ihm zitierte Loblied singen.,,2o Nach N. Füglister liegt Ps. 9 im Wesentlichen die Form des "eschatologischen Lobliedes" zugrunde, "das ähnlich strukturiert und situiert ist wie die hymnischen Texte im Deutero-Jesaja.,,21 Doch kann man die eschatologische Konzeption eines Deutero-Jesaja - bei aller Vergleichbarkeit - so ungehindert auf den psalmistischen Kontext übertragen? Mit J. Jeremias ist hier berechtigterweise Vorsicht vor allzu

w. BEYERLIN, Heilsvergegenwärtigung, 222. Ebd. 18 Diese konsequent eschatologische Deutung vertritt H. JUNKER, Unite. 19 M. DAHOOD, Kommentar, 54: "The opening verses become a promise to thank Yahweh on condition that he put the psalmist's enemies to flight." Diese Sicht gewinnt er daraus, die AK-Fonnen in 9,5-7.16 f. als "precative perfects", also bittendes Perfekt, zu interpretieren, womit die gesamte Passage 9,5-11. 16-19 jussivisch verstanden werden soll. Doch geht das Konzept DAHOODS wohl ein wenig zu glatt auf, da er nicht berücksichtigt, dass der in 9,2-7 redende Beter die übrigen im Text angesprochenen Probleme gar nicht auf sich selbst bezieht, da die Sprechsituation eben nicht durchgängig ist. 20 N. FÜGLISTER, Hoffnung, 105. 21 Ebd. 16

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3. Kapitel: Perspektiven

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glatten Lösungen geboten. Denn: "Als Prophet Ereignisse zu schauen und als schon eingetreten zu beschreiben und als Gemeinde zum Loben und darüber zum ,Erzählen' aufgefordert zu werden, sind zwei grundsätzlich zu unterscheidende Situationen. ,,22 "Erzählen" (9,2.15) setzt Erinnerung voraus, ein Gedenken an etwas Geschehenes, oder, um es mit J. Assmann zu fonnulieren, so etwas wie ein "kulturelle(s) Gedächtnis,,23. So nimmt es auch nicht Wunder, dass die Vokabel '::>1 ~ "erinnern / gedenken" in Ps. 9/10 Leitwortcharakter besitzt (9,7.13). Das Gedenken an die Fremdmächte soll endgültig ausgelöscht werden. JHWH dagegen wird als derjenige bekannt, welcher der C"l~ ("Erniedrigten") gedenkt. Der konzeptionelle Oppositionsbegriff zu '::>1 ist r1::>1li ~ "vergessen". Dieses Verb nimmt im Textganzen, wie bereits deutlich wurde,24 einen noch breiteren Raum ein (9,13.18.19; 10,12). Es ist also notwendig, das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft in Ps. 9/10 genauer zu bestimmen, um die so disparat erscheinenden Aussagen besser einordnen zu können. Diese Aufgabe kann bewältigt werden, ohne dem Zwang zu unterliegen, die individuelle Person des Verfassers direkt mit den verschiedenen Zeitfonnen in Einklang bringen zu müssen. Der Psalmist vertritt zwar das Anliegen "seines" Textes, betrachtet jedoch die den unterschiedlichen Zeitkategorien verhafteten Akteure aus der Anteil nehmenden Außenperspektive. Zunächst gehe ich noch einmal auf die Vergangenheitsperspektive ein, die ja mit dem "Erzählen" zusammenhängt: Im Unterschied zu Ps. 30 z. B. orientiert sich das Erzählen nicht an der Zeit, die unmittelbar an die Person des Betenden gebunden ist. Nachdem jener Beter JHWHs Rettungstat erfahren hat, erscheint ihm im Rückblick die Zeit der Not und des Gotteszoms lediglich wie ein kurzer Augenblick (1.lJ' 30,6). Das Weinen dauert allenfalls vom Abend (~'ll) bis zum Morgen (,p~). Und dieses Zeitmaß wird zur Perspektive für alle weiteren Notsituationen - unabhängig davon, wie lange das Elend faktisch dauert. Entscheidend ist die Wahrnehmung des zeitlichen Faktors im Blick auf die Gottesbeziehung.

Das Problem von Ps. 9/ 10 liegt demgegenüber nicht (mehr) in einer auf eine Einzelperson zeitlich eingegrenzten Phase der Abwesenheit Gottes und der daraus resultierenden Not. Und der Verweis auf die eigene Lebenszeit des Verfassers beinhaltet kein Kriterium (mehr), um die empfundene Abwesenheit JHWHs zu überbrücken. Was der Psalmist das betende Ich "erzählen" lässt, trägt daher weniger konkret persönlichbiographische als vielmehr mythische Züge. Das wird auch an der Verwendung des Wortes '~l ~ "schelten" deutlich, welches der ChaoskampftJ. JEREMIAS, Königtum, 127. J. ASSMANN, Gedächtnis, 12-16. 24 S. Kap. 4.2. 22 23

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

hematik entnommen ist, einem Traditionskomplex, der das UT- und überzeitliche Bändigen der chaotischen Mächte der Welt (Wasser des Meeres, vgl. Jes. 50,2; Ps. 18,16; 104,7, das JHWH zum Fliehen zwingt) durch JHWH symbolisiert. An anderer Stelle überträgt sich diese Vorstellung auf den Kampf JHWHs gegen die Israel feindlich gesinnten "Völker" (c~~17), die von ihm wie das Chaoswasser zum Zurückweichen gezwungen werden (Jes. 17,12-14). Die mythische Erzählform ist auch daran erkennbar, dass die erwähnten "Heiden" (C~iJ) zwar als Fremdmächte identifiziert, jedoch nicht einem oder mehreren konkreten Völkern zugeordnet werden können. Die "Städte" (c',~ 9,7), die JHWH in Trümmer geschlagen hat, tragen keine Namen, ja, ihre Namen hat ll-IWH gerade getilgt! Dies verweist eindeutig auf eine beabsichtigte Konzeption und nicht etwa auf das Unvermögen des Verfassers, geschichtliche Ereignisse korrekt in Erinnerung zu rufen. Aber wichtiger noch: Der Verfasser gibt keinen Hinweis darauf, wie weit diese Ereignisse in die Vergangenheit hineinreichen. Im Gegensatz zu Ps. 44,2 f. z. B., wo der Psalmist auf die Überlieferungen der Väter verweist, die von den wunderbaren Taten JHWHs in "früheren Tagen" (c,1' '~':l) zu erzählen wussten, liegt dem Verfasser von Ps. 9 / 10 gerade daran, das zu erzählende Traditionsgut nah an die Gegenwart heranzuholen und gleichzeitig noch stärker zu generalisieren. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich des Charakters der "Heilsvergegenwärtigung" (Beyerlin), die eher auf geschichtliche Einzelereignisse fixiert ist. Dass Ps. 9/10 nicht wie beispielsweise Ps. 105 in - nach heutigen Maßstäbenkonkret geschichtlichen, sondern stärker mythischen Kategorien redet, wenn es um die "Vergegenwärtigung" der Vergangenheit geht, hat natürlich auch einen sachlichen Grund: Die Rettung eines jeden "everyman"25, um die es dem Psalmisten ja gerade geht, lässt sich nicht aus bestimmten Geschichtsereignissen nachweisen,26 es sei denn, er wollte auf ganz herausragende Einzelpersönlichkeiten verweisen. Es geht dem Verfasser aber um den theologischen Nachweis, dass ffiWH von jeher alle Hilfsbedürftigen rettet.

Ps. 9 / 10 hat auch ein eigentümliches Verständnis von der Zukunft. Diese will der Verfasser anscheinend ebenso wie die Vergangenheit in die Gegenwart ziehen. Einerseits hat JHWH seinen Platz als gerechter Richter eingenommen (9,5). Anderseits ist er fortan dabei, seinen Thron zu "sichern" (ll::> Part.), um für immer als König darauf sitzen zu können (9,8; 10,16). Der Schreiber des Textes lebt in der Gewissheit, dass die Not der Armen nicht "auf Dauer" (n~l') vergessen sein wird (9,19), wohingegen die heidnischen Städte dauerhaft aus der Erinnerung verschwunden sein sollen (9,6 f.). Das zeitliche Moment der Dauer bekommt in Ps. 9/10 im 25 Diese ursprünglich von s. MOWINCKEL, Worship, verwendete Bezeichnung wurde von E. S. GERSTENBERGER, Mensch, 141, wieder aufgenommen. 26 V gl. dazu die einführenden Überlegungen zur Mentalitätsgeschichte, Einleitung.

3. Kapitel: Perspektiven

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Unterschied zu älteren Texten diesbezüglich eine andere Qualität. Gottes Abseitsstehen (10,1) wird nicht mehr als überschaubarer "Augenblick" (~l' vgl. Ps. 30,6) wahrgenommen, sondern in der Weise dauerhaft, dass ein Einzelner das Ende der Not gar nicht mehr absehen kann. Die Macht der gewalttätigen Heiden wird über Generationen hinweg weitergegeben (Ps. 10,6). "Es entsteht gleichsam eine Dynastie des Frevlers.,,27 Hier liegt natürlich die Wurzel des sog. Theodizeeproblems, wie es vomelllnlich im Hiobbuch oder z. B. in Ps. 73 bearbeitet wird. Allerdings wird in Ps. 9/ 10 dem Problem der Abwesenheit JHWHs auf ihm eigene Weise begegnet und zwar nach wie vor unter Einschluss des Zeitfaktors: Trotz der momentan erlittenen Nöte scheint das Rettungshandeln JHWHs - wiewohl es von jeher erfahrbar war - weiterhin in Gang zu bleiben, ohne dass die Frage virulent wird, wann die Zeit der Unterdrückung endgültig vorbei sein wird. 28 Diese Hermeneutik tritt klarer zu Tage, wenn man beachtet, dass die in anderen Klagepsalmen drängenden Fragen "bis wann" (;m-,~ Ps. 4,3; 74,9; 79,5; 89,47; 'n~-'~ Ps. 6,4; 74,10; 80,5; 82,2; 90,13; 94,3) oder "wie lange" (;m~-,~ Ps. 13,2 f.; 62,4; Hab. 1,2), die einen bestimmten Punkt in der Zukunft anzustreben scheinen, von dem an sich alles ändert, in Ps. 9/ 10 gerade nicht gestellt werden: ein weiterer Aspekt, weshalb Ps. 9/10 "also allenfalls in einem sehr bedingten Sinn als ,eschatologisch' bezeichnet werden,,29 kann. Vergangenheit und Zukunft werden jeweils in die von der Not bestimmte Gegenwart gezogen, fallen damit aber dennoch nicht einfach in eins. Indes: "Das Wissen aus der Vorzeit betrifft die Zukunft.,,30 Wo aber liegt dann der zeitliche Dreh- und Angelpunkt des Textes? M. E. ist er in der eigentümlichen Umschreibung ;r'~:l n1n~, ~ "zu Zeiten in der Bedrängnis" (9,10; 10,1) zu erkennen. Generell wird in der Literatur auf diese Wendung lediglich dann hingewiesen, wenn mithilfe stilistischer Gemeinsamkeiten die Zusammengehörigkeit von Ps. 9/10 untermauert werden sol1. 31 Meines Wissens wird demgegenüber übersehen, dass diese Zeitbestimmung eine argumentative Funktion innehat. Bezeichnenderweise taucht diese Zeitbestimmung nämlich einmal im Rahmen des lobpreisenden Teils und einmal zu Beginn der Klageschilderung auf. Im lobpreisenden Teil (9,10) geht es darum, dass in Zeiten der Bedrängnis der Bedrückte und Leidende vom Schutz JHWHs umgeben ist, dass JHWHs U. BAlL, Schweigen, 39. Das Hiobbuch und die Klagepsalmen stellen vom Ansatz her zwei ganz unterschiedliche literarische Modelle dar, Gewalterfahrungen zu verarbeiteten. V gl. dazu jetzt F. CRÜSEMANN, Gewalt. 29 J. JEREMIAS, Königtum, 131, der dieses Urteil im Blick auf Ps. 96 geschrieben hat, einem Text der darin Ps. 9 /10 vergleichbar ist. 30 W. H. SCHMIDT, Glaube, 409. 31 S. Kap. 2.2. 27

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

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uneingeschränkte Anwesenheit und Einsatz für die Schwachen also vorausgesetzt wird. Im Klagelied jedoch (10,1) scheint JHWH zu eben diesen Zeiten untätig in der Feme zu stehen, was als Ursache für das völlige Ausgeliefertsein des Bedrängten dem Frevler gegenüber verstanden wird. Offensichtlich soll deutlich werden, dass es dem Psalmschreiber um zwei Alternativen geht: Rettet JHWH in Zeiten der Not oder rettet er nicht? Kann man sich auf JHWHs rettend eingreifendes Königtum noch verlassen oder muss man in Notzeiten seine Abwesenheit hinnehmen? Kann er auf Dauer noch "Recht sprechen" und intervenieren, wo nötig? Denn: ,,~Dtb bezeichnet kein regelmäßiges, sondern ein ordnungsstiftendes Eingreifen Jahwes, das dann notwendig wird, wenn die Ordnung der Welt gefahrdet oder gar teilweise zerstört ist.,,32 Was schon für Ps. 96 galt, muss daher unter verschärften Bedingungen konzeptionell auch in Ps. 9 / 10 Eingang gefunden haben: "Wie in Ps 96 ist nicht sicher zu entscheiden, ob die ,Wunder' Gottes vergangene Taten oder aber sein erwartetes ,Richten' betreffen; aufgrund der Anfangsstellung spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß beides zugleich gemeint ist, also ein sicheres Rechnen mit Gottes zugesagtem ,Gericht' aufgrund der erfahrenen Taten Gottes.,,33 In Ps. 9/10 stehen nun massive BedrOckungserfahrungen im Vordergrund, welche vollständig beseitigt werden sollen. Es geht dabei aber nicht um ein eschatologisches Friedensreich am Ende der Tage, in dem - nach jesajanischer Vorstellung - Wölfe und Lämmer beieinander wohnen werden (vgl. Jes. 11,6 ff.) und alle Konfliktherde ausgeglichen sind. Ps. 9/10 rechnet auch nicht mit einer Zäsur in der Zeit, welche die entscheidende Wende herbeiflihren wird (vgl. Joel. 4,1; Ps. 14,7). Dem Psalmisten geht es lediglich um eine vollständige Beseitigung der unübersichtlichen Bedrohungssituation. Wie ein Befreiungsschlag wirkt daher die Parole "die Heiden verschwinden aus seinem Land!" (10,16), welche ihre Wirkung nur deswegen voll entfalten kann, weil sie gegen Ende des Psalms ausgerufen wird. Der vorwärts drängende Duktus des Textes und seine Zeitperspektiven entsprechen einander. Der Verfasser setzt Vergangenheit und Zukunft in ein dialektisches Verhältnis zueinander; und daran, wie er diese beiden Komponenten ganz nahe zusammenbringt und dennoch grundverschieden sein lässt, wird gleichsam deutlich, weshalb sich auch Lob und Klage sachlich und zeitlich eng berühren, ohne zu verschwimmen. Dass Ps. 9 / 10 eine spannungsvolle Einheit bildet, geht einmal mehr aus dem ihm zugrunde liegenden Zeitverständnis hervor. Das Loben soll darum nicht etwa als Inhalt eines Gelübdes verstanden werden, das zum Ende gesprochen wird (vgl. Ps. 7,18). Die volle Freude darf nicht erst nach einer auf unbestimmte Zeit 32 33

J. JEREMIAS, Königtum, 129. Ebd.

3. Kapitel: Perspektiven

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verschobenen Wende ausbrechen (Ps. 14,7), sie muss jetzt mit ganzer Kraft ausgedrückt werden (9,2 f.12 f.) - auch wenn Gott so fern zu stehen scheint (10,1 ff.). Darin liegt aus Sicht des Psalmisten die Chance, das Theodizeeproblem zu bewältigen: lHWH hat einmal seine Känigsherrschaft angetreten (9,5), ist nun dabei, ihren Bestand zu sichern (9,8) und wird sie daher für immer behalten (10,16)34

3.3 Die Raumwahrnehmung Ebenso wie die Kategorien der Zeit haben diejenigen des Raumes eine maßgebliche Bedeutung mr die Verhältnisbestimmung von Lob und Klage und dementsprechend für das konzeptionelle Profil von Ps. 9/ 10. Die für das Folgende leitende Fragestellung besteht darin, die Ortsbeschreibungen vor dem Hintergrund der Gliederungsstruktur des Textes zu bestimmen und in ihrer Funktion nachzuvollziehen. 35 Dabei werden auch ansatzweise traditionsgeschichtliche Fragestellungen (ins be-sondere mit dem Zion und dem Land verbundene) aufgegriffen, auch wenn dieser Arbeitsschritt grundlegend erst später behandelt werden soll.36 Da Ps. 9/10 jedoch weder im engeren Sinn zu den sog. Zionsliedern (Ps. 46.48.76.(87)) noch zu den Psalmen, die vornehmlich die Gabe bzw. den Verlust des Landes thematisieren (Ps. 44), gezählt werden kann, empfiehlt es sich, nach einer dem Text eigenen räumlichen Vorstellung zu suchen. Diese Vorgehensweise beinhaltet zum einen, den Text nicht als Konglomerat verschiedener Traditionsbruchstücke, sondern als eigenständige Konzeption zu verstehen, zum anderen soll damit dem Raum als solchem ein eigenes Aussagegewicht zugemessen werden. 37 Folgt man den einschlägigen Begriffen Zion (9,15), Land (10,16.18) und Erdkreis (9,9), so liegt ein konzentrisches Raumkonzept nahe. Es gilt, die Qualität dieser verschiedenen Räume näher zu erfassen. Zunächst kann mit dem "Land" (f1~) an den betreffenden Stellen nur die Umgebung von Jerusalem gemeint sein. Näher charakterisiert wird es nicht durch seine äußeren Grenzen, sondern durch den Umstand, von den Gojim besetzt zu Vgl. schon Ex. 15,18; daneben auch Ps. 146,10. Wir bewegen uns dabei in den metaphorischen Sprachmustern des Textes, ohne zu berücksichtigen, welche realgeschichtliche Wirklichkeit hinter dem Text auszumachen ist. 36 S. Kap. 6. 37 Im Blick auf den Zion hat hierzu O. H. STECK, Zion, eine Studie vorgelegt. Er möchte die oftmals unreflektierte Ansicht, "daß es theologische Aussagen im wesentlichen allein mit der Gott-Mensch-Relation zu tun haben," hinterfragen, um zu zeigen, "daß die Stadt Jerusalem in den Texten nicht selten als Größe sui generis zwischen Jahwe und den Bewohnern steht." (a. a. 0., 127). 34

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

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sein und für die Bewohner einen ständigen Unsicherheitsfaktor darzustellen (10,18). In den "Gehöften", bzw. "Ortschaften" (c',~n 10,8) halten sich Heckenschützen versteckt, die von Zeit zu Zeit wehrlose Menschen völlig unerwartet in ihre Gewalt bringen und / oder töten. Die Vormachtstellung der frevlerischen Heiden konkretisiert sich also "durch eine Beherrschung des Raumes, da der Arme sich nicht frei bewegen kann. ,d8 Die Hoffnung der Beter / des Psalmisten besteht folglich darin, die Fremdrnacht in dem Land wieder loszuwerden (10,16). Vor diesem Hintergrund sind die Feindaussagen zu verstehen, die von einem "Zurückweichen" (~itb 9,4.18) oder "Zugrundegehen" (':l~ 9,4.7; 10,16) der Gegner bzw. Frevler sprechen. Ihr Rückzug kann aber nur durch ihre vollständige Vernichtung gewährleistet werden, andernfalls bleibt die pennanente Unsicherheit, die Gojim könnten das Land nur zeitweise räumen und zu späterer Gelegenheit wieder unerwartet zuschlagen. Allerdings - und das gilt es hervorzuheben - sind die Gojim nach Ausweis des Textes nicht überall. Ganz im Gegensatz zu bestimmten Volksklagepsalmen ist der Zion, das Heiligtum, als Zufluchtsort offensichtlich intakt. Nirgends wird beklagt, dass die "Heiden" in den Tempel eingedrungen seien, diesen entheiligt oder zerstört hätten. 39 Der Zion erscheint dementsprechend nur in den lobenden Partien des Textes (9,10.12.15), wohingegen das unsichere Land dem Klageteil zugewiesen wird. Der gedemütigte Einzelne kann sich in JHWHs Festung sicher flihlen und bergen (9,10), während lHWH "draußen" zum Richten der Völker einschreitet (9,9), um die Ordnung wiederherzustellen. Damit öffnet sich der Blick für den äußersten Kreis der räumlichen Vorstellung, den "Erdkreis" (':ln 9,9), der nur eimnal genannt wird und zwar ebenfalls in einem Abschnitt des Textes, der durch Lob gekennzeichnet ist. Genau hier ist auch nicht von den Gojim, dem im Kontext des Psalms negativen Begriff für Völker, sondern von den L'umim (c'~~,) die Rede. Wenn es heißt, dass JH\VH ihnen ein gerechtes Urteil zukommen lassen wird, ist damit keine negative Perspektive wie in Bezug auf die frevlerischen Gojim intendiert, sondern eine weiterführende: Es geht um die Wiederherstellung der Ordnung in der Völkerwelt, nach der Israel sehnlich verlangt, weil es wieder ein positives Verhältnis zu seinen Nachbarn erlangen will. Es sollen Unrechtsverhältnisse in der Welt beseitigt, aber nicht pauschal alle Menschen vernichtet werden, die nicht zu Israel gehören. Im Endeffekt kommt es den Betenden von Ps. 9/ 10 aber auch darauf an, wieder ein positives bzw. "ungestörtes" Verhältnis zu dem Land zu bekommen, in dem sie selbst leben. Das drückt sich besonders in der abschließenden Bitte in 10,17 f. aus: 38

u. BAll.., Schweigen, 37.

;9

Vgl. Ps. 74,3-9; 79,1.

3. Kapitel: Perspektiven Das Verlangen der Erniedrigten hast du gehört, JHWH, das Hoffen ihrer Herzen wird dein Ohr wahrnehmen: zu rechtenfür Waise undBedrückte, auf dass man nicht mehr fürchte den Menschen" vom Land her" (Ps. 10,17 f)«J

55

(r'Kj'"j-F~).

Das Land ist offenbar ein rechtsfreier Raum geworden, in dem sich niemand sicher fühlen kann. Nur wenn die frevlerischen Völker, die im Psalm drei Mal in ihrem Wesen als vergängliche Menschen (Ilim~ 9,20.21; 10,18) beschrieben werden, aus dem Land verschwinden, braucht man vor diesem Gebiet keine Angst mehr zu haben. Die Erniedrigten haben das unbedingte Verlangen, durch Gott von der "Anarchie" in ihrem ländlichen Umfeld befreit zu werden. Dazu ist es allerdings notwendig, dass lHWH seine Macht nicht allein auf dem Zion erweist (wo er für den Bedrückten zur letzten Zufluchtsstätte wird; 9,10), sondern sie auf das ganze Land auf sein Land (10,16) ausweitet. Dies muss durch sein richterliches Einschreiten bezogen auf den ganzen Erdkreis geschehen: 1lI\VH muss seine universale Königsmacht zur Geltung bringen.

40

Zur Übersetzung vgl. Kap. 1.

4. Kapitel

Semantische Konstellationen Der komplizierte, aber dennoch erkennbar planvolle Aufbau des Psalms korrespondiert mit einer Reihe semantischer Verknüpfungen über die Abschnittsgrenzen hinweg. Um die These einer Texteinheit aus Ps. 9 und 10 zu untennauem, wurde auf vielfaltige Begriffskombinationen hingewiesen. 1 Nur selten wurden diese Beobachtungen jedoch dahingehend ausgewertet, dass die Intention der Schreiber deutlich hervortrat. In neuerer Zeit hat dazu W. Brueggemann2 wertvolle Hinweise geliefert, die sich besonders gut in die zuvor erarbeitete Gliederungsstruktur des Textes einpassen lassen und das Ergebnis weiter präzisieren. Ein Unikum des Psalms stellt dabei "das breite aber auch differenziertere Vorkommen der Annenbezeichnungen,,3 dar. Sie sind ebenfalls ein Hinweis für den Zusammenhang von Ps. 9 und 10. Zudem fallen die entsprechenden Oppositionsbegriffe, die sich mit der Gruppe von Frevlern und Heiden verbinden, für die Struktur des Textes gleichermaßen ins Gewicht. Als drittes Element gehört JHWH in diese Gruppenkonstellation. Auf diese gesamte Personenkonzeption wird zunächst genauer eingegangen, bevor die sonstigen semantischen Verknüpfungen ins Auge gefasst werden.

4.1 Die Personen- und Gruppenkonstellation Als wichtiger Kohärenzfaktor für Ps. 9 / 10 sind solche Vokabeln anzusehen, die bestinunte "personale Größen,,4 bezeichnen. Einige dieser Begriffe bilden zusammenhängende Gruppen, andere stehen in Oppositionen zueinander. Diese semantischen Felder müssen in ihrer inneren und wechselseitigen Bezogenheit genauer bestinunt werden. An dieser Stelle können die Ergebnisse zu den Sprechrichtungswechseln (Kap. 3.1) vertieft werden:

I

Vgl. Kap. 2.1.

2 w. BRUEGGEMANN, Psalm 9/10. 3 F.-L. HOSSFELD / E. ZEN GER, Selig, 47. 4 B. WEBER, Psalm 77,185.

4. Kapitel: Semantische Konstellationen

57

Psalm 9 /10 gilt manchen Exegeten als ",Armenpsalm' par excellence"s Die verschiedenen Begriffe, die das Bedeutungsfeld "elend", "schwach", "bedrängt", "arm" etc. in unterschiedlicher Nuancierung abdecken, stützen diese These zunächst stark. Wie in kaum einem anderen Text konzentriert sich in Ps. 9/ 10 traditionelle "Armenterminologie" ('l~l1l~ 9,13 f.19; 10,2.9.12.171":l~ 9,19 01n' 10,14.18) in Konvergenz mit eher seltenen (1' 9,10; 10,18) oder gar singulären Vokabeln (;"I::>,n 10,8.10.14). Dennoch zwingen die Kriterien der Häufigkeit und Vielfalt nicht automatisch dazu, Ps. 9/10 ausschließlich als "Armenpsalm" zu bezeichnen. Denn die Rede von Armen und Hilflosen ist insgesamt gesehen nur die eine Flanke einer bestimmten Personen- bzw. Gruppenkonstellation, welche so fast nur in Ps. 9/ 10 anzutreffen ist. Es erstaunt daher nicht, dass dieser Psalm genauso gut als eine besondere Variante eines "lHWH-Känig-Psalms" (vgl. 9,5.8 f.12; 10,16) verstanden werden kann.' Und schließlich ließe sich das Augenmerk stärker auf die diversen Feindaussagen, wie sie in den Psalmen so massiv zur Sprache kommen, richten 7 "Demgemäß ist 10,1-15, für sich betrachtet, der Terminologie Othmar Keels folgend, ein astreiner rasa '_Psalm"s - aber eben nur für sich betrachtet. Dass Ps. 9/ 10 in der Exegese verschiedentlich bezeichnet wird, hängt damit zusammen, dass er einmal von seinen Trägerkreisen, dann wieder von deren Opponenten oder von der Stellung JHWHs her beschrieben wird 9 Man wird dem Aussagegehalt des Textes aber nicht hinreichend gerecht, wenn man lediglich eine Personengruppe als Rückgrat der Konzeption ansieht. Aus meiner Sicht greift eine einseitige Blickrichtung auf den Text zu kurz. Die Gruppenkonstellation im Ganzen zu betrachten ist entscheidend. Vor allen Dingen wird darauf zu achten sein, wie sich die verschiedenen Personen- und Gruppenbezeichnungen mit der oben eruierten Gliederungsstruktur abgleichen lassen. a) Zunächst zur Gruppe der "Armen". Es ist zweifellos richtig, dass sich Ps. 9/10 im Vergleich zu verwandten Psalmen durch "das breite aber auch differenziertere Vorkommen der Armenbezeichnungen"l0 auszeichnet. Aus eben diesem Grund ist es wichtig, nach einer Struktur für die Verwendung und Anordnung der unterschiedlichen Begriffe zu suchen. Auf einen typi5 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Selig, 47. 6 Vgl. J. JEREMIAS, Königtum, 143 f.; M. Mn..LARD, Komposition, 234. 7 Vgl. O. KEEL, Feinde, passim; P. RIEDE, Netz, passim. 8 N. FÜGLISTER, Hoffnung, 110. 9 In diesem Zusammenhang spielt die Frage eine nicht zu unterschätzende Rolle, welche Paralleltexte man zur Deutung von Ps. 9/10 heranzieht. Darum wird es im zweiten Hauptteil der Arbeit vorrangig gehen. 10 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Selig, 47.

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

sehen Armenbeleg trifft man in Ps. 9/10 bezeichnenderweise innerhalb der ersten Verse zunächst nicht. Dieses Faktum verdient besondere Aufmerksamkeit angesichts des zahlreichen Vorkommens von Armenbezeichnungen im Text insgesamt. Immerhin gibt es ja auch solche Psalmen, die gleich zu Beginn die Aufmerksamkeit auf das Thema "Armut" / "Demut" lenken wollen (wie z. B. Ps. 86,1: "JHWH, neige dein Ohr, antworte mir, denn elend und arm bin ich!"). Das lobpreisende Ich, dessen Redegang wir oben auf den Bereich 9,1-7 eingegrenzt haben, hat ein derartiges Anliegen offensichtlich gar nicht im Blick. Auf der Basis dieser recht einfach scheinenden Beobachtung kommt es nicht allein darauf an, dass eine oder mehrere sog. Armenbezeichnungen in einem Psalm vorkommen, sondern welche von ihnen an welcher Stelle platziert sind. Leitwort dieser Gruppe, weil es am häufigsten vorkommt, ist ~~lill (9,13.19; 10,2.9 (2x).12.l7), das sowohl pluralisch als auch singularisch zu finden ist. Die Wahl des Numerus scheint daher nicht einfach "mühelos,,12 zu wechseln, sondern einer bestimmten Intention der Schreiber zu entsprechen. Denn vom ~~li im Singular ist lediglich dort die Rede, wo er als exemplarisches Opfer des Frevlers dargestellt wird (10,2.9). In 9,13.19; 10,12 und 17 ist dagegen von der Gruppe der C"l~ bzw. C'1W die Rede. Von ihnen wird einerseits ausgesagt, dass sie eine "Hoffnung" (iiil'li 9,19), bzw. ein bestimmtes "Verlangen" (iii~li 10,17) haben, andererseits, dass sie von JHWH nicht "vergessen" werden sollen (9,19; 10,12). Es sieht so aus, als ob C~~~li am ehesten als Selbstbezeichnung der Gruppe, die hinter der Entstehung von Ps. 9/ 10 zu suchen ist, dient. Folgt man dieser Hypothese, lassen sich auch die übrigen "Annenbezeichnungen" ins Verhältnis zum Leitwort ~~li setzen. An pluralischen Gruppenbezeichnungen findet man neben C~~~li auch die Partizipverbindungen "die deinen [sc. JHWHs] Namen kennen" (1~1li '~'" 9,11) und "die dich, JHWH, suchen" (;11;1' 1'1li" 9,11). In Kap. 3.2 wurde bereits deutlich, dass die Verse 9,11.13 eine Art "Vers übergreifenden" Parallelismus bilden und damit eng aufeinander bezogen sind. Insofern dürfte man nicht fehlgehen, die Gruppe derer, die JH\VH suchen, mit den C~~~li gleichzusetzen. Das würde im Übrigen auch gut zu ihrer "aktiven" Haltung passen, ihre Einstellung JHWH gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Ist nämlich vom Ergehen der Beter die Rede, d. h. wenn sie unter Gewalt zu leiden haben, werden sie fast durchgängig als C~~~li bezeichnet. Geht es hingegen um ihre Beziehung/Einstellung zu JHWH, also um ihre Mentalität, sind es diejenigen, die "JHWH kennen" (9,11), die "JHWH suchen" (ebd.), die, die ihn loben und von seinen Wundem erzählen (9,211 Vgl. P. v. D. BERGHE, 'ani et 'anaw; H. BIRKELAND, 'ani und 'anaw; R. MARTINACHARD, Art. :'1.l11 11; E. S. GERSTENBERGER, Art. j'"j.lll l2 F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 47.

11.

4. Kapitel: Semantische Konstellationen

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7.12) und die ihm vertrauen. Die Bezeichnung 'l~ taucht dabei nicht auf (d. h. das 'l~-sein ist nicht als Frömmigkeitsaspekt gemeint). Daneben wird auch ihr ethisches Verhalten nicht hervorgehoben; nirgends wird gefordert, Gutes zu tun und das Böse zu meiden etc. Dementsprechend findet sich im Text auch kein Ausdruck im Wortfeld I"'~ ("Gerechter") als Parallelbezeichnung für die Beter. In 9,13; 10,12.17 steht C"l~ als Gruppenbezeichnung allein, während in 9,19 - zum einzigen Mal-l":l~ als Parallelwort hinzutritt. Es ist deshalb ebenfalls kollektiv aufzufassen. Als Austauschbegriff zu 'l~ im Singular findet sich erst im letzten Drittel des Doppelpsalms das nur hier vorkommende W ort ii~'Ti, dessen genaue Bedeutung daher weitgehend im Dunkeln bleibt. Doch erschließt sich seine Sinnrichtung dadurch, dass es einmal mit ~I'~ = "Unschuldiger", ein weiteres Mal mit Cili~ "Waise" in Verbindung gebracht wird (10,14), einem Wort, das erst an dieser Stelle und dann in 10,18 erscheint. Dort steht es parallel zu dem für das Alte Testament ebenfalls seltene l ' ~ "Bedrückter" (vgl. Ps. 74,21). Im Gegensatz zu ii~'Ti, ~I'~ und Cili~ wird es allerdings auch in der ersten Hälfte von Ps. 9/10 eingesetzt (9,10). Fazit aus diesen Beobachtungen ist, dass die Annenbegriffe im Singular untereinander viel häufiger kombiniert werden als diej enigen im Plural. Darüber hinaus werden auffalligerweise diejenigen Begriffe, die einen konkret sozialen Sinn tragen (wie "Unschuldiger", "Waise" und "Schwache") erst mit der ausführlichen Klageschilderung in Ps. 10 eingeführt und dann im letzten Abschnitt mit der Gruppe der C"l~ ins Verhältnis gesetzt. Dieses Moment unterstreicht, dass Ps. 9 / 10 einen gedanklichen Fortschritt beinhaltet. Nun lassen sich die singularischen und die pluralischen Annenbezeichnungen nicht so konsequent auseinander halten, dass dahinter unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen greifbar würden (eine nähere sozialgeschichtliche Einordnung wird später vorgenommen)13, doch spiegelt ihre bewusst differenzierte Verwendung und palnvolle Verortung eine bestimmte Aussageabsicht bzw. -dynamik wider, die es zu interpretieren gilt. Die stark formalisierte Klageschilderung über das Ergehen des je einzelnen Armen und Unschuldigen (10,2-11) besitzt anscheinend eine bestimmte Funktion für das Selbstverständnis der vielen "Erniedrigten". Der einzelne Anne ist das Leitbild des "exemplarischen ,Annen"d4, der vom Frevler immer wieder in die Enge getrieben und unterdrückt wird. Er steht aber auch stellvertretend für diejenigen, denen JHWH in der Vergangenheit immer wieder als rettender Helfer (10,14) beistand. Das positive wie negative Ergehen von einzelnen Waisen und Unterdrückten hat offensichtlich 13 14

S. Kap. 10.2 und 10.3.2. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 122.

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

so existentiell etwas mit der Trägergruppe zu tun, auf die Ps. 9/10 zurückgeht, dass sie sich von ihnen eine Perspektive für die Zukunft erhoffen: JHWH hat sich als Schutz mr den Bedrückten erwiesen und deswegen wird er es auch in Zukunft tun (9,10). Deswegen ist es das Gebot der Stunde, sich an seinen Namen zu halten und IHN zu suchen (9,11). Dannso die Hoffnung - wird JHWH das Recht mr die Schwachen wieder herstellen (10,18) und den Frevler "heimsuchen" (9,13; 10,15). b) Mit dem Stichwort "Frevler" (lllli') ist die Flanke der Gruppenbezeichnungen angesprochen, die derjenigen der "Armen" diametral entgegensteht. Immer schon aufgefallen war den Exegeten, dass die Gruppe der c'~Ili' häufig mit den C'1l ~ "Völkern" / "Heiden" parallelisiert werden (9,6.16 f.18). Das innere Verhältnis dieses Begriffspaares stellt ein besonderes Problem dar, auf das noch genauer einzugehen sein wird (6.1.3). Daneben enthält Ps. 9/ 10 weitere Feindbegriffe, die nicht an beliebigen, sondern bestimmten Stellen des Textes verwendet werden. In 9,4 sieht der Beter seine "Feinde" (~~~i~) bereits im Zurückweichen begriffen. Diese Gewissheit gewinnt er daher, dass JHWH von jeher dabei ist, Gojim und "Frevler" zu vernichten (9,6) - ein weltumspannendes Geschehen, an dem die "persönlichen" Feinde des Beters Anteil haben. In 9,7 folgt die Feststellung: Der Feind (:l'1~;r; nicht "meine Feinde") ist vernichtet! Damit inkludiert 9,7 den Abschnitt 9,4-7. Es entspricht dem collagenartigen Stil des Psalms, dass sich die Rede von den "Feinden" lediglich auf diesen, von einem Ich-Sprecher gebeteten Teil beschränkt. In der Elendsklage 9,14 f. kommt eine Bezeichnung seiner Feinde als "Frevler" oder Gojim nicht vor. Umgekehrt ist die partizipiale Wendung aus 9,14 für Ps. 9 / 10 im Ganzen singulär. Zwar werden in 9,16 f. wieder Frevler und Gojim synonym verwendet und damit als eine dem Einzelnen gegenüberstehende Gruppe dargestellt, doch ist die "persönliche" Gebetsperspektive verlassen. Der Begriff :l'1~ kommt ebenfalls nicht mehr vor. Der Zusammenhang von 9,14-17 soll dementsprechend als Beleg dafür dienen, dass Gottes Gerichtshandeln, wie es sich bezogen auf den gesamten "Erdkreis" (':ln 9,9) darstellt, noch funktioniert. Den Völkern (c,~~,) gerades Urteil sprechen (9,9) bedeutet, die Frevler und Gojim in ihre eigene Falle laufen zu lassen (9,16 f.) und gleichzeitig die Bedrängten zu schützen (9,10 f.). Damit unterstreicht der Psalmist auch, dass nicht pauschal alle Völker unschädlich gemacht werden sollen, sondern lediglich ihr frevlerischer Teil 15 Die "Völker" (c'~~ 9,12) könnten sonst auch nicht Adressaten der Verkündigung sein, welche die JHWH-Suchenden (9,11) übernehmen sollen.

15 Vgl. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 114.

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In der breit angelegten Notschilderung ist dann wieder nur vom "Frevler" die Rede. Zwar wird der Begriff 0'1l nicht wie in 9,6.16 f.; 10,15 f. parallel zu ~Ili' verwendet, doch ist sein Inhalt in jedem Fall implizit mitgemeint. Sein Fehlen dürfte darauf zurückzuführen sein, dass hier vom Frevler (wie vom Armen) konsequent im Singular gesprochen wird ('1l (Sg.) bezeichnet im AT aber immer ein je ganzes Volk, nie einen einzelnen Vertreter aus ihm)!'. Diese Eingrenzung deckt in Ps. 9/10 das Nomen ~Ili' mit ab. Aus der Sicht des Psalmisten meint 0'1l daher nicht die Völker als Kollektiv, sondern eine Summe von Einzeltätern aus den Völkern, die je für sich nach einem typischen Muster agieren. I? Im Kontext der Opposition zu den C~~~17, die ja ihrerseits nicht im nationalkollektiven Sinn gedacht sind, kann der Sachverhalt auch gar nicht anders zu verstehen sein. Zwischen dem Jubel über den bereits erfolgten Untergang der Frevler und der Klage über ihr gegenwärtiges Wüten stehen in Ps. 9,18-10,2 bzw. 10,12 ff. der Wunsch und die Bitte, es möge mit ihnen endgültig zu Ende gehen. In 9,18 werden C~17tb, und C~iJ dann wieder im synonymen Parallelismus genannt, wobei ihnen in der ersten Vershälfte ihr zukünftiger Platz beschieden wird (1"~1li "Totenwelt" vgl. Jes. 14,11.15 in Bezug auf das frevlerische Babel), während ihr Charakteristikum als "Gott Vergessende" in der zweiten zum Ausdruck kommt. 1lI\VH zu vergessen ist nach Ansicht des Psalmisten der Grund mr die Gewalttaten der Frevler und das Kriterium, nach dem sie bemessen werden (vgl. Hi. 18,21b). Interessant ist, worin der Verfasser die Dialektik im Vorgang des "Vergessens" (n:>lli) sieht: nicht etwa darin, dass den "Frevlern" die JH\VH-Treuen als diejenigen, die Gott nicht vergessen,I8 gegenüber gestellt werden, sondern in der Frage, ob das Urteil der Gojim wirklich stimmt: lHWH selbst ist also der direkt gesetzte Konkurrent zu den Frevlern. An ihn wird dasselbe Kriterium angelegt. Wenn er die "Armen" vergessen sollte (9,13.19), blieben die Gojim im Recht - dann wäre die Existenz Israels verloren! Im Zuge der direkten Aufforderung an lHWH, als rettender Richter einzugreifen (9,20), führt der Psalmist einen weiteren Parallelbegriff zu 0'1l ein: 1li1l~ ("Mensch"). Die Vokabel verweist insbesondere darauf, dass die Menschen im Allgemeinen unter der "Last" (,~~) des Alltäglichen stehen 16 ",J ist erst im talmudischen Bereich zum Schimpfwort für den Einzelnen geworden, vgl. G. J. BOTTERWECK 1 R. E. eLEMENTS, ",J, 973. 17 Während also ",J als Begriff im Singular für einen fremdländischen Einzelmenschen erst später verwendet wurde, konnte in spätalttestamentlicher Zeit offensichtlich der pluralische Begriff ~"'J bereits mehrere einzelne Heiden und nicht nur die Summe vieler einzelner Gesamtvölker bezeichnen. Vgl. R. KESSLER, Gojim, zu Dtn. 15,6; 28,12 und Neh.5,8. 18 Vgl. Ps. 44,18-23! In Ps. 9/10 steht die Integrität der Bezugspersonen des Psalmisten an keiner Stelle in Frage.

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(Ps. 73,5) und letztlich der Vergänglichkeit unterliegen (vgl. Ps. 90,3; 103,15). Diese Regel scheint auf die mörderischen Frevler, denen der Nimbus der Unbesiegbarkeit anhaftet (10,6), aber gar nicht zuzutreffen. Deswegen muss JHWH den Gang der Dinge durchbrechen und die Heiden spüren 19 lassen, dass sie Ilim~ "nur Mensch" sind (9,21). Während diese Option bei einem Teil der Heiden (noch) möglich zu sein scheint, soll JHWH anderen den Arm zerbrechen und ihre Bosheit heimsuchen (10,15; hier ist allein vom 17tti1 im Singular die Rede, wie in 10,3-11), damit sie nicht weiter die Armen "tyrannisieren" (f1~ 10,18). c) Als dritte Komponente im Rahmen der Personen- und Gruppenkonstellation ist Gott selbst zu nennen. Er wird fast durchgehend mit dem Namen iiiiP angeredet. Die Gebetssituation mit Blick auf 1lI\VH ist - trotz der häufigen Wechsel der Rederichtung - insgesamt gesehen konstant 20 Das gilt auch mr den Teil der Klageschilderung, in dem es materiell um die Machenschaften des Frevlers geht: Sie ist ja unmittelbar an Gott adressiert (vgl. das suffigierte l'tlDIli~ in 10,5). Entsprechend der Anrede iiiiP richtet sich das Vertrauen auf den "Namen" (CIli) als quasi eigenen Titel neben dem Tetragramm (9,3.11)21 Darüber hinaus erhält Gott drei unterschiedliche Würdebezeichnungen, die im gesamten Doppelpsalm jeweils nur einmal eingesetzt werden: 1i~'17 = "Höchster (9,3), I"~ tlD11li ~ "gerechter Richter" (9,5) und 1'~ ~ "König" (10,16). An einigen Stellen wechselt der Schreiber in die Gottesbezeichnung c';r,~ (9,18; 10,4.13) bzw. den Gottesnamen ,~ (10,11 f.). Auch dem scheint keine Beliebigkeit zugrunde zu liegen: Während von iiiiP die Rede ist, wenn der Beter seine Beziehung zu Gott zum Ausdruck bringt, wird die neutralere Gottesbezeichnung dort verwendet, wo es um die Frevler und Heiden und um ihr negatives Gottesverhältnis geht. C~ii'~ wird von ihnen vergessen (9,19) und in seiner Kompetenz als Garant des Rechts ignoriert (10,4.13).

19 Mit ll." wird im AT "primär die dem Menschen durch seine Sinne vermittelte Wahrnehmung" (W. SCHOTTROFF, Art. ll.,,, 686) bezeichnet. Daher geht es an dieser Stelle nicht um die Art intellektueller Erkenntnis, die es den Menschen ermöglicht, klüger und nachsichtiger mit ihrem Leben umzugehen (vgl. Ps. 90,12). Der Psalmist von Ps. 9110 hat diese Hoffnung in Bezug auf die Frevler schon längst ad acta gelegt (vgl. Jes.26,10). 20 Im Vergleich zu diversen anderen Psalmen gibt es z. B. keine Appelle an bestimmte Gruppen, mit denen der Beter sich auseinanderzusetzen hat (vgl. z. B. 49,2 ff; 52,2 ff; 58,2 f; 62,4.9.11; 94,8 ff). Mit den Frevlern in Ps. 9110 wird nicht geredet. 21 Vgl. R. RENDTORFF, Theologie 11,164.

4. Kapitel: Semantische Konstellationen

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Im Gegensatz zu anderen Psalmen und prophetischen Texten, die noch eingehender besprochen werden/2 besteht die Funktion JHWHs als "gerechtem Richter" gerade nicht darin, zwischen "Frevler" und "Gerechtem" zu unterscheiden 23 Denn der "Gerechte" Jf"~) als Vertreter einer Gruppe kommt m Ps. 9/ 10 überhaupt mcht vor. JHWHs Handeln hat 1m Grunde genommen nur eine Stoßrichtung, nämlich die Armen aus der Hand der Frevler zu befreien. So tritt JHWH als direkter Konkurrent zu den Frevlern und Heiden auf, sofern er nicht - was ja zum Zentralproblem des Textes gehört - selber passiv ist und abseits steht (10,1). Von daher erfüllt der Name Gottes, ;"1';"1' - theologisch und konzeptionell gesehen - hinsichtlich der Beziehung zwischen Gott und den Betenden auch eine andere Funktion: Üblicherweise ist es "die Form des ,Gedenkens' (zeker), in der Israel ,von Geschlecht zu Geschlecht' Gottes gedenken soll. Dies kommt vor allem in hymnischen Texten zum Ausdruck, in denen der Gottesname und das ,Gedenken' im Parallelismus zueinander stehen (Ps. 30,5; 97,12; 102,13; 135,13, vgl. Jes.26,8 ,dein Name und dein ,Gedenken"). In Hos. 12,6 heißt es einfach: ,Jbwh ist sein ,Gedenken". Und der Psalmbeter klagt: ,Im Tode gibt es dein Gedenken nicht mehr' (Ps 6,6). Ohne Gedenken Gottes ist die Verbindung mit Gott abgerissen. ,,25 Nun stellt sich die Problemlage in Bezug auf das "Gedenken" ('::>1), dessen zentrale Leitwortfunktion im Folgenden herausgestellt wird (4.2), in Ps. 9/10 genau umgekehrt dar: An keiner Stelle drückt die Vokabel das Gedenken der Menschen an Gott aus (so dass sie sich aufgrund ihrer Notsituation vor Gott rechtfertigen müssten, vgl. Ps. 44,1822), sondern immer geht es um das Gedenken an Menschen; in 9,7 freilich in einem negativen Sinne, da an die vernichteten Feinde nicht mehr erinnert werden soll (d. h. hier ist auch das Gedenken von Menschen an Menschen gemeint). Höchst brisant und - um mit Brueggemann zu sprechen - "urgent,,26 gestaltet sich die Personenkonstellation aber dadurch, dass JHWH an die Erniedrigten denkt (9,13) bzw. weiter denken soll (10,12). Das Risiko also, die Verbindung mit Gott könnte abreißen, hängt in diesem Fall an JHWH selbst: der Kern des Theodizeeproblems 27 S. Kap. 9.2 und 9.3. So bestimmt R. RENDTORFF, Theologie 11, 185, den Bedeutungsgehalt von Gott als Richter und König. 24 Insofern ist auch nicht infolge der beschädigten ~-Zeile das entsprechende Wort zu konjizieren (vgl. H. GUNKEL, Kommentar, 39; K. SEYBOLD, Kommentar 1996, 54 und B. WEBER, Werkbuch I, 76 erwägen zumindest die Möglichkeit); es kann konzeptionell mit der gesamten Gruppenkonstellation des Textes nicht zusammengehen. 25 R. RENDTORFF, Theologie 11, 163. 26 Vgl. W. BRUEGGEMANN, Ps. 9110, 5. 17 Natürlich stellt Ps. 9110 aufgrund seiner traditionsgeschichtlichen Implikationen nur eine Möglichkeit zur Bewältigung dieser Frage dar. Auf einen Vergleich mit der 22 23

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Wirft man von diesem Kristallisationspunkt ausgehend den Blick noch einmal auf die Substantive und Partizip ausdrücke, mit denen Gott bezeichnet wird ("gerechter Richter" (9,5), "er, der den Erdkreis richten wird" (9,9), "Zionsthroner" (9,12) "König für alle Zeiten" (10,16)), so fügen diese sich in das bisher beschriebene Personen- und Gruppennetz ein. Denn es geht auch hierbei allein darum, die Beziehung lHWHs zu den Frevlern einerseits und den Armen andererseits zu beschreiben. Dementsprechend fehlen durchgehend Bilder und Ausdrücke, welche die Vorstellung über den Ort bzw. den Einzugsbereich der Königsherrschaft Gottes Ausdruck verleihen (vgl. Ps. 29,3-10; 97,1-6; 103,19). Die Bezeichnung m\VHs als König, die ja auch nur ein einziges Mal verwendet wird (10,16), ist eng an die Rede von Gott als Richter gebunden. "Hier wird auch sogleich ein wichtiger Unterschied zu der Vorstellung von Gott als König sichtbar: Die letztere bezeichnet in erster Linie die kontinuierliche, machtvolle Präsenz Gottes als König, während die Tätigkeit des ,Richters' vor allem in seinem aktiven Handeln und Eingreifen in konkreten Situationen wirksam oder erhofft wird. ,1li in 9,13. Gleichwohl geht es dem Psalmisten darum herauszustellen, dass an dieser Stelle kein inhaltlicher Gegensatz vorliegt; und deswegen wird Ti~tb betont verneint, '~i jedoch nicht. lHWH hat seiner Taten gedacht und damit die Erniedrigten nicht vergessen!34 "This parallelism thus affinns what is most crucial about Yahweh for this speaker,,35. Die Brisanz der theologischen Aussagen wird noch deutlicher, wenn man beachtet, wie bei der nächstfolgenden Verwendung von r1:>1li (9,18 f.) - diesmal nun in Kombination mit ':l~ (!) - ein fast zum Zerreißen gespanntes Dreiecksverhältnis zwischen 9,7.13 .18 f. aufgebaut wird: Obwohl das Gedenken an feindliche Städte ausgelöscht sei und 1lI\VH nicht vergessen habe, an die Armen zu denken, besteht nach wie vor der Wunsch, die Elenden mägen nicht vergessen werden, noch ihre Hoffnung zugrunde gehen. Sehen wir uns an, wie das Verb tb" in dieses Netz eingewoben worden ist: In 9,13 kommt es zusammen mit den beiden zu Synonymbegriffen konstruierten Wörtern '~i und Ti~tb vor und drückt damit aus, wie sich lHWHs Handeln an den Armen konkretisiert: nämlich indem er ihr Blut "einfordert". Ebenfalls mit der Wortkombination r1:>1li / Ili" treibt der Verfasser(kreis) in 10,11-13 das theologische Grundproblem auf die Spitze: Entgegen der selbstsicheren Behauptung des Frevlers, lHWH habe vergessen hinzusehen (10,11), so dass er die begangenen Vergehen gar nicht "einklage" (9,13, wobei das Frevlerzitat aus 10,4 - ebenfalls mit Ili" - wieder aufgenommen wird), richtet der Psalmist die dringliche Bitte an Gott, er möge die Elenden nicht vergessen (10,12). Schließlich liegt gegen Ende des Psalms auch die letzte Kombinationsmöglichkeit Ili" / ':l~ vor, bei der die zuvor Ili" begleitende Negation wieder aufgehoben wird (10,15 f.). Der Aufforderung, JHWH möge den Frevel des Frevlers "heimsuchen" (10,15), folgt der triumphale Ausruf, die Heiden seien aus dem Land "verschwunden" (10,16).

w. BRUEGGEMANN, Psalm 9110, 6. H. EISING, Art. '~T, 573, verweist auf die relativ häufige Kombination von "bedenken" und "nicht vergessen"; allerdings handelt es sich hier, mit Ausnahme von Ps. 74,18 f., um Belege, die den Menschen als Subjekt vorstellen. 35 W. BRUEGGEMANN, a. a. 0., 6. 33

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4. Kapitel: Semantische Konstellationen

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Nur an einer Stelle innerhalb von Ps. 9/ 10 ist mit Ili" gemeint, dass Menschen JH\VH "suchen,,36, was sich in diesem, wie im gesamten späteren Kontext durch das Vertrauen (r1tl:l) zu ihm konkretisiert und daran, sich an seinen Namen 37 zu halten (9,11, vgl. Ps. 5,12). Gleichwohl steht die Aussage in relativer Bezugsnähe zur LobbegfÜlldung in 9,13, d. h. es geht dem Psalmisten nicht nur darum, die Beziehung llI\VHs zu den Gegnern mit dem Morphem tb" zu beschreiben, sondern auch die dem diametral entgegenstehende Verbundenheit der Gruppe mit Gott. Anhand dieser Beobachtungen wird ersichtlich, dass es sich bei den genannten Verben um zentrale Leitwärter des Psalms handelt. Interessant ist darüber hinaus, in welchen Textbereichen sie genau angesiedelt sind. Zieht man die Ergebnisse aus der poetologischen und syntaktischen Strukturanalyse heran, so fällt ihr Vorkommen innerhalb von Wortfeldern auf, die recht genau die Übergangszonen zwischen den jeweiligen Absätzen markieren: am Übergang von Absatz II zu III (9,11-13) durch das Wortfeld :l1~38 / Ili" / '::>1/ r1::>1li im Bereich zwischen VI und VII (10,11-13) durch die Kombination r1::>1li / Ili", sowie zu Beginn des IV. Absatzes (9,18 f.) mithilfe der Gegenüberstellung von r1::>1li und ':l~. Der im Zusammenhang mit den genannten Verbgruppen immer wieder vollzogene Wechsel von AK- zu PK-Formen, sowie das Hin- und Herpendeln zwischen bejahenden und verneinenden Aussagen verstärkt die Absicht des Verfassers, die Begriffe in ein dramatisches Spannungsverhältnis zu stellen. Eben dadurch wird dem Psalm aber auch seine zwar kaum präzise beschreibbare, aber auch nicht zu leugnende Gliederungslogik gegeben. Betrachtet man die mit den Verben in syntaktischer Verbindung stehenden Partikel, so fallt der inflationäre Gebrauch von Verneinungen mit ~, (9,11.13.19; 10,13),,~ (9,20; 10,12) und ':l (10,3.6.11.15.18) auf. Vielfach stehen sie mit den oben besprochenen Wortpaaren oder -gruppen zusammen, doch reicht ihre Verwendung auch darüber hinaus (9,20; 10,6.18): In der Abwehr bestimmter Sachverhalte ist ein, wenn nicht der Grundtenor des gesamten Textes zu sehen. Dabei handelt es sich entweder um negativ formulierte, aber positiv gemeinte Zusagen / Versicherungen 36 Vgl. c. WESTERMANN, Fragen, passim, der ausführt, wie im Laufe der Zeit der Begriff tth., seine Institutionsgebundenheit verloren hat und mit dem Wegfall der Staatlichkeit zu einem allgemeinen Begriff des Glaubens und Sich-Haltens an Gott geworden ist. 37 Vgl. zu den vielfältigen Redeweisen in Verbindung mit dem JHWH-Namen R. RENDTORFF, Theologie 11,162-168. 38 Dass der Verfasser nicht nur mit den dominanten Leitwörtern des Textes ,jongliert", sondern darüber hinaus zusätzliche Bedeutungsvarianten anhand eines Lexems erzielt, wird auch an ~Tll deutlich, dem in 10,14 nicht JHWH, sondern der "Schwache" als Subjekt zugeordnet ist. In diesem Zusammenhang bedeutet ~Tll auch nicht "verlassen" (wie in 9,11), sondern "überlassen", wodurch einmal mehr das spannungsvolle Wechselspiel der Beziehungsebenen verdeutlicht wird.

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

(9,11.13; 10,16), um die Klage über be- und gefürchtete Sachverhalte (10,4.6.13) oder um verneinende Wünsche und Hoffnungen (9,18-20; 10,12.15.18) aus. Um es mit W. Brueggemann auf den Punkt zu bringen: "This is what makes the poem so urgent.,,39 In dieses dreidimensionale Koordinatensystem ist auch die vielfach innerhalb von Klagepsalmen (vgl. Ps. 13,2; 44,24; 74,1.10.19; 77,9; 79,5; 89,47) vorkommende adverbiale Bestimmung der Zeit n~l' "auf Dauer" eingestellt. Ausgehend von der mythisch geprägten Vorstellung, dass JHWH die feindlichen Städte auf Dauer zerstört habe (9,7, AK ohne Verneinung), spannt sich der Bogen hin zur unbedingten Erwartung, er möge die "Annen" nicht dauerhaft vergessen (9,19, PK mit Vemeinung; und in Kombination mit der weiteren präpositionalen Wendung ,~,) angesichts der Tatsache, dass der Frevler der Ansicht ist, 1lI\VH hätte sich vom zwischenmenschlichen Geschehen sowieso für immer abgewendet (10,11, AK mit Verneinung)4o Das in Kapitel 3.2 erarbeitete dialektische Zeitverständnis des Textes findet auch in seinem dichten Netz semantischer Verknüpfungen seine Entsprechung. Als letztes Beispiel für die programmatische Absicht der Psalmschreiber, mit einem Lexem ganz entgegengesetzte Bedeutungslinien zu verschränken, sei auf das zwei Mal vorkommende Substantiv iii~li hingewiesen, welches jeweils als Konstruktusverbindung erscheint. In 10,3 illustriert es das eindeutig negativ konnotierte "Begehren" der Seele des Frevlers, hochtrabend, arrogant und gewinnstrebend zu sein. Im strikten Gegensatz dazu bezeichnet es aber an der anderen Stelle die "Sehnsucht" der Erniedrigten, JH\VH möge endlich einschreiten, um die Rechtsverhältnisse im Land wiederherzustellen (10,17 f.). Das semantisch und grafisch ähnliche ;"I'l'n ("Hoffnung") in 9,19 (dort im cons/r.) fügt sich nahtlos in diese Argumentationslinie ein. Die im Text anzutreffenden Querbezüge und Leitwörter zeigen also: Ps. 9/10 ist ein dialektisch aufgebauter Text, dessen theologisches Konzept mit hoher sprachlicher Dichte zum Ausdruck gebracht wird.

39 w. BRUEGGEMANN, Psalm 9110, 5. 40 Vgl. W. BRUEGGEMANN, Psalm 9110, 6.

5. Kapitel

Funktionen Standen in den beiden vorangegangenen Kapiteln die besonderen Perspektiven und semantischen Konstellationen des Textes im Mittelpunkt, so geht es im Folgenden darum, inwiefern sich darin dabei auch etwas Typisches widerspiegelt, dem Hinweise auf die konventionelle Funktion von Ps. 9/10 entnommen werden können. Die Gattungsforschung, von H. Gunkel begründet, sieht in den Psalmen nämlich keine Schöpfungen von Literaten, die ihre subjektiven Ideen, Empfindungen und Eindrücke verarbeitet hätten, sondern vielmehr Gebrauchs- bzw. Wiederverwendungstexte anonymer "Schreiber". H. Gunkel ging dabei von einer relativ begrenzten Zahl an "Gattungen" aus,l die ihren festen Sitz im Leben hatten. In der Folgezeit war man dementsprechend bemüht, die jeweiligen Texte möglichst einer Gattung zuzuordnen. Ansonsten aber wurde wenig Interesse für die sprachlichen Besonderheiten aufgebracht ja, im Zweifel wurden diese literarkritisch beseitigt. 2 Mittlerweile wird man jedoch gewahr, dass sich die Psalmen ob ihrer Vielfaltigkeit gegen allzu simple Gattungsmodelle sperren. Zwar finden sich in den meisten Texten wiederkehrende Grundelemente wie Lobrufe, Vertrauensbekundungen oder Klageschilderungen, doch sind deren Gestaltungsprinzipien in ihrer Variabilität nahezu grenzenlos. Das Grundproblem bei der Suche nach dem Sinn und Zweck von Psalmen besteht also nach wie vor in der Verhältnisbestimmung von Besonderem und Typischem. 3 In jüngerer Zeit besteht die Tendenz - vor allen Dingen dank detaillierter poetologischer Untersuchungen -, das Besondere der jeweiligen Psalmen herauszustreichen. In der Konsequenz wird berechtigterweise Zurückhaltung geübt, wenn es um die Zuweisung der Texte zu bestimmten Gattungen geht. Aus diesem Blickwinkel heraus erscheinen die Texte als nicht hinreichend "typisch", um allgemeine Aussagen treffen zu können. Anderseits werden quer zu den je eigenen Profilen der Psalmen bestimmte I H. GUNKEL, Einleitung, 27, identifiziert vier Hauptgattungen: Hymnus, Klagelied des Volkes, Klagelied des Einzelnen und Danklied des Einzelnen. Ein Zeichen für die Originalität dieser Gattungen sieht er in ihrer Kürze (ebd.). Im Zuge der Geschichte der Psalmengattungen seien dann aus den Grundgattungen zahlreiche "Mischungen" (a. a. 0.,28) entstanden. 2 Vgl. hierzu die berechtigte Kritik von M. MILLARD, Komposition, 47-50. 3 Vgl. dazu B. WEBER, Werkbuch I, 32.

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Beobachtungen gemacht, die sich erstaunlich gut verallgemeinern lassen, und zwar das Verhältnis von Individualität und Kollektivität wie auch dasjenige von Lob und Klage betreffend. Überraschend einstimmig fallen die Urteile dahingehend aus, dass die Texte sich nicht klar einer Seite zuordnen lassen. So wird mittlerweile deutlich herausgestellt, dass Texte, die im herkänunlichen Sinn als Klagen des Einzelnen bezeichnet und deren kollektive Elemente diesem untergeordnet wurden, nicht einfach individuelle Probleme widerspiegeln 4 Auf die Frage nach ihrer Funktion bzw. dem Sitz im Leben schwanken die Antworten dementsprechend zwischen kultischer' und nicht- bzw. "nachkultischer,,6 Verwendungsweise. Zuweilen wird einem Text ein kultischer Bezugspunkt auch dann nicht generell abgesprochen, wenn er nicht als kultisches "Formular" gelten kann; dafür gehe es eher um eine sekundäre Reflexion kultischer Vorgänge, die im sozialen Hintergrund des Textes angesiedelt sind. Man steuert also gegenwärtig auf Ergebnisse zu, die sich nur in Denkkategorien des "Sowohl-als-auch,,7 beschreiben lassen. M. a. W.: Zuordnungsprobleme, die es bis vor einigen Jahren offensichtlich nur bei "späteren" Psalmen gab, sind nun bei fast jedem Psalm zu finden. Die Hauptschwierigkeit, Ps. 9/ 10 einer bestimmten Gruppe von Psalmen zuzuordnen, sah man in seiner akrostichischen Anordnung. Dies wurde als eigentlicher Grund für seine Fonn- und Motivrnischung angesehen. Demzufolge wurde als Ausnahme - weil scheinbar so unvergleichlich - keine bestimmte Gattung festgehalten. 8 Vor dem Hintergrund der eingeschränkten Relevanz des Alphabetakrostichons für das konzeptionelle Profil von Ps. 9/10 lässt sich die Frage nach der Gattung jedoch stellen wie bei jedem anderen vergleichbaren Psalm auch. "Alles Reden und Schreiben bewegt sich auf einer Bandbreite zwischen den Extremen: absolute Originalität und absolute Konventionalität. ,,9 Von dieser Warte aus nähern sich die Strnkturen und Perspektiven der Psalmen - bei aller Vielfalt der Formen - doch wieder erstaunlich an. Die spannende Frage für die Exegese bleibt dabei, ob das Maß an Originalität bei Ps. 9/ 10 - wenn man von der alphabetischen Strnktur einmal absieht - tatsächlich so hoch ist, wie man bisher meinte. "Diese Fragestellung ist umso berechtigter, als im israelitischen Glaubens- und Kulturraum wie überhaupt im damaligen 4 Vgl. B. WEBER, Psalm 77, 192, der hinsichtlich des 77. Psalms zu dem Urteil gelangt: "Es artikuliert sich zwar ein ,Ich', doch manifestiert sich durch den Psalm hindurch ein Symbolsystem, das von einem Wir-Bewusstsein, einer ,kollektiven Identität' herkommt". 5 Vgl. GERSTENBERGER, E.S., Kommentar z. St. 6 V gl. F. STOLZ, Psalmen, passim. 7 Vgl. B. WEBER, Psalm 77,191. 8 So auch F. CRÜSEMANN, Studien, 296, zu Psalm 9/10. 9 B. WEBER, Werkbuch I, 32.

5. Kapitel: Funktionen

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Alten Orient Individualität und Originalität nicht denselben hohen Stellenwert haben, wie dies in unserer modemen westlichen Gesellschaft der Fall ist. Vielmehr kamen Wertesystemen wie Gemeinschaft, Tradition, gemeinsame Erinnerung [ ... ] etc. ein ungleich höherer Stellenwert ZU."l0 Diese Rahmenbedingungen waren in der sog. alttestamentlichen Spätzeit nicht wesentlich anders. Von daher ist zu erwarten, dass Ps. 9/ 10 der Funktion und Verwendungsweise vergleichbarer (nachexilischer) Psalmen hinreichend nahe kommt.

5.1 Verarbeitete Psalmenmuster Bisher wird die Frage nach der Gattung von Ps. 9/10, wie schon erwähnt, von den meisten Exegeten unter Hinweis auf die akrostichische Anordnung in ihrer Bedeutung relativiert. ll In der vorliegenden Untersuchung ist diesbezüglich schon herausgearbeitet worden, dass die Unterlegung von Ps. 9/10 durch das Alphabetakrostichon nur mittelbar etwas mit der konzeptionellen Gestaltung zu tun hat. Primär kommt es lediglich dem Versumfang des Gedichtes zu. Dieser ist jedoch mr die formal-inhaltliche Einordnung des Textes von untergeordneter Relevanz. Von größerer Bedeutung ist, dass diverse Psalmenprofile auf die Gestaltung des vorliegenden Textes erkennbaren Einfluss genommen haben. Es ist sogar einigennaßen wahrscheinlich, dass der V erfasser(kreis) eine Reihe von Psalmen bis hin zu ganzen Kompositionen des Psalters bereits gekannt und für seinen Text fruchtbar gemacht hat. Auf diese These wird im Verlauf der Darlegungen aus verschiedenen Blickwinkeln einzugehen sein. 12 An dieser Stelle soll insbesondere der Nachweis geführt werden, dass der Psalm kein wirres Puzzle aus Textbausteinen ist, sondern dass auch seine Makrostruktur von vorliegenden Psalmen mitbestimmt ist. Unter dem Eindruck der Selbstaufforderung zum Lob (9,2 f.) haben einige Ausleger Ps. 9 generell als "individuelles Danklied" verstanden, welches durch "eine vom Beter gemachte persönliche Heilserfahrung (4 ff.)"13 motiviert sei. Hier geht K. Seybold (offensichtlich im Gefolge H. Gunkels) von folgendem Urteil aus: "Die Disposition des Gesamttextes findet am Anfang ihren klarsten Ausdruck. Sie war aber offenbar nicht konsequent durchzuhalten. ,,14 Aufgrund der bisherigen Beobachtungen zu Ebd. Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 1993,81. 12 Dabei muss es insbesondere die Alternativen gehen, ob die Schreiber bestimmte Stellen bewusst ,,zitieren" oder ob einfach mit ihrem relativ großen Wissensfundus aus der Tradition gerechnet werden muss. 13 K. SEYBOLD, Kommentar 1996, 55. 14 A. a. 0., 55. 10 11

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den verschiedenen Redesituationen findet die Disposition von Ps. 9/ 10 jedoch gerade darin ihren Ausdruck, dass verschiedene Stilelemente bewusst hinzugezogen und im Vorgang der Konzipierung sogleich der Situation angepasst wurden. In Bezug auf den Anfang des Textes reicht die IchRede nur bis V. 7. 15 Natürlich kommt dem Lobeinsatz in V 2 f. im Blick auf den gesamten Psalm ein besonderes Gewicht zu, zumal der Psalmist vier Mal mit dem hebräischen Buchstaben Ale/beginnend das Lob initiiert. Will man nun aus dem verglichen mit herkömmlichen Dankliedern / Hymnen anderen Verlauf nicht auf ein mangelndes Durchhaltevermägen des Psalmisten schließen, muss man die Funktion von V. 2 f. anders zu verstehen suchen. Ausgehend von der Beobachtung, dass nach V. 3 eine zusätzliche kleinere Zäsur besteht, erhält das Lob zu Beginn ein starkes Eigengewicht, welches in seiner Spitzenstellung bzw. seinem Verhältnis zum Fortlaufenden dem Lobeinsatz des Hymnus Ps. 105 vergleichbar ist. Zwar liegt Ps. 105 keine Ich-Perspektive zugrunde - er beginnt mit einem imperativischen Hymnus an eine Gruppe -, doch teilen die einsetzenden V. 1-6 wesentliche Elemente mit Ps. 9,2 f.: das für das "Loben" charakteristische Verb ;"I" (9,2; 105,1), das "Freuen" (Mil1 9,3; 105,3) des "Herzens" (:I' 9,2; 105,3) sowie das "Musizieren" / "Aufspielen" ('~l 9,3; 105,2). Der Lobpreis richtet sich hier wie dort auf den "Namen" Gottes (CIl! 9,3; 105,1.3) und seine "Wundertaten" (rm~'Dl 9,2; 105,5). Im Blick auf das Textganze trägt der Einsatz des Lobes in Ps. 105 die Handschrift eines Auftaktes, der die gesamte Explikation der Taten lHWHs in den folgenden Versen überschreibt. Eine ähnliche Funktion könnte man daher mr Ps. 9,2 f. vermuten. Gleichwohl wird innerhalb dieses Psalms die Aufforderung zum Lob noch einmal aufgegriffen (V. 12), was im Kontext von Ps. 105 nicht der Fall ist. Doch bestehen auch hier noch eimnal auffallige Gemeinsamkeiten: Die Versanunlung wird jeweils zur Verkündigung der "Taten" (n1"'~) lHWHs unter den Völkern aufgerufen (9,12b; 105,lb). Die starke Betonung des Lobpreises beruht also auf planvoller Absicht im Blick auf das Textganze - es wird ja auch gegen Ende in Kombination mit den anderen Gebetsäußerungen wieder aufgegriffen (Ps. 10,12-18). In dieser Verzahnung besteht dann auch die eigentümliche Spannung des Gedankenfortschritts bezogen auf Lob / Dank. Ebenso bestehen nebst den erforderlichen Abweichungen Gemeinsamkeiten mit dem herkömmlichen Schema des individuellen Dankliedes was dessen Kenntnis beim Verfasser voraussetzt. Beides lässt sich an einem Vergleich mit Ps. 30 zeigen: Dieser beginnt wie 9,2 f. mit einer Selbstaufforderung zum Lob. Anders als in Ps. 9 wird dort sogleich im '::>Satz (V. 2au) eine Begründung für das Lob eingeschoben ("Ich will dich 15

S. Kap. 3.1.

5. Kapitel: Funktionen

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erheben, JHWH, denn du hast mich herausgeholt!"). Gegenstand des Lobes ist hier eben nicht der Gottesname selbst, sondern das auf den Einzelnen bezogene konkrete Rettungshandeln JHWHs. Diese enge Fokussierung kommt in Ps. 9 so nicht vor,16 sondern als generelles Lob für JHWHs mächtige Heilstaten. Im weiteren Verlauf von Ps. 30 wird in V. 5 die nächste Parallele zu Ps. 9 ersichtlich: wo nämlich die versammelte Gemeinschaft zum Lob aufgerufen wird (9,12 f.). Darauf folgt eine vom Beter selbst vorgenommene Rekapitulation seiner Klagesituation (30,8-11), die mit dem paraphrasierten Gebetsruf des Einzelnen in 9,14 f. vergleichbar ist. Im Unterschied zu Ps. 30 wird im Duktus von Ps. 9,13-15 allerdings auf eine Einzelklage (die mit dem Lob derselben Person zu denken ist) zurückgeblickt, sondern auf die Hilfeschreie vieler je einzelner Beter in ihrer Not. Die Verhältnisse sind in Ps. 9 also genau umgedreht: Der Einzelne begründet sein Lob mit JHWHs universalem Gerichtshandeln (9,2 f.6-7), während die Versammlung dazu aufgerufen wird, Gott aufgrund seines Rettungshandeln an vielen Einzelnen zu preisen (9,12-17)17 Ps. 30 schließt mit einem Ausblick in die immerwährende Zukunft: Der Beter will JHWH loben "auf alle Zeiten" Cl,,~, (V. 13). Ebenso ist in 10,16 ein lobpreisendes Element mit C"~ am Ende des Psalms zu finden, wodurch der Psalm einen geschlossenen Charakter bekommt. Es lassen sich also vier in ihrer Reihenfolge vorgegebene Bestandteile eines individuellen Dankliedes aufzeigen, die Ps. 9 und 30 gemeinsam haben: Selbstaufforderung zum Lob, Aufforderung an die Gruppe zum Lob, Rückblick auf die Klage und Lobausblick. Ps. 9,2 ff. hat also durchaus Anhalt an der Gattung des Dankes bzw. der Thoda,18 übernimmt ihre Form jedoch nicht uneingeschränkt. Eine persönliche Rettungserfahrung geht der Abfassung des Textes nicht voraus, sondern steht vielmehr für einen sprechenden Einzelbeter unmittelbar bevor (V. 4). Aus diesen Gründen besteht ein sachlicher Zusanunenhang mit der hauptsächlich in Ps. 10 vorkommenden Klage- und Notschilderung, deren Platzierung m. E. ebenfalls auf den Einfluss bestehender Gattungen zurückzuführen ist: Ich denke hier in erster Linie an die sog. "Klage des Volkes" und möchte als Beispiel für Gemeinsamkeiten hinsichtlich Aufbau

V gl. E. s. GERSTENBERGER, Kommentar, 74. Bereits in exilischer Zeit war es aus gegebenem Anlass zu einer Umwandlung des herkömmlichen Dankliedes gekommen. Während zu jener Zeit der Vorsänger "aus den persönlichen Glaubenserfahrungen heraus der Volksgemeinde neue Hoffnung und Orientierung zu vermitteln" (R. ALBERTZ, Exilszeit, 133) suchte, wird diese Basis in nachexilischer Zeit weiter verobjektiviert. 18 V gl. die einleitende Zielformulierung der vorliegenden Arbeit hinsichtlich des "Diskursgeschehens(s) der .,."n" in der Einleitung. 16 17

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

und Makrostruktur Ps. 44 hinzuziehen. 19 Wie beim Doppelpsalm erfolgt der Einstieg über eine im mythischen Stil gehaltene Vergegenwärtigung der Heilstaten lHWHs, hier die Landgabe an die Vätergeneration (V. 2-4). Gott hatte die Fremdvälker (0'1l V. 3, vgL 9,6) vertrieben und den Vorfahren das Land gegeben. Daraufhin wird unter stetem Numeruswechsel (1. Pers. Sg. V.5.7, 1. Pers. PI. V.6.8) ein Bekenntnis der Zuversicht artikuliert, welches in V. 9 mit einem Lob des Namens Gottes abgeschlossen wird (+ ;r,o-Zeichen, vgL 9,17.21). Die Gegensatzpartikel ~~ leitet in 44,10 - in relativer Mittelposition (!) - über in die Klage über den Verlust des Landes (V. 10-17), der Notschilderung in 10,1-11 vergleichbar. Der Psalm schließt endlich mit der Bitte um Gottes "Aufstehen" (;r~11' V. 27, vgL 9,20; 10,12), deren Dringlichkeit mit anklagenden "Warum"-Fragen (;r~, V. 24 f.; vgL 10,1.13) untermauert wird. Die Vergleichbarkeit mit Ps. 9 / 10 betrifft an einigen Punkten auch die Wortwahl: JHWH scheint das "Elend" ('l~ V. 25, vgL 10,12) des Volkes zu "vergessen" (n:>1li V. 25 vgL 9,19; 10,12). Die Gemeinde bittet ihn inständig, sie nicht "aufDauer" 20 (n~l' V 24; vgL 9,19) zu verstoßen Daraus wird ersichtlich, dass die Mittel- bzw. Endposition einer Klage in Texten, die zunächst positiv beginnen, durchaus nicht so ungewöhnlich ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat 21 Insofern ist Ps. 9 / 10 auch in diesem Punkt nicht vollkommen originär. Gegenüber aller konzeptionellen Verwandtschaft dürfen natürlich auch hier die Unterschiede im Detail nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ps. 9/ 10 ein Text sui generis ist. Denn er schließt ja nicht einfach wie Ps. 44,24 ff. mit Bitten an JHWH, sondern zieht ab 10,14 wieder hymnische Elemente hinzu. Auch Ps. 74 und 89, die zu den Volksklagepsalmen bzw. aus daraus abgeleiteten Gattungen zählen, enden dagegen ausschließlich mit eindringlichen Bitten an JHWH. Darüber hinaus

19 Vgl. schon den Hinweis auf Ps. 44 und 89 bei H. JUNKLER, Unite, 162. Ich beschränke mich hier auf die Erörterung der Parallele Ps. 44, da hier neben der formalen Anlage auch enge sprachliche Analogien zu finden sind. 20 Diese Topoi sind für die Klagelieder des Volkes im Allgemeinen konstitutiv: "Die Not des leidenden Volkes führt u. a. zu den Fragen "Warum" (Ps. 44,24 f; 74,1.11; 79,10; 80,13; K1gl. 5,20) und "Wie lange" (Ps. 74,9.10; 79,5; 80,5; 89,47)." U. BERGES, Kommentar, 44. Vgl. ferner die Aufstellung der Fragewörter bei M. EMMENDÖRFER, Volksklagelieder, 296 f 21 An dieser Tatsache ändert sich für die Fragestellung auch dann nichts, wenn man Ps. 44 nicht als literarisch einheitlich ansieht, sondern (wie bei E. ZENGER, Kommentar 1993, 271 f) V. 10-27 als exilische Fortschreibung eines Vertrauenspsalms aus der späten Königszeit interpretiert. Schließlich kommt der eklatante Widerspruch zwischen Glaube und Erfahrung ja gerade erst durch die Beibehaltung von V.2-9 vor dem "eigentlichen Gebetslied" (H. J. KRAUS, Kommentar, 480) voll zum Tragen (vgl. M. EMMENDÖRFER, a. a. 0., 120). Aus eben dieser formal-inhaltlichen Grundkonzeption, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in die Exils- oder frühe Nachexilszeit datiert, konnten die Theologen von Ps. 9 /10 hermeneutisches Kapital schlagen.

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führt Ps. 9/10 die Individualperspektive, die in Ps. 44 nur angedeutet wird22 , weiter aus. Neben den kleineren Elementen (Lob, Klage, Bitte, Bekenntnis der Zuversicht), die man auf der Detailebene des Textes recht deutlich bestimmen kann, ist Ps. 9/ 10 in seiner Gesamtanlage mindestens also von zwei Hauptgattungen beeinflusst, dem Hymnus bzw. Danklied des Einzelnen und der Klage des Volkes. Ps. 9/ 10 kann demnach einer Gattung zugerechnet werden, die individuelle und kollektive Elemente bewusst "mischt,,23 und aus gegebenem Anlass zu einem neuen und planvollen Sinngefüge zusammenstellt. Nicht zuletzt dadurch erklärt sich, weshalb die vorgegebenen Gattungen nicht in "Reinform" übernommen, sondern abgewandelt werden. In diesem Prozess steht Israel ja schon immer, angefangen bei den Abwandlungen überkommener kanaanäischer Göttermythen. 24 Dieses Phänomen geht auch mit der Exilszeit und deren fundamentalen Veränderungen im Leben des Volkes Israel weiter. Die hier vonstatten gehenden Formabwandlungen beruhen im Wesentlichen auf der Konvergenz von persönlicher Frömmigkeit und offizieller Religion, auf die R. Albertz aufmerksam gemacht hat. Er verwendet mr diese "Mischgattungen" die Bezeichnung "Gemeindebittgebet(e)","5 denn die Bitte bzw. das Bekenntnis der Zuversicht sind die tragenden Säulen im Textgefüge. Basis für das Vertrauen in Ps. 9/ 10 ist allerdings weniger die "persönliche" Rettungserfahrung der Beter, sondern die Tradierung derselben. Sie bewegt sich in der Spannung zwischen lHWHs universalem (9,69) und partikularem Rettungshandeln (9,14-17).

5.2 Ps. 9 / 10 im formalen Diskurs Die Aufnahme bereits bestehender Gattungselemente in Ps. 9/10 bedeutet nun nicht, dass es sich um die nachträgliche Überarbeitung eines bereits bestehenden älteren Textes handelt. Literarkritische Operationen sind an 22 Möglicherweise entstammen V. 7, der V. 6 zu korrigieren scheint, und V. 16 f., der von individuellen Feinden spricht, ebenfalls einer Nachinterpretation, die die erste Fortschreibung voraussetzt (vgl. E. ZENGER, Kommentar, 1993, 272). Ob diese letzten Ergänzungen den Verfassern von Ps. 9/10 schon bekannt waren, lässt sich nicht nachprüfen. 23 "Mischung" bedeutet aber keineswegs Chaos, welches nur noch durch das alphabetische Akrostichon wieder gebändigt werden könnte. Ps. 9/10 ist kein Florilegium verstreuter Traditionsfetzen, deren Sinn nur in einer ehedem brüchigen Ästhetik besteht. Sondern "die ,Mischung' ist ein Phänomen der Oberfläche der Gattungssprache. Die kultischen Elementarvorgänge können nicht miteinander ,gemischt' werden ( ... )." F. STOLZ, Psalmen, 23 f. 24 Vgl. J. JEREMIAS, Königtum, passim. 25 R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 558.

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keiner Stelle am Platze 26 Ps. 9/10 ist eine kreative Neubildung, in die eine Fülle von fonnal-inhaltlichen Elementen aus der Tradition emgeflossen ist. Insofern erschließt sich das "Neue" des Textes zu emem Großteil durch die individuelle Kombination vorgegebener Elemente. Diese Eigenart beschränkt sich jedoch nicht auf Ps. 9/ 10 allein. Das Kennzeichen einer Kombination von Äußerungen aus zuvor getrennt existierenden Lebensbereichen (Klage / Dank des Einzelnen; Klage des Volkes / Hymnus)27 ist weitgehend allen Psalmen gemeinsam, die seit der Exilszeit entstanden sind 28 Ps. 9/10 kann deshalb nicht keiner Gattung überhaupt zugeschrieben werden, sondern lediglich keiner der "klassischen" Gattungen, deren Sitz im Leben der vorexilische Tempelkult bzw. die Zeremonien zur Bewältigung von Einzelschicksalen waren (z. B. in Form des Dankliedes des Einzelnen, wie anhand von Ps. 30 gesehen). Als Sammelbegriff für alle Texte, die auf den ersten Blick schwer in die klassischen Gattungen einzuordnen sind, hat F. Stolz die Bezeichnung "nachkultisch" eingeführt. Damit will er anzeigen, dass der Kult, wie er im Israel der Vorexilszeit gehalten worden war, nach dem Wegfall der Staatlichkeit sein Orientierungspotential verloren hatte. "Nachkultisch" ist dann - wenn man die Bezeichnung im Sinne Stolz' gebraucht - nicht gleichzusetzen mit unkultisch, sondern bezeichnet jene Form des Gottesdienstes, die sich mit der Erfahrung einer dauerhaften Störung der Lebensordnung auseinanderzusetzen hat. Inwiefern Form- und Traditionsgeschichte hierbei konvergieren, hat J. J eremias auf den Punkt gebracht: "Was die Psalmen der jüngsten Zeit innerhalb des Alten Testaments gegenüber den vorausliegenden kennzeichnet, ist das stärkere Auseinandertreten von Glaube und Erfahrung. Die religiöse Liedtradition der älteren Zeit wird massiert und gehäuft aufgeboten, um der Erfahrung von Unterdrückung und Unrecht entgegengestellt zu werden.,,29 Im weitesten Sinne kann man daher alle (Psalm-) Texte, die diese Kriterien erfüllen, als "nachkultisch" kennzeichnen. Im formalen Diskurs ist daher zwar auf der Textoberfläche eine kaum zu überblickende Vielfalt an Elementen gegeben. Diese rühren aber von dem gleichen Grundproblem der nachexilischen judäischen Gesellschaft her, in der die Verfasser je nach sozialer Stellung und religiöser Tradition eine Antwort auf ihre aktuellen Fragen suchten. Das Inventar, mit der in der "nachkultischen" Form Psalmen gebildet werden, beinhaltet folgende Aspekte: 26 In diesem Fall dient die akrostichische Struktur zumindest als äußerer Beleg dieser Tatsache. 17 Vgl. F. STOLZ, Psalmen, 13 ff. 28 Vgl. R. ALBERTZ, Exilszeit, 130-135. 29 J. JEREMIAS, Königtum, 136.

5. Kapitel: Funktionen

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Ich- und Wir-Aussagen überschneiden sich häufiger Es wird mit Sprechrichtungs- und Perspektivwechseln gearbeitet Daher sind Beter und Psalmist nicht immer auf derselben sprachlichen Ebene anzutreffen Not- und Klage-, sowie Dank- und Lobaspekte können in diversen Stellungen in einem Text verarbeitet werden Dementsprechend fließen verschiedene Traditionslinien - prophetische und weisheitliche - zusammen Bei einer Benennung dieser Texte kommt man über eine Präzisierung wie "Mischgattungen,,30, "Gemeindebittgebete" / "Gemeindeloblieder,,31, "Lehrpsalmen,,32 oder "Rollen- oder Problemträger-Dichtungen,,33 m. E. nicht hinaus. Die Entscheidung mancher Exegeten, nähere Begriffe wie "Mittlerklage,,34 einzuführen, hängt damit zusammen, dass sie einen für ein bestimmtes Textprofil besonders markanten Aspekt (dass in diesem Fall der Beter nicht lediglich ein individuelles Problem an Gott richtet) herausgreifen.

5.3 Der literarische Charakter und die Frage nach der Verwendungsweise Es ist also unübersehbar, dass Ps. 9/10 einerseits formal-inhaltlich von bereits bestehenden Texten der hebräischen Bibel (vornehmlich den Psalmen) beeinflusst ist, dass er sich in dieser Eigenschaft aber auch mit anderen Psalmen derselben Epoche berührt. Die Schreiber haben traditionelle Quellen unter Berücksichtigung ihrer besonderen Situation zu einem neuen Textgebilde zusammengefügt. Im Fall von Ps. 9/ 10 gestaltet sich das folgendermaßen: "The poem is intentional and powerful in building a picture of social reality by clustering pejorative tenns. ,,35 Diese Art der Clusterbildung, wie Brueggemann sie nennt,36 ist für Ps. 9/ 10 im Ver-

F. STOLZ, Psalmen, 23. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 558. 32 E. S. GERSTENBERGER, Perserzeit, 179. 33 I. MEYER, Klagelieder, 482. 34 B. WEBER, Psalm 77,191-193. 35 W. BRUEGGEMANN, Psalm 9110, 5. 36 Herkömmlicherweise spricht man von anthologischen Psalmen, die besonders durch die französische Exegese offen gelegt wurden (vgl. A. DEISSLER, Psalm 119). Die anthologische Psalmenexegese "hält mit H. Gunkel daran fest, daß der vorexilische Kult der Mutterboden der biblischen Psalmodie war, aber die Einordnung der meisten Psalmen in die nachexilische Zeit erlaubt es, den starken Einfluß der Propheten und der Weis30 31

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

gleich zu anderen Psalmen außerordentlich bestimmend, was den Schluss nahe legt, dass wir es hier mit einem "literarischen" Produkt, das unter Verwendung bestehenden Materials geschaffen wurde, zu tun haben. "Aber wieder verschleiert der Begriff ,Mischgattung' mehr, als daß er erklärt. ,,37 Die entscheidende Frage, die von F. Stolz wieder aufgegriffen wurde, ist die, welche Funktion ein solcher Text haben sollte. Eine exegetische Richtung versucht, die literarische Eigenart unmittelbar an die Verwendungsweise zu koppeln, d. h. einen Text in seiner Funktion für Texte zu interpretieren. o. H. Steck urteilt, dass ein Text wie Ps. 9 / 10 "in den Rahmen eines literarischen Lesegebrauchs von Psalmen im Dienste sich vergewissernder Frömmigkeit,,38 einzuordnen sei. Er folgt damit der funktionalen Basis, die F. Stolz gelegt hat, indem er jene Texte als "Vergewisserungspsalmen" bezeichnet hat. 39 Steck kombiniert diese Einsicht mit der redaktions geschichtlichen Fragestellung dergestalt, dass Ps. 9/10 in die Reihe späterer Psalmen einzuordnen sei, die in relativer Nähe zum Abschluss des Psalters gehören und diesen zum "Betrachtungsbuch,,40 der frommen Gemeindemitglieder werden ließ. Eine kultische Verwendungsweise im (Tempel-)Gottesdienst schließt Steck hingegen aus 41 , da er offensichtlich das von Stolz genannte engere Kultverständnis zugrunde legt 42 Andere Exegeten kommen zu ganz anderen Ergebnissen. So heißt es bei E. S. Gerstenberger: "Acrostic poems certainly can be used in rituals, especially if they are the handwork of skilled, literary singers or clergymen. And the collective outlook, both in regard to the supplicant's congregation and to the opponents who were cited, reflects only the community structure of that time.,,43 Nicht nur dass Gerstenberger eine kultische Verwendung des Textes nicht ausschließen will - er geht sogar mit Sicherheit (!) davon aus, dass Ps. 9/10 einen gottesdienstlichen Hintergrund gehabt habe, weil er dessen Schreiber als Literaten und Sänger in einem bezeichnet. "The poem, then, can be seen in a synagogal setting,,,44 d. h. wir haben es nach ihm zwar nicht mit einem "offiziellen" Text im Kontext des zweiten Tempels zu tun, sondern mit einem Psalm von "Grup-

heitslehrer auf die Psalmodie wahr- und emstzunehmen." F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 1993, 21. 37 F. STOLZ, Psalmen, 27. 38 O. H. STECK, Abschluß, 109. 39 F. STOLZ, Psalmen, 28. 4 0 N. FÜGLISTER, Verwendung, 380. 41 0 . H. STECK, Abschluß, 109. 42 Vgl. F. STOLZ, Psalmen, 11. 43 E. S. GERSTENBERGER, Kommentar, 75. 44 Ebd.

5. Kapitel: Funktionen

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pen" oder einer "Gruppe", deren genauere Lokalisierung allerdings umstritten ist. Aus den genannten exegetischen Richtungen ergibt sich die Frage, ob es sich um unversöhnliche Extrempositionen handelt oder ob nicht alternative Lösungsmodelle denkbar sind. Dies hängt im Wesentlichen auch damit zusammen, ob man einem eher weiten oder engen Kultverständnis folgt. Dabei gilt es einerseits zu bedenken, dass über die kultische und soziale Situation der nachexilischen Zeit kaum hinreichende Infonnationen vorliegen. Ob Ps. 9 / 10 auch in seiner vorliegenden sprachlichen Form gottesdienstlich verwendet worden ist, lässt sich nicht mehr überprüfen. Zum anderen muss auch eine Erwägung in der anderen Richtung einbezogen werden: Ein und derselbe Text könnte durchaus in verschiedenen Kontexten verwendet worden sein. 45 Zunächst gilt es in Bezug auf Ps. 9 / 10 einige Punkte festzuhalten, die mit relativer Sicherheit als zutreffend bezeichnet werden können: Der oder die Schreiber ist / sind poetisch und theologisch ausgesprochen kompetent, mit der Tradition auf breiter Ebene vertraut und in der Lage, sie situationsgemäß weiterzuentwickeln. Zwar bezieht sich der Inhalt des Psalms zu einem Großteil auf bekanntes Material;6 doch stellt er keine Reproduktion bestehender theologischer Konzeptionen dar. Vielmehr bringt er bestimmte Vorstellungen über Gottes Richteramt und Königtum, die Rede von Armen und Ausgebeuteten und deren Bedrängern (den "Frevlern") so in Beziehung, dass darin das für den / die Schreiber ausschlaggebende Problem und die Möglichkeit zu dessen Überwindung zum Vorschein treten. In Ps. 9 / 10 entsteht damit so etwas wie eine Gegenrealität ("counter social reality,,)47 zu der die Betroffenen umgebenen Wirk-lichkeit. Es ging den Schreibern daher wohl nicht allein darum, theologische Gelehrsamkeit zu Papier zu bringen oder sich kreativ mit den vorliegenden Schriften zu beschäftigen; vielmehr stellten sie sich einem real existierenden Problem ihres sozialen Umfeldes und betätigten sich zu dessen Bewältigung exegetisch. V on daher weist durch die Hervorbringung von Ps. 9/10 auch ein konkreter Impuls in die entsprechende Situation zurück. Die vielfachen pluralischen Nennungen von Annen und Elenden lassen darauf schließen, dass Ps. 9 / 10 im Umkreis einer (oder verschiedener) 45 So wäre es denkbar, dass der Psalm sowohl von seinen Verfassern und Tradenten im engeren Kreis meditiert worden ist, als auch dass er einer größeren Gruppe vorgetragen wurde. 46 Darauf wird in Kap. 6 genauer eingegangen. 47 W. BRUEGGEMANN, Psalm 9110, 5.

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

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Gruppen entstanden ist, über deren Größe und soziale Zusammensetzung aber nur Vermutungen angestellt werden können. Der Psalm macht nicht den Anschein, für den liturgischen Gebrauch im offiziellen Tempelkult gedacht zu sein, so weist er beispielsweise keine refrainartigen Strukturen wie z. B. Ps. 136 auf, die ihn als Wechselgesang o. ä. rezipierbar sein lassen. Dagegen eignet er sich, im Rahmen einer Gruppenversammlung (evt!. mit verteilten Rollen)48 vorgetragen zu werden. Über die genauen Umstände lassen sich allerdings keine Angaben machen. Die bereits angesprochenen Denkkategorien des "Sowohl-als-auch" lassen sich am besten dann durchhalten, wenn sie nicht als Verlegenheitslösung genommen, sondern systemisch begriffen werden. Als mögliche Annäherung an die genannten Fragen soll im Folgenden ein Modell zur Diskussion gestellt werden, bei dem Anlass und Material zur Abfassung des Textes und der Text als Impulsgeber in einem doppelten Wechselzusammenhang oder Kreislaufsystem gedacht werden. Als Ausgangspunkt des Prozesses sei der aktuelle Anlass gewählt, der sich aus der besonderen Problemsituation ergibt. Eine Gruppe von Menschen leidet unter der Unterdrückung durch andere. Dabei flihlt sie sich von llIWH, ihrem Gott, verlassen. Er scheint für sie in der gegenwärtigen Lage nicht mehr zu ihren Gunsten eingreifen zu können (vg!. Ps. 10,1). Ein Teil dieser Gruppe bzw. Menschen, die als Fürsprecher agieren, nehmen die Situation zum Anlass, eine weiterführende theologische Perspektive zu gewinnen. Sie scheinen zum einen auf "erfahrene [ ... ] Bewahrung vor Feinden,,49 zurückblicken zu können (vg!. 9,2-7), zum anderen verfügen sie über die Kompetenzen, aus der Auseinandersetzung mit der Tradition die ihnen bereits schriftlich vorlag - eine adäquate Konzeption für die Gegenwart entwickeln zu können. Dabei ensteht gewissennaßen als Produkt Ps. 9/10, der als Text während der Versammlungen der Gruppe zum Vortrag kam. Seine Urheber dürften der Gruppe dadurch eine veränderte Perspektive vermittelt haben. "Der Vollzug der Vergewisserung des ungewiß gewordenen und der Vergegenwärtigung des femen Heils schafft nun freilich auch wieder Gemeinschaft,,50. Der deprimierenden Situation der Versammlung konnte auf diese Weise etwas Lebendiges entgegengesetzt werden. 51

Vgl. E. S. GERSTENBERGER, Perserzeit, 278. J. JEREMIAS, Königtum, 143. 50 F. STOLZ, Psalmen, 28. 51 W. BRUEGGEMANN, a. a. 0., 5 ist in diesem Punkt genau der gegenteiligen Auffassung. Er beschreibt den Text als eine Gerichtssituation, in der von Seiten ffiWHs den Armen eine gerechte Anhörung zuteil wird - allerdings: nur für die Dauer, während der 48

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5. Kapitel: Funktionen

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Man denke an die Parole "JHWH ist König! Die Heiden verschwinden aus seinem Land!" (10,16) oder an den aus der Ich-Perspektive gesprochenen Thodateil, mit dem Ps. 9110 eingeleitet wird (9,2-7); auch der Ruf: "Steh auf, ffiWH, Gott, hebe deine Hand; Vergiss nicht die Erniedrigten!" (10,12) kann im Rahmen einer Versammlung frei erklingen. Darin sehe ich die bleibende Bedeutung der Überlegungen W. Beyerlins, der in Erwägung zieht, "daß die beiden Psalmengattungen [sc. Lob und Klage, D. S.] bei all ihrer Zusammengehörigkeit und Konvergenz doch in verschiedenen Akten desselben liturgischen Zusammenhangs - [ ... ] - zum Vortrag gekommen sind.,,52 Für problematisch halte ich es lediglich, dass Beyerlin annimmt, Ps. 9110 sei in extenso im Tempel zur Aufführung gekommen. Damit verkennt er m. E. den literarischen Charakter dieses Textes, der ihn für eine zusätzliche Verwendungsweise offen hält.

Als schriftlich fixierter und hoch anspruchsvoller theologischer Text wies Ps. 9 / 10 nun aber über die aktuelle Situation hinaus und war deswegen geeignet, einen Diskursbeitrag zu den diversen Texten der hebräischen Bibel (die bereits existierten und parallel im Entstehen begriffen waren) zu leisten. 53 Im Zusammenhang mit diesen konnte er dementsprechend weitertradiert und mit anderen Schriften, insbesondere Psalmen, bedacht und meditiert werden. Das geschah freilich nicht unmittelbar in der gottesdienstlichen Situation, sondern dort, wo sich Schreiber und Tradenten theologisch betätigten. Aus meiner Sicht stellt es daher eine Verkürzung dar, das Potential von Ps. 9/10 einseitig zu betonen. Weder rührt der "anthologische" Anstrich des Textes von einer der Realität entfremdeten exegetischen Betätigung her, noch lässt das Profil von Ps. 9/10 darauf schließen, dass er 1:1 liturgisch bzw. gottesdienstlich zum Einsatz kam. Ps. 9 / 10 bewegt sich daher einerseits in einem konzeptionell "offenen" Diskurs, der in Teil II der vorliegenden Arbeit diskutiert werden soll. Andererseits ließ sich Ps. 9/10 auch als gewichtiger Baustein in einem literarischen Zusammenhang verwenden, bei dem es um die schriftliche Ausgestaltung des Psalters als Buch ging. Darauf wird im dritten Teil einzugehen sein.

Ps. 9110 als Text zu Gehör gebracht wird: "When the poem ends, the odd court is adjourned" (ebd.). 52 Heilsvergegenwärtigung, 223. 53 Welche konzeptionellen Überschneidungen auf diesem Gebiet zu beobachten sind, wird im zweiten Hauptteil dargelegt.

6. Kapitel

Verarbeitung geprägter Motivzusammenhänge Die Makrostruktur von Ps. 9/10, welche die Verfasser ihnen bekannten Texten entlehnt haben, setzt sich im Einzelnen aus einer Fülle geprägter Motive, aus allgemein verbreiteten Vorstellungen und theologischen Konzeptionen zusammen. Das verbindet ihn mit vergleichbar "jungen" Texten der hebräischen Bibel, deren Einzelaussagen in den seltensten Fällen absolute Neubildungen sind l Nun könnte man das Vorgehen der Schreiber dergestalt verstehen, dass sie - Kindern vergleichbar - einzelne Bausteine aus einem prall gefüllten Kasten auswählen, aus denen sie, mehr schlecht als recht, einen bunten Turm bauen - das bestehende Baumaterial aber nicht verändem. 2 Doch wäre dies eine sehr kurzsichtige Interpretation. Die aus anderen Zusammenhängen vertrauten Motive und Einzelaussagen entfalten ihre volle Wirkung erst, weil sie dem Duktus des Textes gemäß aufeinander abgestimmt werden. Erst aus diesem "Gesamtpaket" wird schlussendlich die zentrale Intention der Verfasser ersichtlich. 3 In den folgenden Abschnitten dieser Arbeit sollen einzelne Motivzusammenhänge (nach Gruppen geordnet) gesondert untersucht werden, um sie auf ihr besonderes Profil im Unterschied zu ihren Vorbildern zu überprüfen. Damit wird letztlich ein besseres Verständnis von Ps. 9 / 10 im Ganzen angestrebt. Methodologisch wird dabei nicht unterschieden, ob es sich um literarische Abhängigkeit der unterschiedlichen Topoi aus Ps. 9/10 von den entsprechenden Parallel aussagen handelt oder ob die Verfasser lediglich auf allgemein zugängliche Sprach- und Denkmuster zurückgegriffen haben. In den wenigsten Fällen lässt sich hier sicher I Vgl. z. B. Ps. 97 und die Deutung dieses Phänomens von J. JEREMIAS, Königtum, 142 f. 2 Diese Assoziation wird bei mir ausgelöst, wenn ich im Rahmen der Diskussion um Intertextualität auf den markanten Ausdruck "Textbaustein" stoße (vgl. F. V. D. VELDEN, Ps. 109,109-117, der herausgearbeitet hat, dass es für die Formulierung einer Feindbeschädigungsaussage in Ps. 109,6-16 ein verfügbares Sprachmuster gegeben habe, bestehend aus einer festen Motivfolge und konstantem Vokabular. "Die literarische Form des Textbausteins besitzt ( ... ) einen Rückbezug auf einen ästhetischen Konsens. Der Textbaustein wird so für den Leser als ein gewählter, überlegter Ausdruck der problematischen Feindschädigung ersichtlich" (a. a. 0., 116).). 3 Andernorts haben z. B. F.-L. HOSSFELD IE. ZENGER, Kommentar 2000, 652, hinsichtlich Ps. 94 aufgezeigt, dass sich dessen "Mischstil aus der besonderen Aussage von Ps. 94 ergibt."

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

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differenzieren, da die Motivkomplexe nur in einem schriftlich überlieferten Ausschnitt zugänglich sind. Wo dennoch klare literarische Abhängigkeit vorliegen könnte, werde ich explizit darauf hinweisen. Der im Wesentlichen traditions- bzw. motivgeschichtliche Arbeitsgang orientiert sich an den im Text genannten Protagonisten.

6.1 Die feindlichen Frevler In Ps. 9 / 10 wird grundsätzlich betrachtet auf zwei unterschiedliche Arten von den Feinden der Betenden gesprochen. Einmal werden sie als Unterlegene dargestellt, die entweder bereits von lHWH unschädlich gemacht worden sind (9,6 f.16 f.; 10,16) oder baldmöglichst untergehen sollen (9,18.20 f.; 10,15). In diesen Textbereichen sind sie passiv und können dementsprechend nicht reden oder denken. Dies ist allein die Zeit, in der die Bedrängten den Mund auftun, sei es zum Lob über die Rettung (9,2-7) oder zur Klage in der Not (9,14 f.). Umgekehrt gibt der Psalmist dort, wo die Feinde mit ihren Untaten noch am Werk sind (10,2-13), einen Einblick in ihre Gedankenwelt, während nun die Opfer stumm bleiben. Beide Arten, die Gegner in den Blick zu nehmen, speisen sich zum Großteil aus konventionellen Sprachmustem. Als Bezeichnung für die Feinde wählen die Verfasser hauptsächlich die Tennini C~17tb, = "Frevler" und C~iJ = "Heiden" - auch das nicht ohne Analogie in der Tradition.

6.1.1 Die Selbstverstrickung der Frevler und ihr Ende a) Ps. 9/ 10 hat Anteil an der verbreiteten Glaubensüberzeugung, dass die Boshaften und Ungerechten nicht bestehen werden, sondern" verschwinden" bzw. "zugrunde gehen ".4 Spannend ist dabei vor allem, in welchem Modus sich diese Hoffnung verwirklichen soll. Zwar greifen die Verfasser des Textes bekannte Denkmuster auf, modifizieren diese aber im entscheidenden Punkt. In Ps. 9,4 spricht der Beter die Überzeugung aus, dass sich seine Feinde - wenn sie sich erst einmal in der Rückwärtsbewegung befinden - nicht mehr lange werden auf den eigenen Beinen halten können, sondern zu "straucheln" (,Ili:> Niph.) beginnen und "verschwinden" (':l~). Besonders ausgeprägt sind die Wendungen vom Stolpern und Zugrundegehen in vorherrschend weisheitlichen Texten des Alten Testaments zu finden. Paradigmatisch dafür steht Ps. 1,6, wo es heißt:

4

Vgl. hierzu C. STICHER, Selbstzerstörung, passim.

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil Gewiss, JHWH kennt den Weg der Gerechten, aber der Weg der Frevler vergeht (i~Kn). (Ps. 1,6)

Auf der Linie dieses Grundaxioms lassen sich eine ganze Reihe von Textbelegen einordnen, die allesamt darauf hinweisen, dass es - kurz- oder langfristig - dazu kommen wird, dass die Frevler nicht bestehen werden (vgl. mit ':l~ z. B. Ps. 92,10). In Provo 4,19 wird in Aufnahme der Wegmetaphorik aus Ps. 1 darauf insistiert, dass die Frevler im Dunkeln "straucheln" / "zu Fall kommen". Sie stolpern unwiederbringlich in ihr Unglück, während der Gerechte, egal wie oft er feillt, immer wieder aufzustehen vermag (Prov. 24,16). Die Differenz zu Ps. 9,4 besteht nun im Wesentlichen im Zeitjaktor, welcher mit dem äußeren Anstoß des Geschehens zu tun hat. Dabei kommt der Gebetsdynamik eine tragende Rolle zu. Der Zusammenhang von 9,2-7 impliziert, dass der Beter zuvor inständig auf eine Wende seiner Situation hoffte. Das verbindet diese Partie mit Psalmen wie Ps. 6, in dessen Schlussvers der Klagende seine Feinde regelrecht beschwört, dass sie "umkehren" sollen (:l11li vgl. 9,4a), damit sie ihn nicht mehr bedrängen (6,11). Diese Grundstimmung hat sich in Ps. 9,2-7 dahingehend verändert, dass der Beter seine Hoffnung schon ganz klar zu seinen Gunsten verwirklicht sieht. Die Intention von 9,4 ist also nicht zu sagen, dass im Blick auf das Ergehen der Feinde eine Haltung des "wartenden" Vertrauens eingenommen werden kann (vgl. Provo 10,28), weil man weiß, dass JHWH kraft seiner Souveränität zu gegebener Zeit eingreifen wird. Diese Glaubenseinstellung ist dem Sprecher in Ps. 9,4 nicht möglich, weil JHWH seine Kraft hier und jetzt zu seinen Gunsten einsetzen muss. Es bedarf des "Aufstehens" JHWHs (011' 9,20; 10,12), damit die Frevler in alle Winde zerstreut werden. Konzeptionell nahe steht Ps. 9,4 in diesem Zusammenhang den Versen Ps. 68,2-4, die als eine Art Präludium aller Wahrscheinlichkeit nach von zweiter Hand vor den Psalm gesetzt worden sind. Steht Gott auf, (so) laufen seine Feinde auseinander, und die ihn hassen, fliehen vor ihm ('".Hm vgl. Ps. 9,4b). Wie Rauch verweht, wenn (es) [der Wind] weht, 5 wie Wachs zerfließt vor dem Feuer, (so) verschwinden ('''~K" vgl. Ps. 9,4b) die Frevler vor Gott. (b".,'K ".lO~) (V. 2 f) 5 F.-L. HOSSFELD, Kommentar, 2000, 242, übersetzt ~'l.l.n als 2. Pers. Sg. "verwehst du sie". Abgesehen davon, dass der Abschnitt 68,2-4 durchweg ohne direkte Amede an Gott auskommt, gerät bei HOSSFELD das Vergleichsmoment durcheinander. Dem Sinn nach verlangt nämlich der verwehende Rauch ein ähnliches Movens wie das Feuer, welches Wachs zum Zerfließen bringt. Von daher schlage ich folgende Lösung vor: Das dritte Kolon stellt die eine Seite des Vergleichs dar, die ersten beiden zusammen die andere.

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

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"Hier ist der Ladespruch aus Num 10,35 mit minimalen Änderungen (Ersetzen des Tetragramms durch Elohim, Umwandlung des Kohortativs in eine Präfixkonjugation desselben Verbes) vorangestellt worden. Im Kontext der Psalmen bezieht ~'P ,aufstehen, sich erheben' mit Gott als Subjekt auf dessen Übernahme des Richteramtes, vgl. Ps 3,8; 7,7; 9,20; 10,12; 12,6 u. Ö.,,6 Der Unterscheid zu Ps. 9110 besteht allerdings darin, dass in Ps. 68 Gottes "Aufstehen" nicht notwendigerweise eingefordert werden muss, sondern im Sinne einer "Wenn-dann-Verknüpfung" konstatiert wird. Dagegen steht in Ps. 9110 ja gerade auf dem Spiel, ob ffiWH wirkmächtig einschreitet.

Auch in Ps. 10,16 wird als direkte Konsequenz der Känigsherrschaft JHWHs das "Verschwinden" (':l~) der Heiden aus dem Land dargestellt. Dieser Zusammenhang unterscheidet Ps. 9/ 10 ebenfalls von vergleichbaren Äußerungen (vgl. Provo 2,21 f; 10,30). In anderen Texten geht es immer um den direkten Gegensatz zwischen den Gerechten, die im Land bleiben und den Frevlern, die daraus entfernt werden, ohne dass 1lI\VH als dritte Instanz erscheint. In Ps. 9 / 10 hingegen stoßen die Frevler und JHWH als unmittelbare Gegenspieler aufeinander. Aus diesem Grund ist Ps. 9/ 10 lediglich daran interessiert sicherzustellen, dass die Frevler / Heiden aus dem Land entfernt werden, ohne dass auf der anderen Seite den Bedrängten / Betenden das Land zugesichert wird (vgl. Ps. 37,9). Der innere Grund dieser Differenz liegt jedes Mal im Bereich des Zeitfaktors. b) Der Bezug auf gängige Vorstellungen kommt auch dort zum Tragen, wo in Ps. 9 / 10 auf den rückwirkenden Zusammenhang von Tun und Ergehen 7 eingegangen wird (9,16 f.; 10,2 b). Die Ähnlichkeit von 9,16 und dem bekannten Ausspruch Provo 26,27 ist nicht zu übersehen: Wer eine Grube (nm!) gräbt, wird in sie hineinfallen, und wer einen Stein wälzt, auf den wird er zurückkommen.

Unübersehbar rekurriert Ps. 9,16 auf diese allgemein gehaltene Lebensregel, wendet sie allerdings direkt auf die Frevler / Heiden als Täter an. Das Bild von der ausgehobenen Grube ist in beiden Versen identisch, nur ist in der zweiten Vershälfte (9,16b) vom "Fangnetz" (nlli,) statt vom Stein die Rede. Um die spezielle Ausprägung des Zusammenhangs von Tun und Ergehen im Kontext von Ps. 9/ 10 beschreiben zu können, muss darüber hinaus wieder der Zeitfaktor8 einbezogen werden. Bezeichnenderweise erF.-L. HOSSFELD, Kommentar 2000, 249. Vgl. K. KOCH, Vergeltungsdogma, B. JANOWSKI, Offene Fragen. 8 Auf die Bedeutung des Zeitfaktors hinsichtlich der Problematik des "Tun-ErgehenZusammenhangs" hat B. JANOWSKI, Offene Fragen, 261 f., hingewiesen. K. KOCHS Konzeption von der "schicksalwirkenden Tatsphäre" (Vergeltungsdogma, passim) als Gegenthese zum angeblich im AT weit verbreiteten Vergeltungsdenken ist in der Forschung nicht undiskutiert geblieben. Vor allen Dingen wird kritisiert, dass KOCH einen Automatismus zwischen Tun und Ergehen unterstelle. JANOWSKI stellt dagegen klar: ,,[ ... ] der Spruch Provo 26,27 [ ... ], den K. Koch in eine Reihe mit anderen Sprüchen stellt 6 7

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

scheint die entsprechende Aussage einmal in der perfektischen (9,16 f.) und einmal in derjussivischen Form (10,2b). Im ersten Fall geht es um den Rückblick auf die erfolgte Rettung des von seinen Feinden bedrängten Beters (9,14 f.), im zweiten um den Wunsch, die Frevler mägen in Zukunft keinen Erfolg damit haben, den Armen zu verfolgen. Da sind die Heiden versunken ('ll~~ AK) in der Grube, die sie gemacht hatten, im Netz, das sie getarnt hatten, hat sich ihr Fuß verfangen (:1"~'.l AK). (9,16) Mit Hochmut entbrennt der Frevler gegen den Erniedrigten. (Doch) sie sollen gefangen werden (,itlOn" PK) in den Absichten, die sie hegen! (10.2)

Beide Zeitformen werden im Textzusammenhang von Ps. 9 / 10 in ein spannungsvolles Mit- und Gegeneinander gesetzt, weil die mr die Spruchweisheit konstitutive "Regelhaftigkeit und Verläßlichkeit der beschriebenen Handlungsmuster,,9 hier auf fundamentale Weise in Frage gestellt ist. Auch wenn der allgemein gehaltene Spruch aus Provo 26,27 im Großen und Ganzen offen lässt, wie lange es dauert, bis die (unrechte) Tat auf den Täter zurückwirkt, so ist das "Eintreffen der Entsprechung von Tun und Ergehen noch zu Lebzeiten,,10 [Hervorhebung D. S.] der Handelnden gleichwohl uneingeschränkt garantiert. Die Frage für die Verfasser von Ps. 9/10 ist dagegen nicht, wie lange es dauert, bis die Frevler unschädlich gemacht sind, sondern ob überhaupt. Für die Betenden erscheint die Zeitspanne zwischen Tat und Folge derart auseinander gerissen, dass sie sich nicht mehr mit einer allgemein gehaltenen Regel zur Deckung bringen lässt. Der Blick zurück auf den abgeschlossenen Vorgang in der Vergangenheit (9,16 f.) fungiert eben nicht als Bestätigung einer allgemein gültigen Lebenserfahrung und als Erweis dafür, dass es auch in Zukunft immer wieder so eintreten wird. Im Argumentationszusammenhang dienen beide Zeitformen stattdessen dazu, den eklatanten Widerspruch zwischen Glaube und Erfahrung aufzuzeigen und im Modus des Gebetes lHWH unmittelbar entgegenzuhalten. Genau deshalb wird in den Kontext des Tun-Ergehen-Zusammenhangs (wie in den Motivzusammenhang, der das absolute Vergehen der Frevler

(Prov 25,19; 26,28; 28,1.1016b.17 f.25b; 29,6.23.25), besagt ja nicht, daß die Tatfolge sich von selbst, gleichsam ,naturgesetzlieh' einstellt, sondern nur, daß sie mit Sicherheit eintrifft" (a. a. O. 261). Variabel sei dabei die Zeitspanne von ergangener Tat und rückwirkender Folge der Tat. Diese Beobachtung trifft den Sachverhalt sehr genau. Man muss K. KOCH aber zugute halten, dass er den Faktor Zeit durchaus einbezieht (vgl. DERS., a. a. 0., 70, mit Hinweis auf Provo 11,4, der die Konsequenzen des Handeins für den "Tag des Zorns" ankündigt, bzw. 11,21, wo es heißt, dass die Auswirkung der Guttat des Gerechten "u. U. erst im Ergehen seiner Nachkommen zutage tritt"). 9 B. JANOWSKI, Offene Fragen, 261. 10 DERS., a. a. 0.,264.

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ausmalt, s.o.) JHWH als dritte Instanz eingebracht. "Im Unterschied zu den Aussagen der Weisheit wird [ ... ] an einzelnen Psalmstellen hervorgehoben, daß die Entsprechung von Tat und Ergehen nicht an sich besteht, sondern ohne Jahwes Eingreifen hinfallig werden kann. ,,11 Und genau dies ist für die Theologen von Ps. 9/ 10 eingetreten, und zwar nicht als vorübergehendes Problem, das mit hinreichenden Gegenbeispielen kompensiert werden könnte, sondern als andauerndes, ohne Aussicht, sich von selbst wieder zu deregulieren. Selbst dass JHWH in den Kontext eingebracht wird, bedeutet noch keine Garantie mr den reibungslosen Ablauf der "sozialen Interaktion,,12. Das unterscheidet den Doppelpsalm von einem literarisch benachbarten Text wie Ps. 7, in dem der Beter immerhin noch in Erwägung zieht, ob evt!. sein eigenes Fehlverhalten Ursache mr die Verfolgung ist - sprich: dass er zurecht den Stein auf sich "zurückkonunen" (~~tbii) sieht. Deswegen ruft er 1lI\VH als richterliche Instanz an, den, der Herzen und Nieren prüft (ln~) - gerechter Gott. [. ..] Gott ist ein gerechter Richter, und ein Gott des Zornesgerichts an jedem Tag (b'"-'~~). (7,JOb.12)

Und entsprechend der Eigenschaft Gottes als Richter, der noch im Verlauf desselben Tages in der Lage ist zu entscheiden, wird das Ergebnis im Gewand des "Tun-Ergehen-Zusammenhangs" präsentiert: Wendet sich nicht wieder einer (und) schärft sein Schwert, spannt seinen Bogen undfestigt ihn? Indes, gegen sich selbst legt er Instrumente des Todes an, seine Pfeile macht er zu brennenden. Da, er empfängt Übel und gebiert Unheil und zeugt Lüge! Eine Grube gräbt er sich und hebt sie aus und wird dennoch in die Falle stürzen, die er zurichtet. Sein Unheil wird sich auf sein (eigenes) Haupt wenden, und auf seinen Scheitel wird seine Gewalttat herunterkommen. Ich will danken JHWH gemäß seiner Gerechtigkeit, und ich will musizieren dem Namen JHWHs, des Höchsten. (Ps. 7,13-18)

Dieser Beter kann Gott "gemäß seiner Gerechtigkeit" danken, denn es hat sich erwiesen, dass nicht er - der Verfolgte - ein Frevler ist, sondern seine Feinde. Die sich im Verlauf des Psalms aufbauende Spannung wird zugunsten des Beters gelöst. Im Unterschied dazu bleibt sie in Ps. 9/ 10 von Anfang bis Ende bestehen. Zweifelhaft ist dabei nicht, wer I"'~ "gerecht" und wer litb1 "im Unrecht" ist, sondern ob llIWH in seiner königlichen Funktion, die unschuldig Verfolgten zu retten, überhaupt noch 11 12

K. KOCH, Vergeltungsdogma, 85. B. JANOWSKI, Offene Fragen, 271.

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

verlässlich ist. Die Bewährung der Känigsherrschaft JHWHs, seine "Gerechtigkeit" (;rl"~) selbst, steht auf dem Spiel. 6.1.2 Die Frevler als Gottesleugner und Verbrecher In der oben genannten Unsicherheit liegt für die Theologen von Ps. 9/ 10 auch die Ursache dafür, dass die Frevler ungehindert denken, tun und lassen können, was sie wollen. Es gibt eine Zeit der Not, so Ps. 10,1, in der 1lI\VH offensichtlich nicht eingreift. Darum kann ein Frevler einen Annen ohne Probleme attackieren (10,2a). Gut zwei Drittel der Verse in Ps. 10 werden dafür aufgewendet, ein umfassendes Bild von den Frevlern, wie sie sich auf immer wieder neue Weise hervortun, zu zeichnen. Dabei wird das eine Mal stärker die Innenseite, also Gedanken, Absichten - kurz, die Mentalität dieser Leute beleuchtet, ein anderes Mal beklagen die Schreiber ihre verbrecherischen Untaten an den Armen und Unschuldigen. Natürlich hängen aus Sicht der Verfasser beide Seiten unmittelbar zusammen. Um allerdings die Abhängigkeit der verschiedenen Aussagen von der Überlieferung besser verdeutlichen zu können, nehme ich eine vorsichtige Trennung der unterschiedlichen Aspekte vor.

°

a) Eine Anzahl von Versen innerhalb von Ps. 1 geht - oberflächlich betrachtet zunächst ohne direkt die Verlierer und Opfer einzubeziehen auf die grenzenlose Skrupel- und Rücksichtslosigkeit des ~Ili' (des "Frevlers") ein. Darin ist ein verbreiteter Topos sowohl der prophetischen Sozialkritik wie auch der Spruchweisheit integriert, nämlich die Anklage gegen den, der "unrechten Gewinn macht" (~~:I ~~1:1 Jer. 6,13 // 8,10; Ez.22,27; Hab. 2,9; Provo 1,19; 15,27). In Ps. 10,3 tut sich der Frevler insbesondere dadurch hervor, dass er als Halsabschneider "große Töne spuckt" und seine Haltung und Methoden "segnet" (1':1). Während die Propheten Menschen anklagen, weil sie die Absicht haben, "einen Schnitt zu machen" (vgl. Jes. 56,11) und die Weisheit ihnen prophezeit, dass sie damit nicht weit konunen werden (in beiden Textbereichen die Frevler also immer objektivierend zur Sprache gebracht werden), hält Ps. 10,3 fest, dass die Frevler diesem Unrecht für sich persönlich auch noch ein positives Etikett anheften. Was den Schreibern von Ps. 10 ferner absolut unbegreiflich bleibt, weil es ihrer Erfahrung entgegen steht, ist die Tatsache, dass die Frevler in ihrer eigenen Selbstsicherheit keinerlei Rückschläge hinzunehmen haben. Ohne den geringsten Zweifel an der eigenen Position erkennen zu lassen, liest sich folgendes Gedankenzitat: Ich werde nicht wanken von Geschlecht zu Geschlecht (1'" ,.,,), keinem [von meinen Leuten] wird etwas Böses widerfahren. (10,6)

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Auch hier spielt der Zeitfaktor im Unterschied zu gängigen Formulierungen wieder eine bedeutende - und für die Verfasser besonders verhängnisvolle - Rolle. Denn der an dieser Stelle zu Wort kommende Frevler höhnt ja, dass es alle seine Nachkommen genauso gut haben werden wie er. 13 Im Gewand dieser Stilisierung soll nichts weniger gesagt werden als dass es - wiewohl hier immer vom 17tb, im Singular die Rede ist - nicht um einen Einzelfall geht, sondern ein gesellschaftliches Problem beklagt wird, das sich unweigerlich fortsetzt und dessen Ende nicht abzusehen ist. Bekannte Erfahrungsmuster zeigen keine Wirkung, sondern schlagen bei den angeklagten Personen ins Gegenteil um. Wo der Beter des 30. Psalms noch fast gleich lautend zugeben konnte In meiner Ruhe / Selbstsicherheit meinte ich: ich werde nie mehr (b"ll') wanken! (Ps. 30,7)

- und diese Perspektive lediglich auf seine eigene Lebenszeit bezogmusste er gleichwohl "erschrecken" (,;r:ll 30,8b) als JHWH sein Angesicht plötzlich "verbarg" (,no hiph.). Wer die Erfahrung machte, dass Gott nicht hinsieht, konnte sich selbst schon als Todgeweihten betrachten (30,10). Doch aus diesem negativen Zusammenhang wird für die Frevler in Ps. 10 ein positiver. Daran schließt sich ein weiterer Aspekt an, der die C~17tb, auszeichnet und der einen Anhalt an einer verbreiteten Tradition hat, nämlich b) die Ignoranz gegenüber JHWH und die Freude darüber, m semer Abwesenheit ungestört schalten und walten zu können. In Ps. 10 wird diese Einstellung des Frevlers in nicht weniger als drei Zitaten demonstriert: Er spricht in seinem Herzen: "Gott hat (es) vergessen, hat sein Angesicht versteckt, sieht auf Dauer nicht (hin). " (10,11) Weshalb verwirft der Frevler Gott, spricht in seinem Herzen: "Du ahndest es nicht!" (10,13) Es verwirft der Frevler (dich) JHWH: "Gemäß der Fülle seines Zorns ahndet er nicht. Da ist kein Gott" (10,3bp.4a.ba)

"Die Problematisierung göttlichen Wirkens im Leben von Menschen und Völkern ist wahrhaftig nicht neu" bemerkt H. Irsigler 14 Aber sie manifestiert sich eben in den verschiedenen Kontexten immer wieder etwas anders. Obige Zitate sprechen zwar eine standardisierte Sprache, doch offenbart sie bei näherem Zusehen eine nicht geringe Komplexität. Diese Komplexität resultiert daraus, dass, nimmt man diese Zitate zusam13 Vgl. U. BAlL, Schweigen, 39. Kommentar, 164.

14 H. IRSIGLER,

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

men, mindestens zwei V orstellungs- bzw. Erfahrungskomplexe zusammengeführt werden, die anderswo getrennt voneinander vorliegen. Zum einen ist in Volksklageliedern die lästerliche Rede im Munde der triumphierenden Gegner zu finden, wie ohnmächtig der Gott Israels sei. In Form der Warum-Frage, die auch für Ps. 9/10 konstitutiv ist (vgl. 10,1.13 I), gibt Israel diesen Vorwurf an JHWH weiter: Warum sollen die Heiden sagen: "Wo ist denn ihr Gott?" (Ps. 79.1 0; vgl. Ps. 42.4; 115.2; Joel2.17)

Diese Redeweise leuchtet den Hintergrund der Äußerungen des Frevlers in 10,3 f. bzw. 10,13 ein wenig aus. Sie unterstreicht, dass es von Hause aus keinem "praktischen Atheismus" oder Ähnlichem entspringt, wenn der Frevler sagen kann: c';r,~ 1'~ "Da ist kein Gott" (Ps. 10,4; vgl. 14,1), sondern auf die Kraft- und Wirkungslosigkeit der gegnerischen - und prinzipiell als lebendig angesehenen - Gottheit abzielt (vgl. Ps. 3,3: Viele sprechen zu mir: "Er hat keine Hilfe bei Gott" c';r'~:l " ;rrw,lli' 1'~). In Ps. 9 / 10 wird dieser Aussagezusammenhang auf einer abstrakteren Ebene verallgemeinert, weil die Frevler und ihre Opfer demselben Gott angehören. In den Lästerungen der siegreichen Feinde nicht enthalten ist (naturgemäß) ein anderer Aspekt traditioneller Psalmensprache: Die Frevler fühlen sich gänzlich unbeobachtet, während sie ihren üblen Machenschaften gegen die Armen nachgehen. Denn dieser Umstand, der in Ps. 10,11 zutage tritt, gehört eigentlich nicht zur schmerzlichen Erfahrung ganz Israels, anderen Völkern unterlegen zu sein. Hier geht es vielmehr um Feinde des Einzelnen. Und ,,(d)as ist kein ,normaler' Krieg und kein offener Kampf zwischen verfeindeten Gruppen. Die Angreifer bleiben für ihre Opfer gewissermaßen unsichtbar,,15. Dass sie darüber hinaus in Ps. 10,11 dezidiert als Akteure im Windschatten Gottes gezeichnet werden, ist eine Theologisierung, die andernorts so nicht notwendigerweise gegeben ist. Die Gedankenzitate in Ps. 59 und 64 z. B. sprechen zunächst offen aus, dass die Attentäter prinzipiell mit niemandem rechnen, der ihnen in die Quere kommen könnte: Siehe, sie speien mit ihrem Maul, Schwerter sind in / auf ihren Lippen, denn: "Wer sollte es hören?" (Ps. 59,8) Sie haben sich gegenseitig aufgeputscht mit böser Rede, sie erzählten davon, Klappnetze zu tarnen. Sie sprachen: "Wer sollte sie sehen?" (Ps. 64,6)

15 E. ZENGER, Kommentar 2000,208.

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

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"Die in V 6c den Feinden in den Mund gelegte Frage [ ... ] scheint gezielt mehrdeutig zu sein. Vordergründig spielt diese Frage auf das kunstvolle Verbergen dieser Fallen an: ,Die entdeckt keiner, denen entkommt niemand!' Hintergründiger heißt dies aber auch: ,Uns entdeckt keiner als die Täter!' (So haben den Text schon einige alte Übersetzungen verstanden). Diese Konnotation betont dann noch stärker die Verschlagenheit und Gefährlichkeit ihres Treibens. Sie haben keine Angst vor irgendjemandem und keine Scheu vor irgendetwas,,16 Unübersehbar übernimmt Ps. 9/ 10 dieses Stilmittel, den Gegnern ihre Hintergedanken in den Mund zu legen. Darüber hinaus wird allerdings jetzt die Gewissheit, unerkannt zu bleiben, einseitig theologisch zugespitzt. Den Weg dieser theologischen Denkarbeit mussten die Verfasser von Ps. 9/ 10 nicht von Beginn an auf sich nehmen, sondern schritten ihn gewissermaßen weiter fort. Am Beispiel von Jes. 29,15 wird deutlich, wie der Ausspruch der Gegner nachträglich - und intentional als Warnung - mit einem llIWH-Bezug versehen wird: Wehe über jene, die eine Tiefe vor JHWH schaffen, um einen Plan zu verbergen, und im Finstern geschieht, was sie tun und sprechen: "Wer sieht uns, und wer (er)kennt uns? d7 (Jes. 29,15)

Hier wird in äußerster sprachlicher Dichte versucht, das Phänomen zu verstehen, wie Menschen sich einen separaten Bereich offen halten oder sogar "schaffen" können, der für den Betrachter nicht durchschaubar ist und von den Opfern auch nicht entlarvt werden kann. Das theologische Problem ergibt sich aus der Erfahrung eigener Anfechtung und wird dementsprechend in den Psalmen in eine "persönliche" Sprache übersetzt. Erst durch diese Zwischenschritte verwandelt sich die Rede der Frevler in Ps. 10 zur Projektionsfläche der eigenen Befürchtungen. Denn der Satz in Ps. 10,11 "formuliert mit den Motiven der Elendsklage (,vergessen'; ,das Angesicht verbergen'; ,wegsehen', vgl. 13,2 ff.), doch von dem Frevler,im Herzen' gesprochen, soll bewußt provozieren: Wenn ~~li und lill.'1 dasselbe sagen, muß etwas Wahres daran sein". 18 c) Es ist daher nur folgerichtig, wenn im Gewand der für viele F eindpsalmen typischen Jagdmetaphorik die Frevler als heimtückische Fallen16E. ZENGER, Kommentar 2000,209. Er extrapoliert, dass von Ps. 10,4.11 u. a. her das Zitat in Ps. 64,6 die zusätzliche Bedeutungsnuance erhält, dass die Frevler sich auch von Gott unbeobachtet fühlen. Aus meiner Sicht fällt jedoch tendenziell Licht von Ps. 64 auf Ps. 10 statt umgekehrt. 17 Der -'''-Spruch in 29,15 f. erfährt durch den Abschnitt V. 17-24 eine Fortsetzung, die auf eine heil volle Zukunft für "das Haus Jakob" (V. 22) abzielt. Auf diesen Textzusammenhang werden wir zurückkommen, wenn es um die zu Ps. 9110 parallel laufenden Diskurse geht (s. Kap. 8.3.2). 18 K. SEYBOLD, Kommentar 1996, 58.

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

steller charakterisiert werden. Im Bereich von Ps. 10,8-10 wird deutlich, dass er auf vorliegendes Material zurückgreift, es aber im Zuge dessen weiter aus- und umbaut. Während normalerweise ein in sich geschlossenes Jagdbild entworfen wird, z. B. die Jagd mit Schusswaffen (vgl. Ps. 11,2; 37,14 f.; 64,5) erwähnt oder der Verfolger als Löwe (vgl. Ps. 17,11 f.) gezeichnet wird, kombiniert der Verfasser in 10,8 ff. ganz verschiedene Bildkreise zu einem Vorgang:!9 Entsprechend den bereits in Kap. 6.1.1 besprochenen Versen 9,16 f. und 10,2, welche den Zusammenhang von Tun und Ergehen der Frevler behandeln, wird zum einen an die Metapher von Grube und Netz (nil!' 10,9) angeknüpft. "Die enge Verbindung von Netz und Fanggrube in 9,16 f. 35,7 f. 57,7 läßt vermuten, daß man die Grube mit einem getarnten Netz überdeckt hat, in das sich das Opfer beim Hineinstürzen verwickelte. [ ... ] Das Netz wurde [ ... ] in einer Lücke in einem sonst mit dichter Vegetation bestandenen Gelände aufgestellt. Oft schirmte eine zusätzlich aus Schilf und Papyrus errichtete Wand die Fänger vor dem Blick der Vögel ab. Hinter dieser Wand lauerte der Anführer des Unternehmens.,,20 Als Sichtschutz der Frevler werden in 10,8 Höfe oder "Ortschaften" (1:I",~n) genannt, allerdings noch bevor das Netz als Bildsymbol eingeführt wird (10,9). P. Riede 2l meint daher, die Dörfer selbst seien nicht der Hinterhalt, da sie ein schlechtes Versteck böten. Tatsächlich gehe es darum, dass der Täter diejenigen, die aus den Häusern herauskommen, von einem anderen Platz aus beschatte. Diese Interpretation wird durch die von P. Riede genannte Parallele aus Ri. 21,21 gestützt, wo die Benjaminiter dazu aufgefordert werden, Frauen aus Silo, die zum Tanz die Stadt verlassen, aus dem Hinterhalt heraus zu "fangen I rauben" (~~n22). Im Blick auf Paralleltexte wie Ps. 55,10; 59,7.15; Hi. 24,14-16 ist es jedoch ebenso gut denkbar, dass der Hinterhalt in den Ortschaften selbst lag, zumal wenn der Angriff nachts stattgefunden haben sollte.

Als eme zweite Bildkomponente kommt die Löwenmetaphorik (Ps. 10,9) hinzu (;r',~ vgl. Ps. 17,11; 58,4 dort "D~ "Junglöwe"). Das Raubtier sitzt "im Versteck" 'nO~:l (vgl. Ps. 17,11), "lauert" :l'~' (vgl. Ps. 59,4) und "belauert" lD~ (vgl. Ps. 56,7) mit "seinen Augen" 1'l'~ (10,8 vgl. Ps. 17,11) das Opfer. Nachdem es den Schuldlosen erfolgreich eingefangen und das Netz zugezogen hat/ 3 schlägt es ihn zu Boden und bringt ihn mit seinen "Starken" C1~~ pI. (d. h. hier wohl die Pfoten / Krallen des Löwen) in seine Gewalt (10,10). Dass hier eigentlich zwei Fangmethoden 19 V9 l. P. RIEDE, Im Netz, 174. 20 O. KEEL, Bildsymbolik, 78. 21 P. RIEDE, Im Netz, 175, unter Berufung auf F. BAETHGEN, Kommentar, 28, der hier allerdings anscheinend nur recht oberflächlich auf Hos. 6,9 und 7,1 anspielt. Diese Stellen reden tatsächlich vom Frevler als Wegelagerer. Entgegen seiner eigenen Belegstelle verortet BAETHGEN den Frevler in die Dörfer. 22 ~~n kaI kommt im gesamten AT nur in Ps. 10,9 und Ri. 21,21 vor. Um den Vorgang des Vogelfangens zu bezeichnen, wird ansonsten eher der Terminus .,~, verwendet (vgl. Jer. 5,26; Am. 3,5; Ps. 35,8). 23 Das Netz zuzuziehen, gehört zum erfolgreichen Abschluss des Fangvorgangs offensichtlich dazu, vgl. O. KEEL, Bildsymbolik, 80.

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("Netz" und "Krallen") zu einem einzigen Jagdbild "übergeblendet" werden (Stereometrie24), verstärkt das Bild in seiner Bedrohlichkeit noch. Der Löwe muss nicht allein mit den bloßen Pfoten zuschlagen, sondern hat noch ein Werkzeug, das ihn bei der Jagd unterstützt. In Ps. 10,8-10 zeigt sich allerdings noch ein weiteres Moment, das von herkömmlichen Jagdvergleichen verschieden ist: "Während die meisten KE [Klagelieder des Einzelnen, D.S.] mit Hilfe des Löwenbildes die reale, z. T. heimtückische, aber inuner unmittelbar drohende Gefahr der Vernichtung aufzeigen, ist dieses Vernichtungshandeln zumindest in Ps 10 schon voll im Gange. ,,25 Und nicht nur das: Im Unterschied zu Texten wie z. B. Ps. 17,11 f.; 35,7 f.; 140,6 kommt die Tat des Frevlers hier tatsächlich zum Abschluss. 26 Der Arme wird nicht nur im Netz gefangen (was auch die Beter in 25,15; 31,5 beklagen, die aber in dieser (fast) ausweglosen Situation noch auf Rettung hoffen können)27, sondern auch durch den Jäger erlegt. 10,10 redet nicht mehr allein von der Absicht der Frevler, ihre anvisierten Opfer zu "töten" (J1ii 28 10,8b, um sogleich zu betonen, dass ihre Waffen sie selbst treffen werden, vgl. Ps. 37,14 f.), sondern vom Erfolg ihrer Tat. In Ps. 9 / 1 geht es - unterstützt durch die doppelte Metaphorik aus "Netz" / "Grube" und "Löwe" - um eine neue Dimension der Gewalt, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. In diesem Zusanunenhang muss auf ein weiteres Detail hingewiesen werden: Die Unheimlichkeit der Szenerie wird noch gesteigert, indem die gewaltsamen Aktionen der Frevler nicht lediglich aus dem Versteck heraus (10,9 vgl. Ps. 17,12; 64,5; Thr. 3,10), sondern im Versteck stattfinden (10,8). Der Täter bleibt somit nicht allein für sein Opfer unerkannt, sondern gleichermaßen für alle erdenklichen Zeugen. Deswegen wird in 10,1 ff. die Außenperspektive auf das Geschehen gewählt: Die einzelnen Opfer verstummen, weil sie niemand (mehr) hört. Ihr Schreien zu Gott muss ein anderer übernehmen. 29 Der sich in Ps. 9/ 10 artikulierende Beter beklagt einen gesellschaftlichen Zustand, den er in

°

24 Vgl. B. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 35: "Durch die Überlagerung der Bilder und Motive (Stereometrie) wird nicht nur die Konkretion der Einzelaussage gesteigert, sondern auch ihre Aufsprengung und Multiperspektivität bewirkt" (Hervorhebung im Original). 25 P. RIEDE, Im Netz, 194. 26 P. RIEDE, Im Netz, 103-116, schildert detailliert die einzelnen Phasen einer kriegerischen Aktion von Feinden. 27 ntth ist ein Netz, "aus dem sich die Tiere mit einigem Glück befreien konnten, wenn die Jäger nicht gleich da waren und das Netz über ihrer Beute zusammenwarfen und sie töteten" (0. KEEL, Bildsymbolik, 81). 28 Das Verb kommt im Kontext der Feindpsalmen nur einmal im AT vor, vgl. P. RIEDE, Im Netz, 116, der auch darauf hinweist, wie selten explizit von der Tötung des Opfers in den Psalmen gesprochen wird. 29 Vgl. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 108 f.

J,"

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jedem Ort (10,8) wähnt, der aber nicht verhindert werden kann, weil er im Verborgenen stattfindet. 6.1.3 Die "Heiden" als Frevler Eine Besonderheit von Ps. 9/10 besteht, wie schon in Kap. 4.1 gesehen, in der Rede von den Gojim (C'1l) als den Feinden der Armen. Dieser Ausdruck erscheint sowohl parallel zu dem der "Frevler" (C'~Ili' 9,6.16-18; 10,15 f) als auch zum hier negativ konnotierten Wort für "Mensch" (1li1l~ 9,20 f). "Die einen als ,äußere' (bzw. nationale) und die anderen als ,innere' (bzw. persönliche) Feinde zu betrachten, [ ... ] geht, abgesehen von der literarischen Konzinnität des Psalms, auch deswegen nicht an, weil von den Widersachern beidemale dasselbe gesagt wird: Sie sind auf die Unterdrückung und Ausbeutung des Armen aus und vergessen dabei Gott, wollen nichts von ihm wissen (9,18 und 10,4 f13), sie stellen Fallen und legen Netze aus (9,16 f und 10,9) und vergießen unschuldiges Blut (9,13 und 10,8).,,30 Wie aber ist dann die Verwendung von C~iJ im Zusammenhang mit den Frevlern zu erklären? Dass die Gleichsetzung beider Gruppen für Ps. 9/ 10 zwar charakteristisch, aber nicht vollkommen singulär ist, hat N. Füglister mit Blick auf Textpassagen wie Hab. 1,13-17; 3,13 f; Jes. 14,5 f; Ps. 56; 59 u. a. aufgezeigt. Im Folgenden soll grundlegender überprüft werden, wie eng die konzeptionellen Berührungen zwischen Ps. 9/ 10 und den oben genannten Texten sind. Denn nicht jeder Text, in dem Frevler und Heiden / Fremde parallelisiert sind, muss konzeptionell auf Ps. 9 / 10 eingewirkt haben, wie ein Blick auf das die Feindbegriffe umgebende Wortfeld zeigt: So erscheinen die Frevler und Heiden im Zusammenhang von 9,5-7.16 f20 f immer als diejenigen, die von JHWH "gerichtet" (tl.D.Ili.) worden sind (9,5.17) bzw. werden sollen (9,20). Zweifelsohne handelt es sich hierbei um ein vernichtendes Gericht, da die Rettung der Erniedrigten anders nicht mehr vorzustellen ist. So wie die Feinde von je her durch m\VHs Gerichtshandeln in die Bedeutungslosigkeit gesunken sind (9,6 f), sollen sie ferner zur "Scheol" (1"~Ili), d. h. zur Totenwelt fahren (9,18). Für die Suche nach Textvorlagen ist daher vom semantischen Feld, das Ps. 9/ 10 um die Frevler / Heiden absteckt, auszugehen. a) Da Ps. 9/ 10, wie N. Füglister zeigen konnte, eine Reihe von sprachlichen Berührungspunkten zur Habakukschrift zeitigt und dieser für eine Verhältnis bestimmung von Frevlern und Heiden bzw. Fremdvölkern paradigmatische Bedeutung zukommt, wird hier eingesetzt.

30

A. a. 0., 111 f.

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Zum Grundcharakteristikum - aber auch -problem - der Habakukschrift gehört insbesondere das spannungsvolle Miteinander von Textpassagen, die im Stil von Klagepsalmen gestaltet sind (1,2-4.12 f), prophetischen Gerichts- (1,5-11.14-17) und Weheworten (2,6-19) sowie hymnischen Elementen (3,2-19). In 1,2-4.12 f klagt der Prophet vor ffiWH über die Gewalt des innerisraelitischen "Frevler" (l.H.th), der den "Schuldlosen" (P""~) im Gericht um sein Recht bringt. Darauf "antwortet"31 JHWH mit der Ankündigung, dass er die Babyionier als Strafwerkzeug einsetzen wird (1,5-11). Allerdings: "Daß dieses Gerichtshandeln ganz Israel treffen soll, wird nirgends gesagt und ist nach den vorausgehenden Klagen ganz unwahrscheinlich. Vielmehr dient es, wie die enge Beziehung zu den Klagen beweist, der Reinigung Israels und der Vernichtung der Frevler.,d2 Doch spätestens in 1,11 wird auch Kritik an den Eroberern laut, da sie ihre eigene Kraft zum Gott machen. In 1,12 erfolgt ein Sprecherwechsel, ausgelöst durch die vom Propheten an JHWH gerichtete vorwurfsvolle Frage, wie er tatenlos zusehen könne, dass der Frevler den Schuldlosen "verschlingt" (1,l'~ piei). Das erinnert unweigerlich an die eingangs erhobenen Warum-Fragen (1,2-4 vgl. Ps. 10,1). Im jetzigen Buchkontext "antwortet" der Abschnitt 1,12 ff damit allerdings auf die bereits laut gewordene Kritik an den Chaldäern (1,11), die sich in 1,16 f fortsetzt. Die Angreifer würden schonungslos alle Völker, die ihnen in die Quere kommen, "umbringen" (J'" vgl. Ps. 10,8). Der gesamte Abschnitt 1,12-17 fungiert daher nicht mehr (nur) als Klage gegenüber innerisraelitischen skrupellosen Reichen, sondern mit l.H.th ("Frevler") wird fortan die Fremdmacht Babyion identifiziert. Damit verändert sich aber gleichzeitig auch der Blick auf die Struktur dieser Macht: Die Fremden nehmen die Züge von Einzeltätern an, die im Land wie die Frevler operieren. Sie werden nicht länger als synchron handelndes Kriegsheer gesehen, sondern als individuelle Verbrecher. In 2,1-5 erhält der Prophet von JHWH dann eine weiterführende "Antwort", die er auf eine Tafel schreiben soll. Zentraler Inhalt dieser Inschrift muss mit 2,4 identisch sein (Signalwort: ".Jj'"j!): "Der Vermessene wird sein Leben damit [d. h. durch diese Haltung, D. S.]33 nicht retten, aber der Gerechte wird wegen seiner Aufrichtigkeit am Leben bleiben." In den ab 2,6b einsetzenden Weheworten, die sich erneut - allerdings ohne die Bezeichnung l.lith zu verwenden - gegen gewalttätige Menschen richten, klingt wieder eine Ps. 9110 vergleichbare Sozialkritik an: ll~~ = ,,Profiteur" 1 "Halsabschneider" (2,9 vgl. Ps. 10,3). Gleichwohl scheinen die Babyionier als die eigentlichen Tyrannen hindurch (2,5.8.13 .17 .18). Kapitel 3, das den Abschluss des Buches bildet, beinhaltet schließlich einen mit mythischen Farben gezeichneten Theophaniepsalm, in dem ffiWH als der besungen wird, der bei seinem Streifzug gegen die Gojim !:I",J (3,6.12) den Frevler, der den "Erniedrigten" ".lll (3,14 vgl. Ps. 10,9) "im Versteck" ,no~~ (3,14 vgl. Ps. 10,8 f) tötet, mit den eigenen Waffen schlägt.

31 R. ALBERTZ, Exilszeit, 186, meint: ,,[ ... ] das Gotteswort Hab 1,5-11 antwortet überhaupt nicht auf die Klage des Propheten, sondern redet eine Gruppe von Menschen in der 2. pers. plur. an." Dies ist allerdings als Kritik gegen die These J. JEREMIAS gemeint, die Habakukschrift sei nach Art einer prophetischen Klageliturgie verfasst, bei der der Prophet im Rahmen eines Fastentages stellvertretend für das Volk eine Antwort JHWHs einklage. Wie auch immer man zu dieser These stehen mag, auf der Buchebene ist 1,5-11 ganz eindeutig als "Antwort" konzipiert. 32 J. JEREMIAS, Kultprophetie, 81. 33,~ steht parallel zu ,n.lmK~. Es muss sich also auf ein Substantiv zurückbeziehen, und das kann in diesem Fall nur "Vermessenheit" heißen. Es ist in der Wurzel 'Oll wahrscheinlich mitzuhören (J. JEREMIAS, Kultprophetie, 82, Anm. 3).

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Dass diese Konzeption der Worte Habakuks auf prophetische Tradenten, die das babylonische Weltreich schon untergehen sahen, zurückzuführen ist, hat J. Jeremias überzeugend gezeigt. 34 Denn ursprünglich lagen die Weheworte einzeln und in mündlicher Form vor, bevor sie später im Zuge ihrer schriftlichen Komposition gegen Babyion umgemünzt wurden. Ferner muss 1,14-17 zur UnheilsankÜlldigung 1,5-11 hinzu gehört haben. "Beide Stücke haben 1. die grenzenlose Macht des Fremdvolkes zum Thema (V. 6b. 10. 14-15a. 17), dem gegenüber 2. ein Widerstand unmöglich ist (Y. 10. 14); dem Fremdvolk wird 3. hier wie dort Grausamkeit an den Unterworfenen zugeschrieben (V. 9a. I5a. 17); seine Haupttätigkeit ist 4. jeweils das ,Sammeln' von Menschen (~OK V. 9b. 15ay), d. h. ihre Gefangennahme und das ,Fressen' dieser Menschen und ihres Besitzes ('~K V. 8bj3. 16bj3)."35 Später wurde dann 1,14a durch Textänderung von der 3. in die 2. Pers. plur. die UnheilsankÜlldigung an das Klagegebet angeglichen. 36 Die Habakukschrift der Exilszeit diente demnach dazu, Aufstieg und Fall des neubabylonischen Reiches zu demonstrieren. 37

Dass die Verfasser von Ps. 9/10 aller Wahrscheinlichkeit nach auf diese Grundkonzeption der Habakukschrift zurückgegriffen haben, hat mit deren über die Zeit des Exils hinaus währenden Aktualität zu tun. Mit dem Sturz der Weltmacht BabyIon waren die sozialen Probleme nämlich keineswegs aus der Welt, denn es gab weiterhin Frevler im Land, ja das judäische Gemeinwesen stürzte erneut in eine tiefe soziale Krise. 38 Es ist darum überaus wahrscheinlich, dass das Buch in den F olgej ahren als ein "dramatischer Geschehenszusammenhang" gelesen wurde, der den Erweis dafür lieferte, dass JHWH "alle Gewalttätigen und Hochmütigen vernichtet und dass die Gerechten am Leben bleiben". 39 Dieser "dramatische Geschehenszusammenhang" der Habakukschrift resultiert aus einer doppelten Spannung, welche mit jener in Ps. 9/ 10 korrespondiert. Die eine, bereits angesprochene Spannung liegt in der Dialektik zwischen innerisraelitischen Missständen und außenpolitischer Tyrannei. Doch in der jetzigen Buchgestalt erweckt Habakuk den An34 J. JEREMIAS, Kultprophetie, 57-89. 35 DERS., Kultprophetie, 78. 36 DERS., 79, Anm. 3. 37 Vgl. R. ALBERTZ, Exilszeit, 187. Demgegenüber vertritt E.OTTO, Habakuk I Habakukbuch, ein mehrstufiges Entstehungsmodell dergestalt, dass der Grundbestand der Habakukschrift bereits vorexilisch anzusetzen sei (Hab. 1,2-4.12a.13 f; 2,1-5aoo.6b16*). Ebenfalls noch vor dem babylonischen Exil soll die erste Unheilsschilderung (1,511.12b) eingearbeitet worden sein. D. h. in diesem Stadium war das Buch noch als reine Gerichtsprophetie gegen Juda konzipiert, ohne dass sich schon Kritik an den Eroberern selbst laut machte. Die Verklammerung der zweiten Unheilsschilderung mit der zweiten Klage (1,15-17) sowie die Umprägung der Weheworte gegen die Fremdmacht (2,5bj3.6a.8.1 000.13 f17) seien erst im Zuge des Exils vorgenommen worden. Für unsere Fragestellung ändert das jedoch wenig, da auch nach diesem Modell spätestens in der Exilszeit eine Identifizierung von inländischen Frevlern mit den Eroberern stattgefunden hat. 38 Vgl. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 536-555. 39 E. ZENGER, Einleitung, 563 f (Hervorhebung im Original).

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schein, als würden die fremden Eroberer nicht bloß einen konventionellen Krieg gegen Israel führen, sondern unmittelbar zerstörerisch auf innerisraelitische Rechtsgrundlagen einwirken. Bezeichnenderweise beginnt das Buch Habakuk in 1,2-4 mit den Freveltaten im Land und wird auch im Zusammenhang mit der dann folgenden Polemik gegen das Fremdvolk so zu lesen sein. 40 Babyion, "das auch Deckname für jede beliebige nichtisraelitische feindliche Macht sein kann,,4!, wird nicht lediglich mehr als Volk von Kriegern geschildert, die Gefangene nehmen (1,9), sondern als Summe einzelner "Räuber" (0"l1:1 1,13), die je für sich in der Lage sind, Frevel an "der Stadt" (2,8t2 zu begehen. Ja, sie gehen sogar so weit, sämtliche Völker zu vernichten (1,17). Für spätere Ohren dokumentierte die Habakukschrift, dass das permanent erlittene Unrecht nicht mehr nur innere Ursachen haben konnte, sondern mit dem Weltgeschehen zu tun haben musste. Dieselbe Erfahrung machten die Verfasser von Ps. 9/10. Entsprechend wird in Ps. 10,18 darauf verwiesen, dass die Frevler keinen Schrecken mehr "vom Land her" (f1~;r-v~) verbreiten sollen. Die Heiden waren aus ihm doch längst verschwunden (10,16)!? Hieran wird deutlich, wie sich die Psalmisten auf eine weite Spannung der Habakukschrift zurückbeziehen konnten, nämlich der zeitlichen zwischen "schon" und "noch nicht". Während nach 1,2-4.12-17 die Frevler mit ihren Rechtsbrüchen - aus der Leseperspektive - fortwährend am Werk sind, kann der Leser mit Habakuk gemeinsam auf eine Wende hoffen (3,2). Der mit mythischen Motiven gespickte Theophaniepsalm 3,3-15 führt JHWH als einen, der von je her seinem Volk zu Hilfe kam, vor 40 R. ALBERTZ, Exilszeit, 187, geht mit einigen Änderungen der literarkritischen Abgrenzungen K. SEYBOLDS, Kommentar 1991, davon aus, dass erst in nachexilischer Zeit die psalmsprachigen Klagestücke 1,2-4.12 f. zusammen mit der Orakeleinholung 2,15aoo.20 und einem Einschub in den Schlusspsalm 3,1 *.13b-14.17-19 in die Habakukschrift eingearbeitet worden seien. Er begründet seine Sicht damit, dass die FrevlerGerechte-Terminologie in ihrer polemischen Ausprägung allein in den Kontext der sozialen Krise der persischen Epoche gehöre. "Da ansonsten Jer 5,26 der einzig sichere in das Ende des 7. Th. datierbare Beleg dafür ist, daß der Begriff l.H.p':I Frevler, der ursprünglich den konkret Schuldigen im Prozeß bezeichnete, zur polemischen Gruppenbezeichnung für die unsolidarische Oberschicht wurde, wäre es schon seltsam, daß beim Propheten Habakuk, der vor oder gleichzeitig mit Jeremia aufgetreten ist ( ... ), die sozialreligiöse Konfrontations-Terminologie der späteren Zeit schon voll entwickelt gewesen sein sollte" (ebd.). Es ist also nicht zweifels frei zu entscheiden, ob die fertige Habakukschrift eine konzeptionelle Parallele zu Ps. 9/10 darstellt oder ob die Verfasser des Doppelpsalms auf sie bewusst zurückgegriffen haben - ein kaum lösbares Problem für exilisch 1 nachexilische Texte. 41 N. FÜGLISTER, Hoffnung, 112. 42 Zwar redet V. 8 von den Vergeltungsschlägen aller Völker, die Babylon beraubt hat, doch orientiert sich die Perspektive von innen nach außen ("Land" f'x und "Stadt" j'"j"'P erscheinen im Singular; was Jerusalem erlitten hat, steht paradigmatisch für alle Völker).

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Augen. Er war im Zorn über die Erde marschiert und hatte die Heiden wie ein Landarbeiter "zerdroschen" (1li1' 3,12). Im selben Modus steht in Ps. 9,6 f. lHWHs vernichtendes Gerichtshandeln an den feindlichen Frevlern / Heiden, deren "Städte" (c',~ 9,7b)43 er in Trümmern legte, als Gegengewicht zur Klage, "warum" (;m, Ps. 10,la; Hab. 1,3a.13b) lHWH dem Elend nur zusehe statt einzugreifen. Die Habakukschrift ist für die Schreiber von Ps. 9 / 10 insofern Vorbild, als sie mit einer ähnlichen Theodizeeproblematik zu kämpfen hat und für ihre Überwindung vergleichbare Läsungsstrategien anwendet. Die Freveltaten heidnischer Einzeltäter haben immer noch Auswirkungen auf die Verhältnisse "im Land", aber m\VH, der eingegriffen hat, wird wieder zu Hilfe kommen, auch wenn er jetzt schweigt. Gleichzeitig deuten aber auch die Unterschiede, die Ps. 9/10 gegenüber dem Buch Habakuk auszeichnen, daraufhin, dass die Verfasser sich genötigt sahen, einen Schritt weiterzugehen. Während Hab. 1,2-4 davon redet, dass im laufenden Prozess der Gerechte (d. h. der Schuldlose) vom Frevler betrogen wird und der Prophet dieses "Unrecht" (o~n) immer wieder selbst mit ansehen muss, kommt ein "Gerechter" (I"'~) in Ps. 9/ 1 gar nicht erst vor. Entsprechend verhält es sich mit dem Rechtsprozess. Die "Erniedrigten" werden zwar auch hier um ihr Recht gebracht (10,18), aber längst nicht (mehr?) öffentlich, sondern "im Versteck" (10,8), wo es niemand sehen und verhindern kann. Wenn die Theologen des Doppelpsalms 9/10 auf diese Konzeption der Habakukschrift zurückgriffen, dann wohl deswegen, weil auch der Theophaniepsalm in Hab.3,14b mit derselben Terminologie erwähnt, dass der Frevler den "Erniedrigten im Versteck" (,no~:l 'w) wie ein Tier tötet. 44 Nur verlegten sie dieses Motiv in den Teil der Klageschilderung und beließen es nicht, wie Habakuk, in jener Passage, die lHWHs Strafhandeln an den C'1l positiv in Szene setzt (9,2-7). Hier war es offensichtlich nötig, weitere Traditionen einzubinden.

°

b) Eine solche Textvorlage aus der Prophetie könnte aus Ps. 9,6 f. erschlossen werden. Diese Verse rufen den Lesern in Erinnerung, dass lHWH die frevlerischen Heiden komplett ausgelöscht habe, was sich u. a. dadurch dokumentiere, dass all ihre "Städte" (c',~) zerstört worden seien. Von welchen Städten soll hier die Rede sein, und woher speist sich die entsprechende Erinnerung? Die pauschale Aussage, lHWH habe die Städte

4 3 Die Stelle wirkt wie ein Widerhall auf das Wehwort Hab. 2,12 über jene, die eine "Stadt" eingeleitete zweigliedrige Begründung, wobei Ex. 15,21bß offensichtlich als Konkretion zu V. 21ba fungiert. Das Meerwunder ermöglicht den Exodus. Der hymnischen Form nach sind dem Mirjamlied bzw. Ps. 9,12 f. ebenfalls die von C. Westermann so benannten. "eschatologischen Loblieder" vergleichbar, bei denen der imperativische Lobaufruf "seine Begründung in einer einmaligen Tat Gottes bekommt - die aber noch gar nicht geschehen ist: die Tat der Befreiung, die Deuterojesaja in seiner Trostpredigt verkündigt.,,70 Die formale sowie funktionale Verwandtschaft der "eschatologischen Loblieder" Deuterojesajas mit Ps. 9,12 f. hat N. Füglister bereits herausgestellt. 71 Zu nennen sind hier die Textbereiche Jes.42,10-13; 44,23; 45,8; 48,20 f.; 49,13; 52,9 f. Der Inhalt von Jes. 42,13 erinnert stark an die Prädikation JHWHs als Krieger im Mirjamlied. 44,23 bejubelt die einmalige Erlösungstat JHWHs an ganz Israel; in 45,8 klingt das Schöpfungsmotiv an, in 48,20 f. wieder der (neue) Exodus. 49,13 und 52,9 f. nennen noch einmal die entscheidende Tat JHWHs an Israel, nämlich dessen Befreiung. Dabei stößt man in 49,13 auf die Bezeichnung des Gottesvolkes als "seine Elenden" (1'l~). Damit steht dieses eschatologische Loblied Ps. 9,12 f. auch terminologisch besonders nahe. "Jauchzet, ihr Himmel, frohlocke, Erde, brecht in Jubel aus, ihr Berge, denn getröstet hat Jahwe sein Volk, und seiner Elenden ('".lll) erbarmt er sich. " (Jes. 49,13)

Während im Mirjamlied die entscheidende Rettungstat ffiWHs als bereits erfahrene besungen wird, unterscheiden sich die Hymnen Deuterojesajas funktional betrachtet darin, dass ihr Inhalt für den Propheten zwar schon real, für die Adressaten der Exilsgemeinde hingegen noch nicht wirklich erfahrbar ist. Es ist darum bezeichnend, dass auf der Textebene (hier Jes. 49,13) Himmel und Erde die explizit Angeredeten sind (in 42,10 f. sind es das Meer, die Bevölkerung ferner Inseln und Länder und die Wüste 69 Vgl. K. KOCH, Formgeschichte, 203; F. CRÜSEMANN, Studien, 19 ff., der im MirJamlied den Ausgangspunkt der imperativischen Hymnen Israels erkannt hat. o C. WESTERMANN, Kommentar, 85. 71 N. FÜGLISTER, Hoffnung, 105 f.

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samt ihrer Bewohner; in 44,23 kommen die Berge dazu; in 52,9 wird ebenfalls nicht die Exilgemeinde selbst, sondern das in Trümmern liegende Jerusalem angeredet). Das Volk in der Verbannung dagegen ist blind (vgl. Jes. 42,16.19) und hat den gegenwärtigen Heilsstand noch nicht begriffen. Ihm muss mittels der "eschatologischen Loblieder", die von JHWHs Schöpfung gesungen werden sollen, die bereits gegenwärtige Rettung erst vermittelt werden. Ex. 15,21 benötigt eine solche Vermittlung nicht, denn die Lobenden blicken auf eine in der Vergangenheit erfolgte konkrete Tat JHWHs zurück.

Vergleicht man nun auf dieser funktionalen Ebene Ps. 9,12 f. mit einem Text wie dem Mirjamlied auf der einen und den sog. "eschatologischen Lobliedern" Deuterojesajas auf der anderen Seite, so ergibt sich eine Art Mittelstellung bezüglich der zeitlichen Einordnung des HandeIns Gottes. Einerseits werden die Taten llI\VHs, die in Ps. 9,12 f. erwähnt sind, bei den Adressaten als bekannt vorausgesetzt, andernfalls könnte man sie den Völkern nicht verkündigen (V. 12). JHWH "gedenkt" ('~l) ihrer und hat die Elenden nicht "vergessen" (n~Ili), was auch nur im Blick auf bereits Geschehenes vorstellbar ist. Das Urteil N. Füglisters, aus der formalen Verwandtschaft der "eschatologischen Loblieder" mit Ps. 9,12 f. könne auch eine funktionale Analogie abgeleitet werden, nach der die Vergegenwärtigung des Heils "nicht durch einen Blick in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft"n erfolgen soll, steht daher m. E. auf schwachen Füßen. Andererseits sind die Taten JHWHs, die in Ps. 9,12 f. benannt (und in 9,6-10 auch expliziert) werden - darin ist N. Füglister Recht zu geben-, nicht einfach identisch mit "JHWHs Handeln in der bereits der näheren oder ferneren Vergangenheit angehörenden [sc. "klassischen"] Heilsgeschichte,,73 (Exodus, Landgabe, Bund etc.). Der Unterschied zu ihnen besteht wesentlich in ihrer radikalen Universalisierung (9,6-9) bzw. Individualisierung (9,10.13). So wie die babylonische Gola vor der Aufgabe stand, eine neue theologische Grundlage zu finden, auf der sie auf das Eingreifen llI\VHS zu ihren Gunsten hoffen konnten, mussten in der Nachexilszeit in einer veränderten Situation neue Fixpunkte, die mit den bisherigen konvergierten, gefunden werden. Die zu lobenden Rettungstaten JHWHs in Ps. 9,12 f. (wie auch 9,2 ff.) sind genau deswegen zeitlich in der Schwebe situiert und sowohl universal (9,6-9) als auch individuell ausgerichtet. Die individuelle Perspektive kommt dann in 9,12 ff. zum Ausdruck, indem JH\VH als Beistand der C~~~li gepriesen wird. Die Konsequenz, die sich aus dem bisher Analysierten für ein Verständnis der Rede von diesen "Elenden" ergibt, besteht darin, dass die Errettung Einzelner von ihnen objektiven Heilscharakter bekommt 74 N. FÜGLISTER, Hoffnung, 105. Ebd. 74 Zwar kann JHWH auch in anderen Zusammenhängen als Retter und Wohltäter der Armen ausgewiesen werden (z. B. Dtn. 10,18), doch ist hier in der Regel nur eine 72 73

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Die zunehmende Theologisierung der persönlichen Frömmigkeit für die Neukonstituierung der judäischen Gemeinde in exilisch-nachexilischer Zeit hat besonders R. Albertz erkannt. Er zeigt, dass an die Stelle der "geschichtliche[n] Dimension [ ... ] generalisierte persönliche Erfahrungen und Vertrauens bekenntnisse treten.,,75 "Alle diese Gemeindepsalmen haben einen stark reflektierenden Charakter. Sie nutzen die persönliche Frömmigkeit der Gemeindeglieder nicht nur für die Allgemeinheit, sondern sie wollen diese auch theologisch durchdenken und läutern. Die Verfasser dieser Psalmen hinterfragen die bislang weitgehend selbstverständlich in Anspruch genommene Frömmigkeit, sie reflektieren über die Grundlagen der weithin unbedingten göttlichen Zuwendung zum einzelnen Menschen. ,,76 Zwar betont Albertz den "reflektierenden Charakter" dieser Texte, dennoch geht er offensichtlich für die exilisch-nachexilische Zeit davon aus, dass es generell persönliche Rettungserfahrungen sind, die sich in den Psalmen niederschlagen. M. E. wird bei ihm jedoch weniger deutlich, dass diese individuellen Erfahrungen - wie im Fall von Ps. 9/10 - noch einmal auf eine andere Ebene verschoben werden, was sich besonders am Wechsel der Sprecherperspektive von Aussagen in der 1. Person zu solchen über jemanden in der 3. Person ablesen lässt. Es beginnen sich Spiegelbilder bzw. Idealfiguren herauszubilden, die offensichtlich die Funktion haben, den Rezipienten der Texte zu einer "kollektiven oder Wir-Identität,,77 zu verhelfen. F.-L. Hossfeld I E. Zenger versuchen diesen Prozess am Entstehungsvorgang des Psalters nachzuweisen. 78 Die literarischen Konsequenzen werden im dritten Teil dieser Arbeit erörtert.

Der anzustimmende Hymnus Ps. 9,12 f. fungiert als Auftakt für das oben bereits angesprochene, vom Verfasser(kreis) paraphrasierte Individualgebet: "Sei mir gnädig, JHWH, sieh mein Elend an durch meine Hasser, (du), der mich erhebt aus den Toren des Todes, damit ich erzähle all deinen Lobpreis, in den Toren der Tochter Zion juble über deine Rettungstat" (Ps. 9,14 f)

Dieses werde ich nun noch einmal von seinem näheren Kontext her exegesieren. Über die konkrete Notsituation des Bittenden erfahrt man zwar kaum etwas, aber immerhin doch so viel, dass es sich um eine Todesgefahr handelt. 79 Was zu dieser vom Tod gekennzeichneten Existenz geführt hat (körperliche Gebrechen, persönliche Anfeindungen o. ä.) kann man den Worten jedoch nicht entnehmen. Deswegen ist es wohl verfehlt, nach der "eigentliche[n] Not"SO des Beters zu fragen;Sl möglicherweise ist

konkrete soziale Notlage gemeint, z. B. Kleidung und Nahrung. Den sog. "Elenden" in Ps. 9,12 ff. haftet, wie noch näher zu zeigen sein wird, ein stärker genereller Aspekt an. 75 R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 558. 76 Ebd., 559. 77 J. ASSMANN, Gedächtnis, 132. 78 F.-L. HOSSFELD IE. ZENGER, Psalmengruppe 15-24, 167. 79 Vg l. die sachliche und lexikalische Verbindung von ElendlNot und Tod in Ps. 88,4.6.10.11.16. 80 H. GUNKEL I J. BEGRlCH, Einleitung, 193.

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

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genau das Gegenteil, nämlich die Allgemeinheit der Gebetssituation, intendiert. Auch der paraphrasierte Stil könnte als Hinweis dafür dienen, dass der Notschrei nicht als Einzelfall zu verstehen, sondern an unterschiedliche Situationen geknüpft ist, die über die Thodasituation (vgl. Ps. 30) hinausführen. Diese Vermutung lässt sich über den Zusammenhang des Textes (9,12 f.) überprüfen: Das Gebet wird als "Geschrei" (;rl'~~) markiert, welches JHWH unter keinen Umständen "vergessen" (n::>lli) habe. Gott "gedenke" ('::>1) seiner Taten (womit in diesem Kontext nur seine Solidarität mit den Betroffenen gemeint sein kann). Der Beter selbst gehört bekanntermaßen zu den "Erniedrigten" (C"l~) im "Elend" ('l~). Auf der Suche nach Analogien lassen sich einerseits Einzelschicksale anführen, andererseits auch Notlagen einer Summe von Einzelnen, nämlich Israel. Als Ausgangspunkt mr diese traditionsgeschichtlichen Überlegungen wird an den bereits zitierten Vers aus Deuterojesaja (Jes.49,13) angeknüpft. Das eschatologische Loblied wird im folgenden Vers kontrastiert durch einen Ausspruch Zions (Sprecherwechsel!), welcher im Stil der Klage einer verlassenen Ehefrau bzw. eines von seiner Mutter verlassenen Kindes (vgl. V. 15) oder auch einer kinderlosen Frau (vgl. V. 20 f.; 54,16) gehalten ist: "Aber Zion sprach: JHWH hat mich verlassen r.l~Tll vgl. Ps. 9,11), und der Herr hat mich vergessen rm~tt!)!" (Jes. 49,14)

Sowohl dem Inhalt (Not und Rettung der Elenden) als auch der Form nach (Loblied vs. Klagelied, Sprecherwechsel) bilden also Jes. 49,13 f. und Ps. 9,12-15 eine seit dem Exil geprägte Analogie. Rückwirkend kann man Jes. 49,14 als eine Bestätigung dafür ansehen, dass die vorgebrachte Klage in Ps. 9,14 f. nicht auf derselben Sprecherebene gelagert ist wie in 9,2 ff., sondern Wiedergabe eines dem Hörer bekannten O-Tons ist. 82 Gleichzeitig belegt Jes. 49,13 f. bereits die Konvergenz von auf ganz Israel bezogenen Aussagen (V. 13) und solchen, die vom Einzelnen herrühren (V. 14). V olks- und Individualperspektive werden also mit der Wende des Exils stärker aufeinander bezogen. 83 In der vorexilischen Zeit bildeten Einzel- und Volksschicksale eher getrennte Traditionsstränge. Gleichwohl haben offensichtlich auch diese älteren Überlieferungen, vermittelt über Deutereoj esaj a, Einfluss auf 81 Ps. 6,6 und 13,4 sprechen ebenfalls von einer Todesgefahr, in der sich der Beter befindet. Gleichwohl lässt sich kaum ein Rückschluss auf nur eine konkrete Notlage ziehen, da sich die Motive der Gefahrdung überlagern: "es gibt sehr wenige Psalmen, bei denen sich die Unterscheidung zwischen Feindklagen und Krankenpsalmen, [ ... ] randscharfvollziehen läßt" (M. Mn..LARD, Komposition, 61). So auch in Ps. 6 (vgl. V. 28 mit V 9-11). 82 Vgl. C. WESTERMANN, Kommentar, 177. 83 Vgl. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 375 f.

110

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Ps. 9,12-15 ausgeübt. Ich gehe nochmals von der Klage einer kinderlosen Frau aus, "denn dass Jhwh diese Klage immer wieder erhört hat und ein Kind schenkte, war seit uralten Zeiten eine spezifisch weibliche religiöse Erfahrung gewesen. ,,84 Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Gebet der Hanna, mit dem sie gelobt, für den Fall, dass lHWH ihr einen Sohn schenkt, diesen für den Dienst am Heiligtum JH\VH zu übereignen. Hier stößt man ebenfalls auf markante Leitwörter aus Ps. 9,12-15: "JHWH, Zebaoth, wenn du gewisslich ansehen wirst das Elend r.lll~) deiner Magd und meiner gedenken wirst r.ln'~T1} und deine Magd nicht vergessen wirst (n~tt!n-K") und deiner Magd einen männlichen Nachkommen geben wirst, werde ich ihn JHWH übergeben für alle Tage seines Lebens und es soll kein Schermesser auf sein Haupt kommen." (1. Sam. 1,10/)

Hier findet man erneut die gesamte Leittenninologie aus Ps. 9,12-15. Man kann diesem Bittgebet darüber hinaus entnehmen, dass mit der Vokabel ~~17 auf die konkrete Situation der N otleidenden eingegangen wird, und sie damit auch nur in dieser Notlage und nicht unabhängig davon Verwendung findet. Das Problem der Kinderlosigkeit ist auch das Hauptthema im Kontext der Geschichte von Abram, Sarai und Hagar, der Sklavin Sarais (Gen. 16). Auch hier spielt die Vokabel II ;rl~ eine entscheidende Rolle. Einerseits wird sie für den Vorgang der Demütigung der Sklavin durch ihre Herrin verwendet (16,6), bezeichnet dann aber auch (wie in 1. Sam. 1,11) den Zustand der Erniedrigung und des Elends selbst (Gen. 16,11): Der Bote am Brunnen verheißt Hagar einen Sohn mit den Worten: "Ja, JHWH hat dein Elend (l'l~) gehört" (V. 11bß). Vom Schicksal Hagars, die von ihrer Herrin bedrückt wird, ausgehend spannt sich ein großkontextueller Bogen innerhalb der Thora zum Exodusgeschehen hin, womit wir gleichzeitig zum Strang der Volks perspektive hinüberwechseln: "Hagars Gottesbeziehung beginnt ähnlich der Israels als Volk in der Not mit der Erfahrung des sich den Bedrückten zuwendenden Gottes. ,,85 "Was Sarai der Ägypterin Hagar antut, werden einige Generationen später die N achkommen Sarais bei den Ägyptern erleiden. ,,86 Die Knechtschaft der Hebräer und deren Unterdrückung im Land der Pharaonen veranlasst lHWH schließlich zum Eingreifen: " Und JHWH sprach: Deutlich gesehen habe ich das Elend (".lll) meines Volkes, welches sich in Agypten befindet; und ihr Geschrei (bnpll~) angesichts ihrer Antreiber habe ich gehört, ja ich habe ihre Leiden erkannt" (Ex. 3,7).

Daraufhin führt Gott durch Mose sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit. "Diese tiefgreifende Ursprungserfahrung des Volkes prägt Israels A. a. 0,416. 85 M. KONRADT, Bedrückung, 23. 86 A. a. 0.,24. 84

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

111

Gottesbeziehung. In der vergegenwärtigenden Aufnahme dieser Zuwendung im ,kleinen Credo' (Dtn. 26,7) und im ,großen Bußgebet' (Neh. 9,9) findet dies seinen konzentrierten Ausdruck. ,,87 Umgekehrt hatte diese Ursprungserfahrung Auswirkungen auf den rechtmäßigen Umgang mit schwachen und hilfsbedürftigen Einzelpersonen der damaligen Gesellschaft. Gerade das Exodusgeschehen dient im Zusammenhang von Rechtstexten als mahnende Erinnerung: "Und einen Fremdling bedränge und unterdrücke nicht, denn ihr ward (auch) Fremdlinge im Land A.gypten. Alle Witwen und Waisen sollt ihr nicht erniedrigen nm.ln). Aber gesetzt den Fall du erniedrigst sie (:1.llln :1.l11), gilt: Wenn sie laut aufschreit ~"ll~" pll~) zu mir, werde ich ihr Geschrei (,npll~) gewiss hören" (Ex. 22,20_22).88

Dieser breit angelegte Fokus auf die Tradition verdeutlicht, wie sich in Ps. 9,12-15 entscheidende Heilserfahrungen Israels, sowohl individuelle als auch überindividuelle, unter Hinzufügung neuer Akzente verdichten. Mit den "Erniedrigten" (c~~~17) wird zum einen seit der Exilszeit (insbesondere bei Deuterojesaja) Israel als Ganzes bezeichnet - wobei hierfür wiederum entscheidende traditions geschichtliche Wurzeln in der Exodusüberlieferung liegen -, zum anderen werden damit aber auch die einzelnen Leidenden gekennzeichnet, wobei sämtliche Notsituationen, besonders solche von Frauen (Kinderlosigkeit und deren erniedrigende Begleitumstände, Witwenschaft), zum Assoziationsfeld gehören. Es geht in 9,1215 also um Erfahrungen, die Israel sowohl auf der offiziellen als auch der individuellen Ebene seit jeher inhärent waren und an dieser Stelle in etwas veränderter Form aufgegriffen und verarbeitet werden. Diese Beobachtungen werden durch die Ansätze der Schule der "Annales" gedeckt, die auf die lange Dauer der Mentalitäten hingewiesen haben, welche zwar durch bestimmte Ereignisse in der Geschichte modifiziert, aber nicht grundlegend verändert werden. 89

6.2.2 Das Vertrauen der JHWH Suchenden Dass die Elendsbezeichnungen auch im übrigen Zusammenhang von Ps. 9/10 keine spezifische Form der Frömmigkeit widerspiegeln, sondern lediglich einen deutenden Hinweis auf allgemein bekannte Individualäußerungen geben wollen, zeigen all jene Verse, die kein Sprecher-Ich haben. Dazu gehören auch die Verse Ps. 9,10 f., die wie gängige Vertrauensäußerungen scheinen, gleichwohl aber eine nuancierte Neuinterpretation derselben darstellen. "Neu" ist in diesem Fall die Einführung eines Armenterminus. Ebd. Vgl. Dtn. 15,9; 24,15. 89 Vgl. dazu die Einleitung. 87 88

112

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

In V. 10 stößt man auf eine Satzkonstruktion, in der die Bezeichnung T'1 vorkommt. Diese Vokabel findet sich in der hebräischen Bibel ganze vier Mal, davon zwei Mal im vorliegenden Textzusammenhang (9,10; 10,18), einmal in Ps. 74,21 (einem Ps. 9/10 nicht ganz unähnlichen Stück, bes. V. 18-23), und einmal in Provo 26,28 in unsicherer Bedeutung. Das dem Adjektiv zugehörige Verb ist ~~, "zerschlagen", "zermalmen", "zertreten" (pie!), welches im Reflexivstamm (pua!) auch "zerknirscht / niedergeschlagen sein" bedeuten kann (vgl. Jes. 19,10; Jer. 44,10). Der l' ist also jemand, der entweder durch äußere Gewaltanwendung, durch eine andere Art und Weise der Beeinflussung oder durch beides zugleich "bedrückt" ist. Richten wir unser Augenmerk nun auf die Satzkonstruktion von V. 10: j"'j,~~

10 a b

l'"

~Jit1~

n,nll'

~Jit1~

:-n.," "j"'j",

Und JHWH wird ein Felsen für den Bedrückten, ein Felsen für Zeiten in Bedrängnis.

Der Satz wird über V. lOb mittels einer Apposition zum Parallelismus Membrorum konstruiert. Dabei ist ~Jtti~ die tragende Brücke zwischen beiden Vershälften. Dieser "Schutz/eis", den JHWH verkörpert, wird sowohl in V. 10a wie auch in V. lOb jeweils mit der Präposition" auf ein Dativobjekt bezogen. Inwiefern JHWH für den Bedrückten ein Felsen ist, wird in V. lOb durch den Hinweis auf die Zeit der Not näher konkretisiert. Im Hinblick auf die Frage nach dem Subjekt-Objekt-Verhältnis ist eindeutig festzustellen: JHWH stellt an dieser Stelle das Subj ekt dar, :llil1~ dessen Prädikativ bzw. Gleichsetzungsnominativ und l' und ii'::t~ liili17 wiederum dessen jeweilige Dativobjekte. Streng genommen liegt damit in V. 10 gar keine Armenaussage, sondern eine Gottesaussage vor, denn über den Bedrückten selbst erfahren wir lediglich, dass seine Situation durch eine "Not" (;r,~) gekennzeichnet ist. Damit ist der Betreffende jedoch nur sehr allgemein charakterisiert. In erster Linie geht es um eine nähere Beschreibung JHWHs in seiner Eigenschaft als schützender Fels. Ausgehend vom Kriterium der Sprechrichtung stößt man in anderen Psalmen auf weitere Varianten desselben Grundmusters, z. B. in Ps. 59. "Der Psalm zeichnet mit kunstvoller Mischung von Bild- und Sachaussagen ein geradezu unheimliches Szenario feindlicher Bedrohung und kontrastiert dieses mit eindrucksvollen Bildern von JHWH als dem Schützer und Retter der tödlichen Bedrohung"(Hervorhebungen i. 0.).90 Im Anschluss an eine Selbstaufforderung des Betenden zum Lob (V. 17aa, vgl. Ps. 9,2; Jes. 25,1), erfolgt in 17aß.b die entsprechende Begründung, eingeleitet mit ~~: 90 E. ZENGER, Kommentar 2000, 143.

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

113 ", ~Jit1~ n"",,-"~

"'-,~ ~'"~ Olm, 17 ab Denn du warst / bist ein Felsen für mich, b und ein Zufluchtsort am Tag meiner Bedrängnis.

Es fallt auf, dass hier wie in 9,10 die gleiche Grundform des Parallelismus mit der Apposition über das Wort :llil1~ / o,m vorliegt. lHWH wird allerdings, weil es sich hierbei um eine individuelle Vertrauensäußerung handelt, direkt angeredet (vgl. Jes. 25,4). An die Stelle des Nomens l' tritt hier das Personalpronomen der 1. Pers. als Präpositionalobjekt. Im gesamten Ps. 59 kommt ein solches Wort oder eine entsprechendes Synonym (z. B. 'W) kein einziges Mal vor, obwohl die beschriebene Notsituation (Feinde, die wie Hunde die Stadt unsicher machen) der von Ps. 9/ 10 durchaus nahe kommt (bes. 10,8-10, ebenfalls Feinde, die mit Metaphern der Tierwelt verglichen werden). 91 Nimmt man die fonnalen Nuancierungen zur Kenntnis, ist von einem "Annen" o. ä. an dieser Stelle gerade deshalb keine Rede, weil die/der Betreffende selbst spricht. Umgekehrt scheint in Ps. 9,10 das Wort l' Eingang gefunden zu haben, weil man mit ihm in treffender Weise einen Menschen bezeichnen konnte, der seine bedrängte Lage in anderen Psalmenfonnen aus der Ich-Perspektive zum Ausdruck bringt. Anders gesagt: Der Wechsel der Sprechsituation führt zum Gebrauch von so genannter "Annentenninologie", die man besser als Vokabular bezüglich von Klagenden bezeichnen sollte. Es lässt sich zeigen, dass diese Beobachtung kein Einzelfall ist. Ergänzend möchte ich auf Ps. 61,4 und 31,3b verweisen: ", "on~ n"",,-"~ ~"'K ".nm Tll-'''J~ 61,4a "Denn du bist eine Zufluchtfür mich, b ein starker Turm vor dem Feind. " mm-,,~,

".lll"tti'''' n,",~~ n"~,

", "",,

31,300" Werde für mich zum Zufluchtsort, b zur Berg/este, um mich zu retten!"

Ps. 31,3 zeigt, dass die Sachaussage auch in Fonn einer Bitte auftreten kann. Ansonsten sind die Unterschiede zu den vorherigen Beispielen lediglich durch wechselndes Vokabular desselben Wortfeldes bedingt. Ps. 9,11 führt den Gedanken von V. 10 weiter bzw. rundet die hymnischen Aussagen aus V. 8-10 ab: In der Fonn einer Vertrauensäußerung wird lHWH nun wieder direkt angeredet (vgl. zuvor V. 2-7). Bedingt durch das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist auch diese Aussage "unpersönlich" formuliert. Objektivierend - wie in V. 10 - ist von denen die 91

V gl. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 113 f.

114

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Rede (Part.), die Gott "vertrauen" (ntl:l), seinen "Namen" (CIli) kennen bzw. JHWH "suchen" (Ili"). In dieser Hinsicht liegen V. 11 und V. 10 also auf derselben strukturellen Ebene, denn es geht um die Bezeichnung einer bestimmten Personengruppe. Die Aussage setzt voraus, dass die Rezipienten des Psalms wissen, wer diej enigen sind, welche ein so qualifiziertes Gottesverhältnis haben. Inwiefern dabei auf bekannte Psalmenformen bzw. -sprache zurückgegriffen wird, lässt sich am besten wieder mittels einer Umkehrung der Sprecherperspektive überprüfen. Mehrere Textstellen anzuführen, in denen ein Ich bekennt, JHWH zu "vertrauen", fällt relativ leicht (Ps. 13,6; 25,2; 26,1; 31,7.15; 52,10; 56,5.12; l43,8,jeweils mit 'nntl:l). Ebenso sind Textstellen zu finden, in denen der Beter seine Gottesbeziehung mit den Worten ausdrückt: "Ich ,suche' ('nlli,,) JHWH", so z. B. in Ps. 34,5: "Als ich JHWH suchte, antwortete er mir ... ".92 Ein prägnantes Beispiel ist auch Ps. 77. Dieser Text, der Prozesse der Anfechtung reflektiert und die Erfahrung der Abwesenheit Gottes 93 - aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Not des Exils heraus _94 formuliert, zeigt einen verzweifelt nach Gott "suchenden" Beter: "Zur Zeil meiner Bedrängnis suche ich ("nit';'.,) Adonai, meine Hand ist nachts ausgereckt und wird nicht lahm; meine Seele weigert sich, getröstet zu werden" (Ps. 77,3).

Auch in Ps. 77 bezeichnet der Sprecher weder sich selbst noch andere als "arm". Wenn nun Ps. 9,11 auf Erfahrungen eben dieser Menschen eingeht, so müssen sich die Tradenten des Textes in einer ähnlichen mentalen Lage befunden haben; gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Situation insofern auch wieder verschieden von der des Beters aus Ps. 77 (u. a.) ist, da sie nicht aus der Ich-Perspektive, sondern objektivierend zur Sprache kommt. Dabei wird die menschliche Seite des Gottesverhältnisses aus der Rede in der 1. Pers. ("Ich suche JHWH") in eine partizipiale Wendung ("die, die JHWH suchen" ~ ;'1';'1' 'Ili,,) umgeformt. Anders als in Ps. 9,10, wo für den von JHWH Geretteten ein spezielles Nomen (1') gebraucht wird, werden die Personen in 9,11 also durch eine Umschrei92

Vgl. auch Ps. 27,4.8 mit ttip~.

tti,., in zunehmendem Maße seinen institutionellen Sitz im Leben verloren und eine stärker generelle Bedeutung erlangt hat zugunsten einer "Einstellung" und "Frömmigkeitshaltung" gegenüber Gott. Auf Ps. 77 bezogen folgt daraus: "Das Aufsuchen Gottes enthüllt sich in der Psalmfortsetzung zunehmend als Suchen Gottes selbst; die eigentliche Not besteht in seiner ,Abwesenheit', im Leiden an der Gottverlassenheit" (B. WEBER, Psalm 77,53, Hervorhebungen im Original). 94 Vgl. B. WEBER, Psalm 77, 264, der zwar auch eine Datierung auf die Zeit nach dem Fall des Nordreiches in Erwägung zieht, die Zeit des babylonischen Exils jedoch für wahrscheinlicher hält. 93 C. WESTERMANN, Begriffe, 183 f., hat gezeigt, dass das Verb

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

115

bung gekennzeichnet (Part.): Es sind die, "die den Namen Gottes kennen" bzw. die, "die JH\VH suchen". In Parallelaussagen können sie auch als die, "die lHWH fürchten" (Ps. 22,24) bezeichnet werden. An manchen Stellen werden diese partizipialen Gruppenbezeichnungen auch mit einem entsprechenden pluralischen Nomen versehen - C~~~li ("Erniedrigte", vgl. Ps. 22,27; 69,33). Die Benennung der Gruppe als ;'1';'1' 'Ili" (Part.) oder C~~~li (Nom.) scheint eine vergleichbare Funktion zu erfüllen, wobei deren jeweilige Aspekte bewahrt bleiben. Die folgenden Verse (9,12 f.), in denen dann C~~~li (wie in Ps. 22,27; 69,33, s.o.) vorkommt, belegen diesen Zusammenhang. Es lässt sich zeigen: Die Bezeichnung der von Gott geschützten Personen als "Bedrückte", "Elende" (Nomina Konkreta, belebt) und gleichzeitig als lHWH "Suchende" und ihm "Vertrauende" (Part.) erscheint im Wesentlichen als Resultat eines für den Verfasser des Textes erforderlichen Wechsels der Sprecherperspektive von der Rede der Betenden in 1. Person zu Aussagen über sie in der 3. Person. Parallele Psalmentexte, die aus der Ich-Perspektive gesprochen sind, können Termini enthalten, die den entsprechenden Wurzeln angehören, müssen es jedoch nicht. Die Armentermini sind demnach einerseits von der Tradition vorgegebene Bezeichnungen für die Situation der Rufenden, andererseits werden sie im vorliegenden Kontext als allgemeine Deutungsbegrifje in Bezug auf Situationen und Texte gebraucht, die von Hause aus keine exklusiven "Armentexte" etc. sind. Dass die pluralische Gruppenbezeichnung C"l~ ("Erniedrigte") für sich genommen aller Wahrscheinlichkeit nach ihre nächste Parallele in deuterojesajanischen Texten hat, wurde bereits in Kap.6.2.1 herausgearbeitet. Jetzt bleibt die Frage zu klären, ob die Verwendung von Armentermini (II ;'Il~) in enger Verbindung mit Verben des Vertrauens (z. B. n~~ oder iion) eine Kombination darstellt, die zu allererst von den Verfassern von Ps. 9/10 vorgenommen worden ist, oder ob es dafür ebenfalls schriftlich vorliegende Konzeptionen gab, auf die zurückgegriffen wurde. Ein Blick in die Schrift, die dem Propheten Zejanja zugeschrieben wird, belegt die letztgenannte Vermutung. Es darf als relativ gesicherter Konsens der Forschung anzusehen sein, dass, wenn nicht schon in exilischer95 , so doch spätestens in frühnachexilischer Zeit 96 die Verheißung Zef. 3,11-13 vorgelegen und also solche auch den vorläufigen Abschluss der Zefanjaschrift gebildet hat. Sie läuft auf die Zusage hinaus:

95 96

So R. ALBERTZ, Exilszeit, 173. V gl. H. IRSIGLER, Kommentar, 63.

116

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

"Und ich werde in deiner Mitte ein Volk übrig lassen, gebeugt und gering ".lll), und sie werden sich bergen (10m) im Namen JHWHs als der Rest Israels. Sie werden kein Unrecht tun und keine Lügen reden, und in ihrem Mund wird nicht zu finden sein trügerische Zunge. Ja, sie werden weiden und sich lagern und niemand wird (sie) stören. " (Zej 3,12 f)

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Entweder mit diesem Abschnitt zusammen oder aber von ihm ausgehend ist nach verbreiteter exegetischer Meinung auch der Halbvers 2,3a in die Aufforderung an die Jerusalemer, Gerechtigkeit und Demut zu suchen (2,1-3), eingeschrieben worden:'7 "Sucht JHWH, alle Erniedrigten des Landes (f'X" "'.lll-'~), die ihr seine Rechtsentscheide befolgt (2,3a), sucht Gerechtigkeit, sucht Demut; vielleicht könnt ihr euch in Schutz nehmen am Tag des Zorn JHWHs!" (2,3b)

Diese Fortschreibungen der exilisch / frühnachexilischen Zefanjaschrift entwerfen das Bild einer idealen Kontrastgesellschaft, die den reichen und skrupellosen Gruppen, "die nicht nach JHWH fragen und ihn nicht suchen" (Zef. 1,6b) gegenübergestellt wird. 98 Als solche ist sie allerdings für eine Zeit in Aussicht gestellt, in der es den frevlerischen und Gott verachtenden Teil der Gesellschaft nicht mehr geben wird. Es soll ein "Rest" (n"~Ili) Israels sein, ein neues JH\VH -Volk, welches in idealer Weise keinen Betrug mehr praktiziert, deren Angehörige "nicht die Demütiger kopieren,,99 und nach Gewinn streben (Zef. 1,11), sondern sich ganz entsprechend zu JHWHs Rechtsentsheiden verhalten (Zef. 3,5!), der in ihrer Mitte sein wird.

97 Gegenüber Zef. 2,1, wo das Volk im Ganzen angesprochen wird, wechselt in 2,3a der Adressatenkreis hinüber zu den "Erniedrigten des Landes". Vgl. dazu R. ALBERTZ, a. a. 0., 173 und H. IRSIGLER, Kommentar, 63, der diesen Zusatz allerdings in das 5./4. Jh. heraufdatiert und mit jenen Texten wie z. B. Ps. 22; 37; 69 konvergiert (vgl. DERS., a. a. 0., 206), die in dieser Arbeit erst in den Kapiteln 8 und 9 als Parallelen bzw. Tangenten zu Ps. 9/10 diskutiert werden. Der Versuch W. RUDOLPHS, Kommentar 1975, 274, die Anrede in 2,1-3 zu hannonisieren, indem er mit dem Ausfall der Partikel ~ vor f'xj'"j "'.lll-'~ rechnet (der Text würde dann lauten: "Suchet Jahwe alle Demütigen des Landes" (DERS., a. a. 0., 271), ist durch die Vrs. nicht gedeckt und dürfte daher ille§ltim sein (vgl. H. IRSIGLER, Kommentar, 198). Vgl. K. WENGST, Demut, 45 f. 99 DERS., a. a. 0.,45.

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

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Wird ausgehend von Ps. 9/ 10 die exilische Zefanjaschift als eine mögliche Vorlage betrachtet, so muss folgendermaßen geurteilt werden: In Ps. 9/ 10 wird lediglich die Kombination der Begrifflichkeit aus den Wortfeldern um ~~li und iiOTi als eine fest gefügte Verbindung übernommen, nicht aber das dahinter stehende ethische Konzept eines demütigen und gerechten Gottesvolkes. Denn gemäß Ps. 10,2-11 sehen sich die einzelnen C~~~li nach wie vor den Übergriffen der Frevler ausgesetzt. In dieser Situation geht es für sie daher nicht darum, eigenständig das Recht, das von llIWH gefordert wird, zu praktizieren; vielmehr sind sie ganz darauf angewiesen, dass 1lI\VH selbst wieder die Initiative ergreift, um ihnen Recht zu verschaffen (Ps. 10,18). Deswegen bleibt ihnen als aktives Handeln nicht anderes übrig, als auf JHWH zu vertrauen und ihn zu suchen. Es liegt also bezüglich Ps. 9/10 in der Natur der Sache, dass die einseitigen Alternativen, entweder nur C~~~li oder nur iiiii~ ~tb" zu sein, schlechterdings umnöglich sind.

6.2.3 Das Ergehen der Bedrängten In diesem Abschnitt soll es noch einmal um die Notschilderung im Textbereich Ps. 10,2-11 gehen, jedoch frage ich nicht nach dem Hintergrund der Frevler- sondern nach dem der Armenterminologie. Gewöhnlich wird zur thematischen Einordnung dieses Abschnitts auf Paralleltexte wie Ps. 73,4-11; 94,3-7; Hi.24,13-17 verwiesen - besonders um auf das Theodizeeproblem als deren gemeinsamen Nenner aufmerksam zu machen. IOD Zwar ist diese Einschätzung im Allgemeinen angemessen, übergeht jedoch zum einen vorschnell die zu beobachtenden Unterschiede (auf die im zweiten Hauptteil dieser Arbeit näher eingegangen wird), zum anderen wird nicht darauf aufmerksam gemacht, dass ihre Gemeinsamkeit besonders durch das Subjekt-Objekt-Verhältnis ins Auge sticht (die Opfer werden immer von außen beschrieben).lOl Wird diese Perspektive umgekehrt, indem Beispiele gesucht werden, in denen ein betendes Ich die drohende Gewaltanwendung von Seiten der Frevler beklagt, ergeben sich weitere Parallelen, die zusätzlich Argumente für die eingeführte These liefern, dass die sog. "Armenterminologie" in Ps. 9/ 10 in erster Linie eine vom Verfasser bewusst gesetzte Deutungsterminologie darstellt. Im mittleren Abschnitt von Ps. 17 ruft der Betende lHWH eindringlich um Hilfe und Schutz (V. 8) vor seinen Feinden an, die er als c'~Ili' "Frevler" identifiziert (V. 9). Sie würden ihre Gefühle 102 nicht zeigen, mit ihrem Vgl. H. J. KRAus, Kommentar, 225; N. FÜGLISTER, Hoffnung, 121. Dieses Phänomen hat wohl auch etwas mit der zeitlichen Situierung dieser Texte zu tun, weshalb ein Vergleich besser nicht anhand der Traditionsgeschichte, sondern im Rahmen eines "offenen Diskursmodells" vorgenommen werden sollte (s. u.). 102 Hebr. ~7r:r = Fett, womit hier die die Eingeweide schützende Fettschicht gemeint ist. 100 101

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

118

Mund aber in "Hochmut" (;r1~l) reden (V. 10, vgl. Ps. 10,2). Die in V. 12 verwendete Satzkonstruktion und Metaphorik kommt derjenigen aus Ps. 10,8 f. recht nahe: ~,,~, ~'O~" j'"j"'K~ ll"~.,103 ~",no~~ ~tt!"

'"O~~' j"'j~O~ j'"j"'K~

,no~~

'X"

".lll ~'I:m, ~'K"

17,12 a b 10,9 aa



Er erscheint (mir) wie ein Löwe, der sich nach Rauben sehnt, und wie ein junger Löwe, der in Verstecken sitzt. Er lauert im Versteck, wie ein Löwe im Dickicht, er lauert darauf, den Annen einzujangen,{. ..]

In beiden Fällen stellt der Frevler den Handlungsträger dar und tritt mittels der Vergleichspartikel .? als Löwe in Erscheinung, der sich unberechenbar im Hintergrund aufhält, bis er zum geeigneten Zeitpunkt zuschlägt. Während allerdings in Ps. 10,9aß sein Gefangener als 'l~ ("Elender") bezeichnet wird, fehlt im gesamten Ps. 17 ein vergleichbares Wort. Der Beter kennzeichnet sich auch nicht selbst mit ~~li oder seine Situation als die des Elends. Ps. 17,11 - sei er nun aus der Wir- oder der Ich-Perspektive gesprochen - umschreibt in V. Ilb unter Verzicht auf ein direktes Objekt die Absicht der Frevler, "zu Boden zu strecken" (r'~:l r11tll', In! estr., vgl. dagegen ebenfalls mit In! estr. und direktem Objekt 10,9aß: 'l~ ~1tln'). Auch Ps. 59, den ich in Kap. 6.2.2 im Zusammenhang mit der Vertrauensäußerung in Ps. 9,10 in die Diskussion gebracht hatte, enthält im Klageteil eine intensive Feindmetaphorik. "Für das Verständnis des Psalms ist entscheidend, daß die zweimal in ihm gestaltete Bewegung ,Von der Bitte über die Klage zur Vertrauensäußerung' erkannt wird,,104, wobei die Klage in Form von ausmalenden Notschilderungen (V. 7-8.15-16) ähnlich der aus Ps. 10,3-11 - erscheint. Während hier die Löwenmetaphorik vorherrschend ist, werden die Feinde in 59,7.15 mit Hunden verglichen und in 59,4 (zum Bittabschnitt gehörig) durch ihre bedrohliche Lauerstellung näher charakterisiert. lOS Die semantische und syntaktische Analogie zwischen diesen Versen und Ps. 10,9 sei wieder schematisch veranschaulicht.

103 LXX liest mit Suffix 1. Sg. uTTEAaß6v Kontext entspricht. 104 E. ZENGER, Kommentar 2000,145. 105 Vgl. Thr. 4,19.

IJ.E =

".l'iY1, was dem in Ich-Rede gehaltenen

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

119 "IDO.l' '~'K ".lll ~,~n, ~'K"

Ps. 59,4 aa Ps. 10,9 aß

j'"j.Jj'"j

"~

"Denn siehe, sie lauern mir / meiner Seele auf; " "er lauert (. ..) darauf, den Annen einzufangen"

Während der Beter in Ps. 59,4 die lauernden Feinde auf sich selbst zukommen sieht (reflexiv: 'IliDl'), ist die Aussage in Ps. 10,9 objektiv - mit direktem Objekt: 'l~ - ausgedrückt. Klagepsalmen, die aus der IchPerspektive heraus sprechen, müssen also keine spezielle Tenninologie im Umkreis der Lexeme 'l~ / r':l~ / " / l ' etc. aufweisen, damit im Zusammenhang von Ps. 9/ 10 und mittels einer Inversion der Sprecherperspektive diese Beter als solche bezeichnet werden können. Die im Abschnitt 10,3-11 vorliegende Notschilderung hat also ihr Pendant in individuellen Klagepsalmen, in denen der Beter seine persönliche Situation vor Gott bringt. Von jenen aus der Ich-Perspektive gesprochenen Gebeten unterscheidet sich die Darstellung darüber hinaus in ihrer summarischen Fonn. Es entsteht der Eindruck, als wollte der Verfasser eine Quersumme individueller Notlagen, wie sie jedem seiner Mithörer vor Augen stand, bieten. Die Betrachtung der übrigen Textanteile richtet sich weiter auf diese Art des Umgangs mit der Tradition.

6.2.4 Die Fürbitte für die Erniedrigten Die beiden Abschnitte Lob (9,2-17) und Klage (10,3-11) werden verbunden durch ein kürzeres Mittelstück (9,18-10,2) und in einer Weiterführung miteinander verschränkt zum Abschluss gebracht (10,12-18). Fonnal stehen sie über den Elementen von Bitte, Klage und Vertrauensäußerungen auf einer gemeinsamen Ebene. Die ihnen zu entnehmende Thematisierung von Elenden und N otleidenden steht ebenfalls in enger Wechselbeziehung, so dass diese Teile hier in einem Zusammenhang behandelt werden. Insbesondere der fokussierte Vergleich der Sprecherperspektive mit parallelen Psalmen wird mit dieser Vorgehensweise übersichtlicher. Ps. 9,18 setzt nach Abschluss des Lobteils neu an: "Die Jussiv- und Imperativformen geben einen Wechsel der Rederichtung an: Die Zukunft kommt in den Blick; Wünsche werden geäußert. ,,106 Dabei werden zuvor genannte Aspekte weitergeführt, was an der Aufnahme bestimmter Leitwörter erkennbar ist. Die "Frevler" (C'~Ili' PI.; ~Ili' 9,17 Sg.) sollen an den Ort "kehren" (1:l11li" :l11li:l 9,4), an dem sich die Elenden laut 9,14 zuvor selbst wähnten - zur Totenwelt. Die Begründung hierfür liegt in ihrem generellen "Vergessen" (n:>lli, vgI. 9,13) von Gott. Der Bitte gegen die 106 K. SEYBOLD, Kommentar, 57.

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

120

Frevler / Gojim entgegengestellt ist in 9,19 eine Fürbitte mr die Elenden und Armen: Sie sollen auf keinen Fall "vergessen" werden. Die Bitte gegen die Frevler sowie die Fürbitte mr die Armen gipfelt in 9,20 f. in eine Bitte, die direkt an JHWH gerichtet ist. Über den in V. 20 enthaltenen Imperativ ;mp ("steh auf') korrespondiert diese Bitte gleichfalls mit 10,12, wodurch der Verfasser eine Rahmung der Notschilderung (10,3-11) erzielt. Die Aufforderung ergeht allerdings an einen noch abseits stehenden Gott: Die vorwurfsvolle Frage in 10,1 - eingeleitet mit der Fragepartikel ;r~, gehört strukturell zur Bitte. Bitte und Klage bilden in den so genannten Klagepsalmen ein Paar. Der gemeinsame Traditionshintergrund von 9,19 und 10,1.12 liegt m. E. in Ps. 44 und weist seine markanteste Differenz in der Sprecherperspektive auf.

-

9,19 a

Ja, nicht auf Dauer sei der Anne vergessen, .. !"

10,1 a 10,12 a b

Warum, JHWH, stehst du abseits, ... "? Steh auf, JHWH! Gott, hebe deine Hand!" Vergiss nicht die Erniedrigten!"

44,24 a

"Wach auf"! "Warum schläfst du, HelT? b Werde wach! Verstoße nicht für immer!" "Warum verbirgst du dein Angesicht, vergisst unser Elend und unsere Bedrückung "? "Steh auf, hilfuns! "

44,25 a b

44,27 a

P1n'~ "~lln

l'"

XID.l ,X

:-n.," j"'j~' :-n.," j"'j~'P

~"".lll n~tt!n-'K .",ll

j"'j~"Pj'"j

".l"X

yLi"n j"'j~'

n~.l'

nlrn-,x

T.lO-j"'j~' ll~n" ll".111 n~tt!n ,.1, j"'jn'Tll j"'j~'P

,"non

Das gemeinsame Wortfeld aller dieser Sätze ist augenfallig, ebenso die Korrespondenz von Klage und Bitte. Der Unterschied zwischen Ps. 9/ 10 und Ps. 44 besteht strukturell erneut und prinzipiell darin, dass Ps. 44 aus der Perspektive der 1. Person (in diesem Fall PluraT) gesprochen ist, in Ps. 9/10 derselbe Sachverhalt im Stil der 3. Person (ebenfalls PluraT) geschildert wird. Aus "wir" / "uns" werden die "Erniedrigten" (c~~~17). Die Sprecher von Ps. 44 sind die ihr "Elend" ('l~ Nomen Abstraktum) beklagenden Israeliten, während der Sprecher von Ps. 9/10 selbst ohne nähere Bezeichnung bleibt, stattdessen die Tradition aus Ps. 44 aufgreift und den dort Leidenden einen Namen gibt; auch wenn er diesen Namen nicht selbst erfunden, sondern aus ihm sachlich angemessenen Gründen der Tradition entnommen hat. Der gesamte Arbeitsgang in Kap. 6.2 hat damit zu dem Ergebnis geführt, die Annenbezeichnungen nicht als Hinweis auf eine exklusive Fränunigkeit zu verstehen. Der Mentalitätswandel hat sich im Gegenüber zu geprägten Motivzusammenhängen relativ moderat vollzogen. Er zeichnet sich insbesondere dadurch aus, sämtliche Traditionsstränge emzubinden, um eine generelle Theologie der Klage zu entwickeln.

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

121

6.3 JHWH Zwar war der theologische Aspekt bei den zuvor besprochenen Traditionseinflüssen immer mit präsent - schließlich kommt JHWH in Ps. 9/10 immer in Beziehungsaussagen vor (JHWH und die Frevler oder JHWH und die Armen) - doch wird im Folgenden versucht, dem bisherigen Gang der Untersuchung entsprechend jene Vorstellungen und Traditionen, die unmittelbar mit 1lI\VH zusammenhängen, genauer zurückzuverfolgen. Dass sich dabei bestimmte Beobachtungen überschneiden und dass die ein oder andere Textstelle - wenn auch von der anderen Seite her - wiederholt in den Blick genommen wird, ist dabei nicht zu venneiden.

6.3.1 JHWH im Abseits Obgleich die Verfasser von Ps. 9 / 10 eine äußere soziale Krise beklagen, nämlich die pausenlose Gewalt gegenüber einzelnen Schwachen und Hilflosen (10,2-11), wird sie von ihnen gleichwohl als theologisches Problem wahrgenommen. Auch hierbei standen ihnen bestimmte Sprach- und Deutungskonventionen zur Verfügung, die sich im Einzelnen nachweisen lassen. Der Text beginnt mit dem Lob JHWHs über seine Taten (9,2 ff.), doch geht man wohl nicht fehl in der Annahme, dass der erfahrungsmäßige Ausgangspunkt die Situation der Klage gewesen ist. Recht genau im Zentrum des Doppelpsalms, an der Stelle, wo die hebräische Textüberlieferung Ps. 10 abgetrennt hat, ergeht an JHWH die drängende Frage: pm,~ "~lln

m,,"

,,~,

",~~ n,nll' 1:I"'lln

"Warum, JHWH, stehst du abseits, wendest dich i/deine Augen] ab zu Zeiten in Bedrängnis?" (Ps. 10,1)

Oberflächlich betrachtet bereitet der Inhalt dieses Textausschnittes keine Verstehensschwierigkeiten, auch wenn er in der zweiten Verszeile etwas elliptisch wirkt. JHWH greift angesichts des Elends nicht ein, hält sich mit seiner Hilfe zurück. Die in dieser Situation enthaltene Dramatik kann jedoch erst umfassender wahrgenommen werden, wenn man beachtet, wie in allgemein menschlichen Kontexten Hilfsverweigerung bewertet wurde, und welche Erfahrungen mit der Abwesenheit JHWHs bis dato schon gemacht wurden. In welchen Texten spielen also die in Ps. 10,1 enthaltenen Leitwörter ,~~ "sich hinstellen"; c,~ (hiph.) "etwas / sich abwenden"; ;r'~:l rmw "Zeiten der Not" ebenfalls eine gewichtige Rolle? Es gehört zu den Grundaxiomen der älteren Weisheit, dass man die Hilfe dem Armen gegenüber nicht verweigern soll. Provo 28,17 bezeugt,

122

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

dass es insgesamt auch ökonomisch umsichtig sei, den Bedürftigen zu helfen statt die Augen abzuwenden (c,~): "Wer dem Armen hilft, hat keinen Mangel, wer aber seine Augen abwendet, [erntet] viele Flüche. " (Prov. 28,17)

Neben den individuellen Lebensbereichen musste allerdings auch Israel als Ganzes in seiner leidvollen Geschichte die Erfahrung machen, von seinen Nachbarn im Stich gelassen zu werden, wenn die Not am größten war. Das gilt insbesondere für die Zuschauerrolle, die das Brudervolk Edom während der Exilierung Judas durch die BabyIonier ihm gegenüber eingenommen hatte. Die kleine prophetische Schrift Obadja spiegelt in ihrem Kern die ganze Wut und Enttäuschung über das Verhalten Edoms während der Eroberung Jerusalems wider: "Am Tag, als du abseits standest (1Jm l"~ll), am Tag, als Fremde sein Heer gefangen wegführten, und Ausländer in seine Tore kamen und über Jerusalem das Los warfen, warst auch du wie einer von ihnen. " (Ob. 11)

Der direkte Schuldvorwurf, der das passive Zuschauen aus sicherer Entfernung mit der aktiven Zerstörung durch die BabyIonier gleichsetzt, mündet ab V. 12 in einer Reihe indirekter Anklagen gegen Edom "in der Form von acht WarnsprüchenNerboten (mit achtmaliger Angabe ,am Tage ... ,)".107 Schlimm genug, dass Edom seinem Bruder gegenüber den Beistand verweigerte, doch soll er nicht aus der Angeschlagenheit und Verwundbarkeit Judas weiteres Kapital schlagen, z. B. indem er sich an seinem Gut vergreift (Ob. 13b). Die Edomiter haben aber offensichtlich auch Menschen direkt angegriffen und sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen gesucht. Das wird am Ende der Verbotsreihe thematisiert, und zwar inhaltlich Ps. 9 / 10 recht nahe stehend: "Du sollst nicht am Ausschlupf stehen (i~ll), um seine Entronnenen auszurotten; du sollst seine Übriggebliebenen nicht ausliefern am Tag der Bedrängnis {:1'~ I:I'"~)." (Ob. 14)

Nicht nur dass die Art und Weise, wie Menschen aus dem Hinterhalt heraus ahnungslose Opfer in ihre Gewalt bringen, an die verbrecherischen Taten der Frevler in Ps. 10,8-11 erinnert (vgl. "ausrotten" / "morden", 10,8b), hier zeigt sich zugleich, dass JHWH offensichtlich selbst nicht in der Lage war, dieses zu verhindern. Zwar wird "die These von der Ohnmacht des Gottes Israels,,108 in der Obadjaschrift nicht explizit vertreten, 107 E. ZENGER, Einleitung, 544. 108 DERS., a. a. 0., 546.

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

123

doch ist die Voraussetzung dafür gegeben, dass in Ps. 9/10 der direkte Vorwurf an 1lI\VH ergeht, abseits zu stehen und "zu Zeiten / am Tag der Bedrängnis" (;r,~ 01':1 / rmw,) nichts zu unternehmen. Die Theologen von Ps. 9/ 10 gingen dabei nun nicht so weit, das passive Verhalten JHWHs (analog zur Obadjaschrift) mit dem aktiven Tun des Frevlers derart zu parallelisieren, dass JHWH selbst zum Täter wird. 109 Doch liegt es ihrer Meinung nach eindeutig an JH\VHs Untätigkeit, wenn die Elenden in die Fallen der Frevler geraten. Die sich in Ps. 10,1 ausgesprochene Anfechtung resultiert im Gegenüber zu bestimmten Traditionen zu einem Gutteil auch daraus, dass für die Verfasser kein nachvollziehbarer Grund für das Verhalten Gottes zu erkennen war. Ließ sich in der Rückbesinnung auf z. B. ein Wort wie "Und wenn ihr eure Hände ausbreitet, werde ich meine Augen von euch abwenden (b'll hiph.), auch wenn ihr euer Gebet intensiviert, ich bin kein Hörender mehr: eure Hände sind voll von Blut!" (Jes. 1,15)

JH\VHs "Hilfsverweigerung" als konsequentes Resultat einer bestimmten Schuld begreifen, so fiel diese Möglichkeit im Kontext von Ps. 9/ 10 aus, denn das "Blut" (0') klebte ja eindeutig an den Händen von anderen (9,13). So blieb nicht anderes übrig, als sich mithilfe der anklagenden Frage ii~' "warum?" unmittelbar an JH\VH zu wenden, wie es zuvor schon vielfach getan worden war - sowohl im Bereich individueller Notlagen (z. B. Ps. 22,2 f., vgl. auch das Stichwort I',n, "fern" V. 2 mit 10,la) wie auch im Rahmen von Volksklagen (z. B. Ps. 44,25; 74,1). Der Unterschied von Ps. 10,1 zu jenen Hilferufen besteht vornehmlich darin, dass der Betroffene / die Betroffenen (von denen ja dann in 10,2.8-10 die Rede ist) nicht mehr selbst klagt / klagen, sondern dass der Psalmist stellvertretend für sie seine Stimme zu JHWH erhebt. Denn der Einzelne konnte ein Einschreiten Gottes zu seinen Gunsten offensichtlich nicht (mehr) erfahren. In einem Text wie Thr. 3 konnte die Diskrepanz zwischen Feme und erneuter Nähe bezogen auf das Ergehen des Einzelnen rückblickend überwunden werden: "Auch wenn ich schreie und rufe, so lässt er doch mein Gebet verstummen. " (Thr. 3,8) "Du hast meine Stimme gehört: ,Wende dein Ohr nicht ab (b'll hiph.) vor meinem Atem, meinem Schreien! '; du nahtest (n~,p!) dich zu mir am Tag, als ich dich rief, du sprachst: ,Fürchte dich nicht'" (3,56/)

109

Vgl. dagegen die Konzeption des Hiobbuches, insbesondere Hi. 9,24!

124

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Dahingegen steht in Ps. 10,1 die Anklage an JHWH als direkter Kontrapunkt zum Lob über ihn - eine Dialektik, die nicht zeitlich hannonisiert werden kann. llo Im Rahmen der Notzeit, die ein Einzelner zu überblicken und durchzustehen vermag, scheint Gott nach der Erfahrung der Verfasser des Akrostichons nicht unmittelbar eingreifen zu können.

6.3.2 JHWH als schützende Zuflucht auf dem Zion Gegen den Eindruck der Gottverlassenheit wird im Rahmen des lobenden ersten Teils des Doppelpsalms ein ebenfalls aus der Tradition stammendes Theologumenon gestellt, und zwar das von JHWH als "Schutzburg" (:Llil1~ 9,10) sowie als "Thronendem auf dem Zion" (1"~ :LI!!' 9,12). Dabei ist :Llil1~, wie der Blick auf die Parallelen zeigt (Ps. 18,3; 46,8.12; 48,4; 94,22; Jes.25,12; 33,16), Austauschbegriff zu 11~~ "Festung" (Ps. 27,1; 28,8; 31,3; Jes. 25,4; Joel4,16; Nah. 1,7; 3,11) und ;rOM bzw. ;ron~ "Zufluchtsort" (Ps. 46,2; 61,4; 62,9; Jes.25,4; Joel4,16). Dass mit diesem schützenden Ort im Kontext von Ps. 9 / 10 nichts anderes als der Zion gemeint sein kann, zeigt der Verszusammenhang von 9,10-12, in dem aus dem Vertrauensbekenntnis heraus zum Lob JHWHs aufgefordert wird. lll Insofern kommen als unmittelbare Vorläufer des Textes primär Psalmen wie Ps. 46 und 48 in Frage. ll2 Die Erfahrung von der Zuverlässigkeit der Burg Zion auch und gerade in Zeiten der Not (vgl. Ps. 9,10) hatte sich offensichtlich seit der wunderbaren Errettung Jerusalems vor dem Heer der Assyrer unter Sanherib (701 v. Chr.) für die Folgezeit tief im Bewusstsein Israels eingeprägt. l13 " Gott ist für uns Zuflucht und Stärke, ein Helfer in den Bedrängnissen (Ps. 46.2)

(n,,~~),

die uns sehr gefangen nehmen."

Wenngleich diese Zuversicht schwer erschüttert wurde, nachdem Jerusalem 587 v. Chr. schließlich doch den Eroberern zum Opfer gefallen war, 110 Vgl. dagegen die "theologische" Deutung in Thr. 3,31-33, die besagt, dass Gottes Ferne grundsätzlich zeitlich begrenzt ist. III Für unsere traditions geschichtliche Fragestellung ist es in diesem Abschnitt zunächst unerheblich, ob "Zion" und "Schutzburg" metaphorische Größen bezeichnen oder ob Jerusalem nur für denjenigen eine konkrete Hilfe darstellt, der sich real in seinen Mauern befindet (vgl. zu diesen unterschiedlichen Auslegungsrichtungen exemplarisch die Darstellung zu Ps. 61 bei F.-L. HOSSFELD IE. ZENGER, Kommentar 2000, 170 f.). 112 Dass wir an dieser Stelle ein weiteres Mal nach Ps. 44 auf Psalmen aus der Korachitenpsalmengruppe Ps. 42-49 stoßen, ist beachtenswert und muss für die Frage nach den kompositionellen Querbezügen von Ps. 9/10 in den Psalter hinein im Hinterkopf behalten werden (s. Kap. 13.2). l13 Vgl. W. H. SCHMIDT, Glaube, 288, der betont: "Die Rettung Jerusalems in letzter Stunde hat vielleicht die Vorstellung von der Uneinnehmbarkeit der Stadt verstärkt, aber kaum erst entstehen lassen."

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

125

ist es überaus wahrscheinlich, "daß der Psalm dann in der Exils- und Nachexilszeit mit der besonderen Emphase des ,Dennoch' weitergesungen wurde".114 In dieser Dialektik besteht eine Voraussetzung dafür, dass auch Ps. 9/ 10 Zionstraditionen verarbeitet hat. Das Besondere an der Konzeption von Ps. 9/ 10 gegenüber seinen Vorlagen besteht nun in erster Linie darin, dass der Zion durch die Präsenz JHWHs nicht mehr einfach den Zufluchtsort eines undifferenzierten Gesamtisraels verkörpert, sondern dezidiert eine Schutzburg darstellt, die jeden gefahrdeten Einzelmenschen vor den Übergriffen der Feinde bewahrt. ll5 Dafür griffen die Theologen von Ps. 9 / 10 mit Sicherheit auch auf solche Psalmen zurück, in denen thematisiert wird, wie sich der Einzelne im Schutz JHWHs birgt, dabei der Zion jedoch nicht notwendigerweise expliziert, sondern allenfalls assoziiert wird (vgl. z. B. Ps. 18,3; 27,1.5; 31,3 f.; 61,3-5; 62,2.7). Die Partizipialkonstruktion li'~ :tlli' mit JHWH als Subjekt findet sich in der Hebräischen Bibel nur in 9,12. 116 "Darin verbindet sich die Vorstellung vom Zion als Wohnsitz Gottes mit der anderen, daß Gott König ist. ,,117 So eröffnet sich die Möglichkeit, die Brücke zu den übrigen Aussagen über JHWH zu schlagen, die Ps. 9/ 10 aufgenommen und verarbeitet hat.

6.3.3 JHWH, der universale Richter und König In Kap. 4.1 wurde deutlich, dass die Rede von Gott als König in Ps. 9/ 10 untrennbar mit seiner Eigenschaft als Richter verbunden ist. Damit ist keine künstliche Verbindung geschaffen worden, erwartete man doch auch von einem weltlichen Herrscher, dass er sein Volk recht richte und sich für die Armen einsetze (vgl. besonders Ps. 72). Der Titel 1'~ "König" für die Gottheit war Israel allerdings aus dem Pantheon kanaanäischer Religion vorgegeben. 1l8 Er wurde jedoch nicht unkritisch übernommen, sondern im Laufe der Zeit verschiedenartig abgewandelt und der JHWH-Religion angepasst. In diesem Zusammenhang spielen die so genannten "Thronbesteigungspsalmen" (oder JHWH-König-Psalmen I19), zu denen im Kern E. ZENGER, Kommentar 1993,285. Vgl. J. JEREMIAS, Königtum, 143. 116 Vgl. daneben Jes. 10,24, wo damit "das Volk, das in Zion wohnt", bezeichnet wird. 117 R. RENDTORFF, Theologie 11, 153. 118 Vgl. dazu grundlegend W. H. SCHMIDT, Königtum. 119 Die Bezeichnung "Thronbesteigungspsalmen" wird in neuerer Zeit eher gemieden, da sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der These S. MOWINCKELS, Psalmstudien 11, steht, es habe in Israel ein alljährliches Thronbesteigungsfest JHWHs in Analogie zum babylonischen Neuj alrrsfest gegeben, bei dem er als König proklamiert worden sei. Gegen diese kultische Interpretation vertrat H. GUNKEL, Einleitung, 116, die Meinung, die betreffenden Psalmen seien vielmehr von prophetischer Eschatologie beeinflusst, wie sie vornehmlich bei Deuterojesaja zu finden ist. Mittlerweile ist man jedoch in der Lage, 11 4

115

126

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

Ps. 47.93.95-99 gehören, eine besondere Rolle. Nach J. Jeremias existierten Ps. 47 und 93 wahrscheinlich bereits in vorexilischer Zeit, Ps. 9599 seien dagegen der nachexilischen Zeit zuzuordnen. Dabei gehört nach Jeremias Ps. 97 wahrscheinlich schon zur hellenistischen Epoche, weshalb er für die hier zur Debatte stehende Frage nach den rückwärts gerichteten Bezugnahmen von Ps. 9/ 10 aus nicht in Betracht kommt. In den Texten Ps. 96 und 98, die beide eng verwandt und - wie J. Jeremias zeigen konnte - in den Umkreis der deuterojesajanischen Theologie gehören, sind die augenfalligsten Parallelen zu Ps. 9 / 10 zu erkennen. Das ist insofern nicht verwunderlich, wurden doch schon im Zusammenhang mit der Rede von den C"l~ (den "Erniedrigten") die Bezugnahmen auf den Exilspropheten erkannt (vgl. Kap. 6.2.1). Der Satz aus Ps. 9,9 "Er (JHWH) wird den Erdkreis richten in Gerechtigkeit, den Nationen (das) Urteil sprechen in Geradheit. " P"~~ ,~n-~ott!"

~",tt!"~~ ~"~K'

x,."

r'"

findet sich fast wortwörtlich in Ps. 96,IOb: "er wird den Völkern (das) Urteil sprechen in Geradheit. "

bzw. in V. 13ay.b: "er wird den Erkreis richten in Gerechtigkeit und die Völker in seiner Treue. " P"~~ ,~n-~ott!" ,n.l'~K~ ~"~ll'

sowie in Ps. 98,9ay.b: "Er wird den Erdkreis richten in Gerechtigkeit und die Völker in Geradheit. " P"~~ ,~n-~ott!" ~",tt!"~~ ~"~ll'

Die jeweilige Ähnlichkeit ist unverkennbar. In Ps. 9,9 wurde (vielleicht aus Rücksicht auf das Akrostichon oder einfach aufgrund einer Alliteration mit den Waw-Kopulativa in Ps. 9,8.10.11) ein Demonstrativpronomen zugefügt. C~~17 ist durch C~~~, ersetzt. Ansonsten scheint die Übereinstimmung mit Ps. 98,9 am größten zu sein. Interessanter noch als die bloße Parallelität der Aussagen ist die Frage, wie der Psalmist in 9,9 eigentlich theologisch vorgeht: In den Psalmen 96 und 98 steht die Phrase jeweils im die besagten Texte in eine relative Chronologie zu bringen, so dass sich die strikte Alternative, sie entweder kultisch oder eschatologisch zu deuten, erübrigt (vgl. dazu J. JEREMIAS, Königtum, 11 f.).

6. Kapitel: Motivzusammenhänge

127

Zusammenhang mit einer Lobaufforderung an die Schöpfung vor JHWHs Angesicht (;r;;1'-'lD') und einer Begründung (eingeleitet mit '~), die die Ansage des Kommens Gottes enthält: f1~;r tlDllh ~:l ,~ "Denn er ist gekommen, die Erde zu richten. " Diese Aussage wird allerdings bezogen auf Ps. 9/ 10 "im Kontext völlig anders ausgelegt. Nicht die Erwartung einer neuen Stabilisierung der ,schwankenden' Welt, wie sie mit der Befreiung Israels anbrach, verbindet sich mit dem Vers, sondern die Hoffnung auf vernichtendes, verurteilendes Gericht, durch das die Völker (wie frühere politische Mächte) aufgrund ihrer Unrechtstaten ins ewige Vergessen versinken". 120 Allerdings gibt hier N. Füglister zu bedenken, dass in der Konzeption von Ps. 9/10 "der Begriff goyzm wohl bewußt vermieden wird: Gott ,richtet den Erdkreis (tebeT) in Gerechtigkeit, spricht den Nationen (I' 'ummzm) in Geradheit das Urteil' (9,9) und: ,Spielt JHWH, der thront auf dem Zion, verkündet unter den Völkern Cammzm) seine Taten' (9,12). Das Gericht, das den ,Gojim' zugunsten der ,Armen' den Garaus machen wird, bedeutet demnach keineswegs das Ende der Völkerwelt; vielmehr sollen auch sie mit ihren ,Armen' davon profitieren, daß 1lI\VH durch das Gericht seine universale Känigsherrschaft antreten wird. ,,121 In Ps. 9,9 wird also dieses die Welt umfassende (und mit positiven Konnotationen besetzte) Gericht differenziert vorgestellt: Richten hat in Ps. 9/10 eine doppelte Zielrichtung: Gerades Urteil für die Völker soll es weiterhin geben, aber die "Heiden" und "Frevler" sollen vor dem Angesicht JHWHs ein strafendes Gericht erhalten (9,17.21). Diese deutenden Veränderungen in Ps. 9,9 gegenüber den entsprechenden Verankerungen der Aussage in Ps. 96; 98 lassen sich nur mit einer Abhängigkeit von Ps. 9/ 10 diesen gegenüber hinreichend erklären. 122 Auch im Blick auf die Motivzusammenhänge der Gottesprädikationen greift Ps. 9/ 10 auf geprägtes Material zurück. Die Vorgaben aus der Zionstradition und den llI\VH-Känig-Psalmen werden zugunsten der Theodizeeproblematik umgeformt.

120 J. JEREMIAS, Königtum, 144. 12! N. FÜGLISTER, Hoffnung, 114 (Hervorhebungen im Original). 122 Vg l. J. JEREMIAS, Königtum, 143 f. N. FÜGLISTER, Hoffnung,

119, Anm.48, widerspricht ihm in diesem Punkt mit der Begründung, hier sei "die Beweiskraft der formelhaften Psalmensprache überstrapaziert." Doch stellt dies ein sehr allgemeines Argument dar, zumal die Wendung in den Psalmen längst nicht so häufig ist und noch dazu fast wortwörtlich in den drei genannten Texten auftaucht. Mein Eindruck ist eher, dass FÜGLISTER Zweifel an der Spätdatierung JEREMIAS' von Ps.9/10 in das hellenistische Zeitalter hat. Doch kann Ps. 9/10 ja durchaus relativ jünger sein als Ps. 96 und 98, zumal zwischen der exilisch-frühnachexilischen und der griechischen Epoche noch eine beträchtliche Zeitspanne bestehen bleibt.

7. Kapitel

Zusammenfassung Teil I 7.1 Ps. 9 / 10 - eine dialektische Einheit mit gedanklichem Fortschritt Im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit hat sich die verbreitete These bewährt, dass es sich bei Ps. 9 und 10 um einen einzigen Psalm handelt. Anhaltspunkte dafür liefern nicht allein sein akrostichisches Schema (daran könnte man aufgrund der teilweise fragmentarischen Überlieferung zweifeln), sondern vor allem die gesamte poetische Struktur des Textes. Hier können im Groben sieben etwa gleich lange Abschnitte unterschieden werden (9,2-7.8-11.12-17.; 9,18-10,2; 10.3-7.8-11.12-18), deren Abgrenzung untereinander allerdings z. T. fließend ist. Als konzeptionell plausibel erweist sich der Aufbau des umfangreichen Gebildes aufgrund verschiedener Kennzeichen: 1) Die Dialektik von Lob (9,2-13.16f.; 10,16-18) und Klage (9,14 f.; 10,1-11) vollzieht sich nicht gänzlich unvermittelt, sondern durch Einschaltung verschiedener Bittelemente (9,18-10,2; 10,12.15), die JHWH zum Einschreiten zugunsten der Armen bewegen sollen. Auf der Basis dieser Beobachtung liegt in der Warum-Frage in 10,1 eben nicht die einschneidende Zäsur, die es rechtfertigen würde, den Doppelpsalm in zwei Hälften zu zerlegen.! Vielmehr gewinnt der Text gerade am Übergang von Ps. 9 zu Ps. 10 seine eigentliche Zielrichtung. 2 Die Konzentration aller drei Elemente, Bitte (10,12.14f.), Klage (10,13) und Lob (10,16-18) im letzten Abschnitt verleiht der gesamten Konzeption ihre vorwärts drängende Dynamik. 2) Der Aufbau von Ps. 9/ 10 hat gewisse Vorbilder im Bereich von individuellen Dank- (vgl. Ps. 30) bzw. kollektiven Klagepsalmen (vgl. Ps. 44). Dass ein Loblied in die Klage / Bitte hinüberwechselt, kann dementsprechend nicht als Grund dafür angeführt werden, in Ps. 10,1 den Beginn eines eigenständigen Psalms erkennen zu wollen. Die Lesart von MT geht daher offensichtlich bereits auf eine Rezeption der ursprünglichen I Vgl. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 107, der allerdings - anders als ich es vorschlage (vgl. Kap. 2.2) - den neuen Abschnitt nicht schon in 9,18, sondern erst in 9,20 beginnen lässt. 2 Vgl. K. SEYBOLD, Kommentar 1996, 57.

7. Kapitel: Zusammenfassung Teil I

129

Fassung zurück. Möglicherweise steht die Auftrennung daher im Zusammenhang mit der Kompositionsgeschichte des Psalters. 3 3) Ferner können die vielen Wortwiederholungen nicht einfach mit der Traditionsdichte von Psalmensprache erklärt werden. 4 Wenn die tragenden Begriffe sowohl in Ps. 9 als auch in Ps. 10 zu finden sind, kann das nicht als Zufall gewertet werden, sondern ist poetische Technik des Verfasser(kreise)s. Somit spannt sich über die 39 Verse ein dichtes Netz von synonymen Bedeutungen und semantischen Oppositionen wie z. B. Ti~tb ("vergessen" 9,13.18.19; 10,11.12) und '~l ("gedenken" 9,7.13). 4) Schließlich spricht die Konstellation der "personale(n) Größen'" für eine gewollte Konzeption, die Ps. 9 und 10 miteinander verbindet. Sie verdichtet sich in den Bezeichnungen ~~17 / C~~~17 = "Erniedrigte(r)", 17tb1 / C~iJ = "Frevler" / "Heiden" und iiiiP = ,,1lI\VH", der als König und Richter angeredet wird (9,5; 10,16). Die Platzierung dieser Begriffe erfolgt im Einklang mit der Gliederung des Textes. Dabei wird auch hier die dialektische Grundstruktur sichtbar: So erscheint der exemplarisch Leidende immer als Einzelner, entweder in seiner Opferrolle den Frevlern gegenüber (Ps. 9,14 f.; 10,2-11) oder als derjenige, der dankbar auf seine Rettung zurückblickt (Ps. 9,2-7). Von ihm unterschieden wird die aktuelle Gruppe der C~~~17 bzw. Ci~~17, die sich jetzt nach JH\VHs erneutem Einschreiten sehnen (9,19; 10,17). Beide Gruppen - die exemplarisch Bedrängten nebst den gegenwärtig Armen - fallen schließlich im letzten Teilabschnitt (10,12-18) in eins, denn hier wechseln unvermittelt sozial gefärbte Armentermini (C111' ~ "Waise", 10,14.18 bzw. ;"I~,n ~ "Schwaeher" 10,14) mit der Gruppenbezeichnung C"l~ / C'1l~ (10,12.17). Gerade auch diese Beobachtungen rechtfertigen es, von einem Gedankenfortschritt innerhalb von Ps. 9/ 10 zu sprechen! Innerhalb der zweiten Gruppe, derjenigen der "Völker", wird ebenfalls differenziert: So geht es in 9,9.12 um die Völker als Kollektiv, wobei ihre Bewertung grundsätzlich neutral bis positiv ausfällt. Davon abgesetzt werden aber die C'1l ("Heiden"), die im Zuge ihrer Parallelisierung mit den c'~Ili' ("Frevlern") als feindlich gesinnte Einzeltäter gezeichnet werden. Auch die Wahl der Gottesbezeichnung unterliegt keinem Zufallsprinzip: V on ,~ / C~ii'~ ist vornehmlich dann die Rede, wenn es um die Ignoranz der Frevler und Heiden geht (9,18; 10,4.13). Der Gottesname ;"11;"1' "JHWH" gehört stärker in die Gebetsanrede.

Vgl. dazu 12.6. So M.1vfILLARD, Komposition, 10 f., der die Relevanz von Stichwortverbindungen innerhalb von Ps. 9/10 deutlich herunterspielt, wobei er sich auf wenige Beispiele beschränkt. 5 B. WEBER, Psalm 77, 185. 3

4

130

Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

7.2 Ps. 9 /10 - ein Text ohne exklusive Armenmentalität Der Blick in die Motivgeschichte, welche hinter der spezifisch theologischen Konzeption von Ps. 9/10 steht, hat das Phänomen der "langen Dauer" bezüglich einzelner Vorstellungen offen gelegt. 6 Konkret verbindet sich damit z. B. folgende Konstante: Das Bedeutungsspektrum des Begriffes ;rl~ II in Ps. 9 / 10 hat sich im Gegenüber zu ihm zeitlich vorgegebenen Motivkreisen nur unwesentlich verändert. Von einer Entwicklung hin zu einer rein religiösen Verwendung kann nicht gesprochen werden. Dem Wort haftet nach wie vor die konkrete Notsituation an, die natürlich verschieden gefüllt werden kann: im Sinne von Schmerz, äußerer Gewalt und inneren Qualen, objektiver Armut und subjektiver Demütigung.? Von daher geht es im Kontext des ganzen Psalms "um das leid- und schmachvolle Erniedrigtsein Cnh) des den ,Frevlern' hilflos und schutzlos ausgelieferten Notleidenden, es geht um ,Armut' (9,14: 'anl) des exemplarischen ,Armen' Canf: 10,2.9 bis) als des Vertreters der wirklich ,Armen' Canawfm bzw. ,aniyyfm: 9,19; 10,12.17),,8 Aus dieser These folgt nun aber ebenso wenig die gegenteilige Behauptung, der zufolge individuelle Krisensituationen rein profan und nicht mehr theologisch bewältigt worden seien. "Gewiß sind diese ,Armen' als Glieder der Israel-Gemeinde ,Gläubige', die wie jeder wahre Israelit ,JH\VH' suchen und ,seinen Namen kennen' (9,11).,,9 Was sich hinsichtlich der Verwendung von ;rl~ II dagegen am deutlichsten verändert hat, ist seine kommunikative Funktion. Im Rahmen des Doppelpsalms erscheint das Wort 'l~ im Wesentlichen nicht im Mund des Not leidenden Beters, sondern wird im Sinne einer von außen an ihn herangetragenen Bezeichnung verwendet. 10 Die Armentermini haben sich hier zu Deutungsbegriffen für allgemeine Notlagensituationen entwickelt. Im Spiegel II der überlieferten Notsituationen einzelner Leidender und deren

Vgl. dazu die Einleitung. Vgl. F. CRÜSEMANN, Netz. 8 N. FÜGLISTER, Hoffnung, 122 (Hervorhebung im Original). 9 DERS., a. a. 0., 123. 10 Wenn sich die exemplarisch Armen selbst zu Wort melden - sei es aus Anlass des Lobens (Ps. 9,2-7), sei es zur Klage (Ps. 9,14 f.) -, verwenden sie gerade nicht 'änl als Selbstbezeichnung. 11 Die Kategorie der "Projektion" ist von der Psalmenforschung bereits im Zusammenhang mit der Diskussion zu Gewalterfahrungen eingebracht worden, vgl. O. KEEL, Feinde, 51-76. Neuerdings hat R. KESSLER diese Beobachtungen anhand der Ägyptenbilder der hebräischen Bibel weitergeführt und die reflexive Funktion der Projektion verdeutlicht: "Was an den Ägyptendiskursen des Altes Testaments an Ägypten kritisiert wird", erläutert er, "ist Spiegel dessen, was in Israel selbst in die falsche Richtung zu gehen droht." (R. KESSLER, Ägyptenbilder, 159). Bei den Armentermini in 6 7

7. Kapitel: Zusammenfassung Teil I

131

erfolgter Rettung durch JHWH können sich die aktuell Unterdrückten wiedererkennen und ihre eigenen Schmerzen verarbeiten. Diese Hermeneutik wird dadurch erzielt, dass der Psalmist die Rolle eines stellvertretenden Beters einnimmt. Mit dieser Beobachtung verbinden sich zwei Konsequenzen: 1) Innerhalb des Psalms ist zu unterscheiden zwischen den einzelnen Schwachen und Leidenden selbst und denjenigen, die sich mit ihnen zur Gruppe der C"l~ / C'1l~ zusanunenschließen und ihre Situation sprachlich und theologisch verarbeiten. 2) Auf der mentalitäts geschichtlichen Ebene liegen Ps. 9 / 10 und beispielsweise Ps. 17, 44; 59 etc. - die allesamt keine personenbezogenen Armenbegriffe enthalten (!) - auf einer vergleichbaren Ebene. Verändert hat sich zwischen ihnen lediglich der Reflexionsgrad bezogen auf die erlittenen Nöte. Damit ist Ps. 9/10 nicht einfach "der erste ,Armen'Psalm,,12, sondern ein Programm text, von dem her alle anderen Beter von Klagepsalmen einen zusammenfassenden Namen bekommen. 13 Ps. 9/ 10als "Armenpsalm" - ist deswegen gerade kein Beleg für eine exklusive Armenfrämmigkeit im nachexilischen Israel. 14 Auch der Begriff C'1l ("Heiden") hat von Ps. 9/ 10 aus betrachtet eine Verschiebung erfahren - allerdings wiederum nicht so eklatant, dass dabei seine bis dahin vorhandene Bedeutung verloren gegangen wäre. Nach wie vor sind damit außerisraelitische Kräfte gemeint, jedoch erscheinen SIe nicht (mehr) im Sinne eines Völkerkollektivs, sondern gerieren sich als Einzeltäter, die versuchen, einzelner Armer habhaft zu werden. 15 Hinter diesen Veränderungen steckt natürlich keine bloße Begriffsspielerei, vielmehr resultieren sie aus der Ohnmacht des einzelnen Beters, mit seinen Ängsten und äußeren Schwierigkeiten fertig zu werden. Das Ps. 9/ 10 zugrunde liegende Problem liegt in der Zerdehnung der Zeit, nach deren Ablauf Rettung von JHWH her erfahren werden kann. Dies führt dazu, dass sich im Umfeld von traditionsgeschulten Fürsprechern neue Gruppen von einzelnen Gedemütigten sammeln, um JH\VHs Wun-

Ps. 9/10 wird nun deutlich, dass nicht nur negative Projektionsflächen, sondern auch positive zum Spiegel werden können, um die eigene Situation zu bewältigen. 12 N. FÜGLISTER, Hoffnung, 122. 13 Diese programmatische Funktion von Ps. 9/10 gestattet es ihm darüber hinaus, eine besondere Funktion als Schlüsselpsalm innerhalb der Psalterkomposition einzunehmen. Hierzu sei an dieser Stelle bereits auf Teil 111 verwiesen. 14 Im Teil 11 dieser Arbeit wird es dementsprechend darum gehen, ob sich das anhand von Ps. 9/10 beobachtete Phänomen auch bei anderen Texten seiner Epoche wiederfindet und welche konzeptionellen Überschneidungen hier ausgemacht werden können. 15 Entsprechend erübrigen sich sämtliche textkritische Versuche, I:I",J ("Heiden") in I:I"KJ ("Stolze") zu verändern und im Sinne einer antispirituellen Haltung den rein "Demütigen" anzupassen.

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Teil 1: Ps. 9/10 und sein individuelles Profil

dertaten zu vergegenwärtigen und ihn aus seiner gegenwärtigen Passivität herauszurufen mit den Worten: C"l~ n:>llin-,~ ("Vergiss die Erniedrigten nicht!" Ps. 10,12).

7.3 Ps. 9 / 10 - die Bewährung der Känigsherrschaft JHWHs Ps. 9 / 10 unterliegt einer besonderen ethischen Grundausrichtung, die sich als eine Ethik der Ohnmacht bezeichnen lässt. Neben den Frevlern als Tätern und den Armen als Opfern gibt es keine weitere menschliche Instanz. "There is no third party to intervene" .16 Und die Situation der Erniedrigten gestattet es ihnen an keiner Stelle, selbst als Handlungsträger ethischer Entscheidungen aktiv zu werden. Ihre alleinige Verantwortung besteht darin, auf JH\VH zu vertrauen, dem sie sich als dem I,,::t ~Ditb ("gerechten Richter", 9,5) zuwenden. Doch nicht, um sich seinem Urteil erst noch zu unterziehen - die zweifelsfreie Unschuld (vgl. 10,8) der Armen wird daran erkennbar, dass sie sich vor diesem gerechten Richter an keiner Stelle selbst zu verantworten haben. Nirgends muss ihre Schuldlosigkeit erst in einem gesonderten Urteils akt "überprüft" (Fl:l vgl. Ps. 7,10; Provo 17,3; Jer. 17,10; 20,12) werden. Damit verlagert sich das Problem auf die Rolle JHWHs selbst. Es resultiert aus der schmerzlichen Erfahrung, dass Gott "auf Dauer" (n~l' vgl. Ps. 9,19) im Abseits (Ps. 10,1) zu verharren scheint. Die drängende Frage der C~~~17 / C~i~17 beinhaltet daher, ob sich JHWHs universale Königsherrschaft bewährt. Diesem als Theodizeeproblem bekannten Dilemma versucht der Psalmist allerdings mit einer bestinunten "Strategie" zu begegnen. Weder verdunkelt die Abwesenheit JHWHs wie ein Schleier die ganze Atmosphäre (dem Hiobbuch vergleichbar), noch wird sein Rettungshandeln einfach in eine fernere Zukunft verlegt - sei es im Sinne einer weisheitlichen Mahnung zur menschlichen Geduld oder einer prophetischen Vision. Vergangenheit und Zukunft werden in Ps. 9/10 eigentümlich konzentriert, so dass das Loben Gottes kein Versprechen des Beters für die erbetene Rettung beinhaltet, sondern zur Bewältigung der gegenwärtigen Situation dient. Von dieser Warte aus könnte man mit W. Brueggemann Ps. 9/10 als eine "counter social reality,,17 ("soziale Gegenwirklichkeit") bezeichnen, die nur so lange existiert, wie die Betenden in ihrem Psalm leben; doch die nachhaltig eingeschobenen Bittrufe belegen, dass es hier nicht bloß darum geht, dem Leid zu entfliehen, sondern auf eine tatsächliche Wende durch JHWHs Macht zu hoffen. 16 W. BRUEGGEMANN, Ps. 17 DERS., a. a. 0., 5.

9110, 9.

Teil II

PS. 9 / 10 im konzeptionellen Diskurs

8. Kapitel

Ps. 9 / 10 im Diskurs mit parallelen Entwürfen 8.1 Einführende Überlegungen Um dem "grundlegenden Diskurscharakter biblischer Überlieferung"j hinreichend gerecht zu werden, beabsichtige ich, Psalm 9 / 10 aus einer konzeptionell offeneren Perspektive zu beschreiben, als dies in exegetischen Entwürfen bisweilen geschieht. Ps. 9/ 10 soll mit seinen spezifischen Strukturen, Perspektiven, Funktionen und Motiven mit verwandten Texten vergleichen werden, um größere Überschneidungen oder evtl. nur punktuelle Berührungen offen zu legen. Letztere werden im nächsten Abschnitt als "tangentiale" Entwürfe diskutiert. Damit sucht der hier vorgelegte Ansatz auf exemplarischem Weg ein Desiderat der Forschung einzulösen. Bisher wird die Einzelpsalmauslegung hauptsächlich um den Aspekt der Kompositions- und Redaktionsgeschichte erweitert. Konzeptionelle Untersuchungen werden mitunter nur angestrengt, um "Schichten" mit gleichem Verfasserkreis eruieren zu können. Abgesehen davon, dass ich an diesem Vorgehen methodische Zweifel hege, werden hierbei Paralleltexte in ihrer Eigenständigkeit nicht hinreichend wahrgenommen, was in jüngster Zeit mehr und mehr eingefordert wird: M. Leuenberger, der sich im Bereich von Psalmbuch vier und fünf mit Konzeptionen des Königtums Gottes auseinandersetzt, legt - sicherlich auch aus arbeitsäkonomischen Gründen - den Schwerpunkt (noch) auf die kompositions- und redaktionsgeschichtlichen Aspekte. In seinem Ausblick hält er es daher mr "lohnenswert, über die" hier genannten Fragestellungen hinaus "die im Psalter vorliegenden Konzeptionen des Königtums Jhwhs im Einzelnen mit parallelen wie gegenläufigen Entwürfen aus dem (spät) atl. Zeitraum zu vergleichen und dabei einen allfalligen (synchronen) ,theologischen Diskurs' herauszuarbeiten ( ... ). Quer hierzu verlaufend wären auch detaillierter die (diachronen) langzeitigen Traditionsströmungen mit ihren konzeptionellen Entwicklungslinien zu erarbeiten ( ... ),,2 (Hervorhebungen i. 0.).

HARDMEIER, Systematische Elemente, 113. M. LEUENBERGER, Konzeptionen, 394.

I eH. 2

136

Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

In Kap. 6 waren diese im Verhältnis zu Ps. 9/ 10 älteren Traditionen und Texte bereits genauer untersucht worden. Dementsprechend hatten wir es hier noch nicht mit einem Diskurs im engeren Sinn zu tun, da es sich um eine durch die Tradition vennittelte Aneignung bestimmter Vorstellungen und theologischer Konzeptionen handelte. Im vorliegenden Kapitel geht es folglich um die Besprechung einer Textgruppe, bei der ebenfalls Themenüberschneidungen deutlicher zu erkennen sind, die jedoch nicht in zeitlich eindeutigen Abhängigkeitsverhältnissen zu Ps. 9/ 10 stehen 3 Wir bewegen uns dabei in einem Themenkreis von Texten, die zwar mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls nachexilischen Ursprungs sind, die aber darüber hinaus kaum präziser datiert werden können. Das können auch Beispiele sein, die zeitlich noch vor, möglicherweise aber auch nach Ps. 9/10 anzusetzen sind, die aber keine unmittelbaren Bezugstexte, sondern echte Parallelen darstellen. Es soll also generell davon abgesehen werden, eine "Entwicklung" von einem Text zum nächsten herausarbeiten zu wollen. Ich schließe mich denjenigen Exegeten an, die fordern, in umfassenderem Maß mit zeitlich versetzten, aber dennoch parallel bzw. tangential verlaufenden Diskursen zu arbeiten4 , als lediglich geradlinige traditions- (und damit auch sozial-)geschichtliche Entwicklungen zu konstruieren. 5 Unter Parallelen verstehe ich Texte, welche dem besonderen Profil von Ps. 9/10 so genau wie möglich entsprechen. Da der Doppelpsalm jedoch ebenfalls ein Text sui generis ist, müssen für den Vergleich eigene Kriterien festgelegt werden. Dazu zählen nach meiner Einschätzung folgende: 1) Eine vergleichbare Gruppenkonstellation: Ps. 9/ 10 ist von einer Dreierkonstellation geprägt, die in sich noch einmal differenziert ist: Oberflächlich betrachtet geht es um das Verhältnis zwischen den Armen, den Frevlern und Gott. Im Doppelpsalm werden jedoch "exemplarische" Arme von der "Gruppe" der Armen unterschieden. Ebenso werden einzelne "Heiden" / "Frevler" von den "Völkern" als Kollektiv abgegrenzt. Und 3 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass die entsprechenden Texte bei ihrer Entstehung einander beeinflusst haben. Wir befinden uns hier allerdings in einem Stadium der Überlieferung, in dem nicht mehr eindeutig erhoben werden kann, in welche Richtung die Bezugnahmen laufen. Daher soll in diesem Textbereich auch methodisch auf die Suche nach exakten literarischen Abhängigkeiten verzichtet werden. 4 Als Pionier auf diesem Gebiet ist R. ALBERTZ zu nennen, der z. B. für den Bereich der Apokalyptik mit einer zunächst parallel zu den diversen eschatologischen Modellen laufenden Entwicklung rechnet (vgl. DERS., Religionsgeschichte, 634-637). 5 Maßgeblich beeinflusst hat diese Diskussion O. PLÖGER, Theokratie, der Theokratie und Eschatologie als die beiden Hauptstränge nachexilischer Theologie ansieht. Daran knüpfen alle weiteren Modelle an, u. a. von O. H. STECK, Strömungen, F. CRÜSEMANN, Perserzeit, und R. ALBERTZ, Religionsgeschichte (vgl. dazu das Referat bei R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 462-464).

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

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schließlich erscheint Gott selbst einmal in der Rolle des "souveränen Königs und Richters", einmal in der des abseits stehenden "Zuschauers". Es wäre daher zu untersuchen, ob es in anderen Texten vergleichbare Differenzierungen in der genannten Dreierkonstellation gibt. 6 Es wird sich zeigen, dass es diesbezüglich zwischen Psalmen- und Prophetentexten kategoriale Verschiebungen gibt. 2) Eine parallele Redesituation: Das bedeutet, dass die oben genannten Differenzierungen sich in den jeweiligen Sprechrichtungen wider-spiegeln müssen. Hier kommen solche Psalmen in Frage, die zwischen Betenden und Psalmisten / Sprechern unterscheiden. Folglich ist darauf zu achten, ob die "Armen" / "Elenden" als Deutungsbegriffe velWendet werden, die in erster Linie vom Psalmisten / Beter und nicht von den Betroffenen selbst eingebracht werden. In der Prophetie ist diese Redesituation implizit, da der Prophet von außen auf die Thematik schaut. 3) Das Zeitverständnis: Dieses wird in Ps. 9/ 10 dialektisch gelöst, da der einzelne Beter und die Gruppe der Armen nur die Möglichkeit haben, dem Leid mit Klage und Gotteslob zu begegnen. Gefragt sind also Texte, die das Theodizeeproblem auf eine vergleichbare Weise zu bewältigen suchen. Im Blick auf prophetische Texte ist zu erwarten, dass Sachverhalte, die in Ps. 9/ 10 stärker generalisiert werden, eindeutiger auf die Zukunft hin "programmiert" sind. Auch diese Verschiebungen möchte ich in ihrer Bedeutung genauer untersuchen. 4) Die Raumwahrnehmung: Wenn darüber hinaus ihre Ähnlichkeit festgestellt werden kann, ist die konzeptionelle Nähe zum Bezugstext noch größer: Hier spielt vor allen Dingen der Zion-Land-Gegensatz die entscheidende Rolle. Als zeitlicher Rahmen soll das 5./4. Jahrhundert v. ehr. dienen, also weitgehend die späte Perserzeit. Natürlich ist auch in diesem Bereich fast alles mit Unsicherheiten belastet. Jedoch stellen diese Unsicherheiten in unserem Fall ein vergleichsweise geringes Problem dar. Denn aufgrund der "langen Dauer" ihrer untersuchten Phänomene kann sich die Mentalitätsund Sozialgeschichte "eine gewisse kontrollierte Unschärfe erlauben, was die Datierung von Ereignissen und Quellen angeht. ,,7

6 Für F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 2000, 63, zeichnen sich die vorexilischen Armenpsalmen im Gegensatz zu einfachen Klagepsalmen des Einzelnen durch ein "Vierecksverhältnis" aus. Dieses resultiert jedoch vornehmlich aus der Differenzierung zwischen Psalmisten (bei HOSSFELD I ZENGER "Beter") und den Armen. M. E. müsste man hier immer noch von einem Dreiecksverhältnis sprechen, das sich lediglich an einer Seite aufgliedert. 7 R. KESSLER, Sozialgeschichte, 14.

Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

138

8.2. Psalmen Schon mehrfach sind mit Ps. 9/10 weitere Psalmen mentalitäts geschichtlieh in Verbindung gebracht worden. An dieser Stelle ist im Vorgriff auf die in den Kapiteln 9.2.1 und 9.2.2 aufgeführten Texte die Arbeit von A. Gelin, Les pauvres de Yave (dt. Die Armen - sein Volk) zu nennen. Darin stehen die akrostichisch gestalteten Psalmen des ersten Davidpsalters stellvertretend für Gelins These, es sei in nachexilischer Zeit zu einer Gruppenbildung gekommen, deren Angehörige sich selbst als das wahre Israel verstanden und dafür die Selbstbezeichnung C'1l~ ("die Erniedrigten") in Anspruch genommen haben 8 Dass die von Gelin genannten Psalmen dabei allerdings ein je sehr eigenständiges fonnalinhaltliches Profil aufweisen und nicht einfach gleichgesetzt werden können, ist in der Folgezeit deutlicher herausgestellt worden. So forderte N. Füglister zu Recht: Diese Psalmen "bedürfen deshalb, gerade was ihre Armen-Theologie anbelangt, einer je eigenen eingehenden Untersuchung. ,,9 Es soll im Folgenden der von Füglister erhobenen Forderung insoweit nachgekommen werden, als zwischen deutlich parallelen und tangentialen Entwürfen unterschieden wird.

8.2.1 Ps. 22 Dass sich die Rede von "den Erniedrigten" (C"l~) in Ps. 22 terminologisch in vielem mit Ps. 9/ 10 berührt, ist ein erster Hinweis auf ihre strukturelle Parallelität. Wie in Ps. 9,11 findet sich auch hier als Parallelbezeichnung zu den C"l~ / C'1W die Wendung 1'1li" "die ihn [d. h. JHWH, D. S.] suchen" (22,27). Die Verse 22,24 f. bilden eine ähnliche Struktureinheit wie Ps. 9,11-13. Beide Male wird eine Gruppe dazu aufgefordert, JHWH zu loben und zu fürchten, gefolgt von einer Begründung, dass JHWH am Armen / an den Armen positiv gehandelt habe. Auch zu den sonstigen personalen Größen aus Ps. 9/10, den "Völkern" / "Heiden" (C'1l) und JHWH als König, finden sich in Ps. 22 Entsprechungen. Die Völkerperspektive kommt in 22,28 hinzu, und in diesem Zusammenhang wird die "Königsherrschaft" ;r::>1,~;r1O JHWHs zur Sprache gebracht. Doch wie verhalten sich diese Aussagen zu Ps. 9/10 im Detail? Dafür müssen wir in einem ersten Schritt die Genese des Textes ins Auge fassen.

8

Vgl. A. GELIN, Die Armen, 36-40.

N. FÜGLISTER, Hoffnung, 103. Aus diesem Grund legte er beispielhaft den genannten Aufsatz über Ps. 9/10 vor, welcher der hier vorgelegten Arbeit in vielerlei Hinsicht 9

als Vorbild dient. 10 Nur an dieser Stelle und in Ob. 21 wird der Ausdruck j'"j~"~j'"j auf das Königtum ffiWHs angewendet.

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

139

Grundlegend für Ps. 22 ist die Beobachtung, dass der Text nicht in einem Zug, sondern in mindestens zwei, wahrscheinlicher aber drei aufeinander folgenden Stadien entstanden ist. Zum Grundbestand des Klageliedes gehörte sicherlich nicht der Teil V.28-32, in dem die individuelle Perspektive derart e!Weitert wird, dass alle Völker zu lHWH "sich wenden" (:l1Ili) und ihn anbeten werden (V. 28) - "das ist nun keine geläufige Psalmenaussage mehr, sondern eine spätprophetische Vorstellung (z. B. Jes. 19,22),,11 V.28-32 stellt also mit großer Wahrscheinlichkeit eme sehr junge Fortschreibung von Ps. 22 dar (bereits hellenistisch).12 Will man nun nicht den gesamten Psalm als spätalttestamentlichen Text ansehen - was aufgrund der Ähnlichkeit des Klageliedes mit anderen, vergleichsweise älteren Psalmen (z. B. Ps. 13; 26; etc. 13 ) unwahrscheinlich ist - so bleibt nichts anderes als von einer entsprechenden Erweiterung auszugehen. 14 In der Forschung umstrittener ist die Frage, wie sich das in V. 23-27 vorzufindende Danklied zum vorauslaufenden Klagelied mit abschließender Bitte verhält. Hier gibt es sowohl Vertreter der Einheitlichkeit des Psalms (H. Gunkel, H. J. Kraus, E. S. Gerstenberger, u. a.) als auch solche, die in diesem Bereich eine erste Erweiterung des Klageliedes sehen. So argumentiert F.-L. Hossfeld1 5, ab V.24 wechsele das "Ambiente" grundlegend: Anstelle dass der Beter sich selbst zum Lob auffordere (V. 23) sei der Übergang zur Fremdaufforderung in V. 24 zu konstatieren. Ebenso werde jetzt nicht mehr 1lI\VH direkt angeredet, sondern es werde über ihn in der 3. Person gesprochen. Gegen die Beobachtungen Hossfelds spricht die Tatsache, dass von V. 26 zu 27 ebenfalls ein Übergang von einer Selbst- zu einer Fremdaufforderung zu verzeichnen ist. In V. 26 wird lHWH daneben - der Ich-Rede des Sprechers gemäß - auch in der 2. Person angeredet (wie V. 23). V. 23 f. sowie V. 26 f. sind offensichtlich einander paarweise zugeordnet, so dass V. 25, der die Begründung für das Lob abgibt, als Dreh- und Angelpunkt des Abschnittes 23-27 fungiert. Insofern könnte man mit H. Gunkel, der eindringlich davor gewarnt hat, V.23-27 "für einen Zusatz auszugeben,,16, an der Einheitlichkeit von Ps. 22 festhalten und diesen Abschnitt als "Gelübde eines Dankpsalms,,17 verstehen. Tatsächlich ist der Text ja so gestaltet, dass das Sprecher-Ich J. JEREMIAS, Königtum, 145; vgl. auch E. S. GERSTENBERGER, Kommentar, 112. So auchF.-L. HOSSFELD, Kommentar 1993, 145. 13 Vgl. H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 252. 14 H. SPIECKERMANN, a. a. O. 244 f., grenzt allerdings erst ab V. 29 eine dritte Bearbeitungsstufe ab, da er ab hier eine "Zeit der Sonderung, die nicht alle, die ihre Knie vor Jahwe beugen, unbeschadet überstehen werden" erkennt. 15 F.-L. HOSSFELD, Kommentar 1993, 144. 16 H. GUNKEL, Kommentar, 93. 17 DERS., a. a. 0., 92. 11

12

140

Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

aus dem Klageteil immer noch als kongruent zu dem, der sich in V. 23 f. und 26 f. an die Gruppen wendet, zu denken ist. Allerdings setzt sich in der klassischen Vorstellung einer Thodafeier die Gemeinde nicht ihrerseits aus Betroffenen zusammen, sondern aus Menschen, die sich über die Rettung des Bedrängten freuen. In Ps. 22 hingegen sind die Adressaten des Lobes ja ebenfalls C"l~ ("Erniedrigte"). Von daher halte ich dafür, dass das ,Ich' des Psalms zwar kongruent zu lesen ist, gleichzeitig jedoch mit dem Psalmisten bzw. dem Verfasserkreis verschmilzt, der die Ergänzung ab V. 23 vorgenommen hat. Wir haben hier also eine ähnliche Außenperspektive auf die Not vorliegen wie in Ps. 9 / 10, wo ja im Anfangsteil ebenfalls zunächst keine Annenterminologie anzutreffen ist. Für die Interpretation des Gesamtgefüges ist dieses Moment von herausragender Wichtigkeit. Denn mit dieser Fortschreibung hat sich auch das theologische Profil von Ps. 22 grundlegend verändert und Ps. 9/10 angenähert. Der einzelne in Not geratene Beter wird zum "Paradigma,,18 für die Situation der Gruppe der C'1l~ ("der Erniedrigten") insgesamt 19 Analog zum Umgang von Ps. 9 / 10 mit ihm vorgegebenen Texten deutet der Verfasser(kreis), auf den die Erweiterung von Ps. 22 zurückgeht, den Beter des Grundpsalms als einen "Armen" im "Elend" (V. 25a; vgl. Ps. 9,13 f.), obwohl dieser sich selbst an keiner Stelle mit der entsprechenden Vokabel bezeichnet 20 Wie in Ps. 9 / 10 fungiert in Ps. 22,25.27 der Terminus 'l~ bzw. C'1l~ als deutender Allgemeinbegriff. Blickt man vom Abschnitt V. 24-27 zurück auf die einleitende Klage, so stellt sich zudem heraus, auf welch unterschiedliche Notsituationen die genannte Personenbezeichnung deutend angewendet werden kann. Auch dieser Beter leidet unter massiver Verfolgung durch Feinde, die mit wilden Tieren verglichen werden (Stiere, Büffel: V. 13 sowie Hunde: V. 21 und Löwen: V. 22; vgl. Ps. 10,9). Er ist dem Tode nahe (V. l6b; vgl. Ps. 9,14). Im Unterschied zu Ps. 9 / 10 treten hier allerdings andere Aspekte hinzu, F.-L. HOSSFELD, Kommentar 1993, 14. V gl. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 558: "Im Geschick des einzelnen Leidenden, seiner Anfechtung, seiner Feindbedrohung und seinem Vertrauen konnte sich auch Israel wieder finden. Eine solche paradigmatische Übertragung war nicht nur dadurch möglich, daß sowohl das judäische nachexilische Gemeinwesen als auch erst recht die Diasporagemeinden soziologisch der familiären Kleingruppe und religiös dem Erfahrungshorizont des einzelnen einfach näher standen, sondern sie entsprang auch der bedrängten theologischen Not, daß die Geschichte als Erfahrungshorizont göttlichen Handeins, welche der offiziellen Jahwereligion seit ihren Anfangen die zentrale Basis geliefert hatte, in der nachexilischen Gegenwart fast ganz ausfiel." Allerdings unterscheidet sich an dieser Stelle Ps. 9/10 von Ps. 22 insofern, als er durchaus von Taten ffiWHs in der Vergangenheit zu reden weiß, diese allerdings in eine mythische Sprache kleidet (9,6 f.). 20 Wäre der Text in einem Guss entstanden, hätte man zudem die Verwendung von ".lll als Leitwort von Anfang an erwarten müssen. 18 19

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

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und zwar die von Schmerz, Verletzungen, Krankheit und damit verbunden die Not, von den Leuten verachtet und verspottet zu werden (V. 7). Dazu passt sachlich die rückwärts gerichtete Vergewisserung, dass die Väter Israels im Vertrauen auf JHWH "nicht zuschanden" (1Ilii:n6) wurden (V. 6). Dieses Zentralwort kommt nun in Ps. 9/10 nicht vor, so dass man den Eindruck gewinnt, die Not habe in Ps. 22 tendenziell eher mit sozialreligiöser Isolation zu tun als mit heimtückischer Verfolgung, wie sie in Ps. 10,2-11 geschildert wird. Der Konflikt wird nach Ps. 22 ja auch "auf offener Straße vor allen Leuten" (V. 8) ausgetragen und geschieht nicht heimlich im Versteck/ 1 wo die Tat des Täters ja auch tatsächlich zum Abschluss kommt (Ps. 10,10). Diese letzte Konsequenz wird dem Duktus von Ps. 22 entsprechend abgewendet (s. V. 22b!). Am Vergleich mit Ps. 22 wird also klar, dass das Deutungspotential des Leitwortes ~~li sehr stark kontextabhängig ist. 22 Das konstante Moment besteht darin, die Armenbezeichnung zu verwenden, um nachfolgend noch weiteren Menschen die Möglichkeit zu geben, sich mit der Situation eines Klagenden zu identifizieren. 23 Klage und Lob werden in Ps. 22 - wie in Ps. 9/ 10, jedoch in umgekehrter Reihenfolge - nebeneinander gestellt. Insofern haben wir es in Ps. 22 ebenfalls mit einem dialektischen Zeitbegriff zu tun.'4 Es hat den Anschein, dass auch die erste Erweiterung des Grundpsalms etwas damit zu tun hat, dass aus der Sicht seiner Verfasser Glaube und Erfahrung auseinanderzugehen drohen. Insofern dürfte es sicher kein Zufall sein, dass die LobbegfÜlldung in V. 25 - ganz entsprechend zu Ps. 9,11.13 - mit der Verneinung des Gegenteils argumentiert. "Denn er hat nicht (x,) verachtet und nicht (x,) verschmäht das Elend des Erniedrigten, und hat sein Angesicht nicht (x,) verborgen vor ihm, und als er zu ihm rief, hat er gehört. " (Ps. 22,25)

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Es wurde bereits gezeigt, dass die Negativpartikel ~, sowie im Doppelpsalm Ps. 9/ 10 durchgängig anzutreffen sind (vgl. 9,11.13.19.20; 10,4.6.11.12.13.15.18) und dem Text eine zusätzlich Dramatik verleihen.'5 21 Insofern ist der Sicht von J. UN-SOK Ro, Armenfrömmigkeit, passim, zuzustimmen, dass mit dem Begriff ".lll nicht notwendigerweise wirtschaftliche Armut verbunden sein muss. Gleichwohl muss man sich angesichts der Vielfaltigkeit der Texte davor in Acht nehmen, nicht von der anderen Seite her, hierin lediglich einen religiös gefarbten Terminus erkennen zu wollen, in Pauschalurteile abzugleiten. 22 Vgl. P. v. D. BERGHE, 'ani et 'anaw, 294 f. 23 Vgl. G. V. RAD, Theologie, 412. 24 Es nimmt daher nicht Wunder, dass in der Literatur die gleichen Probleme bezüglich des Verhältnisses von Lob und Klage diskutiert werden und die Frage des Lobgelübdes eines Einzelnen aufgeworfen wird. 25 S. Kap. 4.2.

142

Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

Als deutlichste Parallele zu Ps. 22,25 ist Ps. 9,13 anzusehen, wo die Aufforderung an die Umstehenden zum Lob ebenfalls damit begründet wird, dass JHWH die Erniedrigten nicht verlassen / vergessen habe. "denn als Bluträcher hat er an sie gedacht, hat nicht vergessen das Geschrei der Erniedrigten. " (Ps. 9,13)

Im Klageteil von Ps. 22 konfrontiert der Beter JHWH - ähnlich wie in Ps. 10,1 - mit der Frage, "warum" Um,) er ihn verlassen habe. Auch wird Gott vorgehalten, dass er sich "fern" bzw. "in der Feme" (I',n, /1',n':I) aufhalte (vgl. auch Ps. 22,12.20). Der Unterschied zu Ps. 9/ 10 besteht im Wesentlichen darin, dass in Ps. 22,2 der leidende Beter selbst JHWH diese Klage vorträgt, während in Ps. 9/10 die Warum-Frage aus der Anteil nehmenden Außenperspektive beschrieben wird. Diese Form von Ps. 9/ 10 - so hatten wir gesehen - beruht weniger darauf, dass der Sprecher des Textes mit dem Leid der Armen gar nichts zu tun hat/6 sondern hat eine eminent theologische Ursache: Glaube und Erfahrung treten in Ps. 9/ 10 derart auseinander, dass die Rettung des konkreten Einzelnen gar nicht mehr unmittelbar, sondern offensichtlich nur aus der Vergegenwärtigung der Heilstaten JHWHs heraus erfahrbar ist. Dagegen ist Ps. 22,2-27 bemüht, die personale Kontinuität des Leidenden und Geretteten zu gewährleisten. Er kann mit seinen Erfahrungen verbürgen, dass JH\VH geantwortet hat ('ln'W 22,22), und als Folge dessen ist er in der Lage, die versammelte Gemeinde zum Lob Gottes aufzurufen. Jeder einzelne der Gruppe kann sich dementsprechend im Leid des 'l~ ("des Erniedrigten") wiederfinden und die Hoffnung aufrechterhalten, dass JHWH auch ihm in seiner Not antworten wird. Die Dialektik des Zeitkonzepts ist in Ps. 22 also nicht so streng und verschachtelt wie in Ps. 9/ 10. Von einer konzeptionellen Parallele kann auch deswegen gesprochen werden, weil in der zweiten Fortschreibung von Ps. 22 (V. 28-32) ebenfalls eine Völkerperspektive im Zusammenhang mit dem Königtum llI\VHs aufgeboten wird, die in ihrem positiven Grundtenor der kollektiven Völkerperspektive von Ps. 9 / 10 entspricht. Gemäß Ps. 9,9.12 sollen ja die Völker nicht pauschal, sondern es soll lediglich ihr frevlerischer Teil dem Strafgericht JHWHs verfallen. Die Übrigen werden zum Lob JHWHs aufgerufen. Dementsprechend sollen in Ps. 22,28-32. die Rettungstaten JHWHs an der Gruppe der Armen den Völkern Anlass geben, zu JHWH "umzukehren" (:l11li), um sich aktiv seiner Königsherrschaft zu unterwerfen. Ps. 22 bietet insgesamt gesehen eine differenzierte "Frevler"- bzw. Völkerperspektive: Einzelne Feinde, die in Ps. 22,13-19 zwar nicht als Frevler bezeichnet, sondern mit gierigen Raubtieren verglichen werden, 26

Vgl. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 108.

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

143

entsprechen einzelnen "Gojim" in Ps. 9/10, die die Armen zu Fall bringen wollen. Die in Ps. 22,28 genannten Ci~J stehen diesen zwar terminologisch nahe, werden aber positiv bewertet und sind durch den Zusatz liiTiDtbIY'~ ("alle Sippen") kollektiv vorgestellt. Diese Sicht entspricht der positiven Völkerperspektive von Ps. 9/ 10. F.-L. Hossfeld 1 E. Zenger27 sehen Ps. 22,28-32 mit Ps. 9/10 konzeptionell ebenfalls auf einer Linie. Aus ihrer Sicht gehören deswegen auch beide Text(anteile) einer gemeinsamen Psalterredaktion aus hellenistischer Zeit an. Die Frage aus Ps. 15,1 bzw. 24,3, wer den Zion aufsuchen darf, sei auf dieser Stufe des Psalters auch "an die Israel bedrängenden Feindmächte (vgl. Ps. 9/10) gerichtet", so dass sich dann im weiteren Verlauf der Lektüre ihre Bekehrung zu JHWH (Ps. 22,28-32) ergäbe. Hier muss man Hossfeld 1 Zenger zwar entgegenhalten, dass sich die Frage eher an positiv bewertete Völkerteile richtet, die intendierte Leseperspektive scheint mir allerdings richtig getroffen. Die Frage, ob hier ein und dieselbe Redaktion am Werk war, ist damit natürlich kaum abschließend zu beantworten. Wie sich Ps. 9/10 in kompositioneller bzw. redaktioneller Hinsicht zu seiner näheren und weiteren textlichen Umgebung verhält, soll im dritten Hauptteil dieser Arbeit grundlegend behandelt werden.

Hinsichtlich der Raumwahrnehmung können zwischen Ps. 9 / 10 und Ps. 22 allenfalls punktuelle Berührungen festgestellt werden, die sich auch terminologisch nicht decken. Im individuellen Klagelied (Ps. 22,1-22) ist der Beter ähnlich den Armen, die in Ps. 9/ lOden Feinden in der ländlichen Umgebung ausgesetzt sind, vollkommen isoliert. Doch findet diese Ausgrenzung im öffentlichen Raum statt (V. 8). Die Gruppe der feiernden Elenden, zu denen der Arme nachfolgend gezählt wird, findet sich auch nicht explizit auf dem Zion wieder, auch wenn dieses Motiv durch die Königsherrschaft JHWHs assoziiert sein könnte. Abschließend lässt sich sagen, dass Ps. 22 durch die Fortschreibungen mit Ps. 9/ 10 in einer konzeptionellen Parallele steht, da er die emgangs genannten Kriterien weitgehend erfüllt. 8.2.2 Ps. 74 Ps. 74, der wie Ps. 44 ebenfalls ein Volksklagepsalm ist und wie jener in seinem Grundbestand mit einiger Wahrscheinlichkeit unmittelbar in die Exilszeit (6. Jahrhundert) datiert werden kann 28 , hat sowohl zu Ps. 22 als auch zu Ps. 9/ 10 Strnkturparallelen. Diese konzentrieren sich allerdings vornehmlich auf den Schlussteil des Textes (Ps. 74,19-21), der als eine nachexilische Einfügung - wahrscheinlich aus dem 5./4. Jahrhundertanzusehen ist. 29 Deshalb kommt auch der gesamte Text wie er nun vorliegt als paralleler Entwurf zu Ps. 9/ 10 in Betracht. Denn mit V. 19-21 wird F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Psalmengruppe 15-24, 168. V gl. die Tabelle bei R. ALBERTZ, Exilszeit, 121. 29 Vgl. F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Kommentar 2000, 361. 27

28

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

hier erstmals die Armensprache ins Spiel gebracht, die das Volk Israel nachträglich als die "Erniedrigten" qualifiziert. Die semantische und grammatikalische Eigenart dieser eingeschobenen Verse stimmt weitgehend mit dem Bitt- und Klageteil aus Ps. 9 / 10 überein: 74,19 b ,;Das Leben deiner Elenden vergiss nicht au/Dauer!" n~.l' n~tt!n-'K T".lll n"n

10,12 b "Vergiss nicht die Erniedrigten!" 1:I".lll n~tt!n-'K 9,19 a "Denn nicht auf Dauer sei der Arme vergessen, .. !" l'"~K n~tt!" n~.l' "~

x,

Hier haben wir es also wiederholt mit dem Phänomen der Umfunktionierung von Armensprache zu tun, die verschiedene Notlagen im Rückblick interpretiert. Genauso wie im Anfangsteil des Doppelpsalms, der ja die Annenterminologie bewusst ausspart, wird auch in diesem Text durch einen Wechsel der Rederichtung das Volk Israel im Nachhinein als "arm" / "elend" bezeichnet. Die Bearbeiter von Ps. 74 sind mr ihre Fortschreibung dabei konzeptionell ähnlich wie diejenigen von Ps. 22 und die Verfasser von Ps. 9/ 10 vorgegangen. Denn sie bringen in die Personenkonstellation eine Unterscheidung ein, die im Grundpsalm nicht vorkommt, aber für den Vergleich mit Ps. 9/ 10 entscheidend ist: Hier wird nämlich einmal zwischen dem Volk Israel als den "Erniedrigten" (V. 19) und dem einzelnen "Armen" (V. 21) unterschieden. In diesem Zusammenhang ist die neben Ps. 9,10; 10,18 seltene Wendung l' ("Bedrückter") zu finden. Ps. 74 individualisiert also nachträglich die Israelperspektive, so dass der Text diesbezüglich den oben gesetzten Kriterien Genüge leistet. Dazu passt, dass auch die Sprecherperspektive einen ähnlichen Wechsel wie in Ps. 9 / 10 erfahrt, denn in Ps. 74 klagt das Volk selbst "Warum hast du uns auf Dauer verstoßen?", während in V. 12 plötzlich ein Einzelsprecher davon redet, dass Gott "sein" König sei und 1lI\VH das Schicksal "seines" Volkes (V. 19) nicht vergessen solle. Diese stellvertretende Außenperspektive auf die Not gehört in beiden Psalmen zum Grundkonzept. Haben wir auch hinsichtlich der Person m\VHs eine innere Differenzierung (Gott als König, der seit mythischer Vorzeit wirkt (Ps. 74,12 ff., vgl. Ps. 9,6 f.), auf der einen und der abseits stehende Gott (Warum-Fragen Ps. 74,1.11 par. Ps. 10,l.l3 und Wie-lange-Fragen Ps. 74,10 par. Ps. 9,19) auf der anderen Seite), so liegt in Ps. 74 jedoch nur eine einseitige Völkerperspektive vor. Die Völker werden konsequent als Feinde dargestellt, die das Tempelheiligtum zerstören. An keiner Stelle wird ein Teil von ihnen terminologisch unterschieden und (wie in Ps. 9,12) zum Gotteslob aufgefordert. Man könnte allenfalls überlegen, ob der Text implizit Menschen aus den Völkern voraussetzt, denen Gott wohlgefallig ist. Ein Hinweis in diese Richtung ließe sich V. 12 entnehmen, der von

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

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Gottes Heilstaten zugunsten der ganzen Erde spricht. Ferner wäre auch zu fragen, ob zwischen den Armen Israels und den Armen generell unterschieden werden soll, da nur in V. 19 von Israel als 1~~~li ("deinen Elenden"), d. h. lHWHs Eigentum die Rede ist. Die zeitliche Dialektik aus Ps. 9/10 findet sich in Ps. 74 wieder, wo der Klage gegenüber Gott (Ps. 74,1-11) ein Hymnus auf seine immerwährende Königsherrschaft entgegengestellt wird (Ps. 74,12-17). Diese hymnische Struktur hat ihre Parallele in Ps. 9,2-18*; 10,16-18, auch wenn sie im Doppelpsalm wesentlich verschachtelter gestaltet ist. Zwischen Klage und Hymnus steht wie in Ps. 9/ 10 die Bitte, Gott möge endlich "aufstehen" (;r~11' 9,20; 10,12 par. 74,22), um der Macht der Widersacher ein Ende zu setzen. Vom Zion ist in Ps. 74 explizit die Rede (V. 2), doch steht er hier anders als in Ps. 9 / 10 - im Brennpunkt des Geschehens: Die Not ist genau an dieser Stelle - für alle deutlich sichtbar - lokalisiert, während sie im Doppelpsalm grundsätzlich im Verborgenen geschieht. Doch findet in Ps. 74,20 eine lokale Verschiebung in Richtung auf das Raumkonzept von Ps. 9/10 statt. Denn hier wird die brutale Gewalt plötzlich in den "Schlupfwinkeln des Landes" (r'~-'::>llirm3()) ausgeübt. Das entsprechende Pendant findet sich in Ps. 10,1-11, wo es um die Attentate der Frevler auf die Armen in den Verstecken der Ortschaften geht. Die Parallele zu Ps. 9/10 ist an mehreren Faktoren zu erkennen und insbesondere durch eine kurze Hinzufügung von V. 19-21 zustande gekommen.

8.3 Propheten Psalmen mit Texten der Prophetie ins Gespräch zu bringen, geht mit einem gewissen Risiko einher. Zwar ist dies einerseits möglich, weil z. B. die Prophetenschriften in vielfaltiger Weise Psalmensprache und -motive aufgegriffen und verarbeitet haben. Auch sind vor allen Dingen in der späteren Zeit alttestamentlicher Literaturgeschichte gerade Psalmen herangezogen worden, wenn es darum ging, Prophetenkorpora zu gliedern (z. B. die sog. "Konfessionen" Jeremias: Jer. 12,1-6; 15,10-20; 17,14-18; 18,19-23; 20,7-18 im Zusammenhang der Teilkomposition Jer. 11-2031 ; oder Jes. 12 als Abschluss von Jes. 1-11; ferner Jes. 25,1-5; 26,1-6 als Gliederungsmarken im Bereich Jes. 24-27) oder zu rahmen (z. B. Nah. 1,2-8 und Hab.3 als Klammer um die Nahum- und die Habakukschrift). Umgekehrt betrachtet sind Psalmen nicht selten von 30 31

Vgl. dazu Jes. 29,15 und Kap. 8.3.2 dieser Arbeit. Vgl. die Tabelle bei R. ALBERTZ, Exilszeit, 247.

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

prophetischen Elementen durchsetzt, insbesondere durch die Einschaltung von göttlicher Rede (vgl. z. B. Ps. 12,6; 75,3 f.; 82,2-4.6 f. etc.)32, die zumindest von Hause aus - prophetisch vermittelt ist. Jedoch stellen auf der anderen Seite Psalmen- und Prophetenschriften hinsichtlich des Themenkomplexes und ihrer Bezugspunkte ganz unterschiedliche "Lebensbereiche" dar. 33 Während Psalmen in der Absicht geschrieben sind, das Gottesverhältnis auf verschiedene Anlässe hin zu generalisieren, wollen die Worte der Propheten als aktuelle Botschaft llI\VHs an sein V ülk verstanden werden - auch wenn diese Aktualität durch verallgemeinernde Zusätze und Fortschreibungen immer wieder erneuert werden musste. Worte von Propheten (und ihre nachfolgenden Aktualisierungen) zielen mit ganz bestinunten Ansprüchen und Forderungen auf ihre Hörer und unterscheiden sich darin von vielen Psalmen, die stärker dem Zweck der persönlichen Vergewisserung dienen. Entsprechend verschieden sind die Zeitverhältnisse hier wie dort austariert. Ein Psalm insbesondere, wenn er in fortgeschrittener Zeit abgefasst worden ist - kann zwar von prophetischen Konzeptionen beeinflusst sein, "übersetzt" aber das dahinter stehende Programm in seine eigene Lebenswelt. Hier liegt die Schwierigkeit der Exegese, überhaupt etwas wie einen Vergleichspunkt zwischen ähnlich erscheinenden Texten aus Prophetie und Psalmen auszumachen. 34 Dieser Versuch soll nachfolgend dennoch unternommen werden, und zwar in einem ganz bestimmten Rahmen. Ausgehend von der Annahme einer relativen zeitlichen Nähe der zu diskutierenden Texte/ 5 geht es darum, möglichst präzise zu beschreiben, wie ein ihnen gemeinsames Grundproblem auf ihre je eigene Weise zur Sprache gebracht und verarbeitet wird. Aufgrund der Unsicherheiten in der Datierung gerade der pauschal der nachexilischen Epoche zugewiesenen Texte, verzichte ich weitgehend darauf, Aussagen oder Motivkomplexe des einen aus dem anderen Abschnitt herleiten zu wollen. Es versteht sich von selbst, dass

V gl. K. KOENEN, Gottesworte. Vgl. R. RENDTORFF, Theologie 11, 220. 34 Manche Exegeten sind in dieser Hinsicht äußerst optimistisch. Z. B. meint O. H. STECK, der in seinem beeindruckenden Buch "Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament" die Abschlussfonnation des Zwölfprophetenbuches in Analogie zu den Schlussredaktionen im Jesajabuch untersucht, auch bestimmte Psalmen in dieses System einordnen zu können. "Ps. 97", ein Text, den er in relativer Nähe zu Ps. 9/10 sieht, "entspricht bis in die Einzelaussagen Fortschreibung III im Jesajabuch!" (a. a. 0., 109). 35 Um die Datierungsfragen bezüglich der Prophetenschriften ist es in Teilen nicht besser bestellt als bei den Psalmen. Ausgegangen wird nicht von absoluten Werten der einzelnen Texte, sondern von Ps. 9/10 und den entsprechenden Prophetenabschnitten gemeinsamen Grundkonzeptionen, aufgrund derer sich eine ähnliche zeitliche Ansetzung nahe legt. 32 33

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

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dementsprechend keinerlei literarische Abhängigkeit m welche Richtung auch immer nachgewiesen werden soll. 8.3.1 Jes. 24-27* Zwischen dem Buch Jesaja und den Psalmen gibt es gerade die Rede von den "Armen" und "Erniedrigten" betreffend eine Reihe von sprachlichen und konzeptionellen Berührungen. 36 Besonders augenfällig sind diese Bezüge dort, wo sich im Jesajabuch Armenaussagen in Form von Psalmensprache wiederfinden. Dazu gibt es im Bereich Jes. 24-27 - der so genannten "Jesaja-Apokalypse,,37 - zwei eindruckliche Beispiele, und zwar Jes. 25,1-5 und Jes. 26,1-6. Die jüngere Forschungsdiskussion hat gezeigt, dass die betreffenden Texte nur innerhalb des Zusammenhangs Jes.24-27 angemessen interpretiert werden können. Wenn an dieser Stelle der Kontext zunächst dennoch ausgeklammert wird, dann hat dies nicht lediglich arbeitsökonomische Gründe (Jes.24-27 gehört zu den komplexesten Gebilden der alttestamentlichen Literatur), sondern beruht auf der Beobachtung, dass allein in Jes.25,1-5 und 26,1-6 konkretes Armenvokabular verwendet wird. Mit dieser Herangehensweise lassen sich die entsprechenden Texte daher mit Ps. 9/ 10 besser vergleichen, und darüber hinaus ergeben sich Antwortmöglichkeiten auf die Frage, welche Bedeutung den "Armen" in Jes. 24-27 im Verhältnis zu den übrigen personalen Größen zukommt. a) Zunächst zu Jes. 25,1-5: Der Text lautet: "JHWH, du bist mein Gott; ich erhebe dich, ich preise deinen Namen. Ja, du hast Wunderbares getan; Ratschlüsse von Ferne - zuverlässig und wahr. Ja, du hast aus der Stadt einen Steinhaufen gemacht, die feste Stadt zu Trümmern; den Palast der Fremden zur Unstadt, auf ewig wird er nicht wieder erbaut. Darum ehrt dich ein starkes Volk, [die Stadt]38 tyrannische Heiden fürchten dich.

V gl. dazu U. BERGES, Die Armen. Wie schon öfter bemerkt wurde, trifft die Bezeichnung "Apokalypse" den Sachgehalt von Jes.24-27 nicht himeichend (vgl. das Referat bei H. WILDBERGER, Kommentar, 908-910). Neuerdings schlägt R. SCHOLL stattdessen "großes Stadtgedicht im Jesajabuch" als Titel vor (DERS., Elenden, 1). Zweifelsohne stellt die Stadtthematik ein wichtiges Bindeglied dieser Kapitelfolge dar. Doch könnte man hier ebenso die Begriffe "Erdkreis" (24,4; 26.9.18; 27,6), oder "Erdenbewohner" (24,6; 26,9.18) wählen. Von daher behalte ich den Begriff "Apokalypse" als Arbeitsbezeichnung bei. 38 Zur Textkritik vgl. H. WILDBERGER, Kommentar, 952. 36 37

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

Ja, du warst ein Schutz dem Geringen r'i), ein Schutz dem Bedürftigen (l'"~K) in seiner Bedrängnis, eine Zuflucht vor dem Platzregen, Schatten vor der Hitze. {Denn das Schnauben der Tyrannen ist wie ein kalter Platzregen, wie Hitze in der EinödeY9 Das Getöse der Fremden unterwirfst du, {Hitze mit Wolkenschatten;} Gesang der Tyrannen muss verstummen. "(Jes. 25,1-5)

V on allen Paralleltexten außerhalb des Psalters steht dieses Gedicht Ps. 9 / 10 formal und inhaltlich am nächsten 40 Wie durch den ersten Abschnitt von Ps. 9/ 10 scheint durch dieses Gedicht die Grundform eines individuellen Dankliedes hindurch, wobei allerdings die Begründungen für das Lob jeweils unterschiedlich auf das Ich des Beters bezogen sind: In Ps. 9 / 10 wurde deutlich, dass der V erfasser(kreis) im Bereich von 9,2-7 ein Ich sprechen lässt, das auf die Rettung durch JHWH bereits zurückblickt und daher seine persönlichen Feinde in die Defensive gedrängt sieht. Gleichwohl tritt dieses Ich in Ps. 9 / 10 nur exemplarisch in Erscheinung, da es im weiteren Verlauf des Textes von unpersönlich gehaltener Rede abgelöst wird 4 ! In Jes.25,1-5 liegen die Dinge etwas anders, da der gesamte Abschnitt aus dem Munde des Ich aus V. 1 artikuliert zu verstehen ist 42 Dafür liegt der Anlass des Lobens jedoch nicht im persönlichen Bereich, sondern ist allgemeiner Natur: Der Sprecher preist ll-IWH darüber, dass er auf wunderbare Weise eine Stadt zerstört hat (V. 2 - eingeleitet mit ~~); in dieser Dimension kann es sich nicht mehr um eine persönliche Rettungserfahrung handeln. Auch wenn hier das Ich noch ein offizieller Repräsentant des Volkes Israel (z. B. der König) sein könnte, der Gott stellvertretend den Dank zukommen lässt, so gerät dieses Bild in eine Schieflage, wenn der folgende Gedanke berücksichtigt wird: In V. 4, ebenfalls mit '::> eingeleitet, blickt der Beter auf die Rettung der "Armen" (" und l":l~) zurück, was in diesem Zusammenhang nicht auf die Fürsorgepflicht des Königs zurückgeführt werden kann. 43 Diese Annen sind die einzige Gruppe, die in eine direkte 39 Nachträgliche Glossierung, vgl. H. Wll..DBERGER, Kommentar, 956. 40 Auf die engen Parallelen hat jüngst R. SCHOLL, Elenden, 249, hingewiesen. Er geht allerdings dabei m. E. recht vorschnell davon aus, dass den Verfassern von Jes. 24-27 der Ps. 9 /10 vorgelegen haben muss. Seine These beruht auf dem Vorurteil, in Ps. 9 /10 sei - anders als in Jes. 24-27 der Fall- überhaupt keine völkerfreundliche Perspektive enthalten (vgl. aber Ps. 9,9.12). 41Vgl. dazu Kap. 3.1. 42 Über den gesamten Textbereich Jes. 25,1-5 wird JHWH unmittelbar angeredet; damit ist das Ich implizit von V. 1 bis V. 5 gegenwärtig. 43 Ein König, der den Sieg über eine fremde Stadt bejubelt, wird dabei kaum die Armen im eigenen Volk im Auge haben. Vielmehr kann den Bedürftigen die Niederlage der eigenen Herrscher zugute kommen, wenn andere sie herbeiführen. Sucht man hier

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

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Gegenüberstellung mit den zuvor genannten Stadtbewohnern gebracht wird: Diese gehen zugrunde, die Armen werden gerettet. Damit lässt sich der Sprecher jedoch nicht unmittelbar mit den "Annen" identifizieren; vielmehr nimmt er aus der Anteil nehmenden Außenperspektive auf ihr Schicksal Bezug. Und das heißt: Strukturell betrachtet ist das Sprecher-Ich in Jes. 25,1-5 identisch mit dem "unsichtbaren" Sprecher von Ps. 9/ 10! Im Vergleich zu Ps. 9/ 10 auffallend ähnlich verhält es sich in Jes.25,1-5 mit dem Wechsel der Konjugationsarten: Beide Texte sind davon bestimmt, basierend auf Aussagen in AK-Fonn einen in der PK gebildeten Ausblick in die Gegenwart bzw. in die Zukunft vorzunehmen: Weil JHWH eine fremde Stadt zerstört hat (25,2 - AK), wird er sich damit bei den umliegenden Völkern Respekt verschaffen (25,3 - PK); und weil er den "Armen" ein Schutz gewesen ist (25,4 - AK), wird der Siegesgesang ihrer Widersacher verstummen (25,5 - PK). In Ps. 9/10 gibt es dieselbe Struktur, jedoch ist sie gegenüber Jes. 25,1-5 stärker entzerrt: Die AKFormen erstrecken sich in Ps. 9/10 en bloc auf 9,2-7, woraufhin 9,8-11 mit PK-Formen antwortet; und 9,12-17 bzw. 9,18-10,2* wiederholen dieses Muster. Obwohl nun die Armenaussagen in Jes. 25,4 und Ps. 9,10 darin vergleichbar sind, dass sie objektivierend von den Betroffenen reden, lässt sich Jes. 25,4 makrostrukturell besser mit Ps. 9,13-15 vergleichen. Denn beide Passagen wollen - indem sIe auf JHWHs Handeln zurückblicken - Hoffnung für die Zukunft begründen. Folglich lässt sich hier wie dort ein dialektisches Zeitkonzept erkennen. Ein Blick auf die genannten Personengruppen zeigt: Jes.25,1-5 und Ps. 9/10 haben einen Sprecher, der im Fall von Jes. 25,1 mit dem Ich des Psalms zusanunenfallt. Hinzu kommt in beiden Texten JH\VH, der in diesem Paralleltext jedoch nicht als König bezeichnet wird. Auch der Titel des Richters (vgl. Ps. 9,5) fehlt, doch übernimmt JHWH in beiden Texten dieselbe Rolle: Er schützt hier wie dort die Armen. Jes.25,4 enthält diesbezüglich eine etwas andere Terminologie (" ("Geringer"), der in Ps. 9/10 gar nicht vorkommt, und l":l~ ("Bedürftiger"), vgl. Ps. 9,19, dort jedoch in Kombination mit C~i~17), was jedoch sachlich kaum einen Unterschied machen dürfte. Auch im Blick auf die Feinde des Sprechers bzw. der Armen gibt es sachliche Entsprechungen, wenngleich das Vokabular hier ebenfalls unterschiedlich ist. Im Doppelpsalm 9 / 10 ist überwiegend von heidnischen Frevlern die Rede - also keine Völker im nach einem verifizierbaren Ereignis in der Geschichte Israels - unabhängig von Jes. 25,1-5 -, so kann man an die sozialen Vorgänge während der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier denken: Die "Geringen des Landes" (f'x" n'., 2. Kön. 25,12), I:Ill" Jer. 39,10) profitiert nicht von den Schutzbzw. das "Volk der Geringen" maßnahmen des eigenen Königs, sondern bekommt Land von den Eroberern zugeteilt. Basiert die konzeptionelle "Logik" von Jes. 25,1-5 möglicherweise auf diesen Erfahrungen?

(1:1"'"'

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

Kollektiv, sondern Einzeltäter aus deren Mitte. In Jes.25,1-5 ist der Begriff ~Ili' "Frevler" nicht zu finden, alternativ taucht als Attribut zu den C~iJ das auch sonst im Buch Jesaj a belegte C~::t~'li auf. Beachtet man, dass r"~ "Tyrann" / "Gewalttäter" sowohl individuelle (vgl. Hi.6,23; 27,13; Ps. 37,35; 54,5; 86,14; Jer. 20,11) als auch überindividuelle Feinde (vgl. Jes. 13,11; Ez. 28,7; 30,11 f.; 32,12) bezeichnen kann,44 so schwingen in Jes. 25,1-5 wohl beide Perspektiven mit, wobei in V. 4 f. die individuelle Sicht deutlich überwiegt, da die Leidtragenden die einzelnen Armen sind. Neben diesen frevlerischen Heiden hält Jes. 25,3 anscheinend eine zusätzliche Deutung offen. Folgt man dem Urteil H. Wildbergers, so zeigt sich dort nämlich eine ähnliche Differenzierung im Bereich der Völkerwelt, wie sie für Ps. 9/10 konstitutiv ist. Die Reaktionen auf die Zerstörung der Stadt sind von Volk zu Volk durchaus unterschiedlich: "Der ili-Cli wird die Größe und Herrlichkeit Jahwes erkennen, anerkennen und ihm die Ehre geben. Die gewalttätigen Völker werden ihn wenigstens fürchten. ,,45 Ebenso wird in Ps. 9,12 die Völkerwelt zum Lob JHWHs aufgerufen, während die Frevler in Schrecken versetzt werden sollen, um zu erkennen, dass sie nur sterbliche Menschen sind (Ps. 9,18-21). Jes.25,1-5 und Ps. 9/10 besitzen also durchaus ein sehr ähnliches Sachprofil. Die Unterschiede im Detail dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jes. 25,1-5 eigene Schwerpunkte setzt: Ausgangspunkt ist die Stadtthematik, die in Ps. 9,7 zwar konkret vorhanden, aber keineswegs zentral ist. Die Aussageprofile treffen sich freilich wieder darin, dass diese Stadt zum Prototyp der heidnischen Städte überhaupt avanciert ist;46 dementsprechend ist auch in Ps. 9,7 von den feindlichen Städten (Plurafl) generell die Rede. Eine weitere Verschiebung lässt sich bezüglich der "Armen" erkennen, deren Unterdrückung (vgl. Ps. 10,1-11) nicht explizit angesprochen, wenngleich sie indirekt natürlich vorausgesetzt wird. In der Summe dürften damit Jes. 25,1-5 und Ps. 9/10 einem vergleichbaren Främmigkeitsmilieu entstanunen, das eine fast identische Sichtweise der eigenen Gruppe bzw. ihrer Widersacher an den Tag legt. Ob einer der

44 Die Grenzziehung zwischen "außenpolitischen" und "innenpolitischen" Feinden, wie sie z. B. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 553, Anm.75, vornimmt, ist weniger hilfreich, denn damit wird unterstellt, dass die Feinde des Einzelnen immer als "innenpolitisch" zu gelten haben. 45 H. WILDBERGER, Kommentar, 955 f. 46 Die Versuche, in der in Jes. 24-27 mehnnals erwähnten Stadt eine ganz bestimmte erkennen zu wollen, sind inzwischen weitgehend aufgegeben worden - zu Recht, denn die Belege sind schon innerhalb der Kapitelfolge Jes.24-27 konzeptionell sehr verschieden. So erklingt z. B. im Gegensatz zu 25,1-5, wo über den Untergang einer fremden Stadt gejubelt wird, in 24,7-12 eine Stadtuntergangsklage aus der Perspektive ihrer Bewohner an.

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

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bei den Texte literarisch vom anderen abhängig ist oder ob SIe gar emer gemeinsamen literarischen "Schicht" angehören, lässt sich kaum mit Sicherheit beantworten. Eine entsprechende These hinge auch damit zusammen, wie J es. 25,1-5 literarisch zu seinem Kontext ins Verhältnis gesetzt wird. Angenommen, J es. 25,1-5 wäre zunächst ein unabhängiger Text gewesen und erst sekundär in die Kapitelfolge Jes. 24-27 eingesetzt worden,47 spräche manches dafür, dass er den Verfassern von Ps. 9/ 10 vorgelegen hat (und nicht umgekehrt)48 Denn die in Ps. 9/ 10 enthaltene Stadtthematik erschlösse sich doch wohl am besten, wäre sie als Einzelmotiv einem bestehenden Stadtgedicht entnommen und umgewandelt worden. Für den Fall einer von Anfang an bestehenden literarischen Einheit Jes. 24-27 kann man aus meiner Sicht zu keinem begründeten Urteil kommen, da hier zwei Konzeptionen lediglich eine gememsame Schnittmenge vorweisen. b) Vor einer Untersuchung des größeren Zusammenhangs Jes. 24-27 soll zunächst Jes. 26,1-6, der zweite Psalm mit Armenterminologie, betrachtet werden. Von seiner formalen Gestaltung her unterscheidet sich dieser Textabschnitt von Ps. 9 / 10, seine konzeptionelle Verwandtschaft lässt sich allerdings an den übrigen Faktoren ablesen. Anders als Jes. 25,1-5 wird dieser Text mit der typischen Formel -01':1 ~iiiii "an jenem Tag" eingeleitet. Die Passage wird als ein Lied angekündigt, das erst in der Zukunft erklingen soll. V on daher ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass es - anders als Jes. 25,1-5 von einem "Ich" gesprochen - aus der Wir-Perspektive gesungen wird: An diesem Tag wird man dieses Lied singen im Land Juda: Wir haben eine feste Stadt; er gewährt (ihr) Heil (mithilfe von) Mauern und Wällen. Öffnet die Tore, damit (hinein)komme ein gerechtes Volk ~"""~-"'J), das Treue bewahrt. [Dessen] Sinn ist gefestigt, ihm gewährst du Frieden, denn es verlässt sich auf dich. Verlasst euch auf JHWHfür immer, Ja, auf JH, JHWH ist ein immerwährender Fels. Denn die Höhenbewohner beugt er nieder; die hochgelegene Stadt wird er in die Ebene hinabstürzen, sie den Staub berühren lassen. 4 7 So die These von H. WILDBERGER, Kommentar, 899.954, im Anschluss an O. PLÖGER, Theokratie, 88. 48 So R. SCHOLL, Elenden, 249.

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

Füße werden sie zertreten, die Füße der Erniedrigten (".lll), die Tritte der Geringen (b"'''j. (Jes.26,1-6)

Der Text ist inspiriert von den sog. Toreinzugsliturgien (vgl. Ps. 15; 24; 118,19 f.). An die Stelle der Priester, die auf Anfrage den Pilgern Zutritt zur Stadt gewähren, ist hier jedoch eine Wir-Gruppe getreten. Diese muss mit dem übrig gebliebenen Gottesvolk identisch sein, wie es sich aus Sicht der Schreiber von Jes. 24-27 darstellt. Sie jubeln über ihre sichere Stadt und erlauben einem vor den Toren sich befindenden Volk einzuziehen, sofern es sich als "gerecht" herausstellt. Konzeptionell scheint dieser Abschnitt mit Ps. 9 / 10 zunächst wenig zu tun zu haben, weil zum einen von jenern "gerechten V ülk" (1'~'::t-~iJ) die Rede ist (V. 2) - wohingegen ein I"'~ als menschlicher Repräsentant vorbildlichen HandeIns in Ps. 9/ 10 nicht vorkommt - und zum anderen die "Armen" eine im Vergleich mit dem Ausgangstext ungewöhnlich aktive Rolle einnehmen: Sie treten auf der von JHWH zerstörten Stadt ihrer Feinde herum (V. 6, vgl. Mal. 3,21), anstatt nur froh zu sein, dass die Heiden endlich aus dem Land "verschwunden" sind (vgl. Ps. 10,16). Dennoch kann Jes.26,1-6 als eine konzeptionelle Weiterführung von Jes. 25,1-5 gelesen werden und stellt damit so etwas wie einen Paralleloder auch Alternativentwurf zu Ps. 9 / 10 dar. Dafür spricht nicht allein die Zukunftsperspektive dieses Textes, sondern auch die Konstellation der personalen Größen, deren innere Differenzierung und gegenseitige Zuordnung in der bisherigen Exegese m. E. noch nicht hinreichend berücksichtigt worden ist. 49 Die "Gerechten" einer- und die "Geringen" andererseits sind nämlich nicht als Synonymbegriffe zu verstehen. Das "gerechte Volk" (I"'~-"l V. 2), dem der Eintritt in die Stadt erlaubt wird, verkörpert gegenüber den Armen eine eigene Ethik. Die Geringen werden stattdessen aus ihrer Opferrolle befreit. Zuweilen entsteht für mich bei der Durchsicht der Sekundärliteratur jedoch der Eindruck, als gehörten diese von vornherein zu dem genannten "gerechten Volk".50 Diese Interpretation stellt m. E. jedoch 49 Dass V. 5b-6 erst sekundär hinzugekommen sei, was am Wechsel von der AK in die PK erkennbar sein soll (so K. KOENEN, Heil, 108-110), kann ich nicht nachvollziehen. Die AK hängt grammatisch mit dem Vertrauens aufruf (V. 4) zusammen; darüber hinaus liegt bereits in V.3 eine PK-Konstruktion vor, so dass von einem überraschenden Wechsel keine Rede sein kann. 50 Vgl. U. BERGES, Jesaja, 184 f. "Über die Errettung oder Vernichtung entscheidet nicht die Ethnie, sondern allein die Ethik!" BERGES übersieht hier m. E., dass man innerhalb der Ethik auch noch einmal in verschiedenen Kategorien denken muss. So besitzen z. B. nicht alle Menschen die gleichen Handlungskompetenzen. Von daher ist es keineswegs "folgerichtig, wenn nur das gerechte Volk ( ... ) in die Tore der Gottesstadt einziehen darf ( ... )" (DERS., a. a. 0., 186) und sich sonst niemand weiter darin befinden wird.

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eme konzeptionelle Verkürzung dar. Denn die Tore dürfen nur solche Leute passieren, welche den inneren Frieden nicht gefahrden und auf keinen Fall die Einwohner unterdrücken oder Gewalt an ihnen üben. Dieses Hoffnungspotential erwächst aus den negativen Erfahrungen mit Herrschaft aus der Gegenwart der Verfasser. In der Realität müssen die "Erniedrigten" unter ungerechten Herrschaftsverhältnissen leben, wobei sie von den Bessergestellten, den Ci'~ ~~tlh ("Hähenbewohnern", V. 5), mit Füßen getreten werden. Daher resultiert ihre Bezeichnung als "Erniedrigte und Geringe", C'" 'l~ V. 6). Natürlich besteht die Hoffnung, dass sie in Zukunft mit einem 1'~'::t-~iJ zusammenleben werden. Dafür ist jedoch keine terminologische Unterscheidung vorgesehen. Diese Konstellation kann man sich tabellarisch folgendermaßen veranschaulichen: Gegenwart:

Zukunft:

Ci'~ ~~tlh

"Hähenbewohner"

"Erniedrigte und Geringe" C'" 'l~

"gerechtes Volk"

Befreite "Erniedrigte und Geringe"

1'~'::t-~iJ

Auf dieser Grundlage basiert zudem die bleibende konzeptionelle Nähe von Jes. 26,1-6 zu Ps. 9/10: Zu ethischer Normerfüllung müssen einzig und allein die neu Dazukommenden ermahnt werden, nicht aber die von den Hähenbewohnern Unterdrückten. Alle, die noch immer unter ungerechten Verhältnissen zu leiden haben und seit jeher wissen, dass man in JHWH sein Vertrauen setzen soll (vgl. Jes.26,4), sind davon ausgenommen. Es zeigt sich also: "Gerecht" (I"'~) und "arm" ('l~) sind in diesem Fall keine Synonymbegriffe für dieselbe Gruppe 5 ! Insofern hat es auch keinen Sinn, die Not der Geplagten aus Jes.26,1-6 zu spiritualisieren. Diese in Jes.26,1-6 erkennbare Gruppenkonstellation lässt sich daher auch in etwa mit der von Ps. 94 vergleichen: Dort versucht ein "Gerechter" (vgl. V. 21) den "Armen" (V. 6) zu helfen, steht jedoch selbst mit dem Rücken zur Wand 52 Nach Jes. 26,1-6 wird dagegen in Zukunft eine ungebrochene Solidarität der Menschen untereinander gewährleistet sein, weil die Unterdrücker von JH\VH zu Boden gestoßen werden. Dass Ps. 9 / 10 die "Armen" nur als Opfer von Gewalt sieht und sie nicht wie Jes. 26,1-6 über ihre Peiniger triumphieren lässt53 , mag damit zusammenhängen, dass die Spannung der Theodizeeproblematik unvermindert aufrechterhalten wird. Die darin gegebene Dialektik von Lob und Klage wird in Jes.26,1-6 in ein Zukunftsmodell überführt, das die 51 52

53

So wie z. B. in Ps. 37,11 par. 37,29. S. Kap. 9.2.3. Vgl. eine ähnliche Vorstellung in Mal. 3,21.

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

bestehenden Spannungen vollständig ausgleicht. JHWH wird die gegebenen Verhältnisse genau umkehren, so dass auch die jetzt noch Unterdrückten diese Umkehrung vollziehen können. Ps. 9/10 hofft dagegen lediglich auf ein Ende der Not. Abschließend soll der Kontext von Jes.25,1-5 und 26,1-6, die sog. "Jesaja-Apokalypse" (Jes. 24-27), betrachtet werden. Dabei werden auch hier die literarischen Verhältnisse im Einzelnen unberücksichtigt bleiben müssen. Die Kapitel Jes. 24-27 sind im Laufe der Zeit immer wieder Gegenstand exegetischer Bemühungen gewesen. Nachdem über Jahrzehnte versucht wurde, die Genese dieses Textzusammenhangs aufzuhellen, wobei ganz unterschiedliche Überlieferungsstufen herausgeschält wurden,54 ergänzt gegenwärtig ein Ansatz die anderen Modelle, der Jes.24-27 als literarisches Mosaik versteht, das auf einen kohärenten Verfasserkreis zurückgeht. 55 Da im Rahmen der hier vorgelegten Arbeit keine eigene Kompositionsgeschichte der "Jesaja-Apokalypse" geboten werden kann, gehe ich von der Hypothese aus, dass Kapitel27 eine Sonderstellung einnimmt. 56 Denn lediglich hier klingt die Thematik der Diaspora an, und nur hier wird Israel partiell negativ bewertet (27,10 f.). Unabhängig von eventuellen Zusätzen innerhalb von Jes. 24-26 scheinen mir diese drei Kapitel konzeptionell ein geschlossenes Ganzes zu bilden. Denn die Weltgerichtsperspektive reicht von Jes. 24,1 bis 26,21. Und auch die Gruppe der "Wir" beschränkt sich allein auf diesen Bereich (angefangen in 24,16 und zuletzt erkennbar in 26,18).

Die in Jes. 25,1-5 und 26,1-6 enthaltene Differenzierung innerhalb der Völkerwelt findet sich auch im Gesamtzusammenhang der JesajaApokalypse wieder. Dabei lässt sich eine eher zurückhaltende Darstellung auf der einen von einer deutlich hervortretenden auf der anderen Seite unterscheiden 57 In der Ankündung des weltumfassenden Umsturzes aller Dinge ist zunächst vorgesehen, dass lediglich "eine kleine Anzahl von Menschen" (,~m Ilim~ Jes. 24,6) übrig bleiben wird. Entsprechend vernimmt die in Jes. 24-26 an mehreren Stellen hervortretende Wir-Gruppe aus der Feme Lobgesänge auf ihren Gott (24,14-16; vgl. Ps. 9,12)58 Gleichwohl ist der Grundton des Zusammenhangs eher pessimistisch gestimmt: Israel selbst kann nämlich nichts dazu beitragen, dass aus den

54 V gl. dazu das Referat bei H. WILDBERGER, Kommentar, 893-896 und R. SCHOLL, Elenden, 4-19. 55 Vgl. U. BERGES, 178-181; R. SCHOLL, Elenden. 56 Vgl. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 644 im Gefolge von O. PLÖGER, Theokratie, 96 f. 57 Ob man diese beiden Perspektiven auch literarisch voneinander abheben muss, wie H. WILDBERGER, Kommentar, 904; o. H. STECK, Abschluß, 30, u. a., meinen, muss hier nicht entschieden werden. 58 Nach U. BERGES, Jesaja, 185, handelt es sich bei diesen Stimmen aus der Feme um all diejenigen, die Kraft ihrer Gerechtigkeit dem Weltgericht entkommen sind. Die WirGruppe muss man davon jedoch unterscheiden, was bei BERGES nach meinem Eindruck unterbleibt.

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

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Bewohnern der Erde ein neues Volk hervorgeht (vgl. 26,18). Obgleich sie bekennen, dass JHWHs Gerichtshandeln die Menschen dazu bringt, "Gerechtigkeit zu lernen" (26,9), müssen sie doch feststellen, dass diese Erziehungsrnaßnahmen am Frevler spurlos vorbeigehen (26,1 0). Diese Konzeption korrespondiert eng mit der von Ps. 9 / 10, wo ja ebenfalls die überwiegende Zahl der Heiden auf der Seite der Frevler finden ist. In einem weiteren Schritt unterstreichen die Abschnitte 24,21-23 und 25,6-8, dass JHWH die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wird, während die übrigen Völker kollektiv zur Mahlgemeinschaft mit Israel eingeladen werden. Hier ist eine deutliche Unterscheidung zu verzeichnen, die so in Ps. 9/ 10 nicht gegeben ist, aber als dessen Weiterführung verstanden werden kann. Insgesamt stellen einerseits die beiden Lieder Jes. 25,1-5 bzw. 26,1-6 keinen Bruch gegenüber ihrer textlichen Umgebung dar, zum anderen kann man auch Ps. 9/10 in der konzeptionellen Flucht von Jes.24-26(.27) lesen. Die erwähnten "Armen" müssen als Teil des geplagten Israel angesehen werden, das im Kontext von Jes.24-27 von einer "Wir-Gruppe" repräsentiert wird. Diese hofft darauf, dass in Zukunft ihre Unterdrücker mundtot gemacht werden und JHWH aus ihr ein "gerechtes Volk" machen wird. 8.3.2 Jes. 29,1 5-24

Zu den profilierten Armenaussagen des Jesajabuches zählt ferner der Abschnitt Jes. 29,15-24, der wie Ps. 9/10 die Lexeme 'l~ "Erniedrigter" und l":l~ "Bedürftiger" enthält (vgl. in dieser Konstellation Ps. 9,19). " Und die Gedemütigten (ti"1m) werden in wachsendem Maße Freude haben in JHWH und die Bedürftigen unter den Menschen (ti.,x ".l1"~X/9 jubeln im Heiligen Israels. Darüber dass der Tyrann ausgedient hat, der Gewissenlose am Ende ist, und vernichtet wurden alle, die auf Unheil aus sind / waren, diejenigen unter den Menschen, die mit Gerede zu Sünde verführ(t)en; und den, der im Tor für das Recht eintritt, verstrick(t)en und mit Behauptungen den verdräng(t)en, der im Recht ist ~.,".,~). (Jes. 29. 19-21)

59 Einige Kommentatoren übersetzen diese Konstruktusverbindung mit "die Ärmsten unter den Menschen" (so H. Wn..DBERGER, Kommentar, 1133; O. KAISER, Kommentar, 221; R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 553). Da jedoch die Wendung I:I"X "x"~n~ in V. 21 parallel dazu konstruiert ist, sollte man mit K. KOENEN, Heil, 20, Anm. 5, die Verbindung nicht als Superlativ, sondern als Partitiv auffassen.

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

Die meisten Exegeten sind sich darin einig, dass die soziale Dimension der Wortkonstellation C'1l~ / c,~ 'l1':l~ ("Gedemütigte" / "Bedürftige unter den Menschen") hier bereits durch eine religiöse Komponente überlagert wird.'" Wie in Ps. 9/10 findet dabei allerdings keine Abkoppelung der sozialen Bedeutung statt, wenn einzig von der Bindung der C'1l~ an JHWH gesprochen wird; denn auf die Hilfe JHWHs zu hoffen, stellt für diesen Personenkreis eben die einzig mögliche Chance dar, mit dem sozialen Desaster, das explizit in V. 20 f. angesprochen wird, umzugehen. Da sind gewalttätige Menschen, die den Rechtshelfer, der für denjenigen, der sich im Recht befindet (I"'~), einsteht, aus dem Verkehr ziehen (V. 21). Von daher stellt I"'~ ("Gerechter") auch hier (wie in Jes. 26,1-6)61 keinen Synonymbegriff zu 'W dar, denn er wird im Kontext von Rechtstenninologie gebraucht und nicht im Sinne einer Mentalität. Wie in Ps. 9/10 sind auch die C'1l~ innerhalb von Jes.29,15-24 vollkommen auf die Hilfe JHWHs angewiesen, ohne als ethisch handelnde Subjekte aufzutreten. Umso mehr überwiegt die Freude über die Ankündigung, dass es mit den Tyrannen aus sein wird (vgl. Ps. 9,2-7). Die Gruppenbezeichnung C'1W hat also ihre Begründung in einer Ps. 9/ 10 verwandten Konzeption und ist nicht per se als Etikett der Frommen zu verstehen. Wie sieht es aber mit der Zuordnung der C~i~li und c,~ ~~i~~~ zu den sonst im Abschnitt Jes. 29,15-24 erwähnten personalen Gräßen aus? Dazu sollen Aufbau und Genese dieses Teilstückes genauer untersucht werden. Der Abschnitt Jes. 29,15-24 bildet im Rahmen der Komposition Jes. 28-35, die durch eine Reihe von ",,,-Rufen (d. h. Aufrufen zur Totenklage, 28,1; 29,1.15; 30,1; 31,1; 33,1) gegliedert wird, eine dritte Untereinheit. 62 Dass die "Wehe"-Rufe nicht das alleinige Strukturprinzip dieser Kapitel bilden, zeigt der alternierende "Wechsel zwischen der Ankündigung von Unheil und Zerstörung und von Wiederherstellung und Heil,,63. Daran hat auch die Einheit 29,15-24 Anteil, indem zunächst in den bereits angesprochenen Versen 15 f64 denen Unheil angesagt wird, die "im Finstern" (lttin~~) ihr Tun vor JHWH verbergen, sodann aber ab V. 17 eine Heilsankündigung erfolgt, die in differenzierter Weise auf die zuvor ergangene Unheilsansage reagiert. Dabei kommen nun - anders als es V. 15 f voraussetzen, die lediglich eine Gruppe in der 2. Pers. PI. anreden ("Ihr dreht (die Dinge) auf den Kopfl") - eine Reihe von personalen Größen dazu, die sich nur schwer zuordnen lassen: Zunächst werden in V. 18 f zwei Gruppen parallel genannt, und zwar einerseits die "Tauben" (l:I"tti,n) und "Blinden" (1:I""1l), die offensichtlich von der in V. 15b genannten Finsternis befreit werden sollen, und andererseits die bereits erwähnten

60 VgL z.B. H. WILDBERGER, Kommentar; 1140; O. KAISER, Kommentar, 222 f; K. KOENEN, Heil, 21. 61 S. o. 62 Anders K. KOENEN, Heil, 21, der Jes. 29,1-16 als "eine von zwei Wehe-Rufen (V. 1.15 f) gerahmte Komposition" betrachtet. 63 R. RENDTORFF, Theologie I, 168. 64 S. Kap. 6.1.2.

8. Kapitel: Ps. 9/10 und parallele Ent.vürfe

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"Erniedrigten" und "Bedürftigen". Letztere sollen sich darüber freuen, dass es mit den "Tyrannen" (f"'ll), "Spöttern" (f' vgl. Ps. 1,1; Provo 9,7 f, u. ö.) und "allen, die auf Unheil aus sind" ,n ("der Schwache"), 'I'l ("der Unschuldige") und C'11' ("die Waise") auf der anderen Seite unterschieden. 9.2.4 Ps. 97 Ps. 97 gehört neben Ps. 9/ 10 zu den wenigen Psalmen der fortgeschrittenen nachexilischen Periode/ 5 welche der Proklamation "llI\VHs ist König" (1'~ ;'1';'1' 10,16; 97,1) eine zentrale Stellung beimessen. Entsprechend dieses Traditionskomplexes wird auch der "Zion" (vgl. Ps. 9,12) erwähnt, nämlich als Subjekt des Jubels über die "Rechtsentscheide" (C'tlDIli~) JHWHs (V. 8). "So können auch die Aussagen über Gott als Richter unmittelbar in die Königsprädikation eingebaut werden,,36, was der Vorgehensweise in Ps. 9/10 entspricht. Als Titel mr JHWH verwendet Ps. 97 ebenfalls die Akklamation "Höchster" (1"'~ V. 9 vgl. Ps. 9,3), und dazu passt, dass er, wie unser Ausgangstext, "wieder unbefangen mythisch redet, was die älteren Psalmen unter so großen Mühen bewußt vennieden".37 Eine weitere konzeptionelle Übereinstinunung zwischen Ps. 9/ 10 und 97 besteht in folgendem Punkt: "Der Psalm konstituiert mit seinen Bildern und Topoi, in denen er auf die Überlieferung zurückgreift ( ... ), eine (utopische) Gegenwelt, um so das Auseinandertreten von Glaube und Erfahrung zu bewältigen. ,,38 Bereits im Alltagsleben der Einzelnen kann Gottes Machtfülle über die nichtigen Götzen sowie deren Gefolgsleute und Feinde der Beter, die c'~Ili' (V. 10), erfahren werden. Natürlich nicht, ohne dass auch in diesem Text die Anfechtung der Gemeinde durchscheint. 39 Gerade hier zeigt sich jedoch das überaus eigenständige Profil von Ps. 97: Der Hymnus wird an keiner Stelle durch klagende Elemente (wie sie z.B. auch in Ps. 94 zum Tragen kommen) unterbrochen. Insofern haben auch die mythischen Anklänge in diesem Text nicht die Funktion, einen Kontrapunkt zur gegenwärtig beklagten Leidsituation zu setzen. Zwar stellt das Königtum JH\VHs eine Gegenwelt dar, die noch verborgen ist,40 doch wird ihre sich nachhaltig erweisende Existenz nicht grundlegend in Frage gestellt. Der Tenor der Freude und des Jubels überwiegt doch stärker - nicht allein in der mittleren Strophe, sondern auch im dritten Teil, wo die 35 An der Datierungsfrage scheiden sich auch hier die Geister. Während J. JEREMIAS Ps. 97 "in die äußerste Spätzeit des AT" (Königtum, 142) verlagert und damit der hellenistischen Epoche zuordnet, hält E. ZEN GER immerhin auch eine Ansetzung in das 5. /4. Jh. für möglich. Die breitere Zeitspanne ergibt sich bei ihm dadurch, dass er mit einem Grundpsalm V. 1-9 und einer späteren Erweiterung durch V. 10-12 rechnet. 36 M. MILLARD, Komposition, 201. 37 J. JEREMIAS, Königtum, 143. 38 E. ZENGER, Kommentar 2000,674. 39 Vgl. J. JEREMIAS, Königtum, 142. 4 0 Ebd.

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

Gerechten dazu aufgefordert werden, in den Jubel Zions einzustimmen. Dagegen wirkt die Aussage, von den Frevlern bedrängt zu sein, eher pauschal.

9.3 Propheten 9.3.1 Jes. 56,9-57,21 An dieser Stelle wird Jes. 56,9-57,21 besprochen, weil er nach Meinung einiger Exegeten in konzeptioneller Hinsicht Jes. 29,15-24 - der in Kap. 8.3.2 als Parallelentwurf zu Ps. 9/ 10 besprochen wurde - nahe steht. M. E. muss hier jedoch von einem tangentialen Text gesprochen werden, der stärker als mit Ps. 9/10 mit einem der in diesem Unterkapitel genannten Psalmen vergleichbar ist. R. Albertz datiert Jes. 56,9-57,21 zwar etwas früher als Jes. 29, (15 f.) 17-24, da der soziale Konflikt hier noch nicht so scharf sei, ordnet aber beide Texte in einen gemeinsamen Diskursrahmen ein. 4 ! O. H. Steck zählt beide Textanteile zu seiner Fortschreibung 11 des Jesajabuches, wobei er anders als Albertz den Umfang Jes. 56,9-57,21 auf die Kapitel 58-59 (ohne 58,13 f.) erweitert. 42 Dieser Erweiterung stimmt auch U. Berges zu, der auch die Vorgabe Stecks übernimmt, dass hier eine die Endgestalt des Jesajabuches 43 bearbeitende Redaktion am Werk gewesen sei. Doch diese sei auf Jes. 1,27 f., 56,959,21 und 60,17-22 beschränkt (d. h. sie stehe in keinem literarischen Verhältnis zu Jes. 29,17-24). Berges nennt diese Schicht im Jesajabuch "Umkehr-Redaktion", da es ihr Ziel sei, "möglichst viele zur Umkehr von der Sünde in Jakob zu bewegen, d. h. zum Bekenntnis ihrer Schuld (59,9-15a)". Noch bestehe die Chance auf ein vereinigtes Gesamtisrael, und hier liege dann gleichwohl ein sachlicher Zusammenhang zwischen Jes. 56,9-59,21 und Jes. 29,17-24 (vgl. U. Berges, a. a. 0., 227). Inwieweit zwischen den beiden genannten Texten konzeptionelle Übereinstimmungen bestehen, soll nachfolgend vor dem Hintergrund des bisher Erörterten bzw. im Kontext der Intention von Ps. 9/10 diskutiert werden. Für die eingehende Diskussion beschränke ich mich auf den von R. Albertz abgesteckten Versumfang, da er in sich eine sinnvolle Einheit darstellt und die für einen Vergleich mit Ps. 9/10 notwendigen Kategorien enthält.

Mit der Anklage der unverständigen Hirten des Volkes in Jes. 56,9-12 wird eine modifizierte Sicht der gesellschaftlichen Situation wie in Jes. 29,15-24 vorgenommen, indem die Problematik der Einheit Israels aufgegriffen wird. Die Hoffnung auf ein Einlenken der Murrenden verliert jedoch beträchtlich an Substanz, denn sie "kommen nicht zur Einsicht" (p;'\ w" ~, Jes. 56,llaß, vgl. Jes.29,24). Im Gegenteil- sie gleichen alle gemeinsam den "Blinden" (C"'~ V. lOaa), die doch gemäß Jes. 29,18 R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 550-553. O.H. STECK, Abschluß, 28. 4 3 Vgl. U. BERGES, Jesaja, 463, Anm. 241. 41 42

9. Kapitel: Ps. 9/10 und tangentiale Ent.vürfe

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ihr Augenlicht zurückbekommen sollten. Doch anstatt auf die Einheit Israels hinzuwirken, liegen sie alle faul auf dem Boden und denken nur an sich und daran, wie sie ihren "Gewinn" (~~:l 56,11 bß vgl. Ps. 10,3) steigern können. Dieselben "Verfehlungen" (~~:l 57,17) hatten ihnen schon einmal die Strafe Gottes eingebracht, doch hatte lHWH auf Dauer ein Einsehen, da sie sonst wahrscheinlich zugrunde gegangen wären (57,16). Jetzt wiederholen sich diese verhängnisvollen Verhaltensmuster. Die Konsequenzen daraus sind für die Verfasser unübersehbar: "Der Gerechte (p'''~j'"j) geht zugrunde und kein Mensch nimmt es sich zu Herzen! Und die aufrichtigen Menschen (1on-'ID.lK) verschwinden; keiner achtet darauf!" (Jes. 57,1aoo/ 4

Dabei wird jedoch - anders als in Jes. 29,20 f. und Ps. 9/10 - nicht explizit gesagt, dass der Gerechte unmittelbar durch Über- oder Angriffe der Frevler beseitigt wird; er "verschwindet" in dem Maße, wie die Bosheit der Führungskräfte zunimmt. In Jes. 57,3-13a folgt eine Reihe von Anklagen von Götzendienern, die möglicherweise vorexilischer Gerichtsprophetie 45 oder aber Deuterojesaja (Jes.47, Gericht über das hurerische Babel) in Verbindung mit deuteronomistischen Elementen entlehnt sind. 46 Die damaligen Synkretismen werden als Deutungsfolie für die Verfehlungen der jetzigen Führungsriege herangezogen. Damit soll bekräftigt werden, dass die von ihnen praktizierte "Gerechtigkeit" (57,12a) letztlich nutzlos sein und sie ins Verderben stürzen wird (57,12-13a). "Jedoch", so wird die göttliche Rede weitergeführt, " wer sich bei mir birgt, wird das Land erben und meinen heiligen Berg besitzen. " (Jes. 57,13b)

Damit haben die Schreiber durch den Rückbezug auf 57,1 f. eine deutliche Klammer um die Gerichtsrede gelegt, die mit Sicherheit nicht zufallig in Fonn von Psalmensprache und weisheitlicher Redeweise gehalten ist 47 Inhaltlich klingt dabei Ps. 37 an, der ja, wie in Kap. 9.2.2 gesehen, an mehreren Stellen die Landbesitzverheißung für die "Gerechten" (C'I"'~ 37,29) und "Erniedrigten" (C'1l~ 37,11) als zentrales Heilsgut der Zukunft erwähnt. Diese Landbesitzverheißung spielt auch eine Rolle in dem Stück Jes.60,17-22 (V. 21), welches nach o. H. Steck48 und Vgl. dazufemerPs.12,2;Mi. 7,2. C. WESTERMANN, Kommentar, 255: "Das Auseinandertreten in zwei Gruppen, das nach der Rückkehr einsetzte, ( ... ) veranlasste das Aufnehmen früherer prophetischer Gerichtsworte, die man auf die neue Situation deutete". Ebenso R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 551. 46 K. KOENEN, Ethik, 42-44; U. BERGES, Jesaja, 469. 4 7 Vgl. C. WESTERMANN, Kommentar, 255 f. 48 Heimkehr, 73. 44

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

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U. Berges49 in einer konzeptionellen Flucht mit dem hier zur Diskussion stehenden Text liegt. Die Aufnahme und Verarbeitung frühnachexilischer Heilsprophetie in dem sich anschließenden Absatz Jes. 57,14-19 50 gewährt einen Blick in die Geschichte der Armenterminologie und erhellt, wie es in Jes. 56,9-57,21 sowie in Ps. 37 zu einer Parallelität mit der ethisch besetzten Personenbezeichnung I"'~ ("Gerechter") gekommen ist. Gemäß Jes. 57,15 bezeichnet "Geschlagener" (~::>,) und "Gedemütigter" ('DIli) (in Analogie zum vierten Gottesknechtslied in Jes. 53; bes. V. 4 f. 10)51 das durch das Exil getroffene ganze Israel. In dieser Perspektive kann von "Armen" auch gesprochen werden, insofern sie aufgrund ihres Gewinnstrebens von JHWH bestraft und "geschlagen" geworden waren (57,17!)52 Doch in seinem jetzigen Kontext kann allein der I'~'::t für sich in Anspruch nehmen, ein Geschlagener und Gedemütigter zu sein, bei dem JHWH - der Hohe und Erhabene - unmittelbar wohnt (V. 15). "Aber die Frevler (!:I"ln!h) sind wie das aufwallende Meer, denn es kann sich nicht ruhig verhalten. Seine Wasser wallen Schlamm und Kot auf Keinen Frieden den Frevlern, spricht mein Gott. " (Jes. 57,20 f)

Diese Abschlussverse bilden damit ihrerseits eine Klammer um das göttlich autorisierte Heilswort in 57,14-19 und schlagen den Bogen zurück zu 57,13b (und damit auch zu 57,1 f.; Stichwort "Friede,,).53 Damit vervollständigt sich das von den Kompilatoren von 56,9-57,21 entworfene Bild des nachexilischen Israel: Auch sie erstreben nach wie vor dessen Einheit; doch wie auch Ps. 37 unermüdlich einschärft, fallen all diejenigen, die sich ethisch unkorrekt verhalten und damit ununterbrochen an Israel und JHWH schuldig werden, heraus. Nachdem JHWH im Blick auf das vor dem Exil schuldig gewordene ganze Israel gemäß Jes. 57,14-19 eine doppelte Intention - nämlich eine des Gerichts und eine nachfolgende des Heils - verfolgte, richtet sich diese nunmehr je verteilt auf zwei ungleiche 49

Jesaja, 463.

Religionsgeschichte, 551. Nach K. KOENEN, Ethik, 215, handelt es sich hierbei um Worte des Propheten Tritojesaja selbst. Ob es diesen selbständigen Propheten tatsächlich je gegeben hat oder ob die Texte in Jes. 56-66 allesamt als Fortschreibungen auf das gesamte Jesajabuch hin anzusehen sind (0. STECK), kann hier offen bleiben. 51 Vgl. zu dieser Parallelität U. BERGES, Jesaja, 471. 52 Darin liegt der kritische Impuls im Gegenüber zum vierten Gottesknechtslied, da in 53,9 ja gerade betont wird, dass der von Gott Geschlagene keine "Gewalttat" (o~n) begangen habe. 53 Darauf weist K. KOENEN, Ethik 20 f. hin. Anders dagegen U. BERGES, Jesaja, 472, Anrn.294. 50 R. ALBERTZ,

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183

Gruppen: Das Gericht gilt den JHWH ignorierenden Frevlern, während denjenigen, die in JHWH ihr Vertrauen setzen (57,13b) und ihre eigene Schuld bekennen (59,9-15a), eine heilvolle Zukunft konkretisiert durch die Landbesitzverheißung zugesagt wird. Damit wird keine dogmatische Lehre über das "wahre Israel,,54 entworfen, wohl aber werden ethische Kriterien aufgezeigt, die erfüllt werden müssen, wenn man das von 1lI\VH verheißene Land nicht verlieren will. Im Prinzip entspricht das dargestellte Beziehungsdreieck der Konzeption, wie sie in Ps. 37 entworfen wird, hier jedoch ergänzt um die traditionsgeschichtliche Dimension der älteren (frühnachexilischen) Heilsworte. Von einem umnittelbaren Angriff der Frevler gegen die Gerechten ist allerdings nichts verlautet; es geht daher in erster Linie um die Gegenüberstellung zweier Antitypen. 55 Die Armenbegriffe tragen in Verbindung mit den im letzten Teil des Jesajabuches vorherrschenden Leitworten I"'~ ("Gerechter" Jes. 57,1; 60,21 (pl.)) und ;rl"~ ("Gerechtigkeit" vgl. Jes. 56,1; 58,2; 59,9.17; 60,17; 61,10 f.) einen primär ethischen Sinn. 56 Darin unterscheidet sich diese Konzeption allerdings von der Ps. 9/ 10 ausmachenden, denn dort werden die C'1l~ an keiner Stelle als Träger und Verantwortliche für eine gerechte Gesellschaftsordnung genannt. Sie sind ausschließlich die Leidtragenden und daher ganz auf die Hilfe JHWHs angewiesen. Dazu passt, dass der Zion (siehe allerdings Jes. 57,13bß; 59,20) sowie das Theologumenon von der Känigsherrschaft JHWHs im Kontext von Jes. 56,9-57,21 nicht die zentrale Rolle spielt, wie das z. B. für die im Horizont von Jes. 29,15-24 liegenden Texte der Fall ist. 57

54

In der Fachliteratur findet sich mitunter der Begriff "wahres" Israel (vgl. z. B.

R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 478; M. ÜEMING, Israel), wenn es um die Charak-

terisierung der exilisch-nachexilischen Gruppenkonflikte geht. Konzeptionell geht es hier um das durch alle Konflikte hindurch übrig bleibende Israel. Allerdings gibt es "für die Vorstellung vom Rest keine zusammenfassende Terminologie" (R. RENDTORFF, Theologie 11, 270). Es ging den Verfassern der Hebräischen Bibel (insbesondere denjenigen, die an ihrer Abschlussformation arbeiteten) daher nicht um ontologische Kategorien. Auch dürfte dahinter kaum das Prinzip einer Freiwilligkeitskirche stehen, in Analogie zum Begriff "ecclesiola in ecclesia", wie ihn PR. J. SPENER für den Pietismus prägte (vgl. J. WALLMANN, Kirchengeschichte Deutschlands, 128). Wahrscheinlicher ist doch, dass auch in den die überkommenen Heilsworte einschließenden Konzeptionen nach wie vor gerade um die Einheit eines Gesamtisraels gerungen wird. 55 Diese antithetische Gegenüberstellung erinnert daher stärker an das in Ps.34 entworfene Bild (vgl. Kap. 9.2.1). 56 Vgl. die von K. KOENEN dem Tritojesajabuch zugewiesene Programmatik "Ethik und Eschatologie". 57 Am Rande sei vermerkt, dass damit der von U. BERGES vorgeschlagene Entwurf, die Texte Jes. 29,17-24 und Jes. 56,9-59,21 unterschiedlichen Trägerkreisen zuzuordnen, die größere Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann.

184

Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

Gleichwohl berühren sich Ps. 9/10 und Jes. 56,9-57,21 in dem Punkt, dass beide mit dem Problem einer Gruppe von Leuten zu kämpfen haben, die sich imstande sieht, den Tun-Ergehen-Zusammenhang zu ihren Gunsten außer Kraft zu setzen (Jes.56,9-12). In Jes.56,9-57,21 (bzw. einschließlich Kap. 58 f.) tritt daher ebenso wenig wie in Ps. 37 ein ungebrochener "Optimismus" zutage, der über jeglichen Zweifel hinsichtlich des zukünftigen Schicksals der Frevler erhaben ist. Die in Jes. 57,21 verlautende Parole ist vielmehr vor dem Hintergrund der eigenen Anfechtung zu verstehen. Denn die Frage, ob man in der Lage sein wird, gegen den Strom des verbreiteten Opportunismus anzuschwimmen, ist ja nicht an Außenstehende gerichtet, sondern wird in erster Linie in den eigenen Reihen gestellt (vgl. Jes.59,9-15a!). Die Gruppe, die hier ihr Schuldbekenntnis ablegt, hofft daher ebenso dringend wie die Träger und Betroffenen von Ps. 9/10 auf JHWHs baldige Initiative (Jes. 59,15b-21).

9.4 Weisheit 9.4.1 Hi. 24 Das Hiobbuch offenbart in einigen Passagen konzeptionelle Ähnlichkeit mit Ps. 9/10. Diese sehe ich in Hi. 24 im Kontext von Hi. (21).22-3l. Zunächst gilt es von der Frage der Textsorte und der zeitlichen Ansetzung her zu begründen, weshalb ein Vergleich mit Ps. 9/ 10 grundsätzlich möglich ist 58 Im Allgemeinen wird das Hiobbuch der sog. "Weisheit" zugerechnet. Auch wenn diese eigenständigen Lebensbereichen zugehörig ist - einmal dem der "Volksweisheit", zum anderen dem der "Schulweisheit" _59, entwickelt sie sich im Laufe der Zeit zu einer Art "Offenbarungsweisheit,,60. Schließlich finden sogar ausgedehnte Lehrgedichte Eingang in den Psalter (z. B. Ps. 37 61 ; 73). Im Gegenzug ist das Hiobbuch gerade in den Dialogen von Psalmensprache geprägt, weswegen eine einseitige Zuweisung des Hiobbuches zur "weisheitlichen" Literatur unangebracht erscheint.'2 Die Klagen Hiobs (z. B. die Eröffnungsklage in Hi. 3) stehen

58 Damit sollen keineswegs Hiobbuch und Klagepsalmen als konzeptionell einheitlich verstanden werden. Tatsächlich sind hier kategoriale Unterschiede festzuhalten, wie im Einzelnen mit Notsituationen umgegangen wird (vgl. F. CRÜSEMANN, Gewalt, 256). 59 Vgl. E. ZENGER, Einleitung, 331. 60 Ebd. 61 Siehe Kap. 9.2.2. 62 Vgl. dazu H.-P. MÜLLER, Hiobproblem, 98-100, der in der "Gattung der Klage des einzelnen eine Gott, Welt und Mensch vermittelnde Vorlage" sieht. Vgl. auch die Kritik an einer einseitig weisheitlichen Interpretation bei M. KÖHLMOOS, Auge, 13-15, die

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in enger Konvergenz zu den Klagepsalmen des Einzelnen bzw. den Klagen in den sog. "Konfessionen" Jeremias (Jer. 11-20*).63 Hinzu kommen weitere Motive, wie z. B. das der Unschuldsbeteuerung, Bi. 6,28-30; 9,2931 bzw. das Bekenntnis der Zuversicht, Hi. 19,25-27. Dementsprechend verwundert es nicht, wenn auch grundlegende Inhalte und Konzeptionenwie die Frevler / Gerechte-Thematik oder der Tun-Ergehen-Zusammenhang - hier wie dort virulent sind. 64 Aus der Beobachtung, dass die Thematik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs in höchst anspruchsvoller Art und Weise literarisch verarbeitet ist sowie eine vielschichtige Intertextualität aufweist, wird in der Regel auf eine nachexilische Entstehungszeit des Biobbuches geschlossen. 65 Die Konvergenzen mit Ps. 9/10 werden diese Tendenz bestätigen. Mit Hi. 24 liegt ein gut abzugrenzender Textbereich vor/6 der von seiner formalen und inhaltlichen Seite her enge Berührungen mit Ps. 9/10 aufweist. Allerdings stellt Hi. 24 als Bestandteil des sog. "dritten Redegangs" (Hi. (21)22_27 67) die Auslegung bekanntermaßen vor besondere Probleme, die hier nur kurz umrissen werden sollen, da sie die Fragestellung teilweise tangieren. Die Argumentation in den Versen 18-24 (nebst 26,5-14 bzw. 27,7-23 in der abschließenden Hiobrede) erinnert im Grundsatz stark an die der Freunde Hiobs: Während Hiob zeigen will, dass nach seiner Beobachtung die Frevler ohne Gottes Intervention ein gutes Leben führen (vgl. bes. Bi. 21 !), weswegen er selbst kein Frevler sein kann, wollen die Freunde genau das Gegenteil beweisen: Hiob habe Unrecht getan und folglich als ein Frevler zu leiden (Hi. 22). Die Beobachtung, dass in Bi. 24,18-24 nunmehr überraschenderweise im Mund Biobs vom Untergang der Frevler die Rede ist, hat in der Geschichte der Exegese zu einer Reihe von Versuchen geführt, diesen Abschnitt Hiob wieder abzusprechen und einen ursprünglichen Ablauf der Redebeiträge zu rekonstruieren. 68 jedoch davor warnt, die Hiobdialoge allein von einer Gattung her zu erklären (a. a. 0., 20 f.). 63 Vgl. W. H. SCHMIDT, Glaube, 383. 64 Vgl. H. G. REVENTLOW, Tradition, 290. 65 Vgl. z.B. L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Hiob, in: E. ZENGER, Einleitung, 344; M. KÖHLMOOS, a. a. 0.,364. 66 Auf der Endtextebene beginnt die Hiobrede bereits in Kap. 23. Doch liegt vermittelt durch die Warumfrage in 24,1 ein deutlicher Neueinsatz vor, der zudem eine eigene Thematik einleitet. 67 G. FOHRER nimmt eine andere Einteilung der Redegänge vor, indem er Kap. 3 als Eröffnungsrede Hiobs interpretiert. Daraufhin seien seine Freunde immer in der Position der Antwortenden. Dementsprechend beginnt der dritte Redegang nach FOHRER, Kommentar, 334, bereits in Kap. 21. Auf der Endtextebene reicht die letzte Rede Hiobs von Kap. 26-31. Dementsprechend kursieren weitere Modelle, den dritten Redegang abzugrenzen, die bei M. WITTE, Leiden, 2 f., Anm. 15, aufgeführt werden. 68 Vgl. den Überblick über die Forschungsgeschichte bei M. WITTE, Leiden, 7-55.

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Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

Doch sind diese Versuche inzwischen weitgehend aufgegeben worden. Mit J. Ebach gehe ich davon aus, dass der vorliegende Text gewollte Konzeption des Hiobdichters beinhaltet und kein Ausrutscher der Überlieferung ist. 69 Im Zuge der neueren redaktionsgeschichtlichen Forschung geht man freilich auch dann von einem "sinnvollen Endtext" aus, wenn dieser Spuren von literarischem Wachstum aufweist. So versteht z. B. H. Strauß, Kommentar, 87.90, Hi. 24,18,aj3-24 als eine Fortschreibung im Kreise von Schriftgelehrten. Eine Entscheidung für oder gegen diese Option muss diesbezüglich hier nicht gefoHlt werden. Allerdings setze ich voraus, dass noch im von mir bestimmten zeitlichen Rahmen (also zwischen dem 5. und 4. Jh.) Hi. 24 in seiner jetzigen Gestalt zustande gekommen ist.

Selbstverständlich muss auch diese exegetische Position begründet werden. Ich meine, Hi. 24 in seiner vorliegenden Form (und als Teil des dritten Redegangs) als eine Zuspitzung von Diskursivität verstehen zu können. Je länger zwar die Beteiligten reden, desto mehr reden sie aneinander vorbei, doch handelt es sich hierbei um ein Urteil auf begrifflicher Ebene. In ihrer Intention und ihrer Hoffnung sind sich beide Seiten dagegen recht nahe: "Daß [ ... ] Unrecht und mächtige Übeltäter in der Welt sind und (noch) bleiben werden, ist und bleibt die zentrale Anfechtung für alle (gerechten) Gesprächspartner (einschließlich Hiobs) letzten Endes im Sinne der Nicht-Gegenwärtigkeit bzw. Unerreichbarkeit Gottes [ ... ].,,70 Von daher ist es nicht sinnvoll, die verschiedenen Konzepte und theologischen Denkwege als "optimistisch" (für die Freunde, die vom Untergang der Frevler felsenfest überzeugt sind)71 und "pessimistisch" (für Hiob, der das Gegenteil behauptet) zu etikettieren. Vielmehr geht es um das grundlegende Problem der Wahrnehmung und der daraus resultierenden Deutung von Wirklichkeit 72 Wie schon in den unmittelbar vorangegangenen Reden (bes. Kap. 20 ff.) wendet sich die Diskussion in Hi. 24 ins Grundsätzliche. 73 Die individuellen Leiden des Protagonisten Hiob treten zugunsten genereller Probleme in den Hintergrund. Damit rückt er selbst in die Position eines Beobachters, der mit ungenannten anderen gemeinsam vor der Frage steht: 69

J. EBACH, Kommentar 11, 28 f.

H. STRAUSS, Kommentar, 99 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch die prinzipiellen Überlegungen von H. G. REVENTLOW, Tradition, 290, bezogen auf den TunErgehen-Zusammenhang als gemeinsamer Basisüberzeugung Hiobs und seiner Freunde. 71 So besonders N. FÜGLISTER, Hoffnung, 120. 72 Vgl. J. EBACH, Kommentar 11, 38: "Hiob unterscheidet sich von seinen Freunden ja nicht dadurch, daß er nicht wie sie wollte, daß es in der Welt stimmig zugehen möge, daß das Geschick eines jeden seinem Tun entsprechen möge. Der Zusammenhang zwischen dem Tun und dem Ergehen bleibt auch für Hiob als Postulat bestehen. Im Unterschied zu seinen Freunden kann er ihn jedoch angesichts der ,verkehrten Welt' nicht als empirische Realität konstatieren" (Hervorhebung im Original). 73 V gl. J. EBACH, Kommentar 11, 2 f. 70

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Warum, da doch dem Allmächtigen die Zeiten nicht unbekannt sind, schauen die, die ihn kennen 74 , seine Tage nicht? (Hi. 24,1)

So wie die Warumfrage75 den Ausgangspunkt für die einsetzende Klageschilderung in Ps. 10,1 bildet, so steht sie auch in Ri. 24 an der Spitze eines längeren Abschnitts, der in Einzelheiten auf die Machenschaften der Frevler und den daraus resultierenden Geschicken der Armen eingeht. Diese Beobachtungen werden zur Anfechtung mr die lHWR-Treuen, die von der grundlegenden Gewissheit ausgehen, dass Gott seine Gerichtstermine zur Aufrechterhaltung einer gerechten Ordnung einhält und von daher ihr ganzes Vertrauen auf ihn setzen (vgl. Ps. 9,11 !)76 Umso größer ist die Irritation darüber, ihre herkömmliche Weltwahrnehmung mit der vorfindbaren Realität nicht mehr in Einklang bringen zu können. Allerdings befinden sich die '~'" lHWRs aus Ps. 9/10 (vgl. Ps. 9,11) und die in Bi. 24,1 genannten nicht auf ein- und derselben mentalitätsgeschichtlichen Ebene, und zwar deswegen nicht, weil die Situation in Ri. 24 aus einem gegenüber Ps. 10,1-11 ungleich größeren Abstand heraus beschrieben wird. Es ist zwar schon herausgestellt worden, dass auch der Sprecher, der sich in Ps. 10 artikuliert, eine Art Außenperspektive auf die Not einninunt77, doch identifiziert er sich wiederum so stark mit den Betroffenen, dass er als Repräsentant ihrer Gruppe anzusprechen ist. Das ist in Ri. 24 jedoch grundlegend anders und kann anhand des Aufbaus des Kapitels im Einzelnen aufwezeigt werden. Zunächst konzentrieren wir uns auf den Passus 24,1-18aa7 . Der MT bietet 'll."" allerdings lasen die Masoreten hier pI. ,'ll.",. Anders als in Ps. 10,1 (sowie im Kontext des Hiobbuches in 3,11.20; 7,20; 9,29; 10,18; 13,24; 19,22, wo es immer um die persönlichen Leiden und Klagen Hiobs geht) steht in Hi. 24,1 für ,Warum' nicht die Vokabel j'"j~" sondern ll'''~. A. JEPSEN, Warum, 107.111, meint, an diesen Stellen sei der Ton der "Verwunderung" über einen Sachverhalt größer als der darin intendierte "Vorwurf' an den für dieses Problem Verantwortlichen. Ich meine, "Verwunderung" ist in diesem Fall zu schwach ausgedrückt. Der Satz stammt ja aus dem Mund von Menschen, die sich aus der Anteil nehmenden Außenperspektive mit dem, was sie in der Welt an Missständen vorfinden, nicht abfinden wollen! Es handelt sich um eine stärker aus der Distanz vorgenommene Klage, die der Sache mit dem dazugehörigen Protest auf den Grund gehen will. 76 J. EBACH, Kommentar 11, 25.36, deutet das Subjekt von V. 1b auf die nachfolgend auftretenden Frevler. Dementsprechend versteht er die Glaubensäußerung, JHWH zu "kennen" (ll.,,), im uneigentlichen Sinn: "aber die ihn kennen (könnten), sehen seine Tage nicht" (DERS., a. a. 0.,25). Abgesehen davon, dass im gesamten Abschnitt Kap. 24 immer wieder unangekÜlldigte Subjektwechsel vorliegen, ist die Interpretation EBACHS mit Blick auf 24,13 m. E. nicht tragbar: Dort wird ja- gerade im Gegensatz zu 24,1von den "Feinden des Lichts" explizit gesagt, dass "sie seine (sc. ffiWHs) Wege nicht kennen"! 77 Vgl. Kap 3.1 und 5.2. 78 Zur Abgrenzung vgl. H. STRAUSS, Kommentar, 90. 74

75

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Auf die Warumfrage in 24,1 folgt in V. 2-4 ein Absatz, der die Frevler implizit als Subjekt voraussetzt. In typisierender Darstellungsweise werden ihre Freveltaten aufgezählt, nach denen die Witwen und Waisen fast vollständig aus dem öffentlichen Leben verdrängt werden (V. 4b). In V. 58 - eingeleitet mit 1;"1 ("siehe") - sind die Armen selbst Subjekt,"9 wenn ihre erbärmliche Situation in der Wildnis beschrieben wird 80 In V. 9 wird dann - in Parallele zu V. 2-4 - noch einmal erklärt, wie die Frevler sich an den Annen vergreifen, woraufbin in V. 10-12 wieder die Annen als Subjekt in Erscheinung treten und unter Aufnahme von V. 5-8 (vgl. das gleiche Stichwort C1'~ ("nackt") am Beginn von V. 7.10) von ihren Leiden die Rede ist. Schließlich beginnt mit V. 13 ein Absatz, der - bis V. l8aa reichend - noch einmal die Seite der Frevler in den Blick nimmt, hier jedoch nicht nur bezogen auf ihre Verbrechen (z. B. die Armen zu töten, vgl. Ps. 10,8), sondern auch auf ihre Einstellung, sich in der Dunkelheit sicher und unbeobachtet zu fühlen. Betrachtet man V. l-18aa überblicksartig, so lässt sich ein doppelter Argumentationsgang erkennen, bei dem jeweils auf die Beschreibung der Freveltaten das isolierte Schicksal der Armen als deren Folge zum Thema gemacht wird. 81 Die Parallelität dieser extensive Klageschilderung über das bösartige Handeln der "Feinde des Lichts" (V. 13) zu Ps. 10,1-11 ist nicht zu übersehen (vgl. dabei auch die Form des Zitats im Frevlerausspruch: "Mich erblickt kein Auge" (24,15) mit Ps. 10,4.11). Doch unterscheidet sie sich eben auch in besonderer Weise vom Psalm, da die Notlage der Armen selbst in den Vordergrund gerückt und dadurch die Außenperspektive auf das Geschehen stärker unterstrichen wird. Ich werte diese Differenz als Ergebnis einer veränderten Wahrnehmung der mit Hiob assoziierten Menschen auf die soziale Wirklichkeit: Während sie es gewohnt sind, sich als Wohltäter für die Armen einzusetzen (s. Hi. 29,12-17), müssen sie nunmehr erkennen, dass sich ihre gesellschaftliche Stellung zu ihren Ungunsten verändert hat; denn von den Außenseitern der Gesellschaft, auf die sie vorher herabgesehen haben, fühlen sie sich jetzt selbst ausgestoßen und verlacht (s. Hi. 30,1-8). Aus den "Loosem" sind ihrerseits "Spötter" ge-

Der Subjektwechsel ist allerdings bereits durch V. 4b vorbereitet. Vgl. die Parallele 30,1-10, die zusammen mit 24,5-8 von M. WITTE, Leiden, 128 f., als nachträgliche Ergänzung verstanden wird. 81 G. FOHRER, Kommentar, 367-374, rekonstruiert aus Kap. 24 vier ursprünglich selbständige "Lieder", wobei er mit Versumstellungen und Streichungen arbeitet: 1.) V. 1-4.10-12.22-23 (Y. 9 wird von ihm daher kurzerhand "als variierende Glosse zu V. 3" (DERS., a. a. 0., 368) eliminiert), 2.) V. 5-8, 3.) V. 13-17 und 4.) V. 18-21, die noch einmal um Y.24 f. gekürzt werden. Dass auch der jetzige Aufbau im oben beschriebenen Sinne eine gewisse Logik beinhaltet, liegt nicht in FOHRERS Interesse. 79

80

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worden;82 denen gegenüber man an Status dermaßen eingebüßt hat, dass man die vormalige Rolle ihnen gegenüber nicht mehr einnehmen kann und in der jetzigen nicht akzeptiert wird. Das Ergebnis ist eine zunehmende Entfremdung zwischen bei den Gruppen. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Hiob sich nicht selbst zur Gruppe der C"l~ ("der Erniedrigten") zählt, sondern in seinem Leid isoliert ist. Was ihm bleibt, ist, die Unordnung der Welt aus der Distanz zu beklagen. Dabei zeigt sich nicht allein eine Distanz zu den Armen, sondern auch zu den Frevlern, zu deren Opfern er selbst offensichtlich nicht gehört (was auch nicht weiter verwunderlich ist, da im Kontext der Dialoge ja zur Disposition steht, ob Hiob selbst ein Frevler ist). Mit der Frage der Perspektive auf die Not konvergieren Hi. 24 und Ps. 9/ 10 auf der inhaltlichen Seite in bestimmten Punkten. Dabei machen auch hier die Nuancenverschiebungen im Detail den Unterschied: Für die Armen werden in beiden Textzusammenhängen die Vokabeln 'l~ ("Elender" Hi. 24,4.9.14; Ps. 9.13.19; 10,2.8.12.17) und l":l~ ("Bedürftiger" Hi. 24,4.14; Ps. 9,19) verwendet. Ebenso findet sich die Bezeichnung c,n' ("Waise" Hi. 24,3.9; Ps. 10,14.18), wobei die dtn. / dtr 83 geprägte Verbindung mit ;rm,~ ("Witwe" Hi. 24,3) in Ps. 9 / 10 keine Parallele hat, da dort ethische Kategorien in Bezug auf die Träger keine Rolle spielen. Die Situation der Armen wird in Hi. 24 als so miserabel dargestellt, dass sie bei alledem keine Möglichkeit haben, eine positive Gottesbeziehung aufzubauen. Statt - wie es für Ps. 9/10 grundlegend ist (vgl. Ps. 9,11) - auf llIWH zu vertrauen und ihn zu suchen, sind sie mit der Nahrungssuche (Hi. 24,5) schon vollständig ausgelastet;84 und während ;rOM / :llil1~ "Schutz" / "Zuflucht" in Ps. 9,10 (vgl. ferner Jes.25,485 u. ä.) zur Standardmetapher für JHWHs Schutz in Bezug auf die Erniedrigten avanciert ist, stellt die Beschreibung in Hi. 24,8 eine dazu bewusst gewählte Gegenformulierung dar. Ob diese damit als Ausdruck "elementar empfundener Gottverlassenheit,,86 zu werten ist, bleibt jedoch die Frage, wenn man in Rechnung stellt, dass der ganze Abschnitt nicht aus der Sicht der Armen selbst formuliert, sondern von außen an sie herangetragen wird. Die Beobachter um Hiob wollen coram deo, der das Anstößige (bzw. Gebete)87

82 Man vergleiche, wie in Hi. 30,1-8 für die Armen die gleichen Attribute wie in Hi. 24,5-8.1-12 (Suchen nach Nahrung in der Wildnis; Obdachlosigkeit etc.) nur unter anderen Vorzeichen angewendet werden! 8; Vgl. Dtn. 10,18; 24,17; 27,19. 84 Vgl. H. STRAUSS, Kommentar, 93. 85 S. Kap. 8.3.1. 86 H. STRAUSS, Kommentar, 93. 87 Vgl. den ähnlichen Klang von und wie es durch zwei Handschriften und die syrische Vrs. wiedergegeben wird.

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ignoriert (Hi. 24,12b, vgl. Ps. 10,1), die Dinge so extrem wie möglich darlegen. In diesem antimetaphorischen Sinne ist auch von den Frevlern (die für Ps. 9/10 konstitutive Vokabel ~Ili' findet sich in Hi.24 nicht),88 den "Feinden des Lichts", im Abschnitt Hi. 24,13-18aa die Rede. Sie werden ungeschminkt "Mörder" (n~1' V. l4a), "Diebe" (:lll V. 14b) und "Ehebrecher" (~~l V. ISa) genannt, eine Trias, die ebenfalls der prophetischen Sozialkritik entnommen ist (vgl. Jer. 7,9; Hos.4,2; Sach. 5,3 f.). Ihren Hang zur Dunkelheit, in der sie ungestraft ihren Machenschaften nachgehen können, detailliert zu explizieren, stellt das Hauptanliegen von V. 13-l8aa dar. Dagegen gehört in Ps. 10,8 f. die Verborgenheit des Täters konstitutiv zur Metapher von dem aus dem Versteck heraus zuschlagenden Löwen hinzu. Jenseits dieser Differenzierung wollen Hi. 24 und Ps. 9/10 die todbringenden Verbrechen als der Öffentlichkeit unzugängliche Vorgänge darstellen. Beiden Milieubeschreibungen gemeinsam ist außerdem, sie in oder in der Nähe von Ortschaften zu lokalisieren (vgl. Ps. 10,8 c"~n = "Höfe"; Bi. 24,16 C~i1~ = "Häuser"). Eine Begründung, auch Hi. 24,18aß-25 im Rahmen des Kapitels als sinnvolle Weiterführung zu interpretieren, wurde oben bereits gegeben. Jetzt gilt es, besagten Abschnitt in Korrelation zur Diskursivität von Ps. 9/10 selbst zu setzen. Auch dort bleibt es ja nicht dabei, die Passivität JHWHs angesichts des Bösen in der Welt zu beklagen, sondern der Psalm lebt von der Spannung unterschiedlicher Redesituationen und Zeitverhältnisse: So erschöpft sich eine Hoffnungsperspektive mr die Zukunft, in der die Frevler / Heiden ihr Ende in der "Unterwelt" (1"~1li Ps. 9,18 vgl. Hi. 24,19) finden, aus der Vergegenwärtigung der Heilstaten JHWHs, die aus der nicht näher bestinunten Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichen (Ps. 9,2-17). Weil JHWH das "Gedenken" ('~l Ps. 9,6 f.) der Gewaltmenschen von je her ausgetilgt hat, werden sie auch zukünftig "nicht länger" (,w in Negation Ps. 10,18) ihr Unwesen treiben können. Beide Stichworte werden in Hi. 24,20 in Kombination eingesetzt, um das baldige Vergehen der Frevler zu untermauern. Nun wird bisweilen unterstellt, das Hiobbuch bewege sich ob seiner Zurückhaltung gegenüber einerseits "heilsgeschichtlichen" und andererseits "eschatologischen" Kategorien am Rande des gesellschaftlichen Diskurses der nachexilischen Zeit. 89 Gewiss liegt hier eine Konzeption "sui generis,,90 vor, doch bewegt sie sich damit - wie das obige Beispiel zeigtnicht in einem um sich selbst kreisenden, abseitigen Raum. So wenig man 88 Der Beleg in V. 6 fallt aus dem hier zur Debatte stehenden Kontext heraus, da der "Frevler" hier nicht als Subjekt des Geschehens bezeichnet wird. 89 V gl. die Kritik gegen diese Sicht bei R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 561 f. 90 M. KÖHLMOOS, Auge, 5 f.

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ungefiltert "eschatologische" Denkbewegungen z. B. auch in die Psalmen eintragen kann - weil es sich hier im Unterschied zur prophetischen Redeweise um eine generalisierende handelt - so wenig sollte man sie an Ort und Stelle vermissen. Ps. 9/10 und Ri.24 sind nicht "eschatologisch" ausgerichtet; trotzdem verharren sie nicht einfach im Gegenwärtigen. Denn in bei den Fällen richten sich die Hoffnungen "auf ein ,Danach', auf eine Zeit, die im einen oder andern Sinne anders sein wird als die jetzige".91 Auch folgt Ps. 9 / 10 keiner "heilsgeschichtlichen" Konzeption, es sei denn in einer stark auf den Einzelnen abgewandelten Form. Charakteristisch hierfür ist auch die in Ps. 9,6 f. zutage tretende mythische Redeweise, die es geradezu verbietet, Geschichte als etwas einseitig Vergangenes zu verstehen. Der zu Ri.24,18aa-24 konzeptionell parallel laufende Abschnitt 26,5-14 fügt sich in dieses Raster, insofern hier von Gottes urzeitlichem Schöpfungshandeln gesprochen wird. Vor seinem "Schelten" ('"' Ri. 26,11 vgl. Ps. 9,6) müssen die Feinde lHWRs, der von seinem "Thron" (MO Ri. 26,9 vgl. Ps. 9,5.8) aus agiert, zurückweichen. So bewegt sich das Hiobbuch zwar in einem "kritischen,,92 Diskurs im Konzert nachexilisch theologischer Konzeptionen, doch keineswegs in einem sich einseitig abgrenzenden. 93 9.4.2 Provo 1,10-19; 31,I0-31 Zu den Textbereichen, die nach verbreiteter Auffassung ebenfalls in die (fortgeschrittene) Perserzeit zu datieren sind, gehört der literarische Rahmen des Proverbienbuches Provo 1-9; 31,10-31 94 Er hebt sich vom Innenteil Provo 10-29, der im Wesentlichen aus Einzelsprüchen besteht, durch R. RENDTORFF, Theologie 11, 256 M. KÖHLMOOS, a. a. 0., 365. 93 R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 561, rechnet aufgrund seines Modells des religionsinternen Pluralismus die "theologisierte Weisheit", wie sie u. a. im Hiobbuch ihren Ausdruck findet, "dem Stratum der persönlichen Frömmigkeit zu." Deren Träger seien mit denen der offiziellen Theologie identisch, womit das Hiobbuch aus seiner Isolation befreit sei. Stellt man allerdings in Rechnung, dass sich im Hiobbuch auch kritische Töne in Richtung dtn. / dtr. Theologie ausmachen lassen (vgl. M. KÖHLMOOS, Auge, 364), so bleibt zumindest unverständlich, weshalb dieselben Träger - einmal in ihrer offiziellen, einmal in ihrer privaten Rolle - unterschiedliche theologische Standpunkte vertreten sollten. Die Diskursfähigkeit der Dialoge erklärt sich leichter, wenn von vornherein Abstand davon genommen wird, bestimmte heilsgeschichtliche oder eschatolgische Modelle ausfindig zu machen oder für tot erklären zu wollen (eine Aporie, in der sich auch R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 568, sieht). 94 O. PLÖGER, Kommentar, 112-115, verzichtet auf eine absolute Datierung. Um 400 v. Chr. setzt A.11EIN"HOLD, Kommentar, 45, Provo 1-9 an. Die Position von CH. KAYATZ, Studien, Proverbien 1-9 aufgrund ägyptischer Vergleichsmaterialien in die vorexilische Zeit zu datieren, finden in der jüngeren Forschung keine Nachfolger (G. BAUMANN, Weisheitsgestalt, 272, plädiert ebenfalls für das 5./4. Th.; CHR.11AIER, "fremde Frau", 91

92

267,4.

Jh.l.

192

Teil 11: Ps. 9/10 im konzeptionellen Diskurs

seme ausgestalteten Weisheitsgedichte und Lehrreden ab. 95 Gleich die erste Lehrrede (Prov. 1,(8 f.)10-19) befasst sich mit der auch in Ps. 9/10 enthaltenen Problematik der Frevler, welche das Gemeinwesen zu zerstören beabsichtigen. Auch aufgrund der Tatsache, dass Ps. 9 / 10 im entsprechenden Abschnitt 10,2-11 als durchgestaltete Reflexion über die Gewalttaten und Einstellungen der Frevler erscheint und damit weisheitliehe Gattungsmerkmale aufninunt, bietet sich ein näherer Vergleich mit Provo 1,10-19 an. Dem Motiv der frevlerischen Männer begegnet man allerdings über Provo 1,10-19 hinaus noch an einer Reihe weiterer Stellen innerhalb von Provo 1-9, und zwar in 2,12-15.21 f.; 3,29-32; 4,14-19; 5,21-23; 6,12-15. Dabei werden im Kontext ganz unterschiedliche Personenbezeichnungen angewendet, z. B. "Böse(r)" (C'P' 2,12; 4,14b), "Frev1er" (C'PIli, 2,21a; 4,14a.19; 5,22), "Betrüger" (C"l1:1 2,21b) und "Gewa1tmensch" (o~n Ili'~ 3,31). Da sie auf dieser Ebene wechselseitig austauschbar erscheinen, hindert auch die einseitige Wahl des Begriffs "Übertreter" (c'~tln) in 1,10 nichts an einer Gegenüberstellung mit Ps. 9/10, in dem dieses Wort bekanntlich nicht vorkommt. 96 Als das "weib1iche Pendant,,97 zu den Frevlern fungiert in Prov.I-9 die "fremde Frau" (2,16-19; 5,3-14.20; 6,24-35; 7,527;), die wie "Frau Torheit" in Provo 9,13-18 die Menschen verfuhrt und deshalb mit dem Bereich des Todes assoziiert wird. 98 Eine Konzentration der Betrachtung auf Provo 1,10-19 erfahrt ihre Begründung durch die formal-inhaltliche Nähe zu Ps. 10,2-1l. Dem Abschnitt Provo 1,10-19 ist eine Einleitung vorangestellt (V. 8 f.), die mit der Anrede "mein Sohn" ('l:l) eröffnet wird. Während dort die Eltern als Träger der Unterweisung erscheinen, werden sie in V. 10 ff. von dem "Weisheitslehrer,,99 abgelöst, der den Leser ebenfalls mit ~~~ anredet.

95 Inwiefern es sich hierbei um eine wohl geordnete Komposition handelt, die auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Während A. MEIN"HOLD, Kommentar, 43-47 einen konsequent durchdachten Aufbau nachzuweisen versucht (vgl. das Schaubild, 46), weist G. BAUMANN, Weisheitsgestalt, 257, darauf hin, dass diese Interpretation inkonsequent sei. Dies hängt insbesondere mit der These 11EINHOLDS zusammen, das "Lehrprogramm" in 2,1-22 enthalte bereits in analoger Reihenfolge zu den folgenden Lehrreden in Kap. 3-7 die vier zentralen Themen der Komposition. Wie G. BAUMANN, ebd., zu Recht bemerkt, passt z. B. der Abschnitt "Warnung vor der Art der frevlerischen Männer" (2,12-15) nur punktuell zu den von 11EINHOLD parallel bestimmten Lehrreden in 4,10-19.20-27. 96 A. MEINHOLD wählt als übergeordnete Bezeichnung für die in Provo 1-9 beschriebenen Antitypen den in 3,31 vorkommenden Ausdruck "Gewaltmensch" (DERS., Gewaltmensch, passim). 97 A. MEINHOLD, a. a. 0., 84. 98 Vgl. CHR.11AIER, "fremde Frau", 82 f., sowie bei den entsprechenden Textuntersuchungen. 99 O. PLÖGER, Kommentar, 13.

9. Kapitel: Ps. 9/10 und tangentiale Ent.vürfe

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Aus diesem Grund und weil lediglich in 1,10-19 von den Gewaltmenschen die Rede ist, betrachte ich den genannten Teil separat. IOO Nach einer ersten negativ formulierten Mahnung vor den "Übertretern" (c'~tln V. 10), folgt in V. 11-14 ein fingiertes Zitat!O!, welches die unlauteren Absichten dieser Leute entlarven soll. "Komm mit uns, wir wollen auf Blut (1:::1.,,) lauern (~'K), dem Unschuldigen ("Pol') nachstellen Ps. 9,5.8; 11,4; die Rede vom "Aufstehen" C11' JHWHs Ps. 9,20; 10,12; 12,6; das für Ps. 9/10 bedeutsame Wort "Vergessen" rI:>lli Ps. 9,12.19; 10,11; 13,2; ferner das Zitat der Frevler "Da ist kein Gott" c';r,~ r~ Ps. 10,4; 14,1). Es ist das Verdienst von F.-L. Hossfeld / E. Zenger, eine große Anzahl weiterer Stichwortverbindungen zwischen Ps. 9/10 und seinen Nachbartexten herausgearbeitet zu haben. 2 Im Zusammenhang ihrer Analysen des P. AUFFRET, Quatre Psaumes, 127. Vgl. F.-L. HOSSFELD IE. ZENGER, Selig, 46 f.; DIEs., Kommentar, 1993, 82 f. Hierzu hat CHR. BARTH, Contacenatio, grundlegende Beobachtungen beigesteuert. I

2

220

Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

1. Davidpsalters kristallisiert sich Ps. 9/ 10 gemeinsam mit Ps. 8 als das Zentrum einer ersten Teilgruppe heraus, die von Ps. 3 bis Ps. 14 reicht. Ps. 9/10 sei sogar eigens für den Zusammenhang, in dem er jetzt steht, abgefasst worden. M. a. W.: Ps. 9/10 habe als eigenständiger Text zuvor gar nicht existiert. In dieser Hinsicht gehöre Ps. 9/ 10 zu jener Kategorie später Psalmen, die - zu einem Zeitpunkt, zu dem die Psalterkomposition schon weit fortgeschritten war - von vornherein für einen größeren Zusammenhang geschrieben worden seien. Die Schwäche der These von F.-L. Hossfeld / E. Zenger besteht aus meiner Sicht jedoch darin, dass sie sie hauptsächlich anhand der Stichwortverbindungen und weniger mithilfe der Konzeption von Ps. 9/ 10 selbst zu untermauern suchen. Auf diese Fragen werde ich weiter unten genauer eingehen. Nach Hossfeld / Zenger hat die Gruppe Ps. 3-14 eine Vorgeschichte ohne Ps. 9/ 10 gehabt, in der lediglich Ps. 8 das ältere Zentrum gebildet habe. Sowohl Ps. 3-7 als auch Ps. 11-14 seien "auf Ps 8 hin geordnet und von ihm her zu lesen.,,3 Jedoch ist auch diese Vermutung nicht unbedingt gesichert, denn: Von den Stichwortverbindungen aus betrachtet ist gerade Ps. 8 "relativ wenig mit dem Kontext verbunden,,4, wenn auch nicht gänzlich davon abgesetzt. Mithilfe der von Hossfeld / Zenger angeführten Belege kann man Ps. 8 zunächst plausibler als positives Gegenstück zu Ps. 3-7 bzw. als deren Zielpunkt lesen (Stichwort "Ehre" ":1::> Ps. 3,4; 4,3; 7,6; 8,6)5 Die Verbindungen von Ps. 8 zu Ps. 11-14 sind dagegen nicht so stark. Es stellt sich daher die Frage, ob Ps. 8 von Anfang an als Angelpunkt der Psalmengruppe 3-14 gedient haben kann oder ob dafür nicht ebenfalls Ps. 9/ 10 mit seinen auffallend vielen Bezugspunkten erforderlich gewesen ist. Darüber hinaus wäre hinsichtlich der Bezugspunkte der Teilgruppe Ps. 11-14 auch Ps. 15 in die Überlegungen einzubeziehen. Denn der Übergang von Ps. 14 zu 15 hat mindestens ebenso viel Gewicht wie ein eventueller Rückbezug zu Ps. 8. 6 Mit deutlicher Zurückhaltung gegenüber der Methode, über Stichworte nach Verbindungen zwischen den einzelnen Psalmen zu suchen, nimmt M. Millard eine Positionsbestimmung von Ps. 9/ 10 vor. "Obwohl - oder besser gesagt: gerade weil - sich die Beobachtungen von Stichwortver-

3 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZEN GER, Selig, 46. Auch M. LEUENBERGER, Konzeptionen, 96, Anm. 94, schließt sich der These an, Ps. 9/10 sei erst nachträglich in die bestehende Gruppe Ps. 3-14 eingeschrieben worden. 4 M. 1vfILLARD, Komposition, 132. 5 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZEN GER, Selig, 40. Vgl. auch J. P. BRENNAN, Psalms 1-8, der Ps.8 als Zielpunkt einer Psalmengruppe bestehend aus Ps. 1-8 liest (auch wenn Ps. 8 seiner Ansicht nach erst später zwischen Ps. 7 und 9-10 eingestellt wurde, vgl. DERS., a. a. 0.,28). 6 Vgl. F. CRÜSEMANN, Gottes Ort, 39.

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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bindungen nahezu durchgängig im Psalter finden,,7, ist Millard an diesem Punkt besonders skeptisch. Sein heuristischer Ansatz liegt in der Übertragbarkeit der formalen Eigenheiten von Einzelpsalmen auf Psalmengruppen. Auf Ps. 9/10 angewendet bedeutet dies, dass der Doppelpsalm am Ende eines "Kompositionsbogens"S aus Klagepsalmen als Dankliedhöhepunkt fungiert - analog dem sog. Stimmungsumschwung in den Klagepsalmen des Einzelnen. In diesem Zusammenhang erhält für Millard Ps. 8 die Funktion eine Orakels,9 um den Weg von der Klage (Ps. 3-7) zum Lob (Ps. 9) hin zu vermitteln. Der überschriftslose Ps. 10 10 sei als Trenner zwischen dem ersten (Ps. 1-9) und dem zweiten Kompositionsbogen (Ps. 11-31) platziert. Die neuerliche Dominanz der Klage in Ps. 10 deutet Millard dabei als "retardierendes Moment mit Überleitungsfunktion,dl zum folgenden Kompositionsbogen. Nun bezieht auch Millard inhaltliche Kriterien ein, er richtet dabei allerdings das Augenmerk auf besonders markante Textsignale. So stehe das Stichwort "Warum" ;r~, in Ps. 10,1 in deutlicher Korrespondenz zur einleitenden Warumfrage in Ps. 2,1. 12 Damit habe das Zwillingspaar Ps. 1 f. "neben den großkontextuellen Funktionen für den Psalter auch eine kleinkontextuelle Funktion als Einleitung der ersten Kompositionseinheit."l3 Diese bestehe folgerichtig aus den Psalmen 1_10 14 Dass Millard angesichts der Traditionsgebundenheit vieler Stichworte im Psalter nur diejenigen von ihnen kompositionskritisch auswerteten will, die im Kontext eine besondere Funktion übernehmen, ist positiv aufzunehmen. Nur müssen dafür m. E. noch bessere Kriterien erhoben werden. Von seinem dezidiert formgeschichtlichen Ansatz her spielen für Millard die auffällig engen Verbindungen zwischen Ps. 9 / 10 und Ps. 11-14 nur eine untergeordnete Rolle. Komposition, 26. sind nach M.1vfILLARD "makrofonngeschichtlich bestimmte Einheiten, die die durch Überschriften ausgewiesenen Psalmgruppen unterteilen oder zusammenfassen" (DERS., a. a. 0., 89). 9 M. 1vfILLARD leitet dieses Prinzip von seiner Analyse der Wallfahrtspsalmengruppen her, in denen jeweils ein Orakelpsalm oder Orakelelement den Übergang zwischen Klage- und Hymnenteil markiere (vgl. DERS., a. a. 0., 88; 141 ff.). 1vfILLARD, a. a. 0., 143 benennt nun Ps. 8,2b als Orakelmotiv, indem er mn aus dem Aramäischen ("erzählen") ableitet. An dieser Stelle übernehme "die Erde die Aufgabe, von Gott zu reden." Auch wenn sein Übersetzungsvorschlag plausibel klingt, steht damit das fonngeschichtliche Argument doch auf relativ schwachen Füßen. Ein deutliches Orakelelement findet sich erst in Ps. 12,6. 10 Ps. 9 und 10 sind für M.1vfILLARD (a. a. 0., 10 f.) literarisch zu unterscheidende Texte. 11 M. MILLARD, a. a. 0., 163. 7 M. 1vfILLARD,

8 Kompositionsbögen

12 M. MILLARD, a. a. 0., 134. 13

14

Ebd. Hier besteht also eine gewisse Analogie zum Ansatz von J. P. BRENNAN, a. a. O.

222

Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

Betrachtet man die bis hierher referierten Ansätze zur Verortung von Ps. 9 / 10 in eine bestimmte Psalmengruppe am Anfang des ersten Psalmbuches / des ersten Davidpsalters, so findet man sich in einer gewissen Aporie wieder: Orientiert man sich allein an den Stichworten, gerät man in einen nicht enden wollenden Strudel von Beobachtungen und Verbindungslinien. I5 Eine - auch theologisch relevante - Gewichtung wird dadurch immer problematischer. Bleibt man jedoch bei den formalen Aspekten stehen, kommt man ebenfalls nicht zu annehmbaren Ergebnissen, zumal der Analogieschluss von den Einzelpsalmen auf Psalmengruppen mögliche diachrone Entstehungsvorgänge ausklammert, wenn auch in methodisch bester Absicht. 16 Es ist also davon auszugehen, dass sich im Umfeld von Ps. 9 / 10 mehrere Strukturen überlagern bzw. miteinander konkurrieren. Möglicherweise wird man daher der Verortung von Ps. 9 / 10 besser gerecht, wenn man ihn als Teil von verschiedenen "Bauplänen" zu verstehen sucht. 17 Dabei drängt sich natürlich auch die diachrone Fragestellung unvermeidlich in den Vordergrund. Doch sie lässt sich -anders als z. B. in den Prophetenkorpora - ungleich schwerer bearbeiten. Denn die Psalmen sind durchgehend als Einzeltexte konzipiert, wodurch die redaktionellen Nahtstellen so gut wie nicht zu erkennen sind; vom Problem einer einigermaßen gesicherten Datierung der Texte ganz zu schweigen. Es gilt also auszuwählen und zu gewichten, wobei die formalen wie die inhaltlichen Kriterien Hand in Hand gehen und von verschiedenen Schwerpunkten her in den Blick genommen werden müssen.

15 Vgl. das Schema von P. AUFFRET, Quatre Psaumes, 121, bei dem von jeder Strophe aus Ps. 7 zu ausnahmslos jeder Strophe aus Ps. 9/10 eine Verbindungslinie bestehe. Auch G. BARBIERO, Psalmbuch, nennt eine kaum zu übersehende Fülle von Stichwortverbindungen, die in tabellarischer Form aufgeführt werden. Im Folgenden werden wird davon abgesehen, die Belege im Einzelnen erneut in dieser ausführlichen Weise zu besprechen. 16 Gerade im Bereich des 1. Davidpsalters kann M. Mn..LARD sein Prinzip der Kompositionsbögen nicht konsequent durchhalten. Da er Ps. 11-31 als einen größeren Chiasmus auffasst (,der damit einen grundsätzlich anderen Charakter als Ps. 1-10 aufweise') sei auch die Einheit Ps. 32-41 nicht genau zu bestimmen (vgl. M.1vfILLARD, Komposition, 168, Anm. 1 und 2. Nachträglich hat sich 1vfILLARD an dieser Stelle korrigiert und den von HOSSFELD 1 ZEN GER herausgearbeiteten Kompositionsbogen Ps. 25-34 für "sehr überzeugend" (DERS., Anmerkungen, 325) erklärt. 17 Vgl. die methodischen Überlegungen bei R. KESSLER, Kommentar, 38 f., hinsichtlich des Aufbaus der Michaschrift.

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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12.2 Die Psalmengruppe Ps. 3-14 Ich gehe von der Arbeitshypothese aus, dass die primären Bezugstexte von Ps. 9/10 im Bereich der Psalmengruppe Ps. 3-14 zu finden sind. Dies ergibt sich aus den in der bisherigen Forschung getätigten Beobachtungen. 18 Da diese - wie in Kap. 10.1 gesehen - nur schwer auf einen Nenner zu bringen sind, verbindet sich die hier vorgenommene Kontextabgrenzung (noch) nicht mit redaktions- / kompositionsgeschichtlichen Hypothesen. Es sollen zunächst möglichst viele Gesichtspunkte gesammelt und ausgewertet werden, bevor daraus entsprechende diachrone Schlüsse gezogen werden. Auf der Endtextebene weisen die Überschriften die Psalmen 3-14 als eröffnende Teilgruppe des ersten Davidpsalters (ps. 3-41) aus: Gemeinsam ist ihnen die Zuweisung an den Psalmsänger David (",,) sowie (mit Ausnahme der midraschartigen Überschriften von Ps. 3 und 7) der Zusatz n~m" der wahrscheinlich eine Angabe zur Vortrags art beinhaltet. Letzter kommt ab Ps. 15 vorerst nicht mehr vor, bis er sich schließlich in Ps. 18,1 wieder findet. 19 Gemeinsam stellt die überwiegende Mehrzahl der Texte innerhalb der Gruppe Ps. 3-14 Psalmen des Einzelnen dar. In der ersten Untergruppe Ps. 3-7 liegen Gebete von Angeklagten, Verfolgten und Kranken vor 20 Ihre Fortsetzung finden sie in Ps. 11 und 13. Ps. 8 ist ein Hymnus des Einzelnen 2 ! Ps. 12 und 14 fallen aus der Kategorie der Psalmen des Einzelnen stärker heraus, da ein sprechendes Ich nicht vorkommt. Sie sind stark von prophetischen und weisheitlichen Einflüssen bestimmt und daher eher als Texte von Gruppen anzusehen. Im Übrigen zeichnen sie sich im Gegensatz zu den an sie angrenzenden Bittgebeten des Einzelnen dadurch aus, dass sie Gottesworte in Fonn von wörtlicher Rede enthalten. 22 Diese 18 Der Kompositionsbogen bestehend aus Ps. 3-14 beginnt sich gegenwärtig in der Forschung zu etablieren. Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 34 ff.; G. BARBIERO, Psalmbuch, 63 ff.; M. LEUENBERGER, Konzeptionen, 96 f. Aus meiner Sicht sollte man dabei jedoch nicht zu schnell die Konvergenzen zwischen diesen Psalmengruppen aus dem Auge verlieren (s. dazu weiter unten). 19 Ferner Ps. 19-22; 31; 36; 39-41. 20 Vgl. zum Problem der Frage nach der "eigentlichen" Not F. CRÜSEMANN, Im Netz. 21 Vgl. F. CRÜSEMANN, Studien, 285 ff., der aufzeigt, dass für den Hymnus eines Einzelnen (im Gegensatz zum imperativischen Hymnus) keine einheitliche Grundform nachzuweisen ist. 22 Vgl. K. KOENEN, Gottesworte, passim. Die Gattungsbestimmung von Ps. 12 und 14 ist mit besonderen Problemen belastest. J. JEREMIAS, Kultprophetie, 110-117, bestimmt sie in Analogie zu Hab. 1 als kultprophetische Klageliturgien. Seine These wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Aufgrund der weisheitlichen Einflüsse in beiden Texten erheben sich Zweifel an einer primär prophetischen Deutung (vgl. E. ZEN GER, Kommentar 2000, 80). Insofern ließen sich beide Psalmen auch im Rahmen von

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

Ambivalenz zwischen einem individuellen und kollektiven Verständnis liegt ebenfalls in Ps. 9/10 vor. Die Psalmen gruppe Ps. 3-14 ist von den Textsorten her betrachtet also keineswegs einheitlich. Die Ps. 9 / 10 voranstehende Gruppe Ps. 3-7 besteht ausnahmslos aus Psalmen des Einzelnen und kann daher als Cluste,J3 bezeichnet werden. Dagegen macht Ps. 9 / 10 im Verbund mit den nachstehenden Texten Ps. 11-14 diesbezüglich einen heterogenen Eindruck. Hier wechselt die Gattung von Psalm zu Psalm, wobei sich Ps. 12 und 14 diesbezüglich einander entsprechen. Wir werden diese Differenz zwischen den an Ps. 9/ 10 angrenzenden Textgruppen für die weitere Diskussion im Auge behalten müssen. Da sich vom Doppelpsalm aus in beide Richtungen nennenswerte Beziehungen ausmachen lassen, müssen sie unterschiedlich gewichtet und in ihrer Funktion bestinunt werden.

12.3 Das Profil von Ps. 9 / 10 im literarischen Kontext Die im ersten Hauptteil eruierten Perspektiven (Kap. 3), semantischen Konstellationen (Kap. 4) und Funktionen (Kap. 5) leisten einen unverziehtbaren Dienst, um die unterschiedlichen Beziehungsmäglichkeiten von Ps. 9/10 zu seinem Kontext zu erhellen und zu differenzieren. Wir greifen dabei in modifizierter Fonn den Ansatz von M. Millard, über die Beschreibun~ der Einzelpsalmen einen Weg zu den Psalmkompositionen zu finden, auf. Allerdings sollen dabei nicht nur die eher formalen Aspekte (wie z.B. die Sprecherperspektive oder das Verhältnis Klage - Lob /Dank)25, sondern ebenfalls die inhaltlichen Konzeptionen (Personen-konstellation) zum Tragen kommen. So lassen sich die von F.-L. Hossfeld / E. Zenger aufgezeigten Stichwortverbindungen in ihrer Relevanz kritisch würdigen.

"Schulgottesdiensten" (F. STOLZ, Psalmen, 29) verstehen. Dass damit eine Lokalisierung am Jerusalemer Heiligtum von Fall zu Fall nicht auszuschließen ist, ergibt sich schon aus dem recht kleinen Siedlungsgebiet der Provinz Jehud in nachexilischer Zeit (vgl. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte, 557). Im Rahmen der kompositions- und redaktionsgeschichtlichen Fragestellung ist die exakte Bestimmung des Sitzes im Leben einzelner Psalmen allerdings von untergeordneter Bedeutung. Daher muss an dieser Stelle diesbezüglich auch keine abschließende Antwort gefunden werden. 23 Vgl. M.1vfILLARD, Komposition, 51 in Anlehnung an A. AEJMELAEUS, Prayer, 5053. 24 Vgl. M.1vfILLARD, a. a. 0.,47-62. 25 Vgl. bei M. 1vfILLARD, a. a. 0., in Kap. 3.1. bzw. 3.2. mit den Kap. 4.1. und 4.2. in der vorliegenden Arbeit.

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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12.3.1 Die Personen- und Gruppenkonstellationen Im Zusammenhang ihrer Untersuchung zu Ps. 9/10 im Rahmen der ersten Teilgruppe des ersten Davidpsalters streichen F.-L. Hossfeld / E. Zenger die hohe Bedeutung der unterschiedlichen Personenbezeichnungen für das Gesamtverständnis der Psalmengruppe heraus. Nach ihrer exegetischen Deutung erschließen sich von Ps. 9/ 10 aus betrachtet die benachbarten Psalmen als Gebete der "Armen" (C"l~) bzw. des "armen Volkes Israel,,26 Nun sind für diese Lesart zwei Argumentationslinien von Bedeutung, die gesondert betrachtet werden müssen: l.) Die sog. "Armen", als deren Leitwort in Ps. 9 / 10 'l~ ("der Erniedrigte") fungiert, kommen auch in Ps. 12,6 und 14,6 vor. Insofern ergeben sich zwangsläufig die primären assoziativen Verbindungslinien zum Folgekontext. Dass Ps. 9 / 10 dazu auch die vorauslaufenden Psalmen in der von F.-L. Hossfeld / E. Zenger abgegrenzten Gruppe Ps. 3-14 als Gebete der "Armen" erschließe, wird 2.) damit begründet, dass der Text gezielt auf den Kontext hin formuliert sei 27 Dies wiederum sei an dem hohen Vorkommen von Stichwortverknüpfungen überhaupt abzulesen. 28 Dieses zweite Argument ist allerdings durch den Zirkelschluss bedingt nur eingeschränkt tragfähig. In dem traditionsgeschichtlich orientierten Arbeitsgang in Kap. 6.2 wurde festgestellt, dass die Einführung der Personenbezeichnung 'Wals Resultat eines Sprechrichtungswechsels anzusehen ist. Wo die Betroffenen selbst zu Wort kommen (Ps. 9,2-7.14 f.), bezeichnen sie sich nicht mit diesem Begriff. Dafür werden sie aber auf einer davon zu unterscheidenden Textebene in einer verallgemeinernden Form als C~~~li charakterisiert (z. B. 9,13). Von daher deutet Ps. 9/10 tatsächlich ältere Psalmen, in denen die von Feinden Verfolgten ihre Not beklagen (z. B. Ps. 59; 61), als Gebete von "Erniedrigten". Ps. 9/10 muss deswegen jedoch nicht sogleich sämtliche Psalmen, in denen ein Beter seine Klage erhebt, als Hilferuf eines "Armen" / "Erniedrigten" interpretieren. Denn trotz der Übertragbarkeit der im Text angesprochenen Notsituationen sind die Armentermini in Ps. 9/ 10 an ein spezifisches sozioreligiäses Milieu gebunden: Sie betonen die vollkommene Passivität und Hilflosigkeit der Opfer, deren einzige Rettungsmäglichkeit darin besteht, dass lHWH selbst eingreift. Von einer ethischen Perspektive, die auch im Zusammenhang einer Notsituation den Handlungsspielraum des Beters einbezieht, ist - wie wir schon mehrfach betont haben - in dem Text dagegen nichts zu spüren. Wollte man nun annehmen, dass Ps. 9 / 10 im Blick auf den gesamten Textbereich Ps. 3-14 eigens formuliert sei, so müsste man erwarten, dass

27

F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 1993, 83. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 49.

28

DIES., a. a. 0.,48 f.

26

226

Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

der V erfasser(kreis) eine breitere Palette von Gebetssituationen aufgreift und dafür entsprechende Personenbezeichnungen kombiniert. Angesichts der Tatsache, dass z. B. Ps. 7,10 die Oppositionsbegriffe I"'~ ("Gerechter") und ~Ili' ("Frevler") enthält (und damit die Integrität des Beters selbst auf dem Spiel steht), kann man schlechterdings nicht davon ausgehen, dass Ps. 9/10 als Interpretationsschlüssel speziell auf diesen Text hin formuliert worden ist. Dasselbe gilt für die Beziehungen zwischen Ps. 9 / 10 und dem folgenden Text Ps. 11. Auch dort geht es um die Frevler-GerechteProblematik, womit eine gegenüber Ps. 9/ 10 grundsätzlich andere mentalitäts- und sozialgeschichtliche Konzeption berührt ist. Wie an Ps. 34 - einem weiteren ähnlich aufgebauten Alphabetakrostichon - zu erkennen ist (vgl. 9.2.1), lassen sich aber ohne weiteres C"l~ (34,3.7) und C'I"'~ (34,16.20.22) auch als synonyme Gruppenbezeichnung konstruieren. Gerade dies ist in Ps. 9/ 10 nicht der Fall. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass Ps. 9/10 im Rahmen der Psalmengruppe Ps. 3-14 eine besondere henneneutische Funktion übeminunt - gerade darum geht es ja hier -, doch scheidet eine einseitige Betonung der annentheologischen Kategorie aus. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die personalen Gräßen ist ferner auf die Ps. 7 und 9/ 10 verbindende Völkerperspektive aufmerksam gemacht worden. 29 Richtig ist, dass wir es in bei den Texten mit einer Konzeption des universalen Välkergerichts zu tun haben, allerdings liegen sie jeweils auf ganz unterschiedlichen Ebenen. In Ps. 7,8-10 geht es darum, dass der Beter JHWH dazu auffordert, alle "Völker" (c'~~, V. 8, C~~li V.9) zu versammeln, um an ihnen ein Scheidungsgericht durchzuführen. JHWH soll "prüfen" (111:1), wer gerecht und wer böse ist, um letztlich nur den Gerechten bestehen zu lassen. Vollkommen anders liegen die Dinge jedoch in Ps. 9/10: Wo hier ebenfalls mit den Vokabeln C'~~' (9,9) bzw. C'~~ (9,12) von Völkern die Rede ist, erscheinen sie ausnahmslos in einem positiven Licht. Sie werden zum Loben aufgerufen darüber, dass 1lI\VH ihnen allen einen geordneten Lebensraum garantiert. Wer dagegen zu den Frevlern zu zählen ist, steht von vornherein fest, nämlich einzelne "Heiden" (C~iJ), die die Armen terrorisieren. 3D Hier muss nicht erst "geprüft" werden, wer auf der falschen Seite steht; und daher kommt auch die Vokabel 111:1 in Ps. 9 / 10 nicht vor - sie würde konzeptionell auf eine falsche Spur fuhren. Da Ps. 9/ 10 anders als alle Texte im Bereich der Gruppe von Davidpsalmen Ps. 3-14 das Stichwort C'1l ("Heiden") liefert, ist auf dessen 29 Vg l. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 121, Anm. 55; F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Selig, 49, die in diesem Zusammenhang von einer besonders engen Beziehung sprechen. G. BARBIERO, Psalmbuch, 100. 30 Diese Begrifflichkeit findet sich dementsprechend auch nicht in Ps. 7.

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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nächstliegende Verbindung zum Buchprolog aufmerksam gemacht worden (vgl. Ps. 2,1.8)31 Mit dieser Stichwortverbindung werden erneut jeweils ganz unterschiedliche Konzeptionen in Beziehung gebracht. Während in Ps. 2,1 C'1l und C'~~' synonym gebraucht werden, sind das in Ps. 9/ 10 C'1l und c'~Ili' sowie C'~~' und C'~~ (9,9.12). Im Übrigen sind in Ps. 2 im Gegensatz zu Ps. 9/10 mit C~iJ wiederum Kollektive gemeint, die hier von Königen (Ps. 2,2) angeführt werden. Daher können die angeführten Beobachtungen am besten so interpretiert werden, dass sich Ps. 2; 7 und 9 / 10 hinsichtlich der Völkerperspektive wechselseitig beleuchten sollen. 32 Unangemessen wäre es dagegen anzunehmen, Ps. 9 / 10 gebe eine Auslegungsnorm für Ps. 2 oder Ps. 7 ab oder führe nachträglich deren Völkerperspektive auf eine andere (möglicherweise höhere) Ebene. Wollte man dieses Wechselverhältnis genauer bestimmen, so bietet sich als Kontrollinstanz noch einmal die Hiobdichtung (s. Kap. 10.1.2.) an. Weder beinhaltet eine Position zur jeweils anderen einen Widerspruch, noch handelt es sich diesbezüglich um eine bestimmte gedankliche Weiterführung. Da beide Personenkonstellationen auch nicht einfach identisch sind, kann man am besten von einer "Polyphonie" gleichwertig nebeneinander stehender Konzeptionen sprechen. Die so erzeugte "Multiperspektivität" (B. Janowski) auf einander verwandte theologische Denkausrichtungen dürfte ihr Vorbild in der den einzelnen Psalmen von Hause aus innewohnenden Stereometrie haben. 33 Gleichwohl ist die Frage berechtigt, ob nicht an bestimmten Stellen integrative Tendenzen zu erkennen sind, die gewissermaßen "überkonzeptionell" zum Tragen kommen. Möglicherweise liegt das verbindende Element der Einzelpsalmen untereinander ja gar nicht im Bereich einer speziellen Personenkonstellation. In diesem Zusammenhang feillt besonders auf, dass in Ps. 14,5 f. zum ersten und einzigen Mal (!) im Bereich der Gruppe Ps. 3-141"'~ und 'l~ im Parallelismus Membrorum stehen. "Da erschrecken sie [sc. die Übeltäter] sich gewaltig, denn Gott ist mit dem Geschlecht des Gerechten ~.,".,~). An der Devise des Erniedrigten (".lll) werdet ihr scheitern: Ja, JHWH ist seine Zuflucht. " (Ps. 14,5j)

Die JHWH bereits tiv des

Situation des ~~17 wird also gerade dadurch charakterisiert, dass einen Schutz für ihn darstellt - eine Theolegumenon, welches wir aus Ps. 9,10 f. und ihm verwandten Textstellen kennen 34 Das Mo"Bergungsortes" (;roM), verkörpert durch JHWH, korrespondiert

G. BARBIERO, Psalmbuch, 108.179. Ferner P. D. 1vfILLER, The Ruler, 175.177. In dieser Hinsicht bestätigen sich die Beobachtungen P. AUFFRETS, Quatre Psaumes, 127, Ps. 7 und Ps. 9/10 seien um Ps. 8 als dessen Zentrum gruppiert. 33 Vgl. B. JANOWSKI, Biblia, 132-137. 34 Vgl. Kap. 6.2.2. 31

32

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nun mit dem des sich bei JHWH "bergenden" (;ron) Beters. Und dieses Profil beschränkt sich keineswegs auf den als ~~li bezeichneten, sondern ebenfalls auf den I"'~ aus Ps. 7,2 und 11,1. Ps. 14,5 f. stellt daher einen integrativen Rückbezug auf die vorhergehenden Psalmen bereit. 35 K. Seybold hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass - angefangen bei Ps. 2,12b - die gesamte Reihe der ersten Davidpsalmen vom Motiv des "Vertrauens" zu JH\VH bestinunt ist. 36 Hierbei spielen die weiteren Synonymbegriffe zu ;ron eine bedeutende Rolle (wie z. B. ntl:t in 4,6.(9); 9,11 und 13,6)37 Exemplarisch signalisieren Ps.2,12b und 5,12 über den Zusatz ,::> ("alle"), der hier mit dem Motiv des Vertrauens verbunden wird, die integrative Dimension dieses Frömmigkeitsaspekts: Sich zu JH\VH zu halten, auf ihn zu hoffen, soll als die die Beter verbindende Grundhaltung anzusehen sein. Ob Gerechte oder Arme - in der Ausrichtung auf den "Namen" (CIli) JHWHs (vgl. Ps. 5,12; 7,18; 8,2.10; 9,3) treten die Einzelkonturen dieser Gruppen in den Hintergrund. Die den Psalmen innewohnende "Verallgemeinerungstendenz,d8 wird durch das ,::> noch unterstrichen. Ps. 9/ 10 fügt sich in die durch Ps. 2,12b angestoßene Reihe nahtlos ein, ohne jedoch damit die umliegenden Psalmen einseitig als Gebete der Armen und Erniedrigten zu qualifizieren. 39

12.3.2 Die Redesituationen Hinsichtlich des Arrangements der Redesituationen enthält Ps. 9 / 10 ein besonderes Potential, individuelle Lebenserfahrungen zu verallgemeinern. Das Sprecher-Ich in 9,2-7 ist nicht einfach identisch mit dem in 9,14 f.; und darüber hinaus enthält der Text keine weiteren Redeteile in Ich-Form. Vorgestellt werden also ganz verschiedene Sprechsituationen von "Armen" (Lobpreis / Dank 9,2-7 und Klage 9,14 f.) sowie objektivierende Not35 Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 36, die jedoch den Rückbezug auf die Gruppe Ps. 11-14 einschränken und zudem der Ansicht sind: ,,14,6 macht aus Ps 14,1-5 einen ,Annenpsalm'" (ebd.). Die Pointe liegt aber gerade darin, dass durch die Parallelisierung in V.5 f. die Annen- und Gerechte-Konzeption, die in den voranstehenden Psalmen immer getrennt vorliegt, nunmehr zusammengeführt wird. V gl. dazu G. BARBIERO, Psalmbuch, 120, der darauf hinweist, dass bei einer Psalterlektüre beide Gruppen miteinander identifiziert werden. 36 K. SEYBOLD, Einführung, 107. 37 "Als Sachaussage ergibt sich" für den Spannungsbogen Ps. 3-14 daher mit M. LEUENBERGER, Konzeptionen, 97, "daß inmitten der verschiedenen Notlagen (Feinde, Völkerproblem, diverse Umechtsfonnen, Krankheit, Zorn Thwhs) das Vertrauen auf Jhwh gesetzt wird/werden soll ( ... )". 38 B. JANOWSKI, Biblia, 126. 39 Es gibt im Psalter keine Konstruktion 1:I".l1l ,~ ("alle Armen") oder dergleichen. ,~ wird hauptsächlich Partizipialwendungen vorangestellt, wie z. B. "alle, die auf dich hoffen" (Ps. 25,3) oder "alle, die geraden Herzens sind" (Ps. 32,11 u. ö.).

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schilderungen aus der Außenperspektive des Psalmisten (ps. 10). Wurde diese schon Ps. 9/10 selbst innewohnende "Polyphonie" in Kap.3.l. untersucht, so kann jetzt - und unabhängig von den damit verbundenen Personenbezeichnungen - abgetastet werden, welche Konsequenzen sich daraus für Ps. 9/ 10 in seinem literarischen Umfeld ergeben. In den meisten umliegenden Psalmen im Bereich der Gruppe / Reihe Ps. 3-14 ist die Sprechsituation konstant, und zwar durch die Form der Ich-Rede (Ps. 3; 4; 6; 7; 11; 13). Die Verallgemeinerungstendenz dieser Texte besteht daher nicht in wechselnden Sprechsituationen, sondern vornehmlich in der Ambivalenz der geschilderten Not 40 Ps.5 bildet diesbezüglich eine gewisse Ausnahme: Nachdem im ersten Teil des Psalms (V. 1-8) ein häufiger Ich-Bezug zu erkennen ist (V. 2-4), der mit der Kontrastaussage in V. 8 (eingeleitet durch 'l~1 "Ich aber") einen markanten Abschluss findet, ist dieser im zweiten Abschnitt nur noch zu Beginn zu finden (V. 9). Zwar ändert sich auch im Folgenden nichts an der Anredeform gegenüber JHWH, doch richtet der Beter seinen Blick nun deutlich von sich selbst weg; zunächst negativ in Form des Wunsches, Gott möge alle seine Feinde verstoßen (V. 10 f.), und schließlich positiv durch die Segensbitte für die JHWH-Fürchtigen (V. 12 f.). Ps. 8 enthält nun zwei unterschiedliche Redesituationen. Während der Innenteil des Textes als Hymnus eines Einzelnen gestaltet ist (V. 3-9), spricht in den Rahmenversen (V. 2.10) eine Wir-Gruppe das Lob des Schöpfergottes. Über den gesamten Psalm ist allerdings der Anredecharakter gegenüber JHWH beibehalten. In Ps. 11 ist besonders auffällig, dass zwar gleich zu Beginn (V. 1) ein Ich bekennt "Ich berge mich bei JHWH", doch im übrigen Text dieses Ich - vergleichbar mit Ps. 5 und besonders Ps. 9/ 10- vollkommen in den Hintergrund rückt. Stattdessen endet der Psalm in V. 7 wieder mit einem Ausblick auf die bereits in V. 2 genannten "Herzensgeraden" (:"-',Ili'). Insofern erhält die Einführung des Ich in Ps. 11,1 lediglich exemplarische Funktion: Der Beter versteht sich von Beginn an als Teil einer bestimmten Gruppe, bzw. die Gruppensituation wird an einem Einzelnen exemplarisch verdeutlicht 4 ! Ps. 12 und 14 sind in diesem Zusammenhang gesondert zu betrachten. Von den anderen Psalmen im Kontext unterscheiden sie sich nicht allein dadurch, dass sie grundsätzlich keine Psalmen des Einzelnen sind und daher überhaupt kein Sprecher-Ich enthalten. Sondern durch die Einschal-

40 Vgl.

F. CRÜSEMANN, Im Netz, passim. Diese Beobachtung fügt sich in bestimmter Weise mit der zusammen, nach der Ps. 11 nur im eingeschränkten Sinn als Gebet beschrieben werden kann. Denn der Psalm enthält an keiner Stelle eine direkte Anrede JHWHs (vgl. M. OEMIN"G, Kommentar, 95). 41

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tung der Gottesreden (Ps. 12,6; Ps. 14,1(?)423 f.) verarbeiten sie darüber hinaus ganz unterschiedliche Sprecherperspektiven. Auch dadurch stehen sie etwas quer zu ihren Nachbarpsalmen. Selbst innerhalb der vielfaltig wechselnden Sprechsituationen von Ps. 9/ 10 kommt eine derartige Redekategorie nicht vor. Im Übrigen finden sich sowohl Ps. 12 als auch Ps. 14 in der Kleingruppe, die Ps. 9/10 nachgelagert ist. Die sich in 12,6 und 14,1.3 f. findenden Orakelmotive stehen also in einem kompositorisch logischen Verhältnis zu den vorausgehenden Klagen in Ps. 13; 11 und sicherlich auch 9 /10 (Warum- (10,1) bzw. Wie-lange-Fragen (13,2 f.)). Diese Struktur kann man analog in anderen literarischen Zusammenhängen wieder entdecken. Die kompositorische Verbindung von Orakelpsalmen ("kultprophetischen Liturgien") mit (Volks-) Klagepsalmen lässt sich exemplarisch anhand der Asafpsalmensammlung (Ps. 73-83) studieren. Auch hier werden in der Regel im Anschluss an Klagen, die mit "warum" (Ps. 74,1.11; 79,10; 80,13) bzw. "wie lange" (74,10; 79,5) eingeleitet werden, Psalmen platziert, in denen eine Antwort Gottes im Stil direkter Rede zu finden ist (Ps. 75,3 f.; 81,7-17; 82,2-4.6 f.). 43 In Analogie zum Arrangement der Asafpsalmen lässt sich daher die Gruppe Ps. 9/10.11-14 als "Klagekomposition"44 verstehen, zumal der offen formulierte Schluss in 14,7 anzeigt, dass die Not nicht vollständig gewendet ist.

Die Tendenz also, von konstanten Redesituationen aus der Ich-Perspektive überzuleiten zu wechselnden Sprecherperspektiven, beginnt ansatzweise in Ps. 5, setzt dann aber verstärkt mit Ps. 8 und 9/10 neu ein und führt über ein Zwischenglied in Ps. 13 dazu, dass am Ende der Reihe (Ps. 12; 14) überhaupt kein sprechendes Ich mehr zu finden ist. Stattdessen überwiegen die in objektivierender Fonn gehaltenen Gruppenbezeichnungen. Von Ps. 3 zu Ps. 14 hin ergibt sich somit eine Tendenz, die M. Millard in ähnlicher Form für die Zusammenstellung der Wallfahrtspsalmen beobachtet und entsprechend benannt hat: "von der Vereinzelung in die Gemeinschaft,,45 Dabei spielt Ps. 9/ 10 als Überleitungstext eine besondere Rolle, insofern er an bei den Perspektiven Anteil hat und die Dominanz der kollektiven Perspektive in Ps. 11-14 vorbereitet.

12.3.3 Die Zeitverständnisse In Kap. 3.2 ist herausgearbeitet worden, wie in Ps. 9/10 die Vergangenheits- und die Zukunftsperspektive in ein dialektisches Verhältnis gesetzt werden und wie daraus verständlich wird, warum Lob- und Klageelemente ineinander greifen. Das eingeschobene Gebet in Ps. 9,14 f. 42 Zur Frage ob V. 1 eventuell schon als Einsatz der Gottesrede zu deklarieren ist vgl. F. CRÜSEMANN, Gottes Ort, 33-36. 43 Vgl. zum Ganzen M.11ILLARD, Komposition, 89-103; bzw. F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Kommentar 2000 z. St. 44 M. MILLARD, Komposition, 89 ff. 45 M. MILLARD, Komposition, 88.

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dient als Erweis dafür, dass JHWH - weil er in der Vergangenheit gehandelt hat - auch jetzt immer noch rettend eingreift. Entsprechend verhält es sich mit den hymnischen Elementen am Schluss des Textes (Ps. 10,16 ff.): Angesichts der negativen Erfahrung, von JHWH nicht nur für den Augenblick, sondern über Generationen hinweg (Ps. 10,6(!)) verlassen zu sein, setzt der Psalmist seine Hoffnung darauf, dass JHWH mr alle Zeit König sein wird, weil er es jetzt schon ist. Mit diesem Zeitkonzept entstehen von Ps. 9/10 aus in besonderer Weise Beziehungen zu seinen umliegenden Psalmen. Auf der Wortlautebene erinnert z. B. der Ruf des in Todesnot sich befindlichen Beters aus Ps. 9,14 f. stark an die Bitten zu Beginn von Ps. 6 (V. 3-6). "Sei mir gnädig, JHWH, sieh meine Erniedrigung an durch meine Hasser, (du), der mich erhebt aus den Toren des Todes" (Ps. 9,14) "Sei mir gnädig, JHWH, denn ich bin schwach, heile mich, JHWH, denn meine Gebeine sind erschrocken ( ..). Denn im Tod gibt es kein Gedenken an dich, in der Scheol- wer soll dir (dort) danken?" (Ps. 6,3.6)

Ps. 9,14 f. liest sich wie die Kurzfassung des Bittrufes eines in Not Geratenen. Entsprechend ergibt sich die vorgeschlagene Lesart aus der Positionierung von Ps. 9/ 10 in seinem Kontext. Und nur daher lässt sich die Passage des Bittrufes Ps. 9,14 f. ebenfalls auf die gesamte Reihe der Bittgebete Ps. 3-7 anwenden. Die Ps. 9 / 10 inhärente Botschaft, dass JHWH auch jetzt noch rettend für jeden Einzelnen eingreift, wird auf diese Weise verstärkt. Ps. 9 / 10 ist damit nicht einfach nur "Dankliedhöhepunkt,,46 zum Zwecke des Rückblicks auf die durch JHWH erfolgte Hilfe, so dass der Spannungsbogen in Ps. 9 einfach gelöst wäre. Sondern indem die Reihe Ps. 3-7 gewissermaßen in Ps. 9,14 f. gespiegelt wird, kommt die Hoffnung zum Ausdruck, JHWHs Rettungshandeln möge sich bis hinein in die Gegenwart - die laut Ps. 9 / 10 gleichermaßen von der Distanz JHWHs überschattet wird - fortsetzen. Auf der anderen Seite wird auch die sich in den folgenden Psalmen aussprechende Zukunftsperspektive in Ps. 9/10 eingeholt bzw. vorweggenommen. Die folgende Psalmengruppe Ps. 11-14 liest sich wie eine Konkretion des zeitlichen "schon" und "noch-nicht", mit dem Ps. 9/ 10 das zugrunde liegende Theodizeeproblem verarbeitet: Nachdem der Beter in Ps. 11 sein Vertrauen bekundet, dass JHWH die Frevler bestrafen wird (vgl. Ps. 11,5 f.), erfolgt in Ps. 12,6 die Ankündigung Gottes, jetzt "aufzu46 M. MILLARD, Komposition, 163.

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stehen" (011' vgl. Ps. 3,8; 7,7; 9,20; 10,12), um die Bedürftigen zu befreien. Doch gleich im Anschluss kontrastiert Ps. 13 mit seinen wiederholten Anklagen "Wie lange" (;m~-,~) diese Zusage und ist im Anschluss an Ps. 12 als Forderung an JHWH zu verstehen, Wort zu halten 47 Einen Ausblick in die Zukunft, welche die Wende herbeiflihrt, bietet daraufhin Ps. 14,7. Dann endlich, so dieser Text, wird Jakob jubeln und Israel "sich freuen" (Mil1). Im Lesezusammenhang mit Ps. 9/ 10 wird aber diese fern liegende Zukunftsperspektive gleichsam in die Gegenwart gezogen: Denn der Psalmist bringt bereits hier und jetzt seine "Freude" über Gott zum Ausdruckt (Mil1 Ps. 9,3), um einen Kontrapunkt gegen das permanent erfahrene Leid zu setzen. Im Licht von Ps. 9/ 10 erfolgt der Jubel daher nicht bloß in einer nicht absehbaren Zukunft, sondern fungiert bereits in der Gegenwart als Daseinsbewältigung. Von den von Ps. 9/ 10 auf sein literarisches Umfeld sich auswirkenden Zeitverhältnissen wird auch die in Kap. 12.3.2 beobachtete Tendenz der Sprecherperspektiven untermauert. Dass in Ps. 11-14 gegenüber Ps. 3-7 die gruppenspezifischen Elemente dominieren, ist Programm: Die gegenwärtig andauernden Unrechtserfahrungen lassen sich nicht in der Isolation bewältigen, sondern nur in der Gemeinschaft aus C~I'~'::t und C~~~li (Ps. 14,5 f.). Folglich wird - wenn sich diese Beobachtungen als stimmig erweisen - die Annahme zunehmend fraglicher, dass Ps. 8 einmal das Zentrum zweier einander symmetrisch zugeordneter Psalmengruppen (Ps. 3-7.11-14) gewesen sein kann. Denn von ihrem Charakter her sind Ps. 3-7 als parallel aufgebautes Klagecluster vollkommen anders situiert als die spannungsvoll arrangierte Klagekomposition Ps. (9/ 10).11-14. Hier ist ein deutliches "Gefälle,,48 spürbar. Deswegen drängt sich eher die Vermutung in den Vordergrund, bei der Vermittlung der bei den Gruppen spiele Ps. 9 / 10 die entscheidende Rolle. Es ist zu zeigen, dass anhand der räumlichen Denkweisen dieser Texte ähnliche Beobachtungen gemacht werden können.

12.3.4 Die Raumwahrnehmungen Es ist bereits deutlich geworden (vgl. Kap. 3.3), dass in Ps. 9/10 der Zion als einzig möglicher Schutzort angesehen wird, während das Umland voller Gefahren steckt. Dieses konzentrisch ausgerichtete Raumkonzept fügt sich in besonderer Weise in die textliche Umgebung des Doppelpsalms ein und unterstreicht dessen Schalt- und Überleitungsfunktion. Ps. 11 greift insofern die vorhergehende Raumwahrnehmung auf, als der Beter die Aufforderung seiner Bezugsgruppe, auf das Gebirge zu fliehen

47

48

V gl. E. ZENGER, Psalmauslegung, 402; G. BARBIERO, Psalmbuch, 127. Vgl. dazu G. BARBIERO, Psalmbuch, 187.

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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(v. 1), schlicht mit seinem Vertrauen auf die Macht Gottes als undurchführbar zurückweist. Der Gruppe, die der Psalmist in V. 1-3 zitiert und die der Auffassung ist, dass der Gerechte (d. h. lHWH) nichts auszurichten vermag, hält er entgegen: "JHWH - im Tempel ist seine Heiligkeit; JHWH - im Himmel ist sein Thron" (Ps. 11,4).

Das umliegende Bergland stellt im Gegensatz zum Tempel für den Psalmisten also keine Rettungsoption dar. Der Zion-Land-Gegensatz wird damit in Ps. 11 weitergeführt. Auch wenn in Ps. 12 nicht explizit vom Tempel bzw. Zion gesprochen wird, so wird dennoch der Eindruck aufrechterhalten, dass es außerhalb dieses Zentrums keine Heilsperspektive gibt. Denn in 12,9 heißt es, dass "ringsum" (:1':10) Frevler das Feld beherrschen und dementsprechend das Verschwinden der Aufrichtigen (12,2) forcieren. Die Wahrnehmung, von allen Seiten eingekreist zu sein, ist dem Leser bereits aus Ps. 3 bekannt (vgl. V. 7). Ps. 12 bietet dazu eine weitere Steigerung. Während Ps. 3 die Not von Einzelnen widerspiegelt, die sich an wechselnden Orten (aber keineswegs überall gleichzeitig) ereignen kann, beschreibt Ps. 12 sie als Grundeindruck einer dezimierten Gruppe schlechthin. Auf den sich zur räumlichen Wahrnehmung neutral verhaltenden Ps. 13 folgt mit Ps. 14 ein Text, der die in Ps. 12 beschriebene desolate Lage zusammenfasst: "Alle sind abgewichen" (14,3). Diese Feststellung ist so allgemein, dass es eines expliziten räumlichen Bezuges nicht mehr bedarf, um die Frevler zu lokalisieren. Gleichwohl ist klar, dass sich Rettung - wie in Ps. 9/10 - nur vom "Zion" (1"~) her verwirklichen kann (14,7). Die auf Ps. 9/10 folgenden Psalmen 11-14 konkretisieren somit dessen räumliche Denkbewegungen. Gleichzeitig öfilien sie stärker die vertikale Perspektive. lHWH ist gemäß Ps. 11,4; 12,9 und 14,2 der vom Himmel auf die "Menschenkinder" (C'~-'l:l) herabsehende königliche Richter 49 Im Gegenüber zu den vier Texten Ps. 11-14 ist die räumliche Wahrnehmung im Ps. 9 / 10 voranstehenden Cluster Ps. 3-7 weniger festgelegt. Das hatten wir oben bereits zu Ps. 3 bemerkt, und diese Beobachtungen lassen sich auch bei den folgenden Psalmen machen. Ps. 4 setzt eine häusliche Umgebung voraus, in der der Beter sich trotz Anfeindungen von Außen "sicher" (ntl:l V. 9) fühlen kann. Eine Tempelperspektive enthält der Psalm nicht. Das ändert sich dann in Ps. 5, der in V. 8 die Ankündigung enthält:

49 Vgl.

F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 45.

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

"Ich aber, durch die Größe deiner Treue werde ich in dein Haus kommen, ich werde niederfallen vor deinem heiligen Tempel in deiner Furcht. " (Ps. 5,8)

Da Ps. 5 nicht davon spricht, dass der Beter sich bereits im Tempel befindet, sondern sich erst auf den Weg dorthin machen will, "erwarten wir also, daß wir auch im Duktus der Komposition in den Tempel geführt werden. ,,50 Geht man die Texten weiter entlang, so findet sich der nächste Verweis auf den Zion explizit erst wieder in Ps. 9/ 10. 51 Die dazwischen liegenden Psalmen sind in ihrer Lokalisierung nicht eindeutig, so dass sich verschiedene Deutungsmäglichkeiten auftun: Entweder man interpretiert den Zusammenhang Ps. 3-7(8) als "in der Diaspora verorte!."S2 Dann ginge es - angestoßen durch die Ankündigung in Ps. 5 - darum, eine Wallfahrt zum Tempel nachzuempfinden. 53 Oder aber man liest die räumlichen Denkbewegungen zusammen mit den zeitlichen Aspekten (Kap. 12.3.3.). In diesem Fall würde die Gruppe Ps. 3-7 andeuten wollen, dass im von Ps. 9/10 aus gesehen zurückliegenden Zeitraum das Umland nur partiell von den Machenschaften der Frevler betroffen war. So gewiss die Psalmengruppe Ps. 3-7 für Angehörige der Diaspora den Weg nach Jerusalem - ob in meditativer oder realer Weise - vorzubereiten in der Lage ist, so leistet sie diesen Beitrag ebenso für Menschen im judäischen Umland, die von allen Seiten angefeindet sind. In jedem Fall dokumentiert sich in der Teilgruppe Ps. 3-7 "eine Bewegung zum Tempel hinauj's4, während diese Tempelperspektive mit Ps. 9/10 fortan präsent ist und mittels der Gruppe Ps. 11-14 ihre Realisierung eingefordert wird (Ps. 14,7).55 Ps. 9/10 spielt daher auch hinsichtlich der räumlichen Wahrnehmung und Orientierung eine vennittelnde Rolle zwischen den Teilgruppen Ps. 3-7 und Ps. 11-14. Er greift auf der einen Seite die Erfahrung auf, dass JH\VH an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten einzelne Verfolgte, zu Unrecht Angeklagte und Hilflose M. MILLARD, Komposition, 135. M. MILLARD, a. a. 0., 134, Anm. 348, berücksichtigt hier lediglich 9,12, wo der Zion als Wohnort Gottes, nicht aber als Aufenthaltsort des Beters thematisiert wird. Doch in der Zusammenschau von 9,10 und 9,15 wird eindeutig vorausgesetzt, dass gerade weil ffiWH auf dem Zion präsent ist, auch die von den Frevlern Verfolgten hier Zuflucht finden sollen. Nun ist der Einwand MILLARDS insofern berechtigt, als auch dieser Zufluchtsort sich im Kontext von Ps. 9/10 insgesamt bewähren muss. D. h. es ist keineswegs selbstverständlich, an einem sicheren Ort zu sein. 52 M. MILLARD, a. a. 0, 134. 53 DERS., a. a. 0., 136. 54 G. BARBIERO, Psalmbuch, 187 (Hervorhebung im Original). 55 Der Spannungsbogen bezüglich der Tempelperspektive zieht sich offensichtlich noch über die Gruppe Ps. 3-14 hinaus und wird schrittweise in den Toreinzugsliturgien Ps. 15 und 24 eingelöst (vgl. M.1vfILLARD, Komposition, 136). 50 51

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gerettet hat (Ps. 3-7.) und will die Leser mit auf den Weg zum Zion nehmen angesichts der völligen Zersetzung der gegenwärtig erlebten Gesellschaft (Ps. 11-14).56

12.4 Ps. 9 / 10 im Duktus der Psalmengruppe Ps. 3-14 Der Ertrag aus den oben angestellten Überlegungen ist ein doppelter: Einerseits hat sich die Vermutung bestätigt, dass Ps. 9 / 10 zunächst unabhängig von seinem jetzigen literarischen Kontext entstanden sein muss. Er übeminunt eine vollwertige Stimme im polyphonen Konzert der theologischen Konzeptionen im Rahmen des Kompositionsbogens Ps. 3-14 wahr. Andererseits eignet er sich besonders gut, die Linien der Teilgruppe Ps. 3-7 aufzunehmen und das Spannungsgefüge der Kleingruppe Ps. 11-14 vorzubereiten. Anhand verschiedener Kriterien konnte diese Bewegung festgemacht werden: 1.) Ps. 9/10 ist der erste Psalm im Kontext, der in stärkerer Konzentration Gruppenbezeichnungen als hermeneutische Spiegelbegriffe benutzt. Zwar findet sich dieses Phänomen bereits ansatzweise in Ps. 5,12 ff. und Ps. 7,10 ff., doch handelt es sich hierbei stets um Texte, die ein durchgehendes Ich als Sprecher aufweisen. Das ist 2.) bei Ps. 9/ 10 anders, bei dem die Rederichtungen und Sprecherperspektiven ständig wechseln. Der dahinter stehende Psalmist fällt in diesem Fall mit dem V erfasser(kreis) des Textes zusanunen und nimmt eine Außenperspektive auf die im Psalm auftretenden Rollenträger ein. Die pluralischen Gruppenbezeichnungen bekonunen erstmals mit Ps. 9/ 10 ein stärkeres Gewicht, womit die zielgerichtete Überleitung zur Teilgruppe Ps. 11-14 hin gelingt, in der der einzelne Beter aus seiner Isolation herausgeführt werden soll. Der Doppelpsalm stellt 3.) den Zion räumlich so in den Mittelpunkt, dass im Lesevorgang Ps. 3-7 als eine Bewegung zum Tempel hin und Ps. 11-14 als ein Bleiben eben dort angesichts der allgegenwärtigen Gefahren von außen verstanden werden können. Durch das Arrangement dieser hinteren Psalmengruppe wird die Grundthematik des Theodizeeproblems entfaltet, wozu Ps. 9/10 als "Präludium" gelesen werden kann. Die besondere Funktion des Doppelpsalms besteht also 4.) und zusammenfassend darin, einerseits Gottes früheres Rettungshandeln (Ps. 3-7) zu vergegenwärtigen und im selben Atemzug neu zu problematisieren. Anknüpfend wird dementsprechend Gottes erneutes Eingreifen für die Zukunft in den nachfolgenden Psalmen erbeten (vgl. Ps. 12,6; Ps. 14,7). Gerade dieses dialektische Zeitkonzept, das Lob, Klage und Bittelemente miteinander verschränkt, prädestiniert Ps. 9/10 in besonderer Weise als 56 V gl. zur unterschiedlichen Charakteristik der Teilgruppen Ps. 3-7 und 11-14 F.-L. HOSSFELD IE. ZENGER, Selig, 43.

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

hermeutische Drehscheibe zwischen seinen angrenzenden Psalmen. 57 In dem von ehr. Hardmeier angesprochenen "Diskursgeschehen der ii'ili"S8 fungiert Ps. 9 / 10 daher als Vergegenwärtigung der Rettungstaten JHWHs vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass Not und Elend ein Dauerproblem sind. Die endgültige Abwendung der Not (Ps. 14,7) wird daher erst für die Zukunft erhofft. Im jetzigen Zusammenhang ist Ps. 9/ 10 mit der Teilgruppe der Bittund Vertrauenspsalmen Ps. 3-7 über den Hymnus Ps. 8 verbunden. Das Akrostichon stellt daher nicht den eigentlichen Höhepunkt dieser ersten fünf Davidpsalmen dar, sondern nimmt die hymnische Struktur auf. Folglich ergibt sich die Tendenz, Ps. 9/ 10 im engeren Sinn den Psalmen 11-14 zuzuordnen, zumal die Gruppenbezeichnungen im Umkreis der Annentheologie hierher gehören. 59 Die Rückbindung an den vorderen Kontext, die literarisch signifikant über die Parallelformulierungen Ps. 7,18 und Ps. 9,2 f. gegeben ist,60 markiert auf der Ebene des Endtextes daher Ps. 8 als das eigentliche Zentrum zwischen diesen beiden charakteristisch verschiedenen Seitengruppen. 61

12.5 Ps. 9 / 10 und die Komposition der Psalmengruppe Ps. 3-14 Um einen Ansatz zur Erhellung der diachronen Verhältnisse zu gewinnen, gilt es zunächst noch einmal, die bisher vorliegenden Optionen zu rekapitulieren: F.-L. Hossfeld / E. Zenger gehen m. E. zu Recht davon aus, dass 57 Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 47: "Einerseits erinnert der Psalm an die in der Vergangenheit errungenen Siege über das sich in Feindmächten aktualisierende Chaos [ ... ] Andererseits steht die endgültige Rettung ,der Armen' noch aus, was sich in den Klagen und Bitten des Psalms ja zeigt." 58 CHR. HARDMEIER, Systematische Elemente, 112. V gl. die Einleitung. 59 Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 2000, 78, die aus dieser Perspektive betrachtet nur von einer Gruppe Ps. 10-14 sprechen. Ähnlich G. BARBIERO, Psalmbuch, 114-139. Dessen Argumentation, durch das doppelte Vorkommen des Imperativs :-n,," m~p (Ps. 9,20; 10,12) seien zwei "Tagespsalmen" hintereinander gestellt, überzeugt mich nicht; ebenso wenig der Hinweis, Ps. 10-14 seien ein genaues Pendant zur Gruppe Ps. 37, weil sich beide Reihen zahlenmäßig entsprächen (vgl. DERS., a. a. 0., 114 f.). Aus meiner Sicht wiegen hermeneutische Beobachtungen schwerer als exakte Zahlenverhältnisse. 60 Diese Brücke ist schon mehrmals gesehen worden. V gl. F. DELITZSCH, Kommentar, 123; N. LOHFINK, Meditation, 150, F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 46; jüngst G. BARBIERO, Psalmbuch, 99. 61 Ps. 8 als Zentrum zu bezeichnen, ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem konzentrischen Aufbau des Kompositionsbogens Ps. 3-14, demzufolge einzelne Psalmen aus der Gruppe Ps. 3-7 eine konzeptionelle Entsprechung im Bereich Ps. 9-14 haben sollen (so allerdings M. LEUENBERGER, Konzeptionen, 96 f.).

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

237

Ps. 9/ 10 in erster Line im Zusammenhang eines Kompositionsbogens bestehend aus Ps. 3-14 zu lesen ist. Doch lassen die in Kap. 12.3.1-12.3.4 eruierten Perspektiven und Fonmnerkmale erhebliche Zweifel an ihrer Vermutung aufkommen, dass der Doppelpsalm nachträglich in ein bereits bestehendes Gefüge aus Ps. 3-7.8.11-14 eingesetzt worden sei. Ps. 11-14, die mit Ps. 9/ 10 gemeinsam eine Art "Klagekomposition" bilden, können daher ursprünglich nicht von Ps. 8 ausgehend präludiert worden sein. Der Umschwung in das Theodizeethema, welches am steten Wechsel der Gattungen, Perspektiven und Stimmungen von einem Psalm zum anderen im Bereich Ps. 11-14 zum Ausdruck kommt, wäre allein mit Ps.8 als Übergang nicht hinreichend vorbereitet. 62 Ferner wäre hinsichtlich der Datierungen zu überprüfen, ob Ps. 9/10 tatsächlich der jüngste Psalm im Kontext ist. Da ich hier bezüglich der umliegenden Psalmen keine eigene Untersuchung anstellen kann, sei dieser Aspekt nur als Frage angedeutet. Im Modell von F.-L. Hossfeld und E. Zenger wird unterstellt, alle Psalmen der Gruppe Ps. 3-14 (mit Ausnahme von Ps. 9/ 10 und wenigen redaktionellen Zusätzen) seien eine Zusammenstellung von "spätvorexilischen Laiengebeten". Doch könnte man im Einzelfall auch zu differenzierten Ergebnissen kommen, welche die Texte in ganz unterschiedliche Zeitabschnitte datieren. 63 Wenn einzelne Psalmen, die im literarischen Kontext von Ps. 9 / 10 stehen, aus einer ähnlichen Epoche stammten wie dieser, wären auch alternative kompositorische Entwicklungen dieser Psalmengruppe denkbar. Ausgehend von seinen Beobachtungen zum ersten Kompositionsbogen hat bereits M. Millard eine literarische Vorstufe des ersten Davidpsalters "im Bereich

62 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Selig, 46, fiilrren in diesem Zusammenhang die Nennung der I:I"X ".1~ an (Ps. 11,4; 12,2.9; 14,2), obwohl, wie sie selbst eimäumen, in Ps. 8 die Vokabel tti,.1X zu finden ist. Außerdem ziehen sie in Erwägung, dass "die den Mächtigen in Ps 12,5 in den Mund gelegte zynische Frage ,.1, l'''x "i:l einen offenkundigen Kontrast zum Bekenntnis der JHWH-Gemeinde im Refrain von Ps 8: ,.1".1"X :-n,,"" (ebd.) bildet. Naheliegend wäre aber auch, nach einer weiteren Frage, die mit"i:l gebildet wird, Ausschau zu halten: Sie findet sich in Ps. 15,1. Ferner vermuten sie in Ps.8,2b eine speziell vorgenommene redaktionelle Notiz, die das "Ps 11-14 bestimmende Bild von JHWH als dem im Himmel thronenden Weltenkönig" (ebd.) eingeleitet habe. Abgesehen davon, dass sich nicht mit Sicherheit ausmachen lässt, wann eine entsprechende redaktionelle Einfügung stattgefunden hat, enthält Ps. 8 nicht die notwendige Multiperspektivität wie Ps. 9110, um den Übergang in die Teilgruppe Ps. 11-14 vorzubereiten. 63 K. SEYBOLD, Kommentar 1996, 60, vermutet für Ps. 11 z. B. "eine (spät)nachexilische Entstehung". Außerdem erinnert die in Ps. 11 und 14 enthaltene Vorstellung von JHWH, der aus dem Himmel herab auf die Menschheit blickt, an ein Transzendenzkonzept, das sich in dieser Form häufig in relativ jungen Textpassagen wiederfindet (vgl. z. B. Jes. 66,1; Sach. 9,1; Ps. 33,13 f.; 102,20). Vgl. W. H. SCHMIDT, Glaube, 438.

238

Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

von Ps 11_13,,64 postuliert. Da aus meiner Sicht die spannungs geladene Gruppe Ps. 11-14 jedoch kaum aus sich heraus zustande gekommen sein kann, wäre noch einmal ein anderer Weg zu suchen. Ich mächte daher als alternativen Theorieansatz vorschlagen, die Komposition bzw. Redaktion der Teilgruppe Ps. 11-14 mit der Einschaltung von Ps. 9/ 10 unmittelbar in Verbindung zu bringen. In der Konsequenz ist die Gruppe Ps. 11-14 unter Absehung von Ps. 9 / 10 literarkritisch aufzusprengen. Für diesen diachronen Schritt hinter die vorliegende Textgestalt sprechen auch einige sprachliche Auffalligkeiten in den einzelnen Psalmen selbst: Anders nämlich als in den einander ähnelnden Psalmen der Gruppe Ps. 3-7, in der sich literarische Brüche im Großen und Ganzen nicht feststellen lassen,65 wurden offensichtlich an einzelnen Stellen im Bereich von Ps. 11-14 Verse angehängt bzw. zwischengeschoben. Damit wurden "Brücken" geschaffen, um das spannungsvolle Gefüge besser aufeinander abzustimmen und gegenüber dem Cluster Ps. 3-7 neu zu profilieren. 66 a) Auffallig ist zum einen das Ende von Ps. 12: F.-L. Hossfeld / E. Zenger haben geltend gemacht, dass der Text möglicherweise einmal mit V. 8 geendet habe, da der Ausdruck Cl,,~, ("für immer") einem Schlusswort gleiche. Die in V. 9 erwähnte Gruppe der c'~Ili' ("Frevler") ist im übrigen Psalm nicht vorhanden, findet sich aber in Ps. 11 (und ebenso in Ps. 9/10, worauf F.-L Hossfeld / E. Zenger nicht eingehen), womit ein Rückbezug hergestellt sei.'7 Dass V. 9 ein Zusatz sein könnte, erschließt sich b) auch daraus, dass in Ps. 13 der V. 3b, welcher in auffalliger Weise metrisch aus dem Rahmen fallt, wie Ps. 12,9 das Verb c" enthält. Möglicherweise handelt es sich hierbei ebenfalls um eine nachträgliche Ergänzung, die in enger Abstimmung mit der von 12,9 vorgenommen

64 M. MILLARD, Komposition, 205. 65 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Selig, 35, diskutieren in diesem Zusammenhang Ps. 3,9b, welcher mit dem ebenfalls redaktionell zu betrachtenden V. 7 in Ps. 14 eine gemeinsame Klammer um die Gruppe Ps. 3-14 bildeten. Hierdurch würde die kompositionelle Einheit unter die Leitperspektive einer "Gottesvolk-Theologie" gestellt. Sonstige mögliche Ergänzungen in Ps. 5,3 oder der Beginn von V. 9 in Ps. 7 (1:I'~1l :-n,,') (vgl. F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Kommentar 1993, 29.64.71) befinden sich nicht an Nahtstellen zwischen den einzelnen Psalmen, um diese zusammenzubinden. M. LEUENBEGER, Konzeptionen, 96, Anm. 94, erwägt daran anknüpfend, ob diese Zusätze geradewegs in Korrespondenz zur Einschaltung von Ps. 9/10 vorgenommen worden sind. 66 Im Gegensatz zu einem herkömmlichen Cluster (vgl. M. 1vfILLARD, Komposition, 115.157; K. KOENEN, Ps. 90-110,37) ist die Reihenfolge der Psalmen 11-14 nämlich nicht einfach beliebig. 67 Vgl. F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Selig, 44 f.

r'"

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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worden ist 68 In beiden Fällen bezieht sich C1' auf das unheilvolle "Sicherheben" der frevlerischen / feindlichen Mächte gegen die Beter. c) Als Drittes ergeben sich Anfragen an die Gestaltung von Ps. 14. Dass die Abweichungen in V.5 f. gegenüber seinem Doppelgänger Ps. 53,6 etwas mit der Stellung des Textes im Kontext zu tun haben, ist längst gesehen. 69 Die von F.-L. Hossfeld / E. Zenger vorgenommene literarkritische Aufteilung von Ps. 14, der zufolge der Psalm eimnal mit V. 5 geendet haben soll, bleibt dabei jedoch sehr hypothetisch. Ihre Argumentation stützt sich auf einen Strukturvergleich mit Ps. 36 (dieser Psalm endet in V. 13 ebenfalls mit dem Umsturz der "Übeltäter" (1'~ "~D) und markiert zudem durch die Ortsangabe "dort" (CIli) einen prägnanten Schluss). Man könnte ebenfalls in Erwägung ziehen, dass Ps. 14, so wie er nun vorliegt, speziell für diesen Zusammenhang konzipiert worden ist. d) Ob Ps. 14,7 als redaktioneller Zusatz zu betrachten ist, bleibt offen, denn m der Parallele Ps.53,7 weist nichts auf eine spezielle Kontextangleichung hin. D. h. die Eigenschaften von V. 7 könnten für einen Rückbezug70 oder eine Verklammerung mit dem folgenden Ps. 15 auch "automatisch" nutzbar gemacht worden sein. Wie auch immer man sich hier im Einzelnen entscheidet - die Kleingruppe Ps. 11-14 ist in ihrer "Widersprüchlichkeit" kunstvoll aufeinander abgestimmt. Für das Zustandekommen dieses Faktums ist m. E. die Präsenz von Ps. 9/ 10 nach den oben vorgetragenen Erörterungen unabdingbar. Dabei wird allerdings davon auszugehen sein, dass Ps. 11-14 in seiner jetzigen Gestalt nicht allein von Ps. 9/10 abhängig ist. Denn die Bindungen einzelner Aspekte von Psalmen innerhalb der Gruppe Ps. 11-14 zum Folgekontext dürfen ebenfalls nicht einfach vernachlässigt werden. Die Verknüpfung von Ps. 14 zu Ps. 15 (vgl. die "Übeltäter" 1'~ "~D 14,4 in ihrem Kontrast zum "Gemeinschaftstätigen" I"~ '~D 15,2) ist beispielsweise mindestens ebenso fest einzustufen wie die zu Ps. 9/ 10. Der sozialethische Katalog in Ps. 15,2-5 bezieht sich darüber hinaus auf alle jene Frevler in der Gruppe Ps. (9/10.)11-14 zurück, die mit ihrer "Zunge" (1,1li,) verleumderisch reden (Ps. 15,3 vgl. 10,7; 12,5), Böses an ihren "Nächsten" (;r~,) verüben (Ps. 15,3; vgl. 12,3) und den "Unschuldigen" ('I'l) übervorteilen (Ps. 15,5 vgl. 10,8). Die Gruppe Ps. 11-14 wird also 68 69

Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 1993,96. Vgl. eHR. RÖSEL, Redaktion, 60; F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 2000,

78. 70 Ps. 14,7 sei laut F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 36; DIEs., Kommentar 1993, 100 Teil einer Redaktion, die den Bogen zu Ps. 3,9b (ebenfalls sekundär) zurückschlage. Die Stichwortverbindungen sind zwar signifikant, aber nicht singulär. Man könnte gleichermaßen eine Verbindung zu Ps. 9,3 (n~it1 "sich freuen") oder Ps. 9,4 (~,tt! ,,(sich) wenden") assoziieren.

Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

240

durch zwei Psalmen, nämlich Ps. 9/ 10 auf der einen und Ps. 15 auf der anderen Seite, hervorgebracht und zusammengehalten. Die in dieser Binnenstruktur enthaltene Spannung erklärt sich nicht zuletzt durch die Unterschiedlichkeit dieser beiden Texte. Dafür dass die Gruppe Ps. 11-14 als dramatischer Geschehenszusammenhang gelesen werden kann, hatte ich oben (12.3.2) bereits auf die Analogie zur Asafpsalmensammlung (Ps. 73-83) als Klagekomposition I-liturgie hingewiesen. Da sich nun Ps. 9/10 und 15 in besonderer Weise als Eckpsalmen dieser Binnengruppe erwiesen haben, bietet sich ferner ein Vergleich mit der Aussagefolge von Jes. 33 an - einem Text, der ebenfalls den Charakter einer Klagekomposition I (prophetischer) Liturgie 7l trägt und mit Ps. 9-15 auch einzelne Motive teilt. Auf die Klage gegen den Verwüster (33,1) und die drängend formulierte Bitte einer Wir-Gruppe um Gottes Gnade in der "Zeit der Bedrängnis" (j"'j'~ nll~ 33,2 vgl. Ps. 9,10; 10,1), schließt sich in 33,3 die Ankündigung an, dass die "Völker" (1:I"~1l) und "Heiden" (I:I"'J) fliehen (vgl. Ps. 10,16), wenn JHWH "sich erhebt" (1:1" vgl. Ps. 9,20; 10,12 mit l:I,p). Im Anschluss an die Beschreibung des dürren Landes (33,8 f) folgt ein Gotteswort: "Nun will ich aufstehen (l:I,p) - Spruch JHWHs" (33,10a, vgl. Ps. 12,6). Dieses Orakel (33,10-13) wiederum evoziert in 33,14 ein Zitat der "Sünder" in Zion, von denen ausdrücklich gesagt wird, dass sie sich "erschrocken" .,no haben. Dasselbe sagt auch Ps. 14,5 von den "Übeltätern" aus: "Da haben sie sich gewaltig erschrocken (.,no ,.,no), denn Gott ist mit dem Geschlecht des Gerechten." Die Solidarität ffiWHs mit den Gerechten dokumentiert sich im Anschluss daran sowohl in Jes. 33,15 f als auch in Ps. 15 in Gestalt einer sog. Toreinzugs- oder Tempeleinlassliturgie. 72 Schließlich läuft das Geschehen in Jes. 33 auf eine Vision hinaus, der zufolge JHWH auf dem Zion als "Richter", ,,Anführer" und "König" erfahrbar sein wird (33,22; vgl. Ps. 9,5; 10,16). Noch einmal wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die Israel bedrängenden Völker nicht mehr im Land sein werden (33,18 f; vgl. Ps. 10,16).

Dieser Zusammenhang konkurriert bis zu einem gewissen Grad mit dem übergreifenden Spannungs- / Kompositionsbogen Ps. 3 bis Ps. 14, von dem bisher ausgegangen wurde. Ps. 9 / 10 fungiert im jetzigen Kontext gemeinsam mit Ps. 8 als Abschlusspsalm der Teilgruppe Ps. 3-7 wie auch als Eröffnungstext zur Teilgruppe Ps. 11-14. Durch diese Strukturüberlagerung?3 ergibt sich zwar eine gewisse Zäsur zwischen Ps. 14 und 15, gleichzeitig bleibt aber - vermittelt durch 14,7 - die enge Verbindung bei der Psalmen bestehen 74 Die Kleingruppe Ps. 11-14 wird also genauso von Ps. 15 her in Anspruch genommen wie von Ps. 9/10. Daraus folgt wieder, dass letzterer nicht speziell auf den Kontext hin abgefasst worden sein kann. Will man diese Struktur redaktionsgeschichtlich erklären, bleibt im Grunde nur die Annahme einer - wenn nicht gleichzeitigen, so doch min-

71 72 73

74

Vgl. V gl. Vgl. V gl.

H. GUNKEL, Jesaja 33. K. KOCH, Tempeleinlaßliturgien. die einleitenden Überlegungen unter 12.1. M. 1vfILLARD, Komposition, 135.

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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destens wechselseitig bedingten - Einschaltung von Ps. 9 / 10 und Ps. 15 unter Hinzufügung der von ihnen eingerahmten Texte. Welche Psalmen aus der Bil1l1engruppe Ps. 11-14 dieser Komposition im literarischen Zusammenhang vorlagen, ist dagegen weniger klar auszumachen. Im Zuge der Redaktionstätigkeit wurden allerdings Ps. 12,9 und 13,3b hinzugefügt, um das neue Arrangement besser aufeinander abzustimmen. Ps. 14 ist im Bereich von V. 5 f. von vornherein auf seinen jetzigen Kontext formuliert worden (iiOTi-Motiv als integratives Moment bzw. Parallelisierung der I'~'::t und 'l~-Konzeptionf5 Vielleicht haben Ps. 11 und 13 zuvor ein zu Ps. 3-7 analoges Klagecluster mit Ps. 16 und 17 gebildet, sofern sie nicht in einem Zug mit Ps. 12 und 14 zusammengebunden worden sind 76 Damit werden zwei Beobachtungen näher erklärt: a) der Eindruck einer enger zusammenstehenden Binnengruppe (Ps. [9-10.]11-14.[15]), die im Gegensatz zur Teilgruppe Ps. 3-7 stärker auf das Thema der "Armen" hin ausgerichtet ist 77 Hinsichtlich dieser Psalmengruppe leistet Ps. 9/10 also das, was M. Millard eine "Themenklage,,78 genannt hat. b) Die relative Geschlossenheit des Klageclusters Ps. 3-7 selbst wird verständlich, da es bekanntlich vom Motiv der "Rettung Gottes am Morgen" bestimmt wird bzw. auf der Endtextebene einen Tag / Nacht-Rhythmus offenlegt 79 Rückblickend wird in Ps. 9,2 ff. die Rettung der verschiedenen Beter zur Sprache gebracht, d. h. in Bezug auf Ps.3-7 fungiert Ps. 9/10 als "Dankliedhöhepunkt,,8o Im Übrigen wird auch rezeptions geschichtlich verständlich, weshalb die im Stil eines Midrasch zur Absalomgeschichte gestalteten Überschriften sich auf das Cluster Ps. 3_7(.9 81 ) beschränken und nicht über den gesamten Kompositionsbogen Ps. 3-14 hin verteilt sind. Dass sich dabei Ps. 8 als etwas "sperriger Psalm im Kontext"S2 zu erkennen gibt, hängt mit seiner näheren Bezogenheit auf das vorherge75 Vgl. F.-L. HOSSFELD 1 E. ZEN GER, Selig, 36.43, die jedoch nur einen Rückbezug von Ps. 14,5 f auf die Teilgruppe Ps. 11-14 konstatieren. 76 C. WESTERMANN, Sammlung, 195, weist mit Blick auf die Psalmensammlung in den Threni darauf hin, dass der Psalter wahrscheinlich zunächst aus Textgruppen gleicher Gattung bestand. 77 Vgl. F.-L. HOSSFELD, Kommentar 2000,62 f; E. ZENGER, Kommentar 2000,78. 78 Vgl. seine Tabelle in Komposition, 162. Für M. Mn..LARD dient die Themenklage u. a. dazu, einen Ansatzpunkt für die Datierung der Komposition zu gewinnen (vgl. a. a. 0., 88, u. a.). Da jedoch die zeitliche Einordnung von Psalmen immer mit besonderen Unsicherheiten belastet ist, genügen hier die inhaltlichen Aspekte: Ps. 9110 führt in das Thema der "Armen" ein, wie es dann in Ps. 11-14 weitergeführt wird. 79 Vgl. dazu grundlegend B. JANOWSKI, Rettungsgewißheit; bezogen auf die Psalmengruppe Ps. 3-13 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Einleitung, 352. 80 M. MILLARD, Komposition, 162. 81 Vgl. die Übersetzung von M.1vfILLARD, Komposition, 133. 82 M. MILLARD, Komposition, 132 f

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

hende Cluster Ps. 3-7 zusammen. Ob er eventuell erst nachträglich an seine jetzige Position eingestellt worden ist, wie einige Forscher meinen,83 kann nur unter der Prämisse in Erwägung gezogen werden, dass zuvor bereits Ps. 9/ 10 vorhanden war. Denn ein Klagecluster (wie das von Ps. 3-7) existiert nicht für sich allein, sondern nur im Zusanunenhang mit einem Hymnen- oder Dankliedschluss. Ein weiterer Aspekt verbindet sich mit der kontextuellen Funktion von Ps. 8 selbst. Im bestehenden Kontext soll er nach M. Millard eine Art Orakelfunktion einnehmen. 84 In Gestalt von Ps. 9 erfolge dann der Dank des Beters auf die zuvor gegebene Antwort Gottes. Diese Interpretation erscheint mir nicht ganz schlüssig. Immerhin spricht sich in Ps. 9/10 (wenn man den Text als Einheit versteht) der Dank untrennbar von der Klage aus. M. a. W.: Auf die (endgültige) "Antwort" Gottes wird noch mit Spannung gewartet! Schließlich kommt sie in Ps. 12 mit seinem integrierten Gotteswort (V. 6) sehr deutlich zum Ausdruck, auch wenn diese Antwort nachfolgend (Ps. 13) wieder problematisiert wird.

Wir halten als Ergebnis der diachronen Fragestellung fest: Ps. 9 / 10 ist offensichtlich nicht speziell für den Kontext abgefasst worden, bekam jedoch bei dessen Arrangement als Kompositionsbogen (Ps. 3-14) eine tragende Rolle für die Vermittlung von Lob / Dank und Klage zugewiesen. Daher wurde der Doppelpsalm auch nicht einfach als Schlussstein, sondern als (weiterer, an Ps. 8 anknüpfender) Abschluss des Clusters Ps. 3-7 und als Exposition der Gruppe Ps. 11-14 eingefügt, die im Zuge dieses Kompositionsvorgangs völlig neu gebildet worden ist. Mit M. Millard lässt sie sich als eine Klagekomposition oder Klageliturgie 85 bezeichnen.

12.6 Die Überschrift (Ps. 9,1) Ein spezielles Problem betrifft das literarische Verhältnis von V. 1 (dessen Übersetzung im Übrigen mit besonderen Unsicherheiten belastet ist)86 zum Psalmkorpus. Psalmüberschriften werden in der exegetischen Literatur in der Regel als spätere Ergänzungen im Zusammenhang mit Kompositionsvorgängen behandelt. D. h. Ps. 9/ 10 wurde nicht vom König David selbst 83 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte bereits M. LÖHR, Psalm 7 9 10, 225 f., die These aufgestellt, dass Ps. 7, 9 und 10 einmal ungetrennt nebeneinander gestanden haben, vgl. J. P. BRENNAN, Psalms 1-8, 28. Dafür könnten auch die Strukturbeobachtungen P. AUFFRETS, Quatre Psaumes, geltend gemacht werden, der Ps.7 und 9-10 eine Rahmenfunktion um Ps. 8 herum zuweist. M. 1vfILLARD, Komposition, 127, stellt dagegen die formal enge Verbindung zwischen Hymnus und Danklied im ersten Psalmbuch heraus (Ps. 8 f; Ps. 29 f). Daher sei eine diachrone Hypothese nur mit Vorbehalt aufzustellen. 84 Vgl. M.1vfILLARD, Komposition, 142 f 85 M. MILLARD, Komposition, 103, der diese Definition im Kontext des Psalters allein auf die Asafpsalmensammlung anwendet. 86 S. Kap. 1.

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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verfasst. Zwar ist anzunehmen, dass die Redaktoren, welche die Überschrift "" ("von David" / "zu David gehörend") hinzusetzten, diese als Autorenangabe verstanden wissen wollten, aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich hierbei traditionell jedoch um einen "Zugehörigkeitsund Registrationsvermerk"s7, ähnlich wie z. B. die Angabe ~o~, die Texte Ps. 50; 73-83 als Bestand jener Gruppe ausweist, die sich auf den Sänger "Asaf' zurückführt. Da Ps. 9/ 10 von mir als zunächst unabhängig von einer Teilkomposition entstandener Text bestinunt wurde, ist V. 1 in jedem Fall später hinzugekommen. Zu klären bleibt aber, ob er bereits im Zuge der Einfügung von Ps. 9/ 10 in den Kontext gesetzt worden ist oder erst später. Als "Psalm Davids" setzt V. 1 die Verbindung von Ps. 3-41 mit dem "elohistischen Psalter" zur Sammlung Ps. 2-89* voraus. 88 Wenn diese Formation bestand, bevor Ps. 9/ 10 hinzukam, könnte V. 1 sogleich als Bestandteil der neu gebildeten Komposition Ps. 9-14(.15) vorangestellt worden sein. Das wäre insbesondere sehr wahrscheinlich für den Fall, dass Ps. 9/ 10 gemeinsam mit den nachfolgenden Psalmen an die Gruppe Ps. 3-7(.8) "ankomponiert" wurde. Wenn nämlich die Übersetzung von M. Millard "lam'nasseah, wegen des Sterbens, in Bezug auf den Sohn, ein Psalm Davids ,,89 zutrifft, dann bildet der Text gemeinsam mit den Überschriften zu Ps. 3 und 7 eine Art Midrasch zur Absalom-geschichte. Damit würde auch Ps. 3-9(.10) als besondere Einheit gegen-über dem Folgekontext profiliert. Da ich jedoch stärker davon ausgehe, dass die Einfügung von Ps. 9/ 10 in spezifischer Weise als Inter-pretationsschlüssel für die nachstehende Gruppe Ps. 11-14 gedacht ist, überlagert die mit der Überschrift verbundene Leseanleitung diese Konzeption. Es bliebe die Möglichkeit bestehen, V. 1 selber noch einmalliterarkritisch aufzuspalten in der Annahme, lediglich "" ,,~m n~m, sei bei der Einschaltung von Ps. 9/ lOdern Makrotext Ps. 2-89* hinzugesetzt worden. Falls jedoch die Einbeziehung von Ps. 3-41* in die Sammlung Ps. 2-89 geschah, nachdem die Gruppe Ps. 3-14 in ihrer jetzigen Zusammensetzung (unter Einschluss von Ps. 9/10) bereits vorlag, ist die Überschrift Ps. 9,1 ohnehin als spätere Ausgestaltung zu betrachten. Ob der Ps. 9 und 10 umfassende Text im Vorgang der Komposition auch in diese beiden Einzelpsalmen aufgetrennt wurde,90 wie es der MT bezeugt, ist meiner Einschätzung nach nicht sicher zu entscheiden. Wenn dies der Fall ist, dann möglicherweise in Analogie zur fonngeschichtlichen Regel, der zufolge Hymnus und Danklied in Kombination das Zentrum 87 V gl. K. SEYBOLD, Einführung, 38. 88 Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 2000, 33. 89 M. MILLARD, Komposition, 133. 90 So G. BARBIERO, Psalmbuch, 89.

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

emes Kompositionsbogens bilden (im literarischen Zusammenhang des ersten Davidpsalters ist hier auf Ps. 25-34 hinzuweisen, deren Zenit mit Ps. 29 (Hymnus) und Ps. 30 (Dankliedhöhepunkt) vorliegt). Nach dieser Logik bietet sich eine Zäsur bei Ps. 10,1 an, um den Neueinsatz der Klage zu unterstreichen. Überdies würde noch stärker verdeutlicht, dass Ps. 9/ 10 primär mit dem Folgekontext zusammen gelesen werden soll (Ps. 10 also dezidiert zu Ps. 11-14 gehört)91 Dabei ist jedoch der Umstand festzuhalten, dass für Ps. 10 keine eigene Überschrift gebildet worden ist. Diese Tatsache bringt die andere Alternative ins Spiel: die Trennung mit der Redigierung des Gesamtpsalters in Zusanunenhang zu bringen. Der Vorgang würde dann in die früheste Phase der Rezeptionsgeschichte des Psalters im Ganzen gehören 92 Der Einschnitt in 10,1 bei dem Wort ;r~, ("warum") trägt der Tatsache Rechnung, dass die Klage im zweiten Teil des Textes überwiegt. Die kompositionelle Leitidee, Ps. 9 und 10 als Vermittlungstext zwischen Ps. 3-7 und Ps. 11-14 zu lesen, wird dadurch jedoch stark vereinfacht. Denn zur Ps. 9/ 10 eigentümlichen Dialektik von Lob und Klage gehört der Umstand, dass bereits in 9,14 f. und 9,18 ff. (auf je unterschiedlichen Ebenen) der Umschwung in die Klage / Bitte erfolgt. Ebenso kehrt in 10,16 ff. das Lob zurück. In der Septuaginta, in der Ps. 9/10 als Einheit (Ps. 9) überliefert wird, leistet der Text daher die in Kap. 10.3 herausgearbeiteten Funktionen mindestens ebenso gut.

12.7 Die Verwendung von Ps. 9 /10 im Kontext von Ps. 3-14 Für seinen literarischen Sitz im Rahmen der Psalmengruppe Ps. 3-14 ist eine liturgische Verwendungsweise von Ps. 9/ 10 im offiziellen Großkult auszuschließen. 93 Vielmehr sind deutliche Anzeichen des von o. H. Steck so genannten "literarischen Lesegebrauchs,,94 erkennbar. Die "Verkettung" und "Vemetzung,,95 der einzelnen Psalmen untereinander verweist auf einen strategischen Fortgang der Lektüre von Psalm zu Psalm. Ja, die vielen Stichwortverbindungen, die zum Teil zwar auf die Traditionsgebundenheit der Sprache der Einzelpsalmen zurückzuführen sind, ansonsten aber auch sehr markant ins Auge fallen,96 sprechen schon als solche 91 Vgl. G. BARBIERO, Psalmbuch, 114 ff., wobei auch BARBIERO mit seinem synchronen Ansatz in Erwägung zieht, dass Ps. 9 und 10 ursprünglich eine Einheit gebildet haben (a. a. 0.,89). 92 Vgl. M.1vfILLARD, Komposition, 15 f. 93 V gl. N. FÜGLISTER, Verwendung. 94 O. H. STECK, Abschluß, 109. 95 G. BARBIERO, Psalmbuch, 24. 96 Auf die Concatenatio von Ps. 7; 8; 9-10 über die Namenstheologie (Ps. 7,18; 8,2.10; 9,2) z. B. ist immer wieder hingewiesen worden (vgl. u. a. F. DELITZSCH, Kom-

12. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext von Ps. 3-14

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gegen eine liturgische Verwendung. Sie sind stattdessen als Meditationshilfe gedacht. "Man wird sich jedoch davor hüten müssen, das Meditieren der Texte auf einen individuellen Akt im stillen Kämmerlein einzuengen [ ... ]. Auch für die Gattung [sc. der Psalmenkomposition] wird man deswegen annehmen, daß sie ihren Sitz nicht in der Klause, sondern im Versammlungsraum hatte. ,S7 Ps. 9 / 10 ist Bestandteil einer Komposition, die in der Hauptsache aus Bittgebeten des Einzelnen besteht. Der exemplarische Beter in diesem Zusammenhang ist David. Mit ihm beten die Leser die Psalmen. Bei ihrer Lektüre werden sie aus ihrer empfundenen Isolation (Ps. 3-7) schrittweise in die Gemeinschaft (Ps. 11-14) geführt. In diesem Sinne enthält nicht allein das Profil von Ps. 9 / 10 einen "Gedankenfortschrilt", sondern auch der von seinen Rezipienten entwickelte Kompositionsbogen Ps. 3-14.

mentar, 123; N. LOHFIN"K, Meditation, 150). Aber auch andere Leitbegriffe wie z. B. n~tt! "vergessen" (Ps. 9,13.19; 10,12; 13,2) können nicht einfach als "Allerwelts-wörter" (vgl. M. Mn..LARD, Komposition, 40) abgetan werden. Sie stehen im engen Zusammenhang mit der Thematik der gesamten Psalmengruppe. 97 K. KOENEN, Ps. 90-110, 115, Anm. 4.

13. Kapitel

Ps. 9 / 10 im Kontext des Psalters Nachdem Ps. 9/10 als festes Element der Psalmengruppe Ps. 3-14 bestimmt wurde, steht im Folgenden der weitere Kontext im Blick. Möglicherweise impliziert die Einfügung von Ps. 9 / 10 neben der kleinkontextuellen auch eine großkontextuelle Funktion. P. D. Miller hat nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass der Doppelpsalm auf Psalterebene zum ersten Mal wesentliche Themen zusammen präsentiere. "It may be argued that no other psalm so fully joins the basic themes of the Psalter"l Inwiefern diese Makrofunktion ebenfalls in der Absicht der Redaktoren stand bzw. es sich einfach um parallel verlaufende Redaktionsvorgänge handelt oder ob die Verbindungen zu Ps. 9/ 10 im Rahmen weiterer Ausbaustufen des Psalters erst rückwirkend hergestellt wurden - diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Da die vorliegende Arbeit einen Einzeltext zum Thema hat, können hierbei selbstverständlich nur grobe Linien nachgezeichnet werden.

13.1 Ps. 9 / 10 und die Polyphonie des Elends im ersten Davidpsalter (Ps. 3-41) Nach F.-L. Hossfeld / E. Zenger sei Ps. 9/10 nicht nur als letzter Text in die Psalmengruppe Ps. 3-14 eingesetzt worden, sondern (zusammen mit Ps. 22,28-32)2 auch "als neuer sozialgeschichtlich notwendiger und theologisch aktualisierender Interpretationsschlüssel mr den gesamten [Hervorhebung D. S.] Davidpsalter Ps 3-41,,3 konzipiert. Weil Ps. 9/10 überhaupt der letzte Text sei, der in den ersten Davidpsalter eingesetzt wurde, enthalte er eine hermeneutisch normierende Vorgabe für den ge-

I P. D.1vfILLER, The Ruler, 168. Dabei geht 1vfILLER offensichtlich im Gefolge von F.L. HOSSFELD I E. ZENGER davon aus, "that the psalm was created precisely to bring all these notes into a single and powerful chord" (a. a. 0., 169). Aus meiner Sicht stellt diese Sichtweise eine Überbewertung des Textes dar, zumal andere Themenstellungen durchaus nicht vorhanden sind, wie z. B. Schöpfung und Thora (s. Kap. 13.4). 2 Vgl. F.-L. HOSSFELD IE. ZENGER, Psalmengruppe 15-24, 168. 3 F.-L. HOSSFELD I E. ZEN GER, Selig, 49.

13. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext des Psalters

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samten Textbereich Ps. 3-41. Dieser würde somit als Gebetbuch der "Armen und des armen Volkes Israel,,4 erschlossen. Da m. E. jedoch Ps. 9 / 10 zum einen nicht ausschließlich für seinen literarischen Zusammenhang geschrieben worden ist und zum anderen auch in seiner jetzigen Position inhaltlich-konzeptionell nur in einer polyphonen Wechselbeziehung mit seinen Nachbarpsalmen verstanden werden kann, gilt Gleiches prinzipiell auch für seine Stellung im ersten Davidpsalter. Auf der Ebene der Komposition entsteht dabei eine zusätzliche Korrelation zu einer Anzahl von alphabetischen Akrosticha, von denen das Profil zweier (Ps. 34 und 37) bereits exemplarisch in den Kap. 9.2.1 und 9.2.2 näher bestimmt wurde. Ein vierter Text, Ps. 25, wurde von A. Gelin 5 in diesen zusammenhängenden Kreis von "Armenpsalmen" aufgenommen. Nach der Analyse von F.-L. Hossfeld / E. Zenger zu den übergreifenden Kompositionsbögen des ersten Davidpsalters (Ps. 3-14.15-24.25-34.3541)6 erfüllen alle vier Texte eine formgeschichtlich und hermeneutisch wichtige Aufgabe: Ps. 25 und 34 haben Rahmenfunktion7 , während Ps. 37, wiederum Ps. 9/ 10 vergleichbar, relativ im Zentrum eines Kompositionsbogens (Ps. 35-41) verankert ist. In Bezug auf die Entstehung des ersten Davidpsalters gehen F.-L. Hossfeld I E. Zenger von einem dreistufigen Redaktionsmodell aus. Eine Reihe vorexilischer Laienund Königsgebete sei in spätexilisch-frühnachexilischer Zeit zu einem "Kompendium" zusammengestellt worden. Die Redaktoren hätten dabei einige Psalmen erweitert und zusätzliche Psalmen eingestellt, so dass sich die oben genannten Kompositionsbögen ergeben hätten. Hossfeld I Zenger sprechen in diesem Zusammenhang von einer "Armenredaktion", in der sich ein Gruppenbewusstsein von Menschen mit verschiedenen Notsituationen widerspiegele. Hieran habe in der fortgeschrittenen Nachexilszeit eine weitere Redaktion im Geist einer "Armenfrömmigkeit" angeknüpft, die Armut primär spirituell verstanden habe. Erst durch die Hinzufügung von Ps. 9/10; 22,28-32 sei "der Begriff ,die Armen' (und Synonyma) so ausgeweitet [worden], daß damit Israel als Ganzes in seiner Bedrohung von innen und vor allem von außen bezeichnet wird,,8.

F.-L. HOSSFELD IE. ZENGER, Kommentar 1993, 83. A. GELIN, Die Armen, 36. 6 Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 23. In Kap. 12.5. hatte ich allerdings zu Bedenken gegeben, dass - zumindest im Bereich 3-15 - mit zusätzlichen Binnenstrukturen zu rechnen ist, die ergänzend oder "quer" zu den von HOSSFELD I ZEN GER erhobenen Bögen stehen. 7 Vgl. E. ZENGER, Psalmauslegung, 406: "Beide Psalmen, die sich als ,Bitte' (Ps 25) und ,Dank' (Ps 34) entsprechen, sind durch ihre redaktionellen (Überschuß im Akrostichon!) Schlusszeilen 25,22 und 34,23 miteinander verklammert ( ... )." Zur programmatischen Funktion von Ps. 34 vgl. auch H. SPIECKERMANN, Hymnen, 145 ff. 8 F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Selig, 50. 4

5

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

Die These einer bzw. verschiedener "Annemedaktionen" ist in der Folgezeit von verschiedenen Seiten her in Frage gestellt worden. 9 Da in dieser Arbeit anhand von Ps. 9/10 (und weiterer Texte wie z. B. Ps. 22) nachzuweisen versucht wurde, dass das Wort ".lll einer Verallgemeinerungstendenz unterliegt lO , spricht zunächst einmal nichts gegen die Möglichkeit, dass diese Eigenschaft von Redaktoren ausgenutzt wurde. 11 Allerdings wird man sich die von Hossfeld I Zenger herausgearbeiteten sozioreligiösen Profile der verschiedenen Überarbeitungen nicht so trennscharf vorzustellen haben, wie die Exegeten es bisweilen unterstellen. Das betrifft vor allem die These einer geradlinigen Entwicklung der Konzeptionen ("Protest und Kampf gegen die Pauperisierung der Massen, d. h. der ökonomisch Armen; Ethisierung und Spiritualisierung von Armut als Armenfrömmigkeit, d. h. Armut als Haltung vor JHWH; Israel als das ,anne', von den Völkern verfolgte Gottesvolk usw."12). Z. B. ist die Vorstellung, dass ganz Israel ann sei, bereits bei Deuterojesaja l3 zu finden, und eine Spiritualisierung des Annenverständnisses ist bei Zefanja l4 angelegt. Und warum sollte das ökonomische Moment in Ps. 9/10 nur noch eine untergeordnete Rolle spielen? Da wir im gesellschaftlichen Diskurs seit der Exilszeit durchlaufende und einander sich überlagernde Vorstellungen und Konzeptionen antreffen, "ist Vorsicht geboten gegenüber der methodisch wie sachlich problematischen Folgerung" von einem in den entsprechenden Psalmenbüchern "erhebbaren kompositionellen und entstehungsgeschichtlichen Entwicklungsprozeß auf einen dahinter stehenden entsprechenden geistigen Progreß und eine derartige (enggeführte) Konzeptionsgeschichte."15 M. a. W.: Die Mentalitäts- bzw. Konzeptionsgeschichte hat nur mittelbar etwas mit der Zusammenstellung der Texte zu tun. Dieses Faktum verkompliziert natürlich den Versuch, unter Zuhilfenahme der Tendenzkritik nach Wachstumsstufen des ersten Davidpsalters Ausschau zu halten.

Anhand mentalitäts- und sozial geschichtlicher Analysen habe ich zu belegen versucht, dass hinter Ps. 9/10; 25; 34; 37 ganz unterschiedliche 16 Konzeptionen stehen. Ihnen gemeinsam ist die Herausbildung von sich verfestigenden Gruppenkonstellationen. Damit kann sich ein Leser beim Durchgang des ersten Davidpsalters mit verschiedenen der darin enthaltenen Selbstbezeichnungen identifizieren. In der Konsequenz entsteht im Lesevorgang eine gewisse Vermischung der Zuordnungen. Mal kann sich der Leser als "Armer" (Ps. 9/ 10; 25), dann als "Gerechter" oder "Herzensgerader" (vgl. Ps. 7; 11), mal als beides zugleich (Ps. 34; 37) verstehen. Hier geschieht das, was N. Lohfink die "Interpenetration der 9 Z. B. in Bezug auf den Umfang der Redaktionsarbeit vgl. eHR. RÖSEL, Redaktion, 88, bzw. die Schichtenabgrenzung und deren konzeptionelle Stringenz M.1vfILLARD, Anmerkungen, 323; Ferner K.-P. ADAM, Held, 131-133. Es ist hier nicht der Ort, die einzelnen redaktionellen Zuweisungen zu diskutieren. 10 Vgl. Kap. 6.2. 11 Vgl. dazu auch M.1vfILLARD, Anmerkungen, 327: "Die weisheitlichen und annentheologischen Elemente, die das Autorenduo herausgearbeitet hat, sind zweifellos wichtige Elemente für die Formation des Psalters." 12 F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Antworten, 336. l3 S. Kap. 6.2.1. 14 S. Kap. 6.2.2. 15 M. LEUENBERGER, Konzeptionen, 393. 16 Vgl. N. FÜGLISTER, Hoffnung, 102.

13. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext des Psalters

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Aspekte,,!7 genannt hat. Diese Polyphonie ("Vielstimmigkeit") ist intendiert und stellt das eigentliche "Konzept" des ersten Davidpsalters dar. Wenn nämlich die Einschaltung von Ps. 9 / 10 erst die vollständige Bildung eines einleitenden Kompositionsbogens Ps. 3-14 ermöglicht hat, steht zu vermuten, dass auch die nachfolgenden Bögen (Ps. 15-24.2534.35-41) mittels der Weisheits- und Armenpsalmen ihren prägenden Stempel bekommen haben 18 Die kompositorische Wechselbeziehung von Ps. 9/10 und 15 wurde in Kap. 12.5 bereits herausgearbeitet; für die AIphabetakrosticha Ps. 25 und 34 liegt eine entsprechende Funktion ebenfalls nahe. Eine genauere Analyse kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Hingegen dürfte die aufgezeigte Stoßrichtung dahin führen, die von F.-L. Hossfeld / E. Zenger vermutete(n) (nachexilische(n)) Armenredaktion( en) überkonzeptionell und nicht als Produkt eines bestimmten Armenverständnisses aufzufassen. Oder anders gesagt: Die verschiedenen Redaktoren operieren zwar mit "Armenpsalmen", gehören aber selbst weder zu den Armen noch vertreten sie lediglich eine dezidierte Armentheologie.!9 Aufgrund der lHWH-Königs-Theologie von Ps. 9/10 lassen sich über die Bezugspunkte zu den verschiedenen "Armenpsalmen" hinaus noch weitere Assoziationslinien im ersten Davidpsalter denken. Außer dem schon erwähnten Ps. 22 (vgl. V. 29) ist hier insbesondere der Hymnus Ps. 29 zu nennen, der das Thema des Königtums Gottes profiliert zur Sprache bringt. Dieser Text nimmt außerdem in Verbindung mit einem Danklied (Ps. 30!) ebenfalls eine Mittelstellung in der Gruppe Ps. 25-34 ein 20 Ps. 29 hat also eine Ps. 9/ 10 vergleichbare Überleitungsfunktion. Natürlic~ h~ndelt es sic~ in diesem ~usammenhan~l wieder um. ganz unterschIedlIche RedeweIsen vom Kömgtum Gottes. Der Satz m Ps.

Vgl. N. LOHFINK, Meditation, 152. "Die relativ gleichmäßige Verteilung der Beispiele" spricht aus Sicht von E. S. GERSTENBERGER, Perserzeit, 179, hingegen allenfalls dafür, dass diese Dichtungen nachträglich in bestehende Teilsammlungen eingefügt worden sind. Dieses Argument überzeugt mich nur insofern, als es zugrunde liegende Psalmengruppen gegeben haben muss, bevor sie abschließend (um)strukturiert wurden. 19 Vgl. dazu die abschließenden Ergebnisse von N. WHYBRAY, Reading, 119, bezüglich der konzeptionellen Leitlinien auf der Buchebene des Psalters: "There is no evidence that there was a systematic and purposeful redaction of the whole Psalter in any of the suggested ways." Im Gegensatz zu den oben angeführten Versuchen, Ps. 9/10 in die Kompositionsgeschichte seines näheren Kontextes einzubeziehen, hält N. WHYBRAY das Unterfangen, kompositorische Prozesse im Einzelnen nachzuvollziehen, für nahezu unmöglich (vgl. a. a. 0., 124). Auch wenn ich seinem zurückhaltenden Ansatz viel abgewinnen kann, ist er m. E. an dieser Stelle zu pessimistisch. 20 Vgl. dazu die Tabelle über die Kompositionsbögen mit Dankliedhöhepunkt bei M. Mn..LARD, Komposition, 163. 21 Vgl. J. JEREMIAS, Königtum, 29-45. 17

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

29,10 CI,,~, 1'~ ;'11;'1' :l1li'1 ("Und JHWH hat sich als König niedergelassen für immer / von Urzeit her") erinnert inunerhin recht deutlich an die Prädikation JHWHs als König in Ps. 10,16 (ebenfalls mit C"~). Insgesamt betrachtet erhält die Theologie des Königtums JHWHs im Zusanunenhang des ersten Davidpsalters noch nicht die Betonung, die ihr dann mit Beginn des vierten Psalmbuchs zugeteilt wird (s. Kap. 13.3). Denn konzeptionell wird der Leser zunächst "in die conditio humana in mundo coram deo in stereotypen Wechselfällen (,Grundsituationen') des Lebens,,22 geführt. Doch ist dabei Gott als König durchaus schon an verschiedenen - aber eben nicht gesammelten - Stellen präsent. 23

13.2 Ps. 9/ 10 im Rahmen des "messianischen Psalters" (Ps. 2-89) Vergleicht man zunächst den ersten Davidpsalter mit den diversen Teilsammlungen, aus denen sich der sog. "elohistische Psalter" (Ps. 42-83) zusammensetzt, so sind sowohl Gemeinsamkeiten wie auch auffallige Unterschiede zu verzeichnen. Mit der zweiten Sammlung von Davidpsalmen (Ps. 51-72) verbindet ihn das hohe Vorkommen von Bittgebeten des Einzelnen. Im Gegensatz jedoch zu der diesen Kembereich rahmenden Korach- (Ps. 42-49) bzw. Asafkomposition (Ps. 73-83) ist die Völkerperspektive im Rahmen des ersten Davidpsalters deutlich unterbesetzt. Im Bereich von Ps. 3-41 steht kein einziges Volksklagelied, wie man sie vorzugsweise in der Asafkomposition (Ps. 74; 79; 80; 83), mit einem Vertreter auch in der ersten Korachkomposition (ps. 44) findet. 24 Und auch die Zionslieder, die sich ja in besonderer Weise mit der potentiellen Gefährdung durch feindliche Völker auseinandersetzen (vgl. Ps. 46,7; 48,5-8), stehen vorzugsweise an diesem Ort beieinander. Hinweise auf die Völker finden sich innerhalb von Ps. 3-41 (abgesehen von Ps. 9/ 10) expressis verbis lediglich in Ps. 18,44.50; 22,28 f.; 33,10 (C'1l); 7,9; 18,48; 33,10 (C'~~); 7,8 (c'~~'). Nimmt man die kollektivierende Bezeichnung C'~-'l:l ("Menschenkinder") hinzu (Ps. 11,4; 12,9; 14,2; 31,20; 33,13), erweitert sich das Vorkommen auf acht Psalmen. Das 22

M. LEUENBERGER, Konzeptionen, 102.

P. D.1vfILLER, The Ruler, 175 ff., betont in diesem Zusammenhang die Verbindung von Ps. 9/10 zu den Psalmen 2 und 72, obwohl er festhält, dass von einer FÜTsorgefunktion des irdischen Königs in Ps. 9/10 keine Rede ist. Obwohl 1vfILLER die viel offensichtlicheren Bezüge von Ps. 9/10 zu den JHWH-König-Psalmen des vierten Psalmbuches benennt (vgl. a. a. 0., 167.175), zielt sein Fokus m. E. zu sehr auf die sog. "Königspsalmen". Dies hängt aber wohl mit seiner Einschätzung zusammen, Ps. 9/10 sei aus der Sicht eines Königs geschrieben worden (a. a. 0., 172). 24 Nach H. GUNKEL 1 J. BEGRlCH, Einleitung, 117. 23

13. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext des Psalters

251

bestätigt die makroformgeschichtliche Beobachtung C. Westermanns, der erste Davidpsalter enthalte im Wesentlichen Psalmen des Einzelnen. 25 Eine deutliche Ausnahme bilden hier jene Texte, welche die Völkerperspektive nicht nur punktuell, sondern auch konzeptionell einbringen (Ps. 7; 9/10; 18; 22; 33). Interessant ist, dass die angeführten Texte - sicherlich nicht ohne Absicht - gleichwohl ihren Charakter als Psalmen des Einzelnen beibehalten. Ps. 9/ 10 thematisiert in gesamtisraelitischer Perspektive, wie sich einzelne Arme mit je einzeln agierenden "Heiden" auseinanderzusetzen haben. Ausgehend von diesen Beobachtungen haben F.-L. Hossfeld / E. Zenger die Vermutung geäußert, die Eintragung von Ps. 9/ 10 hänge mit der Kombination des "elohistischen Psalters" (Ps. 42-83) mit der getrennt davon entstandenen Sammlung Ps. 3-41 * zum sog. "messianischen Psalter" (Ps. 2-89*) zusammen 26 Damit würden beide Teile um die Sichtweise, dass Israel nicht nur von innen, sondern auch von außen gefahrdet sei, einander angeglichen. Unter den oben genannten Voraussetzungen hat diese These zwar einen sachlichen Anhalt am Text. Allerdings kann es sich nicht um einen einzigen redaktionellen Arbeitsgang handeln, da es zunächst darum ging, eine sich am davidischen Königtum inspirierende "messianische" Leseanleitung zu schaffen. 27 Hinzu kommt, dass wir es auch in diesem Zusammenhang mit redaktionellen Verklammerungen auf der einen und zeitgeschichtlich bedingten Diskursen auf der anderen Seite zu tun haben, die man nicht unmittelbar aufeinander beziehen darf. Denn innerhalb des "elohistischen" Psalters kann genauso eine gegenläufige Richtung beobachtet werden, nämlich dort, wo völkerperspektivisch ausgerichtete Psalmen um individuelle Aspekte angereichert werden (s. u.). M. a. W.: die Abhängigkeitsverhältnisse können im Einzelfall nur sehr begrenzt festgestellt werden. Es könnte daher zwar sein, dass Ps. 9/ 10 (mitsamt den ihn betreffenden redaktionellen Vorgängen im ersten Davidpsalter) in den bereits bestehenden Makrotext Ps. 2-89* eingesetzt wurde, ebenso gut ist aber auch der umgekehrte Fall denkbar. Auf der diskursiven Ebene ist darüber hinaus zu beachten, dass mit Ps. 9 / 10 nicht die Völkerperspektive in den ersten Davidpsalter eingebracht wird, sondern eine von verschiedenen, die sich gegenseitig interpretieren. 28

c. WESTERMANN, Sammlung, 196 f. Vgl. F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, Kommentar 1993, 15. 27 Vgl. jetzt F.-L. HOSSFELD I E. ZEN GER, Kommentar 2000, 33, die mit "messianischen Brücken" in Ps. 18,51; 20,7; 28,8 und 45,8 rechnen. CHR. RÖSEL, Redaktion, 88, geht demgegenüber davon aus, dass die Königspsalmen 18; 20 und 21 als Ganze im Zuge dieser Redaktion eingestellt worden seien. In jedem Fall handelt es sich um ein konzeptionell begrenztes Vorhaben. 28 Dass z. B. die Rede von den Völkern in Ps. 22,28 ff. sachlich und terminologisch auf einer vergleichbare Ebene liegt, wurde bereits festgestellt (8.2.1). Damit reiht sich 25 26

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

Wir können nun einzelne Gruppenprofile innerhalb des "messianischen Psalters" mit Ps. 91 10 vergleichen. Hervorzuheben sind hier zunächst die beiden Korachitenpsalmengruppen Ps. 42-49 und 84-88* (zunächst ohne Ps. 86), deren paralleler Aufbau in einer gewissen Korrespondenz zu Ps. 9/10 und seinem Nahkontext steht. Ps. 42-43 und Ps. 84 eröffnen die Kompositionen mit einer individuellen Klage, in der sich die Sehnsucht des Beters nach dem Tempel 1 Zion ausspricht (vgl. 42,5; 43,4 11 84,25.11). Diese Tendenz wird jeweils mit einer kollektiven Notschilderung weitergeführt (Ps. 44 11 Ps. 85) und dann mit hymnischen Psalmen beantwortet. "Sie feiern die Vollmacht des Zionsgottes, der das den Zion Uffibrandende Chaos bändigt und seinem Volk Frieden stiftet (Ps 45-48), ja den Zion zur Lebensquelle für alle Völker macht (Ps 87).,,29 Charakteristisch für beide Psalmengruppen ist ferner, dass sie mit einem weisheitlich imprägnierten Lehrgedicht und einem Klagepsalm schließen, deren vorherrschendes Thema die Vergänglichkeit des Lebens ist (vgl. z.B. Ps. 49,13.21 11 Ps. 88). Dieser weitgehend parallele Aufbau der beiden Korachitenpsalmengruppen ist von verschiedenen Exegeten in überzeugender Weise herausgearbeitet worden. 3D Auch die Psalmengruppe Ps. 3-14 ist von einer (emotionalen) Bewegung zum Tempel hin geprägt, was sich besonders an Ps. 5 als ihrem Motor ablesen lässt 3 ! Diese Sehnsucht wird mit Ps. 9/10 als Höhepunkt des Kompositionsbogens aufgenommen. Im selben Atemzug schlägt aber auch hier bereits die Stimmung um in die Klage, die sich in ambivalenter Form in die Teilgruppe Ps. 11-14 hinein fortsetzt. Das forrngeschichtliche Schema Klage-Lob-Klage kehrt also in modifizierter Art und Weise im Bereich von Ps. 3-14 wieder. Die Korachitenpsalmengruppen und die Psalmengruppe Ps. 3-14 kombinieren dabei individuelle und kollektive Ausdrucksformen, wobei jeweils eine dieser Formen als Ergänzung zur anderen hinzugesetzt wurde: "Die Zions- und Davidsmotivik in Ps 45-48 ist [ ... ] zum universalen BegfÜlldungszusammenhang individueller Lebensvergewisserung in Ps 42/43 und Ps 49 als Rahmen für Ps 45-48 gediese Fortschreibung in den genannten Diskurs ein. Insgesamt betrachtet wird die in Ps. 9/10 angelegte Tendenz, innerhalb der Völkerwelt zu unterscheiden, ausgebaut (vgl. F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Psalmengruppe 15-24, 168). Ps.33 nimmt in diesem "Konzert" eine Mittelstellung ein, insofern als er lediglich den "Rat der Heiden" gegen den "Rat JHWHs" (V. 10 f) stellt (von einer offensiven Aggression der Völker gegen Israel verlautet ebenso wenig wie von ihrer aktiven Hinwendung zu ffiWH). 29 E. ZEN GER, Kommentar 2000, 521. 30 Vgl. E. ÜTTO, l'"~, 1014 f; M. Mn..LARD, Komposition, 63-75; E. ZEN GER, Korachpsalmen, 186-190; DERS., Kommentar 2000, 520 f Dass dabei die zweite Gruppe (Ps. 84-88 *) in Anlehnung an die erste gebildet wurde, lässt sich hauptsächlich darauf zurückführen, dass sie außerhalb der elohistischen Tendenz der Teilsammlung Ps. 42-83 steht (vgl. F.-L. HOSSFELD 1 E. ZENGER, Kommentar 2000, 32.520). 31 S. Kap. 12.3.4.

13. Kapitel: Ps. 9/10 im Kontext des Psalters

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worden.,,32 In Ps. 3-14* dagegen war der individuelle Aspekt vorgegeben und wurde durch Ps. 9/10 nebst Ps. (12).14 um die Zions- und Völkerperspektive erweitert. Über die formalen Gemeinsamkeiten hinaus begegnen insbesondere in der ersten Psalmengruppe der Korachiten markante Motivverwandtschaften, von denen einzelne auf ein mit Ps. 9/10 gemeinsames traditionsgeschichtliches Milieu zurückzuführen sind (z. B. Ps. 44 33 ; 4648 34). Durch die oben beschriebene Formation der jeweiligen Psalmengruppen gewinnen diese Motive eine zusätzliche Tiefenschärfe. So ist z. B. die Klage darüber, dass JHWH den Beter "ver~essen" (n:>lli) habe, sowohl für Ps. 42,10; 44,25 wie für Ps. 9/ 10 selbst' und seinen umnittelbaren Kontext konstitutiv (vgl. Ps. 10,11 mit 13,2). Und das Interrogativadverb ;r~" welches Ps. 10,1 u. a. aus Ps. 44,24 f. entlehnt hat, begegnet auch in Ps. 42,10 /43,2 wieder. 36 Schließlich wird der in Ps. 47,2 an "alle Völker" (c'~~;r-,::» erklingende Aufruf zum Jubel über JHWH in Ps. 49,2 ff. in weisheitlich-didaktischer Form weitergeführt: Die Völker sollen aus der Erkenntnis, dass jeder "Mensch" (c,~ 49,13.21) - ob reich oder armsterblich ist, Konsequenzen für ihr eIgenes Handeln ziehen. Auffalligerweise taucht das Vergänglichkeitsmotiv auch in Ps. 9/ 10 auf, doch verweigern sich hier "alle Heiden" (c',r,::> 9,18), weil sie Gott vergessen, von vornherein der Einsicht in die eigene Sterblichkeit. Deswegen sollen sie von 1lI\VH gerichtet werden, damit sie am eigenen Leibe merken, dass sie nur "Menschen" (hier 1li1l~ 9,21; 10,18) sind. Der völkerpositive Begriff C'~~ in Ps. 9,12 korrespondiert daher der Bezeichnung in Ps. 49,2, sofern damit derjenige Teil der Völkerwelt gemeint ist, der sich die Mahnungen des Dichters zu Herzen ninunt. Die hier eruierten Übereinstimmungen können dementsprechend als konzeptionelle Analogie aufgefasst werden. Eine Wiederaufllahme durch die Redaktoren, die Ps. 9 / 10 eingestellt haben, mit dem Ziel, die Korachitenpsalmengruppe durch die eigene erklären zu wollen, war dabei nicht intendiert. Dieses anzunehmen würde auch keine unmittelbar hermeneutisch relevanten Einsichten, die über das Erreichte hinausgehen, erbringen. 37 E. ÜTTO, l'"~, 1014. S. Kap. 5.1.; 6.2.4. 34 S. Kap. 6.3.2. 35 S. Kap. 4.2. 36 E. ZEN GER, Korachpsalmen, 184, hat zudem darauf hingewiesen, dass das Wort j'"j~' in 42,10 143,2 und 44,24 f. jeweils sogar gedoppelt auftritt. 37 Insbesondere würden Ps. 9/10 und seinem Kontext ein kompositorisches Gewicht beigemessen, das in keinem ausgewogenen Verhältnis zu den übrigen Teilkompositionen des Psalters steht. Die weisheitliche Rahmung mit Ps. 42/43 und 49 könnte auch zeitlich parallel zur Einschaltung von Ps. 9110 etc. erfolgt sein. 32 33

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Teil 111: Ps. 9/10 im literarischen Kontext

In die zweite Korachitenpsalmengruppe 84-85.87-88 ist zu einem späteren Zeitpunkt zusätzlich der Davidpsalm 86 eingestellt worden, der wie Ps. 9/ 10 von einer Armentheologie geprägt ist 38 Ob dieser Vorgang auf dieselben Hände zurückzuführen ist, die Ps. 9/10 (u. a.) an seine jetzige Stelle gebracht haben, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Zwar sind die den bei den Psalmen zugrunde liegenden theologischen Profile im Ansatz grundverschieden (einmal, weil der Beter seine "Armut" dezidiert als einen Aspekt seiner Frömmigkeit hinstellt (Ps. 86,14)39, zum anderen, weil er die Hoffnung ausspricht, dass letztlich alle Völker / Heiden vor JHWH anbeten werden (V. 9 f.); außerdem findet sich die Titulierung JHWHs als König im ganzen Psalm), doch würde dieser Umstand einen überkonzeptionellen redaktionellen Arbeitsgang nicht ausschließen. Wie E. Zenger präzisiert, erklärt sich Ps. 86 zunächst einmal "als Summarium ,davidischer' Psalmen [ ... ], insbesondere der Teilkompositionen Ps 40-41 und Ps 69-71.72, mit denen die beiden ,Davidpsalter' Ps 3-41 und Ps 51-71.72 schließen,,4o Die über Ps. 9/10 (u. a.) in den ersten Davidpsalter eingetragene individuelle Völkerperspektive steht in Analogie zum Programm, auch in die von Volksklagen geprägte Asafpsalmenkomposition 73-83 armentheologische Aspekte des Einzelnen einzubringen. Dies ist anhand der Fortschreibung von Ps. 74 gut ablesbar. Da an anderer Stelle auf die Ergänzung in V. 19-21 hingewiesen wurde,41 erübrigen sich weitere inhaltliche Ausführungen. Auf kompositionskritischer Ebene ist v.a. bedeutsam, dass der Aspekt der Bitte aus dem Grundpsalm noch einmal verstärkt wird. Dem korrespondiert eine nachträgliche Ergänzung in Ps. 76,9 f., die - weil sie im Kontext eines Psalms mit Orakelmotiven (Ps. 75) steht und ebenfalls armentheologisch eingefärbt ist - "als Antwort Gottes auf die Bitte von Ps 74,19-21,,42 zu lesen ist. Die konzeptionelle Nähe dieser Nachträge zu Ps. 9 / 10 (Klage / Bitte) bzw. Ps. 12 (Antwort Gottes) lässt darauf schließen, dass beide Textanteile im gleichen Zeitraum an entsprechender Stelle platziert wurden.

38 So auch M. MILLARD, Komposition, 73. 39 Vgl. die parallel aufgebaute Reihe der Attribute, die jeweils mit "~ ("denn") eingeleitet wird. 4 0 E. ZENGER, Kommentar 2000,537. 41 S. Kap. 6.3. 42 E. ZENGER, Kommentar 2000,390, der 74,19-21 und 76,9-10 einer redaktionellen Hand zuweist, die damit auch die Komposition der Asafpsalmen sichergestellt habe. Die Sammlung Ps. 73-83 bildet jedoch auch ohne diese Fortschreibungen eine sinnvoll abgestimmte Zusammenstellung, d. h. die entsprechenden Verse könnten auch in die bereits bestehende Komposition eingesetzt worden sein.

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13.3 Ps. 9 /10 und die IHWH-Känig-Psalmen (Ps. 93-100) Im Rahmen der obigen traditions- und mentalitätsgeschichtlichen Analysen wurden bereits verschiedentliche Verbindungslinien zu den sog. JHWHKönig-Psalmen aufgezeigt. 43 Eine repräsentative Anzahl von ihnen liegt nun in einer eigens zu diesem Themenkomplex geschaffenen Komposition (Ps. 93-100) vor. Das neben dem Königtum Gottes für Ps. 9/10 konstitutive Thema der "Armen" (C"l~) spielt in dieser Gruppe bedingt durch die Dominanz des hymnischen Grundtons nur eine untergeordnete Rolle. Diese Linie wird allerdings an einer Stelle durch Ps. 94 durchbrochen. M. Millard44 interpretiert diesen Psalm makroformgeschichtlich als "Themenklage", welche die folgende Hymnengruppe in gleicher Weise präludiert wie der 'l~-Psalm 102 die Gruppe Ps. 103-106. Einen möglichen Zusammenhang mit der Formation des vierten Psalmbuches erwägen auch F.-L. Hossfeld und E. Zenger in ihrem neuen Psalmenkommentar: 45 Ps. 94 sei (zusammen mit Ps. 97 und 99) in die ältere Formation der JHWHKönig-Psalmen (Ps. 93-100* als vormaliger Abschluss eines Psalters vom Umfang Ps. 2-100*) eingestellt worden. Die späteren Bearbeiter hätten damit die Theologie der Gesamtgruppe modifiziert: "Das auf der Linie Ps 93; 95; 96; 98 und 100 geradezu problemlos kultische Miteinander von Israel und Völkerwelt wird durch die Linie Ps 94; 97; 99 spannungsreicher und ,realistischer,,,46 Wie auch immer man sich den Entstehungsvorgang dieser Gruppe im Einzelnen zu denken hat, folgende Konsequenzen sind intendiert: Da Ps. 94 als einziger Psalm im Gefüge der Gruppe Ps. 93-100 das Armenthema einbringt, entsteht insgesamt eine Konstellation, wie sie für Ps. 9/ 10 grundlegend ist. Möglicherweise steht dieser Redaktionsvorgang sogar in gewisser Weise zeitlich parallel zu dem von Ps. 9/10 selbst. Das Verhältnis von Hymnus / Lob und Klage gestaltet sich dabei allerdings in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis: Während Ps. 9/10 im Rahmen des Kompositionsbogens Ps. 3-14 einen hymnischen Kontrapunkt zu den umliegenden Klagen setzt, bringt Ps. 94 in seinen vom Jubel bestimmten Kontext punktuell die Klage ein. Wenn die mit Ps. 9/10 verbundene Komposition (ps. 3-14) formale und inhaltliche Parallelen zu einzelnen Teilkompositionen innerhalb des "messianischen Psalters" wie auch zur Gruppe der JH\VH-König-Psalmen aufweist, verlangt diese Struktur, makroformgeschichtlich näher ausge43 Vgl. zu Ps. 96 und 98 die Ausführungen in Kap. 6.3.3; zu Ps. 94 und 97 Kap. 9.2.3 und 9.2.4. 44 M. MILLARD, Komposition, 148 ff. 45 F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER Kommentar 2000,657. 46 DIES., a. a. 0., 709.

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wertet zu werden. Dies kann am ehesten im Zusammenhang mit der Büchereinteilung des Psalters geschehen, die zu diesem Zeitpunkt schon im Werden war. 47 In verschiedenen Publikationen der letzten Jahre ist die These aufgestellt worden, dass die Einteilung des Psalters in fünf Bücher eine geschichtstheologische Interpretation nahe lege. So kommt G. H. Wilson zu dem Ergebnis, dass mit dem Ende des dritten Psalmbuches (Ps. 89) auch der Untergang der davidischen Dynastie angezeigt sei. 48 Das vierte und fünfte Psalmbuch seien demzufolge als Antwort auf das Exil zu verstehen, die sich durch die Entfaltung der JHWH-Königs-Theologie (Buch IV)49 und durch die Mahnung zum Vertrauen in das Königtum Gottes (Buch V)so konkretisiere. Diese auf den Gesamtpsalter hin ausgerichtete Leitperspektive ist von R. G. Kratz 51 noch einmal detaillierter begründet worden: Das vierte Psalmbuch (Ps. 90-106) sei der Epoche des Exils zuzuordnen (Ps. 90,10 Anspielung auf die ,,70 Jahre" währende Zeit der Verbannung; vgl. Sach.7,5), "in der das davidisch-salomonische Königtum an Jhwh allein übergeht"S2 Folglich beginne dann in Gestalt des fünften Buches (Ps. 107-150) "eine Epoche der Restitution, in der in anderer Form wiederkehrt, was gemäß Ps 3-72 einmal gewesen und gemäß Ps. 73-106 verlorengegangen ist. ,,53 Wenn diese Gesamtperspektive richtig sein sollte, stellt sich natürlich zwangsläufig die Frage, wie Ps. 9/10 - als JHWH-König-Psalm datiert aus spätpersischer / frühhellenistischer Zeit - in seiner Zuordnung zur davidisch-salomonischen Epoche zu verstehen ist. Man könnte darauf rekurrieren, dass er in seiner jetzigen Position "gegen den Primärsinn auf die gedachte Epoche bezogen und damit historisch eingegrenzt"S4 werde. J. C. McCann Jr. erklärt das Phänomen in der Weise, "that Books I-III themselves already begin to answer the problems posed by the exile, dispersion and oppression of Israel by the nations in the postexilic era."ss 4 7 Vgl. F.-L. HOSSFELD / E. ZEN GER, Kommentar 2000,33, die davon ausgehen, dass im Zuge der "messianischen Redaktion" auch die Doxologien Ps. 41,14; 72,18 f und 89,53 eingesetzt wurden. 48 Vgl. G. H. WILSON, Editing, 270. 49 DERS., a. a. 0., 279. 50 DERS., a. a. 0., 289. 51 R. G. KRATZ, Thora Davids. 52 DERS., a. a. 0., 22. 53 DERS., a. a. 0., 23 f Vgl. im Anschluss an diese Interpretation: B. JANOWSKI, Biblia, 147 f 54 R. G. KRATZ, Thora Davids, 23, der dies als eine mögliche Erklärungsvariante beschreibt. 55 J. C. MCCANN JR., Books I-III, 95 (Hervorhebung im Original). MCCANN richtet dabei sein Augenmerk allerdings nicht speziell auf Ps. 9/ 10, sondern beispielhaft auf die jeweiligen Buchanfänge (Ps. 1 f; Ps. 42-44, Ps. 73 ff).

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Dieser Deutung zufolge würde der Doppelpsalm eine vorwegnehmende Perspektive eröffnen. In seiner Zuordnung zur Komposition der llIWHKönig-Psalmen wäre damit das epochenmäßige Verhältnis genau entgegengesetzt. Man kann zu Recht fragen, ob auf Buchebene diese strengen Lesekriterien auf jeden einzelnen Psalm hin gedacht überhaupt durchzuhalten sind. 56 Am ehesten wird davon auszugehen sein, dass Ps. 9 / 10 "sowohl einen Platz in der linearen Verlaufslinie der Geschichte hat als auch mit anderen Epochen gewissennaßen gleichzeitig ist und so für sich wie auch im geschichtlichen Zusammenhang immer auf den Ausgan~ der Geschichte und mithin auf die eigene Situation des Rezipienten zielt." 7 Und gerade in seiner relativen Anfangsposition eröffnet Ps. 9 / 10 implizit (!) einen weit in den Psalter hineinreichenden Spal1l1ungsbogen. Mit ihm wird die drängende Frage an JH\VH gerichtet, ob sich seine Macht, den Annen beizustehen, tatsächlich bewährt. In Form der Gruppe Ps. 93-100 erfährt diese Frage ein grandioses Echo. Die in Ps. 10,16 anklingende Prädikation 1'~ ;"1';"1' erfolgt gleich mehrfach (Ps. 93,1; 95,3; 96,10; 97,1; 98,6; 99,1). Möglicherweise stellt sogar der Satz" er wird den Völkern (das) Urteil sprechen in Geradheit" in Ps. 96,lOb einen Zusatz dar, der als expliziter Rückbezug auf Ps. 9,9 (bzw. Ps. 7,9) gelesen werden soll:58 JHWH hat unmissverständlich seine Königsherrschaft angetreten und wird daher die entsprechenden Maßnahmen ergreifen. Trotz alledem hält sich auch im Rahmen der (erweiterten) Komposition Ps. 93-100 weiterhin die Frage: "Bis wann sollen die Frevler, JHWH, bis wann sollen die Frevler jubeln" (Ps. 94,3)?59 Diejenigen, die sich für die Benachteiligten einsetzen wollen, stehen immer noch mit dem Rücken zur Wand (vgl. Ps. 94,16) und rufen nach dem n'~l'l-'~ ("Gott der Vergeltung", 94,1). Der durch Ps. 9/10 evozierte Spannungsbogen in Bezug auf das Verhältnis zwischen der Situation der Armen und Hilflosen und der sich durchsetzenden Königsherrschaft JHWHs verlangt nach einer F ortsetzung. 56 Vgl. N. WHYBRAY, Reading, passim, der generell skeptisch gegenüber Theorien ist, die einzelnen Psalmen großkontextuelle Funktion für die Theologie des Psalters zuschreiben. Auch sehr profiliert gesetzte Psalmen, wie z. B. Ps. 73, seien nicht Teil einer auf den gesamten Psalter hin ausgerichteten Redaktion, sondern allenfalls "an exception in so far as its position exactly at the midpoint of the Psalter could be significant and may point to an intention - not, however, fully implemented - at a late stage in the redaction of the book to accentuate the importance of wisdom theology" (a. a. 0., 120). 57 R. G. KRATZ, Thora Davids, 23. 58 Im Gegensatz zu den anderen Versen in Ps. 96 ist V. 10 als Trikolon gestaltet. Und anstelle des geläufigeren Verbes ~ott! für "richten" wird hier wie in Ps. 9,9 verwendet (vgl. F.-L. HOSSFELD, Kommentar 2000,667.670). 59 Vgl. die gleiche Form der Redundanz in Ps. 13,2 ff. als Reflex auf Ps. 12!

r"

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13.4 PS. 9/10 und das "Schlusshallel" (Ps. (145.)146-150) Es dürfte daher kein Zufall sein, dass im Schlussabschnitt des Psalters das Thema Königtum JHWHs in Verbindung mit dem Schicksal der "Armen" noch einmal gehäuft auftritt. Gleichzeitig wird das Verhältnis zu den Völkern / Heiden eingebracht. Aufgrund der Tatsache, dass in der Komposition Ps. 145-150 weitere zentrale Themen wie Schöpfung (Ps. 146-148) und Tora (vgl. Ps. 147, 15-19) vorkommen, handelt es sich hierbei eindeutig um eine gegenüber Ps. 9/10 spätere Traditionsvereinigung. 60 Ps. 145-150 löst also verschiedene im Psalter vorhandene Spannungsbögen ein und kann nicht einseitig als Wiederaufnahme der Themen von Ps. 9/10 und seinem konzeptionellen Umfeld gelesen werden. Dennoch besteht die Berechtigung, diesen Teilaspekt gesondert auszuwerten. Dabei muss auch das Profil der Komposition in den Blick genommen werden. Zunächst ist hervorzuheben, dass Ps. 145 in seiner jetzigen Position mehrere Funktionen erfüllt 61 a) Als "Loblied Davids" markiert er im engeren Sinne zunächst das Ende der letzten Gruppe von Davidpsalmen (Ps. 138 ff.)62 Da diese wiederum die beiden ersten Davidpsalmensammlungen Ps. 3-41 und 51-72 rekapituliert, impliziert Ps. 138-145 auch eine Wiederaufnahme dessen, was in Ps. 9/10 (3-14) thematisiert wird. 63 b) Seine durchgestaltete Form als alphabetisches Akrostichon sowie die charakteristischen Bezüge zu Ps. 107 heben ihn zudem in den Rang, das fünfte Psalmbuch insgesamt (Ps. 107-145) zu beschließen 64 c) Betrachtet man darüber hinaus seine spezielle Themenstellung, wird deutlich, dass er auch die durch Ps. 9/ 10; Ps. 93-100 (u. a.) repräsentierte armen- und königstheologische Perspektive auffängt: Das "Königtum" (n1::>'~) Gottes (V. 11-13) wird hierin in besonderer Weise durch JHWHs Größe und Macht (V. 3-6 bzw. V. 17-20) bzw. durch seine Güte und Barmherzigkeit (V.7-9 bzw. 14-16) konkretisiert. 65 Dazu gehört, dass JHWH das Schreien der Bedürftigen und all jener, die ihn fürchten und lieben (V. 1419, vgl. Ps. 9,11), hört und beantwortet, indem er die Frevler unschädlich macht (V. 20). Ps. 145, der wie Ps. 9 / 10 mit einem fulminanten Lob des Namens JHWHs beginnt, schwenkt im weiteren Verlauf nicht in die Klage 60 Von daher enthält die von M. Mn..LARD, Komposition, 234, vorgeschlagene Rahmung des Psalters durch die beiden eruierten Kompositionsbögen Ps. 1-10 und 138150 eine gewisse Schieflage. Das Thema Schöpfung spielt im erstgenannten Bereich gegenüber dem Schlusshallel nur eine untergeordnete Rolle. 61 Vgl. zum Folgenden auch P. D. Mn..LER, The End, passim. 62 M. MILLARD, Komposition, 236. 63 Vgl. z. B. die intertextuellen Bezüge von Ps. 140 mit Ps. 9110 und 11 (140,14 mit 11,7; 140,6 mit 11,6; 140,13 mit 10,14.18). 64 Vgl. E. ZENGER, Komposition Ps. 145-150,5; B. JANOWSKI, Biblia, 148. 65 Vgl. E. ZENGER, a. a. 0., 10.

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um, sondern behält die hynmische Aussageweise. Dies ist auch der Grund dafür, dass sich d) aus seinem letzten Vers (V. 21) das Ps. 146-150 umfassende Schlusshallel inspiriert. Denn die darin enthaltene Selbstaufforderung "Mein Mund verkündige das Lob JHWHs und alles Fleisch lobe seinen heiligen Namen auf immer und ewig" wird mit Ps. 146 beginnend eingelöst. 66 Insofern fungiert Ps. 145 auch als Überleitung zu den letzten fünf Psalmen des Psalters.'7 "Daß die Psalmen 146-150 als Hermeneutik des Psalters konzipiert sind,,68, und ihn damit auch in seiner Formation voraussetzen, findet in der Forschung breite Akzeptanz. 69 Einen konzentrischen Aufbau dieser Komposition hat E. Zenger herausgearbeitet. 70 Israel wird in den drei mittleren Psalmen 147-149 programmatisch als das Volk der "Erniedrigten" (C'1l~ 147,6; 149,4) und "Getreuen" (c','on 148,14; 149,1.5.9) vorgestellt. "Armut" erschließt sich im Schlusshallel somit primär als Haltung gegenüber JHWH. Das bedeutet jedoch nicht, dass andere Verstehensmöglichkeiten ausgeschlossen sind, wie das königstheologische Summarium in Ps. 146,6-9 zeigt: Hier wird JHWH als Helfer der Hungernden, Gefangenen, Blinden, Fremdlinge, Witwen und "Waisen" (Cili~ vgl. Ps. 10,14.18)71 gepriesen - kurz gesagt: "In den Bezeichnungen der Armen werden alle denkbaren Traditionen aufgenommen."n Ebenso werden in der Komposition weitere Spannungsbögen, von denen einer in Kap. 11.3 herausgearbeitet wurde, abgefangen. So wird die Bitte um die "Vergeltung" JHWHs (Ps. 94,1) in Ps. 149,7 wieder aufgenommen und auf die Israel bedrohenden Heiden gewendet. Dass hierbei kein überraschender Sieg über die Feinde religiös legitimiert werden soll, hat R. J. Tournai3 gezeigt. Vielmehr geht es darum, das von den Heiden erlittene Unrecht mithilfe des Gotteslobes zu überwinden 74 Darin liegt auch die sachliche Vgl. N. LOHFINK, Lobgesänge, 108. Vgl. M. Mn..LARD, Komposition, 144. 68 E. ZENGER, Komposition Ps. 145-150,15. 69 Bereits J. BECKER, Wege, 115. M.1vfILLARD, a. a. 0., 145, untermauert diese Einschätzung damit, dass für die Komposition Ps. (145.)146-150 in biblischer Zeit kein gottesdienstlicher Sitz im Leben nachzuweisen ist. 70 Vgl. die tabellarische Übersicht in DERS., Komposition Ps. 145-150, 18. 71 Eine unmittelbare konzeptionelle Wiederaufnahme durch das Stichwort l:I,n" erfolgt damit jedoch nicht, da in Ps. 9110 nicht die dtn.1 dtr. Armentrias aus Fremdlingen, Witwen und Waisen vorherrschend ist, sondern eine ungewöhnliche Kombination der Begriff l:I,n" und j'"j~,n 1 T' (vgl. Kap. 4.1). 72 N. LOHFIN"K, Lobgesänge, 112. 73 R. J. TOURNAY, Psaume 149. Die exegetische Basis seiner Argumentation besteht darin, das' in V. 6b nicht als einfache Kopula ("und"), sondern als vergleichendes' ("wie") zu lesen. ,,Les etoges de Dieu a pleine voix, comme a la maiun epee a deux tranchants" (a. a. 0., 349) (Hervorhebung im Original). 74 So auch N. LOHFINK, Lobgesänge, 125, im Anschluss an R. J. TOURNAY. 66 67

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Parallelität zwischen Ps. 149 und Ps. 9/10, in dem das Lob als "counterspeech and counterpower,,75 gegen die soziale Realität vollzogen wird. Die Tatsache, dass im Schlusshallel die Klage nicht mehr expliziert wird, bedeutet kein naives "Happy End"; vielmehr ist die Notsituation außerhalb des Textes selbst lokalisiert. Insgesamt kann man daher zweifellos eine großkontextuelle Funktion von Ps. 9/ 10 feststellen. "At the beginning of the Psalter, its climax is already anticipated.,,76 Gleichwohl nimmt Ps. 9/10 nicht einfach die Summe einer Theologie des Psalters vorweg. Und seine übergreifenden Bezüge sind nur bedingt redaktionell beabsichtigt. Seine Einschaltung ist durchaus in Wechselbeziehung mit der Komposition des vierten Psalmbuches denkbar (Theologie der Känigsherrschaft lHWHs mit Ps. 100 als Abschluss)77

9110, 11. P. D. 1vfILLER, Ruler, 177. 77 Vgl. M.1vfILLARD, Komposition, 188-212, der in den JHWH-König-Psalmen den Zielpunkt dieser Ausbaustufe des Psalters sieht. Auch laut F.-L. HOSSFELD I E. ZENGER, 75 W. BRUEGGEMANN, Ps. 76

Kommentar 2000, 34, haben die Psalmen 93-100 "ursprünglich den ersten Abschluß eines wohl noch im 4. Jh. geschaffenen Gesamtpsalters Ps 2-100 gebildet".

14. Kapitel

Zusammenfassung Teil III Die Diskursivität der Konzeption des Doppelpsalms 9 / 10 mit parallelen und tangentialen Entwürfen, die im Teil II zu beobachten war, wird im Psalter literarisch umgesetzt. Der Doppelpsalm erhält im Kontext der Psalmengruppe Ps. 3-14 eine programmatische Funktion, die an seinen formalen und inhaltlichen Bezügen zu den Nachbarpsalmen abgelesen werden kann. Allerdings ist Ps. 9/ 10 nicht von vornherein mr diesen Zusammenhang geschaffen worden - dafür zeigen die anliegenden Texte ein zu eigenständiges Profil (z. B. am weitgehenden Fehlen der Armenterminologie in der Gruppe Ps. 3-7 oder der eigenständigen Völkerkonzeption in Ps. 2 und 7). Vielmehr haben spätere Redaktoren die bestehenden Stichwortverbindungen samt der formalen Anlage von Ps. 9/10 ausgenutzt, um das latente Bezugsfeld des Textes zu seinem literarischen Umfeld deutlich zu machen. Die bereits bestehende Psalmengruppe Ps. 3-7 wird durch den Doppelpsalm nachträglich interpretiert, indem die vielfaltigen Notsituationen des Einzelnen aufgenommen und in das Lob Gottes überführt werden (vgl. Ps. 7,18 mit Ps. 9,2). Die Ps. 9 / 10 innewohnende Dialektik von Lob und Klage wird daraufhin an die nachfolgenden Psalmen 11-14 weitergeleitet. Diese offenbaren - im Gegensatz zu Gruppe Ps. 3-7 - eine mit Ps. 9/ 10 vergleichbare Spannung, die erst gegen Ende von Ps. 14 aufgelöst wird (Ausblick auf das endgültige Eingreifen lHWHs zugunsten des Zion). In diesen Texten ist wieder Armensprache ('l~) zu finden, die ausschließlich in Ps. 14 mit der I"'~-Konzeption kombiniert wird (Ps. 14,5 f.). Deswegen steht zu vermuten, dass die Psalmen 11-14 gezielt in einem Atemzug mit der Einschaltung von Ps. 9/10 zu einer Untergruppe gebildet worden sind. Folglich übernimmt Ps. 8 im "Kompositionsbogen"j Ps. 3-14 die Funktion eines hymnischen Zentrums, das wie ein Scharnier die beiden Kleingruppen Ps. 3-7 und Ps. 9-14 gegeneinander profiliert. Während die Klage- und Vertrauens psalmen der ersten Gruppe nebeneinander gestellt sind, um vielfaltige Notsituationen darzulegen, trägt die zweite Gruppe unterschiedlicher Psalmengattungen eine heterogene Gestalt, da sie das Rettungshandeln lHWHs neu problematisiert. Ps. 3-7 lässt sich daher mit

I Nach der Terminologie von M. 1vfILLARD, Komposition,

89.

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M. Millard als "Clusteranordnung,,2 verstehen, die Gruppe Ps. 9-14 dagegen (auch wenn Millard die Grenzen des Kompositionsbogens anders setzt) als "Klagekomposition,,3 Abschließend konnten die Entstehungsverhältnisse des Kompositionsbogens Ps. 3-14 nicht geklärt werden, da sich gezeigt hat, dass die Formation der Untergruppe Ps. 9-14 möglicherweise etwas mit dem Beginn der folgenden Gruppe (ab Ps. 15) zu tun hat. Jedenfalls fugt sich im Rahmen des 1. Davidpsalters (ps. 3-41) Ps. 9 / 10 in das polyphone Konzept verschiedener Armenpsalmen ein (z. B. Ps. 25, 34 und 37), die sich in ihrer Unterschiedlichkeit gegenseitig interpretieren. Dabei setzt Ps. 9/ 10 einen zusätzlichen Akzent, indem er die Psalmen des Einzelnen, aus denen dieser Teilpsalter weitgehend besteht; um die Gruppenperspektive erweitert. Im größeren Zusammenhang des messianischen Psalters hingegen (Ps. 2-89) erhält die Völkerperspektive aus Ps. 9/10 ihr Gewicht. Dabei finden sich in der Korachpsalmensammlung (Ps. 42-49) auffällige Motivverwandtschaften, und die Asafpsalmengruppe ergänzt - spiegelbildlich zu Ps. 3-41 - ihre Völkerperspektive um die Klage des Einzelnen (vgl. Ps.74,19-21)5 Der Aspekt der Königsherrschaft lHWHs verbindet Ps. 9/10 darüber hinaus mit der Psalmengruppe Ps. 93-100, die vermutlich einmal einen Teilpsalter 2-100 abgeschlossen hat. Deshalb steht zu vennuten, dass die Einfügung von Ps. 9/10 im mittelbaren Zusammenhang mit dem Abschluss dieser Großkomposition steht. Denn nunmehr haben alle in Ps. 9/10 beteiligten personalen Größen (Arme (Ps. 3-41), Völker / Heiden (Ps. 2-89) und Gott als König (Ps. 2-100)) in eigenen Teilpsaltem ihre individuelle Entfaltung erfahren. Der in Ps. 9 / 10 angelegte Spannungsbogen findet seinen vorläufigen Abschluss. Die kompositorische Leitidee, die sich hinter diesen Zusammenstellungen von Psalmen erkennen lässt, hat allerdings nur indirekt etwas mit der Konzeption der Einzelpsalmen resp. Ps. 9/10 zu tun. Die Sammler und Kompositeure wollten vielmehr die den Texten innewohnende "Multiperspektivität" (B. Janowski)6 nutzen, um für die Leserinnen und Leser vielfältige Wechselbeziehungen und Gedankenfortschritte erkennbar zu machen.

DERS., a. a. 0., 115 ff. DERS., a. a. 0., 89 ff. 4 Vgl. C. WESTERMANN, Sammlung, 198. 2

3

5

S. dazu ferner Kap. 8.2.2.

6

B. JANOWSKI, Biblia, 389.

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Stellenregister Stellen, die ausführlich diskutiert bzw. im Volltext zitiert werden, sind kursiv gedruckt. Belege in Fußnoten sind nicht aufgeführt.

Genesis 16 16,6 16,11

110 110 110

Exodus 3,7 15,21 22,20-22

110 106/ 111

Levitikus 25,39ff

210

Numeri 10,35

85

Deuteronomium 26,7 111 Richter 21,21

92

1. Samuel 1,10f 1,11

110 110

Jesaja 1-32 1-11 1,15 1,27f 4,2-6 4,6 10,25 11,6ff 12 13-23 13,2

160 145 123 159f,180 159f 160 175 52 145 160 160

13,11 14 14,lf 14,5f 14,5 14,7 14,11 14,15 14,21 16,1.3-5 17,12-14 18,3.7 19,10 19,22 23,17f 24-27 24-26 24,1 24,6 24,14-16 24,16 24,21-23 24,23 25,1-5 25,1 25,2 25,3-5 25,3 25,4f 25,4 25,5 25,6-8 25,12 26,1-6 26,lf

150 99 160 94 99 99 61 61 99 160 50 160 112 139 160 145,147-155,158f, 204,213,215 154 154 154 154 154 155 214 145,147-151,154, 158, 160,205 112, 148f 148f 213 149f,213 150 113,124,149,189 149 155 124 145,151-154,156, 160,197/,205,214 213

Stellenregister

278 26,2 26,4 26,5 26,6 26,8 26,9 26,10 26,18 26,21 27 27,10f 27,13 28-35 28-35 28,1 28,5-29' 28,5f 28,16 29,1 29,5 29,7f 29,11-24' 29,15-24 29,15-18 29,15f 29,15 29,16 29,17-24 29,17-21 29,17 29,18f 29,18 29,19-21 29,19 29,20f 29,20 29,21 29,22-24 29,22 29,24 30,1 31,1 32,1 33 33,1 33,2 33,3 33,8f 33,10-13

152, 198 153 153 152f 63 155 155 154f 154 154,205 154 204 156, 158 160 156 160 160 213 156 158 158 160 155-160,180,183, 204,213, 215 160 156f.,159 91, 156 157 159/, 180 157 156,159,175 156 157,180 157-159 158f 156-158,181 158,213 156,158 157,160 157 157,180 156 156 160 160,240 156,240 240 240 240 240

33,10 33,14-16 33,14 33,15f 33,16 33,17 33,18f 33,22 42,10-13 42,10f 42,13 42,16 42,19 44,23 45,8 47 48,20f 48,22 49,13f 49,13 49,14f 49,14 49,15 49,20f 50,2 51,16 52,9f 52,9 53 53,4fl0 54,1-6 54,8 56,1 56,9-59,21 56,9-57,21 56,9-12 56,11 57,lf 57,1 57,3-13 57,12f 57,12 57,13 57,14-19 57,15 57,16 57,17 57,20f 57,21 58f

240 159f 240 240 124 160 240 160,240 106 106 106 107 107 106f 106 181 106 159 108 106, 109 108 109 108 109 50 159 106 107 182 182 109 168 183 159,180 180-184,215 180,184 88, 180f 181f 181,183 181 181 181 181, 182f 182 182 181 181f 182 159,184 180,184

279

Stellenregister 58,2 58,13f. 59,9-15 59,9.17 59,15-21 59,20 60,17-22 60,17 60,21 61,2 61,10f. 62,8f. 63,1-6

183 180 180, 183f. 183 184 159,183 159, 180f. 183 175,181,183 159 183 159 159

Jeremia 6,13 7,9 8,10 11-20 12,1-6 15,10-20 17,10 17,14-18 18,19-23 20,7-18 20,11 20,12 44,10

88 190 88 145, 185 145 145 132 145 145 145 150 132 112

Ezechiel 22,27 28,7 30,11f. 32,12

88 150 150 150

Hosea 4,2 12,6

190 63

Joel If. 2,1-11 2,1 2,12f. 2,14 2,15 2,17 2,18 2,19 2,20

162 162, 167 161 166 167 161 90,162 162 162 162f.

2,21-27 2,23 2,27 3f. 3 3,1 3,2 3,5 4,1-3 4,1 4,2 4,1 4,4-8 4,4 4,5 4,6 4,9-17 4,12 4,15 4,16f. 4,16 4,17 4,18-21 4,21

162 161 163 160-168,204,214 162 162 167 161,164,167,214 160, 163 162 163,165,214 52 162,165/,210 165,210 210 165,204 160, 163 214 166 161 124,166,214 163, 166 163 161

Obadja 11 12 13 14

122 122 122 122

Nahum 1,2-8 1,7 3,11

145 124 124

Habakuk 1-3 1,2-4 1,2 1,3 1,5-11 1,6 1,8 1,9 1,10 1,11 1,12-17 1,12ff. 1,12f.

95/ 95,97f. 51, 98 95f. 96 96 96f. 96 95 95,97 95 95

280

Stellenregister

1,12 1,13-17 1,13 1,14-17 1,14f 1,14 1,15 1,16f 1,16 1,17 2,1-5 2,4 2,5 2,6-19 2,6 2,8 2,9 2,13 2,17 2,18 3 3,2-19 3,2 3,3-15 3,6 3,12 3,13f 3,14

95 94 97f 95f 96 96 96 95 96 96f 95 95 95 95 95 95,97 88,95 95 95 95 145 95 97 97 95 95,98 94 95,98

Zejanja 1,6 1,11 2,1-3 2,3 3,5 3,11-13 3,12f

116 116 116 116 116 115 116

Haggai 2,6

175

Sacharja

5,4f 7,5 14,21

190 256 208

Maleachi 3,21

152

Psalmen 1-10 1-9 If

1,1 1,6 2-100 2-89 2 2,1 2,2 2,4 2,8 2,12 3-72 3-41 3-14 3-9 3-8 3-7 3 3,3 3,4 3,8 4 4,3 4,6 4,9 5 5,1-8 5,2-4 5,8 5,9 5,10f 5,12ff 5,12f 5,12 6 6,3.6 6,4 6,6 6,11 7 7,2

221 221 221 84 157 83/ 255,262 243,250-254,262 227,261 221,227 227 101,175 227 228 256 223,243,246-250, 251,254,258,262 219-245,247,249, 252f,255,261 241 234,243 220-224,231-242, 244f,261 220,223,229,233, 243 90 220 85,232 229,233 51,220 228 228 229,234,252 229 229 229,234 229 229 235 229 67,228 84,229 231 51 63 84 87, 219, 223, 226f., 229,243,248,251 228

Stellenregister

7,6 7,7 7,8-10 7,8 7,9 7,10ff 7,10 7,12 7,13-18 7,18 8

8,2 8,6 8,3-9 8,10 9-15 9-14 9 9,1 9,2-18 9,2-13 9,2-11 9,1-7 9,2-17 9,2-7

9,2-5 9,2-4 9,2ff 9,2f 9,2 9,3 9,4-7 9,4ff 9,4f 9,4 9,5-7 9,5-9 9,5

220 85,232 226 226,250 226,250,257 235 87, 132,226 87 87 52,228,236,261 219-221,223,229, 230,232, 236f., 240, 241/ 228f 220 229 228f 240/,243 230, 239, 258, 261f 27,35,45,48,56,7173, 127,231,243 27,242-244 145 128 43 58 190 29, 30, 41,42,44, 58f, 65,80-84,98, 103f, 113, 128f, 148f, 156, 225,228 29,32 29 43,46,47,73,107,241 27,29,31,43,45, 53,71/,73,158,236 27,42,47,49,72, 112, 261 27,29, 42f, 62, 72, 161, 179,228,232 60 71 27/,29,31 27f, 29f, 43, 45, 47, 54, 60, 65,73, 83f 29,45,94 27 27-30,48,50,53,57, 62,64,94, 129, 132,

9,6-9 9,6f

9,6 9,7

9,8-11 9,8-10 9,8ff 9,8f 9,8 9,9

9,10-12 9,10f 9,10

9,11-13 9,11

9,12-17 9,12-15 9,12ff 9,12f

9,12

9,13-15 9,13f 9,13

281 149,176,178,191, 197,214,219,240 107 28,30,32,42,50,73, 83,94,98, 101, 144, 172, 190 24,29, 60f, 65, 74, 94, 100,191,213 29f, 44, 49f, 54, 60, 63, 65f, 68, 72, 98100,129,150 31,41,128,149 33, 113 43 29/,57 30,43,50,53, 126, 191,214,219 30f, 53f, 60, 64, 99, 126/, 129, 142, 164, 176, 197, 226f, 257 124 30/,60,111/,227 24,30,39,51,54,56, 59f, 65, 107, 113f, 118, 124, 126, 144, 149, 160, 166, 176,240 33,67,138 30-32,43,58,60,62, 65, 67f, 109, 113f, 126, 130, 138, 141, 161,167,187,189, 228,258 33,41,73,128,149 109-111,207 45, 107 31/,43, 47f, 53, 73, 104,105-107,10Sf, 115 30,33,54,57, 59f, 64, 72, 105,107, 124f, 127, 129, 142, 144, 150,154,160,164, 166,179,214,219, 226f.,253 73, 149 57, 140 24, 31f, 49, 58-61, 63, 65-68,94,105,107, 123,129,141,142, 189,193,225

282 9,14-17 9,14f.

9,14 9,15 9,16-18 9,16f. 9,16 9,17f. 9,17 9,18-10,1f. 9,18-21 9,18-20 9,18f.f. 9,18f. 9,18

9,19-21 9,19

9,20-10,1 9,20f. 9,20

9,21 10

10,1-15 10,1-11 10,lff. 10,1f. 10,1

Stellenregister

60, 75 32,33,40,44-46,60, 73,83,86,103-105, 108,109, 128f., 225, 228, 230f., 244 7, 32f., 60, 104, 105, 130,140,158,231 32,49, 53f., 104, 166, 213 94 32/,34,43, 60f., 83, 85f., 92, 94, 128 24,33,85,86 40,56 24,33,48,74,94,127, 213 35,41,61,128,149 150 68 44,244 33,34,45,65,67 24,33,49,54,60-62, 65,83,94,97,129, 158,163,190,213,253 45 7,24, 33,49, 50, 57f., 61f., 65, 67f., 74, 120, 129f., 132, 141,144, 149,155,189,219 44 33,34,35,38,94, 120, 158 24,34,44,54,61,65, 67,74,83-85,94,101, 141,145,178,219, 232,240 23, 34f., 54, 62, 74, 128,213,253 34f., 47, 56, 59, 73, 88, 91,93, 121, 12~ 18~ 193, 220,229, 243f. 57 74, 127, 145, 150, 187/ 53,93 34/,38 24,34,38, 51f., 63, 65, 74,80,88,95,98, 120/,123f., 128, 132, 142,144,176,187,

10,2-13 10,2-11 10,2-4 10,2f. 10,2

10,3-7 10,3-11 10,3f. 10,3 10,4f. 10,4

10,5 10,6-9 10,6-8 10,6f. 10,6 10,7 10,8-11 10,8-10 10,8f. 10,8

10,9 10,10f. 10,10 10,11-13 10,11f. 10,11

10,12-18 10,12f.f. 10,12f. 10,12

190,221,230,240, 244,253 83 5~ 11~ 121, 129, 141, 192-194 24,213 35, 24, 34f., 57f., 85, 86, 88,92, 118, 123, 130, 189 37,41,127 37,40,45,62, 118, 120, 165f., 169,210 35/,88,90 35, 67f., 88, 95,181, 194 36,94 24,35,44,62, 65f., 68, 90,129,141,176,188, 193,219 36,62 40 36/, 37 36,44,51,62, 67f., 88, 141,193,231 38,239 37,41,122,127 92/, 113, 123,212 37,95,190,194 37,39,54,56,92-95, 98, 122, 132, 174, 188-190,193,210,239 37, 57f., 92f., 94f., 118/, 130, 140 37,65 37, 92f., 141 38,40,66f. 38,62 24, 38, 65-68, 89, 90f., 129,141,157,176, 188,193,219,253 40,41,72,127,129 61 38 24,38,40,49,57-59, 63,65-68, 74, 81, 84f., 101,120,128-130, 132,141,144,145, 178,189,219,232,240

Stellenregister

10,13f. 10,13

10,14f. 10,14 10,15f. 10,15 10,16-18 10, 16ff. 10,16

10,17f. 10,17 10,18

11-31 11-14

11-13 11 11,1-3 11,1 11,2 11,4 11,5f. 11,7 11,4 12 12,2 12,3 12,5 12,6 12,8 12,9 13 13,2ff. 13,2f.

127 24, 38, 62, 65, 67f., 74, 89,90,94, 128f., 141, 144,157,176,213 128 38, 39f., 57, 59, 74, 129,178,189,259 38/,40, 60f., 66, 94 24,60,62,65-68,83, 141,213 39, 128, 145 45,231,244 24,39,44,50,52-55, 57,62,64-66,68,73, 81,83,85,100,129, 152, 160, 179, 205f., 213f., 240, 250, 257 39,54/,68 57-59, 129f., 189 24,39,53-57, 59f., 62, 67f., 98,112,117,129, 141,144,158,166, 172, 189f., 253, 259 221 219-221,224,230, 231-242, 244f., 252, 261 238 23,223,226,229/, 231,232,241,248 233 228f.,233 92,229 233 231 229 219,250 223f., 229/, 232f., 238, 241f.,253f. 233 239 239 85,146,219,225, 230f., 235, 240, 242 238 233,238,241,250 104,105,139,223, 229f., 232, 238/, 241f. 91 51,230

13,2 13,3 13,6 14 14,1 14,2 14,3f. 14,3 14,4 14,5f. 14,5 14,6 14,7 15-24 15 15,1 15,2-5 15,2 15,3 15,5 16 17 17,8 17,9 17,10 17,11f. 17,11 17,12 18 18,1 18,3 18,16 18,44 18,48 18,50 22 22,1-22 22,2-27 22,2f. 22,2 22,6 22,7 22,8 22,12 22,13-19

283 68,219,253 238,241 104, 114,228 220, 223f., 229/, 233, 241,253,261 90,219,230,239,241 233,250 230 233 239 227/,232,239,241, 261 239f. 225 52f., 230, 232-236, 239 247,249 152,220,223,239241,249,262 143 239 239 239 239 241 117/,131,241 117 117 118 92f. 92 93,118 251 223 124f. 50 250 250 250 138-143,144,170, 173,214/, 248f., 251 143 142 123 123, 142 141 141 141, 143 142 142

Stellenregister

284 22,13 22,16 22,20 22,21 22,22 22,23-27 22,23f 22,23 22,22-27 22,24f 22,24 22,25 22,26f 22,26 22,27 22,28-32 22,28f 22,28 22,29 24 24,3 25-34 25 25,lf 25,2 25,4f 25,4 25,5 25,6f 25,7f 25,8 25,9 25,11 25,15-21 25,15 25,19 25,22 26 26,1 27,1 27,5 27,13 28,8 29 29,3-10 29,10 30

140 140 142 140 140f 139 139f 139f 140 138 115,139 139f,141 139f 139 115, 138f 139,142,143,214, 246/ 250 138f, 143 249 151 143 244,247 23, 25f, 44, 46, 175, 247-249,262 44 114 44 25 25 25 44 25 25 44 44 93 26 44 139 114 124f 125 150 124 244,249 64

250 49, 72/,76,89,104, 105,109,128,244,249

30,2 30,3f 30,5 30,6 30,7 30,8-11 30,8 30,10 30,11 30,12f 30,12 30,13 31,3f 31,3 31,5 31,7 31,8 31,15 31,20 33 33,10 33,13 34

34,2-11 34,2-4 34,2f 34,2 34,3 34,4 34,5-11 34,5 34,7 34,8-10 34,9f 34,10f 34,12-23 34,12 34,14-22 34,14f 34,16 34,17 34,18-21 34,19f 34,20 34,22 35-41 35,7f 36

72 104 63,73, 105 49,51 89 73 89 89

104 43 104 73 125 113,124 93 114 105 114 250 251 250 250

23,25,4447,170173, 174f, 195,198, 226, 246, 248f, 262 25,171,198 170 44,47 45 171,226 44,47 170 44, 114,172 171,172/,226 170 47 47 25,171,198 44,47,170 44 171 171,226 170f 47 170 171,226 47, 170f, 215, 226 247,249 92f 239

Stellenregister

37

37,1 37,2 37,3 37,4 37,5 37,6 37,7 37,9f 37,9 37,10 37,11 37,12 37,13 37,14f 37,14 37,15 37,16 37,17 37,20f 37,22 37,24 37,25 37,27 37,28 37,29 37,32 37,33 37,34 37,35 37,37f 37,37 37,38 37,40 40f 42-83 42-49 42f 42,4 42,5 42,10 43,2 43,4 44

44,2-4

23,25,28,44,166, 170,173-175,176, 178, 181-183, 194f, 198,215,247f,262 174 26 174 26 174 26 174 215 26,85, 174f 174f 26,175,181 174 174f 92f 174 174 174 26 174 26,175 26 44 174 26,174 175,181 174 174 174f 44, 150 174 26 174 174 254 250f 250,252,262 252 90 252 253 253 252 53,74/,101,103,120, 128,131,143,250, 252f 74,101

44,2f 44,3 44,5 44,6 44,7 44,8 44,9 44,10-17 44,10 44,12 44,15 44,18-22 44,24ff 44,24f 44,24 44,25 44,27 45-48 46-48 46 46,2 46,7 46,8 46,12 47 47,2 48 48,4 48,5-8 49 49,2ff 49,2 49,13.21 50 51-72 52 52,10 53,6 53,7 54 54,5 55,10 56-59 56 56,5 56,7 56,8 56,12 57 57,7

285 50 74 74 74 74 74 74 74 74 101 101 63 74 74,253 68,74,120 74,120, 123,253 74,120 252 253 53, 124 124 250 124 124 126 253 53, 124 124 250 176,252 253 253 252f 243 250,254,258 176 114 239 239 100 150 92 100/ 94, 100 114 92 100 114 100 92

286 58,4 59 59,4 59,5 59,6 59,7f 59,7 59,8 59,9 59,12 59,14 59,15f 59,15 59,17 60 61 61,3-5 61,4 62 62,2 62,4 62,7 62,9 64,5 64,6 68,2-4 69-72 69 69,33 72 73-106 73-83 73 73,4-11 73,5 74 74,1-11 74,1 74,2 74,9 74,10 74,11 74,12-17 74,12ff 74,12 74,18-23 74,19-21 74,19

Stellenregister

92 94,100,101,112/, 118/, 131,225 92,119 101 101 118 92, 118 90 101,175 101 101 118 92, 118 112/ 100 225 125 113, 124 176 125 51 125 124 92f 90/ 84 254 170 115 125 256 230,240,243,250,254 47,51, 176, 184 117 62 74,143-145,214/, 250,254 145 68, 123, 144,230 145 51 51,68,144,230 144,230 145 144 144 112 143,145,254,262 68,144,145

74,20 74,21 74,22 75,3f 76 76,9f 77 77,3 77,9 79 79,5 79,10 80 80,5 80,9 80,13 81,7-17 82,2-4 82,2 82,6f 83 84-88 84f 84 84,2-5.11 85 86 86,1-4 86,1 86,9f 86,14 87f 87 88 89 89,47 90-106 90,3 90,10 90,13 92,10 93-100 93 93,1 94 94,1-7 94,1 94,2 94,3-7

145 59, 112, 144 145 146,230 53 254 114 114 68 250 51,68,230 90,230 250 51 99 230 230 146,230 51 156,230 250 252 254 252 252 252 252,254 254 58 254 150 254 53, 102,252 252 74,256 51,68 256 62 256 51 84 255-258,262 126,255 257 153,176-179,197/ 215,255 176 257,259 176f 117

Stellenregister 94,3 94,4 94,5 94,6 94,7 94,8-15 94,8-11 94,8 94,9f. 94,9 94,10 94,12-15 94,12 94,13 94,15 94,16-23 94,16-19 94,16 94,17-19 94,21 94,22 94,23 95-99 95 95,3 96 96,10 96,13 97 97,1-6 97,1 97,8 97,9 97,10 97,12 98 98,6 98,9 99 99,1 100 102 102,13 103-106 103,15 103,19 104,7 105 105,1 105,2

51, 176f., 257 177 177 153,176-178 176-178 176 176 177 178 178 177 177 176f. 177 177 176 197 177f.,257 178 153, 177f. 124, 176 177 126 255 257 52,126/,255 126,257 99,126 126, 179/,255 64 179,257 179 179 179 63 126/,255 257 99,126 255 257 260 255 63 255 62 64 50 50,72 72 72

287

105,3 105,5 107-150 107-145 107 111 111,1 112 115,2 118,19f. 119 119,71 119,75 119,107 120-134 135,13 136 138-145 138ff. 140,6 143-150 143,8 145-150 145 145,1 145,2f. 145,3-6 145,7-9 145,11-13 145,14-19 145,14-16 145,17-20 145,20 145,21 146-150 146-148 146 146,6-9 147-149 147,6 147,15-19 148,14 149,1 149,4 149,5 149,7 149,9

72 72 256 258 258 23,44 45 23,44, 176

23,45,258/ 45 45 258 258 45,258 258 45,259 259 258 45,259 259/ 258 259 259 259 259 258 259 259f. 259 259 259 259

Hiob 3

184

90 151 23,44 102 102 102 10 63 80 258 258 93 258 114

258-260

288 4-27 6,23 6,28-30 9,29-31 15,28 18,13f. 18,17 18,21 19,25-27 20ff. 21-31 21-27 21 22 24 24,1-18 24,1 24,2-4 24,3 24,4 24,5-12 24,5-8 24,5 24,7 24,8 24,9 24,10-12 24,10 24,12 24,13-18 24,13-17 24,13 24,14-16 24,14 24,15 24,16 24,18-25 24,18-24 24,18 24,19 24,20 26,5-14 26,9 26,11 27,7-23 27,13 29,12-17 30,1-8 30,2-8

Stellenregister

199 150 185 185 100 100 100 61 185 186 184 185,200 185 185 184-191,201,206,209 187 187, 188 188 189 188f. 209 188 189 188 189 188f. 188 188 190 190 117 188 92 189f. 188 190 190 185f.,191 188 190 190 185,191 191 191 185 150 188 188 209

Proverbien 1-9 1,8-19 1,8f. 1,10-19 1,10ff. 1,10 1,11-14 1,11 1,12 1,13 1,14 1,15 1,16-19 1,17 1,18 1,19 2,12-15 2,12 2,16-19 2,21f. 2,21 3,29-32 3,31 4,14-19 4,14 4,19 5,3-14 5,20 5,21-23 6,12-15 6,24-35 7,5-27 9,7f. 9,13-18 10-29 10,28 10,30 15,27 17,3 24,16 26,27 26,28 28,10 28,17 31,10-31 31,11 31,20

192, 194f., 201, 206 192 192 191-196,215 192 193f. 193,195 194 194 195 195 193f. 194 194 194 88, 194 192 192 192 192 85,192,215 192 192 192 192 84, 192 192 192 192 192 192 192 157 192 182 84 85 88 132 84 85/ 112 195 121,122 191-196 195 195

289

Stellenregister Threni 1,9 3 3,8 3,10 3,19 3,22f. 3,31f. 3,40ff. 3,56f.

105 47,123 123 93 105 168 168 47 123

Esra 4,6-23

208

Nehemia 1,3 1,5-11

211 212

5 5,1-5 5,4 5,8 5,9 5,15 9,9 3,33-35 6,1-13 13,15-22 13,16

209 209 209 209f. 209 209 111 208 208 208 210

Josephus Antiquitates XI.5,6

211

Namenregister Namen in Fußnoten werden nicht aufgeführt.

Albertz, R 8f., 75, 102f., 108, 180, 197f., 201 Assmann, J. 8,49, Auffret, P. 219 Bachtin, M. M. 199 Barth, H. 159f. Becker, J. 9 Berges, U. 25, 160, 180, 182 Beyerlin, W. 48, 50, 81, Bloch, M. 6 Braudei, F. 6, Brueggemann, W. 56,63,68, 77,132

Keel, o. 57 Kellermann, U. 212 Kessler, R. 6, 201 Kratz, R.G. 256 Kraus, H.- J. 46f., 103, 139 Leuenberger, M. 135 Lohfink, N. 248 McCann Jr., J. C. 256f. Millard, M. 11-13, 220f., 224, 230, 237,241-243,255,262 Miller, P. D. 246 Müller,A 194

Crüsemann, F. 202 Delitzseh, F. 9 Ebach, J. 100, 186 Febvre, L. 6 Füglister, N. 9, 27, 48, 94, 99, 100-102, 106f., 127, 138,201,211 Gelin, A 138, 170, 175,247 Geremek, B. 6f. Gerstenberger, E. S. 78, 139,202 Gunkel, H. 25 , 40,69,71 , 139

Von Rad, G. 199f. Rendtorff, R. 11 Riede, P. 92 Ro, Un-Sok J. 103 Schottroff, w. 209 Seybold, K. 26, 32, 71, 228 Spieckermann, H. 2, 23 Steck, O. H. 78, 159f., 180f., 204f., 244 Stolz, F. 4, 76, 78 Strauß, H. 186 T ouruay, R. J. 260

Hardmeier, C. 236 Hossfeld, F.- L. 2,4,8,11-13,28,108, 139,143, 219f., 224f., 236-239, 246249, 251,255 HupfeId, H. 24 Irsigler, H. 89 Janowski, B. 227,262 Jeremias, J. 48, 76, 96,126,164,

Venneylen, J. 157 Wacker, M.- Th. 167 Watson, W. G. E. 26 Weber, B. 26 Westennann, C. 106 Wilson, G. H. 256 Wolff, H. W 162

Namenregister

Zenger, E., 2, 4, 8,11-13,28,108, 143 219f., 224f., 236-239, 246-249, 251, 254f., 259

291

Sachregister Ägypten 204, 206 Akrostichon, akrostichische Psalmen 23, 25, 40f,47. Annales - Schule der, 6f., 111 Arm, Arme, Armut 5-7,57-60, 102f., 114, 130,144,153, 247f, 254, 259 - exemplatisch(e) 59,105,129,136,169, 198 Armenfrömmigkeit, -theologie 5-9, 102f., 131,247f Armenpsalm(en) 57,131,255,262 Asaf(psalmen) 230, 243 Assur, Assyrer 204 Babyion, Babyionier 122, 95f. Bund 107 Chaoskampf(thematik) 49f., 252 Cluster( anordnung) - psalmintern 77 - psalmübergreifend 224, 233, 241f., 262 Danklied, Loblied 27, 46, 139,244, 249 - eschatologisches 48, 106f., 109 -, höhepunkt 221, 231, 241, 244 - individuelles 47, 71-73, 75f., 148 David 223, 242f, 245 Demut 58, 116 - siehe auch Armut Deuteronomismus, deuteronomistisch 181 Deutung, Deutungsbegriff 43, 115, 117, 130, 137,213 - siehe auch Hermeneutik Dialektik 54, 134, 162, 173 Diskurs, If, 13, 75f, 81, 135f, 170,207f, 197f,236 Diskursivität 8, 186, 190, 197f., 199 Edom 122 Eschatologie, eschatologisch 48, 51,162,173, 190f,202,214

Exil (babylonisches) 7, 96, 109, 182,256 Exodus 106f., 111 Feind(e) 60 Frevler 2,60-62,83-102, 192ff. - Zugrundegehen der 83-88 - Skrupellosigkeit der 88f. - "Gottlosigkeit" der 89-91 - als Jäger 91-94 - siehe auch Heiden Gattung( en), Gattungsprofil 3-5, 69-81, 244f - nachkultische 4,76 Gedankenfortschritt 129, 200, 245 Gedenken 49,63, 65f, 129, 172 Gemeinschaft 71, 80, 230, 245 Gerechte(r) 59, 98, 153, 156, 182f, 215, 226,248, "Gojim" siehe Heiden Gott 62-64,121-127 - als Richter 50, 62, 64, 87,125-127 Griechen(land) 165,204,210 Gruppenkonstellation - siehe Konzeption, personelle "Heiden" 2,50-52,54,60-62, 85f, 94102,136,205,209-211,251 Heil(s) - perspektive 164-166,233 - geschichte, 107, 191 Hellenismus, hellenistisch - siehe Griechend(land) Hermeneutik, hermeneutisch 226,235, 247,259 - siehe auch Deutung Hoffuung 58, 68, 153, 186, 191 Hymnus 13,72, 75f, 104, 108, 189 - imperativischer 31, 72, 106 Israel - "armes" 7,103,247

Sachregister -

Land 54f, 85, 95-98,152,158, 165f, 205, 207, 232f Volk 159, 166f

Jagdmetaphorik 91-94, 117-119 Jesaja-Apokalypse 147-155 Jerusalem 207 JHWH-König-Psalmen 57, 125, 179f., 255257 Kanaanäer, kanaanäisch 75, 125,208 Klage - cluster 232, 241f. - des Einzelnen, 7, 76,119,143,252,262 - des Volkes 73-75,103 - komposition 230,232,237,240,242,262 Königtum Gottes 45, 52f., 62-64, 79, 85, 88, 132, 135, 142, 179, 249f, 255f, 258 - siehe auch JHWH-König-Psalmen Kompositionsbogen 221, 235, 237, 240-242, 244f, 247, 249, 252 Kompositionsgeschichte 9-13, 129 Kompositionsmodell 12 Konfessionen Jeremias 145, 185 Konzeption(en) 135-137, 169f. - dialektische 64, 68, 128-130 - kompositorische 9 - parallele 135-137 - personelle 56-64,136,169,225-228 - räumliche 53-55,137,232-235 - semantische 56ff. - tangentiale 169f. - zeitliche 46-53,137,230-232 Korachpsalmen 250, 252-254 Kult, kultisch 45, 76,255 Kulturelles Gedächtnis 8, 49 Landbesitzverheißung 166, 175, 181, 183, 192f "Lange Dauer" 6, 76, 111 - siehe auch Dauer Lehre, Lehrpsalm(en) 170-175, 184, 198 Literarkritik, literarkritisch 3, 12,69 Midrasch 223,241,243 Mirjamlied 106f. Mentalität(sgeschichte) 5-9,103, 131, 137f, 187,248 Motiv(geschichte) 5, 82ff., 130, 135

293 - der Rettung Gottes am Morgen 241 Multiperspektivität 227, 262 - siehe auch Polyphonie Oberschicht 9, 201, 209, 211 Orake1(funktion) 205, 221, 230, 240, 242,254 Parallelismus membrorum 4, 24f., 40 Perser(zeit) 137, 161, 191,203-206, 208-212 Personenkonstellation siehe Konzeption, personelle Persönliche Frömmigkeit - Theologisierung der 108 Phönizier 204, 211 Poetologie 3-5, 71-81 Polyphonie 14,45,169,199,227,229, 249 - siehe auch Multiperspektivität Priester 152, 202 Programmtext 131 Prophetie, prophetisch 145ff., 202 - Sozialkritik 88, 95, 190 Psalter 258ff. - elohistischer 243, 250f. - David- 138, 220, 223, 246-250, 254, 262 - messianischer 250-257 Ptolemäer 203, 205, 208 Raumwahmehmung I-vorstellung - siehe Konzeption, räumliche Redaktionsgeschichte siehe Kompositionsgeschichte Redaktionsmodell 12 Redesituation, Sprecherperspektive 4246,77,111-120,137,228-230, Sammlungsmodell 12 Schicht (literarische, redaktionelle) 135, 151,203 Schöpfung 137, 178,258 Schuldsklaverei 209f. Septuaginta 23, 244 Sklaven, Sklaverei 165, 210f. Sitz im Leben 3, 69f., 76, 79ff., 245 Sozialgeschichte 5-9, 137,266-212 Sprechakt(analyse) 4, 42

294

Sachregister

Stadtthematik 97,147-152,208 Stichwortverbindung, -verknüpfung 11, 24, 219ff Tag JHWHs 163 Tempel 78, 80f, 202, 210, 233f -, einlass liturgie siehe Toreinzugsliturgie Themenklage 241, 255 Theodizee(problem) 51f., 63, 98, 101, 117, 127, 132, 137, 153, 194,231,235 Töda-Feier 48, 104f., 236 Tora211,258 Toreinzugsliturgie 240 Tun-Ergehen-Zusammenhang 86f., 172, 175, 184f, 194f, 215 Unterschicht 201 Vergessen 32, 50, 52, 58, 64ff., 91, 100, 106, 109f, 120, 129, 142, 144,219

Vertrauensbekenntnis 111-117, 124 Vielstimmigkeit - siehe Polyphonie Völker(perspektive) 50, 54, 60f., 72, 100-102,127,136,138,163-166 -, gericht 54, 126f., 160, 162ff, 210, 226 - siehe auch "Heiden" Warurnfrage 74, 90, 95, 98,101, 120f, 123, 142, 144, 187f, 221, 230, 244 Weisheit(spsalmen) 173, 176, 192,249 Weltgericht 159f., 205 Zeitverständnis, -faktor 46-53, 84f., 89, 194, 230-232 - dialektisches 52, 68,137,141,149, 175, 214f,230, 235 Zion(stradition, -theologie) 125, 127, 160f,207,213