Die Ikone und das Undarstellbare: Ikonentheorien im bildtheoretischen Kontext 9783839460870

Wie kam es zu dem ikonischen Überschuss des christlichen Heiligenbildes? Janine Luge-Winter geht dieser Frage nach, inde

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German Pages 230 [232] Year 2022

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Die Ikone und das Undarstellbare: Ikonentheorien im bildtheoretischen Kontext
 9783839460870

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Janine Luge-Winter Die Ikone und das Undarstellbare

Edition Medienwissenschaft  | Band 97

Für Denise, Martin, Amrei, Robert, Daniela, Peter, Anita, Sabine, Fabian, Magda, Lina, Nora, Mira, Martin, Sophie, Elena, Moritz, Alicia und für Franzi.

Janine Luge-Winter, geb. 1977, studierte Medienwissenschaften, Klassische Archäologie und Alte Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie promovierte an der Universität Potsdam im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgesellschaft geförderten Graduiertenkollegs »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens«. Die Medienwissenschaftlerin ist im Bereich Unternehmenskommunikation tätig.

Janine Luge-Winter

Die Ikone und das Undarstellbare Ikonentheorien im bildtheoretischen Kontext

Gefördert durch die Deutschen Forschungsgesellschaft und die Universität Potsdam. Dissertation, Universität Potsdam, 2019 Gutachter: Prof. Dr. Dieter Mersch, Prof. Dr. Sybille Krämer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6087-6 PDF-ISBN 978-3-8394-6087-0 https://doi.org/10.14361/9783839460870 Buchreihen-ISSN: 2569-2240 Buchreihen-eISSN: 2702-8984 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Danksagung .............................................................................. 7 1.

Einleitung........................................................................... 9

Das Paradox der Ikone .............................................................. 15 Die ontologische Aufwertung der εἰκών............................................. 16 2.1.1 Das theologische Moment der εἰκών ......................................... 16 2.1.1.1 Trinität .............................................................. 16 2.1.1.2 Die zwei Naturen des Sohnes ......................................... 31 2.1.2 Das theologische Moment der materiellen Dinge .............................. 40 2.1.2.1 Schöpfungstheologie ................................................ 40 2.1.2.2 Der Mensch als Bild Gottes........................................... 50 2.2 εἰκών und Ikone .................................................................. 54 2.2.1 Die Ikone als εἰκών von Gott................................................ 54 2.2.1.1 τί ἐστιν εἰκών; Was ist ein Bild? ................................... 54 2.2.1.2 Die relationalen Regeln der εἰκών.................................... 65 2.2.2 Die Offenbarung der Ikone ................................................... 75 2.2.2.1 Sichtbarkeit......................................................... 75 2.2.2.2 Sichtbarmachung ................................................... 84

2. 2.1

Der Handlungsraum der Ikone ...................................................... 91 Das spezifische performative Moment der Ikone ...................................... 91 3.1.1 Das heilige Bild und seine Verehrung .......................................... 91 3.1.2 Ikone als agierendes Bild ................................................... 109 3.2 Namenseinschreibung ............................................................. 126 3.2.1 Der Name ist εἰκών ....................................................... 126 3.2.2 Der Name als Performativ................................................... 139

3. 3.1

4. 4.1

Der Bildraum der Ikone ............................................................ 161 Ikone: das objektive Bild ............................................................ 161 4.1.1 Der Kanon der Ikone ......................................................... 161

4.1.2 Ikone: Sehen lassen des Ungesehenen .......................................170 4.2 Die Ikone und das Wie ihrer Darstellung ............................................ 180 4.2.1 Eine das Sehen betreffende Lehre .......................................... 180 4.2.2 Eine Praxis ansichtigen Darstellens ......................................... 189 5.

Ikone: Die mögliche Antwort auf die negative Theologie ...........................197

6. Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................ 205 Abkürzungen............................................................................ 205 Abkürzung der Quellen ............................................................. 205 Abkürzung für Zeitschriften und Körperschaften ................................... 205 Ikonentheorien.......................................................................... 206 Byzantinische Ikonentheorien und ihre Übersetzungen ............................. 206 Moderne Ikonentheorien ........................................................... 206 Quellenverzeichnis ...................................................................... 207 Originale .......................................................................... 207 Übersetzungen .................................................................... 207 Sekundärliteratur.................................................................. 209 7.

Kompendium...................................................................... 225

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde auf vielfältige Weise unterstützt. Ein besonderer Dank geht an Franziska Kümmerling. Sie begleitete das Projekt, seit es in den Kinderschuhen steckte. Ich danke der Universität Potsdam und nicht zuletzt der Deutschen Forschungsgesellschaft, die es mir ermöglichten, meine Dissertation im Rahmen des DFG Graduiertenkollegs »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens« umzusetzen. Dieses Graduiertenkolleg bot mir zahlreiche Möglichkeiten für intensiven Austausch und Diskussionsbeiträge, was nicht zuletzt von den Antragsteller*innen im hohen Maße unterstützt und begleitet wurde. Hier möchte ich mich ganz herzlich bei Dieter Mersch, Sybille Krämer, Ute von Bloh und Andreas Köstler bedanken. Als besonderen Glücksfall empfinde ich bis heute die intensive Zusammenarbeit mit den Doktorand*innen und Postdoktorand*innen des Kollegs, deren Anregungen, Anmerkungen, Ideen und Hinweise mich in meinem Projekt entscheidend vorangebracht haben. Das vorliegende Buch sei ihnen in Dankbarkeit gewidmet.

1. Einleitung

Ninive, Mosul, Paris, Bamiyan-Tal – es gibt sie, die modernen Bilderstürme, die in einem zerstörerischen Ausmaß einem Bilderverbot folgen, das kein Bild des Göttlichen erlaubt. Es sind diese modernen Bilderstürme die eine seit Jahrhunderten gestellte Frage wieder auf den Plan rufen: Die Frage nach der Macht, die von Bildern ausgeht. Nicht jedem Bild wird eine solche Macht zuerkannt, nicht jedes Bild provoziert. Auflehnung beschwören vielmehr jene Bilder herauf, die es wagen, das als undarstellbar Geltende zeigen zu wollen. In Paris sind es die Bilder Mohammeds gewesen, gegen die die Kouachi-Brüder Sturm gelaufen sind. Doch ob es die satirischen Bilder von Charlie Hebdo sind oder die Götterbilder einer antiken assyrischen Metropole: Das Aufbegehren gegen diese Bilder mag durchaus einem Bildverständnis geschuldet sein, das zwischen Repräsentation und Repräsentiertem keinen Unterschied kennt, wie Horst Bredekamp hervorhebt.1 Mehr noch scheint es aber um eine andere Qualität des Bildes zu gehen, nämlich dessen Unmöglichkeit einer Darstellung des Göttlichen schlechthin.2 Nach einer solchen Vorstellung vermag es kein Wort, kein Bild, kein Artefakt die Größe des Göttlichen zu fassen. Das ist ein Verständnis, das nicht zuletzt in den Rufen der modernen Bilderzerstörer seinen Ausdruck findet: »Allahu akbar« – Gott ist größer. Das Ringen um die Darstellbarkeit des Undarstellbaren berührt uns bis heute. Doch es gibt Möglichkeiten, das als undarstellbar Geltende ins Bild zu setzen. Diesem Vermögen des Bildes geht grundsätzlich die Frage voraus, was denn ein Bild überhaupt sein könne. Undarstellbarkeit und ein damit einhergehendes Verständnis vom Vermögen und Unvermögen des Bildes ist als Streitpunkt kulturgeschichtlich tief verankert, 1 2

Horst Bredekamp im Interview mit Kia Vahland: »Doppelmord an Mensch und Werk«, Süddeutsche Zeitung, München: 12. Januar 2015, S. 8. Natürlich darf hier nicht der Aspekt außer Acht gelassen werden, dass etwa die Zerstörung der antiken assyrischen Metropole Ninive auch ein Zeichen dafür ist, dass sich gegen die Identität des irakischen Staates, gegen das Konzept des Bewahrens und der Archäologie aufgelehnt wird. Vgl. hierzu u.a. http://www.tagesspiegel.de/kultur/bildersturm-im-irak-propag anda-mit-pressluftbohrer/11441770.html

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Die Ikone und das Undarstellbare

etwa im Byzantinischen Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts. Jener Konflikt setzte sich mit der Daseinsberechtigung der heiligen Bilder – insbesondere mit der Ikone Christi – auseinander. Als besonderes Bild ist das christliche Heiligenbild – die Ikone – kein simples Anschauungsobjekt. Innerhalb der kirchlichen Liturgie fungiert sie vielmehr als Medium, denn das entscheidende Motiv des christlichen Heiligenbildes ist es, dem Gläubigen mithilfe eines Bildträgers das göttlich Abwesende vor Augen zu führen. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass die Ikone ein Gegenentwurf zu einer ästhetischen Bildwelt darstellt, gerade weil sie nicht als Anschauungsobjekt konzipiert ist – sie also nicht bloßes Bild ist. Es ist die Ikone Christi, der es gelingt, das Undarstellbare – das als das erhabene Göttliche verstanden wird – auf besondere Weise auszustellen. Die zentrale Hypothese des Projektes besteht darin, die Ikone als einen eigenen Bildtyp anzuerkennen, der seinerseits die Frage nach der Repräsentationalität – und zwar in Ansehung des Nichtrepräsentierbaren – aufwirft. Im Kern geht es um die Frage dessen, was der »ikonische Überschuss« ist, der sich nicht in der reinen Materialität des Bildes bestimmen lässt, als vielmehr im Hinblick auf den theologischen Kontext, innerhalb dessen sich die Ikone als außerordentliche Sichtbarmachung bestimmt. Es sind die während des byzantinischen Bilderstreits des 8. und 9. Jahrhunderts verfassten Ikonentheorien sowie die modernen Ikonentheorien des 20. Jahrhunderts, die Antworten darauf formulieren lassen und die somit Gegenstand der Untersuchungen sind. Ein Zusammenlesen dieser Ikonentheorien ermöglicht es, die besondere Weise der visuellen Praktik des Heiligenbildes zu bestimmen. Es geht also weniger darum, die jeweiligen Spezifika der einzelnen Theorien hervorzuheben. Genauso wenig gilt es, die Daseinsberechtigung der Ikone aufzuzeigen – dies ist hinlänglich erfolgt. Die Relevanz liegt vielmehr darin, aufzuzeigen, dass die Ikonentheorien mit ihrer Bilddefinition eine Bildontologie eröffnen, die das Heiligenbild als ein besonderes Bild integriert. Den bilderfreundlichen Theologen Byzanz’ gelingt es, dem Bild eine theologische Definition zugrunde zu legen, die den verklärten Blick auf die Ikone – wie ihn unser heutiges Bildverständnis gern einnimmt – dekonstruiert: Das Mehr der Ikone ist nicht allein gebunden, an die Person, die sie vergegenwärtigt, sondern an deren besondere Möglichkeit der Sichtbarmachung. Unter aktuellen Gesichtspunkten geht es nicht mehr um die Daseinsberechtigung der Ikone, sondern um deren besondere Sichtbarmachung, die eine Überwindung der Undarstellbarkeit des Undarstellbaren evoziert, indem sie das Undarstellbare konkret als solches akzeptiert. Es ist die Leistung der modernen Ikonentheorien, diese Akzeptanz im steten Rückgriff auf die byzantinischen Ikonentheorien aufzudecken.

1. Einleitung

Innerhalb der Bildwissenschaft ist Hans Beltings Werk Bild und Kult 3 eine der intensivsten Auseinandersetzungen mit den heiligen Bildern. Belting formuliert darin eine genaue Unterscheidung zwischen einem Kultbild und einem Kunstwerk. Von Letzterem spricht Belting seit der Renaissance. Dem Bild vor dem Zeitalter der Kunst weist er dagegen ein Bildverständnis zu, das geprägt ist von Religion und Glaube. In präziser und ausführlicher Weise zeichnet Belting den Weg nach, wie das heidnische Bild in den christlichen Glauben fand und zum heiligen Bild aufstieg – zur Ikone. Doch Belting spricht von einer Ohnmacht der Theologen gegenüber der Macht des Bildes, worin sich dessen Verbot begründet – eine Aussage, die zu kurz greift. Innerhalb der Theologie zeigen vor allem christologische Analysen, dass das Ringen um das Bild immer einhergeht mit dem Glauben an selbiges. Beispielhaft sei hier die Arbeit Christoph Kardinal Schönborns genannt. Seine Analysen in Die Christus-Ikone4 beginnen zeitlich weit vor dem byzantinischen Bilderstreit und berücksichtigen Schriften von Gegnern und Befürwortern des Heiligenbildes in gleichem Maße. Zentrale Frage ist dabei stets die nach dem ursprünglichen Sinn der Ikone, der sich letztlich – das zeigt Schönborn hinreichend auf – in der Inkarnation begründet. Schönborns Ausführungen bieten für die vorliegenden Argumentationen vor allem im Hinblick auf die besondere Theologie des Bildes entscheidende Anhaltspunkte. Doch während Schönborn Begrifflichkeiten wie οὐσία (ousia) und ὑπόστασις (hypostatsis) allein im Hinblick auf deren theologische und christologische Definition prüft, strapaziert die vorliegende Arbeit jene Begriffe über ihre Definition hinaus. Dargelegt wird, wie etwa ὑπόστασις das Unsichtbare und Unbenennbare begrifflich fixiert und dessen Eigenschaft als Undarstellbares an ein sichtbar Gegebenes bindet. Die vorliegenden Untersuchungen beginnen mit der Frage, wie sich das Undarstellbare zeigen kann, wenn selbst die byzantinischen Bilderverteidiger der negativen Theologie folgen, die die Undarstellbarkeit des göttlichen Wesens lehrt, weil es unfassbar, allem unähnlich und ohne jede mögliche Form von Gestalt ist. Eine Antwort darauf arbeitet sich an der Ikone Christi ab, die der eigentliche Streitpunkt des byzantinischen Bilderstreits ist. Was also vermag die Ikone Christi zu zeigen? Die Antwort begründet sich im Paradoxon des Heiligenbildes. Die Analysen der Byzantinischen Bildapologien des Johannes von Damaskus (*um 650; †vor 754), Theodor Studites (*um 759; †11. November 826) und Nikephoros von Konstantinopel (*757/58; †828) ermöglichen eine Definition der εἰκων – des Bildes –, deren

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Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, 5. Aufl. München 2005. Christoph Schönborn: Die Christus-Ikone. Ein christologische Hinführung, Schaffhausen 1984 (vom Verfasser besorgte Übersetzung und Neubearbeitung des Werkes L’Icône du Christ. Fondements théologiques élaborés entre le Ier er le IIe Concile des Nicée (325-787), Fribourg 1976).

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Die Ikone und das Undarstellbare

Komplexität anhand einer theologischen Begriffssystematik aufgeschlüsselt wird. Aufgezeigt wird, wie die in der Trinitätstheologie gelehrte paradoxe Einheit und Gleichwesentlichkeit von Gottvater und Sohn sichtbar gemacht werden kann. Der Frage, wie jene unsichtbare Einheit im logischen Denken Form annehmen kann, wird in der Analyse der Termini ὁμοούσιος (homoousios; gleichwesentlich) und ὑπόστασις (hypostasis; Hypostase) begegnet, deren dezidierte Definition in den trinitarischen Streitigkeiten des vierten Jahrhunderts formuliert wird. Ebene jene Begrifflichkeiten finden ihre Reflexion in den byzantinischen Ikonentheorien, die das artifizielle Bild des Sohnes – der Christus-Ikone – als dessen sichtbar gemachte Hypostase und damit als spezifisch personale Existenzweise des Abgebildeten begreifen. Entscheidend ist nun, dass die artifiziell sichtbar gemachte Hypostase der urbildlichen Hypostase nur ähnlich (ὁμοιούσιος; homoiusios) ist. Jedoch kann die Gleichwesentlichkeit (ὁμοούσιος) aufgrund ontologischer Prämissen im artifiziellen Bild mitgedacht werden. Das heißt für die byzantinischen Ikonophilen setzt sich die paradoxe Vermengung des Begrenzten mit dem Unbegrenzten, des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren, im artifiziellen Bild – der Ikone – fort. Die Ikone führt Undarstellbarkeit aufgrund ihres Abbildes also unweigerlich mit sich, denn die Differenz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem ist in der Figur des Sohnes Jesus Christus als solche immer schon vorgegeben: Der Sohn selbst führt das göttliche Wesen als Unsichtbares mit sich. Entscheidend ist das Wie der Sichtbarwerdung Gottes worüber sich ein spezifischer Handlungs- und Bildraum der Ikone ergibt, der vor einem modernen bild- wie medienphilosophischen Hintergrund reflektiert werden kann. Als Gegenstand der Untersuchung werden moderne Ikonentheorien des 20. Jahrhunderts herangezogen, deren Ausführungen auf einer εἰκων-Theologie und der byzantinischen εἰκων-Definition basieren. Die modernen Ikonentheorien von Marie José Mondzain (*1944) und Jean-Luc Marion (*1946) ermöglichen es, den Handlungsraum der Ikone näher zu beleuchten, der sich vornehmlich der Dimension der ikonischen Praxis widmet. Dabei steht zunächst die Heiligkeit des Objekts im Fokus, die sich im Falle der Ikone nicht über den rituellen Akt einer Weihe ergibt, sondern im Hinblick auf die Relation zwischen Urbild und Abbild: Im Paradoxon der Ikone bestimmt sich – so weiß es Marie-Jose Mondzain zu definieren – ihr performatives Momentum, das sich in ihrer theologischen Setzung begründet. Entscheidend ist dabei das Wie der Sichtbarwerdung Gottes in seiner Selbstentäußerung als Bild des wesensgleichen Sohnes, dessen Sichtbarwerdung die Ikone wiederholt. Die Institutionalisierung der Ikone als Bild Gottes ist letztlich die Antwort darauf, warum der Ikone Verehrung gebührt, denn als εἰκων des Undarstellbaren ist sie der Anlass für den Akt der Proskynese: προσκύνησις (proskynēsis) meint die einfache Verehrung (τιμή|timē), die dem Bild erwiesen wird. Gott dagegen gebührt λατρεία (latreia), also Anbetung. Schon die byzantinischen Ikonophilen formulieren diesen entscheidenden

1. Einleitung

Unterschied der Handlung der Gläubigen gegenüber dem Heiligenbild. Die Unterscheidung zwischen προσκύνησις und λατρεία läuft letztlich auf die konkrete Differenzierung zwischen (artifiziellem) Bild und Gott hinaus. Als Wiederholung der Sichtbarwerdung Gottes ist die Wirkung der Ikone nicht gebunden an Stofflichkeit, so wie es bei den Reliquien oder den Acheiropoieta – den nicht von Hand gemachten Bildern – der Fall ist. Die Wirkung der Ikone geht einzig von dem aus, was sie abbildet – ihrem Urbild also, auf das sie als Abbild verweist. In dieser Setzung begründet sich der aufgeladene Blick der Ikone, den JeanLuc Marion als intentional durchscheinenden Blick beschreibt: Es ist der Blick des Undarstellbaren, der sich im Schwarz der Pupillen offenbart. Es sind diese leeren schwarzen Löcher, an dem sich für den Gläubigen – Marion folgend – Offenbarung ereignen kann, denn dort gibt sich weder ein Sichtbares noch ein GegenSichtbares. Vielmehr ist es der unsichtbare Ursprung des Blickes des (undarstellbaren und unbegrenzten) Anderen, der sich dem Betrachter aufzwingt und sich dessen eigenen (begrenzten) Seins bewusst werden lässt. In der Kreuzung der Blicke erfolgt die paradoxe Aufforderung an den Betrachter der Ikone, Intentionalität vom unsichtbaren Göttlichen her zu denken, das außerhalb des Seins situiert ist. Es ist das Andere, dessen Offenbarung sich im Kreuzen der Blicke ermöglicht und dessen nicht Sichtbares sich in der Proskynese – die immer mit einem Senken des Blickes des Gläubigen einhergeht – anerkannt wird. Obwohl sich für die Ostkirche eine Diskussion und Analyse der formalen Ästhetik der Ikone nicht stellt, weil sie eben nicht als Anschauungsobjekt konzipiert ist, betonen die modernen Ikonentheorien, dass sich gerade in der Praxis ansichtigen Darstellens das theologische Moment der Ikone akzentuiert. Die Untersuchungen arbeiten sich daher auch an der formalen Ästhetik ab, deren besonderer Darstellungsform sich vor allem die modernen Ikonentheorien eines Pavel A. Florenkij (*09.01.1882, †08.12.1937) und Lev F. Shegin (*1892, †1969) zuwenden. Ausgangspunkt ist die Bestimmung der Ikone als objektives Bild. Ihre Objektivität begründet sich in der ihr zugrunde liegenden kanonischen Form, welcher der Ikonenmaler folgt, um den Blick auf ein objektiv-idealistisches Weltbild eröffnen zu können. Die Ikone ist somit keine Kopie der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Ihr Bildinhalt darf als ein nicht-weltlicher verstanden werden. Erneut geht es um das Wie der Sichtbarmachung des Undarstellbaren, abschließend im Modus einer Formsprache, über die sich dessen Darstellbarkeit ermöglicht. Prinzipiell darf die Ikone als die Grenze zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt angesehen werden. Dabei fällt das, was die Ikone zu sehen gibt, nicht mit dem zusammen, was im Durchschreiten der gegebenen Welt in den Blick des Betrachters fällt. Das, was der Ikonenmaler in die Sichtbarkeit holt, ist das Ungesehene, das in die Sichtbarkeit drängt – das Ungesehene, das ohne Zutun des Malers dem gläubigen Betrachter verborgen geblieben wäre. Doch in der Betrachtung der Ikone erkennen die

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Die Ikone und das Undarstellbare

Gläubigen das Undarstellbare senkenden Blickes an, denn es entzieht sich jeglicher Darstellbarkeit. Die vorliegende Arbeit richtet sich gleichermaßen an Philosophen, Kunsthistoriker, Bild- und Medienwissenschaftler, deren Anliegen es ist, unter den Stichworten »Sichtbarkeit« und »Sichtbarmachung« das besondere Verhältnis des Unsichtbaren und Undarstellbaren zum Bild zu ergründen.

2. Das Paradox der Ikone

Die sich Rahmen der Theologie bewegende Ikonenforschung vertritt die Auffassung, dass die Ikone ein ontologisches Kontinuum bewahrt.1 Die berechtigte Frage dazu wäre, wie einem von Menschenhand geschaffenem artifiziellen Ding wie der Ikone eine ontologische Stetigkeit zugesprochen werden kann; wie kann einem raum-zeitlich Seienden und auf ontischer Ebene situiertem Artefakt ein metaphysisches Beziehungsgeflecht zugrunde liegen? Hier schließt die zentrale Frage des Kapitels an: Was ist die Ikone? Im Folgenden gilt es, die strukturellen Beziehungen aufzudecken, die der Ikone innerhalb der Theologie zugrundegelegt werden. Dabei wird deutlich, dass jenes Bildwerk als Entität einzig und allein auf Vernunftbasis als ein Bild Gottes konstituiert wird, was sich aus einer christologischen Perspektive heraus ergibt: Ausgangspunkt des byzantinischen Bilderstreits, der den historischen Rahmen des hier eröffneten Kapitels steckt, ist zunächst die Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Ikone Christi, wobei das Sein des Sohnes gebunden ist an eine Theologie und damit an eine höhere Ordnung. So bewegt sich das Kapitel im Bereich der speziellen Metaphysik, innerhalb der die Wahrheit der Ikone an den Glauben der Inkarnation gebunden ist. Daran schließt die These an, dass der Ikone innerhalb der Theologie ein ontologisches Beziehungsgeflecht zugrunde gelegt ist, worin sich ein Mehrwert der christlichen Heiligenbilder begründet.

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Vgl. Philipp Stoellger: »Das heilige Bild als Artefakt«, in: Christoph Dohmen/Christoph Wagner (Hg.): Religion als Bild – Bild als Religion, Regensburg 2012, S. 179-215.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Die ontologische Aufwertung der εἰκών

2.1

Das theologische Moment der εἰκών

2.1.1 2.1.1.1

Trinität

ὁμοούσιος Der Schöpfungstheologie folgend liegt ein theologisches Faktum in der Materialität aller sinnlich fassbaren Formen, womit sich ein theologisches Moment der Ikone über die Materie, also den Bildträger, bestimmen lässt.2 Jedoch sei jenem Gedanken das entscheidende theologische Moment vorangestellt, das in der Inkarnation Gottes zu sehen ist, der in seinem Sohn Materie (Fleisch) geworden ist. Für den Augenblick ist daher konkret die Ikone Christi Ausgangspunkt, wobei zu erwähnen sei, dass diese der eigentliche Streitpunkt innerhalb des byzantinischen Bilderstreits gewesen zu sein scheint, denn die Argumente für oder gegen die Ikone gründen sich stets auf christologische Motive. Der Fakt, dass der Sohn als Bild des Vaters gilt, bestimmt also ein theologisches Moment der Ikone, denn Gott hat in der Inkarnation des Sohnes eine ikonische Qualität 3 erhalten. In diesem Sinne trifft Christus die biblische Aussage: »Wer mich sieht, der sieht den Vater […]. Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir.« [Joh 14, 9]4 : Christus ist nicht nur Bild des Vaters, sondern Gott zeigt sich in ihm, und Christus ist von göttlichem Wesen, denn der Sohn ist mit dem Vater ὁμοούσιος (homoousios|wesensgleich), weil er aus dem Wesen des Vaters gezeugt wurde. In jener Wesensgleichheit ist der theologische Fakt begründet, dass Christus Gott ist. Jedoch zeigt die Kirchengeschichte, dass die Gleichsetzung des Sohnes als Gottheit neben dem Vater das Christentum als monotheistische Religion vor ein Problem stellt. So geht es ab dem zweiten Jahrhundert um die Klärung der Frage nach der »Dreiheit« Gottes und damit um die Theologie im Sinne eines innergöttlichen Verhältnisses von Vater, Sohn und Hl. Geist.5 Wie die Forschung darlegt, bedienen sich die Theologen seit Justin (*um 100, †165) der platonischen Seinslehre, die von einem höchsten Einen ausgeht, das die Vielheit hervorbringt.6 In Anlehnung an neuplatonische Philosophien wird Gott zudem als gestufte Gottheit verstanden. Wie Christoph Schönborn aufzeigt, begreift Origenes sowohl den Vater als auch den Sohn als Gottheiten, jedoch nicht 2 3 4 5

6

Siehe zum zweiten theologischen Momentum Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. Vgl. Stoellger: »Das heilige Bild als Artefakt«, a.a.O., S. 207. Siehe auch: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes.« (Kol 1, 15) und »ein Bild seiner Gütigkeit« (Weish 7, 26). Der Kirchvater Theophilius von Antiochien (spätes 2. Jhd.) führt die »Dreiheit« in die christliche Theologie ein und spricht konkret von »ὁ ϑεός, ὁ λόγος αὐτοῦ, ἡ σοϕία αὐτοῦ« (Ad. Atol. II 15; SC 20, Paris 1948). Vgl. u.a. Alois Grillmeier: Fragmente zur Christologie, Freiburg i.Br. 1997, S. 122f.

2. Das Paradox der Ikone

als auf einer Stufe befindlich, denn der Vater ist ὁ ϑεός (ho theos|der Gott) und der Sohn ist ϑεός (theos|Gott), womit sich die Subordination in der Verwendung oder eben Auslassung des Artikels ausdrückt.7 Tatsächlich führte das subordinatorische Denken im 4. Jahrhundert zum trinitarischen Streit, in dessen Folge die Trinitätstheologie entscheidend geprägt wird.8 Die grundlegende Frage ist das innertrinitarische Verhältnis, wobei die Kirchenväter des 4. Jahrhunderts die Notwendigkeit einer begrifflichen Definition der DreiEinigkeit Gottes (Vater, Sohn und Hl. Geist) erkennen. Damit versuchen Sie dem Mysterium der Trinität im Denken zu begegnen. Einen kontroversen Weg dazu beschreitet der in Alexandria tätige christliche Presbyter Arius (*um 260, † 336). Die nach ihm benannte Lehre des Arianismus vertritt die Theorie der Einzigkeit Gottes. So beschreibt Arius Gott als ungeworden (ἀγέννητον), ewig (ἀΐδιον), anfangslos (ἄναρχον), unveränderlich und unwandelbar (ἄτρεπτον καὶ ἀναλλοίωτον), womit er auf Gottes Einzigkeit (μονάς) beharrt, an dessen Logos (λόγος) und Wesen (σοϕία) nichts teilhaben kann.9 Daher wird selbst der Sohn des väterlichen λόγος und σοϕία weder im Sinne einer »Emanation« (προβολή) teilhaftig, noch darf er als ein »Teil aus gleicher Substanz« (»οὐδ᾽ […] μέρος ὁμοούσιον«) verstanden werden. Arius begreift den Sohn zwar als einen von Gott Gezeugten, jedoch im Sinne eines gemachten und gewordenen (ποιημάτων καὶ γενητῶν) Dings, daher als ein der Natur nach Wandelbares (τρεπτῆς φύσεως) und mit endlicher Erkenntniskraft Ausgestattetes.10 Somit setzt Arius den Sohn als den »Gott Logos« zwar auf die Ebene des Geschöpflichen, als ein vollkommenes Gottesgeschöpf mit besonderen Vollmachten, jedoch begreift Arius den Sohn als eine von Gott gewollte Setzung: Der Sohn (Logos) ist vor seiner Hervorbringung nicht gewesen, ist in der Ontologie dem anfanglosen Gott radikal untergeordnet und steht den Geschöpfen näher als dem Vater.11

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9 10 11

Vgl. Christoph P. Schönborn: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 57-66 und 236f. Der trinitarische Streit begann mit den Äußerungen des Arius um 318 und kann mit dem Konzil von Konstantinopel 381 als beendet gelten. Zur ausführlichen Chronologie jenes Streits siehe u.a. Franz Dünzl: Kleine Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, Freiburg i.Br. 2006, S. 51-82, sowie Volker Henning Drecoll: »Entwicklungen und Positionen in der Geschichte des Christentums«, in ders. (Hg.): Trinität, Tübingen 2011, S. 92-117. Vgl. Athanasius Werke, Bd. 3/1, Berlin 2007, Urk. 6, 2 (hg. v. Hans-Georg Opitz, Leipzig 1935). Vgl. ebd. Bd. 3/1, Urk. 6, 3-5 und Urk. 4b,7-8, sowie Ritter: »Arianismus«, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. III (1978), S. 701. Es sei erwähnt, dass das frühe Christentum mehrere Lösungsansätze zu formulieren wusste. So sahen die Adoptianer Christus als angenommenen Gott, der nach der Taufe von Gottvater adoptiert worden ist. Dagegen begreifen die Modalisten Christus als nur eine Erscheinungsweise, d.h. als einen modus Gottes, weshalb für sie der Vater am Kreuz gelitten hat. Vgl. u.a. Dünzl: Kleine Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, S. 51ff.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Innerhalb der modernen Debatte zum trinitarischen Streit beschreibt Schönborn den Gott des Arius als einen Einsamen, zu dem als Ungeschaffenem alles Geschaffene in einer absoluten Differenz steht.12 Schönborn formuliert in diesem Zusammenhang und vor einem bildtheologischen Hintergrund den entscheidenden Hinweis, dass das transzendent Göttliche nur dann im Raum des Geschöpflichen artifiziell repräsentiert werden kann, wenn Christus als Sohn und vollkommenes Bild des transzendenten Gottes verstanden wird.13 So verdeutlicht Schönborn, dass Arius in seinem Bildverständnis den griechischen Philosophien nahesteht, die ein Bild als eine Nachahmung (μίμησις|mimesis) verstehen. Hier sei auf Platons Ontologie verwiesen, die davon ausgeht, dass alles Seiende (φύσις|physis) aus einer höherrangigen und transzendenten Idee (εἶδος|eidos) hervorgeht, weshalb alles Dingliche ein Abbild der entsprechenden Idee ist – darauf wird im Folgenden noch ausführlich eingegangen.14 Für das zugrunde liegende Problem ist Platons Bildbegriff entscheidend, welchen er im Sophistes eindeutig definiert: Bild (εἰκών|eikōn) ist, Platon folgend, ein dem Wahren ähnlich gemachtes anderes solches.15 Der Begriff εἰκών (eikōn|Bild) erhält eine geringschätzige Charakteristik, denn als ein Ähnliches und Derartiges kann εἰκών nie ein vollkommenes Abbild ihres Urbildes sein.16 Ein Blick auf Arius’ Trinitätslehre zeigt, dass dessen Ontologie jener platonischen Urbild-AbbildRelation nahe steht: Für Arius ist Gott Ursprung von allem, und nach seinem Willen ist alles geschaffen. Einer radikalen Subordination folgend, begreift Arius den Sohn als Erzeugnis (γέννημα) und Geschöpf (κτίσμα), das dem unwandelbaren göttlichen Vater zwar nähersteht als all die anderen Geschöpfe, denn als Gottessohn ist er ein Geschöpf besonderer Art – jedoch ist er nicht von göttlichem Wesen.17 Der Sohn ist daher für Arius kein vollkommenes Bild des Vaters, denn Vater und Sohn gehören verschiedenen Seinsbereichen an, weshalb sie nicht wesensgleich sind. Bereits hier wird der alles entscheidende Fakt deutlich: Die Bildtheorien der Christen müssen

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Vgl. Schönborn: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 20, und ders.: Gott sandte seinen Sohn, Paderborn 2002, S. 70. Vgl. ders.: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 21. Zur Chronologie des Arianerstreits siehe Hans-Georg Opitz: »Die Zeitfolge des arianischen Streits von den Anfängen bis zum Jahr 328«, in: ZNW, Bd. 33 (1934), S. 131-159. Siehe Kap. 2.1.2 Das theologische Moment der materiellen Dinge. Platon Sophistes 240a. Natürlich wird auch Platons Bildbegriff hier viel zu verkürzt wiedergegeben, jedoch soll dies ebenfalls an anderer Stelle nachgeholt werden, siehe daher 2.2.1 Die Ikone als εἰκών von Gott. Zu Platons Ontologie siehe v.a. Sophistes; zu Platons Bildbegriff siehe v.a. Sophistes 235d-236b u. 239e-241b sowie Politeia 596a-597b; zu Platons Bildtheorie vgl. Gernot Böhme: Theorie des Bildes, 2. Aufl., München 2004, S. 13-25 und Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz, Frankfurt a.M. 2005, S. 125-148. Vgl. Athanasius Werke, Bd. 3/1, Urk. 4b und Urk. 6.

2. Das Paradox der Ikone

den auf Mimesis beruhenden Bildbegriff der griechischen Philosophen überwinden, d.h. die Theologen des frühen Christentums müssen den Sohn als spezifisches Bild des Vaters zu definieren wissen, damit ein artifizielles Bild Gottes überhaupt möglich sein kann. Wie die Forschung stets betont, geht Arius mit seiner Lehre des transzendenten Gottes nicht gegen bereits bestehende Orthodoxien vor. Was sich während der trinitarischen Streitigkeiten des 4. Jahrhunderts verdeutlicht, ist die Notwendigkeit einer die Trinität betreffenden dezidierten Terminologie, welche die innertrinitarischen Beziehungen ontologisch zu bestimmen vermag. Es zeigt sich, dass Arius einer christlich-theologischen Tradition folgt, die sich bezüglich einer negativen Theologie seit dem zweiten Jahrhundert auf mittelplatonische Terminologien stützt.18 Der entscheidende theologische Einwand gegen die Lehre des Arius ist nun der, dass, wenn der Sohn (Logos) auf die geschöpfliche Seinsebene gesetzt wird, die Einheit von Vater und Sohn zerstört ist.19 Mit Blick auf die Streitigkeiten scheint für das Verständnis der Trinität entscheidend, ob der Sohn nun der Schöpfung oder Gott zugeordnet werden kann. Ausschlaggebend – nicht nur für den hier vorliegenden Kontext – sind die Ergebnisse der im Jahr 325 einberufenen Synode von Nicäa, deren Symbolum bis heute als unumstößliches Glaubensbekenntnis gilt. Der Versuch eines gültigen Konsenses ist im Symbolum Nicenum, dem Glaubensbekenntnis von Nicäa wie folgt formuliert: Das Folgende ist in Nicäa beschlossen: Wir glauben an einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge; und an einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, als Eingeborener gezeugt aus dem Vater, das heißt aus dem Wesen des Vaters (ἐκ τῆς οὐσίας τοῦ πατρός), Gott von Gott, Licht von Licht, wahrer Gott von wahrem Gott, gezeugt und nicht geschaffen, wesenseins mit dem Vater (ὁμοούσιον τῷ πατρί) […] Die aber sagen […] er sei aus einer anderen Hypostase (ὑποστάσεως) oder einem anderen Wesen (οὐσίας), oder aber sagen, der Sohn Gottes sei geschaffen, wandelbar oder veränderlich, diese verdammt die katholische und apostolische Kirche.20 Deutlich wird, dass die Lehren des Arius in jenem Symbolum als Häresie abgetan werden. Entgegen der arianischen Lehren gehören Vater und Sohn einer Seinsebe18

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Vgl. Friedo Ricken: »Nikaia als Krisis des altchristlichen Platonismus«, in: Theologie und Philosophie, Bd. 44 (1969), S. 321ff. Mit Blick auf ihm vorliegende wissenschaftliche Arbeiten verdeutlicht Ricken in seinen Recherchen, dass sich bei Platon negative Gottesprädikate finden, die im mittleren Platonismus und genauso im hellenistischen Judentum aufgegriffen werden. Der erste Gegenkommentar zu Arius’ Lehre ist von Bischof Alexander von Alexandrien formuliert worden. Siehe dazu u.a. Brennecke: Athanasius Werke, Bd. 3/1, Urk. 4a, 4b und Urk. 14. Athanasius Werke, Bd. 3/1, Urk. 24.

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ne an, denn der Sohn ist Gott von wahrem Gott – er ist mit dem Vater ὁμοούσιος, d.h. wesensgleich.21 Im Nicänischen Glaubensbekenntnis sind die Begriffe ὁμοούσιος (homoousios), οὐσία (ousia|Wesen) und ὑπόστασις (hypostasis|Hypostase) aufgeführt, die in den folgenden Jahren in Bezug auf die Trinitätstheologie u.a. von den Kirchenvätern Athanasios von Alexandrien (*um 295, †373) und Basilius von Cäsarea (*um 330, †379) maßgeblich geprägt werden. In seinen Lehren folgt Athanasios von Alexandrien stets dem Symbolum Nicenum, dessen Termini er entscheidend präzisiert.22 Athanasios betont, dass die Bischöfe der Synode von Nicäa entsprechende Worte benutzen, um sich den arianischen Lehren entgegenzustellen. So verdeutlicht Athanasios, dass Ausdrücke wie »aus dem Wesen« und »wesenseins« sich den arianischen Lehrmeinungen von »Geschöpf«, »Werk«, »geworden«, »wandelbar« oder »er war nicht, bevor er nicht gezeugt wurde« entgegenstellen.23 Diesbezüglich betont die Forschung, dass das Grundproblem der trinitarischen Streitigkeiten des 4. Jh. die Frage ist, wie das Sein des Sohnes zu begreifen sei. Wie sich zeigen wird, ist dabei ὁμοούσιος (homoousios) das alles entscheidende Adjektiv. Der Quellenlage folgend scheint es, dass die Arianer ὁμοούσιος in die trinitarische Debatte hineinbringen. An den Beginn des Streits setzt die Forschung das Glaubensbekenntnis des Arius, in dem es unter anderem heißt, dass der Sohn nicht Gottes wesenseines Teil sei.24 Entgegen der Arianischen Lehre beschreibt Athanasios Gott und Sohn als ὁμοούσιος, also wesensgleich, denn der Sohn ist aus dem

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Für die Soteriologie ist dies entscheidend, denn wenn Christus als Gott von wahrem Gott bestimmt ist, dann ist der Sohn, ontologisch betrachtet, wie der Vater, d.h. nicht Gottheit aufgrund von Ehrzuweisung, sondern eine reale Gottheit. Die Erlösung des Menschen erfolgt daher durch einen wahrhaftigen Gott (Synode von Nicäa) und nicht durch ein Geschöpft (Arianismus). Vgl. dazu in aller Kürze Franz Dünzel: Kleine Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, Freiburg i.Br. 2006, S. 69. Für weiterführende Literatur und Studien zur Soteriologie siehe die neueren begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zur Soteriologie von Stephan Schaede: Stellvertretung, Tübingen 2004 und als Lehrbuch der Soteriologie u.a. Dorothea Sattler: Erlösung? Freiburg i.Br. 2011. Athanasius ist vor seinem Bischofsamt, das er von 328 an mit mehrfacher Unterbrechung aufgrund ihm auferlegten Anathema bis zu sein Tod 373 innehatte, bereits als Kleriker im Umfeld seines Vorgängers Alexander von Alexandrien (Amtszeit 313-328) tätig. Es liegt nahe, dass Athanasius den von Alexander formulierten Kommentar zu Arius’ Trinitätslehre mit beeinflusst haben könnte. Zum Leben des Athanasios siehe u.a. Martin Tetz: »Athanasius von Alexandrien«, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. IV (1979), S. 333-343; Athanasius: Zwei Schriften gegen die Arianer, eingeleitet, übers. und kommentiert von Werner Portmann, Stuttgart 2006, S. 1-36 und 292-296 sowie den Abschnitt »B. II. Wirkungsfelder« in: Peter Gemeinhardt (Hg.): Athanasius Handbuch, Tübingen 2011, S. 73-111. Athanasios De decretis Nicaenae synodi 20,6. Vgl. Athanasius Werke, Bd. 3/1, Urk. 6, 5.

2. Das Paradox der Ikone

Wesen des Vaters, was bedingt, dass das Wesen Christi als göttliches anzuerkennen ist.25 Wie Friedo Ricken in seinem einschlägigen Artikel »Nikaia als Krisis des altgriechischen Platonimus« zeigt, verstehen die Arianer als auch ihre Gegner ὁμοούσιος in Anlehnung an das gnostische Wortverständnis als »Gleichgeartetheit des Seins« und als ein, »der selben Seinsart und Seinsstufe Zugehöriges«.26 Während sich das gnostische ὁμοούσιος auf materielle Zustände bezieht, begründet bereits Athanasios‘ Lehre die Verwendung des Wortes zur Beschreibung eines ontologischen Zustands. Dabei erweist sich für die Theologen des 4. Jh. die Exegese des Evangeliums des Johannes als ausschlaggebend, wo vom »einziggezeugten/einziggeborenen (μονογενής) Sohn, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist« gesprochen wird.27 Während Arius jenes »Gezeugt sein« des Sohnes, wie alles Geschöpfliche, als ein durch Gottes freien Willen aus dem Nichts in die Zeit Geschaffenes und Gewordenes verstehen will, betont Athanasios, dass das Hervorgehen des Sohnes keinesfalls mit dem »Gezeugt sein« auf anthropologischer Ebene gleichgesetzt oder gleich verstanden werden darf, d.h., »daß er nicht ist, wie wir sind, sondern wie ein Gott ist […] so ist klar, daß er nicht zeugt, wie Menschen zeugen, sondern wie Gott zeugt«28 . Dem folgend präzisiert Athanasios die konziliare Aussage »gezeugt und nicht geschaffen (γεννηθέντα οὐ ποιηθέντα)« dahingehend, dass kein Geschöpf, sondern allein der Sohn aus dem Wesen des Vaters gezeugt ist. Die Relation von Vater und Sohn ist daher im Sinne einer immanenten Trinität zu verstehen, die nicht auf Teilhabe beruht, sondern auf der einzigartigen Beziehung der Wesensgleichheit:29 Als Gottessohn ist Christus dem Vater nicht (nur) ähnlich, sondern ὁμοούσιος – wesensgleich, d.h. Gott und Sohn sind in ihrem göttlichen Wesen identisch: Von Natur wahrer und echter Sohn des Vaters, eigen seiner Wesenheit, eingeborene Weisheit, wahres und einziges Wort Gottes ist dieser. Nicht ist er im Geschöpf noch im Gebilde, sondern eigene Zeugung der Wesenheit des Vaters. Deshalb ist er wahrer Gott und wesenseins (ὁμοούσιος) mit dem wahren Vater. Alle anderen aber […] haben nur durch Teilnahme am Wort durch den Geist diese Gnade vom Vater.30

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Vgl. Athanasios De decretis Nicaenae synodi 15 und 19. Vgl. Ricken: »Nikaia als Krisis des altchristlichen Platonismus«, a.a.O., S. 335 und zum Verständnis des ὁμοούσιος im Symbolum Nicänum siehe A. Orbe: »Hacia la primera teología de la procesión del Verbo«, in: Estudios Valentinianos I, Rom 1958, S. 660-662. Joh. 1, 18 und ähnlich Joh. 1, 14 und 3, 16. Zum Vgl. siehe dazu u.a. Schönborn: Gott sandte seinen Sohn, a.a.O., S. 73ff. Athanasios Orationes contra Arianos I, 23. Vgl. Schönborn: Gott sandte seinen Sohn, a.a.O., S. 76ff. Athanasios Orationes contra Arianos I, 9. Lippl weist darauf hin, dass homoousios sich in den ersten drei Reden gegen die Arianer allein an dieser Stelle findet. Jedoch betont Athanasios

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Die Ikone und das Undarstellbare

Hier nun weiß bereits Athanasios dem Paradoxon des vollkommenen Bildes Gottes zu begegnen, denn, so Athanasios weiter: »… er ist Hypostase (ὑποστάσεως) des Vaters […] und wahrhaftes Bild (εἰκών) der Wesenheit des Vaters.«31 An dieser Stelle greift Athanasios einen weiteren Begriff aus dem Nicänischen Glaubensbekenntnis auf, den es im Folgenden näher zu betrachten gilt: ὑπόστασις (hypostasis|Hypostase). ὑπόστασις Entscheidend ist, dass Athanasios ὁμοούσιος (homoousios|wesensgleich) in Verbindung mit ὑπόστασις (hypostasis|Hypostase) in seinen Lehren so einsetzt, dass ersteres letzteres in Bezug auf οὐσία (ousia), dem zugrundeliegenden Wesen also, beschreibt, womit dem christlichen Bildverständnis eine entscheidende Definition unterlegt wird: Der Trinitätstheologie des Athanasios folgend, ist der Sohn das unwandelbare weil wesensgleiche und deshalb vollkommene Bild Gottes.32 Allerdings spricht Athanasios noch nicht von drei Hypostasen, sondern folgt mit seiner Lesart des Symbolum Nicenum der Einhypostasenlehre. Eine eingehende Wort- und Bedeutungsgeschichte zum ὑπόστασις-Begriff liegt in der Arbeit Heinrich Dörries vor, dem hier gefolgt werden darf.33 In der Antike ist ὑπόστασις ein geläufiges Wort, das bereits in der älteren stoischen Philosophie im Sinne von »Realisierung« das »in sinnfällige Erscheinung treten des Latenten« meint. So fungiert ὑπόστασις als ontologischer Begriff, der keinen Zustand, sondern den Akt des »in Erscheinung Tretens« meint, d.h. das Werden der Dinge, die im Materiellen das Sein erlangen.34 Innerhalb neuplatonischer Philosophien wird

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stets die Wesenheit von Vater und Sohn mit ταὐτότης τῆς θεότητος (Identität der Gottheit) oder ἑνότης τῆς οὐσίας (Wesenseinheit). [Siehe dazu Lippl, S. 29, Anm. 1.] Athanasios Orationes contra Arianos I, 9: »τῆς τοῦ πατρὸς ὑποστάσεως […] καὶ εἰκὼν ἀληθινὴ τῆς τοῦ πατρὸς οὐσία.« Dagegen übersetzt Lippl: »Denn er ist das Abbild der Person des Vaters […] und wahrhaftes Bild der Wesenheit des Vaters.« Lippl schließt damit an Hebr. 1,3 an: »Er ist Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens …«. So bereits von Schönborn betont; vgl. ders.: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 23ff. Heinrich Dörrie: Ὑπόστασις: Wort- und Bedeutungsgeschichte, Göttingen 1955. Auf die zahlreichen Wortbedeutungen, welchen ὑπόστασις als philosophischer wie außerphilosophischer Begriff folgen kann, geht Heinrich Dörrie ausführlich ein. Dabei stellt Dörrie die Übersetzung als Realisierung und Realität sowie Entstehung und Bestand als wichtigste Wortbedeutung heraus. Bereits bei Hippokrates taucht ὑφίστασθαι auf, das in Zusammenhang mit Flüssigkeiten das »sich Absetzen« dieser meint, weshalb, Dörrie folgend, ὑπόστασις (als Verbalsubstantiv) den Vorgang des »sich Absetzens« oder das Ergebnis davon bedeutet und somit als Bodensatz und Sediment übersetzt wird (so auch bei Aristoteles). Im Sinne von Bestand und Realität findet ὑπόστασις so als technisch-naturwissenschaftlicher Begriff Verwendung und meint was ist und besteht (womit es dem οὐσία Begriff äquivalent ist) und bildet damit den Gegenpol zum Eingebildeten. Dagegen versteht die stoische Philosophie unter ὑπόστασις weniger Ergebnis und Zustand als vielmehr den Akt des Entstehens, wes-

2. Das Paradox der Ikone

jene Wortbedeutung übernommen und dahingehend expliziert, dass ὑποστάσεις (hypostaseis|Hypostasen) aus einem Höheren herausfliesen: So meint ὑπόστασις bei Plotin das zur-Existenz-bringen einer (niederen) Vielheit aus einem (höheren) Einen, was sich durch eine Wirkungskraft (ἐνέργεια|energeia) realisiert. Plotin denkt die Sinnenwelt als ein von der dinglichen Welt absolut Transzendentes und Teilhabeloses: Der Sinn als Grund allen Seins bleibt zwar exklusiv, d.h. außerhalb, aber ein Jedes ist ὑπόστασις seines energetischen Grundes, und weil sich in jeder Realisierung die Wirkungskraft eines höheren Prinzips ausdrückt, ist für Plotin jedes Sein ὑπόστασις eines höheren Hypostasierenden.35 In Anlehnung an Plotins ὑπόστασις-Begriff unterscheidet dessen Schüler Porphyrios konkret zwischen unvollkommenen Hypostasen (μερικαὶ ὑποστάσεις|merikai hypostaseis) und den vollkommenen Hypostasen (τέλειαι ὑποστάσεις|teleiai hypostaseis).36 Die unvollkommenen Hypostasen sind Realitäten, die an das Körperliche gebunden sind, also auf Raum und Materie beruhen.37 Jene begreift Porphyrios zudem als teilbare Wesenheiten, die in der Lesart der Stoiker und Plotins das »in Erscheinung Treten des Seins im Einzelding« meint. Mit τέλειαι ὑποστάσεις meint Porphyrios nun das transzendente Sein, dass nicht in Materie sinnfällig wird: τέλειαι ὑποστάσεις sind immateriell, sind konkret metaphysisch, sich im reinen Sein Manifestierende.38 Wie Plotin so zählt auch Porphyrios das Eine (ἕν|hen), den Geist (νοῦς|nous) und die Weltseele (ψυχὴ τοῦ παντός), zu den rein geistigen Dingen, wobei nun Porphyrios allein diese drei als vollkommene Hypostasen ansieht. Das Eine denkt auch er als das alles andere Übersteigende, womit Porphyrios

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halb ὑπόστασις (im ontologischen Sinne) »Realisierung des Seins im Einzelding« meint. Gerade im spätantiken philosophischen Diskurs ist die Erweiterung des Wortsinns von »sich Absetzen« hin zu »sinnfällig Werden« und »in Erscheinung treten« entscheidend. Zum Begriff der Hypostase siehe neben Heinrich Dörrie in aller Kürze Basilius Studer: »Hypostase«, in: HWP, Bd. 3 (1974), S. 1255-1259. Vgl. Plotin Enneaden V 1, 3 sowie Dörrie: Ὑπόστασις, a.a.O., S. 69f. und Winfried Weier: Sinn und Teilhabe. Das Grundthema der abendländischen Geistesentwicklung, Salzburg 1970, S. 113. In seinen Analysen zur Teilhabe unterscheidet Weier konkret zwischen Sinn- und Seinsteilhabe, wobei er in Bezug auf Plotins Philosophie aufzeigt, dass diese von einer Sinnteilhabe ausgeht. Siehe dazu Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. Obwohl Plotin mit ὑποστάσεις besondere Existenzformen, besondere Realitäten, zu meinen scheint, fungiert ὑπόστασις als ein expliziter Terminus erst bei Plotins Schüler Porphyrios. Dass Plotin ὑπόστασις noch nicht als expliziten Terminus verwendet, zeigt sich u.a. in Enneaden V 2, 1, 6, wo ὑπόστασις Synonym für οὐσία ist. Vgl. Porphyrios Sententiae 33. Porphyrios Sententiae 36: »Sein Anderssein ist weder von Außen erworben noch hinzugefügt; es ist Vieles in sich selbst, nicht wegen Teilnahme an etwas Anderem; denn es wirkt in allen Wirksamkeiten und bleibt dabei das, was es ist, weil es aus der Identität mit sich selbst sein ganz Anderes hervorbringt (ὑπέστησεν), das nicht wie bei den Körpern im Unterschied des einen vom anderen betrachtet wird.«

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weiterhin der neuplatonischen Hierarchisierung des absoluten Seins folgt und zudem das Hervorgehen der Vielheit aus dem Einen graduell denkt: Das Eine (ἕν) hypostasiert sich im Geist (νοῦς) und dieser weiter in der Weltseele (ψυχὴ τοῦ παντός), womit hypostasis im Sinne von αὐθυπόστατον (authypostaton), d.h. als rein metaphysisch Begründetes und allein im reinen Sein bewirktes, nun als konkreter ontologischer Terminus fungiert.39 Tatsächlich beschreibt Porphyrios jene drei Naturen (das Eine/Geist/Weltseele) als wesensähnlich (ὁμοούσιος), ohne jegliche Mischung, Verbindung oder Zusammensetzung.40 Hieraus zieht Dörrie die Quintessenz, dass die neuplatonische Philosophie des Porphyrios in sich eine Theologie birgt, die davon ausgeht, dass das höchste Eine (ἕν), welches als Seinsgrund für alles zu begreifen ist und mit Gott identisch gedacht werden darf, Hypostasen besitzt.41 Das frühe Christentum verwendet ὑπόστασις in eben jener neuplatonischen Lesart, jedoch versuchen die Theologen des 4. Jh. eine Stufenordnung der göttlichen Hypostasen per Definition zu überwinden. Wie bereits erwähnt, spricht Athanasios von einem Wesen (οὐσία|ousia) und von einer Hypostasis. Zwar versteht er ὑπόστασις im Sinne einer Manifestation, jedoch setzt er sie auf eine Stufe mit dem Wesen (οὐσία). Demnach sind Vater und Sohn als (vollkommene) Hypostasen nicht subordiniert, sondern werden als Ausprägung des Göttlichen, als dem göttlichen Wesen (οὐσία) Wesensgleiche (ὁμοούσιος|homoousios) definiert.42 Mit dieser Lehre steht Athanasius der Einhypostasenlehre nahe, die jedoch nicht uneingeschränkt akzeptiert wird, weshalb das Jahrhundert nach Nicäa von einer Vielfalt orthodoxer Theologien geprägt ist und einer damit einhergehenden Vielzahl von Synoden, die darüber verhandeln. Die von Athanasios 362 einberufene Synode in Alexandrien stellt dabei für die Trinitätstheologie eine Art Schlüsselposition dar. Der von Athanasios verfasste Tomus ad Antiochenos, der sich auf die Beschlüsse der Synode von 362 bezieht, zeigt, dass jene Versammlung keinen Konsens erwirkt. Vielmehr werden mit Berufung auf das Symbolum Nicänum, das als Grundlage des rechten Glaubens vorausgesetzt ist, zwei mögliche theologische Positionen für zulässig erklärt.43 Zum einen wird die Einhypostasenlehre weiterhin akzeptiert: So

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Zu αὐθυπόστατον vgl. Dörrie: Ὑπόστασις, a.a.O., S. 66 und 74. Vgl. Porphyrios Sententiae 33. Vgl. Dörrie: Ὑπόστασις, a.a.O., S. 73. Vgl. ebd. S. 82f. Speziell in Anm. 39, S. 83 betont Dörrie dazu, dass ὑπόστασις innerhalb der Trinitätstheologie ausschließlich als Verbalsubstantiv agiert und somit einen Akt (Realisierung, Manifestation) und nicht einen Zustand (Realität) ausdrückt. Wenn nun Vater und Sohn in ihrem göttlichen Wesen identisch sind, dann liegt der innerhalb der Athanasios-Forschung geäußerte Einwand, dass der hl. Geist bei dem Kirchenvater als anhypostasis zu beschreiben ist, auf der Hand. Vgl. Dörrie: Ὑπόστασις, a.a.O., S. 80 und Drecoll: Trinität, a.a.O., S. 108f. Theologische Standpunkte nach Nicäa sind u.a. die Eusebianer, die als Anhänger des Eusebios von Nikomedia einen gemäßigten Arianismus vertreten; die Meletianer berufen sich auf die Lehre des Meletius (360 Bischof Antiochiens), die konkret von drei göttlichen Hyposta-

2. Das Paradox der Ikone

darf im Sinne des Symbolum Nicänum von »einer Hypostase« und von der »Zeugung des Sohnes aus dem Wesen des Vaters« gesprochen werden, womit die Wesensverwandtschaft von ὑπόστασις und οὐσία bestehen bleibt.44 Zum anderen wird jedoch genauso eine Formulierung versucht, die der Dreihypostasentheologie entgegenkommt: Wir bekennen einen wahrhaft seienden und existierenden Vater, einen wahrhaft mit Sein versehenen und existierenden Sohn und einen wahrhaft existierenden und gegebenen Heiligen Geist. Niemals aber haben wir geglaubt, dass es drei Götter oder drei Prinzipien gebe […] Wir erkennen vielmehr eine heilige Trias, eine Gottheit, ein Prinzip und den Sohn als wesensgleich (ὁμοούσιον) mit dem Vater […] und den Heiligen Geist, der weder Geschöpf noch sonst Fremdartiges, sondern eigenständig und untrennbar von der Ousia (τῆς οὐσίας) des Sohnes und des Vaters ist.45 Mit eben jener zweiten möglichen trinitätstheologischen Position scheint die Gleichsetzung von ὑπόστασις und οὐσία aufgehoben: Vater, Sohn und Heiliger Geist sind wahrhafte und eigenständige Existenzen (ὑποστάσεις), die wesensgleich (ὁμοούσιος) sind, weil sie in ihrem Wesen (οὐσία) untrennbar miteinander vereint

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sen ausgeht; die Homousianer, zu denen Paulinus von Antiochien und Athanasios zählen, vertraten und verteidigten das Symbolum Nicänum und damit vor allem die Einhypostasenlehre und die Lehre der Wesensgleichheit. Zu den jeweiligen theologischen Gruppen, die 362 in Alexandrien anwesend bzw. nicht anwesend sind, vgl. die unterschiedlichen Ergebnisse bei Martin Tetz: »Über nikäische Orthodoxie: Der sog. Tomus ad Antiochenos des Athanasius von Alexandrien«, in: ZNW, Bd. 66 (1975), S. 194-222 und Peter Gemeinhardt: »Der Tomus ad Antiochenos (362) und die Vielfalt orthodoxer Theologie im 4. Jh.«, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, Bd. 117 (2006), S. 169-196. Für einen kurzen Überblick zu den verschiedenen theologischen Gruppen der nachnicänischen Zeit siehe u.a. Klaus Schatz: Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, Stuttgart 1997, S. 36-44 und Drecoll: Trinität, a.a.O., S. 92-117. Wichtige Synoden nach 325 und vor 362 sind die Synode von Antiochien (341) und die Synode von Serdica (343). Während in Serdica die Einhypostasenlehre von Nicäa bestätigt wird, wird in Antiochien mit der so genannten »2. antiochinischen Formel« die Dreihypostasenlehre propagiert. Siehe dazu Athanasios Werke III/1. Teil/3. Lieferung: »Theologische Erklärung der Synode von Antiochien des Jahre 341« S. 144-147 sowie ebd. die entsprechenden Quellen zur Synode von Serdica. Zur Synode von Serdica siehe auch Martin Tetz: »Ante omnia de sancta fide et de integritate veritatis. Glaubensfragen auf der Synode von Serdica«, in: ZNW, Bd. 66 (1985), S. 225-269. Vgl. u.a. Opitz: Athanasius Werke, Bd. 2/Teil Lieferung, Tomus ad Antiochenos 6,2. Athanasius Werke, Bd. 2/Teil Lieferung, Tomus ad Antiochenos 5,4: »…ἀλλʹ ἀληθῶς οὖσαν καὶ ὑϕεστῶσαν πατέρα τε ἀληθῶς ὄντα καὶ ὑϕεστῶτα καὶ υἱὸν ἀληθῶς ἐνούσιον ὄντα καὶ ὑϕεστῶτα καὶ πνεῦμα ἅγιον ὑϕεστηκὸς καὶ ὑπαρχον…« Zur dt. Übersetzung vgl. Peter Gemeinhardt: »Der Tomus ad Antiochenos (362) und die Vielfalt orthodoxer Theologie im 4. Jh.«, a.a.O., S. 105.

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Die Ikone und das Undarstellbare

sind. Mit diesem zweiten möglichen Glaubenssatz darf nun von drei Hypostasen und von einem Gott ausgegangen werden. Peter Gemeinhardt gibt in seinem Kommentar den Hinweis, dass ὁμοούσιος im Tomus ad Antiochenos nicht mehr als erklärender Zusatz fungiert, sondern zum Phänomen selbst wird.46 Dem sei erklärend hinzugefügt, dass ὁμοούσιος mit Bezug auf οὐσία und ὑποστάσις als ein auf rein metaphysischer Ebene Gegebenes zu verstehen ist, welches das Allgemeine (οὐσία) mit dem in die Einfache-Vielheit Hervorgebrachten (ὑπόστασις) untrennbar aber unvermischt verbindet. Wie zuvor dargelegt, werden im Symbolum Nicänum Gott und Sohn als Wesensgleiche (ὁμοούσιος) auf eine Seinsebene gehoben. Was die Theologie nach Nicäa zu bewirken ersuchte, ist die Definition von ὁμοούσιος als metaphysischen Begriff: Während das gnostische Wortverständnis Materiell-Seiendes beschreibt, fungiert das »trinitarische« ὁμοούσιος (neben ὑπόστασις) als ein Terminus technicus des transzendenten Seinsverhältnisses – steht es für das rein metaphysische Verhältnis von Vater und Sohn. Zwar bezieht sich der Tomus ad Antiochenos in seinen Grundzügen auf das Symbolum Nicänum, jedoch lässt er einen exegetischen Spielraum, der für die folgenden dogmatischen Auseinandersetzungen und vor allem für die Trinitätstheologie des aus Kappadokien stammenden Basilius von Cäsarea entscheidend ist. In Anlehnung an die Lehren des Athanasius, dem er im Denken sehr nahesteht, gelingt es Basilius, eine Trinitätslehre zu formulieren, die die ontologische Relation von Vater, Sohn und Heiligem Geist definiert und gleichzeitig die Subordination dieser zu umgehen weiß. Mit seiner Unterscheidung der göttlichen οὐσία und den ὑποστάσεις in Gott konkretisiert Basilius die innertrinitarische Beziehung.47 Die von Basilius formulierte alles entscheidende Differenzierung der Begriffe findet sich in Epistula 3848 : Während οὐσία das Allgemeine und Gemeinsame 46 47

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Vgl. ebd. S. 182. Dass es unmöglich ist, οὐσία begrifflich zu fassen, ist der Grundgedanke in Basilius’ erstem theologischen Hauptwerk Adversus Eunomium und findet sich konkret unter AE I, 12. In dieser gegen Eunomius, dem Arianismus unterstellt wird, gerichteten Schrift entfaltet Basilius einen ersten Ansatz seiner Trinitätslehre, die der des Athanasios nahesteht: Basilius geht stets von einer οὐσία des Vaters und des Sohnes aus, spricht in AE jedoch noch nicht von mehreren Hypostasen und verwendet, wenn auch nur an einer Stelle (AE I, 20), den Begriff ὁμοούσιος. In seinem zweiten dogmatischen Werk De spiritu sancto spricht Basilius bereits von mehreren, jedoch noch nicht konkret von drei Hypostasen (z.B. DSS 18); ὁμοούσιος taucht in DSS gar nicht auf. Die für den hier vorliegenden Kontext entscheidende trinitiarische Ontologie und die damit zusammenhängende terminologische Differenzierung von οὐσία und ὑπόστασις formuliert Basilius vor allem in Ep. 52, Ep. 125, Ep. 210, Ep. 214, Ep. 231-236 und Ep. 38. Siehe dazu und zur trinitätstheologischen Konzeption des Basilius von Cäsarea ausführlich Drecoll: Die Entwicklung der Trinitätslehre des Basilius von Cäsarea, a.a.O. Vgl. Basilius Ep. 38, 1-3. Ob Ep. 38 tatsächlich aus der Feder des Basilius stammt, ist in der Forschung umstritten, soll an dieser Stelle jedoch nicht diskutiert werden. Unter Vorbehalten wird dem Ergebnis Drecolls gefolgt, der Ep. 38 eher Basilius und weniger dessen Bruder

2. Das Paradox der Ikone

(κοινότης|koinotēs) bezeichnet, meint ὑποστάσις die individuelle Einzelexistenz und benennt die Eigenheit (ἰδιότης|idiotēs) dieser.49 Beispielsweise ist Petrus wie Andreas, Johannes und Jakobus Mensch (ἄνθρωπος|anthrōpos), d.h. sie sind ὁμοούσιος aufgrund ihrer gemeinsamen (menschlichen) Natur (φύσις|physis) und stimmen daher in ihrer οὐσία überein: φύσις (physis) drückt somit die Wesenheit einer Sache aus. Dagegen wird der einzelne Mensch etwa durch den Namen »Petrus« oder diverse Charaktereigenschaften so beschrieben, wie er tatsächlich existiert und sich als individuelles Spezifikum, im Sinne eines Umrissenen (περιγραϕή|perigraphē), von dem Allgemeinen abgrenzt.50 Die Spezifizierungen (χαρακτῆρα|charaktēra) werden von Basilius unter dem Begriff ὑπόστασις gefasst, wobei erst das signifikant Ausgesagte den gedanklichen Rückschluss auf die zugrunde liegende Gemeinsamkeit (κοινότης|koinotēs) möglich macht: »Das ist also die Hypostasis […] ein Begriff, der das in einem bestimmten Ding vorhandene Gemeinsame und Unbestimmte anhand der offenbar werdenden Spezifika genauer definiert.«51 Mit Bezug auf die Trinität heißt das nun, dass die göttliche οὐσία als das sich allem Begrifflichen Entziehende und Unbestimmbare durch ein in die Existenz tretendes Spezifikum erkannt werden kann. Entscheidend ist, dass mit ὑπόστασεις die Personen der Trinität bestimmt werden. So kennzeichnen etwa die Bezeichnungen Vater, Sohn und heiliger Geist das jeweilige Hervorgehen aus dem göttlichen Urgrund – sie sind aus Gott hervorgehende Existenzen (ὑπόστασεις): Der Sohn ist der einzig Gezeugte des Vaters, der wiederum ungezeugt ist, der Heilige Geist aber geht aus dem Vater hervor und wirkt durch den Sohn.52 So werden die drei als ὑπόστασεις (Existenzen) im Sin-

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Gregor von Nyssa zuweist. Zur Echtheitsfrage der Ep. 38 vgl. Anders Cavallin: Studien zu den Briefen des hl. Basilius, Lund 1944, S. 71-81 u. 109-112 und Reinhard Hübner: »Gregor von Nyssa als Verfasser der sog. Ep. 38 des Basilius«, in: Jaques Fontaine/Charles Kannengiesser (Hg.): Epektasis. Mélanges Patristiques offerts au Cardinal Jean Daniélou, Paris 1972, S. 463-490; dagegen Basilius von Cäsarea: Briefe, übers. und erläutert von Wolf-Dieter Hauschild, Stuttgart 1990 sowie Jürgen Hammerstaedt: »Zur Echtheit von Basiliusbrief 38«, in: Jahrbuch für Antike und Christentum/Ergänzungsband 18 (1991), S. 416-419 und Drecoll: Die Entwicklung der Trinitätslehre des Basilius von Cäsarea, a.a.O., S. 297-309. Zur Unterscheidung von κοινότης und ἰδιότης vgl. neben Ep. 38 auch Ep. 236 und Ep. 214 sowie Drecoll: Die Entwicklung der Trinitätslehre des Basilius von Cäsarea, a.a.O., S. 283f und 295ff. Vgl. und weiterführend Drecoll: Die Entwicklung der Trinitätslehre des Basilius von Cäsarea, a.a.O., S. 310f. sowie Schönborn: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 30ff. Zum Begriff περιγράϕειν siehe ausführlich Kap. 2.2.1.2 Die relationale Regel der Ikone. Basilius Ep. 38, 3. Das Zeugen wie Hervorgehen aus Gott erfolgt in der Dogmatik des Basilius unmittelbar, d.h., Ep. 38, 4 folgend, es gibt keinerlei Zwischenwesen oder Zwischenstufen. Dies scheint für Basilius im schöpfungstheologischen Sinn sowohl für die drei göttlichen Hypostasen als auch für alles Dingliche zu gelten. Genauso macht das Denken der drei Hypostasen Vater, Sohn und Heiliger Geist das Erhabene unmittelbar erfahrbar, führen die Hypostasen im Denken

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Die Ikone und das Undarstellbare

ne der ihre Person betreffenden jeweiligen Differenz begreifbar, jedoch sind sie, Basilius folgend, allein im Zusammendenken erkennbar, denn: Wer den Vater denkt, hat ihn sowohl für sich gedacht als auch den Sohn in dem Gedanken mitgesetzt; wer aber diesen erfaßt, hat den Geist nicht vom Sohn abgetrennt […] aber in einer Verbundenheit hinsichtlich der Natur (φύσις) für sich seinen Glauben an die drei als Einheit ausgedrückt.53 Auch wenn Basilius bezüglich einer Trinitätstheologie in seinem ersten Hauptwerk Adversus Eunomium noch von einer Hypostase ausgeht, so spricht er in seinen nachfolgenden Schriften von Hypostasen (ὑποστάσεις). Aufgrund seiner Unterscheidung von οὐσία und ὑποστάσεις, die er anhand von κοινότης (Gemeinsamkeit) und ἰδιότης (Eigenheit) begrifflich konkretisiert, lässt sich die Trinitätslehre des Kappadokiers in die Formel μία οὐσία, τρεῖς ὑποστάσει (mia ousia, treis hypostaseis) fassen, d.h.: eine Wesenheit, drei Hypostasen.54 Das Bündnis von οὐσία und ὑποστάσεις beschreibt Basilius als »widersinnige Unterschiedenheit, die verbunden ist, und eine Verbundenheit, die unterschieden ist«55 . Dieses nun versteht er als einen transzendenten Lehrsatz, der sich jeglicher rationalen Erklärung entzieht und allein im Glauben verständlich wird.56 Jenes paradoxe Verhältnis, das als »Einheit trotz Verschiedenheit« verstanden werden darf, fixiert Basilius mit Hilfe des Begriffs ὁμοούσιος (homoousios), wobei sich sein Verständnis des Begriffs anhand von Ep. 52 rekonstruieren lässt: Wie bereits deutlich gemacht wurde, sind für Basilius zwei (individuelle) Personen in ihrer Natur, also in ihrem Menschsein, wesensgleich. Als ὁμοούσιος bestimmt Basilius die Dinge,

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ohne Leerstelle oder einem Dazwischen zur göttlichen Urquelle. Zur Schöpfungstheologie siehe ausführlich Kap. 2.1.2 Das theologische Moment der materiellen Dinge. Basilius Ep. 38, 4. Vgl. Drecoll: Die Entwicklung der Trinitätslehre des Basilius von Cäsarea, a.a.O., S. 339. Basilius Ep. 38, 4. Jenes Paradox vergleicht Basilius auf der Ebene der empirischen Wirklichkeit mit dem Farbspiel des Regenbogens. Während dessen Farben gleichzeitig gesehen werden, lässt sich deren Verbindung untereinander nur schwerlich erkennen bzw. lässt sich sehend nicht bestimmen wo das Feuerrot aufhört und das Smaragdgrün beginnt. Dies impliziert nun Einheit trotz Verschiedenheit, denn auch wenn die Farben des Regenbogens vielgestaltig sind, sind sie von gleicher Natur, liegt ihr gemeinsamer Ursprung in der Sonne (Vgl. Basilius Ep. 38, 5). Vgl. Basilius Ep. 38, 5 und ergänzend dazu entsprechende Stellen in Ep. 236 und Ep. 214. Wie Werner Beierwaltes zeigt, findet sich die in altgriechisch gefasste trinitarische Formel in lateinischen Quellen, etwa bei Marius Victorinus (A II 4, 38), Augustinus (De trinitate V 8, 10) und Ereugina (Periphyseon II 34; 198, 12f.). Der exakte Wortlaut lässt sich jedoch nicht in griechischen Quellen finden. Gleichwohl lässt sich der Grundgedanke von μία οὐσία – τρεῖς ὑποστάσεις bei Basilius als auch in den Quellen des Origenes und Athanasius festmachen. Vgl. dazu Werner Beierwaltes: Platonismus im Christentum, Frankfurt a.M. 1998, S. 26 Anm. 3.

2. Das Paradox der Ikone

die auf eine selbe Ursache zurückzuführen sind, durch die sie ihr Dasein erlangen.57 In diesem Sinne werden auch Vater, Sohn und Hl. Geist als individuelle Einzelexistenzen verstanden, die die göttliche Urquelle als gemeinsame Ursache haben, deshalb von göttlicher Natur sind und aufgrund ihres Göttlichseins wesenseins (ὁμοούσιος) genannt werden. Basilius folgend fixiert ὁμοούσιος das Verhältnis von οὐσία und ὑποστάσεις dahingehend, dass damit sowohl die Eigenexistenz der Hypostasen definiert ist und genauso die Nichtunterschiedenheit der Natur (φύσις|physis) ausgedrückt wird.58 Während ὁμοούσιος im Symbolum Nicaenum erstmals als ein erklärendes Adjektiv auftaucht, im Tomus ad Antiochenos dann als Phänomen zu verstehen ist, fungiert ὁμοούσιος in der Trinitätslehre des Basilius neben οὐσία und ὑποστάσεις als Terminus technicus: Die Subordination von οὐσία und der ὑποστάσεις ist, um es nochmals mit Basilius zu verdeutlichen, aufgrund deren Bestimmung als ὁμοούσιος (wesensgleich) aufgehoben, denn die innertrinitarische Ordnung besteht im Sinne dieser Gleichsetzung ohne jegliche zeitliche und räumliche Differenz.59 εἰκών-Theologie Mit Hilfe der Termini ὁμοούσιος und ὑπόστασις gelingt es den Kirchenvätern, die ontologische Fixierung der Trinität begrifflich zu abstrahieren. Als Termini technici sind sie entscheidende Kriterien der εἰκών-Theologie, die Basilius im letzten Abschnitt von Ep. 38 zu definieren weiß: Mit Bezug auf Joh 14, 9 betont der Kappadokier: Obwohl die εἰκών etwas anderes ist als ihr Urbild, ist sie als Abbild doch dasselbe (ταὐτόν|tauton) wie ihr Original (προτωτύπος |protōtypos).60 Basilius weiter folgend denkt der εἰκών-Betrachter das Urbild mit, weshalb das Schauen des Urbildes im reinen Denken verhaftet bleibt.61 Das Verhältnis der εἰκών zu ihrem Urbild darf als »Gleichheit trotz Verschiedenheit« verstanden werden, womit Basilius nun das paradoxe Verhältnis von οὐσία und ὑποστάσις auf bildlicher Ebene begrifflich abstrahiert: Basilius definiert εἰκών als den Begriff, der die Ununterschiedenheit (ἀπαράλλακτον|aparallakton) des Urbildes in jedweder Hinsicht bewahrt.62 Damit vertritt Basilius die Auffas57 58 59 60

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Vgl. Ep. 52, 2. Vgl. Basilius Ep. 52,3. Vgl. Basilius Ep. 52,2 und 4. Vgl. Basilius Ep. 38,8: »Er [der Apostel] nennt ihn Bild des unsichtbaren Gottes [Kol 1,15] […] nicht weil sich das εἰκών vom Urbild (ἀρχετύπου) unterscheidet hinsichtlich des Begriffs der Unsichtbarkeit und Güte, sondern um zu zeigen, dass es dasselbe wie das Original (προτοτύπῳ) ist, auch wenn es ein anderes ist […] Folglich denkt derjenige, welcher die Schönheit des εἰκών betrachtet, das Urbild (ἀρχετύπου) mit.« Basilius konkretisiert dies bereits in De spirito sancto, dort u.a. Kap. 19, 23 und 47. Vgl. Basilius Ep. 38,8: »οὐ γὰρ ἂν ὁ τῆς εἰκόνος διασωθείν λόγος, εἰ μὴ διὰ πάντων τὸ ἐναργὲς ἔχοι καὶ ἀπαράλλακτον.« Dt. Übersetzung nach Hauschild: »Denn der Begriff des Bildes könn-

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Die Ikone und das Undarstellbare

sung, dass eine εἰκών in ihrer Sichtbarkeit stets das Unsichtbare mit sich führt, womit ein Bild mehr ist, als es offensichtlich zeigt: Εἰκών ist für Basilius, um dies im modernen bildphilosophischen Sinne zu formulieren, Deixis und Negation, d.h. εἰκών hält nicht einfach vor Augen, sondern führt in ihrer Bildlichkeit das Unbestimmte und Undarstellbare als nicht sichtbare Form mit sich. Jedoch scheint sich Basilius’ εἰκών-Begriff von konkreten Bildern abzugrenzen: Da Basilius’ Bildlichkeit im Sinne einer Ontologie von Urbild und Abbild generiert, fungiert εἰκών in Basilius’ Trinitätstheologie als ontologischer Bildbegriff. Mit Bezug auf Kol 1,15 sagt Basilius in Ep. 38, 8 explizit, dass der Sohn Bild des unsichtbaren Gottes ist. Und Ep. 38, 8 weiter folgend: »Wer gleichsam die Gestalt des Sohnes im Denken erfaßt hat, hat sich den Abdruck der väterlichen Hypostase vorgestellt, weil er diesen durch jenen sieht […].« Die sichtbare Gestalt des Sohnes ist, Basilius weiter folgend, nicht mit dem göttlichen Urbild identisch, sondern unterscheidet sich im Spezifisch-Sein von Gottvater. In diesem Sinne lautet der letzte Satz von Ep. 38: Daher wird die Hypostase des Sohnes gleichsam eine Gestalt und Person der Erkenntnis des Vaters, und die Hypostase des Vaters wird in der Gestalt des Sohnes erkannt, wobei ihnen das beobachtete Spezifikum bleibt zur deutlichen Unterscheidung der Hypostasen.63 Im ganzen Zusammenhang von Ep. 38 heißt das nun, dass die Spezifiken (χαρακτῆρα|charaktēra) zur deutlichen Unterscheidung der im Dasein umschriebenen (περιγράϕειν|perigraphein) Person (πρόσωπον|prosōpon) dient. Es ist die besondere Charaktereigenschaft einer Person, dass sie ihr Urbild unwandelbar in sich trägt. In diesem Sinne formuliert Basilius: »Deshalb heißt es, der Eingeborene sei der Abdruck der Hypostase des Vaters.«64 Folglich ist der Sohn, weil er von Gottvater gezeugt ist, eine göttliche ὑποστάσις, und ist der Heilige Geist, weil er aus Gott hervorgeht, göttliche ὑποστάσις. Über das Besondere und Einzigartige wird das zugrunde liegende Prinzip erfahrbar, denn weil das Sein mit der Ursache verknüpft ist, erschließt sich deren Wesensgleichheit im Zusammendenken. Dem biblischen Glaubenssatz folgend, formuliert Basilius seine εἰκών-Theologie, in deren Sinn der Sohn als unwandelbare εἰκών des Vaters gilt, und jener, der den

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te kaum beibehalten werden, wenn er nicht in jeder Hinsicht die deutliche Ununterschiedenheit [des Urbildes] beinhalten würde.« Engl. Übersetzung nach Deferrari: »For the principle of the image would not be preserved, unless it should in all respects retain the manifest and invariable likeness to the original.« Basilius Ep. 38, 8: »ὥστε ἡ τοῦ Υἱοῦ ὑπόστασις οἱονεὶ μορφὴ καὶ πρόσωπον γίνεται τῆς τοῦ Πατρὸς ἐπιγνώσεως· καὶ ἡ τοῦ Πατρὸς ὑπόστασις ἐν τῇ τοῦ Υἱοῦ μορφῆ ἐπιγινώσκεται, μενούσης αὐτοῖς τῆς ἐπιθεωρουμένης ἰδιότητος εἰς διάκρισιν ἐναργῆ τῶν ὑποστάσεων.« Basilius Ep. 38, 8: »διὰ τοῦτο χαρακτῆρά φησιν εἶναι τὸν Μονογενῆ τῆς τοῦ Πατρὸς ὑποστάσεως.«

2. Das Paradox der Ikone

Sohn erkennt, schaut das göttliche Urbild: »Wer mich sieht, sieht den Vater« [Joh 14, 9]. Im Sinne der Ontologie von Urbild und Abbild, wie sie zwischen Vater und Sohn besteht, erfährt der εἰκών-Bergriff in der repräsentativen Trinitätstheologie des Basilius die entscheidende ontologische Aufwertung: Der Sohn ist die vollkommene εἰκών des Vaters. Jedoch darf der Sohn im Sinne eines ontologischen Bildes keinesfalls als Nachahmung des Vaters angesehen werden, denn, Basilius’ Glaubenssatz folgend, er trägt als εἰκών den Vater unwandelbar und unsichtbar in sich, und genau das ist das theologische Moment der εἰκών. Als Abbild bestimmt sich die εἰκών durch ihr Urbild, was ein ontologisches Beziehungsgeflecht impliziert. Zudem ist εἰκών eine Ins-Sein-Gebrachte, d.h. eine ὑποστάσις. Nun stellt sich die Frage, inwiefern die ontologische Aufwertung im Hinblick auf die Ikone greifen kann, die sich als ein Artefakt offensichtlich von ontologischen εἰκόνες (eikones|Bilder) unterscheidet.65 Zwar wird dem Sohn über die innertrinitarische Beziehung eine ikonische Qualität in Bezug auf den undarstellbaren Gott zuerkannt. Jedoch gilt es zu klären, worüber sich eine darstellerische Möglichkeit ergeben kann. Dabei zeigt sich, dass die Antwort auf die christologische Frage nach der Einheit der menschlichen und göttlichen Natur entscheidend ist.

2.1.1.2

Die zwei Naturen des Sohnes

  Die Formel von Chalkedon In der Folge der trinitarischen Streitigkeiten wird mit Bezug auf Joh 1,14 »Und das Wort ward Fleisch« im beginnenden fünften Jahrhundert die Frage laut, wie die Vereinigung von Gottheit und Menschheit in der Person Christi zu denken sei.66 Seit Nicäa gilt das Bekenntnis des »… einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes […] der für uns Menschen und um unseres Heiles willen herabgestiegen ist, Fleisch angenommen hat und Mensch geworden ist…«. Wie die Forschung aufzeigt,

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Wie Thümmel darlegt, tragen die Schriften des Kappadokiers durchaus ikonoklastische Züge, spricht doch Basilius davon, dass in der Abwendung von der bunten, schönen und körperlichen Welt Gotteserkenntnis gelingen kann. Zwar erkennt neben Basilius auch dessen Bruder Gregor von Nyssa die Malerei als »schweigende Rede« an. Während Basilius dies noch nicht auf christliche Bildwerke bezog, erwähnt Gregor von Nyssas in seiner Predigt vom 7. Februar 381 nun eine Christusdarstellung. Sein Sprechen über eben jene Darstellung deutet Thümmel als ältesten Beleg einer anerkennenden Rede über ein Bildnis Christi. Zudem führt Thümmel eine Stelle von Gregor von Nazians auf, worin dieser von einem Heiligenbild berichtet, jedoch bezüglich dieser verehrungswürdigen Repräsentation zwischen Bild und Dargestelltem unterscheidet. Vgl. Hans Georg Thümmel: Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre, Berlin 1992, S. 53-59 und Text 17-24, S. 287-291. Ähnlich Phil 2, 6-7; Heb 2, 17; Röm 9,5.

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Die Ikone und das Undarstellbare

kann dem Glaubensbekenntnis von Nicäa von zwei Seiten begegnet werden. Dabei ist augenscheinlich, dass sich die Lehren der damals führenden theologischen Schulen Alexandriens und Antiochiens gegenüberstehen. Während die alexandrinische Denkrichtung stets die Einheit Christi betont, geht die antiochinische von der Zweiheit in Christus aus. Tatsächlich offenbart die Kirchengeschichte verschiedenste Herangehensweisen an die Christologie, die Lehren des Cyrills von Alexandrien und Nestorius von Konstantinopel seien hier stellvertretend herangezogen. Beide Ansätze wurden zu Beginn des sich im 5. Jahrhunderts zutragenden christologischen Konflikts formuliert. Die alexandrinische Denkrichtung geht von der Einheit in Christus und damit von einer Vereinigung des Wortes (λόγος) mit dem Fleisch (σάρξ) aus. Einer der wichtigsten Fürsprecher jener Denkrichtung ist Cyrill von Alexandrien, der die Menschheit Christi in diesem Sinne als fleischgewordene Physis des Wortes begreift.67 In ihrer Analyse jenes christologischen Konflikts zitiert die Forschung stets Cyrills Terminologie, die die Einheit in Christus als »von Natur aus« (κατὰ ϕύσιν) und »der Person nach« (καθ᾿ὑπόστασιν) gegebenes bezeichnet, wobei Cyrill ganz konkret von der Subjekt-Einheit ausgeht.68 Jedoch zeigen Cyrills christologische Ansätze dahingehend Schwächen, dass sich eben keine Aussage über die Weise der Einigung findet, er mit dem Terminus ἕνωσις ϕυσική (henōsis physikē |Einigung der Natur) gar nur eine einzige Natur (ϕύσις|physis) anzunehmen scheint.69 Die weitreichenden modernen Forschungen Grillmeiers zeigen in diesem Zusammenhang, dass Cyrill mit jenen an die kappadokische Theologie anknüpfenden Termini versucht, die Einigung begrifflich zu fassen, indem er ϕύσις und ὑποστάσις als einander zugeordnet und sich gegenseitig bedingend begreift: ϕύσις als im ersten Sinne »Wesenheit« und im weiteren »Lebenstätigkeit« kann allein dann wirken,

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Vgl. Acta Conciliorum Oecumenicorum (ACO) I, 1, 2, 94-96: »Nicht sagt er: »Er ist in einen Mensch gekommen«, sondern »das Wort ist Fleisch geworden«, sagt er, das bedeutet, er ist Mensch geworden. Der eingeborene göttliche Logos ist also Mensch geworden, ohne seine göttliche Natur aufzugeben, sondern mit seinem Leib bleibt er, was er war; denn der Logos ist ohne Verwandlung in seiner Natur.« Hier wird der dt. Übersetzung von Weischer gefolgt. Dies findet sich ähnlich in Athanasius Contra Ariana III 30. Zur christologischen Formel des Athanasius siehe zudem Alois Grillmeier: Jesus der Christus, Bd. 1, Freiburg i.Br. 1979, S. 477-479. Vgl. ACO I 1,6, p. 115, 12-16 und dazu die Forschungen neben Pierre-Thomas Camelot: Ephesos und Chalkedon, Mainz 1963, S. 43f. ebenso Edward R. Hardy: »Cyrillus von Alexandrien«, TRE 8, S. 258 und Alois Grillmeier: Jesus der Christus, Bd. 1, a.a.O., S. 682-686. Hardy weist darauf hin, dass Kyrills καθ᾿ ὑπόστασιν ein Vorbote des sich im 6. Jahrhundert etablierenden Begriffs der »hypostatischen Union« ist. Vgl. Ignatio Ortiz de Urbina: »Das Symbol von Chalkedon«, in: Allois Grillmeier (Hg.): Das Konzil von Chalkedon, 2. Aufl., Würzburg 1959, S. 401.

2. Das Paradox der Ikone

wenn sie eine ὑποστάσις im Sinne von »Realität« und »Existenz« ist.70 Tatsächlich scheinen jene Termini auf der metaphysischen Ebene der Trinität zu funktionieren. Jedoch liegt die Schwierigkeit darin, jene Begrifflichkeiten auf christologischer Ebene zu verwenden, ohne dabei dem Vorwurf der Vermischung der beiden Naturen (göttliche|λόγος und menschliche|σάρξ) zu erliegen. Mit seiner Denkweise wendet sich Cyrill konkret gegen den Patriarchen Nestorius von Konstantinopel, der im Sinne des Logos-Anthropos-Schemas davon ausgeht, dass in Christus ein voller Mensch von Gott angenommen ist. Jene (antiochinische) Denkrichtung, die als Nestorianismus in die Kirchenlehre eingeht, versteht Christus als eine Art Werkzeug71 , durch das Gott auf der Welt waltet. Der objektive Blick der Forschung offenbart zunächst Nestorius dyophysitische Denkrichtung als eine klare Trennung der zwei Naturen Christi: Zwar begreift Nestorius den Sohn als unwandelbaren Gott, jedoch ist dieser in seiner Sichtbarkeit ein Mensch und so hat die menschliche und nicht die göttliche Natur gelitten.72 Dabei sieht die Forschung die Schwierigkeit stets darin, dass Nestorius Natur (ϕύσις) und Person (πρόσωπον|prosōpon) nicht klar zu trennen vermag und so von zwei Subjekten ausgeht, was der Einheit der Person Christi widerspricht. Grillmeier folgend steht Nestorius πρόσωπον-Begriff als Sammelbegriff für das zu einer konkreten Natur gehörende Individuelle (ἰδιότης|idiotēs), wobei dabei neben den äußeren genauso innere Charakteristiken, etwa moralische Haltung und geistige Tätigkeit, mit eingebunden sind.73 Die fundamentale Schwäche des πρόσωπον-Begriffs sieht die Forschung allgemein in dem Fakt, dass Nestorius ihn nicht über die Individualität hinaus denkt, ihn allein im ontischen Bereich begründet und eine ontologische Verbindung von οὐσία und πρόσωπον missen lässt: Wenn Nestorius davon ausgeht, jede Natur (φύσις) besitze ihr eigenes (nur) individuelles πρόσωπον, so erliegt er dem Fehler, bei der Frage um die (metaphysische) PersonEinheit von zwei Personen zu sprechen. Es ist offensichtlich, dass sich die Christologie des Nestorius wie die des Cyrill um die Frage nach der Fleischesnatur Christi und deren Einheit zur göttlichen Natur dreht. Wie sich zeigt, versucht Cyrill diese Einheit anhand der trinitarischen Begrifflichkeiten und somit ausgehend von der göttlichen Ebene auf den Menschen hin zu beschreiben. Nestorius versucht dagegen jene Problematik vom Menschen auf Gott hin zu fassen. Den auf dogmatischer wie exegetischer Ebene geführten 70 71 72 73

Vgl. Grillmeier: Jesus der Christus, Bd. 1, a.a.O., S. 683 und dazu weiterführend vor allem ebd. S. 685 Anm. 35. Nestorius bezeichnet Christus den Sohn konkret als »ein Werkzeug der Gottheit«, siehe etwa ACO I, V 1, S. 30 oder Loofs Nestoriana 252. Vgl. ACO I, I 6, S. 52; ausführlich zitiert von Camelot: Ephesos und Chalkedon, a.a.O., S. 33. Vgl. Grillmeier: Jesus der Christus, a.a.O., S. 656f. Grillmeier legt dort eine ausführliche Analyse des nestorianischen prosopon-Begriffs vor, der sich noch deutlich vom späteren chalcedonensischen Person-Einheit-Begriff unterscheidet.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Streitigkeiten zwischen Cyrill und Nestorius, die in zahlreichen Briefen überliefert sind, erfahren innerhalb der Kirche Für und Wider, denen die im Jahr 451 in Chalkedon abgehaltenen Synode ein Ende setzt.74 Das Symbolum Chalcedonense gibt die Glaubensbekenntnisse von Nicäa und Konstantinopel wörtlich wieder und erweitert diese nun mit dem bedeutenden christologischen Bekenntnis: | … | (geboren) aus Maria der Jungfrau, der Gottesgebärerin, der Menschheit nach, | ein und der selbe Christus Sohn Herr Eingeborener, | in zwei Naturen | unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert erkennbar, | niemals wird der Unterschied der Naturen aufgehoben der Einigung wegen, | vielmehr wird die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen bewahrt, | auch im Zusammenkommen zu einer Person und einer Hypostase, | nicht geteilt oder getrennt in zwei Personen | sondern ein und derselbe eingeborene Sohn, | Gott, Logos, der Herr Jesus Christus | … |.   | … | ἐκ Μαρίας τῆς παρθένου τῆς ϑεοτόκου κατὰ τὴν ἀνθρωπότητα | ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν Χριστὸν υἱὸν κύριον μονογενῆ, | ἐν δύο ϕύσεσιν | ἀσυγχύτως ἀτρέπτως ἀδιαιρέτως ἀχωρίστως γνωριζόμενον, | οὐδαμοῦ τῆς τῶν ϕύσεων διαφορᾶς ἀνῃρημένης διὰ τὴν ἕνωσιν | σωζωμένης δὲ μᾶλλον τῆς ἰδιότητος ἐκατέρας φύσεως | καὶ εἰς ἓν πρόσωπον καὶ μίαν ὑπόστασιν συντρεχούσης | οὐκ εἰς δύο πρόσωπα μεριζόμενον ἢ διαιρούμενον, | ἀλλ̓ ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν υἱὸν μονογενῆ | ϑεὸν λόγον κύριον ̓Ιησοῦν Χριστόν, | … |.75 74

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Ein tieferer Einblick in den Verlauf jener Streitigkeiten soll an dieser Stelle ausbleiben. Erwähnt sei, dass Kaiser Theodosius II. im Jahr 431 die Synode in Ephesus einberief, die unter der Federführung Cyrills zur Verurteilung der nestorianischen Lehre führte. Zwar birgt der Kanon des Konzils keine dogmatische Neuerung, beruft er sich doch allein auf das Symbolum Nicäanum. Allerdings wird deutlich, dass die Theologie der Synode Cyrills Lehre folgt, verliest doch dieser in der Versammlung einen eigens verfassten Brief, dessen Inhalt von den Teilnehmern anerkannt wird. Der cyrillschen Theologie steht Papst Leo d. Gr. nahe, was sich in dessen Schreiben, welches er an Flavian von Konstantinopel richtet, verdeutlicht. Cyrills Brief und Leos Schreiben an Flavian werden in Chalkedon verlesen und deren Inhalte anerkannt. Wie die Forschung zeigt, fließen aus diesen Dokumenten einzelne Formulierungen in das Symbolum Chalcedonense mit ein. Zum Verlauf von Ephesos (431) und der folgenden sogenannten Räubersynode von Ephesos (449), sowie zu den Schriften der Gegner und Befürworter der cyrillschen Theologie bis zum Konzil von Chalkedon siehe u.a. Camelot: Ephesos und Chalkedon, a.a.O., S. 50-128. Zum Einfluss der Schriften Cyrills und Leos auf das Symbolum Chalcedonense siehe u.a. Ortiz de Urbina: »Das Symbol von Chalkedon«, a.a.O., S. 389-418. Die Übersetzung folgt Grillmeier: Jesus der Christus, a.a.O., S. 754f. und, wie ebd., dem griechischen Text in ACO II 1,2, 129-130. Zur Struktur und Quellenanalyse des Symbolum Chalcedonense siehe Acta Conciliorum Oecumenicorum (ACO), ed. E. Schwartz, Tomus II : Con. Chalcedon (451), 6 vol. (Berolini-Lipsiae 1927/44); André de Halleux : La définition christologique, in ders. : Patrologie et Œcuménisme. Recueil d`Études, Leuven 1990, S. 445-480; Ortiz de Urbina : »Das Symbol

2. Das Paradox der Ikone

In Anlehnung an die hervorragende Quellenanalyse von André de Halleux zeigt Grillmeier, dass den Adverbien unvermischt (ἀσυγχύτως|asychytōs), unverwandelt (ἀτρέπτως|atreptōs), ungetrennt (ἀδιαιρέτως|adiairetōs) und ungesondert (ἀχωρίστως|achōpistōs) keine eindeutige Setzung unterliegt: Aus grammatikalischem Blickwinkel könnten sie sich auf »in zwei Naturen« (ἐν δύο ϕύσεσιν) und ebenso auf »ein und derselbe« (ἀλλ̓ ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν) beziehen, womit sie sowohl der dyophysitischen als auch der monophysitischen Denkrichtung Rechnung tragen.76 De Urbina betont, dass jene Adverbien, da sie in ihrer Reihenfolge wie auf einer Waage verteilt sind, der Verschiedenheit in den Naturen wie der Einheit in der Hypostase (und Person) in gleicher Weise zu begegnen vermögen.77 Trotz der begrifflichen Uneindeutigkeit unterscheidet das Symbolum Chalcedonense zwischen Natur und Hypostase. Die Wesenheit Christi kennzeichnet sich in einer zweifachen Gleichwesentlichkeit: Im Sinne des nicäanischen ὁμοούσιος (homoousios) ist Jesus Christus wesensgleich der Natur der Gottheit nach und wesensgleich der Natur der Menschheit nach. In der Erhaltung ihrer Eigentümlichkeiten und im Zusammenkommen der zwei Naturen zu einer Person begründet sich die entscheidende christologische Synthese, die jedoch in einer paradoxen Beschreibung verbleibt: »in (ἐν) zwei Naturen unvermischt und ungetrennt erkennbar auch im Zusammenkommen zu einer Hypostase.« Tatsächlich gilt es, der Präposition ἐν besondere Bedeutung zuzuweisen, da es die zurzeit Chalkedons umkämpften Christologien von Einheit und Zweiheit positiv zu verbinden weiß: Obwohl die Naturen zu einer Einheit zusammenkommen, behält jede ihre Eigenschaften, d.h. sie verschmelzen nach der Einigung nicht zu einer φύσις, sondern in (ἐν) zwei Naturen subsistieren sie in einer Person – Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch.78 Nun betont Grillmeier, dass mit dem Symbolum Chalcedonense keinesfalls eine eindeutige Christologie vorliegt, vielmehr begründet sich deren Chance in der Auslegung jenes Glaubensbekenntnis.79 Für den hier vorliegenden Kontext erscheint Grillmeiers spekulative Deutung des Symbolum Chalcedonense als hilfreich, die der Schöpfungstheologie Rechnung trägt, spricht er doch darin ein Gott-Welt-Verhältnis an, das in Christus zur Darstellung kommt.

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von Chalkedon«, a.a.O., S. 389-418 sowie Alois Grillmeier : Jesus der Christus, Bd.1, a.a.O., S. 755759. Vgl. Grillmeier: Jesus der Christus, Bd.1, a.a.O., S. 756f. Vgl. Ortiz de Urbina: »Das Symbol von Chalkedon«, a.a.O., S. 408f. Zu Rolle des ἐν und ἐκ innerhalb der christologischen Streitigkeiten und den dazugehörigen überlieferten Quellen siehe Acta Conciliorum Oecumenicorum (ACO), ed. E. Schwartz, Tomus II: Con. Chalcedon (451), 6 vol. (Berlin-Leipzig 1927/44); Ortiz de Urbina: »Das Symbol von Chalkedon«, a.a.O., S. 390f und die dortigen Anm. Vgl. Grillmeier: Jesus der Christus, a.a.O., S. 759 und Camelot: Ephesus und Chalcedon, a.a.O., S. 159-169.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Zunächst weist Grillmeier darauf hin, dass in der Inkarnation ein schöpferischer Willensakt zu sehen ist, der bereits vor Chalcedon allgemein vorausgesetzt wird. So gilt nach Gen 1, 27 und Kol 1, 15 das unumstößliche Dogma: Gott hat sich in seinem Sohn eine εἰκών geschaffen. Laut Grillmeier begründet das Symbolum Chalcedonense gerade im paradoxen Nebeneinander von »unvermischt« und »ungetrennt« und im Zusammenkommen »einer Hypostase in zwei Naturen« ein im Sohn zum Tragen kommendes und von oben nach unten gerichtetes Gott-WeltVerhältnis: Die Einheit von Gott und Mensch begründet sich im einzigartigen göttlichen Schöpfungsakt der Inkarnation als gewollter Existenz des Sohnes in der menschlichen und somit endlichen Existenz Jesus. Grillmeiers Ausführung folgend ist im Sinne von ex-sistere das Gottsein von der transzendenten Seinsebene in das Menschsein des Sohnes hin tendiert, ist dem Sohn durch den Vater göttliche Wirklichkeit immanent, ist der Sohn in seinem Menschsein die wahre εἰκών Gottes.80 Bis hierhin haben die Analysen gezeigt, dass im Sinne der immanenten Trinität sich eine Wesensgleichheit zwischen Vater und Sohn begründet: Der Sohn ist als wahre εἰκών Gottes begreifbar. Die ikonische Qualität des Sohnes legitimiert sich auf ontologischer Ebene, denn die Inkarnation ist das in die Wahrheit gebrachte Bild Gottes: Der Sohn ist nicht nur ein vollkommenes Bild, sondern in seiner menschlichen Natur ist Jesus Christus auch das wahre Bild Gottes. Mit Chalcedon lässt sich nun die These formulieren, dass sich eine darstellerische Möglichkeit im Momentum der Inkarnation begründet. Tatsächlich ist die Inkarnation das entscheidende Argument der Ikonophilen, auf der sie die Daseinsberechtigung der Ikone begründen: Gott hat menschliche Gestalt angenommen, ist ins Sichtbare getreten. Bevor dies jedoch ausführlich dargelegt wird, soll aufgezeigt werden, inwiefern sich in der Lesart des Symbolum Chalcedonense ikonoklastische Argumente aufführen lassen. Die Formel von Chalcedon und ihr ikonoklastisches Potential Die in Chalcedon formulierte Zwei-Naturen-Lehre besagt, dass die menschliche und die göttliche Natur in Christi unvermischt und untrennbar vereint sind. Wie dargelegt worden ist, impliziert jene Glaubensformel, dass der Mensch Jesus Christus als eine wahre εἰκών Gottes gelten darf. Der Blick auf die Anfänge des byzantinischen Bilderstreits zeigt, dass das Symbolum Chalcedonense die ikonoklastische Bildtheologie prägt, weshalb im Folgenden die Argumentation der bilderfeindlichen Partei erörtert sei. Hier sei erwähnt, dass bereits Georg Ostrogorsky in seinen 1929 vorgelegten Studien zur bilderfeindlichen Bewegung drauf hinweist, dass ikonoklastische Schriften aufgrund der Beschlüsse der ikonophilen Synode von Nicäa

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Zur ausführlichen Deutung des Symbolum Chalkedonense siehe Grillmeier: Jesus der Christus, a.a.O., S. 768-775.

2. Das Paradox der Ikone

(787) vernichtet wurden.81 Die Argumentation der Ikonoklasten lässt sich daher fast ausschließlich aus ikonophilen Schriften ermitteln, wobei deren polemische Wortführung das Eruieren theologischer Argumentation der Bilderfeinde nicht mit voller Sicherheit gewährleistet. Bei den Antirrhetici I und II des Nikephoros von Konstantiopel handelt es sich um eine ikonophile Schrift aus der zweiten Hälfte des byzantinischen Bilderstreits (815-843), die sich mit den aus der ersten Hälfte (726-787) stammenden so genannten Peuseis (πεύσεις), d.h. den Befragungen Kaiser Konstantins. V (741-775), auseinandersetzen.82 Jene nun von Nikephoros überlieferten zwei Peuseis sind tatsächlich ein Bruchteil der Schriften, welche Konstantin V. am Beginn des byzantinischen Bilderstreits als Abhandlungen gegen die Bilder verfasst und in Umlauf bringt.83 Mit seiner Bildpolitik folgt er seinem Vater Kaiser Leo III. (717-741), der während seiner Amtsperiode das Christusbild vom Chalké-Tor Konstantinopels entfernen lässt (726/727) – ein ikonoklastischer Akt, in dem stets der Beginn des byzantinischen Bilderstreits gesehen wird.84 In den Peuseis offenbart sich nun Konstantins V. ambitionierter Bildbegriff in der Aussage, dass die εἰκών dem, welchen sie darstellt, wesensgleich (ὁμοούσιος) zu sein hat.85 Eine wahre εἰκών darf in diesem Sinne nicht einfach nur ähnlich sein, viel mehr dürfte sie sich in nichts von ihrem Original unterscheiden, sondern muss mit diesem in Allem identisch sein. Im Hinblick auf das Symbolum Chalcedonense wird die Frage angeschlossen, wie neben der menschlichen die göttliche Natur des Sohnes Christi zur Darstellung gebracht werden kann – gilt doch letztere als

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Siehe Georg Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, Breslau 1929. Darin legt Ostrogorsky eine umfassende Quellenanalyse der durch Nikephoros überlieferten zwei Peuseis Konstantins V. und die im Horos von Nicäa II (787) wiedergegebene Definition der Synode von Hiereia (754) vor. Siehe Nikephorus von Konstantinopel Antirrhetici I-III 375-534 [PG 100]; in ihrem Wortlaut zusammengestellt von Georg Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., S. 8-11; in einer dt. Übers. von Heinrich Bacht in Dumeige: Nizäa II. Mainz 1985, S. 283286. Ostrogorsky verweist auf eine Quelle Theosteriktos, worin von 13 Lehrstücken Kaiser Konstantins V. die Rede ist, zu denen die zwei Peuseis der Antirrhetici wahrscheinlich gehören. Zudem spekuliert Ostrogorsky über den Inhalt der nicht überlieferten Schriften Konstantins V., die neben Äußerungen zu den Marien- und Heiligenbildern Argumente gegen die Bilder unter Berufung auf Bibelstellen und patristischen Lehren umfasst haben könnten. Siehe Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., S. 13, ebd. Anm. 1 und 2. Zum historischen Verlauf des Byzantinischen Bilderstreits siehe in aller Kürze u.a. Torsten Krannich/Annette von Stockhausen/Claudia Sode (Hg.): Die ikonoklastische Synode von Hiereis 755, Tübingen 2002, S. 2-8 und in ausführlicher Form Hans-Georg Thümmel: Bilderlehre und Bilderstreit, Würzburg 1991. Zum Für und Wider der Bilder unter den Kaisern Leo III. und Konstantin V. siehe u.a. Gervais Dumeige: Nizäa II, a.a.O., S. 79-133. Vgl. Nikephoros Antirrheticus I 252A [PG 100]: »…ὁμοούσιον αὐτὴν εἶναι τοῦ εἰκονιζομένου.«

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Die Ikone und das Undarstellbare

nicht eingrenzbar und unumschreibbar (ἀπερίγραπτος|aperigraptos).86 Demnach erlaubt Konstantins Bildverständnis keine Abbildung Christi, denn das würde die trinitarische Einheit zerstören. Mit seinen ikonoklastischen Schriften versucht der Kaiser den führenden Kirchlichen seines Reiches durchaus Richtlinien vorzuschreiben, die diese auf der von ihm im Jahr 754 einberufenen Synode zu Hiereia in eine gültige Dogmatik fassen sollen. Der Horos von Hiereia reflektiert zwar das ikonoklastische Bildverständnis Konstantins V., jedoch folgt die Definition dieser Synode, im Gegensatz zu den Peuseis, einer ordentlichen theologischen Begrifflichkeit.87 So referiert Konstantin nicht das »in zwei Naturen« (ἐν δύο ϕύσεσιν) der chalkedonischen Formel. Unter der steten Betonung der göttlichen Natur spricht Konstantin tatsächlich von »aus zwei Naturen« (ἐκ δύο ϕύσεων).88 Dem konnte die Definition von Hiereia natürlich nicht folgen und platziert die Formulierungen zur εἰκών geschickt, die wie folgt paraphrasiert werden können: Sollte behauptet werden, im Bild seien beide Naturen dargestellt, so würden beide Naturen vermischt, was der Lehre von ἀσυγχύτως καὶ ἀδιαιρέτως widerspräche (Monophysitismus); sollte jedoch behauptet werden, im Bild würde allein die menschliche Natur gezeigt, so würde dem Nestorianismus gefolgt werden und zur Trinität würde eine vierte Person (Mensch) hinzukommen.89 Das christologische Verständnis der Synode tendiert, wie das des Konstantin, zu einer Überbetonung der göttlichen Natur Christi – es ist sogar von der »vollständigen Vergöttlichung der menschlichen Natur Christi« die Rede.90 Neuere For86 87

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Vgl. Nikephoros Antirrheticus I 323A-C, 236C und 252A [PG 100]. Konstantins Peuseis sind als Propagandaschriften anzusehen, denen jedoch ein fundiertes theologisches Wissen fehlt. Georg Ostrogorsky bezeichnet die von Konstantin V. verwendeten Begrifflichkeiten als »theologisch-philosophische Fehlgriffe«. So erscheint πρόσωπον an Stellen, an denen ὑποστάσις der richtige Terminus wäre. Der Horos von Hiereia ist demnach keine gemäßigte Fassung der konstantinischen Schriften, wie dies Thümmel deutet. Vielmehr bezeugt er das fundierte theologische Wissen der Verfasser und deren Vorsicht im Umgang mit den gültigen Glaubenssätzen. Vgl. Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., S. 17 und 19 sowie Hans-Georg Thümmel: Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9. Jahrhundert, Paderborn 2005, S. 69-77. Vgl. Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., Breslau 1929, S. 25. Vgl. Mansi XIII, 336E – 344C. Der Horos von Hiereia referiert das ἐν, siehe Mansi XIII, 327D. Ostrogorsky weist darauf hin, dass die ikonoklastische Behauptung, »zur Trinität käme eine vierte Person hinzu« sich bei Konstantin V. findet, sie jedoch nicht aus seiner Feder stammt, sondern dass dies bereits ein gutes Vierteljahrhundert vorher formuliert wurde. Sie findet sich in Johannes vD Oratio Imago I, 4, welche dieser zur Zeit Leos III. verfasst. Vgl. Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., S. 17. Vgl. Mansi XIII 256E – 257A. Heinz Ohme weist darauf hin, dass sich dieses Motiv bereits bei Gregor von Nazians findet (PG 37, 181B – 184B) und im Neuchalcedonis vor allem von Leontios von Jerusalem konsequent vertreten wird. Vgl. Heinz Ohme: »Ikone, historische Kritik

2. Das Paradox der Ikone

schungen weisen darauf hin, dass der von Chalkedon propagierte Begriff ἀτρέπτως (atreptōs), also die Unwandelbarkeit beider Naturen, im Horos von Hiereia nicht zu finden ist. Daran schließt die Schlussfolgerung an, dass für die Ikonoklasten die Menschwerdung und mit ihr die Verklärung der menschlichen Natur allein als naturhafte Verwandlung vorstellbar ist.91 Wie gezeigt worden ist, lassen sich die monophysitischen und dyophysitischen Häresien allein im paradoxen Nebeneinander der vier chalkedonischen Adverbien (unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert) umgehen. Weil nun die Synode von Hiereia die Bestimmung der Unwandelbarkeit (ἀτρέπτως) auslässt und die vollständige Vergöttlichung der menschlichen Natur propagiert, scheint ihr Horos zur Lehre von einer Physis zu tendieren. Obwohl sich Hiereia konkret gegen Bilder richtet, ist es erstaunlich, dass die Synode keine explizite Bilddefinition formuliert. Jedoch versteht der Horos mit Beschreibungen wie »mit materiellen Farben bildlich darstellen« (δι᾽ ὑλικῶν χρωμάτων ἐν εἰκόσιν περιγράφειν) oder »in einem Bild darstellen« (ἐν εἰκόνι διαγράφοι) εἰκών im Sinne eines materiell Gegebenen.92 Dadurch situiert der Horos in seinem ikonoklastischen Verständnis den εἰκών-Begriff auf die ontische Ebene. In dieser Lesart ist εἰκών in Bezug auf ein wahres Bild unzulänglich, denn als »ἀψύχοις καὶ ἀναύδοις εἰκονες«93 – als »leblose und unbeseelte Bilder« – impliziert der Horos von Hiereia nichts anderes, als dass das in materieller Farbe Umschriebene nicht über sich hinauszuweisen vermag. Gemalte Bilder sind Götzenbilder (εἴδωλα|eidōla), und deren Anbetung ist Götzendienst (εἰδωλολατρεία|eidōlatreia).94 Mit Bezug auf Joh 4, 24 (»Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.«) versuchen die Ikonoklasten den exegetischen Beweis zu erbringen, dass die Anbetung Gottes allein über die geistige Schau erfolgen kann und sich keinesfalls über materielle Dinge ermöglicht: Weil die vergöttlichte Natur (des Sohnes) unumschreibbar ist, kann sie nicht in Farbe gefasst werden.95 Gleiches macht Hiereia für Maria und die Heiligen geltend, deren Bildnisse abzulehnen sind, da auch sie allein über die geistige Schau angebetet werden können.96 Der entscheidende exegetische Beweis gegen Bilder begründet sich für die Ikonoklasten letztendlich im zweiten mosaischen Gebot. So formulieren sie im Sinne

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und Tradition«, in: ZKG 110 (1999), S. 20 und zu Leontios von Jerusalem vgl. Grillmeier: Jesus Christus im Glauben der Kirche, Bd. II, a.a.O., S. 291-328. Vgl. Nicolae Chifar: Das VII. ökumenische Konzil von Nikaia. Das letzte Konzil der ungeteilten Kirche, Erlangen 1993, S. 75ff. sowie Ohme: »Ikone, historische Kritik und Tradition«, a.a.O., S. 21. Vgl. u.a. Mansi XIII 337 C und 341 A Vgl. Mansi XIII, 345 C/D. Die vorliegende Ausführung folgt der Übersetzung von Kranich/ Schubert/Sode: Die ikonoklastische Synode von Hiereia 754, S. 30-69. Vgl. Mansi XIII 216 B/C und 221 C/D. Vgl. Mansi XIII 280 D/E und 285 B/C Vgl. Mansi XIII 345 A/B, 345 C/D und 348 D/E.

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des Dtn 5,8: »Du sollst dir kein Bildnis (εἴδωλον|eidōlon) machen und kein Gleichnis (ὁμοίωμα|homoiōma) von irgendetwas.«97 Die Ikonen bezeichnet der Horos gar als »gemeine und stoffliche Schöpfung«, worin eine Anspielung auf den heidnischen Bildgebrauch und auf Röm 1, 25 liegt. Die Forschung liest daraus den bilderfeindlichen Vorwurf, die Ikone sei von »ehrloser Materie«.98 Es lassen sich damit drei ausschlaggebende ikonoklastische Argumente gegen die Ikone und die Heiligenbilder ins Feld führen, die es von den Ikonophilen zu widerlegen galt: (i) das Bilderverbot, (ii) die »ehrlose Materie« sowie (iii) die Unumschreibbarkeit Gottes. Ein Blick auf die bereits dargelegte εἰκών-Theologie zeigt zunächst, dass das ikonoklastische Bildverständnis dem der Patristik konträr ist, betont doch letzterer gerade den Unterschied, den eine εἰκών zu ihrem Urbild aufweist. Wie gezeigt werden wird, folgen die Ikonophilen in ihrem Bildverständnis der εἰκών-Theologie des Basilius von Cäsarea, was vermuten lässt, dass sich die jeweiligen Parteien des Bilderstreits in ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen tiefgreifend unterscheiden: Während das ikonoklastische Denken allein auf die Verhältnisse »Gleichsein« und »Anderssein« baut, gehen die Ikonophilen von einer Verbundenheit zweier sich unterscheidender Dinge aus.99 Die folgenden Ausführungen werden verdeutlichen, dass die Bilderfreunde ihre Weltanschauung auf dem Fundament der platonischen und aristotelischen Seinslehre formulieren. Dabei zeigt sich, dass sich im schöpfungstheologischen Denken der Ikonophilen nicht nur die Möglichkeit einer bildlichen Darstellung Christi begründet, sondern dass sich genauso auch der Anspruch der Heiligenbilder legitimiert.

2.1.2 2.1.2.1

Das theologische Moment der materiellen Dinge Schöpfungstheologie100

  Teilhabe durch Hervorgehen Es ist bereits eingangs erwähnt worden, dass für εἰκών mehrere theologische Momente festgemacht werden können. So ist dargelegt worden, dass sich eines in der ontologischen Beziehung des Sohnes zum Vater begründet. Ein Blick auf 97 98

Mansi XIII 284 C. Vgl. Mansi XIII 229 D/E und u.a. Kranich/Schubert/Sode: Die ikonoklastische Synode von Hiereia 754, a.a.O., S. 10. 99 So bereits von Ostrogorsky dargelegt, der in diesem Zusammenhang gar von einer magischorientalischen Weltanschauung der Ikonoklasten spricht. Vgl. ders.: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., S. 40-45 und S. 40 Anm. 3. 100 Die folgenden Ausführungen sind eine überarbeitete Fassung eines bereits veröffentlichten Artikels, vgl. daher Janine Luge-Winter: »Das Erhabene erscheint: »Hervorgehen«, »Teilhabe« und »unähnliche Ähnlichkeit« bei Pseudo-Dionysios Areopagites«, in: Mira Fliescher, Fabian Goppelsröder u. Dieter Mersch (Hg.): Sichtbarkeiten 1: Erscheinen, Berlin 2013, S. 133-172.

2. Das Paradox der Ikone

schöpfungstheologische Dogmen zeigt, dass ein weiteres Momentum in der Materialität alles Dinglichen liegt. Gerade dieses Faktum erweist sich für die ikonophile Argumentation als entscheidend und dies nicht zuletzt in der Widerlegung des Vorwurfs der »Ehrlosigkeit der Materie«. Wie sich die Bezugnahme zwischen Gott und den Dingen definieren lässt, ist daher im Folgenden darzulegen. Als hilfreich erweist sich dafür eine Analyse der im ausgehenden 5. Jahrhundert verfassten Schriften des Kirchenvaters Pseudo-Dionysios Areopagites (im Folgenden: Ps.Dionysios), dessen theologische Abhandlungen sowohl die Dogmatik der West- als auch die der Ostkirche prägten.101 Ausgehend von der Undarstellbarkeit des göttlichen Wesens, das sich jeglicher Begrifflichkeit entzieht und sich weder durch affirmative (kataphatische) noch durch negative (apophatische) Prädikate fassen lässt, prägt Ps.-Dionysios in seinen Abhandlungen ganz entscheidend den Bereich der negativen Theologie, innerhalb derer die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit gegenüber dem transzendent göttlichen Wesen als Grenzen sprachlicher Aussagbarkeit aufgezeigt werden. Das Eine (το ἕν|to hen) als ein absolut Transzendentes zu begreifen, ist ein Gedanke, der sich bereits in Platons Philosophie findet und im Neuplatonismus etwa von

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Der unter dem Pseudonym Dionysios vom Areopag laufende Corpus Dionysiacum umfasst vier größere Schriften: De Divinis Nominibus (DN), De Coelesti Hierarchia (CH), De Ecclesiastica Hierarchia (EH) sowie De Mystica Theologia (MT). In Anlehnung an die Triade Verharren – Hervorgehen – Rückkehr erläutert Ps.-Dionysios in DN die Momente des Verharrens (μονή) und des Hervorgehens (πρόοδος), wobei er sich auf die in der Bibel überlieferten affirmativen Gottesnamen, die das Wirken Gottes in der diesseitigen Welt beschreiben, bezieht. Während Ps.-Dionysios in CH und EH die Ordnung der materiellen Welt ausführlich darlegt, die er in Anlehnung an den Neuplatonismus als ein hierarchisches Stufenmodell versteht, erläutert er den triadischen Moment der Rückkehr zum göttlichen Ursprung in MT. Zudem finden sich im Corpus Dionysiacum zehn Briefe, die Themen der vier Hauptschriften aufgreifen und vertiefen. Darüber hinaus erwähnt der Autor innerhalb seiner Schriften Werke, welche nicht überliefert sind: Theologische Grundbegriffe (siehe DN II, 3), Über die symbolische Theologie (siehe CH XV, 6) und Über das Geistige und das sinnlich Wahrnehmbare (siehe EH I, 2). Aufgrund seiner Diktion kann der Corpus Dionysiacum zweifelsfrei einem Autor zugewiesen werden, wobei dessen Nähe zur Philosophie des Proklos (*412, †485) zur Demaskierung des Pseudonyms führte. Zur Echtheitsfrage der Schriften siehe vor allem Hugo Koch: »Proklus als Quelle des PseudoDionysius Areopagita in der Lehre vom Bösen«, in: Philologus. Zeitschrift für das classische Altertum, Bd. 54, Göttingen 1895, S. 438-454; Joseph Stiglmayer: »Der Neuplatoniker Proclus als Vorlage des sogenannten Dionysius Areopagita in der Lehre vom Übel«, in: Historisches Jahrbuch, Bd. 16, München/Freiburg 1895, S. 253-273; Endre v. Ivánke: Plato Christianus, Einsiedeln 1964, S. 223-289 sowie Friedemann Drews: Methexis, Rationalität und Mystik in der Kirchlichen Hierarchie des Dionysious Areopagita, Berlin 2011, S. 21-36. Zu den Legendenbildungen um die Person des Ps.-Dionysios Areopagites siehe neben Ep. X des Corpus Dionysiacum u.a. Adolf Martin Ritters Einleitung in ders.: Pseudo-Dionysios Areopagites: Über die Mythische Theologie und Briefe, in einer Übersetzung von Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994, S 1ff.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Plotin und Proklos weiter entfaltet wird.102 Zwar wird das Eine (το ἕν) als ein Absolutes verstanden, jedoch wird es in der (neu-)platonischen Philosophie im Sinne eines Prinzips als eine Einheit von Mehrheit gedacht – ein Gedanke, der wiederum in der Trinitätstheologie adaptiert wird.103 Ps.-Dionysios reflektiert nun das Eine mit Blick auf die biblische Tradition, wobei er das Wesen des einen einzigen Gottes, den er im Sinne von τριαδικὴ ἕνας (Drei-Einheit) als einen trinitarischen denkt und als ein Unerkennbares, ein Unsagbares und ein Unbenennbares versteht: Gott ist raum- und zeitlos und ein Absolutes, ein im ewigen Sein in sich Verharrendes Eines.104 Als oberstes Prinzip ist Gott die Wirkursache alles wahrhaft Seienden, wobei Ps.-Dionysios zeigt, dass sich das Wirken Gottes anhand der in der Bibel überlieferten Namen Gottes beschreiben lässt.105 Mit Blick auf den hier erörterten Kontext kann daran anschließend die These formuliert werden, dass alles Dingliche aufgrund seines Hervorgehens mit Gott in einer irgendwie gearteten Beziehung steht. Ps.-Dionysios philosophische Gedanken folgen der neuplatonischen Triade »Verharren (μονή) – Hervorgang (πρόοδος) – Rückkehr (ἐπιστροφή)«, der zufolge sich alles Seiende durch ständiges Herausfließen (Emanation) aus dem Ursprung entfaltet und ebenso wieder zu diesem zurückkehrt, wobei die Momente des Hervorgehens und der Rückkehr simultan gedacht werden. Konkret lässt sich 102 Platon definiert das Eine als Transzendentes, Unbenennbares, Unsagbares und Unerkennbares, weshalb sich bereits in dessen Philosophie Grundideen einer negativen Theologie finden, so u.a. im Parmenides: »[…] wie es scheint, ist das Eine weder Eins noch ist es Vieles […] Also ist auch kein Wort für es, keine Erklärung davon, noch auch irgendeine Erkenntnis, Wahrnehmung oder Vorstellung« (Platon Parm. 142 A). Das metaphorische Eine wird von Platon zwar als Einheit gedacht, allerdings nicht im Sinne einer Vielheit: Das Eine steht als einfache und abgeschlossene Einheit außerhalb jeder begrifflichen Vielheit. Da dem Einen nicht einmal die Bestimmung als Seiendes zukommen soll, entzieht es sich einer basalen ontologischen Einordnung: Das Eine lässt sich nur im Modus der Negation denken. Dem folgt Plotin, wenn er das Eine als das »Andere zu allem Anderen« und das »Nichts von Allem« denkt (vgl. Plotin Enneaden V 5,6). Wie neuplatonische Forschungen betonen, dachte Proklos erstmals die Begriffe »Negation« und »Theologie« zusammen (vgl. Proklos Parm. Comm. 1108, 19-25 und Thomas Rentsch: »Theologie, negative«, in: HWP, Bd. 10, Basel 1998, S. 1102-1105). Vgl. zur negativen Theologie u.a. CH II, 3[140 C-D] und Ralf Stolina: Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie, Berlin/New York 2000 sowie in aller Kürze Janine Luge-Winter: »Das Erhabene erscheint«, a.a.O., S. 157-160. 103 Siehe dazu Kap. 2.1.1.1 Trinität. 104 Vgl. bei Ps.-Dionysios u.a. DN II 4 [641 A] und DN V 10. Zum Verständnis von Ps.-Dionysios τριαδικὴ ἑνας siehe DN I 5 und DN II 1-4 sowie Endre v. Invánka: Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964, S. 260f.; Werner Beierwalte: Denken des Einen, Frankfurt a.M. 1998, S. 211ff. und ders.: Platonismus im Christentum, a.a.O., S. 57ff. 105 Vgl. Ps.-Dionysios DN II 11 [652 A].

2. Das Paradox der Ikone

jene Trias in Proklos’ Philosophie festmachen, jedoch finden sich bereits bei Plotin Denkanstöße in diese Richtung.106 Den Ursprung allen Seins begreift nun Ps.-Dionysios als das transzendente Eine (ἕν), das, und hierin folgt er Proklos, mit Gott identisch gedacht werden muss (αὐτόθεος)107 : Gott ist das erste Prinzip und somit der über-alles-Seiende, aus dem alles Dingliche hervorgeht. Die alles umtreibende Problematik (neu-)platonischer Philosophie, an die sich die Abhandlungen des Ps.-Dionysios anschließen lassen, ist die Frage nach der Entfaltung des absoluten Einen im wahrhaft Seienden. Der Neuplatonismus begreift die Wirklichkeit als ein geordnetes System, in dem ein Jedes in einer sich nie unterbrechenden Folge aus eigener Aktivität ein Neues hervorbringt. Die Kausalität von Einheit und Vielheit wird in der griechischen Philosophie mit den Begriffen πρόοδος (proodos|hervorgehen) und ἀπορρέω (aporreō|ausfließen) zu beschreiben versucht, im Lateinischen mit emanatio, was ebenso das »Ausfließen« (aus einer Urquelle) meint.108 Jedes Hervorgegangene ist seinem Ausgang, seinem Urbild in gewisser Weise analog, allerdings ist es auf einer ontologisch niedrigeren Stufe angesiedelt, so sagt Proklos: »Das Hervorgebrachte ist also weder gleich noch höher als das Hervorbringende. Auf alle Weise ist also das Hervorbringende dem Hervorgebrachten von Natur überlegen.«109 Dieser Prozess des Hervorgehens eines jeweils niedrigeren Seienden bringt jedoch auch eine Differenzierung von Eigenschaften mit sich, und so erklärt sich die Vielheit der uns zugänglichen Welt durch das Hervorgehen aus der Einheit. Das metaphysische Eine (ἕν) ist als Urquelle allen Seins das Undifferenzierteste und Ursprünglichste – dagegen ist das sich auf den niedrigsten Stufen Befindende das Differenzierteste. Die sich nicht unterbrechende Folge des Hervorgehens wird im Neuplatonismus als ein hierarchisches Stufenmodell gedacht, und damit erfolgt πρόοδος (proodos) eines jeden Seins von Seinsstufe zu Seinsstufe, weshalb alles irgendwie in einer teilhabenden Relation zum Einen (ἕν) steht. Teilhabe (μέθεξις|methexis) wird von Platon als philosophischer Begriff geprägt, der das Verhältnis eines Dings zu der entsprechenden Idee bezeichnet. Jedes Ding empfängt seine Bestimmung von der Idee (εἶδος|eidos), deren Zusammenhang als Ideenwelt wiederum als die im ontologischen Sinn eigentliche Wirklichkeit zu verstehen ist. Die Relation zwischen dem (niedrigstufigen und differenzierten) Einzelding und der (höherrangigen und einfacheren) Idee ist allerdings nicht als bloßes Abbildverhältnis zu verstehen, sondern als eine durch Teilhabe vermittelte (qualitative) Beziehung: »Das Einzelschöne ist schön durch

106 Vgl. Proklos Elemente der Theologie 35 und dazu ausführlich Werner Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt a.M. 1979, S. 159-179. 107 Vgl. Beierwaltes: Platonismus im Christentum, a.a.O., S. 52. 108 Vgl. Heinrich Dörrie: Platonica Minora, München 1976, S. 70 Anm. 1. 109 Vgl. Proklos Elemente der Theologie, Prop. 7.

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Anwesenheit jenes Schönen, durch Gemeinschaft mit ihm, durch Teilhabe am Schönen.«110 Dieses platonische μέθεξις-Motiv wird in neuplatonischen Teilhabe-Konzeptionen aufgenommen. Nach Proklos empfängt das Seiende als ein Anteil-Habendes sein Sein von dem ihm (im Stufenmodel) übergeordneten Anteil-Gebenden, wobei das transzendente Eine (entspricht dem platonischen εἶδος) das höchste Anteil-Gebende ist. Proklos weiter folgend erhält das Seiende also »Teile« des Einen, und Teilhabe ist somit wörtlich als das »Haben von Teilen« zu verstehen.111 Der Gedanke dieser Partizipation impliziert aber auch die Partialität, das heißt, dass das Anteil-Habende aufgrund seiner spezifischen Gegebenheit stets nur Teile des bestimmenden Seins aufnehmen kann, nie jedoch die gesamte Seins(über)fülle des intelligiblen Einen.112 Die jeweiligen Seinsstufen fungieren dabei als vermittelnde Instanz – über deren Teilhabe zeigt sich das Eine im Seienden und wird im Sein selbst erkennbar.113 Das transzendente Eine denkt Proklos als ein Unpartizipierbares, und als ein »Nichtteilbares« bringt das Eine als Mittler zwischen sich und dem Seienden die Henaden als erste Stufe hervor. Diese wiederum beschreibt Proklos als überseiend, unaussprechlich und eingestaltig, jedoch als teilhabbar (μεθεκταὶ|methektai). Während das Eine als höchstes und transzendentes Prinzip keine Teilhabe zu denen aus sich hervorgebrachten Henaden eingeht, stehen letztere als Teilhabbares in einer relationalen Beziehung zu den aus sich Hervorgebrachten: So unterliegt der proklischen μέθεξις-Konzeption die Trias Unpartizipierbares – Partizipierbares – Partizipierendes.114

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Helmut Meinhardt: Teilhabe bei Platon, Freiburg/München 1968, S. 20. Hier verbindet Meinhart ganz treffend zwei entsprechende Stellen von Platon Phaidon »[…] wenn irgend etwas anderes schön ist außer jenem Schönen selbst, dass es wegen gar nichts anderem schön sei, als weil es teilhabe an jenem Schönen.« (100 c5f.) und »[…] dass nichts anderes es schön macht als eben jenes Schöne, nenne es nun Anwesenheit oder Gemeinschaft […]« (100 d4ff.). Vgl. Beierwaltes: Denken des Einen, a.a.O., S. 207. Vgl. Drews: Methexis, a.a.O., S. 164f. und die von ihm im Zusammenhang herangezogene Stelle in Proklos In Parm. 859, 7-22. Vgl. Beierwaltes: Denken des Einen, a.a.O., S. 207 und die von ihm im Zusammenhang herangezogene Stelle in Proklos Theol. Plat. II 10; 63, 16. Zur Teilhabe bei Proklos vgl. des Weiteren Endre v. Ivánka: Plato Christianus, Einsiedeln 1964, S. 260f und Weier: Sinn und Teilhabe, a.a.O., S. 130f. Zum Prinzip des Unpartizipierbaren siehe Proklos Elemente der Theologie, Prop. 23 und 24 und ders. Theologia Platonica III und IV. Von Beierwaltes und Dodds wird Proklos’ Konzept des Unpartizipierbaren – des Einen –, an dem das Seiende Teil hat, als ein Paradox bezeichnet. Mit einer neuen Darlegung der Problematik und einer eigenen Übersetzung der betreffenden Stellen bei Proklos versucht Drews den Proklos unterstellten Widerspruch zu lösen. Vgl. Drews: Methexis, a.a.O., S. 161ff. und S. 162 Anm. 365 mit den entsprechenden und angegeben Stellen bei Beierwaltes.

2. Das Paradox der Ikone

Zwar betont die Forschung stets Ps.-Dionysios’ Nähe zur Philosophie des Proklos, jedoch scheint er sich gerade in seinen Teilhabegedanken von diesem zu unterscheiden. Im Hinblick auf die Triade Verharren – Hervorgehen – Rückkehr wird das transzendente Eine (ἕν) innerhalb neuplatonischer Philosophien also als ein in sich Verharrendes begriffen und im Sinne von Proklos als ein Unpartizipierbares. Dass das Hervorgehen (πρόοδος) aus dem absoluten Einen als Vervielfältigung gedacht wird, ohne dass sich jedoch das ursprüngliche Element verringert, ist ein Punkt der (neu-)platonischen Prinzipienlehre, an die Ps.-Dionysios in seiner Theologie anschließt. Der Areopagite vergleicht nun das göttliche Emanieren mit der Sonne, deren Licht, das sie ausstrahlt, alles erneuert, nähert, vermehrt, emportreibt und belebt, ohne dass sie sich als Quelle in irgendeiner Art vermindert oder Veränderung erfährt.115 Hierin nun scheint Ps.-Dionysios der plotinschen Lichtmetaphysik zu folgen, denn Plotin beschreibt die Sonne als ein in sich Verharrendes, obwohl sie ständig ihr (unkörperliches) Licht ausstrahlt, durch das wiederum erst die Form der Dinge sichtbar wird.116 Die Sonne ist hier Synonym für einen transzendenten (Welt-)Sinn, der das gesamte Sein bestimmt. Für Ps.-Dionysios ist der alles hervorbringende Gott der ehevor Seinende, in dem der Sinn allen Seins präexistiert (προϋφέστηκε, προὑφίστημι):117 Alle Schöpfung ist durch ihn, was eine Teilhabe an Gott impliziert, die sich laut Ps.-Dionysios als »Teilnahme (τῶν μετεχόντων) auf eine nicht teilnehmende Weise (τὰ ἀμεθέκτως μετεχόμενα) vollzieht«118 . Aus 115

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Vgl. Ps.-Dionysios DN V 8 [824 B-D]. Hierin verdeutlicht sich bereits das triadische Moment des Verharrens (μονή) und das Motiv des Unpartizipierbaren. Siehe dazu auch DN IV 1 u. 2. Zum Sonnengleichnis bei Dionysios vgl. entsprechende Abschnitte bei René Roques: L`Univers Dionysien. Structure hiérarchique du monde selon le Pseudo-Denys, Paris 1954. Siehe auch Platon, Politeia VI 507 cff.; Plotin, Enneaden IV 3,13; Jamblichos, De mysteriis I 12; Gregor von Nazianz, Oratio 21,1; Proklos, Institutio Theologica 122, 140, 189. Vgl. Plotin Enneaden I 6, 3 und V 1, 6 sowie Weier: Sinn und Teilhabe, a.a.O., S. 114f. und S. 115 Anm. 76. Vgl. Ps.-Dionysios DN V 5 und 6. Dabei liegt für Ps.-Dionysios eine Differenz zwischen dem überseienden Einen, im Sinne einer ersten Hypostase, und dem seienden Einen, das im Sinne einer (zweiten) Hypostase aus der Ersten hervorgeht.121 Als τριαδικὴ ἕνας (Drei-Einheit) begreift er die Hypostasen im Sinne einer Trinitätstheologie als göttliche Einheit »geeint in der Geschiedenheit und in der Einung geschieden« (DN II 4 [641B]). Siehe dazu ebenso DN V 6 und XIII 3 und Beierwaltes: Denken des Einen, a.a.O., S. 211ff. Ps.-Dionysios DN II 5. Zur Häufigkeit des μέθεξις Begriffs im Corpus Dionysiacum siehe Suchlas’ Übersetzung von Ps-Dionysios: Die Namen Gottes, a.a.O., S. 109, Anm. 49. Neben μέθεξις wird das Teilhabeverhältnis auch mit dem Verb μετέχειν (metechein = teilhaben) beschrieben. Das präverbale μετά (meta) verdeutlicht als »mit, zusammen« den Moment der Gemeinsamkeit und ἔχειν (echein = haben, halten) den Bereich der Teilnahme. Weitere Begriffe, die sich bei Platon für diesen Zusammenhang finden, sind: aufnehmen (μεταλαμβάνειν), Paradigma (παράδειγμα) und Gemeinschaft (κοινωνία). Zu den einzelnen Begriffen und ihrer Grammatik sowie ausführlich zum Begriff der Teilhabe bei Platon vgl. Meinhardt: Teilhabe bei Platon, a.a.O. sowie Rolf Schönberger: »Teilhabe«, in: HWP, Bd. 10, Basel 1998, S. 961-969.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Sicht der Theologie wird die göttliche Schöpfung allgemein dahingehend verstanden, dass sie Wirklichkeit verleiht und das Sein schlechthin hervorbringt.119 Ps.Dionysios begreift den Moment des Hervorgehens (der Dinge) prinzipiell als einen Akt der göttlichen Schöpfung: »[Da] alle gütigen Emanationen (πρόοδους) […] zu einem einzigen Gott gehören und das der eine die unbeschränkte Vorhersehung des einen einzigen Gottes offenbart (ἐκφαντικήν) […].«120 Wie nun nähere Betrachtungen zeigen, bringt dieses Ausfließen aus dem höchsten göttlichen Prinzip keinesfalls ein substantiell Anteilnehmendes hervor. Im Hinblick auf die Lehren des Ps.-Dionysios darf keinesfalls von einer Seinsteilhabe gesprochen werden, denn das würde heißen, dass alles Dingliche im Sinne von »Haben von Teilen« göttliche Wesenheit in sich tragen würde. Es muss von einer Teilhabe ausgegangen werden, in deren Sinne die Explikationen nicht an der göttlichen Seinsweise teilhaben, da Gott als Unpartizipierbares, worin Ps.-Dionysios Proklos folgt, überwesentlich bleibt: »Jedoch ist die Unmittelbarkeit der allursächlichen Gottheit auch darüber erhaben insofern, als es weder eine Berührung (ἀμεθεξία) derselben noch irgendeine andere vermischte Gemeinschaft (συμμιγῆν κοινωνίαν) mit dem Anteilnehmenden (τα μετέχοντα) gibt.«121 Mit Bezug auf das Sonnengleichnis heißt das, dass Gott wie die Sonne alle Dinge erleuchtet, diesen (irgendwie) innewohnt, jedoch nicht im Sinne von »Haben von Teilen« immanent wird. Das durch den überwesentlichen Gott realisierte Seiende ist durchaus ein (unmittelbar) Partizipierendes, denn es erfährt seine Prinzipien und Funktion durch Teilnehmen am göttlichen Sein.122 Somit partizipiert alles Seiende an Gott, der zwar unpartizipiert bleibt, jedoch sinnstiftend fungiert, was wiederum impliziert, dass der Sinn alles Seienden noch vor dem Denken und Sein in Gott vorbestimmt ist – also präexistiert. Anschaulicher lässt sich diese Partizipation an dem von Ps.-Dionysios herangezogenen Beispiel des Siegels darlegen: Das Siegel ist das Original (ἀρχετῠπον|archetypon), an dem alle Abdrücke (ἐκτυπώματα|ektypomata) Anteil (μέρος|meros) haben.123 Als oberstes Prinzip besitzt es seinen Sinn in höchster und unwandelba-

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Vgl. Klaus Kremer: »Der Schöpfungsgedanke und seine Diskussion in der Gegenwart«, in J. Hirschberger u. J.G. Deninger (Hg.): Denkender Glaube, Frankfurt a.M. 1966, S. 154f. 120 Ps.-Dionysios DN V 2 [817,1 A]. 121 Ps.-Dionysios DN II 5 [644 B]. Vgl. dazu René Roques: »La signification historique du Corpus Aréopagiticum«, in: Recherches des Sciences réligieuses, Bd. 36 (1949), S. 5-24 und ders.: L`Univers Dionysioen, a.a.O., S. 101f.; Ivánka: Plato Christianus, a.a.O., S. 266ff.; Weier: Sinn und Teilhabe, a.a.O., S. 118f. und 129ff. sowie Drews: Methexis, a.a.O., S. 181. Ps.-Dionysios DN II 5 [644 B]; vgl. auch DN V 8. In DN I 4 [589 D] spricht Ps.-Dionysios gar von der »übernatürlichen Unteilbarkeit« Gottes. 122 Vgl. Ps.-Dionysios DN V 5 [820 B]: »Καὶ γοῦν αἱ ἀρχαὶ τῶν ὄντων πᾶσαι τοῦ εἶναι μετέχουσαι καὶ εἰσἰ καὶ ἀρχαὶ εἰσὶ καὶ πρῶτον εἰσίν, ἔπειτα ἀρχαὶ εἰσίν.« 123 Vgl. Ps.-Dionysios DN II 5, 6 [644 A – 644 C].

2. Das Paradox der Ikone

rer Geeintheit, während seinen »Abkömmlingen« eine partikuläre Seinsweise zukommt. Trotz dass es sich vervielfältigt, bleibt das Siegel unpartizipierbar, denn als (oberstes) Prinzip »schreibt« es sich dem Anteilnehmenden ein, ohne dass es sich verringert oder vermehrt. Dementsprechend scheint nun den weltlichen Dingen als Abbildern der göttliche Sinn ganz und gar zugrunde zu liegen. So liegt es nahe, die ps.-dionysische Schöpfungsteilhabe als Sinnteilhabe zu verstehen, denn den weltlichen Dingen ist das göttliche Prinzip entsprechend einer Sinnteilhabe immanent. Die vorherbestimmte εἰκών Der Lehre des Ps.-Dionysios folgend ist die sichtbare Welt eine Schöpfung Gottes, und alles Dingliche partizipiert durch Schöpfungsteilhabe an Gott. Den immateriellen und voraus liegenden Sinn bezeichnet der Areopagite als Vorherbestimmtes oder Vorbild (παράδειγμα), und dass diesem materiell Folgende als Bild bzw. Abbild (εἰκών).124 Zudem bestimmt er, dass alles Diesseitige »durch irgendeine Spur der göttlichen Ähnlichkeit ähnlich ist«125 . Gerade der Begriff der Spur weist hier auf den Kausalzusammenhang zwischen Gott als erster Ursache von allem und dem durch ihn Geschaffenen: Das Abbild steht in einem Bedingungsverhältnis zu seinem Urbild, da es, als Bild von etwas, von seinem es konstituierenden Grund motiviert ist – jedoch repräsentiert es seinen Ursprung in einer anderen Dimension.126 Für Ps.-Dionysios bedingt sich der Grad der Ähnlichkeit aufgrund der Zuordnung eines Dings in der hierarchischen Ordnung: Je weiter unten sich etwas im hierarchischen Modell befindet, desto unähnlicher ist es seinem göttlichen Urprinzip. Somit ist alles Geschaffene geprägt sowohl durch Identität als auch durch Differenz. Die materiellen Abbilder sind ihren Vorbildern daher keinesfalls wesensgleich, sondern diesen gegenüber unähnlich ähnlich (ἀνόμοια ὅμοια|anomoia homoia)127 : Indem eine εἰκών auf unähnliche Weise zeigt, verhüllt sie etwas und impliziert durch eine innerbildliche Logik ein Unbestimmtes. Die Erkenntnis des Allen zugrunde liegenden göttlichen Prinzips wird nun, Ps.Dionysios folgend, nicht in der Betrachtung von Gleichartigkeiten und Analogien erfahrbar, sondern in der Betrachtung unähnlicher εἰκόνες. In diesem Zusammenhang deutet der Begriff περιπλάτειν (periplatein), womit verhüllen128 gemeint ist, 124 Vgl. u.a. Ps.-Dionysios DN V 8 und CH I 3. 125 Ps.-Dionysios DN IX 6 [916A]: »Καὶ τὸ ἐν πᾶσιν ὃμοιον ἴχνει τινὶ τῆς θείας ὁμοιότητος ὅμοιόν ἐστι καὶ τὴν ἕνωσιν αὐτῶν συμπληροῖ.« 126 Vgl. Beierwaltes: Denken des Einen, a.a.O., S. 76. 127 Der Begriff der »unähnlichen Ähnlichkeit« (ἡ ἀνόμοιος ὁμοιότης) findet sich bei Ps.-Dionysios u.a. CH II 4 [144 A]. 128 Hier wird der Übersetzung Günter Heils gefolgt, der περιπλάτειν, das soviel meint wie darüberkleben, treffend mit verhüllen übersetzt.

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Die Ikone und das Undarstellbare

das ps.-dionysische εἰκών-Verständnis an: eine εἰκών verhüllt zwar ihr Vorbild, jedoch vermag sie trotz Unähnlichkeit im Sinne einer Urbild-Abbild-Relation und der sich damit generierenden Ähnlichkeit auf dieses zu verweisen, denn das Sein der εἰκών ist bestimmt durch ihr παράδειγμα. Ein Ähnlichkeitsverhältnis besteht für Ps.-Dionysios zudem zwischen gleichrangigen Dingen, sofern sie ein gemeinsames Urbild haben. Folglich sind geometrische Konstruktionen zweier Kreise oder Dreiecke einander ähnlich, da sie am παράδειγμα Kreis bzw. Dreieck teilhaben. Letzteres darf als umkehrbar gelten, während jenes zwischen Abbild und Urbild ein asymmetrisches Verhältnis ist: Denn, um es an die Worte Ps.-Dionysios anzulehnen, das Bild ist einem Menschen ähnlich, niemals jedoch kann behauptet werden, dass ein Mensch seinem eigenen Bild ähnlich sei.129 Gott selbst ist nun, Ps.-Dionysios weiter folgend, allem entgegengesetzt und damit allem unähnlich. Jedoch ist Gott genauso Schöpfer der Ähnlichkeit und Urheber des Ähnlichseins.130 Jene Ähnlichkeit wird für den Gläubigen durch Nachahmung, d.h. entsprechend seiner Lebensführung, erfahrbar. Laut Ps.-Dionysios ist es zwar unmöglich, Gott mit Dingen der sinnlich wahrnehmbaren Welt gleichzusetzen, jedoch gilt der Mensch als vernunftbegabtes Wesen, dem sich die Erkenntnis des Intelligiblen über sinnlich fassbare Formen erschließen kann.131 Hier nun bringt Ps.-Dionysios die heilige Bildsprache ins Spiel, wobei er darin zwei Arten unterscheidet: Zum einen gibt es εἰκόνες, »die das Geheiligte in gleichartiger Weise abbilden«, das sind die ähnlichen Bilder; zum anderen spricht Ps.-Dionysios von Bilderfindungen, die »ohne jede Gleichartigkeit bis hin zum vollkommen Unpassenden und Unwahrscheinlichen« gestaltet sind.132 Tatsächlich zieht Ps.-Dionysios für die Möglichkeit der Gotteserkenntnis die unähnlichen den ähnlichen Bildern vor. Folglich gelingt es gerade den unähnlichsten Bildern, wie etwa der niedrigen Gestalt eines Wurmes, im Betrachten die Idee des Erhabenen wachzurufen: Der Wurm ist in der hierarchischen Stufenordnung am weitesten vom göttlichen Urprinzip entfernt und diesem als ein Differenziertestes am unähnlichsten.133 Im Sinn einer absoluten Negation verdeutlicht das Betrachten der unähnlichsten Gestalten als das im höchsten Maße Gegensätzliche: »So ist Gott nicht«. Es mag für den Moment überraschen, dass Ps.-Dionysios den unähnlichen Bildern den Vortritt lässt. Zudem wirft er den ähnlichen Bildern vor, den Betrachter zu täuschen. Jedoch scheint er die ähnlichen Bilder nicht grundsätzlich abzulehnen, bezeichnet er diese doch als τὰς τιμιωτέρας ἱεροπλαστίας εἰκός, d.h. als »edle

Vgl. Ps.-Dionysios DN IX 6. Aspekte eines Ähnlichkeits- und Unähnlichkeitsverhältnis erörtert Ps.-Dionysios neben DN IX 6 u.a. auch in DN IX 7 und CH II. 130 Vgl. Ps.-Dionysios DN IX 6 und 7. 131 Vgl. Ps.-Dionysios CN II 1 und 2. 132 Vgl. Ps.-Dionysios CN II 3. 133 Vgl. Ps.-Dionysios CH II 5 [144 C] in Anlehnung an Ps 21,7.

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2. Das Paradox der Ikone

Bilder«.134 Während unter den unähnlichen Bildern eine symbolische Bildsprache verstanden werden darf, ist es nahe liegend, dass Ps.-Dionysios mit edlen Bildern Ikonen meint. Entscheidend für den hier vorliegenden Kontext ist nun, dass Ps.-Dionysios die in Gott vorherbestimmte Idee (εἶδος|eidos) im Sinne eines Vorausliegenden als προορισμοί (proorismoi) und παράδειγμα (paradeigma) bezeichnet. Platon spricht bereits in seinem »Timaios« von παράδειγμα, die im Sinne von Vorbild und Muster dem physischen Kosmos voraus geht, der von diesem eine εἰκών, also ein Abbild ist.135 Vorbilder sind im Bereich der Ideenwelt situiert und dürfen als intelligibel verstanden werden. In gleichem Sinne begreift Ps.-Dionysios παράδειγμα – respektive προορισμοί – als das rein geistig erfassbare göttliche Vorbild. Das Vorausgehende bezeichnet Ps.-Dionysios unter der Verwendung des platonischen εἶδος (eidos) ebenso als Idee.136 Als εἰκών gelten ins Sein gebrachte Dinge, die als Abbilder einer παράδειγμα bzw. dem εἶδος folgen und sich über diese ontologisch bestimmen. Geht es im ersten Teil dieses Kapitels um die Trinität und die Christologie, mit der Quintessenz, dass Christus durch Zeugung und in seinen zwei Naturen als die wahre εἰκών Gottes zu begreifen ist, verdeutlicht der zweite Teil, dass alles Dingliche eine (wie auch immer) ähnliche εἰκών, d.h. Abbild einer göttlichen παράδειγμα ist. Nun scheint der Mensch aufgrund seines bestimmten Hervorgehens aus Gott innerhalb der Schöpfungstheologie eine gesonderte Stellung einzunehmen: Als ein »denkendes und zu diskursiver Erkenntnis fähigen Wesens«137 bescheinigt Ps.-Dionysios dem Menschen – gemäß einer entsprechenden Lebensweise – die Aussicht auf eine Rückkehr (ἐπιστροφή|epistrophe) zu Gott. Jene Möglichkeit der Gotteserkenntnis obliegt dem Menschen. Zudem spricht die Bibel von heiligen Männern, was Ps.-Dionysios zu dem Gedanken verleitet, der Mensch könne im Sinne einer Homonymie gar als »Gott« bezeichnet werden.138 Tatsächlich ist es, der Schöpfungstheologie folgend, das spezifische Hervorgehen des Menschen aus Gott, dass ihn als intelligentes Wesen auszeichnet, ihn jedoch auch fundamental unterscheidet: Während der Gottessohn gezeugt ist, gilt der Mensch der Bibel folgend als ein von Gott nach dessen Bild gemachtes. Somit dürfen anthropologische Motive nicht außer Acht gelassen werden, scheint es doch, dass sich im

134 135 136 137 138

Vgl. Ps.-Dionysios CH II 3 [141 A]. Siehe Platon Timaios 29 B. Vgl. u.a. Ps.-Dionysios DN IX 6 [913 D]. Vgl. Ps.-Dionysios CH XII 3. Vgl. Ps.-Dionysios CH XII 3. Heil bezieht dies in seinem Textkommentar auf Ex 7,1; Ps 81,1, 6 und Joh 10,34ff. Vgl. dazu Günter Heil: Ps.-Dionysios: De Coelestis Hierarchisa, Stuttgart 1986, S. 90 Anm. 6.

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Die Ikone und das Undarstellbare

spezifischen Hervorgehen aus Gott der Unterschied zwischen einer Christus-Ikone gegenüber der Ikonen der Heiligen begründet.

2.1.2.2

Der Mensch als Bild Gottes

  Imago-Dei-Lehre Es ist bereits eingangs erwähnt worden, dass sich der ikonoklastische Bilderstreit vor allem um Motive der Christus-Ikone dreht. Ein Blick auf die erste Phase des Bilderstreits zeigt jedoch, dass die Heiligenbilder ebenso Streitpunkt gewesen sind. Diese Vermutung verstärkt sich mit Blick auf den Horos von Hiereia, der eine Heiligenverehrung natürlich nicht in Frage stellt, jedoch »ein Bild aus materieller Farbe […] der Gestalten aller Heiligen aufzurichten« konkret ablehnt.139 Nun soll es jedoch nicht darum gehen, darzulegen von welcher Art die Marien- und Heiligenverehrung im byzantinischen Bilderstreit gewesen ist. Vielmehr soll aufgezeigt werden, dass sich der Mensch aus schöpfungstheologischer Sicht von anderen geschaffenen Dingen aufgrund der Art seines Erschaffens unterscheidet. Der Mensch ist, Gn 1,26f. folgend, nach dem Bild Gottes geschaffen, als ein Bild, dass ihm gleich sei: »Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei […] Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bild Gottes schuf er ihn […].« Diese sich in Gn 1,26 begründende Imago-Dei-Lehre folgt der Schöpfungstheologie, und so ist der Mensch zum einen von Gott her bestimmt und diesem im Sinne eines Gleichnisses (wie auch immer) gottähnlich. Während der Sohn Jesus Christus aufgrund seines Gezeugtseins Gott ὁμοούσιος (homoousios), also wesensgleich ist, gilt der Mensch – als ein von Gott nach dessen Bild gemachtes – als ὁμοιούσια εἰκονα, d.h. ähnliches Bild. Die Frage, worin nun die Gottähnlichkeit des Menschen besteht, ist oft gestellt und verschieden beantwortet worden. Ein Hauptgedanke, welcher bis heute theologische Arbeiten zu dieser Frage beeinflusst, ist die scholastische Erkenntnis, die Gottähnlichkeit des Menschen begründet sich in der intellectualis dignitatis participation, d.h. in seiner Geistigkeit.140 So formuliert Thomas von Aquin in Anlehnung an die Patristik, dass mit Ebenbild das Verstandhafte, Wahlfreie und Selbstmächtige gemeint sei.141 Hilfreich für unseren Kontext ist nun Oswald Loretz’ Herantreten an diese Fragestellung, da er in seinen modernen Untersuchungen eine Antwort unter Berück-

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Zur Heiligenverehrung siehe Mansi XIII 216 B/C, 345 A/B, 348 D/E; zur Ablehnung der Heiligenbilder siehe Mansi XIII 216 B/C, 277 C-E, 345 C/D. 140 Vgl. dazu ausführlich Franz Dander: »Gottes Bild und Gleichnis in der Schöpfung nach der Lehre des Hl. Thomas von Aquin«, in: Leo Scheffczyk (Hg.): Der Mensch als Bild Gottes, Darmstadt 1969, S. 206-259. 141 Vgl. Thomas von Aquin lib. II Fiedei orthod. Cap 12.

2. Das Paradox der Ikone

sichtigung des hebräischen Bildbegriffs zu formulieren versucht. Tatsächlich verdeutlicht Loretz in seinen Studien, dass Gottebenbildlichkeit sich nicht ausschließlich auf die Ähnlichkeit des Geistes bezieht. Die Septuaginta überliefert für Gn 1,26 die Begriffe ‫( צלם‬ṣlm/ṣalmu; εἰκών) und ‫( דמוח‬dmwt/demut; ὁμοίωσις). Loretz folgend bedeutet ‫צלם‬/ṣalmu im Hebräischen Statue, Gottesbild, Plastik, plastische Nachbildung und Flachbild; ‫דמוח‬/demut meint Abbild, Kopie, Nachbildung, Gestalt, Aussehen. Zwar sind die Begriffe weitgehend Synonyme, jedoch ist ‫צלם‬/ṣalmu genauer gefasst die Bezeichnung für Statue, Stand- oder Sitzbild und ‫דמוח‬/demut scheint im Sinne von Abbild und Aussehen Gleichnis zu meinen.142 In der Verwendung jener Begrifflichkeiten sieht Loretz den Fakt begründet, dass die Israeliten Gott als gestalthaft begreifen.143 Laut Loretz legt »Bild Gottes« mit Bezug auf Gn 5, 3 (»Adam zeugte einen Sohn, ihn gleich und nach seinem Bilde (‫דמוח‬, ‫)«)צלם‬ nahe, dass Gleichnis ähnlich einem Verwandtschaftsverhältnis und im Sinne von Bild-jemandes-Sein von einem Sich-Entsprechen und Nahe-Sein verstanden werden kann.144 Dem sei hinzugefügt, dass der Mensch kein von Gott Gezeugtes ist, das ist allein der Sohn, worüber sich wiederum Wesensgleichheit (Gottessohn) bzw. Wesensähnlichkeit (Mensch) ergeben. Der Mensch darf im Sinne von Hervorgehen aus Gott als etwas Besonderes angesehen werden, denn Gott selbst hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen, d.h. das Mensch vorausgehende παράδειγμα ist Gott selbst in seiner ganzen unfassbaren Überfülle. Innerhalb des hierarchischen Weltbildes steht der Mensch somit über anderen Schöpfungen, denn er ist in dem ihn auszeichnenden Sosein und Dasein Gott am nahesten. Hier kann wieder an Loretz angeschlossen werden, der sagt, dass die Betonung weder auf besondere noch auf ausschließliche Weise auf den Geist oder Leib des Menschen gelegt werden darf, denn der ganze Mensch steht Gott nahe.145 Imago-Dei-Lehre und die damit mögliche Ikonophilie Die Urbild-Abbild-Relation begründet ein ontologisches Beziehungsgeflecht, d.h. Urbild und Abbild stehen sich nahe und sind sich aufgrund einer besonderen Teilnahme (wie auch immer) ähnlich. Nun scheint es, dass innerhalb einer εἰκώνTheologie verschiedene Bildarten zu unterscheiden sind. Zunächst gibt es das na142 Vgl. Oswald Loretz: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen, München 1967; in gekürzter Fassung ders.: »Der Mensch als Ebenbild Gottes«, in: Leo Scheffczyk (Hg.): Der Mensch als Bild Gottes, a.a.O., S. 118f. 143 Vgl. Loretz: »Der Mensch als Ebenbild Gottes«, a.a.O., S. 120. 144 Vgl. ebd. S. 124f. 145 Vgl. ebd. S. 126. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass der Mensch aufgrund der ihm gegebenen Intelligenz dazu bestrebt ist, die sich durch den Sündenfall verdeckte Gottähnlichkeit durch entsprechende Lebensführung und Glauben wieder erfahrbar zu machen, ja zu enthüllen, worin sich das Motiv der Rückkehr (ἐπιστροφή) spiegelt.

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Die Ikone und das Undarstellbare

türliche Abbildverhältnis zwischen Vater und Sohn. Dies trifft auch auf Gottvater und den durch ihn gezeugten Sohn zu, jedoch ist deren Beziehung ins Absolute gesteigert, denn während auf geschöpflicher Ebene Vater und Sohn einander (nur) ähneln, bedingt die immanente Trinität die Wesensgleichheit. Dem steht der Mensch als eine von Gott geschaffene εἰκών gegenüber: Der Mensch darf aufgrund seines Geschaffenseins nach dem Bild Gottes und einer sich damit ergebenden Übereinkunft gottähnlich genannt werden. Diese Schöpfungstheologie erkennt den Menschen als ein über den anderen Geschöpfen Stehendes an. Dem folgt das biblische Dekret von Gn 9,6, welches besagt, dass dem Menschen aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit keine Gewalt angetan werden darf. Hierin nun begründet sich ein entscheidendes ikonophiles Bildverständnis, impliziert doch jenes Verbot, dass die Missachtung einer εἰκών sich auf deren Urbild überträgt.146 Ps.-Dionysios’ schöpfungstheologischen Teilhabegedanken folgend, gilt die Wirklichkeit als Abbild Gottes, wobei der Schöpfergott selbst im Betrachten der unähnlichsten Gestalten erfahrbar wird. Aufgrund der Besonderheit seiner Schöpfung obliegt es dem Menschen jedoch, seine Unähnlichkeit zu Gott zu überwinden: Als eine gesetzte εἰκών wird dem Menschen von Gott Intellekt, Verstand und Geist (νοῦς-λόγος-πνεῦμα|vous-logos-pneuma) als Eigenschaft und Struktur seiner Seele zuerkannt, worin sich für den Menschen dessen Möglichkeit der Selbstbestimmung begründet, was, wie bereits angedeutet, Thomas von Aquin lehrt. Gerade die Trias Intellekt-Verstand-Geist (νοῦς-λόγος-πνεῦμα), welche die menschliche Seele formt, darf als ein nachahmendes Verhältnis des trinitarischen Gottes begriffen werden. Die Relation zwischen Gott und Mensch wird so im Bereich der Seele und auf rein geistiger Ebene begriffen. Jener Zugang ist, wie die modernen Untersuchungen Gerhard B. Ladners aufzeigen, alexandrinischen Ursprungs und findet sich bei Philo, Klemens, Origines und Athanasius.147 So begreift Philo den Mensch aufgrund seines Geistes als εἰκών der göttlichen Vernunft.148 Der allgemeinen Theologie folgend, hat der Mensch seine Ähnlichkeit zu Gott durch die Ursünde verloren oder besser, bleibt die Ähnlichkeit verdeckt.

146 Bereits hier zeichnet sich die seit der Patristik geltende Lehre ab, dass die einem Bild zukommende Missachtung oder Verehrung auf den Abgebildeten übergeht. Siehe dazu Kap. 3.1.2 Ikone: ein agierendes Bild. 147 Vgl. Gerhart B. Ladner: »Der Bildbegriff bei den griechischen Vätern«, in: Leo Scheffczyk: Der Mensch als Bild Gottes, a.a.O., S. 160. 148 Siehe Philo De opificio mundi I, 69: »After all these other creatures, as has been stated, he says, that the human beeing has come into existence after God´s image (εἰκών) and after his likeness […] But no one should infer this likeness from the characteristics of the body, for God does not have a human shape and the human body is not God-like. The term image (εἰκών) has been used here with regard to the director of the soul, the intellect (νοῦς).« (nach einer Übersetzung von David T. Runia: Philo of Alexandria: On the Creation of the Cosmos according to Moses, Leiden 2001). Vgl. Ladner: »Der Bildbegriff bei den griechischen Vätern«, a.a.O., S. 161.

2. Das Paradox der Ikone

Dass dem Menschen aufgrund seiner Lebensweise eben jene göttliche Ähnlichkeit wieder erfahrbar werden kann, zeichnet sich bereits in den Quellen des Origines ab, der mit Bezug auf Gen. 1, 26-28 folgendes sagt: Er (der Mensch) soll sich selbst durch eigenen Eifer diese Ähnlichkeit (imitatione) durch Nachahmung Gottes erwerben, nachdem ihm zu Anfang die Fähigkeit zur Vervollkommnung kraft der Würde des »Bildes« (imaginis) gegeben war, sollte er schließlich am Ende selber durch eigenes Wirken die vollkommene »Ähnlichkeit« (similitudinem) vollenden.149 Hier nun darf »Ähnlichkeit« mit Bezug auf die Lebensführung des Menschen als ein Aktives verstanden werden: Der Mensch ist nicht nur ein ähnlich Gemachtes, sondern kann die ihm zuerkannte Gottähnlichkeit aufgrund seiner Lebensweise wieder erfahren, denn in seiner Hinwendung zu Gott wird dem Menschen sein göttliches Urbild offenbar. Es ist das Erkennen des Gleichen durch das Gleiche, das bereits bei den Vorsokratikern Thema ist und sich in der Philosophie Platons und Plotins konkretisiert: Für Platon obliegt dem Schauen der Ideen die Möglichkeit einer Annäherung und Verähnlichung mit Gott; Plotin konkretisiert diesen Gedanken dahingehend, dass das Sehende dem Gesehenen verwandt und ähnlich gemacht sein muss, um zur richtigen Schau zu gelangen.150 Der Mensch als nach dem Bild Gottes Geschaffener ist diesem in potentia, d.h. Kraft seiner Setzung, ähnlich und verwandt, worin sich letztendlich eine Ikonophilie begründet.151 Aufgrund seines Glaubens und seiner Lebensführung, so lehrt es nicht zuletzt Ps.-Dionysios, kann es den Menschen gelingen, seine wahre ihm zugrunde liegende εἰκών – die vom göttlichen εἶδος her ist – zu schauen. Dass dabei die artifizielle Ikone mögliches Vehikel ist, die dem gläubigen Bildbetrachter die Anschauung Gottes ermöglicht, gilt es im Folgenden zu verdeutlichen. Es sei erwähnt, dass Ps.-Dionysios zwar die unähnlichen den ähnlichen Bildern vorzieht, allerdings impliziert seine Lehre, dass der Mensch ebenso in der materiellen Schau der »edlen Bilder« zur göttlichen Erkenntnis gelangt. Diesbezüglich wäre zu klären, ob der Mensch in der Lage ist, zwischen Bild und Idol (Götzenbild) zu unterscheiden. Konkret stellt sich die Frage, ob – trotz des Bilderverbots des Dekalogs, das unumstößlich Geltung hat – ein Bild Gottes überhaupt möglich ist? Dies gilt es im Folgenden anhand der byzantinischen Ikonentheorien zu prüfen.

149 Origines De principiis III 6, 1. 150 Vgl. Platon Politeia VI, 500c und daran anschließend das Sonnen- und Liniengleichnis ebd. 508a-511a. Vgl. Plotin Enneaden I 6, 42-43. Zu den Vorsokratikern siehe Carl Werner Müller: Gleiches zum Gleichen: Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, Wiesbaden 1965. Vgl. außerdem Wiebke-Marie Stock: Geschichte des Blicks, Berlin 2004, S. 30-32. 151 Vgl. Stock: Geschichte des Blicks, a.a.O, S. 30-32.

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Die Ikone und das Undarstellbare

2.2 2.2.1

εἰκών und Ikone Die Ikone als εἰκών von Gott

2.2.1.1 τί ἐστιν εἰκών; Was ist ein Bild?   παραδειγμα Das ambitionierte ikonoklastische Bildverständnis, das die Wesensgleichheit (ὁμοούσιος) von Bild und Urbild verlangt, ist bereits näher erläutert worden.152 Ob die Bildapologie des Johannes von Damaskus (*um 650, †vor 754), die dieser in der ersten Phase des byzantinischen Bilderstreits (726-754) verfasst, eine Antwort auf das ikonoklastische Bildverständnis ist oder diesem voraus geht, lässt sich heute nicht mehr eindeutig aufzeigen. Zwar knüpft Johannes vD an ikonoklastische Argumente an, jedoch tauchen diese in seinen Apologien nur vereinzelt auf. Zudem lassen sich jene ikonoklastischen Äußerungen bereits in Schriften finden, die sich vor dem Byzantinischen Bilderstreit mit der Bilderfrage auseinandersetzten.153 Ikonoklastische Argumente lassen sich konkret für den Bilderstreit anhand der ikonophilen Schriften der zweiten Phase dieses Konflikts (815-843) eruieren. So sind die Schriften des Nikephoros von Konstantinopel (*757/758, †828) und Theodor Studites (*um 759, †826) u.a. in Form von Dialogen geschrieben. Theodor Studites lässt etwa einem ikonoklastischen Einspruch (αίρεση) ein Argument für das Bild (ορθοδοξία) folgen. Die Schriften des Nikephoros überliefern, das ist hier bereits erwähnt worden, die Peuseis (Befragungen) des ikonoklastischen Kaisers Konstantin V. (*718, †775). Auf diese lässt Nikeophoros seine ikonophilen Antworten folgen.154 Die Apologien des Johannes vD, die sich aus drei Bilderreden zusammensetzen, zeugen von einer Systematik und einer umfassenden theologischen Prägnanz, weshalb sie nicht nur den Ausgangspunkt der folgenden Analysen bilden, denn auch im Hinblick auf die, die Ikone betreffenden bildtheoretischen Fragestellungen bietet Johannes vD erste Antworten. Nicht zuletzt ist seine εἰκών-Definition Anlass dafür, 152 153 154

Siehe dazu Kap. 2.1.1.2 Die zwei Naturen des Sohnes. Siehe dazu entsprechende Quellen bei Hans Georg Thümmel: Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre. Texte und Untersuchungen zur Zeit vor dem Bilderstreit, a.a.O. Im Jahr 726 lässt Kaiser Leo III. die Christus-Ikone vom Palasttor (der Chalke) von Konstantinopel abnehmen. In jenem ikonoklastischen Übergriff auf eine Ikone wird der Beginn des Konflikts gesehen. Zudem erlässt Leo III. 730 ein Edikt, dass das Verbot von Ikonen gesetzlich fixiert, woraufhin alle Ikonen von öffentlichen Plätzen entfernt werden. Mit dem zweiten ökumenischen Konzil von Nicäa, welches Kaiserin Irene (Amtszeit 797-802) im Jahr 754 einberuft, gilt die in der Amtszeit Kaiser Leos III. (Amtszeit 717-741) beginnende erste Phase des Byzantinischen Bilderstreits (726-754) als beendet.

2. Das Paradox der Ikone

seine Reden nicht nur als Apologien, sondern konkret als Ikonentheorie zu bestimmen. In seiner dritten Rede fragt Johannes vD direkt »τί ἐστιν εἰκών;«155 , also »Was ist ein Bild?«, um daran seine dezidierte εἰκών-Definition anzuschließen: Ein Bild ist nun also ein Gleichnis und Muster und Abbild eines Dinges, in sich selbst das Abgebildete zeigendes, gewiß aber gleicht das Bild dem Urbild, das ist dem Abgebildeten nicht gemäß allem – denn etwas anderes ist das Bild und etwas anderes das Abgebildete – und gewiß wird in ihnen ein Unterschied gesehen, denn das eine ist nicht dieses und das andere nicht jenes.156   »Εἰκών μὲν οὖν ἐστιν ὁμοίωμα καὶ παράδειγμα καὶ ἐκτύπομά τινος ἐν ἑαυτῷ δεικνύον τὸ εἰκονιζόμενον, πάντως δὲ οὐ κατὰ πάντα ἔοικεν ἡ εἰκών τῷ πρωτοτύπῳ τουτέστι τῷ εἰκονιζόμένῳ – ἄλλο γάρ ἐστιν ἡ εἰκών καὶ ἄλλο τὸ εἰκονιζόμενον – καὶ πάντως ὁρᾶται ἐν αὐτοῖς διαφορά, ἐπεὶ οὐκ ἄλλο τοῦτο καὶ ἄλλο ἐκεῖνο.« Ein Bild ist für Johannes vD immer eine εἰκών vom πρωτοτυπον (prototypon), d.h. ein Abbild vom Urbild. Und indem es sich von seinem Urbild her konstituiert, steht ein Abbild immer in Relation zu seinem Urbild. Entscheidendes Motiv der Bilddefinition des Johannes vD ist diese Urbild-Abbild-Relation, die, reflektiert vor dem ikonoklastischen Bildverständnis, allein eine partielle Identität zwischen Bild und Urbild deklariert: »Εἰκών ἐστιν ὁμοίωμα« – d.h. »ein Bild ist ähnlich« – zielt eindeutig auf ein Ähnlichkeitskriterium ab, welches den Bezug zwischen Urbild und Bild zu ermöglichen scheint. Dabei ist die Ursprungsbeziehung entscheidend, denn eine εἰκών findet für Johannes vD nur in ihrem Urbild (πρωτοτυπον) die Berechtigung ihrer Existenz. Dies verdeutlicht sich im Wort ἐκτύπομά (ektypoma), das Johannes vD hier in seinem ursprünglichen Wortsinn als ein durch Abprägen verursachtes Abbild eines Urbildes, das somit dem Bild zu Grunde liegt, meint. Darüber ergibt

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Johannes vD Imag III 16. Die im folgenden Text vorgenommene Kapitelzählung der jeweiligen Reden geht auf die Ausgabe von Lequien von 1712 zurück und wurde in dieser Form im textkritischen Apparat von Bonifatius Kotter, Byzantinischen Institut der Abtei Scheyern, Berlin/ New York 1975 übernommen. Unter Imag. ist die Abkürzung des Wortes imaginum (Bild) zu verstehen, welches dem lateinischen Titel der Reden entnommen ist. Die darauf folgenden römischen Ziffern zeigen an, aus welcher der drei Reden die entsprechende Stelle stammt. Die daran anschließenden Zahlenfolgen geben Kapitel und Zeile an. Die Abkürzung »Imag. III 16, 1-3« bedeutet also, dass diese Textstelle aus der dritten Bilderrede entnommen wurde und Kapitel 16, Zeile eins bis drei umfasst. Vgl. u.a. Johannes vD Imag. I 3, 10-19. Johannes vD Imag III 16 (ähnlich Imag I 9, 3-6). Die deutsche Übersetzung der Bilderreden des Johannes vD folgt Dariusz Józef Olewiński: Um die Ehre des Bildes, S. 33-181, 196-246 und 252-319.

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Die Ikone und das Undarstellbare

sich zwischen Bild und Urbild eine relationale Beziehung, worüber sich εἰκών als referentielles Zeichen bestimmt. Weil nun eine εἰκών ihrem πρωτοτυπον ähnlich ist, vermag es in sich das Abgebildete zu zeigen – ein Abbild (εἰκών) vermag sein Urbild (πρωτοτυπον) folglich zu offenbaren, was Johannes vD mit den Worten verstärkt: »Πᾶσα εἰκών ἐκφαντορικὴ τοῦ κρυφίου ἐστὶ καὶ δεικτική«, d.h.: »Jedes Bild ist eine Offenbarung des Verborgenen und ein Hinweis.«157 Dem folgend, offenbart generell jede εἰκών und eine jede εἰκών verweist auf ihr Urbild. In diesem Sinne bestimmt sich εικών als verweisendes Zeichen. Ähnlichkeit geht wiederum mit Unähnlichkeit einher, so ist ein Bild stets etwas anderes als sein Urbild – »denn etwas anderes ist das Bild und etwas anderes das Abgebildete«. Somit ist ein artifizielles Bild von Johannes dem wirklichen Johannes ähnlich, aber eben ›nur‹ ein Bild von diesem. Über diese Bilddefinition hinaus ermöglicht sich bereits zu Beginn des byzantinischen Bilderstreits die alles entscheidende Bestimmung einer Ungleichheit zwischen Bild und Gott, die sich gegen die ikonoklastische Forderung einer Gleichwesentlichkeit (ὁμοούσιος|homoousios) der εικών stemmt. Diese ikonophile Bilddefinition geht letztlich mit unserem Verständnis der Differenz von Bild und Welt konform. Εἰκών fungiert bei Johannes vD zunächst als weiter Bildbegriff. Bereits in seiner ersten Apologie stellt er eine Unterscheidung von fünf Bildarten auf, die in seiner dritten Bilderrede zu einer systematischen Klassifikation von sechs Bildarten entwickelt werden. Darin wird der innerhalb der Bilddefinition auftretende konstitutive Faktor des Musters als eine Bildart bestimmt: Es sind […] in Gott Bilder und Muster der Dinge, die durch ihn sein werden […] Solche Bilder und Muster nennt der hl. Dionysios […] Vorherbestimmungen. Denn in seinem Willen prägt er ein und stellt alles dar, was vor dem Entstehen von ihm vorherbestimmt ist und unausweichlich sein wird …   Εἰσὶ […] ἐν τῷ θεῷ εἰκόνες καὶ παράδειγμα τῶν ὑπ αὐτοῦ ἐσομένων […] Ταύτας τὰς εἰκόνας καὶ τὰ παραδείγματα προορισμούς φησιν ὁ ἅγιος Διονύσιος […] Ἐν γὰρ τῇ βουλῇ αὐτοῦ ἐχαρακτηρίζετο καὶ εἰκονίζετο πάντα τὰ ὑπ αὐτοῦ προωρισμένα καὶ ἀπαραβάτως ἐσόμενα πρὶν γενέσεως αὐτῶν …158 Zunächst lässt sich an jener Bildart das theologische Weltbild des Christentums festmachen, das als hierarchisches gedacht wird und dessen Dogmatik sich vor allem in den Schriften des Ps.-Dionysios Areopagites begründet.159 Wie bereits aus-

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Johannes vD Imag III 17, 2-3. Johannes vD Imag I 10, 1-10; ähnlich Imag III 19 und bei Ps.-Dionysios vgl. DN V 8. Dass sich Johannes vD auf die Lehren des Ps.-Dionysios stützt, zeigen nicht nur direkte Bezüge im Text, sondern genauso die den Apologien angehängten Florilegien. Die jeweilige

2. Das Paradox der Ikone

geführt, begreift Ps.-Dionysios Gott als den Allursächlichen des Seins, d.h. Gott ist das erste Prinzip aus dem alles hervorgeht. Somit besitzt ein jedes Seiende als von Gott offenbartes Wesen eine Teilhabe (μέθεξις|methexis) an diesem, welche, wie bereits dargelegt, als Sinnteilhabe verstanden werden darf.160 Der Sinn allen Seins, Ps.-Dionysios weiter folgend, ist vor aller Zeit in Gott vorbestimmt, was der Areopagite mit προορισμοί (proorismoi) begrifflich fixiert. Auf eben jene Vorherbestimmungen bezieht sich nun Johannes vD, wobei er diese in Anlehnung an Ps.-Dionysios, als εἰκών im Sinne von παράδειγμα (paradeigma) denkt: Jene vorherbestimmte εἰκών ist als ein Intelligibles zu verstehen, das in Gott präexistiert und dem wiederum εἰκονες als Seiende folgen. In Anlehnung an die Lehren des Ps.-Dionysios begreift Johannes vD παράδειγμα als immaterielles, ideales, vorzeitliches und in Gott seiendes Muster. Somit kann Johannes’ παράδειγμα-Begriff in die Nähe der platonischen Kosmogonie gerückt werden, der folgend alles weltlich Seiende ein Abbild (εἰκών) intelligibler, idealer und vorzeitlicher παράδειγμα ist.161 Während im Platonismus die Ideenwelt als die ideale Wirklichkeit begriffen wird, von der die weltlichen Dinge unvollkommene Abbilder sind, gelingt es Johannes vD, jene Abwertung des zeitlichen und endlichen Seins zu überwinden, gerade weil dieses auf den in Gott vorherbestimmten παράδειγμα beruht.162 Zunächst bezieht sich Johannes’ παράδειγμα-Begriff auf Zeitlichkeit im Sinne dessen, was kommen wird. So kann παράδειγμα als ewiges Vorbild und genauso als idealer Entwurf verstanden werden, nennt doch Johannes vD als Beispiel für jene Art des Bildes die Bauzeichnung, die als Entwurfszeichnung dem letztendlich erbauten Haus vorausgeht.163 Innerhalb der modernen Forschung wird nun angemerkt, dass jene von Johannes vD aufgestellte Bildart mit den platonischen εἶδος (eidos) bzw. der platonischen ἰδέα (idea) gleichgesetzt werden kann.164 Wie bereits dargelegt, verwendet Ps.-Dionysios für die in Gott präexistenten παράδειγμα, Anthologie ist das bis dato umfangreichste heute vorliegende Florilegium aus der Zeit des byzantinischen Bilderstreits. Um den Adressaten und vor allem die Ikonoklasten von der Gültigkeit seiner Lehre zu überzeugen, stützt Johannes vD seine Apologie auf Bibelstellen und Väterzitate. Diese listet er im Florilegium, das seinen jeweiligen Apologien hinten angehängt ist. Vgl. Johannes vD Imag I 23-65, II 20-68 und III 43-138. 160 Zur Lehre des Ps.-Dionysios Areopagites siehe Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. 161 Vgl. Platon Timaios 28a – b und 37d – 38c sowie Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. 162 Vgl. Johannes vD Imag II 13: »… die göttliche Schrift verkündet sie [die Materie; Anm. der Autorin] als gut; denn sie sagt »Und Gott sah alles, was er gemacht hat, und sieh da sehr gut«. So bekenne ich die Materie sowohl als Gottes Geschöpf wie auch als gut …«. Zur Aufwertung der Materie innerhalb der Schriften von Johannes vD siehe ausführlich Kap. 2.2.2 Die Offenbarung der Ikone. 163 Vgl. Johannes vD Imag I 10, 11-13. 164 Vgl. Hieronymus Menges: Die Bilderlehre des hl. Johannes von Damaskus, Kallmünz 1937, S. 52 sowie Moshe Barasch: Icon: Studies in the Hostorie of an Idea, New York/London, S. 224.

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Die Ikone und das Undarstellbare

προορισμοί und ebenso ἰδέα.165 Als Begriff für die idealen Vorbilder verwendet Johannes vD dagegen ausschließlich παράδειγμα. Grundsätzlich folgen jene Begrifflichkeiten demselben Gedanken, ein mögliches ontologisches Beziehungsgeflecht begrifflich zu fixieren: Die weltliche Vielheit ist aus der göttlichen Einheit bestimmt, was innerhalb der Theologie als schöpfungstheologischer Akt verstanden wird. In Gott sind παράδειγμα/προορισμοί, denen jede Physis aufgrund göttlicher Setzung nachkommt. Παράδειγμα/προορισμοί sind also in Gott vorherbestimmte Vor- und Urbilder des Seienden, die durchaus im platonischen Sinne als ἰδέα und εἶδος verstanden werden dürfen. Doch merkt Dariusz Józef Olewiński in seinem Kommentar zur Ikonentheorie des Johannes vD richtigerweise an, dass es eine »Ideenwelt« als eigene und eigentliche Wirklichkeit in diesem theologischen Weltbild nicht gibt.166 Doch muss hinzugefügt werden, dass die von Platon initiierte doppelte Bildwelt genauso in der schöpfungstheologischen Weltanschauung gegeben ist: Während sich bei Platon diese in die transzendente und ideale Ideenwelt und die gegenständliche Welt als deren unvollkommenes Abbild teilt, ist diese Doppelung speziell bei Johannes vD durch das (transzendente) παράδειγμα in Gott und die diesem folgenden und durch sie bestimmten (existenten) εἰκονες gegeben. In einer deutlichen Differenz zu seinem παράδειγμα-Begriff bestimmt der Damaszener den Sohn als die spezifische Sichtbarmachung Gottes, was es im Folgenden näher zu erläutern gilt.167 φυσική εἰκών Johannes vD lässt also seiner Bilddefinition eine Klassifikation von sechs Bildarten folgen, die als eine hierarchische Ordnung angesehen werden kann.168 Dem 165 Siehe Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. 166 Vgl. Olewiński: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 269. 167 Die von Johannes definierten παράδειγμα dürfen im philosophischen Sinne mit der scholastischen causa exemplaris identifiziert werden (Vgl. Theodor Nikolaou: »Die Ikonenverehrung als Beispiel ostkirchlicher Frömmigkeit nach Johannes von Damaskos«, in: Ostkirchliche Studien, Bd. 25, Würzburg 1975«, S. 149). Es sind die (schöpferischen) Ideen in Gott, die als solche zwar an die Philosophie Platons anknüpfen, jedoch darf Gott als intellectus archetypus begriffen werden. Intellectus archetypus sei hier in Anlehnung an Kant verwendet, um im Hinblick auf die Theologie zu verdeutlichen, dass nichts als begrifflicher Diskurs, sondern alles Gegenständliche einzig in und durch Gott selbst vorgegeben ist. Als causa exemplaris sind παράδειγμα zudem der aristotelischen causa formalis synonym, d.h. sie sind der inneren Form des weltlich-existenten Einzeldings ursächlich: So ist ein Haus, um es mit einem Beispiel des Johannes vD zu verdeutlichen, in der Form seiner Entwurfszeichnung gestaltet. Während Johannes vD παράδειγμα-Begriff im Sinne der causa exemplaris zu verstehen ist, bestimmt der Damaszener in deutlicher Differenz dazu den Sohn als ein sich Ausstellen Gottes. 168 In der ersten Bilderrede umfasst jene Klassifikation fünf Bildarten (vgl. Imag I 9-13). Während die Auszeichnung des Menschen als eine Bildart sich in der zweiten Bilderrede andeutet (vgl. Imag II 20), wird dieser in der dritten Bilderrede explizit als dritte Bildart geführt. Schließlich

2. Das Paradox der Ikone

παράδειγμα (paradeigma), die Johannes vD an zweiter Stelle führt, geht der (Gottes-)Sohn als erste Art des Bildes voraus. Die Gemeinsamkeit jener ersten beiden Bildarten begründet sich in deren vorzeitlichem Sein in Gott, ihre Differenz liegt in ihrem jeweiligen Bezug zum göttlichen Urbild: παράδειγμα sind zwar intelligible εἰκονες in Gott, ihr Wesen ist jedoch nicht gleich der göttlichen Natur. Dagegen ist der Sohn der Trinitätslehre folgend Gott wesensgleich (ὁμοούσιος), denn er ist gezeugt.169 Nach Johannes vD darf der (Gottes-)Sohn aufgrund dessen, wie er ins Sein gekommen ist, als ἠ φυσική εἰκών (physike eikōn), d.h. als naturhaftes Bild verstanden werden.170 Eine entscheidende Prämisse ist, dass innerhalb des ikonischen Denkens des Johannes vD die φυσική εἰκών und das παράδειγμα nicht der sinnlichen, sondern der metaphysischen Ebene angehören, weshalb sie unabhängig von Sichtbarkeit sind.171 Die φυσική εἰκών bestimmt Johannes vD sowohl für die göttliche wie für die geschöpfliche Ebene, weshalb zunächst verallgemeinerte Aussagen getroffen werden können. Die Relation zwischen Vater und Sohn ist ontologisch bestimmt: Der Sohn ist als Gezeugter ein natürliches Abbild (εἰκών) des Vaters, der das Urbild ist. Entscheidend ist nun die von Johannes vD bereits in seiner εἰκών-Definition genannte bildliche Eigenschaft des Zeigens, was mit dem Verb δεικνύειν (deiknyein) ausgedrückt wird:172 Als φυσική εἰκών zeigt der Sohn den Vater in sich, denn der Sohn ist Abbild vom väterlichen Urbild. Aufgrund jenes in sich Zeigens, begreift Johannes vD εἰκών nicht ausschließlich im Sinne eines sich Zeigens, sondern als Offenbarung des Vorausgehenden, welches die εἰκών konstituiert. Mit Blick auf die εἰκών-Definition ist daher entscheidend, dass sich der Sinn einer εἰκών für Johannes vD über deren Referenz zu ihrem Urbild bestimmt: Jede εἰκών ist Zeichen eines Urbildes, für das sie steht und auf das sie Bezug nimmt. Aus schöpfungstheologischer Sicht und nach der Lehre des Johannes vD darf zudem jede εἰκών als ein ontologisches Zeichen begriffen werden, denn εἰκών konstituiert sich von ihrem Urbild her. Das bedeutet konkret, dass die Verbindung von Urbild und Abbild die intrinsische Struktur der εἰκών bestimmt. Im Hinblick auf die von Johannes vD bestimmte φυσική εἰκών heißt das, dass ein jeder Sohn den Vater offenbart, der ihn gezeugt hat und gleichzeitig ist ein jeder Sohn Verweis auf die Existenz seines Vaters.

umfasst die Bildklassifikation des Johannes vD sechs Bildarten: 1. das natürliche Bild (Sohn), 2. das παράδειγμα, 3. der Mensch, 4. die Hl. Schrift, 5. die auf das Zukünftige hindeutenden Symbole und 6. die an das Vergangene erinnernden Ikonen und Bücher (vgl. Imag III 18-23). 169 Zur Trinitätstheologie siehe ausführlich Kap. 2.1.1.1 Trinität. 170 Vgl. Johannes vD Imag I 9 und III 18. 171 Ähnlich argumentiert Marie-José Mondzain in Bezug auf Nikephoros, vgl. dies.: Bild, Ikone Ökonomie, Zürich 2011, S. 98. 172 Vgl. Johannes vD Imag 16, 3.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Die Offenbarung des Vaters im Sohn ist nun das besondere Spezifikum des Gottessohnes. Nicht zuletzt verdeutlicht dies Johannes’ Bildklassifikation, die den Gottessohn als das erste Bild überhaupt aufführt. In Imag III 26, 1 fragt Johannes vD konkret, wer als erster ein Bild gemacht hat, um dies wie folgt zu beantworten: »Gott selbst hat als erster seinen einziggeborenen Sohn und Logos gezeugt, sein lebendiges, naturhaftes Bild, unveränderte Abprägung seiner Ewigkeit.« Christus ist somit nicht nur das erste von Gott geschaffene Bild, sondern zudem dessen unverändertes Abbild. In seiner exegetischen Beweisführung bezieht sich Johannes vD auf die Bibel (Joh 14,8) und richtet seine Definition unter der Berücksichtigung trinitätstheologischer Prämissen auf das Motiv der Offenbarung.173 In der Lesart des Johannes vD meint daher die biblische Aussage »der Vater ist in mir« (Joh 14,10) das sich Zeigen Gottes in seinem eingeborenen Sohn, der φυσική εἰκών ist: Christus ist das sich Offenbaren Gottes in der menschlichen Form, denn Gott hat im fleischgewordenen Sohn leibliche Form angenommen. Der Sohn ist somit nicht Darstellung oder Re-Präsentation des Urbildes: Gott präsentiert sich dem Gläubigen im Sohn selbst, d.h. er zeigt sich als wahre und unveränderte εἰκών des Sohnes. Innerhalb der Theologie wird der Sohn daher als Selbstentäußerung Gottes verstanden. Indem Johannes vD nun den Sohn als erste Art des Bildes bestimmt, das sich in seiner Definition konkret von den vorherbestimmten Bildern unterscheidet, weil es wesensgleich (ὁμοούσιος) ist, ist der Gottessohn weniger παράδειγμα als vielmehr Exemplifikation: Exemplifikation bildet zusammen mit Denotation ein Begriffspaar, das der amerikanische Philosoph Nelson Goodman (*1906, †1998) in seiner Symboltheorie etabliert hat.174 Im Modus einer symbolischen Referenz sind diese die intentionale bzw. extensionale Bezugnahme. Denotation, definiert als extensionale Bezugnah-

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Hier sei erwähnt, dass Johannes vD die Funktion des Heiligen Geistes nicht außenvor lässt, sondern diesen im Sinne der Trinitätstheologie stets mitdenkt: »Aber auch der Heilige Geist ist ein Bild (εἰκὼν) des Sohnes […] Durch den Heiligen Geist also erkennen wir Christus als den Sohn Gottes und im Sohn schauen wir den Vater.« (Johannes vD Imag III 18, 25-27). In diesem Sinne versteht Johannes vD, der Tradition folgend, den Heiligen Geist als gleiche und unveränderte εἰκών des Sohnes, und durch den Heiligen Geist kann der Sohn Christus erkannt werden (s. Johannes vD Imag III 18, 29-31). In seinem Werk Sprachen der Kunst, das er selbst als Versuch eines Ansatzes einer allgemeinen Symboltheorie verstanden wissen will, setzt Goodman Symbol mit Zeichen synonym und zählt darunter sowohl Buchstaben, Wörter, Texte, Töne als auch Bilder, Diagramme, Karten und Modelle. Somit kann seine allgemeine Symboltheorie für Handlungen wie Diskurses und genauso für Kunstwerke angewendet werden, was sie für bildtheoretische Diskurse so fruchtbar macht. Siehe Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1995.

2. Das Paradox der Ikone

me, ist Repräsentation im klassischen Sinne, d.h. etwas steht für etwas anderes.175 In einer Abbildbeziehung heißt das konkret: Das Bild eines Stuhls repräsentiert Stuhl, nimmt auf diesen Bezug, denotiert ihn. Während die Denotation auf einen Gegenstand verweist, stellt die Exemplifikation als intentionale Bezugnahme die intrinsischen Eigenschaften eines Gegenstandes aus:176 Das Bild eines roten Stuhls exemplifiziert rot, d.h. das Bild besitzt die Farbe Rot und nimmt auf diese Bezug: Der Stuhl ist rot. Goodman verwendet als Beispiel für Exemplifikation die Stoffprobe, die die Eigenschaften eines Stoffes buchstäblich exemplifiziert, weil sie diese selbst ausstellt – wie Webart, Farbe, Textur und Muster.177 Im Sinne der Lehre des Johannes vD darf Christus als von Gott gewollte sichtbare Probe seiner selbst begriffen werden, denn der Sohn ist als unveränderte φυσική εἰκών genauso eine konsubstantielle εἰκών, d.h. wesensgleiches Abbild Gottes: Die intrinsischen Eigenschaften des Sohnes sind durch dessen göttliche Wesenheit motiviert, denn im Sinne eines unveränderten Abbildes stellt sich Gott in seinem Sohn selbst aus, nimmt Gott im Abbild seines Sohnes materielle Form an. Somit ist Christus keinesfalls Stellvertreter Gottes: Der einziggeborene Sohn ist als einziges Abbild genauso einzige unveränderte Ausprägung und somit Präsenz Gottes im Sichtbaren. Um es mit den Worten Goodmans zu verbinden: Die Relation zwischen Christus und Gott ist wie die Beziehung zwischen einer Probe und dem, worauf sie Bezug nimmt.178 Goodmans Begriff der Exemplifikation ist jedoch für den Gottessohn dahingehend unzureichend, dass Goodman einer Exemplifikation jegliche mystische Implikation abspricht, d.h. es bleibt kein verborgener, also unsichtbarer Rest: Unsagbarkeit – respektive Undarstellbarkeit –, so verdeutlicht es Rudolf Fietz, geht bei Goodman nicht in einem Geheimnis auf, sondern in einer Dichte von Zeichen.179 Dagegen schließt der Gottessohn in seiner Sichtbarkeit Negation mit ein, denn die göttliche Wesenheit gilt selbst für die Ikonophilen stets als undarstellbar.180 Dass sich darin die entscheidende Prämisse der (artifiziellen) Ikone begründet, gilt es hier aufzuzeigen.

Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 17: »Ein Bild das einen Gegenstand repräsentiert – ebenso wie eine Passage, die ihn beschreibt –, nimmt auf ihn Bezug und, genauer noch: denotiert ihn.« 176 Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 59f: »Von einem Gegenstand, der buchstäblich oder metaphorisch von einem Prädikat denotiert wird und auf dieses Prädikat oder die entsprechende Eigenschaft Bezug nimmt, kann man sagen, daß er dieses Prädikat oder diese Eigenschaft exemplifiziert.« 177 Vgl. ebd. S. 59. 178 Vgl. ebd. S. 60 und ebd. Anm. 5. 179 Vgl. dazu Rudolf Fietz: Medienphilosophie, Würzburg 1992, S. 95-101 und Dieter Mersch: Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 262-281. 180 Vgl. Johannes vD Imag III 24.

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Die Ikone und das Undarstellbare

μίμητική εἰκών Das in sich Zeigen ist für Johannes vD eine genuine εἰκών-Eigenschaft, womit alles Dingliche im Sinne der Schöpfungstheologie als Abbild (εἰκών) das göttliche Urprinzip in sich zeigt und, das ist das entscheidende Motiv, dieses offenbart. Allerdings unterscheidet Johannes vD die ins weltliche Sein gebrachten εἰκονες in ihrer Möglichkeit des Zeigens vom Sohn, als gezeugtes und somit natürliches Bild, und παράδειγμα (paradeigma): Zum einen gilt das ins weltliche Sein Gebrachte als von Gott Geschaffenes, d.h. als solches ist es ein Gesetztes und nicht Gezeugtes; zum anderen ist alles Geschaffene zeitlich und somit endlich. In seiner Bildklassifikation lässt Johannes vD auf den Sohn und παράδειγμα vier weitere Bildarten folgen:181 Dem Menschen als dritte Bildart folgen an vierter Stelle die sichtbaren Zeichen der unsichtbaren Dinge, zu denen die Heilige Schrift zu zählen ist. Jene vierte Bildart bezieht sich auf die Möglichkeit der bildhaften Aussage der Schrift, womit sie sich von der fünften Bildart unterscheidet, die im Sinne einer typologischen Exegese heilige Symbole als εἰκονες definiert. Eben jene Symbole verweisen als in der Zeit Geschaffene auf das Zukünftige: So deutet im AT die Bundeslade auf die Jungfrau Maria im NT hin. Als sechste Art benennt Johannes vD Artefakte, die der Mensch zur Erinnerung an Vergangenes anfertigt. Zu ihnen zählt Johannes vD neben dem Buch ganz explizit die Ikone – beide haben die Aufgabe an Vergangenes zu erinnern. Es verdeutlicht sich, dass Johannes’ Bildklassifikation von einem weiten Bildbegriff geprägt ist, denn εἰκών bezeichnet sowohl intelligible als auch materielle Bilder. Wird Johannes’ Liste der sechs Bildarten als eine hierarchische Ordnung verstanden, so nimmt der Mensch an dritter Stelle den obersten Rang der ins weltliche Sein gebrachten εἰκονες ein, woran sich die Vermutung anschließen lässt, dass der Mensch dem göttlichen Urbild näher steht als etwa die Heilige Schrift: »Die dritte Art eines Bildes ist diejenige, die von Gott der Nachahmung nach geworden ist, das ist der Mensch. Denn wie soll der Erschaffene von derselben Natur sein, wie der Unerschaffene, außer gemäß der Nachahmung? Denn wie der Intellekt – der Vater und der Verstand – der Sohn, und der Heilige Geist der eine Gott sind, so sind auch Intellekt und Verstand und Geist der eine Mensch, sowohl hinsichtlich der Selbstbestimmung wie auch der Herrschaft.«   »Τρίπτος τρόπος εἰκόνος ὁ κατά μίμησιν ὑπὸ θεοῦ γενόμενος, τουτέστιν ὁἄντθρωπος. Πῶς γὰρ ὁ κτιστὸς τῆς αὐτῆς φύσεως ἔσται τῷ ἀκτίστῳ ἀλλὰ κατὰ μίμησιν; »Ωσπερ γὰρ νοῦς (ὁ πατὴρ) καὶ λόγος (ὁ υἱὸς) καὶ πνεῦμα τὸ

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Vgl. Johannes vD Imag III 19-23.

2. Das Paradox der Ikone

ἅγιον εἷς θεός, οὕτω καὶ νοῦς καὶ λόγος καὶ πνεῦμα εἷς ἄνθρωπος, καὶ κατὰ τὸ αὐτεξούσιον καὶ τὸ ἀρχικόν.«182 Der Wortlaut dieser Definition sowie der im weiteren Verlauf folgende Bezug auf Gn 1,26 zeigt deutlich, dass Johannes vD der Imago-Dei-Lehre folgt.183 Der Mensch ist in der Lesart des Johannes vD nicht als eine εἰκών in Gott, sondern als eine von und nach Gott gesetzte imitative εἰκών zu verstehen. Auf den göttlichen Ursprung und dem Hervorgehen aus diesem definiert Johannes vD den Mensch daher nicht als φυσική εἰκών (physike eikōn), sondern als μίμητική εἰκών (mimētikē eikōn), was zunächst im Sinne eines Passiven als »nachgeahmtes Bild« übersetzt werden darf. Das Konzept des Johannes’ vD über die μίμητική εἰκών impliziert ein nicht von selbiger Natur sein, weshalb die παράδειγμα ebenso als nachahmende Bilder gelten dürfen. Während Gottvater und Sohn ὁμοούσιος sind, ist der Mensch Gott allein ὁμοίωσιν (homoiōsin), also ähnlich: Der Mensch ist somit nicht von derselben Natur (φυσις) wie Gott, jedoch steht der Mensch als Abbild in einer bestimmten Relation zu Gott als seinem Urbild, dem er nachgeahmt ist.184 In der von Johannes vD vollzogenen Differenzierung von φυσική εἰκών und μίμητική εἰκών sieht Olewiński eine Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Bildern. In diesem Zusammenhang widerlegt Olewiński die Ergebnisse Schönborns: Während Letzterer die Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Bildern erst für die zweite Phase des Byzantinischen Bilderstreits in den Schriften des Nikephoros von Konstantinopel und Theodor Studites festmachen möchte, beweisen Olewińskis Analysen, dass diese Differenzierung bereits mit Johannes vD φυσική εἰκών und μίμητική εἰκών aufgestellt wird.185 Tatsächlich betont bereits Gerhart Ladner in seinen modernen Untersuchungen, dass erstmals Johannes vD zwischen physischen/gezeugten (κατὰ φύσιν/γέννησιν) und gemachten/gesetzten (κατὰ τέχνην/θέσιν) εἰκονες unterscheidet.186 Mit Blick auf die Hauptschrift des Damaszener »Die Quelle der Erkenntnis« zeigt Ladner zudem, dass jene φύσις/θέσις- bzw. γέννησις/τέχνῆ- Unterscheidung aristotelisch

182 Johannes vD Imag III 20, 1-7. 183 Vgl. Johannes vD Imag III 20, 8-13. Siehe dazu Kap. 2.1.2.2 Der Mensch als Bild Gottes. 184 Vgl. Johannes vD Imag III 20, 9. An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Mensch in seinem geschöpflichen Sein, Johannes vD folgend, genauso φυσική εἰκών ist, denn ein jeder (menschliche) Sohn ist vom seinem (menschlichen) Vater gezeugt (siehe Johannes vD Imag III 18, 36-37). 185 Vgl. Olewiński: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 265f. sowie Schönborn: Christus-Ikone, a.a.O., S. 184. 186 Vgl. Ladner: »Der Bildbegriff bei den griechischen Vätern«, a.a.O., S. 175.

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geprägt ist: So unterscheidet Aristoteles im zweiten Buch seiner Physik zwischen natürlichem Entstehen und künstlicher Herstellung.187 Olewińskis Übersetzung von φυσική εἰκών als natürliches und von μίμητική εἰκών als künstliches Bild erscheint nun dahingehend unscharf, dass sich künstlich als Eigenschaftswort sowohl auf »von Gott gesetzte« und somit ontologisch bestimmte Bilder (z.B. παράδειγμα, der Mensch) genauso wie auf »von Menschenhand geschaffene Artefakte« (z.B. Ikone und Buch) bezieht. In diesem Fall ist es eindeutiger, von Gott gesetzte εἰκονες als mimetische Bilder zu bezeichnen. Daneben werden auch die »von Menschenhand geschaffenen« unter die mimetischen Bilder gezählt, jedoch muss ihnen das spezifische Adjektiv künstlich/artifiziell zugewiesen werden. Mit dieser sprachlichen Differenzierung wird die eigentliche Errungenschaft der Bildklassifikation des Damaszeners deutlich: Der Bilddefinition des Johannes vD folgend, vermag ein gesetztes Bild auf sein göttliches Urbild hinzuweisen und dieses zu offenbaren. Indem er in dieser Linie artifizielle Bilder mit aufführt, nimmt er sie in die schöpfungstheologische Lehre mit auf, denn konkret definiert sich die sechste Bildart wie folgt: Es sind von Menschenhand gemachte Bilder, die an Vergangene, von Gott gesetzte und gezeugte εἰκονες erinnern. Lesen wir die Bildklassifikation des Damaszeners zudem als ein hierarchisches Stufenmodell im Sinne der ps.-dionysischen Schöpfungslehre, so sind die artifiziellen Bilder als Abbilder ihrem göttlichen Urbild am unähnlichsten, weil sie sich auf der sechsten und damit letzten Stufe befinden. Weil ihnen aber innerhalb dieser Klassifikation eine Stufe zugewiesen wird, sind sie schöpfungstheologisch begründete Bilder. Mit dieser Klassifikation gelingt es Johannes vD, das ontologische Beziehungsgeflecht aufrechtzuerhalten, d.h. artifizielle Bilder sind keine willkürlichen, keine neu geschaffenen Bilder, sondern beruhen aufgrund der Urbild-AbbildRelation auf einem göttlichen Urbild. Das sich über diese Relation ergebende Ähnlichkeitsverhältnis gilt es im Folgenden sowohl allgemein als auch spezifisch für die artifizielle Ikone näher zu betrachten.

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Vgl. Ladner »Der Bildbegriff bei den griechischen Vätern«, a.a.O., S. 177f., sowie Aristoteles Physik 193a und 199a. Das von Johannes vD verfasst dreiteilige Werk »Die Quelle der Erkenntnis« umfasst seine Dialectica (Dialektik), seine Ekdosis akribes tes orthodoxu pisteos/Expositio fidei (Genaue Darlegung des rechten Glaubens) und Liber de haeresibus (Über die Irrlehren); siehe: Die Schriften des Johannes von Damaskos, hg. v. Byzantinischen Institut der Abtei Scheyern, besorgt von Bonifazius Kotter, Bd. 7 (1969), Bd. 12 (1973) und Bd. 22 (1981). Zur aristotelischen Prägung der Schriften des Johannes vD siehe auch G. Richter: Die Dialektik des Johannes von Damaskos: Eine Untersuchung des Textes nach seinen Quellen und seinen Bedeutungen, Ettal 1964 sowie Klaus Oehler: Antike Philosophie und byzantinisches Mittelalter, München 1969, S. 287299.

2. Das Paradox der Ikone

2.2.1.2 Die relationalen Regeln der εἰκών   περιγράϕειν Der Definition des Johannes vD folgend, besteht zwischen Abbild (εἰκών) und Urbild (πρωτοτυπον) eine Differenz. Diese wird als Ähnlichkeit definiert, die bei gleichzeitiger Unähnlichkeit eine partielle Identität meint.188 Ähnlichkeit äußert sich nun nicht allein oder ausschließlich in visuellen Eigenschaften, Ähnlichkeit kann sich auf Funktion und Relevanz beziehen.189 Abermals sei hier an Platon erinnert, der vor dem Hintergrund seiner μέθεξις-Konzeption die Relation zwischen Urbild und Abbild als qualitative wie quantitative Beziehung begreift.190 Es darf angenommen werden, dass Johannes vD für eine Abbildbeziehung Ähnlichkeit an visuellen Eigenschaften festmacht, die im Akt des Wahrnehmens unmittelbar zur Erkenntnis führen, sagt er doch: »Was für die Schriftkundigen das Buch ist, das ist für die Schriftlosen das Bild; und was für das Hören das Wort, ist für das Sehen das Bild.«191 Es scheint somit, dass für Johannes vD ein Bild gesehen und erkannt werden kann, ohne dass das Erlernen von Konventionen nötig sei. Entscheidend ist dabei, dass der Damaszener zwischen Bild und Urbild einen Unterschied annimmt, denn »… etwas anderes ist das Bild und etwas anderes das Abgebildete […] denn das eine ist nicht dieses und das andere nicht jenes«192 . Dies lässt sich auf der Ebene der φυσική εἰκών wie μίμητική εἰκών anwenden:193 Bild und Urbild weichen voneinander ab, so ist etwa Christus Sohn und nicht Vater, genauso ist eine Ikone Bild und nicht der Abgebildete selbst. Wie sich zeigt, begreifen die byzantinischen Ikonophilen die Ähnlichkeitsrelation innerhalb eines Abbildverhältnisses als asymmetrisch. Dies lässt sich in einem ersten Schritt in der Gegenüberstellung von Gott und Mensch aufzeigen. Zunächst sagt Johannes vD, dass die göttliche Natur unkörperlich, ungestaltet und unvergleichlich und somit auch unumschreibar ist – eine Aussage, die den Fakt der absoluten Unähnlichkeit Gottes zu allem Seienden in sich birgt.194 Dem folgend würde Johannes vD zwar sagen, dass der Mensch Gott ähnlich ist, denn er ist nach dessen Ebenbild geschaffen (imago dei). Ähnlichkeit ist in diesem Verhältnis jedoch nicht umkehrbar und somit asymmetrisch, denn Gott ist Allem unähnlich. Bereits

Vgl. Johannes vD Imag III 16. Vgl. Olewiński: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 535. Siehe Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. Johannes vD Imag I 17, 5-8. Johannes vD Imag III 16, 5-8. Zur Definition der natürlichen, nicht natürlichen und künstlichen εἰκών siehe Kap. 2.2.1.1 τί ἐστιν εἰκών; Was ist ein Bild? 194 Vgl. u.a. Johannes vD Imag I 15, II 5 und III 24.

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Plotin vertritt die Ansicht der absoluten Unähnlichkeit Gottes und der Ähnlichkeit der Geschöpfe zu ihm.195 Bezüglich der artifiziellen Bilder trifft Ps.-Dionysios die konkrete Aussage, dass ein Bild einem Menschen ähnlich ist, niemals jedoch behauptet werden kann, dass ein Mensch seinem eigenen Bild ähnelt.196 Damit unternehmen wir im folgenden Schritt die Gegenüberstellung von Urbild und artifiziellem Bild. Es verdeutlicht sich, dass Ps.-Dionysios die Ähnlichkeitsrelation zwischen artifiziellem Bild und dessen Urbild im Sinne einer partiellen Identität und als ein asymmetrisches Verhältnis auffasst. Obgleich sich bei Johannes vD eine so eindeutige Aussage nicht findet, steht doch folgende Darlegung in dieser Tradition: »Das Bild des Menschen, wenn es auch die Abprägung des Leibes (τὸν χαρακτῆρα τοῦ σώματος) ausdrückt […] lebt nicht, denkt nicht, redet nicht, empfindet nicht und bewegt nicht ein Glied.«197 Für den Damaszener ist eine Ikone somit εἰκών von etwas, dem sie ähnelt und von dem sie sich unterscheidet. Nun scheint sich Johannes vD mit seinem Wortlaut »τὸν χαρακτῆρα τοῦ σώματος«, der mit »Abprägung des Leibes« übersetzt wird, auf ein spezifisches Teilhabeverständnis zu beziehen, das sich im Sinne von prägen/abprägen als ein kausales Beziehungsverhältnis deuten lässt. Daran ließe sich die Frage anschließen, ob die Ikone Abdruck oder Spur ist. Hierzu sei in aller Kürze Antwort gegeben: Die Ikone ist kein Abdruck in dem Sinne, dass sich darin ein Gesicht mechanisch abdrückt und so eine Körperspur (Teilchen, Schweiß) hinterlassen wird, wie dies bei einem Grabtuch der Fall ist. Als Spur kann die Ikone jedoch dahingehend gelten, dass sie an ein spezifisch Vergangenes und damit sichtbar Gewesenes erinnert – an etwas also, das in der Zeit umschrieben gewesen ist. Der Begriff, der dieses umschrieben-Sein benennt, ist περιγράϕειν (perigraphein). Wie dargelegt, findet der Begriff χαρακτήρ (charaktēr) bereits in der Trinitätstheologie des Basilius von Cäsarea Verwendung, wobei der Kappadokier damit das spezifische Sein einer Person bzw. konkret die eine Person ausmachenden Charakteristika meint. Χαρακτήρ umfasst die einem Abbild eigenen Spezifika, die des-

195 Vgl. Plotin Enneaden V 6. 196 Vgl. Ps.-Dionysios DN IX 6. Ps.-Dionysios folgt Plotins Verständnis von Ähnlichkeit genauso dahingehend, dass er das Ähnlichkeitsverhältnis bei gleichrangigen Dingen als symmetrisch begreift: Etwa die Konstruktionen zweier Kreise sind einander umkehrbar ähnlich, da sie an der Idee bzw. dem Denken und Sein vorausgehenden παράδειγμα bzw. προόρισμοι Kreis teilhaben. Wie bereits erläutert: Der Mensch ist, Ps.-Dionysios folgend, seinem göttlichen Urbild partiell identisch, da sich Ähnlichkeit, welcher Art auch immer sie ist, durch das Moment des Hervorgehens (πρόοδος) und der damit einhergehenden Teilhabe (μέθεξις) bestimmt. Zur unähnlichen Ähnlichkeit (ἀνόμοια ὁμοια) siehe Ps.-Dionysios DN 6 und 7 sowie CH II 4 [144 A]. Zu πρόοδος und μέθεξις bei Ps.-Dionysios siehe Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie und Janine Luge-Winter: »Das Erhabene erscheint«, a.a.O., S. 133-172. 197 Johannes vD Imag III 16, 8-12.

2. Das Paradox der Ikone

sen individuelle Einzelexistenz bestimmen, wie etwa der Name eines Menschen. Für Basilius unterscheidet sich ein Abbild (εἰκών) in seinem spezifischen Sein von seinem Urbild. Während der Kappadokier eine sich darüber ergebende Differenz zwischen Urbild und Abbild auf einer ontologischen Ebene denkt, gelingt es den byzantinischen Ikonophilen dies auf die Ebene artifizieller Bilder zu übersetzen. Konkret kann χαρακτῆριζείν (charakterizein) bezogen auf ein materiell Gegebenes im Sinne eines Gepräges das Wiedergeben einer spezifischen Ähnlichkeit meinen.198 In Anlehnung daran spricht Johannes vD im Falle der Ikone von der Prägung des Fleisches (χαρακτήρ σώματος) die mit Farbe auf die Tafeln übertragen wird.199 Jenes Übertragen versteht der Damaszener als eine von einem Maler angefertigte Zeichnung (γραφῆς|graphēs) und das, was dieser als Handwerker in Farbe darstellt, ist die sichtbare Abprägung des in der Zeit Umschriebenen (περιγράφειν).200 Für Theodor Studites geht das Umschriebensein mit der darstellerischen Möglichkeit einher, denn in der individuellen Sichtbarkeit begründet sich das Abbild, das der Prototyp in sich trägt. Der Studite vergleicht dies mit dem Schatten eines Gegenstandes, der von diesem untrennbar ist, und genauso ist das Bild untrennbar in und durch den Prototyp begründet.201 So erfüllt sich letztlich in der Möglichkeit des Abbildes der dem Prototyp (πρωτότυπον) zugrunde liegende Sinn, nämlich erstes und ursprüngliches Gepräge zu sein – das Urbild dessen, was Abbild (εἰκών) ist: »Οὐ γὰρ ἃν εἴη πρωτότυπον εἰκόνος οὐκ οὔσης·«202 D.h.: Gibt es kein Bild (Ikone), bedarf es keines Prototypen, was wiederum dem Sohn als dem inkarnierten Bild Gottes widerspäche. Der Studite propagiert hierin ein Wechselverhältnis zwischen Prototyp und Bild und das dahingehend, dass sich das eine aufheben würde, wenn es das andere nicht gäbe.203 Mit ihrer Urbild-Abbild-Relation halten die Ikonophilen einen kausalen Effekt zwischen Urbild und Bild aufrecht, was in den Termini χαρακτῆριζείν und περιγράφειν einen Ausdruck findet. Ein sich darüber ergebendes Teilhabeverhältnis lässt sich am Siegelbeispiel verdeutlichen, dessen sich der Studite bedient. Dabei wird zunächst deutlich, dass Theodor Studites die Möglichkeit des Einschreibens einer Ähnlichkeit ins Bild ähnlich beschreibt wie Ps.-Dionysios Areopagites. Der Areopagite trifft die Aussage, dass das Siegel das Original (ἀρχετύπον) ist, an dem alle Abdrücke (ἐκτυπώματα|ektypomata) Anteil (μέρος|meros) haben: Dem Vgl. Schönborm: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 33. Vgl. Johannes vD Imag I 8 (= III 8). Siehe Johannes vD Imag I 8, 73-74. Siehe Theodor Studites Antirrheticus III 210E [PG 99]. Vgl. ders.: Antirrheticus III 108DE und 164C-165D [PG 99]. 202 Theodor Studites Antirrheticus III 429C [PG 99] und vgl. Günter Lange: Bild und Wort, 2., um ein Nachw. erw. Aufl., Paderborn 1999 (Orig. 1966/67), S. 222. 203 Darauf weist bereits Schwarzlose hin, vgl. ders: Der Bilderstreit: Ein Kampf der griechischen Kirche um ihre Eigenart und um ihre Freiheit, Gotha 1890, S. 181.

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Siegel liegt als Urbild sein Sinn unwandelbar204 zugrunde, dem seine »Abkömmlinge« ganz und gar teilhaftig werden, weil die Siegelbilder durch das Siegel selbst bewirkt sind.205 Dass Teilhabe in diesem Fall nicht als ein »Haben von Teilen« zu begreifen ist, sondern konkret als Sinnteilhabe, ist bereits ausführlich dargelegt worden. Der Studite folgt Ps.-Dionysios dahingehend, dass das Siegelbild noch vor jedem mechanischen Abdruck im Siegel bereits enthalten ist. Genauso geht er davon aus, dass der Sinn eines jeden Siegels, d.h. dessen Wirkkraft, sich allein im Einschreiben in eine andere Materie erfüllt. Gleiches macht er für die Ikone geltend, denn indem die Ikone ihr Urbild abprägt, schreibt sich dessen Form in der Sichtbarkeit ein, ist der Sinn des Urbildes der Ikone immanent.206 Die Ikone ist ihrem Urbild somit sinnteilhaftig verbunden.207 In diesem Zusammenhang trifft Marie José Mondzain in ihrer modernen Ikonentheorie eine ganz entscheidende Aussage: »Das eidos ist der Modus, in dem der Prototyp sich in der Ikone sehen lässt. Dies ist Immanenz des Sinns und nicht des Wesens.«208 In Anlehnung daran ist der entscheidende Unterschied zwischen Bild und Urbild zu erwähnen, den Theodor Studites und Nikephoros von Konstantinopel als Differenz der Substanz bestimmen, was es im nächsten Abschnitt näher zu erläutern gilt. προς τι Nikephoros von Konstantinopel und Theodor Studites folgen wie Johannes vD einer Urbild-Abbild-Relation. Im Hinblick auf ein sich in dieser Relation ermöglichendes Ähnlichkeitsverhältnis referiert Nikephoros fast wörtlich Ps.-Dionysios in dem Sinne, dass ein Bild dem Menschen ähnelt, nicht jedoch umgekehrt der Mensch seinem Bild.209 Somit denkt auch Nikephoros Ähnlichkeit innerhalb eines Abbildverhältnisses als asymmetrisch. Paraphrasiert findet sich bei Nikephoros zudem die Aussage des Johannes’ vD Imag III 16, 8-12, denn er beschreibt das artifizielle Bild als unbelebt, unbeweglich und ohne jegliche Vernunft.210 Nikephoros spricht nun daran anschließend und mit Bezug auf das Abbildverhältnis ganz eindeutig von einem Substanzunterschied: Ist also einmal durch Vernunft und Definition der Unterscheid zwischen ihnen [dem Modell und dem Abgebildeten] erkannt, und ist erkannt das die Einschrei-

204 Hier in Bezug auf μονή. Zur Erklärung siehe ausführlich Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. 205 Vgl. Ps.-Dionysios DN II 5, 6 [644 A – 644 C]. 206 Vgl. Theodor Studites Antirrheticus III 432D [PG 99]. Der Begriff des Siegels (σφραγὶς) in Bezug auf die Ikone findet sich bei Nikephoros Antirrheticus III 432A [PG 100]. 207 Vgl. Mondzain: Bild, Ikone Ökonomie, a.a.O., S. 123. 208 Ebd. S. 123. 209 Vgl. Nikephoros Antirrheticus I 229A [PG 100]. 210 Vgl. Nikephoros Antirrheticus I 280C [PG 100].

2. Das Paradox der Ikone

bung (γραφῆ) die äußere Form zeigt und an der Definition des Wesens nicht im Geringsten teilhat …211 Zunächst verdeutlicht sich hier, dass Nikephoros konkret von einem Wesensunterschied zwischen Bild und Urbild ausgeht und von einer Ähnlichkeit der äußeren Form. Gerade im Hinblick auf den Wesensunterschied ist die Forschung oft davon ausgegangen, dass Johannes vD von einer Wesensrelation zwischen Bild und Urbild ausgeht. Gemeinsam ist den byzantinischen Ikonophilen, dass sie Bild und Urbild als in Bezug Stehende begreifen. Nun verdeutlicht sich in einem Zusammenlesen der byzantinischen Ikonentheorien, dass deren Bildtheologie und -definition eine Synthese der platonischen Ontologie und der aristotelischen Logik ist. Bei Platon richtet sich die Frage vom Sein an das Seiende, wie also die höherrangige Einheit in die (niedere) Vielheit tritt. Darauf beruht die Urbild-Abbild-Relation und die daran angelehnte Bildklassifikation (φυσική εἰκών, μίμητική εἰκών und παράδειγμα) des Johannes vD. Aristoteles widmet sich vornehmlich der menschlichen Erkenntnisund Handlungsmöglichkeit, die (logische, begriffliche) Rückschlüsse vom Seienden auf das Sein zulassen. Darin begründet sich letztlich die klassische Metaphysik. Gerade Aristoteles’ Kategorienlehre reflektiert sich in den byzantinischen Ikonentheorien des Nikephoros und Theodor Studites. Doch auch Johannes vD steht der aristotelischen Philosophie nahe, was ein Blick auf seine philosophischen Kapitel verdeutlicht. Jene zählen zur Dialectica des Damaszeners, die u.a. eine Erläuterung der aristotelischen Kategorien beinhaltet. Die Forschung zeigt, dass die Dialektica des Johannes vD in ihrer Abfassung durchaus auf zur Verfügung stehende AristotelesKommentare zugreift und sich der Damaszener an aristotelische Begrifflichkeiten anlehnt.212 Es ist genauso richtig, dass sich Johannes vD im Falle der Bilderreden nicht den durch Aristoteles entscheidend geprägten logischen Begrifflichkeiten (etwa dem προς τι) bedient, sondern darin der platonischen (ontologischen) UrbildAbbild-Relation verbunden ist. Zwar geht Johannes vD von einem Unterschied von Bild und Urbild aus, »denn etwas anderes ist das Bild und etwas anderes das Abgebildete – und gewiß wird in ihnen ein Unterschied gesehen, denn das eine ist nicht dieses und das andere nicht jenes«. Jedoch erwähnt er an keiner Stelle seiner Ikonentheorie ganz konkret den Substanzunterschied von Bild und Urbild. Jene konkrete Differenz bestimmen erst die Ikonophilen der zweiten Phase des byzantinischen Bilderstreits. 211 212

Nikephoros Antirrheticus I 280C [PG 100] (die dt. Übersetzung folgt hier Heinz Jatho, in Mondzain: Bild, Ikone Ökonomie, a.a.O., S. 259f). Vgl. dazu vor allem Gerhard Richter: Die Dialektik des Johannes von Damaskos: Eine Untersuchung des Textes nach seinen Quellen und seiner Bedeutung, Ettal 1964 und für einen möglichen Vergleich siehe Joseph Langen: Johannes von Damaskus: Eine patristische Monographie, Gotha 1897 sowie Jakob Bilz: Die Trinitätslehre des hl. Johannes von Damaskus, Paderborn 1909.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Den Bezug zwischen Urbild und dem, was in der Ikone als diesem Ähnliches erscheint, begreifen Theodor Studites und Nikephoros, wie bereits erwähnt, im aristotelischen Sinne des προς τι (pros ti), d.h. als kategoriale Relation. Hier findet sich bei Nikephoros die eindeutige Aussage, »… dass die Ikone mit dem Archetyp in Relation/Verhältnis (σχέσις|schesis) steht und dass sie die Wirkung einer Ursache ist. Aus diesem Grund muss die Ikone unter den Relativa (προς τι) existieren und muss so genannt werden«213 . Mit jenem προς τι folgt Nikephoros aristotelischem Gedankengut, konkret dem siebten Kapitel der aristotelischen Kategorien. Aristoteles versucht das Beschreiben des Seienden in Anlehnung an Kategorien, welche in Substanz (οὐσία|ousia) und Akzidenzien (συμβεβηκος|symbebekos) gegliedert sind: Erstere ist das Seiende, das nicht Bezugnehmende, das Zugrundeliegende und Ursprüngliche.214 Dagegen sind die Akzidenzien nichts Seiendes, sondern das sich Verändernde und Zufällige, das zu einer Substanz Gehörende. Die Akzidenzien erlauben eine Aussage über das Seiende, etwa über Qualität und Quantität, Zeit- und Ortsbestimmung, Lage und Besitz, Tätigkeit und Leiden sowie eben auch über die eine Substanz bestimmenden Relationen (προς τι). Mit Blick auf die Ikonentheorien ist entscheidend, wie Aristoteles das im relativen Sinne Seiende (Relativa) begreift. Die Relativa definiert Aristoteles zunächst wie folgt: »Relativa werden solche Dinge genannt, von denen gesagt wird, daß sie das, was sie genau sind, bezüglich anderer Dinge oder in irgendeinem sonstigen Verhältnis zu anderem sind.«215 Jene Definition präzisiert er in Bezug auf die Substanz (οὐσία) dahingehend, dass diese nicht die Relativa anzeigt, sondern allein deren Träger ist. Somit ist laut Aristoteles das Wesen einer Sache kein Relativum. Daher sind Sklave und Herr nicht in Bezug auf ihre Substanz (Mensch sein) Relativa, sondern indem sie sich wechselseitig bedingen, denn der Sklave ist Sklave eines Herrn und umgekehrt.216 Aristoteles insistiert jedoch, dass es Relativa gibt, die sich nicht wechselNikephoros Antirrheticus I 277C [PG100] (die dt. Übersetzung folgt hier Heinz Jatho, in Mondzain: Bild, Ikone Ökonomie, a.a.O., S. 255-267). 214 Der Fakt, dass Aristoteles οὐσία innerhalb seiner Kategorienlehre anders bestimmt als in seiner Metaphysik, lässt die Forschung eine anhaltende Debatte führen, worauf hier nicht eingegangen werden soll. Siehe dazu u.a. Christof Rapp: Aristoteles zur Einführung, 3. überarb. Aufl., Hamburg 2007, S. 147-172 und ausführlich Dirk Fonfara: Die Ousia-Lehren des Aristoteles: Untersuchungen zur Kategorienschrift und zur Metaphysik, Berlin 2003. 215 Aristoteles Categoriae 7. 6a 36-37: »Πρός τι δέ τά τοιαῦτα λέγεται ὅσα αὐτά ἅπερ ἐστὶν ἑτέρων εἶναι λέγεται ἢ ὁπωσοῦν ἄλλως πρός ἕτερον.« Siehe zu προς τι in aller Kürze Ludger Jansen: »pros ti«, in Otfried Höffe: Aristoteles-Lexikon«, Stuttgart 2005, S. 499-502 und ausführlich Klaus Oehlers Kommentar zu Aristoteles: Kategorien, übersetzt und kommentiert von K. Oehler, Berlin 1984, S. 239-256. 216 Vgl. Aristoteles Categoriae 7. 8a 20: »Wenn sie aber nicht Relativa sind, dürfte es wahr sein zu sagen, daß keine Substanz ein Relativum ist.« und vgl. weiter Categoriae 7. 7a 22-7b 7 sowie dazu den Kommentar von Oehler zu Aristoteles: Kategorien, a.a.O., S. 244. 213

2. Das Paradox der Ikone

seitig bedingen, sondern sich als Korrelate auf ein notwendig Vorgängiges beziehen können, so wie etwa das Wahrnehmbare früher zu sein scheint als die Wahrnehmung.217 Zu den Relativa zählt Aristoteles das Ähnliche, das er im fünften Buch (Δ) seiner Metaphysik als ein Verhältnis und eine Bestimmtheit in Bezug auf etwas deutet: »Selbig nämlich ist, was eine Wesenheit, ähnlich, was eine Qualität, gleich, was eine Quantität hat.«218 Und »ferner heißt alles das relativ, durch dessen Besitz etwas relativ ist; z.B. die Gleichheit ist etwas Relatives, weil das Gleiche relativ ist, und die Ähnlichkeit, weil das Ähnliche.«219 Ähnlichkeit (ὅμοιον|homoion) als Relativum ist demnach geknüpft an ein Korrelat und bestimmt einen qualitativen Bezug auf dieses. William David Ross zeigt in seinem Aristoteles-Kommentar, dass dessen ὅμοιον-Begriff sowohl identifizierbare, bleibende und wesentliche Bestimmtheiten als auch akzidentielle Ordnungen umfassen kann.220 So sind etwa zwei Kreise einander ähnlich, wenn diesen dieselbe metaphysische Form (εἶδος|eidos) zugrunde liegt. Genauso können Relata sich in ihrer äußerlichen Form ähneln, also im Hinblick auf die ihnen im Materiellen (ὕλη|hylē) zukommenden Zufälligkeiten. Dabei darf Form im Sinne von Morphē (μορφή) als ein auf dem Eidos (εἶδος) beruhendes und somit ontologisch bestimmtes Formprinzip begriffen werden. Ein Werden erlangt die Form (μορφή) allein in der Materie (ὕλη), die Aristoteles als das Unbestimmte definiert. Materie ist, im ontologischen Status, Ursache des Zufalls und notwendige Bedingung für die Form (μορφή): In der Materie (ὕλη) vollzieht sich der Übergang hin zum Entstehen (und genauso Vergehen), worin sich der ontologische Zusammenhang bestimmt.221 Als identisch gelten die Relativa also aufgrund einer gewissen Einheit ihres Seins, womit das aristotelische προς τι nicht allein an logische Motivationen geknüpft ist, sondern in ein ontologisches Gefüge integriert wird. Gerade dieser Fakt ist der Kritikpunkt, welcher innerhalb der modernen Relationenlogik gegenüber Aristoteles’ relationalen Regeln aufgeführt wird. So ist es im modernen Kontext

Vgl. Aristoteles Categoriae 7, 7b 15-35: »… daß jemand, der irgendein Relativum bestimmt kennt, notwendigerweise auch jenes bestimmt kennen muß, in bezug worauf es gesagt wird.« 218 Aristoteles Metaphysik V 15, 1021a: »ταὐτα μὲν γὰρ ὧν μία ἡ οὐσία, ὅμοια δ̓ ὧν ἡ ποιότης μία, ἴσα δὲ ὧν τὸ ποσὸν ἕν « 219 Aristoteles Metaphysik V 15, 1021b: »ἔτι καθ᾽ ὅσα τα ἔχοντα λέγεται πρός τι, οἷον ἰσότης ὅτι τὸ ἴσον καὶ ὁμοιότης ὅτι τὸ ὅμοιον«« 220 Vgl. William David Ross: Aritoteles Metaphysics: A revised Text with Intriduction and Commentary, Vol. I, reprint., Oxford 1997, S. 327-331. 221 Vgl. Aristoteles u.a. Metaphysik III 5, 1002a; V 2; VII 17, 1041b sowie entsprechende Stellen in VIII. Für weiterführende Studien zum aristotelischen und universellen Hylemorphismus (bei Roger Bacon u. Bonaventura) siehe mit entsprechenden Literaturverweisen Ludger OeingHanhoff: »Hylemorphismus«, in: HWP, Bd. 3 (1974), S. 1236-1237. 217

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das Anliegen, Aussagen über logische Strukturen von Relata zu formulieren und nicht, wie Aristoteles dies tut, eine Relationalität des Seienden aufzuzeigen.222 Doch in Bezug auf die byzantinischen Ikonentheorien ist nun gerade die Aufrechterhaltung ontologischer Strukturen ein entscheidendes Kriterium für die Wesensbestimmung der Ikone. In Anlehnung an die Lehren des Aristoteles überträgt Nikephoros dessen relationale Ähnlichkeitsregel auf das Verhältnis von Bild und Urbild. So begreift Nikephoros die genuine Bildeigenschaft der Ähnlichkeit (ὅμοιοσις) als ein Relativum, dessen Korrelat der vorgängige Archetyp (ἀρχέτυπόν) ist: In diesem Sinne ist etwa eine artifizielle Ikone in Bezug auf den Heiligen, den sie abbildet.223 Eine jede Ikone ist im Sinne des Wirk-Ursache-Prinzips auf den Archetyp hin ausgerichtet, weshalb Nikephoros die Ikone unter die Relativa zählt, denn in ihr ist die wahrnehmbare Form des Archetypos, d.h. dessen leibliche Umschriebenheit (περιγράϕειν) graphisch (γράϕειν) eingeschrieben.224 Um diese Analyse zu stützen, sei Nikephoros ausführlich zitiert: In der Angelegenheit, die wir behandeln wollen, [ist] klar, dass der Archetyp (ἀρχέτυπόν) das Prinzip (ἀρχὴ) und das Vorherbestimmte (παράδειγμα) ist, das unter der sichtbaren Form (χαρακτηριζομένου εἴδους), die man nach ihm macht, fortbesteht, und dass er die Ursache ist, von der sich die Übereinstimmung ableitet. Dies ist die Definition der Ikone […]: Die Ikone ist eine Replik des Archetyps, in ihr findet sich dank der Übereinstimmung die Totalität der sichtbaren Form dessen, wovon sie Abdruck ist, abgedrückt, wobei sie sich vom Model nur durch die materiebedingte Wesensdifferenz unterscheidet.225

222 Moderne Kommentare betonen, dass Aristoteles’ Schriften zwar dessen Bewusstsein für die Problematik der Relativa verdeutlichen. Die moderne Relationenlogik, welche u.a. durch die Arbeiten von Gottlob Frege (*1848, †1925) und Charles Sanders Peirce (*1839, †1914) geprägt ist, versucht Aussagen über Prädikate unabhängig von ontologischen Bedingungen im Hinblick auf Aspekte wie Symmetrie, Transitivität und Reflexivität zu formulieren. Siehe dazu entsprechende Stellen in Klaus Oehlers Erläuterungen zu Aristoteles’ Kategorienlehre, a.a.O., S. 239-256 sowie ders.: »Die Anfänger der Relationenlogik und der Zeichenschluß bei Aristoteles«, in ders. (Hg.): Die Aktualität der altgriechischen Semiotik, Wiesbaden 1982, S. 259-266 und in Bezug auf die moderne Relationenlogik u.a. und abermals ders.: »Peirce contra Aristoteles. Two Forms of the Theorie of Categories«, in K. L. Ketner/J. M. Ransdell/C. Eisele/M. H. Fisch/Ch. S. Hardwick (Hg.): Proceedings of the C. S. Peirce Bicentennial Internetional Congress, Texas 1981, S. 335-342. Zur Problematik eines relationalen Bildbegriffes bietet Lambert Wiesing einen Forschungsüberblick und eine eingehende Analyse in ders.: Die Sichtbarkeit des Bildes: Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Hamburg 1997, S. 95141. 223 Siehe Nikephoros Antirrheticus I 277C [PG 100]. 224 Ähnlich argumentiert Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 105. 225 Nikephoros Antirrheticus I 277A [PG 100].

2. Das Paradox der Ikone

Die sichtbare Form im Sinne von χαρακτηριζομένου εἴδους ist ein vorherbestimmtes Sein (εἶδος) in seinen sichtbaren Spezifika (χαρακτηρ). Der platonische Gedankengang ist der, dass eine εἰκών, um wirklich Bild sein zu können, der eigentlich wirklichen Idee (εἶδος) folgt: So wie einem Bild (εἰκών) eine Idee (εἶδος) wesentlich ist, so ist die Form (εἶδος) eines Stuhls einem jeden Stuhl und genauso einem jeden Bild von einem Stuhl immanent.226 Diese Immanenz zeichnet sich bei Platon ab und verdeutlicht sich bei Aristoteles in dessen Konzeption von ὕλη als unbestimmtes und sozusagen rezeptives Prinzip und εἶδος als das Einzelding Bestimmende.227 Der Unterschied zwischen Urbild und Ikone betrifft nun, Nikephoros folgend, die Differenz des Wesens, was sich in der Materie (ὕλη) begründet: Die Ikone zeigt den Dargestellten allein in dessen sichtbarer Form, d.h. in seinem charakteristischen so umschrieben Sein. Ähnlichkeit, begriffen als eine qualitative Kategorie228 , bezieht sich auf äußerliche Eigenschaften, die, um konkret zu werden, ein Seiendes in Form und Materie als so Seiendes spezifizieren (χαρακτηριζομένου). Übertragen auf die Ikone sagt Nikephoros: »Indem die Ikone durch Ähnlichkeit und Erinnerung an die Form (μορφῆς) das Abwesende sichtbar macht, also ob es sichtbar wäre, unterhält sie mit ihrem Modell eine in der Dauer ununterbrochene Relation (σχρέσιν).«229 Durch die Relation zum Urbild bestimmt sich der ontologische Wirklichkeitsgehalt der Ikone. Diese Relation, bestimmt als σχέσις (schesis), darf als ein Verhältnis begriffen werden, das eine intentionale Beziehung begründet: Im Wortstamm abgeleitet von ἔχειν (echein|haben), meint σχέσις hier das, was etwas von außen her als Gestalt und Beschaffenheit (von einem Anderen her) haben kann.230 Dies impliziert konkret ein in Bezug stehen des Abbildes zum Urbild, jedoch unabhängig von der Existenz des letzteren: Wie ein Sohn Sohn bleibt, auch wenn der Vater nicht mehr existiert, ist die Ikone Bild eines Heiligen, der nicht mehr ist.231

226 Vgl. Platon Politeia 598 c-e, 601 c – 602 b. Hier nähert sich die Argumentation Wittgensteins Tractatus, der dem Bild und Abgebildeten etwas Identisches abverlangt, damit das Eine Bild des Anderen sein kann. Auch für Wittgenstein begründet sich dies in der logischen Form, die einem Bild und Abbild immanent ist. Siehe ders. Tractatus 2.16 -2.18. 227 Vgl. Aristoteles u.a. Physik II 1, 193b. 228 Vgl. Nikephoros Antirrheticus I 280D [PG 100]. 229 Nikephoros Antirrheticus I 280A [PG 100]. 230 Σχέσις findet sich mit Bezug auf φυσική bereits in Johannes vD Dialectica anstelle des προς τι. Siehe Johannes vD Dialectica (λδ´) να´ Περὶ τῶν πρός τι, in: Die Schriften des Johannes von Damaskus, besorgt von Bonifatius Kotter, hg. vom Byzantinischen Institut der Abtei Scheyern, Bd. I (1969), S. 117. 231 Vgl. Nikephoros Antirrheticus I 280A [PG 100]. Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 259 sowie Emmanuel Alloa: »Bildwissenschaft in Byzanz. Ein iconic turn avant la lettre?«, in: Studia Philosophica, Vol. 69 (2010), S. 31.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Da nun Ähnlichkeit bei Aristoteles als Relativum zum Bereich der Akzidenzien gezählt wird, darf sie als die einem Wesen (εἶδος) in Form (μορφή) und Materie (ὑλή) hinzukommende Zufälligkeit bestimmt werden. Deutlicher als Nikephoros bezieht Theodor Studites den Aspekt der formalen Ähnlichkeit im Hinblick auf die Heiligenbilder auf die spezifische (χαρακτῆριζείν) Ähnlichkeit der dargestellten Person (πρόσωπον). Ähnlichkeit begriffen als semantische Aussageform meint das spezifische Menschensein als diese Person, was Theodor Studites, wie sein Zeitgenosse Nikephoros, mit χαρακτήρ/χαρακτῆριζείν begrifflich fixiert. Genauso bezieht der Studite jene Begrifflichkeit auf Sichtbarkeit im Sinne der Umschriebenheit (περιγράφεη): »Wenn ich ›Mensch‹ sage, so bezeichne ich die gemeinsame Wesenheit. Wenn ich ›dieser‹ hinzufüge, bezeichne ich die Person, d.h. die eigenständige Existenz des Genannten und sozusagen seine ›Umschriebenheit‹, die sich aus bestimmten Eigenschaften bildet, durch die er sich von den anderen Individuen derselben Natur unterscheidet.«232 Im aristotelischen Sinn ist das Menschsein als Natur der Sache hier das Allgemeine, das allein als abstrakter Begriff im wirklich Existenten Bestand hat und der individuellen Person (etwa Herr und Sklave) als notwendige Definition (Mensch) zukommt.233 Unter die eine Person charakterisierenden Spezifika, die sie in ihrem so umschrieben Sein vom allgemeinen Menschsein unterscheidet, zählt der Studite mit Blick auf sein Anliegen zur Ikone Äußerlichkeiten wie die Form der Nase, die Augen oder die Haare: Eben jene Eigenschaften sind es nun, die in der Ikone gemalt werden und die es ermöglichen, den Dargestellten aufgrund der äußeren Physiognomie als den Gottessohn oder den Heiligen (z.B. Petrus) zu erkennen.234 Somit lassen sich über die individuellen und realistischen Eigenschaften nicht nur sprachliche Aussagen (z.B. lockige Haare) formulieren, sie können als visuelle Ähnlichkeiten genauso in einem gemalten Bild ausgedrückt werden. Die Ähnlichkeit des Bildes ergibt sich, der Theorie des Studiten folgend, indem die physiognomischen Merkmale des Abgebildeten auf den materiellen Stoff übertragen werden (krumme Nase, lockige Haare). Doch wohin haben uns die Analysen bis hierhin gebracht? Was ermöglicht sich letztlich im Modus der relationalen Regeln der εἰκών?

232 Theodor Studites Antirrheticus III 397B [PG 99] in der Übersetzung von Schönborn: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 211. 233 Für ein besseres Verständnis darf hier ganz allgemein erwähnt werden, dass Aristoteles nicht von abstrakten Entitäten (Platon) ausgeht, sondern vom existierenden Ding (Substanz) als wirklich Seiendes. Vgl. Schönborn: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 211. 234 Vgl. Theodor Studites Antirrheticus III 405 AB [PG 99].

2. Das Paradox der Ikone

Es ist deutlich gemacht worden, dass die byzantinischen Ikonophilen zwischen Bild und Urbild einen Unterschied annehmen, d.h. sie sind einander ähnlich bei gleichzeitiger Unähnlichkeit. Differenz zwischen Bild und Urbild wird in den Ikonentheorien des Nikephoros und des Studiten konkret als ein Unterschied der Substanz bestimmt, d.h. sie unterscheiden sich etwa in ihrer Materialität. In diesem Sinne meint Theodor Studites, die Ikone sei nicht Leib, sondern ein aus Holz und Farbe Gegebenes.235 Die Ikonophilen scheinen damit dem ambitionierten Bildbegriff der ikonoklastischen Partei zu begegnen, die davon ausgeht, dass ein Bild erst dann wahres Abbild ist, wenn es mit seinem Urbild identisch ist. Im Hinblick auf die Urbild-Abbild-Relation gehen die Ikonophilen von einer partiellen Identität aus, wobei eine bloß formale Ähnlichkeit der Wahrheit der Ikone nicht abträglich wird, wenn die Ikone in ihrer Artifizialität als ein ontologisch motiviertes Relativum verstanden werden darf. Der Sinn der Ähnlichkeitsrelation begründet sich für die Ikone letztlich im Bezug zum Urbild: Die Ikone zeigt die spezifische Person, der sie ähnlich gemacht ist, und über diese Ähnlichkeit scheint dem Betrachter der Bezug zum Urbild zu gelingen. »Ähnlich machen« ist für die Ikononophilen im Falle der Ikone eine mit Farben ausgemalte Spur (Schatten/Abdruck), die ein Abwesendes vergegenwärtigt, worin sich letztendlich ihr Zweck begründet: Sieerinnert an Vergangenes. Indem eine Ikone auf ihr Urbild zu verweisen vermag, weil sie diesem partiell identisch ist, haftet ihrer Sichtbarkeit ein nicht sichtbares Mehr an, das als Überschuss des Bildes bestimmt werden kann. Es gelingt der Ikone über ihre Bildlichkeit und damit über ihre Sichtbarkeit hinauszuweisen: Sie ist mehr, als sie offensichtlich zeigt, was ein Metaphysisches impliziert. Somit ist die Ikone nicht ein Ausstellen des Materiellen. Entscheidend ist das, was sichtbar gemacht wird.

2.2.2 2.2.2.1

Die Offenbarung der Ikone Sichtbarkeit

  Ikone als bezeugte εἰκών Kreisten die bisherigen Ausführungen um die der εἰκών im Allgemeinen zugewiesenen Eigenschaften, gilt es nun, die Ikone im Spezifischen näher zu betrachten. Dabei wird sie sowohl als materiell Gegebenes verstanden und ebenso als Bild, das etwas erscheinen lässt. In Anlehnung an die bisherigen Analysen bestimmt sich die Ikone als Abbild einer (in der Zeit) umschriebenen εἰκών oder, um es mit den Worten des Nikephoros zu formulieren: »Die Ikone ist eine Ähnliche, ein Abbild

235 Vgl. Johannes vD Imag III 16 und Theodor Studites Antirrheticus I 341BC [PG 99].

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von Seienden, die ihre eigene Existenz haben.«236 Ziel ist es, eine explizite Definition für Ikone zu formulieren, wobei sich in einem ersten Schritt der Thematik ihrer Materialität genähert wird. In Imag I 16 verdeutlicht Johannes vD, dass nicht nur der Mensch und der Sohn aufgrund ihres Hervorgehens aus Gott zu achten sind, sondern jede Materie: »Mache die Materie nicht schlecht, denn sie ist nicht ehrlos! Denn nichts ist ehrlos, was von Gott her geworden ist.«237 Jene Aussage darf zunächst im allgemeinen schöpfungstheologischen Sinn verstanden werden: Wer die Materie nicht achtet, missachtet Gott, ihren Schöpfer. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass Johannes vD von einer Immanenz Gottes ausgeht, die als Teilhabe an der Wirklichkeit verstanden werden darf. Jene Lehre ist im Sinne der Patristik, der Johannes vD stets folgt. So zeichnet sich das eingangs erwähnte und anhand der Schriften des Ps.Dionysios Areopagites dargelegte theologische Moment ebenso in den Lehren des Damaszeners ab, der dieses nicht allein für das Kreatürliche, sondern für jedwede Materie bestimmt, denn alles (Gute) ist durch Gott. Dass Johannes vD die Aufwertung der Materie im Sinne seiner Bildapologie formuliert, ist eine logische Konsequenz, denn wenn jede Materie zu achten ist, so auch die Ikone als πιναξ (pinax) in ihrer Materialität. Tatsächlich vollzieht der Damaszener in seiner Bildapologie die Aufwertung der Materie, um ein entscheidendes ikonoklastisches Argument revidieren zu können. Der Horos von Hiereia verdeutlicht, dass die Ikonoklasten den Ikonophilen idolatristische Handlungen vorwerfen, denn sie würden wie Heiden in den mit materiellen Farben gezeichneten Bildern unehrenhafte und tote Materie anbeten.238 Johannes vD versucht dies zu widerlegen indem seine Bildklassifikation einem kosmologischen Motiv folgt, das theologisch bestimmt ist.239 Die von Johannes vD deklarierte Aufwertung der Materie muss dabei vor dem Hintergrund seiner gesamten Apologie reflektiert werden. Zunächst scheint die Ikone im allgemeinen und materiellen Sinne als ein »aus Gott Gewordenes« zu gelten. Doch wie kann Johannes vD diese Auffassung vor dem Hintergrund seiner eigenen Worte halten: »Einzig das ist ehrlos, was die Ursache nicht aus Gott hat, sondern unsere Erfindung ist durch eigenmächtige Abwendung 236 Nikephoros Antirrheticus I, 277 A [PG 100]: »Οὕτω μέν οὖν ἡ εἰκὼν, ὁμοίωμα καὶ ἐκτύπωμα ὄντων καὶ ὑφεστηκότων ἐστί.« 237 Johannes vD Imag I 16, 32f. 238 Vgl. u.a. Horos von Hiereia 277 C-E. 239 Abermals erfolgt hier der Hinweis, dass sich die vorliegende Arbeit nicht einer Prüfung der exegetischen Beweisführung der ikonophilen wie ikonoklastischen Argumentation verschreibt, da die Daseinsberechtigung der Ikone hier nicht zur Debatte steht. Eine hinreichende und systematische Analyse der Bildapologie des Johannes v.D., die dessen exegetische Beweisführung hinreichend aufarbeitet, liegt in der Arbeit Olewinskis: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., vor.

2. Das Paradox der Ikone

von dem, was der Natur gemäß ist, zu dem, was gegen die Natur ist […] .«240 Die Ikone begreift Johannes vD nicht als gegen die Natur Gerichtetes. Er definiert das, was in der Ikone abgebildet ist, als Umschriebenes (περιγράφειν) und darüber hinaus als ein »so Bezeugtes«, denn sie ist Abbild dessen, was zu irgendeinem Zeitpunkt sichtbar gewesen ist: »Wir können Bilder von allen Gestalten machen, die wir gesehen haben.«241 Als πιναξ bedingt die Ikone zunächst eine εἰκών sichtbarer Form, eine von Gott bestimmte und gewordene εἰκών Mensch. Diese εἰκών sichtbarer Form gilt zudem im Sinne von χαρακτῆριζειν (charaktērizein) als »diese Person«. Weiter betont Johannes vD: »Soll ich nicht das Zeugnis der Zeugen sowohl mit Wort wie auch mit Farbe zeichnen …?«242 Die Authentizität einer Ikone ist demnach nicht allein an die sichtbar gewesene Person gebunden. Glaubwürdigkeit erlangt die Ikone aufgrund der Zeugen, die die Dargestellten so gesehen haben. Als Zeugen treten hier die Apostel und die Kirchenväter auf, die die jeweiligen Heiligen nicht nur selbst gesehen haben, sondern deren (kirchlicher) Status ihre eigene Glaubwürdigkeit und damit die Wahrheit des Bildes garantiert.243 D.h.: In der Überzeugung der Glaubhaftigkeit der hl. Apostel wird die raumzeitliche Distanz überwunden. Gleichzeitig lässt die Ikone den Betrachtenden zum Augenzeugen werden, weil sie die Wahrheit der heiligen Person sehen lässt. Als Zeugnis und Bezeugendes ist eine Ikone immer an Sichtbarkeit gebunden: Mit Blick auf die byzantinischen Apologien lässt sich sagen, dass das, was in der Ikone zur Darstellung gebracht wird, im Sinne einer Abprägung (τὸν χαρακτῆρα) die in der Zeit umschriebene (περιγράφειν) menschliche Gestalt Christi und der Heiligen ist. So spricht Johannes vD vom Leiblichen als in Ort und Zeit Umschriebenes, das als sichtbar Gewesenes durch Farben auf die Tafeln übertragen wird.244 Nikephores spricht von der sichtbaren Form der Ikone, die in Anlehnung an ihren Archetyp angefertigt wird.245 Mit Bezug auf die Ikone heißt das konkret, dass diese nicht als ein Acheiropoíeton begriffen wird, sondern als ein gemaltes Bild, dessen Anfertigung der Hand eines Malers bedarf. Da die Ikone von Menschenhand gemacht ist, vollzieht sich die Ähnlichkeit von Urbild und Bild auf ontischer Ebene, denn als artifizielles Bild zeigt die Ikone das, was für irgendeinen Zeitpunkt bezeugt und somit real existent gewesen ist. In diesem Sinne sagt Johannes vD:

Johannes vD Imag I 16, 35-38. Johannes vD Imag III 24, 20f. Johannes vD Imag I 47, 17-20 (= II 43). Vgl. Johannes vD u.a. Imag I 22. Vgl. Johannes vD Imag III 17, 7: »τόπῳ καὶ χρόνῳ περιγραφόμενος« sowie I 51, 3-4 (= II 47): »ἡ δὲ ἀνθρωπίνη μορφὴ διὰ χρωμάτων ἐπὶ τοὺς πίνακας μεταφέρεται«. 245 Vgl. Nikephoros Antirrheticus I 277A [PG 100]. 240 241 242 243 244

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Die Ikone und das Undarstellbare

Wir können Bilder von allen Gestalten machen, die wir gesehen haben; wir erkennen sie nämlich, wie sie gesehen werden. Denn auch wenn es von den Begriffen her ist, wenn wir Gestalten verstehen, so kommen wir doch zu ihrem Verständnis auch infolge dessen, daß wir gesehen haben. So auch bei jedem Wahrnehmungssinn: Infolge dessen, daß wir gerochen oder gekostet haben oder getastet haben, kommen wir durch Begriffe zum Verständnis dieser Dinge«246 Der Grundgedanke, den Johannes vD hierin formuliert, läuft nicht nur darauf hinaus, dass Bildwerke von den Dingen angefertigt werden können, die zu irgendeinem Zeitpunkt sichtbar gewesen sind. Schon Ps.-Dionysios lehrt, dass die menschliche Erkenntnis an Materialität und somit an Sichtbarkeiten gebunden ist und nur Sichtbarkeiten die geistige Schau ermöglichen.247 Reflektiert vor der schöpfungstheologischen Weltauffassung ist entscheidend, dass alle weltlichen Sichtbarkeiten von Gott gesetzte εἰκονες sind, die, Johannes vD folgend, als Hinweis fungieren, also als Zeichen gelten, womit Zeichen und Welt in eins fallen: Alles weltlich Gute ist Zeichen Gottes.248 (Mit dem Begriff des Guten sei hier das Böse, d.h. der Sündenabfall eindeutig ausgeklammert.) Im Modus der Ähnlichkeit wie Unähnlichkeit ermöglicht sich der Bezug zum (göttlichen) Urbild, das der ontologische Grund allen Seins ist und daher in allem Seienden geschaut werden kann. Für Johannes vD erfolgt nun Wahrnehmung zuallererst über die Sinne und Sinneswahrnehmung führt zu Erkenntnis, »wir erkennen sie nämlich, wie sie gesehen werden«249 . Menschliche Erkenntnisfähigkeit von und über etwas resultiert für Johannes vD nicht allein in materiellen Sichtbarkeiten, sondern bedingt abstrakte Begrifflichkeiten die zum Ziel führen. Den Weg der möglichen Erkenntnis versteht Olewiński in seinem Kommentar zu den Schriften des Damaszeners als Erkenntnis in drei Phasen: Sinneswahrnehmung, rationales Denken, geistige Wahrnehmung.250 Bei Nikephoros deutet sich selbiges ab, wenn er in Bezug auf die Erkenntnis von einem »Zusammenhang im Denken« spricht.251 Ein Beispiel: Das sinnliche Wahrnehmen des Gestalthaften, d.h. des physisch Gegebenen, ermöglicht die Erkenntnis zugrundeliegender Prinzipien bzw. der zugrunde liegenden Form (εἶδος): ist flach, ist rund, hat keine Ecken und Kanten, ist ein Kreis.

246 Johannes vD Imag III 24. 247 Vgl. Ps.-Dionysios u.a. EH I 2 [373B]. 248 Vgl. dazu Dieter Mersch, der in der Einleitung zu seiner Textsammlung Zeichen über Zeichen die »Identität von Zeichen und Welt« als erste von sechs Klassen von Zeichensystemen aufführt. Zeichen definiert Mersch in dieser ersten Klasse als unmittelbar Offenbarendes des Seins. Dieter Mersch (Hg.): Zeichen über Zeichen: Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco und Derrida, München 1998, S. 11f. 249 Johannes vD Imag III 24, 22f. 250 Vgl. Olewinski: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 281. 251 Vgl. Nikephoros Antirrheiticus I 225C [PG 100].

2. Das Paradox der Ikone

Der Begriff der Gestalt, den die byzantinischen Ikonophilen verwenden, lässt sich verallgemeinern und auf alles Existente beziehen. Olewiński sieht die Kernaussage von obig aufgeführtem Zitat des Damszeners (Imag III 24) nun nicht allein darin, dass die endlichen in der Zeit umschriebenen Gestalten dargestellt werden können, sondern dass ihre Darstellungen zu derselben Wahrnehmung gehören.252 Somit können unterschiedliche Darstellungen zur Erkenntnis desselben εἶδος (des Dargestellten) führen. Aber schwingt hier nicht der Vorwurf mit, dass das, was die Ikone als etwas sichtbar macht, auch hätte anders gezeigt werden können? Legt doch beispielsweise ein Blick auf die Lehre des Ps.-Dionysios nahe, dass sich das göttliche εἶδος eben gerade in den unähnlichsten Bildern schauen lässt. Tatsächlich lässt Ps.-Dionysios den unähnlichen Bildern den Vortritt vor den ähnlichen: So ehrt etwa ein Wurm als die wahre Negationen das Sublime, gerade weil er in seiner Sichtbarkeit dem göttlichen Wesen widerspricht.253 Im Sinne seiner negativen Theologie erhalten gerade die unähnlichen Bilder – so wie die kataphatischen Gottesnamen – durch Negation die Unsagbarkeit und Undarstellbarkeit Gottes und bewahren so dessen Alterität.254 Doch wird sich zeigen, dass es gerade die Ikone ist, die es wie kein anderes Bild vermag, die Alterität Gottes zu wahren. Entscheidend ist dabei die Spur, der sie folgt. Nochmals auf den Punkt gebracht: Die Ikone als ein Darstellendes gilt als Spur dessen, was gesehen werden konnte. Dargestellt wird allein die Person, die von den Kirchenvätern so bezeugt ist. Der Begriff der Spur greift weniger im Sinne eines mechanischen Abdrucks, sondern ist vielmehr Ausdruck eines so Bezeugtseins, worüber sich der kausale Zusammenhang ergibt: Ikone ist Bildnis eines Gewesenen, d.h. eines in Raum und Zeit umschriebenen und so sichtbar gewesenen Urbildes, das sie referiert. Das sichtbar gewesene Urbild, auf welches die Ikone Bezug nimmt, ist aus schöpfungstheologischer Perspektive ontologisch bestimmt, womit die Ikone als (artifizielles) Abbild ein ontologisches Beziehungsgeflecht inkludiert. Jedoch, und hier wird ein entscheidender Punkt thematisiert, lehren die byzantinischen Ikonentheorien, dass die Ikone, sobald sie Beschädigungen aufweist, dem Feuer hinzugeben ist.255 Hier zeichnet sich der entscheidende Unterschied zwischen der Ikone und einer Reliquie ab, denn die Funktion der Ikone ist nicht an deren Stofflichkeit gebunden.256 Das Wirken der Ikone rührt allein von ihrer Darstellung her. Konkret bedeutet dies, dass der Bildträger, über den das Darzustellende Sichtbarkeit erlangt, niemals seinen Eigensinn offenbaren darf, sondern

252 253 254 255 256

Vgl. Olewinski: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 281. Vgl. Ps.-Dionysios CH II 5 [245 A]. Vgl. hierzu ausführlich Janine Luge-Winter: »Das Erhabene erscheint«, a.a.O., S. 133-172. Vgl. Johannes vD Imag II 19 sowie Theodor Studites Antirrheticus III 464 D [PG 99]. Vgl. L. Koch: »Zur Theologie der Christus-Ikone«, in: Benediktinische Monatsschrift 20 (1938) S. 444.

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Die Ikone und das Undarstellbare

stets »transparent« bleiben muss: Die Sichtbarkeit der εἰκών, unbeschädigt und in ihrer vollkommenen Wahrheit ins (materielle) Bild gesetzt, ist auf eine absolute Sichtbarkeit hin ausgerichtet, die vermeintlich mit einer Negation ihres Bildträgers und ihrer Materialität einherzugehen hat. Es scheint, dass die byzantinischen Ikonentheorien der Ikone das Paradoxon abverlangen, ihre eigene materielle Präsenz zu negieren. Während die Wahrnehmung innerhalb des Erkenntnisprozesses an Materialität gebunden ist, was die »Unmöglichkeit einer Anwesenheit ohne Gegenwart«257 impliziert, scheint nun an die Ikone der Anspruch gestellt, dem Betrachter das zur Darstellung Gebrachte als nicht real Existentes, sondern ausschließlich als sichtbares Phänomen zu offenbaren, womit eine »Anwesenheit ohne Gegenwart«258 nahegelegt wird. Mit jenen Formulierungen, die der modernen bildtheoretischen Debatte entnommen sind, lässt sich die byzantinische Herangehensweise an die Ikone als besondere εἰκών verdeutlichen: Übersehen von Materialität Der Frage »τί ἐστιν εἰκών;« aus einem antiken, konkret byzantinischen, somit theologischen und einem modernen bildtheoretischen Blickwinkel zugewandt, scheint sich letztendlich um das gleiche Phänomen zu drehen: Das Phänomen einer besonderen Weise von Sichtbarkeit. Dass das Sprechen über Bilder Schwierigkeiten birgt, ist Konsens moderner Debatten. Stellt sich doch die Frage, was ein Bild überhaupt ist? Gottfried Boehm bezeichnet Bilder als real-irreale Körper 259 und spielt damit auf die von ihm seit 1994 ins Feld geführte ikonische Differenz an: Boehm versteht darunter das Kontrastverhältnis zwischen der gerahmten und überschaubaren Bildfläche und dem, was im Bild mit Hilfe von Farben, Formen und Figuren als Sinn aufscheint.260 Einem gegenständlichen Bild ist daher von zwei Seiten zu begegnen: Zum einen ist es ein Abbildendes, d.h. ein materiell existenter (abbildender) Bildträger. Ebenso ist Bild das Abgebildete, d.h. das Erscheinende, das, was ein Bild zur Darstellung bringt – das Bildobjekt, wie es der Phänomenologe Edmund Husserl bezeichnet.261 Ein Bild, das ist das Entscheidende, macht Etwas als Etwas

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Dieter Mersch: Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis, a.a.O., S. 11. Wiesing: Artifizielle Präsenz, a.a.O., S. 70. Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen: Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 9. Vgl. Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 29ff. In seiner phänomenologischen Herangehensweise an das Bild sieht Bernhard Waldenfels die ikonische Differenz als eine Verdoppelung des Bildes, der die zu unterscheidenden Momenti von Material, Formalie und Funktion zugrunde liegen. Vgl. ders.: »Spiegel, Spur und Blick«, in: Gottfried Boehm (Hg.): Homo Pictor, Leipzig 2001, S. 15. Vgl. Edmund Husserl: »Phantasie und Bildbewußtsein« (1904/05), in: E Marbach: Husserliana, Bd. XXIII, London 1980, S. 19. Das Erscheinende begreift Husserl als nicht Existentes und somit nicht der Wirklichkeit Angehörendes. Zum Vergleich: Die hier aufgeführten Fragen zum Bild stellen ähnlich u.a. Wiesing: Artifizielle Präsenz, a.a.O., S. 44f. sowie Dieter Mersch:

2. Das Paradox der Ikone

sichtbar. Doch diese bildliche Sichtbarmachung ist an Materialität gebunden und somit an eine opake Fläche. Dass diese übersehen werden kann, dass also dem Bild eine Transparenz zu eigen ist, wird bereits von Arthur C. Danto zur Diskussion gestellt und gilt nach Lambert Wiesing als »klassische Einsicht einer Phänomenologie des Bildes«.262 Ist es nun denkbar, dass bereits die byzantinischen Ikonentheorien von eben jener (wie auch immer möglichen) Transparenz des Bildes ausgehen? Die Eigenschaft, etwas als etwas sichtbar zu machen, rückt das Bild in seiner Definition in die Nähe des Zeichens: Ein Bild ist ein Abbildendes, so wie das Zeichen ein Bezeichnendes ist, und als solches stehen beide im Kontrast zum Abgebildeten bzw. Bezeichneten. Wenn die Ikonoklasten den Ikonophilen vorwerfen, mit der Ikone tote Materie anzubeten, so setzen sie die Ikone einem Idol (εἴδωλον|eidōlon) gleich. Jedoch, und darauf insistieren die byzantinischen Ikonentheorien, unterscheidet sich die Ikone als Bild (εἰκών) ganz konkret von einem Idol (εἴδωλον), weil sie etwas bezeichnet: Während die Ikone sich auf etwas bezieht, sich ihr Wesen in einem zugrunde liegenden εἶδος begründet, sie also von etwas Abbild ist, ermangelt es dem Idol eines Bezugs: Idole sind, um sich an den Wortlaut des Nikephoros anzulehnen, wesenlose Phantasmen.263 Etymologisch leitet sich εἴδωλον von εἰδ-/sehen her und meint im weitesten Sinne Abbild und Bild. Im biblischen Sprachgebrauch wird damit das Wirklichkeitslose benannt, womit es im Neuen Testament, etwa den Paulusbriefen, konkret als Bezeichnung für die heidnischen Kultbilder dient.264 In einem engeren Sinne meint εἴδωλον so das einfach Vorhandene, was sich mit dem Verständnis von Nikephoros deckt, der diejenigen, die ein Kalb anbeten, als »Sklaven ihrer sinnlichen Gelüste und der Materie«265 bezeichnet. Doch, so könnte Nikephoros an dieser Stelle entgegnet werden, auch die Ikone ist ein konkret materiell Gegebenes und dieses ist der Ikone kann nicht revidiert werden. Die Materie (ὑλή| hylē) wird, das wurde bereits dargelegt, als das Unbestimmte begriffen und scheint als solches mit dem Zufälligen und einem Unberechenbaren einherzugehen. Den byzantinischen Theorien folgend, scheint gerade der Materialität der von Menschenhand geschaffenen Ikone vermeintlich das Wagnis zu obliegen, vom Wahrnehmen des zugrunde gelegten tieferen Sinns abzulenken:

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»Bildlichkeit: Splitter, Fragment«, in: Philipp Stoellger/Thomas Klie (Hg.): Präsenz im Entzug, Tübingen 2011, S. 84. Vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen: Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M. 1991, S. 209-251 (Orig.: The Transfiguration of the Commonplace: A Philosophie of Art, Cambridge Mass. 1981) und Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes, a.a.O., dort u.a. S. 210-218. Siehe Nikephoros Antirrheticus I 277 B [PG 100]. Vgl. Friedrich Büchsel: »εἴδωλον«, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. v. Gerhard Kittel, Tübingen 1935, S. 373f. und ebd. entsprechende Bibelverweise auf S. 375 u.a. Dt. 32, 17; Paulus 1. Th 1, 9; Paulus 1. K 8, 5 im Vgl. mit 1. K 10, 19. Nikephoros Antirrheticus I 277 B [PG 100].

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Die Ikone und das Undarstellbare

So könnte sich bei der Ikone als Gegenständliches deren eigene Materialität als störender Moment auftun und damit die ihr zugrunde liegende Ordnung, die ihr Inhalt ist, umstürzen.266 Sinn und Inhalt der Ikone ist ihr Bezug: Die Ikone ist bestimmt durch das, wovon sie Bild ist, und dieses ist wiederum vom transzendenten und göttlich bestimmten εἶδος (eidos) her, und zu diesem εἶδος steht die Ikone in Relation. Abermals sei hier auf Ps.-Dionysios Bezug genommen, der, wie bereits erwähnt, die Möglichkeit einer Gotteserkenntnis des Menschen an sinnlich Gegebenes bindet: »[W]ir aber werden durch sinnliche Bilder zur Einsicht in das Wesen Gottes geführt, soweit dies möglich ist.«267 Allerdings spricht Ps.-Dionysios genauso davon, »… die Hinneigung zum Materiellen zurückzuweisen, und Antrieb, in geheiligter Weise durch die Erscheinungsformen hindurch die Wege der tieferen Einsicht in die Welt jenseits der Sinnenerkenntnis zu suchen.«268 Auf dem ersten Weg erfolgt für Ps.-Dionysios eine Gotteserkenntnis über sinnlich Gegebenes, und zwar – das ist entscheidend – insofern sich Gott selbst mitteilt.269 Der andere Weg der Erkenntnis ist die mystische Schau, die mit einer Abkehr aller weltlichen Aussageund Ausdrucksmöglichkeiten und somit in der Abwendung von jeglicher Entität einhergehen muss.270 Die Selbstmitteilung Gottes erfolgt laut Ps.-Dionysios über eine heilige Symbolik, deren Erkenntnis eine Einweihung voraussetzt. Doch ist sie genauso Gegenstand allgemein zugänglicher Erkenntnis, wobei innerhalb dieser stets das Unsagbare mit dem Sagbaren verwoben ist – »καὶ συμπέπλεκται τῷ ῥητῷ τὸ ἄρρητον.«271 Gott – qua absolut – entzieht sich jeglicher Sichtbarkeit. Als Urquelle, die ausstrahlt und aus der alles hervorgeht, ist Gott jedoch Allen immanent. Aus schöpfungstheologischer Sicht konstituiert sich εἰκών als Sichtbarkeit gemäß einem zugrunde gelegten (göttlich bestimmten) εἶδος. Jenes εἶδος gehört dem Metaphysischen an, weshalb εἰκών immer vom Unsichtbaren ausgeht, auf das es wiederum ausgerichtet ist: In ihrer Sichtbarkeit haftet einer jeden εἰκών, und somit auch der Ikone, Unsichtbarkeit an. Das εἶδος darf im Hinblick auf die byzanti-

266 Dies sei in Anlehnung an die von Dieter Mersch ins Feld geführte Doppelstruktur des Zeichens formuliert. Mersch insistiert dabei auf eine Unlesbarkeit der Zeichen aufgrund deren materieller Abhängigkeit und des Ereignisses ihrer Setzung. Vgl. ders: Was sich zeigt, a.a.O. u.a. S. 19. 267 Ps.-Dionysios Areopagites EH I 2 [373 B]. Vgl. Dazu u.a. auch CH II 2-5 und in Anlehnung an die Lehren des Ps.-Dionysios vgl. Johannes vD Imag III 21. 268 Ps.-Dionysios Areopagites CH II 5 [145 B]: »… ἀλλ ἐρεθίζον ἀπαναίνεσθαι τὰς ὑλικὰς προσπαθείας καὶ προσεθίζον ἱερῶς ἀνατείνεσθαι διὰ τῶν φαινομένων ἐπὶ τὰς ὑπερκοσμίους ἀναγωγάς.« 269 Vgl. Ps.-Dionysios DN VII 1 [194] und Beate Regina Suchla: Dionysios Areopagita, Freiburg i.Br. 2008, S. 107. 270 Vgl. Ps.-Dionysios MT I 3. 271 Ps.-Dionysios Epistula 9, 1 [1105 D].

2. Das Paradox der Ikone

nischen Ikonentheorien als (göttliche) Bestimmtheit verstanden werden – als das einem Einzelding zugrunde liegende allgemeine Wesen, das als solches nicht teilbar oder veränderbar ist. Εἶδος bestimmt jedoch die Materie (ὕλη), in der etwas ein konkretes, individuelles und spezifisches Seiendes (Ding, Person) wird. Nach der aristotelischen Lesart der byzantinischen Ikonentheorien erfährt das εἶδος keine wesentliche, sondern eine allein akzidentielle Differenzierung: Sichtbarkeit in Materie zu erlangen ist Bestimmtheit, Begrenztheit und Wahrnehmbarkeit zu Lasten des εἶδος, jedoch verhalten sich, Aristoteles folgend, Materie und Form zueinander wie Potenz (ὕλη δύναμις) und Wirklichkeit (εἶδος ἐντελέχεια).272 In diesem Sinne darf die Ikone als Möglichkeit angesehen werden, die etwas (εἶδος) sichtbar macht – ein zur Erscheinung Bringen, das unwiederbringlich an Sichtbarkeit im Sinne einer wirklichen materiellen Entität gebunden ist. In der Materie (ὑλή) erlangt letztendlich das εἶδος Gestalt (μορφή|morphē): In diesem Sinne macht eine εἰκών und somit auch die Ikone (so) sichtbar – jedoch stets in der Weise eines bleibenden und unüberwindbaren Restes an Undarstellbarkeit, worin sich letztlich der Mehrwert der Ikone als besonderes Bild bestimmt. Gerade in ihrer Akzentsetzung der Differenz von Bild und Urbild offenbart sich die eigentliche Aktualität der byzantinischen Ikonentheorien. Gerade mit ihrer Unterscheidung von Materialität und dem, was im Bild erscheint, folgen die ikonophilen Byzantiner der in der modernen bildtheoretischen Debatte fast schon kanonisch geltenden ikonischen Differenz. Nicht zuletzt insistierte Emmanuel Alloa, die byzantinischen Ikonentheorien seien »ein iconic turn avant la lettre«, eine Feststellung, der diese Arbeit in keiner Weise widersprechen möchte. Jedoch übersieht die moderne Ikonenforschung das eigentliche Potenzial des orthodoxen Heiligenbildes, wenn sie sich in Anlehnung daran allein auf die sich in den byzantinischen Ikonentheorien ablesbare Unterscheidung von Bild und Urbild bezieht. Hierbei läuft die Forschung zum einen Gefahr, sich immer und immer wieder der Diskussion über die Daseinsberechtigung der Ikone zu stellen. Zum anderen bewegt sie sich im Rahmen gängiger bildtheoretischer Fragestellungen zu Repräsentation und Repräsentierten. Der Mehrwert der Ikone begründet sich in dem, was dieses spezifische Bild aufgrund der Darstellung eigentlich zu zeigen vermag. Dies wissen gerade die modernen Ikonentheorien mit Bezug auf die byzantinischen Bildtheorien zu explizieren.

272 Vgl. Aristoteles Physik II 1, 193 b; De anima II 1, 412a 1f.; Metaphysik X, 9, 1058 a 29f. sowie Helmut Meinhardt: »Idee: I. Antike«, in: HWP, Bd. 4 (1976), S. 58f.

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Die Ikone und das Undarstellbare

2.2.2.2

Sichtbarmachung

  Ontologische Aufladung Bevor es möglich ist, den spezifischen Mehrwert der Ikone zu definieren, ist ein abschließender Blick auf die eigentliche Bestimmung dessen, was die Ikone in sichtbarer Form erscheinen lässt, nötig. Es geht dabei konkret um die ontologische Struktur des in der Ikone Dargestellten. Aufgrund schöpfungstheologischer Prämissen lässt sich das theologische Momentum einer εἰκών auf die gesamte sichtbare Welt und jedwede Materie beziehen, denn alles Sichtbare ist εἰκών des göttlichen Willens. So ließe sich jenes theologische Moment genauso für die Ikone als materielle Entität bestimmen. Jedoch muss ihr ein theologisches Momentum im speziellen zugewiesen werden, das sich in dem begründet, was sie abbildet, denn: Eine Aufwertung als Bildwerk erfährt die Ikone durch ihr Dargestelltes (Bildobjekt). Es ist zunächst deutlich gemacht worden, dass die Ikone als ein vermittelndes Zeichen fungiert. Als ein solches kommt ihr eine memorative und pädagogische Funktion zu, womit zunächst auf die Ikonen der Heiligen Bezug genommen sei: Da sich Gott im Sinne der negativen Theologie jeglicher Prädikation entzieht, er allem unähnlich ist, ist jegliche Schöpfung geprägt von Identität und Differenz. Nach Ps.-Dionysios ist alles Geschaffene dem göttlichen Prinzip unähnlich ähnlich (ἀνόμοια ὁμοια).273 So ist der Mensch als von Gott bestimmtes diesem unähnlich ähnlich. Jedoch ist ihm aufgrund seiner Setzung als nach dem Bild Gottes Geschaffener eine Wesensverwandschaft inne (Imago-Dei-Lehre) – ist dem Menschen eine Gleichnishaftigkeit in potentia mitgegeben, die für ihn erkennbar und erfahrbar werden kann allein aufgrund seines Glaubens und seiner Lebensführung: In seiner Gotteserkenntnis wird es dem Menschen ermöglicht, Bild in actu zu werden.274 Einen solchen Weg sind die Heiligen gegangen, was ihre Ikonen bezeugen und woran diese erinnern sollen. Was bereits mehrfach verdeutlicht wurde, ist der Fakt, dass die Ikone Christi eigentlicher Streitpunkt des Byzantinischen Bilderstreits ist: Streitpunkt aufgrund ihres Bildobjekts, denn der Sohn ist als unveränderte εἰκών Gottes von göttlicher Wesenheit und somit undarstellbar. Auf den ikonoklastischen Vorwurf, eine Ikone Christi steht entgegen des Glaubensbekenntnisses von Chalekedon und der ZweiNaturen-Lehre, folgt die ikonophile Rechtfertigung, was die Ikone Christi zeigt: Zunächst haben die Bilderverteidiger das Bilderverbot des Dekalogs stets positiv gewertet und genauso folgen sie bestehenden Dogmen. Jedoch relativiert sich dieses durch die Inkarnation, denn Gott hat sich in der Menschwerdung des Sohnes offenbart und so sichtbare Form angenommen. Somit gilt der Sohn als εἰκών des 273 Vgl. Ps.-Dionysios CH II 4 [144 A] sowie DN IX 6 und 7. 274 Vgl. Stock: Geschichte des Blicks, a.a.O., S. 32 und ebd. Anm. 66.

2. Das Paradox der Ikone

Vaters, worin sich eine ikonische Qualität begründet, die mit Blick auf die byzantinischen Ikonentheorien nun als darstellerische Möglichkeit ausgemacht werden kann. Dabei müssen die Bilderverteidiger den ikonoklastischen Vorwürfen begegnen, die im Hinblick auf das Glaubensbekenntnis von Chalkedon und der Zwei-NaturenLehre auf einer Undarstellbarkeit des göttlichen Wesens bestehen. Was aber zeigt die Ikone Christi, wenn die Ikonophilen den bestehenden Dogmen folgen und der Undarstellbarkeitskodex unumstößliche Gültigkeit behält? Der Sohn ist bestimmt als erste, naturhafte und unveränderte εἰκών des Vaters. Johannes vD bestimmt ihn konkret als φυσική εἰκών (physike eikōn). Als diese bestimmte εἰκών hat der Sohn spezifische Bildeigenschaften inne, sind ihm Verweisungs- und Offenbarungscharakter genuin.275 Eine Ikone Christi zeigt den Sohn in der realen Einheit beider Naturen. Eine εἰκών zeigt, dass ist bereits eingehend verdeutlicht worden, ihr sichtbar gewesenes Urbild, auf das sie Bezug nimmt, und dass sie als Ikone letztendlich konstituiert. Dem folgend zeigt eine Ikone Christi den Sohn Gottes in seiner sichtbar gewesenen Form. Konkret: Die Ikone Christi zeigt die menschliche Gestalt Gottes in Form der sichtbar gewesenen Gestalt des Sohnes Christi, womit den Worten Johannes’ vD gefolgt sei: »Ich schaue ein Bild Gottes, wie Jakob es gesehen hat, wenn auch anders; denn jener [sah] ein unstoffliches […], ich dagegen [sehe] Zündendes der Erinnerung an den, der dem Fleisch nach sichtbar geworden ist.«276 Gott ist in der Fleischwerdung seines Sohnes sichtbar geworden. Doch hat er in der Menschwerdung und im Leidensweg seines Sohnes genauso den Menschen als Geschöpft geheiligt. So begründet sich in der Menschwerdung die Gotteserkenntnis genauso wie der Weg der Erlösung: »Ich habe eine menschliche Gestalt Gottes gesehen und gerettet wurde meine Seele.«277 Für die Ikonophilen ist die Ikone Zeugnis der Erlösung und Heiligsprechung des Menschen, die sich nicht allein über Verwandtschaft zu Gott aufgrund von Setzung und μεθηξις ergibt: In der Inkarnation ist die Gleichwerdung (ὁμοούσιος) des Menschen mit Gott gegeben. Mit Blick auf die ausführlich dargelegte Trinitätslehre und die sich darin begründende εἰκών-Theologie ist aufgezeigt worden, dass der Sohn als wahre εἰκών Gottes ikonische Qualität besitzt. Durch die Inkarnation und in den sich damit ergebenden Moment der Sichtbarkeit, die wiederum mit dem Faktum des Umschriebenseins einhergeht, begründet sich für die Ikonophilen die darstellerische Möglichkeit, denn als ein in Zeit und Raum Umschriebener ist Christus darstellbar. Im Moment der Inkarnation ist die sichtbare Gestalt des Sohnes mit der Theophanie, also dem Erscheinen Gottes in der Welt, untrennbar verbunden: Der Sohn als wahre εἰκών ist Sichtbarmachung Gottes. Doch ist Christus nicht einfaches Abbild. 275 Vgl. Johannes vD Imag III 18 [6-10] in Bezug auf III 16 und III 17. 276 Johannes vD Imag I 22. 277 Johannes vD Imag I 22.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Als Sohn ist er göttliche ὑποστάσις (hypostasis). Damit ist nun nicht einfach nur das in die Existenz Treten Gottes gemeint, sondern die Offenbarung der göttlichen Wirklichkeit.278 Die Trinität lehrt mit μία οὐσία, τρεῖς ὑποστάσεις eine Wesenheit bei gleichzeitiger hypostatischer Verschiedenheit. Die byzantinischen Ikonentheorien lehren, dass eine εἰκών stets eine andere ist als ihr Urbild, d.h. Bild und sichtbar gewesenes Urbild sind sich (auf einer ontisch-optischen Ebene) ähnlich, nie jedoch wesensgleich. Weil εἰκών und Urbild einander teilhaftig verbunden sind – »τῶν τοῦ ἀρχετύπου μεταλαμβάνει«279 –, die εἰκών im Sinne eines kausalen Zusammenhangs relativ zu ihrem Urbild ist – »ἡ εἰκὼν σχέσιν ἔχει προς τὸ ἀρχέτυπον, καὶ αἰτίου ἐστὶν αἰτιατόν«280 –, ist die Möglichkeit einer Erkenntnis des Urbildes über die Ikone gegeben. In diesem Sinne bestimmt Theodor Studites: »Παντὸς εἰκονιζομένου, οὐχ ἡ φύσις, ἀλλ᾽ ἡ ὑπόστασις εἰκονίζεται«281 – d.h., das, was die Ikone abbildet, ist nicht die Natur, sondern die Hypostase. Hieran anknüpfend ist es bereits Ostrogorsky gelungen, die unterschiedlichen Bildverständnisse, die dem byzantinischen Bilderstreit zugrunde liegen, in aller Deutlichkeit zu formulieren: Während die Bilderfeinde nur zwei Verhältnisse zwischen den Dingen kennen, ein Gleichsein und ein Anderssein, ist für die Bilderfreunde […] ein gleichzeitiges Verschieden- und Gleichsein unmittelbar einleuchtend – eine hypostatische Verschiedenheit bei wesenhafter Einheit (die Dreieinigkeit!) und eine hypostatische Gleichheit bei wesenhafter Verschiedenheit (die Bilder!).282 Dies lässt sich stellvertretend mit Nikephoros verdeutlichen, der davon ausgeht, dass die Ikone ein graphischer Abdruck ist, in dem die Hypostase der Person zu sehen ist und darüber ermöglicht sich die Erkenntnis der sichtbaren und die der ursprünglichen Form, die das εἶδος ist.283 Hypostase begriffen als ein dem Sein zukommendes Spezifikum, das ein Individuum als diese Person in ihrem Umschriebensein bestimmt, ermöglicht ein artifizielles Abbild und damit die Ikone. Der Unterschied zwischen Ikone und Abgebildetem ist deren Substanz: Die Hypostase ist keine substantielle Gegenwart, im Bild erscheint sie als ein spezifisch Ähnliches (lockige Haare, krumme Nase).

278 Vgl. Hb. 1,3; 3,14; 11,1 sowie Helmut Köster: »ὑποστάσις«, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 8 (1969), S. 584f. Zum ὑποστάσις-Begriff siehe ausführlich Kap. 2.1.1.1 Trinität. 279 Nikephoros Antirrheticus I, 261 B [PG 100]. 280 Nikephoros Antirrheticus I, 277 C [PG 100]. 281 Theodor Studites Antirrheticus III, 405 B [PG 99]. 282 Georg Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., S. 43. 283 Vgl. Nikephoros Antirrheticus I, 280 A [PG 100]: »διὰ τοῦ τύπου γὰρ τοῦ ἐξ ἀρχῆς εἴδους ἡ γνῶσις ἐγγίνεται, καὶ ἐν αὐτῷ τοῦ γεγραμμένου ἡ ὑποόστασις καθορᾶται«.

2. Das Paradox der Ikone

Der Mensch in seiner theologischen Definition ist Körper, dem eine Seele eingehaucht ist, die gleichsam verhüllt ist und auf unsichtbare Weise seinem Bild gegeben bleibt – das ist das spezifische Sein des Menschen. Die Hypostase Christi ist aus zwei Naturen – Mensch und Gott. Das ist das Momentum, in dem sich der Sohn vom Menschsein unterscheidet: Er führt das Göttliche unsichtbar und untrennbar mit sich. In diesem Sinne erheben die Ikonophilen nicht den Anspruch, das Göttliche als Sichtbares ins Bild zu setzen, denn es ist undarstellbar. Zwar zeigt die Ikone, den byzantinischen Ikonentheorien folgend, die menschliche Gestalt des Sohnes. Aber sie verweist in ihrer Sichtbarkeit auf das Undarstellbare: Die Ikone wiederholt die hypostatische Union, die die paradoxe Verbindung von Sichtbarem und Unsichtbarem ist. Auf den Punkt gebracht: Die eingangs erwähnte ontologische Kontinuität begründet sich in der Abhängigkeit von Bild und Urbild, worin sich im Sinne der Schöpfungstheologie das theologische Momentum des Seienden bestimmt: Zwar ist ein Jedes in seinem weltlichen Sein spezifisch (χαρακτῆριζειν), doch ist das Wesen (εἶδος) eines jeden Seienden in Gott vorherbestimmt und Gott ist der konstituierende Grund und das so Sein Bestimmende. Es ist die theologische Definition, die alles Seiende als εἰκών und damit als Abbild Gottes bestimmt. Die byzantinischen Ikonophilen wissen nun die artifizielle Ikone in diese Bildontologie zu integrieren: Für Johannes vD ist ein Bild immer eine εἰκών vom πρωτοτυπον, d.h. ein Abbild vom Urbild. In Anlehnung daran bestimmt er, wie auch seine Nachfolger Nikephoros und der Studite, dass sich ein jedes Bild von seinem Urbild her konstituiert, somit ein Abbild immer in Relation zu seinem Urbild steht, diesem ähnlich ist und auf es verweist; ein Abbild vermag sein Urbild folglich zu offenbaren. Diese innerhalb der byzantinischen Ikonentheorien konstatierte Urbild-Abbild-Relation impliziert eine kausale Beziehung zwischen Urbild und Bild, die gerade für die Ikone, trotz deren Artifizialität, eine ontologische Kontinuität sicherzustellen vermag: Die Ikone zeigt die Hypostase, und diese ist gerade im Hinblick auf den Gottessohn untrennbar vereint mit der göttlichen Wesenheit, die der Sohn trotz seines Menschseins unsichtbar mit sich führt. Das ist die Untrennbarkeit der menschlichen und göttlichen Natur, die in Anlehnung an die Worte des Studiten als paradoxe Vermengung des Begrenzten mit dem Unbegrenzten, des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren bezeichnet werden kann.284 Dieses Paradoxon der unvermischten, jedoch untrennbaren Naturen schreibt sich nun im artifiziellen Bild fort, denn das, was die Ikone Christi zeigt, ist allein die menschliche Gestalt Gottes in Form der sichtbar gewesenen Gestalt des Sohnes, dessen Existenzweise die Hypostase ist. Die Ontologie von Urbild und Abbild haftet dem artifiziellen Bild aufgrund der relationalen Definition der εἰκών an: Zunächst begründet sich die Differenz der Ikone in der Unähnlichkeit ihres Wesens – sie 284 Vgl. Theodor Studites Antirrheticus III 405 AB [PG 99].

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Die Ikone und das Undarstellbare

ist Holz und Farbe. Doch über ihre Relationalität – also über das in Bezug stehen ihres Abbildes zum göttlichen Urbild, das der metaphysische Grund des Bildes ist, ist gerade die Ikone Christi als Bild des gezeugten und damit wesensgleichen Bild Gottes aufs höchste ontologisch aufgeladen. Diese ontologische Aufladung ist eine Aufwertung des artifiziellen Bildes aufgrund des relationalen Bezugs, denn in der Ikone tritt Gott als Bild im Bild in Erscheinung. Ikonischer Überschuss Von einer ontologischen Aufwertung spricht bereits Belting in seiner umfangreichen Studie Bild und Kult, wobei auch er die Wurzeln dazu in neuplatonischen Philosophien sieht. Allerdings begeht Belting den fatalen Fehler, die ontologische Aufwertung als Türöffner für eine Bildmagie zu deuten. Konkret meint Belting, die Ikonen wären »quasipersonale Wesen« und »Sitz der Gottheit«.285 Schon Olewiński betont, dass sich beides mit Gewissheit ausschließen lässt, da davon an keiner Stelle der byzantinischen Ikonentheorien die Rede ist. Ganz im Gegenteil entkräften die hier vollzogenen Analysen jene Aussage: Die Ikonophilen betonen stets den Unterschied zwischen Bild und Urbild, der als eine eindeutige Differenzierung zwischen Repräsentation und Repräsentierten zu deuten ist. Zudem, und das ist bezeichnend, finden sich in den byzantinischen Ikonentheorien keine Überlieferungen irgendwelcher Legenden und Wundertätigkeiten der Ikonen, so wie es etwa für bilderfreundliche Quellen des 6. Jahrhunderts Mode gewesen ist.286 Die Ikonophilen wenden sich damit gegen eine Bildmagie und nehmen Abstand von einer möglichen Wundertätigkeit des Bildes, was jedoch nicht bedeutet, dass sie den Ikonen keine Wirkmacht zuerkennen. Olewińskis weist in aller Deutlichkeit darauf hin, dass es gerade im byzantinischen Bilderstreit um die Frage geht, was die Ikone Christi zeigt. Das ist hier verdeutlicht worden: das sichtbar Gewesene und damit das menschliche Sein des Sohnes. Es ist richtig, wenn Olewińksi damit eine Immanenz und Residenz der Gottheit im Bild ausschließt.287 Indem aber eine Ikone Christi den Sohn zeigt, offenbart sie die göttliche Wesenheit und das auf eine, ihr ganz spezifische Weise: Mit Blick auf ihre Relationalität ist die Wirkung der Ikone nicht an Stofflichkeit gebunden, so wie es bei den Reliquien der Fall ist. Die Wirkung der Ikone geht einzig von dem aus, was sie abbildet – ihrem Urbild also, auf das sie als Abbild verweist. Zu fragen ist nun, wie die Ikone das göttliche Wesen offenbaren kann, wenn dieses als undarstellbar gilt und als solches selbst von den byzantinischen Ikonophilen akzeptiert wird.

285 Vgl. Hans Belting: Bild und Kult, a.a.O., S. 167 und 174. 286 Vgl. zu den Wundergeschichten von Ikonen entsprechende Quellen bei Thümmel: Die Frühgeschichte der Ostkirchlichen Bilderlehre, a.a.O. 287 Vgl. Olewiński: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 439.

2. Das Paradox der Ikone

Im steten Rückgriff auf die byzantinischen Ikonentheorien verdeutlichen die modernen Ikonentheorien das spezifische Potentzial der Ikone, die Sichtbarmachung des Unsichtbaren ist, indem sie es als solches annimmt.288 Entscheidend ist dabei das Verständnis der Inkarnation und welche Sichtbarmachung sich in ihr eigentlich vollzieht. Marie-José Mondzain gibt hierauf die knappe aber entscheidende Antwort: »… Inkarnation [ist] nichts anderes als Bildwerdung des Undarstellbaren.«289 In der Inkarnation begründet sich das Paradox der Ikone: In der Sichtbarwerdung Gottes als Bild des Sohnes legitimiert sich das Verhältnis von Präsenz und Entzug im Bild. Das Erscheinen des Sohnes geht einher mit der Untrennbarkeit des Leibes von der göttlichen Natur: Christus ist Sichtbarwerdung Gottes, und aufgrund der immanenten Trinität ist er mit der göttlichen Natur untrennbar vereint. Doch diese Präsenz geht unausweichlich einher mit der maximalen Absenz des Absoluten, denn das göttliche Wesen entzieht sich jeglicher Prädikation und Darstellbarkeit. In diesem Sinne betont Jean-Luc Marion, dass Christus nicht als Repräsentant das Unsichtbare ersetzt, sondern er ist Sohn des undarstellbaren Gottes, den er in seiner Sichtbarkeit nicht zu zeigen beansprucht.290 In Anlehnung daran ist die Christus-Ikone auf der einen Seite Sichtbarmachung des Sohnes als der Erschienene. Doch geht auch diese Sichtbarmachung einher mit Unsichtbarkeit, denn sie zeigt allein das gewesene (wahre) Abbild im Sinne eines Zeichens. Wie jeder εἰκών liegt auch der artifiziellen Ikone die genuine Eigenschaft des Verweisens zugrunde: Wenn der Sohn in seiner realen Präsenz auf seinen göttlichen Vater als Undarstellbares verweist, so ist die Christus-Ikone ikonische Wiederholung der Offenbarung Gottes als Undarstellbaren. Das in der Ikone sichtbar Gemachte ist in der visuellen Erscheinung Nachahmung des sichtbar Gewesenen – der εἰκών also. Die Logik der Ikone begründet sich jedoch nicht im Sichtbaren, sondern in der Akzeptanz des Unsichtbaren als Unsichtbares: Die Ikone bricht mit der Nachahmung, und zwar indem sie »… vom Sichtbaren zum Unsichtbaren durch Anerkennung geht«291 . Die Ikone ist nicht Mimesis im despektierlichen Sinne, wie es der platonischen Bilddefinition angelastet wird.292 Die Inkarnation als Offenbarung Gottes ist ein einmaliger Anlass, an den die Ikone Christi erinnert – das ist die memorative Funktion des Heiligenbildes. Im Sohn verdeutlicht sich die Differenz zwischen

288 Vgl. etwa Massimo Cacciari: »Die Ikone«. In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a.M. 1990. S. 385-429 und Jean-Luc Marion: »Idol und Bild«, in: Bernhard Casper: Phänomenologie des Idols, München 1981, S. 122 und ders.: Die Öffnung des Sichtbaren, Paderborn 2005. 289 Mari-José Mondzein: Können Bilder töten? Zürich/Berlin 2006, S. 23. 290 Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 77. 291 Ebd. S. 93. 292 Dieser Vorwurf ist an anderer Stelle bereits geprüft worden. Vgl. etwa Gernot Böhme:Idee und Kosmos, Frankfurt a.M. 1996 sowie Wiesing: Artifizielle Präsenz, a.a.O.

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Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen weltlichem und göttlichem Sein: Im inkarnierten Leib des Sohnes gibt sich Gott als Undarstellbares, als das, was sich aller weltlichen Existenz entzieht – das ist das Paradox der Ikone. Die Ikone zeigt nicht Gott, sondern wiederholt dessen Undarstellbarkeit. Diese Undarstellbarkeit stellt die Ikone des Inkarnierten aus – darin begründet sich ihr ikonischer Überschuss. Es ist die Anschauung Gottes, die sich dem eigentlichen kategorischen Begriff entzieht – die Erscheinung Gottes als Undarstellbarer im Bild. Darin begründet sich die Wirkkraft der Ikone Christi. Doch wie kann das Undarstellbare als Undarstellbares im Sichtbaren seine Wirkkraft entfalten?

3. Der Handlungsraum der Ikone

Ist im ersten Kapitel verdeutlicht worden, dass eine Ikone als Zeichen fungiert und sie, indem sie eine bestimmte abwesende Person sichtbar macht, auf das Unsichtbare, welches das Göttliche ist, verweist, begegnet das zweite Kapitel der Ikone auf ihrer handlungstheoretischen Ebene. Es gilt, die Dimension ihrer Praxis zu untersuchen. Gefragt wird, in welcher Weise mit der Ikone agiert wird und inwiefern sie selbst agiert.1 Das folgende Kapitel zielt auf jene bildtheoretische Debatte ab, die dem Bild einen performativen Charakter zuspricht. Dass mit und an Bildern Handlungen vollzogen werden können und Bilder aus ihren spezifischen Eigenheiten heraus selbst aktiv sein können, ist Konsens innerhalb gegenwärtiger bildtheoretischer Debatten. Dass die Ikone als Bild eine Handlung auslöst und gleichfalls als selbst Handelnde agiert, sind somit die zwei Linien, an denen sich das folgende Kapitel orientiert. Dabei gilt es stets, den ikonischen Überschuss des heiligen Bildes vor Augen zu halten – seine Fähigkeit also, das Undarstellbare als solches auszustellen.

3.1 3.1.1

Das spezifische performative Moment der Ikone Das heilige Bild und seine Verehrung

ἅγιος und ἱερός In seinen 1955 an der Harvard Universität gehaltenen Vorlesungen zeigt John L. Austin, dass unter bestimmten Bedingungen Handlungen performativ sind. In seiner im Bereich der Sprachphilosophie formulierten Theorie bestimmt Austin diverse Äußerungen als performativ, wobei er jenen Begriff als Wortneuschöpfung einführt: Abgeleitet vom Verb to perform meint performance »eine Handlung vollzie-

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Dieser Frage stellt sich bereits David Freedberg: The Power of Images: Studies in History and Theory of Response, London (Paperback edition) 1991.

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hen«.2 Worauf Austin letztlich hinaus will, ist die Differenzierung von konstativen und performativen Äußerungen. Konstative Äußerungen beschreiben oder behaupten eine Handlung. Sie können als deskriptiv bestimmt werden, da sie wahre oder falsche Aussagen treffen. Performative Äußerungen sind weniger Verifikationen oder Falsifizierungen als vielmehr einem Gelingen oder Misslingen ausgesetzt, denn sie sind, Austin folgend, an Institutionen und/oder Konventionen gebunden, die sie gelingen oder scheitern lassen: Die Aussage »Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau!« muss von einer autorisierten Person (Standesbeamte) gesprochen werden, damit die im Sprechen vollzogene Handlung der Eheschließung Gültigkeit hat.3 Performative Äußerungen, begriffen als Aussagen, die Handlungen vollziehen, können, wenn sie gelingen, das konstituieren, was sie konstatieren.4 In Anlehnung an die Konzeption des Performativen im Bereich der Sprachund Kulturphilosophie ist nun zu prüfen, ob es für die Ikone den Akt einer performativen Äußerung und Handlung gibt, über die sich die Statusumkehrung eines (einfachen) Tafelbilds hin zur Ikone vollzieht. Der Modus des Performativen ließe sich für die Ikone im Hinblick auf den Akt ihrer Weihe bestimmen. So könnte den nun folgenden Untersuchungen die These vorangestellt werden, dass sich die Setzung des Bildes als ein Heiliges über die Institution einer Weihe vollzieht. Das hieße, dass die Ikone, als der profanen Welt entstammend, aufgrund ihrer Weihe eine Transformation erfährt – dass sich folglich im Akt der Weihe eine Aufwertung vollzieht, über die ein gewöhnlicher Pinax (πῐναξ) zum Heiligenbild erhöht wird. Die Ikonenweihe obliegt einem Priester, der als Institution zum einen aufgrund seines Status die transzendente und irdische Ebene miteinander verbindet und zudem das korrekte Wissen über jede kultische Handlung hat. Die bis in die heutige Zeit in der russisch-orthodoxen Kirche vollzogene Ikonenweihe folgt tatsächlich einem bestimmten Reglement, das neben der Beweihräucherung und dem Bespritzen mit Weihwasser die Ikone in ein entspre-

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Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprache (How to do things with Words), Stuttgart 2005, S. 30. Zur Entwicklung des Begriffs bei Austin siehe auch Erika Fischer-Lichte: Performativität: Eine Einführung, 2., unv. Aufl., Bielefeld 2013, S. 37. Vgl. Austin: Zur Theorie der Sprache, a.a.O., S. 36ff. Vgl. Sybille Krämer/Marco Stahlhut: »Das Performative als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie«, in: Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.): Theorien des Performativen, Berlin 20001, S. 37 in Anlehnung an Austin: Zur Theorie der Sprache, a.a.O., S. 35f.

3. Der Handlungsraum der Ikone

chendes Gebet mit einbezieht.5 Gerade das von einem Priester vor der Gemeinde gesprochene Gebet der Ikonenweihe kann mit Blick auf John L. Austins Sprachphilosophie als die performative Äußerung gedeutet werden, die eine neue Wirklichkeit konstituiert – die das Bild zum Status eines Kultbildes überführt, erhöht und als solches etabliert.6 Doch so einfach ist es nicht, denn die Ikonenweihe wird als solche allein in der russisch-orthodoxen Kirche praktiziert. Die griechisch-orthodoxe Kirche kennt diesen Brauch nicht. Genauso wenig findet sich für diese Form der Weihe ein Hinweis in den byzantinischen Schriften.7 Im Horos der ikonoklastischen Synode von Hireia (754) ergeht sogar der Vorwurf, dass die Ikone gewöhnlich und ungeehrt bleibt, weil sie kein Gebet hat, das sie heiligt.8 Wie aber gelingt es den Ikonophilen, der Ikone trotz ihrer Artifizialität Heiligkeit zuzusprechen? Eine Theorie, die dieser Frage in hinreichender Weise begegnet, ist die moderne Ikonentheorie Marie-José Mondzains, wobei ihre Studien wiederum auf der

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Vgl. Michel Kunzler: »Weihrauch«, in: RGG4 , Bd. 8, S. 1351; Gunda Brüske: »Weihwasser«, in: RGG4 , Bd. 8, S. 1352; Gury Schneider-Ludorff: »Reinigung. V. Christentum«, in: RGG4 , Bd. 7, S. 252. Das Verbrennen von Weihrauch wird in der Ostkirche zu allen liturgischen Feiern vollzogen. Seit dem 4. Jh. gehört es zum Totenritual, später wurden damit liturgische Symbole (Altar, Evangelienbuch) geehrt. Ebenso kann Weihrauch genauso wie Weihwasser als Reinigungselixier verstanden werden. Als solches ist Weihwasser bereits für rituelle Mundwaschungen mesopotamischer Kultbilder überliefert. Das Anmischen des Wassers scheint nicht Höhepunkt eines Ritualverfahrens zu sein, sondern ist der Vorbereitungsphase zuzurechnen. Im Christentum hat die Taufe als zunächst einmaliger Reinigungsakt beim Eintritt ins Christentum elementare Bedeutung. Die Ikonenweihe darf als ein Reinigungsritual begriffen werden. Reinigungsrituale sind wiederum seit alters her Grundbestandteil ritueller Handlungssequenzen und können bei Übergangsritualen, etwa bei Initiationen, Bestattungen und Hochzeiten, vollzogen werden. Dieser Ansatz könnte mit den Studien Victor Turners genauso auf dem Gebiet der Ritualforschung entsprechend erweitert werden. Vgl. ders: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Neuaufl., Frankfurt a.M. 2005. Es ist anzunehmen, dass die in der russisch-orthodoxen Kirche vollzogene Ikonenweihe mit einer Krise des Bildes einhergeht und/oder innerkirchlichen Reformen. So ließe sich diese Weihe durchaus zum einen auf die Frührenaissance (15. Jhd.) mit ihrer Hervorbringung zentralperspektivischer Bilder der hohen Kunst zurückführen. Zum anderen könnte es mit der im Jahr 1652 von Patriarch Nikon angeregten Reform des russischen Ritus einhergehen, die letztlich zur Spaltung der russisch-orthodoxen Kirche führte (neben der Großkirche gab es die sogenannten Altorthodoxen/Altgläubigen). Tiefgreifende Untersuchungen zu dieser Thematik sind jedoch an anderer Stelle zu führen. Für weiterführende Studien zur Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche siehe beispielsweise Thomas Specht: In Kiew fing alles an: Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche, Erlangen 1997. Vgl. Mansi XIII, 268B. Zur Übersetzung siehe Krannich/Stockhausen/Sode (Hg.): Die ikonoklastische Synode von Hiereia 754: Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar ihres Horos, a.a.O.

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byzantinischen Ikonentheorie des Nikephoros von Konstantinopel aufbauen. Tatsächlich gelingt es Mondzain mit ihrer Analyse, das Bildverständnis des Nikephoros aufzuzeigen, der die Ikone schon mit Beginn ihres Herstellungsprozesses als geheiligtes Objekt begreift. Die Beweisführung darüber, ob die Ikone als Artefakt ohne jegliche Art von Weihe als sakrales Objekt gelten darf, geht daher zunächst von der Apologie des Nikephoros aus und wird von der Ikonentheorie Mondzains gestützt. Bereits zu Beginn des Byzantinischen Bilderstreits wird von ikonoklastischer Seite deutlich gemacht, dass allein die Eucharistie aufgrund der Weihe ein wahres Bild ist. D.h., dass sich Heiligkeit allein durch ein solches Ritual konstituiert, das an ein priesterliches Prozedere und an einen bestimmten Ort (die Kirche) gebunden ist: Wein und Brot werden über die eucharistische Weihe ἅγιος (hagios), d.h. heilig, wobei allein der Priester hierfür die Legitimation hat. Um als Symbol für Leib und Blut gelten zu dürfen, bedarf es also der kirchlichen Institution.9 In diesem Sinne sagt Kaiser Konstantin V.: »Das was durch Menschenhand geworden ist, wird das, was nicht durch Menschenhand geworden ist.«10 In der zweiten Phase des Byzantinischen Bilderstreits unterstellt nun Nikephoros von Konstantinopel dieser Definition der Eucharistie, dass sie den Unterschied zwischen ἅγιος und ἱερός (hieros), d.h. zwischen heilig und geheiligt, aufhebt. Worin aber liegt der Unterschied von ἅγιος und ἱερός? In ihren etymologischen Vorbemerkungen zu den Begriffen ἅγιος und ἱερός stützt sich Mondzain auf die Analysen Émile Benvenistes.11 In seinen Untersuchungen der indoeuro-päischen Sprachfamilien weiß Benveniste darzulegen, dass im Griechischen neben den Begriffen ἅγιος und ἱερός genauso das Adjektiv hosios/hosie das Heilige bezeichnen kann. Heilig – ἅγιος – ist das, was von Gott direkt erwählt wird, was von göttlichem Wesen ist. Jedes ἅγιος ist von menschlichen Interventionen distanziert, gilt als das Verbotene, was gleichzeitig die absolute Reinheit seines Wesens garantiert. Das Geheiligte – ἱερός – gehört, so Benveniste, dem Bereich des Heiligen an, ist von göttlicher Macht erfüllt, wobei es ursprünglich ein Profanes ist, das durch göttliches Zutun als Geheiligtes gelten kann. D.h.: Die Legitimation seiner Sakralität bedingt eine göttliche Praxis, die auf der weltlichen Ebene eingreift. Benveniste gibt hier u.a. ein Beispiel aus der Ilias des Homer, wo Zeus die Pferde eines Streitwagens anfeuert, diesen weiter zu ziehen. Der Wagen wird nun nicht

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Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 144. Nicephoros Antirrheticus II 337 C,D in u.a. Georg Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., S. 10. Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 137ff. Zur Etymologie und Definition von hagios und hieros siehe Émile Benveniste: Indoeuropäische Institutionen: Wortschatz, Geschichte, Funktionen, Frankfurt a.M./New York 1993, S. 445-459.

3. Der Handlungsraum der Ikone

grundsätzlich, sondern allein unter dem Zutun des Gottes ἱερός genannt.12 Wie Benveniste zeigt, ist ἱερός eng verknüpft mit ὅσιος/ὁσίη (hosios/hosiē), was ebenso als geheiligt zu übersetzen ist, jedoch in einer Opposition zu ersterem steht: Während ἱερός das Heilige meint, das den Göttern gehört, bestimmt ὅσιος ein von den Göttern den Menschen Vorgeschriebenes und Erlaubtes.13 Aus diesen Analysen zieht Mondzain den Schluss, dass das ἱερός ein Profanes ist, das durch göttliches Zutun oder – wenn es mit ὅσιος assoziiert wird – durch menschliche Praxis, die einer göttlichen Legitimation unterliegt, geheiligt wird.14 Die menschliche Praxis, durch die ein Profanes geheiligt wird, umfasst nun nicht allein rituelle Operation wie die Weihe, sondern genauso Gesetze (νομος/AT) und die geschriebenen sowie die ungeschriebenen Traditionen. Diese Traditionen beruhen auf den Schriften der Kirchenväter, die (sich wiederholende) Sitten und Gebräuche überliefern, und den Definitionen (Horoi) der kirchlichen Synoden, die diese zu Dogmen des christlichen Glaubens erklären. Ein Anliegen des Nikephoros ist es nun, ἱερός und ἅγιος in Relation zueinander zu bringen, wobei mit Blick auf die Ikone abermals die Inkarnation, also das Sichtbarwerden Gottes als Bild des Sohnes, entscheidend ist, denn sie ist das Momentum, in dem das ἅγιος den menschlichen Bereich erreicht, seinen übernatürlichen Charakter jedoch beibehält. In Anlehnung an Nikephoros sieht Mondzain darin das Feld der Tradition um das der visuellen Tradition, die sich auf den Sohn als das Bild Gottes bezieht, erweitert, denn unter dem ökonomischen Fakt der Sichtbarwerdung Gottes begründe sich die Sakralisierung der profanen Welt. Der Begriff Ökonomie steht für Mondzain als Vermittelndes – konkret meint Ökonomie die lebendige Verbindung zwischen unsichtbaren Bild und sichtbarer Ikone, d.h. der Begriff Ökonomie verbindet zwei unterschiedliche Pole, zwischen denen er ein Gleichgewicht und eine Ordnung herzustellen versucht.15 ἱερός agiert dabei letztlich als ein »Ordnungs12 13 14

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Vgl. Homer Ilias 441f sowie Benveniste: Indoeuropäische Institutionen, a.a.O., S. 447. Vgl. Benveniste: Indoeuropäische Institutionen, a.a.O., S. 450ff. Vgl. Nikephoros Antirrehtikos III 464C-465B in der Übersetzung bei Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 157-159. Mondzain bestimmt Nikephoros’ Symbolbegriff in diesem Zusammenhang als einen ikonischen (siehe ebd. S. 137). Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 15. Mit ihrem Verständnis von Ökonomie folgt Mondzain dem ursprünglichen Wortverständnis: Im altgriechischen meinte οἷκος (oikos) in der Übersetzung nicht allein Haus, sondern bezeichnete ebenso die in einem Haus lebende Personengemeinschaft. Für Mondzain rückt der Begriff weniger wirtschaftliche als vielmehr personale Aspekte und damit personale Beziehungen in den Blick. Die Beziehung, auf die Mondzains Ökonomie-Begriff im Hinblick auf die theologischen Auseinandersetzungen des byzantinischen Bilderstreits letztlich abzielt, ist die des Glaubens – des Glaubens an das Bild, an den Sohn und dessen Definition als Bild Gottes. Vgl. dazu weiterführend Emmanuel Alloa: »Oikonomia. Der Ausnahmezustand des Bildes und seine byzantinische Begründung«, in ders./Francesca Falk (Hg.): BildÖkonomie. Haushalten mit Sichtbarkeiten, München 2013, S. 275325.

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Operator«, der die Relation zwischen dem heiligen und dem weltlichen Sein herstellt, was es im Folgenden im Hinblick auf die Ikone näher darzulegen gilt.16 Zunächst begreifen die Ikonoklasten die Eucharistie nicht nur als ein heiliges (ἅγιος), sondern bezeichnen sie als konsubstantielles, d.h. als wesensgleiches Bild. Dem entgegnet Nikephoros, dass in dieser Definition das ἱερός außen vor bleibt, wenn Brot und Wein ἅγιος werden, obwohl sie der profanen Welt entstammen. Daraus zieht nun Nikephoros den Schluss, dass für die Ikonoklasten, wenn sie allein konsubstantielle Bilder billigen, nach ihrer Definition allein die Eucharistie als Bild gelten dürfte.17 Alle anderen geheiligten Symbole, die als nicht geweihte Objekte und daher nicht-konsubstantielle Bilder in jedem Winkel einer Kirche zu sehen sind, müssten jedoch verboten werden. Hier ist zunächst auf Nikephoros‘ Symbol-Begriff einzugehen, zu denen der Patriarch liturgische Objekte, Dekorationen und Ornamente des geheiligten Raums zählt.18 Bereits in Anlehnung an Johannes von Damaskus lässt sich aufzeigen, dass die Symbole sakrale Bedeutungsträger sind – definiert sie Johannes vD doch in seiner Bildhierarchie als von Gott gewollte und gesetzte εἰκονες. Nikephoros bestimmt nun Symbole als Bildwerke des heiligen Raums und differenziert sie dahingehend, dass sie Dekor, Träger oder Ikone sind: Der Träger, der unter etwas ist; das Dekor, als das, was über etwas ist; und die Ikone, die in Relation steht.19 Für Mondzain verdeutlicht sich damit, dass Nikephoros zwischen einem dekorativen und dem ikonischen Denken differenziert: Zunächst kann für Nikephoros ein profaner Gegenstand durch eine Weihe zum liturgischen Objekt werden; ein Dekor ist dann geheiligt, wenn es mit einem heiligen Objekt in Berührung kommt (etwa mit einem Symbol auf einem Kelch); die Ikone jedoch erlangt Sakralität nicht durch Weihe oder Kontamination, sondern aufgrund ihrer privilegierten Relation zu ihrem Prototyp, also zu ihrem Urbild.20 Hierin nun liegt, Mondzain folgend, der entscheidende Unterschied: Das Dekorative zielt auf die Lust des Sehens des Schönen ab und steht in keiner Weise in einer Beziehung zum Inhalt des Behälters, den es schmückt. Jene Relation zwischen Dekor und Träger bestimmt Mondzain als eine ästhetische.21 Dagegen sind Träger und Inhalt der Ikone zu trennen. Dieses ikonophile Denken steht in der Tradition des Johannes vD, der, um es erneut zu ver16

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Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 168. In Bezug auf die geschriebene und ungeschriebene Tradition bei Nikephoros siehe u.a. ders. Antirrhetcus I 212 AC und 220D sowie III 288CD, 385D und 388B. Vgl. Nikephoros von Konstantinopel u.a. Antirrehtikos I 225D-228A. Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 160 mit Bezug auf Nikephoros Antirrehtikos III 464D-465B. Vgl. Nikephoros von Konstantinopel Antirrheticus III 464D-465B und in Anlehnung daran Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 161. Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 161. Vgl. ebd. S. 163.

3. Der Handlungsraum der Ikone

deutlichen, sagt: »Etwas anderes ist das Bild und etwas anderes das Abgebildete.« Nikephoros weiß dieses ikonophile Denken dahingehend zu spezifizieren, dass er die Ikone als eine symbolische Form bestimmt, deren Träger geheiligt (ἱερός) ist, weil er einen ganz bestimmten heiligen (ἅγιος) Inhalt erscheinen lässt.22 Und dieses Erscheinenlassen ist das operative Feld des Ikonischen: Zunächst muss von der formalen Nachahmung der Ikone ausgegangen werden, deren Ähnlichkeitsrelation sich auf ontisch-optischer Ebene vollzieht: Das, was sie visuell nachahmt, ist die (sichtbar gewesene) Ursache, die sie als Bild konstituiert. Indem die Ikone das Urbild offenbart, verklärt ihr heiliges (ἅγιος) Abbild ihre Ähnlichkeit: Das Urbild ist das wirkliche Leben der heiligen Person, an welches die Ikone erinnern soll, und zudem macht sie die abwesende heilige Person für den (betrachtenden) Blick anwesend. Dieses Anwesendmachen darf, Mondzain folgend, keinesfalls als In-Korporation verstanden werden: »Das Bild ist überall Figur von Immanenz, der absoluten im einen [Sohn als Bild], der relativen im anderen Fall [Bild des Sohnes].«23 Mondzain spricht hier von In-Imagination und geht damit weniger von einer Zeichenhaftigkeit des Bildes aus als vielmehr vom Bild als einer Figur des Sinns: Die Ikone verweist nicht einfach auf ein Urbild, sondern ist anschauliche Vorstellung des Bildes im Bild und damit letztlich der Ökonomie der Offenbarung. Mondzains Bilddefinition einer Einschreibung des Sinns in das Bild geht mit der hier im ersten Kapitel dargelegten Theologie der Ikone konform: Geheiligt ist die Ikone, indem sie in Relation zu ihrem Urbild steht, mit dem sie auf eine sinnteilhaftige Weise verbunden ist. Der Sinn des Urbildes – dessen Heiligkeit – schreibt sich relativ in die Ikone ein. Dem folgt Mondzain: »… die Ikone als Symbol wird zur Manifestation per se der Ursache, die ihr Sinn gibt«24 . Das Erscheinen des Abgebildeten markiert so das heilige Feld des Bildes. In Bezug auf ihr Abbild ist die Ikone daher sowohl ἱερός als auch ἅγιος: Heiligkeit, so weiß es Mondzain zu formulieren, »erwächst der Ikone aus der Aktion ihres Urbildes«, das jedoch »in seiner Heiligkeit selbst absent ist und ungreifbar und unsichtbar bleibt«.25 Die Ikone ist Zeichen des Heiligen, doch in-korporiert sie nicht das Heilige selbst, sondern offenbart es. Dies bestimmt Mondzain als »Doppelnatur des Bildes«, die sich darin begründet, dass die Ikone am Heiligen partizipiert, denn sie steht in Relation zum Dargestellten, den sie nachahmt und an den sie erinnert.26

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Vgl. Nikephoros von Konstantinopel Antirrheticus III 464D-465B (dt. Übersetzung siehe Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 159). Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 95. Vgl. ebd. S. 164. Vgl. ebd. S. 156. Vgl. ebd. S. 141.

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Die Inkarnation ist als ein Zutun des Heiligen (ἅγια) auf der Ebene des weltlichen Seins – des Profanen – zu verstehen. Doch muss das Heilige dabei als ein Alteritäres gelten – als Eines also, das sich weder eingrenzen noch umschreiben lässt. Dies weiß Jean-Luc Marion in seiner modernen Ikonentheorie hinreichend zu definieren: »[D]ie Heiligkeit des Heiligen par excellence zeichnet sich dadurch aus, dass es sich von jeglicher Bestimmung ausnimmt, die in ihm das Bedingungslose schwächen und das Unendliche begrenzen würde.«27 Im Sinne Mondzains agiert nun die Ikone als Geheiligtes zum einen als ein Ordnungs-Operator, weil sie in Relation zum Heiligen (ἅγια) steht, und das Heilige erscheint im Bild in Bezug auf das Abbild. Zum anderen operiert sie als Geheiligtes zwischen dem Profanen und dem Heiligen: Weil es ἱερός gibt, bestimmt sich das ἅγιος als das Besondere. Dem folgt Mondzain, wenn sie die Ikone als hieratisches Zeichen verstanden wissen will, dem ein ἅγιος seine Eindeutigkeit, kontrollierte Reinheit und letztlich Erhabenheit verdankt.28 Würde, so Mondzain, die Ikone einen Akt der Weihe erfahren, wäre aufgrund der sich darüber ergebenden Konsubstantialität ein Kommunizieren zwischen dem Heiligen und dem Profanen unmöglich.29 Dies darf dahingehend gedeutet werden, dass das Geheiligte als Mittler und vermittelnder Operator zwischen diesen agiert. Wie im weiteren Verlauf gezeigt werden wird, beruht die Funktion der Ikone für den Gläubigen unter anderem in der Ermöglichung der Kommunikation und Vermittlung zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt. Ein weiterer entscheidender Faktor, den Mondzain eindrücklich hervorzuheben weiß, ist der sich mit der Ikone erweiternde sakrale Raum. Aus Nikephoros‘ Worten lässt sich ablesen, dass dieses für das ikonoklastische Verständnis des Heiligen allein innerhalb der heiligen Räume (der Kirche) erfahrbar ist.30 Dem begegnet Mondzain in Anlehnung an Nikephoros, dass »… es nicht die Sakralität der Orte ist, die den Dingen die Sakralität mitteilt, sondern es die Sakralität der Dinge ist, die sich am Ort ausbreitet«31 . Dies begründet Mondzain dahingehend, dass die Ikone laut Nikephoros von mehreren Sakralitätsebenen durchzogen ist, die Ikone im Sinne einer inneren Aktivität kommuniziert: Die Ikone ist von relativer Ähnlichkeit, steht darüber in einem relationalen Bezug zu ihrem Urbild, und auf der Aktion des Urbildes beruht die Heiligkeit des Bildes, die Mondzain in diesem Zusammenhang als kategoriale Dignität bestimmt.32 Die Ikone ist ein Objekt, von dem aufgrund ihres Abbildes Heiligkeit ausgeht. Wird von einer Erweiterung des

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Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 85. Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 141. Vgl. ebd. S. 156f. Vgl. Nikephoros von Konstantinopel Antirrheticus III 464C [PG 100]. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 158. Vgl. Nikephoros von Konstantinopel Antirrheticus III 380D sowie 381D-384B und Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 156.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Raumes gesprochen, so ist dies dahingehend gemeint, dass die Ikone selbst außerhalb des kirchlichen Raums – etwa im privaten Wohnbereich – ihre Wirkkraft nicht verliert, weil ihr aufgrund ihres Abbildes Heiligkeit inhärent ist. Die Wirkung der Ikone geht von ihr selbst aus. Ihre Wirkmacht verdeutlicht sich da, wo der Gläubige den Akt der Verehrung vollzieht. Wo stehen wir nun mit diesen Überlegungen: ἱερός, also geheiligt, ist die Ikone im Sinne eines Ortes, von dem das Heilige ausgeht; ἅγιος, also heilig, aufgrund ihrer Relation. Der Wirkungsbereich der Ikone berührt die belebte wie die unbelebte Natur, die profane wie die transzendent göttliche Welt. Die Wahrheit der Ikone konstituiert sich also nicht über, in oder durch eine institutionelle Weihe – eine solche benötigt die Ikone nicht, denn ihre Heiligkeit begründet sich in ihrem Urbild, das ihre Ursache ist und ihr Sinn gibt. Im Sinne einer kategorialen Dignität ist zum einen geheiligt, was zur Erscheinung gebracht wird. Zum anderen ist die sich darüber ergebende und dem Bild inhärente Heiligkeit immer personell gebunden, d.h. der Grad der Heiligkeit geht von der dargestellten Person und deren kirchlichem Status aus. Der zur Erscheinung gebrachten Person gebührt die Verehrung, weshalb der Gläubige aufgrund der privilegierten Relation des Abgebildeten vor dem Bild fußfällig wird.33 An dieser Stelle sei es erlaubt, nochmals einen Schritt zurückzugehen: Die Untersuchungen zum Heiligen begannen mit der Definition Benvenistes, die besagt, dass sich ἅγιος von jeglicher menschlichen Intention distanziert und von göttlichem Wesen ist. Hier muss in Erinnerung gerufen werden, dass das göttliche Wesen innerhalb der Ikonentheorien stets als Undarstellbares begriffen wird. Dass die Heiligkeit der Ikone sich in ihrer Relation zum Urbild begründet, ist mit den Theorien Nikephoros und Mondzains verdeutlicht worden. Zu fragen ist jedoch, wie das Heilige in die Sichtbarkeit treten kann, wenn es doch aufgrund des göttlichen Wesens als das Andere – und damit Unsichtbare – gilt. Läuft das Konzept der kategorialen Dignität nicht doch Gefahr, das Heilige den Boden des Seienden berühren zu lassen? Doch um überhaupt erfahrbar und wahrnehmbar zu erscheinen, muss sich das Heilige – wie auch immer – den Möglichkeitsbedingungen von Wahrnehmbarkeit fügen. Die Frage muss somit anders gestellt werden: Wie kann sich das Heilige im Sichtbaren ereignen, ohne seine Undarstellbarkeit aufzugeben?

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Mondzain weist der Ikone in diesem Zusammenhang das Adjektiv evangelisch zu, womit sie sie in das Feld der mündlichen Tradition situiert, denn im Neuen Testament bezeichnet εὐαγγέλιον die Frohe Botschaft vom Heilsgeschehen in Jesus Christus. Eben jene Botschaft ist nämlich keinesfalls schriftlich fixiert, sondern mündliche Verkündigung. Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 155.

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Proskynese Die Geschichte des Bildes ist eine Geschichte seines Gebrauchs – so die Aussage Hans Beltings in dessen außerordentlicher kunsthistorischer Arbeit Bild und Kult.34 Beltings Analysen führen von den antiken Totenporträts zu den Heiligenbildern und darüber zur höfischen Repräsentationskunst bis hin zum Kunstwerk nach unserem heutigen Verständnis. Deutlich wird, dass sich die Handhabe eines Kunstwerkes generell ganz entscheidend von der eines Heiligenbildes unterscheidet und zwar dahingehend, dass ersteres ein Objekt ist, das eine Maltechnik zeigt, während letzteres einem Bildkonzept folgt, das der Verehrung zuträglich ist.35 Beltings Ausführungen lassen sich dahingehend auf den Punkt bringen, dass die Ikone kein Anschauungsobjekt ist, sondern ein Abwesendes vergegenwärtigt, dem aufgrund zuerkannter Heiligkeit Ehre gebührt. Hierbei ist auf den antiken Bildgebrauch Bezug zu nehmen, der sich exemplarisch in den Worten des Basilius von Cäsarea verdeutlicht. Basilius sagt, dass die Ehre, die einem Bild erwiesen wird, auf das Urbild übergeht.36 In seiner Argumentation bezieht sich Basilius auf die Tradition der römischen Kaiserbildnisse, die dem abwesenden Herrscher auch in den entlegenen Provinzen (artifizielle) Präsenz verleihen. Diese Bildnisse dienen bei Rechtsakten römischer Beamter gar als Vertretung des Kaisers.37 Die hier anzuschließende erste Frage ist, wie sich eine Verehrung von Bildnissen ausdrücken kann? Eine erste Quelle, die einer Verehrung christlicher Heiligenbilder (προσκυνητὰ γραφαῖς) positiv gegenübersteht, stammt von Hypatios von Ephesos († um die Mitte des 6. Jhd.) aus der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts.38 Allerdings spricht bereits Epiphanius von Salamis (* um 315, † 403) in seinen ikonoklastischen Schriften, die dieser Ende des vierten und am Beginn des fünften Jahrhunderts verfasst, von einer Verehrung der Bilder: Aber du [Bilderfreund] wirst mir sagen: Die Väter verabscheuten die Idole der Heiden, wir aber fertigen Bilder (τὰς εἰκόνας) der Heiligen zu ihrem Gedächtnis an, und zu deren Ehre verehren wir jene Bilder (καὶ εἰς τιμὴν ἐκείνων ταῦτα προσκυνοῦμεν).39 Es ist nicht abwegig, dass Epiphanios hier Verehrung im Sinne einer Fußfälligkeit vor dem Bild meint, verwendet er doch den Begriff der προσκύνησις (pros34 35 36 37 38 39

Hans Belting: Bild und Kult, a.a.O., S. 457. Vgl. ebd. S. 41. Vgl. Basilius von Cäsarea Über den Heiligen Geist, 18, 45 [PG 32, 149C]. Vgl. Tonio Hölscher: Klassische Archäologie, Darmstadt 2002, S. 249. Vgl. Hypatios von Ephesos Σύμμικτα ζητήματα 1, 5, in: Hans Georg Thümmel: Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre, a.a.O., Text Nr. 58, S. 103-106 und 320f. Epiphanius von Salamis, in: Hans Georg Thümmel: Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre, a.a.O., Text Nr. 38.

3. Der Handlungsraum der Ikone

kynēsis|Proskynese). Ihren Ursprung findet die Proskynese, darin kommt die Forschung überein, in Persien, wo diese der herrschenden Person zuteil wird. Konkret meint Proskynese die Verehrung wie Huldigung des Herrschers, die in der Fußfälligkeit und im Kuss ihren Ausdruck findet.40 Jene Form der Verehrung wird von Alexander dem Großen übernommen und spitzt sich im römischen Kaiserkult dahingehend zu, dass das Volk nicht nur vor der Person, sondern auch vor dessen Abbildern Proskynese vollzieht.41 Es darf davon ausgegangen werden, dass die Ikonenverehrung eine Eigentümlichkeit des Volkes gewesen ist, das heidnische Bildpraktiken für seinen christlichen Bildgebrauch übernahm.42 Dass der Akt der byzantinischen Bilderverehrung vom römischen Kaiserkult beeinflusst ist, davon zeugt nicht zuletzt die bereits herangezogene Lehre des Basilius von Cäsarea. Es gelingt den byzantinischen Ikonentheorien, das von Basilius gelehrte Verständnis der praktischen Handhabe des Bildes für ihre Apologien dingbar zu machen.43 Gerade die darauf aufbauende Lehre des Johannes vD zur Bildverehrung ist für den byzantinischen Bilderstreit wegweisend und findet ihre Reflexion in den Definitionen des bilderfreundlichen Konzils von Nicäa (787). Johannes vD folgt in seiner Bildapologie der Tradition der Kaiserporträts, denen Ehre zuteil wird wie der Person des Kaisers selbst: Eine Schmähung oder Misshandlung der Bildnisse bedeutet eine Verachtung der kaiserlichen Person. Übertragen auf die Ikonen heißt das nun, dass die Schändung einer Christus-Ikone 40

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Zur Diskussion um die verschiedenen Möglichkeiten der innerhalb der Proskynese vollzogenen Adorationsgesten siehe Johannes Horst: Proskynein: Zur Anbetung im Urchristentum nach ihrer religionsgeschichtlichen Eigenart, Gütersloh 1932. Horst gibt dabei einen einschlägigen etymologischen Überblick des Begriffs, wobei er über umfangreiche Einflüsse verschiedenster Sprachen (Indisch, Ägyptisch, Germanisch, Persisch) zeigt, dass die Urbedeutung des Begriffs von der Geste des Kusses herrührt. Darüber hinaus zeigt Horst die verschiedenen Fasetten der Adoratio im antiken Griechenland und Rom bis hin zum Christentum. Vgl. Heinrich Greeven: »προσκυνέω, προσκυντής«, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. VI, Stuttgart 1959, S. 759f. und Wolfgang Fauth: »Proskynesis«, in: Der Kleine Pauli, Bd. 4, München 1972, S. 1189. Vgl. Leonid Ouspensky: »Der Sinn und Sprache der Ikone«, in ders. und Wladimir Lossky: Der Sinn der Ikone, S. 25. Jene Lehre findet sich in ähnlichem Wortlaut ebenso in Athanasius’ Reden gegen Arius. Vgl. etwa: Athanasius Oratio III Contra Arianus 5 [PG 26, 332AB]. Zum Kaiserbild bei Athanasius, Basilius im Vergleich zum Horos von Nicäa II (787) siehe Johannes Bernhard Uphus: Der Horos des zweiten Konzils von Nizäa 787: Interpretation und Kommentar auf der Grundlage der Konzilsakten mit besonderer Berücksichtigung der Bilderfrage, Paderborn 2004, S. 282-306. Johannes vD verwendet das Basilius-Zitat fast wörtlich in Imag I 21, 42-43 (= II 15) ähnlich Imag III 41, 55-56. Siehe ebenso Nikephoros von Konstantinopel Antirrehticus I 280C. Theodor Studites bezieht sich sowohl auf Basilius u.a. in: Antirrehticus I 13, 14 und 19 [PG 99 344-345 und 348-349]; Antirrehticus II 12-15 und 27-40 [PG 99 360 und 369-380] und Antirrehticus III C-D [PG 99 428-436] als auch auf Athanasius u.a. in: Antirrheticus II 13 und 18 [PG 99, 360AB und 361D-365A].

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gleichzeitig die Wahrheit der Existenz des Sohnes als Bild Gottes missachtet. In Anlehnung an die Verehrung des Kaiserbildnisses formuliert Johannes vD seine Definition der Bildverehrung, die nicht der Materie gebührt, die vergegenwärtigt, sondern dem der Ikone zugrunde liegenden Urbild: …ich erweise Verehrung dem Bilde nicht wie Gott, sondern durch das Bild und durch die Heiligen bringe ich Gott die Verehrung und Ehrfurcht dar…   …οὐ δὲ ἐγὼ ὡς θεῷ προσκυνῶ τῇ εἰκόνι, ἀλλα διὰ τῆς εἰκόνος καὶ τῶν ἁγίων τῷ θεῷ προσάγω τὴν προσκύνησιν καὶ τὴν τιμήν…44 Jenes Zitat birgt die Aussage, dass zwischen der Verehrung, die Gott gebührt, und der Verehrung der materiellen Dinge unterschieden werden muss. Konkret differenziert Johannes vD in seiner Bildapologie zwischen λατρεια (latreia) und προσκύνησις (proskynēsis): Während erstere auf die Anbetung abzielt, die allein Gott gebührt, meint Proskynese ganz allgemein die Verehrung Gottes, der Heiligen und der materiellen Dinge (Sakramente).45 Diese konkrete Unterscheidung von λατρεια und προσκύνησις läuft letztlich auf die konkrete Differenzierung zwischen (artifiziellem) Bild und Gott hinaus. Die Lehre von λατρεια und προσκύνησις beruht also auf der Ikonentheorie des Johannes vD. Deren Reflexion in den Definitionen des siebenten ökumenischen Konzils von Nicäa (757) macht die explizite Differenzierung des Anbetungs- und Verehrungsgestus’ zu einer Lehre der orthodoxen Kirche, auf die im theologischen Forschungsfeld stets verwiesen wird. Außerhalb jener Glaubensrichtung scheint sich jedoch bis heute das hartnäckige Vorurteil zu halten, die Ikonen würden von den Gläubigen angebetet. Mit aller Dringlichkeit sei betont: Der Ikone wird aufgrund ihres Abbildes allein Verehrung zuteil; Anbetung gebührt ausschließlich Gott. 44 45

Johannes vD Imag III 26, 39-41. Vgl. Johannes vD Imag III 32-39. Im Hinblick auf die Unterscheidung von latreia und proskynesis werden frühere Arbeiten spezifiziert (vgl. Janine Luge-Winter: »Ikonen, umgekehrte Perspektive und Bilderstreit«, in: Stephan Günzel und Dieter Mersch (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2014, S. 160f.): Obwohl die Forschung darin übereinkommt, dass die Byzantiner zwischen der Anbetung Gottes (latreia) und der Verehrung (proskynesis) der heiligen Dinge unterscheiden, gelingt es Olewińskis aufzuzeigen, dass die Byzantiner keinen Begriff haben, der die Proskynese, die auch Gott erwiesen wird, von der Proskynese, die den weltlichen Dingen erwiesen wird, differenziert: Fußfällig wird der Gläubige vor Gott wie vor dem Bild. Den spezifischen Unterschied mag das kleine Wörtchen τιμή zu leisten, das mit Wertschätzung zu übersetzen ist und in Verbindung mit προσκύνησις die einfache Verehrung meint (vgl. Johannes vD Imag III 26: τὴν προσκύνησιν καὶ τὴν τιμήν). Eine tiefgreifende Studie darüber ist an anderer Stelle zu führen. Ein hilfreicher Ausgangspunkt kann dabei Olewińskis Analyse zur Proskynese und deren unterschiedlicher Definition in der Forschung sein. Siehe ders.: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 542-568.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Auffällig erscheint, dass innerhalb der Forschung zu den byzantinischen Ikonentheorien von einem gewissen Abstand die Rede ist, die die Gläubigen gegenüber dem Bild einnehmen. Konkret will die Forschung dies an der Ikonentheorie des Theodor Studites erkennen. Ohne näher daruf einzugehen wird behauptet, dass der Studite die Verehrung der Ikone aus einer gewissen Distanz heraus vollzogen wissen möchte.46 Distanz kann zunächst räumlich verstanden werden, und zwar dahingehend, dass gefordert wird, die Ikone im Akt der Verehrung nicht direkt zu berühren und zu küssen. Eine solche Forderung lässt sich in den byzantinischen Ikonentheorien nur indirekt herausfiltern, denn es findet sich an keiner Stelle der byzantinischen Ikonentheorien die konkrete Aussage: »Du darfst das Bild weder berühren noch küssen!« Allein Worte wie ehrfürchtige Gebärden und respektvolle Verehrung, von denen die Akten der ikonophilen Synode von Nicäa (787) sprechen, könnten eine räumliche Distanz vermuten lassen.47 Es ist durchaus möglich, dass die byzantinischen Ikonentheorien den Kuss im Verehrungsgestus als Kusshand sehen möchten. Doch kann genauso angenommen werden, dass selbst die frühen Christen ihre Ikonen im Akt der Verehrung berührten. Zumindest ist bei heutigen Ikonenverehrungen zu beobachten, dass die Ikonen der russisch- wie griechischorthodoxen Kirche durch Küssen berührt werden. Obgleich sich eine räumliche Distanz für die byzantinische Ikonenverehrung hier nicht mit Sicherheit behaupten lässt, stünden die byzantinischen Ikonophilen mit einer solchen im Kontrast zum römischen Kaiserbildnis, das im Akt der Verehrung durchaus geküsst und berührt wird. Was aber könnte sich in einem räumlich eingenommenen Abstand erfüllen? Das Wahren eines Abstandes gegenüber dem Bild im Akt der Verehrung käme der zuerkannten Heiligkeit der Ikone entgegen, d.h. das, was verehrt wird, ist das, was erscheint. Im Moment der Berührung könnte die Materialität mit einbezogen werden, könnte es zu einer Identifikation des Materials mit dem Abgebildeten kommen, wodurch sich die Ikone im Bereich des substantialistischen Idols bewegen würde. In der Praxis würde das Bildwerk dann aus seiner Passivität heraustreten, weil es von den Gläubigen als eine selbst anwesende Gottheit aufgefasst werden könnte. Die Verehrung der Ikone muss demnach als eine dem heiligen Bild entsprechende gedeutet werden, um das spezifisch byzantinische Bildverständnis auch im Akt der Verehrung aufrechterhalten zu können. Die Rede von einer Distanz reflektiert sich in den modernen theologisch-philosophischen Untersuchungen Jean-Luc Marions als eine eigentliche Form von Nähe. Marions distance-Begriff meint einen Abstand, den der Betende zu allem ihm weltlich Gegeben einnimmt, um der unsichtbaren und immateriellen göttlichen Rea-

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Vgl. Catharine P. Roths Vorwort zu ihrer Studites-Übersetzung: On the holy Icons, New York 1981, S. 13. Vgl. Chifar, Nicolae: Das VII. ökumenische Konzil von Nikaia. Das letzte Konzil der ungeteilten Kirche, a.a.O., S. 75ff.

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Die Ikone und das Undarstellbare

lität im Denken begegnen zu können.48 In Anlehnung daran ist die Distanz, die der Bildbetrachter im Akt der Proskynese gegenüber der Ikone einnehmen könnte, dahingehend zu deuten, dass der räumliche Abstand dem Denken des Heiligen nachkommt: Allein im Denken, das über das Betrachten der Ikone entsprechenden Anstoß findet, erlangt der Gläubige Gewissheit über das undarstellbare göttliche Wesen. Im Anschluss daran ließe sich eine, obgleich nicht hinreichende Erklärung formulieren: Die räumliche Distanz des Verehrenden gegenüber der Ikone hält das Bild in einer Passivität, d.h. in der Verwendung der Ikone läuft der Gläubige nicht Gefahr, sie auf die Ebene des substantialistischen Idols zu setzen, das in dem aufgeht, was es (materiell) ist und somit nicht über seine bloße Sichtbarkeit hinausweist. Der Ikone gebührt Verehrung, weil sie auf eine bestimmte Person verweist. Die Verehrung wird dabei nicht ihr als Bildwerk zuteil. Dem byzantinischen Verständnis nach muss die Ikone vielmehr als Mittler verstanden werden, der die Verehrung hin zu dem, dem die Ehre gebührt, übermittelt. In diesem Sinne darf Olewińskis Definition gefolgt werden, der den Akt der Verehrung als eine relational-transitive Struktur bestimmt.49 Im Gebrauch des Bildes vollzieht sich dessen Anerkennung als ein Heiliges, ereignet sich die Transformation des Pinax – d.h. des einfachen Tafelbildes – hin zur Ikone. Die Verehrung, definiert als relational-transitive Struktur, impliziert ein Übergehen auf ein Anderes. Konkret geht das byzantinische Bildverständnis von der Möglichkeit aus, dass die Ehre, die dem Bild erwiesen wird, auf den Abgebildeten übergeht, der das Andere – das Alteritäre – ist. Im Zuge der rituellen Handlung der Proskynese agiert der Gläubige mit der Ikone. Hierbei eröffnet die Ikone als Bild einen Handlungsraum, in dem sich Interaktion ermöglicht: Der Akt der Proskynese ist eine vom Bild verursachte motivierte Handlung, innerhalb der der Gläubige in eine Art Kommunikation mit dem Bild tritt. Transitiv ist die Verehrung, die die Kommunikation ist, nun im Glauben, dass über (trans) das Bild die Ehre auf den Abgebildeten übergeht. Die Ikone ist in diesem Sinne Übertragungsmedium. Bis hierhin mag hinreichend beantwortet sein, wie die spezifische Verehrung der Ikone in Anlehnung an die byzantinischen Ikonentheorien zu deuten ist. Doch steht die entscheidende Frage noch unbeantwortet im Raum: Inwiefern kann das Heilige, dem die der Ikone dargebrachte Verehrung eigentlich zukommt, überhaupt die Ebene der Sichtbarkeit erreichen? Im Sinne Benvenistes muss es von menschlichen Interventionen unberührt bleiben, um als heilig (ἅγιος) gelten zu können. Nicht zuletzt betont Jean-Luc Marion, dass die Heiligkeit des Heiligen

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Hier lehnt sich Marion an die Lehre des Ps. Dionysios Areopagites an. Vgl. Jean-Luc Marion: »Intimität durch Abstand: Grundgesetz christlichen Betens«, in: IKaZ 4 (1975), S. 218-227. Vgl. Olewiński: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 552ff.

3. Der Handlungsraum der Ikone

seine Unendlichkeit nur bewahren kann, wenn es von jeglicher (weltlicher) Bestimmung ausgenommen bleibt.50 Das Heilige lässt sich nicht sehen und doch muss es sich wie auch immer den visuellen Möglichkeitsbedingungen fügen, damit es der Mensch erfahren kann. Marion nennt dies »die Gebung für einen endlichen Geist«51 . Rückverweis der Heiligkeit und der Verehrung Wird die Ikone als Mittler definiert, so bringen wir das Heiligenbild mit dem Medienbegriff in Verbindung. Als zunächst schwierig erweist sich diese Gleichstellung dahingehend, dass sich die explizite Verwendung des Begriffs des Mediums (τὸ μεταξῠ) nur schwer in den byzantinischen sowie in den modernen Ikonentheorien ausfindig machen lässt.52 Allerdings lassen sich die medialen Eigenschaften des Mitteilens und Vermittelns als mögliche bildrelevante Eigenschaften bestimmen, was hier bereits anhand der transitiven Struktur der Proskynese dargelegt wurde. Entscheidend für die Möglichkeit einer Verehrung der Ikone ist das Verständnis, dass sie einem Anderen, d.h. einer anderen Wirklichkeit als ein Anderes, nämlich als Bild, Sichtbarkeit verleiht. Über das Andere des Bildes wiederum institutionalisiert sich dessen kultische Verwendungsweise. In diesem Sinne formuliert den Status der Verehrung bereits der Horos von Nicäa (787): »Wer ein Bild verehrt (προσκύνει), der verehrt die Wirklichkeit, die darauf dargestellt ist.«53 Jener Satz ist im Hinblick auf die allgemeine Schöpfungstheologie zu lesen, innerhalb der das weltliche Sein zur göttlichen Wirklichkeit in Relation steht. Dies spiegelt sich gleichfalls in den Worten des Johannes vD wider, der davon ausgeht, dass sich »διὰ τῆς εἰκόνος«54 – also »durch das Bild« – eine Vermittlung ermöglicht, die im Hinblick auf die Ikone als eine theologische gedeutet werden muss. Im Sinne einer Vermittlung fungiert die Ikone so als Medium zwischen der weltlichen und der göttlichen Ebene. Im Falle der Proskynese erfolgt diese Vermittlung von »unten« nach »oben«, also von der weltlichen hin zur transzendenten Ebene.55 Dass diese

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Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 85. Ebd. S. 85. Dass der Medienbegriff innerhalb der Ikonentheorie keine Berücksichtigung findet, ist nicht außergewöhnlich. Dass der Medienbegriff in bildtheoretischen Untersuchungen meist flach ausfällt und umgekehrt genauso der Bildbegriff in Medientheorien auffällig unterkomplex reflektiert wird, darauf weist bereits Sabine Wirth hin. Wirth sieht die Begründung darin, dass die jeweiligen theoretischen Konzepte miteinander in Konkurrenz stehen. Vgl. Sabine Wirth: »Medientheorie: Bilder als Techniken.«, in: D. Mersch/S. Günzel: Bild: Ein interdisziplinäres Handbuch, a.a.O., S. 123f. Mansi XIII, 373-308 hier nach der Übersetzung von Gervais Dumaige: Nizäa II, Mainz 1985, S. 293. Johannes vD Imag. III 26, 39-40. So bereits von Hans Georg Thümmel gedeutet. Vgl. ders.: Bilderlehre und Bilderstreit, a.a.O.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Übermittlung als eine relativ-transitive Struktur zu verstehen ist, ist bereits dargelegt worden. Jedoch agiert die Ikone als Medium ebenso von »oben« nach »unten«, d.h. von der transzendenten hin zur weltlichen Ebene, was folgendes Zitat verdeutlicht: »So wie sie nun wahrhaft Götter sind – nicht der Natur nach, sondern als Teilhaber dessen, der der Natur nach Gott ist – so sind sie Verehrte nicht der Natur nach, sondern als jene, die in sich den der Natur nach Verehrten haben…«   »Ὥσπερ τοίνυν ἀληθῶς εἰσι θεοὶ οὐ φύσει, ἀλλ᾽ ὡς τοῦ φύσει θεοῦ μέτοχοι, οὕτως εἰσὶ προσκυνητοί, οὐχὶ φύσει, ἀλλ᾽ ὡς τὸν φύσει προσκυνητὸν ἐν ἑαυτοῖς ἔχοντες…«56 Abermals ist auf die allgemeine Schöpfungstheologie und die Bilddefinition der byzantinischen Ikonophilen Bezug zu nehmen. Letzterer liegt, das ist bereits eingehend dargelegt worden, ein relationales Verständnis zu Grunde, denn jede εἰκών (Bild) ist Abbild eines Urbildes, das sein ontologischer Grund ist, weil es mit ihm (sinn-)teilhaftig – d.h. »οὐχὶ φύσει«, also »nicht der Natur nach« – verbunden ist.57 Darin legitimiert sich für die Ikonophilen die Verehrung des Geschaffenen, weil alles immer von Gott her ist und daher zu ihm in relationalem Bezug steht. In diesem Sinne steht εἰκών immer in Relation zum Urbild, von dem her sie sich konstituiert. Die Christen begreifen das Bild – respektive die Materie – daher nicht als ein Hindernis, sondern als ein Vehikel für ihre Gottesschau, denn Gott kann letztlich in allem geschaut werden.58 Worin aber liegt nun der Vorteil, wenn das Heiligenbild nicht allein als Zeichen, sondern konkret als Medium bestimmt wird? Die Antwort begründet sich in der Rolle des Medialen als ein Vermittelndes und der damit einhergehenden Möglichkeit einer Hervorbringung: 56 57 58

Johannes vD Imag III 33. Siehe dazu ausführlich Kap. 2.2.1 Die Ikone als εἰκών von Gott. Hierin begründet sich der fundamentale Unterschied zwischen dem Christentum und dem Platonismus. Letzterer findet für den εἰκών-Begriff allein auf der Ebene der Sinneserfahrung Verwendung: εἰκών agiert dabei als bloßer Abbildbegriff in dem Sinne, dass εἰκονες täuschen und von der Wahrheit ablenken, die die Ideen sind und von denen der εἰκών-Begriff wiederum deutlich abgegrenzt wird. Vgl. etwa zur Thematik der Leiblichkeit als Hindernis eines möglichen Erkennens der wahren Idee Platon Phaidros 250b-c: »… hiesige Abbilder haben keinen Glanz, sondern mit trüben Werkzeugen können unter Mühen von ihnen nur wenige jenen Bildern sich nahend des Abgebildeten Gestalt erkennen. Die Schönheit aber war damals glänzend zu schauen, als mit dem seligen Chor wir dem Jupiter des herrlichsten Anblicks und Schauspiels genossen […] und geweiht in reinem Glanz, rein und unbelastet von diesem unserem Laib, wie wir ihn nennen, den wir jetzt eingekerkert wie ein Schalentier mit uns herumtragen.« Vgl. dazu Grillmeier: Jesus Christus, a.a.O., S. 103 und Olewiński: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 539.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Medium meint vom anfänglichen Wortverständnis her ein »Dazwischen«. Wobei Medium die lateinische Übersetzung des altgriechischen τὸ μεταξῠ (to metaxy) ist, das bereits bei Aristoteles Verwendung findet und mit dem Diaphanen (διαφᾰνής|diaphanēs) assoziiert wird: Diaphanes meint ein »Dazwischen« sowie ein »Durchscheinendes« und »Durchsichtiges«, durch das ein Anderes sichtbar wird.59 Ganz allgemein bilden Medien, und hier sei der Mediendefinition Dieter Merschs gefolgt, »Instanzen der Übermittlung, Darstellung, Verbreitung, des Austauschs und der Wiederholung«, und als derartige sind sie Ver- und Übermittler, durch die ein Alteritäres, das »weder Zeichen noch Erfahrung, weder Wahrnehmung noch Repräsentation ist […] als solches erst vorgestellt und ausgedrückt oder interpretiert wird.«60 Dieses Andere – das Alteritäre – ist im Falle der Ikone zunächst die abwesende, jedoch zu einem Zeitpunkt sichtbar gewesene heilige Person und in der schöpfungstheologischen Linie darüber hinaus das transzendent Göttliche, das sich jeglicher Sichtbarmachung entzieht.61 Somit fungiert die Ikone nicht allein als ein Zeichen, das an eine (vorgegebene) Wirklichkeit erinnert (heilige Person), die sie wiederholt. In ihrer spezifischen Sichtbarmachung ist sie ebenso Ermöglichung der Mitteilung des Unsichtbaren. Das Alteritäre, so begreift es etwa Johannes vD, teilt sich der Ikone mit, so wie sich einem Mantel, wenn dieser von einem König angelegt wird, die mit dem Bekleideten verbundene Ehre mitteilt.62 Darius Josef Olewiński weiß diese Stelle in seinem Johannes-Kommentar zu deuten, indem er sie im Modus des TeilhaftigWerdens liest: Teilhabe im Sinne einer von außen hinzukommenden transzendenten Dimension, die die (weltliche) Wirklichkeit prägt.63 Dem lässt sich Sybille Krämers Definition zur Seite stellen, der folgend Medien wie Spuren als »Boten« verstanden werden, die das Diesseits mit dem Jenseits verbinden.64 Hier kann auf den Modus des Passiven Bezug genommen werden: Wenn Medien mit dem Spurbegriff in Verbindung gebracht werden, so folgt jedes einzelne Medium dem UrsacheWirkung-Prinzip, wodurch es nicht selbsttätig ist, sondern sich aufgrund eines äu-

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Vgl. außerdem Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006, S. 19 und Aristotele Nikomachische Ethik, VI 4, 1140a. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, a.a.O., S. 9. Siehe dazu ausführlich Kap. 2.2.2.2 Sichtbarmachung. Vgl. Johannes vD Imag I 36, 18-22: »… wenn aber ein König ihn [den Mantel] anlegt, dann wird aus der mit dem Bekleideten verbundenen Ehre (ἐκ τῆς τιμῆς) der Bekleidung mitgeteilt (μεταδίδοται), so sind die Materien selbst an sich zwar nicht verehrungswürdig, wenn aber der Abgebildete (ὁεἱκονιζόμενος) voll der Gnade ist, [dann] werden sie Teilhaber der Gnade (μέτοχοι χάριτος γίνονται)…« Vgl. Olewiński: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 159f. Vgl. Sybille Krämer: »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme«, in dies./Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.): Spur: Spurenlese als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M. 2007, S. 18.

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Die Ikone und das Undarstellbare

ßeren Hinzutuns konstituiert. Krämer folgend ist es der Moment einer Fremdbestimmung im Hinblick einer von Außen bestimmten Setzung des Mediums, das es zu einem heteronomen und somit unselbständigen Boten eines Anderen macht.65 Von der Altarität des Bildes spricht bereits Johannes vD, wenn er sagt: »Etwas anderes ist das Bild und etwas Anderes das Abgebildete.«66 Dies impliziert einen unüberbrückbaren Rest, der sich nicht in die Struktur des Bildmediums überführen lässt. Dies lässt sich nun für die Ikone dahingehend konkretisieren, dass sie gar nicht beansprucht, diesen zu übertragen, worin sich ihr ikonischer Überschuss begründet. Mit Bezug auf Jean-Luc Marions moderne Ikonentheorie begründet sich der ikonische Überschuss darin, dass die Ikone sich als nachahmendes Bild verweigert, weil sie gerade nicht versucht, ihr Anderes darzustellen. Das, was sie sichtbar zeigt, ist die gewesene fleischliche Gestalt des Sohnes, der selbst in seiner Sichtbarkeit (als Sohn) das Unsichtbare anerkennt. An dieses Faktum der Anerkennung ist die Sichtbarkeit der Ikone gebunden, die, indem sie in Bezug ist, auf das Unsichtbare verweist.67 Jenen Verweis definiert Marion zunächst im Hinblick auf die Heiligkeit als Rückverweis, denn Christus bezeugt seine eigene Heiligkeit nur, weil er die Einzigkeit des undarstellbaren Gottvaters bezeugt: »Christus gelangt zur Heiligkeit, indem er von ihr zugunsten seines Vaters zurücktritt, sodass von nun an alle Heiligkeit in ihrer Selbstübertragung auf den unsichtbaren Heiligen zur Erfüllung kommt.«68 In Anlehnung daran operiert die Ikone nun ebenso im steten Rückverweis der Heiligkeit, worüber sich ihr eigener Status an Heiligkeit ergibt: »Durch den Rückverweis – besser: durch das Sich-Rückverweisen – auf den allein Heiligen, bringt sich die Ikone zur Erfüllung, indem sie endgültig darauf verzichtet, vorzugeben, den Heiligen […] nachzuahmen.«69 Die von Mondzain ins Feld geführte Funktion der Ikone als Ordnungsoperator findet hier dahingehend Bestätigung, dass die Ikone selbst vom Anspruch zurücktritt, heilig (ἅγιος) zu sein, weil sie, im Sinne Marions, den Rückverweis der Heiligkeit wiederholt. Heiligkeit ergibt sich somit nicht aufgrund einer inneren Entsprechung: Vielmehr ist die Ikone allein dadurch verherrlicht, dass sie darauf abzielt, Heiligkeit an das Unsichtbare zurückzugeben.70 Dies gelingt der Ikone, weil sie nicht versucht, etwas nachzuahmen. Vielmehr vergegenwärtigt sie – aufgrund ihres spezifischen in Bezug Stehens – die göttliche Natur als das Undarstellbare.

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Vgl. Krämer: »Was also ist eine Spur?«, a.a.O., S. 18. Johannes vD Imag III 16. Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 93f. Ebd. S. 94. Ebd. S. 94. Vgl. ebd. S. 95.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Im Anschluss daran kann die als relational-transitiv bestimmte Verehrung ebenso im Sinne eines Rückverweises gedeutet werden. Gerade in der von den Byzantinern geforderten Unterscheidung von Anbetung und Verehrung sieht Marion die Bestätigung, dass die Ikone nicht den Anspruch erhebt, die heilige göttliche Natur zu konstituieren. Mit Blick auf den Modus einer Transitivität betont Marion, dass die dargebrachte Verehrung nicht die Ikone selbst betrifft, sondern – und hier zitiert er den Horos von Nicäa II – »die Hypostase Dessen, der sich ihr einschreibt«71 . Indem sie im Akt der Verehrung im steten Rückverweis der Verehrung auf den, dem diese gebührt, als spezifisches Medium operiert, wahrt die Ikone ihre Transparenz, die sich in einem steten Überschreiten ihrer eignen Sichtbarkeit begründet, weil sie zum Unsichtbaren hin tendiert. In diesem Sinne formuliert Marion seine entscheidende Definition der Sichtbarkeit der Ikone, die sich nicht auf ein anderes Sichtbares hin öffnet, »… sondern vielmehr auf das Andere des Sichtbaren – das unsichtbare Heilige«72 . Die sich darin begründende spezifische Transparenz des Bildes definiert sich in der Ikonentheorie Marions als die entscheidende Differenz zwischen Ikone und Idol. Die Wahrnehmung des Undarstellbaren als solchem ist dabei gebunden an einen erblickenden Blick, den es im Folgenden zu spezifizieren gilt.

3.1.2

Ikone als agierendes Bild

Gebung des Anderen Wohin führt uns ein Reden über das Andere des Sichtbaren? Es lässt uns die Ikone weniger in ihrer Gegenständlichkeit als vielmehr im Hinblick auf ihre Phänomenalität betrachten. Ein Reden darüber führt uns an den Punkt, an dem der Betrachter sich des Undarstellbaren im Bild gewahr wird. Es führt uns dahin, wo sich das Andere des Bildes offenbart, das im Falle der Ikone als das (undarstellbare) Heilige erblickt wird: Das Undarstellbare gibt sich im Blick, der als Anblick vom Bild selbst herkommt und sich im Anblicken ereignet. In einem sich darin vollziehenden Wahrnehmungsgeschehen steht nicht das Subjekt, also der Bildbetrachter im Mittelpunkt. Das Subjekt ist vielmehr das Passive, das »in den Blick genommen wird« – mit ihm ereignet sich etwas. Die Frage nach dem Anderen des Bildes, das hier das undarstellbar Göttliche ist, richtet sich auf dessen Ereignen als Gebung im Seienden, d.h. in der Sichtbarkeit. Damit sind zunächst Ereignis und Gabe die zu erläuternden Begriffe. In der Einleitung des Bandes Ereignis auf Französisch, markiert der Herausgeber Marc Rölli Ereignis als die für die Menschen »kategorial unfassbare Erfahrung«,

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Vgl. ebd. S. 96. Ebd. S. 96.

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Die Ikone und das Undarstellbare

über die sich neue Möglichkeiten für deren Existenz ergeben.73 Rölli betont in diesem Zusammenhang, dass der Ereignisbegriff vor allem in der französischen Philosophie der Gegenwart einen hohen Stellenwert einnimmt. So verwundert es nicht, dass Jean-Luc Marion, dessen Aufsatzsammlung Die Öffnung des Sichtbaren in der hier vorliegenden Arbeit als moderne Ikonentheorie verstanden wird, sich in seinen philosophischen Untersuchungen des Begriffs annimmt.74 Die Öffnung des Sichtbaren ist zunächst eine Theorie des Bildes, die Marion auf die Ikone – als das besondere Bild – hin ausrichtet. Grundsätzlich steht Marions Ereignisbegriff in der Tradition Heideggers, dessen Ereignis-Denken Grundpfeiler einer Seinsphilosophie ist. In seinen Auseinandersetzungen mit der Metaphysik definiert Heidegger die ontologische Differenz von Sein und Seiendem, wobei die Metaphysik selbst von einer Seinsvergessenheit geprägt ist, weil sie das Sein nicht vom Seienden unterscheidet, sondern selbst als Seiendes denkt.75 Darüber ergeht Heideggers Aufforderung, das Sein als Sein an sich zu denken – als Seyn des Seienden, wie er es in seinen Beiträgen bestimmt, das außerhalb des Metaphysischen zu denken ist.76 Ein Denken des Seyns ist möglich in dem Sinne, dass es sich nach Heidegger als Ereignis gibt: »Das Seyn ist das Ereignis. Dieses Wort nennt das Seyn denkerisch, gründet seine Wesung in ihr eigenes Gefüge.«77 Wesung meint wiederum, dass das Ereignis keinesfalls ein Gegenstand ist, sondern das Ereignis west, d.h. das Ereignis wird von jemandem erfahren, dem sich das Seyn im Ereignis gibt: Das, was sich als das Andere im Ereignis gibt, kann als Gabe des Neuen verstanden werden. Dieses Neue, das ein Anderes ist, wird dem Menschen gegeben – Heidegger spricht hier von schenken78 – und lässt für diesen

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Vgl. Marc Rölli: Einleitung: Ereignis auf Französisch, München 2004, S. 7. Ausführlich widmet sich Marion dem Begriff des Ereignisses in Jean-Luc Marion: Gott ohne Sein, Paderborn 2014 (dt. Übersetzung auf Grundlage der 3. durchgesehenen und erweiterten Auflage des französischen Originals Dieu sans l’Être aus dem Jahr 2002). Vgl. außerdem ders.: »Eine andere »Erste Philosophie« und die Frage der Gegebenheit«, in: Michael Gabel/Hans Joas (Hg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe: Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, München 2007, S. 56-77 und Jean-Luc Marion: »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, ebd. S. 37-55. Siehe hierzu Martin Heidegger: Sein und Zeit, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1977. Vgl. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), Frankfurt a.M. 1989, S. 436: »Das seynsgeschichtliche Erfragen des Seyns ist nicht Umkehrung der Metaphysik, sondern Entscheidung als Entwurf des Grundes jener Unterscheidung, in der sich auch noch die Umkehrung halten muss. Mit solchem Entwurf kommt dieses Fragen überhaupt in Außerhalb jener Unterscheidung von Seiendem und Sein; und sie schreibt deshalb auch das Sein jetzt als Seyn. Dies soll anzeigen, daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht wird.« Heidegger: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), a.a.O., S. 470. Pirktina vermerkt, dass sich der Begriff der Gabe in den Beiträgen zur Philosophie nicht findet, sondern allein Begriffe wie Schenkung und schenken. In Zeit und Sein ist dann davon die Rede,

3. Der Handlungsraum der Ikone

einen Entscheidungsraum entstehen. Für den Menschen eröffnet sich so ein Horizont neuer Möglichkeiten.79 Somit gibt es – Heidegger folgend – kein Seyn ohne ein Dasein, dem es sich geben kann. Heideggers Philosophie bereitet für Marion den Weg vor, Gott ohne Sein zu denken. In Anlehnung an Heideggers seinsphilosophische Überlegungen versucht Marion Gott außerhalb der Metaphysik »anzusiedeln«, d.h. Gott unabhängig vom Satz des zureichenden Grundes oder des kantischen a priori zu denken. Die Frage nach dem Anderen ist für Marion damit eine theologische Frage, d.h. das Andere, bestimmt als das kategorial Unfassbare, ist Gott. In Anlehnung an Heidegger fordert Marion, ein Denken des Seins in Bezug auf Gott zu überwinden – konkret: ihn außerhalb allen Seins zu denken.80 Der entscheidende Kritikpunkt Marions an Heidegger ist dessen Vorordnung der Philosophie vor die Theologie: Obgleich Marion ein nicht-metaphysisches Denken von Gott bei Heidegger schon vorgegeben sieht, ist mit dieser Vorordnung die Seinsfrage vor der Gottesfrage gestellt, wird Gott somit vom Sein her gedacht.81 Jedoch sei Marions Kritik an Heideggers Denken hier nicht weiter verfolgt.82 Zu fragen ist, wo sich Gott im heiligen Bild sehen lässt – konkret: Wie zeigt sich, nach Marion, Gott als das Andere in der Ikone – oder besser durch sie –, wenn sich Offenbarung des undarstellbaren Gottes außerhalb eines jeglichen Seins – und damit außerhalb eines möglichen Horizonts – ereignen muss, weil sie außerhalb eines kategorialen (und damit metaphysischen) Rahmens zu denken ist. Der Begriff der Offenbarung bezieht sich auf das Undarstellbare, das sich im Bild, wie auch immer, gibt. Zu fragen ist, wie sich Offenbarung vollzieht, wenn sie in ihrem spezifisch religiösen Sinn als das verstanden wird, was die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung überschreitet? Konkret lässt sich in Anlehnung an Marion nach der Offenbarung Gottes als mögliche phänomenale Gegebenheit im Bild fragen. Die Untersuchungen haben bis hierhin dargelegt, dass die Ikone die gewesene Gestalt Christi zeigt, worüber sich die Offenbarung des Göttlichen (im Bild)

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dass sich das Seyn gibt. Vgl. Lasma Pirktina: Ereignis, Phänomen und Sprache, Nordhausen 2012, S. 45. Vgl. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), a.a.O., S. 287-289 und Pirktina: Ereignis, Phänomen und Sprache, a.a.O., S. 45-61. Ganz konkret entwickelt Marion diesen Gedanken in seinem 1982 erschienenen philosophischen Hauptwerk Dieu sans l’Être (dt.: Jean-Luc Marion: Gott ohne Sein, a.a.O.). Vgl. Marion: »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«, a.a.O., S. 56-77 sowie Tobias Specker: Einen anderen Gott denken? Zum Verhältnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion. Frankfurt a.M. 2002, S. 173-185. Siehe dazu u.a. Specker: Einen anderen Gott denken? a.a.O. und Lasma Pirktina: Ereignis, Phänomen und Sprache, a.a.O.

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Die Ikone und das Undarstellbare

ermöglicht. Die Offenbarung des Undarstellbaren im Bild ist gebunden an die Person Christi und deren (paradoxe) Verbindung der menschlichen mit der unsichtbar göttlichen Natur. Nach Marion bewegt sich ein Denken des Unsichtbaren dann in einem metaphysischen Horizont, wenn es als ein Ist – als ein Seiendes also – begriffen wird, dessen Existenz oder Inexistenz durch eine Wirk-Ursächlichkeit und letztlich Begrifflichkeit erklärbar ist.83 In diesem sich auf Basis der Vernunft (des Ich/des Daseins) eröffnenden Rahmen ist die Sichtbarkeit Christi das Seiende, das sich im Bild als ein Ähnliches wiederholt. Marions Überlegungen rücken nun das Unsichtbare als solches ins Zentrum der Überlegung, weil bei ihm die Offenbarung Christi als eine Gebung des radikal Anderen begriffen wird, dass von außen einbricht.84 Ausgehend von Husserls phänomenologischem Ansatz entwickelt Marion eine Phänomenologie der Offenbarung als Gebung des radikal Anderen, das sich dem Bewusstsein gibt.85 Definiert als Gegebenheiten des Bewusstseins ist nach Husserl ein Seiendes ein Phänomen und ein Nachdenken darüber Phänomenologie. Im Sinne der phänomenologischen Reduktion gilt es, ein Seiendes – respektive eine Sache, einen Gegenstand – unabhängig von dessen weltlicher Existenz (Raum, Zeit, Natur) zu betrachten; somit ist nach dem Wesen zu fragen, wobei Wesen das ist – so weiß es Blumberg zu definieren –, das übrig bleibt, wenn Dasein von einer Sache abgezogen worden ist.86 In seiner Forderung, sich nach den Sachen selbst zu richten87 , kürt Husserl das Phänomen als Gegenstand des Erkenntnisprozesses, bei dem es stets um Erkenntnis von etwas geht, das dem Subjekt im Sinne eines »Gegenübers« erscheint. In seiner Beurteilung der husserlschen Aufforderung zur Reduktion ermöglicht sich für Marion die Gebung des Anderen – die Offenbarung dessen – im Phänomen: »Zu den Sachen selbst zurückzukehren heißt soviel, wie die Phänomene an ihnen selbst zu erkennen, ohne sie der (hinreichenden) Bedingung einer voraufgehenden Instanz (Ding an sich, Ursache, Prinzip etc.) zu unterwerfen, kurz, sie zu be-

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Vgl. Jean-Luc Marion: »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung«, in: Michael Gabel/Hans Joas (Hg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe: Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, München 2007, S. 16. Vgl. Thomas Alferi: »Von der Offenbarungsfrage zu Marions Phänomenologie der Gebung«, in: Michael Gabel/Hans Joas (Hg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe: Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, München 2007, S. 217. Vgl. Marion: »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung«, a.a.O., S. 19f. Vgl. Hans Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, Frankfurt a.M. 2002, S. 240. Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Halle/Saale 2009, S. 35.

3. Der Handlungsraum der Ikone

freien von jedem vorausgehenden anderen als ihrer bloßen Gegebenheit (es gibt), von der das Bewusstsein noch vor jeder Konstitution das Zeugnis beibringt.«88 Gegebenes versteht Marion im Horizont der Gegebenheit, ohne diese einfach miteinander zu identifizieren. Er bindet ein Gegebenes an Gegebenheit, da ohne Gegebenheit das Gegebene unter reduktiven Vorausetzungen nicht erscheinen oder gedacht werden könne.89 Gegebenheit (frz. donation) eröffnet sich dabei in der Entfaltung des Gegebenen. Hier sei auf die Zweideutigkeit des französischen Begriffs donation, also Gegebenheit, hingewiesen: Donation meint zum einen das Resultat als gegebene Gabe (le don) und ebenso Gegebenheit als Prozess, d.h. als Gabeereignis (le donner).90 Jene Mehrdeutigkeit weiß Marion als eine phänomenale Faltung (le pli) an die Gabe zu binden, worin er dem Grundgedanken folgt, »… dass sich das Gegebene in seiner Gegebenheit als eine Gabe erweist, die, in dem Maße, wie seine Falte ausgefaltet wird, zu einem Gabeereignis zurückleitet«91 . Allerdings begründet sich hierin für Marion ein Paradox der Gegebenheit, weil eben jene Faltung sich als asymmetrisch erweist: »Das aus einem Gegebenheitsprozess hervorgegangene Gegebene erscheint, lässt jedoch die Gegebenheit selbst im Verborgenen.«92 Das, was erscheint, geht so mit einem Entzug einher (worin Marion an Heidegger anschließt). Dabei darf Gegebenheit des Phänomens nicht als ein Geteiltes verstanden werden, d.h. nicht im Sinne eines relativen Objekts und dann als dessen Gegebenheitsweisen, sondern Gegebenheit in einer Bestimmung: In ihrer Korrelation entfalten Erscheinen und Erscheinung die Gegebenheit, die sie selbst sind.93 Entscheidend ist, dass sich in der Gegebenheit des Phänomens nach Marion, dieses sich vor jeder Konstitution eines Was zuallererst selbst gibt.94 Die Befreiung von einem Vorausgehenden, von der Marion im obig aufgeführten Zitat spricht, muss somit als die Forderung der Aufhebung des zureichenden Grundes gedeutet werden, worüber sich für Marion eine Berücksichtigung jener Phänomene ermöglicht, die von Unmöglichkeit geprägt sind.95 Grundsätzlich geht es Marion (in Anlehnung an Heidegger) um den Weg eines »Sich-von-sich-selbst-herZeigens« des Phänomens, worüber es sich ermöglicht, außerhalb einer metaphy88 89 90 91 92 93 94 95

Marion: »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung«, a.a.O., S. 20. Vgl. Marion: »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, a.a.O., S. 46. Vgl. ebd. S. 49. Vgl. Hans-Dieter Gondek/László Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011, S. 161 und ebd. Anm. 440. Marion: »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, a.a.O., S. 52. Vgl. ebd. S. 42. »Das was sich zeigt, gibt sich zuvor.« ist Thema von Étant donné. Vgl. Hans-Dieter Gondek/Lázló Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich, a.a.O., S. 163. Vgl. Marion: »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung«, a.a.O., S. 21.

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Die Ikone und das Undarstellbare

sischen Erkenntnis »das Erscheinen selbst erscheinen [zu] lassen«.96 Nach Marion gibt sich ein Phänomen selbst, d.h. es bedarf keines Gebers – das Phänomen erscheint selbst: Das ist die von Marion in die Diskussion gebrachte immanente Selbst-Gegebenheit (auto-donation) des Phänomens.97 Jene Selbst-Gegebenheit des Phänomens geht mit einer Sinnwirkung einher: Für Marion gibt ein Phänomen den Sinn von sich selbst her, weshalb sich dieser nicht im Rahmen einer Wesensschau oder des Daseins konstituiert; Sinn ist, wie das Phänomen selbst, außerhalb des Seins zu denken.98 Dieses Verständnis einer Sinnwirkung steht im Unterschied zu Husserls Verständnis einer (subjektiven) Sinngebung. Husserls phänomenologische Überlegungen bergen für Marion dahingehend eine Schwierigkeit, dass sie immer einen Horizont des Seins setzen, in dessen Grenzen das Subjekt (verobjektivierte) Phänomene intentional konstituiert. Mit seiner Konzeption einer Selbst-Gegebenheit versteht Marion nicht das Subjekt als den Urheber des Gegebenen (donné). Vielmehr zwingt sich das Gegebene dem Subjekt auf: »Dieses Gegebene (donné) gibt sich mir, weil es sich mir aufdrängt, mich vorlädt und mich bestimmt.«99 Gegebenheit geschieht als Ereignis, so Marion weiter, indem es sich von jedem konstituierten Objekt unterscheidet, weil es das Subjekt vor vollendete Tatsachen setzt: Es stößt ihm zu.100 Das Ereignis selbst begreift Marion wie Heidegger daher nicht als Objekt, sondern als das, was einem plötzlich und unerwartet widerfährt. Das, was Heidegger als »Wesung« begreift, ist das, was Marion als »volles und radikales Phänomen«101 definiert und als »gesättigtes Phänomen« bezeichnet.102 Die Setzung eines Horizonts schränkt für Marion die eigentliche Idee der Phänomenologie, nämlich zu den Sachen selbst zurückzukehren, gerade im Hinblick 96 97

Vgl. Marion: »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, a.a.O., S. 37. Vgl. Jean-Luc Marion: Being given, Stanford 2002 und vgl. hierzu die Arbeiten von Lasma Pirktina: Ereignis, Phäomen und Sprache, a.a.O. sowie ders.: »Das Ereignis in der Philosophie von M. Heidegger und J.-L. Marion«, in: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hg.): Jean-Luc Marion: Studien zum Werk, Dresden 2013, S. 333ff. 98 Vgl. Marion: »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, a.a.O., S. 50f. und vgl. Hans-Dieter Gondek/László Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich, a.a.O., S. 169. 99 Vgl. Marion: »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«, a.a.O., S. 72. Mit seiner Konzeption der Selbstgegebenheit schließt Marion an Husserls »Logische Untersuchungen« von 1910 an. Husserl spricht etwa von einer allgemeinen originalen Selbstgebung, wenn dem Phänomen konkret als von jeglicher wissenschaftlichen Evidenz befreit begegnet wird. Vgl. dazu auch Marion: »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, a.a.O., S. 38f. 100 Vgl. Marion: »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«, a.a.O., S. 72. 101 Ebd. S. 70. 102 Vgl. Lasma Pirktina: »Das Ereignis in der Philosophie von M. Heidegger und J.-L. Marion«, in: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hg.): Jean-Luc Marion: Studien zum Werk, Dresden 2013, S. 333 und 340.

3. Der Handlungsraum der Ikone

auf eine Offenbarungstheorie ein: »Jeder Horizont, der a priori die Szene kommender Phänomene bestimmt, umgrenzt das Mögliche, begrenzt (oder verbietet) folglich die Offenbarung.«103 In Husserls phänomenologischem Ansatz ergibt sich das phänomenale Erscheinen im Horizont der Wesensschau, die an die Erkenntnismöglichkeit des konstituierenden (transzendentalen) Subjekts gebunden ist. Während sich bei Husserl darüber Objekte als Bewusstseinskorrelate konstituieren, gibt sich ein Phänomen bei Heidegger im Horizont des Seins – konkret: das zu verstehende Dasein, das sich zum Sein verhält. Für Marion ist nun die Offenbarung Christi »… ein von jedem Horizont unkalkulierbarer Einbruch in die Phänomenwelt«104 . Doch weiß Marion selbst um die Schwierigkeit dieser Forderung, denn ohne irgendeinen Horizont verliert die (göttliche) Offenbarung jeden möglichen Bezug zur Phänomenologie, d.h. Offenbarung muss sich erfahrbar manifestieren. Wir erinnern hier an Marions Worte der »Gebung für einen endlichen Geist«105 . Die Offenbarung muss sich folglich herablassen und einen Horizont übernehmen, wobei sie selbst jegliche mögliche Vorbedingung für ihre Möglichkeit – jegliches a priori – abwiegelt, indem sie den Horizont durch ihre Gebung selbst ausfüllt – ihn sättigt.106 Als gesättigt bestimmt Marion nun jene Phänomene, deren Anschauung jede mögliche konkrete begriffliche Kategorisierung überspannt, d.h. unmöglich macht: Anders gesagt, es handelt sich um die Situation, in der die Anschauung nicht nur alle Intelligibilität, die der Begriff absichert, gültig spricht, sondern eine Situation, in der ein Gegebenes (Empfindung, Erfahrung, Information, wie auch immer) beigebracht wird, dass der Begriff nicht als Objekt zu konstituieren oder erkennbar zu machen vermag.107

103 Marion: »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung«, a.a.O., S. 34. 104 Thomas Alferi: »Von der Offenbarungsfrage zu Marions Phänomenologie der Gebung«, a.a.O., S. 225. 105 Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 85. 106 Vgl. Marion: »Aspekte der Religionsphänomeologie: Grund, Horizont und Offenbarung«, a.a.O., S. 35f. sowie Thomas Alferi: »Von der Offenbarungsfrage zu Marions Phänomenologie der Gebung«, a.a.O., S. 225. 107 Jean-Luc Marions: »Sättigung als Banalität«, in: Michael Gabel/Hans Joas (Hg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe: Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, München 2007, S. 98. Marions Idee des gesättigten Phänomens findet seine Vorläufer in Descartes’ Idee des Unendlichen, Kants Verständnis des Erhabenen und Husserls Konzept vom Fluss der Zeit. Auf jene Vordenker bezieht sich Marion nicht zuletzt in ders.: Being Given, Stanford 2002 und ders.: Gott ohne Sein, Paderborn 2014.

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Die Ikone und das Undarstellbare

In Abgrenzung dazu ist ein ungesättigtes Phänomen dahingehend anschauungsarm, dass dessen Gegebenheit völlig in Begrifflichkeiten aufgeht. Als Beispiel zieht Marion hier Phänomene heran, die sich den fünf Sinnen als ungesättigte und gesättigte Phänomene geben können. Beim geschmacklichen Erkennen zweier Phänomene wird in erster Linie direkt von der Anschauung zum Begriff übergegangen (Kokain/Gift, Zucker/Nahrungsmittel). Ein kategorialer Begriff reduziert folglich das Phänomen auf einen Gegenstand, der damit ein ungesättigtes, weil anschauungsarmes Phänomen ist, so könnte etwa – Marion folgend – ein Chemiker entsprechende Definitionen liefern. Gleiches wäre für das von Marion gewählte Beispiel einer Weinprobe möglich, doch gilt es gerade dort, Anschauung maximal zu empfinden. Bei einer Weinprobe geht es um die Qualität des Weines, dessen zeitliche Entfaltung, seinen Gehalt, seinen Geruch. Darüber können sich, Marion folgend, Diskussionen eröffnen, die einem Finden unendlich vieler Begriffsimitate dienen, die nur entsprechend der Anschauung Gültigkeit haben: »Die Anschauung verdeutlicht ihren Vorrang dadurch, dass man sich niemals von ihr entbinden kann.«108 Es müssen immer aufs Neue Metaphern gefunden werden, um beschreiben zu können, was sich letztlich in keinem Begriff sicher fassen lässt und was zudem vom jeweiligen Weinverkoster anders empfunden werden kann. »Kurzum, der goutierte Wein hat nichts mit einem Gegenstand zu tun, sondern erscheint als gesättigte Anschauung, die eine Vielzahl von Begriffsimitaten und approximativen Bedeutungen entstehen lässt.«109 Nach der Definition Marions verfügt ein gesättigtes Phänomen (phénomène saturé) somit über ein Übermaß an Anschauung, das nicht ein einzelnes Wort begrifflich fixieren könnte. Für Marion findet sich ein Übermaß an Anschauung in seiner radikalsten Form in der Ikone Christi. Der im ersten Kapitel definierte ikonische Überschuss gründet bei Marion in dessen Konzeption der Ikone als gesättigtem Phänomen und spitzt sich zu einer radikalen Phänomenologie zu, weil dieses Bild in seiner spezifischen Sichtbarmachung des Unsichtbaren die Grenzen des Blicks sprengt, es sich auf das (unsichtbare) göttliche Antlitz hin öffnet. Darin gründet sich die bereits erwähnte Öffnung des Sichtbaren auf das Andere des Sichtbaren.110 Das Andere des Sichtbaren Die Möglichkeit des Anderen des Sichtbaren verdeutlicht sich in Marions Gegenüberstellung von Ikone und Idol. Beide gehören zu den gesättigten Phänomenen, die in ihrer Phänomenalität gegensätzlicher nicht sein können. Während das Idol in seiner Sichtbarkeit von einem Überschuss an Sichtbarem geprägt ist, das den Blick 108 Marion: »Sättigung als Banalität«, a.a.O., S. 117. 109 Ebd. S. 117f. 110 Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 96.

3. Der Handlungsraum der Ikone

blendet, ist die Ikone im Sinne Marions das Unerblickbare, das Antlitz, das sich der Sichtbarkeit entzieht.111 Ikone und Idol begreift Marion somit als Wahrnehmungsphänomene, die eine jeweils andere Weise des Seins von Seiendem anzeigen, und zwar in dem Sinne, dass sie auf eine je verschiedene Art Zeichen (signum) geben.112 Indem Marion Ikone und Idol als Zeichen definiert, gesteht er beiden die Eigenschaft zu, einen Hinweis auf einen anderen Bezugspunkt zu geben. Marion versteht diesen als einen Verweis, der dem Bild nicht von außen, im Sinne eines symbolischen Gehalts, zuerkannt wird: Den Verweis bieten Ikone und Idol in und durch sich selbst. Mit seiner Gegenüberstellung von Ikone und Idol geht es Marion schlichtweg darum, verschiedene Möglichkeiten der Sichtbarkeit des Göttlichen aufzuzeigen, wobei Ikone wie Idol sich in Bezug auf die Sichtbarkeit in je anderer Weise sehen lassen: »Die Weise zu sehen entscheidet darüber, was sich sehen läßt, oder vielmehr: entscheidet, zumindest negativ, darüber, was sich unter keinen Umständen vom Göttlichen wahrnehmen läßt.«113 Ikone und Idol erzeugen demzufolge individuelle Sichtbarkeiten, denen eine jeweils eigene Erfassung des Göttlichen zugrunde liegt, dessen mögliches Erkennen Marion an einen erblickenden Blick knüpft. Das Idol definiert Marion nicht in abschätziger Weise als ein Illusorisches oder als ein Trugbild, sondern als das, was sich sehen lässt, weil der Mensch es kennt: »εἴδωλον, das, was man schon allein deshalb kennt, weil man es gesehen hat (οἶδα)«114 . Das Erblicken eines Idols vollzieht sich im Erwartungshorizont des Menschen: Die Intention des Blickes richtet sich nach einem sehen wollen des Göttlichen, womit dem Idol der Blick als eine Absicht [la visée] des Menschen vorausgeht.115 Ein Idol konstituiert sich demnach in Abhängigkeit eines vom Menschen gesetzten Ziels, Gott im Feld des Sichtbaren zu erreichen. Dabei markiert der Beziehungspunkt des Idols »eine gewisse Mindesthöhe des Göttlichen«116 , worin sich sein Übermaß an Sichtbarkeit begründet: Ein Idol bietet nicht mehr 111

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Marion benennt neben Ikone und Idol zudem das Ereignis und das Fleisch als gesättigte Phänomene. Das Ereignis, etwa ein historisches, ist von Unvorhersehbarkeit geprägt, d.h. es geschieht zum einen von selbst und ist als solches nie in Gänze erfassbar. Beispielsweise unterliegt das historische Ereignis einer nie endenden Hermeneutik verschiedenster Horizonte (beispielsweise militärischer, ökonomischer oder sozialer Horizont). Das Fleisch ist das gesättigte Phänomen, was sich gibt, ohne sich zu zeigen. Es ist geprägt von einer Selbstaffektion, in der das Empfundene und die Empfindung in eins fallen, d.h. es nimmt etwa im Leiden und im Schmerz nie von sich selbst Abstand. Vgl. zu den gesättigten Phänomenen in aller Kürze Hans-Dieter Gondek/László Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich, a.a.O., S. 184190 und Marion: Being given, a.a.O. sowie ders.: »Sättigung als Banalität«, a.a.O., S. 96-139. Vgl. Marion: »Idol und Bild«, a.a.O., S. 107. Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 26. Vgl. Marion: »Idol und Bild«, a.a.O., S. 110f. sowie ders.: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 26. Vgl. Marion: »Idol und Bild«, a.a.O., S. 112. Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 26.

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Die Ikone und das Undarstellbare

als das, was Marion ein erstes Sichtbares nennt, das der Mensch selbst als äußerstes Ziel seines eigenen (transzendentalen) Horizonts festgemacht hat. Der Blick verlangt nun nicht, über dieses erste Sichtbare hinaus das Andere zu erblicken, weil der Blick selbst dem Idol vorausgeht und in dem Moment, wo er das Idol erblickt, augenblicklich anhält und auf diesem ruht: Der Blick verharrt und verliert, Marion folgend, seine Transparenz, weil er aufhört, sich selbst zu durchschreiten. Das Verlangen, dem Unsichtbaren in der Sichtbarmachung zu begegnen, lässt die Sichtbarkeit des Idols in zwei Teile zerfallen: in jenen Teil, der tatsächlich nach Maßgabe der menschlichen Absicht sichtbar wird und in jenen, der sich als Unerreichbares verdunkelt, weil der Blick am ersten Sichtbaren verharrt.117 Im Idol kann der Blick »seinen Grund fassen«, weil er geblendet ist – konkret: Das Idol reflektiert im Sinne eines Spiegels den Blick, als dessen eigene Grenze und eigenen Ort.118 Das Idol blendet, so Marion weiter, weil es aufzeigt, was nach menschlichem Maß der Blick als äußerster Punkt möglicher Sichtbarkeit fixiert. Im Hinblick darauf verdunkelt sich seine Funktion als Spiegel, die für Marion eigentlich darin besteht, einem Blick ein getreues Abbild zurückzuwerfen. Doch indem ein Idol die äußerste Reichweite des Blickes auslotet, ist es geprägt von einem Übermaß an Sichtbarkeit, worüber sich dem Blick die verlangte Sättigung bietet, er von eben jenem Übermaß geblendet ist, sich an diesem ersten Sichtbaren satt sieht und aufhört, sich selbst zu durchschreiten. Ein Idol markiert für Marion den Punkt, an dem der Blick zusammenbricht.119 Für Marion ist das televisuelle Bild das Idol par excellence unserer modernen Gesellschaft: Der Bildschirm empfängt Bilder nicht, wie etwa eine Kinoleinwand, sondern produziert sie in einer ununterbrochenen Folge und schirmt sie vor jeglichem (unsichtbaren) Original ab: »Der Bildschirm, diese Anti-Welt in der Welt, produziert Bilder, ohne sie jemals auf irgendein Original zu beziehen.«120 Das televisuelle Bild richtet sich, so Marion weiter, nach dem Verlangen seines Betrachters – des Voyeurs – und erscheint nur, wenn dieser erbärmliche Fernsehzuschauer 121 es schätzt (Quote). Das Original verschwindet, weil ein solches Sehbegehren (libido videndi) ein Bild an eine Sache angleicht, es zu einem Ding macht – einem Idol, dessen untrüglicher Charakterzug es ist, mehr Sein als Schein zu sein, wie wir es in Anlehnung an Marion sagen könnten. Die Kritik Marions ist die Kritik am metaphysischen Prinzip, dem ein dem Sehbegehren des Voyeurs folgendes Bild erliegt, denn für einen Voyeur gilt: Sein ist Wahrgenommen-sein.122 D.h. Sein muss Gesehen-

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Vgl. Marion: »Idol und Bild«, a.a.O., S. 122. Vgl. Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 31. Vgl. ebd. S. 28. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 70. Vgl. ebd. S. 71. Vgl. ebd. S. 72.

3. Der Handlungsraum der Ikone

sein bedeuten. Wobei dieses Gesehen-sein für Marion immer nur bedeutet, das Idol des Voyeurs nachzuahmen.123 Das Idol – respektive das televisuelle Bild – erfüllt als Bild das Sehbegehren des Voyeurs, worüber es zum Verlust eines unsichtbaren Originals (Prototyp) des Bildes kommt. Ein Idol lässt den Blick sich nicht mehr selbst überschreiten: Der Blick verharrt und hört auf, das Andere, welches das Unsichtbare ist, über das Sichtbare hinaus zu suchen. In diesem ruhenden Blick, der die Grenzen des menschlichen Erfahrungsbereiches nicht zu überschreiten vermag, ist nach Marion der Offenbarungsraum eines Gottes nur so weit ausgelotet, wie der nach Sättigung dürstende menschliche Blick ihn aushalten kann: Dieser Blick, der Gott sehen will, erträgt nicht mehr als »eben nur ein Idol«124 . Das, was sich in der Absicht des idolischen Blickens erblicken lässt, ist nicht mehr als das erste Sichtbare, worüber hinaus sich nichts anderes sehen lässt, weil es sich vor diesem verschließt. Die Ikone dagegen vermag es, sich zu ihrem Anderen hin zu öffnen, denn ihr Bezugspunkt ist, Marion folgend, außerhalb des (metaphysischen) Seins angesiedelt: Die Ikone erschöpft sich nicht in einem Ziel, worauf der Mensch in der Reichweite seines Seins hin abzielen kann. Vielmehr definiert sie sich als das, was etwas erscheinen lässt, das dem Göttlichen gleicht, ohne es im Sichtbaren zu fixieren.125 In seiner Definition der Ikone – respektive des Bildes – nimmt Marion Bezug auf die byzantinische Ikonentheorie des Johannes vD und zitiert konkret Imag. III 17, also jene Stelle, die dem Bild allgemein die genuine Eigenschaft des Offenbarens und Verweisens zuerkennt. Im Sinne Marions macht ein Bild etwas in dem Sinne sichtbar, dass »es scheint, es hat das Aussehen von…«126 . In dieser Definition lässt ein Bild etwas sichtbar erscheinen, das durch seine Sichtbarkeit auf ein Anderes verweist. Dieses Andere des Bildes bestimmt Marion nicht als das, was das Sichtbare zu erobern ersucht, sondern als das Unsichtbare, das das Sichtbare bestimmt: »[E]s ist das Unsichtbare, das über das Sichtbare dadurch verfügt, dass es dieses aus sich ableitet und sich selbst in ihm zur Erscheinung kommen lässt.«127 In diesem Sinne bestimmt Marion das Bild nicht als Bild des Sichtbaren, sondern konkret als Bild des Unsichtbaren, weil es von diesem herrührt: Es ist die entscheidende Fähigkeit des Bildes, sein Unsichtbares zu bewahren, weil es dieses als solches sichtbar macht.128 Indem nun das Bild sein Unsichtbares als solches akzeptiert – d.h. es als solches annimmt –, ist das Unsichtbare das Andere des Sichtbaren. Konkret: Das Andere des Sichtbaren ist sein unsichtbares Urbild.

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Vgl. ebd. S. 73. Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 32. Vgl. Marion: »Idol und Bild«, a.a.O., S. 121 und ders.: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 37f. Marion: »Idol und Bild«, a.a.O., S. 120f. Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 37. Vgl. Marion: »Idol und Bild«, a.a.O., S. 122.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Ein Bild, das von einem unsichtbaren Urbild herrührt, sich folglich nicht nach der Maßgabe eines menschlichen Erfahrungshorizontes und Sehbegehrens bemisst, ist in der Definition Marions eine Ikone. Marion folgt mit seinem Ikonen-Begriff der dieser Arbeit zugrunde liegenden Begriffsbestimmung, die unter Ikone nicht allein das materielle Tafelbild fasst, sondern damit ganz konkret eine spezifische Bilderlehre meint.129 Die Fähigkeit der Ikone, die radikale Unterscheidung von Sichtbarem und Unsichtbarem in ihrer eigenen Sichtbarkeit beizubehalten, sieht Marion vor allem in der christlichen Ikone im höchsten Maße erfüllt. Entscheidend im Hinblick auf die Christus-Ikone ist die Enttäuschung des Sehenden, der Gott erblicken will. Die Ikone bietet ihm jedoch nicht mehr als ein unähnliches Bild – die Ikone des Gottessohnes, die in sich die mimetische Logik dahingehend zu unterwandern weiß, dass sie in keiner Relation der Ähnlichkeit zu Gott steht. In einer Ähnlichkeitsrelation steht die Ikone Christi, so haben es die byzantinischen Ikonentheorien definiert, ausschließlich mit der sichtbar gewesenen Gestalt des Sohnes, der die göttliche Wesenheit jedoch unsichtbar mit sich führt. Eine Ikone macht ihr Unsichtbares, von dem sie sich ableitet, also als solches sichtbar, d.h.: Indem eine Ikone ihr Unsichtbares akzeptiert, vermag sie, dieses als Unsichtbares zu offenbaren. Auf dieser Fähigkeit des Bildes gründet der unter 2.2.2.2 ins Feld geführte ikonische Überschuss. Prominent ist Marions Definition der Ikone dahingehend, dass es ihm gelingt, das spezifische Unsichtbare der christlichen Ikone, das das Göttliche ist, nun im Feld des Sichtbaren zu »markieren« – ihn konkret als unsichtbaren Blick des Bildes »geschehen zu lassen«. Im Falle der christlichen Ikone gründet sich in diesem spezifischen Blick deren besondere Wirkkraft, denn im Anblicken ereignet sich die Offenbarung des Undarstellbaren. Ikone als Offenbarendes In der Definition Marions reduziert sich ein Idol auf die Gegenstandsebene, indem es seinem Betrachter einen (angezielten) Anblick als erstes Sichtbares bietet, das den Blick des Betrachters blendet und jegliche Möglichkeit, über das Sichtbare hinaus zu verweisen, regelrecht abschirmt. Nach Marion ist der Ausgangspunkt des Idols somit geprägt von einem Blicken. Gegenüber der Ikone fordert Marion jedoch ein Sehen ein, denn: Wenn ich sehend bleibe, empfinde ich mich vor der Ikone als ein Gesehener (ich muss mich als ein solcher empfinden, damit es wirklich um eine Ikone geht). So schirmt das Bild nicht mehr ab […], da durch es und unter seinen Zügen mich ein anderer – wie alle Blicke unsichtbarer – Blick in den Blick nimmt.130

129 Siehe Kap. 2.2 εἰκών und Ikone und vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 78. 130 Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 78f.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Der entscheidende Unterschied zwischen Ikone und Idol bemisst sich also am Blick, der ihnen jeweils zugewiesen wird – konkret steht ihnen ihr Betrachter als ein Sehender oder Blickender gegenüber: Das Idol wird angeblickt, d.h. sein Betrachter tritt mit dem Sehbegehren an es heran, alles im Feld des Sichtbaren erblicken zu wollen. Marion vergleicht diesen Blick, das ist bereits dargelegt worden, mit dem eines Voyeurs, der das Bild beherrscht und bestimmt, dem es möglich ist, das zu erblicken, was ihm nicht zusteht: Wenn ein Bild das Begehren des Voyeurs befriedigt – ihn entzückt131 –, verliert es sein Original, weil es in seiner Angepasstheit die Norm des (voyeuristischen) Sehvergnügens fixiert und gleichfalls erfüllt.132 Marion folgend bewahrt die Ikone dagegen ihr unsichtbares Original (Prototyp), von dem her sie sich in der Sichtbarkeit als Bild konstituiert. Ihr Betrachter steht ihr nicht blickend, sondern sehend gegenüber, weil er gerade nicht am ersten Sichtbaren verharrt, sondern dieses übersieht: weil er es nicht zu erblicken verlangt, sucht sein Blick, über das Sichtbare hinaus das Unverfügbare zu sehen. Doch er wird immer und immer wieder enttäuscht, denn das Unsichtbare bleibt unverfügbar, worüber sich der Blick des Betrachters aufrechterhält und folglich nicht zusammenbricht. Für Marion ergibt sich nun die Möglichkeit, dem Anderen des Sichtbaren unter Aufrechterhaltung der Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gewahr zu werden, und zwar an dem spezifischen Punkt der Ikone, der nichts zu sehen gibt – »die Pupillen der beiden Augen, dunkle und leere Löcher«133 . In diesem Schwarz der Pupillen zeigt sich für Marion kein neues Sichtbares – kein GegenSichtbares –, denn sie zeigen schlichtweg nichts. Doch gerade in diesem Nichts der leeren Löcher tritt dem Betrachter das Andere des Sichtbaren als umgekehrter Blick entgegen: »Ich sehe nicht das sichtbare Antlitz des Anderen, ein noch auf ein Bild reduzierbaren Gegenstand […], sondern den unsichtbaren Blick, der aus den dunklen Pupillen des anderen Antlitzes entsteht, kurz: ich sehe das Andere des sichtbaren Antlitzes.«134 Im Schwarz der Pupillen erblickt der Betrachter, Marion folgend, den unsichtbaren Ursprung des Blickes des Anderen auf sich.135 Hier nun sind wir an einem entscheidenden Punkt angelangt: Der Blick des Betrachters der Ikone kehrt sich von einem ästhetischen Sehen um in ein ethisches Erblicken.136 Genauer: Der Blick des Betrachters hält sich nicht an der materiellen Entität der Ikone auf, sondern erblickt in einem steten Suchen ihr Anderes des Sichtbaren, das den Betrachter aus

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Vgl. Marion: »Idol und Ikone«, a.a.O., S. 114. Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 70. Ebd. S. 76. Ebd. S. 76. Vgl. ebd. S. 76. Vgl. Specker: Einen anderen Gott denken? a.a.O., S. 208.

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Die Ikone und das Undarstellbare

dem schwarzen Nichts der Pupillen anblickt. Im Moment der Blickkreuzung wird sich der Bildbetrachter nicht nur seines eigenen Blickes bewusst, sondern ebenso eines Gegenblickes, der ihn von anderswo in den Blick nimmt. Es ist eine Kreuzung der Blicke, innerhalb derer sich nicht nur die Blickperspektive vom Bild zum Betrachter hin umkehrt. Für Marion markiert diese Blickkreuzung jenen Moment, in dem sich das Unsichtbare performiert.137 Doch der Reihe nach: Zunächst erhebt die Ikone nicht den Anspruch eines Anblickens, sondern den eines Sehens.138 Das sehende Auge des Betrachters sucht in den sichtbaren Formen das Unsichtbare wahrzunehmen und erblickt es als Undarstellbares im schwarzen Nichts der Pupillen: »Das Bild öffnet sich auf ein Gesicht hin, in dem der Blick des Menschen nichts sieht …«139 Am schwarzen Punkt kehrt sich nun das Sehen in ein Blicken um, rückt der Betrachter im Moment dieser Umkehrung von jeglicher sinnlicher Wahrnehmbarkeit ab, steigt er, Marion folgend, »… vom Sichtbaren durch die Gnade des Sichtbaren selbst zum Unsichtbaren ins Unendliche auf«140 . Hier knüpft Marion an Sartres Blicktheorie an, die besagt, dass sich das Auge des Blickenden im Moment des Erblickens verbirgt, so dass wir dessen Farbe und Form übersehen.141 Würden wir das Blau einer Iris wahrnehmen, würden wir die Augen als Sehorgan oder genauer, den Charakterzug einer Person wahrnehmen, wie dies Marion zu beschreiben weiß.142 Im Moment des Blickens geht es jedoch nicht mehr um ein Wahrnehmen, sondern konkret um das Erblicken des Anderen im Gesicht, das uns im Bild sichtbar gegeben ist. Dieses Gesicht [visage143 ] öffnet sich nun auf das Andere hin, lässt den Betrachter das unsichtbare Antlitz erblicken: Die leeren Löcher der Pupillen sind der Ort, wo sich das Unsichtbare dem endlichen Geist gibt, sich dessen Antlitz im schwarzen Nichts als unsichtbares Anderes offenbart. Mit diesem Satz kommen wir der eigentlichen Konklusion des Abschnittes näher, die (christliche) Ikone als Offenbarendes zu bestimmen. Entscheidend ist, dass sich diese leeren Löcher im Sinne Marions als der Ort privilegieren, an

Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 76. Vgl. Marion: »Idol und Ikone«, a.a.O., S. 121. Ebd. S. 122f. Ebd. S. 123. Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. von Bernard N. Schumacher, Berlin 2003. 142 Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 75. 143 Mit der Übersetzung von visage als Gesicht (und nicht als Antlitz) wird Specker gefolgt. Als Begründung führt Specker an, dass sich Marion in seiner Konzeption auf die Augen konzentriert, während bei Levinas der Mund/die Stimme die Mitte des Antlitzes (visage) ist. Specker ist vor allem dahingehend zuzustimmen, dass es sich bei Marions Blickkonstellation im Sinne eines intentionalen Blickes um eine visuelle Konnotation handelt, weshalb diese Arbeit der Übersetzung »visage«/Gesicht folgt. Vgl. Specker: Einen anderen Gott denken, a.a.O., S. 203 Anm. 10. 137 138 139 140 141

3. Der Handlungsraum der Ikone

dem sich Offenbarung ereignen kann, weil sich dort weder ein Sichtbares noch ein Gegen-Sichtbares gibt, sondern das schwarze Nichts der unsichtbare Ursprung des Blickes des Anderen auf das Subjekt ist.144 Mit seinem Verständnis des Anderen, der/das den Betrachter in den Blick nimmt, knüpft Marion an die Philosophie Emmanuel Lévinasʼ an. Lévinas bestimmt das Andere als eine radikale und absolute Alterität, woran letztlich Marions Konzept des Denkens eines Anderen außerhalb des Seins entscheidende Anknüpfungspunkte findet. Tatsächlich begreift Lévinas das Andere als jenseits des Seins situiert. Dem folgend erkennt Lévinas in der Begegnung des Ich mit dem Anderen Letzteres nicht allein als ein Anderssein (être autrement) an, sondern definiert es konkret als ein Anders-als-sein (autrement qu être).145 Wie aber gibt sich dieses Andere sichtbar zu erkennen? Lévinas’ Antwort darauf erinnert an Marions Konzept, das Andere nur dann als solches zu erkennen, wenn es sich nicht der Maßgabe eines subjektiven (menschlichen) Blickes unterwirft. Nach Lévinas drückt sich das Andere selbst aus [καθ΄αὑτό], indem es als ein Anders-als-sein jedes Maß menschlicher Idee überschreitet. Und: »Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz.«146 Als verfügbares Anderes wird das Antlitz das unverfügbare Andere, weil es, indem es sich selbst ausdrückt, die subjekthaft bestimmten Formen und Inhalte aufzuheben weiß.147 Dies gelingt, indem es als Anderes akzeptiert und nicht auf ein Seiendes reduziert wird, d.h. es dem ego nicht als ein Selbes im Sinne eines alter ego (Husserl) gegenüber gestellt ist. In der von Lévinas vertretenen ethischen Dimension bestimmt sich das Ich erst in dem Moment als ein solches, in dem es dem Anderen begegnet und sich in dieser Begegnung seines eigenen Seins bewusst wird. Hier nun schließt Marion mit seiner Ikonentheorie an, indem er sagt: »Mit meinem unsichtbaren Blick erblicke ich einen unsichtbaren Blick, der mich in den Blick nimmt.«148 In dieser Blickkreuzung kehrt sich die Blickrichtung um, denn suchenden Sehens wird sich der Bildbetrachter im Moment des Erblickens dessen bewusst, dass ihm gegenüber ein »unsichtbarer Blick auftaucht«149 , der ihn selbst in den Blick rückt – konkret: Durch das dunkle Nichts der Pupillen nimmt ihn das Andere des Sichtbaren in den Blick, worüber der Betrachter sich als ein Gesehener empfindet. Diese Blickkreuzung bestimmt Marion als performatives Moment, weil dabei der Blick 144 Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 76. 145 Vgl. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, München 1992, S. 31 sowie Helmuth Vetter: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, Hamburg 2004, S. 25. 146 Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, München 1987, S. 63. 147 Vgl. ebd. S. 63. 148 Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 76. 149 Ebd. S. 103.

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Die Ikone und das Undarstellbare

dem Bild entkommt und das Unsichtbare performiert. Eine solche Blickkonstellation ließe sich nun für jedes Porträt anwenden. Für den vorliegenden Kontext ist entscheidend, dass Marion den Blick der Ikone – konkret den der Ikone Christi – als heiligen Blick definiert.150 Der Betrachter wird sich gegenüber der Ikone eines unsichtbaren Blickes bewusst, weil er sich, indem er über seine Enttäuschung (Gott nicht erblicken zu können) hinwegsieht, sich als das Sichtbare erkennt und im Gegenüber das Andere des Sichtbaren als Unsichtbares anerkennt: »Ich entdecke mich durch die einfache Ikone als sichtbar und durch einen Blick gesehen, der mir unsichtbar bleibt, obwohl er im Sinnlichen vergegenwärtigt ist.«151 Dieser Punkt markiert den (ethischen) Moment der Erkenntnis, bei dem der Betrachter sich seines eigenen Seins gewahr wird. Gleichzeitig ereignet sich in dieser Blickkreuzung Gegebenheit als unsichtbarer Blick, der sich dem Betrachter aufzwingt – der Blick diesem folglich zustößt: »Dieser Blick sieht nicht als erster, sondern setzt sich aus, um gesehen zu sein ohne zu sehen, anerkennt so im gemalten Sichtbaren die Vorgänglichkeit und reale Andersheit eines anderen als sich.«152 Der Bildbetrachter nimmt sich selbst nicht mehr als Blickender, sondern als Erblickten wahr. Hier nun wird sich der Bildbetrachter als das Subjekt nicht allein seiner selbst, sondern konkret seiner eigenen menschlichen Begrenztheit gegenüber dem unendlichen und undarstellbaren Anderen – das der/das Göttliche ist – bewusst: Das sichtbare Gesicht des Sohnes, das, was die Ikone, indem sie es wiederholt, sichtbar zu sehen gibt, zeigt dem Erblickten gleichzeitig die Grenzen seiner eigenen Sehfähigkeit auf.153 Das Erblicken durch einen unsichtbaren Blick deutet Marion nicht allein als Umkehrung der Blickrichtung, sondern konkret als Umkehrung der Intentionalität, die nun nicht mehr vom konstituierenden Ich ausgeht, in dessen Bewusstsein das Bewusstsein von etwas gegeben ist.154 Wenn sich im Sinne Marions die Richtung der Intentionalität umkehrt, dann begründet sich darin im Hinblick auf die Ikone die paradoxe Aufforderung, Intentionalität vom Unsichtbaren her zu denken, das außerhalb des Seins situiert ist. Die Möglichkeit dieser Umkehrung findet

150 151 152 153 154

Vgl. ebd. S. 100. Ebd. S. 101. Ebd. S. 104. Vgl. ebd. S. 63. Intentionalität ist nach Husserl eine Noesis-Noema-Korrelation, d.h. eine auf abstrakte Inhalte (Noema) ausgerichtete Bewusstseinsaktivität des Denkens, Wahrnehmens und Urteilens (Noesis): Beispielsweise kann die Farbe Rot als Inhalt (Noema) wahrgenommen werden, weil im Bewusstsein des Subjekts das Bewusstsein (Farbsehen) von Rot (Noesis) gegeben ist. Hier geht Intentionalität vom Subjekt aus. Vgl. Bernhard H.F. Taureck: Emmanuel Lévinas zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2006, S. 46-48. Für weiterführende Studien siehe hierzu die Verweise bei Helmuth Vetter: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, Hamburg 2004, S. 291-297 und 387-389.

3. Der Handlungsraum der Ikone

ihre Berechtigung in der Person Christi, die den Blick der Ikone als heiligen Blick anerkennen lässt. Marion stützt seine Theorie dabei auf die immanente Trinität, d.h. auf die innertrinitarische Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. In dieser Konstellation markiert der Sohn in der Einheit der beiden Naturen, die mit der Inkarnation in die Sichtbarkeit treten, die intentionale Übergänglichkeit des Sichtbaren und des Unsichtbaren: Intentionalität rührt vom unsichtbaren Göttlichen her, das im Sinne Marions außerhalb des Seins zu denken ist und dessen sichtbare Hypostase der Sohn ist. Die Fleischwerdung ist die Selbstgegebenheit Gottes durch seinen Sohn, der Hypostase ist. In dieser Sichtbarwerdung generiert sich der Sohn als Antlitz, dessen Anderes der Sichtbarkeit Gott ist: der sichtbare Sohn als ewige Ikone, deren Ableitung die ästhetische Ikone ist.155 Der sich in der artifiziellen Ikone offenbarende Blick bestimmt sich im Sinne Marions als umgekehrt intentionaler Blick, weil er vom unsichtbaren Urbild herrührt. Der heilige Blick der Ikone darf somit als ein nicht-ontisches Ereignis gedeutet werden, das sich im schwarzen Nichts der Pupillen als ein nicht-objekthaftes Phänomen gibt, dessen Effekt – um Marions Ikonentheorie zu folgen – die Proskynese ist. Entscheidend ist abermals der Moment der Setzung des Sohnes als Bild Gottes und der sich darüber ergebende stete Rückverweis auf den Vater. Im Sinne Marions offenbart sich Gott in der Inkarnation als das Andere des Sichtbaren: Der Sohn als Bild Gottes gibt durch sich den Hinweis auf den unsichtbaren Vater. In dieser Konstellation rücken Offenbarung und Ikone zusammen, denn: Der Sohn als Bild (εἰκών) offenbart den Vater als das Unsichtbare, das sich jeglichem weltlichen Sein und jeglichem (subjektiv gesetzten) Horizont entzieht. In der Ikone des Sohnes wie in deren ästhetischer Ableitung ist Gott nicht sichtbar: Der Blick, der im Anblicken der Ikone nach Sichtbarkeit verlangt, sieht nichts, denn die Ikone macht Gott nicht sichtbar.156 Dieses Nichts reflektiert sich im Schwarz der Pupillen, worin sich das Andere des Sichtbaren als unsichtbarer Blick plötzlich und unerwartet offenbart und sein Gegenüber in den Blick nimmt. In der Blickkreuzung wird der aktive Bildbetrachter zu einem passiven Gegenüber – ein den Blick der Ikone Erleidender. Hier nun scheint das eigentliche Mehr der Ikone ihren Ausdruck zu finden, denn im Moment der Blickkreuzung nimmt das Bild den aktiven Part ein und fordert seinen Betrachter zum Handeln auf. Gleichzeitig performiert sich das Unsichtbare als unsichtbarer heiliger Blick, der den Betrachter, indem er diesem widerfährt, auffordert, zu antworten. Es kommt zur Hinwendung, die sich im verehrenden Gestus des Betrachters ausdrückt. Nach Marion ist die Proskynese also die Antwort auf die umgekehrte Blickintention, denn in der Fußfälligkeit sieht Marion das Andere des Sichtbaren anerkannt: Indem sich der Blick zum 155 156

Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 102. Dies betont in Anlehnung an Marion bereits Specker: Einen anderen Gott denken? a.a.O., S. 203 Anm. 11.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Boden hin krümmt, wendet sich der Betrachter von aller Gegenständlichkeit ab, grüßt er das Andere nicht von Angesicht zu Angesicht.157 In dem Moment, in dem ihr unsichtbarer Blick den, der in den Blick genommen wird, dazu anhält, seinen Blick anerkennend zu Boden zu richten, widersetzt sich die Ikone jeder Vergegenständlichung und damit der ikonoklastischen Intention des Sehen-Wollens. Marions propagierte Öffnung des Sichtbaren ist die Öffnung auf das Andere des Sichtbaren hin, das sich im unsichtbaren Blick als Anderes offenbart. In dieser Definition und aufgrund ihres Anderen des Sichtbaren ist die christliche Ikone das Phänomen, in dem sich Offenbarung ermöglicht: Die Offenbarung als gesättigtes Phänomen par excellence gibt sich als unsichtbarer Blick der Ikone.

3.2

Namenseinschreibung

3.2.1

Der Name ist εἰκών

Name als »natürlich Gegebenes« (φύσις) oder »künstlich Verfertigtes« (θέσις) Während im vorangegangenen Abschnitt davon die Rede ist, dass die Ikone keiner Weihe bedarf, weil sich ihre kategoriale Dignität aufgrund ihres Bezugs ergibt, zeigt sich im Folgenden, dass diese Relation nur dann unmissverständlich ist, wenn die Ikone ihre obligatorische Namenseinschreibung erfahren hat. Zwar begründet sich die Ähnlichkeit des Bildes aufgrund des in Bezug Stehens zum Urbild. Jedoch ist der Name, der ins Bild eingeschrieben wird, die eigentliche Verbindung zwischen Urbild und Abbild und der identitätsstiftende Moment für das Bild. Demzufolge ergibt sich die Analogie zwischen Bild und Urbild nicht aufgrund der visuellen Ähnlichkeit, obgleich diese die Vorraussetzung für die Namenseinschreibung ist. Was aber vollzieht sich im Zuge der Einschreibung konkret? Eröffnet sich darüber gar eine weitere spezifische Weise der Sichtbarmachung des Unsichtbaren? Das Sein der Ikone begründet sich in der ihr zugrunde liegenden Urbild-Abbild Relation, über die sich eine ontologische Aufwertung und ihr Grad von Heiligkeit generiert: Die Ikone gilt im Hinblick auf das, was sie zu zeigen vermag, als wahres Bild eines sichtbar gewesenen Urbildes. Jene Ansprüche ergeben sich also in Bezug auf die Person, die in der Ikone zur Darstellung gebracht wird. Ein Blick auf die byzantinischen Ikonentheorien zeigt nun, dass dies allein nicht hinreichend ist, denn die Namenseinschreibung ist eine entscheidende Prämisse der Ikone. Es gilt gar, dass eine Ikone erst dann als wirkliches Bild anerkannt wird, wenn ihr der Name der Heiligen eingeschrieben ist, die sie zeigt. Bei Johannes vD findet sich dazu der allgemeine Wortlaut: »Göttliche Gnade wird den Materien durch die 157

Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 104.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Boden hin krümmt, wendet sich der Betrachter von aller Gegenständlichkeit ab, grüßt er das Andere nicht von Angesicht zu Angesicht.157 In dem Moment, in dem ihr unsichtbarer Blick den, der in den Blick genommen wird, dazu anhält, seinen Blick anerkennend zu Boden zu richten, widersetzt sich die Ikone jeder Vergegenständlichung und damit der ikonoklastischen Intention des Sehen-Wollens. Marions propagierte Öffnung des Sichtbaren ist die Öffnung auf das Andere des Sichtbaren hin, das sich im unsichtbaren Blick als Anderes offenbart. In dieser Definition und aufgrund ihres Anderen des Sichtbaren ist die christliche Ikone das Phänomen, in dem sich Offenbarung ermöglicht: Die Offenbarung als gesättigtes Phänomen par excellence gibt sich als unsichtbarer Blick der Ikone.

3.2

Namenseinschreibung

3.2.1

Der Name ist εἰκών

Name als »natürlich Gegebenes« (φύσις) oder »künstlich Verfertigtes« (θέσις) Während im vorangegangenen Abschnitt davon die Rede ist, dass die Ikone keiner Weihe bedarf, weil sich ihre kategoriale Dignität aufgrund ihres Bezugs ergibt, zeigt sich im Folgenden, dass diese Relation nur dann unmissverständlich ist, wenn die Ikone ihre obligatorische Namenseinschreibung erfahren hat. Zwar begründet sich die Ähnlichkeit des Bildes aufgrund des in Bezug Stehens zum Urbild. Jedoch ist der Name, der ins Bild eingeschrieben wird, die eigentliche Verbindung zwischen Urbild und Abbild und der identitätsstiftende Moment für das Bild. Demzufolge ergibt sich die Analogie zwischen Bild und Urbild nicht aufgrund der visuellen Ähnlichkeit, obgleich diese die Vorraussetzung für die Namenseinschreibung ist. Was aber vollzieht sich im Zuge der Einschreibung konkret? Eröffnet sich darüber gar eine weitere spezifische Weise der Sichtbarmachung des Unsichtbaren? Das Sein der Ikone begründet sich in der ihr zugrunde liegenden Urbild-Abbild Relation, über die sich eine ontologische Aufwertung und ihr Grad von Heiligkeit generiert: Die Ikone gilt im Hinblick auf das, was sie zu zeigen vermag, als wahres Bild eines sichtbar gewesenen Urbildes. Jene Ansprüche ergeben sich also in Bezug auf die Person, die in der Ikone zur Darstellung gebracht wird. Ein Blick auf die byzantinischen Ikonentheorien zeigt nun, dass dies allein nicht hinreichend ist, denn die Namenseinschreibung ist eine entscheidende Prämisse der Ikone. Es gilt gar, dass eine Ikone erst dann als wirkliches Bild anerkannt wird, wenn ihr der Name der Heiligen eingeschrieben ist, die sie zeigt. Bei Johannes vD findet sich dazu der allgemeine Wortlaut: »Göttliche Gnade wird den Materien durch die 157

Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 104.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Benennung der Abgebildeten gegeben.«158 Theodor Studites formuliert dies auf christologischer Ebene, wenn er sagt, dass sich Christus und Ikone in ihrer Natur unterscheiden, sie jedoch im Tragen desselben Namens identisch sind.159 Jene Auffassung lässt sich ebenso an den Schriften des Nikephoros feststellen, der sagt: »Dass der Name des Christus auch homonym von der Ikone des Christus ausgesagt wird, denn die Ikone heißt auch Christus.«160 Allerdings darf davon ausgegangen werden, dass für Nikephoros und den Studiten die Nameneinschreibung für jede Ikone, also auch für die der Heiligen, wesentlich ist. Zunächst sei auf die Mehrdeutigkeit des griechischen Begriffs ὄνομα (honoma) hingewiesen, der mit »Name« und »Wort« übersetzt wird und sowohl das akustische Lautmaterial, die optische Gestalt als auch die grammatische Wortform meinen kann.161 Da nun die jeweiligen Aussagen in den byzantinischen Ikonentheorien wenig spezifiziert sind, lassen sie mehrere Herangehensweisen an den Untersuchungsgegenstand zu: Johannes vD und Theodor Studites wählen ihre Worte im Hinblick auf die Namenseinschreibung im Bild. Dagegen trifft Nikephoros eine Aussage: »Das ist die Ikone Christi.« Der Unterschied kann zunächst darin gesehen werden, dass sich Nikephoros’ Worte ähnlich einem Aussagesatz auf einen Gegenstand der Welt beziehen, der in einer bestimmten Art und Weise gegeben ist. Indes liegt das Augenmerk von Johannes vD und dem Studiten konkret auf dem Eigennamen (Ausdruck), der in Bezug zu der (individuellen) Person steht. Mit dieser Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand würde der modernen Sprachphilosophie, etwa der Logik des deutschen Mathematikers und Philosophen Gottlob Frege, gefolgt werden. Tatsächlich ist Freges Terminologie hier ein hilfreiches Werkzeug: »Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen …«162 Dem folgend entspricht der Name einer Person als Eigenname der Bedeutung dieser Person. Eigennamen sind nach Frege nicht allein Personennamen, sondern im Sinne von singulären Termini ebenso geographische Namen (London) und Gegenstandsnamen. Zudem liegt jedem Eigennamen entsprechend seiner Gegebenheitsweisen ein Sinn zugrunde. Frege verwendet in diesem Zusammenhang das Beispiel vom Abend- und Morgenstern, womit ein und derselbe Himmelskörper aus verschiedenen Betrachterstandpunkten gemeint ist.163 Im Hinblick darauf gelten für Frege genauso Aussagesätze, die sich auf die Art und

158 159 160 161 162 163

Johannes vD Imag I 36, 14-15 und ähnlich Imag II 14. I 17 Siehe Theodor Studites Antirrheticus III 429D 13ff. [PG 99] und Iambi XXX 1792B [PG 99]. Nikephoros Antirrheticus II 432 B [PG 100]. Vgl. Ernst Wolfgang Orth: »Homonym«, in: HWP, Bd. 3 (1974), S. 1184. Gottlob Frege: »Über Sinn und Bedeutung«, in: Christian Bermes (Hg.): Sprachphilosophie, Freiburg i.Br./München 1999, S. 114. Vgl. Frege: »Über Sinn und Bedeutung«, a.a.O., S. 116.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Weise des Gegebenseins beziehen (z. Bsp. »Das ist die Ikone Christi«) als Eigennamen.164 Der Umstand einer fehlenden Spezifizierung hinsichtlich der Namenseinschreibung oder Namensgebung innerhalb der byzantinischen Ikonentheorien bedingt einen Blick auf philosophische und theologische Schriften, die das Verständnis um Eigennamen zur Zeit des byzantinischen Bilderstreits verdeutlichen können. Dabei zeigt sich, dass es in der Antike und im frühen Christentum eine Sprachphilosophie im heutigen engeren Sinne nicht gibt, weshalb sich sprachphilosophische Überlegungen allein in einem weiten Sinne abzeichnen: Das heißt, dass nicht die Sprache an sich Gegenstand der Diskussion ist, sie jedoch im Hinblick auf ontologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen reflektiert wird.165 Abermals geht es um das Wesen der Sache, hier explizit um das Wesen der Sprache, womit die Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand Eigenname sich auf metaphysischer Ebene bewegt. Eine von Platon überlieferte Aussage des Sokrates verdeutlicht zunächst, dass den Götternamen in der Antike eine gewisse Macht zugesprochen wird. Sokrates sagt: »Meine Ehrfurcht […] die ich immer habe wegen der Benennung der Götter, ist gar nichts Gewöhnliches, sondern stärker als jede Furcht.«166 Jene Ehrfurcht legt nahe, dass dem Götternamen wie den Göttern selbst eine Erhabenheit obliegt. Im Hinblick darauf darf zunächst die allgemeine Frage angeschlossen werden, ob Wörter natürlich gegeben sind (d.h. im weitesten Sinn göttlich bewirkt) oder ob ihr Gegebensein auf Setzung beruht. Es geht somit um das Gegensatzpaar φύσις/θέσις (physis/thesis), d.h. Natur/Setzung. Bereits in Platons Kratylos ist das Verhältnis zwischen dem Wort und der Sache, die es benennt, Stein des Anstoßes. Kratylos vertritt dabei die Meinung, Wörter seien ein natürlich Gegebenes (φύσις|physis), während Hermogenes als sein Gegenüber dafür plädiert, dass die Richtigkeit von Wörtern allein auf Vertrag und Übereinkunft beruht (θέσις|thesis):167 »Denn kein Name irgend eines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen.«168 Wenn die Richtigkeit von Namen an Übereinkunft gebunden ist, dann meint Setzung (θέσις) aus sprachphilosophischer Sicht ein Beruhen auf Konvention. Zwar bietet Platons Kratylos für

164 Weiterführend zu Freges Sprachphilosophie und für anknüpfende Literaturangaben siehe u.a. Gottfried Gabriel: »Eigenname«, in: HWP, Bd. 2 (1972), S. 333 und Georg W. Bertram: Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg 2011, S. 71-92. 165 Vgl. hierzu ausführlich Bertram: Sprachphilosophie zur Einführung, a.a.O., S. 34-52. 166 Platon Philebos 12c. 167 Siehe Platon Kratylos 383a-384e. 168 Platon Kratylos 384e.

3. Der Handlungsraum der Ikone

die Fragestellung keine Lösung, jedoch wird sie von Proklos aufgegriffen, was dazu führt, dass die auf sprachphilosophischer Ebene situierte Unterscheidung von φύσις/θέσις innerhalb der neuplatonischen Philosophie eine Spezifizierung erfährt. Mit Blick auf moderne Forschungsergebnisse zu diesem Thema kann auf Maurus Hirschles Dissertation zur Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus Bezug genommen werden.169 Darin widmet sich Hirschle eingehend Proklos‘ Kommentar zu Platons Kratylos. Zunächst gelingt es Hirschle, eine eindeutige Antwort dahingehend zu eruieren, dass für Proklos ὀνόματα, also Namen, in Bezug auf ihre Entstehung »kunstmäßig verfertigt« und somit θέσις sind.170 Jedoch zeigt Hirschle, dass das Gegensatzpaar φύσις/θέσις bei Proklos damit nicht hinfällig wird, sondern in Bezug auf das Verhältnis der ὀνόματα (onomata) zu den πράγματα (pragmata), also zwischen Name und Ding, weiterhin eine entscheidende Rolle einnimmt. Was Hirschle zu verdeutlichen sucht, ist der Fakt, dass Proklos φύσις/θέσις nicht als Gegensatzpaar verwendet: Während φύσις sich auf ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen Wort und Ding bezieht, zielt θέσις auf ein Wissen um das Ähnlichkeitsverhältnis ab.171 Proklos geht es konkret um die Differenzierung der einer Sache zugrunde liegenden Bedeutung (εἶδος) und ihrer Form (ὕλη) im Hinblick auf Ähnlichkeit und Unähnlichkeit: Der Philosoph, auf die Bedeutung (εἶδος) und das Bezeichnete achtend, nennt den Namen ›Astynax‹ und ›Hektor‹ ähnlich, die Grammatiker dagegen, auf das Lautmaterial (ὕλη) und die Silben eingehend, dürften sie als sehr unähnlich bezeichnen.172 Zunächst scheint es, dass die Benennungen für Proklos allein im Hinblick auf εἶδος den Dingen entsprechen, denn in ihrer Bedeutung Stadtherr sind die Namen ›Astynax‹ und ›Hektor‹ gleich. Jedoch gelingt es Hirschle aufzuzeigen, dass genauso eine Ähnlichkeit zwischen ὕλη (hylē) und Ding besteht. Dabei ist es die τύχη (tychē), die von Proklos nicht als bloße Zufälligkeit begriffen wird, sondern als von Gott bewirkter Zufall, denn nichts geschieht ohne göttliche τύχη: Keiner soll diese τύχη für eine unvernünftige Ursache halten […] sondern für eine göttliche oder dämonische Macht […] welche alle, auch die letzten unserer Wir-

169 Siehe Maurus Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, Meisenheim a. Glan 1979. 170 Vgl. Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 4f. sowie Proklos in Platonis Cratylum commentaria (in Crat.) 16,9 und 17,7 sowie 17,17f. 171 Vgl. Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 10. 172 Proklos in Crat. 37,22ff. (hier nach der Übersetzung von Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 7).

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Die Ikone und das Undarstellbare

kungen zum Guten lenken und zur Ordnung des Ganzen; dieser Macht zufolge verrichten wir nämlich vieles richtig und sprechen treffend aus.173 Entscheidend ist, dass für Proklos alles Seiende in jeglicher Hinsicht einander zugeordnet und aufeinander ausgerichtet ist, womit erneut auf die im ersten Kapitel dieser Arbeit thematisierte Triade Verharren-Hervorgehen-Rückkehr verwiesen sei. Dieser legt Proklos den Gedanken zugrunde, dass alle Vielheit aus Einheit (τό ἕν) hervorgeht und die Vielheit als verursachte Wirklichkeit im Einen (τό ἕν), das Urgrund und Ursache allen Seins ist, als Vorentwurf und Möglichkeit gegeben ist.174 Im Hervorgehen aus dem Einen, das dabei in sich verharrt, also weder weniger noch mehr wird, begründet sich ein teilhabendes Verhältnis, was eine Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Unähnlichkeit zwischen Ursache und Verursachtem impliziert. Scheint nun das Lautmaterial (ὕλη) in erster Instanz für Proklos »künstlich verfertigt« (θέσις) zu sein, bringt er das scheinbar Gegensätzliche in zweiter Instanz in einen natürlichen, d.h. ontologischen Zusammenhang (τύχη): Für Proklos beruht das In-Beziehung-Stehen allen Seins auf dem Hervorgehen aus dem Einen, in dem sich als Ursprung und Urprinzip eine kontinuierliche kosmische Einheit begründet: »Das All wird durch unauflösliche Bande zusammengehalten.«175 Das Axiom jener Bande, das Proklos als ein alles durchwirkendes Sympathieverhältnis (συμπάθεια|sympatheia) definiert, ist das analoge Verhältnis des Verursachten zur Ursache.176 Nun zeigt Hirschle, dass es Proklos gelingt, diese sich ontologisch begründende Analogie genauso zwischen der menschlichen Sprache, die Proklos ja in erster Instanz als θέσις definiert, und der zu benennenden Sache aufrechtzuerhalten. 173 174

175 176

Proklos in Crat. 42,28 (hier nach der Übersetzung von Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 9). Zur Triade Verharren-Hervorgehen-Rückkehr siehe Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. Vgl. außerdem Proklos Elemente der Theologie u.a. Prop. 66-69; Werner Beierwaltes: Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik, a.a.O., S. 118-164 sowie Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 15. Proklos Théologie Platonicienne VI 4; 351, 8 und weiter 351, 35. Vgl. Beierwaltes: Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik, a.a.O., S. 150 und ebd. Anm. 118. Darin folgt Proklos den Stoikern, die den Kosmos als einen Organismus betrachteten. Der stoischen Philosophie geht das irrationale Denken voraus, dass jeder Planet ein Gegenstück in der weltlichen Natur hat, über den sich auf magische Weise der Lauf der Dinge beeinflussen lässt. Im Hinblick darauf wurden den Göttern in der Antike bestimmte Symbole zugeschrieben. Es ist, so zeigt es Hirschle mit Bezug auf Proklos, die magische Kunst des Theurgen, dem es aufgrund seines Wissens um diese Symbole gelingt, eine (künstliche) Götterstatue zu befähigen, eines Gottes teilhaftig zu werden und durch ihre Benennung den Gott hervorzurufen. Vgl. Proklos Theol. Plat. VI; 351,35ff. und 44f.; Eric Robertson Dodds: Die Griechen und das Irrationale, 2. unveränderte Aufl., Darmstadt 1991, S. 132f. und dazugehörige Anm. ab S. 161; Beierwaltes: Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik, a.a.O., S. 150 und ebd. Anm. 119 sowie Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 14ff.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Dies erreicht der Neuplatoniker, indem er Worte (hier λόγοι)177 als Bild (εἰκών) bestimmt: »καὶ γὰρ οἱ λόγοι τῶν νοήσεών εἰσιν εἰκόνες.«178 In diesem Sinne ist für Proklos ein Wort ein Nachahmendes, womit einem jeden Begriff ein Bildcharakter zugewiesen wird. Im Sinne eines Bildes (εἰκών) geht also auch einem Wort das Sein der Sache selbst voraus, Sprache ist daher nicht allein eine dem Denken geschuldete bloße begriffliche Fiktion: Ein jedes Wort ist ein Sinngerichtetes, ist ein Name (ὄνομα), der das Wesen der Dinge (auf analoge Weise) benennt und dieses Wesen im Sinne eines Bildes offenbart. Somit vermögen die Worte das Seiende im Hinblick auf ihre Vielfältigkeit nicht allein auf logischer, sondern genauso auf ontologischer Ebene zu unterscheiden.179 Diesbezüglich ist zu erklären, dass Namen auf eine primäre und sekundäre Weise agieren: Proklos folgend ist also ein jedes Wort in seiner Sinngerichtetheit ein der Idee (εἶδος) nachgeahmtes Abbild.180 Dies harmoniert mit Proklos‘ allgemeinen Gedanken, dass das materiell Seiende in Form eines Bildes existiert, das am zugrunde gelegten Prinzip partizipiert.181 Damit schließt Proklos an die von Platon geprägte doppelte Bildwelt an, wobei für Proklos ein Wort (ὄνομα) wie ein Bild (εἰκών) die Dinge auf zwei Ebenen bezeichnet: Wort definiert als Bild ist wie dieses von der Idee her begründet, womit sie zunächst auf metaphysischer Ebene situiert sind, also das Wort Baum (franz. arbre) zuerst die Idee Baum bezeichnet. Ein jeder spezifisch seiende Baum ist Bild des Urbildes, folgt also wörtlich wie bildlich der (metaphysischen) Idee Baum.182 Im Sinne eines Abbildes ist alles Seiende und damit 177

Hier sei angemerkt, dass λόγος ein mehrdeutiger Begriff ist und sowohl Rede und Satz wie Wort oder einen Begriff/eine Bedeutung meinen kann. Die Problematik gründet darin, dass λόγος, wie in den Philosophien Platons und Aristoteles nachweisbar, mehrere Seinsebenen berührt, nämlich die linguistische, die gedankliche sowie die objektive, d.h. dingliche Ebene. Vgl. Rudolf Haller: »Untersuchungen zum Bedeutungsproblem in der antiken und mittelalterlichen Philosophie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 7 (1962), S. 64f. 178 Proklos Theol. Plat. V 18; 284,11 und ähnlich in Parm. VII 52,9f. Vgl. zudem Beierwaltes: Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik, a.a.O., S. 37ff. 179 Vgl. Beierwaltes: Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik, a.a.O., S. 37ff. Wie Beierwaltes weiter aufzeigt, bezeichnen Worte für Proklos ein je eigenes Sein, jedoch sind sie im Sinne eines Spezifizierenden nicht im Denken verschieden, sondern gemäß der Natur der Sache selbst (Vgl. ebd. S. 39). Dazu sei hier ein Beispiel und möglicherweise weiterführender Gedanke formuliert: Für Proklos wäre dann genauso Wort als für sich selbst stehender Begriff nicht allein dem logischen Denken entsprungen, sondern Wort wäre wie jedes Wort Name (ὀνόματα) und Bild (εἰκών), der das in sich Sein der eigenen Sache am Begrifflichen selbst benennt und zeigt. 180 Vgl. Proklos commentary on the first Alcibiades of Plato (in Alc.) 22,10ff. 181 Vgl. Proklos elem. Theol. Prop. 65. 182 Zur Situierung von Bild und Wort auf der metaphysischen und sinnfälligen Ebene ist ein von Proklos aufgenommenes platonisches Gedankengut. Vgl. dazu Beierwaltes: Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik, a.a.O., S. 170f. und Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 18.

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Die Ikone und das Undarstellbare

auch die menschliche Sprache vom Urbild bestimmt – indem ein Wort aufgrund des ihm zugewiesenen bildhaften Charakters die Natur der Dinge nachzuahmen vermag, ist das Wort zweitrangig dem materiell Gegebenen ähnlich: Der Name Baum (franz. arbre) ist im Sinne von Proklos zwar ein vom Menschen arbiträr Gesetztes, aber trotzdem ein von der Idee her motivierter Name (ὄνομα), was eine Analogie impliziert. Doch damit sind allein die menschlichen ὄνομα gemeint. Das Empfangen der göttlichen Namen bindet Proklos an die Theurgie, die eine ausgeübte Kunst ist. Dabei empfängt der geweihte Theurge auf magische Weise die »heiligen Worte«, denen eine symbolische Macht zueigen ist. Hierin begründet sich nach Hirschle die neuplatonische ὄνομα-ἄγαλμα-Theorie, also eine Namenmagie.183 Die Auffassung, den Götternamen käme aufgrund ihres so Hervorgehens eine magische Macht zu, kommt letztlich der Aussage Sokrates entgegen, bei dem die Namensnennung Ehrfurcht hervorruft. Diese Macht der Götternamen vergleicht Proklos mit den Götterstatuen (ἄγαλμα|agalma): Denn wie diese durch magisch wirkende Kraft die Götter in die menschliche Nähe rücken, gelingt dies den Götternamen durch deren Lautverbindung.184 Entscheidend ist, dass für Proklos alles eine Einheit ist und somit die göttliche Erkenntnis mit den Ideen identisch ist. In diesem Punkt betont nun Hirschle, dass bei Proklos genauso die göttlichen Wörter mit den göttlichen Ideen koexistent sind: »Denn durch das Benennen selbst bringen (die Götter) die Dinge zustande.«185 Ist das Bild intentional, weil es vom Urbild her bestimmt ist, so besteht diese Intentionalität für das Wort in gleicher Weise, denn: »das Wort ist nur sinnvoll, wenn es von der gemeinten Sache Sinn empfängt, indem es ihn zu ergreifen sucht.«186 Ein vom Menschen gesetzter Name ist mit dessen zugrunde liegender Idee teilhaftig verbunden, was eine Ähnlichkeitsbeziehung impliziert.187 Bei Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., konkret auf S. 68. Vgl. dazu des Weiteren Tilmann Borsche: »Name: I. Antike«, in: Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6 (1984), S. 376f. 184 Vgl. Proklos in Plat. Crat. comm. 19, 12-18; Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 27 sowie Borsche: »Name: I. Antike«, a.a.O., S. 376. 185 Proklos in Tim. II 255,23f (hier nach der Übersetzung von Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 23f.). Nun sind, das betont auch Hirschle, die göttlichen Wörter als Ideen (εἶδος) ohne Lautgestalt, weshalb göttliches »Benennen« metaphorisch ist (vgl. Proklos in Crat. 33,7f sowie Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 23). 186 Beierwaltes: Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik, a.a.O., S. 38. 187 Von einer Ähnlichkeit der Worte geht auch Plotin aus, wobei erwähnt sei, dass er sprachphilosophische Fragestellungen allein im Hinblick auf den Logos-Begriff führt. Vgl. Plotin Enneaden V 5,5,14 und Beierwaltes: Denken des Einen, a.a.O., S. 103, Anm. 84 sowie Borsche: »Name: I. Antike«, a.a.O., S. 376. 183

3. Der Handlungsraum der Ikone

Indem nun die göttlichen Benennungen mit den Ideen in eins fallen, sie gleichfalls εἶδος sind, werden sie, Proklos folgend, im Prinzip des Hervorgehens aus der Einheit als Vielheit der menschlichen Seele »eingeschrieben«.188 Da nun die Ideen der menschlichen Seele nur auf teilhabende Weise gegeben sind, ist das menschliche Wissen um sie begrenzt. Dieser Umstand spiegelt sich genauso in der menschlichen Sprache, denn, so betont im Anschluss daran Hirschle, auch die göttlichen Benennungen der Dinge sind dem Menschen nur auf teilhabende Weise gegeben: Zur Erkenntnis erlangt der Mensch allein im Diskurs des Denkens und Sprechens.189 Der Mensch kann sich in diesem Prozess zwar an (sinnfällige) Abbilder halten, doch seine Erkenntnis der ursprünglichen (transzendenten) Idee bleibt stets unvollkommen. Dass Worte von Gott vorgegeben sind und sich für den Menschen über den Diskurs der Sprache die Erkenntnis des göttlichen Urprinzips ermöglicht, wird in der Adaption der Philosophie des Proklos durch Ps.-Dionysios Areopagites christliches Gedankengut. In Anlehnung an Proklos begreift Ps.-Dionysios den Namen als ὄργανον (organon) – als Werkzeug also, das der Offenbarung des göttlichen Wesens und letztlich der Erkenntnis des göttlichen Urprinzips dient.190 Wie Proklos, so bestimmt auch Ps.-Dionysios die menschliche Sprache als unzureichend im Hinblick auf das Erfassen des göttlichen Wesens. Hier müssen die Ausführungen Hirschles dahingehend spezifiziert und weitergedacht werden, dass eine jede Benennung gebunden ist an die menschliche Intention, die über den Diskurs letztlich aus einem Erfahrungswert heraus benennt. Jegliche Benennung des unfassbaren Gottes läuft dabei Gefahr, dem Idolischen zu verfallen, worauf bereits Gregor von Nyssa hinweist: Jeder Begriff (νοεμα), sofern er gemäß dem Erfassen einer Einbildungskraft in der Vorstellung, die etwas umgrenzt, und in einer Absicht, die danach strebt, die göttliche Natur zu erreichen, hervorgebracht wird, erzeugt nur ein Götzenbild (εἷδολον θεου), das weit davon entfernt ist, Gott selbst zum Ausdruck zu bringen.191 Ps.-Dionysios’ Konzeption der negativen Theologie geht nun gerade von der Unmöglichkeit der Benennung Gottes aus. Tatsächlich prägt Ps.-Dionysios ganz entscheidend die Konzeption der negativen Theologie: In seiner Schrift Über die Namen

188 Vgl. Proklos Elem. Theol. Prop. 194 und Plotin Ennneaden V 8,6,11. 189 Vgl. Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus, a.a.O., S. 20ff. und S. 28ff. 190 Vgl. Proklos in Crat. 16,12 (dort als ὄργανον ἐκφαντορικόν/zeigendes Werkzeug) und in Crat. 51; 20,20 wie Platon Krat. 388b 13 (dort als ὄργανον διακριτικόν/unterscheidendes Werkzeug) sowie Platon Krat. 388 b 13f und 429 A. 191 Gregor von Nyssa Vita Moysis II §16, PG44, 337b (hier in einer Übersetzung von Jean-Luc Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 54).

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Die Ikone und das Undarstellbare

Gottes setzt sich Ps.-Dionysios mit den aus der Heiligen Schrift überlieferten Namen des Erhabenen auseinander. Es ist ihm ein Anliegen, das Wesen Gottes begrifflich zu fassen, wobei er zu der Erkenntnis gelangt, dass sich das göttliche Wesen weder durch affirmative noch durch negative Prädikate benennen lässt. Für Ps.Dionysios werden dem Menschen die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit gegenüber dem transzendent göttlichen Wesen als Grenzen sprachlicher Aussagbarkeit aufgezeigt: Das Wesen Gottes ist unerkennbar, unsagbar und unbenennbar.192 Aus diesem Wissen heraus fordert Ps.-Dionysios, in Bezug auf Gott zu schweigen. Für Jean-Luc Marion besteht das Dilemma einer negativen Theologie in deren Verbleib in metaphysischen Gefilden: Gleich den affirmativen Namen rühren auch die negativen Benennungen Gottes von einer menschlichen Intention her. Deshalb verharrt jeglicher Versuch des Menschen, Gott einen Namen zu geben, im idolischen Denken. Idolisches Denken ist nach Marion an Begrifflichkeiten gebunden: Jeder vom Mensch gesetzte Begriff (etwa Gott) ist ein Idol, weil er Zeichen dessen ist, was der menschliche Verstand als Ausgangspunkt des Denkens vom Unsichtbaren (als das zu beschreibende Andere) vermeintlich begriffen hat.193 So ist der Satz »Gott ist ein Seiendes« für Marion ein Idol, weil diese Aussage davon ausgeht, dass Gott – ob abwesend oder anwesend – zu sein hat.194 Die Kritik, die darin ihren Ausdruck findet, ist Marions Kritik am Ausgangspunkt des Denkens des Seins, das beim idolischen Denken seine Grundlage im Horizont des Seienden selbst hat: Sein ist Wahrgenommen sein.195 Bezogen auf Gott heißt das, dass dieser nicht von sich auf den Menschen hin, sondern vom Menschen her gedacht wird und somit im Bereich der menschlichen Erwartbarkeit verbleibt.196 Der Ursprung des begrifflichen Idols begründet sich, wie jedes Idol, in der Absicht des menschlichen Blickes. Auf welchen Weg bringen uns nun diese Überlegungen? Über die Philosophie des Proklos und des Ps.-Dionysios lassen sich die der frühchristlichen Sprachphilosophie zugrunde liegenden Prämissen wie folgt zusammenfassen: Zunächst werden Worte, verstanden als Eigennamen einer Sache, von ihrer Syntax und ihrem Lautmaterial her als vom Menschen künstlich Gesetzte begriffen. Jedoch ist deutlich gemacht worden, dass der Sinn (εἶδος) eines jeden Seienden vom göttlichen Urprinzip her motiviert ist. Somit ist jede Benennung, genauso wie alles materiell Wahrnehmbare, Abbild (εἰκών) der höherrangigen Idee und somit Offenbarung des

Vgl. Ps.-Dionysios Schrift Über die Namen Gottes II 4 sowie Janine Luge-Winter: »Das Erhabene erscheint«, a.a.O., S. 158. 193 Vgl. Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 35f. 194 Vgl. ebd. S. 79. 195 Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 71ff. 196 Siehe dazu ausführlich Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 49-91 sowie die kritischen Auseinandersetzungen bei Specker: Einen anderen Gott denken? a.a.O., S. 76-198. 192

3. Der Handlungsraum der Ikone

Göttlichen. Worte und menschliche Sprache können im Sinne epistemischer Werkzeuge zwar das göttliche Urprinzip erfahrbar machen, jedoch muss das göttliche Wesen im Begriff unbestimmt bleiben, damit die Undarstellbarkeit Gottes gewahrt bleibt (negative Theologie). Im Hinblick auf die obligatorische Namenseinschreibung der Ikone muss nun gefragt werden, was der in der Ikone eingeschriebene Name konkret benennt. Wenn es sich um ein Bild handelt, das ein Undarstellbares als solches ausstellt, so läuft doch jegliche Namenseinschreibung Gefahr, dieser Möglichkeit von Sichtbarmachung entgegenzuwirken, weil das, was erscheint, von einer menschlichen Intention her begrifflich fixiert wird. Im Sinne Marions kann dem allein ein Begriff entgegentreten, dessen Intention – ähnlich der des umgekehrt intentionalen Blickes – vom Unsichtbaren herrührt.197 Homonymie Mit seiner Aussage, der Name des Christus könne auf homonyme Weise dessen Ikone benennen, nimmt Nikephoros Bezug auf die Worte des ikonoklastischen Kaisers Konstantin V., der folgenden Vorwurf äußert: »Wie kann man der Ikone den Namen sowohl Gottes als auch des Menschen geben, der die göttliche und menschliche Natur bezeichnet, wenn diese Natur nur die menschliche Natur darstellen kann, nicht aber die göttliche und unbegreifliche?«198 Der Tenor der beiden Aussagen bezieht sich zunächst auf die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Benennung zweier verschiedener Dinge mit ein und demselben Wort. Der entscheidende Begriff, den Nikephoros in seiner Argumentation verwendet, ist ὁμώνυμος (homonymos), was mit »gleichnamig« und »gleichlautend« übersetzt wird. Abermals stützen sich die Untersuchungen auf die aristotelische Philosophie: Homonym (gleichnamig) heißen Dinge, die nur den Namen gemein haben, während der zum Namen gehörige Wesensbegriff verschieden ist. So wird z.B. der Name Sinnenwesen (ζῷον) sowohl von einem (wirklichen) Mensch wie von einem gemalten Menschen oder Tier gebraucht. Denn beide (wirklicher Mensch und gemaltes Sinnenwesen) haben nur den Namen gemein, während der zum Namen gehörige Wesensbegriff verschieden ist. Denn wenn man angibt, was das »Sinnenwesen sein« bei jedem von beiden bedeutet, so wird man für jedes einen eigenen Begriff angeben.199 197 Vgl. Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 44ff. 198 Nickephoros Antirrheticus I 313 [PG 100]. Siehe auch Georg Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, a.a.O., S. 9, Fragm. 15. 199 Aristoteles Cat. 1, 1a. Bereits Platon verwendet den Begriff im Hinblick auf die Problematik einer identischen Benennung von seinsmäßig verschiedenen Dingen (siehe: Platon Parm. 133 d 3 und Soph. 234 b 7). In Homers Ilias findet sich der Begriff in Bezug auf die Bezeichnung gleichnamiger Helden (siehe: Homer Ilias XVII, 720). Vgl. dazu und zu weiteren Anmerkun-

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Die Ikone und das Undarstellbare

Das von Aristoteles hier angewandte Beispiel ζῷον (zōon|Sinnending) macht das Verständnis dieser Stelle dahingehend schwierig, dass sich im Deutschen kein Pendant dazu finden lässt: Im Altgriechischen meint ζῷον »Lebewesen« und »Bildnis«, dem die Übersetzung als Sinnending oder Lebewesen nicht in Gänze gerecht wird. Für ein besseres Verständnis fasst Oehler in seinem Aristoteleskommentar daher die Definition von Homonymie in eine Formel und ersetzt ζῷον durch ein anderes Begriffsbeispiel: Seien x und y zwei verschiedene Dinge. x und y sind Homonyme, g. d. w. (a) x und y einen gemeinsamen Namen = : z haben, (b) (aber) die Bestimmung dessen, was es für x ist, z zu heißen, und was es für y ist, z zu heißen, nicht dieselben sind. Beispiel: z = »Trieb«. Die Bestimmung dessen, welche Bedeutung »Trieb« in Bezug auf Schössling hat, und die Bestimmung dessen, welche Bedeutung »Trieb« in Bezug auf Drang hat, sind nicht dieselben.200 Was sich verdeutlicht, ist, dass sich der Begriff der Homonymie auf Entitäten (b), und damit auf Sinn und Bedeutung (εἷδος), nicht also auf Wörter, also Bezeichnendes bezieht. Nun spezifiziert Aristoteles Homonymie in einer Weise, die für unseren Kontext entscheidend ist. Zum einen nennt er Homonyme zufällig Mehrdeutige, womit er Wörter meint, denen (zufällig) völlig verschiedene Bedeutungen zugrunde liegen:201 Beispielsweise kann im Deutschen »Kiefer« einen Teil des Gesichtsschädels und genauso den Nadelbaum bezeichnen. Zum anderen können Homonyme nach Aristoteles »καθ᾽ ὁμωνυμίαν λέγεται πολλαχῶς« sein: Damit sind systematisch mehrdeutige Wörter gemeint, die Aristoteles wiederum in i) Metapher (μεταφορά), ii) proportionale Analogie (κατ ἀναλογίαν) und iii) Primärbedeutung (πρὸς ἕν) differenziert: Während im Falle von i) einem Wort eine nicht ursprüngliche Bedeutung zugewiesen wird, ii) im Hinblick auf der den Entitäten zugrunde liegenden ähnlichen Beziehungen bleibt iii) auf eine Grundbedeutung bezogen.202 Mit der Aussage »die Haut ist schneeweiß« wird, gleich i) einer Metapher, auf ii) gen der Verwendung von ὁμώνυμος vor Aristoteles E. W. Orth: »Homonym«, a.a.O., S. 11811183. 200 Klaus Oehlers Kommentar in Aristoteles: Kategorien, a.a.O., Berlin 1986, S. 189. 201 Vgl. Aristoteles Nic. Eth. I 4 1096b 26f.: »… ἀπὸ τύχης ὁμώνυμοις«. Vgl. außerdem Rudolf Haller: »Untersuchungen zum Bedeutungsproblem in der antiken und mittelalterlichen Philosophie«, a.a.O., S. 69 sowie Ernst Wolfgang Orth: »Homonym«, a.a.O., S. 1182. 202 Vgl. Aristoteles Top. II 3, 110b 16f. und Met. IV 1, 1003a 20f., IV 2, 1003a 33f. sowie VII 4, 1030b 3. Vgl. außerdem Rudolf Haller: »Untersuchungen zum Bedeutungsproblem in der antiken und mittelalterlichen Philosophie«, a.a.O., S. 67f. und Ernst Wolfgang Orth: »Homonym«, a.a.O., S. 1182.

3. Der Handlungsraum der Ikone

eine ähnliche Beziehung hingewiesen. Zu iii) eignet sich etwa Leiter als Beispiel, womit sowohl ein Stufengerät, der Chef eines Unternehmens und genauso ein physikalischer Leiter gemeint sein können. Den jeweiligen Interpretationsmöglichkeiten für Leiter liegt letztlich eine ähnliche Bedeutung zu Grunde, nämlich (was auch immer) zu lenken, d.h. ihnen kann πρὸς ἕν die Bedeutung des Leitens zugewiesen werden. Auf sprachwissenschaftlicher Ebene könnten hier sicherlich tiefgründigere Studien zu Homonymie anschließen.203 Jedoch soll Homonymie hier als philosophischer Begriff Verwendung finden, der im Sinne von Aristoteles als alleinstehendes Wort einen Vorstellungsgegenstand bezeichnet.204 Für Aristoteles sind Homonyme, ob zufällig oder systematisch Mehrdeutige, stets im vielfachen Sinne Ausgesagte (καθ᾽ ὁμωνυμίαν λέγεται πολλαχῶς), die seinsmäßig verschiedene Dinge gleichnamig benennen. Es ist bereits angemerkt worden, dass die Dialektik des Johannes vD u.a. in Anlehnung an Aristoteles‘ Kategorienlehre einer philosophischen Lehre folgt, wobei Johannes vD letztlich die philosophischen Begriffe für seine theologischen Dogmen zu verwenden weiß. Tatsächlich spricht Johannes vD im 32. Kapitel seiner Dialektik über das Gleichnamige und bedient sich fast wörtlich der aristotelischen Begriffsdefinition, wenn er sagt: »Gleichnamige sind Dinge (Ὁμώνυμά εἰσιν), die nur eine gemeinsame Bezeichnung haben, während die der Bezeichnung entsprechende

203 Im Hinblick auf diese von Aristoteles vollzogene Differenzierung ließe sich für Wörter, denen eine systematische Mehrdeutigkeit zukommt, der Begriff der Polysemie verwenden, der Mehrdeutigkeit im Hinblick auf ähnliche Bedeutungsmerkmale (z.B. Leiter) meint. Der Begriff πολυώνυμα findet sich allerdings erstmals beim alexandrinischen Kommentator (aristotelischer und platonischer Schriften) Ammonios (5./6. Jh. n. Chr.), dessen Werke wiederum Johannes vD bekannt gewesen sind. So unterscheidet Johannes vD nicht nur in Anlehnung an Aristoteles, sondern auch an Ammonios zwischen Homonyma, Synonyma, Polyonyma (verschiedene Namen bei gleichem Wesen, z.B. Lebewesen Mensch/Pferd) und Heteronyma (vgl. Johannes vD Dialectica Kap. 32-35 und Gerhard Richter: Die Dialektik des Johannes von Damaskos: Eine Untersuchung des Textes nach seinen Quellen und seiner Bedeutung, Ettal 1964, S. 161f.). Aus moderner sprachwissenschaftlicher Sicht lässt sich jedoch eine Unterscheidung zwischen polysemen und homonymen Wörtern nicht eindeutig ziehen. Da sich der Begriff der Polysemie zudem bei Aristoteles nicht findet, wird hier einer allgemeinen Definition für Homonymie gefolgt. Es sei erwähnt, dass als Untergruppe von Homonymen außerdem Homophone und Homogramme gelten: Homophone sind gleich lautende Wörter unterschiedlicher Schreibweise (z. Bsp. malen/mahlen); um Homogramme handelt es sich, wenn zwei Wörter die gleiche Schreibweise, jedoch eine unterschiedliche Betonung und Bedeutung haben (z.B. Mōntage/Montāge, Collāgen/Collagēn). Für weiterführende Recherchen siehe u.a. Elise Richter: »Über Homonymie«, in: Festschrift für Prof. Dr. Paul Kretschmer, Wien/Leipzig/ New York 1926, S. 167-201, Rolf Bergmann: »Homonymie und Polysemie in Semantik und Lexikographie«, in: Sprachwissenschaften, Bd. 2 (1977), S. 27-60 und Norbert Fries: Ambiguität und Vagheit: Einführung und kommentierte Bibliographie, Tübingen 1980. 204 Vgl. Elise Richter: »Über Homonymie«, a.a.O., S. 167.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Wesensbestimmung eine andere ist.«205 Der Unterschied zu Aristoteles Kat. 1 a 1f liegt bei λέγεται (heißen), was Johannes vD durch εἰσιν (sind) ersetzt. Die Forschung sieht darin die Tatsache, dass es sich nicht um ein unmittelbares Aristoteles-Zitat handelt, sondern Johannes vD sich hier auf Aristoteles-Interpretationen und allgemeines Gedankengut stützen kann.206 Grundsätzlich behält der Begriff Homonymie jedoch seine aristotelische Definition und meint auch im christlichen Sprachgebrauch die gleichnamige Benennung von Dingen, die sich zwar von ihrer Natur (φύσις) und ihrem Wesen (οὐσία) her unterscheiden, deren Sinn (εἷδος) jedoch gleich ist. Doch was bedeutet Homonymie nun konkret für die Ikone? Zunächst unterscheiden sich die Gleichbenannten in ihrem Wesen, womit ihnen verschiedene Definitionen zukommen. Abermals kann hier der Anschluss an die byzantinischen Ikonentheorien im Satz gefunden werden: »Etwas anderes ist das Bild und etwas anderes das Abgebildete.«207 Der Unterschied liegt darin, dass das Eine ein artifizielles Bild ist und das Andere die reale Person, von der dieses artifizielle Bild ist. Indem nun die Ikone Bild von der Person ist, der sie (auf einer ontisch-optischen Ebene) ähnlich ist, kann ihr auf gleiche Weise der Name dieser Person zugewiesen werden. Beim Betrachten einer Fotographie kann, wie bei einer persönlichen Begegnung mit der abgelichteten Person, darauf geschlossen werden: »Das ist Paul!« Natürlich unter der Vorraussetzung, dass der Betrachter Paul kennt, benennt dieser die Person Paul und Pauls (fotographische) Darstellung auf homonyme Weise, denn sie sind einander (auf einer ontisch-optischen Ebene) ähnlich. Es ist Nikephoros, der dies für die Ikone spezifiziert, sieht er doch in deren Ähnlichkeit zum Urbild die Möglichkeit der Homonymie dadurch begründet, dass die Übereinstimmung die Homonymie mitteilt.208 Der Unterschied liegt in der Art ihrer Gegebenheitsweise: Ikone und Urbild sind sich ähnlich, denn das eine ist Zeichen des eingeschriebenen Körpers, das Andere dieser in realer Gegebenheitsweise, weshalb beide, Nikephoros folgend, in der Übereinstimmung der sichtbaren Form auf homonyme Weise bezeichnet werden.209 Im Hinblick auf die Person und ihr Abbild ist der Name ein »in vielfacher Hinsicht ausgesagter«, wobei die Mehrdeutigkeit in Bezug auf die Ähnlichkeit des Abbildes (Foto, Ikone) keine zufällige (wie beim Beispiel »Kiefer«), sondern eine systematische Zuweisung ist. 205 Johannes vD Dialectica Kap. 31, 6f [Kotter: (ιε´) λβ´ Περὶ ὁμωνύμων]: »Ὁμώνυμά εἰσιν, ὧν ὄνομα μόνον κοινόν, ὁ δὲ κατὰ τοὔνομα λόγος τῆς οὐσίας ἕτερος.« 206 Vgl. Gerhard Richters Anm. 265 zu Kap 32 seiner Übersetzung Johannes von Damaskus: Philosophische Kapitel, eingeleitet, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Gerhard Richter, Stuttgart 1982, S. 212f. 207 Johannes vD Imag III 16, 5-6. 208 Vgl. Nickephoros Antirrheticus I 280B: »Ἐκ περιουσίας δὲ καὶ τὴν ὁμωνυμία χαρίζεται ἡ ὁμοίωσις « 209 Vgl. Nickephoros Antirrheticus I 280C und 316A [PG 100].

3. Der Handlungsraum der Ikone

3.2.2

Der Name als Performativ

Identifikation und Identität Mit den vorausgehenden Untersuchungen konnte geklärt werden, dass ὄνομα, also der Name, der einem Gegenstand gegeben ist, zwar als ein vom Menschen künstlich Gesetztes gilt, jedoch aus schöpfungstheologischer Perspektive unter göttlichem Einfluss steht. Zudem verdeutlicht sich, dass die Gleichnamigkeit (ὁμώνυμος) von Bild und dem darauf Abgebildeten als systematische Zuweisung zu verstehen ist. Was es nun im Folgenden zu klären gilt, ist zum einen die Frage, was die Gleichnamigkeit im Falle des Bildes bewirkt, zum anderen, was mit dem Bild, konkret mit der Ikone passiert, wenn der Name eingeschrieben wird. Dabei sei die These vorangestellt, dass die Namenseinschreibung für die Ikone nicht nur im Hinblick auf die einfache Identifikation (»Das ist Petrus!«) obligatorisch ist, sondern dass der Ikone über die Einschreibung des Personennamens ein spezifischer Mehrwert zugewiesen wird. Die Namensaufschrift der Ikone ist επιγραφη (epigraphē), d.h. ein (unmittelbar) auf einen (Bild-)Träger Eingeschriebenes. Dass diese Einschreibung für die Ikone wesentlich ist, zeichnet sich bereits bei Johannes vD ab. Die konkrete Antwort darauf, was eine Namenseinschreibung im Falle der Ikone letztlich bewirkt, lassen nicht nur die byzantinischen Ikonentheorien missen. Selbst zeitgenössische Ikonentheorien bieten dazu wenig Anhaltspunkte. Einzig Marie-José Mondzain stellt in ihrer modernen Ikonentheorie die entscheidende Frage: »Was macht der Graph mit dem Bild?«210 Ihren Ausführungen können die Ergebnisse Günter Langes hilfreich zur Seite gestellt werden. Tatsächlich liegt mit Langes Bild und Wort 211 die fruchtbarste Arbeit zu diesem Thema vor. Es gelingt Lange aufzuzeigen, dass die byzantinischen Ikonentheorien eine Gleichstellung von Bild und Wort ersuchen. Diese bindet bereits Johannes vD an den Umstand, dass die Apostel nicht nur die Reden des Sohnes gehört, sondern ihn leibhaftig gesehen haben. Und wie die Apostel ihn sehen konnten, so dürfen die Christen der späten Jahrhunderte begehren, ihn zu sehen – seine Abwesenheit kann mit Bildern überwunden werden: Wie wir durch Bücher von seinen Worten hören […] und dadurch die Seele heiligen […] und die Bücher, durch die wir seine Worte hören, ehrend verehren – schauen [wir] so auch durch die Zeichnung der Bilder das Abbild seines leiblichen Gepräges und Wunder und Leiden.212

210 Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 120. 211 Günter Lange: Bild und Wort, 2., um ein Nachw. erw. Aufl., Paderborn 1999 (Orig. 1966/67). 212 Johannes vD Imag III 12, 13-21.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Die Betonung liegt hier nicht allein auf der Gleichstellung von Bild und Wort, sondern ebenso auf der Leiblichkeit. Diese, so hebt es Lange hervor, bezieht sich weniger auf den Körper als Gezeigtes als vielmehr auf dessen Untrennbarkeit von den bewirkten Wundern und den durchlebten Leiden: Mit Bezug auf Johannes vD erschließt sich für Lange der Mehrwert des Sehens als ein intelligibler und affektiver, denn Sehen schafft Gewissheit (πληροφορούμεθα) und erfüllt mit Freude (χαίρομεν).213 Indem er sieht, das ist bereits betont worden, wird der Betrachter selbst zum Augenzeugen der Offenbarung, die im Bild wie im Wort bezeugt ist und im Hören und Sehen wirksam bleibt.214 Johannes vD stützt seine Gleichstellung von Wort und Bild auf die Aussage des Basilius von Cäsarea: »Was das Wort des Geschichtsschreibers zu Gehör bringt, das zeigt die Malerei schweigend durch Darstellung.«215 Dass Bild und Wort als gleichberechtigte Mittler agieren sollen, verdeutlicht sich genauso bei Johannes’ vD Nachfolgern. Für Nikephoros gelten Bild und Wort als Gleichrangige, wobei abermals auf die von ihm ins Feld geführte Doppeldeutigkeit von γραφή (graphē) hingewiesen sei: Schreiber wie Maler sind Künstler (γραφεύς). Deren Werke sind in ihrer Weise verschieden zu vermitteln. Lange bestimmt sie demzufolge als je andere Medien. Doch ihre Handfertigkeit ist ein Schreiben, Ritzen und Ähnlich machen, was nach Nikephoros bei den Alten unter einen Begriff gefasst ist, nämlich γραφή.216 Was aber bewirkt eine Gleichrangigkeit von Wort und Bild im Hinblick auf die Namenseinschreibung der Ikone? Langes kurze Antwort darauf ist: Nicht das eine bestimmt das andere, weil es von höherer Wahrheit ist, sondern sie ergänzen einander.217 Dem Begriff der Homonymie bedient sich neben Nikephoros auch Theodor Studites, für den sich die vielen Bildtypen, die es von Christus und den Heiligen geben kann, trotz ihrer visuellen Verschiedenheit nicht nur im Sinne der UrbildAbbild-Relation auf ein und dasselbe εἶδος beziehen, sondern ebenso aufgrund des Tragens des selben Namens (ὄνομα).218 Im Hinblick auf die ikonoklastische Argumentation sehen sich die Ikonophilen der mehr als relevanten Frage ausgesetzt, ob

213 Vgl. Lange: Bild und Wort, a.a.O., S. 122f. im Vergleich mit Johannes vD Imag II 6. 214 Siehe Kap. 2.2.2.2 Sichtbarmachung und vgl. Johannes vD Imag I 45 (= II 41); Lange: Bild und Wort, a.a.O., S. 17 und 130f. sowie Morenz, Ludwig D.: Bild-Buchstaben und symbolische Zeichen. Die Herausbildung der Schrift in der hohen Kultur Ägyptens, Göttingen 2004, S. 17. 215 Basileios hom. 19, 509A [PG 31]: Ἅ γὰρ ὁ λόγος τῆς ἱστορίας διὰ τῆς ἀκοῆς παρίστησι, ταῦτα γραφικὴ σιωπῶσα διὰ μιμήσεως δείκνυσιν.« 216 Vgl. Nikephoros Antirrheticus II 345D-356AB [PG 100]; Lange: Bild und Wort, a.a.O., S. 207f.; Schönborn: Die Christus-Ikone, a.a.O., S. 198f. uns siehe Kap. 2.2.1.2 Die relationalen Regeln der εἰκων. 217 Vgl. Lange: Bild und Wort, a.a.O., S. 225. 218 Vgl. Theodor Studites Antirrheticus I 337D-340A und 341BD [PG 99].

3. Der Handlungsraum der Ikone

über die Ikone die Aussage getroffen werden darf: »Das ist Christus.«219 Es gelingt Lange, die diesbezüglich alles entscheidende Antwort beim Studiten ausfindig zu machen: Wird von Theodors Unterscheidung der Substanz (φυσίς) ausgegangen, so kann von der Ikone weder ausgesagt werden, dass sie »Christus« noch dass sie »Christi Bild« ist – die Ikone ist in ihrer Substanz Holz und Farbe. Wird sich jedoch auf die Ähnlichkeit des Bildes mit dem Prototyp bezogen, also auf das, was im Bild zu Erscheinung gebracht wird, so ist die Ikone beides: »… ›Christus‹ äquivok, κατὰ τὸ ὁμώνυμον, ›Christus‹ relativ, κατὰ τὸ πρός τι.«220 Dem Betrachter wird dies zum einen über die Namenseinschreibung die Homonymie zweier verschiedener Seinsweisen (Mensch/Abbild) bewusst, und er identifiziert die im Bild dargestellte Person mit ihrem Prototyp aufgrund ihrer relationalen Beziehung. In diesem Sinne merkt Lange an, dass die Ähnlichkeit des Bildes mit dem Prototyp eine mehr oder weniger gelungene sein kann, denn die Gleichnamigkeit gewährleistet letztlich eine unmissverständliche Identifikation.221 Dem sei erklärend hinzugefügt, dass die Ikone im Sinne eines Bildzeichens nicht nur ein Abwesendes in die Nähe rückt – aufgrund der Homonymie wird das Bild vielmehr sogar mit dem identifiziert, was es zeigt. So sagt Theodor Studites sinngemäß, dass Bild und Urbild eine Identität im Hinblick auf das Tragen desselben Namens haben, denn so wie die Kopie eine Kopie des Originals ist, so ist der Name der Name dessen, was benannt ist.222 Zwar agieren Wort und Bild im Falle der Ikone auf gleichberechtigte Weise und lassen etwa die Lebensgeschichte der Person zum Bildinhalt werden. Die tiefgreifendere Frage dazu muss sich der Ungewissheit stellen, ob sich dem Bild über den Namen eine gewisse Wirkkraft einschreibt oder ob die Namenseinschreibung allein näher bestimmt, was das Bild ist und eher auf einer emotionalen und assoziativen Ebene wirkt. Nun begreift Theodor Studites ὄνομα, also den Namen, als ein natürliches Bild (φυσική εἰκὼν) des Benannten, womit er es vom artifiziellen Bild, der Ikone, klar unterscheidet.223 Der Name, definiert als natürliches Bild, situiert ihn auf die Ebene der φύσις: Für den Studiten sind Namen damit nicht willkürlich Gesetzte, sondern vielmehr natürlich Gegebene. Sicherlich würde der Studite die Tatsache nicht von der Hand weisen, dass die Lautgestalt und der Graph des Namens künstlich Gesetzte sind. Wie die Ähnlichkeit stehen Worte in Relation zum Benannten, sind

Vgl. Theodor Studites Antirrheticus I 341B [PG 99] und Nikephoros Antirrheticus III 432B [PG 100]. 220 Lange: Bild und Wort, a.a.O., S. 225 und vgl. Theodor Studites Antirrheticus I 341BD [PG 99]. 221 Vgl. Lange: Bild und Wort, a.a.O., S. 225. 222 Vgl. Theodor Studites Antirrheticus I 341BD [PG 99]. 223 Vgl. Theodor Studites Antirrheticus I 345AB [PG 99]: »τὸ γὰρ ὄνομα, ὀνομαζομένου ὄνομα, καὶ οἷόν τις φυσική εἰκὼν τοῦ καθ᾽ οὗπερ λέγεται«. 219

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Die Ikone und das Undarstellbare

im Sinne des πρός τι als Relativa bestimmt.224 Was der Studite mit der Definition des Namens als φυσική εἰκὼν zu verdeutlichen sucht, ist die sich daraus ergebende Möglichkeit, ein artifizielles Bild trotz dessen offensichtlichen Unterschieds (Definition/Substanzen) auf gleiche Weise zu benennen wie das Urbild, welches es zeigt, weil deren zugrunde liegendes εἶδος und damit der Sinn »das ist diese/s/r da« dasselbe ist. Im Falle der Ikone ist dasselbe die Hypostase, die die Sichtbarkeit zeichnet: Das im Bild Erscheinende ist die abwesende Person, deren existenzielles Sein im Sinne von etwas als etwas sich in der Darstellung wiederholt und vergegenwärtigt. Genauso wiederholt der Name jenes Sein, wobei er dieses im Benennen unmissverständlich als ein das ist bestimmt. Das Zusammenspiel von Wort und Bild führt also beim Betrachter zur unmissverständlichen Erkenntnis des Abwesenden, das als benanntes Bild anwesend ist. Die Betonung liegt hier auf als, das als mediales Als verstanden werden muss, denn durch (dia) dieses wird etwas sichtbar, d.h. es ist nicht (auf magische Weise) selbst anwesend. Die Bestimmung des Namens als φυσική εἰκὼν wird einmal mehr verständlich, wenn die Schrift De fide orthodoxa des Johannes vD herangezogen wird. Darin definiert der Damaszener personelle Bestimmungen wie Vater und Sohn als wechselseitige Relationen und Existenzweisen. Der personelle Name bezeichnet dagegen das Wesen (εἷδος) und das Handeln des Benannten.225 Somit ließe sich der personelle Name durchaus schon bei Johannes vD als φυσική εἰκὼν definieren, obgleich eine solch eindeutige Zuweisung ausbleibt. Wenn sich nun mit dem Namen weniger die relationale Beziehung als vielmehr der Sinn (εἷδος) des Benannten ins Bild setzt, ermöglicht sich nicht nur eine Identifikation, sondern vielmehr Identität und somit eine Wesenseinheit. Dass diese Einheit nicht mit einer Wesensgleichheit zu verwechseln ist, verdeutlicht sich einmal mehr in Mondzains Ikonentheorie. Wie Mondzain betont, ergibt sich über die Homonymie eine Identität, d.h. es wird nicht die Lebensgeschichte zum Bildinhalt, sondern in der Namenseinschreibung ereignet sich eine Wesenseinheit. Mondzain folgend liegt dem Wort wie dem Bild das Konzept der Ähnlichkeit zugrunde. Daher darf der Name keinesfalls als eine abstrakte, isolierte und willkürliche Konvention bestimmt werden. Damit folgt Mondzain letztlich der Definition des Studiten, der ὄνομα als φυσική εἰκὼν definiert.226 Für Mondzain zeichnet der Name die Kontinuität zwischen Ikone und Model: Homonymie ist Designation, also Benennung, als Begründung und Garantie der Identität, die sich im Modus der Ähnlichkeit (ὁμοιωσις|homoiosis) vollzieht.227

224 Vgl. Theodor Studites Antirrheticus I 345A [PG 99]: »Τῶν γὰρ πρός τι ταῦτα·« (Vgl. hierzu auch Fußnote 224). 225 Vgl. Johannes vD De fide orthodoxa PG 94, 837. 226 Vgl. Mondzain : Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 122. 227 Vgl. Ebd. S. 122.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Ähnlichkeit, das ist bereits gezeigt worden, meint im Falle der Ikone keine substantielle Teilhaftigkeit, sondern eine visuelle Übereinstimmung (auf ontisch-optischer Ebene), die klar von einer Ähnlichkeit zwischen Materie und Körper zu unterscheiden ist. Wahrnehmbarkeit von Ähnlichkeit erfolgt so im Modus des Zeichens, d.h. etwas als und in etwas zu sehen, weil es ähnlich erscheint. Doch mit der Einschreibung des Namens vollzieht sich die Ähnlichkeit des Dargestellten nicht mehr nur auf einer ontisch-optischen Ebene. Wie gezeigt worden ist, steht die Ikone im Hinblick auf ihr Motiv, ein relativ Nachahmendes zu sein, in Relation zu ihrem Urbild – ist diesem, bei aller substantieller Verschiedenheit, partiell identisch (ὁμοιούσιος). Die Ikone ist also keinesfalls wesensgleich (ὁμοούσιος|homoousios) mit ihrem Urbild. Dass sie jedoch den Sinn (εἷδος) ihres Urbildes unmissverständlich eignet, bezeugt die Namenseinschreibung, denn der Name des Heiligen, der dargestellt wird, ist der Begriff im Denken des Ikonenmalers. Dies kann behauptet werden, weil der Ikonenmaler von Anbeginn des Herstellungsprozesses die Intention verfolgt, eine ganz bestimmte heilige Person zur Darstellung zu bringen. An dieser Stelle sei der aristotelischen Metaphysik gefolgt, die die Wesenheit (ὁμοούσιος) nicht allein den Naturdingen vorbehält. Genauso kommt den artifiziellen Dingen – den von Menschenhand geschaffenen Artefakten also – eine Wesenheit zu, weil die Vorstellung und damit der Begriff (des zu schaffenden Dings) im Denken des Herstellers vorliegt: »Durch Kunst aber entsteht dasjenige, dessen Form in der Seele vorhanden ist.«228 Dass die kirchliche Tradition jener Auffassung folgt, bezeugt die Schrift Theodor Studites, der in Bezug auf die Lehren des Basilius von Cesarea davon spricht, dass das, was die Hand des Malers zeichnet, dem Prototyp folgt, der vom Maler (mit-)gedacht wird.229 Im Hinblick auf die Ikone offenbart die Namenseinschreibung so eine metaphysische Intention des Herstellungsprozesses, wenn diesem der Name des Abwesenden (des Heiligen, der zur Darstellung gebracht wird) im Denken zugrunde liegt. Dem personellen Namen eignet Singularität im Hinblick auf die Individualität der Person, die er benennt. Der personelle Name bezieht sich also nicht nur auf die allgemeine Wesenheit Mensch, sondern erinnert mit einem Wort an die Spezifika dieses Menschen, womit sowohl Akzidenzien (etwa den Begriff der Stupsnasigkeit) als auch, um an Lange anzuschließen, das Wissen um die Lebensgeschichte zum Inhalt des Eigennamens werden. Indem der personelle Name das Bild im Sein konstituiert, bestimmt er – respektive die Vorstellung über die Wesenheit der Person – letztlich

228 Aristoteles Metaphysik Buch VII 1032b. Vgl. außerdem Th. Kobusch: »Metaphysik: II. Aristoteles«, in: HWP, Bd. 5 (1980), S. 1190f. 229 Vgl. Theodor Studites Antirrheticus II 357D [PG 99]: »Πάντως δὲ ἡ εἰκὼν ἡ δημιουργουμέν, μεταφερομένη ἀπὸ τοῦ πρωτοτύπου, τὴν ὁμοίωσιν εἰς τὴν ὕλην εἴληφε καὶ μετέσχηκε τοῦ χαρακτῆρος ἐκείνου διὰ τῆς τοῦ τεχνίτου διανοίας καὶ χειρὸς ἐναπόμαγμα· οὕτως ὁ ζωγράφος«

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das Bild als So-Seiendes, dies jedoch, im Sinne eines artifiziellen Abbildes, als ein Anderes dieser Person: Es ist also offenbar, daß die Form, oder wie man sonst die Gestalt am sinnlich Wahrnehmbaren nennen soll, nicht wird, und daß es keine Entstehung derselben gibt, und daß ebenso wenig das Sosein entsteht; denn dies, die Form, ist vielmehr dasjenige, was in einem anderen wird, durch Kunst oder Natur oder durch das Vermögen des Hervorbringens.230 Der Name ist bei Aristoteles ontologisch, weil sich die Begrifflichkeiten als Prinzipien auf das Seiende – sofern es seiend ist – beziehen. Ein personeller Name ist in diesem Sinne ein Prinzip als begriffliche Markierung des Wesens (εἷδος) des spezifischen Menschen (mit all seinen charakteristischen Akzidenzen). Indem der Ikone die gleiche Bedeutung – ihr εἷδος im Sinne von: »der (spezifische) Mensch mit dem Eigennamen Jesus Christus« – zugrunde liegt, wird die Ikone auf gleiche Weise benannt wie ihr Urbild. Damit ist letztlich Mondzains Auslegung näher bestimmt, die Homonymie nicht als faktische, sondern als eine rein rechtliche Identität begreift: Das artifizielle Abbild folgt dem Urbild, das sein Konnotat ist, was seine Designation rechtfertigt. Darin ermöglicht sich die Aussage über die Ikone »Ich bin dieser da« genauso wie »Das ist Christus«. Es ist der Name, der die Kontinuität zwischen Ikone und Urbild in einem für Mondzain konkret intimen Verhältnis (σχέσις|schesis) legitimiert.231 Wenn dem Namen nun ein intimes Verhältnis eignet, dann kann Namenseinschreibung nicht einfach als Interpretationshilfe bestimmt werden: d.h. der Name appelliert nicht einfach nur an das Wissen des Betrachters, ist nicht einfache Erklärung und lässt auch nicht bloß über das Sichtbar-Gemachte hinaus Assoziationen zu. Indem dem Namen ein intimes Verhältnis zum Benannten eignet, ergibt sich über Gleichnamigkeit eine Beziehung zwischen Bild und Abgebildeten. Der im Bild eingeschriebene Name benennt letztlich auf homonyme Weise das, was im Bild erscheint und von dem her der Name ist.232 Homonymie obliegt also nicht den Farben oder dem Holz, sondern dem, was erscheint. In Anlehnung an kunstwissenschaftliche Untersuchungen etwa eines Dagobert Frey oder Hubert Schrades zeigt Lange, dass schon in der Antike eine Götterstatue über die Einschreibung des Götternamens »Leben« empfängt, denn: »Der ›Name‹ ist die Person in der Lebendigkeit und Wirkkraft ihres Seins.«233 Doch insistiert Lange, dass sich

230 Aristoteles Metaphysik Buch VII 1033b. 231 Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 122 und 123. 232 In diesem Sinne argumentiert bereits Koch: »Zur Theologie der Christusikone«, a.a.O., S. 444f. Vgl. dazu außerdem Olewiński: Um die Ehre des Bildes, a.a.O., S. 156. 233 Hubert Schrade: Malerei des Mittelalters: Vor- und frühromanische Malerei, Köln 1958, S. 119 und Vgl. außerdem Dagobert Frey: Kunstwissenschaftliche Grundfragen, Wien 1946, S. 108.

3. Der Handlungsraum der Ikone

diese Auffassung nicht auf platonische oder neuplatonische Schriften stützt, wo von einer »Beseelung« der Statuen durch Inschriften die Rede sein könnte.234 In Erinnerung an das Sokrates-Zitat kann jedoch nicht von der Hand gewiesen werden, dass die antike Gesellschaft den Götternamen ehrfurchtsvoll gegenüberstand. Die Betonung der hier vollzogenen Analysen zielt jedoch weniger auf eine »Beseelung« als vielmehr auf eine »Wirkkraft« ab: Das Bild wird designiert, weil es dem Urbild folgt, dessen Sinn (εἷδος) es im Ikonischen zu wiederholen versucht. Diese Wiederholung erfolgt im Modus der visuellen Ähnlichkeit, die eine gleichzeitige Unähnlichkeit ins Bild trägt – doch liegt dem Bild gemäß der Mimesis der gleiche Sinn des Darzustellenden zu Grunde, weshalb das Darstellende gleichnamig benannt werden kann. Über die Wesenseinheit des Wortes zum Benannten ergibt sich ein intimes Verhältnis, dessen Wirkkraft sich aufgrund der (eingeschriebenen) Homonymie im artifiziellen Bild fortsetzt. Aber lässt sich denn die Erklärung des intimen Verhältnisses des Namens nicht für jedes Bild geltend machen, so etwa für die moderne Bildform der Autogrammkarte? Sicherlich hinkt dieser Vergleich bereits im Hinblick auf die Herstellungsweise der Bilder, beruht doch die Existenz des Einen auf einem technischen Apparat, der ein real Anwesendes ablichtet und die des Anderen auf einer kanonisierten Maltechnik, die ein Abwesendes, das allein im Denken vorhanden ist, zum Erscheinen bringt. Doch kann gefragt werden, was denn der Graph im Falle der Ikone zunächst mit dem Namen und dann mit dem Bild macht, so dass ihm eine Besonderheit zuerkannt werden kann. Transformation I oder Was macht der Graph mit dem Namen? Das alleinige Einschreiben des Namens des Dargestellten in die Ikone, und nicht dessen ganze Lebensgeschichte, darf als Reduktion gedeutet werden, die der von Ps.-Dionysios Areopagites formulierten Lehre der Mystischen Theologie entgegen kommt: Diese besagt, dass sich der Gläubige, um Gott und dessen Wirkmacht erkennen zu können, allem Materiellen so weit wie möglich entsagen soll.235 Dass der Name ebenso eine Macht wie auch eine Kraft zu vermitteln vermag, begründet sich nicht zuletzt in der Aussage Christi: »In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben.«236 So eignet dem Namen im Hinblick auf Ansehen und Größe der Person, die er benennt, eine Bedeutungsweise und Kraft, die sich über die Lautgestalt wie über den Graph vermittelt. Die erwähnte Reduktion wirkt noch eklatanter, wenn der Graph selbst als Untersuchungsgegenstand herangezogen wird, denn die Epigraphē der Ikone

234 Vgl. Lange: Bild und Wort, S. 235-245 (konkret S. 237). 235 Vgl. Pseudo-Dionysios Areopagites: Über die Mystische Theologie und Briefe, eingeleitet, übers. und mit Anm. vers. von Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994. 236 Mk 16, 17.

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Die Ikone und das Undarstellbare

beschränken sich auf einzelne griechische Buchstaben. Die Ikonenforschung weist diese dem System der Nomina sacra zu.237 Darunter ist die auf Kontraktion beruhende Kurzschreibung von Wörtern des religiösen Bereichs zu verstehen.238 Ein Beispiel dafür ist das Kürzel ΧΣ, das ausgeschrieben ΧΡΙΣΤΟΣ, also Christus meint. Andere mögliche Epigrammata sind ΜΡ ΘΥ (ΜΗΤΗΡ ΘΕΟΥ) und ΘΚΣ (ΘΕΟΤΟΚΟΣ), die mit Gottesmutter und Gottesgebärerin zu übersetzen sind. Derlei könnten noch mehr aufgezählt werden, jedoch verdeutlicht sich bereits an diesen Beispielen, dass die Einschreibungen einer Ikone neben Eigennamen genauso sakrale Titel sein können, welche die Relation und Existenzweise (z. Bsp. Mutter, Sohn) ihres Trägers benennen, was wiederum der bereits betonten Identifikation zuträglich ist. Doch warum werden die Namen und Titel, die ja eigentlich schon als Reduktion bestimmt werden konnten, nicht ausgeschrieben, sondern nochmals auf einzelne Buchstaben reduziert? Für Plotin ist das »Schreiben« Ausdruck des vom Geist Gedachten, das er Hieroglyphen nennt: Das Gedachte als Hieroglyphe begriffen, lässt es für Plotin zu, den Sinn des Gedachten mit einem Blick als Ganzes zu erfassen. Eine Buchstabenschrift dagegen macht einen Sinn erst im Durchlaufen und Nach- und Auseinander begreiflich.239 Gemeinsam ist den Hieroglyphen und der Buchstabenschrift neben der Möglichkeit, Sinn zu kodieren, ihr Potential zu entzeitlichen: Denn indem sie Sprache auf einem Träger fixieren, verräumlichen sie diese und machen sie haltbar.240 Der ganz entscheidende Unterschied zwischen den Hieroglyphen und der Buchstabenschrift ist die Bildlichkeit: Während die Buchstabenschrift einer Lautgestalt folgt, sind Hieroglyphen (ähnlich der Piktogramme) Bildschrift: Hieroglyphen sind bildhafte Zeichen, deren Sinn, um Plotins Wortlaut aufzugreifen, unmittelbar in den Blick fällt. Sie scheinen, ähnlich der Piktogramme, als Ideogramme zu fungieren, deren Sinn direkt augenfällig ist: So mag das Bilderschriftzeichen eines Auges zunächst Sehen meinen, wobei der Sinn sich natürlich je nach Kombination mit anderen Zeichen erweitern lässt in »etwas bestimmtes sehen«. Gerade die ägyptischen Hieroglyphen werden in der Antike als Heilige Schrift anerkannt. Daher rührt auch ihre Bezeichnung, die sich aus ἱερός (hieros), also »geheiligt« und γλυφή (glyphe), was »Einritzen« meint, zusammensetzt. Im Alt-

237 Vgl. Konrad Onasch: Die Ikonenmalerei, Leipzig 1968, S. 195. 238 Siehe dazu in aller Ausführlichkeit die paläographische und philologische Untersuchung von Ludwig Traube: Nomina sacra: Versuch einer Geschichte der christlichen Kürzungen, Darmstadt 1967. Neben der Kontraktion, bei der sich die Abkürzung eines Wortes durch Auslassung der Mitte des Wortes ergibt, nennt Traube ebenso die Suspension als mögliche Form. Jene lässt als Kürzel nur den ersten Teil bzw. die ersten Buchstaben eines Wortes zu. 239 Vgl. Beierwaltes: Denken des Einen, a.a.O., S. 82 in Bezug auf Plotin Enneaden V 8,6,1ff. 240 Vgl. Ludwig D. Morenz: Bild, Buchstaben und symbolische Zeichen, a.a.O., S. 11f.

3. Der Handlungsraum der Ikone

ägyptischen werden sie gar mit ntr-w, das Wort für »Götter«, bezeichnet.241 Doch das »in den Blick fallen« der Hieroglyphen vollzieht sich nicht nur über die Bildhaftigkeit ihrer Zeichen, sondern ebenso im Hinblick auf deren Potential, als symbolische Form zu gelten. Mit Bezug auf den Bedeutungsüberschuss, ist zu fragen, ob die Nomina Sacra als Symbole definiert werden können. Im Sinne der klassischen Position eignet einem Symbol stets ein Bedeutungsüberschuss: Ein Symbol ist so nicht bloßes Zeichen, sondern drückt stets mehr aus, als es offensichtlich zeigt, und überschreitet damit sich selbst als ein Wahrnehmbares.242 Natürlich beruht ein Symbol auf Konventionen, was im Hinblick auf das Begreifen seines Sinns einen Lernprozess voraussetzt. Nun ist vor Augen zu halten, dass die Gläubigen des frühen Christentums nicht nur einem anderen Weltbild folgen, sondern dieses ein symbolisches Denken begründet, das versucht, des Transzendenten habhaft zu werden. Ein Symbol ist damit konkret ein sinnlich Gegebenes und somit Wahrnehmbares, das jedoch über sein spezifisches Sein hinaus auf ein sinnlich nicht Fassbares zu verweisen versucht. Das, was ein christliches Symbol meint, so betont es die Studie von Walter Saft, ist weniger ein GeistigSinnhaftes, also Bedingt-Transzendentes, sondern veranschaulicht ein UnanschaubarTranszendentes.243 Jedoch stehen Symbole nicht stellvertretend für ihre Gegenstände. In Anlehnung an die Studien Susanne K. Langers sind sie vielmehr Vehikel für eine Vorstellung von Gegenständen, d.h. nicht die Gegenstände, sondern die Vorstellung sind, was Symbole direkt ›meinen‹: Symbol und Symbolisiertes sind also genauso wenig identisch wie ein Wort und der Vorstellungsinhalt.244 241 Vgl. Gerardus van der Leeuw: Phänomenologie der Religion, 2., erw. Ausg., Tübingen 1956, S. 495. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass mit der Entschlüsselung des Steins von Rosette die ägyptischen Hieroglyphen nicht mehr als eine reine Bildschrift verstanden werden dürfen, sondern als Buchstabenschrift zu begreifen sind. Die moderne Ägyptologie deutet die ägyptischen Hieroglyphen keinesfalls als Bildschrift, sondern will sie ganz klar als Schriftzeichen gelesen wissen. Der Diskussion darüber sei hier nicht Rechnung getragen, sondern allein auf die dazu weiterführende Fachliteratur verwiesen: Stephan Johannes Seidlmayer: »Ägyptische Hieroglyphen zwischen Schrift und Bild«, in: Sybille Krämer/Eva CancikKirschbaum/Rainer Totzke (Hg.): Schriftblidlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin 2011, S. 123-138. 242 In seiner Einführung in die Geschichte der Christlichen Symbole gibt Chapeaurouge einen kurzen und doch prägnanten Überblick über die verschiedenen Deutungen des Symbolbegriffs. Neben der klassischen Position, die er als griechisch-heidnische Manier deutet, führt Chapeaurouge die romantische Position ins Feld, die vor allem von Hegel vertreten wird. Hegel beschreibt das Wesen des Symbols als inkongruent zu dessen Form. Vgl. Donate de Chapeaurouge: Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole, 3. verbesserte Aufl., Darmstadt 1991, S. 4f. Zur Definition des Symbols siehe außerdem Walter Saft: Symbole und Sinnzeichen des Glaubens, Berlin 1989, S. 7-13. 243 Vgl. Saft: Symbole und Sinnzeichen des Glaubens, a.a.O., S. 10. 244 Vgl. Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, ungek. Ausgabe, Frankfurt a.M. 1992, S. 69 in Abgrenzung zu Walter Saft: Symbole und

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In der heutigen Bildwelt scheint es, dass Bilder – natürlich nicht jedes, aber doch ein Großteil der Bilder – sich selbst erklären und auf einen Blick ihren Sinn offenbaren. Im frühen Christentum scheint der Zugang zum Bild nie kommentarlos zu erfolgen, denn jegliche bildliche Form hat den Anspruch, Sinnzeichen und Symbol der höheren Ordnung zu sein. Doch im Wissen darüber sind die Gläubigen des frühen Christentums einem ständigen Verweissystem von Symbolen ausgesetzt, sind diese gewohnt und kennen, aufgrund der den Alltag bestimmenden religiösen Praxis, ihre Bedeutung. Dadurch ergibt sich ein anderer Zugang zu den einzelnen Symbolen, den Saft tatsächlich als einen ganz und gar unmittelbaren verstehen will.245 Unmittelbarkeit insistiert hier ein intuitives Erkennen, weshalb Symbole nichts mit Logik zu tun haben: Symbole schaffen einen Zugang zu den Bereichen, die sich dem diskursiven Denken verschließen.246 Im Sinne von Unmittelbarkeit scheinen die Nomina Sacra, wenn sie denn als Symbole definiert werden, in den Blick zu fallen. Doch kommentarlos erfolgt der Zugang zu Bildern in dem Sinne nicht, als dass angenommen wird, dass es in den Kirchen Geistliche gegeben hat, die den Bildbetrachtern die Bildzusammenhänge erklärten.247 Günter Lange betont in diesem Zusammenhang, dass in den frühen Zeiten stets laut gelesen worden ist: Steht ein Bildbetrachter vor einer Christus-Pantokrator Darstellung und realisiert, indem er laut liest, den Namen des Bildes, so unterscheidet er sich kaum von einem Katecheten.248 Die Ikone bleibt daher allein in dem Sinne für die Schriftunkundigen das, was für die Schriftkundigen das Buch ist, weil sich für die Analphabeten aufgrund des lauten Lesens ein anderer Zugang ermöglicht – sofern ein Gläubiger anwesend ist, der Lesen kann. Doch damit ist nicht geklärt, inwiefern den Nomina Sacra ein symbolischer Charakter zuerkannt werden kann. Es gelingt Ludwig Traube, in seinen Untersuchungen aufzuzeigen, dass sich die Ausbildung der Nomina Sacra bereits in den ägyptischen Zauberpapyri249 abzeichnet, die neben der Bildschrift die jüdische Umschrift des Tetragramms aufführen. Grundsätzlich ist es in den jüdischen Schriften

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Sinnzeichen des Glaubens, a.a.O., S. 10. Vgl. zudem Chapeaurouge: Einführung in die Geschichte der Christlichen Symbole, a.a.O., S. 6. Vgl. Saft: Symbole und Sinnzeichen des Glaubens, a.a.O., S. 11. Vgl. Gérard de Champeaux/Dom Sébastien Sterckx: Einführung in die Welt der Symbole, Würzburg 1993, S. 28 und 33. Wilhelm Schlink erwähnt hierzu Klerikeranweisungen aus dem 13./14. n. Chr. Jahrhundert. Günter Lange nennt Wilhelm Durandus als mögliche Quelle, betont im gleichen Atemzug jedoch, dass es tatsächlich ungewiss ist, wie die katechetische Erschließung von Bildern praktisch umgesetzt wurde. Vgl. Günter Lange: »Das Wort der Verkündigung und die ›Rahmenthemen‹ der christlichen Kunst.«, in: Analecta Cracoviensia XXIX (1997), S. 260. Vgl. Lange: »Das Wort der Verkündigung und die ›Rahmenthemen‹ der christlichen Kunst.«, a.a.O., S. 260. Siehe hierzu: Papyri graecae magicae: Die griechischen Zauberpapyri, hg. und übers. von K. Preisendanz unter Mitarbeit von Sam Eitrem, Leipzig/Berlin 1928-1941.

3. Der Handlungsraum der Ikone

des Tetragramms aufführen. Grundsätzlich ist es in den jüdischen Schriften Sitte, den Namen Gottes besonders graphisch auszuzeichnen, etwa mit Goldschrift hervorzuheben.250 Das in den hebräischen Schriftzeichen ‫ יהוה‬gefasste JHWH verkündet und enthüllt den Namen Gottes. Jedoch, und das betont Traube, verhüllen die Schriftzeichen gleichzeitig aufgrund ihrer Vokallosigkeit, womit sie das Mysterium des Namens, der zudem nie grundlos genannt werden darf, auf symbolische Weise bewahren.251 Die Möglichkeit, die Namen Gottes nicht in Lautschrift niederzuschreiben, sondern in Kurzformen zu verhüllen, wird in den Handschriften des griechischen Neuen Testaments übernommen, wo sich neben ΘΣ (ΘΕΟΣ) und ΚΣ (ΚΥΡΙΟΣ) genauso Kurzformen für Christus (ΧΣ), Jesus (ΙΣ), Mutter (ΜΡ) und zahlreiche andere finden – die Nomina Sacra.252 Im Sinne von Schriftzeichen verräumlichen die Nomina Sacra göttlichen Sinn, gleichzeitig kodieren sie diesen auf eine spezifische Weise: Indem sie auf Konvention beruhen, ermöglichen sie zunächst, einen tieferen, ja transzendenten Sinn zu transformieren. Doch enthüllen sie dessen Erhabenheit, indem sie (über Kontraktion) gleichzeitig verhüllen – genau darin begründet sich die außerordentliche Symbolik der Nomina Sacra. Es ist möglich, die Sinnbildhaftigkeit der Nomina Sacra positiv weiter zu strapazieren, wenn den einzelnen Schriftzeichen eine übergeordnete Symbolik zugewiesen wird. So trägt etwa das Θ in seiner spezifischen Form ebenso dem Symbol des Kreises wie dem des Kreuzes Rechnung. Beide sind als Sinnzeichen bereits in der frühchristlichen Zeit bekannt. Der Kreis ist Symbol der Vollkommenheit und Einheitlichkeit, alle Punkte seiner Linie haben die gleiche Entfernung zum Mittelpunkt; ein Kreis versinnbildlicht ebenso die Absenz von Unterscheidung und Teilung: Indem seine Linie weder Anfang noch Ende hat und doch immer wieder zu sich zurückkehrt, ist der Kreis ebenso Symbol für das All und die Unendlichkeit (Gottes).253 Der Querbalken im Kreis des Θ kann zudem als eine Andeutung des Kreuzes gesehen werden, das Übergang und Vermittlung zwischen transzendenter (oben) und weltlicher (unten) Ebene symbolisiert, also die unablässige Vereinigung des Universums.254 Genauso kann der Querbalken als Orans ausgelegt werden: eine Gebärde des Betens mit ausgebreiteten Armen, die letztlich auch das

Vgl. Traube: Nomina Sacra, a.a.O., S. 21ff. Vgl. ebd. S. 24. Vgl. ebd. die ausführliche Listung der Nomina Sacra. Zur Symbolik des Kreises vgl. u.a. Walter Saft: Symbole und Sinnzeichen des Glaubens, a.a.O., S. 43 und Chapeaurouge: Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole, a.a.O., S. 21-24 und 112-114 sowie Champeaux/ Sterckx: Einführung in die Welt der Symbole, a.a.O., S. 26-33. 254 Zur Symbolik des Kreuzes vgl. u.a. Walter Saft: Symbole und Sinnzeichen des Glaubens, a.a.O., S. 63-65 und Chapeaurouge: Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole, a.a.O., S. 18-21 sowie Champeaux/ Sterckx: Einführung in die Welt der Symbole, a.a.O., S. 33-52. 250 251 252 253

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symbolisiert.255 Die Möglichkeiten, den einzelnen Schriftzeichen der Epigraphē der Ikone eine spezifische Symbolik zuweisen zu können, sind jedoch an anderer Stelle aufzuführen. In ihrer Symbolik sind die Nomina Sacra stets (verhüllende wie enthüllende) Namen, die in Relation stehen, weil sie sich auf eine bestimmte Person beziehen. Der Graph, so definiert es Mondzain, ist dabei kein Teil der Person, sondern nur die Markierung einer formalen Einheit, weshalb Homonymie allein eine relative Intimitätsrelation anzeigt:256 Der Graph des Namens führt dessen Sinn mit sich. Mondzains Aussage lässt sich letztlich dahingehend spezifizieren, dass Intimität Singularität impliziert. Indem der Eigenname markiert, ermöglicht sich eine Identifikation einer Person, deren spezifisches Sein sie von anderen absondert. Findet der Name auf homonyme Weise Verwendung, führt er, trotz verschiedener Definition der Benannten (Person/Ikone), zu einer singulären Identität: In diesem Sinne definiert Mondzain den Namen wie dessen Graph als singuläre Relationen. Im Falle des Bildes transformiert die Namenseinschreibung das Dargestellte von Repräsentation hin zu Präsenz – von einem »Bild Christi« hin zu »Das ist Christus«: Identifikation ist etwa im Falle des Namens Jesus Christus untrennbar von Sohnschaft und Leidensweg. Im Sinne einer formalen Einheit ermöglicht eine homonyme Benennung als ausgesprochener Name wie als Graph nicht nur Identität zweier ungleicher Dinge, die die gleiche Bedeutung tragen. Genauso ergibt sich über Identität die Identifikation von Sinn und Bedeutung des Bezeichneten. Daher wird die Lebensgeschichte einer Person über die Namenseinschreibung (durchaus gewollt) zum Bildinhalt der Ikone. Schrift und Bild fungieren im Falle der Ikone in dem Sinne auf gleichberechtigte Weise, dass das Sichtbargemachte als ein Ähnliches ein vorausgehendes sichtbar Gewesenes bezeugt und die Namenseinschreibung die Wirklichkeit dieser Sichtbarkeit bestätigt. Was die Namenseinschreibung letztlich verdeutlicht, ist nicht die Unmöglichkeit des bloß Bildlichen, einen biblischen, theologischen und christlichen Zusammenhang zu illustrieren, vielmehr erlangt das Bild über die Namenseinschreibung seine Evidenz. Nun ist es durchaus richtig zu behaupten, dass sich die Schrift mit der Bestimmung der Namenseinschreibung als obligatorischem Akt ihre Erhabenheit über das Bild bewahrt.257 Doch von der Schrift befreien kann sich allein das Bild, das einzig auf Anschauung ausgerichtet ist. Ein solches Bild will nicht vergegenwärtigen, sondern freilegen, entdecken und heranführen, so wie dies realistische Bildformen

255 Zur Erläuterung der Orans siehe Chapeaurouge: Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole, a.a.O., S. 13-18. 256 Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 123. 257 Vgl. u.a. Schrade: Malerei des Mittelalters, a.a.O., S. 120.

3. Der Handlungsraum der Ikone

versuchen.258 Dies ist der Anspruch, der an das Bild gestellt wird und der im Falle der Ikone ein anderer ist als etwa für ein Bild der hohen Kunst. So sei betont, dass die Ikone kein Anschauungsobjekt ist. Vielmehr bezeugt sie und lässt zum Augenzeugen werden. Indem die Ikone etwas Abwesendes zu vergegenwärtigen sucht, setzt sie auf Ähnlichkeit, worüber sich die Möglichkeit des Wiedererkennens ergibt; ihr Name stiftet dabei Identität (»Das ist«) und Individualität (Grad der Heiligkeit). Dass der Name Identität stiftet, ist nicht das einzige Indiz für die obligatorische Einschreibung. Es gelingt Lange in seinen an Bild und Wort anlehnenden neueren Forschungen aufzuzeigen, dass mit der Namenseinschreibung ein nichtchristlicher und bereits in der Antike sich auffindender Bildtypus in einen christlichen Kontext überführt wird.259 Für Lange ergibt sich im Falle einer Christus-Ikone über die Namenseinschreibung eine dogmatische Eindeutigkeit, d.h. es wird die Gleichwesentlichkeit des (artifiziell präsenten) Sohnes mit Gott evoziert, denn der Name ist identifizierendes wie bekennendes Wort.260 Dies kommt der Theorie Mondzains entgegen, die der Homonymie nicht allein eine relative, sondern genauso eine essentielle Intimitätsrelation zuschreibt: Der Graph ist die Nahtstelle zwischen Sichtbarem, Lesbarem und Hörbarem, denn er markiert und verkündet die Inkarnation des Wortes des Vaters und generiert so die Verbindung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren.261 Mondzain bezeichnet den Graphen konkret als das, was auf die Stimme Gottes verweist.262 Im Hinblick auf das Bild gründet sich hierin der performative Moment des Namens, der als transformative Kraft zu deuten ist: Im Bewusstsein, ein Bild zu zeichnen, dessen tragender Grund sich jeglicher sichtbaren Form entzieht, schreibt der Maler die Nomina Sacra ins Bild ein und begründet darüber die Identität zwischen Abbild und Urbild. Indem der Name als essentielle und relative Intimitätsrelation begriffen wird, ist er nicht Titulus, d.h. kein bloßer Kommentar, sondern er benennt das Sicht-

258 Hier wird der Definition Arnold Gehlens gefolgt, der zwischen ideellen, realistischen und abstrakten Bildern unterscheidet. Vgl. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder: Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M. 1986, S. 52. 259 An dieser Stelle darf jedoch nicht auf Lange Bezug genommen werden. Viel eher muss hier die Arbeit Hans Beltings in den Fokus gerückt werden, der in Bild und Kult die Herleitung der verschiedenen Ikonentypen aus dem heidnischen Kontext in außerordentlich gelungener Form darlegt. Laut Belting ist beispielsweise der Typus des Christus-Pantokrator dem Bildmodus der heidnischen Götter- und Heroenbilder entlehnt, wie sie sich in der Laibung des Titusbogens finden. Für ausführlichere Studien siehe daher Hans Belting: Bild und Kult, a.a.O., S. 104f. 260 Vgl. Lange: »Das Wort der Verkündigung und die ›Rahmenthemen‹ der christlichen Kunst«, a.a.O., S. 258f. 261 Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 122f. 262 Vgl. ebd. S. 124.

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bargemachte als das, was zur Erscheinung gebracht wird: Christus, Maria und die Heiligen. Gebunden an die Autorität des Ikonenmalers ist der eingeschriebene Name die fixierte Aussage »Das ist Christus! Das ist Maria! Das sind die Heiligen!«. Der Name besitzt in diesem Sinne eine generative und konstitutive Kraft, die im Akt der Einschreibung den Geltungsanspruch des Bildes erfüllt, Ikone und damit wirkliches Bild Gottes zu sein. Die Namenseinschreibung ist somit als eine performative Handlung zu bestimmen, die eine neue, spezifisch ikonische Wirklichkeit stiftet. Hierin begründet sich jedoch eine weitere entscheidende Aussage: Die Namenseinschreibung ist dem Prozess der Bildherstellung zuzuweisen, die sich von der Bildverwendung zeitlich unterscheidet. Im Moment ihres Gebrauchs wird die Ikone vom Betrachter bereits als (homonymes) Bild verwendet. Transformation II oder Was macht der Graph mit dem Bild? Letztlich ist der Name, definiert als φυσική εἰκὼν, natürliches Bild dessen, der im Bild artifiziell dargestellt ist. In der Verbindung von Schrift und Bild generiert sich der Wirklichkeitsgehalt des künstlich Verfertigten – wird dem Bild eine relative Wesenheit zuerkannt, wird das Bild zur Ikone. Nun ist hier die Frage anzuschließen, warum die Ikone nur dann wirkliches Bild ist, wenn sie die Epigraphē (επιγραφη) trägt, ihr quasi Homonymie eingeschrieben wird? Die daran anschließende These insistiert darauf, dass sich der ontologische Status des artifiziellen Bildes mit dem Einschreiben des Graphen ändert. Hierzu sei, in Anlehnung an Lambert Wiesings bildphilosophische Theorie zur Sprechblase, ein Gedankenexperiment erlaubt, das einen Unterschied zwischen gezeigter und realer Schrift vollzieht.263 Anhand der einseitigen Comics und den Comic-Strips, die Richard Felton Outcaults Ende des 19. Jahrhunderts zeichnet, versucht Wiesing eine Unterscheidung zwischen gezeigter und realer Schrift aufzumachen, die sich aufgrund ihrer Darstellungsweise im Bild markieren lässt.264 Die Bild-Schrift-Verbindung deutet Wiesing für Spruchbänder, wie sie für die Erzählstruktur mittelalterlicher Buchmalerei üblich sind, als gezeigte Schrift, denn die Spruchbänder sind den Figuren im Bild angehängt und fügen sich deren Situierung im Bildraum. Damit unterliegen nicht nur die Bänder selbst, sondern ebenso die ihnen aufgetragenen Buchstaben der dem Bild zugrunde liegenden perspektivischen Regel:

263 Vgl. Lambert Wiesing: »Die Sprechblase. Reale Schrift im Bild«, in ders. und Jens Balzer: Outcault, Bochum/Essen 2010, S. 35-62. In seiner Zusammenarbeit mit Jens Balzer schlägt Wiesing vor, die »Urszene« des Comics, was die Ausbildung der Sprachblase ist, in den Yellow-KidSeiten Outcaults zu sehen. 264 Vgl. Wiesing: »Die Sprechblase. Reale Schrift im Bild«, a.a.O., S. 35-62.

3. Der Handlungsraum der Ikone

Spruchbänder dienen als Tituli, der Erklärung des Bildinhalts und der Interpretationslenkung.265 Im Gegensatz zur gezeigten Schrift definiert Wiesing die Schrift der Sprechblase als reale Schrift. Dies zunächst im Hinblick darauf, dass die Sprechblase einem aufgelegten Blatt Papier ähnelt, das sich als solches an keinem Gegenstand im Bild stoßen könnte.266 Zudem dient die Blase wie eine Buchseite als Blatt, das die Schrift waagerecht und in geraden Linien von links nach rechts zeigt: Die Schrift ordnet sich in ihrer Darstellungsweise nicht dem Bildobjekt unter, sondern der Sprechblase, die, Wiesing folgend, ihr Bildträger ist.267 In der direkten Zuordnung von Bildobjekt und Sprechblase sieht Wiesing das Momentum, in dem sich der Status des Bildes ändert: In der konkreten Zuweisung der Sprechblase zu einer Figur ändert sich der Modus dieser Figur von einer gezeigten und damit verweisenden Repräsentation hin zu einer aufweisenden Präsentation.268 Ausgehend von der Möglichkeit, dass sich mit der Definition einer realen und nicht bloß gezeigten Schrift der ontologische Status des Bildes ändert, scheint es lohnenswert, Wiesings Definition von gezeigter und realer Schrift auf die Ikone, speziell deren Nomina Sacra, zu übertragen. Jedoch fällt die direkte Zuweisung von Bild und Text bei einer Ikone zunächst aus, macht Wiesing diese doch an der Darstellungsweise der Sprechblase fest, deren Zipfel, ähnlich einem Pfeil, sie der Figur im Bild direkt zuordnet. Vielmehr lässt sich das angestrebte Gedankenexperiment an den Ikonentypen aufziehen, die zum einen (gleich einem Porträt) heilige Personen darstellen und zum anderen mehrere Arten von Einschreibungen aufzeigen. Tatsächlich handelt es sich bei der in den Ikonen aufgetragenen Schrift nicht ausschließlich um Nomina Sacra. Es können ebenso größere Textteile auftauchen, die den Bildinhalt näher bestimmen. Derlei Textbausteine finden sich in Ikonen, die einem umfangreicheren Erzählzyklus folgen und beispielsweise eine Martyriumsszene zeigen.269 Für den hier verfolgten Kontext sollen jedoch jene Ikonen Untersuchungsgegenstand sein, die allein den Heiligen als einzelne Person zeigen. Ein erstes Beispiel verdeutlicht, dass auch bei Einzeldarstellungen größere Textpassagen auftauchen können, sind diese doch beim Christus Pantokrator-Typus keine

265 266 267 268 269

Vgl. ebd. S. 42-50. Vgl. ebd. S. 55. Vgl. ebd. S. 54f. Vgl. ebd. S. 45. Das Malerhandbuch vom Berg Athos listet u.a. Beinamen für Heilige, aber auch längere Inschriften, die auf bestimmte Ikonentypen aufgetragen werden können. So darf etwa eine Ikone der Hl. Dreifaltigkeit neben »Der König der Könige und der große Hohepriester« die Inschrift »Ich und der Vater sind eins, Ich in dem Vater und der Vater in Mir.« (Joh. 14,9) tragen. Vgl. ausführlich: Malerhandbuch des Malermönchs Dionysios vom Berg Athos, übers. von Godehard Schäfer (1855), neu hg. vom Slavischen Institut München, München 1983, S. 187-90.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Seltenheit. Jener Typus zeigt Christus im Brustbild, seinen Blick dem Bildbetrachter zugewandt, er segnet diesen mit der Geste seiner rechten Hand, während er in der Linken das Evangelium hält. Letzteres kann geschlossen oder geöffnet dargestellt sein. Ist es geöffnet, dann in der Weise, dass der Bildbetrachter darauf eine der Hl. Schrift entnommene Selbstaussage Christi lesen kann. In Wiesings Lesart ist die Evangeliarsinschrift als eine gezeigte Schrift zu definieren, denn sie ist auf die Seiten eines Buches geschrieben, das von der im Bild dargestellten Figur gehalten und dem Bildbetrachter gezeigt wird. Gleichwohl sie in der Art und Weise, wie sie ins Bild gesetzt ist, Christi Selbstaussage hervorhebt und erhöht – etwa weil die griechischen Buchstaben mit Gold auf Purpur geschrieben sind und Auslassungen aufweisen –270 , ordnet sich die Schrift der perspektivischen Gegebenheitsweise des aufgeschlagenen Evangeliars unter. Diese Weise der Darstellung von Schrift im Bild findet sich ebenso in der byzantinischen Buchmalerei des neunten und zehnten Jahrhunderts. Dort fügt sich etwa bei Darstellungen der Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) die Schrift im Bild der perspektivischen Darstellung ihres jeweiligen Trägers, d.h. dem dargestellten Blatt Papier des Evangeliars. Es handelt sich bei der Evangeliarsinschrift im Sinne Wiesings um angehängte gezeigte Schrift. Kurzum: Das Evangeliar ist dem Bildobjekt zugehörig und somit keine Bildaussparung. Doch sind damit die entscheidenden Stichworte gefallen, denn Lambert Wiesing definiert die Sprechblase als eine im Bildraum ausgesparte Fläche, die nicht bildlich ist, weshalb er die darauf aufgetragene Schrift als reale Schrift bestimmt.271 Wird nun Wiesings Definition einer realen Schrift nicht ausschließlich an Sprechblasen gebunden, sondern an Flächen, die im Bild als ordentliche, d.h. nicht bildliche Aussparung gedeutet werden können, dann lässt sich Wiesings Definition der realen Schrift möglicherweise auf die Ikone anwenden. Als ordentliche Aussparung wird dabei die Fläche anerkannt, die zum einen nicht dem Bildobjekt zugehörig (also nicht bildlich) ist und die im Hinblick auf ihre Formung im Bild keine Verzerrung aufweist sowie ein Auftragen der Schrift auf (gedachten) geraden Linien, waagerecht von links nach rechts, erlaubt. Das ist im Falle der Ikone nicht weniger als ihr Goldgrund: Zunächst ist die Bemerkung voranzustellen, dass dem Grund als das Tragende des Bildes auf zweierlei Weise zu begegnen ist: Zum einen ist er der Bildgrund, vor 270 Vgl. hierzu etwa Beispiele bei Kurt Weitzmann/Manolis Chatzidakis/Svetozar Radojčić: Die Ikonen: Sinai, Griechenland und Jugoslawien, S. 210, Nr. 168: »Δευτε οι ευλογειμενοι του Πατρος μου. Κληρονομοισατε την ητημασμενοι ημηνβασιλείαν.« Die Übersetzung lautet in Anlehnung an die Bergpredigt (Mt 5-7) oder die lukanische Feldrede (Lk 6,20-49) etwa: »Ihr seid die Gesegneten meines Vaters und erbt mein Himmelreich.« In ihrem üblichen Typus richten sich die Evangeliarsinschriften, die Selbstaussagen Christi sind, an die Bildbetrachter bzw. die Gemeinde. 271 Vgl. Wiesing: »Die Sprechblase«, a.a.O., S. 51f.

3. Der Handlungsraum der Ikone

dem sich die Differenz von Hinter-, Mittel- und Vordergrund auftut; zum anderen steht der Grund symbolisch für den Archetypon (αρχετυπον), womit das Bildsujet, im Sinne von Anfang und Ursprung des Bildes, gemeint ist.272 Wird eine Ikone vergoldet, so wird die Tafel des Bildes (meist in mehreren Schichten) mit Blattgold überzogen. Wird sich dabei allein auf die besondere Wertigkeit des Goldes bezogen, so würde der Bedingung einer besonderen oder gesonderten Fläche entgegengekommen, die zudem ein Einschreiben von Schrift in der geforderten Weise möglich macht. Doch könnte hier durchaus der Kritik Gültigkeit zugesprochen werden, dass jeder farblich gestaltete, gegenstandsfreie Bildgrund als ausgesparte Fläche definiert werden könnte. Genauso ist die Anmerkung richtig, dass jeder Bildgrund ein lineares Einschreiben von rechts nach links ermöglicht. Die Besonderheit des Goldgrundes begründet sich jedoch in zweierlei Hinsicht, die eine Definition als nicht bildlich und ausgesparte Fläche zulässt. Alois Riegl bestimmt den Goldgrund als idealen Raumgrund, der nicht mehr Grundebene ist, weil er den Hintergrund ausschließt und ihn in eine unendliche Tiefe ausdehnt.273 Während Riegls Betrachtung des Goldgrundes einer formalästhetischen Deutung folgt und den Grund als die Ebene betrachtet, die bildnerisches Gestalten im Hinblick auf Nah- und Fernsicht erst ermöglicht, gelingt es Josef Bondonyi in seiner Dissertation zum Goldgrund, diesen auf seinen normativen Charakter hin zu untersuchen: Es sind der wahrnehmungspsychologische und der symbolgeschichtliche Sinn, die dem Gold als Mittel Bedeutung zuerkennen.274 Bondonyi folgend obliegt dem Gold die Möglichkeit, Licht zu versinnbildlichen, denn sein gelblicher Glanz wird als ein Leuchten empfunden, durch welches Raumgrenzen aufgehoben zu sein scheinen.275 Anschließend an diese von Bondonyi aufgestellte Sinndimension des Goldes stellt Ernst H. Gombrich die entscheidende Frage, warum jede illusionistische Kunst dann die Verwendung der Goldfarbe für Bildglanz vermissen lässt? Gombrichs Antwort fällt ebenso kurz wie tiefgreifend aus: »[Weil] sie im eigentlichen Sinn des Wortes keine Farbe ist, den Farben des

272 Zu den verschiedenen Definitionsmöglichkeiten des Wortes Grund in bildtheoretischen und bildphilosophischen Debatten vgl. Gottfried Boehms und Matteo Burionis Einleitung zu deren Herausgabe: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München 2012, S. 13f. 273 Vgl. Alois Riegl: Die spätrömische Kunstindustrie, 2. Aufl., Wien 1927, S. 14. 274 Vgl. Josef Bondonyi: Entstehung und Bedeutung des Goldgrundes in der Spätantiken Bildkomposition, Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Hohen Philosophischen Fakultät der Wiener Universität, Wien 1932 sowie E. H. Gombrich: »J. Bondonyi, Entstehung und Bedeutung des Goldgrundes in der spätantiken Bildkomposition«, in: Kritische Berichte zur Kunstgeschichtlichen Literatur, Bd. 5 (1932/33), S. 65-75. 275 Vgl. Bondonyi: Entstehung und Bedeutung des Goldgrundes in der Spätantiken Bildkomposition, a.a.O., S. 110.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Spektrums gleichwertig, sondern Materie, Metall, d.h. eben: Gold.«276 Gombrich zielt auf die Dinghaftigkeit dieses Materials ab, das als Kompositionselement die innere Möglichkeit des Bildes ist, aus der Scheinwelt der Kunst auszubrechen: Gold eignet zum einen etwas Außernatürliches und zum anderen eine Wertigkeit.277 Das Paradox liegt darin, dass es sich bei Komposition und innerer Möglichkeit zunächst um innerbildliche Phänomene handelt. Doch die Bestimmung des Goldgrundes als ein Außernatürliches lässt seine Bestimmung als nicht Bildliches zu, und in dieser Anordnung versinnbildlicht der Goldgrund die Öffnung der Ikone zum Transzendenten hin – die Öffnung hin zum transzendenten Grund des Bildes, der als Undarstellbares allein im Entzug als solches sichtbar werden kann. Dass der Goldgrund in Bezug auf seine Symbolkraft und im Hinblick auf raumphilosophische Aspekte weitreichende bildtheoretische Fragestellungen zulässt, darf an anderer Stelle diskutiert werden.278 Für den Moment genügt das Wissen um den wirklichkeitsfremden Charakter und die Lichtsymbolik des Goldes, denn in der Inkommensurabilität des Goldes bestimmt sich die Möglichkeit der Negation, durch die der Grund des Bildes sich der Sichtbarkeit entzieht: Indem der Goldgrund in seiner symbolischen wie wahrnehmungspsychologischen Weise als blendender Lichtschein wirkt, vermag er es, den tragenden Grund des Bildes in der Sichtbarkeit »ausfallen« zu lassen. Während die Sprechblase, Wiesings Erklärungen folgend, als wirklich gegenwärtig anerkannt werden kann, tendiert der Goldgrund auf das Undarstellbare und damit die göttliche Realität hin: Im Gegensatz zu den Bildobjekten, die vor dem Goldgrund erscheinen und sich zeigen, ist dieser als ein Sein im Entzug zu begreifen, d.h. als die göttliche Realität, die als alles Überstrahlendes wie Blendendes geistiger Inhalt und Sujet des Bildes ist.279 Auf dieser Ebene, die der Goldgrund zeichnet, sind die Nomina Sacra eingeschrieben. Definiert als φυσική εἰκὼν und bestimmt als heilige Namen sind die Nomina Sacra auf die göttliche Realität hin zugespitzt: Namen, so definiert sie Mondzain, beziehen sich wie ein Pfeil auf eine Zielscheibe, und in dieser Möglichkeit fungieren sie und genauso ihr Graph als Vermittler zwischen der Präsenz des göttlichen Bildes und der materiellen Ikone.280 Entscheidend ist dabei die Definition, Homonymie als in Relation zum Wesen stehend zu bestimmen. In Anlehnung an Wiesings Sprechblasentheorie ist nun zu

276 Vgl. Ernst H. Gombrich: »J. Bodonyi, Entstehung und Bedeutung des Goldgrundes in der spätantiken Bildkomposition«, a.a.O. S. 65-75. 277 Vgl. ebd., S. 65-75. 278 Vgl. hierzu u.a. Massimo Cacciari: »Die Ikone«, a.a.O., S 385-429. 279 Zur Definition der »ideellen Realität« als philosophische Frage der Kunstgeschichte vgl. Dagobert Frey: Kunstwissenschaftliche Grundfragen: Prolegomena zu einer Kunstphilosophie, a.a.O., S. 38f. 280 Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 123 und 125.

3. Der Handlungsraum der Ikone

fragen, ob die Einschreibung der Nomina Sacra den Status des Bildes von einer Repräsentation hin zu einer aufweisenden Präsenz ändert. Im Falle der Ikone benennt der Name auf homonyme Weise, was sich zu sehen gegeben hat: Die Ikone des Sohnes als Wiederholung in Holz und Farbe zur Erscheinung gebracht. Für ein Erstes stiftet der Name im Sinne der Homonymie einen Ausgleich zwischen dem, was sichtbar gewesen ist, und dem, was im Bild erscheint: Der Sohn als Bild des unsichtbaren Vaters und die ästhetische Ikone als Ableitung des sichtbar Gewesenen. Den Nomina Sacra auf Goldgrund obliegt die Möglichkeit, das Dargestellte über dessen Zeichenhaftigkeit hinaus zu bestimmen: Indem sie auf homonyme und ihre spezifische Weise bezeichnen und so Identität stiften, verleihen die Nomina Sacra dem Bildobjekt die entscheidende wahre und wirkliche Präsenz. Dies tun sie jedoch nicht im Sinne eines real Anwesenden, sondern als artifiziell präsentes Heiliges. Konkret: Das Einschreiben der Nomina Sacra, die als heilige Namen gelten, ist das Moment der Transformation des Bildes von einer einfachen Repräsentation hin zur Präsenz des (unsichtbaren) Heiligen. Damit wäre die Namenseinschreibung im sprachphilosophischen Sinne als illokutionärer Akt zu verstehen, der, bezogen auf das Tafelbild, eine neue Wirklichkeit schafft: Das ist die Ikone Christi, das Bild des unsichtbaren Gottes! Aber steht dieses »ist« nicht entgegen der Phänomenologie der Ikone, die das Andere als undarstellbares Anderes erscheinen lässt? Den Nomina Sacra obliegt die Konstitution einer unmissverständlichen Identität des Bildes als offenbarender Präsenz der heiligen Person: Die Nomina Sacra sind keine Tituli und somit keine Beschreibungen des Bildinhaltes, genauso wenig vollzieht sich über sie eine Interpretationslenkung.281 Gleichnamigkeit bezieht sich auf das Wesen der Sache, die benannt wird, und die das Sichtbare in dem Moment, wo es als Etwas wahrgenommen wird, unmissverständlich als ein Ist benennt: Etwas ist Etwas. Indem die im Bild gezeigte Person auf homonyme Weise bezeichnet wird, fällt im Sinne der systematischen Zuweisung also die Identität des Zeigenden mit dem Gezeigten in eins. Dabei ist der Name zunächst das Verbindungselement zwischen dem Dargestellten und dem Bild. Das, was sichtbar ist, ist das, was Marion die idolische Gestalt nennt, die zu sehen gibt, was der Blick verlangt. Ohne Namenseinschreibung liefe das Bild nun Gefahr, der idolischen Intention zu erliegen, d.h. Gott allein im Feld des Sichtbaren sehen zu wollen. Das Bild würde in dem Fall den Blick anhalten und allein auf sich selbst verweisen. Die Ikone jedoch enttäuscht dieses Sehen, denn im Kontext des Wahrnehmens ist es Gott, der zu sehen gewünscht wird, der sich jedoch nicht sehen lässt, denn das, was im Bild erscheint, ist benannt mit dem Namen Christus. Konkret ist nun das, was benannt 281

Zu Bilderinschriften als Interpretationslenkung und nähere Erläuterung/Bestimmung des Bildinhalts vgl. weiterführend Klaus Krüger: »Das Sprechen und Schweigen der Bilder«, in ders./Valeska von Rosen(Hg.): Der stumme Diskurs der Bilder, München/Berlin 2003, S. 17-52.

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Die Ikone und das Undarstellbare

ist, Christus, durch dessen Abbild sich Gott als Undarstellbares zu sehen gibt. Die Ikone lässt sich selbst sehen, bringt das Sehen des Betrachters aus dem Gleichgewicht und öffnet die Augen auf ein Antlitz hin.282 Indem also das artifizielle Bild auf homonyme Weise benannt ist, referiert es auf die Hypostase, die das Bild als ein Ähnliches bezeugt und die in einem Anblicken die ikonische Erfahrung, Gott als Undarstellbares zu erkennen, ermöglicht. An dieser Stelle darf der Vorwurf geltend gemacht werden, dass der hier beschrittene Weg im Hinblick auf das Denken des Anderen als außerhalb des Seins situiertes in der homonymen Benennung unausweichlich in eine Sackgasse führt: Der eingeschriebene Name birgt allein den Bezug zum Seienden, indem es das Ist – die Sichtbarkeit des Sohnes – benennt. Läuft die Homonymie hier nicht tatsächlich Gefahr, das Andere aus dem Bild »auszustreichen«, wenn sich über die Benennung das, was erscheint, zu einem ist konstituiert? Tatsächlich dürfen die Nomina Sacra nicht allein als reale Schrift verstanden werden, die das, »was erscheint«, zu einer Präsentation transformieren. Mehr noch müssen die Nomina Sacra als die eingeschriebene Stimme begriffen werden. Es ist Mondzains Ikonentheorie, anhand der sich eben diese Definition und damit der Ausweg aus der vermeintlichen Sackgasse aufzeigen lässt. Das, was sich für Mondzain mit der Einschreibung der Nomina Sacra vollzieht, ist die Vereinigung von Blick und Stimme: Der Graph fungiert dabei als Marke der formalen Einheit, denn das Wort, das sowohl die Ikone als auch die Schrift bezeichnet, ist dasselbe.283 Was Mondzain damit ausdrücken will, ist die Verschränkung des Sichtbaren und des Unsichtbaren in dem Punkt, in welchem mit der Einschreibung der Stimme der Bruch zwischen dem Benannten-Gezeigten und den Operationen, die nennen und zeigen, überwunden ist.284 Das ist das, was wir im Vorfeld auf etwas umständliche Weise das Zusammenfallen des Zeigenden mit dem Gezeigten genannt haben. Der Graph markiert nun die Verschränkung des Sichtbaren und des Unsichtbaren, denn die Stimme, die sich mit den Nomina Sacra in die Ikone einschreibt, ist die Stimme des Anderen. Es ist natürlich richtig, dass ein jeder Name, der in ein Bild eingeschrieben ist, als die Stimme des Anderen verstanden werden kann. Jedoch bestimmt sich das Andere im Falle der Ikone im Hinblick auf deren besondere Relation – es ist die Stimme des unsichtbaren und undarstellbaren Gottes: »So wie in der Trinität die Personen ohne Abweichung eins sind, so sind der Vater, sein Bild und seine Stimme in der Ikone in der ikonischen Manifestation vereinigt.«285 Für ein besseres Verständnis zieht Mondzain die Parallele zu den römischen Kaiserporträts,

282 283 284 285

Vgl. Marion: Gott ohne Sein, a.a.O., S. 47. Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 123. Vgl. ebd. S. 123. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 123.

3. Der Handlungsraum der Ikone

deren eingeschriebener Name Gehorsam und Respekt einfordert; der Name der Ikone befiehlt dagegen die Richtung des Blickes.286 Hier nun gelingt der Schulterschluss zur besonderen Blickkonstellation der Ikone, wenn die Stimme, die der Graph markiert, die besondere Relation dieses unsichtbaren Blickes der Ikone garantiert. Die Stimme des Anderen ist – in Anlehnung an Levinas – immer in Bezug auf den anders bleibenden Anderen.287 Wie der Blick, so richtet sich die Stimme an ein Gegenüber und verlangt von diesem eine Antwort, die im Falle der Ikone die Proskynese ist. In der konkreten Definition, die besagt, dass sich mit dem Graph des Namen die Stimme des Anderen in das Bild einschreibt, bestimmt sich für Mondzain die eigentliche Autorität der Ikone: Der Graph markiert die Verschränkung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren. Deshalb ist die Namenseinschreibung obligatorisch. Der Name ist das Fundament und die stimmliche Stütze des Bildes, die Mondzain Ikonomie288 nennt. Die Basis der Ikonomie ist die Relation: »Nicht aus den Dingen selbst wird die Macht bezogen, sondern aus den Relationen zwischen den Dingen.«289 Worauf Mondzain in diesem Punkt hinaus will, ist der Fakt, dass die Ikone nicht einfach Zeichen ist. Zwar agiert sie in Bezug auf das, was sichtbar erscheint als Repräsentation. Der ihr zugrunde liegende Sinn ist es jedoch, über die Repräsentation hinaus der Undarstellbarkeit als Anderes des Sichtbaren – um an die Worte Marions anzuknüpfen – Präsenz zu verleihen. Das ist das Besondere der Ikone, ihr ikonischer Überschuss, der sich nicht nur im Hinblick auf die spezifische Relation ergibt, sondern sich zudem auf den Namen stützt.

286 287 288 289

Vgl. ebd. S. 123. Vgl. Bernhard H. F. Taureck: Emmanuel Lévinas zur Einführung, a.a.O., S. 63. Vgl. Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, a.a.O., S. 133. Ebd. S. 133.

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4. Der Bildraum der Ikone

In den vorangegangenen Kapiteln hat sich die Frage nach dem Undarstellbaren auf das in der Ikone Erscheinende bezogen – also auf das, was dargestellt wird. Das folgende Kapitel fokussiert nun die formale Ästhetik der Ikone und damit das Wie der Darstellungsweise. Die byzantinischen Ikonophilen haben sich nicht mit Fragen zur formalen Ästhetik der Ikone auseinandergesetzt. Die Byzantiner verstanden die Ikone nicht als Anschauungsobjekt, sondern als Vehikel für ihre Kontemplation – für die geistige Offenbarung also. Antworten auf die Frage des ansichtigen Darstellens in der Ikone lassen sich allein anhand der modernen – konkret – russischen Ikonentheorien formulieren.

4.1 4.1.1

Ikone: das objektive Bild Der Kanon der Ikone

Ikone und Mimesis Eine Antwort auf die Frage, warum die Ikone die Spezifika ihrer formalen Ästhetik über Jahrhunderte bewahrt, lässt sich anhand der modernen Ikonentheorien formulieren. Der russische Universalgelehrte Pavel Florenskij1 (*09.01.1882, †08.12.1937) bezieht sich in seiner Ikonentheorie konkret auf die Hermeneia des Dionysios – das Malerhandbuch des Malermönchs Dionysios vom Berg Athos –, das somit den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen bildet.2 1

2

Zum Leben von Pavel Florenskij siehe Ulrich Werners Vorwort zu Florenskijs Ikonentheorie: Die Ikonostase: Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Russland, 3. Aufl., Stuttgart 1996, S. 13ff. Athos ist eine (bis heute autonome) Mönchsrepublik auf dem gleichnamigen Berg, der sich auf der griechischen Halbinsel Chalkidikí befindet. Die Geschichte dieses heiligen Bergs reicht zurück bis in das 9. Jh.. Heute besteht Athos aus 20 Großklöstern und den jeweils dazugehörigen Skiten. Mit Skiten sind die Häusergemeinschaften gemeint, in denen die Mönche wohnen. Die Skiten prägen den dörflichen Charakter des Klosterverbunds, dessen Ikonenwerkstätten bis heute ein hohes Ansehen in der orthodoxen Kirche haben. Siehe Malerhandbuch vom Berg Athos vom Mönch Dionysios, in der Übersetzung von Godehard Schäfer aus dem

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Die Ikone und das Undarstellbare

Wird nach dem Sinn eines kanonisierten Malstils gefragt, bedarf es zunächst einer Begriffsklärung: Das griechische Wort κανών (kanōn) lehnt sich an den ursprünglich semitischen Wortsinn (z.B. hebr. qanae) an, das ein Rohr bezeichnet, aus dem Messruten hergestellt werden.3 Für die Griechen blieb κανών nicht allein eine Bezeichnung für Messinstrumente: Mit Bezug auf deren Formvollendung meint Kanon in einem übertragenen Sinne Norm, vollendete Gestalt und jedes erstrebenswerte Ziel. Im Sinne einer Vorschrift fungieren etwa die Kanones der kirchlichen Konzilien, die mit Beschluss die Basis des Kirchenrechts bilden. Innerhalb der antiken Philosophie meint Kanon das Maß und die Regel für richtiges Handeln und die Unterscheidung des Wahren vom Falschen. Das Historische Wörterbuch der Philosophie führt hier u.a. Epiktet (*um 50, †um 138) auf, für den jedes Philosophieren gleichbedeutend ist mit: die Richtmaße untersuchen und festsetzen, nach denen sich das Schöne und das Gute bemisst.4 Innerhalb der bildenden Kunst spielt der Kanon seit den schriftlichen und künstlerischen Werken des griechischen Bildhauers Polyklet (*um 480 v. Chr., † Ende des 5. Jh. v. Chr.) eine Rolle. So galt etwa Polyklets Doryphoros (Speerträger) als Vorbild für die Darstellungsweise des idealen menschlichen Körpers. Zudem schrieb Polyklet ein uns heute nur noch in Fragmenten vorliegendes Buch mit dem Titel »Kanon«. Darin setzt er sich mit den idealen Proportionen und Verhältnisgrößen der Köperteile auseinander.5 Für die Baukunst legte der im 1. Jahrhundert v.Chr. wirkende römische Architekt Vitruv einen Kanon der verschiedenen Säulenordnungen fest, der sich auf eben jene idealen menschlichen Maße stützt, wie sie von Polyklet in die bildende Kunst eingeführt wurden.6

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Jahr 1855, hg. vom slavischen Institut München, München 1983 und Pavel Florenskij: Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Russland, 3. Aufl., Stuttgart 1996, S. 104ff. Siehe weiterführend Wilhelm Nyssen/Hans-Joachim Schulz/Paul Wiertz (Hg.): Das Handbuch der Ostkirchenkunde, Bd. III, Düsseldorf 1997 und spezifisch Roland Barthes: Wie zusammen leben: Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman, Frankfurt a.M. 2007. Die hier formulierte Erklärung und Definition des Begriffs Kanon bezieht sich auf die unter diesem Begriff zufindenden Einträge im Brockhaus, Bd. 11 (1990), S. 419 und dem HWP, Bd. 4 (1976), S. 688-691. Siehe HWP, Bd. 4 (1976), S. 689 und Epiktet Diss II 11, 24-25: »καὶ τὸ φιλοσοφεῖν τοῦτό ἐστιν, ἐπισκέπτεσθαι καὶ βεβαιοῦν τοὺς κανόνας, τὸ δ᾽ ἤδη χρῆσθαι τοῖς ἐγνωσμένοι τοῦτο τοῦ καλοῦ καὶ ἀγαθοῦ ἔργον ἐστιν.« Über den sogennannten Kanon des Polyklet spricht Claudius Galenus im 2. Jahrhundert n. Chr. Siehe : Claudius Galenus : Galeni de Placitis Hippocratis et Platonis 5, 449. Siehe Vitruvii: De architectura libri decem, Übers. und mit Anm. vers. von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1996.

4. Der Bildraum der Ikone

Die Hermeneia des Malermönches Dionysios von Furna-Agrafa ist heute das bekannteste Handbuch, das den Kanon der Ikone vorgibt.7 Die darin aufgeführten Instruktionen sind in drei Teile unterteilt, wobei die Teile zwei und drei Anweisungen darüber sind, wie alt- und neutestamentliche Szenen bildlich umzusetzen sind. Im ersten Teil erfolgen Anleitungen, die von der Vorbereitung der Tafel und Pinsel über das Vergolden der Ikone, die Weise der Skizzierung, das Anmischen spezifischer Farben (wie etwa die des Fleisches), das Auftragen des Firnis bis hin zum Waschen alter Ikonen und deren Restauration reichen. Was alle drei Teile des Malerhandbuches verdeutlichen, ist das Verständnis darüber, dass die Ikonenmalerei als künstlerische Fertigkeit (τεχνη|technē) zu begreifen ist, die es zu lernen gilt. Mit den Malerhandbüchern, die es in den Ikonenwerkstätten schon früh gegeben hat und bis heute gibt, liegt die Methodik und Norm vor, die den Ikonenmaler darin anleitet, wahre Bilder zu schaffen.8 Doch welches von Menschenhand geschaffene Bild ist das wahre Bild? Dem Malermönch Dionysios folgend sind wahre, von Hand gemachte Bilder jene, die Lukas der Evangelist von Maria angefertigt haben soll.9 Zum anderen erwähnt Dionysios den Abdruck Christi auf einem Tuch, das dieser dem König Abgar auf dessen Wunsch zukommen ließ.10 Die Legende der Lukasbilder und die Agbar-Legende werden in den Diskussionen zu den christlichen Ikonen stets thematisiert. Aktuell sei hier auf die Arbeit Hans Beltings verwiesen, für den sich hinter den Legenden um die Tuch- und Lukasbilder der Anspruch der Ikone verbirgt, ein authentisches Bild zu sein.11 Gleichzeitig bezeichnet Belting diese spezifischen Ikonentypen als Archeiropoietas – als nicht von Hand gemachte Bilder, denen in den antiken Quellen eine Wundertätigkeit zugewiesen wird. Jene Wundertätigkeit 7

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Das Vorwort der deutschen Auflage aus dem Jahr 1983 weist darauf hin, dass jenes Handbuch nicht byzantinischen Ursprungs ist, obgleich es sich an überlieferte byzantinische Hermeneias anlehnt, die dem Malermönch Dionysios auf dem Berg Athos zugänglich gewesen sind. In diesem Zusammenhang wird die Hermeneia des Malermönchs Daniel vom Athoskloster Chilandar aus dem Jahr 1674 genannt. Der Bekanntheitsgrad des dionysischen Malerhandbuches rührt daher, dass es früh ins Französische (1842) und Deutsche (1855) übersetzt worden ist. Vgl. Malerhandbuch vom Berg Athos vom Mönch Dionysios, in der Übersetzung von Godehard Schäfer aus dem Jahr 1855, hg. vom slavischen Institut München, München 1983, S. 5f. Vgl. Malerhandbuch vom Berg Athos vom Mönch Dionysios, a.a.O., S. 9-12. Vgl. Malerhandbuch vom Berg Athos vom Mönch Dionysios, a.a.O., S. 9 und 10f. Der Legende folgend, hat Lukas selbst ein oder mehrere Bilder von Maria und dem Kind angefertigt, so wie er sie selbst gesehen hat. Vgl. Malerhandbuch vom Berg Athos vom Mönch Dionysios, a.a.O., S. 10f. Auf dessen Wunsch, ihn zu sehen, damit er ihn von seiner Krankheit heile, sandte Christus dem König Abgar den Tuchabdruck seines Gesichtes. Jene Legende findet in den antiken Quellen verschiedene Auslegungen. Siehe hierzu u.a. Eusebios von Cäsarea Historia Ecclesiastica I 13. Vgl. Hans Belting: Bild und Kult, a.a.O., S. 66 sowie ders.: Das echte Bild, München 2005, S. 4562.

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Die Ikone und das Undarstellbare

geht mit dem Verständnis der Realpräsenz des Bildes einher, womit dem Bild selbst eine Wirkkraft zuerkannt wird. Dass dieser Aspekt in den byzantinischen Ikonentheorien nicht thematisiert wird, ist bereits dargelegt worden und verdeutlicht, dass es nicht darum geht, der Ikone eine Heilkraft zuzuerkennen. Vielmehr geht es im siebten Jahrhundert darum, den Verweisungscharakter des Bildes zu betonen und dessen Aufgabe, das wahre Bild zu bezeugen: Im Sinne der εἰκών-Theologie ist Christus als gezeugter Sohn Gottes dessen wahres Abbild. Indem der Sohn auf einem Tuch seine Körperspur hinterlässt, schafft er einen authentischen Abdruck, der sein Dasein als Umschriebener – seine Leibhaftigkeit – bezeugt. Die von Belting getroffene Aussage, der Abdruck auf einem Tuch bestätige Christi Willen, ein Bild von sich herzustellen, ist in Bezug auf die εἰκών-Theologie entscheidend zu erweitern: Es ist nicht allein der Kontakt zwischen Körper und Bild, der Authentizität lanciert, es ist der Wille, ein Bild vom ersten wahren Bild weiterzugeben.12 Gleiches lässt sich für die Lukasbilder sagen: Indem der Evangelist in Farbe festhält, was er mit eigenen Augen gesehen hat, ist es Lukas Intention, mit dem gemalten Bild das wahre Bild zu bezeugen. Belting behält Recht, wenn er in Bezug auf die Grabtücher den Begriff der Indexikalität ins Feld führt: Ein Abdruck auf einem Tuch ist Index eines gewesenen Körpers. Was Belting zu verdeutlichen sucht, ist der Beweis, dass – gerade im Hinblick auf die Legenden um Tuchbilder – dem physischen Argument bereits in den frühen Diskussionen über das Bild die entscheidende Evidenz zuerkannt wird. Wie aber gelingt es dann, den von Menschenhand gemalten Bildern – den Ikonen – den Stellenwert als besondere Bilder einzuräumen, die sie im orthodoxen Glauben bis heute haben? Eine mögliche Antwort: Es ist ihre Weise des Sichtbarmachens, welche seit Jahrhunderten dem gleichen Malstil folgt und so eine spezifische Mimesis aufrechterhält. Der Mimesis-Begriff bezieht sich hierbei konkret auf die künstlerische Praxis und meint das Wiederholen eines Originals. Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Mimesis (μίμησις|mimēsis) und dessen Definition kommt nicht an Platons kunstkritischen Äußerungen vorbei. Moderne Auseinandersetzungen zeigen jedoch, dass Platons Kritik zu differenzieren ist – dient ihm doch μίμησις als Oberbegriff für verschiedene Intentionen des Nachahmens.13 Es sei daran erinnert, dass Platon die transzendente Idee als wahrhaft Seiendes bestimmt und alles weltliche Sein als unvollkommenes Abbild von dieser. Für Platon ersucht nun ein Tischler das, was er schafft – etwa ein Bettgestell – der zugrunde liegenden Idee im höchsten Maße ähnlich zu machen – also ein ideales Bett zu schaffen: Ein solches Bett bleibt ein Bett, selbst wenn ein potentieller Käufer es von 12 13

Vgl. Hans Belting: Bild und Kult, a.a.O., S. 66 und 70. Siehe hierzu Gernot Böhme: Idee und Kosmos, Frankfurt a.M. 1996 und Wiesing: Artifizielle Präsenz, a.a.O., S. 125-148.

4. Der Bildraum der Ikone

allen Seiten begutachtet, d.h.: »[E]s erscheint anders, ist aber nicht verschieden.«14 Dies lässt sich in Platons Sinne prüfen, indem das Bett vermessen und gewogen wird, was zu dem Ergebnis führt: Es ist ein Bett, das in seinem Wesen Bett ist und der Idee Bett – je nach Können des Tischlers – Genüge leistet. Für Platon, so reflektiert es die Politeia, gilt es jedoch, jene Tischler strafrechtlich zu verfolgen, deren Tische nach eingehendem Messen und Wiegen als Nachahmungen überführt werden, die von der eigentlichen Wahrheit weit entfernt sind. Als Beispiel für derlei mimetische Formen nennt Platon die Malerei, deren Erscheinen er als Spiel abtut, weit entfernt vom eigentlichen Ernst der Sache – also der Idee.15 Doch in seinem späteren Dialog Sophistes führt Platon eine Spezifizierung des μίμησις-Begriffs ein, die seine in der Politeia formulierte Kunstkritik in ein anderes Licht rückt. Konkret differenziert Platon in seinem Sophistes-Dialog die Arbeit eines Malers in jene, die Ebenbilder schafft, und jene, die Trugbilder anfertigt. Die ebenbildnerische Kunst – der griechische Begriff hierfür ist μίμησις εικαστικη (mimēsis eikastikē) – ist jene, die das Verhältnis der Idee nachzuahmen sucht: Das Streben der ebenbildnerischen Kunst ist es, dem Urbild, das die Idee ist, höchstmöglich ähnlich zu sein, womit das, was diese Weise des Nachahmens erscheinen lässt, der Maßgabe des Urbildes in Länge, Breite, Höhe, Tiefe und Farbe zu folgen ersucht.16 Platon steht der μίμησις εικαστικη positiv gegenüber. Dagegen verwirft er jegliche Form trugbildnerischer Kunst. Das ist die Form von Nachahmung, die in ihrer Weise des Darstellens das Auge täuscht, indem es dem Urbild zu gleichen scheint, bei genauerer Betrachtung diesem jedoch im höchsten Maße unähnlich ist. Eine solche Darstellung beschreibt Platon als μίμησις φανθαστιη (mimēsis phantastikē) – als trügerische Nachahmung also, die es zu verwerfen gilt, weil sie Illusionen schafft.17 Doch welcher mimetischen Form, die Platon im Sophistes differenzierte, folgt die Ikone? Gerade im Hinblick auf das Anfertigen der Tafel, das Mischen der Farben und das Darstellen des menschlichen Körpers vermitteln die Hermeneias das spezifische Wissen. Beispielsweise findet sich bei Dionysios das Verhältnis des menschlichen Körpers wie folgt beschrieben: Wisse, daß der Mensch nach dem Naturell neun Köpfe, d. i. neun Maße, von der Stirn bis zu der Fußsohle mißt. Mache anfangs das erste Maß, welches du in drei Abteilungen teilst: die Stirn für die erste, die Nase für die zweite und das Kinn für die dritte. Mache die Haare außerhalb des Maßes, eine Nasenlänge lang. Teile den Raum, der zwischen Kinn und Nase ist, wieder in drei Partien; das Kinn ist, für zwei Maß, der Mund für eine und der Kehlkopf für eine Nasenlänge. Dann 14 15 16 17

Platon Politeia X 598a. Vgl. Platon Politeia X 602b. Vgl. Platon Sophistes 235d. Vgl. Platon Sophistes 236b.

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Die Ikone und das Undarstellbare

miß vom Kinn bis zur Mitte des Leibes drei Maße; bis zu den Knien zwei andere. Für das Knie nimmst du eine Nasenlänge. Von den Knien bis zum Astragal zwei andere Maße; dann vom Astragal bis zur Fußsohle eine Nasenlänge; von da zu den Nägeln ein Maß. Vom Kehlkopf zur Schulter ebenfals ein Maß, desgleichen zur anderen Schulter. Für die Rundungen der Schulter nimm eine Nasenlänge.18 Dies ist eine klare Anweisung des Malens des menschlichen Körpers im Verhältnis der je einzelnen Teile zum Körperganzen. Dionysios bestimmt dabei die Nasenlänge als das Maß, nach dem der Maler die Proportionen der anderen Körperteile auszurichten hat. Die einzelnen Glieder stehen so in einer Relation zueinander, worüber sich wiederum eine Symmetrie des Ganzen ergibt. Der Kanon ersucht also, die Wahrheit des Originals in Maß und Zahl wiederzugeben. Hier lässt sich an Platon anknüpfen, der auch jene Bilder als wahre Abbilder bezeichnet, die aufgrund von Prinzipien wie Symmetrie, Zahl und Gleichheit mit der Ideenwelt teilhaftig verbunden sind.19 Einem Ikonenmaler gelingt nur dann ein wahres Abbild, wenn er sich an die kanonischen Maßgaben hält und sich darin übt, diese im höchsten Maße umzusetzen: Er schafft ein wahres Abbild – eine wahre εἰκών. Hier besteht die Parallele zu Polyklets Kanon, der sich letztlich mit metrologischen Problemen des menschlichen Körpers auseinandersetzt.20 Tatsächlich sind in den antiken Werkstätten Werkstattbücher wie der Kanon des Polyklets üblich gewesen.21 Sie dienten dazu, den Handwerkern Anleitung zu geben, Regeln zu formulieren und Lösungswege aufzuzeigen: Kanones geben das Wissen weiter, das ein Handwerker braucht, um ein ideales Abbild herzustellen. Bedient sich ein Handwerker der Kanones, so eignet er sich τέχνη (technē) an, d.h. die Fähigkeit und das Wissen über eine Sache: »Τέχνη meint […] die Summe der Fähigkeiten, Fertigkeiten und Regeln zur Ausübung von Tätigkeiten, die einige Erfahrungen und Kenntnisse voraussetzen.«22 In seinem Buch zur Technikgeschichte weist Wilfried Seibicke darauf hin, dass in der antiken Philosophie der τέχνη ein doppelter Bezug zugewiesen ist, denn dieser Begriff umfasst sowohl Erfahrungswissen (ἐμπειρία|empeiria) und damit Erkenntnis als auch Grundwissenschaft (ἐπιστήμη|epistēmē) und damit Wissen um

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Malerhandbuch vom Berg Athos vom Mönch Dionysios, a.a.O., S. 34f. Vgl. Platon Phileobos 51C und Ladner: »Der Bildbegriff bei den griechischen Vätern«, a.a.O., S. 151. Siehe weiterführend hierzu u.a. Hans von Steuben: Der Kanon des Polyklet: Doryphoros und Amazone, Tübingen 1973 und Wolfgang Sonntagbauer: Das Eigentliche ist unaussprechbar: Der Kanon des Polyklet als »mathematische« Form, Frankfurt a.M. 1995. Vgl. Josef Floren/Werner Fuchs: Die griechische Plastik I. Die geometrische und archaische Plastik, München 1987, S. 87-91. Wilfried Seibicke: Technik: Versuch einer Geschichte der Wortfamilie um τέχνη in Deutschland vom 16. Jahrhundert bis etwa 1830, Heidelberg 1968, S. 16.

4. Der Bildraum der Ikone

das Allgemeine.23 Verständlich wird dies mit Bezug auf obig bereits angewendetes Beispiel: Ein Tischler versteht sich aufgrund seiner Erfahrung (ἐμπειρία) auf die Technik des Anfertigens eines Bettgestells, weil er sich darin geübt hat. Gleichzeitig verfügt er als Handwerker über das grundsätzliche allgemeine Wissen (ἐπιστήμη) um die Idee (ίδεα|idea) des Bettgestells an sich, wovon er ein ideales Abbild herstellen will. Ein Handwerker besitzt somit nicht allein die Fertigkeit, etwas herstellen zu können: Er verfügt ebenso über das auf das spezifische Herstellen gerichtete Wissen, was ihn dazu befähigt, ein Anderes herzustellen, das in seiner Wahrheit der zugrunde liegenden Idee am nächsten kommt. Die Nachahmung, die ein Handwerker verfolgt, ist im Sinne Platons μίμησις εικαστικη. Im Horos des siebten ökumenischen Konzils von Nicäa findet sich der entscheidende Hinweis, dass dem Maler allein die technische Angelegenheit des Anfertigens des Bildes zukommt. Florenskij sieht darin keine Zensur der Malerei, sondern den Beweis, dass die Kirche die heiligen Väter als die eigentlichen Ikonenmaler anerkennt.24 Hieraus ergibt sich folgende Schlussfolgerung: Der Ikonenmaler fertigt ein wahres Bild an, weil er sich darin geübt hat, die sichtbaren Formen der Ikone, d.h. ihren Aufbau und ihre Komposition, im Sinne des Kanons auszuführen: Er hat sich die Technik (τέχνη) angeeignet. Diese Weise des Nachahmens ist im Sinne Platons μίμησις εικαστικη. Als tiefgläubiger Mensch hat ein Ikonenmaler zudem das Wissen um die eigentliche Idee des Bildes – die εἰκών-Theologie – verinnerlicht. Die Ausklammerung der Zufälligkeit Das Bild – bestimmt als μίμησις εικαστικη – muss im Falle der Ikone dahingehend spezifiziert werden, dass dieses Bild nicht als einfache Nachahmung verstanden werden darf, sondern konkret als eine Wiederholung. Das Besondere an dieser Definition: Der Ikonenmaler bringt im Bild nicht seine eigenen Erfahrungen und seinen eigenen Willen zum Ausdruck, sondern wiederholt ein bezeugtes Bild. Der ihm dabei zur Seite stehende Kanon gibt dem Maler die Regeln vor, nach denen er eine Ikone zu malen hat. Diese Regeln dürfen jedoch nicht als starres Handwerkszeug angesehen werden. Wie Leonid Ouspensky in »Sinn und Sprache der Ikone« betont, ist der Kanon, wie die Liturgie, eine Notwendigkeit, die den gläubigen Menschen als Anleitung dient: »Der Priester stellt […] mit den göttlichen Worten handelnd den Leib (des Herrn) dar […]; der Ikonenmaler aber gestaltet anstatt der Worte das Bild und stellt dadurch den Leib des Herrn dar.«25 In ihrem Tun ordnen sich der Ikonenmaler und der Priester dem Willen Gottes unter, indem sie dessen Bild und Wort unverändert wiedergeben. Ihr eigenes schöpferisches Handeln wird

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Vgl. ebd. S. 16. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 74. Leonid Ouspensky: »Sinn und Sprache der Ikone«, a.a.O., S. 45 und ebd. Anm. 2.

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Die Ikone und das Undarstellbare

dabei nicht unterbunden, obgleich es nicht offensichtlich ins Auge fällt: So wie keine Predigt einer anderen gleicht, weil jeder Priester seine eigene Ausdrucksform findet, gleicht keine Ikone der anderen, weil sich die Kunstfertigkeit eines Ikonenmalers in den Farben und Linien seiner Bilder zeigt. Ouspensky formuliert hierzu, dass Ikonen nicht als bloße Kopien verstanden werden dürfen, sondern als Wiederholungen im Sinne von »freien schöpferischen Übersetzungen« anzusehen sind.26 Doch sind die persönlichen Einflüsse des Künstlers ein Minimum an dem, was der Kanon zulässt. Der Unterschied zwischen den Bildern eines freischaffenden Künstlers und denen eines Ikonenmalers ist die in den Bildern wiedergegebene Wirklichkeit: Während ein Künstler in seinen Bildern eine subjektiv-idealistische Bildwelt schafft, darf die Bildwelt der Ikone als eine objektiv-realistische verstanden werden. Realistisch in dem Sinne, dass die Wirklichkeit, die darin zum Ausdruck kommt, als höhere geistige Wirklichkeit angesehen wird. Für Pavel Florenskij spiegelt die Ikone nicht das weltliche Sein wider, sondern gibt den Blick auf die göttliche Wirklichkeit frei: »Ihr Gegenstand ist die eigentliche Natur, die Gottgeschaffene Welt in ihrer überweltlichen Schönheit.«27 Das, was sich in den einfachen Formen der Ikone ausdrückt, darf nicht fälschlicherweise als primitiv und unbeholfen beschrieben werden. In Anlehnung an die Theorie Florenskijs ist das, was die Ikone zeigt, Ausdruck des konkret Allgemeinen: Für Florenskij ist die Ikone Bild und Abbild der Wesenheit.28 Die Ikonenmalerei zeigt durch spezifische Formen und Farben das bezeugte Bild in der Weise, dass das allem zugrunde liegende Ursprüngliche in seinem reinsten Sein zum Ausdruck kommt. Objektiv ist eine Ikone dahingehend, dass der ihr zugrunde liegende Kanon – wird er befolgt – alle Subjektivität und Zufälligkeit ausklammert. Folgt der Ikonenmaler dem Kanon, dann gelingt es ihm, ein Bild frei von jeglicher Individualität zu schaffen. Doch das Zufällige kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, weshalb Florenskij es als »das Zufällige der Ikone« und »das Zufällige auf der Ikone« bestimmt.29 Erstere meint das Individuelle der heiligen Person, wobei hier eine Parallele zwischen Florenskij und Theodor Studites gezogen werden kann: Individualität im Sinne des Zufälligen der Ikone bezieht sich im positiven Sinne auf die charakterlichen Eigenschaften der heiligen Person – χαρακτῆρ (charaktēr) in einfachster Weise ausgedrückt für Theodor Studites im lockigen Haare und einer

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Vgl. ebd. S. 45. Zur Möglichkeit des freien schöpferischen Schaffens des Ikonenmalers siehe außerdem Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 127f. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 125. Vgl. zudem ders.: Namen, hg. von Sieglinde und Fritz Mirau, Berlin 1994, S. 175. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 125. Vgl. zudem ders.: Namen, hg. von Sieglinde und Fritz Mirau, Berlin 1994, S. 175. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 128.

4. Der Bildraum der Ikone

krummen Nase, für Florenskij ganz allgemein im Gesicht und den Augen der dargestellten Person. Dagegen meint »das Zufällige auf der Ikone« einen zu großen individuellen Einfluss des Ikonenmalers, der nur dann möglich ist, wenn dieser von den kanonisierten Formen abweicht und seinen subjektiven weltlichen Blick im Bild zulässt. Um zu verdeutlichen, was das Zufällige für ein Bild bedeuten kann, sei die abstrakte Frage gestellt, ob die byzantinischen Ikonophilen eine Fotographie als wahres Bild akzeptiert hätten. Die Gemeinsamkeit zwischen einer Ikone und einer Fotographie besteht zunächst in deren Definition als Spur eines Gewesenen.30 In Anlehnung daran könnten die Ikonophilen von Byzanz eine Fotographie als bezeugtes Bild akzeptieren. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in dem jeweils sichtbar Erscheinenden und der Weise der Sichtbarmachung: Eine Fotographie ist Abbild der weltlichen Wirklichkeit, die sich – beruhend auf einer technischen Apparatur – mit Betätigen des Auslösers bei der analogen Technik auf einem lichtempfindlichen Material abbildet und bei der digitalen Fotographie in Form von Bilddaten gespeichert wird. Der Aspekt, der nun dazu führt, dass die Byzantiner die Fotographie nicht als wahres Bild anerkennen würden, ist die Möglichkeit des Zufälligen. In einem Foto setzt sich der Zufall beispielsweise durch einen Vogel ins Bild, der im Moment des Auslösens unerwartet zwischen der technischen Apparatur und dem, was fotografiert werden soll, hindurchfliegt.31 Die Momentaufnahme dieses auffliegenden Vogels ist die Spur des weltlichen Seins und situiert das auf dem Foto Erscheinende in die weltliche Wirklichkeit. Doch die Wirklichkeit, die in der Ikone mittels Formen und Farben zur Erscheinung gebracht wird, ist nicht weltlich Seiendes, sondern Abbild der höheren göttlichen Wirklichkeit: Sie ist – Florenskij folgend – Verkörperung eines geistigen Bildes.32 Die Ausklammerung des Zufälligen in der Ikone verdeutlicht sich auf einer weiteren Ebene, und zwar bei der Produktion des dem Tafelbild zugrunde liegenden Materials: Bis ins kleinste Detail ist vorgegeben, wie der Malgrund vorzubereiten

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Auf die innerhalb der Fototheorie geführte Diskussion, ob ein fotographisches Bild Abdruck, Spur oder Index sei, kann hier nicht näher eingegangen werden. Für weiterführende Studien zu dieser Diskussion siehe u.a. Pierre Bourdieu: Eine illegitime Kunst. Frankfurt a.M. 1983; Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a.M. 1989; Philippe Dubois: »Der fotographische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv«, hg. und mit einem Vorwort von Herta Wolf (Geschichte und Theorie der Fotographie. Bd. I), Amsterdam/ Dresden 1998; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. 2. Aufl., München 2002 und ders.: Das echte Bild, a.a.O. Vgl. weiterführend Peter Geimer: »Das Bild als Spur. Mutmaßungen über ein untotes Paradigma«, in: S. Krämer/W. Kogge/G. Grube: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, a.a.O., S. 95-120. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 95.

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Die Ikone und das Undarstellbare

ist, aus welchen Substanzen die Farben zu mischen sind, wann und wie die Ritzungen vorzunehmen sind und in welcher Weise das Gold aufzutragen ist. Nichts wird dem Zufall überlassen und nichts läuft Gefahr, dem subjektiven Einfluss des Ikonenmalers ausgesetzt zu sein. Ein Ikonenmaler wahrt also die Objektivität, indem er so wenig wie möglich vom Original, das sein Muster ist, abweicht: Die in der Hermeneia beschriebenen und damit gleichzeitig streng geregelten Sujets brachten die Ikonenmaler über Jahrhunderte in der immer gleichen Weise im Bild zur Erscheinung; sie wiederholten die kanonisierte Form, indem sie die streng normierte Bildkomposition immer und immer wieder auf ihre Ikonen übersetzten.33

4.1.2

Ikone: Sehen lassen des Ungesehenen

Nihil visible In seinen Überlegungen zur Ikone sagt Pavel Florenskij, dass es das Ziel des Ikonenmalers sei, ein Bild zu schaffen, welches zur übersinnlichen Erkenntnis verhilft.34 Florenskij spielt in diesem Zusammenhang auf die doppelte Bildwelt an, die sich in jene der sinnlich fassbaren Formen und jene der geistigen, d.h. göttlichen Wirklichkeit teilt. Für Florenskij birgt jede Ikone die Möglichkeit der geistigen Offenbarung, weil sie – zunächst als Wiederholung und Übersetzung – immer den gleichen geistigen Inhalt hat.35 Hier folgt Florenskij der Urbild-Abbild-Relation, wie sie die byzantinischen Ikonophilen lehren, d.h. jede neu angefertigte Ikone bezieht sich auf ein Original – ein Urbild, für dessen Existenz die Ikone Hinweis ist: »Ikonen müssen in Übereinstimmung mit den beglaubigten Bildern des geistigen Seins gemalt werden, ›nach Bild, Ebenbild und Wesen‹.«36 Wie lässt sich demgegenüber nun das künstlerische Tun des Ikonenmalers einordnen, das sich – wie im vorhergehenden Abschnitt verdeutlicht – auf den Kanon stützt? Moderne Ikonentheorien beschreiben das Tun des Ikonenmalers als Gebung in dem Sinne, dass die von ihm geschaffenen sichtbaren Formen Gabe des Alteritären ist: Insofern ein Ikonenmaler geistige Standhaftigkeit besitzt, es ihm gelingt, sich durch entsprechende asketische Übungen von jeglicher Selbstverführung zu befreien, erfährt der Ikonenmaler – Florenskij folgend – die Gabe göttlichen Schöpfertums.37 Askese versteht Florenskij dabei als Übung, die es dem Maler ermöglicht, zwischen dem weltlichen Sein und dem Transzendenten zu unterscheiden. Nur 33

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Der Begriff der Übersetzung (russ.: перевод) gehört in Russland zur Terminologie des Ikonenmalers. Vgl. das Vorwort von Boris Alexandreevič Uspenskij: »Zur Untersuchung der Sprache alter Malerei«, in: Lev F. Shegin: Die Sprache des Bildes, Dresden 1982, S. 8. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 74. Vgl. ebd. S. 80. Ebd. S. 100. Vgl. ebd. S. 152ff.

4. Der Bildraum der Ikone

so kann es einem Maler gelingen, etwas sichtbar zu machen, das von der höheren göttlichen Realität ausgeht. Das Bild, das der Ikonenmaler vom Ort des Unsichtbaren her in Farbe sichtbar erscheinen lässt, darf nicht als bloße Reproduktion gesehen werden, sondern ist das Überführen in die Sichtbarkeit, was vom Unsichtbaren herrührt. Für Florenskij beruht das, was der Ikonenmaler in sichtbare Formen fasst, auf einer Art Vision – auf einem sinnlich nicht fassbaren bildlichen Erlebnis also, das dem Ikonenmaler erschienen ist, und das er als Ikone in die Sichtbarkeit überträgt. Das Erscheinen dieser Bilder vergleicht Florenskij mit dem Traum, wobei letztlich entscheidend ist, das Erschienene als wahres Bild zu erkennen. Der Traum ist für Florenskij eine Reflexion des Unterbewusstseins und der Moment, in dem die andere Welt erscheint.38 Diese andere Welt definiert Florenskij als nihil visible – als eine nicht sichtbare Welt, die sich im Traum den weltlichen und damit sichtbaren Bildern annähert und so gesehen werden kann.39 Ausgehend vom religiösen Weltbild Florenskijs, das platonisch geprägt ist, darf das nihil visible als das angesehen werden, was es den Menschen möglich macht, sich der allem zugrunde liegenden Idee, im Sinne von visible als ein zu sehen, in der Sichtbarkeit anzunähern. Zunächst begreift Florenskij den Traum als einen Übergang von einer Sphäre zu einer anderen. Dabei unterscheidet er zwei Traumphasen: die abendlichen und die morgendlichen Träume. Den abendlichen Träumen weist Florenskij eine psychophysische Bedeutung zu, d.h. sie sind von täglichen Eindrücken beeinflusst und spiegeln das täglich Erlebte wider.40 Die morgendlichen Träume sind dagegen »reingewaschen von aller Empirie«41 , d.h. frei von jeglichen weltlichen Einflüssen. Diese morgendlichen Träume sind für Florenskij von mystischer Natur und lassen Bilder einer anderen Welt erscheinen.42 Es sind nun diese morgendlichen Träume, in denen, Florenskij folgend, Bilder als die Erfahrung einer anderen – einer höheren – Wirklichkeit erscheinen. Der Traum als Vergleichsbeispiel markiert dabei die Grenze zwischen der niederen, hiesigen und der höheren geistigen Sphäre

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Dass Florenskijs Definition des Traums sich von Freuds Theorie unterscheidet, zeigte jüngst Clemena Antonova. Beide, sowohl Freud als auch Florenskij, gehen von zwei Traumphasen aus. Freud spricht dabei von Träumen, die von externen wie internen Stimuli verursacht werden, wobei sich seine psychologischen Untersuchungen um letztere drehen. Florenskij sieht die jeweiligen Traumphasen immer von externen Einflüssen verursacht. Siehe hierzu Clemena Antonova: Space, Time and Presence in the Icon: Seeing the World with the Eyes of God, Surrey/Burlington 2010, S. 19f. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 48. Vgl. ebd. S. 48. Vgl. ebd. S. 49. Vgl. ebd. S. 48.

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Die Ikone und das Undarstellbare

– ein Übergang, der sich für Florenskij ebenso auf die Phase des künstlerischen Schaffens anwenden lässt: »Denn die Kunst ist verdichteter Traum.«43 Das Vermögen, zwischen der seienden und der geistigen Welt zu agieren und die erschienenen Bilder der geistigen Wirklichkeit in die Sichtbarkeit zu übertragen, ist für Florenskij die Leistung, die ein Künstler zu erbringen hat: Ein wahrer Künstler lässt sich nicht von der bloßen Sichtbarkeit leiten, zeichnet kein Abbild der hiesigen Welt, sondern drückt in symbolischen Bildern die andere Wirklichkeit aus, die er geistig erfahren hat.44 Gerade im Symbolischen sieht Florenskij die Möglichkeit, dass das Unsichtbare im Sichtbaren seinen Ausdruck findet, denn er definiert Symbol als etwas, »… das selbst zeigt, was es nicht ist, was größer ist als es selbst, und das sich dennoch wesentlich mittels seiner offenbart«45 . Dem folgend ist das Symbol der Ort, an dem sich die Wirklichkeiten – also die weltliche und die göttliche Realität – durchdringen.46 In den Symbolen sieht Florenkij also die Möglichkeit, der unsichtbaren göttlichen Wirklichkeit im Sichtbaren zu begegnen, wobei dem symbolischen stets Alterität anhaftet, zeigt es doch, was es offensichtlich nicht zu sein vermag. Das Bild, das ein Künstler schafft, ist für Florenskij nur dann wahres Bild, wenn es sich nicht von den Gesetzmäßigkeiten der seienden Welt leiten lässt, sondern dessen sichtbare Formen den Abstieg von der höheren Welt versinnbildlichen: Wahres Bild ist jenes Bild, welches das nihil visible durch symbolische Formen sichtbar fasst. Hier berühren sich Bilder des Abstiegs und des Aufstiegs: Die Kunst des Abstiegs ist – Florenskij folgend – umgekehrt strukturiert, d.h.: Während die Kunst des Aufstiegs ausgehend vom weltlich Seienden den Gesetzmäßigkeiten der Zeit unterliegt, ist das Bild des Abstiegs im Verhältnis zu dieser Zeit umgekehrt strukturiert.47 Hier findet sich bereits ein entscheidender Anknüpfungspunkt zur umgekehrten Perspektive, die der Ikone als Konstruktionsverfahren zugrunde liegt und an späterer Stelle näher beleuchtet wird. Das Ungesehene Die Ikone markiert – Florenskij folgend – die Grenze zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt. Dabei ist es das Ziel der Ikonenmalerei, Vehikel übersinnlicher 43 44 45

46 47

Ebd. S. 50. Vgl. ebd. S. 49ff. Pavel Florenskij: »Imeslavie kak filosofskaja predposylka«, in ders.: U vodorazdelov mysli, Bd. 2, Moskau 1990, S. 287; hier in der Übersetzung von Ľubomír Žák: »Das symbolische Denken bei Florenskij«, in: N. Franz/M. Hagemeister/F. Haney (Hg.): Pavel Florenskij – Tradition und Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 196. Siehe außerdem Kap. 2.2 εἰκων und Ikone. Vgl. Žák: »Das symbolische Denken bei Florenskij«, a.a.O., S. 200. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 48 und 50. Hier verdeutlicht sich bereits der Sinn der umgekehrten Perspektive als Konstruktionsverfahren der Ikone, was Florenskij in Die umgekehrte Perspektive dann ausführlich analysiert.

4. Der Bildraum der Ikone

Erkenntnis zu sein. Dem folgt die These, dass das, was die Ikone zu sehen gibt, nicht mit dem zusammenfällt, was im Durchschreiten der gegebenen Welt in unseren Blick fällt. Hier kann an Jean-Luc Marion angeknüpft werden, der das, was der Maler sichtbar erscheinen lässt, als jenes definiert, das dem nur blickenden Auge – also jenem Blick, der an der sichtbaren Welt hängen bleibt –, verborgen geblieben wäre. Das nihil visible ist bei Marion zweigeteilt: Zum einen das Unsichtbare, das immer unsichtbar bleibt; zum anderen das Ungesehene – die ὕλη –, das vom Unsichtbaren herrührt, welches es zu überwinden verlangt und in die Sichtbarkeit drängt.48 Für Marion bestehen nun die Leistung und die Fähigkeit des Malers darin, dem Ungesehenen die Form zu geben und so Präsenz zu verleihen. Dabei sind nur jene wahre Maler, denen es gelingt, dem Ungesehenen in der Weise sichtbare Formen zu verleihen, dass sie jede ὕλη als noch ungesehenes Phänomen in der Sichtbarkeit auftauchen lassen. Dieses Phänomen überrascht den sehenden Betrachter des Bildes als ein völlig Neues – als ein »Monstrum, das par excellence Zeigbare [montrable], das rohe Unvorhergesehene, das Wunder. Miraculum, das par excellence Bewundernswerte«49 . Hier verdeutlicht sich, dass Marion jenen Bildern eine Absage erteilt, die eine bloße Nachahmung der sichtbaren Welt sind. Als ein völlig Neues ist dieses Phänomen allem Sichtbaren zunächst noch völlig unähnlich – ein Monströses, das seinen Betrachter überrascht. Marion bestimmt jene Bilder als wahre Bilder, die dem Maler wie dem Betrachter vorhergehen.50 Hier lehnt er sich an die antike Auffassung an, die besagt, dass ein Bildhauer selbst nichts Neues erschafft, sondern vom Stein das entfernt, was die eigentliche Form verhüllt: Das Verhüllte ist das Ungesehene als innerer Abdruck (Ektypon), der aus dem Grund des Steins bzw. des Gemäldes auftaucht und der von Hammer und Meißel wie Pinselstrich gespeichert wird.51 Sein Begriff der inneren Ektypen erinnert an jene Abdrücke, die Pseudo-Dionysios Areopagites in seiner Lehre der Teilhabe als »Abkömmlinge« des höherangingen Seins bestimmt: Abkömmlinge des obersten Prinzips also, dem der Sinn allen Seins als unwandelbare Geeintheit inne ist.52 Der Areopagite vergleicht dieses Teilhabe-Prinzip mit einem Siegel: Als oberstes Prinzip sind mit dem Siegel dessen Siegelabdrücke, die seine »Abkömmlinge« (ἐκτυπώματα) sind, teilhaftig verbunden.53 Für Marion steht

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Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 48. Ebd. S. 51. Vgl. ebd. S. 56. Vgl. ebd. S. 58. Siehe dazu Kap. 2.1.2.1 Schöpfungstheologie. Vgl. Pseudo-Dionysios Areopagites DN II 5 und 6.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Siegel synonym für das Unsichtbare, von dem aus das Ungesehene als Abkömmling – die Ektypen – in die Sichtbarkeit drängt. Die Möglichkeit, Bilder nicht nur von den Dingen anzufertigen, die als Seiendes in der Welt der Dinge wahrgenommen werden, sondern auch von jenen, die mit dem geistigen Auge geschaut wurden, dieser Gedanke findet sich bereits bei Basilios dem Großen, an dessen Worte sich Theodor Studites anlehnt: Zunächst zieht Basilius der Große eine Parallele zwischen Wort und Bild, indem er sinngemäß sagt, dass die Bilder (εἰκονες) in Fraben festhalten, was der Stift in Worten auf Papier festhält (Heilige Schrift).54 Theodor Studites erweitert diesen Gedanken dahingehend, dass nicht allein das in Farbe festgehalten werden soll, was tatsächlich sichtbar ist, sondern auch das, was im Denken und im Glauben an Gott geistig geschaut wird.55 Das Ungesehene bietet für Florenskij die Spur, die der Maler in Farbe bindet.56 Spuren, die – Marion folgend – das Ungesehene aus eigener Kraft heraus auferlegt.57 Der Maler enthüllt dieses Ungesehene und holt es mit seinen Pinselstrichen ins Sichtbare. In diesem Sinne produziert der Maler nicht, sondern er speichert das Auftauchende in einer Art passivem Tun: »Der Maler zeichnet nichts. Wie ein Wünschelrutengänger macht er nur das aus, was hervorbrechen kann.«58 Was sich in dieser Aussage Marions verdeutlicht, ist das objektive Agieren des Malers. Subjektiv handelt ein Maler dann, wenn er produziert, indem er etwas schafft, das seinem eigenen Begehren, etwas zu erblicken, folgt: Wenn er etwas schafft, das sich nach den Erwartungen und Bedürfnissen des Marktes richtet. Für Marion sind hierfür die Fernsehbilder ein Beispiel.59 Dieses Tun, das durch ein subjektives ErblickenWollen gelenkt ist, reproduziert bereits Sichtbares. Für Marion verliert hier jedes Werk seine Autorität, denn ihm ist ein Blick auferlegt, genauso zu erscheinen – »als einfacher Repräsentant des Begehrens«60 , ein Idol. Dagegen verlangt ein wahres Bild vom Betrachter, es zu sehen.61 Ein solches Bild wahrt seine Autorität, indem es vom Unsichtbaren als Ungesehenes herrührt, das durch die Pinselstriche gespeichert wird und sich sichtbar aufdrängt und im Bild als völlig neues Phänomen erscheint – die Ikone: Sie überrascht und verwirrt den Betrachter, weil sie das sub-

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Siehe hierzu Kap. 2.1.1 Das theologische Moment der εἰκων. Vgl. Theodor Studites Antirrehticus I 340D-341A [PG 99]. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 106ff. Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 57. Ebd. S. 57. Siehe hierzu ausführlich Kap. 3.1.2 Ikone als agierendes Bild Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 55. Das Andere, und dies wurde im vorhergehenden Kapitel ausführlich dargelegt, offenbart sich für Marion im Schwarz der Pupillen. Siehe dazu Kap. 3.1.2 Ikone als agierendes Bild.

4. Der Bildraum der Ikone

jektiv Vorhergesehene über Bord wirft, indem sie als Unerwartetes die Erwartungen überspannt.62 Doch das Ungesehene, gespeichert als ein Pinselstrich im Sichtbaren, ist immer auch dem Blick des Malers ausgesetzt, der versagen könnte. Für den Maler ist es ein Akt als Schau, das Ungesehene in die Sichtbarkeit zu bringen, wobei – Marion folgend – diese Schau als Empfang einer Gabe für die Augen zu verstehen ist, die dies nicht erwartet haben. Das, was diese Gebung sichtet, ist das Ungesehene, was ohne den Maler unsichtbar geblieben wäre. Indem der Maler seinen eigenen und subjektiven Blick überwindet, empfängt er sehenden Auges. In seinen Werken lässt der Maler zu, dass jenes sichtbar erscheint, was um sein Erscheinen ersucht – das Ungesehene – und sich so aus seiner eigenen Initiative heraus gibt.63 Diesen Ausführungen steht der Kanon der Ikone nicht entgegen, denn er birgt das erstrebenswerte Ziel, ein Bild Gottes zu malen. Der Ikonenmaler übt sich letztlich darin, das wahre Bild mit geschultem Pinselstriche in die Sichtbarkeit zu bringen, ohne die diesseitigen Bilder zu kopieren: Der Ikonenmaler zeichnet jenes Bild, das er als Gebung empfängt. Aber wie verhält sich diese Aussage zum Aspekt der Wiederholung, der hier der Ikone bescheinigt wurde? Das, was sich dem Maler gibt, ist nicht beeinträchtigt durch die Formen, wie sie der Maler von bereits geschaffenen Ikonen kennt, denn die alten Formen waren nichts Erfundenes, sondern die zum Ausdruck gebrachte göttliche Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit beeinflusst das durch das Wirken des Ikonenmalers sichtbar Gemachte und ist somit Ursache der sich wiederholenden und so kanonisierten Formen. In diesem Sinne verurteilt Florenskij keinesfalls die Ikonen Andrej Rublëvs als subjektiv erdachte Bilder, denn sie beruhen auf Visionen derselben Realität.64 Rublëvs Ikonen offenbaren die gleiche Wirklichkeit wie die ältesten erhaltenen byzantinischen Ikonen des Katharinenklosters (Sinai): »… die alte und die neue zugleich, die ersterschienene und die Wiederholung, wurde zu einem neuen Kanon, einem neuen Paradigma, das vom Bewußtsein der Kirche bestätigt und […] als Norm festgelegt wurde.«65 Ein Ikonenmaler empfängt sehend dann, wenn er sich vom weltlich Gegebenen loslöst, sich ganz dem Akt des Malens hingibt und nur im Zurücktreten von seinem Werk sieht, was sein Werken ergibt – was er sichtbar hat erscheinen lassen. Wie für Florenskij so ist auch für Marion der Akt des Malens an Askese gebunden, worüber sich der Maler vom weltlich Gegebenen loslöst, um so eine Gebung erwarten zu können – sie empfängt.66 Das, was sich gibt, ist bestimmt durch das Ungesehene

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Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 54. Siehe auch ebd. S. 57: »Der Maler speichert, er erfindet nicht.« Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 64. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, a.a.O., S. 93f. Ebd. S. 94. Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 64.

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Die Ikone und das Undarstellbare

selbst, das als Vorgesehenes vom Unsichtbaren herrührt, das als oberstes Prinzip verstanden werden darf. Obgleich es in dieser Gebung, die durch das Wirken des Malers sichtbar erscheint, es für den Betrachter der Ikone nicht um Offenbarung geht, so ist das Gemälde das Faktum, in dem sich das Ungesehene gibt, um empfangen zu werden.67 Gebung durch (διὰ) das Bild Wagen wir nochmals einen Blick auf das, Was sich gibt, um dem Wie des sich Gebens näher zu kommen. Die dem Bild per Definition zugewiesene Möglichkeit der Sichtbarmachung impliziert immer eine gewollte Unmöglichkeit von Darstellbarkeit. Das ist der im zweiten Kapitel dieser Arbeit bestimmte ikonische Überschuss.68 Im Hinblick auf ihre medialen Eigenschaften, wie sie im dritten Kapitel der Arbeit hervorgehoben wurden, zeigt sich, dass die Ikone gerade in ihrer Bestimmung als Medium das paradoxe Vermengen des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren aufrechtzuerhalten weiß. Jedoch fungiert ihre Vermittlerrolle dabei nicht von »unten« nach »oben«, wie es im Falle der übergehenden Verehrung zu denken ist, sondern durch das Bild – διὰ τῆς εἰκόνος – vermittelt sich das Ungesehene im Sichtbaren. Im Unterschied zu technischen Medien, die eine gegebene Botschaft übertragen und kommunizieren, bringt das Bild als Medium etwas hervor, das durch (δία|dia) das Bild (zu allererst) Sichtbarkeit erlangt, worin der Philosophie Jean-Luc Marions gefolgt wird. Doch die Betonung liegt hier nun auf durch, in dessen Modus sich das Mediale als performative Kraft bewegt: Ein Bild lässt Etwas durch (δία) beispielsweise Holz und Farbe sichtbar werden – διὰ τῆς εἰκόνος –, das sich im Rahmen der medialen Möglichkeiten und der spezifischen Setzung performiert und so als Etwas erscheint. Dabei ist das Was-sein durch ein Wie-sein geschnitten. Dieter Mersch sieht genau dort den Ort des Medialen, denn: »Kein ›Was‹ kommt ohne ein ›Wie‹ aus, wie kein ›Als‹ ohne dessen unterschiedliche Facetten seine Funktion übernehmen kann.«69 Zunächst sei vom Verhältniswort als ausgegangen, dem Mersch eine Differentialität bescheinigt: Als Präposition zwischen Nomen und Verben stiftet es das Verhältnis oder vermittelt zwischen diesem Bedeutungsträger eines Satzes; doch im Erscheinen als Etwas ist das als gleichzeitig vom Medialen bestimmt.70 Das Mediale agiert dabei als ein Mitkonstituierendes, ist somit das Ereignis, das als »Zuvor-

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Zum Thema der Offenbarung siehe Kap. 2.2.2 Die Offenbarung der Ikone. Siehe dazu Kap. 2.2.2.2 Sichtbarmachung. Dieter Mersch: »Wozu Medienphilosophie? Eine programmatische Einleitung«, in: D. Mersch und M. Meyer (Hg.): Einschnitte: zur Genesis und Geltung medienphilosophischer Reflexionen, Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie Vol. 1, Berlin/München/Boston Mass. 2015. Hier zitiert nach: http://www.dieter-mersch.de/Texte/PDF-s, S. 23. Vgl. Mersch: »Wozu Medienphilosophie? Eine programmatische Einleitung«, a.a.O., S. 23.

4. Der Bildraum der Ikone

kommendes« das wie des Symbolischen, also dessen Bedeutung, bestimmt.71 Weil das Mediale sich dabei in einer Abwesenheit hält, spricht Dieter Mersch von einer Negativität des Medialen: »Als Mitgängiges, das die Darstellung formiert, bleibt es dieser immanent, um sich im Dargestellten auf immer zu entziehen.«72 Das Erscheinen von etwas als etwas erweitert sich für Mersch in der Dimension des durch, die er als eine Praktik versteht, die die relationalen Möglichkeiten des als aufrechterhält: Die Proposition ist – etwas ist etwas – reduziert einen logischen Aussagesatz auf eine eindeutige Zuordnung hin. Dagegen impliziert die Präposition als in einem Aussagesatz eine Offenheit, weil sich darin eine Vielzahl von Relationen ermöglicht.73 Zu fragen ist, unter welchen Bedingungen sich Etwas als Etwas zeigen kann. Dieses wie der Realisation des als erfolgt nun in einem durch (δία): Etwas erlangt als etwas durch etwas Sichtbarkeit –, wobei das durch nach Mersch an gewisse Praktiken gebunden ist. D.h., Hervorbringen unterliegt Regeln, Strukturen, Techniken und Materialitäten.74 Dabei begründet sich das durch als mögliche Formatierung, die wiederum von Kontexten abhängig ist bzw. in diese eingebunden ist. Mediation ist nun geprägt von diesem durch, was sich, Mersch folgend, bereits im aristotelischen Begriff des Diaphanen (Durchscheinen) ausdrückt und im lateinischen per – und nicht im trans – sein Pendant findet. Ganz entscheiden ist nun, dass Mersch in diesem durch (δία/per) das aktive Momentum sieht, also etwas als etwas durch etwas erscheint und sich in diesem »Durchgang« erst als ein spezifisches als performiert.75 Das, was erscheint, ist in diesem Sinne kein definitives ist, sondern im Kontext der Setzung ein mögliches relationales als, das unter anderen Bedingungen auch anders hätte hervorgehen können. Was ist nun das spezifische als, das sich in der Ikone performiert? Inwiefern kann die hier in Anlehnung an Dieter Mersch dargelegte performative Möglichkeit des Medialen auf die Ikone übertragen werden? In ihrer Beantwortung der Frage τί ἐστιν εἰκών; – Was ist eine Bild? – halten die byzantinischen Ikonophilen die relationalen Möglichkeiten des Bildlichen aufrecht, weil sich das Bild stets in Bezug und damit in Relation zu seinem Urbild bestimmt, das so Konstituierendes wie Mitgängiges ist – μέτοχοι χάριτος γίνονται. Das Urbild ist als Korrelat das Vorgängige des Bildes, das durch (δία) dieses als etwas sichtbar wird: Gott als Bild (εἰκών) des Sohnes und der Gottessohn als Ikone (εἰκών). Im Moment ihrer Setzung birgt die Ikone ihre Performativität, denn indem sie als ein mögliches Bild Gottes bestimmt ist, ereignet sich ihr Sinn, welcher der Ikone als deren (andere) Wirklichkeit immer schon vorausgeht: Ihr Sinn ist ihr

71 72 73 74 75

Vgl. ebd. S. 27. Ebd. S. 28. Vgl. ebd. S. 28. Vgl. ebd. S. 32. Vgl. ebd. S. 33.

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Die Ikone und das Undarstellbare

(unsichtbares) göttliches Urbild, das die Ikone in ihrer Sichtbarkeit konstituiert, sich der Sichtbarkeit selbst jedoch entzieht. Die Betonung liegt hier auf dem spezifischen Sein der Ikone Christi. Es ist bereits angemerkt worden, dass die Ikone als Bild des Sohnes das Undarstellbare ausstellt, indem sie es nicht zeigt: Die (ontologische) Differenz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem ist in der Figur des Sohnes immer schon als solche vorgegeben: Der Sohn selbst führt das göttliche Wesen als Unsichtbares mit sich. Das wie der Sichtbarwerdung ist nun von Gott her zu denken: In seiner Selbstentäußerung wird der transzendente Gott (Sein) im endlichen Sein als etwas sichtbar und zwar als Bild (Ikone) des wesensgleichen Sohnes (Seiendes). In der theologischen Setzung des Sohnes begründet sich das performative Moment des ontologischen Bildes, denn die Faktizität des Sohnes ist die Entäußerung Gottes in der Sichtbarkeit, durch das sich Gott selbst als Unentscheidbares und Undarstellbares mitteilt und vermittelt: Gott tritt als etwas Anderes ins Bild und wahrt so seine Alterität. Christus ist Faktum der Sichtbarwerdung Gottes als Unsichtbarer. Das ist der Widerstand des Bildes gegen die Mediation, wie dies Mondzain betont: Ein Bild inkarniert, d.h. es ist irreal in dem Sinne, dass es sich substantiell unterscheidet – etwas als etwas sehen lässt und einem Blick darbietet.76 Aus dieser Unmittelbarkeit schöpft die Ikone ihr spezifisches Potential. Die Ikone verweist als artifizielles Abbild des (ontologischen) Bildes auf das undarstellbare Urbild, weil sie dessen Selbstentäußerung in (der spezifischen) Form der sichtbaren Gestalt des Sohnes zeigt, durch welche das artifizielle Bild zum Transzendenten hin tendiert: Die Ikone lässt das Bild als Bild erscheinen, wobei diese Doppelung es vermag, die unsichtbare göttliche Natur mitzuführen, die das Mitgängige des ontologischen Bildes ist: Die Ikone ist Sichtbarmachung des Undarstellbaren, obwohl sie es nicht offensichtlich zeigt, jedoch öffnet sie sich als Bildmedium in ihrer Darstellung zum Undarstellbaren hin, indem sie etwas als Etwas (Ikone des Sohnes) durch Etwas (Holz und Farbe) hervorbringt. Die Ikone impliziert in ihrer Sichtbarmachung eine Offenheit zu ihrem Urbild hin, weil sie das Bild (Gottessohn) als Bild wiederholt. In diesem Sinne schafft die Ikone im Moment ihrer Setzung weder Ereignis noch eine Bedeutung.77 Würde sie als Bildwerk eine Bedeutung generieren, käme sie einem Idol gleich, denn in diesem Fall könnte sich eine Gleichstellung zwischen Bild und Abgebildetem vollziehen. Die Ikone bringt vielmehr durch Holz und Farbe etwas zur Darstellung, wobei

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Vgl. Mondzain: Können Bilder töten? a.a.O., S. 23f. und 41. Vgl. Dieter Mersch: »Medialität und Undarstellbarkeit«, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 78.

4. Der Bildraum der Ikone

diese Darstellung – egal wie oft wiederholt – immer als das Singuläre erscheinen soll.78 Das Singuläre der Ikone sind die dargestellten Heiligen, die aufgrund des Kanons in einer spezifischen Darstellungsweise wiederholt werden. Hier sei erinnert, dass es, den byzantinischen Ikonentheorien folgend, die Hypostase ist (lat. persona), die sich nicht substantiell, sondern als ein Ähnliches in der Ikone vergegenwärtigt.79 Dem Modus kanonischen Wiederholens liegt der Anspruch zugrunde, nicht das Bildwerk, sondern das, was erscheint – die Hypostase –, als Singuläres sichtbar zu machen. Vom Dargestellten rührt die Heiligkeit des Bildes her – vom eigentlichen Abwesenden also, von dem, um Walter Benjamins Begriff ins Spiel zu bringen, das Auratische des Bildes ausgeht.80 In Anlehnung an Benjamin bestimmt Mersch Aura als eine Gabe des ursprünglich Alteritären, von dem her sie (die Aura) ihren Ausgang hat.81 Diese Gebung ist im Falle der Ikone eine Besondere, denn das Andere der Ikone – dies sei nochmals 78

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Hier ist abermals dem bereits dargelegten Duktus der Unversehrtheit des Materiellen zu begegnen. Jene Unversehrtheit fordern bereits die byzantinischen Ikonophilen: Die Ikone folgt in ihrem materiellen Gebensein nur dann dem wahren Bild, wenn das Dargestellte unbeschadet erscheint, das materielle Bild seinen Eigensinn also nicht offenbart. Die Ikone, bestimmt als Bildmedium, bringt etwas hervor. In dieser Rolle ist Bild gebunden an Materialität, durch die sich letztlich Etwas als Etwas hervorbringt. In dieser Lesart lässt sich Eigensinn als ein Rauschen bezeichnen. Rauschen meint im Bereich der Kybernetik die Störungsanfälligkeit technischer Medien. Nach Dieter Mersch lässt sich Rauschen genauso an nichttechnischen Medien festmachen: So weisen die verwendeten Farbstoffe Risse auf, genauso können sich die einzelnen Materialien mit einer Patina belegen, was beim Bild Rauschen verursacht, d.h. der Materialität des Bildes käme Sperrigkeit und damit Undiszipliniertheit genauso zu wie Singularität (Vgl. Mersch: »Medialität und Undarstellbarkeit«, a.a.O., S. 83). Ein Bild ist in diesem Sinne, Mersch weiter folgend, ein Einziges, das, obwohl es wiederholt, immer ein Dieses ist. D.h., verschiede Bilder können das Gleiche zeigen, dies jedoch nie als ein Selbiges (siehe Mersch: »Wozu Medienphilosophie? Eine programmatische Einleitung«, a.a.O., S. 19). Siehe hierzu Kap. 2.2.2.2 Sichtbarmachung. Hier sei ergänzt, dass sich die Aura zum Materiellen hin »verschiebt«, wenn die Materialität der Ikone ihren Eigensinn zeigt. D.h.: Obliegt der Ikone ein Rauschen, »verschiebt« sich die Aura hin zum Materiellen, käme dem Holz und der Farbe Einzigartigkeit zu, womit die Wiederholung der ikonischen Erscheinung scheitert. Dem wird dahingehend begegnet, dass die Ikone entfernt wird oder, so wird es heute praktiziert, sie einer Reinigung unterzogen wird. Die Reinigung einer Ikone darf nicht mit einer rituellen Handlung verwechselt werden, denn dieser Vorgang bezieht sich allein auf die Materialität des Bildes und nicht auf das Dargestellte. Eine rituelle Reinigung ist etwa die in der Antike vollzogene Mundwaschung von Götterstatuen. Diesem Akt obliegt das Verständnis einer Transformation eines artifiziellen Bildes hin zu einem ontologischen Bild. Vgl. hierzu ausführlich Angelika Berlejung: Die Theologie der Bilder: Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik, Göttingen 1998. Vgl. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002, S. 50f.

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betont – ist das undarstellbare Göttliche. In Abgrenzung zur Spur, in der wir einer Sache habhaft werden, ist Aura für Benjamin »Erscheinung einer Ferner, so nah das sein mag, was sie hervorruft«82 . Für Marion drückt sich das Auratische gerade in den Ikonen aus, die ein Phänomen sichtbar machen, das so noch nie sichtbar gewesen ist – ein Neues, das sich als Ungesehenes gibt und sich vom Unsichtbaren her konstituiert. Das Ungesehene gibt aus eigener Kraft heraus die Spur vor, die der Maler im Bild als Linien und Formen sichtbar hinterlässt.83 Das Ungesehene überrascht den Betrachter in der völlig neuen Weise, in der es sich sichtbar gibt, und bleibt gleichzeitig unnahbar und damit fern, weil es sich entzieht, d.h. nicht in den Besitz übergeht: Es ist einmalige Sichtbarkeit als Abkömmling – Ektypus –, der aus dem Grund des Bildes auftaucht, der sich damit als Ungesehenes gleichzeitig negiert.84

4.2 4.2.1

Die Ikone und das Wie ihrer Darstellung Eine das Sehen betreffende Lehre

Umgekehrte Perspektive Im Folgenden wird nach den besonderen Möglichkeiten des künstlerischen Darstellens der Ikone gefragt. Dabei steht die »umgekehrte Perspektive« im Vordergrund der Untersuchungen. Sie wird als das Konstruktionsverfahren der Ikone gehandhabt – eine Auffassung, die es zu bedenken gilt. Ausgehend von einer bestimmten Lehre des Sehens wird nach der möglichen Praxis des ansichtigen Darstellens der Ikone gesucht. Im Vordergrund der Untersuchungen steht dabei die Frage, inwiefern sich die theologische und christologische Sinndimension der Ikone an deren kompositorischen und damit ästhetischen Merkmalen reflektieren lassen. Der Vorschlag eines Begriffs, der die Praxis ansichtigen Darstellens der Ikone adäquat bezeichnet, ist dabei ein gesetztes Ziel. Konstruktion ist als rein technischer Begriff zu verstehen. Vom lateinischen constructio stammend, was so viel wie Zusammenschichtung heißt, meint Konstruktion hier den Aufbau eines Bildes, egal ob damit ein rein technisch gezeichnetes Bild wie eine Bauzeichnung gemeint ist oder das Bild, das von einem Künstler mittels Pinselstrichen geschaffen wird. Parallel dazu meint Perspektive die das Sehen betreffende Theorie und deren Übertragung auf die zweidimensionale Fläche des

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Vgl. hier u.a. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, erste Auflage, 1963, Edition Suhrkamp 28, Frankfurt a.M. 1977, S. 16 u. ebd. Anm. 7. Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 57. Vgl. ebd. S. 59f.

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betont – ist das undarstellbare Göttliche. In Abgrenzung zur Spur, in der wir einer Sache habhaft werden, ist Aura für Benjamin »Erscheinung einer Ferner, so nah das sein mag, was sie hervorruft«82 . Für Marion drückt sich das Auratische gerade in den Ikonen aus, die ein Phänomen sichtbar machen, das so noch nie sichtbar gewesen ist – ein Neues, das sich als Ungesehenes gibt und sich vom Unsichtbaren her konstituiert. Das Ungesehene gibt aus eigener Kraft heraus die Spur vor, die der Maler im Bild als Linien und Formen sichtbar hinterlässt.83 Das Ungesehene überrascht den Betrachter in der völlig neuen Weise, in der es sich sichtbar gibt, und bleibt gleichzeitig unnahbar und damit fern, weil es sich entzieht, d.h. nicht in den Besitz übergeht: Es ist einmalige Sichtbarkeit als Abkömmling – Ektypus –, der aus dem Grund des Bildes auftaucht, der sich damit als Ungesehenes gleichzeitig negiert.84

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Die Ikone und das Wie ihrer Darstellung Eine das Sehen betreffende Lehre

Umgekehrte Perspektive Im Folgenden wird nach den besonderen Möglichkeiten des künstlerischen Darstellens der Ikone gefragt. Dabei steht die »umgekehrte Perspektive« im Vordergrund der Untersuchungen. Sie wird als das Konstruktionsverfahren der Ikone gehandhabt – eine Auffassung, die es zu bedenken gilt. Ausgehend von einer bestimmten Lehre des Sehens wird nach der möglichen Praxis des ansichtigen Darstellens der Ikone gesucht. Im Vordergrund der Untersuchungen steht dabei die Frage, inwiefern sich die theologische und christologische Sinndimension der Ikone an deren kompositorischen und damit ästhetischen Merkmalen reflektieren lassen. Der Vorschlag eines Begriffs, der die Praxis ansichtigen Darstellens der Ikone adäquat bezeichnet, ist dabei ein gesetztes Ziel. Konstruktion ist als rein technischer Begriff zu verstehen. Vom lateinischen constructio stammend, was so viel wie Zusammenschichtung heißt, meint Konstruktion hier den Aufbau eines Bildes, egal ob damit ein rein technisch gezeichnetes Bild wie eine Bauzeichnung gemeint ist oder das Bild, das von einem Künstler mittels Pinselstrichen geschaffen wird. Parallel dazu meint Perspektive die das Sehen betreffende Theorie und deren Übertragung auf die zweidimensionale Fläche des

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Vgl. hier u.a. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, erste Auflage, 1963, Edition Suhrkamp 28, Frankfurt a.M. 1977, S. 16 u. ebd. Anm. 7. Vgl. Marion: Die Öffnung des Sichtbaren, a.a.O., S. 57. Vgl. ebd. S. 59f.

4. Der Bildraum der Ikone

Bildes.85 Es sei betont, dass hier die Meinung vertreten wird, dass es nicht das Konstruktionsverfahren für Bilder gibt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass jede Weise des perspektivischen Darstellens, sei es die Axonometrie, die umgekehrte Perspektive, die Kavalier- oder die Zentral- bzw. Linearperspektive, auf ihre je eigene Art das Darzustellende hervorhebt – je nach dem, welchem Zweck das gezeichnete Bild letztlich dienen soll: ob als Aufriss eines geometrischen Körpers, als Bauzeichnung, als Landkarte oder als künstlerisches Bild. Damit wird sich von einer Polemik des Für und Wider der verschiedenen Konstruktionsverfahren von vornherein distanziert, vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit perspektivischen Darstellens als künstlerischem Verfahren. Der Begriff Konstruktion läuft jedoch Gefahr, mit den Ausführungen im Fahrwasser einer rein technischen Beschreibung der Formen und Strukturen, die in einem Bild perspektivisch dargestellt werden, unterzugehen. Tatsächlich soll der Versuch unternommen werden, die die umgekehrte Perspektive betreffende Praxis ansichtigen Darstellens näher zu untersuchen. Dabei ist die das Sehen betreffende Lehre der Ausgangspunkt. Dieser Ansatz kommt jenen bekannt vor, die sich mit der Geschichte der Zentralperspektive beschäftigen.86 An dieser Stelle ist ein kritischer Punkt erreicht, denn wenn von der »umgekehrten Perspektive« gesprochen wird, dann stellt sich die Frage, worauf sich die Umkehrung eigentlich bezieht.87 Den Begriff der sogenannten »umgekehrten Perspektive« führt der deutsche Kunsthistoriker Oskar Wulff in seinem 1907 erschienenen Artikel »Die umgekehrte Perspektive und die Niedersicht«88 ein. Anhand verschiedener Blickkonstellationen konstatiert Wulff für Bildwerke der byzantinischen Tradition eine innere Perspektive. Dieser Perspektive folgend werden die in einem Bild erscheinenden Personen so dargestellt, wie sie die Hauptperson des Bildes sehen würde. Die Weise dieser Darstellung verdeutlicht Wulff etwa an Personen, die, obwohl sie im Vordergrund des Bildes erscheinen, kleiner dargestellt sind, als Personen, die im hinteren

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An dieser Stelle könnten ebenso die von Erwin Panofsky ins Feld geführten Begriffe visio perspectiva (Lehre des Sehens) und ars perspectiva (Theorie des Darstellens) aufgegriffen werden. Siehe dazu Erwin Panofsky: »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, in Hariolf Oberer und Egon Verheyen (Hg.): Erwin Panowsky. Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1992, S. 99-167. Siehe dazu ebenso Franziska Kümmerling: Nicht ganz gewöhnliche Bilder – Perspektivtheorie nach Erwin Panofsky, Dissertation vorgelegt dem Rat der Philosophischen Fakultät der Universität Jena, 2013 (unveröffentlicht). Vgl. hierzu Kümmerling: Nicht ganz gewöhnliche Bilder – Perspektivtheorie nach Erwin Panofsky, a.a.O. Die gleiche Frage stellt Clemena Antonova: Space, Time and Presence in the Icon: Seeing the world with the eyes of Good, a.a.O. Oskar Wulff: »Die umgekehrte Perspektive und die Niedersicht. Eine Raumanschauungsform der altbyzantinischen Kunst und ihre Fortbildung in der Renaissance«, in: Heinrich Weizsäcker: Kunstwissenschaftliche Beiträge August Schmarsow gewidmet, Leipzig 1907, S. 1-40.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Bereich des Bildes zu sehen sind. Die Größe der im Bild dargestellten Person ist in diesem Fall unabhängig von der Bildebene, in der sie erscheint. Abhängig ist die Größe von der inneren Anschauung, die von der Hauptperson des Bildes herrührt: Je weiter weg eine Person von der Hauptfigur im Bild steht, umso kleiner ist sie dargestellt. Die Umkehrung bezieht sich in diesem Fall auf die Blickkonstellation. Diese findet ihren Ausgangspunkt nicht im Blick des Malers, der das Bild schafft, und ebenso wenig im Betrachter, der vor dem Bild steht. Der Blick rührt vielmehr von einem Akteur im Bild her – der Person, die Ausgangspunkt des bildlichen Narrativ ist. Im Sinne der Wulffschen Konzeption der »umgekehrten Perspektive« befindet sich der Betrachter im Bild, und von dessen Standpunkt her ist das Bild nach einem dreidimensionalen Raumverständnis konstruiert. Karl Doehlemann begegnet Wulffs Entwurf mit der Konzeption der Bedeutungsperspektive, der folgend sich die Größe der jeweiligen Figuren im Bild aufgrund deren Bedeutung ergibt.89 Doehlemanns Einwand ist richtig und ihm kann in einem weiteren Punkt gefolgt werden, denn entscheidend ist sein Hinweis, dass Wulff seinen Bildbeispielen aus der byzantinischen Zeit eine bildliche Raumauffassung (und damit zusammenhängende Größenverhältnisse) zuerkennt, die letztlich linearperspektivisch geprägt ist.90 Wulffs Begriff der sogenannten »umgekehrten Perspektive« ist von einer dreidimensionalen Bildauffassung geprägt, die den Bildraum der Ikone keinesfalls adäquat beschreiben kann, da diese Auffassung von Raum nicht dem einem Bild zugrunde gelegten Raumverständnis der byzantinischen Zeit entspricht. Doch Doehlemanns Ausführungen bescheinigen der byzantinischen Kunst eine Naivität, die jegliche mögliche Raumauffassung im Bild missen lässt – eine Behauptung, die, wie sich zeigen wird, widerlegbar ist. Wullfs Konzeption zur »umgekehrten Perspektive« wird vom russischen Philologen Boris Uspenskij aufgegriffen und weiterentwickelt. In seinem Aufsatz The Semiotic of the Russian Icon91 definiert Uspenskij für das Bild zwei Standpunkte: die des Malers und die des Betrachters.92 In einem linearperspektivisch konstruierten Bild fallen diese beiden Standpunkte in einem Punkt vor dem Bild zusammen – dem Fluchtpunkt. Dagegen bescheinigt Uspenskij den Bildern der alten Kunst zwei mögliche Blicksphären und damit einhergehende Standpunkte: die innere (»umgekehrte Perspektive«) und die äußere (Fluchtpunkt). Während der Betrachter eines Bildes die innere Blicksphäre einnimmt, befindet sich der Zuschauer außerhalb des

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Vgl. Karl Doehlemann: »Zur Frage der sog. ›umgekehrten Perspektive‹«, in: Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. 33, 1. Heft, Berlin 1910, S. 85-87. Vgl. Karl Doehlemann: »Zur Frage der sog. ›umgekehrten Perspektive‹«, a.a.O., S. 86. Boris Alexandreevič Uspenskij: The Semiotic of the Russian Icon, in einer Übersetzung von S. Rudy, Lisse 1976. Vgl. Uspenskij: The Semiotic of the Russian Icon, a.a.O., S. 36 und ebenso ders.: »Zur Untersuchung der Sprache der alten Malerei«, in: Shegin: Die Sprache des Bildes, a.a.O., S. 19f.

4. Der Bildraum der Ikone

Bildraums.93 Der Maler nimmt beide Positionen ein und fasst diese zusammen. Diese Synthese des visuellen Eindrucks ist das Momentum, das, Uspenskij folgend, den Aufbau eines »umgekehrt perspektivischen« Bildes beeinflusst.94 Gleichzeitig ergeben sich durch diese Summierung die für die »umgekehrte Perspektive« typischen Deformationen. Doch das Urteil Doehlemanns kann für Uspenskijs Konzeption wiederholt werden: Der Entwurf der »umgekehrten Perspektive«, wie ihn Wulff und Uspenskij konzipieren, setzt einen Fluchtpunkt und eine Bildebene voraus und steht damit in der Tradition des linearperspektivischen Regelwerks – eines Regelwerkes also, das in Zeiten byzantinischen Kunstschaffens noch nicht formuliert war. Stereoskopie Der Begriff der umgekehrten Perspektive ist aufgrund des von Wulff gewählten Ausgangspunktes seiner Definition defizitär und bedarf bei genauerer Betrachtung eines neuen Terminus. Jüngst hat sich daran die bulgarische Historikerin Clemena Antonova versucht, deren Entwurf zur »umgekehrten Zeit« einen alternativen Weg aufzeigt, den die Wissenschaftlerin selbst als nicht abgeschlossen ansieht.95 Ausgangspunkt der Untersuchungen Antonovas sind die russischen Theorien Pavel Florenskijs und Lev Shegins.96 Der folgende Abschnitt wird ebenfalls die Theorien Florenskijs und Shegins als Ausgangspunkt wählen. Doch werden die hier vollzogenen Analysen den von Antonova eröffneten neuen Weg nicht fortschreiten, sondern sind, mit dem Vorschlag einer begrifflichen Alternative, als Ergänzung zu diesem zu verstehen. Ausgehend von den Regeln der Linearperspektive definiert sich der Begriff umgekehrte Perspektive im Vergleich zu den kompositorischen Möglichkeiten eines linearperspektivisch konstruierten Bildes. Wenn die Untersuchungen zur sogenannten »umgekehrten Perspektive« nun bei Euklid und dessen geometrischer Lehre des Sehens beginnen, die der Grundstein linearperspektivischen Zeichnens sind, dann erfolgt dies allein aus dem Gesichtspunkt des Vergleiches heraus. Im Vergleich bietet sich die Möglichkeit aufzuzeigen, welchem spezifischen Regelwerk die sogenannten »umgekehrte Perspektive« unterliegt – oder besser: welche spezifischen Merkmale die Praxis ansichtigen Darstellens der Ikone aufzeigt.

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Vgl. Uspenskij: The Semiotic of the Russian Icon, a.a.O., S. 36. Vgl. Uspenskij: »Zur Untersuchung der Sprache der alten Malerei«, a.a.O., S. 20. Vgl. Antonova: Space, Time and Presence in the Icon. Seeing the World with the Eyes of God, a.a.O. Antonova analysiert ebenfalls die Theorie Uspenskijs, wobei sie die gleichen Kritikpunkte formuliert, wie die vorliegende Arbeit. Siehe Antonova: Space, Time and Presence in the Icon. Seeing the World with the Eyes of God, a.a.O., S. 55-59 sowie dies./Martin Kemp: »›Reverse Perspective‹: Historical Fallacies and an Alternative View«, in: Michael Emmer (Hg.): The Visual Mind II, Cambridge Mass. 2005, S. 417.

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Die Ikone und das Undarstellbare

Bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. stellt der griechische Mathematiker Euklid eine erste Theorie des Sehens auf. In seiner 330 v. Chr. verfassten Optica97 gelingt es Euklid, das Sehen mittels eines Sehkegels theoretisch zu beschreiben: Die Spitze des Sehkegels liegt im Auge, von dem ausgehend die Sehstrahlen auf die Objekte der Wahrnehmung treffen, die somit die Basis des Kegels sind. Euklid folgend sieht das Auge, was im Sehkegel liegt. Die Frage, wie weit ein Gegenstand von der Spitze des Kegels entfernt ist, berechnet Euklid mittels Winkelgrößen. Indem er die visuelle Wahrnehmung so als geometrisches Phänomen behandelt, gelingt es Euklid, eine das Sehen betreffende mathematische Lehre zu formulieren.98 Es ist Leon Battista Alberti (*1404; †1472), der in seinem am Beginn der Renaissance verfassten Traktat zur Malerei Euklids mathematische Lehre des Sehens adaptiert und darauf aufbauend Regeln für zentralperspektivisches Darstellen formuliert. Ausschlaggebend ist dabei, dass Alberti das Bild bzw. Gemälde als die Schnittfläche der Sehpyramide (die dem euklidischen Sehkegel gleichkommt) festlegt. Alberti gelingt damit, die das Sehen betreffende Lehre in die Praxis ansichtigen Darstellens zu überführen und dem Bild selbst eine neue Definition zugrunde zu legen:99 »Zuerst zeichne ich auf der Fläche, die das Gemälde tragen soll, ein vierwinkliges Rechteck beliebiger Größe: es dient mir gewissermaßen als offenstehendes Fenster, durch welches der ›Vorgang‹ betrachtet wird.«100 In dieser Definition formuliert Alberti die sogenannte Fenstermetapher, der folgend das Bild nicht mehr als undurchsichtig und materiell Gegebenes verstanden wird. Mit Albertis Traktat und dem damit verbundenen Aufkommen zentralperspektivischen Darstellens wird die Bildfläche als ein Durchsichtiges aufgefasst, das Gegenstände im Raum zeigt.101 An dieser Stelle soll keinesfalls tiefgreifender auf die Regeln zentralperspektivischen Zeichnens eingegangen werden. Viel eher sollte ein Schritt vorausgeeilt werden und das eine entscheidende Merkmal der Zentralperspektive benannt werden: der Augpunkt, in dem, entsprechend dem mathematisch-geometrischen Re-

Euklid: Die Elemente, aus dem Griechischen übersetzt von Johann Friedrich Lorenz, 6. verb. Aufl., Halle a. d. Saale 1840. 98 Vgl. Kümmerling: Nicht ganz gewöhnliche Bilder – Perspektivtheorie nach Erwin Panofsky, a.a.O. (unveröffentlicht). Siehe außerdem Klaus Rehkämper: Bild, Ähnlichkeit, Perspektive. Auf dem Weg zu einer neuen Theorie der bildhaften Repräsentation, Wiesbaden 2002. 99 Vgl. Kümmerling: Nicht ganz gewöhnliche Bilder – Perspektivtheorie nach Erwin Panofsky, a.a.O., S. 50-78 und Gottfried Boehm: Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, Heidelberg 1969. 100 Leon Battista Alberti: De Pictura (1435), in: Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin (Hg.): De Statua, De Pictura Elementa Picturae, Darmstadt 2000, S. 215, Abschnitt 12. 101 Vgl. Gottfried Boehm: Studien zur Perspektive. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, a.a.O., S. 59. 97

4. Der Bildraum der Ikone

gelwerk, alle Linien im zentralperspektivisch konstruierten Bild fluchten.102 Dieser eine unbewegliche, starre, zentrale Punkt geht einher mit dem einen Horizont und dem einen Maßstab des Bildes. Das sind die wichtigsten Merkmale eines zentralperspektivisch konstruierten Bildes, die sich in einem in sog. »umgekehrt perspektivischer« Manier gezeichneten Bild nicht finden. Denn während eine zentralperspektivische Darstellung in einem Augenpunkt endet, öffnet sich das umgekehrtperspektivische Bild hin zu einem beweglichen Betrachter, womit ein Ergebnis der Ausführungen bereits vorweggenommen ist. Doch was ist mit einem »beweglichen Betrachter« gemeint und welcher Ausgangspunkt könnte die Alternative sein, wenn nicht das Auge? Die Antwort ist: zwei Augen. »Warum hat der Mensch zwei Augen?« ist eine Frage, die Ernst Mach zu Beginn einer seiner Vorträge an der Universität Graz im Jahr 1866 stellt.103 Konkret hinterfragt Mach, was der Mensch mit zwei Augen mehr sehen könne.104 Anhand verschiedener einfacher Experimente zeigt der österreichische Physiker und Philosoph, dass zwei Augen den Menschen nicht nur räumliches Sehen ermöglichen, sondern den Menschen ebenso in die Lage versetzen, die Entfernungen von Gegenständen wahrzunehmen. Sein Beispiel: Läuft ein Wanderer durch einen Wald, sieht er möglicherweise zwei ferne Bäume, die sich ihm hintereinander stehend zeigen. In seinem Lauf nach rechts kann der Wanderer dann jedoch erkennen, welcher der Bäume ihm näher ist, nämlich der Baum, der nun links zurückweicht: »Es scheinen also beim Fortschreiten die näheren Gegenstände gegen die ferneren zurückzubleiben, und zwar desto mehr, je näher sie sind.«105 Dank seiner zwei Augen kann der Wanderer – respektive der Mensch – somit die Entfernung der Gegenstände, die in seinem binokularen Gesichtsfeld erscheinen, wahrnehmen. Entscheidend ist nun, dass der Mensch – dank seiner beiden Augen – nicht nur in der Lage ist, die Entfernung von Gegenständen zu bemessen, sondern er kann ebenso deren Körperform wahrnehmen. Anschaulich erklärt Mach diese am Stereoskop – einem sogenannten Doppelbildbetrachter, der erstmals 1838 vom britischen Naturwissenschaftler Charles Wheatstone vorgestellt wurde. Bei einem Stereoskop sind auf einer Holzlatte nebeneinander die Stereohalbbilder106 eines Gegenstandes befestigt und davor zwei Spiegel im rechten Winkel 102 Diesen zentralen Punkt bezeichnet Alberti konkret als Zentralpunkt (vgl. Leon Battista Alberti: De Pictura, S. 227, Abschnitt 19). Eine andere gemeinhin geläufige Bezeichnung ist Fluchtpunkt. 103 Siehe Ernst Mach: »Wozu hat der Mensch zwei Augen?«, in ders.: Populär-Wissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1896, S. 78-99. 104 Vgl. ebd. S. 79. 105 Ebd. S. 81. 106 Stereohalbbilder sind Fotographien eines Gegenstandes, wobei Wheatstone den Ausgangspunkt der Kamera beim zweiten Stereohalbbild um den Abstand der Augenpaare verschoben hat. Mit der Entwicklung der Zweiobjektiv-Kamera, die der Physiker David Brewster 1849 auf

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Die Ikone und das Undarstellbare

angebracht. Führt der Betrachter das Gerät nah vor seine Augen, erscheint ihm das auf dem Stereobild Abgebildete als räumliches Bild. Für Mach verdeutlicht sich mit diesem optischen Gerät, wie zwei Augen es dem Menschen ermöglichen, die Körper der Dinge und Gegenstände in der Welt zu erkennen: »Durch die vereinigte Wirkung beider Augen gelangen wir also zur Kenntnis der Entfernung und demnach auch der Körperformen.«107 Der Ausgangspunkt der hier vollzogenen Betrachtungen zur sog. »umgekehrten Perspektive« ist also das dem Menschen eigene binokulare oder stereoskopische Sehen. In »Die umgekehrte Perspektive« knüpft Pavel Florenskij an die Studien Ernst Machs an, adaptiert dessen stereoskopische Lehre des Sehens und legt diese als optische Lehre seiner Theorie zur umgekehrten Perspektive zugrunde. Heterozentrismus Ähnlich wie Oskar Wulff beginnt Pavel Florenskij seine Untersuchungen zur »umgekehrten Perspektive« mit Beschreibungen von Werken der alten Kunst wie etwa ägyptischer Bildwerke. Doch Florenskij legt dabei – im Gegensatz zu Wulff – weniger Wert auf Blickkonstellationen. Florenskijs Intention ist es zunächst, die Perspektive ganz allgemein als eine Ausdrucksweise einer Weltanschauung zu konstatieren. Konkret stellt Florenskij die humanistische und naturalistische Weltanschauung, die den Menschen seit der Renaissance prägen, der theozentrischen Weltanschauung des antiken und mittelalterlichen Menschen gegenüber. Für Florenskij sind die humanistische und naturalistische Weltanschauung gezeichnet vom Individualismus des einzelnen Menschen und der Verwissenschaftlichung der Welt.108 Die größte Kritik erfährt die Philosophie Kants, die in den Augen Florenskijs jeglichen metaphysischen Glauben und damit eine höhere göttliche Realität negiert. Florenskij lässt sich in seiner Polemik sogar dazu hinreißen, hier den Begriff des Nihilismus zu verwenden, und spricht dieser Weltanschauung damit jegliche Objektivität im Hinblick auf Erkenntnis ab. Den Menschen als den Mittelpunkt dieser Weltanschauung zu bestimmen, scheint für Florenskij dabei der größte Frevel zu sein. Gerade im Humanismus, mit seiner Selbstbestätigung des menschlichen Ich, sieht Florenskij die völlige Abnabelung vom Theozentrismus.109 Für den tief gläubigen Florenskij ist das theozentrische Weltbild die einzig richtige Weltanschauung, denn sie ist geprägt durch eine wahre göttliche Realität, die – tief verankert im Bewusstsein des Volkes – eine religiös objektive und metaphysische

den Markt brachte, konnten Stereohalbbilder mit nur einer Aufnahme abgelichtet werden (vgl. hierzu http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=898). 107 Vgl. Mach: »Wozu hat der Mensch zwei Augen?«, a.a.O., S. 86. 108 Vgl. Pavel Florenskij: Die umgekehrte Perspektive, München 1989, S. 27. 109 Vgl. ebd. S. 35.

4. Der Bildraum der Ikone

Erkenntnis ermöglicht.110 Doch dürfen wir uns von der Polemik Florenskijs nicht mitreißen lassen, denn entscheidend und viel aufschlussreicher sind die Theorien zur Raumwahrnehmung, die er mit der jeweiligen Weltanschauung verbindet. Humanisten und Naturalisten folgen in ihrer Wahrnehmung – so Florenskij – dem euklidisch-kantischen Raum – einem Raum, der homogen, unstrukturiert und unendlich ist und der sich mit den Regeln der Geometrie und Mathematik vermessen und kategorisieren lässt.111 Die Dinge in der Welt lassen sich, sobald sie im Sehkegel auftauchen, dem wissenschaftlichen Denkschema unterordnen und so in allgemeine Kategorien ordnen. Zentrum des Sehens und Wahrnehmens ist also das eine Auge als Ausgangspunkt des Sehkegels. In dieser Auffassung von Raum hat, Florenskij folgend, die wahre Kunst dann keinen Platz, wenn das künstlerische Bild von diesem einen subjektiven Auge, das er »zyklopisch« nennt, ausgeht und sich dann auch noch an die theoretischen und wissenschaftlichen Regeln der Zentralperspektive hält. Mit der Renaissance und den Arbeiten von Filippo Brunelleschi, Leon Alberti und Piero della Francesca zur Perspektive ist nicht nur das Studium der Künste, sondern auch die Praxis ansichtigen Darstellens in die Wissenschaft übergegangen – so das Urteil Florenskijs. Der damit verbundenen Entwicklung der Regeln linearperspektivischen Darstellens spricht Florenskij jeden schöpferischen Akt ab, denn jeder ungeschickte Zeichner kann – dank der linearperspektivischen Regeln – jeden Gegenstand mechanisch darstellen.112 Für Florenskij haben Bilder nur dann eine ästhetische Überzeugungskraft, wenn der Künstler die Regeln des zentralperspektivischen Darstellens verletzt.113 Doch welche Regeln gilt es zu verletzen? Schauen wir zunächst auf das theozentrische Weltbild und das damit verbundene Verständnis von Raum. Sowohl für den antiken als auch für den mittelalterlichen Menschen gibt es eine Realität außerhalb des menschlichen Seins, und zwar unabhängig von jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Realität, so Florenskij, ist ein Gegebenes114 – d.h. ein auf dem göttlichen Willen beruhendes Sein. Den Raum selbst definiert Florenskij daher als »… ursprüngliche Realität, durch und durch organisiert, nirgendwo indifferent und noch dazu im Besitz einer inneren Ordnung und eines inneren Aufbaus«115 . Der Mensch, der um diesen ontologischen Realismus weiß, begreift sein Dasein selbst als eine auf dem Willen Gottes beruhende Gabe. Ein Künstler, der in dieser Anschauung von Welt schöpferisch tätig ist, nimmt keinen absoluten Standpunkt ein, sondern sucht die Wahrheit in

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Vgl. ebd. S. 16. Vgl. ebd. S. 29. Vgl. ebd. S. 49. Vgl. ebd. S. 40 und 42. Vgl. ebd. S. 28f. Ebd. S. 29.

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Die Ikone und das Undarstellbare

den gegebenen Formen, indem er im schöpferischen Akt deren Gegeben-sein in die Sichtbarkeit holt. Für Florenskij ist es allein der Akt des schöpferischen Sehens, der, unabhängig von jedem wissenschaftlichen, mathematischen und geometrischen Regelwerk, ein wahres Bild schaffen kann. Hier findet sich der Anknüpfungspunkt zur Ikonentheorie Jean-Luc Marions, der das Sehen des Künstlers vom beweglichen Auge abhängig macht, das, über den Schein der Welt hinweg, die wahre Realität in einem Bild auszudrücken vermag. Mit dem beweglichen Auge gelingt nun wieder der Anknüpfungspunkt an eine Lehre des Sehens: Eine theozentrische Weltanschauung kennt kein zyklopisches Auge, sondern vielmehr nimmt der wahrnehmende Mensch mehrere Standpunkte ein, von denen aus er die gegebenen Formen in all ihren Facetten erkennen kann. Der Mensch erschließt sich die Welt, indem er sich bewegt und so die Dinge in der Welt von verschiedenen Seiten her wahrnimmt. Der Raum des Sehens unterliegt also einem steten Wandel, und das Sehen selbst ist weder starr noch einmalig, sondern – so Florenskij – ist Wahrnehmung im Sinne eines Prozesses des Sehens und Erkennens aus verschiedenen Richtungen und von allen Seiten.116 Diese Aussage steht der Definition des geometrischen Raumes Euklids und einem damit zusammenhängenden möglichen Postulat einer mathematisch-physikalischen Wirklichkeit entgegen, die dem Prinzip der Kontinuität, der absoluten Zeit und der absolut festen Körper folgt.117 Die visuellen Wahrnehmungen sind Teil des physiologischen Raums und können daher ebenso von Faktoren wie Riechen und Schmecken beeinflusst werden.118 Gleichzeitig kann von einer verdoppelten Wahrnehmung die Rede sein – und hier knüpft Florenskij an Mach an –, denn die physische Synthese unendlich vieler optischer Wahrnehmungen von verschiedenen Standpunkten ist ein Wahrnehmen mit zwei Augen. Ein Objekt, das mit zwei Augen gesehen wird, ruft auch zwei Retina-Bilder mit je zwei Blickpunkten hervor. Zwei Augen ermöglichen nicht nur die Sehtiefe, sie ermöglichen vor allem dreidimensionales Sehen und letztlich in der Bewegung das Wahrnehmen der Dinge von vielen Standpunkten aus.119 Florenskij spricht in diesem Zusammenhang von einem Heterozentrismus (russ. Разныйцентризм|rasnuijzentrism120 ), den er letztlich als die entscheidenVgl. ebd. S. 78 sowie Janine Luge-Winter: »Heterozentrismus«, in: Stephan Günzel (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt 2012, S. 174. 117 Vgl. Florenskij: Die umgekehrte Perspektive, a.a.O., S. 71. 118 Vgl. ebd. S. 66 und 70ff. 119 Vgl. ebd. S. 74. 120 Der von Florenskij verwendete russische Begriff разныйцентризм meint wörtlich übersetzt verschiedene Zentren, weshalb die Autorin sich in der vorliegenden Arbeit der griechischen Vorsilbe hetero-/ἕτερο- bedient, womit sich ebenso die Verschiedenheit von Dingen und Sachverhalten ausdrücken lässt. Als deutscher Fachbegriff für Florenskijs разныйцентризм wird hier Heterozentrismus verwendet. Vgl. Janine Luge-Winter: »Heterozentrismus«, a.a.O., S. 174175. 116

4. Der Bildraum der Ikone

de Eigenschaft der sog. »umgekehrten Perspektive« benennt: Die heterozentrische Perspektive des Sehens und Wahrnehmens kommt als Praxis ansichtigen Darstellens in der sogenannten »umgekehrten Perspektive« zur Anwendung. Heterozentrismus lässt sich, den Ausführungen Florenskijs folgend, bereits an den nichtperspektivischen ägyptischen Flachreliefs nachweisen und erreicht seine volle Entfaltung in den in umgekehrt perspektivischer Manier gezeichneten christlichen Ikonen.121

4.2.2

Eine Praxis ansichtigen Darstellens

Der bewegliche Betrachter Wie nun findet die Lehre des stereoskopischen Sehens und des heterozentrischen Wahrnehmens als Praxis ansichtigen Darstellens in der Ikone Verwendung? Die religionsphilosophische Ikonentheorie Florenskijs gab Anfang des 20. Jahrhunderts hierfür den ausschlaggebenden Impuls, an den der russische Künstler und Kunsttheoretiker Lew Fjodorowitsch Shegin – zu dessen engerem Bekanntenkreis übrigens Florenskij gehörte – mit seinen Überlegungen zur Perspektive in der alten Kunst anknüpft. In Die Sprache des Bildes122 setzt sich Shegin mit der formalen Ästhetik der Ikone auseinander, wobei sich seine Abhandlung um das Konstruktionsverfahren dieser dreht. Die in einem Bild zur Darstellung gebrachte Perspektive und das damit zusammenhängende Konstruktionsverfahren versteht Shegin als eine Art Sprache, die an Konventionen gebunden ist und deren zeichnerische Umsetzung erlernt werden muss. Shegin knüpft hier an die Meinung Florenskij an, der die perspektivische Schulung als eine Art Dressur beschreibt.123 Doch während Florenskij diese Dressur im negativen Sinne auf das Erlernen des Umsetzens des zentralperspektivischen Regelwerks auf die zweidimensionale Ebene des Bildes versteht, erkennt Shegin, dass Konstruktionsweisen, die sich in der alten Kunst finden, ebenso auf Konventionen beruhen, deren Regeln genauso erlernt werden mussten. In

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Vgl. Florenskij: Die umgekehrte Perspektive, a.a.O., S. 30f. sowie Janine Luge-Winter: »Heterozentrismus«, a.a.O., S. 175. Die Kunst des alten Ägyptens zeigt Darstellungen, wo Kopf, Beine und Füße seitwärts gedreht sind. Der Oberkörper und ein Auge werden jedoch frontal gezeigt. Diese Darstellungsweise wird »Aspektive« genannt, und dahinter verbirgt sich der Wille, den Menschen vollständig abzubilden. Ebenso finden sich Darstellungen, wo Füße und Oberkörber seitwärts gedreht wurden, während Köpfe frontal dargestellt sind. Zudem finden sich in der Kunst des alten Ägyptens Darstellungen von Tischen, die im Bild von oben zu sehen sind, wobei die um den Tisch positionierten Menschen jedoch von der Seite dargestellt sind. Vgl. zur »Aspektive« Emma Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens: am Beispiel Ägyptens, Darmstadt 1990. Lew F. Shegin: Die Sprache des Bildes, Dresden 1982. Vgl. Florenskij: Die umgekehrte Perspektive, a.a.O., S. 54.

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diesem Sinne dürfen die Ikonenwerkstätten als Lehrstätten verstanden werden, in denen die Ikonenmaler die dem christlichen Heiligenbild zugrunde liegenden Konventionen und damit zusammenhängende Praxis ansichtigen Darstellens erlernen – ihnen dort bis in die heutige Zeit die τεχνη gelehrt wird. Nochmals sei deutlich gemacht: Jedes Konstruktionsverfahren beruht auf einem Regelwerk, dessen Konventionen erlernt werden – ein Fakt, auf den bereits Ernst Mach aufmerksam macht.124 Doch kommen wir zur Fragestellung: Wie nun die Lehre des stereoskopischen Sehens und heterozentrischen Wahrnehmens als Praxis ansichtigen Darstellens in der Ikone Verwendung findet, soll zunächst am Beispiel eines dargestellten Tisches aufgezeigt werden. In seinen Kindheitserinnerungen sind Ernst Mach zentralperspektivische Bilder als perspektivische Zerrbilder in Erinnerung: »Ich konnte nicht begreifen, warum der Maler den Tisch an der einen Seite so breit, an der anderen so schmal dargestellt hat. Der wirkliche Tisch erschien mir ja am ferneren Ende ebenso breit, als am näheren…«125 Dass ein (normaler) Tisch an der einen Seite genauso breit ist wie an der anderen, erschließt sich dem aufmerksamen Beobachter spätestens dann, wenn er um den Tisch herum geht. Das zentralperspektivische Regelwerk geht nun von einem Betrachterstandpunkt aus, von dem aus ein Gegenstand auf der zweidimensionalen Ebene projiziert wird, dessen Seiten auf den einen Fluchtpunkt auf der Horizontlinie hin laufen. Die im Bild dargestellten Seitenkanten eines Tisches erscheinen so perspektivisch verkürzt. Dagegen driften bei einer »umgekehrt perspektivischen« Darstellung die Seitenkanten des Tisches auseinander und der Fluchtpunkt schiebt sich, Shegin folgend, unter die Horizontlinie. Dadurch erscheint die Tischplatte im Bild nach oben geklappt. Der Unterschied zu einem zentralperspektivisch gezeichneten Tisch: Der Maler, der den Tisch in »umgekehrter Perspektive«126 darstellt, geht von zwei sehenden Augen mit zwei unterschiedlichen Augenpunkten aus. Ganz einfach lässt sich dies verdeutlichen, wenn wir uns vor einen Tisch stellen und abwechselnd das linke und das rechte Auge zuhalten. Wir sehen die Seitenkanten des Tisches in je unterschiedlicher Weise: Sie tendieren nach rechts oder nach links. Beide Sehweisen werden »umgekehrt perspektivisch« projiziert, indem die jeweiligen Seiten von der vorderen Tischkante aus nach links bzw. rechts weglaufend gezeichnet werden. Ausgangspunkt der Praxis ansichtigen Darstellens ist bei einem »umgekehrt perspektivisch« konstruierten Bild also ein mit zwei Augen sehender Betrachter. Ein weiteres Beispiel: Ein in zentralperspektivischer Manier gezeichnetes Haus kann die Front, eine Seitenfläche und das Dach des Gebäudes zeigen: Dach und

124 Vgl. Mach: »Wozu hat der Mensch zwei Augen?«, a.a.O., S. 88. 125 Ebd. S. 88. 126 An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, wie unpassend der Begriff der »umgekehrten Perspektive« eigentlich ist.

4. Der Bildraum der Ikone

Seitenwand werden, ausgehend von einem zentralen Augenpunkt und entsprechend des Regelwerks, perspektivisch verkürzt dargestellt. Bei »umgekehrt perspektivisch« gezeichneten Häusern, wie sie in Ikonen vorkommen, werden dagegen bis zu vier Seiten eines Hauses gezeigt. Der Grund: Ausgangspunkt für die Darstellung ist nicht ein unbeweglicher Betrachter, sondern ein sich bewegender Mensch, der mehrere Standpunkte im Raum einnehmen kann. Dieser Betrachter sieht ein Haus oder auch jeden anderen beliebigen Gegenstand von allen gegebenen Seiten. Ein in »umgekehrt perspektivischer« Manier konstruiertes Bild zeigt bis zu vier Seiten eines Hauses, und zwar mit entsprechenden Abweichungen in der perspektivischen Darstellung, weil im Bild mehrere Betrachterstandpunkte einbezogen sind. Ausgangspunkt der Praxis ansichtigen Darstellens ist bei einem »umgekehrt perspektivischen« konstruierten Bild also nicht nur ein mit zwei Augen sehender Mensch, sondern ebenso ein Betrachter, der sich in der Welt bewegt: »Die Form der ›umgekehrten Perspektive‹ ist das Ergebnis einer Zusammenfassung des visuellen Eindrucks aus der Vielzahl von Standpunkten, die sich aus einer beweglichen Betrachterposition ergeben.«127 Ein Merkmal des in »umgekehrt perspektivischer« Manier konstruierten Bildes sind – so Shegin – dessen konkave Wölbungen und damit zusammenhängende Deformationen rechtwinkliger Gegenstände, wie etwa Tische und Häuser, die nicht selten eine tonnenartige Form aufweisen. Diese Formen gehen einher mit Verschiebungen, die Shegin als sich »von uns weg« oder »auf uns zu« bewegende Verschiebungen beschreibt.128 Während sich ein Tisch mit auseinander laufenden Seitenkanten von uns wegbewegt und die Tiefe des Bildraumes gleichzeitig verflacht, scheinen Gegenstände, die auf dem Tisch stehen, sich auf uns zu zubewegen, denn sie sind gefährlich nah am Rand des Tisches dargestellt, wie etwa bei der Ikone der Dreifaltigkeit von Rublëv. Nun könnte davon ausgegangen werden, dass die Vielzahl der Betrachterstandpunkte eine Vielzahl an Darstellungen im Bild verursacht. Doch das ist nicht der Fall. Wie Shegin zu erläutern weiß, hat jeder in »umgekehrter Perspektive« dargestellte Gegenstand seinen eigenen Fluchtpunkt und auch seinen eigenen Betrachterstandpunkt, was zu einem Pluralismus dieser führt. Jedoch finden sich in der alten Malerei keine Überlagerungen von mehreren Gegenständen, die die Vielzahl der Flucht- und Betrachterstandpunkte eigentlich evozieren müssten. Der Grund hierfür ist, dass sich die alte Malerei stets auf einen Gegenstand konzentriert. Shegin beschreibt daher das Blickfeld als »verengtes«, denn weitere, sich ebenfalls im Sehstrahl befindliche Gegenstände werden ausgeklammert. Das bedeutet gleich-

127 128

Shegin: Die Sprache des Bildes, a.a.O., S. 44. Vgl. ebd. S. 46ff.

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Die Ikone und das Undarstellbare

zeitig, dass die Anzahl der Gegenstände in einem »umgekehrt perspektivisch« konstruierten Bild gleich der Anzahl der Betrachter- und Fluchtpunkte ist.129 Der offene Bildraum der Ikone Die Merkmale eines in »umgekehrter Perspektive« konstruierten Bildes sind an einigen Beispielen hervorgehoben worden, mit dem Ergebnis: Die »umgekehrte Perspektive« ist eine Konstruktion der Dinge von verschieden Standpunkten. Es stellt sich die Frage, ob sich hinter dieser Praxis des ansichtigen Darstellens ein Sinn verbirgt, der mit dem Inhalt des Bildes zusammenfällt. Für Florenskij wie für Shegin ist der bewegliche Betrachterstandpunkt das entscheidende Merkmal der »umgekehrten Perspektive«. Obwohl sich bei Shegin an keiner Stelle der Begriff des Heterozentrismus wiederfindet, reflektiert sich dieser in Shegins Konzeption des dynamischen bzw. aktiven Bildraums, der sich aufgrund des beweglichen Betrachterstandpunktes ergibt. Aktiv ist dabei das von Shegin konzipierte Konstruktionssystem selbst, von dem ausgehend Gegenstände im Bild von verschiedenen und je möglichen Standpunkten aus projiziert werden, weshalb beispielsweise vier Seiten eines Hauses gleichzeitig in der Bildebene konstruiert sind. Somit summieren sich alle möglichen visuellen Eindrücke im Bild, worüber sich ein dynamischer Bildraum ergibt. Aufgrund des einen zentralen Betrachterstandpunktes wirkt ein in linearperspektivischer Manier konstruiertes Bild dagegen mechanisch und unbeweglich – so wie etwa eine Fotographie, die eine einzige statische Momentaufnahme ist. Die byzantinischen Ikonophilen würden die Fotographie also auch aus dem Grund nicht als wahres Bild anerkennen, weil ein solches Bild nur den einen weltlichen Moment aus der Perspektive eines einzelnen Subjekts zeigt. Hier nun bietet sich die Möglichkeit, den von Florenskij ins Feld geführten Begriff Heterozentrismus auf das von Shegin konzipierte Konstruktionsverfahren zu übertragen: Das Konzept des beweglichen und mit zwei Augen sehenden Betrachters lässt einen Pluralismus an möglichen Standpunkten zu, von denen die Gegenstände von ihren je verschiedenen möglichen Wahrnehmungspunkten aus im Bild konstruiert werden. Somit gibt es nicht den einen zentralen Fluchtpunkt im Bild, auf den sich die jeweiligen Seitenkanten der Gegenstände hinbewegen, wie im Falle der linearen Perspektive. Ausgehend von einem beweglichen Betrachterstandpunkt ergeben sich im Bild je verschiedene Zentren, die von den jeweiligen konstruierten Gegenständen besetzt sind. Die Weise dieser Praxis ansichtigen Darstellens ist heterozentrisch, weshalb der Vorschlag erfolgt, hier den Begriff der heterozentrischen Perspektive einzuführen. Der aktive wie dynamische Bildraum eines heterozentrischen Bildes kann im Sinne Shegins als ein »offenes System« verstanden werden: Dadurch, dass bei ei129

Vgl. Shegin: Die Sprache des Bildes, a.a.O., S. 50.

4. Der Bildraum der Ikone

nem heterozentrisch konstruierten Bild die Seitenkanten (beispielsweise eines Tisches) auseinanderlaufen, verschiebt sich der Fluchtpunkt über die Horizontlinie; die Darstellung verflacht, je weiter die Seitenkanten auseinandergezogen werden, die Bildtiefe verringert sich und die Bildobjekte verlieren ihr Volumen.130 Aufgrund dieser Weise der Projektion erscheint die Darstellung von Brüchen und Deformationen gezeichnet. Doch der kompositorische Aufbau in den Grenzen des Rahmens des Bildes erscheint innerlich stabil, was – Shegin folgend – am Übergewicht der vertikalen und horizontalen Linien liegt. Shegin definiert nun den Rahmen als das, was den eigentlichen Bildraum vorgibt. In diesem Rahmen bietet ein in zentralperspektivischer Manier gezeichnetes Bild dem Betrachter die Momentaufnahme eines unendlichen Raumes, denn der Bildraum weitet sich passiv nach allen Seiten.131 Dies begründet sich in einem Fluchtpunkt, der in der unendlichen Tiefe des Bildes liegt. Indem sich nun die Seiten der projizierten Bildobjekte auf diesen Punkt hin ausrichten, verlieren die Objekte den eigentlichen Bezug zum Rahmen: Das Bild bietet einen Ausschnitt von der Welt wie der Blick durch ein Fenster. Ein zentralperspektivisches Bild zeigt einen Gegenstand losgelöst und isoliert von der eigentlichen Welt. Dagegen zeigt ein heterozentrisch projiziertes Bild den gesamten unendlichen Raum. Es ist die geringe Bildtiefe, die sich durch die verflachten Formen der in dieser Manier projizierten Darstellung ergibt. In dem sich durch den Rahmen ergebenden (Bild-)Ausschnitt findet, Shegin folgend, nahezu das gesamte Raumsystem dieses Ausschnitts Platz.132 Somit zeigt das heterozentrische Bild den gesamten unendlichen Raum: »Das Bild beschränkt sich gleichsam auf sich selbst, erschöpft sich im Dargestellten, und außerhalb seiner Grenzen gibt es nichts, ausgenommen ein neues Bild oder ein anderes kompositionelles System.«133 Das, was das so konstruierte Bild zeigt, lässt sich also außerhalb des Bildrahmens nicht fortsetzen. Das führt dazu, dass Anfangs- und Endpunkt – etwa von historischen Ereignissen – in einem heterozentrischen Bild gleichzeitig dargestellt werden. Es ist die Gleichzeitigkeit (der Projektion der verschiedenen Seiten eines Gegenstandes oder historischer Ereignisse), die Clemena Antonova in ihren Untersuchungen zur sog. »umgekehrten Perspektive« als »simultaneous planes« – als simultane Ebene des Bildes definiert, die eine Zeitlosigkeit der bildlichen Darstellung evoziert.134 Das bedeutet, dass die – wie wir es hier nennen – »heterozentrische Perspektive« die Dimension der Zeit im Bild transzendiert: In einem he-

130 Vgl. ebd. S. 40. Siehe außerdem Janine Luge-Winter: »Ikonen, umgekehrte Perspektive und Bilderstreit«, a.a.O., S. 162. 131 Vgl. Shegin: Die Sprache des Bildes, a.a.O., S. 63 und 66. 132 Vgl. ebd. S. 67. 133 Ebd. S. 63. 134 Vgl. Clemena Antonova: Space, Time and Presence in the Icon, a.a.O., S. 103.

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Die Ikone und das Undarstellbare

terozentrischen Bild kann ein Bett auf der zweidimensionalen Ebene so projiziert werden, dass alle vier Beine, seine Oberseite und ebenso seine Unterseite zu sehen sind, denn es werden mehrere Betrachterstandpunkte respektiert. Was so dargestellt wird, ist das allgemeine Wesen der Dinge, wie es Platon lehrt: Schafft ein Tischler ein Bett, dann kann der Käufer dieses Bett von allen Seiten betrachten. Wird nun dieses Bett in einem Bild von nur einem idealen Standpunkt aus zentralperspektivisch konstruiert, dann erscheinen im Bild nicht mehr als drei Beine. Diese Darstellung wäre im Sinne Platons falsch, denn sie zeigt eine subjektive Momentaufnahme des Bettes – ist also μίμησις φανθαστιη – und nicht das allgemeine Wesen des Bettes an sich – μίμησις εικαστικη. In einem hetreozentrischen Bild wird mit der Darstellung von mehreren Betrachterstandpunkten ein Raum im Bild konstruiert, in dem mehrere Zeitschichten ins Bild gesetzt sind. Zeit im Bild gibt sich so als stehender Augenblick: Das, was sich so zeigend ins Bild setzt, ist die transzendent göttliche Welt, in der Raum und Zeit aufgehoben sind.135 Shegin folgend bedarf ein – wie wir es nennen – heterozentrisches Bild keines Rahmens, denn der Übergang der realen Außenwelt zur Welt des Bildes ergibt sich durch die spezifischen Formen der heterozentrischen Perspektive – wie etwa die der starken Verkürzung. Diese rühren aus dem Zusammenspiel konkaver und konvexer Wölbungen her – Konstruktionsmerkmale, die jeweils den Bildhintergrund bzw. -vordergrund kennzeichnen. Shegin eröffnet somit keine mögliche, dem Bild inhärente Blickkonstellation, wie es Boris Uspenskij aufzeigt. Shegins Konzeption des Innen und Außen bezieht sich auf die zeitliche Ebene, wie sie aus der Literatur bekannt ist. Sie steht in einer Tradition des Verhältnisses zwischen dem Helden der Erzählung und dessen Beobachter: Die Beschreibung des Subjektiven und damit des inneren Zustands des Helden wird von dem zu ihm im Verhältnis stehenden äußeren Beobachter beschrieben, worin sich der Übergang markiert.136 Übertragen auf einen in heterozentrischer Manier konstruierten Gegenstand heißt das, dass dieser nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zu dem steht, was er darstellt (z.B. Bett). Die Weise seiner bildlichen Darstellung ergibt sich durch die Beziehung zum Ganzen, d.h. der Gegenstand ergibt sich in den Parametern des im Bild dargestellten Raums. Diese Weise der Sichtbarmachung, die in einer Beziehung zum Ganzen steht, ist – so definiert es Antonova – die Weise des Blickes Gottes. Die Ikone ist ein in heterozentrischer Perspektive gezeichnetes Bild und die Sichtbarmachung eines möglichen Sichtbaren. Doch in ihrer Sichtbarkeit ist die Ikone keine Kopie der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Ihr Bildinhalt ist ein nicht-weltli-

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Vgl. Massimo Cacciari: »Die Ikone«, a.a.O., S. 406. Für Cacciari hemmt nun diese Instanz des stehenden Augenblicks den Diskurs des Bildes, der immer an Ursache und Wirkung gebunden ist. Vgl. Shegin: Die Sprache des Bildes, a.a.O., S. 212, Anm. von Klaus Städtke zu Seite 57.

4. Der Bildraum der Ikone

cher, denn die Ikone ist Versinnbildlichung der transzendenten göttlichen Welt – einer Welt, in der Zeit und Raum aufgehoben sind.

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5. Ikone: Die mögliche Antwort auf die negative Theologie

Die im vorangegangenen Abschnitt formulierte Schlussfolgerung, dass die Ikone die Versinnbildlichung der transzendenten göttlichen Welt ist, führt uns zu einer finalen These: Bereits zu Beginn der vorliegenden Auseinandersetzungen wurde die Aussage formuliert, dass die Ikone Gott nicht zeigt, sondern dessen Undarstellbarkeit wiederholt. Somit ist die Ikone Christi die einzig mögliche Antwort auf die negative Theologie, weil sie es vermag, die Erhabenheit Gottes in sichtbarer Form zu bewahren. Der Versuch, diese These hinreichend zu belegen, verlangt eine abschließende Zusammenfassung der hier vollzogenen Analysen: Ausgehend vom christlichen Weltverständnis, das theozentrisch geprägt ist, wurde ausführlich dargelegt, dass das Christentum von dem Glauben ausgeht, dass alles weltliche Sein ein Abbild (εἰκὼν) des göttlichen Willens ist – dass es von Gott hervorgebracht wird und daher mit ihm teilhaftig verbunden ist, wobei jene Partizipation stets von Unähnlichkeit geprägt ist. Innerhalb dieser Schöpfungstheologie ist jedoch die Person Christi von Besonderheit, weil sie sich in ihrer Ontologie als wesensgleiches Bild Gottes bestimmt. Mit der Inkarnation tritt nun das göttliche Wesen in die Sichtbarkeit, wobei die göttliche und menschliche Natur des Sohnes als untrennbar und unvermischt definiert wird. Dies impliziert, dass der Sohn in seiner sichtbaren Gestalt sein göttliches Urbild untrennbar jedoch unsichtbar mit sich führt. Diese Untrennbarkeit der menschlichen und göttlichen Natur bezeichnen die Byzantiner als paradoxe Vermengung des Begrenzten mit dem Unbegrenzten, des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren. Im Hinblick auf die finale These muss nun gefragt werden, was genau eine negative Theologie impliziert. Die Idee der negativen Theologie findet sich bereits bei Platon u.a. im Parmenides: »[W]ie es scheint, ist das Eine weder Eins noch ist es Vieles […]. Also ist auch kein Wort für es, keine Erklärung davon, noch auch irgendeine Erkenntnis, Wahrnehmung oder Vorstellung.«1 Konkret versteht Platon das Eine (ἕν) als einfache und abgeschlossene Einheit, die außerhalb jeglicher begrifflichen Vielheit zu situieren ist, denn das Eine (ἕν) ist unbenennbar, unsagbar 1

Platon Parmedies 142 A.

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Die Ikone und das Undarstellbare

und unerkennbar. Das bedeutet, dass sich das Eine nur im Modus der Negation denken lässt. Dieser platonische Gedanke wird von Ps.-Dionysios Areopagites für die biblische Tradition adaptiert.2 Tatsächlich ist es Ps.-Dionysios Areopagites, der den Begriff der negativen Theologie für die christliche Religion entscheidend definiert. In De Divinis Nominibus (DN) widmet sich der Areopagite den in der Heiligen Schrift zu findenden Namen Gottes, wie der Eine, der Gute, der Seiende, der Schöne, der Gerechte usw.3 Seine Intention ist die Bestimmung des göttlichen Wesens. Doch er gelangt zu der Erkenntnis, dass sich dieses weder durch affirmative (kataphatische) noch durch negative (apophatische) Prädikate fassen lässt: Gott ist »die Affirmation von allem, die Negation von Allem, das jenseits jeder Affirmation und Negation Existierende«4 . Aufgrund seiner Allgemeinheit könnte der Begriff des Einen (ἕν) als hinreichende Prädikation genügen. Doch auch die Qualifikation des Einen bleibt im Hinblick auf das Wesen der Gottheit konjektural, d.h. eine rein vermutende Aussage.5 Die Kernaussage der negativen Theologie seit Ps.-Dionysios lautet somit: Positive wie negative Aussagen sind in Bezug auf den absoluten und transzendenten Gott unzureichend. In der negativen Theologie bestimmt sich daher die Grenze menschlicher Erkenntnisfähigkeit gegenüber dem transzendet göttlichen Wesen als eine Grenze der sprachlichen Aussagbarkeit.6 Dies impliziert einen entscheidenden Ausgangspunkt der negativen Theologie, der im endlichen Subjekt liegt. D.h., die Unmöglichkeit einer sprachlichen Bestimmung des göttlichen Wesens bezieht sich auf die Grenzen des endlichen Subjekts, denn das zu Bestimmende (oder zu Bezeichnende) göttliche Wesen ist das Erhabene, das sich jedweder Benennung entzieht. Für Ps.-Dionysios ist der Mensch jedoch ein vernuftbegabtes Wesen, dem sich zwar die Anschauung und Erkenntnis des unsichtbar Göttlichen nicht unmittelbar

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Die hier angestrebten Analysen knüpfen an folgenden Artikel an: Janine Luge-Winter: »Das Erhabene erscheint«, a.a.O., S. 133-172. Siehe im Speziellen S. 157ff. Siehe u.a. Ps.-Dionysios Areopagites DN I 6. Ps.-Dionysios Areopagites DN II 4. Vgl. Werner Beierwaltes: Denken des Einen, a.a.O., S. 215f. sowie ders.: »Hen«, in: RAC, Bd. XIV (1988), S. 469. Vgl. Ps.-Dionysios CH II 3 sowie Luge-Winter: »Das Erhabene erscheint«, a.a.O., S. 158. Neben affirmativen und negativen Prädikaten versucht der Areopagite eine weitere mögliche Variante des Beschreibens: Indem er sich in seinen Beschreibungen zum Wesen Gottes des Präfix über- (ὑπέρ-/hyper-)bedient, strebt er mit Begriffen wie »das Übergute« (ὑπεράγαθον) oder »das Überweise« (ὑπερσοφον) eine übersteigerte Affirmation an. Doch auch bei diesen Formen bezieht sich der Mangel auf die Grenzen der sprachlichen Aussagbarkeit. Vgl. Ps.-Dionysios DN II 3.

5. Ikone: Die mögliche Antwort auf die negative Theologie

ergibt, er es jedoch über sinnlich fassbare Formen erfahren kann.7 Eine Möglichkeit des Erfahrbarmachens spricht der Areopagite den Bildern zu. Jedoch erteilt er einem an bloßer Abbildlichkeit orientierten Bildbegriff eine Absage: Wahre Bilder sind für Ps.-Dionysios jene, die »ohne jede Gleichartigkeit bis hin zum vollkommen Unpassenden und Unwahrscheinlichen«8 abbilden. Das Potential des Bildes liegt für den Areopagiten nicht in dessen mimetischer Möglichkeit, sondern in dessen Fähigkeit der Negation: So, wie jede Benennung Gottes in Negation enden muss, führt das wahre Bild vor Augen, was Gott als Erhabenes in sichtbarer Form nicht sein kann.9 Wie nun gelingt es der Ikone, dieses unsagbare und unbeschreibbare göttliche Wesen als das Erhabene im Sichtbaren zu zeigen? Gehen wir zunächst vom Konstruktionsverfahren der Ikone aus, das als heterozentrisch beschrieben wurde, dann zeigt sich, dass der Ausgangspunkt der bildlichen Darstellungsweise nicht das endliche Subjekt ist, das etwas zu zeigen – respektive zu benennen – ersucht. Vielmehr ist es das Anliegen des Ikonenmalers, eine objektive Realität zu enthüllen, die als Gegebenes einem theozentrischen Weltbild folgt. Objektivität drückt sich in der Weise des ansichtigen Darstellens aus: Das Besondere der Ikone ist ihre heterozentrische Perpektive, die viele Betrachterstandpunkte berücksichtigt. D.h.: Für den Betrachter des Bildes – respektive den Maler – gibt es nicht einen festgesetzten zentralen Punkt, von dem aus das Bild konstruiert und betrachtet wird. Ein hetereozentrisches Bild inkludiert eine Vielzahl an Betrachterstandpunkten, worüber sich die Möglichkeit ergibt, verschiedene visuelle Eindrücke von Gegebenem im Bild zu projizieren, wie etwa vier Seiten eines Hauses. Eine heterozentrisch konstruierte bildliche Darstellung zeigt Deformationen, die geprägt sind von Wölbungen und Verzerrungen, die den Bildraum scheinbar verflachen. Zudem erscheinen die Figuren unbeweglich und starr. Doch verschiedene Betrachterstandpunkte summieren die verschiedenen möglichen Ansichten der im Bild dargestellten Gegenstände und Figuren wodurch sich ein offener Bildraum ergibt: Das heterozentrische Bild ist geprägt von einem dynamischen Raumsystem, das sich zum Bildbetrachter hin öffnet. Der Betrachter wird so gleichfalls in das Bild mit eingebunden. D.h.: Der Bildbetrachter der heterozentrischen Ikone ist selbst Objekt des Bildes. Ein beweglicher Betrachterstandpunkt negiert das subjektive Ich. Dem Betrachter eines zentralperspektivischen Bildes, das einen festen Betrachterstandpunkt evoziert, bietet sich ein Blick in die Welt – ähnlich einem Blick aus dem Fenster. Die Ikone mit ihrer spezifischen heterozentrischen Darstellungsweise versinnbildlicht dagegen den Blick Gottes auf die Welt. In diesem theozentrischen Blick ist jeder

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Vgl. Ps.-Dionysios CH II 1 und 2. Ps.-Dionysios CH III 3. Vgl. Janine Luge-Winter: »Das Erhabene erscheint«, a.a.O., S. 169.

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Einzelne Teil des Ganzen und in dieses Ganze als ein Objekt von vielen mit eingebunden. Das in der heterozentrisch konstruierten Ikone zur Darstellung Gebrachte zeigt eine objektive Realität, die die sichtbare Abbildung der transzendenten Wirklichkeit ist – einer von Licht durchfluteten göttlichen Wirklichkeit, die jegliche Zufälligkeit und jeglichen Schattenwurf ausklammert. Als materielles Tafelbild markiert nun die Ikone die Schwelle zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen transzendent göttlichem und sichtbarem weltlichen Sein. Dabei bleiben das Holz, die Formen und Farben des Tafelbildes dem Sinnlichen verhaftet, das allein in der Reflexion von Licht zur Geltung kommt. Die Schwelle hin zum Transzendenten markiert der Goldgrund, der – so haben es die vorliegenden Analysen definiert – als nicht Bildliches die Öffnung zum transzendenten Grund (αρχετυπον) des Bildes ist.10 Für Pavel Florenskij gehören Gold und Farbe verschiedenen Seinsbereichen an. Konkret ist für ihn Gold Ausdruck des Unsichtbaren, das als Abstrahiertes die Benennung des rein geistig Erfassbaren ist.11 In seiner Definition als Außernatürliches und damit nicht Bildliches ist der Goldgrund eine der Ikone immanente Abstraktion, die eine Öffnung hin zum Undarstellbaren ermöglicht: Denn verstanden als ein Inkomensurables stellt der Goldgrund das Erhabene als das Andere aus. Hierbei spielt jedoch die obligatorische Namenseinschreibung eine – wie gezeigt wurde – entscheidende Rolle: In ihrer Definition ist der in der Ikone eingeschriebene heilige Name (Nomina Sacra) φυσική εἰκὼν, d.h. natürliches Bild dessen, der im Bild artifiziell dargestellt ist. Mit der Einschreibung des heiligen Namens wird dem Bild eine relative Wesenheit zuerkannt, denn der Name steht in Relation zur Person, die benannt wird. Für die Ikone heißt das nun, dass die Einschreibung des Namens zum einen Identität im Sinn eines »Das ist …« stiftet. Zum anderen bestimmt sich über diese Einschreibung die Individualität, die den Grad der Heiligkeit des Bildes festlegt, was wiederum an den Grad der Heiligkeit der benannten Person gebunden ist.12 Der Name wird auf den Goldgrund der Ikone eingeschrieben. In ihren modernen Untersuchungen sieht Marie-José Mondzain nun genau darin die Verschränkung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren: Denn was mit dieser spezifischen Einschreibung überwunden wird, ist der Bruch zwischen dem, was benannt wird – der Heilige im Bild – und den Operationen, die nennen und zeigen. Letztere sind die Stimme Gottes, die im Sinne einer immanenten Trinität eins ist mit dem Vater und dem Bild (εἰκὼν). Das Einschreiben des Namens auf den Goldgrund, der das Erhabene als das Andere ausstellt, ist das Einschreiben der Stimme des Anderen,

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Siehe Kap. 3.2.2 Der Name als Performativ. Vgl. Florenskij: Die Ikonostase, S. 135f. Siehe Kap. 3.1.1 Das heilige Bild und seine Verehrung.

5. Ikone: Die mögliche Antwort auf die negative Theologie

die die Stimme Gottes ist. Als Anderes bleibt Gott als Undarstellbares dabei auch immer ein Anderes der Sichtbarkeit. Das Andere der Sichtbarkeit begegnet dem Betrachter der Ikone zudem als spezifischer Blick des Anderen. Das Andere ist hier stets das unbenennbare und undarstellbare und damit das erhabene Göttliche. Anhand der modernen Ikonentheorie Jean-Luc Marions ist aufgezeigt worden, dass in der Blickkreuzung zwischen Betrachter und Ikone sich das Unsichtbare als das Andere des Sichtbaren performiert: Definiert wurde das schwarze Nichts der Pupillen als der unsichtbare Ursprung des Blickes des Anderen auf das Subjekt.13 Die Blickkonstellation zwischen Ikone und Betrachter ist eine spezifische Kreuzung der Blicke des unsichtbaren Anderen und des endlichen Subjekts. Im Moment der Blickkreuzung kehrt sich nun die Richtung des Blickes um, denn der Betrachter der Ikone empfindet sich als Gesehener und wird sich eines unsichtbaren Blickes bewusst, der aufgrund der Spezifika der Ikone ein heiliger Blick ist. Der Moment der Blickkreuzung ist für Marion im Falle der Ikone nicht allein eine Umkehrung des Blickes. Diese Umkehrung geht einher mit einer Umkehrung der Intentionalität, die nicht mehr vom konstituierenden Subjekt ausgeht, in dessen Bewusstsein etwas von etwas gegeben ist. Im Blick der Ikone gründet sich die paradoxe Aufforderung, Intentionalität vom Unsichtbaren her zu denken, das außerhalb des Seins situiert ist. Die Ikone Christi ist eine solche Umkehrung par excellence, denn sie offenbart aufgrund der immanenten Trinität den Blick des göttlichen Vaters: Der sich in der artifiziellen Ikone offenbarende Blick bestimmt sich als umgekehrt intentionaler Blick, der aufgrund der spezifischen Relation von Bild und Urbild ein heiliger Blick ist. Der heilige Blick der Ikone wurde hier als nicht-ontisches Ereignis definiert, das sich im schwarzen Nichts der Pupillen als ein nicht-objekthaftes Phänomen gibt. Das sich im Schwarz der Pupillen Offenbarende ist das Andere des Sichtbaren als unsichtbarer Blick, der sich dem Gegenüber plötzlich und unerwartet offenbart und von diesem eine Antwort verlangt, die sich letztlich in der Proskynese ausdrückt:14 Im Moment der Offenbarung erkennt der in den Blick Genommene das Unsichtbare an und antwortet, indem er seinen Blick zu Boden richtet und vor dem Bild fußfällig wird. Im Sinne der negativen Theologie ist Gott gestalt- und formlos, allem unähnlich und über allem erhaben, weshalb es unmöglich scheint, ihn mit den Dingen der sinnlich wahrnehmbaren Welt gleichzusetzen – so das Verständnis der negativen Theologie.15 Die Ikone bietet nun über ihre sinnlich fassbaren Formen die Anschauung und die Erkenntnis des Sublimen: Der Goldgrund symbolisiert als nicht Bildliches die Öffnung des Sichtbaren hin zum transzendent Göttlichen, dessen Stimme 13 14 15

Siehe Kap. 3.1.2 Ikone als agierendes Bild. Siehe Kap. 3.1.1 Das heilige Bild und seine Verehrung. Vgl. Ps.-Dionysios DN IX 7.

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sich über den Namen des Bildes einschreibt und dessen Blick dem Betrachter des Bildes aus dem schwarzen Nichts der Pupillen begegnet. Doch das undarstellbare Göttliche bleibt dabei den sinnlich fassbaren Formen erhaben, weil es sich stets als ein Anderes gibt. Der Betrachter der Ikone ist so aufgefordert, über das Offensichtliche hinaus zu denken. Währende die Weise des ansichtigen Darstellens der Ikone als auch die obligatorische Namenseinschreibung als mögliche Sichtbarmachung des Anderen als Anderes für jede Ikone geltend gemacht werden kann, ist die Weise der Sichtbarmachung des Anderen als Anderes – das das erhaben göttliche Wesen ist – im Falle der Christus-Ikone eine Besondere, denn: Die Untrennbarkeit der menschlichen und göttlichen Natur und die damit einhergehende paradoxe Vermengung des Begrenzten mit dem Unbegrenzten, des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren schreibt sich im artifiziellen Bild des Sohnes fort: Das, was die Ikone Christi zeigt, ist allein die menschliche Gestalt Gottes in Form der sichtbar gewesenen Gestalt des Sohnes. Die Ontologie von Urbild und Abbild haftet dem artifiziellen Bild aufgrund der relationalen Definition der εἰκών an: Die Differenz der Ikone begründet sich in der Unähnlichkeit ihres Wesens – sie ist Holz und Farbe. Doch über ihre Relationalität – also darüber, dass ihr Abbild zum göttlichen Urbild in Bezug steht, das der metaphysische Grund des Bildes ist, ist die Christus-Ikone aufs Höchste ontologisch aufgeladen, d.h. eine Exzedenz, ein Überschießendes. Es sind die byzantinischen Ikonentheorien, denen es gelungen ist, diese Definition des Bildes zu formulieren, die gleichzeitig eine mögliche Antwort auf die negative Theologie ist: Die Ikone ist Sichtbarmachung des Undarstellbaren, indem sie die Unmöglichkeit der Darstellbarkeit des göttlichen Wesens betont, und zwar weil sie nicht beansprucht, Gott zu zeigen, sondern allein den Sohn in seiner menschlichen Gestalt. Der Sohn selbst führt das göttliche Wesen als Unsichtbares mit sich. Entscheidend ist also das Wie der Sichtbarwerdung Gottes: In seiner Selbstentäußerung wird der transzendente Gott im endlichen Sein als etwas sichtbar und zwar als Bild des wesensgleichen Sohnes. In der theologischen Setzung des Sohnes begründet sich das performative Moment des ontologischen Bildes, denn die Faktizität des Sohnes ist die Entäußerung Gottes in der Sichtbarkeit, durch das sich Gott selbst als Unentscheidbares und Undarstellbares mitteilt und vermittelt: Gott tritt als etwas Anderes ins Bild und wahrt so seine Alterität. Die Ikone verweist nun als artifizielles Abbild des (ontologischen) Bildes auf das undarstellbare Urbild, weil sie dessen Selbstentäußerung in (der spezifischen) Form der sichtbaren Gestalt des Sohnes zeigt, durch welche das artifizielle Bild zum Transzendenten hin tendiert. Die modernen Ikonentheorien sehen darin eine ikonoklastische Tendenz der Ikone, die Sichtbarmachung des Undarstellbaren ist, obwohl sie es nicht offensichtlich zeigt, jedoch sich im Sichtbaren zum Transzendenten hin öffnet. Ihr ikonischer Überschuss begründet sich in ihrer Leistung von Negation, denn die Ikone hält nicht einfach vor Augen, sondern führt zeigend das Unbestimmte und Undarstellbare als solches

5. Ikone: Die mögliche Antwort auf die negative Theologie

mit sich. Das entscheidende Mehr der Ikone, ihr ikonischer Überschuss, ist diese Akzeptanz des Undarstellbaren, das ihr ontologischer Grund ist und ihr daher in jeder Form ihrer Sichtbarkeit anhaftet.

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6. Quellen- und Literaturverzeichnis

Abkürzungen Abkürzung der Quellen ACO Acta Conciliorum Oecumenicorum Barl Barlaam Roman des Johannes von Damaskus CH De Coelestis Hierarchisa des Ps.-Dionysios Areopagites. DN De Divinis Nominibus des Ps.-Dionysios Areopagites. EH De Ecclesiastica Hierarchia des Ps.-Dionysios Areopagites. Exp Expositio fidei des Johannes von Damaskus. Imag Contra Imaginum caluminatores orationes tres des Johannes von Damaskus. Die auf Imag folgende römische Ziffer zeigt die jeweilige Rede an, die daran anschließenden Zahlenfolgen geben Kapitel und Zeile an, d.h. Imag III 16, 1-3 ist eine aus der dritten Rede entnommene Textstelle des 16. Kapitels, Zeile 1-3. Mansi J. D. Mansi: Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Florentiae, Nachdr. Paris-Leipzig 1902. MT De Mystica Theologia des Ps.-Dionysios Areopagites. PG Patrologia Graeca, hg. von J.-P. Migne, 161 Bde, Paris 1857-66. Pitra Ioannes Baptista Pitra Iuris Ecclesiastici Graecorum: Historia et Monumenta RGG4 Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007.

Abkürzung für Zeitschriften und Körperschaften HWP Historisches Wörterbuch der Philosophie, Begründet von J. Ritter, Darmstadt 1971ff. RAC Reallexikon für Antike und Christentum: Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentum mit der antiken Welt, Stuttgart 1950ff. ZNW Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kund der alten Kirche, Berlin 1900-.

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Ikonentheorien Byzantinische Ikonentheorien und ihre Übersetzungen Johannes von Damaskus: Contra Imaginum caluminatores orationes tres, in: Die Schriften des Johannes von Damaskus, besorgt von Bonifatius Kotter, hg. vom Byzantinischen Institut der Abtei Scheyern, Bd. III (1975). —: Contra Imaginum caluminatores orationes tres, Übersetzt und kommentiert von Dariusz ózef Olewiński, in ders.: Um die Ehre des Bildes: Theologische Motive der Bilderverteidigung bei Johannes von Damaskus, St. Ottilien 2004, S. 33-181, 196-246 und 252-319 (enthält außerdem Übersetzung und Kommentar zu Exp. 89, S. 332ff. sowie Barl. XIX, S. 345ff.). Nikephoros von Konstantinopel: Antirrheticus Primus – Tertius, in: Patrologia Graeca, hg. von J.-P. Migne, Bd. 100, 205-534. —: Antirrheticus Primus – Tertius, in Auszügen nach der franz. Übersetzung von Marie-José Mondzain ins Dt. übersetzt von Heinz Jatho, in: Marie-José Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie, Zürich 2011, S. 255-267. Theodor Studites: Antirrheticus Primus – Tertius, in: Patrologia Graeca, hg. von J.-P. Migne, Bd. 99, 327-426. —: Antirrheticus Primus – Tertius, in einer engl. Übersetzung von Catharine P. Roth: On the Holy Icons, New York 1981.

Moderne Ikonentheorien Florenskij, Pavel: Die umgekehrte Perspektive, München 1989 (russ. 1919/1920). —: Die Ikonostase, Stuttgart3 1996 (russ. 1922). Marion, Jean-Luc: »Idol und Bild«, in: Casper, Bernhard (Hg.): Phänomenologie des Idols, München 1981, S. 107-132. —: Die Öffnung des Sichtbaren, Paderborn 2005 (franz. 1996). Mondzain, Marie-José: Bild, Ikone, Ökonomie. Die byzantinischen Quellen des zeit- genössischen Imaginären, Zürich 2011 (franz. 1996). Shegin, Lew F.: Die Sprache des Bildes: Form und Konvention in der alten Kunst, Dresden 1982 (russ. 1970).

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis Originale Acta Conciliorum Oecumenicorum, ed. E. Schwartz, Tomus II: Con. Chalcedon (451), 6 vol. (Berolini-Lipsiae 1927/44) Aristoteles in XXIII Volumes, greac. and engl., translated by Hugh Tredennick, Repr., Edingbourgh 1957-1996. —: Metaphysics, a revised Text with Intriduction and Commentary by W. D. Ross, Vol. I and II, reprint. Oxford 1997. Athanasius von Alexandria Werke: »Urkunden zur Geschichte des Arianischen Streits«, Bd. 3/1, 1. und 2. Lieferung, hg. v. Hans-Georg Opitz, Leipzig 1935. Conciliorum Oecumenicorum Generaliumque Decreta, Tom. I: The Oecumenical Councils from Nicaea I to Nicaea II (325-787), edidit: Istituto per le scienze religiose Bologna, Editor: Giuseppe Alberigo, Turnhout 2006. Corpus Dionysiacum, Tom. I: De Divinis Nominibus, hg. von Beate Regina Suchla, Berlin/New York 1990. Corpus Dionysiacum, Tom. II: De Coelestis Hierarchisa, De Ecclesiastica Hierarchia, De Mystica Theologia, Epistulae, hg. von Günter Heil und Adolf Martin Ritter, Berlin/ New York 1991. Cyrill of Alexandria: Select Letters, edited and translated by Lionel R. Wickham, Oxford 1983. Ioannes Baptista Pitra: Iuris Ecclesiastici Graecorum: Historia et Monumenta Tom. I, Romae 1864. Johannes von Damaskus: Institutio Eelementaris, Capita Philosophica (Dialectica), besorgt von Bonifatius Kotter, hg. vom Byzantinischen Institut der Abtei Scheyern, Bd. I (1975). J. D. Mansi: Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Florentiae Nachdr., Paris/Leipzig 1902. Papyri graecae magicae: Die griechischen Zauberpapyri, hg. und übers. von K. Preisendanz unter Mitarbeit. von Sam Eitrem, Leipzig 1928-1941. Philonis Alexandrini: Opera Quae Supersunt, Bd. I-VII, edidit Leopoldus Cohn, Berlin1896. C. Plinii Secundi: Naturalis historiae, Liber XXXV, hg. und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, München 1978.

Übersetzungen Aristoteles: Kategorien, übersetzt und kommentiert von Klaus Oehler, Berlin 1984.

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7. Kompendium

causa formalis

ist eine der vier, von Aristoteles bestimmten klassischen Unterscheidungen von Ursache (causa): causa finalis (Zweckursache), causa efficiens (Wirkursache), causa formalis (Wirkursache) und causa materialis (Stoffursache)

causa emanatio exemplaris

Exemplarursache; in der scholastischen Philosophie ausfließen, hervorgehen (aus einer Urquelle) Synonym der aristotelischen causa formalis

communicatio idiomatum

Aussagenaustausch »Dieser Terminus bedeutet, dass die göttliche und menschlichen Eigenschaften und Handlungen Christi zwar jeweils der göttlichen bzw. menschlichen Natur Christi zugeschrieben werden können, aber nur von dem einen Subjekt, der einen Person Christi ausgesagt werden müssen, da die beiden Naturen nicht vonein-ander getrennt sonder aufeinander bezogen sind und somit ihre Attribute wechselseitig austauschbar sind.«1

agennētos hagios aperigraptos archetypon atreptōs diaphanēs eidōlatreia eidōlon

ἀγέννητος ἅγιος ἀπερίγραπτος ἀρχετῠπον ἀτρέπτως διαφᾰνής εἰδωλολατρεία εἴδωλον

ungezeugt heilig unumschreibbar Urbild, Original unwandelbar dazwischen, durchscheinend, durchsichtig Götzendienst Idol, Götzenbild, Nachbildung

eidos eikōn/eikones hen

εἶδος εἰκών/εἰκονες ἕν

wesentliche allgemeine Bestimmung, die etwas zu dem machen, was es ist2 Bild/Bilder das Eine

1 2

Bernd Manuel Weischer: Homilien und Briefe zum Konzil von Ephesos, Wiesbaden 1979, S. 14. Vgl. Erwin Sonderegger: Aristoteles, Metaphysik Z: Einführung, Übersetzung, Kommentar, Würzburg 2012, S. 534.

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Die Ikone und das Undarstellbare gennētos

γεννητος

Gezeugt

hylē idiotēs hieron

ὕλη ἰδιότης ἱερόν

Materie; Geeignetheit dafür, ein bestimmtes eidos anzunehmen3 Die Eigenheit, das Individuelle geheiligt, für heilig erklären

kenosis

κενοσις

Offenbarung, Epiphanie

ktisma

κτίσμα

Geschöpf

latreia

λατρεία

Anbetung

logos

λόγος

Rede und das darin Gedachte4

mimēsis

μίμησις

Nachahmung

mimēsis eikastikē mimēsis phantastikē mimētikē eikōn

μίμησις εικαστικη μίμησις φανθαστιη μίμητική εἰκών

ebenbildnerische Kunst (trügerische) nachahmende Kunst künstliche Abbilder

morphē nous homoiōma

μορφή νοῦς ὁμοίωμα

Form, Gestalt (bei Aristoteles oft identisch mit εἶδος) Geist, Sinn Gleichnis

homoiusios

ὁμοιούσιος

wesensähnlich

homoousios

ὁμοούσιος

wesensgleich

ousia hosios/hosiē

οὐσία ὅσιος/ὁσίη

(allgemeines) Wesens, wesenhaftes Sein, Substanz durch göttliches od. natürliches Gesetz bestimmt

paradeigma perigraphein

παράδειγμα περιγράϕειν

im Sinne von Vorherbestimmung Entwurfs- und Muster-Bilder in Gott, (lat. causa exemplaris) umschreiben, umschrieben sein

proorismoi pros ti

προορισμοί προς τι

Vorherbestimmungen (auch: παράδειγμα|paradeigma) in Relation zu, im Vehältnis zu

proskynēsis prosōpon

προσκύνησις πρόσωπον

göttliche Verehrung, Fußfall Person

prototypon

προτοτύπον

Prototyp, Vorbild, Muster

typos

τύπος

das dadurch bewirkte, das Geformte, Bild; Inhalt

hypostasis

ὑπόστασις

formales und nichtmaterielles Reales/Existierendes/Substrat; (Aristoteles: ὑποκείμενον, hypokeimenon)

3 4

Vgl. Sonderegger: Aristoteles, Metaphysik Z: Einführung, Übersetzung, Kommentar, Würzburg 2012, S. 535. Vgl. Sonderegger: Aristoteles, Metaphysik Z: Einführung, Übersetzung, Kommentar, Würzburg 2012, S. 536.

7. Kompendium hypostasis

ὑπόστασις

formales und nichtmaterielles Reales/Existierendes/Substrat; (Aristoteles: ὑποκείμενον, hypokeimenon)

skia

σκιὰ;

Schatten

schesis charaktēr

σχέσις χαρακτήρ

(lat. habitus v. habare) Haltung, Zustand, Beschaffenheit das Eingegrabene, das Eingeprägte, Eigentümlichkeit

physikē eikōn physis

φυσική εἰκών φύσις

natürliches Abbild Natur

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