Umkämpftes Essen: Produktion, Handel und Konsum von Lebensmitteln in globalen Kontexten 9783666301704, 9783525301708, 9783647301709


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German Pages [320] Year 2014

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Umkämpftes Essen: Produktion, Handel und Konsum von Lebensmitteln in globalen Kontexten
 9783666301704, 9783525301708, 9783647301709

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Transnationale Geschichte Herausgegeben von Michael Geyer und Matthias Middell Band 3: Cornelia Reiher / Sarah Ruth Sippel (Hg.) Umkämpftes Essen

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Cornelia Reiher / Sarah Ruth Sippel (Hg.)

Umkämpftes Essen Produktion, Handel und Konsum von Lebensmitteln in globalen Kontexten

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Mit 9 Abbildungen, 8 Karten und 5 Tabellen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30170-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Großmarkt in Oulad Teima, Stadt in der im Südwesten Marokkos gelegenen Souss-Ebene. (Foto: Sarah Ruth Sippel) © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Cornelia Reiher, Sarah Ruth Sippel 1. Einleitung: Umkämpftes Essen in globalen Kontexten . . . . . . . . . 9

Teil I Warenketten: Machtverschiebungen, Interessenkonflikte und ethische Herausforderungen Ernst Langthaler 2. Gemüse oder Ölfrucht? Die Weltkarriere der Sojabohne im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 41 Sarah Ruth Sippel 3. Kampf ums »rote Gold«: Die Tomate im Spannungsfeld europäisch-marokkanischer Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . 67 Janka Linke 4. Raupenpilz als functional food: Die Händler auf dem Großmarkt in Xining (VR China) und die Finanzkrise 2008 . . . 97 Peter Dannenberg, Elmar Kulke 5. Gewissensbisse: Darf ich frisches Gemüse aus Afrika essen? . . . . . 123

Teil II Transnationale Konzerne: Standards, Lebensmittelsicherheit und Ernährungssicherung Andreas Grünewald 6. Zwischen Selbstermächtigung und neuen Abhängigkeiten: Die Standardisierung des Biolandbaus in Österreich . . . . . . . . . . . 143 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Inhalt

Cornelia Reiher 7. Lebensmittelstandards als »Black Box«: Diskurse über Lebensmittelsicherheit und das Transpazifische Freihandelsabkommen in Japan . . . . . . . . . . . 172 Jörg Gertel 8. Der Preis für Brot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Teil III Vermarktungsstrategien: Herkunft, Lokalität und Authentizität Sonja Ganseforth 9. Fisch in Japan: Machtverschiebungen im Fischereisektor, Revitalisierungsstrategien und nationale Konsumdiskurse . . . . . . . 227 Sarah May 10. Spezialitäten verorten: Europäische Herkunftsangaben und der Mehrwert des Regionalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 You-Kyung Byun, Cornelia Reiher 11. Kulinarische Globalisierung: Koreanische Restaurants in Berlin zwischen Authentizität und Hybridisierung . . . . . . . . . . 271 Markus Keck 12. Supermärkte als Sehnsuchtsorte: Zum Wandel von Einkaufspraktiken in Dhaka, Bangladesch . . . . . . 292

Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Dank

Dieses Buch versteht sich als Beitrag zur deutschsprachigen Debatte über­ Essen und das globale Agri-Food-System aus Perspektive der empirischen Globalisierungsforschung und der Area Studies. Der Band ist das Ergebnis eines mehrjährigen Arbeits- und Austauschprozesses, an dem zahlreiche Personen und Institutionen beteiligt waren. Idee und Konzept entstanden im Kontext des DFG -Graduiertenkollegs »Bruchzonen der Globalisierung« und wurden im Rahmen des Centre for Area Studies an der Universität Leipzig und der Graduate School of East Asian Studies (GEAS) an der Freien Universität Berlin fortgeführt. Inspirierend war darüber hinaus die Konferenz »Food Scapes: Access to Food – Excess of Food« auf Schloss Seggau bei Graz im September 2013, auf der wir einige der hier versammelten Autoren für unser Projekt gewinnen konnten. Wir danken Ulrich Ermann und seinem Team am Institut für Geographie und Raumforschung der Universität Graz dafür, dass sie diese einmalige Chance zum Austausch möglich gemacht haben. Besonders danken wir darüber hinaus Matthias Middell, Direktor des Centre for Area Studies, für seinen Beitrag zur Umsetzung des Bandes. Als Herausgeber der Reihe Transnationale Geschichte begutachtete er alle Beiträge und gab uns wertvolle Anregungen und Hinweise. Ein großer Dank geht an Nadine Burgschweiger (GEAS) für ihre unschätzbare Unterstützung bei der redaktionellen Überarbeitung der Beiträge und an Lea Bauer für die professionelle Umsetzung der zahlreichen Karten und Abbildungen in diesem Buch. Für ihre Hilfe beim Korrekturlesen gilt unser Dank auch Julia Becker (CAS) und Henrike Kupsch (GEAS). Für ihre intellektuelle Inspiration und stetige Ermunterung danken wir unseren KollegInnen in Berlin und Leipzig, insbesondere Verena Blechinger-Talcott und Nadine Sieveking. Wertvolle Ansprechpartner bei Vandenhoeck & Ruprecht waren Kai Pätzke und Martina Kayser, denen wir an dieser Stelle für ihre Unterstützung und Geduld bei der Fertigstellung des Manuskriptes ein herzliches Dankeschön zukommen lassen möchten. Dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) danken wir für die Finanzierung der Drucklegung des Bandes. Berlin und Leipzig, im September 2014 Cornelia Reiher und Sarah Ruth Sippel © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Cornelia Reiher, Sarah Ruth Sippel

1. Einleitung: Umkämpftes Essen in globalen Kontexten

»Gegen Chlorhühnchen und Genfood« Seit Mitte 2013 haben es die Schlagworte »Chlorhühnchen«, »Hormon­ rinder«, »Turboschweine« und »Genfood« immer wieder in die Schlagzeilen deutscher Medien geschafft (vgl. Buchter et al. 2014, Piper & Hage­lüken 2014, taz.de 10.06.2014). Grund ist das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP). Ziel des Abkommens ist, so die Europäische Kommission, die »Beseitigung von Handelshemmnissen in einem breiten Spektrum von Branchen und damit die Erleichterung des Kaufs und Verkaufs von Waren und Dienstleistungen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten« (EC 2014, o. S.). »TTIP unfair handelbar« – ein Bündnis aus rund 60 NGOs – fragt hingegen: »[B]rauchen die Menschen in der EU, den USA und im Rest der Welt wirklich einen großen, deregulierten transatlantischen Markt?« (FUE 2014: 1). Das Abkommen, so argumentiert das Bündnis, bediene lediglich die Interessen großer Konzerne und Wirtschaftslobbyisten. Neben Themen wie Demokratie, Transparenz und der Regulierung der Finanzmärkte stehen Landwirtschaft, Agrarhandel sowie Verbraucher- und Gesundheitsstandards im Zentrum des Widerstands gegen das Abkommen. Das Netzwerk mobilisierte zahlreiche Menschen zu Demonstrationen in deutschen Städten und sammelte seit Herbst 2013 rund 715.000 Unterschriften gegen die TTIP, die es am 22. Mai 2014 den deutschen Spitzenkandidaten für das Europaparlament überreichte.

»Im Bio-Siegel-Dschungel« Bioland, Demeter, Naturland, GutBio, BioBio – seit Supermärkte und Discounter im großen Stil in den Biosektor eingestiegen sind, hat die Zahl der Bio-Siegel erheblich zugenommen. Neben staatlichen Bio-Siegeln existieren zahlreiche private Kennzeichnungen, bei denen nicht nur die Optik, sondern auch die zugrunde liegenden Standards mitunter große Unterschiede aufweisen (Kreutzberger 2009). Zugleich ereilte auch die Bio© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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branche in den letzten Jahren eine Reihe von Skandalen. Im Februar 2013 sorgte die falsche Kennzeichnung von Eiern aus konventioneller Haltung als »Bio-Eier« für Empörung. Millionen Eier, vor allem aus Niedersachsen, sollen so falsch deklariert in den deutschen Handel gelangt sein (Kröger 2013). Die deutschen Medien riefen nach mehr staatlichen Kontrollen, Tierschützer klagten Landwirte und die Agrarlobby an, weil diese Gewinne über das Wohl der Tiere stellten, und Verbraucherschützer kritisierten den Betrug an den Konsumenten (Focus online 26.02.2013). Nicht allein die Produktionsketten konventioneller Landwirtschaft, auch die Herstellungsbedingungen ökologischer Lebensmittel sind für den Konsumenten1 immer weniger transparent.

»Hunger zurück auf der Agenda« Ende 2007 und Anfang 2008 kam es zeitgleich zu Nahrungsmittelaufständen in vielen Ländern des Globalen Südens (Schneider 2008). Die teils tausenden von Demonstranten wurden mehrfach gewaltsam von Polizei- und Militärkräften niedergeschlagen. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, verhaftet und einige verloren ihr Leben. Ausgelöst wurden die Proteste durch den massiven Anstieg von Lebensmittelpreisen innerhalb kurzer Zeit: Nachdem die Preise für Nahrungsmittel seit der letzten Nahrungskrise Anfang der 1970er Jahre zwar volatil, jedoch tendenziell gefallen waren, stiegen sie zwischen 2005 und 2008 um 83 Prozent an – die Zahl der weltweit an Hunger leidenden Menschen erreichte knapp 1 Milliarde (Mittal 2009: 1). Eine Reihe sowohl kurzfristiger Faktoren als auch längerfristige Trends waren zusammengekommen: Der Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion und Ernteausfälle, niedrige Lagerbestände und eine steigende Nachfrage überlagerten sich mit einer neuen Biokraftstoffpolitik sowie dem zunehmenden Einfluss von Finanz­ akteuren, die im Zuge der Finanzkrise nach neuen Investitionsmöglichkeiten suchten. Nachdem Hunger etliche Jahre aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden gewesen war, drängte er sich mit Macht wieder auf die Agenda.

1 In der Nennung der männlichen Form schließen wir auch die weibliche mit ein. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Einleitung

1. Essen ist politisch Essen ist politisch. Exemplarisch stehen hierfür die drei einleitenden »Schlaglichter«: Die Sorge um die Sicherheit und Qualität der Lebensmittel in Deutschland sowie den Schutz vor gentechnisch veränderten Lebensmitteln mobilisiert hunderttausende Menschen zum Protest gegen die TTIPVerhandlungen. Landwirtschaft und Lebensmittel stehen im Zentrum des Freihandelsabkommens, dessen Konsequenzen jedoch hochgradig intransparent sind. Das zweite Schlaglicht zeigt, dass »Bio« von einer Nischenbewegung zu einem Massentrend geworden ist und in diesem Zusammenhang nicht von Missbrauch verschont bleibt. Dies sorgt für Verunsicherung der Konsumenten und wirft auf individueller Ebene Fragen danach auf, inwieweit der Griff zum Bioprodukt tatsächlich nachhaltiger und gesünder ist als der zum konventionellen und möglicherweise günstigeren Lebensmittel. Das dritte Schlaglicht verweist darauf, dass dies vor allem Themen der Konsumenten des Globalen Nordens sind: Während sie immerhin aus einem breiten Angebot von Lebensmitteln wählen können, hungert weltweit jeder Siebte, von denen der Großteil im Globalen Süden lebt. Die Serie weltweiter Nahrungsmittelaufstände 2007/08 rief ins Bewusstsein zurück, dass in einer Welt, in der Lebensmittel in großem Maßstab vernichtet werden, nach wie vor ein Viertel aller Menschen unterernährt ist – die Ursachen der Ernährungskrise waren jedoch vielschichtiger denn je. Die Beispiele zeigen: Hinter unserem Essen verbergen sich zunehmend komplexe globale Zusammenhänge. Landwirtschaft, der Handel mit Lebensmitteln und die Ernährungsindustrie zählen zu den größten Wirtschaftssektoren und Wachstumsbranchen weltweit. Wurden 1990 noch Lebensmittel im Wert von 315 Milliarden US -Dollar international gehandelt, waren es 2008 bereits 1,1 Billionen US Dollar; 2008 repräsentierten Lebensmittelverkäufe insgesamt rund 8 Billionen US -Dollar (Clapp 2012: 7/9). Marktmacht und Einfluss konzentrieren sich dabei vor allem auf den globalen Handel, die Verarbeitungsindustrie sowie den Einzelhandel (IAASTD 2009: 67), die wiederum von nur wenigen Akteuren dominiert werden. 2012 verzeichneten die 250 größten Einzelhändler Umsätze im Wert von 4,3 Billionen US -Dollar; ein Drittel davon entfiel auf die zehn größten Unternehmen, von denen Wal-Mart mit Abstand an der Spitze lag (469 Millionen US -Dollar). Hatten die zehn größten Saatguthersteller 1996 noch einen Marktanteil von 30 Prozent, kontrollieren diese  – angeführt von Monsanto und Syngenta  – mittlerweile © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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50 Prozent des globalen Marktes (Berne Declaration 2013: 2). Nur drei Unternehmen  – darunter Nestlé  – rösten 40 Prozent des weltweit gehandelten Kaffees (Berne Declaration 2013: 5). Konzerne wie Wal-Mart (Platz 20), Nestlé (Platz 36) und Unilever (Platz 110), Monsanto (Platz 334) und Syngenta (Platz 419), die ihre Gewinne unter anderem mit der Herstellung, Verarbeitung und dem Verkauf von Lebensmitteln, Saatgut und Pflanzen­ schutzmitteln erwirtschaften, zählen zu den einflussreichsten globalen Unternehmen ­(Forbes-Liste führender Unternehmen, Forbes 2014). Sie sind sowohl vertikal als auch horizontal integriert, bieten teils auch Finanzdienstleistungen an oder handeln mit Finanzprodukten und Energieerzeugnissen (Berne Decla­ration 2013: 4). Diesen wenigen mächtigen Konzernen stehen 450 Millionen Betriebe von Kleinbauern und weitere 450 Millionen Landarbeiter gegenüber (ebd., 2013: 13 f.). Diese Zahlen signalisieren: Essen ist ein ebenso einträgliches wie von ungleichen Machtverhältnissen geprägtes Geschäft. Während die Globalisierung unserer Lebensmittel mittlerweile alltäglich geworden ist – hierfür reicht es bereits, einmal die Herkunft aller Lebensmittel der letzten Mahlzeit zusammenzustellen (Harvey 1990: 422) – bleiben die dahinter verborgenen Produktionsweisen und Transportwege, Machtund Abhängigkeitsbeziehungen, Interessenkämpfe und sozialen Kosten weitgehend unsichtbar. Im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Restrukturierung des Einzelhandels ab Mitte des 20. Jahrhunderts fand auch eine Entfremdung von der sozialen und biologischen Herkunft von Nahrungsmitteln statt (Wright & Middendorf 2008b, Belasco 2008). In dem Maße, in dem Lebensmittel verfügbarer, günstiger und bequemer wurden, gerieten Sorgen der Ernährung in den Hintergrund. Die gesellschaftliche Verantwortung für Essen wurde an »Experten« wie Ernährungsberater oder Vertreter von Nahrungsmittelkonzernen ausgelagert, es herrschte ein allgemeines Vertrauen in das Ernährungssystem. Die Distanz in den Beziehungen zwischen Lebensmittelproduzenten und -konsumenten vergrößerte sich sowohl räumlich als auch mit Blick auf Wissen und Kenntnisse darüber, wo unser Essen herkommt und wie es hergestellt wird (Kneafsey et al. 2008). Dieses Wissen über Herkunftsbedingungen und Zusammenhänge ist es, das Dokumentarfilme wie »We Feed the World – Essen global« von 2006 oder »Food Inc.« von 2008 aufzudecken und ins öffentliche Bewusstsein zu rufen suchen (Lindenfeld 2010). Damit lockten sie mehrere hunderttausende Besucher in die Kinos. Diese und zahlreiche weitere »Essensdokus« stehen für ein neu erwachtes Interesse am Thema Essen und verdeutlichen: Die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Einleitung

Herausforderungen unseres globalen Ernährungssystems sind wieder in den Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt. Parallel zur voranschreitenden Industrialisierung der Landwirtschaft ist zugleich eine Vielzahl von alternativen Bewegungen rund um die Themen Essen und Ernährung entstanden, die darauf abzielen, die Verbindungen zwischen Lebensmittelproduzenten und -konsumenten wiederzubeleben oder neu herzustellen2: Die Entwicklung des Biolandbaus und Initiativen wie die solidarische Landwirtschaft eröffneten Landwirten alternative Produktionswege und Einkommensquellen, in zahlreichen Metropolen weltweit boomen urbane Gärten und guerilla farming (vgl. Carriker 2010, Fox 2011), Grüner Tourismus integriert Landwirtschaft in Tourismuskonzepte, und Bewegungen wie Slow Food zielen nicht nur auf eine neue Genuss­ kultur, sondern auch auf die Bewahrung alter Kulturpflanzen ab (vgl. P ­ etrini 2001, Assmann 2010). In diesem Kontext wurden nicht zuletzt die Endverbraucher selbst zu einer neuen und einflussreichen Akteursgruppe im globalen Ernährungssystem, die durch ihre zunehmend bewusster getroffenen Kauf­entscheidungen und teils grundlegenden Veränderungen ihres Lebens­ mittel­konsums nicht allein Konsumenten bleiben, sondern auch zu Bürgern und Aktivisten werden. Weit über den reinen Konsum von Lebens­mitteln hinaus geht es dabei um Fragen der Solidarität und Partizipation, Nach­ haltigkeit und Pluralismus sowie um alternative Formen, Austauschprozesse zu gestalten. Diese sozialen Bewegungen führen vor Augen: Was und wie wir essen ist keine alltägliche Nebensache, sondern vielmehr Bestandteil unseres Konzeptes davon, was wir sind und wie wir sein wollen. Alternative Food-Bewegungen zielen darauf ab, soziale Verhältnisse und die Strukturen des globalen Agri-Food-Systems zu transformieren. Aber nicht nur die Veränderung sozialer Verhältnisse, auch deren Erzeugung und Reproduktion sind politisch. Ungleichheiten und Machtbeziehungen werden dabei nicht allein auf nationalstaatlicher oder internationaler Ebene, sondern in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen produziert (Laclau & Mouffe 2006: 193). Das schließt sowohl die Verhandlungen von Freihandels­ abkommen und die Proteste gegen hohe Nahrungsmittelpreise als auch alltägliche Konsumentscheidungen vor dem Bio-Regal mit ein. In diesem Sinne ist es das Ziel dieses Bandes, auf unterschiedlichen Ebenen und in vielfäl­tigen Kontexten Akteure und Praktiken zu identifizieren, die Un2 Vgl. Kneafsey et al. (2008), Wright & Middendorf (2008a), Lemke (2012), Goodman et al. (2012). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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gleichheits- und Machtverhältnisse im globalen Agri-Food-System (re-)produzieren, bekämpfen und verändern.

2. Agri-Food-Studies als Forschungsfeld Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem globalen Ernährungssystem hat seit 2000 deutlich zugenommen. Zunächst vor allem aus dem anglo­ phonen Sprachraum kommend hat sich mit den »Agri-Food-Studies« ein breites Forschungsfeld herausgebildet, zu dem mittlerweile zahlreiche Organisationen, Zeitschriften und Studiengänge im Themenspektrum zwischen »agriculture« und »food« gegründet wurden.3 Agri-Food-Studies sind thematisch und disziplinär breit gestreut: Vertreter dieses Feldes bringen unterschiedliche wissenschaftliche Fachbereiche, theoretische Perspektiven und methodische Herangehensweisen zusammen – und zwar vor allem deshalb, weil sie disziplinenübergreifende Fragen stellen (Belasco 2008). Diese thematische, methodische und disziplinäre Breite macht die Agri-FoodStudies herausfordernd, aber auch aufregend und spannend. Trotz ihrer Diversität lassen sich jedoch ein gemeinsamer Forschungsgegenstand und ein zentrales Anliegen der Agri-Food-Studies identifizieren: Im Fokus der Betrachtung stehen das globale Ernährungssystem und die Beziehungen zwischen den Akteuren, die dieses gestalten. Die Art und Weise, wie unser Ernährungssystem organisiert ist, so die Annahme, gibt dabei Auskunft über gesellschaftliche Machtverhältnisse und damit verbundene Ungleich­heiten. Diese gilt es jedoch nicht allein zu analysieren und aufzudecken, sondern 3 Es existieren zahlreiche interdisziplinäre wie auch disziplinär verankerte Programme, insbesondere im englischsprachigen Raum. So eröffnete die School of Oriental and African Studies (SOAS) an der University of London im Mai 2013 das Food Studies Centre (soas.ac.uk/foodstudies). Das Berkeley Food Institute (food.berkeley.edu) oder das Program in Agrarian Studies an der Yale University (yale.edu/agrarian studies) sind prominente Beispiele aus den USA . In Deutschland existiert mit dem DFG Graduiertenkolleg 1666 »Global Food« an der Georg-August-Universität Göttingen ein Programm, in dem das Agri-Food-System aus agrarökonomischer Perspektive untersucht wird (uni-goettingen.de/de/191858.html). Es gibt zahlreiche internationale Fachgesellschaften, die die interdisziplinäre Forschung zu Landwirtschaft, ­Essen und Ernährung fördern (u. a. Association for the Study of Food and Society, Agriculture, Food and Human Values Society, Australasian Agri-Food Research Network, Canadian Association for Food Studies) und es existieren Fachjournale wie Food,­ Culture and Society, Agriculture and Human Values oder Rural Sociology, die sich diesen Themen widmen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Einleitung

auch mitzugestalten und zu verändern. Ungleichheiten sollen nicht allein kritisiert, sondern auch in ihren Konsequenzen bewertet werden. Vertreter der Agri-Food-Studies bewegen sich damit oftmals sowohl inhaltlich als auch persönlich an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und sozialer Bewegung (vgl. Patel 2008, Holt-Giménez & Patel 2009, Guthman 2011). Über das Denken von Alternativen zum gegenwärtigen Ernährungssystem hinaus tragen sie auch zu deren Umsetzung bei. Mit diesem Fokus und Anliegen sind die Agri-Food-Studies im deutschsprachigen Raum bisher kaum institutionalisiert. Die Themen Landwirtschaft, Essen und Ernährung werden zwar diskutiert, sind jedoch überwiegend in den einzelnen Disziplinen verortet.4 Eine stärkere fachübergreifende Vernetzung hat erst in den letzten Jahren begonnen.5 Umkämpftes Essen setzt an dieser Stelle an: Der Band bringt interdisziplinäre Perspektiven zusammen, die jeweils darauf abzielen, Produktion, Handel und Konsum von Lebensmitteln in globalen Kontexten zu analysieren, (neue) Verbindungen zwischen Produzenten und Konsumenten aufzuzeigen und die Interessen und Machtstrukturen aufzudecken, die das globale Ernährungssystem bestimmen. Drei Fragenkomplexe leiten den Band: 1) Welche Akteure prägen das globale Agri-Food-System und die Art und Weise, wie Nahrungsmittel produziert, gehandelt, vermarktet und konsumiert werden? 2) Was kennzeichnet die Beziehungen zwischen Produzenten, Händlern und Konsumenten von Lebensmitteln, welche Handlungsoptionen haben die verschiedenen Akteursgruppen, um auf das globale Ernährungs­system Einfluss zu nehmen, und sind Alternativen zu den derzeit existierenden Machtverhältnissen denk- und umsetzbar? 3) Wie werden vor dem Hintergrund globalisierter Produktion und Distribution von Lebensmitteln lokale, nationale oder hybride Esskulturen konstruiert, verbreitet, verteidigt oder institutionalisiert und auf welche Weise werden Identitätsdiskurse mit Fragen von Essen und Ernährung verknüpft? 4 Vgl. hierzu exemplarisch für die Geschichtswissenschaft Menninger (2004), Rischbieter (2011), Möhring (2012); für die Soziologie Kofahl (2010), Ploeger et al. (2011), Reitmeier (2013); für die Kulturwissenschaft Kimmich und Schahadat (2012), Kofahl et al. (2013), Beushausen et al. (2014); für die Ethnologie Ehlert (2012), Schellhaas (2012), von Poser (2013); und für die Geographie Lindner (2008), Gertel (2010), Dannenberg (2012), Ouma et al. (2013). 5 Für den deutschsprachigen Raum ist das Agro-Food Studies Network zu nennen (http://ruralhistory.at/de/agro-food). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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An den Schnittstellen zwischen Sozial- und Regionalwissenschaften sowie der Globalisierungsforschung angesiedelt, verbindet Umkämpftes Essen drei Ebenen: Der Band fokussiert erstens auf die Akteure, die das globale Ernährungssystem (mit-)gestalten, und analysiert ihre Interessen, Machtstrategien und Handlungsspielräume. Dies erfolgt zweitens am Beispiel empirisch dichter Fallstudien, die ausgewählte Einblicke in regionalspezifische Kontexte von Produktion, Handel und Konsum von Lebensmitteln liefern. Diese werden drittens in die globalen Zusammenhänge des Ernährungs­ systems eingeordnet und vor diesem Hintergrund diskutiert.

3. Globale Kontexte – lokales Handeln Globale Verflechtungen zwischen Lebensmittelproduktion, -handel und -konsum sind keineswegs neu, sie haben jedoch in den vergangenen Jahrzehnten sowohl an Quantität als auch an Qualität hinzugewonnen (vgl. Watts & Goodman 1997). Lebensmittel zeichnet aus, dass sie – im Gegensatz zu vielen anderen weltweit gehandelten Waren – an biologische Vorgänge gebunden sind (Friedland 2005). Sie wurden somit nicht gleichzeitig, sondern vielmehr produktspezifisch und in Abhängigkeit von Lagerungs-, Transport- und Kühlmöglichkeiten »globalisiert« (vgl. Freidberg 2009, Bourlakis et al. 2011). Waren wie Kaffee, Tee oder Zucker wurden bereits über Jahr­ hunderte hinweg gehandelt und waren dabei aufs engste mit Kolonialismus und Imperialismus verflochten (vgl. Mintz 1985, Menninger 2004, Rischbieter 2011). Verderbliche Lebensmittel wie Obst und Gemüse, Fleisch oder Milchprodukte wurden hingegen erst im Laufe des 20. Jahrhunderts zu global gehandelten Gütern (Fold & Pritchard 2005b). Untersuchungen von Lebensmittelproduktion, -handel und -konsum im Kontext der Agri-FoodStudies sind damit stets auch als Studien »globaler Zusammenhänge« zu sehen. So war die Analyse international agierender Akteure (Transnational Corporations, TNCs) und ihrer Akkumulation von Macht innerhalb des Agri-Food-Systems einer der ersten Forschungsgegenstände (vgl. Bonanno et al. 1994, Broehl 1992, 1998) – und bildet nach wie vor einen Schwerpunkt aktueller Untersuchungen (vgl. Rama 2005, Clapp & Fuchs 2009, Murphy et al. 2012). Aus sozioökonomischer Perspektive sind insbesondere zwei Ansätze zur Analyse der Globalisierung des Ernährungssystems prominent: Der 1989 von Friedmann und McMichael entworfene Food-Regime-Ansatz fokussiert © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Einleitung

auf die Entwicklung der Landwirtschaft und (Agrar-)Politik und beleuchtet dabei die zentrale Rolle von Lebensmitteln in einer globalen politischen Ökonomie (Friedmann & McMichael 1989, McMichael 2009). Ziel des Ansatzes ist die Identifikation zeitlicher Perioden und Muster von Produktion und Handel, die diese bestimmen. Globale Warenkettenansätze fokussieren hingegen auf die einzelne Ware und verfolgen diese über verschiedene Verarbeitungsschritte hinweg – auf diese Weise lassen sich vor allem die unterschiedlichen Akteure innerhalb des globalen Ernährungssystems regionenübergreifend miteinander verknüpfen (vgl. Bair 2009a). Neben den sozioökonomischen wurden auch kulturelle Dimensionen der Globalisierung des Ernährungssystems in ihren unterschiedlichen Ausprägungen untersucht. Insbesondere die Fast-Food-Kette McDonald’s wurde zunächst zum Symbol für die globale Homogenisierung von (Ess-)Kultur erklärt (Barber 1995), jedoch auch im Hinblick auf ihren tatsächlichen Einfluss auf lokale Esskulturen und Ernährungspraktiken hinterfragt (Watson 2006). Phänomene der kulinarischen Globalisierung wurden anhand von Konzepten wie Hybridisierung und Glokalisierung diskutiert (vgl. Appadurai 1988, Ng 2001). Neben der Globalisierung »westlicher« Lebensmittel, Supermärkte, Gerichte und Ernährungstrends wird auch die globale Verbreitung nicht-westlichen Essens untersucht. Prominentes Beispiel hierfür sind die Aneignungen von Sushi in Asien (Ng 2001) und im »Westen« (vgl. Bestor 2001, 2004, Issenberg 2007, Sakamoto & Allen 2011). Am Beispiel von Essen wurden den vorherrschenden eurozentristischen Globalisierungskonzepten, die Globalisierung häufig als ein vom »Westen« (USA und/oder Europa) ausgehendes Phänomen konzipierten, komplexere Ansätze entgegengestellt.6 Globalisierung ist somit auch und gerade aus Produktion, Handel und Konsum von Lebensmitteln nicht mehr wegzudenken. Diese Feststellung bedeutet jedoch nicht, dass das Element des Globalen nicht mehr der Thematisierung bzw. Problematisierung bedarf. Die raumzeitlichen Machtgeometrien (Massey 1999), die globale Zusammenhänge charakterisieren, sind nicht nur nach wie vor existent, sondern auch ungebrochen weitreichend in ihren Konsequenzen. Besonders deutlich zeigte sich dies in der Ernährungskrise 2007/08 und den ihr zugrunde liegenden Kausalstrukturen, den komplexen Verflechtungen zwischen Landwirtschaft, Nahrungsmittelhandel, Energie- und Finanzsektor (vgl. Clapp 2012, Rosin et al. 2012). Diese führen 6 Vgl. Befu (2001), Kang und Yoshimi (2001), Iwabuchi (2002), Yoshimi und MorrisSuzuki (2004). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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nicht zu »mehr« Globalisierung, vergrößern jedoch, wie Clapp (2014) aufzeigt, die Distanz innerhalb des globalen Ernährungssystems. Dieser Grad an Komplexität macht es zunehmend schwieriger, das globale Ernährungssystem zu verstehen, geschweige denn zu seiner Veränderung beizutragen. Nach wie vor gilt, was Giddens (1996) als »Entbettung« charakterisierte: Soziale Beziehungen werden aus ihren ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen herausgehoben und über Raum-Zeit-Spannen hinweg umstrukturiert – die Qualität der Entbettung befindet sich jedoch im Wandel und bedarf entsprechend der Untersuchung. Wir möchten Globalisierung dabei als ein politisches Projekt verstehen, hinter dem Machtbeziehungen und -interessen stehen (Massey 2005). Denn Globalisierung passiert nicht einfach, sie wird vielmehr aktiv gestaltet: Werden dreimal so viele Lebensmittel vernichtet, wie benötigt würden, um die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren, während ein Siebtel aller Menschen hungert, so ist dies kein Geschehen, sondern Verantwortungsversagen (Devereux 2007, Gertel 2010). Zugleich betrachten wir Globalisierung nicht als einen auf das Lokale hereinbrechenden und sich über dieses hinwegsetzenden Prozess (Robertson 1998). Wie jedes andere soziale Phänomen ist auch Globalisierung lokalen Ursprungs und wird vom Lokalen aus geschaffen (Massey 2004). Dieser Ansatz hat weitreichende Konsequenzen dahingehend, auf welchen Ebenen Handlungsspielräume und das Potenzial für politische Veränderungen – wie eine alternative Gestaltung des Ernährungssystems – angesiedelt werden. Veränderungen sind damit nicht allein »auch« aus dem Lokalen heraus möglich, sondern notwendigerweise Resultat spezifischen, in lokalen Kontexten verorteten politischen Handelns. Die Untersuchung lokaler Akteure sowie ihrer Praktiken und Handlungsspielräume wird so zu einem zweiten zentralen Anliegen dieses Bandes. Hierfür bieten sich Ansätze an, die Struktur als das Ergebnis sozialer Beziehungen sehen (Giddens 2010 [1984]). Struktur ist dann sowohl Medium als auch Ergebnis, durch menschliches Handeln veränderbar und wirkt einschränkend ebenso wie ermöglichend (Wright & Middendorf 2008b: 16). Menschliches Handeln kann als an Raum und Zeit gebunden, intentional motiviert sowie an die Verfügung über Ressourcen gekoppelt betrachtet werden (Gertel 2010: 3). Handlungsspielräume ergeben sich entsprechend, wenn eine Situation einem Akteur unterschiedliche individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnet und dieser zugleich über die notwendige Ressourcenausstattung verfügt, um verschiedene Handlungsziele anstreben zu können (Sippel 2014: 53). Vor diesem Hintergrund geht es uns darum, zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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untersuchen, auf welche Weise Akteure das globale Agri-Food-System durch ihr Handeln prägen, dominieren, stabilisieren oder vielmehr herausfordern und mit welchen Möglichkeiten und Reichweiten sie dies tun. Alle Fallstudien betrachten Akteure dabei stets an konkreten Orten und im Zusammenhang mit ihrer raumspezifischen Einbettung. Ausgangs- und Bezugspunkt der im Kontext der Agri-Food-Studies entstandenen Literatur ist oftmals der Globale Norden, insbesondere Nord­ amerika. Obgleich auch dieser Band in einem europäischen Kontext entstanden ist und Texte deutschsprachiger Autoren vereint, war es unser Ziel, über eine Area-Studies-Perspektive einen eurozentristischen Fokus zu vermeiden und Europa vielmehr als eine Region unter vielen zu betrachten (Chakrabarty 2000). Neben Europa versammelt der Band Fallstudien aus Asien und (Nord-)Afrika (vgl. Karte 1.1). Die Autoren nehmen dabei Perspektiven der kritischen, selbst-reflexiven Area Studies ein (vgl. Middell 2013), die darauf abzielen, auch innerhalb einer globalisierten Welt die Unterschiede zwischen Regionen und Orten als solche anzuerkennen und ernst zu nehmen (Robinson 2003). Sie sind keine Frage nachholender Entwicklung, sondern werden im Zuge von Globalisierungsprozessen vielmehr oft selbst reproduziert und aufrechterhalten.

4. Beiträge des Bandes Die Beiträge des Bandes sind drei zentralen Forschungsgegenständen innerhalb der Agri-Food-Studies zuzuordnen: 1)  der Untersuchung einzelner Produkte im Rahmen der Ansätze zu globalen Warenketten, 2)  der Analyse der Macht transnationaler Konzerne und den Implikationen von Lebensmittelstandards und 3) Fragen der Verortung und Vermarktung von Lebensmitteln.

4.1 Warenketten: Machtverschiebungen, Interessenkonflikte und ethische Herausforderungen Im Zentrum der Beiträge des ersten Teils stehen mit Soja, frischem Gemüse sowie Raupenpilz einzelne Warenketten spezifischer Produkte. Warenketten­ analysen zählen zu den »klassischen« Ansätzen innerhalb der Agri-FoodStudies. Sie erlauben es, die Ebenen der Produktion, Verarbeitung, Vertei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Karte 1.1: Fallstudien des Bandes

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lung und Konsumtion innerhalb des globalen Ernährungssystems konzeptionell miteinander zu verbinden. Das Konzept der »Warenkette« (Hopkins & Wallerstein 1986) entstand im Kontext der Weltsystemtheorie als alternativer Zugang zu den Machtungleichheiten eines globalen Kapitalismus (Berndt & Boeckler 2012: 223). Gereffi und Korzeniewicz griffen den Begriff der Warenkette auf und erweiterten ihn um die Dimension des Globalen (global commodity chain) (Gereffi et al. 1994).7 Ursprünglich auf die Analyse industrieller Waren und der Position von Unternehmen innerhalb der globalisierten Weltwirtschaft ausgerichtet, wurde die Untersuchung einzelner globaler Warenketten auch in den Agri-Food-Studies zu einem wichtigen Denkansatz. Die Literatur zu Warenketten hat mittlerweile eine erhebliche Breitenwirkung entfaltet und wurde in vielfache Richtungen weiterentwickelt.8 Ein Kerninteresse der Warenkettenansätze liegt auf den wechselseitigen (Macht-)Beziehungen zwischen den in die Warenkette eingebundenen bzw. diese steuernden Akteuren. Insbesondere der zunehmende Einfluss von Supermarktketten auf die landwirtschaftliche Produktion wurde als eine neue Dimension der durch Großabnehmer gesteuerten Warenketten beschrieben (buyer-driven commodity chains, vgl. Dolan & Humphrey 2000, Konefal et al. 2005, Burch & Lawrence 2007). Sukzessive wurden neben den Unternehmen weitere Aspekte der Steuerung – beispielsweise durch politische Institutionen – sowie neue Akteursgruppen – wie Konsumenten und ihre Einflussmöglichkeiten – in die Analyse einbezogen.9 Ein weiterer Forschungsstrang fokussiert insbesondere auf das Verhältnis zwischen globa­ lisierten Märkten und Produzenten im Globalen Süden und beschäftigt sich mit den Bedingungen, unter denen diese in exportorientierte Warenketten integriert bzw. von ebendiesen ausgeschlossen werden (vgl. Swinnen 2007, Henson & Humphrey 2010, Lee et al. 2012). Daneben fordern einige Autoren, globale Warenketten und ihre Implikationen stärker in lokale Zusammenhänge einzubetten und hierfür mit 7 Zu weiteren verwandten Ansätzen wie der Weiterentwicklung zur globalen Wertschöpfungskette (global value chain), den die räumliche Dimension hervorhebenden globalen Produktionsnetzwerken (global production networks) oder der umfassenderen Warensystemanalyse (commodity systems analysis) sowie ihren jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschieden vgl. Bair (2009b). 8 Vgl. Hughes & Reimer (2004), Fold & Pritchard (2005a), Stringer & LeHeron (2008), Bair (2009a). 9 Vgl. Gibbon & Ponte (2005), Kulke (2007), Talbot (2009), Goodman et al. (2012), Lemke (2012). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Aspekten wie Arbeitskraft, Risiken und Existenzsicherung zu verbinden.10 Die Beiträge im ersten Teil des Bandes beziehen sich auf dieses Themenspektrum und kombinieren Warenkettenansätze mit weiteren konzeptionellen Perspektiven, wie den politisch-institutionellen Kontexten im Rahmen des Food-Regime-Ansatzes, Konzepten von Raum und Territorialität, Existenzsicherungsansätzen sowie Fragen von Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit. Ernst Langthaler verbindet seine historische Untersuchung der Entwicklung der Sojabohne seit Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Food-RegimePerspektive. Dies gibt der Analyse der Soja­bohnenwarenkette eine historische Tiefenschärfe und erlaubt es, sie über unterschiedliche Zeitabschnitte hinweg in ihre spezifischen historisch-politischen Rahmenbedingungen einzubetten. Zugleich werden jedoch auch die beteiligten Akteure und die zwischen ihnen bestehenden, sich kontinuierlich verschiebenden Machtbeziehungen berücksichtigt. Die Karriere der Sojabohne, so zeigt Lang­thaler, bewegte sich stets in einem Spannungsfeld zwischen ihrer Nutzung als Gemüse bzw. Ölfrucht. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam Soja in Europa und Nordamerika eine zunehmend zentrale Stellung für die menschliche Eiweißversorgung zu  – allerdings nicht als regional kultiviertes und direkt verzehrtes Gemüse wie in Ostasien, sondern als global gehandelte und indirekt, über die Massenproduktion und -konsumtion von (Schweine-)Fleisch, verwertete Ölfrucht. Sarah Ruth Sippel zeigt am Beispiel der Warenkette marokkanischer Tomaten den weitreichenden Einfluss politischer Institutionen auf den Handel mit Agrarprodukten auf. Die Steuerung durch Institutionen wie die EU ist dabei als ein Ergebnis der Aushandlung von Interessen zu sehen, bei denen sich die betreffenden Akteure jeweils explizit bzw. implizit auf unterschiedliche Konzepte von Territorialität und Raum beziehen. Interessenkonflikte im Tomatenhandel zwischen Marokko und der EU, so argumentiert die Autorin, zeigen sich besonders deutlich auf drei Ebenen: In den Handelsbeziehungen zwischen Marokko und der EU stellt die Tomate einen »Zankapfel« dar, in dessen Aushandlung neben den handelspolitischen Interessen auf beiden Seiten auch sicherheitspolitische und geostrategische Überlegungen hineinspielen. Die Tomate ist zugleich ein äußerst lukratives Produkt, sie wird zum »roten Gold«, von dem zahlreiche – auch europäische – Akteure in Marokko zu profitieren suchen. Auf einer weiteren Ebene spie10 Vgl. Gertel (2010), Challies & Murray (2011), Coe (2012), Gertel & Sippel (2014). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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len Territorialkonflikte um die Westsahara in den Tomatenhandel hinein, womit sie eine dritte Bedeutung, die der »Besatzungstomate« zugeschrieben bekommt. Im nachfolgenden Beitrag von Janka Linke steht mit dem Raupenpilz eine seit einigen Jahren in starkem Aufwind befindliche, neue Kategorie von Lebensmitteln im Zentrum: functional food, welches den Konsumenten einen über die Ernährung hinausgehenden Nutzen verspricht. Die Raupenpilzwarenkette verbindet das tibetische Hochland und angrenzende Himalayagebiete mit den reichen Millionenstädten im südöstlichen China. Dort gilt der Pilz – teurer als Gold – mittlerweile als Statussymbol und Luxusgut. Linke konzentriert sich dabei auf die Akteursgruppe der Händler auf dem Raupenpilzgroßmarkt in Xining und beleuchtet sowohl deren lokale Interaktionen als auch ihre Exponiertheit gegenüber globalen Risiken. Am Beispiel der Finanzkrise 2008 analysiert der Beitrag, welche Strategien die Händler in dieser Situation verfolgten, um den Handel aufrechtzuerhalten, und verbindet auf diese Weise Warenkettenperspektiven mit Fragen der Existenzsicherung lokaler Akteure und ihren Handlungsspielräumen in globalen Zusammenhängen. Der vierte Beitrag in diesem Teil beschäftigt sich schließlich mit den ethischen Herausforderungen des globalen Lebensmittelhandels am Beispiel der kenianischen Exportproduktion – und problematisiert diese insbesondere aus der Perspektive der Konsumenten. Peter Dannenberg und ­Elmar Kulke zeigen drei Dimensionen auf, in denen sich das Nachforschen und Nachdenken über den Konsum importierter Lebensmittel lohnt: food­ miles bzw. die Frage nach dem Energieverbrauch eines zunehmend globalisierten Ernährungssystems, virtuelles Wasser sowie Aspekte sozialer Gerechtigkeit. Der Beitrag zeigt die Komplexität der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Globalisierung des Agri-FoodSystems auf und verweist auf die damit verbundenen Herausforderungen und Verantwortlichkeiten.

4.2 Transnationale Konzerne: Standards, Lebensmittelsicherheit und Ernährungssicherung Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich insbesondere mit der Regulierung von Lebensmittelhandel und -produktion durch Regierungen, internationale Organisationen und transnationale Konzerne. Die hier versam© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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melten Beiträge gehen der Frage nach, wer die »Spielregeln« des globalen Ernährungssystems bestimmt. Große transnationale Konzerne dominieren zunehmend das globale Agri-Food-System und können über WTO und Freihandelsabkommen auf nationale Verbraucherschutzgesetzgebungen und staatliche Standards für Lebensmittelsicherheit Einfluss nehmen. Vertreter des Food-Regime-Ansatzes sprechen von einem corporate food­ regime, das durch transnationale Unternehmen – insbesondere große Handelsketten  – gekennzeichnet ist, welche durch die Setzung privater Qualitätsstandards die staatliche Autorität bei der Festlegung von Standards unterwandern (McMichael 2013: 41 f.). In den Agri-Food-Studies wird insbesondere das Nebeneinander von privaten, staatlichen und internationalen Standards problematisiert. Private Standards seien de facto längst wichtiger als staatliche Standards, würden aber nicht von internationalen Organisationen oder staatlichen Behörden kontrolliert (vgl. Busch & Bain 2004, Hobbs 2010). Die Machtverhältnisse zwischen den Akteuren, die Standards festlegen, denjenigen, die die Einhaltung der Standards kontrollieren und Produkte und Unternehmen zertifizieren sowie den Produzenten, die Standards umsetzen (müssen), werden kritisch hinterfragt.11 Neben den Qualitätsstandards spielt Lebensmittelsicherheit (food safety) eine zentrale Rolle in den Agri-Food-Studies.12 Im Zuge der enormen räumlichen Entfernung sowie der damit einhergehenden, sukzessiven Entfremdung zwischen Produktions- und Konsumtionsräumen müssen sich End­ verbraucher hinsichtlich der Sicherheit ihrer Lebensmittel auf Informationen von Produzenten, Händlern und Kennzeichnungen von Behörden verlassen. In regelmäßigen Abständen wiederkehrende Lebensmittelskandale, wie der eingangs erwähnte Skandal um falsch deklarierte »Bio-Eier«, führen dabei immer wieder zu Verunsicherung (Phillips 2008). Autoren der AgriFood-Studies zeigen auf, dass Lebensmittelsicherheit, ebenso wie die damit verbundenen Standards und Technologien, das Ergebnis von vielschichtigen Aushandlungsprozessen zwischen Produzenten, der lebensmittelverarbeitenden Industrie, Wissenschaftlern und Behörden, Regierungsvertretern und Verbraucherschützern sind (Busch 2004). Während im Rahmen der Debatten um food safety vornehmlich »westliche« Konsumentengruppen im Zentrum stehen, fokussiert ein weiterer 11 Vgl. Busch (2004), Hirata Kimura (2009), Hatanaka (2010, 2014), Eden (2011), Konefal und Hatanaka (2011), Dannenberg (2012). 12 Vgl. Echols (2001), Nestle (2002, 2003, 2006), Busch (2004), Nerlich (2004), Halkier (2004), Carruth (2006), Randall (2009). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Forschungsstrang auf die Frage, wie sich die globale Lebensmittelproduktion bis auf die Mikroebene der Existenzsicherung von Haushalten und Individuen niederschlägt. Konsumenten des Globalen Südens werden als unmittelbar in Agri-Food-Systeme eingebunden betrachtet und mehr noch in ihrer Ernährungssicherung (food security) als maßgeblich gegenüber globalen Nahrungskrisen exponierte Gruppe identifiziert (Gertel 2010). Gleichzeitig sind es wiederum transnationale Konzerne, die sowohl mit Nahrungshilfen als auch mit dem Lebensmittelhandel und der Spekulation mit Lebensmitteln Profite erwirtschaften (vgl. Clapp 2004, Clapp & Cohen 2009, Murphy et al. 2012). Hier zeigen sich die Verflechtungen zwischen Regierungen, internationalen Organisationen und transnationalen Konzernen, die gemeinsam die Deregulierung der globalen Märkte vorangetrieben haben. Die Beiträge des zweiten Teils des Bandes setzen sich mit diesem Themenspektrum aus drei unterschiedlichen Perspektiven auseinander: Die ersten beiden Beiträge beleuchten, auf welche Weise Akteure wie Landwirte und Konsumentenvertreter versuchen, mit der Macht transnationaler Konzerne umzugehen, und welche Rolle hierbei Qualitäts- bzw. Lebensmittelsicherheitsstandards spielen. Andreas Grünewald zeichnet am Beispiel Österreichs die Entwicklung des Biolandbaus nach. Im Zentrum steht die Frage, auf welche Weise Biostandards dem Biolandbau sowohl zu starkem Aufschwung verholfen als ihn auch grundlegend verändert haben. Von einer Nischenstrategie, so zeigt der Autor, ist der Biolandbau mittlerweile zur globalen Erfolgsgeschichte geworden. Das Verhältnis zwischen Biobauern und Biostandards hat sich dabei allerdings fundamental gewandelt: Nutzten die österreichischen Biobauern Standards anfänglich selbst, um den Biolandbau zu etablieren, haben sich mittlerweile die Supermärkte die Standardsetzung angeeignet und geben damit vor, wer heute auf welche Weise als Biolandwirt tätig sein kann. Grünewald argumentiert, dass dieser Prozess durch das Ineinandergreifen staatlicher und privater Formen der Regulierung im Nahrungsmittelsektor ermöglicht wurde. Die Folgen dieser Entwicklung sind sowohl für die beteiligten Bauern als auch für die Konsumenten gravierend – und nicht zuletzt aus der Perspektive demokratischer Partizipation kritisch zu hinterfragen. Auf der Ebene der demokratischen Mitbestimmung und Partizipation hinsichtlich der Regeln des globalen Lebensmittelhandels setzt auch der Beitrag von Cornelia Reiher an. Sie analysiert die Debatten um das Trans­ pazifische Freihandelsabkommen in Japan und fokussiert insbesondere auf © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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die Rolle von Lebensmittelstandards, um die die Argumente der Befürworter und Gegner kreisen. Sowohl das geplante Freihandelsabkommen als auch die Verfahren zur Festlegung von Standards, so zeigt sie, sind weitgehend intransparent. Sie werden damit zu »black boxes«, über deren Inhalte keine informierte öffentliche Diskussion stattfinden kann. Die Akteure blenden jedoch auch die Macht transnationaler Konzerne bei der Setzung privater Standards aus, indem sie maßgeblich auf die nationalstaatliche Souveränität bei der Regulierung von Lebensmittelsicherheit fokussieren. Über die Analyse der japanischen Debatte hinaus liefert der Beitrag Vergleichsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte zu weiteren Freihandelsabkommen, wie das eingangs erwähnte, gegenwärtig verhandelte TTIP-Abkommen zwischen der EU und den USA . Auch der dritte Beitrag dieses Teils beschäftigt sich mit der Macht transnationaler Lebensmittelkonzerne im globalen Agri-Food-System. Jörg Gertel zeigt, wie globale Getreidehändler wie Cargill Einfluss auf die Preisentwicklung des wichtigsten Grundnahrungsmittels – Brot – in Ägypten nehmen. Der Beitrag setzt in den 1970er Jahren an und analysiert bis in die Gegenwart der Protestbewegungen während des Arabischen Frühlings die vielschichtigen Konsequenzen, die aus der Abhängigkeit des Landes von Weizenimporten resultieren. Seit der Jahrtausendwende ist eine weitere Ebene, die der Finanzialisierung des Agri-Food-Systems, hinzugekommen, die die Verursachungsketten »globalisierter Nahrungskrisen« nochmals komplexer werden lässt. Während Gewinne seitens transnationaler Konzerne privatisiert werden, tragen die Kosten vor allem arme Bevölkerungsgruppen. Wie in Cornelia Reihers Beitrag zeigt sich: Protestaktionen, die nationale Regierungen adressieren, sind nur bedingt zielführend – vielmehr sollten Akteure wie Banken, Getreidehändler und anonyme Shareholder für ihre Handlungen und Interessen zur Verantwortung gezogen und für die von ihnen verursachten Nahrungskrisen haftbar gemacht werden.

4.3 Vermarktungsstrategien: Herkunft, Lokalität und Authentizität Der dritte Teil  des Bandes wendet sich schließlich dem Themenspektrum der Vermarktung und den Orten des Konsums von Lebensmitteln zu. Im Zentrum der Beiträge stehen jeweils die Strategien, mit denen Lebensmittel und Konsumtionsorte vermarktet und den Konsumenten nahegebracht werden. Hierfür sind, so zeigen die Autoren, je nach Kontext Motive wie Loka­ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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lität, Herkunft und Tradition, die Schaffung von Authentizität wie auch Narrative von Moderne und Fortschritt von Bedeutung. Die Beiträge reihen sich damit in das Forschungsfeld zur Globalisierung von Ernährungsweisen und zur Entstehung transnationaler, hybrider Konsum- und Esskulturen ein. Kulturbezogene Ansätze beschäftigen sich vor allem mit den vielfältigen Bedeutungen von Essen als Medium, Symbol und Identitätsmarker in Alltagspraktiken oder religiösen Zusammenhängen. Während Ernährungspraktiken und deren symbolische und soziale Funktionen in »exotischen« Kulturen in der Vergangenheit vor allem Gegen­stand ethnologischer Studien über Essen waren (vgl. Malinowski 1922, Mauss 2002 [1925], Lévi-Strauss 1970), untersuchen heute neben Ver­tretern der nutri­ tional anthropology auch Kulturwissenschaftler, Historiker und Geographen verschiedene Aspekte von Esskulturen. So wird in der kulturwissen­ schaftlichen Globalisierungsforschung die Funktion von Lebensmitteln und Ernährung bei der Imagination des »Globalen« und »Lokalen« sowie von »Nationen« und »Regionen« problematisiert.13 Im Fokus dieses Forschungsstrangs steht die Bedeutung von Migration für das Entstehen hybrider Küchen und Ernährungsgewohnheiten (vgl. Basok 2002, Smart 2003). Daneben werden lokale Ängste vor einer Homogenisierung von Esskultur und dem Verlust regionaler Küchen bzw. deren Schutz durch Gesetze, Quoten, Bildungsangebote oder Öffentlichkeitsarbeit sowie die ideolo­gische Aufladung von Ernährungspraktiken thematisiert (vgl. Barber 1995, O ­ hnuki-Thierney 1995, 1997, Watson 2006). Essen wird im Zusammenhang mit kollektiven und individuellen Erinnerungspraktiken und Identitätskonzepten diskutiert (vgl. Sutton 2001, Yoshimi & Morris-Suzuki 2004). Dabei wird auch danach gefragt, wie Lebensmittel, Ernährungspraktiken und Gerichte Menschen, Orte und Ereignisse miteinander verbinden und wie auf diese Weise »Heimat« und »lokale Identität« konstruiert werden (vgl. Ermann 2005, Rausch 2008). Lokale kulinarische Spezialitäten, so zeigen diese Studien, werden in Tourismusstrategien ebenso wie in verschiedene Formen von Kulturerbe integriert (vgl. Bowen et al. 1991, Bessière 1998, Love 2010); auf der individuellen Ebene dienen Konsumentscheidungen jedoch auch als Mittel der Distinktion gegenüber anderen sozialen oder kulturellen Gruppen (vgl. Fantasia 1995, Roseberry 1996, Miele & Murdoch 2002).

13 Vgl. Appadurai (1986, 1988), Narayan (1995), Cwiertka (1999), Caldwell (2002), Takeda (2008). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Die Beiträge des dritten Teils greifen Aspekte dieses Forschungsfeldes auf, zeichnen sich jedoch darüber hinaus dadurch aus, dass sie neben den kulturellen Dimensionen von Essen, Ernährung und Lebensmittelkonsum auch die damit oftmals verbundenen bzw. dezidiert verfolgten wirtschaftlichen Interessen nicht aus dem Blick verlieren. Sonja Ganseforths Beitrag zu Fischkonsum, ländlichen Fischereigemeinden und nationalen Diskursen über Fisch in Japan eröffnet den dritten Teil. Die japanische Fischerei hat seit den 1970er Jahren weitreichende Transformationen und Machtverschiebungen erfahren. Der insgesamt rückläufige Fischkonsum in Japan und die zunehmende Abhängigkeit des Landes von Fischimporten haben vielfältige Konsequenzen, die Ganseforth auf zwei Ebenen analysiert: Zum einen untersucht sie ländliche Fischereigemeinden in Japan und deren Revitalisierungsstrategien, zum anderen nationale (Identitäts-)Diskurse über japanische Ernährungs- und Konsumgewohnheiten. Auf beiden Ebenen, so zeigt sie, versuchen Akteure den Fischverzehr wieder zu stärken und eine neue Fischkonsumkultur zu etablieren. Während Fischereigemeinden dafür auf die lokale Authentizität von Fischereiprodukten verweisen, lassen sich auf nationaler Ebene Marketingoffensiven und staatlich gelenkte Programme identifizieren. Fischessen, so zeigt der Beitrag, wird auf diese Weise eine Frage der nationalen Identität. Um Fragen von Herkunft und Authentizität dreht sich auch der Beitrag von Sarah May, die am Beispiel zweier Käsesorten aus Italien und Baden-­ Württemberg die Praktiken analysiert, die aus Lebensmitteln »ausgezeichnete Spezialitäten« werden lassen. Schritt für Schritt werden die Strategien der Akteure aufgezeigt, die darauf abzielen, die begehrte Euro­päische Herkunftsangabe zu erwerben. Deren Siegel signalisiert »Echtheit, Ursprung und Qualität« – und gilt damit in einem sich globalisierenden Markt als Auszeichnung und Konkurrenzvorteil bei der Vermarktung. Detailliert zeichnet May die lokalen und regionalen Aushandlungsprozesse nach, die »Region« und damit verbundene spezifische »Produkteigenschaften« konstruieren und der Eintragung der geschützten Ursprungsbezeichnung durch die EU vorausgehen. Diese Prozesse, so argumentiert May, sind nicht allein als ­lokale Reaktionen auf Globalisierungsprozesse aufzufassen. Der Euro­ päische Spezialitätenschutz ist vielmehr ein Handlungsrahmen, den sich die betreffenden Akteure aneignen und für ihre jeweiligen Ziele nutzen. Fokussierten die ersten beiden Beiträge insbesondere auf Praktiken der Verortung von Lebensmitteln in ländlichen Räumen, nehmen die letzten beiden Beiträge des Bandes schließlich zwei urbane Orte des Konsums in den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Blick: koreanische Restaurants in Berlin sowie Supermärkte als neues Format des Einkaufens in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Die Ausgestaltung und (diskursive) Inszenierung dieser Orte, so zeigen die Autoren, wird dabei zum essenziellen Aspekt des Konsums von Lebensmitteln selbst. Standen bei der Vermarktung von Fischereiprodukten in Japan sowie von Käse in Italien und Deutschland Herkunft und Authentizität der Produkte im Zentrum, werden in den nachfolgenden Fallstudien die Konsumräume einbezogen und direkt mit den Identitätskonstruktionen der Konsumenten verwoben. You-Kyung Byun und Cornelia Reiher thematisieren die Zusammenhänge zwischen Migration, kulinarischer Globalisierung und Authentizität und nehmen uns hierfür mit auf eine Exkursion in die kulinarische Szene Berlins. Dort hat die Zahl koreanischer Restaurants vor allem in den angesagten Bezirken im ehemaligen Ostberlin in den letzten fünf Jahren deutlich zugenommen. Trotz einer zunehmenden kulinarischen Hybridisierung, so argumentieren die Autorinnen, bleibt die Zuschreibung bzw. Behauptung von Authentizität bei der Vermarktung ethnischer Küchen bedeutsam. Sie dient unter anderem als Qualitätsmaßstab und Mittel zur Abgrenzung unter den Betreibern koreanischer Restaurants. Byun und Reiher zeigen, wie sich insbesondere Betreiber koreanischer Restaurants ohne ethnischen koreanischen Hintergrund darum bemühen, eine »authentische« koreanische Küche zu produzieren. In allen koreanischen Restaurants erfolgt jedoch auch eine Anpassung an lokale Bedingungen und Erwartungen, die den Authentizitätsbehauptungen bis zu einem gewissen Grad entgegensteht. Unter Bezug auf Foucaults Begriff des Dispositivs untersucht schließlich Markus Keck das Aufkommen von Supermärkten in Dhaka, welches er als durch ökonomisch-soziale ebenso wie kulturelle Faktoren bedingt sieht. Der Beitrag fokussiert auf Konsumentinnen der urbanen Mittelschicht und fragt, wie sich ihre Einkaufspraktiken im Zuge des Supermarkt­ aufschwungs verändert haben. Der Autor zeigt auf, wie Supermärkte strategisch als »hygienische Orte« konstruiert und von den in Dhaka verbreiteten Einkaufsorten – den kacha bazaars – abgegrenzt werden. Insbesondere im Zusammenhang mit Lebensmittelskandalen hat dies zu einer tiefen Verunsicherung im Hinblick auf alltägliche Einkaufspraktiken und Lebensmittelsicherheit geführt. Mittelschichtskonsumentinnen, die sich den Einkauf im teureren Supermarkt leisten können, bevorzugen diesen mittlerweile, weil er in ihren Augen Effizienz und Ordnung, Rationalität und Fortschritt repräsentiert  – Supermärkte, so resümiert Keck, sind in Dhaka zu Sehnsuchtsorten und Symbolen eines »modernen« Lebensstils geworden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Die in diesem Band versammelten Texte zeigen, auf welche Weise Essen sowohl in regionale Kontexte als auch in komplexe globale Zusammenhänge eingebettet ist. Trotz der regional breit gestreuten Fallstudien sind die dominanten Akteure häufig ähnliche: Global oder regional agierende Supermarktketten in Österreich, Japan und Bangladesch definieren Bio-Standards, Praktiken des Fischkonsums und sogar Selbstbilder von Konsumenten. Staaten oder Staatengemeinschaften wie die EU regulieren Handelsströme wie den Import von Tomaten aus Marokko und definieren Produktkennzeichnungen wie die Herkunftsangaben von Käse oder Anbauweisen im Biolandbau. Internationale Organisationen wie der Codex Alimentarius oder die WTO legen Lebensmittelstandards fest und unterstützen die Deregulierung globaler Agrarmärkte. TNCs profitieren von Lebensmittelspekulationen und unterwandern staatliche Lebensmittelstandards sowie Verbraucherschutzgesetze von Nationalstaaten. In vielen Beiträgen stellen die Autoren fest, dass über die Art und Weise, wie Lebensmittel hergestellt, verkauft und konsumiert werden, zunehmend privatwirtschaftliche Akteure bestimmen. Dies gilt für die Festlegung von Qualitäts- und Lebensmittelsicherheitsstandards ebenso wie für landwirtschaftliche Produktionsbedingungen. Dabei betrifft Essen Gesundheit, Wohlbefinden und, wie der dritte Teil des Buches zeigt, nicht zuletzt Identitäten und Selbstbilder jedes Einzelnen. Die Bedingungen von Lebensmittelproduktion, -handel, und -konsum dürfen daher nicht aus dem öffentlichen Diskurs ausgeklammert, von demokratischer Mitbestimmung ausgenommen und privatwirtschaftlichen Akteuren überlassen werden. Mit diesem Befund thematisiert dieser Band grundlegende Fragen unserer Gesellschaft, womit wir uns auch an ein interessiertes Laienpublikum sowie an Vertreter von sozialen Bewegungen, Politik und Wirtschaft wenden. Hiermit möchten wir zu einer gesellschaftlichen Debatte beitragen, die zwar immer wieder in Ansätzen geführt wird, häufig aber nur einzelne Interessengruppen und Phänomene in den Blick nimmt – im Fokus dieser Debatte sollten jedoch die in diesem Band exemplarisch aufgezeigten komplexen Verflechtungen und Machtbeziehungen stehen.

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Einleitung

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Teil I Warenketten: Machtverschiebungen, Interessenkonflikte und ethische Herausforderungen

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Ernst Langthaler

2. Gemüse oder Ölfrucht? Die Weltkarriere der Sojabohne im 20. Jahrhundert

1. Haberlandts Vision Eine der Attraktionen der Wiener Weltausstellung 1873 war die Teilnahme des Kaiserreichs Japan, das sich erstmals auf einer Weltausstellung prä­ sentierte.1 Unter den japanischen Ausstellungsstücken befanden sich auch fernöstliche Pflanzen, darunter Sojapflanzen, die das Interesse von Friedrich Haberlandt  – seit 1872 Professor für Pflanzenbaulehre an der Hochschule für Bodenkultur in Wien  – weckten. Mit einigen Musterpflanzen stellte er umgehend Anbauversuche in verschiedenen Regionen der öster­ reichisch-ungarischen Monarchie an. Das in seinem Todesjahr 1878 erschienene Buch mit dem programmatischen Titel Die Sojabohne: Ergebnisse der Studien und Versuche über die Anbauwürdigkeit dieser neu einzuführenden Kulturpflanze fasste seine Erkenntnisse und die daran geknüpfte Vision zusammen: Der Autor erhoffte sich von der Einführung der Sojabohne nichts Geringeres als eine Wende der europäischen Agrar- und Ernährungskultur. Denn einerseits lasse sich die Sojabohne aufgrund ihrer Widerstands-, Anpassungs- und Ertragsfähigkeit in Zentraleuropa vorteilhaft kultivieren. Andererseits verspreche ihr »Nährwert, insbesonders ihrer Samen, welcher den aller ü ­ brigen Samen und Früchte, die wir zu erbauen vermögen, weit übertrifft«, einen unschätzbaren Beitrag zur »Volkswohlfahrt« zu leisten (Haberlandt 1878: Vorwort). Haberlandt gilt heute als Pionier der »westlichen«  – sprich zunächst europäischen, später nordamerikanischen  – Aneignung der in Ostasien beheima­teten Sojabohne (Shurtleff & Aoyagi 2008). Seine Vision einer sojabasierten Agrar- und Ernährungswende war eingebettet in die in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Expertenkreisen geführte Debatte um die »Volksernährung«. Dabei überlagerte sich die Planung der nationalen Er1 Einen umfassenden Überblick hierzu bieten das Internetportal »Wiener Weltaus­ stellung 1873 revisited« (http://www.wiener-weltausstellung.at, Zugriff am 07.02.2014) sowie Kos & Gleis (2014). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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nährungssicherheit angesichts des raschen Bevölkerungswachstums und der Krise des europäischen Agrarkapitalismus mit der von Arbeiterelend und »Landflucht« getriebenen bürgerlichen Angst vor proletarischem Aufruhr und »völkischer« Unterwanderung (Langthaler 2010: 143–149). Das biologische Doppelpotenzial der »Wunderbohne«  – ihr sowohl hoher Eiweiß- (rund 40 Prozent) als auch Ölgehalt (rund 20 Prozent) (Singh 2010: XI)  – erschien Haberlandt als Lösung des gesellschaftlichen Problems der »Volksernährung«, und zwar als pflanzliche Eiweißversorgung der unteren Bevölkerungsklassen und damit kostengünstige und gesunde Alternative zum wachsenden Fleischkonsum. Dabei erwog Haberlandt weniger die Übernahme der zeitaufwendigen, auf den ostasiatischen Geschmack abgestimmten Zubereitungstechniken; vielmehr empfahl er, die Sojabohne kulinarisch gleichsam zu »verwestlichen« – sie fein zu verschroten und, gemäß zentraleuropäischen Kochtraditionen, mit Weizenmehl oder -grieß, Reis oder Kartoffeln (»Sojenta«) zuzubereiten (Haberlandt 1878: 107). Haberlandt sagte der Sojabohne im ausgehenden 19.  Jahrhundert eine steile Karriere voraus. Doch welchen Entwicklungsgang nahm deren Produktion, Distribution und Konsumtion bis zum beginnenden 21. Jahrhundert? Soviel vorweg: Die »Wunderbohne« machte im globalen Agrar- und Ernährungssystem des 20. Jahrhunderts tatsächlich Karriere – doch auf unerwartete Weise. Ausgehend von Haberlandts sich letztlich als Illusion erweisender Vision folgt dieser Beitrag den Wegen der Sojabohne im globalen Agrar- und Ernährungssystem seit 1870. Im Fokus stehen die zeitlich und räumlich variierenden Aneignungsweisen dieser ostasiatischen Kulturpflanze durch unterschiedliche Akteure innerhalb ihres biologisch angelegten Doppelpotenzials zwischen einem Gemüse, das den Menschen pflanzliche Nahrung mit hohem Eiweißgehalt liefert, und einer Ölfrucht, die teils (in Form von Pflanzenöl) als Kochhilfsmittel und Industrierohstoff, teils (in Form von Ölkuchen) als Futtermittel für Mastvieh Verwendung findet. Die Sojabohne erscheint dabei gleichsam als ein »Leitfossil« der Globalisierung des Agrar- und Ernährungssystems seit etwa 1870.2 Eine erkenntnisleitende Perspektive für die Globalgeschichte der Sojabohne bietet das von Harriet Friedmann und Philipp McMichael in den 1980er Jahren im Kontext der US -amerikanischen Entwicklungssozio­logie 2 Ich folge einer mittleren Periodisierung der Globalisierung – im Unterschied zu einer langen, um 1500 und einer kurzen, um 1990 ansetzenden (vgl. Fäßler 2007: 46–51). Für einen globalgeschichtlichen Überblick vgl. Langthaler (2010). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Gemüse oder Ölfrucht?

formulierte Konzept des Nahrungsregimes ( food regime, Friedmann & McMichael 1989), eine Anwendung von Weltsystemanalyse (Wallerstein 2004) und Regulationstheorie (Boyer & Saillard 2002) auf das Agrar- und Ernährungssystem. Ein Nahrungsregime zeichnet sich durch ein vergleichsweise dauerhaftes Zusammenspiel von (Kapital-)Akkumulation und Regulation entlang der transnationalen Wertschöpfungsketten von Nahrungsproduktion, -distribution und -konsumtion aus. Den Nahrungsregimes zwischengelagert sind oft durch Wirtschaftskrisen und Staatenkonflikte begleitete Übergänge, in denen alte, widersprüchlich gewordene Akkumulations- und Regulationsweisen durch neue, besser aufeinander abgestimmte abgelöst werden. Die Literatur unterscheidet drei zeitlich-räumliche Formationen von Nahrungsregimes: das Erste, britisch zentrierte oder extensive food regime (1870er bis 1930er Jahre), das Zweite, US -zentrierte oder i­ntensive food regime (1940er bis 1970er Jahre) und das Dritte, WTO zentrierte oder corporate food regime (seit den 1980er Jahren) (McMichael 2013: 1–20). Zu den Stärken des Konzepts zählen die Verbindung von Agrar- und Ernährungsfragen, die transnationale, den Nationalstaat als Untersuchungscontainer überwindende Ausrichtung und die offene, nicht auf einen Endzustand verengte Entwicklungsperspektive. Dem stehen einige Schwächen des anfänglichen Konzepts gegenüber: der Eurozentrismus, der den Globalen Osten und Süden an den Rand rückt; der Soziozentrismus, der gesellschaftliche Naturverhältnisse unterbelichtet; der Strukturfunktionalismus, der die Denk- und Handlungsmacht von Akteuren unterschätzt. Um diese Schwächen zu überwinden, sucht die laufende Diskussion vor­ allem postkoloniale, sozialökologische und akteursorientierte Perspektiven zu stärken.3 Die in diesem Beitrag skizzierte Globalgeschichte der Sojabohne im 20. Jahrhundert trägt in mehrfacher Weise zur Erweiterung der Forschung zu food regimes bei: Sie beleuchtet jenseits des westeuropäisch-nordamerikanischen Fokus die Rolle Ostasiens und Südamerikas in transkontinentalen Nahrungsketten. Sie erweitert die sozialwissenschaftliche Perspektive um ökologische Aspekte von Nahrungsproduktion, -distribution und -konsumtion. Und schließlich betont sie über Strukturabhängigkeiten hinaus die Denk- und Handlungsmacht von Akteuren – von Regimeträgern in 3 Vgl. hierzu die Beiträge des »Symposium on Food Regime Analysis«, Agriculture and Human Values 26 (2009). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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den Staatskanzleien und Konzernzentralen des Globalen Nordens bis hin zu regimeoppositionellen Sozialbewegungen in den Zivilgesellschaften des Globalen Südens.

2. Soja im Ersten Nahrungsregime Das britisch zentrierte Erste Nahrungsregime erweiterte die europäische Produktpalette der von Übersee nach Europa verschifften Agrargüter, die vormals auf tropische Gewürz- und Süßstoffe beschränkt waren (Mintz 1985), um Grundnahrungsmittel. Vor allem Weizen und, nach Entwicklung der Kühltechnik, auch Rindfleisch wurden nun zunehmend aus den klimatisch gemäßigten Siedlerkolonien in Nord- und Südamerika sowie Australien mittels Dampfeisenbahn und Dampfschiff in europäische Metropolstaaten transportiert. Die transkontinentale Marktverflechtung unter Freihandelsbedingungen  – ermöglicht durch die Aufhebung der britischen Getreidezölle 1846 – setzte zwar Großgrundbesitzer und Landpächter unter Druck, diente aber den politischen und ökonomischen Interessen von Nationalstaat und Industriekapital. Billige Grundnahrungsmittel für die wachsende Industriearbeiterschaft in der britischen »Werkstatt der Welt« vermochten deren Protestpotenzial einzudämmen und, da steigende Kosten für Nahrungsmittel regelmäßig zur Forderung nach höheren Löhnen führten, auch Lohnkosten zu drücken (Koning 1994: 11–39). In den sinkenden Londoner Brotpreisen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkten mehrere Momente entlang der Wertschöpfungskette zusammen: kostengünstige Weide- und Ackerflächen sowie Familienarbeitskräfte der europäischen Farmer an den überseeischen Pionierfronten, billiger Ferntransport mittels Eisenbahn- und Dampfschifftechnologie, sinkende Stückkosten der aufblühenden Lebensmittelindustrie in den Metropolstaaten sowie verzichtgewohnte Kleinhändler und Arbeiterfamilien, vor allem unterversorgte Frauen und Kinder, in den nordwesteuropäischen Industrie­ revieren (McMichael 2013: 26–32). Diese extensive, auf der Ausweitung der Anbaufläche beruhende Form der Kapitalakkumulation entlang der Nahrungskette speiste sich aus der (Selbst-)Ausbeutung überseeischer Farmer- und heimischer Arbeiterfamilien. Zudem befeuerte sie den Niedergang der zuvor hoch entwickelten Landwirtschaft (high farming) auf den Britischen Inseln sowie das Vorrücken der intensiven Getreidebau-Rindermast-Mischwirtschaft euro­päischer Siedler © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Gemüse oder Ölfrucht?

in Übersee, das den indigenen first nations und deren extensiven Landnutzungen nach und nach die Lebensgrundlage entzog (Barbier 2011: 368– 462). Auf diese Weise ordnete das britisch-imperiale Nahrungsregime die Klassen-, Rassen- und Geschlechterbeziehungen ebenso wie die Beziehungen von Gesellschaft und Natur grundlegend neu: »In short, the elaboration of value relations through an imperial apparatus of violence and underreproduction of labor and ecologies integrated certain classes of people and marginalized others, in the consolidation of  a food regime premised on cheapening food by converting it to the status of a global commodity« (McMichael 2013: 30). Zur Naturalisierung dieser gesellschaftlichen Widersprüche diente die Ideologie der »Zivilisation«, die europäische Herrschafts-, Besitz- und Deutungsansprüche über die politischen, ökonomischen und kulturellen Rechte der »Primitiven« erhob. So suchte beispielsweise die Propagandabehauptung, die britische Kolonialherrschaft habe Indien mehr Wohlstand gebracht, die periodischen Hungerkrisen auf dem Subkontinent zu kaschieren (Davis 2002: 279–310). In die Krise geriet das britisch zentrierte Nahrungsregime weniger durch innere als durch äußere Widersprüche: Unter dem Preisdruck der »Getreideinvasion« (O’Rourke 1997) aus Übersee schotteten viele kontinentaleuropäische Staaten, etwa Deutschland und Frankreich, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ihre teils bäuerlich, teils gutsbetrieblich geprägten Agrarsektoren mittels Schutzzöllen vom Weltmarkt ab  – eine protektionistische Bewegung, die im Gefolge des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise das britische Freihandelsregime letztlich lahmlegte (Aldenhoff-Hübinger 2002). Am Rand des Ersten Nahrungsregimes entstand durch die europäische Nachfrage nach Pflanzenöl und das folgende, durch Handelsfirmen vermittelte nordostchinesische Angebot kurz nach der Wende vom 19.  zum 20.  Jahrhundert eine transkontinentale Wertschöpfungskette. Die Hochindustrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte nicht nur im Investitions-, sondern auch im Konsumgüterbereich den europäischen Bedarf an pflanzlichen Ölen gesteigert, die als Schmiermittel für Maschinen und Motoren, aber auch zur Herstellung von Margarine, Schmalzersatz, Seife, Waschmittel und Kosmetika dienten. Mangels ausreichenden heimischen Ölfruchtanbaus verarbeiteten die europäischen Ölmühlen vor allem Kopra (getrocknetes Kernfleisch von Kokosnüssen), Palmkerne, Sesamsaat, Erdnüsse und Baumwollsamen aus den tropischen Anbaugebieten Amerikas, Afrikas und Asiens. Das bei der Ölgewinnung anfallende Nebenprodukt, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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das nährstoffreiche Mehl, diente zur Viehmast (Péhaut 1999: 457–463). 1908 nutzte das japanische Handelshaus Mitsui Engpässe in der europäischen Ölfruchtversorgung, um erstmals Sojabohnen aus dem Nordosten Chinas nach Großbritannien zu verschiffen und damit auf dem Weltmarkt zu platzieren (Prodöhl 2013b: 78). Nordostchina, im imperialen Kontext auch »Mandschurei« genannt, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Millionen Han-Chine­ sen besiedelt, die teils vom Bergbau, teils von der Landwirtschaft lebten (Gottschang 1987). Der Reichtum der Region an Montan- und Agrarressourcen weckte die kolonialen Ambitionen Russlands und Japans. Während sich Russland im Norden der Mandschurei behauptete, dehnte Japan im Chinesisch-Japanischen Krieg 1894/95 und im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 seinen Einfluss auf den Süden aus. Beide Mächte suchten ihre militärstrategischen und ökonomischen Interessen in Nordostchina über Eisenbahnprojekte  – die russisch kontrollierte Ostchinesische Eisenbahn nach Wladiwostok am Japanischen Meer und die japanisch kontrollierte Südmandschurische Eisenbahn nach Dairen am Gelben Meer – abzu­ sichern. Der natürliche Ressourcenreichtum der Region, ihre quasi-koloniale Abhängigkeit im russisch-japanischen Einflussbereich, die leistungsfähige Transportinfrastruktur und die billige Arbeitskraft chinesischer Siedlerfamilien erlaubten es den russischen und japanischen Handelsunternehmen, entlang der transkontinentalen Soja-Wertschöpfungskette Gewinne zu realisieren (Sun 1969: 19–41, Chao 1982: 1–21). Die Sojabohne ist seit mindestens drei Jahrtausenden Teil  chinesischer und anderer ostasiatischer Ernährungskulturen. Da sie roh ungenießbar und auch gekocht meist schwer verdaulich ist, wurde sie im Laufe von Jahrhunderten durch Fermentieren, Keimen und Mahlen zu verschiedenen Speisen wie Tofu, Sojasauce, Natto weiterverarbeitet (Albala 2007: 2­ 09–232, H ­ uang 2008). Die Nachfrage Japans nach Sojamehl als landwirtschaftlichem Dünger und Europas nach Sojaöl als industriellem Rohstoff sowie die Profit­ interessen der Handelsfirmen machten nordostchinesische Sojabohnen Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch zum begehrten, weil vielseitig verwend- und billig verfügbaren, Marktangebot – und damit von einer food crop für den Eigenbedarf zu einer cash crop für den Weltmarkt (Prodöhl 2013a: 4­ 66–471). In den mandschurischen Provinzen pflanzten Eigen­tümer- und Pächterfamilien Sojabohnen in Handarbeit im jährlichen Wechsel mit verschiedenen Getreidearten vor allem nahe der Flussläufe und Eisenbahnlinien (vgl. Karte 2.1). Diese Fruchtfolge nutzte den natürlichen Nährstoff­ausgleich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Gemüse oder Ölfrucht? Jeder Punkt entspricht 1.000 Chöbu (=^ 1.000ha) Sojaanbaufläche

0

200

Ostchinesische Eisenbahn

km 400

Ostchinesische Eisenbahn

S o w j e t u n i o n

Mandschurei

C h i n a

Mandschurei

Wladiwostok

K o r e a

Südmandschurische Eisenbahn

(Japanische Kolonie)

Dairen © E. Langthaler

Sojaanteil am Gesamtanbau >50% 50-40% 40-30% 30-20% 20-10% 5 - ≤ 15 ha

83

≥ 2 - ≤ 5 ha

198

> 5 - ≤ 10 ha

103

> 10 - ≤ 15 ha

63

> 15 ha Insgesamt

Produktion Anteil (%)

281

54,6

166

32,2

Fläche (ha) 89

Anteil (%)

672

17,4

1.435

37,3

583 694 741

68

13,2

1.744

45,3

515

100

3.851

100

Quelle: Persönliche Auskunft ORMVA/SM 2008, ohne Jahresangabe.

Tab. 3.2: Tomatenexport nach Verpackungsstationen Stationen Anzahl

Tomatenexport Anteil (%)

∑ Tonnage (t)

Anteil (%)

≤ 1.000 t

14

29,2

3.393

1,0

> 1.000 - ≤ 5.000 t

16

33,3

52.088

15,8

> 5.000 - ≤ 10.000 t

8

16,7

52.587

16,0

> 10.000 - ≤ 15.000 t

3

6,3

36.105

11,0

> 15.000 - ≤ 20.000 t

3

6,3

47.541

14,4

> 20.000 t

4

8,3

137.896

41,8

Insgesamt

48

100

329.610

100

Quelle: Persönliche Auskunft EACCE für 2008.

stabile politische Rahmenbedingungen und eine ausländische Direktinvestitionen fördernde Wirtschaftspolitik Marokkos. Dieses Bündel an Faktoren zeigt sich exemplarisch an dem bereits eingangs vorgestellten marokkanischfranzösischen Unternehmen Masoussi, das zu den größten Unternehmen im marokkanischen Tomatenexport zählt  – zahlreiche Investitionen europäischer Produzenten im Souss finden im Vergleich dazu in deutlich kleinerem Maßstab und weniger institutionalisiert statt, verfolgen jedoch im Wesentlichen ähnliche Ziele. Das Unternehmen Masoussi wurde 1988 als Kooperation zwischen einem marokkanischen Industriellen aus Casablanca und einem bretonischen Produzenten und Direktor einer großen französischen Tomatenkooperative gegründet. Im folgenden Interviewausschnitt erläutert der Geschäftsführer des Unternehmens – ein Franzose – den Entstehungskontext der Partnerschaft und die Motivation des französischen Partners: »Seine Idee war es zu sagen: In Anbetracht der Entwicklung des Einzelhandels in Europa benötigt man zunehmend ein Qualitätsprodukt mit Wiedererkennungswert, mit einer konstanten Quantität das gesamte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Jahr über. Um das umzusetzen, produziere ich in der Bretagne, im Süden Frankreichs und ich werde mich mit einem Produzenten in Marokko zusammenschließen, um in Marokko zu produzieren  – das war die Ausgangsüberlegung.« (B. P., Geschäftsführer von Masoussi, Souss 2006) Seit seiner Gründung auf 12 Hektar Gewächshausfläche hat das Unternehmen nicht nur erheblich expandiert, es durchlief auch einen internen Restrukturierungsprozess. Unter anderem erfolgte eine weitere Aus­ gründung des Unternehmens  – ebenfalls als marokkanisch-französische Partnerschaft  – und die französischen Anteile des ersten Unternehmens gingen nach dem Tod des französischen Partners an den marokkanischen Teilhaber über. Die beiden Unternehmen, die nach wie vor zu einer Unternehmensgruppe gehören, produzieren mittlerweile auf über 1.000 Hektar Gewächshausfläche allein im Souss12 und exportieren etwa ein Drittel der marokkanischen Tomaten (eigene Erhebung 2008). Sie sind darüber hinaus als vertikal integrierte Unternehmen13 organisiert, das heißt ihre Strategie zielt darauf ab, die Ebenen der Produktion, Verpackung und Vermarktung sowie die damit einhergehenden logistischen und administrativen Abläufe weitgehend oder ausschließlich unternehmensintern durchzuführen: »Die Stärke [des Unternehmens] Masoussi – das für nicht wenige Kooperativen, Produzentenzusammenschlüsse und private Exporteure ein Vorbild war  – ist die Beherrschung der gesamten Ablaufkette, Produktion, Verpackung und vor allem Vermarktung. Anstatt über einen Zwischenhändler zu gehen, der keine Vorstellung von der Produktion hat […], ist der Vertrieb Bestandteil des Unternehmens und damit auch verantwortlich für den Absatz der Ware auf dem Markt.« (B. P., Geschäftsführer von Masoussi, Souss 2006) Vorteile der vertikalen Unternehmensorganisation entstehen allerdings nicht nur in den benannten Aspekten von Qualität und Vermarktung – die 12 Daneben haben sie auch in anderen Regionen Marokkos sowie in der Westsahara Produktionsstandorte aufgebaut (vgl. nachfolgender Abschnitt) und neben Gemüse in weitere landwirtschaftliche Produkte für den Export investiert. 13 Vertikale Integration führt vor allem zur Reduzierung der Anzahl von Akteuren, die in die verschiedenen Ebenen der Warenkette eingebundenen sind (Clay 2004: 38); sie ist kein marokkanischer Sonderfall, sondern eine global zu beobachtende Tendenz im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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vertikale Integration erlaubt es darüber hinaus, die oben erwähnte, durch die Regelung des Einfuhrpreissystems entstehende »Rente« voll abzuschöpfen, da das Unternehmen nicht nur von Marokko aus als Exporteur, sondern auch auf der französischen Seite als Importeur agiert. Die marokkanischen Exportproduzenten bewerten die starke Präsenz der europäischen Investoren im Souss differenziert und mitunter ambivalent – »Europa«, so zeigt sich, hat vielfältige Konnotationen. Im Folgenden kommen Exportlandwirte zu Wort, die zu den mittleren und großen Produzenten im Souss zählen und allesamt sehr gut in den Export integriert sind.14 Für diese Produzenten lassen sich drei Formen der Identifikation mit bzw. Abgrenzung von »Europa« aufzeigen, in Abhängigkeit davon, ob es sich um die »europäische Handelspolitik«, um Europäer als »konkurrierende Produzenten« im Souss oder vielmehr um Europäer als »Kooperations- und Handelspartner« handelt. Europa wird zunächst zweifelfrei als wichtigster und weitgehend alternativloser Exportmarkt betrachtet und die Handelspolitik der EU entsprechend als Einschränkung und Blockade der marokkanischen Tomatenexporte empfunden. Insbesondere Spanien wird als übermächtiger Gegner und aufgrund seiner Mitgliedschaft in der EU in einem unfairen Konkurrenzverhältnis zu Marokko stehend charakterisiert.­ Marokko wird hingegen durch seinen Status als außereuropäisches Land als benachteiligt angesehen, was vielmehr auf den politischen Interessen Europas denn wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit beruhe. Zugleich wird jedoch ein Bewusstsein dafür ausgedrückt, dass (agrar-)politische Interessenkonflikte auch innerhalb Europas komplex sind, wie der nachfolgende Interviewausschnitt zeigt: »Unsere einzige Chance, in diesem Bereich zu bleiben, ist Europa, wir haben keinen anderen Markt. [U]nd wir verlangen, dass uns Europa noch mehr unterstützt … aber nicht finanziell, nicht finanziell! [N]ur eins: Öffnet Euren Markt! Euren Markt öffnen bedeutet, mir die Möglichkeit zu geben zu produzieren. [D]as ist alles, das ist ganz einfach – was heißt ganz einfach, das sagt man so, es ist natürlich viel komplizierter, denn wir 14 Die marokkanischen Exportproduzenten können in drei Typen – Familienbetriebe, Jungunternehmer und Investoren – unterschieden werden, die als Zulieferer, Mitglieder von Kooperativen oder Exportgruppen, im Rahmen individueller Partnerschaften oder als vertikal integrierte Unternehmen exportieren, vgl. Sippel (2014a). Die nachfolgend zitierten Exportlandwirte sind den Familienbetrieben und Jungunternehmern zuzuordnen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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wissen, in Europa sind die spanischen Produzenten, die … die auch ihren Broterwerb verteidigen, die französischen Produzenten, die holländischen Produzenten – das ist eine Gleichung mit … mit mehreren Variablen.« (Aziz Rachik, Exportproduzent mit 11 Hektar Gewächshausfläche zum Zeitpunkt des Interviews 2006) Im Zuge der europäischen Investitionen im Souss wird die Abschottung des europäischen Marktes durch eine weitere Dimension – die der Europäer als »konkurrierende Produzenten« vor Ort – ergänzt, was die Situation nochmals verschärft. Hier werden zum einen die Motive des marokkanischen Staates – sowohl hinsichtlich der Förderung ausländischer Investitionen als auch in ihren sozialen Konsequenzen vor allem für kleinere Landwirte  – hinterfragt. Zum anderen erscheint die Kontingentpolitik der EU als nochmals widersinniger. Aus Sicht der marokkanischen Produzenten beuten die europäischen Investoren nicht nur Ressourcen wie Wasser und Land auf Kosten der lokalen Bevölkerung aus, sondern schöpfen zudem einen Teil der bereits knappen Tomatenexportkontingente ab: »Man muss die Dinge beim Namen nennen, wir haben eine politische Entscheidung getroffen, auf nationaler Ebene, es ist sehr schwierig, sich politischen Entscheidungen zu widersetzen. Sie wissen, Marokko ist ein offenes Land. [A]ber die Entwicklung der ausländischen Landwirtschaft in Marokko, das ist wahr, um ganz ehrlich zu sein, das macht uns ein wenig Angst. [W]ir, ganz ehrlich, wir sagen, diese Leute, sie sind willkommen, aber wir wünschen uns auch, dass sie daran denken, die Kontingente Marokkos zu verteidigen. [W]as ich mir wünschen würde wäre, wenn sie hierherkommen und 1.000 Tonnen produzieren, die dürften nicht Teil des [marokkanischen] Kontingents sein, denn wir, wir werden abgeblockt, wir dürfen nicht mehr als das exportieren, wir müssen die Eintrittspreise respektieren!« (Nabil Bouguenouch, Exportproduzent mit 20 Hektar Gewächshausfläche zum Zeitpunkt des Interviews 2006) Europäer sind jedoch nicht allein übermächtige, durch Marktabschottung bevorzugte Produzenten und als Investoren Konkurrenten vor Ort – sie sind zugleich essenzielle Handelspartner im Export und können zudem die Rolle wichtiger Geldgeber im Rahmen von Kooperationsprojekten im Souss einnehmen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich eine dritte Dimension, die der Europäer als Geschäfts- und Kooperationspartner, mit deren Unterstüt© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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zung – vorausgesetzt, die Partnerschaft gelingt – Projekte realisiert werden können, die den hier vorgestellten Produzenten andernfalls nicht möglich gewesen wären. Diese Kooperationen beinhalten sowohl Risiken als auch Chancen. Stellvertretend für letztere stehen die Schilderungen der Exportlandwirte Youssef Lkam und Fouad Achouri. Im nachfolgenden Interviewausschnitt erläutert Youssef Lkam, aus welchen Gründen er sich für ein solches Kooperationsprojekt entschieden hat: »Der Vorteil ist, dass … – ich kann das nicht ganz alleine machen, es ist eine Partnerschaft mit Europäern, es ist eine Art Zusammenschluss  – wenn nicht, das könnte ich nicht alleine machen! [D]as sind … große Firmen, die sich in Marokko niederlassen wollen, über uns sozusagen. Sie wollen eine garantierte Produktion, daher suchen sie nach einer Partnerschaft. [E]ine Partnerschaft […], das ist jemand, der die Risiken mit dir trägt, zu 50 Prozent […], das federt auch die Risiken ab!« (Youssef Lkam, Exportproduzent mit 145 Hektar Gewächshausfläche zum Zeitpunkt des Interviews 2006) Die Möglichkeit, Investitionen in einem größeren Ausmaß zu tätigen, war auch einer der Beweggründe von Fouad Achouri, es stets aufs Neue mit europäischen Partnern zu probieren. Nach einer Reihe gescheiterter Kooperationsprojekte arbeitet er nun seit mehr als zehn Jahren mit einem französischen Unternehmen zusammen und ist seit einiger Zeit sogar dessen Teilhaber. Die Partnerschaft gibt ihm dabei nicht allein die finanziellen Mittel, um in die Produktion und Verpackung im Souss zu investieren, sie eröffnet ihm darüber hinaus völlig neue Freiräume in Europa, wo er nun, wie er sagt, »kein Fremder« mehr sei: »[I]ch bin fast wie ein europäischer Bürger, ich habe ein Visum für zwei Jahre, drei Jahre […], ich kann mich in Europa frei bewegen, ohne Probleme, einfach so« (Fouad Achouri, Exportproduzent mit 35 Hektar Gewächshausfläche zum Zeitpunkt des Interviews 2006). Unternehmenskooperationen bringen schließlich nicht nur Vorteile für die marokkanischen Kooperationspartner, sie werden auch als »Botschafter« der marokkanischen Ware in Europa betrachtet. Marokkanisch-europäische Marktführer wie Masoussi verbesserten die Erfolgsaussichten der marokkanischen Ware auf dem europäischen Markt, so der nachfolgend zitierte Tomatenexporteur Anouar Layachi. Diese Realität, so argumentiert er, dürfe man nicht ignorieren, wenn man die europäische Produktion im Souss und die dadurch reduzierten Exportkontingente kritisiere: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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»[S]ie [die Unternehmen] tragen sehr, sehr viel zum Wert in Europa bei, für das marokkanische Produkt, das ist normal … . [I]ch könnte es mir nicht einmal vorstellen ohne die großen Gruppen in Europa … ich glaube nicht, dass marokkanische Produkte einen Stellenwert in Europa erreichen könnten, das wäre vorbei. [S]ie haben viel für die Marke ›Marokko‹ getan, soviel ist sicher.« (Anouar Layachi, Exportproduzent mit 11 Hektar Gewächshausfläche zum Zeitpunkt des Interviews 2006) Die Positionierungen der hier vorgestellten Exportproduzenten zu Europa fallen somit differenziert aus. Mit Blick auf die EU-Politik existiert eine klare Position, die die marokkanischen Tomatenexporte aus politischen Gründen – und zwar in ihrer Nichtzugehörigkeit zum europäischen Raum – als benachteiligt sieht. Hier wird eine Marktöffnung eingefordert, die allerdings den privilegierten Zugang Marokkos zum europäischen Handelsraum und den damit zugleich erfolgenden »Konkurrenzschutz« vor anderen, im Rahmen einer weiteren Marktöffnung möglicherweise günstigeren außereuropäischen Anbietern nicht mit einbezieht. Die europäischen Investitionen im Souss werden hingegen ambivalenter wahrgenommen: Die Kontingentierung der EU erscheint in diesem Kontext zunehmend paradox, da sie ein Ausschlusssystem auf der Basis nationalstaatlicher Territorialität errichtet, welches jedoch »blind« gegenüber grenzüberschreitenden Akteuren und Finanzströmen ist. Der nationalstaatlichen Logik folgend, werden die Einfuhrpreiskontingente als »marokkanisch« und für ebendiese Akteure reserviert betrachtet. Zugleich lassen jedoch die vielfältigen Verflechtungen zwischen marokkanischen und europäischen Akteuren eindeutige nationale Charakterisierungen seitens der Produzenten nur noch bedingt zu: Europäer besetzen nicht nur Schlüsselpositionen im Export, sie sind zugleich zentrale Akteure, auf deren Kooperation die marokkanischen Exportproduzenten nicht nur angewiesen sind, sondern von der sie auch erheblich profitieren können.

4. »Besatzungstomate«: Verlagerungen in die Westsahara Wird seit den 1990er Jahren europäischer Produktionsraum in marokkanisches Territorium ausgelagert, so ist aktuell eine weitere Verlagerung der Exportproduktion nach Süden zu beobachten: Rund 1.200 Kilometer südlich von Agadir wird die Region bei Dakhla als Standort für die intensive © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Gewächshausproduktion von vor allem hochwertigen Sorten wie Kirsch­ tomaten ausgebaut (vgl. Karte 3.1). Dakhla steht dabei für einen ebenso strategischen wie territorial umstrittenen Produktionsstandort, denn es liegt in einem seit Ende der 1970er Jahre von Marokko besetzten Gebiet der Westsahara.15 Im Zentrum der marokkanischen Interessen stehen insbesondere die (vermutlich) reichen natürlichen Ressourcenvorkommen in der Westsahara, zu denen vor allem Phosphat und Fischereiressourcen zählen (vgl. Smith 2013, Torres-Spelliscy 2014). Der Ausbau der intensiven landwirtschaftlichen Produktion reiht sich hier ein und dient dem marokkanischen Staat zur Untermauerung territorialer Besitzansprüche. Die Produktion in Dakhla wird zugleich von der sahraouischen Widerstandsbewegung zum Gegenstand von Protestkampagnen gemacht und als Argument genutzt, um auf die ihrer Ansicht nach illegitime Ressourcenausbeutung durch den marokkanischen Staat aufmerksam zu machen. In diesem Zuge erhält die marokkanische Tomate eine dritte Konnotation: Sie wird zur »Besatzungstomate« und damit zum abermaligen Kristallisationspunkt von Interessenkonflikten zwischen dem marokkanischen Staat und einer Reihe von Großproduzenten auf der einen und der sahraouischen Widerstandsbewegung auf der anderen Seite. Diese sollen im Folgenden betrachtet werden. Anfang der 2000er Jahre begannen erste Produzenten aus dem Souss, Landflächen in der Westsahara für die Exportproduktion zu sondieren. Vorreiter waren dabei die Unternehmensgruppe des marokkanischen Königs Les Domaines Agricoles wie auch das marokkanisch-französische Unternehmen Masoussi. Bis 2009 produzierten eigenen Erhebungen zufolge 15 Im Konflikt um die Westsahara stehen das Recht auf Selbstbestimmung, welches seitens der sahraouischen Bevölkerung eingefordert wird, und das Prinzip der Souveränität, auf welches sich der marokkanische Staat beruft, einander gegenüber (vgl. Maghraoui 2003, Joffé 2010). Die Geschichte des Konflikts und seine Einbettung in geopolitische Konstellationen sind äußerst komplex (vgl. Pham 2010, Gillespie 2010, Saidy 2011, Boukhars & Roussellier 2014). Knapp zusammengefasst ist der historische Hintergrund der Folgende: Nach dem Rückzug der ehemaligen Kolonialmacht Spanien 1976 erhoben zunächst Marokko und Mauretanien Anspruch auf Souveränität über die Westsahara und es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Befreiungsbewegung Frente Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguia elHamra y Río de Oro). Seit dem Rückzug Mauretaniens 1979 kontrolliert Marokko 85 Prozent des Territoriums. Im Anschluss an einen Waffenstillstand 1988 einigten sich die Polisario und Marokko 1991 auf einen von den UN unterbreiteten Friedensplan, der ein Referendum zur Klärung der Westsaharafrage vorsah. Dieses hat allerdings bis dato nicht stattgefunden. Seitens der UN wird die Westsahara als »non-self governing territory« betrachtet. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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vier der größten Unternehmen aus dem Souss Gemüse in Dakhla, ein fünfter Großproduzent war gerade dabei, Landflächen in Dakhla zu akquirieren. Aktuell kann davon ausgegangen werden, dass in der Region Dakhla auf mehr als 500 Hektar Gewächshausfläche produziert wird (EP 2012a). Laut dem Bericht der Western Sahara Resource Watch sind es elf Farmen, die an die 60.000 Tonnen Gemüse – der Großteil davon Tomaten – exportieren (WSRW & EMMAUS Stockholm 2012b: 4). Der Ausbau der Produktion in Dakhla wird somit maßgeblich von der kleinen Gruppe von Export­ produzenten vorangetrieben, die auch im Souss zu den größten Akteuren gehören, und die damit eine Reihe strategischer Ziele verfolgen. Am Beispiel eines Interviews mit Charles Bertrand, einem der ersten Investoren aus dem Souss, der in Dakhla investiert hat, lassen sich die verschiedenen miteinander verbundenen Ebenen aufzeigen, die in den Ausbau der Produktion in Dakhla hineinspielen. Im Interview verweist Charles Bertrand zunächst auf klimatische Aspekte und die dadurch ermöglichte, nochmals frühere – und damit lukrativere – Positionierung der Ware auf dem europäischen Markt. Vor dem Hinter­grund der Überausbeutung und absehbaren Erschöpfung der Wasserressourcen im Souss kommen zu den klimatischen Aspekten ressourcenstrategische hinzu. Während im Souss das Wasser zur Neige ginge, sieht er die Westsahara als einen Standort mit reichlich vorhandenen Wasservorkommen: »Ich denke, es ist eine Region mit einem erheblichen Potenzial, enorm sogar, denn das Problem, das wir hier [im Souss] bekommen können, ist das Wasser, die Verfügbarkeit von Wasser … man kann es nicht genau sagen, aber schätzungsweise noch etwa zehn Jahre oder fünfzehn maximal! [D]as ist ein Problem, während dort … dort stellt sich das Problem nicht, Wasser, Wasser ist dort reichlich vorhanden […], es sind fossile Grundwasserschichten, die es dort seit tausenden von Jahren gibt […], dort gibt es eine sehr große Grundwasserschicht.« (Charles Bertrand, Teilhaber eines marokkanisch-französischen Unternehmens, 2006) Ein drittes Motiv für die Produktion in Dakhla erklärt sich vor dem Hintergrund der Kontingentierung des europäischen Marktes: Im Zuge der steigenden Investitionen vor allem auch seitens europäischer Akteure im Souss würden die Tomatenexportkontingente zunehmend knapper. Es gelte, entsprechend neue, nicht begrenzte Märkte zu akquirieren, zu denen er insbesondere die USA zählt. Im Gegensatz zum Souss, der aus phytosanitären © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Gründen nicht für den Export in die USA freigegeben sei, sei Dakhla seitens der USA zugelassen16 – auch dies spreche für den Standort Dakhla: »Sie wissen ja, dass wir für Europa kontingentiert sind, das heißt, wir können nicht so viel exportieren, wie wir wollen. [U]nd mittlerweile kann man sich denken, wenn noch weitere Leute kommen und sich hier niederlassen, werden wir darin behindert, unsere Ware zu exportieren. Und deshalb sind wir in Dakhla: Wir haben das Ziel, in die USA zu expor­ tieren, und das ist eine Region […], die die Amerikaner für den Export freigegeben haben.« (Charles Bertrand, Teilhaber eines marokkanischfranzösischen Unternehmens, 2006) Die Westsahara sei zwar ein Standort in einem territorial umstrittenen Gebiet, dies stellt für ihn jedoch keinen Hinderungsgrund für Investitionen dar. Im Gespräch 2006 ging er nicht davon aus, dass sich die geopolitische Lage grundlegend wandeln würde: »Und nicht zuletzt, wissen Sie, ist es eine Region, die noch nicht ganz … politisch ist es ein bisschen schwierig, es ist ein bisschen instabil, wie Sie wissen, es gibt … ein paar Probleme, ja, aber gut, Marokko ist dort präsent und ich glaube nicht, dass sich das ändern wird – das sind jetzt 30 Jahre und das wird sich nicht ändern.« (Charles Bertrand, Teilhaber eines marokkanisch-französischen Unternehmens, 2006) Dakhla erweist sich vor diesem Hintergrund als ein in mehrfacher Hinsicht strategischer Produktionsstandort: Klimatische und ressourcenstrategische Motive überlagern sich mit Überlegungen hinsichtlich der Sättigung von Exportmärkten – der Kontingentierung des EU-Marktes – und der Neuerschließung von Marktzugängen. In Ergänzung zu diesen Motiven ist davon auszugehen, dass auch von nationalstaatlicher Seite aus das Interesse Marokkos existiert, die Westsahara für die intensive landwirtschaftliche Produktion zu erschließen und Besitzansprüche zu demonstrieren. An der Produktion in Dakhla ist allerdings – dies soll hervorgehoben werden – nur die kleine Elite der handlungsstärksten Exportunternehmer Marokkos beteiligt, da nicht nur gewaltige finanzielle Investitionen erforderlich sind, sondern 16 Die Westsahara ist allerdings nicht Teil  des 2006 in Kraft getretenen Freihandelsabkommens zwischen Marokko und den USA (Brunel 2009: 223). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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auch politische Kontakte vor Ort. Trotz seiner politisch umstrittenen Lage wurde der Standort Dakhla dabei seitens der dort produzierenden Unternehmen keineswegs verschwiegen. So nannte eines der Unternehmen Dakhla explizit als Anbaustandort auf einer Karte seiner Internetseite, während ein anderes Unternehmen Dakhla in einer seiner Werbebroschüren aufgriff. In den letzten Jahren geriet die Produktion in Dakhla allerdings in den Fokus der sahraouischen Widerstandsbewegung, die begann, diese unter den Schlagworten »Besatzungs-« und »Konflikttomaten« auf ihrer Internetseite zu dokumentieren.17 Mit finanzieller Unterstützung der schwedischen NGO EMMAUS Stockholm veröffentlichte Western Sahara Resource Watch im Februar 2012 schließlich zunächst den Bericht »Conflict Tomatoes: The Moroccan Agriculture Industry in Occupied Western Sahara and the Controversial Exports to the EU Market«, dem im Juni desselben Jahres eine erweiterte Fassung unter dem Titel »Label and Liability: How the EU Turns a Blind Eye to Falsely Stamped Agricultural Products Made by Morocco in Occupied Western Sahara« folgte (WSRW & EMMAUS Stockholm 2012a, 2012b). Aufhänger der Kampagne waren die zum damaligen Zeitpunkt stattfindenden Verhandlungen über das oben erwähnte Zusatzabkommen zwischen Marokko und der EU. Die darin vorgesehene Erweiterung des Tomatenexports, so die Argumentation der Organisation, verhelfe der Agrarindustrie in der Westsahara  – in der zudem vor allem Marokkaner beschäftigt seien – zu weiterem Aufschwung. Auf diese Weise könne noch mehr Ware als bisher falsch deklariert – und zwar als »Produit du Maroc« – in den europäischen Supermärkten landen (WSRW & EMMAUS Stockholm 2012b: 1). Die korrekte (Herkunfts-)Auszeichnung von Waren – das »labelling« – bildete somit die zentrale Stoßrichtung, mit der sich die Organisation an drei Adressaten richtete: die EU, die europäischen Handelsketten sowie nicht zuletzt die Endkonsumenten selbst. Mit Blick auf die EU werden insbesondere der Abschluss des Zusatzabkommens und die dabei nicht weiter präzisierten nationalstaatlichen Grenzen Marokkos kritisiert. Der »vage territoriale Umfang« des Abkommens überließe es Marokko faktisch selbst, seine nationalstaatlichen Grenzen zu bestimmen. Auf diese Weise könne in der Westsahara produziertes Gemüse durch die marokkanische Exportbehörde EACCE (Etablissement Autonome de Contrôle et de Coordination des Exportations) als »marokka-

17 Vgl. u. a. Hagen (2009) und WSRW (2009) auf www.wsrw.org. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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nisches Gemüse« deklariert und in die EU exportiert werden. Diese Praxis verstoße gegen die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken (Amtsblatt der Europäischen Union 2005) und stünde auch im Widerspruch zur Behandlung von Ware aus besetzten Gebieten in Palästina. Die Organisation fordert entsprechend: »The [European] Commission must clarify the territorial scope of the Agreement with Morocco. Any agreement between the EU and Morocco can only apply to the territory which is recognised under international law as ›Morocco‹. As a result, any waiving of import duties can only be applied to Moroccan produce, not to Western Saharan produce. The Commission must inform importers that they cannot claim preference when importing goods from Western Sahara.« (WSRW & EMMAUS Stockholm 2012b: 21) Neben der EU, die als politische Kontrollinstanz dafür Sorge zu tragen habe, dass keine falsch deklarierte Ware die Grenze passiere, richtet sich die Kampagne an die Verantwortlichkeit des Privatsektors sowie das ethische Bewusstsein der Endkonsumenten selbst. Die europäischen Handelsketten, so die Forderung, müssten ihr Angebot mit Blick auf die korrekte Herkunftsauszeichnung der Ware kontrollieren und ihre Lieferanten auf falsch deklarierte Ware hin überprüfen, um sicherzustellen, nicht irreführenderweise Ware aus der Westsahara unter dem Herkunftslabel »Marokko« zu ver­ kaufen. Dabei werden einige europäische Supermarktketten positiv hervorgehoben, die bereits ihrer Verantwortung nachgekommen seien und keine Tomaten aus der Westsahara mehr einkaufen würden. Schließlich sollte aufgedeckt werden, wie »unaware European consumers unwittingly contribute to perpetuating an illegitimate and brutal occupation with dire h ­ uman rights consequences, by purchasing products that are being systematically mislabelled with the wrong country of origin« (WSRW & EMMAUS Stockholm 2012b: 2). Um dies zu verhindern, wurden die »ethisch motivierten« europäischen Konsumenten dazu aufgerufen, bestimmte Labels und Supermärkte zu boykottieren, die in der Broschüre genannt und mit Bildern abgedruckt sind, und dazu angehalten, die Organisation bei der Identifikation und Aufdeckung von Falschauszeichnungen zu unterstützen. Die Empfehlung an die Konsumenten lautete schließlich, ihre Lebensmittelhändler hinsichtlich der »wahren Herkunft« aller Produkte zu befragen, die als »marokkanisch« ausgezeichnet seien. Auf diese Weise wird nicht nur die als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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»aus Marokko kommend« ausgezeichnete Tomate als »Besatzungstomate« symbolisch aufgeladen – Ware marokkanischer Herkunft wird allgemein in den Verdacht der Falschdeklaration gerückt und in einen Zusammenhang mit Besatzung und Menschenrechtsverletzungen gestellt. Obgleich das Zusatzabkommen, das die Western Sahara Resource Watch zu verhindern suchte, schlussendlich verabschiedet wurde und die Kampagne damit keine direkten handelspolitischen Auswirkungen hatte, stieß diese doch auf diskursive Resonanz. So schaffte sie es bis in die europäische Parlamentsdebatte zum Zusatzabkommen und wurde vom Berichterstatter des Ausschusses für internationalen Handel José Bové hinsichtlich der aufgeworfenen Territorialitätsfragen problematisiert: »Der Berichterstatter hat in den vergangenen Monaten wiederholt die Frage nach der territorialen Tragweite des Abkommens zwischen der Europäischen Union und Marokko aufgeworfen. [I]n Anbetracht der unterschiedlichen Einschätzungen auf Seiten der Kommission und des Juristischen Dienstes des Parlaments in dieser Frage kann der Berichterstatter nicht garantieren, dass dieses Freihandelsabkommen im Einklang mit den internationalen Verträgen steht, die die Europäische Union und alle ihre Mitgliedstaaten binden.« (EP 2012b: 8) Die Kampagne war zudem Anlass für eine Parlamentsanfrage von Vertretern der Fraktion der Grünen an die Europäische Kommission bezüglich einer Überprüfung der Daten zur landwirtschaftlichen Produktion in der Westsahara und eines der Argumente, weshalb die Grüne-Fraktion die Zustimmung zum Abkommen ablehnte (vgl. EP 2012b, Die Grünen im Europäischen Parlament 2012). Nicht zuletzt bezogen sich auch Medien in ihrer Berichterstattung auf die Broschüre (vgl. u. a. Govan 2012, Quarante 2014). Inwieweit tatsächlich auch europäische Konsumenten zu einem veränderten Einkaufsverhalten bewogen und die Einkaufspraktiken europäischer Supermarktketten nachhaltig verändert wurden, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Western Sahara Resource Watch hat durch die Kampagne jedoch erhebliche Aufmerksamkeit erzielt und damit eines ihrer  – vermutlich – wichtigsten Ziele erreicht. Ob die Frage des Tomatenexports aus der Westsahara mittelfristig einen Politikwandel seitens der EU herbeiführen wird, ist hingegen zu bezweifeln. Denn die Tomatenproduktion ist nicht nur im Vergleich zur Ausbeutung der Phosphat- und Fischereiressourcen marginal, die marokkanische © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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Ressourcenausbeutung in der Westsahara ist auch nach internationalem Recht nicht notwendigerweise unrechtmäßig, während die Interessenkonstellationen der EU im Westsaharakonflikt abermals komplex sind. Unabhängig davon, ob Marokko rechtlich als de facto Verwalter (de facto administrator) der Westsahara oder als Besatzungsmacht angesehen werde, so Torres-Spelliscy (2014), untersage das internationale Recht die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in »non-self governing territories« nicht vollständig, da wirtschaftliche Aktivitäten der lokalen Bevölkerung zugute kommen könnten. Die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in der Westsahara könne folglich als rechtens erachtet werden, sofern sie erstens objektiv im Interesse der lokalen Bevölkerung sei und zweitens in Abstimmung und Koordination mit ebendieser erfolge (Torres-Spelliscy 2014: 250). Ob dies im Rahmen der Tomatenproduktion der Fall ist, bedürfte der Klärung  – zur rechtlichen Lage kommt jedoch hinzu, dass, wie Gillespie (2010: 89) anmerkt, die Lösung des Westsaharakonflikts es nie auf die Agenda der EU-Politik geschafft hat. Die EU habe zwar eine zurückhaltend unterstützende Haltung gegenüber der UN bezogen, die diplomatische Lösung des Konflikts jedoch zugleich an diese delegiert. Insbesondere den gegenwärtig unauflösbaren Status Quo des Konflikts auf der einen und die konfligierenden Interessen der EU Mitgliedstaaten – vor allem Frankreichs und Spaniens – auf der anderen Seite sieht er hierfür als ursächlich. Die komplexe Interessenlage, so resümiert Gillespie, habe die EU allerdings nicht davon abgehalten, die europäisch-marokkanischen Beziehungen zu stärken, denen insgesamt Priorität zukomme – was sich auch im Fall des Tomatenhandels bestätigt. Die »Besatzungstomate«, so lässt sich festhalten, steht für eine Reihe weiterer einander überlagernder Interessenkonflikte, die sich insbesondere auf die nationale Zugehörigkeit des Territoriums der Westsahara beziehen und dabei unterschiedliche Positionierungen hervorbringen. Seitens des marokkanischen Staates wird die Tomatenproduktion zunächst genutzt, um territoriale Ansprüche zu untermauern. Die beteiligten Unternehmen verfolgen hingegen maßgeblich ressourcen- und marktbezogene Ziele, für deren Realisierung der umstrittene territoriale Status nicht als Hinderungsgrund betrachtet wird. Vor dem Hintergrund konfligierender Positionen der Mitgliedstaaten wird die Frage der territorialen Zugehörigkeit der Westsahara seitens der EU wiederum gezielt unbestimmt gelassen, um eine Positionierung zu vermeiden  – womit die territoriale Grenzziehung allerdings faktisch dem marokkanischen Staat überlassen wird. Dies nahm die Kampagne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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der Western Sahara Resource Watch zum Anlass, die Falschdeklaration der Ware anzuprangern und im Namen der europäischen Konsumenten eine territoriale »Eindeutigkeit« von Herkunftsbezeichnungen einzufordern.

5. Fazit Tomaten sind ein äußerst lukratives Produkt und damit zugleich umkämpft. Dieser Beitrag hat einen Ausschnitt der komplexen Interessenkonflikte und die in diesem Zuge zur Anwendung kommenden Konzepte von Raum und Territorialität aufgezeigt, die in den Handel dieses »roten Goldes« zwischen Marokko und der EU hineinspielen. Um die europäische Produktion sensibler Agrargüter vor potenziell billigerer Konkurrenz zu schützen, hat die EU einen abgeschotteten Handelsraum errichtet, als dessen Schutzinstrument das Einfuhrpreissystem eingeführt wurde. Dieser Handelsraum kann allerdings – wie im Fall der marokkanischen Tomaten – durch die Gewährung präferenzieller Handelsregelungen selektiv und temporär geöffnet bzw. geschlossen werden. Zentrale Ziele, die diese selektiven Öffnungen beeinflussen, sind das außenpolitische Interesse der EU, im Rahmen von Freihandelsabkommen Märkte zu erschließen, aber auch Sicherheits- und Stabilitätsinteressen. Das marokkanische Exportkontingent wird damit zu einem »Zuckerbrot«, welches im Austausch für die Durchsetzung erwünschter Vorgaben vergeben wird  – was wiederum durch die große Bedeutung der Tomatenexportproduktion innerhalb des marokkanischen Machtgefüges ermöglicht wird. Ein weiterer Fokus lag schließlich auf der Positionierung von Akteuren wie den spanischen und marokkanischen Produzenten, die versuchen, ihre Interessen innerhalb dieses Systems bestmöglich zu verteidigen oder auszubauen und zugleich auf das System selbst Einfluss zu nehmen, indem sie bestehende Raumkonzepte zu verteidigen suchen. Einige Akteure sind allerdings auch grenzüberschreitend mobil und gehen strategische transnationale Partnerschaften ein, sodass Oppositionen zwischen »spanischen« und »marokkanischen« Produzenten zwar teils konstruiert, zugleich jedoch auch stetig verwischt werden. So finden partielle Auslagerungen europäischer Produktionen in marokkanisches Territorium statt, mit dem Ergebnis, dass ein Teil der »marokkanischen« Konkurrenztomaten vielmehr von europäischen Akteuren selbst produziert und exportiert wird, womit auch die nationalstaatliche Deklaration der Ware zu einem gewissen Grad ambivalent © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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wird. Auf einer weiteren Ebene spielen zudem Fragen der Souveränität bzw. Selbstbestimmung hinsichtlich der Westsahara in den Tomatenexport hinein, der von der sahraouischen Widerstandsbewegung für ihre Mobilisa­ tionszwecke instrumentalisiert wird. Auf der Ebene der symbolischen »Produktqualität« wird auf diese Weise versucht, ein bestimmtes Image – das der prätentiösen »Star-Tomate« oder das der territorial falsch deklarierten »Besatzungstomate«  – im öffentlichen bzw. Bewusstsein des Kunden zu verankern. Interessenkonflikte um Lebensmittel, so zeigt sich, werden damit nicht nur auf der Ebene der physischen Produktqualität und des Preises geführt, sondern auch durch die Beschränkung bzw. Beherrschung von Handelsräumen und diskursives »branding«. Solange Lebensmittel eine Ware sind, die unter Wettbewerbsbedingungen produziert und gehandelt wird, bleiben diese Interessenkonflikte unvermeidlich. Ihre Dimensionen und ihr Ausmaß an Komplexität  – von denen auch hier nur ausgewählte Aspekte aufgezeigt werden konnten – bleiben den Konsumenten allerdings verborgen, stehen sie vor einem Tomatenregal, in dem scheinbar identische, lediglich mit einem kleinen Verweis auf die »nationale Herkunft« gekennzeichnete Tomaten angeboten werden. Um tatsächlich eine informierte und möglicherweise ethische Kaufentscheidung jenseits ambivalenter Herkunftsauszeichnungen treffen zu können, wäre hingegen eine Vielzahl von Informationen notwendig, die gegeneinander abgewogen werden müssten. Dieser Abwägungsprozess multi­ pliziert sich nochmals angesichts der Menge täglich konsumierter Lebens­ mittel, für die die Tomate hier nur exemplarisch steht – und ist so praktisch kaum zu bewältigen. Die Verantwortung für ethisch informierte Kaufentscheidungen kann somit nicht dem einzelnen Individuum übertragen werden. Vielmehr gilt es, öffentliche Institutionen einzufordern bzw. dahingehend zu verändern, dass Instrumente wie Handelskontingente nicht nach Kriterien der Machtpolitik vergeben, sondern an alternative Kriterien gekoppelt werden – deren Inhalte zum Gegenstand einer gesellschaftlichen Debatte gemacht werden müssen. Nur so kann es auf Konsumentenseite gelingen, die Geschichte der niedlichen »Star-Tomate« tatsächlich nachzuvollziehen und ihre Identität von der der »Besatzungstomate« zu unterscheiden.

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4. Raupenpilz als functional food: Die Händler auf dem Großmarkt in Xining (VR China)  und die Finanzkrise 2008

1. Einleitung Im Juli 2013 kostete ein Kilogramm Raupenpilz von guter Qualität im Einzelhandel der chinesischen Millionenstadt Chengdu, einem der Hauptumschlagsorte für Raupenpilz in China, knapp 580.000 Yuan.1 Die exorbitanten Preise für Raupenpilz lassen die große Beliebtheit erahnen, die dieser unter gut betuchten Chinesen seit Anfang der 1990er Jahre genießt. Die mystifizierte Spezies, die in bestimmten Regionen des tibetischen Hochlands und angrenzenden Himalayagebieten gedeiht, ist seit Jahrhunderten in der traditionellen tibetischen und chinesischen Medizin bekannt (Winkler 2009: 292 f.). Seit einigen Jahren geht die Bedeutung des Raupenpilzes jedoch weit über die eines natürlichen Heilmittels hinaus: Erwerb, Weitergabe der Pilze in Form von exquisiten Geschenken sowie Konsum sind Prestige­ akte geworden – der Pilz gilt bei einflussreichen Chinesen als Statussymbol und Luxusgut. Als solches ist er als Zutat beispielsweise in verschiedenen Suppen und alkoholischen Getränken nicht mehr wegzudenken. Kulturelle und sozioökonomische Wertvorstellungen in Bezug auf den Pilz verbinden sich dabei mit der Tradition der Verwendung sogenannter Gesundheits­ produkte (baojianpin) in der chinesischen Küche und einer global steigenden Nachfrage nach functional foods (funktionelle Lebensmittel), die den Konsumenten über die Ernährung hinausgehenden Nutzen versprechen. Im Zuge der gesteigerten Wertzuschreibung entwickelte sich in den Erntegebieten des tibetischen Hochlands eine regelrechte »Raupenpilzökonomie«, 1 Eigene Erhebung. Die Währung der Volksrepublik China heißt Renminbi (RMB) und wird in Yuan-Einheiten (CNY) ausgedrückt. Preise für Raupenpilz werden nachfolgend in Yuan angegeben. In den Fußnoten findet sich die gerundete Umrechnung in Euro bzw. US -Dollar während der jeweiligen Zeitpunkte, da der Umrechnungskurs während des Untersuchungszeitraums relativ starken Schwankungen unterlag (http://www.on vista.de/devisen/Euro-Yuan-EUR-CNY, Zugriff am 25.07.2014). Als Referenzeinheit werden, soweit nicht anders vermerkt, Kilogramm herangezogen. 580.000 Yuan entsprachen demzufolge im Juli 2013 knapp 73.000 Euro. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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eine Wirtschaftsform, bei der die betreffenden Akteure ihren Lebensunterhalt vornehmlich durch das Sammeln und den Vertrieb von Raupenpilz bestreiten. Aufgrund ihrer klimatischen Bedingungen sind die Regionen, in denen Raupenpilz geerntet werden kann, traditionell von agrarischer und (semi-)nomadischer Subsistenzwirtschaft geprägt. Inzwischen können in den Hauptfundgebieten des Pilzes jedoch über 70 Prozent der Haushaltseinkommen der ländlichen Bevölkerung aus dem Verkauf dieser einzigartigen Ressource stammen (Gruschke 2012: 367). Mehr als 300.000 Bewohner des tibetischen Hochlands sind vom Sammeln und Verkauf des Pilzes als ihrer Haupteinnahmequelle abhängig (Nongyebu caoyuan jianli zhongxin 2010: 89). Entsprechend konstatiert Winkler hinsichtlich der Bedeutung des Pilzes für die Existenzsicherung: »[…] caterpillar fungus income contribution is crucial for rural communities and its loss in rural areas [of the Tibetan Plateau] would have a catastrophic impact« (Winkler 2009: 298).2 Fester Bestandteil der Raupenpilzökonomie wurde ein blühender Markt, dessen Handelskette die gewöhnlich als »rückständig« (bu fada)  beschriebenen Gebiete des tibetischen Hochlands eng mit den florierenden chinesischen Küstenstädten sowie Exportländern wie Singapur, Japan und Malaysia verknüpft. Von den Weiden des tibetischen Hochplateaus gelangt die Raupenpilzernte über mehrere Zwischenmärkte auf den Großmarkt in Xining, der Hauptstadt der Provinz Qinghai.3 Der Großmarkt ist ein dynamischer, sich schnell verändernder Ort: Mehrere tausend Händler gehen hier ihren täglichen Geschäften nach (Ma & Tian 2008: 198, eigene Erhebung). Etwa 120 Tonnen Raupenpilz wechseln jährlich den Besitzer (Cai & Sun 2010: 6). Bei den in den Großhandel involvierten Akteuren handelt es sich um äußerst heterogene Gruppen – gemeinsam ist vielen Beteiligten jedoch, dass sie mithilfe des Raupenpilzhandels ihre Lebenssituation erheblich verbes2 Basierend auf empirischer Forschung in der Autonomen Präfektur der Tibeter Yushu im Südostteil der Provinz Qinghai kommt auch Gruschke (2012) zu der Einschätzung, dass ohne das zusätzliche Einkommen aus dem Raupenpilzverkauf viele Haushalte in Yushu in absoluter Armut leben müssten. Ohne die Zusatzeinnahmen seien manche Gruppen gezwungen, ihre mobile, pastorale Lebensweise aufzugeben. Zugleich gehe die Abhängigkeit vom Raupenpilz als Einnahmequelle mit einer steigenden Verwundbarkeit aufgrund der schwer kalkulierbaren Marktlage für Raupenpilz einher (Gruschke 2012: 390–393). 3 Zwar haben Lhasa (Autonome Region Tibet) sowie Chengdu (Sichuan) als Umschlagsorte für Raupenpilz an Bedeutung hinzugewonnen, Xining spielt als Ort des weltweit größten Marktes für Raupenpilz jedoch immer noch eine überragende Rolle im Raupen­pilzhandel. Die Stadt hat etwa 2,2 Millionen Einwohner. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Raupenpilz als functional food

sert haben. Ein beachtlicher Teil der Großhändler ist sogar zu bedeutendem Wohlstand gelangt. Gleichzeitig ist das Marktgeschehen für viele Händler von einem Gefühl ständiger Ungewissheit durch die stark fluktuierenden Preise geprägt. Besonders zeigte sich dies, als der Markt 2008 von der globalen Finanzkrise getroffen wurde: Innerhalb kürzester Zeit stürzte der Preis um mehrere 10.000 Yuan pro Kilogramm gehandeltem Raupenpilz  – eine Katastrophe für die beteiligten Händler. Wie gingen die Händler mit dieser Situation um? Am Beispiel eines Abschnittes innerhalb der Raupenpilzwarenkette, dem Raupenpilzgroßmarkt in Xining, möchte ich in diesem Beitrag aufzeigen, auf welche Weise Akteure, die nicht nur in eine globale Warenkette hinein verknüpft sind, sondern maßgeblich für ihre Existenzsicherung von dieser abhängen, von globalen Einbrüchen wie der Finanzkrise betroffen sind. Mit Blick auf die Händler auf dem Raupenpilzgroßmarkt in Xining analysiere ich, wie diese mit globalen Risiken und Unsicherheiten – dem für sie unvorhersehbaren, externen Schock der Finanzkrise  – umgehen. Dazu erfolgt zunächst eine­ inhaltliche Einordnung, in der ich die Bedeutung des Raupenpilzes, die Entstehung des Großmarktes in Xining sowie seine Position innerhalb einer global aufstrebenden Functional-Food-Industrie umreiße. Anschließend schildere ich den Ablauf der Finanzkrise auf dem Großmarkt in Xining und beschreibe, in welcher Form vor allem die Großhändler und mobilen Händler des Marktes von ihr betroffen waren. Als Akteure, die ganzjährig Raupenpilzhandel betreiben, dabei mindestens einige Kilos bis hin zu mehreren Tonnen verkaufen und hauptsächlich dadurch ihren Lebensunterhalt bestreiten, bilden sie die größte Gruppe im Raupenpilzgroßhandel. Darauf aufbauend analysiere ich die Strategien zur Risikobewältigung der betroffenen Händler und zeige auf, welches Aktionspotenzial sie im Umgang mit Risiken und Unsicherheiten innerhalb der Raupenpilzwarenkette besitzen. In konzeptioneller Hinsicht bezieht sich das Kapitel damit auf die Literatur zu Waren- bzw. Wertschöpfungsketten (global commodity/value chains) und verbindet diese mit Ansätzen zur Existenzsicherung. Die Warenkettenperspektive erlaubt es, die Ebenen der Produktion, Verarbeitung, Verteilung und Konsumtion von Gütern und die Beziehung der in diese Schritte in­ volvierten Akteure über unterschiedliche Weltregionen hinweg zusammenhängend zu betrachten (vgl. Gereffi et al. 1994, Gibbon & Ponte 2005, Bair 2009; vgl. Dannenberg & Kulke in diesem Band). Dabei stehen insbesondere Machtverhältnisse (governance) und die Fähigkeit der Akteure, steuernd auf die Warenkette einzugreifen, im Fokus. Die Raupenpilzwarenkette stellt sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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als ein Strang innerhalb der weltweit im Wachstum begriffenen Industrie für funktionelle Lebensmittel dar. Mit den Händlern auf dem Großmarkt in Xining nehme ich eine Akteursgruppe in den Blick, die als Zwischenhändler zwischen den Sammlern einerseits und den Abnehmern in den Großstädten Chinas andererseits auf einer »mittleren Ebene« innerhalb der Warenkette agieren. Aufgrund der enormen Bedeutung der Raupenpilzökonomie für die involvierten Akteure bietet sich zugleich eine Verknüpfung mit Existenzsicherungsansätzen an (vgl. Challies & Murray 2011). Mit dem Begriff der Existenzsicherung (livelihood security) beziehe ich mich auf die Sustainable-Livelihood-Konzepte im Sinne von Chambers und Conway (1991), DFID (1999) und Bohle (2001), die darauf abzielen, die Handlungskapazitäten und die zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Bewahrung eines angemessenen Lebensunterhalts bzw. zur Bewältigung von Krisen auf der Haushaltsebene zu erfassen. In diesem Sinne eröffnet die Raupenpilzökonomie neue Möglichkeiten der Existenzsicherung für marginalisierte Gruppen in einer Gegend Chinas ohne bedeutende ökonomische Alternativen. Gleichzeitig beinhaltet die Einbindung in die Warenkette für die Akteure jedoch auch, dass sie neuen Abhängigkeiten und Risiken ausgesetzt sind, die weit weg von der eigentlichen »Warenproduktionsstätte« generiert werden (Gertel & Le Heron 2011: 19). Der Beitrag beruht auf meiner insgesamt neunmonatigen Feldforschung in den Provinzen Qinghai (hier vor allem die Provinzhauptstadt Xining und die Autonomen Präfekturen der Tibeter Golok und Yushu) sowie den Metropolen Chengdu (Provinz Sichuan), Guangzhou, Shenzhen (Provinz Guangdong) und Beijing, die von 2009 bis 2012 durchgeführt wurde. Sie umfasste sowohl qualitative (Leitfaden-, biographische und Experteninterviews, Gruppendiskussionen, teilnehmende Beobachtung) als auch quantitative Erhebungen (haushaltsbezogene Befragung). Soweit nicht anders vermerkt, stammen die Zahlenangaben aus eigenen Erhebungen, basierend auf standardisierten Interviews mit 124 Händlern auf dem Raupenpilzmarkt in Xining im Jahr 2010. Die Interviewausschnitte sind sowohl standardisierten Befragungen als auch qualitativen Interviews aus den Jahren 2010 bis 2012 mit Großhändlern und mobilen Händlern auf dem Großmarkt in­ Xining entnommen und wurden von mir aus dem Chinesischen ins Deutsche übertragen.4 4 Zentrale chinesische Begrifflichkeiten werden mithilfe der Pinyin-Umschrift kursiv in den Fließtext eingefügt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

Raupenpilz als functional food

2. »Weiches Gold«: Die Entstehung der Raupenpilzwarenkette Der Chinesische Raupenkeulenpilz (lat. Ophiocordyceps sinensis, kurz: Raupenpilz) ist eine parasitäre Spezies der Schlauchpilze, die in nord- bis südöstlichen Gebieten des tibetischen Hochlands und angrenzenden Gebieten im zentralen und östlichen Himalaya auf alpinen Grasländern in Höhen zwischen 3.000 und 5.000 Meter beheimatet ist (vgl. Karte 4.1). Er befällt unterirdisch lebende Larven der Mottenart Thitarodes. Die Sporen des Pilzes dringen in den Körper der Raupe ein, in dem – das Raupengewebe als Nährstoffgrundlage nutzend – Myzelium gebildet wird. Die Pilzfäden füllen letztlich den gesamten Raupenkörper aus, was zum Tod der Larve dicht unter der Erdoberfläche führt. Im Frühjahr (Mai bis Juni) bildet der Pilz einen schmalen, 5 bis 10  Zentimeter langen Fruchtkörper über der Erdoberfläche aus, der dem Kopf der (ehemaligen) Raupe entspringt, einem Grashalm nicht unähnlich sieht und in der Lage ist, neue Pilzsporen zu produzieren.5 Der Pilz wird gesammelt und anschließend für den Verkauf ­getrocknet (vgl. Abb. 4.1). Aufgrund seines faszinierenden Vermehrungszyklus heißt er im Tibetischen yartsa gunbu (»Sommer-Gras-Winter-Wurm«). Die chinesische Bezeichnung dongchong xiacao (»Winter-Wurm-Sommer-Gras«) ist eine direkte Übersetzung aus dem Tibetischen in umgekehrter Reihenfolge. Ursprung und Entstehung der Raupenpilzwarenkette in ihrem aktuellen Ausmaß liegen zeitlich in den 1990er Jahren und gründen auf der exklu­ siven Nachfrage, die in einen spezifischen kulturellen und sozioökono­ mischen Hintergrund eingebettet ist. Schon seit Jahrhunderten ist der Raupenpilz als Heilmittel in der traditionellen chinesischen und tibetischen Medizin bekannt. So lässt sich seine Verwendung als Stärkungsmittel und Aphrodisiakum in der tibetischen Medizin bis ins 15.  Jahrhundert zurückverfolgen. Formelle Belege für die Verwendung des Pilzes in der traditionellen chinesischen Medizin finden sich laut Winkler (2009) frühestens in dem 1694 (Qing-Dynastie) datierten Bencao Beiyao (Das Wesentliche der Materia Medica). Die klassischen Kompendien der chinesischen Arzneimittel­lehre erwähnen seine lungen- und nierenstärkenden Funktionen (Liang 2011: 4). Raupenpilz als Handelsgut im Austausch zwischen den tibetischen Regionen und China wird seit der späten Qing-Dynastie dokumentiert. Berichte westlicher Reisender aus der Zeit der Wende vom 19.  ins 20.  Jahrhundert über den Handel mit Raupenpilz gegen beispiels5 Für detailliertere Informationen aus mykologischer Perspektive vgl. Winkler (2005). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301708 — ISBN E-Book: 9783647301709

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G ans u

A . G . I nner e M ongole i

Xining Qin g h a i

A.G. Ningxia der Hui

Bejing

Shandong

7%

Shaanx i

Henan

7%

A .G. Tib e t ( X iz a n g )

Ji a n g s u

17%

Anhui Shanghai

10% Hubei

Chengdu Lhasa

Hebei

S h a n xi

Sichuan

Hangzhou Zhejiang

7,5

%

36 %

Bhutan

Hunan

G uizhou

Ji a n g x i Fujian

Indien Bangladesch

Yu nnan

A. G . G uang x i der Z huan g

Myanmar

Gu a n g d o n g Guangzhou Shenzhen

Fuzhou

Xiamen Ta i w a n

Vietnam 0

© J. Linke

Raupenpilzwarenkette Gebiet mit Raupenpilzvorkommen Hauptvorkommen Großmarkt 7 Handelsanteil (in %) Wichtigstes Konsumzentrum

Grenzen Staatsgrenze Umstrittene Grenze Provinzgrenze

Höhenangaben >5.000m 3.000-5.000m 500-3.000m