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German Pages [109] Year 2017
Sibylle Rothkegel
Fluchthintergründe: Fluchtbewegungen in individuellen und globalen Kontexten
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Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Herausgegeben von Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann
Sibylle Rothkegel
Fluchthintergründe: Fluchtbewegungen in individuellen und globalen Kontexten
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 3 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40478-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Nadine Scherer © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Reihenredaktion: Silke Strupat Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Geleitwort der Reihenherausgeberinnen . . . . . . . . . . 7 1 Fluchtbewegungen und Herkunftsländer . . . . . . . 11 1.1 Die große Krise Afrikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2 Komplexe Realitäten im Nahen Osten . . . . . . . 20 2 Fluchtwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3 Ankunftsorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.1 Die Situation in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.2 Ankunftsland Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4 Sequentielle Traumatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4.1 Das Konzept der sechs Sequenzen der Traumatisierung von Flüchtlingen . . . . . . . . . . 72 4.2 Am Fallbeispiel aufgezeigt: Fünf traumatische Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . 74 5 Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Wie kann Fluchtursachen begegnet werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Handlungsspielräume der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Implikationen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Geleitwort der Reihenherausgeberinnen
»Fluchtbewegungen in individuellen und globalen Kontexten« ist ein nicht ganz leicht verdaulicher Band, der anhand zahlreicher Fallvignetten sehr heterogene Fluchtwege von Menschen nachzeichnet. Die im Umgang mit komplex traumatisierten geflüchteten Menschen äußerst erfahrene Psychologin und Psychotherapeutin Sibylle Rothkegel mutet gerade auch den Leserinnen und Lesern, die noch nicht so sehr mit Phänomen Flucht vertraut sind, einen Einblick in die Lebensverläufe geflüchteter Menschen zu. Sie thematisiert das große Leid, dass diese in ihren Heimaten, auf der Flucht und in den verschiedenen Kontexten im Ankunftsland Deutschland erfahren haben. Sibylle Rothkegel beginnt ihre über weite Strecken essayistisch gehaltenen Ausführungen mit einem Überblick über aktuelle Krisenherde und das weltweite Ausmaß von Fluchtbewegungen. Dabei werden einige afrikanische Länder sowie die Situation im Jemen besonders in den Blick genommen. Es folgt die Darstellung von Fluchtwegen und des Ankommens in Deutschland, die in das sehr anschauliche Modell der sequentiellen Traumatisierung von Hans Keilson mündet. Sie endet mit der nicht gemütlichen, aber dennoch Fachkräfte und Ehrenamtliche ermutigenden Aussage, dass wir auf Grund unserer Beteiligung am traumatisierenden Prozess im Ankunftsland viel dazu beitragen können, genau diesen Prozess heilsamer und verträglicher zu gestalten, wobei dies bereits an vielen Stellen geschieht und gelingt.
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Geleitwort der Reihenherausgeberinnen
Insofern hoffen und wünschen wir, dass die Lektüre dieses Bandes neben aller durchaus beabsichtigten Verstörung Leserinnen und Leser in ihrem leidenschaftlichen humanitären Engagement bestärkt. Barbara Bräutigam Dorothea Zimmermann Maximiliane Brandmeier Silke Birgitta Gahleitner
1 Fluchtbewegungen und Herkunftsländer
Jede Flucht hat eine eigene Geschichte. Flüchtende Menschen sind die unausweichliche Begleiterscheinung von Krieg, staatlicher Gewalt, Terror und Verfolgung sowie der Zerstörung von Lebensgrundlagen und den damit einhergehenden Hungersnöten.1 Flüchtende brauchen in erster Linie existenzielle Sicherheit und materielle Versorgung. Gleichzeitig sind sie meist komplexen psychosozialen Zerstörungsprozessen ausgesetzt, wie zum Beispiel Traumata, die sich in Sequenzen entwickeln können: traumatische Erlebnisse im Herkunftsland, während der Periode einer oft langen, lebensgefährlichen und anstrengenden Flucht, nach der Ankunft im sogenannten Aufnahmeland sowie nach einer möglichen Rückkehr in die frühere Heimat, die freiwillig, aber auch erzwungen sein kann (Becker u. Weyermann, 2006). Wir können uns diesen Geschichten nicht mehr entziehen. Beinahe täglich sehen wir Fernsehbilder von gewalttätigen Konflikten und Naturkatastrophen. Ebenso werden wir mit Nachrichten aus Syrien und den damit verbundenen Flüchtlingsströmen in die Nachbarländer sowie den erschreckenden Zahlen der Zufluchtsuchenden aus afrikanischen Ländern konfrontiert. Wir erfahren, dass die Menschen aus Afrika nach ihrer Flucht aus den Herkunftsländern einer zwangsweisen und menschenunwürdigen Unterbringung in Sammellagern in der Region des Maghreb entkommen wollen und dann in 1 Laut Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen leiden zurzeit 108 Millionen Menschen extrem unter Hunger (FSIN, Food Security Information Network, 2017, S. 15).
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mangelhaften und überfüllten Booten an den Mittelmeerküsten stranden oder gar im Meer ertrinken. Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (UNHCR, 1951) definiert einen Flüchtling »als Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer [Ethnie]2, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.« Nach Schätzung des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen sind zurzeit weltweit circa 66 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als die Hälfte davon sind Kinder. Im Vergleich dazu waren es ein Jahr zuvor 59,5 Millionen Menschen, vor zehn Jahren dagegen nur 37,5 Millionen Menschen (UNO-Flüchtlingshilfe, 2015). Die Tendenz ist demnach deutlich steigend. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über Krisenherde, das weltweite Ausmaß von Fluchtbewegungen sowie die Situation (Binnen-)Vertriebener. Ich beleuchte dabei besonders den kritischen Zustand des afrikanischen Kontinents sowie die komplexe Lebenswirklichkeit von Menschen, die aus Regionen südlich der Sahara geflohen sind und im Maghreb oder in Nordafrika festsitzen, um damit die Veränderung von Migrationsprozessen aufzuzeigen. Die Fluchtgeschichten, die ich beispielhaft und anonymisiert erzähle, sind im Wesentlichen von Klienten aus meiner psychotherapeutischen oder gutachterlichen Praxis, die mir ihr Einverständnis für die Veröffentlichung gegeben haben. Zwei junge Frauen habe ich bei 2 Hier wird bewusst der in der Genfer Flüchtlingskonvention verwendete Begriff der Rasse durch den der Ethnie ersetzt.
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einer Evaluation in Flüchtlingslagern im Libanon getroffen. Sie haben mich dort sogar darum gebeten, ihre Geschichte »in Europa« zu erzählen. Die Fluchtgeschichte der syrischen Familie stammt aus der wissenschaftlichen Begleitung eines Projekts, das mit einem partizipativen Ansatz Bedarfe von Geflüchteten nach ihrer Ankunft in Deutschland erforscht hat. Zunächst widme ich mich der Situation der Binnenflüchtlinge, die Vertriebene im eigenen Land sind und manchmal doch Grenzen überschreiten müssen. Oft sind es Bürgerkriege, gewalttätige Konflikte zwischen verfeindeten Volksstämmen oder politischen Gegnern, GuerillaBewegungen oder kriminelle Organisationen, die die Vertreibungen auslösen. Das ist vor allem in Zentral- und Ostafrika der Fall. So war der Sudan lange Zeit das Land mit der höchsten Anzahl (sechs Millionen) an Binnenflüchtlingen weltweit.3 Besonders die Krisenregion Darfur, in der sich Regierungstruppen und Rebellen bekämpften, erlangte ab 2003 traurige Berühmtheit. Allein dort haben 2,5 Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Der Konflikt weitete sich auf grenznahe Gebiete des Tschads aus, einige Tausend Darfuris flohen in die Zentralafrikanische Republik. Obwohl der UN-Sicherheitsrat Ende 2007 eine Friedenstruppe in die Region entsandte, um die Lage für die Zivilbevölkerung zu verbessern, flackern die Kämpfe immer wieder auf. Ein weiterer Krisenherd entwickelte sich zunehmend in Pakistan, das typische soziale Probleme eines Entwicklungslandes (Arbeitslosigkeit, Kinderarbeit, Missachtung der Menschenrechte, Korruption) aufweist und höchstwahrscheinlich über Kernwaffen verfügt. Das Land grenzt 3 Inzwischen wird diese Zahl von der Anzahl der Binnenflüchtlinge in Syrien mit 6,6 Millionen übertroffen (UNO-Flüchtlingshilfe, 2015).
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im Südwesten an den Iran, im Westen an Afghanistan, im Norden an China und im Osten an Indien. P akistan ist auch ein Transitland für flüchtende Menschen aus Afghanistan. Seit der Islamisierungspolitik der 1980er Jahre erlebte es einen schnellen Zuwachs an religiösem Extremismus, zu dem die Koranschulen wesentlich beitrugen. In einigen Gebieten Westpakistans, in denen ausgeprägte Stammesstrukturen zu finden sind, ist das staatliche Machtmonopol stark eingeschränkt. Wasiristan an der afghanischen Grenze dient der radikalislamischen Taliban als Rückzugsgebiet. Pakistanische Regierungstruppen kämpfen seit 2004 gegen diese Verbände, um die Regierungsgewalt in diesem Landesteil wiederherzustellen. 2009 gab es mehrere Terroranschläge (z. B. gegen das Büro des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen im Hochsicherheitsbereich der Hauptstadt Islamabad oder der Angriff einer pakistanischen Taliban-Organisation, TTP, gegen das Hauptquartier der pakistanischen Armee in der Garnisonsstadt Rawalpindi), die in einen Zusammenhang mit diesem Konflikt gebracht werden. Seit die pakistanische Regierung 2009 im Rahmen des »Kriegs gegen den Terror« im Nordwesten des Landes verstärkt militärisch gegen die radikalislamische Taliban vorgeht, sind 2,5 Millionen Menschen aus der Gegend geflüchtet. In Pakistan leben fast zwei Millionen Binnenflüchtlinge, rund 1,5 Millionen registrierte Geflüchtete aus Afghanistan, dazu noch eine weitere Million nicht registrierter Afghanen. Seit Juni 2016 werden sie von Sicherheitskräften bedrängt, nach Afghanistan zurückzukehren. Kabul beschuldigt Pakistan, die Talibanverbände aufzurüsten und sie unter die unfreiwilligen Rückkehrer mischen zu wollen. Auch Experten und Vertreter von Hilfsorganisationen warnen vor den Folgen dieses Massenexodus (Gerner, 2017), weil sie sehen, dass der afghanische Staat die Wiedereingliederung der Rückkehrer in die Gesell-
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schaft ohne Unterstützung nicht bewältigen kann. Zum einen würde Afghanistan durch terroristische Aktivitäten und zum anderen durch Arbeitslosigkeit und Mangel an Wohnungen weiter destabilisiert werden. In Kolumbien sind es paramilitärische Verbände und kriminelle Banden, die die Bewohner von ihrem Land vertreiben, um dort Palmen, Holz, Bananen oder Drogen anzubauen. Die betroffenen Regionen sind meist schwer zugänglich, die Vertriebenen, deren Anzahl auf knapp vier Millionen geschätzt wird, können nicht mit staatlicher Hilfe rechnen. Aber auch durch Bauprojekte wie Staudämme oder Kraftwerke verlieren Menschen ihr Land durch Überflutung und werden zur Flucht gezwungen, wie beispielsweise in Brasilien, in der Volksrepublik China oder in der Demokratischen Republik Kongo. Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR, 2016) hat sich die Anzahl der Binnenflüchtlinge, die bei Hilfseinrichtungen Schutz und Unterstützung suchen, zwischen 1999 und 2015 fast vervierfacht. 34 Millionen Menschen in über fünfzig Staaten waren 2015 im eigenen Land auf der Flucht. Sie bilden den größten Anteil unter den Vertriebenen weltweit und sind meist die ärmsten und schwächsten Beteiligten an einem Konflikt. Die Hilfsorganisation »Terre des Hommes« schätzt, dass 70 % der Binnenflüchtlinge Frauen und Kinder sind (UNHCR, 2016). Auf ihren langen und beschwerlichen Wegen in Gebiete, von denen sie sich mehr Sicherheit versprechen, sind sie weiteren Gefahren ausgesetzt. Flüchtlingstrecks werden oft von bewaffneten Gruppen verfolgt und ausgeplündert, Frauen und Mädchen müssen Vergewaltigungen fürchten, männliche und weibliche Kinder sowie Jugendliche werden verschleppt und als Kinder soldaten zwangsrekrutiert. Fast immer fehlt es auf den Trecks an Nahrung und hygienischer wie medizinischer Versorgung. Auch wenn das Ziel erreicht ist, bleibt die
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Lage oft dramatisch. Die meisten Vertriebenen hoffen, möglichst schnell wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, und lassen sich in überfüllten Notunterkünften und Slums nieder, wo sich Krankheiten schnell ausbreiten und die Versorgungslage wieder äußerst mangelhaft ist. Den meisten fehlen berufliche Perspektiven. Um überleben zu können, sehen sie sich zur Kriminalität und Prostitution gezwungen. Im Vergleich zu den Schutzsuchenden, die ihr Land verlassen, haben Binnenflüchtlinge weniger Schutz, Unterstützung und Möglichkeiten, ihre Rechte einzufordern. Für sie betrachteten sich bis zur Jahrtausendwende internationale Hilfsorganisationen meist nicht als zuständig. Auch wurde diesen von den Regierungen, die die Vertreibungen veranlasst hatten (wie zum Beispiel im Sudan oder in Simbabwe), der Zugang zu den Betroffenen erschwert. Das Mandat des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sieht die Zuständigkeit für Binnenflüchtlinge nicht vor. Jedoch kann der Hohe Flüchtlingskommissar auf Anfrage einer Regierung oder der UN-Generalversammlung für sie tätig werden und hat dies in der Vergangenheit in zahlreichen Ländern bereits getan, wie beispielsweise in Ex-Jugoslawien oder auch in Osttimor. Dies war im Hinblick auf das Neutralitätsgebot, den zu befürchtenden Missbrauch durch menschenrechtsverachtende Machthaber oder eine mögliche Gefährdung von Mitarbeitern nicht unumstritten. 2005 hat nach längeren Diskussionen ein Paradigmenwechsel stattgefunden, indem sich schließlich der UNHCR und verschiedene andere große Hilfsorganisationen auf eine bessere Koordination und einen umfassenderen Ansatz zum Schutz für Binnenflüchtlinge geeinigt haben. Die Wirkung des UNHCR wird seit Jahren dadurch beeinträchtigt, dass die Zuwendungen für seine Programme deutlich unterhalb der als notwendig veröffentlichten Höhe liegen. Die Forderung
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nach Lösungsansätzen vor Ort, die ihm von den Geberländern praktisch aufgezwungen wird, bringt den UNHCR in ein Dilemma, da sich die geforderte Prävention einer grenzüberschreitenden Flucht und die Protektion von Geflüchteten, die der UNHCR als eigentliche Aufgabe versteht, schwer miteinander vereinbaren lassen.
1.1 Die große Krise Afrikas Wie zu Beginn des Kapitels verdeutlicht, befinden sich immer mehr Menschen weltweit auf der Flucht. Jedoch sind die Lasten, die den Transit- oder auch Ankunftsländern innerhalb Afrikas dadurch entstehen, im globalen Vergleich extrem ungleich verteilt. In der letzten Dekade ist der Anteil der Geflüchteten, die sich in benachbarten, ärmeren oder auch sogenannten Entwicklungsländern niederlassen, von 70 auf 86 % aller Flüchtlinge weltweit angestiegen. 2012 beherbergte allein Afrika südlich der Sahara 26 % und die Region des Mittleren Osten bzw. Nordafrika 15 % aller Geflüchteten weltweit. Naudé (2009) weist darauf hin, dass die sich am längsten hinziehenden gewalttätigen Konflikte oder auch Bürgerkriege im Afrika südlich der Sahara ausgetragen werden, wie beispielsweise in der Demokratischen Republik Kongo, in Somalia und im Sudan. Auch politisch, ethnisch und religiös motivierte Gewalt in Zentralafrika und im Südsudan sowie diktatorische Regime wie in Eritrea, die erschreckende Hungersnöte mit sich bringen, führen zu immer mehr Flüchtenden aus und innerhalb dieser Region. Eritrea steht nach Syrien, Afghanistan und Irak an vierter Stelle der Herkunftsländer der in Deutschland Schutzsuchenden. Es liegt mit circa sechs Millionen Einwohnern im nordöstlichen Afrika. Im Nordwesten befindet sich die Grenze zum Sudan, im Südosten Dschibuti und im Süden der große Nachbar Äthiopien. Von 1968 bis 1993 kämpfte
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der Staat für die Unabhängigkeit von Äthiopien. Doch schon fünf Jahre später brach erneut Krieg zwischen den beiden Parteien aus. Seither hält Äthiopien einen Streifen eritreisches Land besetzt, und in Eritrea herrscht permanenter Ausnahmezustand. Das Land hat zwar seit 1997 formal eine republikanische Verfassung, aber die für 2001 angesetzte Wahl fand bis heute nicht statt. Seit der Unabhängigkeit wird es von der Autoritären Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit dominiert und wegen seines diktatorischen Regimes als »Nordkorea Afrikas« bezeichnet (Feuerbach, 2015); Präsident ist Isayas Afewerki. Willkürliche Verhaftungen, Sippenhaft und Menschen, die spurlos verschwinden, sind an der Tagesordnung. Alle Frauen und Männer im Alter zwischen 18 und 50 Jahren laufen Gefahr, bis zu dreißig Jahre lang Militärdienst leisten zu müssen und dort unvorstellbaren Misshandlungen ausgesetzt zu sein. Ein UN-Bericht bezeichnet das als »Versklavung auf unbestimmte Zeit« (United Nations Human Rights, 2015). Diese Zusammenhänge stellen den Hauptgrund für die Flucht von Menschen aus Eritrea dar. Was diesen Menschen auf ihren Fluchtwegen widerfahren kann, erzähle ich am Beispiel des 21-jährigen Davit aus Eritrea, von dem im Tagesspiegel vom 23. April 2017 berichtet wurde (Surholt, 2017). Als absolut aussichtslos empfand Davit seine Lage, nachdem er die zwölfte Schulklasse in einem militärischen Ausbildungslager absolvieren musste. Sofort danach entschied er, nicht auf ewig Sklave der Regierung sein zu wollen. Verwandte gaben ihm alles, was sie veräußern konnten und schon mühsam angespart hatten, damit er seine Flucht gut vorbereiten und dementsprechend sicher antreten konnte. Nach zwei Wochen hielten ihn seine Schlepper im Sudan fest, um weitere 2000 Dollar von seinen Angehörigen zu
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erpressen, die jedoch nichts mehr geben konnten. Zur Strafe schnitten ihm die Schlepper mehrere Finger ab. Mit verstümmelten Händen brachten sie ihn zurück und setzten ihn an der eritreischen Grenze ab. Davit hatte in seinem Herkunftsland eine Gefängnisstrafe von mindestens fünf Jahren zu befürchten. Er übergoss sich selbst mit Benzin und erlag schließlich seinen Verletzungen (Surholt, 2017).
Nach Einschätzung der Vereinten Nationen führte allein der Krieg im Südsudan zu einer der schlimmsten Flüchtlingskrisen. So seien Ende 2013 rund 1,6 Millionen Südsudanesen Richtung Uganda, Kenia oder Äthiopien geflohen (Böhme u. Kübler, 2017). Hinzu kamen die Konflikte in Libyen mit dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi und die politischen Umwälzungen durch den Arabischen Frühling 2010 bis 2011, die ich später näher beleuchten werde. Die politischen Entwicklungen in diesen Ländern veränderten auch Migrationsprozesse. Immer mehr Menschen verließen ihre Heimatländer zunächst entweder in Richtung Maghreb oder auch innerhalb der Region des Maghreb, während sich gleichzeitig die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union immer restriktiver entwickelte. Das führt dazu, dass die Zahl der flüchtenden Menschen, die in Nordafrika unfreiwillig und auf völlig ungewisse Dauer feststecken, kontinuierlich ansteigt, während sich gleichzeitig ihre Lebensbedingungen dort zunehmend verschlechtern. Unter anderem wird von permanenter rassistisch motivierter Gewalt gegen Schwarzafrikaner (Bonfiglio, 2011; Brachet, 2009) berichtet. Für die meisten gibt es jedoch weder eine Möglichkeit zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer, die nicht mit einer Gefahr für Leib und Leben verbunden wäre, noch eine Perspektive zur ursprünglich geplanten Weiterwanderung in ein europäisches Land. Die wenigen, denen es gelingt, nach Deutschland zu kom-
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men, berichten ihre langen Fluchtgeschichten, die fragmentarisch und in mehreren Phasen verliefen.
1.2 K omplexe Realitäten im Nahen Osten
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Für Menschen, die aus zentral- und südafrikanischen Ländern flüchten, spielt Libyen als eigentliches Transitland auf dem Weg nach Europa eine zentrale Rolle. Muammar al-Gaddafi, der von 1969 bis 2011 das Land diktatorisch regierte, unterstützte in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs andere afrikanische Staaten nicht nur finanziell, sondern erleichterte für ihre Bürger Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen. Im September 2000 kam es zum ersten Mal zu rassistischen Ausschreitungen und regelrechten Pogromen gegen afrikanische Gastarbeiter. Infolge von Investitionsverlusten in der Finanzkrise ab 2007, unter deren ökonomischen Auswirkungen im Wesentlichen das libysche Volk zu leiden hatte, und der daraus erwachsenen Rebellion in den arabischen Nachbarstaaten geriet Anfang 2011 auch die Herrschaft Gaddafis ins Wanken. Es begann ein blutiger Bürgerkrieg, und wieder wurden Pogrome gegen Schwarzafrikaner verübt. Die Ursache lag auch darin, dass Gaddafi fremde Söldner aus vielen afrikanischen Staaten angeheuert hatte, um den Aufstand niederzuschlagen. Es begannen blutige Rachefeldzüge von Milizen gegen die Gräueltaten, die zuvor Gaddafis Getreue verübt hatten. Bis heute bewegt sich das Land in einem Teufelskreis aus Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Rache. Der zerfallene Mittelmeerstaat ist das Haupttransitland für Flüchtende. Er ist völlig überfordert, denn Tausende kommen aus den Ländern Schwarzafrikas, aber auch aus Syrien oder Pakistan. Die libyschen Grenzen in den Wüstengebieten der Sahara sind unbewacht. Menschenschmuggler können
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ungehindert nahezu jeden, der über die entsprechenden Ressourcen verfügt, zu einer Passage verhelfen. Auch verschiedene Milizen, die im Süden des Landes Straßenkontrollen errichtet haben, erpressen Geldbeträge von Schutzsuchenden. 1.2.1 Lager in Libyen
Schon 2003 kooperierte die Europäische Union mit dem damaligen Regime Gaddafis, um afrikanische Geflüchtete von ihren Außengrenzen fernzuhalten. Nach Angaben von Menschenrechtlern nahm die EU dabei auch menschenunwürdige Zustände und Folter in libyschen Internierungslagern in Kauf, die zum Teil von ihr finanziert wurden (Laska u. Rohde, 2011). Doch wie sieht die aktuelle Lage aus? Seit dem Frühjahr 2017 wird das Vorhaben der Bundesregierung und der EU unter dem Vorsitz der maltesischen Ratspräsidentschaft ernsthaft diskutiert, mit Libyen nach dem Vorbild des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei (siehe Kapitel 3.1, S. 56) einen Flüchtlingspakt zu schließen. Der Bundesminister des Inneren, Thomas de Maizière, sprach sich ausdrücklich mit der Begründung für dieses Vorhaben aus, dass sich seit der Schließung der Balkan-Route 2015 und dem Abkommen mit der Türkei 2016 Libyens Küste für Menschen auf der Flucht als Tor zu Europa erwiesen habe. Derzeit existieren in Libyen 21 Sammellager, in denen Geflüchtete gegen ihren Willen untergebracht sind. Björn Blaschke beschrieb am 5. Mai 2017 in den Tagesthemen aus dem ARD-Studio Kairo die erschütternde Realität von flüchtenden Menschen aus vielen südlichen Ländern Afrikas, die von Libyern im Land aufgegriffen oder aus der See gefischt worden waren und unter menschenunwürdigen Bedingungen in ein Gefangenenlager eingesperrt wurden. Der UNO-Koordinator für Libyen, Martin Kobler, warnte
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ebenfalls im Mai 2017 davor, aus dem Mittelmeer gerettete Bootsflüchtlinge nach Libyen zurückzubringen, weil die Situation in den 21 Lagern menschenunwürdig sei. Die Menschen würden im Dunkeln eingepfercht, müssten in Schichten schlafen und litten an Unterernährung. Darüber hinaus existierten Lager, die von Schleppern illegal betrieben würden und für UNO-Vertreter nicht zugänglich seien. Systematische Vergewaltigungen, Folter und Exekutionen seien an der Tagesordnung (Süddeutsche Zeitung, 2017). Diese Aussagen bestätigt auch das Auswärtige Amt, dem der Bericht einer deutschen Botschaft in einem Nachbarland Libyens vorliegt. Die Lebenswirklichkeit von Menschen aus südlichen Ländern Afrikas auf der Flucht möchte ich am Beispiel eines Klienten veranschaulichen. Khaled lebte im Osten des Tschads in einem Dorf unweit der Grenze zum Sudan mit seiner Ehefrau und zwei Kindern im Kreise seiner Großfamilie, arbeitete als Lehrer und kümmerte sich zusätzlich um die Landwirtschaft der Familie. Eines Tages wurde sein Dorf von einem sudanesischen Stamm überfallen, der viele der Viehbestände raubte. Als sich dies wiederholte, versuchten sich die Dorfbewohner mit Waffengewalt zu wehren. Doch die Angreifer waren deutlich in der Übermacht und töteten den Vater und die Ehefrau von Khaled. Er und andere Männer des Dorfes baten in einer nah gelegenen Polizeistation um militärische Unterstützung. Regierungstruppen trafen spät ein und gingen dann nicht gegen die sudanesischen Angreifer, sondern brutal gegen die eigenen Landsleute vor und bereicherten sich an dem, was ihnen noch geblieben war. Daraufhin flüchteten die meisten der Angehörigen seines Stammes aus der Region, so auch seine Mutter mit seinen beiden Kindern. So viel er weiß, leben sie nun seit circa zwölf Jahren unter menschen-
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unwürdigen Bedingungen in einem großen Flüchtlingslager im Sudan. Khaled schloss sich aus Empörung über die Menschenrechtsverletzungen seiner Regierung einer oppositionellen Freiheitsbewegung an, die im April 2006 in der Hauptstadt den Regierungssitz stundenlang unter Beschuss setzte. Dieser Angriff wurde dann mit Hilfe französischer Truppen niedergeschlagen. Dabei kamen viele seiner Kameraden ums Leben oder wurden festgenommen. Er konnte fliehen und versteckte sich an verschiedenen Orten im Norden des Landes. 2007 überquerte er mit 15 seiner Kameraden die Grenze nach Libyen mit dem Ziel, Geld zu verdienen, um dann nach Kanada zu dort lebenden Verwandten weiterreisen zu können und seine Mutter mit den Kindern nachzuholen. Dreieinhalb Jahre schuftete er schwer beim Straßenbau, sodass er heute noch unter chronischen Rückenschmerzen leidet. Die beschriebene ökonomische und gesellschaftspolitische Lage in Libyen wurde auch für ihn und seine Kameraden immer gefährlicher. Sie waren nicht nur rassistischen Angriffen auf offener Straße ausgesetzt, sondern wurden eines Tages von libyschen Polizeibeamten aufgegriffen und unter Gewaltanwendung in ein großes, völlig überfülltes Internierungslager gebracht. Er und seine Landsleute wurden dort mit dem Tode bedroht, misshandelt und gefoltert. Die Spuren sind bis heute zu erkennen. Sie wurden auf engstem Raum mit anderen Menschen zusammengepfercht, litten an einem Mangel an Nahrung, Wasser sowie hygienischer und medizinischer Versorgung und hatten keine Luft zum Atmen. Eines Nachts gelang es ihm zu fliehen. Er lief zum Hafen und traf dort in der Dunkelheit auf eine Gruppe von Afrikanern, die über das Mittelmeer nach Europa wollten. Obwohl sein Ziel eigentlich Kanada war, schloss er sich in seiner Not dieser Gruppe an und bestieg mit ihnen ein Schiff in Richtung Italien. Nach einigen Stunden drohte das Schiff
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zu sinken, unter den Passagieren brach Panik aus. Sie wurden glücklicherweise von der italienischen Küstenwache entdeckt und an Land gebracht.
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Ich werde die Beschreibung des weiteren Verlaufs der Fluchtgeschichte von Khaled später fortsetzen, um mögliche Folgen des sogenannten Dublin-Abkommens und den Verlauf einer fortlaufenden Traumatisierung darzustellen. Weitere Krisenherde, an deren Entwicklung zur humanitären Katastrophe viele Staaten der Welt beteiligt sind, und damit einhergehende Fluchtbewegungen finden wir in Ländern wie dem Irak, Syrien und dem Jemen. Andere Entwicklungen wie die Entwicklung zu einer geschlechtsspezifischen Verfolgung zeige ich am Verlauf des Arabischen Frühlings in Ägypten. 1.2.2 Der Irak
Der Irak steht 2017 an dritter Stelle der Herkunftsländer von nach Deutschland Geflüchteten. Auf der Weltrangliste der Länder mit den meisten Bodenschätzen (Erdöl) wird er auf Platz 4 geführt. Unter der Herrschaft des BaathRegimes von Saddam Hussein wurden Ende der 1970er Jahre die Erdölvorkommen verstaatlicht. Der Irak entwickelte sich zu einem Wohlfahrtsstaat, von dem ein Großteil der Bevölkerung profitierte. Gleichzeitig überzog das Regime das Land mit Kontrolle und Terror, marginalisierte die schiitische Bevölkerungsmehrheit und führte einen blutigen Kampf gegen Autonomiebestrebungen der kurdischen Bevölkerung im Norden des Landes. Letzterer gipfelte 1988 zum einen im Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabja, bei dem 5.000 Menschen starben, und zum anderen in den so genannten Anfal-Operationen, bei denen Tausende kurdischer Dörfer zerstört und mehr als
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hunderttausend Männer und junge Frauen ermordet wurden. Anfal gehört zu den herausragenden genozidalen Verbrechen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait 1991 und der darauffolgenden US-geführten Militärinvasion im Irak erlangte die kurdische Region eine provisorische Autonomie. Die darauffolgenden zwölf Jahre waren im Irak vom internationalen Embargo geprägt, das landesweit zum Zusammenbruch wirtschaftlicher und sozialer Strukturen führte. 2003 kam es dann durch die später aufgedeckte Falschaussage der Bush-Regierung, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügen würde, zu dem völkerrechtlich umstrittenen Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten und zum Sturz Saddam Husseins. Unter der US-geführten Übergangsregierung wurde die bis dahin staatstragende sunnitische Elite entmachtet und verlor ihre Positionen im Staatsdienst. Außerdem wurde die Armee aufgelöst. Besonders in der ersten Zeit der Besetzung des Iraks, die bis 2011 andauerte, geschahen Kriegsverbrechen auf allen Seiten der Beteiligten. Die Fotos aus dem Gefängnis von Abu-Ghraib, die durch eine amerikanische Soldatin gefolterte und durch sexualisierte Gewalt erniedrigte irakische männliche Gefangene zeigten, lösten nicht nur im arabischen Raum, sondern weltweit Entsetzen aus. Mit der irakischen Verfassung von 2005 wurde die kurdische Region ein Bundesstaat in einem föderalen Irak. Seit den ersten Wahlen zur Irakischen Nationalversammlung 2005 wird die irakische Regierung von Repräsentanten der schiitischen Bevölkerungsmehrheit und einer starken kurdischen Fraktion dominiert. Bis heute ist es nicht gelungen, die sunnitische Bevölkerung in den politischen Prozess einzubeziehen. Ihre politische und soziale Marginalisierung ist einer der Hintergründe für die fortgesetzte Gewalt und das Erstarken fundamentalistischer
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und terroristischer Gruppierungen im Irak: Sunniten und Schiiten bekämpfen sich blutig, tausende von Terroranschlägen und schwere Konflikte auch zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen forderten bereits unzählige Tote. 2014 erlangte die Terrorgruppe des selbst ernannten Islamischen Staats (IS) Kontrolle über weite Teile des Zentraliraks sowie die Erdölstadt Mossul und verübte Massaker gegen die Volksgruppe der Jesiden4. Tausende Jesiden konnten entkommen, weil Kämpfer der nordsyrischen Miliz (YPG) und der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) einen Korridor vom Sindschar-Gebirge im Irak nach Syrien freikämpften (Bartz, Özarslan u. Stoll, 2014). Seither kämpfen die irakische Armee, schiitische Milizen und kurdischirakische Peshmerga5, die durch die deutsche Bundeswehr unterstützt und ausgebildet werden, gegen den IS: ein Krieg, der täglich neue Opfer fordert und neue Menschenrechtsverletzungen auf allen Seiten hervorbringt und zahllose Menschen in die Flucht treibt. Allein innerhalb des Irak sind zurzeit 3,2 Millionenen Menschen auf der Flucht aus den umkämpften Gebieten. 1.2.3 Syrien
Der Nahostexperte Volker Perthes (2011) beschreibt den sogenannten Arabischen Frühling als »eine Volksbewegung für Würde und Rechte und gegen die Korruption oder Arroganz der Mächtigen, die fast alle arabischen Staaten in der einen oder anderen Weise erfasste.« Die Folgen des Arabischen Frühlings zeigen für Syrien wenig Ähn4 Sie werden im Dreiländereck Türkei – Irak – Syrien seit langem diskriminiert. 5 Nicht die zuvor erwähnte kurdische Arbeiterpartei (PKK), sondern die Peshmerga gelten als die Streitkräfte des Autonomen Staates Kurdistan im Norden Iraks.
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lichkeiten mit denen, die in Tunesien oder in Ägypten zu beobachten sind. Die Proteste in den Nachbarländern steckten 2011 syrische Regimekritiker an, und auch hier begannen zunächst friedliche Proteste gegen die Machthaber mit dem Präsidenten Baschar al-Assad, dem die Regierungsgeschäfte von seinem ebenfalls diktatorischen Vater übertragen worden waren. Die Proteste wurden jedoch schnell und gewaltsam von seinem Regime niedergeschlagen, und dies geschah ohne jegliche Rücksicht auf unbeteiligte Zivilisten. Daraus entwickelte sich ein Bürgerkrieg, der bis heute in unverminderter Grausamkeit anhält. Im Zentrum des Konflikts stehen das Assad-Regime und die regimefeindliche Opposition. Inzwischen kämpfen zahlreiche unterschiedliche Rebellengruppen für oder gegen das Regime. Außerdem werden die beiden Hauptparteien von internationalen Koalitionen, das heißt insgesamt sechzig Ländern unterstützt, unter ihnen beispielsweise Russland, der Iran, der Irak, die USA, Großbritannien und Frankreich (sh. Abbildung 1). Die Menschen in Syrien versuchen inzwischen vor den verschiedenen Entwicklungen des Bürgerkriegs, die ihr Leben bedrohen, zu fliehen: vor der unvorstellbaren Brutalität der regierungstreuen Truppen und ihrem Einsatz von Fassbomben, vor der menschenverachtenden Terrorherrschaft des IS, vor der Bombardierung durch amerikanische, russische und türkische Kampfflieger, vor Hunger, Aussichtslosigkeit und der ständigen Bedrohung durch mehrere unterschiedliche umherziehende Terrorgruppen, die sich auch untereinander bekämpfen. Der noch herrschende Präsident Assad hält an seiner Macht fest, obwohl bereits 4,9 Millionen Syrerinnen und Syrer aus dem Land geflohen sind. Ein großer Teil lebt in Auffanglagern in den Nachbarstaaten, wie Jordanien, dem Libanon und der Türkei, ohne Perspektive, weiterwandern zu können. Dazu kommen 6,6 Millionen, die im eigenen Land, in Sy-
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Abbildung 1: Der syrische Bürgerkrieg (© Götz Schwarzrock, Berlin)
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b. 1978 Schah-Regime, s. 1979 Islam. Rep., 2009/10 Massenproteste gegen islam. Regime, 2008–15 Int. Sanktionen wegen Atomprogramm 2003/09
Provinzgrenzen in Syrien
Grenzen Syrien, Irak s.1946 Gebiete unter Kontrolle Assad-Regime Syrische Rebellen Kurdische Miliz Islamischer Staat (IS)
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rien selbst also, vertrieben wurden. Diejenigen, die Familienangehörige in Deutschland haben, können bei den deutschen Auslandsvertretungen Anträge auf Familienzusammenführung stellen, um gegebenenfalls auf legalem Wege nach Deutschland zu gelangen. Die im globalen Vergleich wenigen, die das geschafft haben, berichten von Fluchtgeschichten, die meist auch hier fragmentarisch in mehreren Etappen verlaufen sind. Unzählige Familien wurden getrennt: beispielsweise Minderjährige, die allein geflohen sind, um sich einer drohenden Rekrutierung zu entziehen; Familienväter, die sich auf den beschwerlichen Weg außer Landes begeben haben, um ihre Familie später nachzuholen, oder eine Mutter, die mit ihren Kindern aus Aleppo in einen zunächst sicheren Teil von Damaskus fliehen konnte, während der Vater geblieben ist, um als Sanitäter Verletzten helfen zu können. In diesem Fall musste die Familie schon den größten Teil der Summe investieren, die sie mit auf die Flucht genommen hatte, um den Vater aus der bedrohten Zone retten zu können. 1.2.4 Umwälzungen auf der Arabischen Halbinsel: Geschichte und Entwicklungen im Jemen
Auf der Arabischen Halbinsel liegen die Staaten SaudiArabien, im Süden Jemen und Oman sowie im Osten Kuwait, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate; Bahrain befindet sich auf einer vorgelagerten Insel. Im Norden haben Jordanien und der Irak einen Anteil an der Halbinsel. Von diesen Staaten ist Saudi-Arabien flächenmäßig mit Abstand das größte Land. An die Region grenzen im Westen Ägypten, im Norden Israel, der Libanon und Syrien sowie im Osten der Iran. Ich widme der Situation im Jemen besondere Aufmerksamkeit, weil sie gemessen an dem Ausmaß des Leidens der dort lebenden Bevölkerung und der drohenden Gefahr einer weiteren Destabilisie-
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rung der gesamten Region auffallend sparsamen Raum in den Diskussionen deutscher Medien findet. Es drängt sich die Frage auf, ob das daran liegt, dass nur wenige schutzbedürftige Jemeniten den Weg nach Deutschland schafften (bislang insgesamt 328). Deshalb wird Jemen als Herkunftsland Geflüchteter vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht aufgelistet. 2015 konnten 15.128 Menschen aus dem Land fliehen und zwar hauptsächlich nach Dschibuti, Jordanien und Ägypten. Nach den Kriegen in Syrien, in Libyen und dem Ausbruch der Krise im Irak 2014 wurde ein Jahr später auch der Jemen zum Kriegsschauplatz der arabischen Welt – zu einem Kriegsschauplatz, an dem sich eine Anzahl von Mächten mit eigenen Interessen engagierte. Auch dieser Bürgerkrieg kann als Repräsentant verschiedener typischer Konflikte der Region gedeutet werden: als Repräsentant scheinbar religiöser Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, bei denen es aber eigentlich um Einfluss und Macht geht; als Repräsentant des von einem Macht vakuum begünstigten Vormarsches von Dschihadisten wie al-Qaida und IS; als Repräsentant der Vertreibung, Flucht und Verelendung größerer Teile der Bevölkerung sowie als Repräsentant des Konflikts zwischen westlichen Staaten und Russland, die jeweils widerstreitende Parteien unterstützen, ohne brauchbare Konzepte für Friedensbemühungen zu entwickeln. Ali Abdullah Salih lenkte mit einem autoritären Führungsstil von 1978 bis 2011 die Geschicke des Landes; alle wichtigen Posten besetzte er mit seinen Vertrauten, so auch die Kontrolle über die Ölfelder, was mit persönlichen Bereicherungen auf Kosten der jemenitischen Bevölkerung einherging. Als er nach 34-jähriger Herrschaft von einer breiten Protestbewegung wegen seines Regierungsstils und fehlender Reformbereitschaft zum Rücktritt gezwungen wurde, hinterließ er einen Staat am Rande der Anarchie. Als
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sein Nachfolger wurde Abed Rabbo Mansur Hadi 2012 mit fast 100 % der abgegebenen Stimmen gewählt. Die internationale Gemeinschaft erkennt ihn als den legitimen Präsidenten Jemens an, obwohl er inzwischen über so gut wie keine Macht im eigenen Land verfügt. Seit der iranischen Revolution 1979 unterstellen die Saudis schnell überall eine Verschwörung der Mullahs in Teheran, so auch während der arabischen Rebellion, die sich auf die Nachbarstaaten SaudiArabiens auswirkte. Seit 2015 tobt nun ein gewaltsamer Konflikt im Jemen. Eine Militärallianz unter Riads Führung, der Ägypten, Bahrain, Katar, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, Marokko, der Sudan und Senegal angehören, fliegt seit Mai 2015 massive Angriffe auf Stellungen der schiitischen Huthi. Sie wird von den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Großbritannien logistisch unterstützt. Offiziell heißt es, man wolle den Jemen stabilisieren und den gewählten Präsidenten Hadi unterstützen. Gelänge dies nicht, drohe ein zweites Libyen. Die Huthis fühlen sich seit langem von der sunnitischen Zentralregierung benachteiligt. Es handelt sich bei ihnen um eine schiitisch geprägte, militärisch-politische Bewegung mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung und mutmaßlichen Verbindungen zum Iran. Die Miliz hat ihren Ursprung im jemenitischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre. Immer wieder gab es Aufstände, gegen die Regierungssoldaten massiv vorgingen. Vom Norden kommend konnten die gut gerüsteten Huthis schließlich ihre Macht über weite Teile des Landes ausdehnen. Mitte 2014 gelang es ihnen sogar, die Hauptstadt Sanaa einzunehmen. Sie sind seitdem de facto die Machthaber im Jemen, die bisher trotz der gegen sie eingesetzten Militärmaschinerie nicht besiegt werden konnten. Das Vorgehen der Huthis ist umstritten. Zum einen fehlt ihnen die Legitimität einer Wahl, zum anderen sprechen die Worte auf ihrer Fahne für sich: »Gott ist groß!
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Tod Amerika, Tod Israel, verflucht seien die Juden! Sieg dem Islam!« Sie treffen jedoch auf große Zustimmung in der Bevölkerung. Bisher sind alle Friedensgespräche gescheitert, und Angst, Armut sowie Gewalt lassen die Menschen verzweifeln. Doch dieser Konflikt wird von der Welt bislang kaum wahrgenommen. Böhme und Moscovici (2016) beanstanden, dass alle Augen auf Aleppo und die Schlacht um Mossul gerichtet zu sein scheinen, obwohl das Ausmaß der humanitären Katastrophe im J emen möglicherweise noch größer sei als das in Syrien und dem Irak. Chaos und Gewalt haben inzwischen dazu geführt, dass sich der Staat weitgehend aufgelöst hat. Wie erwähnt wird dieses Machtvakuum von bewaffneten Stämmen und Terrororganisationen wie al-Qaida genutzt, um ihren Einfluss kontinuierlich auszuweiten. Es scheint auch im Jemen weder um religiöse Ideologien der Sunniten oder der Schiiten noch um politische Visionen, sondern allein um Machtinteressen zu gehen, in deren Feld das Leid der Menschen untergeht. 4.000 Zivilisten sind bereits ums Leben gekommen. Dutzende Schulen, Märkte und Krankenhäuser wurden zerstört. Fast drei Millionen von insgesamt 27 Millionen Jemeniten, das heißt fast ein Zehntel der Bevölkerung, haben wegen der Kämpfe ihre Heimat verloren und befinden sich innerhalb des Landes auf der Flucht. Wie erwähnt, konnten nur wenige das Land verlassen. Der Jemen liegt im Süden der arabischen Halbinsel, im Norden hält Saudi-Arabien die Grenzen dicht, im Osten Oman. Auch die Flucht übers Meer ist fast unmöglich. So hausen Frauen, Kinder und Männer unter katastrophalen Bedingungen in baufälligen Gebäuden, Garagen oder auf Feldern. Lebensmittel, Wasser, Medikamente – es fehlt an allem, aber Hilfsgüter gelangen wegen der Seeblockade nur sehr schwer ins Land. Drei Viertel der Einwohner brauchen mittlerweile dringend Unterstützung. Zurzeit hungern schätzungsweise sieben Millionen Jemeniten, aber
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die Zuteilungen des Welternährungsprogramms mussten aufgrund des großen Bedarfs und mangelnder fi nanzieller Ressourcen halbiert werden. Laut UNICEF leben sechs Millionen Heranwachsende in bitterer Armut. Eineinhalb Millionen gelten als mangelernährt, davon 370.000 als lebensbedrohlich mangelernährt. Jemens Gesundheitssystem ist durch den Krieg fast komplett zusammengebrochen. Hinzu kommt, dass mehr als 200 Schulen durch Bombardements völlig zerstört und 1.100 beschädigt sind. Andere dienen als Notunterkünfte für Flüchtlinge oder werden von bewaffneten Gruppen besetzt. Für 350.000 Mädchen und Jungen heißt das, dass sie keinen Schulunterricht bekommen. Dadurch steigt die Zahl der Kindersoldaten. UNICEF berichtet, dass seit der saudiarabischen Invasion mindestens 1.200 Jugendliche von verschiedenen Milizen rekrutiert worden sind (Böhme u. Moscovici, 2016). Was das nicht nur für die fortschreitende Instabilität dieser Region, sondern möglicherweise auch für die Verunsicherung der westlichen Welt bedeutet, versteht sich von selbst. Anders sieht das ein Sprecher des Weißen Hauses nach dem zwischen den USA und SaudiArabien abgeschlossenen Waffengeschäft Ende Mai 2017, in dem vereinbart wurde, dass Amerika Riad in einem Zeitraum von zehn Jahren Waffen im Wert von 350 Milliarden Dollar liefern wird: »Dieses Paket von Verteidigungsausrüstung und Diensten unterstützt auf lange Sicht die Sicherheit Saudi-Arabiens und der Golf-Region angesichts iranischer Drohungen« (Zeit-Online, 2017). 1.2.5 Geschlechtsspezifische Verfolgung nach dem Arabischen Frühling in Ägypten
Für aus Ostafrika Geflüchtete ist Ägypten eines der wichtigsten Transitländer auf dem Weg nach Europa. Menschen aus Äthiopien, Eritrea, Somalia, dem Südsudan
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oder dem Sudan nehmen meist die Route durch Ägypten. Nach Angaben der ägyptischen Regierung haben sich 2016 rund fünf Millionen Flüchtlinge im Land aufgehalten, davon sollen allein zwei Millionen aus dem Sudan stammen. Beobachter wie beispielsweise der Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, sagen voraus, dass die Route von Ägypten nach Italien zunehmend genutzt würde, obwohl die Fahrt über das Mittelmeer besonders gefährlich sei und oft länger als zehn Tage dauere (vgl. Bewarder u. Walter, 2017). In Ägypten war Hosni Mubarak von 1981 bis 2012 autokratisch regierender Staatspräsident, der im Verlauf des Arabischen Frühlings gestürzt wurde. Danach gewann bei den ersten freien Wahlen Mohammed Mursi mit seiner islamistischen Partei »Muslimbrüder«. Ein Jahr danach begannen erneut massive Aufstände wegen Mursis autoritärem Regierungsstil und der Islamisierung, die er im Land durchzuführen versuchte. Mursi wurde 2013 nach einem Militärputsch gestürzt, und im Frühling 2014 kam Ex-General Abdel Fattah al-Sisi mit einer Wahlbeteiligung von nur 38,6 % an die Macht. Inzwischen hat der alte Mubarak-Apparat aus Militär, Polizei und Justiz das Land wieder fest im Griff. Mehr als 40.000 politische Gefangene berichten von Folterungen und sexualisierter Gewalt in Ägyptens Gefängnissen. Ägyptens wirtschaftliche Lage ist schlecht (Gehlen, 2016). In fast allen islamischen Ländern bildet die Scharia (islamische Rechtsprechung) die zivilrechtliche Gesetzesgrundlage und bestimmt somit auch das Familien- und Erbrecht. Auch wenn die unterschiedliche Auslegung des Korantextes und der Hadithe (der Überlieferung des Propheten) zu Unterschieden in den Frauenrechten führt, ist in der islamischen Rechtsprechung die Frau dem Mann klar untergeordnet. Das Ausmaß wie auch die Qualität der Einschränkung und Fremdbestimmung der Frauen variiert in den arabischen Ländern. Neben der in manchen
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Regionen vorkommenden Zwangsverheiratung und gelegentlichen Morden im Namen der Ehre liegt die Bandbreite zwischen Ministerinnenposten wie beispielsweise in Syrien und Algerien und dem strikten Verbot, ein Auto zu steuern, oder auch dem Schleierzwang in Saudi-Arabien, welcher dort gilt, obwohl in Saudi-Arabien eine Frau seit 2009 stellvertretende Ministerin für Bildung und Erziehung ist (Meier, 2014). Das Ziel der Rebellion im Arabischen Frühling (2010 bis 2011) war eine Verbesserung der allgemeinen Menschenrechtslage, die verknüpft mit der weiblichen Emanzipation sein sollte. »Parallel zum politischen Wandel verändert sich die arabische Welt auch gesellschaftlich. Traditionen werden gebrochen, alte Werte hinterfragt und vermeintlich zeitlose Tabus demontiert. Im Zentrum dieses gesellschaftlichen Wandels steht die Rolle der Frau. Zusammen mit dem Grad neuer Freiheiten und der Frage, ob die Veränderungen auf Dauer eine sozial gerechtere arabische Welt schaffen, sind die Frauen der Schlüssel für den Erfolg der arabischen Revolution«, schrieb Karim El-Gawhary (2013, S. 186). Mit dem Arabischen Frühling verbanden viele Menschen in der arabischen Welt nicht nur die Hoffnung auf eine Verbesserung der rechtlichen, politischen und ökonomischen Situation, sondern auch auf eine soziokulturelle Befreiung (Meier, 2014). Eine große Zahl von Frauen beteiligte sich aktiv an den Demonstrationen. Doch nach den Revolten kam es sehr bald zu einem starken Einbruch der Frauenrechte in den arabischen Ländern. Gegner der Freiheitsbewegungen unternahmen alles, um Frauen weiter zu entmachten. Die Frauen wurden »marginalisiert« und »von der Macht abgestoßen«, so Nadine Abou Zaki, die Leiterin des »The New Arab Woman Forum« (Körber-Forum, 2013). Nicht nur im Tumult der kämpferischen Auseinandersetzungen, sondern auch in alltäglichen Situationen häuften sich mitten auf belebten
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großen Straßen Gewaltanwendungen gegen Frauen. Verstörende Szenen wie verbale und körperliche Misshandlungen und sexualisierte Gewalt spielten sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo vor laufenden Kameras und damit vor den Augen der Welt ab. »Diese sexuellen Angriffe werden bewusst genutzt, um politische Gegner zu diskreditieren und abzuschrecken. Manche Salafisten erklären Frauen, die auf der Straße demonstrieren, gar zu Freiwild. So verkündete der bekannte Prediger Ahmad Mahmoud Abdullah, dass die Frauen auf dem Tahrir-Platz keine rote Linie, das heißt nicht tabu seien, weil sie keine Scham hätten und vergewaltigt werden wollten« (El-Gawhary, 2013, S. 188 f.). 2015 wiesen die Vereinten Nationen darauf hin, dass sexualisierte Gewalt in Ägypten ein beispielloses Ausmaß erreicht habe. Auch die ägyptische Vorsitzende des Zentrums für die Rechte der Frauen, Nehad Abul Komsan, schreibt in ihren Berichten, dass zwar sexualisierte Gewalt schon vor der Revolution in Ägypten weit verbreitet gewesen sei, dass sie jedoch seither dramatisch zugenommen habe. Ihr zufolge hätten die gesellschaftlichen Entwicklungen nach 2011 den Kampf um die Emanzipation in Ägypten um Jahrzehnte zurückgeworfen. Zwar hätten die Islamisten die Frauenrechte am massivsten beschnitten, doch werde die Unterdrückung von einem breiten politischen Spektrum betrieben (siehe Abul Komsan, 2016). Das Thema sexuelle Belästigung wurde bis zu diesem Zeitpunkt in Ägypten verschwiegen bzw. heruntergespielt. Statt die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, hatte schon die Regierung Mubarak die Frauen in Kampagnen dazu aufgerufen, sich zu verschleiern, um Übergriffe zu verhindern, und die damalige First Lady, Suzanne Mubarak, beschuldigte die Medien, aus wenigen Vorfällen »von unflätigen Jugendlichen« dem ganzen Land ein schlechtes Image zuzufügen. So wurde den Frauen die Schuld am »Fehlverhalten« der
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Männer zugeschrieben (Kleber, 2011, S. 1; Backhaus, 2014, S. 3). Doch die ägyptischen Frauen wehren sich. Sie nutzen »Harassmap.org«, ein Internetportal, das ihnen ermöglicht, sexuelle Belästigungen und Übergriffe zu veröffentlichen. Sie geben über ihre Erfahrungen mit genauen Angaben zu den Orten, an denen sie stattgefunden haben, per SMS, Twitter, E-Mail oder telefonisch Auskunft. Die Plätze werden zudem auf einer Karte angezeigt, sodass Frauen sie meiden können. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von »Harassmap« suchen diese Orte hingegen gerade auf, um dort direkt Aufklärungsarbeit durchzuführen. Auch in anderen Ländern des Arabischen Frühlings sehen wir symbolische und tätliche Angriffe auf Frauen und ihre Rechte. Beispielsweise war die erste Amtshandlung des Vorsitzenden der Übergangsregierung Libyens, Mustafa Abdel-Dschalil, nach Gaddafis Sturz das Verbot der Vielehe aufzuheben. Der steigende Zugang zum Bildungssektor wie auch zur weltweiten Vernetzung durch soziale Medien sorgte im Arabischen Frühling für Aufwind und Hoffnung auf mehr Gleichstellung der Frau. Die dann einsetzenden wahllosen sexualisierten Attacken auf Frauen im öffentlichen Raum können als destruktive Eindämmung einer progressiven Bewegung gesehen werden (Meier, 2014). Ein besonders trauriges Kapitel geschlechtsspezifischer Gewalt ist das der Genussehe. Sie ist als zeitlich begrenzte Ehe definiert, die von sehr kurz (wenige Minuten) bis zu neunundneunzig Jahren dauern kann. Die Zeitdauer dieser Verbindung wie auch die Entlohnung der Braut müssen allerdings vorher vereinbart werden. Ihr Zweck soll offiziell der Genuss beider Beteiligten sein, jedoch kann bei der realen Umsetzung bei den meisten Fällen wohl eher von einem einseitigen Genuss, nämlich dem des beteiligten Mannes, ausgegangen werden. In Anlehnung an einen Vers im Koran ist die Genussehe in der schiitischen
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Rechtsschule erlaubt und in der Regel in der sunnitischen Rechtsprechung verboten. Allerdings wurde sie 2006 in Saudi-Arabien, wo der wahhabitische Islam als eine Richtung des sunnitischen Islams herrscht, durch ein religiöses Gutachten (Fatwa) legitimiert. Zuvor war sie auch im sunnitischen Ägypten durch den Großscheich Muhammed Sayyed Tantawi unter Berufung auf folgenden Vers im Koran erlaubt worden: »Und verboten sind euch die ehrbaren (Ehe-)Frauen, außer was ihr an (Ehefrauen als Sklavinnen) besitzt. (Dies ist) euch von Gott vorgeschrieben. Was darüber hinausgeht, ist euch erlaubt, (nämlich) dass ihr euch als ehrbare (Ehe-)Männer, nicht um Unzucht zu treiben mit eurem Vermögen (sonstige Frauen zu verschaffen) sucht. Wenn ihr dann welche von ihnen (im ehelichen Verkehr) genossen habt, dann gebt ihnen ihren Lohn als Pflichtteil! Es liegt aber für euch keine Sünde darin, wenn ihr, nachdem der Pflichtteil festgelegt ist, (darüber hinausgehend) ein gegenseitiges Übereinkommen trefft. Gott weiß Bescheid und ist weise« (4:24, zit. nach Meier, 2014, S. 8). Im Kontext der zunehmenden Einschränkung der sozialen und beruflichen Einschränkung der Frauen in einigen islamischen Ländern wie im Iran und der Arabischen Halbinsel kommt es immer mehr zum Phänomen der Genussehe aus purer finanzieller Not etlicher Frauen und ihrer Familien. Besonders erschütternd ist die Situation mancher arabischer Frauen aus Kriegsgebieten, wie beispielsweise dem Jemen, wo es häufig zu Ehen von kurzer Dauer in den Nachbarstaaten kommt. Eigens hierfür kommen auch viele mehr oder minder wohlhabende Männer aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten in Flüchtlingslager und suchen sich dort, wo die Not am größten ist, ihre Bräute zum »Genießen«. Mein Besuch in einem Flüchtlingslager im Libanon, bei dem ich Alisha und Samira kennen lernte, verdeutlicht dies.
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Alisha (16 Jahre) und Samira (15 Jahre) waren beide ursprünglich mit ihren Familien aus Syrien geflüchtet. Ihre Väter hatten sie – gegen ihren Willen – an wesentlich ältere Männer aus Saudi-Arabien bzw. Abu Dhabi in eine Eheschließung zu deren einseitigem Genuss gegeben. Dafür war jeweils eine Summe ausgehandelt worden, die den Vätern ausreichte, mit dem Rest der Familie nach Europa zu fliehen. Alisha und Samira dagegen waren von ihren Männern in die Golfstaaten mitgenommen worden. Alisha wurde nach zwei Monaten, Samira nach vier Monaten schwanger. Damit waren sie für ihre Ehemänner nicht mehr so gut zu gebrauchen und wurden uninteressant. Die Männer hatten dann einfach nur – wie im Islam allgemein üblich – drei Mal die Scheidungsformel: »Ich verstoße dich«, zu wiederholen, um geschieden zu sein. Es gab auch keinen Grund mehr, die beiden Frauen in den Golfstaaten zu behalten. Beide wurden so schnell wie möglich, das heißt noch während ihrer Schwangerschaft, von ihren Ex-Ehemännern wieder in den Libanon gebracht. Alisha und Samira sagten dazu: »Wir können noch froh sein, dass sie uns nicht als Haussklavinnen dabehalten haben.« Ihre Familien sind inzwischen längst in Europa, während sie in äußerst prekären Verhältnissen und mehrfach traumatisiert wieder in einem Flüchtlingslager leben müssen. Alisha hat ein kleines Mädchen zur Welt gebracht, Samira war zum Zeitpunkt unserer Begegnung hochschwanger. Beide beklagten sich bitter darüber, als alleinstehende Mütter von ihren Nachbarn geringschätzig behandelt oder von Männern als Freiwild betrachtet zu werden.
Von geschlechtsspezifischer Gewalt sind auch Homo-, Bi-, Trans-, Inter- und Queersexuelle betroffen. Sie müssen wegen ihrer sexuellen Orientierung in vielen afrikanischen, arabischen und asiatischen Ländern mit mehrjährigen
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Fluchtbewegungen und Herkunftsländer
Haftstrafen oder schweren Misshandlungen (wie Stockschlägen) bis hin zur Hinrichtung rechnen. Auch in Teilen Osteuropas und in Russland werden sie verfolgt. Viele sind auch auf der Flucht und im Ankunftsland von Gewalt betroffen oder besonderer Diskriminierung ausgesetzt. Sie werden deshalb auch in den Richtlinien der EU als besonders schutzbedürftig angesehen.
2 Fluchtwege
Welche große Gefahren viele Menschen auf der Suche nach Schutz vor staatlich organisierter Gewalt, Hunger, Verfolgung und Vertreibung auf sich nehmen, gehört zur Geschichte der Menschheit und ist auch in den letzten Jahren wiederholt deutlich geworden. Unter ihnen befinden sich besonders Verletzliche bzw. Gefährdete, wie Kinder und Jugendliche mit und ohne Begleitung, schwangere Frauen, Alte und Kranke oder Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung (siehe das vorherige Kapitel) fliehen mussten. Menschen auf der Flucht nehmen unvorstellbare Strapazen auf sich und durchqueren Staaten, in denen ihnen unter Missachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen keinerlei Rechte eingeräumt werden. Sie ziehen durch lebensfeindliche Wüsten wie die Sahara oder den Sinai. Viele werden Opfer Krimineller, die ihre Situation ausnutzen, sie betrügen und erpressen oder ihren Tod ohne Skrupel in Kauf nehmen. Doch sie lassen sich darauf ein, da es nur für die wenigsten legale Zuwanderungsmöglichkeiten in die Länder ihrer Wahl gibt. Täglich riskieren Tausende von Menschen ihr Leben, um beispielsweise Schutz in Ländern der Europäischen Union zu finden. Dabei sind sie häufig auf teilweise skrupellose Schleuser angewiesen, die sie mitunter in seeuntauglichen oder überladenen Booten transportieren. Die Zahlen der Menschen, die bei der Überfahrt im Mittelmeer den Tod gefunden haben, sind alarmierend. Laut einer Veröffentlichung des Tagesspiegels vom 7. Juni 2016 waren in den 18 Monaten zuvor bereits 10.000 Menschen ertrunken (Haverkamp u. Grabitz, 2016). Die Wochenzeitschrift »Die
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Fluchtwege
Zeit« schrieb am 31. Mai 2016: »Während sich die EU immer schärfer gegen Flüchtlinge abschottet, steigt die Zahl der Ertrunkenen im Mittelmeer so schnell wie noch nie« (Faigle u. Frehse, 2016; siehe auch UNHCR, 2016). Im Wesentlichen gibt es vier Hauptrouten, um Flüchtende über das Wasser nach Europa zu bringen. Die erste Route, die westliche Route übers Mittelmeer, ist die mit der kleinsten Entfernung zum europäischen Festland und wird meist von Menschen aus Algerien, Kamerun oder Mali genommen. Sie führt von Marokko auf das spanische Festland. Der größte Teil flüchtender Menschen nutzt jedoch die zweite Route, den zentralen Weg über das Mittelmeer, der von Libyen oder Tunesien nach Italien führt. Sie stammen aus den Bürgerkriegsländern Syrien, Eritrea oder aus Somalia. Zahlreiche Flüchtlinge stranden zunächst auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, die circa 140 Kilometer von Tunesien entfernt in der Mitte zwischen Tunesien und Sizilien liegt. Doch der Name Lampedusa ist inzwischen eng verbunden mit dem Tod von unzähligen Menschen, die ihr Leben bei der gefährlichen Überfahrt verloren haben, und damit zum Synonym für eine gescheiterte europäische Flüchtlingspolitik geworden. Das veranlasste 2013 Papst Franziskus, nach seinem Amtsantritt als ersten Besuch außerhalb Roms nach Lampedusa zu reisen, mit Flüchtenden zu sprechen, den Unterstützern zu danken, aber auch Gleichgültigkeit am Elend anderer Menschen anzuprangern. Die gefährlichste aller Fluchtrouten über das Meer ist immer noch die dritte, die westafrikanische Route, denn der Atlantik ist unruhiger und damit noch risikoreicher als das Mittelmeer. Viele aus Westafrika Geflüchtete nehmen dennoch diesen Weg, um über die Kanaren das spanische Festland zu erreichen (Planet Wissen, 2016). Im Osten wird noch eine vierte Route über das Mittelmeer – besonders von Menschen aus Afghanistan, Soma-
Fluchtwege43
lia oder auch Syrien – genutzt. Sie führt über die Türkei nach Griechenland. Das folgende Fallbeispiel bezieht sich auf diese vierte Route. Mein Klient Tarik aus Afghanistan, der als sogenannter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling 2014 in Deutschland ankam, beschrieb mir sehr eindrücklich seinen Fluchtweg. Als er elf Jahre alt war, wurde sein Vater von den Taliban ermordet, weil sie ihm unterstellten, mit den amerikanischen Besatzungskräften kollaboriert zu haben. Dies führte zu einem tiefen Einbruch in seinem bisherigen Leben. Kurz danach holte eine Gruppe bewaffneter Taliban ihn und zwei andere Jungen ab und verschleppte sie gegen ihren Willen in eine sogenannte Matressa (ein radikal-islamisch geprägtes und von den Taliban geführtes Internat). Er sollte dort zum Sprengstoffattentäter gegen die Amerikaner ausgebildet werden. So würde er nicht nur Rache ausüben, sondern auch für sein Land sterben und als Märtyrer anerkannt werden. Als er sich weigerte, wurde er brutal misshandelt. Weitere Gewalt, die an ihm verübt wurde, betraf seinen Tabu- und Schambereich. Er beschrieb, wie er sich völlig ohnmächtig, ausgeliefert und wertlos gefühlt und sehr unter Schmerzen gelitten habe, aber viel gravierender sei, dass ihm seine »Würde für immer geraubt worden« sei. Nach neun Tagen gelang es ihm mit Unterstützung eines älteren Jungen, in der Nacht zu fliehen. Seine Mutter versteckte ihn sofort bei Nachbarn und organisierte die weitere Flucht. Da alles sehr schnell gehen musste, verlangten die Fluchthelfer von ihr, ihnen den gesamten Landbesitz zu überschreiben. Sie, zwei Töchter und Tarik legten den Weg von Afghanistan über den Iran bis über die Berge in die Türkei mit anderen Flüchtenden in Begleitung von Schleppern in fünf bis sechs Monaten zurück. Tarik hatte dauernd große Angst, entdeckt und zurück nach Afghanistan geschickt zu werden. Vor
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der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland trennten ihn die Schlepper plötzlich von seiner Mutter und den Schwestern und brachten die Familie in zwei verschiedenen Booten unter. Sein Boot erreichte das Ufer, aber seine Familie kam nie in Griechenland an. Noch lange Zeit wartete er auf sie und wollte nicht glauben, dass sie ertrunken seien. Damals habe er sich »verflucht«, dass er nicht bei ihnen geblieben sei. Griechische Behörden wollten ihn nach Afghanistan zurückschicken, aber er hielt sich noch weitere vier Jahre illegal unter nahezu unerträglichen Bedingungen in Griechenland auf, weil er auf keinen Fall nach Afghanistan zurück wollte. Tarik übernachtete im Freien, wurde mehrfach von der griechischen Polizei verfolgt und litt unter Todesangst. Fast zwei Jahre konnte er mit einer afghanischen Familie in Athen leben, die ihn im Park entdeckt und Mitleid mit ihm gehabt hatte. Die restliche Zeit lebte er auf einer Insel an der Grenze zu Italien mit anderen Flüchtlingen in Zelten. Sie wurden von einer christlichen Einrichtung unterstützt, aber manchmal hatten sie bis zu zwei Tage lang nichts zu essen. Tagsüber sei es sengend heiß und in der Nacht bitter kalt gewesen. Er habe sich dort ein Nierenleiden zugezogen. Zwei Mal sei die Polizei gekommen und habe ihre Zelte zerstört und sie »hart angefasst«. Seine schweren Schlafstörungen, die während seiner Inhaftierung in der Matressa anfingen, hätten sich in Griechenland manifestiert. Er konnte wieder fliehen. Ihm gelang es, nach Deutschland zu gelangen. Er wurde in eine Unterkunft für unbegleitete Minderjährige gebracht und kam nach drei Monaten über die Vermittlung einer Ärztin in meine Praxis. Tarik gab sich die Schuld am Tod der Mutter und der Schwestern wurde von schrecklichen Albträumen und plötzlichen Zuständen von Übererregung gequält. Auch im Winter rannte er nachts manchmal auf die Straße. Er war zudem stark suizidgefährdet, litt unter längeren depressiven Phasen, sodass er auch medikamentös behandelt werden musste. Tarik kam
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nach allem, was ihm widerfahren war, nicht mehr mit seinem Leben zurecht und war nicht in der Lage, sich auch nur für kurze Momente zu entspannen. Nach einem Jahr erfuhr er plötzlich über den Roten Halbmond, dass seine Familie nicht mit dem zweiten Boot untergegangen, sondern am Ufer von der türkischen Polizei aufgegriffen und an die Grenze gebracht worden war. Sie waren in der Zwischenzeit in einem Flüchtlingslager in Pakistan untergekommen. Er konnte mit ihnen telefonieren, war außer sich und wollte sie sofort nach Deutschland holen. Als er erfuhr, wie lange das dauern könnte, machte er sich völlig unvorbereitet auf den Weg zu ihnen. Er lief einfach los und rief noch einmal von unterwegs bei dem Dolmetscher an, über den wir uns verständigt hatten, und ließ mich grüßen.
Tariks Fluchtgeschichte steht beispielhaft für die zahlreicher Jugendlicher, die auf dem Weg Familienmitglieder verlieren und die sich dann allein in mehreren Etappen zurechtfinden müssen. Sie zeigt auch, mit welchem Leid das verbunden ist und wie gravierend die gesundheitlichen Folgen sein können. Bei Weitem nicht alle erhalten Nachricht über den Verbleib ihrer Familie wie Tarik. Es ist auch nicht bekannt, ob er jemals bei seiner Familie in Pakistan angekommen oder ob ihm etwas zugestoßen ist. Ich erzähle jetzt von einem anderen Fluchtverlauf, der ebenfalls exemplarisch ist, sich aber von dem von Tarik unterscheidet. Ben kam als dritter von vier Söhnen in Afghanistan zur Welt. Die Familie sprach Paschtu. Er wurde eingeschult, aber der Unterricht fiel wegen der gefährlichen Lage in der Region oft aus. Sein Vater wurde ermordet, und die Mutter floh mit ihren Söhnen in den Iran. Sie war oft verzweifelt und sorgte sich, wie sie sich und ihre Söhne versorgen sollte. Im Iran wurden
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sie als afghanische Flüchtlinge diskriminiert. Ben wollte nicht mehr zur Schule gehen, sondern stattdessen seiner Mutter helfen, die für geringen Lohn in einer Wäscherei schuftete. Über Gelegenheitsarbeiten versuchte er, ein wenig Geld zu verdienen. Die Mutter litt unter der Situation, weil es ihr ein großes Anliegen war, ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Immer wenn sie Zeit hatte, brachte sie Ben und seinem kleinen Bruder Farsi bei, und zwar sowohl das Sprechen als auch das Schreiben dieser Sprache. Nach einem Jahr wurde Bens Mutter an einem Abend beim Überqueren der Straße von einem rasenden Motorradfahrer erfasst und dabei schwer verletzt. Die Söhne suchten erfolglos nach ihr im Krankenhaus. Erst auf mehrfaches Nachfragen erfuhren sie, dass die Mutter ihren Verletzungen erlegen und bereits beerdigt worden sei. Sie konnten sie nicht mehr sehen und sich nicht von ihr verabschieden. Der plötzliche Tod der Mutter schockierte Ben schwer. Seitdem stellte er sich immer wieder die Frage nach dem Sinn seines Lebens. Die vier Brüder blieben zunächst weiterhin im Iran zusammen und wurden manchmal von anderen afghanischen Geflüchteten unterstützt. Ben nahm auch weiter jede Gelegenheit wahr, Geld zu verdienen. Die zwei ältesten Brüder machten sich auf den Weg nach Deutschland und versprachen, die beiden jüngeren nachzuholen. Der zehnjährige Ben und sein vier Jahre jüngerer Bruder lebten noch einige Zeit im Iran »mal hier und mal da.« Die großen Brüder schickten Geld und organisierten ihre Flucht von Deutschland aus. Fluchthelfer führten die beiden Kinder mit einer Gruppe flüchtender Erwachsener über die Berge in der Türkei, um von dort nach Griechenland zu kommen. Sein Bruder war der Jüngste in der Gruppe und musste während langer Fußmärsche viel von Ben getragen werden. Einmal verlor er ihn im Dunkeln und musste allein zurücklaufen, um ihn wiederzufinden. Während der Überfahrt mit dem Schlauchboot sahen sie viele Menschen ertrinken und hatten
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Todesangst, aber sie erreichten Griechenland einigermaßen wohlbehalten. Die Fluchthelfer warnten sie davor, sich registrieren zu lassen, weil sie dann getrennt und zurückgeschickt würden. Sie befolgten den Rat, und niemand kümmerte sich um sie. Sie schliefen auf Parkbänken, Ben fühlte sich einsam und mit der Verantwortung für den jüngeren Bruder, der viel weinte und Hunger hatte, überfordert. Manchmal gaben ihnen Fremde etwas zu essen, andere warfen Steine nach ihnen. Sie konnten sich mit niemandem sprachlich verständigen und hatten große Angst vor der griechischen Polizei. Ein Zivilpolizist griff sie nach drei Monaten von der Straße auf und brachte sie zunächst in ein Krankenhaus. Ben wurde von seinem Bruder getrennt und fünf Monate lang »in eine Haftanstalt gesteckt«. Sein Bruder wurde vorübergehend bei einer afghanischen Familie untergebracht. Beide betonten immer wieder, dass sie nach Deutschland zu ihren großen Brüdern wollten. Nachdem Ben aus der Haft entlassen worden war, kamen die Brüder in verschiedene Heime und trafen sich nur noch selten. In Griechenland konnten sie zwei Jahre lang zur Schule gehen und Griechisch lernen, aber sie waren sehr unglücklich und wollten zu ihren großen Brüdern nach Deutschland. Ben begann in dieser Zeit, sich selbst zu verletzen, das heißt, er ritzte sich mit einer Rasierklinge. Schließlich erhielten sie durch unermüdliches Engagement einer ehrenamtlich arbeitenden griechischen Psychologin aus humanitären Gründen Visa zur Einreise nach Deutschland. Im Frühling 2013 kamen sie völlig erschöpft in Deutschland an. Sie wurden von der Polizei am Flughafen abgeholt, gut versorgt und zunächst in ein kleineres Wohnheim für unbegleitete Minderjährige gebracht. Die großen Brüder wurden benachrichtigt.
Ich werde den im Fallbeispiel begonnenen Werdegang von Ben an anderer Stelle wieder aufgreifen.
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In diesem Kapitel wird die Situation in Europa und insbesondere die in Deutschland in Hinblick auf die Ankunft und die Aufnahme von Geflüchteten näher beleuchtet.
3.1 Die Situation in Europa 3
1995 fielen mit Inkrafttreten des Schengener Abkommens die innereuropäischen Grenzen. Zunächst waren sieben EU-Länder beteiligt, inzwischen sind es sechsundzwanzig. Artikel 13 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« gibt jedem Menschen das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen sowie jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren (Vereinte Nationen, 1948). Im Rahmen des Abkommens wurden die EU-Außengrenzen aufgerüstet und eine restriktive Visumspflicht für Reisende aus den meisten Nicht-EU-Staaten eingeführt. Eine Rolle dabei spielten sicherlich auch die die Welt erschütternden Vorgänge um den 11. September 2001, die offensichtlich den Wunsch auslösten, ganz Europa zu einer Sicherheitszone werden zu lassen. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten schotteten sich mehr und mehr ab, errichteten Zäunen und Grenzanlagen mit elektronischen Überwachungssystemen und rüsteten Flottenverbände aus, um Grenzübertritte zu verhindern (vgl. Abbildung 2). Zur gemeinsamen Kontrolle der EU-Außengrenzen wurde 2004 die Europäische Grenzagentur Frontex gegründet. Frontex-Triton sollte die italienische Operation
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Mare Nostrum ablösen, mit der von Oktober 2013 bis Oktober 2014 rund 150.000 Menschen aus Seenot gerettet worden waren. Mare Nostrum wurde aufgelöst, weil die anderen EU-Staaten sich nicht an den Kosten von circa 110 Millionen Euro im Jahr beteiligen wollten. Im Unterschied zur Rettungsoperation Mare Nostrum ist die Aufgabe von Triton auf Grenzüberwachung beschränkt. Im April 2015 beschloss die Europäische Union zur Bekämpfung des Menschenschmuggels, der Menschenhandelsnetze und der Schleuser die Krisenbewältigungsoperation EUNAVFOR MED. Es handelt sich hierbei um eine multinationale militärische Operation im Mittelmeer, an der sich 22 Nationen der Europäischen Union mit rund 1.800 Soldaten und Zivilpersonal beteiligen, so auch Deutschland, das Schiffe entsendet. Phase 1 der Operation begann Anfang Juli 2015 und bestand in der Aufklärung und Überwachung von Flüchtlingsbooten, einer Datenerfassung und der Seenotrettung. Mit einem UNMandat folgte im Oktober Phase 2a: Sie besteht darin, Flüchtlingsboote in internationalen Gewässern anzuhalten, zu durchsuchen, zu beschlagnahmen oder umzuleiten. In Phase 2b soll der Einsatz der Operation auf libysche Gewässer ausgeweitet werden und in Phase 3 auf fremdem Territorium gegen von Schleppern genutzte Boote und zugehörige Gegenstände vorgegangen werden. Der bereits im November 2013 erschienene Pro-AsylBericht »Pushed Back« (2014) beleuchtete völkerrechtswidrige Zurückweisungen von Flüchtlingen an der türkisch-griechischen Land- und Seegrenze und stellte die Frage nach der Mitverantwortung der Europäischen Union. An ihren Außengrenzen kam es zu gewalttätigen Übergriffen gegen Schutzsuchende und zu ungesetzlichen Zurückweisungen durch Sicherheitskräfte und anonyme Kommandos. Zunächst wurde diese gewalttätige Vorgehensweise vorwiegend im Ägäischen Meer beobachtet.
Die Situation in Europa51
Nach Recherchen von Pro Asyl soll die Festnahme von Flüchtlingen auf See mit vorgehaltener Waffe keine Seltenheit sein. Inzwischen wird Ähnliches verstärkt von der bulgarisch-türkischen Festlandgrenze wie auch vom spanisch-marokkanischen Grenzgebiet berichtet. An der griechisch-türkischen Land- und Seegrenze werden Flüchtlinge systematisch völkerrechtswidrig zurückgewiesen. Die an der EU-Außengrenze errichteten Registrierungszentren haben die Aufgabe, Flüchtlinge zu registrieren und diejenigen, die keinen Schutzanspruch haben, schnell wieder abzuschieben. Zudem soll eine unkontrollierte Weiterreise in andere EU-Länder verhindert werden. Unterstützt werden die sogenannten Hotspots von der EU-Grenzagentur Frontex, dem EU-Unterstützungsbüro für Asylfragen EASO (European Asylum Support Office), der Polizeibehörde Europol und der EU-Agentur für justizielle Zusammenarbeit (Eurojust). Hilfsorganisationen berichten, dass Schutzsuchende in den Einrichtungen nicht ausreichend über ihre Rechte aufgeklärt werden und oft keine Möglichkeit erhalten, Asyl zu beantragen (Europäische Kommission, 2016). Mit dem Ziel, Schutzsuchende von der Weiterreise in die EU abzuhalten, finanziert die EU mit umfangreichen Mitteln Hafteinrichtungen für Flüchtlinge außerhalb ihres eigenen Territoriums, wie beispielsweise in der Ukraine. Die meisten Betroffenen sollen während der Push-Back-Operationen misshandelt worden sein (Pro Asyl, 2014). Ein weiteres Mittel zur Abschreckung ist die Inhaftierung von Flüchtenden, die in vielen Ländern Europas übliche Praxis ist. 2013 verabschiedete das EU-Parlament (Europäische Union, 2013) eine Richtlinie zu ihrer Inhaftierung. Seitdem können sie an der Grenze zur Identitätsfeststellung, zur Beweissicherung oder zur Prüfung des Einreiserechts festgenommen werden. Schutzsuchende, die sich bereits in einem EULand aufhalten, können unter anderem wegen verspäteter
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Asylantragstellung, aus Gründen der nationalen Sicherheit oder wegen der Gefahr des Untertauchens eingesperrt werden. Auch die Inhaftierung von Kindern ist in diesem Zusammenhang (siehe das in Kapitel 2 angeführte Fallbeispiel von Ben) gestattet. Die Initiative »closethecamps. org« dokumentiert mehrere hundert europäische Hafteinrichtungen für Flüchtende. Warum, wie lange und unter welchen Bedingungen Schutzsuchende in Lagern oder Gefängnissen eingesperrt werden, ist völlig unterschiedlich. In manchen Ländern werden geflohene Menschen während ihrer gesetzwidrigen Inhaftierung Opfer von Misshandlung, sexualisierter Gewalt und Demütigung, so unter anderem in Bulgarien. Bulgarien ist zwar seit 2007 in die EU aufgenommen, gilt aber nicht als Schengener Land. Eine meiner Klientinnen durchlebte folgende, mit einer Inhaftierung in Bulgarien verbundene Fluchtgeschichte. Namika berichtete zunächst von mehreren, sie schwer belastenden Ereignissen im Libanon, wo sie mit ihrer Familie in einem Palästinenserlager lebte, in dem sie geboren worden war: vom Tod der damals 14-jährigen Schwester durch einen Bombenangriff im Jahr 1976; von der Ermordung des Vaters während eines Blutbads im Lager 1982; davon, wie ihre Mutter während eines bewaffneten Konflikts im Bürgerkrieg angeschossen wurde, als Namika etwa 16 Jahre alt war. Ihre Geschwister gingen ins Ausland, während sie bis zum Tod der Mutter bei dieser blieb und sie pflegte. Nach dem Tod der Mutter wurde sie als alleinstehende Frau von radikal islamischen Palästinensern kurzzeitig gefangen genommen, sexuell belästigt und bedroht. Danach entschloss sie sich mit Hilfe ihrer Geschwister zur Flucht aus dem Libanon. Auf der Flucht sei sie in Bulgarien von der Polizei aufgegriffen und gemeinsam mit einer anderen Frau für mehrere Tage in ein Gefängnis für Strafgefangene
Die Situation in Europa53
in Abschiebegewahrsam genommen worden. Dort hätten unvorstellbare Zustände geherrscht. Alles sei nicht nur extrem schmutzig gewesen, sie hätten auch fast nichts zu essen bekommen. Am schlimmsten aber sei die Angst vor den männlichen Häftlingen gewesen, die versucht hätten, in ihre Zelle einzudringen. Ihre Geschwister hätten viel bezahlen müssen, um sie dort herauszuholen.
Mitgliedsländer der Europäischen Union nutzen auch den Sonderstatus von Transitzonen, um Asylsuchende festzuhalten und sie einer schnellen Prüfung ihrer Asylberechtigung oder besonderer Schutzbedürftigkeit zu unterziehen. Betroffene können aber auch ohne Verfahren abgeschoben werden. Transitzonen existieren da, wo Reisende landen und Anschlussflüge nehmen müssen, um ihr Ziel zu erreichen, das heißt auf internationalen Flughäfen, beispielsweise auch in Frankfurt am Main. Sie befinden sich vor den Zoll- und Grenzkontrollen. Menschen in einer Transitzone bewegen sich zwar auf dem jeweiligen staatlichen Hoheitsgebiet, gelten aber nicht als eingereist. Auch in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla gibt es Transitzonen, die sich zwischen den mit Stacheldraht umwickelten Zäunen an der Grenze zu Marokko befinden. Wie bereits erwähnt, ist das Recht auf Freizügigkeit ein wesentliches Grundrecht der Europäischen Union und wurde mit dem Wegfall jeglicher Grenzkontrollen 1995 für die Schengen-Staaten umgesetzt. Um dennoch Migration in Länder der EU kontrollieren zu können, soll nach dem sogenannten Dublin-Verfahren jeder Asylantrag nur von dem Land inhaltlich geprüft werden, in das der Asylbewerber nachweislich zuerst eingereist ist. Seit dem 1. Januar 2014 ist die sogenannte Dublin-III-Regelung geltendes Recht. Für den dafür notwendigen Informationsaustausch dient das System EURODA, in dem die
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Fingerabdrücke sämtlicher Asylbewerber gespeichert werden. Wandert ein Asylbewerber dennoch von sich aus in das europäische Land seiner Wahl weiter, muss er innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens (in der Regel sechs Monate) in das für sein Asylverfahren zuständige Land überstellt werden und sich dort mindestens fünf Jahre aufhalten. Erst danach hat er die Möglichkeit, eine langfristige Aufenthaltsberechtigung zu beantragen, um in der gesamten EU das europäische Grundrecht auf Freizügigkeit genießen zu können. Da Flüchtende auf dem Landweg immer zunächst ein anderes EU-Land passieren müssen, ist es ihnen mit dem Dublin-Verfahren so gut wie verwehrt, auf legale Weise in Binnenländer der Europäischen Union zu gelangen, die wie Deutschland über keine EU-Außengrenze verfügen (MacLean, 2015). Es erstaunt also nicht, dass beispielsweise die ärmeren europäischen Mittelmeerstaaten, wie Griechenland, Italien, Malta oder Zypern, mit einer hohen Zahl von Flüchtlingen gänzlich überlastet sind. Zahlreiche meiner Klienten, die es dennoch geschafft haben, den Weg nach Deutschland zu finden, beschreiben, wie sie sich gewehrt hätten, dort registriert zu werden und ihre Fingerabdrücke zu geben, aber häufig mit Gewalt dazu gezwungen worden seien. Sie hätten sich wie Kriminelle gefühlt. Ihre Fluchthelfer hätten ihnen lediglich gesagt, es genüge, das Wort Asyl auszusprechen und das Zielland ihrer Wahl zu nennen, um problemlos dorthin weiterwandern zu können. Im Zusammenhang mit dem Dublin-Verfahren und der auf dieses zurückzuführenden Zuständigkeit des jeweils ersten Einreiselandes setze ich die Betrachtung der Fluchtgeschichte von Khaled (siehe Kapitel 1.3.1) aus dem Tschad fort.
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Im April 2011 erreichten er und andere Afrikaner Lampedusa. Sie wurden zuerst in ein Flüchtlingslager, von dort dann später mit einem großen Schiff aufs italienische Festland gebracht und nach einer Woche in verschiedene Regionen verteilt. Nach sechs Monaten, in denen er in einer Pension untergebracht gewesen war, drückte ihm der Mitarbeiter einer italienischen Ausländerbehörde Papiere und eine Arbeitserlaubnis in die Hand und forderte ihn auf, besser in einem anderen Land in Europa nach Familienangehörigen zu suchen und mit ihnen zu leben, weil schon genug Italiener arbeitslos seien. Da er aber kein Geld hatte und niemanden kannte, zu dem er hätte gehen können, war er obdachlos und gezwungen, auf der Straße zu leben. Er hungerte und versuchte meist erfolglos irgendeine Arbeit zu finden, war dabei erneut rassistischen Angriffen und Diskriminierungen ausgesetzt, lebte in ständiger Angst und suchte nach Orangenhainen, um dort Gelegenheitsarbeiten zu verrichten oder wenigstens Früchte essen zu können. Er berichtet, dass er vor Hunger krank geworden sei und unter heftigen Kopfschmerzen gelitten habe, aber medizinisch nicht versorgt worden sei. Manchmal sei bei einer Kirche von der Caritas Essen verteilt worden. Eine Unterkunft habe er von den italienischen Behörden trotz mehrerer Vorsprachen nicht bekommen. Deswegen habe er sich nach Dänemark durchgeschlagen und dort um Asyl gebeten, sei aber nach sieben Monaten zurück nach Italien geschickt worden und habe dort mit eigenen Worten »das gleiche Elend wie zuvor« erlebt. Er unternahm dann in Begleitung von zwei Kameraden einen neuen Versuch, sich wieder nach Dänemark durchzuschlagen, wurde erneut abgewiesen und zurück nach Italien geschickt. Später reiste er von dort erst nach Island und weiter nach Grönland, wurde dort drei Tage von der Polizei festgehalten und wieder nach Italien beordert, wo er einen
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Monat lang inhaftiert wurde. Von jedem Ort aus wurde er immer wieder nach Italien deportiert und sagt dazu: »Niemand wollte uns haben!« Er machte sich dann von Italien aus wieder auf den Weg und kam 2015 in Deutschland an.
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Der fragmentarische Verlauf der Flucht von Khaled in mehreren Sequenzen zeigt die Veränderung von Migrationsprozessen, die ich im ersten Kapitel angesprochen habe. Diese Veränderung hängt zum einen mit der beschriebenen krisenhaften Situation in Afrika zusammen und zum anderen mit dem sogenannten Dublin-Verfahren. Khaled versuchte alles, um in Italien überleben zu können, obwohl er mehr oder weniger zufällig in diese Richtung das Mittelmeer überquert hatte. Er bemühte sich dann darum, für sich in Dänemark eine Perspektive zu finden, und probierte das im Anschluss auch in anderen nördlich gelegenen Ländern Europas aus, scheiterte aber überall und musste im Kontext des Dublin-Verfahrens jedes Mal zurück nach Italien, wo er aber immer wieder die Erfahrung machte, dass ihn dort auch niemand haben wollte. Schließlich gelang ihm die Weiterreise nach Deutschland. Ich werde die Beschreibung des Verlaufs seiner Fluchtgeschichte fortsetzen, wenn es um die Phase nach der Ankunft Geflüchteter in Deutschland gehen wird. Wie überlastet die Staaten an den europäischen Außengrenzen mit Schutzsuchenden waren, musste spätestens im Jahr 2015 jedem klar werden. Im Januar sah sich das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gezwungen, für 1,5 Millionen Flüchtlinge in Jordanien, dem Libanon, der Türkei, dem Irak und Ägypten die Hilfe um bis zu 50 % zu kürzen, da die eigentlich notwendigen finanziellen Ressourcen nicht vorhanden waren (World Food Programme, 2015). Die Versorgungslage und die hygienischen Zustände in den überfüllten Flüchtlingslagern rund
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um die Kriegs- und Krisengebiete im Nahen Osten und der Türkei wurden immer dramatischer. Dadurch wurde eine Flüchtlingswelle ausgelöst, die manche als Völkerwanderung bezeichneten. Rufe nach mehr Abschottung wurden laut, andere EU-Länder verweigerten die Unterstützung, die Bundeskanzlerin besann sich auf das Grundgesetz und nahm die Notleidenden auf. Während sie dafür von Politikern aus den eigenen Reihen und von Parteien am rechten Rand angegriffen wurde, reagierten große Teile der deutschen Bevölkerung dagegen geradezu euphorisch mit spontaner Hilfsbereitschaft, als die ersten Züge mit Geflüchteten in Deutschland eintrafen. Während Teile der Bevölkerung im professionellen oder ehrenamtlichen Rahmen bis zur Erschöpfung alles taten, um den Satz der Bundeskanzlerin: »Wir schaffen das«, in die Tat umzusetzen, ohne auf staatliche Unterstützung setzen zu können, wurde im Eilverfahren das im Grundgesetz verankerte Asylgesetz verschärft, um einfacher und damit schnelle Abschiebungen zu ermöglichen. Beispielsweise wurden Länder, die vorher als nicht sichere Herkunftsländer galten, sodass Geflüchtete nicht dorthin zurückgeschickt werden durften, ohne wirklich überzeugende Begründung als sicher deklariert. Verstärkt wurde danach gerufen, bereits in Transitzonen an den Grenzen über Asylgesuche zu entscheiden oder etwaige besondere Schutzbedürftigkeit festzustellen. Die Europäische Union traf am 18. März 2016 eine Vereinbarung mit der Türkei, die dazu führen sollte, dass weniger Menschen Europa erreichen, um hier Asyl beantragen zu können. Die Vereinbarung sieht insbesondere vor, dass Asylsuchende, die die Türkei als Transitland genutzt haben und auf den griechischen Inseln erstmals das Territorium der EU betreten, wieder in die Türkei abgeschoben werden sollen. Für jede von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschobene Person aus Syrien soll eine an-
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dere syrische Person aus der Türkei in der EU neu angesiedelt werden. Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten der EU zugesichert, dass sie schutzbedürftige Menschen, die als Geflüchtete in der Türkei leben, aufnehmen werden, wenn die Zahl der illegalen Grenzüberschreitungen aus der Türkei in die EU erheblich und nachhaltig zurückgingen. Zudem hat die EU eine schnelle Auszahlung von drei Milliarden Euro und bis Ende 2018 weitere drei Milliarden Euro für konkrete Projekte in den Bereichen der Grundversorgung, Gesundheit und Bildung für die Menschen zugesagt, die in der Türkei vorübergehenden Schutz genießen. Das Ziel dieses Abkommens, Schutzsuchende ohne Prüfung ihrer Asylgründe abzuschieben, stellt eine offensichtliche Verletzung der Menschenrechte dar.
3.2 Ankunftsland Deutschland In der Ankunftszeit der Geflüchteten stehen Themen wie Unterkunft, rechtliche Situation, Gesundheitsversorgung, Stabilisierung durch Existenzsicherheit, gegebenenfalls Familienzusammenführung und Integration im Vordergrund. Alle Interventionen in diese Richtung betreffen nicht nur die Geflüchteten, sondern sind Aufgabe der Gesamtbevölkerung. Zentral geht es dabei um die Unantastbarkeit der Menschenwürde und um Partizipation an sozialen Prozessen. Es stellt sich hierbei somit die Frage nach dem Umgang mit den Menschenrechten im Hinblick auf die Geflüchteten. 3.2.1 M enschenrechte für Geflüchtete in Deutschland
Den Müttern und Vätern des deutschen Grundgesetzes war es wichtig, mit dem Artikel 1 nur drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Unantastbarkeit
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der Menschenwürde zu garantieren. Bei allen Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Würde geht es immer auch um die Gegenseite, nämlich die der Entwürdigung, Demütigung und Beschämung. Das Ideal der Menschlichkeit gründet sich auf den Verbrechen der Nazidiktatur und den von ihr verursachten unermesslichen Leiden so vieler Menschen, das heißt also auf den Erfahrungen der Unmenschlichkeit. Ich habe in den vorherigen Kapiteln anhand von beispielhaften Fluchtgeschichten dargestellt, wie kumulative Verletzungen und die völlige Missachtung ihrer Würde die Lebenswirklichkeit von Menschen auf ihren Fluchtwegen durchziehen. Was aber erleben diese Menschen in der Phase nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland? Zur Veranschaulichung der Beantwortung dieser Frage setze ich die Geschichte von Khaled fort. Nach seiner Odyssee (zunächst Flüchtender im eigenen Land, dann der Weg vom Sudan nach Libyen, von dort nach Italien, dann in verschiedene nordeuropäische Länder und immer wieder zurück nach Italien) kam Khaled in Deutschland an und beantragte Asyl. Während seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war er sehr aufgeregt und konnte sich nicht konzentrieren, bemühte sich aber sehr, wahrheitsgemäß zu antworten. Es ging schnell vorbei: Sein Anhörer wollte seine Lebensgeschichte und die Gründe für seine Flucht nicht anhören und gab ihm gleich zu verstehen, dass er in Deutschland kein Recht auf Asyl habe, sondern Italien für ihn zuständig sei, alles andere sei »hier nicht mehr von Belang«. Er wurde dann vom Erstaufnahmelager in ein großes Heim für Flüchtlinge in Brandenburg »umverteilt«, wo er bis heute lebt. Dort muss er sich mit drei Männern verschiedener Nationalitäten ein kleines Zimmer teilen. Nachts ist es sehr laut, seine Zimmernach-
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barn können – wie er – nicht schlafen, rauchen im Bett und hören Musik. Er kann keine Ruhe finden. Die offizielle schriftliche Ablehnung seines Asylbegehrens kam bald. Er suchte eine Beratungsstelle auf und reichte über einen Rechtsanwalt Klage gegen den Bescheid des BAMF ein. Seine Beraterin wurde hellhörig, als er von seinen Beschwerden berichtete, und bat mich dringend, ihn zur Therapie anzunehmen. Im ersten Kontakt wirkte er freundlich, höflich, intelligent und reflektiert, dabei aber auch angespannt sowie unterschwellig nervös und in trauriger Grundstimmung. Er drückte sich sehr differenziert aus, sprach Arabisch und Französisch, sodass die therapeutischen Gespräche ohne Dolmetscher stattfinden konnten. Seine Stimmungslage wirkte zunehmend depressiv mit starken Stimmungsschwankungen. Hoher Leidensdruck, Erschütterung, Traurigkeit und Verzweiflung waren deutlich zu spüren. Manchmal trat er bei der Annäherung an belastende Inhalte plötzlich aus dem Kontakt und wirkte dann völlig abwesend. In der dritten Sitzung äußerte Khaled erstmalig Todessehnsüchte. Bei näherem Nachfragen gab er schließlich an, im Fall einer Abschiebung nach Italien oder in den Tschad konkret geplant zu haben, sich das Leben zu nehmen: »vielleicht auch vorher, wenn ich alles nicht mehr aushalten kann«. Er wirkte dabei verzweifelt und überzeugend. Er lebe in großer Angst vor einer möglichen Abschiebung nach Italien, weil er nicht mehr die Kraft aufbringen könne, dort zu leben. In den Tschad könne er keinesfalls zurück, da er von der Regierung, die immer noch an der Macht sei, verfolgt würde und um sein Leben fürchten müsse. Zu seiner Familie habe er keinen direkten Kontakt, nur über einen Landsmann habe er Nachricht von ihnen erhalten. Er mache sich viele Sorgen, dass ihnen etwas zustoßen könne, und fühle sich schuldig und wertlos, weil er nicht in der Lage sei, Mutter und Kinder zu beschützen.
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Was seine aktuellen Beschwerden betrifft, äußerte sich Khaled folgendermaßen: Er traue sich nichts mehr zu und fühle sich kraft- und energielos. Er sei müde, könne sich nicht konzentrieren, habe Gedächtnisstörungen und »quälende Gedanken, die sich im Kreis drehen«. Er grüble viel. Sein Leben sei seit langem von großer Unsicherheit und Angst geprägt; er sei daher immer angespannt. Er leide an wiederkehrenden depressiven Phasen und habe die Freude am Leben verloren. Es gelänge ihm nicht mehr, eine positive Zukunftsperspektive zu entwickeln; er fühle sich wertlos und sei »sehr verzweifelt«. Manchmal sehne er sich danach, »einfach einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen«. Er bekomme außerdem nach lauten Geräuschen, zum Beispiel wenn ein Telefon klingle oder jemand eine Tür laut zuschlage, plötzlich Angst- und Panikattacken und könne sich dann nur schwer beruhigen. Er schlafe sehr schlecht ein, schrecke nachts häufig hoch und habe »furchtbare Träume«, in denen er erlittene Gewalt, Bedrohung, Todesangst »und immer wieder Flucht durchlebe«. Er bekomme dann Schweißausbrüche und zittere am ganzen Körper. Wenn er erwache, brauche er lange Zeit, um sich zu orientieren und herauszufinden, »wo und wie ich mich befinde, ob ich überhaupt noch am Leben bin«. Dass er noch lebe, spüre er am starken Druck auf seiner Brust. Er fühle sich am Morgen »wie zugeschnürt«. Manchmal überfalle ihn die Erinnerung an alle schrecklichen Dinge, die er erlebt habe, auch plötzlich am Tag. Er sehe dann »die erlittene Gewalt im Tschad und in Libyen in deutlichen Bildern« und habe Mühe, sich in die Realität zurückzuholen. Er habe keinen Appetit und leide häufig unter Übelkeit und Magenschmerzen. Außerdem leide er unter starken Schmerzen im Kopf- und Kieferbereich sowie am Rücken. Immer häufiger gerate er in Zustände von Verzweiflung und denke an den Tod. In der Therapie mit Khaled ging es zunächst im Wesentlichen um Stabilisierung. Er schaffte es, eine Schule in Ber-
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lin zu besuchen, wo er Deutsch lernen konnte, freute sich darüber und gab sich dort große Mühe, klagte aber über Konzentrationsstörungen. Im Heim könne er nicht lernen, weil es dort keinen ruhigen Ort gebe. Khaled erzählte eines Tages, dass er bei einem Landsmann zum Essen eingeladen gewesen sei. Youssef sei auch von Libyen über das Mittelmeer gekommen. Sein Boot sei vor der Küste Italiens untergegangen und Youssef sei einer der wenigen Überlebenden gewesen. Die vielen anderen seien vor seinen Augen ertrunken, er habe niemandem helfen können, weil er selbst zu schwach gewesen sei. Bei ihrem gemeinsamen Essen sei Youssef ganz normal gewesen: »so wie immer«. Am nächsten Tag habe er sich jedoch das Leben genommen. Khaled war darüber zutiefst erschüttert und vermied es seither, Landsleute zu treffen, um – wie er sagt – nicht an die schrecklichen Widerfahrnisse im Tschad oder in Libyen denken zu müssen. Denn die würden viele seiner Landsleute mit ihm teilen. Immer wieder berichtete Khaled mir in den Sitzungen, dass um drei Uhr morgens Polizei in das Wohnheim gekommen sei, um Flüchtlinge zur Abschiebung abzuholen. Er bekam dann immer Panikattacken und war schwer zu beruhigen. Eines Nachts wurde auch er abgeholt und in Abschiebegewahrsam genommen. Er erlitt einen schweren psychischen Zusammenbruch, sodass ein Arzt gerufen werden musste. Khaled schaffte es, ihm zu erzählen, dass er bei mir in Behandlung sei. Er zeigte ihm meine gutachterliche psychologische Stellungnahme (er hatte sie in seiner Angst immer bei sich getragen), die sein Rechtsanwalt von mir für das Asylverfahren beim Verwaltungsgericht erbeten hatte. Der Arzt erklärte ihn für reiseunfähig und veranlasste, dass er im Krankenhaus stationär aufgenommen wurde. Khaled wurde dort vier Wochen lang behandelt und kam danach zurück in sein Heim. Das Verwaltungsgericht wies seine Klage ab und erteilte ihm unter Berufung auf Dublin III lediglich eine Duldung. Von
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Zeit zu Zeit muss er seitdem bis heute zur amtsärztlichen Untersuchung, um dort seine Reiseunfähigkeit überprüfen zu lassen. Er darf zwar wegen drohender politischer Verfolgung nicht in sein eigentliches Herkunftsland Tschad ausgeliefert werden, aber das Damoklesschwert einer drohenden Rückführung nach Italien schwebt weiter über ihm. Khaled spricht inzwischen gut Deutsch. Er kann nur noch einmal im Monat zur Therapie kommen, die aber fast nur noch dazu dient, eine drohende Selbsttötung zu verhindern. Heilungsprozesse können unter seinen Rahmenbedingungen nicht in Gang gesetzt werden. Da Khaled sich gern »endlich wieder wie ein Mensch fühlen will«, und das heißt für ihn, unabhängig von staatlicher Unterstützung zu sein, hat er sich Arbeit in einer Bäckerei gesucht. Er erhält dort einen Hungerlohn und wird schamlos ausgebeutet. Er ist trotz seiner beschriebenen Beschwerden ein Mensch, der immer wieder in sehr schweren und lebensgefährlichen Situationen unglaubliche Überlebensstrategien entwickelt und über starke Ressourcen verfügt. Er lässt sich nicht mehr nach Italien schicken, weil er weiß, was ihn dort erwartet und dass man ihn dort nicht will. Seinem Rechtsanspruch auf Würde wird mit Entwürdigung, Demütigung und Beschämung begegnet. Er will nicht wie ein Objekt behandelt werden, sondern sich als Subjekt erleben, und kämpft um seine Würde, indem er trotz seiner schwierigen Rahmenbedingungen versucht, sich durch Spracherwerb und Arbeit in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Zurzeit prüft ein Rechtsanwalt, ob in diesem Fall wirklich alle Handlungsspielräume eines rechtlichen Verfahrens ausgeschöpft sind.
Asyl genießen nach Artikel 16a des Grundgesetzes politisch Verfolgte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erklärt: »Das Asylrecht wird in Deutschland nicht nur – wie in vielen anderen Staaten – auf Grund der völ-
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kerrechtlichen Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt, sondern hat als Grundrecht Verfassungsrang« (BAMF, 2016a, S. 17). Politisch sei eine Verfolgung dann, »wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Menschenrechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen« (BAMF, o. J.). »Berücksichtigt wird grundsätzlich nur staatliche Verfolgung, also Verfolgung, die vom Staat ausgeht« (BAMF, 2016b). Ausnahmen gelten laut BAMF, wenn die nichtstaatliche Verfolgung dem Staat zuzurechnen oder der nichtstaatliche Verfolger selbst an die Stelle des Staates getreten ist. Notsituationen wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit sind damit als Gründe für eine Asylgewährung ausgeschlossen. Wer weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch Asyl erhält, muss Deutschland wieder verlassen. Eine Ausreise oder Abschiebung ist jedoch nicht immer möglich, weil der Betroffene reiseunfähig ist – wie Khaled – oder keinen Pass hat. So lange diese Menschen nicht abgeschoben werden, sind sie geduldet. Mit Genehmigung der Arbeitsagentur dürfen sie nach drei Monaten Wartezeit arbeiten. Bislang dürfen Asylbewerber und Geduldete eine Arbeitsstelle nur besetzen, wenn Einheimische oder andere Europäer keinen Vorrang haben. Dieses Gesetz verleitet aber erfahrungsgemäß manche Arbeitgeber dazu, besonders schlechte Löhne zu zahlen, für die Einheimische oder andere Europäer nicht arbeiten würden, wohl aber Geflüchtete (siehe das Beispiel von Khaled). Im Zusammenhang mit dem geplanten Integrationsgesetz soll diese Vorrangprüfung für drei Jahre abgeschafft werden.
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3.2.2 Individuelle Prüfung der Schutzbedürftigkeit: Gibt es sichere Herkunftsländer?
Als sicheren Herkunftsstaat definiert das Gesetz Länder, von denen sich aufgrund des demokratischen Systems und der allgemeinen politischen Lage nachweisen lässt, dass dort generell keine staatliche Verfolgung zu befürchten ist und dass der jeweilige Staat grundsätzlich vor nichtstaatlicher Verfolgung schützen kann. Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung bedeutet zum Beispiel, dass Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Schutz der Bevölkerung existieren und diese auch zugänglich gemacht und angewendet werden. Es gilt dann die sogenannte Regelvermutung, dass keine Verfolgungsgefahr vorliege (BAMF, 2016a). Besonders schlechte Aussichten auf Schutz in Deutschland haben Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, deren Anträge besonders zügig bearbeitet werden. Unter den zehn häufigsten Herkunftsländern sind fünf, welche die Bundesregierung als »sicher« einstuft: Afghanistan, Albanien, Kosovo, Mazedonien und Serbien. Dazu hat das Deutsche Institut für Menschenrechte am 17. Februar 2015 erklärt: »Ausgehend vom menschen- und flüchtlingsrechtlichen Anspruch auf Zugang jedes Menschen zu einem Verfahren, in dem die Schutzbedürftigkeit individuell geprüft wird, ist das Konzept sicherer Herkunftsstaaten schon in sich rechtsstaatlich problematisch. Zweifelsfreie Garantien über die Sicherheit von Staaten kann es nicht geben. Gerade Gefährdungssituationen für eine Minderheit können sich nicht nur für die Weltöffentlichkeit sichtbar, sondern auch versteckt und schleichend entwickeln. Nun in Reaktion auf hohe Antragszahlen immer weitere Staaten zu ›sicheren Herkunftsstaaten‹ zu erklären, führt zu einer Beschneidung des Menschenrechts auf Zugang zum Recht. Auch jenseits dieser prinzipiellen Überlegungen bestehen erhebliche menschenrechtliche Bedenken, ins-
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besondere wegen der problematischen Menschenrechtssituation für Roma und weitere Minderheiten in den Ländern des Westbalkans. Vor diesem Hintergrund können sich für einzelne Personen existenzielle Bedrohungssituationen ergeben, die den Schweregrad der flüchtlingsrechtlichen Verfolgung erreichen. In der Entscheidungspraxis in Deutschland wird hingegen die sog. ›kumulative Verfolgung‹ nur wenig berücksichtigt. Dieses flüchtlings- und europarechtlich vorgegebene Verständnis nimmt Verfolgung auch dann an, wenn eine Vielzahl von Verletzungshandlungen zusammenkommen, die sich insgesamt für die Betroffenen ebenso gravierend auswirken wie eine schwerwiegende Verletzung fundamentaler Menschenrechte durch eine einzelne Handlung« (zit. nach MacLean, 2015, S. 18). Ein Beispiel aus meiner gutachterlichen Praxis soll die hier zitierte Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte bestätigen. Danitza und Julio wuchsen als Angehörige der ethnischen Minderheit der Roma in Nachbardörfern der Vojvodina in Serbien auf. Danitza lebte bei ihren Großeltern. 1992, als sie vier Jahre alt war, wurden ihre Eltern von Angehörigen der serbischen paramilitärischen Einheit »Weißer Adler« ermordet. Die näheren Umstände wollten ihre Großeltern ihr nicht berichten. Sie sprachen aber beide sehr viel darüber, was ihren eigenen Eltern von 1941 bis 1942 durch die deutsche Wehrmacht widerfahren war. In diesem Jahr waren alle Juden und Roma in der Gegend ermordet worden, denen es nicht gelungen war, sich »irgendwo gut zu verstecken«. Von frühester Kindheit an ist Danitza gewarnt worden, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Die Erzählungen, Warnungen und schon früh erlebten Diskriminierungen jagten ihr viel Angst ein. Mit der Zeit versuchte sie einfach nur, sich »dagegen abzuschotten«. Die Großeltern waren bet-
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telarm. Danitza konnte nicht zur Schule gehen und keine Ausbildung machen. Nach ihrer Eheschließung mit Julio zog sie zu ihm und brachte von 2004 bis 2007 drei Kinder zur Welt. Ihr Mann Julio arbeitete tageweise in der Landwirtschaft, sammelte und verkaufte Schrott und versuchte so, die Familie zu ernähren. Die Familie wohnte zur Miete in einem kleinen, alten Haus ohne Strom und führte ein sehr bescheidenes Leben. Ihr serbischer Nachbar terrorisierte sie mindestens drei Mal in der Woche in betrunkenem Zustand, hämmerte dann auch nachts an ihre Haustür, beschimpfte sie als »Zigeuner« und bedrohte sie mit dem Tode, wenn sie nicht »endlich abhauen«. Die Kinder zitterten vor Angst. Einmal riefen die Eltern in ihrer Panik die Polizei, die aber nicht sie unterstützte, sondern offen Sympathien für den Nachbarn zeigte. Als die beiden Töchter in die Schule kamen, wurden sie als »Zigeuner« beschimpft und auf dem Schulhof mit Steinen, Schulbroten und Getränken beworfen, bespuckt und geschlagen. Die Eltern gingen zum Direktor, beschwerten sich und baten auch die Lehrerin, ihre Kinder zu beschützen. Doch die wiesen sie ab und stachelten sogar die anderen Kinder weiter auf. Zunehmend wirkten die beiden Mädchen verstört und weigerten sich schließlich, in die Schule zu gehen. Gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder verließen sie das Haus nur noch sehr selten. Von da an gelang es ihrer Mutter nicht mehr, sich innerlich abzuschotten. Die Situation der Familie spitzte sich weiter zu, als Danitza mehrfach in aller Öffentlichkeit sexualisierter Gewalt ausgesetzt war, ohne dass andere Dorfbewohner zu Hilfe kamen. Danitza und Julio ertrugen diese Lebensbedingungen nicht mehr; sie flohen zusammen mit ihren Kindern nach Deutschland, um hier Asyl zu finden. Ihre jeweils einzelne Anhörung fand beim Bundesamt in Eisenhüttenstadt statt. Beide waren psychisch nicht in der Lage, alles zu berichten, was ihnen widerfahren war. Danitza berichtete beispielsweise nicht von
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der erlittenen sexualisierten Gewalt, weil sie sich schämte. Zwei Monate später erhielten sie die Ablehnung ihres Asylgesuchs. Einer Abschiebung entzogen sie sich, indem sie in Schweden um Aufenthaltserlaubnis baten. Dort wurden sie zunächst so freundlich behandelt »wie nie zuvor« in ihrem Leben, aber schon nach kurzer Zeit wurden sie als DublinFälle zurück in das Aufnahmelager nach Eisenhüttenstadt gebracht mit der Absicht, sie von dort aus zwangsweise nach Serbien »zurückzuführen«. Täglich kam es zu aggressiven Auseinandersetzungen zwischen anderen Heimbewohnern, und es war immer sehr laut, nirgendwo fanden sie Ruhe. Manchmal brachten sie nicht die Kraft auf, ihren Raum zu verlassen. Die drei Kinder waren sehr verängstigt und wagten es nicht, mit den anderen Kindern zu spielen. Schulunterricht gab es für sie nicht. Gegen ihre drohende Abschiebung nach Serbien versuchten sie erneut erfolglos, Rechtsmittel einzulegen. Da sie sich nicht vorstellen konnten, wieder in Serbien zu leben, flohen sie aus dem Lager nach Berlin und wurden dort von einer Hilfsorganisation vorübergehend privat untergebracht und durch Spenden unterstützt. Sie verließen die Wohnung nur, wenn es unbedingt nötig war, und lebten in ständiger Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Danitza war inzwischen stark suizidgefährdet. Der Rechtsanwalt von Danitza und Julio brauchte ein fachliches Gutachten, um humanitäre Gründe für einen Aufenthaltsstatus geltend machen zu können. Deshalb kam Danitza mit ihrer Familie zu mir. Während meiner vorsichtigen Befragung brach sie zusammen, sodass eine Krisenintervention notwendig wurde. Sie wurde im weiteren Verlauf von einer Kollegin psychotherapeutisch behandelt und ärztlich versorgt. Auch die Kinder wurden wegen ihrer krankheitswertigen Symptome von einem Kinderpsychiater betreut, doch die drohende Abschiebung schwebte auch hier wie ein Damoklesschwert über der Familie.
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Ihr Rechtsanwalt unternahm alles, um die Familie aus ihrem Dasein im Verborgenen zu holen. Zunächst mussten sie trotz starker innerlicher Abwehr wieder für zwei Monate zurück nach Eisenhüttenstadt. Danach wurden sie in einem kleinen Ort in Brandenburg an der Grenze zu Polen untergebracht. Dort setzten sich viele Menschen für sie ein, wie zum Beispiel ein katholischer Kirchenkreis. Die Kinder gingen zur Schule, auch die Eltern taten alles, um sich in die Dorfgemeinschaft zu integrieren. Die Härtefallkommission Brandenburgs setzte sich für ein Bleiberecht der Familie ein. Dennoch wurde sie nach Serbien mit dem Hinweis abgeschoben, Serbien gelte als sicheres Herkunftsland, obwohl es das für diese Familie nie gewesen war. Auch wenn dort sicherlich Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Schutz der Bevölkerung existieren, so waren sie bei der Familie von Danitza offensichtlich nicht angewendet worden.
Das in der deutschen Verfassung verbriefte Grundrecht auf Asyl schreibt die Prüfung eines jeden Einzelfalls vor. Dazu gehört auch die Anerkennung der traumatischen Sequenz, in denen deutsche Nationalsozialisten Roma und Sinti schweres Leid zugefügt haben. Denn diese Traumata können an die folgenden Generationen weitergegeben werden, wie das bei der Familie von Danitza der Fall war. In der Lebensgeschichte der Familie setzten sich, wie das Fallbeispiel zeigt, die traumatischen Erfahrungen in einem andauernden Prozess fort. Auch durch die staatlichen Behörden in der jetzigen Bundesrepublik Deutschland sind diese Traumata jedoch nicht anerkannt worden. Die Entwicklung der drei Kinder wurde dabei völlig ausgeblendet. Die erzwungene Rückkehr der Familie in ihr Herkunftsland kann so nur zur nächsten traumatischen Sequenz werden.
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4 Sequentielle Traumatisierung
Trauma lässt sich im Kontext von »man-made disasters« auch als Erfahrung absoluter Ohnmacht beschreiben. Vor allem für die, die das Trauma im politischen Kontext betrachten, steht in seinem Zentrum die Erfahrung des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht. Die Gewaltausübung, die Traumatisierung verursacht, ist eine Machtausübung (Hamber, 1998). Viele der einem Trauma folgenden Symptome können als durch den teilweisen Verlust der Macht über sich selbst bzw. des Kontrollverlustes angesehen werden. »Wie bei der Angst sehe ich auch bei der Scham traumatisch bedingte Anteile. Traumatische Scham entwickelt sich aufgrund von massiver mit Ohnmacht verbundener Erfahrungen der Demütigung, Beschämung und Entwürdigung. Traumatische Scham zu vermeiden, weil die Würde eines Menschen respektiert wird, erscheint mir ein erstrebenswertes Ziel, auch wenn es sich dabei um ein Ideal handelt« (Reddemann, 2007). Zur Veranschaulichung der traumatischen Zusammenhänge möchte ich noch einmal auf Ben aus Afghanistan zurückkommen und mit seiner Geschichte fortfahren. Im Frühling 2013 war Ben mit seinem jüngeren Bruder in Deutschland in einem Wohnheim für unbegleitete Minderjährige untergebracht und die zwei großen Brüder, die bereits in Deutschland waren, benachrichtigt worden. So trafen sich die vier Brüder und weinten vor Freude. Da die beiden Älteren aber selbst noch relativ jung waren und ihre Existenz sichern mussten, entschied das Jugendamt mit ihrem Einver-
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ständnis, dass die beiden Jüngeren zunächst im Wohnheim bleiben sollten, wo sie intensiv betreut wurden. Der jüngste Bruder wurde ebenso wie Ben eingeschult, konnte dem Unterricht gut folgen und entwickelte sich völlig problemlos. Anders dagegen Ben: Er war verhaltensauffällig, prügelte sich schnell mit anderen Jungs und wurde wiederholt beim Stehlen unnützer Dinge erwischt. Er kam regelmäßig zur Therapie, konnte Vertrauen fassen und immer wieder über seine Trauer um seine Mutter und die Sehnsucht nach einer richtigen Familie sprechen. Dabei weinte er viel. Er musste das Heim verlassen und in eine Wohngruppe zu anderen Jugendlichen ziehen. Weil er sich nicht anpassen konnte, musste er auch dort wieder ausziehen und in eine andere Unterkunft wechseln. Obwohl er hoch motiviert war und eigentlich Zahnarzt werden wollte, schaffte er seinen Schulabschluss nicht, weil er sich nicht konzentrieren konnte und unter schweren Schlafstörungen litt. Die großen Brüder beschimpften ihn deswegen. Er war unglücklich, ritzte sich wieder und fühlte sich völlig wertlos. Das Jugendamt fand Werkstätten für ihn, in denen er verschiedene Handwerksberufe ausprobieren konnte. Dort stellte sich zum Erstaunen der Ausbilder schnell heraus, dass er sowohl bereits große Fähigkeiten als Automechaniker als auch als Schreiner besaß. Ben hatte all diese Dinge auf seinem Fluchtweg gelernt: beim Arbeiten im Iran und später auch in Griechenland. Irgendwann fiel zufällig auf, dass er vier Sprachen fließend beherrschte, nämlich Paschtu, Farsi, Griechisch und Deutsch. Er selbst konnte seine Fähigkeiten überhaupt nicht als solche wahrnehmen, sondern fand sie selbstverständlich, beklagte aber, dass er kein Englisch sprach.
Dass die in diesem Band in mehreren Sequenzen geschilderten traumatischen Widerfahrnisse Spuren in der Psy-
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che von Ben hinterlassen haben, liegt auf der Hand. Viel zu früh erlebte er nacheinander den gewaltsamen Tod beider Eltern, war in vielen lebensgefährlichen Situationen auf sich allein gestellt, trug die Verantwortung für seinen kleinen Bruder und entwickelte dabei kreative Überlebensstrategien. Von ihm konnte nach alldem nicht erwartet werden, dass er sich einfach in Regeln und Strukturen deutscher Wohnheime und Projekte einfügte. Zudem gingen seine eigenen Wünsche in eine andere Richtung. Ben brauchte eine fürsorgliche Struktur, in der seine Verhaltensauffälligkeiten als Folge erlittener Traumata gesehen wurden. Er verfügte über viele Ressourcen, die sich aber nur in einer Atmosphäre der Anerkennung seiner Erfahrungen und Wertschätzung für seine erbrachten Leistungen entfalten konnten.
4.1 Das Konzept der sechs Sequenzen der Traumatisierung von Flüchtlingen In allen von mir vorgestellten Fluchtgeschichten waren die Betroffenen schwer belastenden und traumatisierenden Widerfahrnissen kumulativ in mehreren Sequenzen ausgesetzt. Sequentielle Traumatisierung bedeutet eine Folge von seelischen und körperlichen Verletzungen, die durch die Wiederholung besonders einschneidende und schwerwiegende Folgen haben. Hans Keilson (1979) weist in einer international viel beachteten Langzeitstudie nach, dass die den erlittenen Traumata folgende Lebensphase für die Entstehung und Überwindung psychischer Symptome von entscheidender Bedeutung ist. Spannungen und Konflikte sowie fehlende Akzeptanz in der sogenannten Aufnahmegesellschaft können zu einer sequentiellen Traumatisierung führen, anhaltende Gefühle von Unsicherheit und Wertlosigkeit hervorrufen und den Wiederaufbau einer stabilen und selbstbewussten Identität erschweren.
Das Konzept der sechs Sequenzen73
Soziale Unterstützung ist eine bedeutende Variable zur Bewältigung von Traumata. Traumatische Widerfahrnisse und die damit verbundenen Konsequenzen für die Betroffenen müssen in ihrem Kontext gesehen und als Prozess beschrieben werden, der von den Wechselwirkungen zwischen der sozialen Umwelt und der psychischen Befindlichkeit der Menschen bestimmt wird (Rothkegel, 2013). Diesem neuen Konzept von »Trauma als Prozess« liegt insofern ein völlig anderes Verstehen von Trauma zugrunde, indem nun nicht mehr ein einzelnes traumatisches Ereignis, sondern eine Abfolge von Ereignissen in den Blick genommen wird. Hans Keilson konnte zudem zeigen, dass für die langfristige psychische Gesundheit der Kriegswaisen nicht unbedingt der Schweregrad der ersten beiden traumatischen Phasen entscheidend war, sondern der Verlauf ihres Lebens unmittelbar danach und später. Diese Erkenntnisse sind von enormer Bedeutung sowohl für die individuelle Traumatherapie als auch für die Reflexion kollektiver Prozesse. Das Konzept der sequentiellen Traumatisierung ist vor allem deshalb revolutionär, weil es hier – wie dargestellt – nicht nur um die Aufarbeitung vergangener Verbrechen geht, sondern auch um die »fortgesetzte Relevanz der sozialen Umwelt, auch viele Jahre später noch« (Kühner, 2002). Das Konzept wurde mit dem Einverständnis von Hans Keilson im Büro für Psychosoziale Prozesse der Internationalen Akademie (INA) Berlin adaptiert und auf die potenzielle Traumatisierung von Flüchtlingen in mehreren Sequenzen übertragen (siehe Abbildung 3).
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Sequentielle Traumatisierung Die sequentielle Traumatisierung von Flüchtlingen Erste traumatische Sequenz: Vom Beginn der Verfolgung bis zur Flucht Zweite traumatische Sequenz: Auf der Flucht Dritte traumatische Sequenz: Übergang I – Die Anfangszeit am Ankunftsort Vierte traumatische Sequenz: Die Chronifizierung der Vorläufigkeit Fünfte traumatische Sequenz: Übergang II – Die Rückkehr Sechste traumatische Sequenz: Nach der Verfolgung
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Aus Flüchtlingen werden Rückkehrer/-innen
Aus Flüchtlingen werden Migranten/-innen
Abbildung 3: Das Konzept der sequentiellen Traumatisierung, übertragen auf die potenzielle Traumatisierung von Flüchtlingen (Becker u. Weyermann, 2006)
4.2 Am Fallbeispiel aufgezeigt: Fünf traumatische Sequenzen Den Verlauf der verschiedenen Sequenzen einer Fluchtgeschichte mit traumatisierendem Potenzial, aber auch einige Faktoren für eine adäquate soziale Unterstützung im Aufnahmeland möchte ich am Beispiel der Familie von Bassam darstellen. An der Darstellung der Sequenzen der konkreten Fluchtgeschichte einer Familie werden unterschiedliche Bedarfe am jeweiligen Kontext der Betroffenen deutlich. Während es in der ersten Sequenz einzig und allein um die Frage des Überlebens und die Organisation der Flucht mit der Unterstützung zurückbleibender Familienangehöriger geht, finden in der zweiten Sequenz
Am Fallbeispiel aufgezeigt75
neue Erfahrungen von Gewalt und Bedrohung statt, in denen sich die Familie selbst Unterstützung durch digitale Angebote holt. In der dritten und vierten Sequenz, der Ankunft im Aufnahmeland, geht es um eine adäquate Unterbringung, um die mögliche Aktualisierung erlittener Traumata in der Erfahrung von Willkür und Ohnmacht, um extrem belastende Nachrichten über die Situation zurückgebliebener Familienangehöriger, um Konflikte, die im Herkunftsland bestehen und auch im Ankunftsland Deutschland weiter ausgetragen werden, sowie um die Stabilisierung und Rechtssicherheit bis hin zur schrittweisen Entwicklung einer Integration, zu der eine Ausbildung und die Jobsuche sowie die Partizipation am gesellschaftlichen Leben gehören. 4 4.2.1 Erste Sequenz: Beginn der Verfolgung bis zur Flucht
Die erste Sequenz zeigt die Situation zweier miteinander verwandter und in einem Haus wohnender Familien vor und beim Beginn der Traumatisierung bis zur Flucht im Frühjahr 2014 auf. Die Familien von Bassam und von Fatima sind miteinander verwandt. Sie bewohnten gemeinsam ein Haus in dem in Damaskus gelegenen Viertel Yarmouk, das überwiegend von 1948 aus Palästina Geflüchteten und deren Nachkommen bewohnt wurde. Die Männer der Familien und Fatima waren in der IT-Branche tätig. Die Frau von Bassam war früher Lehrerin und kümmerte sich nun um ihre vier Kinder im Alter von drei, fünf, sieben und neun Jahren. Sie führte den Haushalt. Das Haus wurde bei Bombenangriffen durch Regierungstruppen vollkommen zerstört, sodass die zwei Familien neben vielen anderen auf der Straße oder bei Freunden
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Sequentielle Traumatisierung
übernachten mussten. Die Menschen litten unter Hunger, fehlender medizinischer Versorgung und chronischer Angst. Die Terrorgruppen IS und die Nusra-Front hatten das im Chaos versinkende Viertel infiltriert und versuchten wehrfähige Männer zu rekrutieren. Beide Familien waren staatenlose Palästinenser mit besonderem Status in Syrien, der sie daran hinderte, in den Libanon oder nach Jordanien zu fliehen. Der Vater von Bassam, der Patriarch der Familie, traf die Entscheidung, Wertsachen und Landbesitz zu verkaufen, um beide Familien mit Fluchthelfern sicher über das Mittelmeer nach Europa zu bringen.
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4.2.2 Z weite Sequenz: Auf der Flucht
Die zweite Sequenz veranschaulicht die traumatischen Ereignisse der Flucht im Sommer 2014. Die Flucht der beiden Familien zog sich hin und war von Gefahren auf ständig wechselnden Schleuserrouten (über Italien nach Österreich bis Deutschland) und wiederholten traumatischen Erlebnissen durch strukturelle Gewalt und Zurückweisungen an den Grenzen gekennzeichnet. Besonders die Eltern waren tief geschockt, aber sie mussten gleichzeitig innere Stärke aufbringen, um ihre Kinder zu schützen. Sie erfuhren über Smartphone alles über Bombardierungen und wie es dem Rest ihrer Familien in Damaskus ging, sorgten sich ständig um sie, aber nutzten das Smartphone auch, um Aktuelles über mögliche Fluchtrouten zu erfahren. Sie tauschten sich darüber in Online-Foren mit anderen Geflüchteten aus.
Am Fallbeispiel aufgezeigt77
4.2.3 Dritte Sequenz: Die Anfangszeit am Ankunftsort
In der dritten Sequenz haben die Familien im Winter, Anfang 2015, Deutschland erreicht, werden dort zum einen erneut traumatisiert und voneinander getrennt, zum anderen unterstützt. Die Ankunft in einem großen Erstaufnahmelager in Nordrhein-Westfalen erwies sich für die Familien als schockierend. Sie fühlten sich in ihren Vorstellungen von Deutschland enttäuscht. Sie waren mit Hunderten von geflüchteten Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen in einem Raum untergebracht. Der Lärmpegel war sehr hoch und sie hatten keinen privaten Raum, in den sie sich zurückziehen konnten. Alles erschien ihnen fremd, sie fühlten sich sehr unsicher. Ihre Gedanken drehten sich um Zukunftsperspektiven: die Klärung ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation, die Sehnsucht nach einem bleibenden und sicheren Wohnort und die Möglichkeit, ihre Existenz unabhängig zu sichern. Die beiden Familien wurden gegen ihren Willen getrennt untergebracht. Die Familie von Bassam kam in einem privat betriebenen Wohnheim in Berlin-Schöneberg unter. Dort hatten sie Zeit, Orientierung und soziale Betreuung, sodass sie sich um ihre Belange kümmern konnten. Sie fühlten sich nun langsam sicherer, die drei älteren Kinder besuchten eine Willkommensklasse, für die Jüngste fand die Sozialarbeiterin mit viel Mühe einen Platz in einer Kita. Die Eltern meldeten sich beim Jobcenter und Sozialamt an, begannen einen Integrationskurs und erhielten einen Berlin-Pass für die BVG. Ihre mobilen Telefone nutzten sie nun auch zur Übersetzung, damit sie sich in ihrem Berliner Alltag auch auf Deutsch verständigen und mit Familienmitgliedern im Kriegsgebiet kommunizieren konnten. So erfuhren sie, dass Yarmouk im
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Sequentielle Traumatisierung
Frühjahr 2015 durch IS-Extremisten von der Außenwelt isoliert und daraufhin von den Vereinten Nationen zum Katastrophengebiet erklärt worden war. Sie sorgten sich daher vermehrt um ihre dort verbliebenen Angehörigen und Freunde.
4.2.4 V ierte Sequenz: Chronifizierung der Vorläufigkeit
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In der vierten Sequenz (Sommer 2015) setzt sich die Traumatisierung der Familie von Bassam aufgrund der Wohnheimsituation, in dem die Familie nun lebte und die von einem Getreuen des Assad-Regimes betrieben wurde, in Deutschland ebenso fort wie die Unterstützung durch ein soziales Netzwerk. Bassam beschwerte sich bei dem syrischen Leiter des Wohnheims über unhygienische Zustände, woraufhin dieser sich als Getreuer des Assad-Regimes zu erkennen gab und sich abfällig gegen Palästinenser äußerte. Die beiden gerieten in eine verbale Auseinandersetzung, die der Leiter mit einer Drohung beendete. Am nächsten Tag sah sich die Familie mit der für sie nicht nachvollziehbaren Anschuldigung konfrontiert, sie hätten massiv gegen die Heimordnung verstoßen. Es folgte die Aufforderung, das Heim innerhalb von wenigen Stunden zu verlassen. Die Familie bat einen Heimnachbarn um Unterstützung, der gemeinsam mit einer ehrenamtlichen Helferin der Willkommensinitiative und einem Imam der nahegelegenen Moschee erfolglos versuchte, den Heimleiter umzustimmen. Dieser verwies stattdessen die Familie zur Notaufnahme für Obdachlose bei der Caritas. Die ehrenamtliche Unterstützerin schaltete die Integrationskoordinatorin des Bezirks und den Berliner Flüchtlingsrat ein. Innerhalb weniger Stunden wurde eine auf drei
Am Fallbeispiel aufgezeigt79
Monate begrenzte Unterkunft für die Familie in einer privaten Wohnung gefunden. Ehrenamtliche begleiteten die Familie in den folgenden Wochen kontinuierlich bei Gängen zum Sozialamt und zum Jobcenter. Der Flüchtlingsrat beriet die Familie dahingehend, sich Rechtsbeistand zu holen und die willkürliche Entscheidung des Heimleiters nicht hinzunehmen. Der ehrenamtlich beratende Anwalt schätzte die Chancen auf Erfolg in einem Prozess gegen den Heimleiter als gering ein, wenn sich keiner der anderen Heimbewohner bereit erklärte, gegen ihn auszusagen. Die Familie entschied sich dann plötzlich gegen die beabsichtigten rechtlichen Schritte. Im Verlauf des Geschehens traten bei Bassam und seiner Frau vermehrt psychische Beschwerden wie Angstattacken, Schlafstörungen, Albträume, Kopfschmerzen und Magenbeschwerden auf. Sie äußerten auch gegenüber ihren Unterstützern, dass sie befürchteten, der Heimleiter könnte eine Verfolgung von zurückgebliebenen Angehörigen durch den syrischen Geheimdienst in Gang setzen. Die Unterstützer informierten die Integrationsbeauftragte und sammelten im Wohnheim Auskünfte zu dem schikanierenden Vorgehen der Heimleitung sowie der Einhaltung der Hygienevorschriften. Die Integrationsbeauftragte besuchte den Heimleiter, übte Druck auf den privaten Betreiber aus und forderte eine Überprüfung der Hausordnung, Sicherheitsbestimmungen und der Hygiene durch das LAGESO an. Die Eltern beendeten den Integrationskurs. Sie sprachen inzwischen relativ gut Deutsch und waren hochmotiviert, so bald wie möglich erwerbstätig zu werden, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Ehrenamtliche unterstützten die Familie weiterhin bei der Wohnungssuche, bei Behördengängen, übersetzten Schriftstücke und halfen bei der Kommunikation mit den Lehrerinnen der Kinder. Die Familie von Bassam war ständig mit ihren Familienangehörigen im Kriegsgebiet, aus dem die Medien grausame
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Geschehen berichteten, im Kontakt. Bassam und seine Frau litten unter der Trennung und entwickelten Schuldgefühle, weil sie selber in Sicherheit waren. Die Frau von Bassam bekam Migräneanfälle und fiel immer wieder in längere depressive Phasen. Bassam und seine Frau wollten dringend den Familiennachzug ihrer Eltern und Geschwister aus Syrien beantragen und nahmen dafür Rechtsberatung bei einem Verein in Anspruch. Die Lage erschien jedoch aussichtslos. Den Eltern und Geschwistern der beiden gelang in der Zwischenzeit die Flucht über die türkische Grenze. Sie hofften im Rahmen der Familienzusammenführung, bald auf legalem Weg nach Deutschland weiterreisen zu können.
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4.2.5 F ünfte Sequenz: Aus Flüchtlingen werden Migranten
In der fünften Sequenz gelingen der Familie von Bassam im Frühjahr 2016 aufgrund der Mithilfe des unterstützenden sozialen Netzwerks entscheidende Schritte der Integration. Durch häufige persönliche Besuche bei der Mieterberatung erhielt die Familie von Bassam ein Wohnungsangebot für sechs Personen und ging zu einem Bewerbungstermin beim kommunalen Verwalter für den sozialen Wohnungsbau. Der Verwalter war erschüttert von Medienberichten über ertrunkene Geflüchtete im Mittelmeer, fragte die Familie nach ihrer Fluchtgeschichte und zeigte respektvolles Mitgefühl. Er gab ihnen eine Frist von drei Tagen für die verbindliche Vertragsübernahme einer Vierzimmerwohnung durch das Jobcenter. Die ehrenamtlichen Unterstützer halfen beim Ausfüllen der Anträge für das Jobcenter und begleiteten sie auch dorthin. Die Sachbearbeiterin im Jobcenter ver-
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weigerte die Bitte um Übernahme der Mietkosten, weil der vom Verwalter geforderte Betrag das Limit um sieben Euro übersteige. Die Familie legte Widerspruch gegen die Ablehnung des Bescheides ein. Der Verwalter wurde informiert und erklärte sich bereit, die monatlichen Vorauszahlungen für Warmwasser neu anzupassen und ein zweites Angebot für das Jobcenter zu erstellen. Die Familie bekam einen Bescheid für die Übernahme der Mietkosten und brauchte jetzt ein Darlehen für die Mietkaution. Der Sonderstab für Geflüchtete im Jobcenter beriet die Familie und übernahm die Kosten. Die Familie musste ohne Möbel von der kleinen Wohnung auf Zeit in die Mietwohnung einziehen. Die Unterstützer mobilisierten ihr Netzwerk und brachten schon das Nötigste vorbei, und innerhalb von vierzehn Tagen war die Familie durch Spenden komplett eingerichtet. Die Familie von Bassam pflegte den Kontakt zu Familien in der Nachbarschaft und dem örtlichen Hausmeister, der ihnen half, so gut er konnte. Der Einzug in ihre neue Wohnung wurde mit Freunden und Ehrenamtlichen gefeiert. Durch die geschilderten Geschehnisse wurde die Familie in das Unterstützer-/Unterstützerinnen-Netzwerk der Integrations beauftragten aufgenommen und mit Veranstaltungshinweisen und Broschüren für Fortbildungen und Arbeitsangebote gut versorgt. Sie trafen den Bürgermeister und die Integrationsbeauftragte im Rathaus auf dem Konzert eines bekannten Musikers, den sie aus ihrem früheren Wohnviertel Yarmouk in Damaskus kannten. Die Familie nahm an einer Jobmesse für Geflüchtete im Rathaus teil. Danach begann sie einen aufbauenden Sprachkurs zur Weiterqualifizierung sowie ein Praktikum bei einem potenziellen Arbeitgeber. Aus einem engen Netzwerk an ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen, Integrationsbeauftragter und fachlicher Beratung durch Vereine ist es gelungen, die Familie von Bassam bei ihrem Ziel hin zu einem autonomen Leben zu unterstützen. Bassam und seine Frau
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Sequentielle Traumatisierung
haben heute den Wunsch, die deutsche Sprache noch besser zu erlernen, eine passende Arbeit zu finden und so bald wie möglich die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, um ihre verlorene Unabhängigkeit wiederzuerlangen.
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5 Perspektiven
Ich habe Fluchtursachen, die Veränderung von Migrationsprozessen und die extrem ungleiche Verteilung der Lasten bei der Versorgung von Geflüchteten im globalen und europäischen Vergleich sowie gravierende Menschenrechtsvergehen im Umgang mit Menschen auf der Flucht dargestellt. Anhand des Konzepts der sequentiellen Traumatisierung wurden Erlebnisse und Bedarfe von Geflüchteten in der Phase der Ankunft im erwünschten Aufnahmeland fokussiert. Es wurde die Frage erörtert, ob in der Bundesrepublik die Menschenrechte von Geflüchteten geachtet werden. Im letzten Kapitel werde ich nun Perspektiven thematisieren und Handlungsspielräume der Europäischen Union und der Bundesrepublik Deutschland im Kontext von Flucht und Vertreibung einschließlich einer möglichen Verringerung von Fluchtursachen kritisch beleuchten. In vielen Teilen der Welt herrschen Gewalt, Kriege und andere entwürdigende Zustände, die Menschen zur Flucht treiben. Flucht ist kein Verbrechen und die Flüchtenden sind nicht die Verursacher, sondern die Betroffenen von Fluchtursachen. Sie sind diejenigen, die unter den Konsequenzen leiden müssen. Das bedeutet, dass Lager und Gefängnisse – wie in Libyen –, in denen Schutzsuchende gegen ihren Willen inhaftiert und misshandelt oder gar gefoltert werden, der Vergangenheit angehören müssen. Jeder, der Abkommen mit Staaten zur Übernahme von Flüchtenden trifft, ohne sich sorgfältig zu vergewissern, dass deren Rechte und Grundbedürfnisse dort respektiert werden, macht sich mitschuldig an den
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Perspektiven
Verbrechen, die gegen Geflüchtete verübt werden. Dazu gehört auch, dass Hilfsorganisationen wie UNHCR und das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen von der internationalen Staatengemeinschaft, die finanzielle Unterstützung bekommen müssen, die zum Schutz und zur Versorgung von Flüchtenden gebraucht wird. Es darf nicht sein, dass Flüchtende vor den Augen der Welt hungern und unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen.
5.1 Wie kann Fluchtursachen begegnet werden?
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In diesem Kapitel wende ich mich noch einmal den Fluchtursachen, das heißt den kriegerischen Konflikten und dem Hunger in der Welt, zu. Es geht nun darum, die bestehenden oder auch angesichts der Interessen und Gegebenheiten nichtbestehenden bzw. unrealistisch erscheinenden Perspektiven einer Reduzierung der globalen Konflikte und der unter Hunger und Ernährungsmangel Leidenden in der Welt aufzuzeigen. 5.1.1 Fluchtursache Krieg
Ein Land, das viel zu Kriegen und Konflikten in der Welt beiträgt, ist Saudi-Arabien. Saudi-Arabien hat Dutzende von sunnitischen Gruppierungen salafistischer oder dschihadistischer Orientierung unter seinem Einfluss. Das Gleiche gilt für den Iran, der in den Regionen des Nahen und Mittleren Ostens von Afghanistan über Pakistan, in den arabischen Golfstaaten bis hin zum Irak, zu Syrien und zum Libanon eine Vielzahl von schiitischen Milizen und politischen Gruppierungen unterstützt. Alle diese Gruppierungen kämpfen gegeneinander, und im Hintergrund läuft ein Kalter Krieg zwischen Iran und Saudi-Arabien
Wie kann Fluchtursachen begegnet werden? 85
um die Rolle der Hegemonialmacht im Nahen Osten. Der Islamforscher und Nahostexperte Wilfried Buchta (2016) sieht die Gefahr, die aus Saudi-Arabien kommt, als viel bedrohlicher an als die, die vom Iran ausgeht. Möglichkeiten, die Saudi-Arabien durch den massiven Export seiner wahhabistischen Spielart des Islams habe, würden allgemein unterschätzt. Dieser Einfluss reiche bis nach Indonesien und die Bahamas, zu allen möglichen muslimischen Auslandsgemeinschaften überall in der Welt, in Europa, in Afrika, in Asien. Saudi-Arabiens Ideologie sei zu 98 % identisch mit der Ideologie des IS. Was den IS von der saudi-arabischen wahhabitischen Ideologie unterscheide, sei lediglich die Befürwortung der Monarchie. Die Wahhabiten in Saudi-Arabien hielten an dem alten Pakt zwischen wahhabitischem Staatsklerus und dem saudisch-arabischen Königshaus fest und legitimierten die Monarchie in Saudi-Arabien. Der IS habe sein eigenes ideologisches Konzept, nämlich das des Kalifats. Beide Konzepte seien unvereinbar, aber ansonsten sei die Ideologie, die auf Ausgrenzung nichtmuslimischer Minderheiten und auf Abgrenzung gegenüber dem Westen ziele, identisch. Deutschland hat bis vor kurzem noch Waffen und andere Geräte nach Saudi-Arabien exportiert, die in Kriegen zum Einsatz kommen. Seit Mai 2017 haben das die Vereinigten Staaten von Amerika unter der Führung von Donald Trump in gigantischem Ausmaß übernommen. Gleichzeitig haben sich die Vereinigten Staaten von Amerika klar gegen den Iran positioniert. Die Bundeskanzlerin hat Ende März 2017 bei ihrem Besuch in Riad dennoch vereinbart, dass saudisch-arabische Militärangehörige in Deutschland ausgebildet werden. Vor diesem Wissenshintergrund erscheint die politische Lage völlig verfahren, und Handlungsoptionen oder auch -motivationen für die deutsche und die europäische Außenpolitik, wie beispielsweise Saudi-Arabien auf diplo-
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matischen Wegen in eine friedliche Richtung zu beeinflussen, lassen sich schwer erkennen. »Es ist erschreckend zu beobachten, dass jene straflos bleiben, die Konflikte auslösen. Gleichzeitig scheint die internationale Gemeinschaft unfähig zur Zusammenarbeit, um Kriege zu beenden sowie Frieden zu schaffen und zu sichern«, stellte der ehemalige UN-Flüchtlingskommissar António Guterres 2015 fest (UNO-Flüchtlingshilfe, 2015). 5.1.2 Fluchtursache Hunger
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In Teilen dieser Welt sind viele Menschen akut vom Hungertod bedroht, während in anderen Regionen Überfluss herrscht. Hunger und Armut in der Welt können Folge von Kriegen, aber ebenso die Folge unseres Strebens nach ständigem Wirtschaftswachstum und der Zerstörung von Lebensräumen als Folge von Klimawandel sein. Wir können uns dieser Verantwortung nicht entziehen. So können wir die Förderung von nachhaltigem Frieden in den sogenannten Entwicklungsländern unterstützen. Dazu gehört vor allem, dass den Menschen dort die Möglichkeit gegeben wird, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Auch wenn sich schon eine positive Tendenz in der Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit abzeichnet, muss diese Tendenz weiter intensiv mit nachhaltigen Interventionen ausgebaut werden. Es geht auch um faire Handelsabkommen, die den Raubbau an natürlichen Ressourcen, wie zum Beispiel beim Fischfang in Westafrika, an dem auch Europa beteiligt ist, verhindern statt fördern. Wassermangel vertreibt viele Menschen aus ihren Lebenswelten. Seit Jahren zeichnet sich gravierender Wassermangel beispielsweise im Südwesten des Irans ab, und zwar als Folge von Klimawandel und Missmanagement. Sollte hier nicht schnell nachhaltig wirkende Unterstüt-
Handlungsspielräume der Europäischen Union 87
zung angeboten werden, ist bald von einer neuen Flüchtlingswelle auszugehen. Auch eine Ökologisierung der Wirtschaft könnte Vertreibungen aus zerstörten Lebenswelten entgegenwirken. So könnten deutsche Firmen ihr Know-how einbringen, um Entsalzungsanlagen in den betroffenen Regionen zu bauen, oder kleine Solarmodule liefern, damit Sonnenenergie in ländlichen Gebieten genutzt werden kann, zum Beispiel in afrikanischen Ländern. Gute Erfahrungen wurden bei der Verteilung von Mikrokrediten an Frauen in Entwicklungsländern gemacht. Die Kredite dienten zum Aufbau eines kleinen Geschäftes, mit dem die Frauen sich und ihre Kinder selbstständig versorgen können.
5.2 Handlungsspielräume der Europäischen Union Die Europäische Union ist in einer ernsthaften Krise. Das zeigt sich auch daran, dass es bisher nicht gelungen ist, eine solidarische und gemeinsame Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen. Angesichts der Menschen, die 2015 und 2016 in der EU Schutz suchten, ist das in hohem Maße besorgniserregend. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist nicht die Ursache für die Spaltung der EU, sondern sie macht lediglich die Differenzen innerhalb der europäischen Staaten deutlich, wie die gesellschaftliche, menschenrechtliche und politische Verantwortung gegenüber Geflüchteten aussehen soll. Nationalstaatliche Interessen rücken immer stärker in den Vordergrund und verhindern problemorientierte Lösungsansätze. Polen und Ungarn weigern sich völlig ungeniert, ihrer Verantwortung nachzukommen, die in den Vereinbarungen zum Beitritt der EU festgelegt ist. Die Folge ist, dass in denjenigen Mitgliedsländern, die an den Außengrenzen Europas gelegen sind, wie beispiels-
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weise Griechenland, Italien, Malta und Spanien, permanent besonders viele Geflüchtete ankommen, dass dort die Asylanträge bearbeitet werden müssen und die besondere Schutzbedürftigkeit von Geflüchteten festgestellt werden muss. Diese Länder brauchen dringend deutliche Entlastung. Das Dublin-Verfahren bewirkt jedoch genau das Gegenteil. Es entlastet eher die Staaten, die, wie die Bundesrepublik, an kein für Fluchtrouten besonders relevantes Meer grenzen, und führt zu unendlichem Leid vieler Menschen, wie ich es am Beispiel von Khaled aus dem Tschad geschildert habe. Die Entwicklung einer guten Koordination von Migrations-, Entwicklungs- und europäischer Außenpolitik ist erst in Ansätzen erkennbar. Im Zentrum öffentlicher und politischer Debatten und Entscheidungsprozesse stehen vor allem der Schutz der EU-Grenzen sowie andere sicherheitspolitische Interessen und die Verhinderung illegaler Einreisen. Gleichzeitig sind real nur sehr wenig Möglichkeiten vorhanden, legal in die Europäische Union einzureisen. Deshalb müssen neue europäische Regelungen für die Öffnung weiterer Einwanderungswege geschaffen werden, um Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren und skrupellosen mafiösen Organisationen das Handwerk zu legen. Denn es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der steigenden Zahl der Toten im Mittelmeer und der Schließung der EU-Grenzen. Dass Flucht eine unvermeidliche Begleiterscheinung von Kriegen und anderen angesprochenen bedrohlichen Lebensrealitäten von Menschen ist, gehört zur Geschichte der Menschheit. Umso mehr verwundert es, dass Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einschließlich der deutschen Regierung und ihren Verwaltungsebenen 2015 angesichts der politischen Weltlage so unvorbereitet darauf gewesen sein sollen, dass viele Menschen bei uns Schutz gesucht haben. Das schürt in Teilen der Bevölke-
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rung den Verdacht, dass eine Eskalation der Situation zumindest in Kauf genommen wurde. Dass die Zahl der Ankommenden letztendlich erheblich niedriger war als die von Regierungsseite angegebene, ist ebenfalls erstaunlich. Es muss auch Raum im öffentlichen Diskurs dafür geben, dass im globalen Vergleich nur die wenigsten Flüchtenden bis zur deutschen Grenze gelangen. Die meisten leben, wie in den vorherigen Kapiteln ausgeführt, in armen Regionen, oft als Vertriebene im eigenen Land oder in den Nachbarstaaten. So sind viele Syrerinnen und Syrer in Ländern wie dem Libanon, Jordanien oder der Türkei in großen Lagern untergekommen. Diese Länder tragen die Hauptlast und haben gemessen an ihrer Einwohnerzahl deutlich mehr Flüchtlinge als die Bundesrepublik zu versorgen. Es stellt sich auch die Frage, was als Alternative zum Türkeiabkommen geplant ist. Was geschieht mit den Flüchtlingen, wenn die Türkei das Abkommen kündigt? Grenzen verschließen und Asylgesetze verschärfen kann nicht die Lösung sein und würde auch längerfristig auf keinen Fall funktionieren. Laut UNHCR hatten die Türkei, Pakistan und Libanon am Ende des Jahres 2015 die meisten Geflüchteten aufgenommen (UNO-Flüchtlingshilfe, 2015). Unter den Industrieländern hat die Bundesrepublik die größte Zahl an Asylsuchenden registriert, pro Einwohner im Jahr 2015 aber weniger als Schweden. »Selbst die härtesten Kritiker der Berliner Asylpolitik sind sich einig: Im internationalen Vergleich ist das deutsche System noch gut. Von einer ›Koalition der Unwilligen‹ in Europa spricht Karl Kopp von Pro Asyl, und davon, dass in diesem Kreis der Unwilligen Deutschland gemeinsam mit Schweden das noch am wenigsten unwillige Mitglied sei. […] ›Wir brauchen den Motor Deutschland, in Europa und global, das ist wichtiger als je zuvor‹, sagt der Vize-
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Chef des UNHCR, Volker Türk. Deutschland nehme eine ›Vorreiterrolle‹ ein. Er schätzt das ›sehr korrekte‹ deutsche Asylsystem und die gesellschaftliche Leistung bei der Aufnahme der Flüchtlinge, ›die von der Welt bewundert wird‹« (zit. nach Kastner u. Preuss, 2017). Wie eine faire Lastenteilung in der EU aussehen könnte, hatte schon vor gut drei Jahren der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration skizziert: Demnach könnten die EU-Staaten nach einer Formel Geflüchtete aufnehmen, die Wirtschaftskraft, Einwohnerzahl, Größe und Arbeitslosenquote berücksichtigt. Politisch ist das aber derzeit nicht durchsetzbar. Seit dem Frühjahr 2016 hat sich die Lage ohnehin geändert. Die Balkanroute ist durch Zäune versperrt, die Flucht über die Ägäis infolge des EU-Flüchtlingspakts mit der Türkei blockiert. Von völliger Abschottung kann dennoch keine Rede sein. Auch in den Monaten nach dem TürkeiAbkommen vom März 2016 kamen pro Monat mehr als 15.000 Menschen in Deutschland an. Insgesamt waren es 2016 etwa 280.000. Der Migrationsforscher Stefan Luft erinnert daran, dass die klassischen Einwanderungsländer ganz anders verfahren: »Australien schottet sich komplett ab, die USA nahmen im gesamten Jahr 2015, also in VorTrump-Zeiten, so viele Syrer auf wie Deutschland in wenigen Tagen. In den Golfstaaten sind Geflohene grundsätzlich unerwünscht. Luft prognostiziert, dass Deutschland seine Anziehungskraft behalten werde, auch aufgrund des großen, ökonomischen, sozialen und politischen Gefälles in der EU. Einen exzellenten Ruf genieße die Bundesrepublik international als stabiles, prosperierendes und faires Land. Und die Erinnerung an die ›Willkommenskultur‹ vom Sommer 2015 sei im globalen kollektiven Gedächtnis verankert. Die Bilder von damals seien wirksamer als alle Asylrechts-Verschärfungen seither« (zit. nach Kastner u. Preuss, 2017).
Handlungsspielräume der Europäischen Union 91
2015 herrschte tatsächlich offizielle Planlosigkeit und in der Beweglichkeit und Motivation zum Handeln eine große Diskrepanz zwischen der deutschen Zivilgesellschaft und dem Staat und seinen völlig überlasteten, unbeweglichen Behörden, die ihren Handlungsspielraum nicht nutzten. Große Wohlfahrtsverbände leisteten viel und boten schnell praktische Unterstützung an. In Teilen der Bevölkerung war ein geradezu euphorischer Einsatz sichtbar, aus dem sich zahlreiche ehrenamtlich arbeitende Willkommensinitiativen an vielen Orten bildeten. Aktive Mitglieder übernehmen seit fast zwei Jahren kontinuierlich bestimmte Aufgaben, die für Geflüchtete allein nicht zu bewältigen sind, und zwar unter anderem: Übersetzungshilfen bei wichtigen Behördenbriefen, die Begleitung zu Arztbesuchen, Gespräche mit Lehrern, Nachhilfe- und Sprachunterricht, die Praktikums-, Arbeits- und Wohnungssuche, das Sammeln von Kleidung und Möbeln. Das Beispiel der Unterstützer für die Familie von Bassam oder der Unterstützerkreis für Danitza und Julio aus Serbien haben verdeutlicht, wie Teile der deutschen Bevölkerung Flüchtlingen und ihren Familien konkret helfen. Darüber hinaus wurden bewährte Mentorenprojekte erweitert, es wurde an der Umsetzung vieler kreativer Ideen wie an Entwicklungen von WhatsApp zur Orientierung von Geflüchteten gearbeitet und unermüdliche private Initiativen haben sich inzwischen fachkundig weitergebildet und weiterentwickelt. Einige Ehrenamtliche fahren immer wieder an Europas Grenzen und engagieren sich dort für Geflüchtete oder betreiben mit eigenen Mitteln im Mittelmeer Seenotrettung. Erzieherinnen und einige Lehrerinnen und Lehrer setzen sich noch immer besonders für Kinder mit Fluchthintergrund ein. Universitäten öffneten sich für geflüchtete Studentinnen und Studenten und boten adäquate Möglichkeiten zur Aufnahme an. Museen, Theater und Konzerthäuser bezogen Lebens-
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geschichten und Lebensrealitäten Geflüchteter in ihre Programme ein und stellten für Geflüchtete kostenlose Eintrittskarten zur Verfügung. Auch auf der Seite von Wirtschaft und Unternehmen war durchaus viel Offenheit da. Im Gegensatz dazu waren die Botschaften seitens der Regierung sehr widersprüchlich in ihren Reaktionen (schnelle und verschärfende Änderung der Asylgesetze, erleichterte Abschiebungen). Auf der Planungs- und Koordinierungsebene kann nur von einem Vakuum gesprochen werden. Der Satz der Bundeskanzlerin »Wir schaffen das« wurde zum Ärgernis, weil viele derjenigen, die diese Botschaft umsetzen wollten, immer wieder vor bürokratischen Hürden standen und staatliche Hilfe nicht immer zur Verfügung stand. Die »Willkommenskultur« nannte der bekannte Migrationsforscher Bade (2015) »einen wichtigen und nötigen Spurwechsel im politischen und öffentlichen Diskurs«. Jenseits von konkreten und erfolgserprobten DiversityKonzepten für Unternehmen, Verwaltungen und Behörden sei Willkommenskultur als gesellschaftspolitisches Konzept »aber noch ein wolkiger Orientierungsrahmen mit unklaren Konturen und erheblichem Verbesserungsund Ergänzungsbedarf.« Bade weist auch darauf hin, dass die politische Inszenierung von Willkommenskultur eine indirekte gruppenbezogene Selektionsfunktion habe. Sie mache unausgesprochen klar, dass bestimmte Gruppen wenig oder gar nicht erwünscht sind und nicht zu den Adressaten von Willkommenskultur gehören, wie die sogenannten »Armutswanderer« aus Südosteuropa, zu denen besonders die Roma zählen. Bade (2015) gibt darüber hinaus zu bedenken, dass die aktuelle Willkommenskultur für Neuzuwanderer an der schon mehrere Generationen im Land lebenden Einwandererbevölkerung vorbeigehe und dort sogar als weiterer Beitrag zur Zurücksetzung und Benachteiligung empfun-
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den werde. Er rät zu einer für die Einwanderungsgesellschaft nötigen teilhabeorientierten Gesellschaftspolitik für alle, das heißt mit wie ohne sogenannten Migrationshintergrund. Ohne teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle und ohne ein konsensuales und inklusives Selbstbild der Einwanderungsgesellschaft könne in Kreisen der Einwandererbevölkerung, insbesondere unter jüngeren Menschen das verbreitete und begründbare Gefühl unzureichender Akzeptanz und Teilhabechancen ebenso weiter wachsen wie in Kreisen der Mehrheitsbevölkerung die Angst, Fremde im eigenen Land zu sein. Eine solche Angst könne zum Anlass werden, sich aggressiv gegen eine vermeintliche Überfremdung zu wenden. Daraus resultierende Spannungen könnten zusammen mit zusätzlichen, von innen (Islamkritik) und von außen (Islamischer Staat) geförderten Sozial- und Kulturängsten den sozialen und kulturellen Frieden in der Einwanderungsgesellschaft gefährden. Solidarität und Abwehr, das sind zwei Seiten des derzeitigen gesellschaftlichen Diskurses zur Situation Geflüchteter in Deutschland. Auf der einen Seite stehen strukturelle Diskriminierung, Asylrechtverschärfungen, rassistische Angriffe und das Erstarken von ausländerfeindlichen Parteien. Auf der anderen Seite gibt es Solidarität, ehrenamtliches Engagement, große Nachfrage nach Schulungen und die deutlich wachsende Selbstorganisation geflüchteter Menschen.
5.3 Implikationen für die Praxis Fortbildungsveranstaltungen und kontinuierliche Supervision für Ehrenamtliche sollten integraler Bestandteil staatlicher Unterstützung sein, denn geflüchtete Menschen zu unterstützen ist eine äußerst lohnende Tätigkeit. Doch sie ist auch mit Risiken verbunden. Die Konfrontation mit extremen Fluchtgeschichten, wie beispielsweise die von Tarik, und deren Folgen, unter denen die Geflüchteten zu
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leiden haben, und andere Thematiken können auch bei Unterstützern die Weltsicht verändern und Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht sowie Verlustangst hervorrufen. Die mit dem Kontakt mit Flüchtlingen verbundenen Probleme und Aufgaben können die Möglichkeit, Situationen kontrollieren zu können, in Frage stellen. Im Umgang mit Geflüchteten sind wir nicht nur gefragt, uns mit menschlichen Schicksalen zu befassen, sondern auch Handlungskompetenz im interkulturellen Kontext zu entwickeln. Es geht hierbei nicht nur um die sprachliche Verständigung oder darum, Formen des nonverbalen Ausdrucks »richtig« zu deuten. Es handelt sich auch um die Konfrontation mit anderen Wertesystemen, beispielsweise um die Frage, ob Kinderrechte oder die Gleichstellung von Frauen und Männern akzeptiert und respektiert werden. Begegnungen mit kultureller Vielfalt können Ängste und Unsicherheiten hervorrufen. Es gilt, sich dessen bewusst zu sein, sich nach den eigenen kulturellen Bezügen zu fragen, sich seiner Vorurteile bewusst zu werden, kulturelle Differenzen anzuerkennen, Konflikte differenziert zu hinterfragen und sie nicht schnell als kulturbedingt einzustufen. Es geht um die Wertschätzung von Vielfalt anstelle von Toleranz, denn das lateinische Verb »tolerare« bedeutet ertragen, aushalten und dulden. Wie ich anhand von Beispielen aus meiner beruflichen Praxis gezeigt habe, können Fluchtgeschichten und ihre psychosozialen Folgen sehr unterschiedlich sein. Sicher spielen dabei das Entwicklungsalter der Betroffenen, Umstände, Dauer und finanzielle Ressourcen bei den Fluchtwegen eine Rolle. Zu den einflussreichen Faktoren zählt insbesondere, ob es vor, während und nach den traumatischen Widerfahrnissen schützende Faktoren gegeben hat. Betrachten wir beispielsweise die unterschiedlichen Entwicklungen von Ben und seinem kleinem Bruder aus Afghanistan: Der kleine Bruder zeigt bisher keinerlei psychi-
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sche Auswirkungen seiner Fluchtgeschichte, während Ben unter krankheitswertigen Symptomen leidet. Das könnte darauf hinweisen, dass Ben den schützenden Faktor für seinen kleinen Bruder dargestellt hat, ohne dass er selbst konstante Fürsorge erfahren hätte. Langfristige prekäre Lebensbedingungen mit Gewaltsituationen, Bedrohung, Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht und plötzlicher Trennung von nahen Bezugspersonen können zu dauerhaften psychischen und somatischen Beschwerden sowie sozialen Beeinträchtigungen führen. Wir finden dann eine dauerhafte Erschütterung des Selbstverständnisses und des Vertrauens in die Welt und eine lebenslang erhöhte psychische Verletzbarkeit vor. Migration hat einen wichtigen Einfluss auf das Identitätsgefühl. Die Migrationsgeschichte eines Menschen kann weiter reichen als in das eigene Leben: Zum einen wird sie von den Eltern übernommen und zum anderen werden Konflikte und die damit verbundenen Affekte, die in einer Generation nicht ausreichend verarbeitet werden konnten, an die nachfolgende Generation weitergegeben, insbesondere dann, wenn darüber nicht gesprochen wird. Traumatisierte Eltern erteilen meist unbewusst Aufträge an ihre Kinder. Auch wenn eine Migration freiwillig erfolgte, kann der Verlauf des Migrationsprozesses kumulativ zu Belastungen und Konflikten durch Gefühle wie beispielsweise Entwurzelung, Kulturschock und allgemeine Unsicherheit führen, die bestärkt wird durch Erfahrungen von Machtlosigkeit, geringer Wertschätzung, subtiler Ausgrenzung, Diskriminierung und daraus resultierenden Anpassungsproblemen. Wir sprechen dann von einer kumulativen Traumatisierung (Rothkegel, 2011). Widerfahrnisse gravierender Gewalt können ein breites Spektrum an psychischen, somatischen und sozialen Belastungsfolgen hervorrufen. Die beschriebenen Veränderungen in den Migrationsprozessen haben natürlich ernste
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Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen. Dabei geht es in erster Linie um die Dauer einer Flucht und ihrer Bedingungen, also auch um die Frage, ob Inhaftierungen, und wenn ja, wo, stattgefunden haben. Fast die Hälfte (40 %) der Asylsuchenden in Deutschland leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS; Gäbel, Ruf, Schauer, Odenwald u. Neuner, 2005), was nicht bedeutet, dass die Zahl der Traumatisierten nicht noch höher ist. Die Traumatisierung wird durch spezifische Postmigrationsstressoren verstärkt. Es gibt immer noch viel zu wenig qualifizierte Behandlungsmöglichkeiten, besonders in strukturschwachen Gegenden. Zudem ist die gesundheitliche Versorgung für Geflüchtete in Deutschland durch zahlreiche Restriktionen charakterisiert. Die unterschiedlichen Aufenthaltstitel sind mit einem begrenzten Zugang zu medizinischen und psychotherapeutischen Leistungen verbunden. Psychotherapie, soweit sie überhaupt gewährt wird, kann hier nicht genügen. Therapeutische Begleitung und psychosoziale Interventionen können zudem nur dann Heilungsprozesse in Gang setzen, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen genügend Sicherheit und Stabilität bieten. Familiennachzug als ein Weg legaler Einreise nach Deutschland darf nicht – so wie im März 2017 geschehen – eingeschränkt und für zwei Jahre ausgesetzt werden. Das Gefühl der subjektiven Sicherheit im Aufnahmeland kann nicht erreicht werden, wenn gleichzeitig Familienangehörige und andere nahestehenden Menschen in den Herkunftsländern weiter oder in großen Sammellagern an den Grenzen Not und Gefahren ausgesetzt sind. Die Einschränkung des Familiennachzugs berücksichtigt nicht die Lebensrealität von Familien und die besondere Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen, die von ihren Eltern getrennt in einem fremden Umfeld leben müssen. Dabei müssen auch die Entfremdungsprozesse zwischen
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Familienangehörigen in Betracht gezogen werden, die in sehr unterschiedlichen Lebensräumen leben. Viele unbegleitete Minderjährige fallen in Depressionen, wenn sie begreifen, dass sie keine Möglichkeit haben, die Familie nachzuholen, oder wenn das Asylverfahren sehr langwierig ist. Oder sie verhalten sich wie Tarik aus Afghanistan, der in seiner Verzweiflung einfach loslief, um seine Familie wiederzufinden. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge brauchen gesonderte Zuwendung, der Betreuungsschlüssel wäre hier bei mindestens 1:10 anzusetzen. Für die Träger der Betreuung sollte eine Planungssicherheit für eine kontinuierliche und langfristige Personalentwicklung gewährleistet sein. Viele geflüchtete Minderjährige kehren nie in ihr Herkunftsland zurück. Sie bleiben in der Aufnahmegesellschaft, versuchen sich zu integrieren oder bilden neue Minderheiten. Es geht um die Förderung der kulturellen Vielfalt und um Möglichkeiten zur realen Teilhabe an politischen und sozialen Prozessen. Die Betreuung von Menschen, die vor Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat geflohen sind, stellt eine besondere Herausforderung dar. Die EU-Richtlinien zur besonderen Schutzbedürftigkeit, die Prävention und Schutz vor Gewalt wie adäquate Beratungs- und Behandlungsangebote und gegebenenfalls besondere Ernährung beinhalten, müssten umgesetzt werden. Bei der Unterbringung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge ist bei der Wohnungsbeschaffung oder Schaffung besonderer Wohnformen die spezielle Lage der Geflüchteten zu berücksichtigen wie eine adäquate soziale Beratung und Betreuung anzubieten. Mehrere Hindernisse erschweren den Zugang zum Gesundheitssystem für traumatisierte oder auf andere Weise psychisch belastete Geflüchtete (unter anderem unzureichende Ausbildung von Fachkräften, Sprachbarrieren, mangelnde Finanzierung von Dolmetschern und Dolmetscherinnen). Der Zugang zur gesundheitlichen Ver-
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sorgung darf nicht vom Aufenthaltstitel abhängen. Zu diesem gehört die Bereitstellung von Dolmetschern und Dolmetscherinnen. Der rechtliche Status eines Menschen wirkt sich grundsätzlich immer auch auf sein psychisches und somatisches Befinden aus. So hat beispielsweise eingeschränkte Hilfe im Krankheitsfall körperliche und seelische Konsequenzen. Integrative Angebote müssen ebenso bereitgestellt werden wie eine soziale Unterstützung, die eine bedeutende Variable zur Bewältigung traumatischer Widerfahrnisse darstellt. 5.3.1 Besondere Schutzbedürftigkeit
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Die EU-Aufnahmerichtlinien zur Entwicklung einheitlicher Mindeststandards zur Aufnahme von Geflüchteten in Europa schließen besonders vulnerable Zielgruppen ein. Besonderer Schutz ist bei der Unterbringung von Menschen gefordert, deren Sexualität nicht »der Norm« entspricht. Denn diese Menschen sind besonderen Konflikten in Sammelunterkünften oder Heimen ausgesetzt. Die EU-Richtlinien zur besonderen Schutzbedürftigkeit, die Prävention und der Schutz vor Gewalt sowie adäquate Beratungs- und Behandlungsangebote müssen umgesetzt werden. Geflüchtete Menschen mit Behinderung sollten ohne bürokratische Hürden die Übernahme von Kosten erhalten, die für sie mit der Bewältigung von spezifischen behinderungsbedingten Belastungen entstehen. Hierzu gehören insbesondere die Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen entsprechend den Paragraphen 53 ff SGB XII und die Leistungen für Mehraufwendungen von behinderten Menschen in Ausbildung (entsprechend § 30 IV SGB XII). Zusätzlicher Aufwand entsteht bei Menschen mit Behinderung durch die Anmietung geeigneten Wohnraums, durch erhöhte Lebensmittelkosten, Kommunikationskosten, Kosten für Arznei-
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mittel und Kosten der Teilhabe an sozialen Netzwerken, an Sport, Kultur und Freizeit. Auch für Folter- und Gewaltopfer bestehen besondere Bedarfe. Diese beinhalten die Schaffung einer angemessenen Beratungs- und Behandlungseinrichtungsstruktur für traumatisierte und psychisch kranke Geflüchtete sowie die Erstattung der Kosten, die für die Ermittlung, Feststellung und Versorgung besonders Schutzbedürftiger erforderlich sind und bei den Fachstellen anfallen. Zu berücksichtigen sind möglicherweise auch erhöhte Lebensmittelkosten, zusätzliche Kommunikationskosten, zusätzliche Arzneimittelkosten und erhöhte Kosten zur Stärkung der sozialen Netzwerke sowie für kulturelle und körperliche Aktivitäten. 5.3.2 Frauenspezifische Herangehensweise
Viele weibliche Geflüchtete leiden bereits unter geschlechtsspezifischen Gewalterfahrungen in ihren Herkunftsländern, wie zum Beispiel unter häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratung, unter der Bedrohung mit »Ehrenmord«, genitaler Verstümmelung oder sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe. Sie sind in allen Phasen der Flucht einem besonderen Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt und bräuchten in allen Phasen besonderen Schutz. In jedem Kontakt mit gewaltbetroffenen Flüchtlingsfrauen können Gefühle wie Angst, Tabuisierung und Scham eine große Rolle spielen. Das kann beispielsweise bedeuten, dass sie das Erlittene verschweigen und Verletzungen nicht zur Sprache bringen. Es ist also auch im professionellen Umgang innerhalb der Gesundheitsversorgung Hintergrundwissen, Achtsamkeit und Sensibilität wie Vorurteilsbewusstsein notwendig. Behandlung braucht den Aufbau einer tragfähigen Beziehung, die achtsam mit Hierarchie- und Machtgefällen umgeht.
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In den Sammelunterkünften ist kein ausreichender Schutz für weibliche Geflüchtete gewährleistet. In der Praxis führt das zu einer hohen Gewaltbetroffenheit geflüchteter Frauen. Die Bedrohungssituation und die Risikofaktoren in den Sammelunterkünften betreffen die Größe und Überfüllung, den Mangel an Privatsphäre, die fehlenden abschließbaren Sanitäranlagen, einen fehlenden Verhaltenskodex, in dem Gewalt in jeder Form explizit abgelehnt wird, und die fehlende Information zur rechtlichen Situation bezüglich geschlechtsspezifischer Gewalt. Zur Verringerung dieser Faktoren sind direkte Sicherheitsund Kontrollmaßnahmen erforderlich, beispielsweise über die Präsenz von gemischtgeschlechtlichem Wachpersonal, über Überwachungsinstallationen in den Fluren oder im Außenbereich und über Schutzräume in eigenen Gemeinschaftsunterkünften für allein geflüchtete Frauen mit und ohne Kinder. Diese Maßnahmen müssen durch eine ausreichende spezifische Beratung und Betreuung begleitet werden. 5.3.3 Fazit
Wie in den vorherigen Kapiteln geschildert, sind traumatische Erlebnisse mit Gefühlen extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden, während derer sich Betroffene als Objekte behandelt fühlen. Eine der bedeutsamsten Folgen ist der Verlust von adäquaten Handlungsoptionen auf Forderungen der Umwelt (erlernte Hilflosigkeit). Daher muss die Förderung eigenverantwortlichen Handelns das Ziel beim Umgang mit geflüchteten Menschen sein. Sie müssen Entscheidungen treffen, bestimmte Situationen kontrollieren und somit sich selbst als Subjekte erleben können, anstatt fremdverwaltet zu werden. Die Erschütterung über Themen wie Flucht und Vertreibung führt meist zu einer Zentrierung auf schreckliche
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und defizitäre Aspekte traumatischer Belastungen. Häufig übersehen wir dabei, dass traumatisierte Menschen mit ihrem Leben weiterhin zurechtkommen müssen und dies vielen unter großen Anstrengungen auch gelingt. Wir alle brauchen daher diesbezüglich einen Perspektivwechsel: weg von der Zentrierung auf die Pathologie und hin zur Zentrierung auf Ressourcen, Wertschätzung und Achtung. Wir können von Geflüchteten viel lernen. Sie sind Menschen, die ihre Häuser und ihre Heimat verlassen mussten, viele Gefahren und Strapazen auf sich genommen haben und dabei Überlebensstrategien entwickelt haben. Obwohl eine große Zahl unter ihnen im Herkunftsland und auf dem Fluchtweg Grausamkeiten erlebt hat oder mit ansehen musste, verkörpern die meisten Werte wie Familiensinn, Motivation zur Weiterbildung und Erwerbstätigkeit sowie Zuversicht. Migranten sind Hoffnungsträger. Sie haben die Hoffnung auf eine Welt in Frieden und auf ein besseres Leben. Eine Gesellschaft, die sich dem verschließt, entwertet sich und verarmt. Öffnet sie sich jedoch der Begegnung und Vielfalt, wird sie bereichert. Die Überlebenskraft und -kreativität der Geflüchteten können erstaunlich konstruktive Kräfte entfalten, wenn sie angemessen unterstützt werden. Wenn wir alle am traumatischen Prozess beteiligt sind, können wir auch alle helfen, ihn weniger zerstörerisch zu gestalten (Gahleitner, 2012).
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6 Literatur
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