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German Pages 340 Year 1994
ANDREAS QUENTIN
Kausalität und deliktische Haftungsbegründung
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 170
Kausalität und deliktische Haftungsbegründung zugleich ein Beitrag zum Kausalitätsproblem bei Waldschadensfällen
Von
Andreas Quentin
Duncker & Humblot . Berlin
Die"Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Quentin, Andreas: Kausalität und deliktische Haftungsbegründung : zugleich ein Beitrag zum Kausalitätsproblem bei Waldschadensfällen / von Andreas Quentin. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum bürgerlichen Recht; Bd. 170) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-08050-5 NE:GT
n2 Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-08050-5
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 1992 von der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde letztmals im Mai 1992 überarbeitet. Dank schulde ich Herrn Professor Dr. Wulf Henning Roth für die Betreuung und die vielfaItige Kritik bei der Anfertigung dieser Arbeit. Weiterhin bin ich Herrn Professor Dr. Hruschka zu besonderem Dank verpflichtet, der mir als Assistent an seinem Lehrstuhl die Möglichkeit eröffnet hat, mich über lange Zeiträume meiner Dissertation intensiv zu widmen. Dem Verlag Duncker & Humblot danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die "Schriften zum Bürgerlichen Recht" . Zuletzt wurde meine Arbeit durch Frau Bößl in die erforderliche Form gebracht. Auch ihr gilt hierfür ein besonderer Dank. Neunkirchen am Brand, im November 1993
Andreas Quentin
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Erster Abschnitt Einige Aspekte aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität I.
Von.den Anf"angen des kausalen Denkens bis zu den Kausaltheorien der Antike ...... 1. Der Ursprung: Kausalität als Allegorie zu Verbrechen und Strafe . . . . . . . . . . . . 2. Die Emanzipation des Kausalitätsgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kausalität und Erklärung bei Aristoteies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Kausalität als Grundlage für die Zuschreibung von Verantwortung: Das Kausalitätsverständnis der Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Zweifel am Determinismus: Modeme Erkenntniskritik im mittelalterlichen Denken ....
19 19 23 25 26 31
Zweiter Abschnitt Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie I.
11.
111.
IV.
V. VI.
Seine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. David Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. lohn Stuart Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die einzelnen Aspekte des modemen Kausalitätsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die kausale Relation als eine "Notwendigkeitsbeziehung eigener Art" . . . . . . . . . . 2. Die Eindeutigkeit der kausalen Verknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der "erkenntnistheoretische Begriff der Causa" als ein Komplex diverser Antecedensentitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notwendige pragmatische Konzessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der reduzierte Kontext - das kausale Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der "alltagssprachliche Causa-Begriff" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kausalität und Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kausale Erklärung und kausale Voraussage nach Carl G. Hempel . . . . . . . . . . . . 2. Kausale Relation und kontrafaktisches Konditional . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Determinismus versus probabilistische Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Problem der sog. psychischen Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die sog. "kumulative Kausalität" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. "Alternativ strukturierte Kausalität" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. "Urheber- und Opfenweifel" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 35 39 44 44 48 51 55 55 57 60 60 64 72 80 80 86 87 97
Dritter Abschnitt Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 11. Der Begriff der Kausalität und das Culpa-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 111. Der Begriff Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
8
Inhaltsverzeichnis I. 2. 3. 4.
Die Dichotomie der Zwecke deliktischer Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . HaftungsbegrundendeKausalität und die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit. . . Haftungsbegrundende Kausalität und Schadensprävention durch Verhaltenssteuerung HaftungsbegrundendeKausalität und ihr Verhältnis zu Garantiefunktion, Schadensstreuung und "Deep-Pocket-Method" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwei besondere Sichtweisen deliktischer Haftung und ihr Kausalitätsverständnis . . . . . l. "Economic Theory" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kausalität und "bewegliches System" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109 115 119 124 127 127 135
Vierter Abschnitt Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfmdung
141
Fünfter Abschnitt HaftungsbegrüDdende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz: Die Tatbestände des § 830 I S. 1 und S. 2 BGB ZivilrechtIiche Mittäterschäft: Die gemeinschaftlich begangene unerlaubte Handlung im Sinne von § 830 I S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 l. Das Zurechnungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Die vertretenen Positionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Die konstitutiven Elemente zivilrechtIicher Mittäterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 162 II. Die Haftung wegen Schadensverursachungdurch eine Handlung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 l. Zurechnungsmodell und Tatbestand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Erweiterter Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) "Urheberzweifel" bei möglicher Komplementarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Alternativ strukturierte haftungsbegrundende Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . 178 c) "Urheberzweifel" und haftungsausfüllendeKausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 d) "Anteilszweifel " und haftungsausfüllende Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 e) Alternativ strukturierte haftungsausfüllende Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 f) Das Problem der sog. Subsidiarität des § 830 I S. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . 191 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
I.
Sechster Abschnitt
Die Kausalitätsproblematik bei neuartigen Waldschäden und ihre deliktsrechtliche Bewältigung I. Die Kausalitätsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bisherige Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Reduktion des Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Generelle Beweismaßreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Partielle Beweismaßreduktion nach Günter Hager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umkehr der Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bei Überschreitung von Immissionsrichtwerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bei Überschreitung von Emissionsrichtwerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bei Mißachtung von Dokumentations- oder Statussicherungspflichten . . . . . . . 3. Anscheinsbeweis bei Emissionsrichtwerteüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . .
195 202 202 202 204 209 209 213 221 229
Inhaltsveneichnis a) Die Struktur des Anscheinsbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Anscheinsbeweis bei Überschreitung von Emissionsrichtwerten . . . . . . . . 4. "Epidemiologischer Kausalitätsbeweis" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ill. Die Kausalitätsproblematik der WaidschadensfaIle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Problem der insuffizienten Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem der fehlenden Proportionierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Problem des "Urhebenweifels" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einzelprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Proportionalhaftung im Außenverhältnis statt Vollhaftung mit Innenausgleich? ... 2. Proportionalhaftung mit bedingter Totalersatzgarantie oder Vollhaftung mit Innenausgleich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mögliche (multiple) Alternativopferschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Alternativopferschaft - Alternativtäterschaft, Struktur und gesetzliche Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Mögliche Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Problem der Klein- und Kleinstemittenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zum Innenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
229 233 234 240 240 243 244 246 246 265 269 269 272 283 285
Anhang Das Kausalitätsproblem und das neue Gesetz über die Umweltbaftung (UmweitHG)
1. Der Basisansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kausalitätsvermutung nach den §§ 6, 7 UmweltHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der positive Vermutungstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der negative Vermutungstatbestanddes § 611. UmweltHG . . . . . . . . . . . . . . . c) Der negative Vermutungstatbestanddes § 7 UmweltHG . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Beteiligung mehrerer Anlagen (§ 7 I. UmweltHG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7 11. UmweltHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) (3) Der Begriff der "anderen Umstände" im Sinne von § 7 UmweltHG . . . . . . . . (4) Kausalitätsvermutung und mögliche Teilschadenskausalität . . . . . . . . . . . . . . (5) Kausalitätsvermutung und alternative Opferschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Urhebenweifelskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teilschadenskausalität und Anteilszweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Alternative Opferschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291 292 292 295 295 295 299 299 301 303 304 304 305 305 305
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Literaturverzeicbnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
Einleitung In der juristischen Diskussion der letzten Jahre, die im Bereich des deliktischen Haftungsrechtes geführt wurde, ist der Begriff der Kausalität und dabei insbesondere seine Rolle bei der Haftungsbegründung zunehmend "ins Gerede gekommen". Anlaß dafür waren die in jüngerer Zeit gehäuft auftretenden Umweltschäden infolge der Luftverschmutzung durch eine Vielzahl von Schadstoffemittenten (Stichwort: "Waldsterben"). Man sah vermehrt das Bedürfnis, den Geschädigten auch durch Anwendung des geltenden deliktischen Haftungsrechtes zu Hilfe zu kommen, zumal der Gesetzgeber lange zögerte, neue gesetzliche Regelungen zu schaffen, um etwa betroffenen Waldbesitzern einen Ersatzanspruch gegen die oft weit entfernt sitzenden Schadstoffemittenten einzuräumen. 1 Zudem erhoffte man sich gerade durch die Einführung einer deliktischen Haftbarkeit der jeweiligen Schadstoffemittenten auf den gesamten Umweltschaden, diese angesichts der drohenden hohen Ersatzpflichten zu einer Reduzierung des Schadstoffausstoßes zu bewegen und so einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten. 2 Auf dem Weg zur Begründung einer deliktischen Haftbarkeit von Schadstoffemittenten entpuppte sich nun das Erfordernis des I Genau genommen zögert der Gesetzgeber immernoch, denn, soviel sei hier vorweggenommen, auch die Einführung des Umwelthaftungsgesctzes zum 01.01.1991 ( BGBI 1990 1., 2634) wird gerade für die von den genannten neuartigen Waldschäden betroffenen Waldbesitzern wohl zu keiner Verbesserung ihrer Situation führen. Inwieweit dieses Gesetz geeignet ist, im Hinblick auf das Problem der haftungsbegründenen Kausalität eine Neuorientierung einzuleiten, wird später eingehend zu besprechen sein. Vgl. dazu oben S. 291 ff.
Zur Rolle des deliktischen Haftungsrechtes im Rahmen des Umweltschutzes eingehend Johann W. Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechtes, Berlin 1989, insbesondere S. 66 ff., 268 ff.; vgl. dazu auch Adams, Zur Aufgabe des Haftungsrechts im Umweltschutz, ZZP 99 ( 1986 ), S 129 ff.: Brüggemeier, Deliktsrecht, Baden-Baden 1986, Nr. 772 ff.; ders., Umwelthaftungsrecht, KritJ'89, 209 ff.; Diederichsen, Zivilrechtliche Probleme des Umweltschutzes, in: Festschrift für R. Schmidt, Karlsruhe 1976, S. 1 ff.; ders., Referat, in: Verhandlungen des 56 DIT., Bd. 11., München 1986, L 48 ff.; ders., Stand und Entwicklungstendenzen des Umwelthaftungsrechtes, UTR, Band 5, Düsseldorf 1988, S. 189 ff.; ders., Umwelthaftung zwischen gestern und morgen, in: Festschrift für Lukes, Köln 1989, S. 41 ff.; GantenlLemke, Haftungsprobleme im Umweltbereich, UPR'89, 1 ff.; Medicus, Umweltschutz als Aufgabe des Zivilrechts, NuR'90, 145 ff.; Rehbinder, Fortentwicklung des Umwelthaftungsrechtes, NuR'89, 149,150 ff.; Streckel, Umweltschutz und Versicherung: ZivilrechtlicheHaftung im Umweltschutz, ZGesVersW'76, 55 ff.; G. Wagner, Die Aufgaben des Haftungsrechts, IZ'91, 175 ff. 2
12
Einleitung
Nachweises eines Kausalzusammenhanges zwischen dem konkreten Emissionsverhalten und der immissionsbedingten Rechtsgutsbeeinträchtigung als eines der Haupthindemisse. Nach § 823 I. BGB setzt deliktische Haftbarkeit prinzipiell einen Kausalzusammenhang zwischen dem dem Beklagten zurechenbaren Verhalten und der schädigenden Rechtsgutsbeeinträchtigung voraus. Der Gesetzgeber hat den Begriff der Kausalität bzw. Verursachung zwar nicht explizit in den Gesetzestext aufgenommen3 , doch verwendet er mit den Worten "verletzt" und "daraus entstandenen" Termini, die in unserer Sprache kausale Relationen beschreiben. 4 Die Vorschrift des § 823 I. BGB kann daher auch wie folgt gelesen werden: "Wer rechtswidrig die Verletzung von Leben, Leib ... eines anderen verursacht, hat den durch diese Verletzung verursachten Schaden zu ersetzen. "5 Die hieraus abzuleitende skelettierte Grundform des objektiven Tatbestandes des § 823 I. BGB hat, jedenfalls soweit es um den Ausgleich erlittener Schäden geht, somit folgendes Aussehen: zurechenbares Ereignis/ zurechenbarer Zustand - > Kausalzusammenhang - > Rechtsgutsverletzung - > Kausalzusammenhang - > Schadenseintritt. Die beiden dargestellten kausalen Relationen werden üblicherweise als "haftungsbegründender Kausalzusammenhang" und "haftungsausfüllender Kausalzusammenhang" bezeichnet. Die positive Feststellung zweier kausaler Relationen ist folglich Merkmal des objektiven Tatbestandes des § 823 I. BGB und damit unverzichtbare Voraussetzung für eine deliktische Haftung.
3
Anders in § 830 I. S. 1 BGB, hier ist ausdrücklich von "Verursachung" die Rede.
Derartige Verben werden nicht selten als sogenannte "kausale Verben (causal verbs)" bezeichnet. Vgl.: C. J. Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, LondonlNew York 1968, S. 15 und S. 25 f.; George Lakojf. Irregularity and Syntax, New York 1970, S. 41 - 43 und S. 98; Davidson, Agency, in: R. BinkleylR. Bronaugh/A. Marras (Hrsg.), Agent, Action and Reason, Toronto 1971, S.22. 4
S Die Tatsache, daß auch die Schöpfer des BGB keinen anderen als kausalen Relationen mit den Worten" verletzt" und" daraus entstandenen" Ausdruck verleihen wollten, ergibt sich klar aus den Motiven, die zudem auch noch einige, wenn auch dürftige, Hinweise darauf enthalten, was nach Ansicht des Gesetzgebers unter Kausalität zu verstehen sei. So fmdet die conditio-sine-quanon-Formel als quasi Argumentationshilfeebenso Erwähnung, wie auch der Transitivitätsgrundsatz, wonach eine kausale Relation auch noch dann rechtlich relevant sein könne, wenn sie mehrere Zwischenglieder aufweist, also Handlung und Rechtsgutsverletzung bzw. Rechtsgutsverletzung und Schadenseintritt nicht als unmittelbare Entitätensequenz konkretisiert werden können. Vgl.: Vorlage der Redaktoren für die erste Kommission, herausgegebenvon W. Schubert, BerlinI New York 1980, Recht der Schuldverhältnisse, Teil 1, Allgemeiner Teil. III., S. 668.
Einleitung
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Ein insoweit erforderlicher Kausalzusammenhang liegt nach der heute nahezu einhelliger Auffassung in Rechtsprechung 6 und Literatur7 dann vor, wenn das bezeichnete konkrete zurechenbare Verhalten "nach den Naturgesetzen" als eine notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsbeeinträchtigung beschrieben werden kann. Als praktisches Prüfungsschema und argumentatives Kleid für Kausalurteile fungiert dabei regelmäßig das als "conditio-sine-quanon-Formel" allseits bekannte kontrafaktische Konditional. Danach ist eine Antecedensentität dann als Causa für eine bestimmte andere Subsequensentität aufzufassen, wenn die erstere nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß auch der Eintritt der letzteren entfiele. 8 Ergibt die Anwendung dieser Formel, daß mehrere Ereignisse als "kausal" für den tatbestandsmäßigen Erfolg in den Blick genommen werden müssen, so sollen diese im Hinblick auf ihre mögliche Relevanz für eine Zurechnung zunächst als untereinander "gleichwertig" anzusehen sein. Grundlage hierfür ist die als "Äquivalenz - oder Bedingungstheorie" bezeichnete Einsicht, daß sich aus der dargestellten Kausalanalyse kein Ansatzpunkt für eine Differenzierung unter den als ursächlich erkannten Ereignissen herleiten lasse. 9 Dies hatte jedoch zur Folge, daß die bloße Anwendung von Kausalitätserwägungen zu unzuträglichen Ergebnissen führen mußte, ließ sich doch stets eine unübersehbare
Grundlegend BGH, Urteil vom 11.05.1951, NIW'51 , 711 f.; vgl. dazu die ausführliche Darstellung der Rechtsprechung des BGH bei Bemhard Schulin, Der natürliche-vorrechtliche Kausalitätsbegriff im zivilen Schadensersatzrecht, Berlin 1976, S. 15 ff.
6
7 Vgl. nur exemplarisch Franz v. lisy, Deliktsobligationen, § 3 I. 5.) (S. 28); Enneccerus/Lehmann, Schuldrecht, § 15 I. (S. 60 f.); Larenz, Schuldrecht Bd. 1, § 27 1II. a.) (S. 359 f.); Esser, Schuldrecht Bd. I, § 44 11. (S. 299); Fikentscher, Schuld recht, § 51 11. 1.) (S. 309); Deutsch, HaftungsrechtBd. I, § 11 11.1.) (S. 135 f.); Eike Schmidt, Grundlagen des Schuldrechtes, Kapitel: Haftungs- und Schadensrecht, § 3 IV. 1.) (S. 489 f.); Hermann Lange, Schadensersatz, § 3 III. (S. 55 f.); Wussow, Unfallhaftpflichtrecht, 13. Auflage, Köln 1985, Rz. 76; Erman/Sirp, BGB, § 249, Rz. 23.
Grundlegend für die neuere Rechtsdogmatik Thyren, Abhandlungen aus dem Strafrecht und der Rechtsphilosophie Bd. I. Lund 1894, S. 21 ff.; Rümelin, Die Verwendung der Causalbegriffe in Straf-und Civilrecht, AcP 90 ( 1900), S. 171,282 ff.; vgl. dazu auch v. lisy, Deliktsobligationen, § 5 11. (S. 68); Deutsch, aaO. 3.) (S. 137); Bydlinski, Probleme der Schadensverursachungnach deutschem uns österreichischem Recht, S. 8; eingehend zur Geschichte dieser Formel Reinhard Willvonseder, Die Verwendung der Denkfigur der "conditio sine qua non" bei den römischen Juristen, WienlKölnlGraz 1984. 8
Vgl. dazu nur Max von Buri, Causalität und deren Verantwortung, Leipzig 1873, S. 3; Ludwig Traeger, Der Kausalbegriff in Straf-und Zivilrecht, Marburg 1904, S. 30 f.; Schulin, aaO., S. 101 ff.
9
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Einleitung
Vielzahl von Ereignissen als Causae identifizieren. Mit der Anerkennung der "Äquivalenztheorie" wurde zugleich auch das Auffinden von Kriterien erforderlich, die es gestatteten, aus der nicht handhabbaren Vielzahl von als Causa in den Blick zu nehmenden Ereignissen, einige wenige zu selektieren, die als rechtlich relevant erscheinen konnten. So wurde in Anlehnung an einen von von Kries lO vorgestellten Gedanken zunächst die hinlänglich bekannte sog. "Adäquanztheorie"11 und später, auf der Grundlage einer rein wertenden Betrachtung, die sog. "Lehre vom Normzweckzusammenhang" entwickelt. 12 Eine Antecedensentität, die nicht nur "nach den Naturgesetzen" als Causa aufzufassen ist, sondern auch den Anforderungen dieser wertenden Zurechnungsschemata genügt, wird nicht selten auch als "Ursache im Rechtssinn" bezeichnet, wobei der Zusatz "im Rechtssinn" klarstellen soll, daß hier nicht mehr nur der Kausalitätsbegriff von Philosophie und Naturwissenschaft, sondern zudem auch weitere wertende Kriterien zur Bestimmung herangezogen worden sind. 13
10 von Kries, Über den Begriff der objektiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie, Band 18 ( 1888), 179 ff., 287 ff. 11 RG, Urteil vom 22.06.1931, RGZ 133, 126, 127; Urteil vom 04.07.1938, RGZ 158, 34, 38; Traeger, aaO., S. 140 ff.; Rümelin, Die Verwendung der Causalbegriffe in Straf- und Civilrecht, aaO., S. 267 ff.; Karl Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Gedanke der objektiven Zurechnung, S. 60 ff., 83 f.; vgl. auch Friedrich Watennann, Die Ordnungsfunktion von Kausalität und Finalität im Recht, Berlin 1968, S. 81,82 f., 92 ff.; Deutsch, Zurechnung und Haftung im zivilen Deliktsrecht, Festschrift für Honig, Göttingen 1970, S. 33, 48, der jedoch die Adäquanztheorie nur im Bereich der Haftungsausfüllung zulassen will; Gerhard Hübner, Schadenszurechnung nach Risikosphären, Berlin 1972, S. 62 ff.; Thomas Weckerle, Die deliktische Verantwortlichkeit mehrerer, Karlsruhe 1976, S. 12 f.; Peter Gottwald, Schadenszurechnungund Schadensschätzung, München 1979, S. 100 ff.; StolI, Adäquanz und nonnative Zurechnung bei der Gefabrdungshaftung, Beilage zu VersR '83, 184, 185 f.; Kötz, Deliktsrecht, 4. Aufl., FrankfurtJM. 1988, Rdn. 150 ff.
Eingehend dazu Hans StolI, Kausalzusammenhang und Normzweck im Deliktsrecht, S. 13 ff., 19 f.; vgl. auch: ders., Unrechtstypen bei Verletzung absoluter Rechte, AcP 162, 203, 233 ff.; v. Caemmerer, Die Bedeutung des Schutzzweckes der Rechtsnonn, DAR '70, 283, 287 ff.; Gottwald, Schadenszurechnung,aaO., S. 104 ff.; Weckerle, aaO., S. 13 ff.; Dietmar Hainmüller, Der Anscheinsbeweis und die Fahrlässigkeitstat, Tübingen 1966, S. 132 ff.; Wolfgang Münz/Jerg, Verhalten und Erfolg, FrankfurtJMain 1966, S. 80 f.; Th. Raiser, Adäquanztheorie und Haftung nach dem Schutzzweck der verletzten Nonn, IZ'63, 462; Deutsch, Anmerkungen zu BGH JZ'67, 639, 641; Edgar Hofmann, Die Umkehr der Beweislast in der Kausalfrage, S. 87 ff.; Hennann Lange, Schadensersatz, § 3 X 7.) (S. 82 ff.); Kötz, Deliktsrecht, Rdn. 156 ff. 12
\3 Ein Blick auf den anglo-amerikanischen Rechtskreis offenbart im wesentlichen ein vergleichbares Bild. Man unterscheidet auch hier zwischen einem objektivem Kausalzusammenhang (cause in fact) und weiteren einschränkenden auf einer Wertung beruhenden Zurechnungskriterien (proximate cause, substantial-factor-rules, etc.). Ein solcher faktischer Kausalzusammenhang soll dabei in aller
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Legt man der Betrachtung dieses Kausalitätsinhaltsverständnis zugrunde, so scheint die Lage für durch emittentenfeme Luftschadstoffimmissionen betroffene Waldbesitzer etc. aussichtslos. Sie werden in aller Regel außerstande sein, zur zudem an § 286 ZPO zu messenden vollen Überzeugung des Gerichtes 14 , bestimmten einzelnen Luftverunreinigem nachzuweisen, daß deren individuelles Emissionsverhalten eine notwendige Bedingung für das Auftreten immissionsbedingter Beeinträchtigungen ihres Eigentumes oder gar ihrer Gesundheit war. Hierfür gibt es im wesentlichen zwei Gründe: zum einen ist es aufgrund der äußerst komplexen Sachverhaltskonstellation und der gegenwärtigen Analysemethoden lediglichmöglich, Wahrscheinlichkeitsaussagen über Transport und Wirkungswege bestimmter Emissionen zu machen; zum anderen werden sich aufgrund der Komplexität derartiger Schadenslagen regelmäßig kaum eindeutige kausale Dependenzverhältnisse konkretisieren lassen. So wird es praktisch nie gelingen nachzuweisen, daß (1.) Schadstoffpartikel aus dem Schlot der Eisenhütte X tatsächlich in die Bäume des Herrn Y gelangt sind und, daß (2.) die Schadstoffemissionen der Eisenhütte X auch eine notwendige Bedingung für das Absterben der Bäume des Herrn Y gewesen sind. Stets wird man dem Argument der beklagten Eisenhütte X nicht eine gewisse Plausibilität
Regel vorliegen, wenn die Antecedensentität als eine notwendige Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität beschrieben werden kann. Gängige Argumentationsfigur anglo-amerikanischer Juristen ist insoweit, wie bei ihren deutschen Kollegen auch, das durch die conditio-sine-qua-nonFormel (auch: "but-for-Test") verkörperte kontrafaktische Konditional. Vgl.dazu Jeremiah Smith, Legal Cause in Actions of Torts, 25 Harv. L. J., 103 ff. ( 1911 ); James Jr.lPerry, Legal Cause, 60 Yale L. J., 761 ff. (1951) mit umfangreichen weiteren Nachweisen; Malone, Ruminations on Cause-in-Fact, 9 Stan. L. Rev. 60 ff. (1956); Prosser/Keeton, On the Law of Torts, 5th Edition, St. Pau11984, § 41 (S. 264 f.); vgl. auchJ. H. King, Causation, Valuationand Chance in Personal Injury Torts Involving Preexisting Conditions and Future Consequences, 90 Yale L. J., 1353 ff. (1980); Joel Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, Volume One, Oxford 1986, S. 118 ff. 14 Nach ganz herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur gilt für den Nachweis des Vorliegens eines haftungsbegriindende Kausalzusammenhang stets das durch § 286 ZPO vorgeschriebene Beweismaß. Die Beweiserleichterungen des § 287 ZPO kommen dem Kläger erst beim Nachweis der haftungsausfüllendenKausalität zugute. Vgl. dazu nur RG, Urteil vom 07.12.1911, Warn. 1912, Nr. 73; Urteil vom 19.01.1920, RGZ 98, 58, 59 f.; Urteil vom 13.11.1941, RGZ 168, 4748 f.; BGH, Urteil vom 13.12.1951, NJW'51, 301, 302 f.; Urteil vom 04.06.1986, NJW'86, 3080, 3081 st. Rspr., Hans-Joachim Musielak, Grundprinzipien der Beweislast, Berlin 1975, S. 124 f.; Egon Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 4. Auflage, München 1987, Rdn. 190; Zöller/Stephan, ZPO, § 287, Rdn. 3 jeweils mwN.
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absprechen können, daß die Bäume des Herrn Y auch dann zugrunde gegangen wären, wenn X keine Schadstoffe emittiert hätte. ls Um diesem Zustand abzuhelfen haben verschiedene Stimmen eine Modifikation des Kausalitätsverständnisses angemahnt. Man erwägt die Einführung eines probabilistischen Kausalitätsbegriffes und die Aufgabe des Erfordernisses, daß das zurechenbare Verhalten eine notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsbeeinträchtigung gewesen sein müsse. Die Diskussion leidet dabei häufig darunter, daß letztlich über den Begriff der Kausalität im Kontext des deliktischen Haftungsrechtes tiefe Unsicherheit besteht. Das Kausalitätsverständnis in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft steht in aller Regel unter der Vorgabe, daß man lediglich in Philosophie und Naturwissenschaft gesichertes "Erkenntnismaterial " rezipiere bzw. referiere}6 Gleichwohl fehlt es zumeist an einer tatsächlichen Aufarbeitung der naturwissenschaftlichen und philosophischen Diskussion. Das Problem der Rechtfertigung und des Stellenwertes des Kausalprinzips im Recht war bisher, wie Hart und Honore in ihrer berühmten Abhandlung "Causation in the law" zurecht anmerken,17 aus der Betrachtung sogar fast völlig ausgeklammert. 18 Ein Nachdenken darüber, ob etwa eine Causa nur eine notwendige Bedingung sein kann, inwieweit probabilistische Erwägungen eingeführt werden können etc., setzt umfangreiche Vorarbeiten voraus. Inhalt und Bedeutung des Begriffes
15 Die mit den Waldschadensfällen verbundenen Kausalitätsprobleme werden im sechsten Abschnitt dieser Arbeit noch einmal detailliert dargestellt. Siehe dazu oben S. 195 ff. 16 Beispielhaft: BGH, Urteil vom 11.05.1951, NJW'51, 711; vgl. auch dazu nochmals Schulin, aaO., S. 15 tt. 17
Herben L. A. HanfIony Honore, Causation in the Law, 2nd Edition, Oxford 1985, S. 13.
Bezeichnenderweise enthalten die gegenwärtig am meisten eingeführten Monographien und Lehrbücher zum Haftungsrecht keine weiteren Anmerkungen dazu, warum eine Verknüpfung der Tatbestandselemente zurechenbares Ereignis I zurechenbarer Zustand und Rechtsgutsverletzung bzw. Rechtsgutsverletzung und Schadenseintritt, nur auf der Basis einer festgestellten kausalen Relation möglich sein soll. So wird die Erforderlichkeit eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges etwa, wenn überhaupt, nur mit einem Hinweis auf die Gesetzeslage begründet. Vgl. etwa Eike Schmidt, Grundlagen des Schuldrechtes, Kapitel: Haftungs - und Schadensrecht § 3 IV. 1.) ( S. 489 f. ); Kötz, Deliktsrecht Rdn. 147 ff.; Geigel, Haftungsrecht, Rdn. 5; Deutsch, HaftungsrechtBd. 1, § 111. (S. 134 f. ); ders., Zurechnung und Haftung im zivilen Deliktsrecht, aaO., S. 50 f.; Hermann Lange, Schadensersatz, § 3 I. (S. 52 ff.); EnnecceruslLehmann, Schuldrecht, § 151. (S. 60 f.); Esser, SchuldrechtBd. 1, § 441. (S. 298 f.); Larenz, Schuldrecht Bd. 1, Allgemeiner Teil, § 27 ßI. a.) (S. 358 f.); Oenmann, vor § 249, 4 b.); ErmanlDrees vor § 823, Rz. 58; Soergel/Menens vor § 249, Rz. 116 f. 18
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der Kausalität sind zu wesentlichen Teilen auch außerrechtlicher Natur. Wenn das Recht nun diesen Begriff in sein System einstellt und ihm Relevanz zuweist, so hat es, will es nicht seine Anbindung an die soziale Lebenswirklichkeit verlieren, die sich notwendig in der gesprochenen Sprache und dem den einzelenen Worten beigelegten Bedeutungsgehalt niederschlägt, zunächst von diesem außerrechtlich vorgeformten Inhaltverständnis ausgehen. Erst auf einer zweiten Stufe kann dann eine SpezifIkation dieses Begriffes im Hinblick auf die jeweiligen rechtlichen Zweckvorstellungen erfolgen. Inhalt, Bedeutung und Grenzen des Begriffes der Kausalität im Kontext des deliktischen Haftungsrechtes lassen sich daher nur adäquat beschreiben, wenn zuvor Klarheit über den außerrechtlichen Gehalt dieses Begriffes gewonnen wurde. Dieses ist nun gerade im Hinblick auf den Begriff der Kausalität besonders schwierig. Kaum ein anderer Begriff spiegelt durch seine Geschichte die Entwicklung menschlichen Denkens besser wieder, als derjenige der Kausalität. Sowohl das Denken des Alltags, wie auch das der Wissenschaft gingen und gehen tagtäglich mit diesem Begriff um, haben ihn in seiner langen Geschichte vielfach modifiziert, neue Aspekte hinzugefügt und überkommene Inhalte eliminiert. Die durch ihn bezeichneten Vorstellungen sind vielschichtig und komplex. Manches ist umstritten, Vieles im Fluß. Als ein "Begriff in Progress" steht er tagtäglich zur Disposition. Seine universelle Verwendbarkeit im alltäglichen praktischen Leben ist gleichwohl unabweisbar. Für die modeme Wissenschaftstheorie verkörpert das Kausalprinzip, wenn schon nicht mehr eine dem menschlichen Denken kreatürlich vorgegebene Kategorie 19, so doch immer noch die notwendige Arbeitshypothese für jedwede Wissenschaft und Forschung20 • t9 Die Vorstellung, daß das Kausalprinzip eine jedem Denken immanente Kategorie sei, wird auch als rationalistische Kausalitätsauffassung bezeichnet und geht im wesentlichen auf lmmanuel Kant zurück, der das Kausalprinzip als einen "reinen Verstandesbegriff" definierte, der jeglicher Erfahrung vorgängig sei ( vgl. Prolegomena, 11. Teil, §§ 27, 29 sowie 30, Werkausgabe hrsg. von Wilhelm Weischedei, FrankfurtlMain 1968, Band 5, S. 178, 180 und 181). Vgl. auch Konrad Hessen, Das Kausalprinzip, 2. Auflage, München 1958, S. 17 und 226 ff.; M. E. Mayer, Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechtes, Heidelberg 1915,3. Buch A. III. 1.) (S. 446); eine eindrucksvolle jüngste Bestätigung erfährt Kant durch Karl Popper, Towards an Evolutionary Theory of Knowledge, in: ders .• The World of Propensities. Bristol1990, S. 29.46 ff. Krit. dazu Ottfried Höjfe. Immanuel Kant. München 1983. S. 130; Wolfgang StegTnÜller. Ergebnisse und Resultate Bd. I, S. 518.
StegTnÜller. Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift für Victor Kraft. hrsg. von Ernst Topitsch. Wien 1960, S. 171, 189; Bertrand Russel. Die Probleme der Philosophie, aus dem Englischen übersetzt von Paul Hertz. Erlangen 1926, S. 53; Karl Popper. Logik der Forschung,
:w Vgl.
8. deutsche Auflage. Tübingen 1984, S. 33. 2 Quentin
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Die stetige Bewegung in der außerrechtlichen Diskussion um den Begriff der Kausalität ist nicht mit einer bloßen "Begriffsarbeit zweiten Grades" (Radbruch)21 zu bewältigen, die lediglich durch andere Fachwissenschaften vorfixierte Begriffsinhalte übernimmt und teleologisch konkretisiert. Die vorliegende Arbeit wird daher einen beschwerlichen Weg zu gehen haben. So werden zunächst im ersten Abschnitt, um überhaupt erst einmal einen Hintergrund zu erarbeiten, einige aus der Perspektive des Juristen bedeutsame Momente in der Entwicklungsgeschichte des Begriffes der Kausalität skizziert werden. Im zweiten Abschnitt wird dann der Versuch unternommen, die wesentlichen Aspekte des repräsentativen außerrechtlichen Kausalitätsverständnisses einschließlich der aktuellen Kontroversen zu umreißen. Dabei soll es insbesondere darauf ankommen, die Problembereiche (alternative Kausalität; Komplexität; notwendige und hinreichende Bedingung; conditio-sine-qua-nonFormellkontrafaktisches Konditional; probabilistische Kausalität, usw.) begrifflich scharf aufzuarbeiten, die im haftungsrechtlichen Kontext besondere Bedeutung gewinnen können. Im anschließenden dritten Abschnitt soll dann untersucht werden, worin die deliktsrechtliche Relevanz der jeweiligen Aspekte des Kausalitätsbegriffes liegt und welches Kausalitätsverständnis de lege lata zugrunde gelegt werden muß. Der vierte Abschnitt wird sich mit dem Problem der Kausalität im Hinblick auf die prozessuale Wahrheitsfmdung befassen. In dem daran anschließenden fünften Abschnitt wird erörtert werden, welche Modifikationen das Kausalitätserfordernis durch die Vorschrift des § 830 I. BGB erfährt. Im sechsten und letzten Abschnitt werden dann die gewonnenen Ergebnisse daraufhin überprüft, ob und inwieweit sich mit ihrer Hilfe eine Haftbarkeit von Schadstoffemmittenten für durch Luftverschmutzung hervorgerufene Umweltschäden begründen läßt. Hier wird dann auch zu erörtern sein, inwieweit der Gesetzgeber durch die Schaffung des neuen Umwelthaftungsgesetzes auf die "Kausalitätsfrage" und ihre Beantwortung in der Zukunft Einfluß genommen hat.
Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. von Erik Wolf und H. Schneider, 8. Auflage, Stuttgart 1973, S. 215; vgl. zum ganzen auch: Kart Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Auflage, StuttgartlBerlinlKölnlMainz 1977, S. 12 ff. 2.
Erster Abschnitt
Einige Aspekte aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
I. Von den Anfängen des kausalen Denkens bis zu den Kausaltheorien der Antike 1. Der Ursprung: Kausalität als eine Allegorie zu Verbrechen und Strafe
Seit jeher bedeutete menschliche Existenz ein Umgehen mit in der Umwelt wahrgenommener Ereignisvielzahl und -vielfalt. Das Bestreben, die aus der Wahrnehmungsflut resultierende Ungewißheit möglichst zu minimieren, wie auch der Zwang, zum Zwecke der Selbsterhaltung erfolgreich in der Welt handeln zu können, nötigt zu der Entwicklung eines Konzeptes, das diesem doppelten Anspruch genügt. Einerseits muß es seinem Anwender die Fähigkeit zur Reduktion der erfahrenen Komplexität vermitteln; andererseits muß es in der Lage sein, eine Grundlage für zuverlässige Zukunftsprognosen zu schaffen, die als Basis für rationales eigenes Handeln dringend benötigt werden. Die Annahme, daß das Naturgeschehen eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten folgt oder doch zumindest in dieser Weise verstanden werden kann, ist gleichwohl erst Kennzeichen einer relativ hohen Stufe in der Entwicklung menschlichen Denkens. 1
I Das primitive Bewußtsein war zunächst allein von rein animistischen Vorstellungen geprägt. Jede in der Natur wahrgenommene Veränderung wurde als Willensäußerung eines mehr oder weniger göttlichen Wesens gedeutet. Die Kategorie der Handlung fungierte dabei nicht etwa erst als quasi Interpretationsansatz, sondern bildete vielmehr die einzige Chiffre, vermittelst derer die Welt gelesen werden konnte. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich jede Rezeption eines Geschehens praktisch darauf, die beobachtete"Handlung"demrichtigen Subjekt zuzurechnen. Wahrnehmungsverarbeitung erfolgt dementsprechendnicht deskriptiv, sondern askriptiv. Die punktuelle Zuweisung von Ereignissen zur Willkür diverser Agenten läßt keinen Raum für einen Erklärungsansatz, der Veränderungen in der Natur auf andere Kategorien (etwa Naturgesetze o. ä.) zurückführen und konstante Relationen zu vorangegangenen Ereignissen herzustellen vermag. Alle Naturereignisse bilden quasi einen" AIlverein"ohne innere Abhängigkeiten. Animismus und kausale Weltauffassung
20
1. Abschn.: Aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer Deutung der Welt als einem nach Gesetzmäßigkeiten geordneten Gefüge gelang erst der frühen griechischen Naturphilosophie. Der Mileter Anaximandros2 formulierte dabei nach heutiger Erkenntnis wohl als Erster die These von einer umfassenden immanenten Gesetzlichkeit, die den gesamten Geschehensablauf in der Welt beherrscht. Sein Lehrsatz in der hier zugrunde gelegten Übersetzung: 3 "Anfang der Dinge ist das Unendliche. Woraus aber ihnen die Geburt ist, dahin geht auch ihr Sterben nach der Notwendigkeit. Denn sie zahlen einander Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der Zeit Ordnung .• 4
sind essentiell unvereinbar. Dazu eingehend Kelsen, Causality and Retribution, Philosophy of Science, Vol. 8 (1942), S. 533; ders., Vergeltung und Kausalität, Wien / Köln / Graz 1982, S. 26 ff.; H. u H. A. Frankfon, Myth and Reality, in Frankfort et alt., The intellectual Adventure of Ancient Man, Chikago 1946, S. 3, 15 ff.; Wand, The origin of causa! necessity, Journal of Philosophy (1959), S. 493, 498. 2611 v. Chr.- 546 v. Chr. Zum Leben des Anaximandros vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übersetzt von O. Apelt, 2. Auflage, Hamburg 1967, S. 73; Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, Leipzig 1935, S. 72 f. Hermann Diehis, Die Fragmente der Vorsokratiker, 2. Auflage, Band I, Berlin 1906, S. 13, Fragment Nr. 9; Capelle, S. 82.
J
4 Wemer Jaeger, Paideia, Erster Band, 2. Auflage Berlin t Leipzig 1936, hat den zweiten Teil dieses Fragmentes wie folgt übersetzt:"Woraus aber dem Seienden sein Ursprung sei, dahinein müsse auch sein Untergang sein nach Schicksalsbestimmung. Denn es würde eines dem anderen Buße zahlen nach dem Richterspruch der Zeit. "Auffallend sind die durchaus nicht unerheblichen Abweichungen. Wo Diels von "Notwendigkeit"und "Ordnung"spricht, übersetzt Jaeger mit" Schicksalsbestimmung"und"Richterspruch". Dirlmeier, Der Satz des Anaximandros von Milet, in: Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Wege der Forschung Bd. IX, herausgegeben von H. G. Gadamer, Darmstadt 1968, S. 88 ff. hat die Abweichungen in den Übersetzungen von Diels und Jaeger zum Gegenstand seiner Untersuchungen gemacht. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß der zweite Satzteil des Fragmentes wohl Formulierungen der peripatetischen Schule enthalte und nicht mehr die ursprünglich von Anaximandros gebrauchten Worte (S. 90). Dieses sei darauf zurückzuführen, daß Simplikios, der den Lehrsatz des Anaximandros durch Aufnahme in seinen gelehrten Kommentar der Nachwelt überliefert hat, diesen seinerseits von Theophrastos, einem Peripatetiker, übernahm (S. 88). Theophrastos wiederum habe die Weitsicht sowohl des Anaximandros, als auch des Herakleitos darstellen wollen, ohne auf die genauen Formulierungen zu achten und dementsprechend eigene , peripatetische, Formulierungen eingefügt. Dirlmeier kommt daraufhin zu dem Ergebnis, daß richtigerweise von"Notwendigkeit"(S. 91) und"Ordnung"(S. 90) gesprochen werden müsse. Zu dem gleichen Resultat gelangt auch G. S. Kirk, Some Problems in Anaximander, abgedruckt in: D. J. Furley/R. E. Allen, Studies in Presocratic Philosophy Vol. 1., Londont New York 1970, S. 323,340 f. Gleichwohl wird die These Dirlmeiers, daß auch der zweite Teil des Fragmentes nicht ein wörtliches Zitat des Anaximandros sei, in der Wissenschaft zumeist abgelehnt. Vgl. McDiarmid, Theophrastus on the Presocratic Causes, abgedruckt in: Furley, S. 178, 190, der von einem"general agreement"darüber spricht, daß zumindest der hintere Teil des Fragmentes Originaltext aus dem
I. Von den Anfangen des kausalen Denkens
21
Diese vielgedeutete und zitierte Sentenz des Anaximandros gilt heute als quasi Keimzelle des wissenschaftlichen Denkens überhaupf und in ihrem zweiten Teil als erste, wenn auch unklar allegorische Formulierung der Idee der Kausalität. 6 Dem scheinbar anarchischen Gegeneinander der Dinge, deren Entstehen und Vergehen Anaximandros, ganz im Sinne seiner Zeit, offensichtlich als das Obsiegen bzw, Unterliegen dieser Elemente im stetigen Kampf mit ihren jeweiligen Antagonisten deutef, wird hier erstmals die Vorstellung einer notwendigen Sukzession unterlegt. Paradigma dieser Notwendigkeitsvorstellung ist das" ius talionis" .8 Die Vernichtung des unterlegenen Antagonisten erscheint als ein dem obsiegenden Widerpart zur Last zu legendes Unrecht, für das er notwendig Buße leisten muß. Einzige Form dieser Buße ist der eigene Untergang, wodurch dann der vormals unterlegene Antagonist zeitlich nachfolgend9 wieder obsiegt und so quasi kompensatorisch dem zunächst überlegenen Widerpart eine
Werk des Anaxirnandros enthalte. Vgl. dazu auch Charles H. Kahn, Anaximander and the origins of Greek cosmology, New York 1960, S. 166 ff. mit einer umfassenden Sprachanalyse auf den Seiten 168 bis 178; Ferber, Der Ursprung der Wissenschaft bei Anaximander von Milet, Theologie und Philosophie, Heft 61, Freiburg / Basel/Wien 1986, S. 551, 554 mwN. Ferber verwendet ebenfalls die Begriffe"Notwendigkeit"und"Ordnung". Kahn, hat die fraglichen Stellen mit"according to what must needs to be"und"according to the ordinance of time "übersetzt. Es soll deshalb auch hier diese Übersetzung zugrunde gelegt werden. , Ferber, S. 557; Kahn, S. 191 ff. - Inwieweit diese Bedeutung tatsächlich auf den Intentionen des Anaximandros beruht oder nur Resultat einer überdimensionierten Interpretationspraxis ist, kann hier nur dahingestellt bleiben. Jonathan Barnes, The Presocratic Philosophers, LondonlBostonlMelboume/Henley 1982, S. 28 ff. gelangt zu der Ansicht, daß der fragliche"dunkel andeutende Ausspruch"im Werk des Anaximandros, das primär die Darstellung Naturwissenschaften seiner Zeit, nicht aber metaphysische Fragestellungen, zum Gegenstand hatte, gänzlich unbedeutend war. Resümierend schreibt Barnes, S. 37: "Anaximandros brachte die Naturphilosophie auf den Weg, dem sie viele Jahrhunderte folgen sollte. Es ist keine Herabminderung seines Genius, wenn man sagt, daß sein Beitrag zur Metaphysik, der eines schwachen Augenblicks war. " • Zur Bedeutung des ersten Teiles dieses Fragmentes siehe Ferber, S. 557 f.; McDiarmid, S. 194 f., sowie John Burnet, Die Anfänge der griechischen Philosophie, zweite Ausgabe, deutsche Übersetzung, LeipziglBerlin 1913, S. 45. Kennzeichnend fiir dieses Naturverständnis im Sinne eines quasi"dialektischen Prozesses von Werden und Vergehen"ist der berühmte, dem plastischen Ausdruck verleihende, Satz des Herakleitos: "Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König" (Diels, Fragment Nr. 53 [ S. 69 ]). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Ferber, S. 555; Burnet, S. 44 und S. 48.
7
8
Kelsen, Vergeltung, S. 236 ff., 241; Kahn, S. 183; Ferber, S. 556.
• Siehe hierzu auch Kahn, S. 188; Kirk, S. 346 f.
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1. Abschn.: Aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
Niederlage beibringt. 1O Die beobachtete Abfolge von Werden und Vergehen wird so als eine dem Verhältnis von Verbrechen und Strafe entsprechende Relation erkannt und in das für gültig erachtete Gerechtigkeitsverständnis eingebunden. ll Zwei Aspekte verdienen dabei im Hinblick auf spätere Entwicklungen im Kausalitätsverständnis besonders hervorgehoben zu werden. Seinem hier dargelegten ideengeschichtlichen Ursprung nach beschreibt eine kausale Relation eine notwendige Ereignisfolge. Wie auf das Verbrechen notwendig die Strafe folgen muß, so zieht das Werden das Vergehen mit gleicher Notwendigkeit nach sich. Die Annahme, daß Kausalverläufe notwendige Sukzessionen beinhalten, beruht mithin nicht auf rudimentär erhalten gebliebenen animistischen Kraftvorstellungen oder Ähnlichem, sondern ist ein Ausfluß der ideengeschichtlichen Identität der Vorstellungen von Schuld und Ursache, 12 wie sie nicht zuletzt in dem griechischen Begriff der"aitia"zum Ausdruck kommtY Notwendigkeit in diesem Sinne ist damit nicht identisch mit logischer oder konditionaler Notwendigkeit, sondern erscheint als Derivat des im gesellschaftlichen Leben zum Axiom gewordenen Konsenses, daß jeder Verbrecher bestraft werden muß. "Nach der Zeit Ordnung"besagt, daß sich die unausweichliche Kompensation in der Zeit entsprechend einer dieser innewohnenden Eigengesetzlichkeit, also früher oder später, in jedem Falle aber nach der Begehung des Unrechts vollziehen wird. Es ist also die der Erklärung vermittelst den Kategorien von Verbrechen und Strafe immanente Zeitstruktur , die die bis heute für das
10 Zu den möglichen Bezügen zwischen der Naturdeutung des Anaximandros und der Idee griechischen Demokratie siehe Vlastos, Equality and lustice in early Greek Cosmoligies, in: Furley/Allen, Studies in Presocratic Philosophy Vol. I, London / New York 1970, S. 56, 85 f., sowie Wemer Jaeger, Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato, Festrede zur Reichsgriindungsfeier in Berlin 1924, abgedruckt in ders., Humanistische Reden und Vorträge, Berlin / Leipzig 1937, S. 93, 96. 11
Vgl. dazu nochmals Jaeger, Paideia, S. 218 f.
Wand, S. 494 f.; H. undH. A. Frank/ort, S. 15 ff.; Kelsen, Vergeltung, S. 43, sowie Belege und Excurse zum D. Kapitel, Endnote Nr. 56, S. 316 ff. mit ausführlicher Diskussion der Gegenansichten. 12
13 Jaeger, Paideia, S. 220; Kelsen, Vergeltung, S. 256; M. R. Cohen, Causationand its application to history, Journal of the History of Ideas, Vol. 3 (1942), S. 12, 13. Nach Kahn, S. 193 bezeichnet der Begriff der Ursache (aitia) in diesem Sinne letztlich"den Schuldigen, den es zu strafen gilt" .
I. Von den Anfängen des kausalen Denkens
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Kausalitätsverständnis konstitutive Vorstellung einer zeitlichen Abfolge hervorgebracht hat. So wie die Strafe dem Verbrechen nur zeitlich nachfolgen kann, muß auch das den Effectus markierende Ereignis dem als Causa anzusehenden Geschehen zeitlich nachfolgen. 14
2. Die Emanzipation des Kausalitätsgedanken Mit dem Aufkommen der Philosophie des Atomismus, also bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. 15, gewinnt das Denken in kausalen Relationern eine neue quasi rein"naturwissenschaftliche"Dimension. Nach Auffassung der Atomisten existiert in der Welt Materie nur in der Gestalt substanzgleicher, physikalisch unteilbarer kleiner Körper, den Atomen. Jeder Gegenstand und jedes Lebewesen ist ein molekulares, also allein aus diesen Atomen bestehendes Gebilde, dessen jeweilige Gestalt sich allein durch die spezifische Form der Zusammenlagerung der jeweiligen Atome erklären läßt. Sämtliche Atome befmden sich in Bewegung.16 Dabei stoßen sie zusammen, lagern sich einander an oder werden durch den Stoß wieder voneinander entfernt. Alles Werden (das Zusammenlagern von Atomen), wie auch das Vergehen (der Zerfall von Atomansammlungen) reduziert sich so auf einen rein mechanischen Prozeß zwischen existenten bewegten Substanzpartikeln. 17
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Kelsen, Vergeltung, S. 242 f.
" Als Begründer der atomistischen Philosophie gilt der gleichfalls aus Milet stammende Leuldppos (um 450 v. ehr.). Zu den spärlichen Daten, dier aus der vita des Leuldppos überliefert sind, siehe Bumet, S. 300 ff.; Capelle, S. 281 ff. 16 Der Grund für diese ewige Bewegung der Atome bleibt bei Leuldppos unerörtert. Bumet, S. 310 iVm. S. 9 f. geht davon aus, daß sich Leuldppos hier ohne weiteres in die alte Tradition griechischer Kosmologen einreihte, die das Vorhandensein von Bewegung ohne weiteres als gegeben annahmen. 17 Vgl. Bumet, S. 303 ff. mit umfangreichen Zitaten über Darstellungen der Lehre des Leuldppos bei 1heophrastus und Aristoteles. Zur Bedeutung der atomistischen Lehre für die Begriffe Substanz und Materie vgl. Klowsld, Das Entstehen der Begriffe Substanz und Materie, Archiv für Geschichte der Philosophie, Band 48, Berlin 1966, S. 1, 31 ff.
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1. Abschn.: Aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
Als diese mechanischen Abläufe steuerndes Prinzip identifizierten die Atomisten eine nur unklar beschriebene deterministische Gesetzmäßigkeit. 18 Jeder augenblickliche Weltzustand erscheint vor diesem Hintergrund als das mit Notwendigkeit mechanisch erzeugte Produkt des vorherigen Weltzustandes und ist seinerseits nur eine Instantation innerhalb eines universellen durch bestimmte Eigengesetzlichkeiten determinierten" Atommobiles ".19 Erstmals wird hier die Vorstellung einer umfassenden Verkettung von Ereignissen entwickelt. Ein Gedanke, der sich in dem Bild der"Kausalkette"bis heute erhalten hat. Das Denken der Atomisten ist in dieser Form der Ausgangspunkt für eine emanzipierte und in dieser Hinsicht tatsächlich modeme Naturerklärung. 20 Die im Begriff der" aitia "noch existente Kohabitation der Vorstellungen von Ursache und Schuld scheint aufgehoben zu sein. 21
18 Der einzige überlieferte Lehrsatz des Leukippos selbst lautet: "Kein Ding entsteht ohne Ursache, sondern alles aus einem bestimmten Grunde unter dem Drucke der Notwendigkeit. "Vgl. Diels, Leukippos, Frag. 2 (S. 350). Demokritos (460 - 370 v. Chr.), ein Schüler des Leukippos, soll unter dem Begriff der"Notwendigkeit"eine Abfolge"von Stoß und Gegenstoß, die Bewegung und den Schlag der Materie"(Überlieferung durch Aetius; zitiert nach Capelle, Demokrit, Zitat Nr. 56 (S. 418) verstanden haben. - Ungeklärt bleibt die Herkunft dieser Gesetze der Atommechanik sowohl bei Leukippos, als auch bei Demokritos. Thre Beschreibung mit Gegenstoß, Schlag und Bewegung legt die Vermutung nahe, daß sie aus der Beobachtung natürlichen Geschehens im Wege der Induktion gewonnen wurden. In jedem Falle enträt diese Notwendigkeit kraft mechanischer Eigengesetzlichkeit jeder Divinisierung oder Analogie zu gesellschaftlichen Normvorstellungen. Alles weitere Nachdenken über diese Frage bleibt angesichts der Quellenlage letztlich Spekulation. So erscheint es zumindest doch als sehr"gewagt", wenn Barnes, S. 413 f. die Atomisten als "Humeianer"in weitestem Sinne bezeichnet, da sie auf eine Naturerklärung vermittelst animistischer oder generischer Vorstellungen verzichten und sich ihr Erlärungsmodell durchaus als Ereignisfolge (Atomkollision bestimmter Art - Entstehung des Endproduktes) verstehen läßt.
" Zum Problem des"Zufalls"in der Naturphilosophie der Atomisten und zu weiteren den Unterscheidungen innerhalb des Kausalitätsbegriffes vgl. W. K. C Guthrie, AHistory of Greek Philosophy, Vol. 11., Cambridge 1965, S. 414 ff. 20 Ansätze zu einer rein mechanischen Erklärung des Werdens der Dinge lassen sich ansatzweise auch schon vor den Atomisten, wie etwa bei Anaxagoras (500 v. Chr. bis 428 v. Chr.) nachweisen. Vgl. Diogenes Laertius Erster Band, S. 75 ff.; Burnet, S. 230 ff. Zur der Entwicklung mechanistischer Vorstellungen vor den Atomisten und ihrer Relevanz für die Entstehung des kausalen Denkens siehe Klowski, Der historische Ursprung des Kausalprinzips, Archiv für Geschichte der Philosophie, Band 48 (1966), S. 225,247 ff. (zu Anaxagoras insbesondere S. 258 - 263).
Kelsen, Causality and Retribution, S. 544 ff. mit weiteren Zitaten, hat demgegenüber diese Ansicht des Demokritos als ein Schema aus Aktion und Reaktion gekennzeichnet, das seine Herkunft aus dem Vergeltungsprinzip nicht leugnen könne. Die Analogie zu normativen Vorstellungen sei weiterhin offensichtlich, die ursprüngliche Gleichsetzung von Schuld und Ursache
21
I. Von den Anfängen des kausalen Denkens
25
3. Kausalität und Erklärung bei Aristoteles
Aristoteles stellte in seiner Philosophie den Begriff der Ursache in den Mittelpunkt eines umfassenden Erklärungskonzeptes für das gesamte Weltgeschehen. Ausgehend von der Prämisse, daß das Explanandum nur dann erschöpfend erklärt ist, wenn neben der Frage nach dem "woraus es ist"auch die Fragen nach dem"was es ist", dem"durch welchen Anstoßes ist"und dem"wozu es ist "beantwortet werden können, untergliederte er seinen als Explanans dienenden Begriff der Ursache entsprechend. 22 Zur Bezeichnung dieser Teilaspekte des Ursachenbegriffes sind die Termini "causa materialis", "causa formalis", "causa efficiens" und "causa fmalis" seit der Aristotelesrezeption durch die Scholastik gängig geworden. Im Hinblick auf die Geschichte unserer heutigen Kausalitätsvorstellungen, ist allein noch das Konzept der Aristotelischen "causa efficiens" von Bedeutung, da nur sie in einer kontinuierlichen Entwicklungslinie zu heutigen Begriffsbildungen steht,23 obgleich es sich hierbei, nach dem Verständnis des Aristoteles, letztlich nur um einen Ausschnitt aus dem umfassenden Begriff der Ursache als "Grund des Geschehens im Ganzen"24 handelt. Die in der Physik gegebene Erläuterung der "causa efficiens" als dem "Anstoß zu Wandel und Beharrung" offenbart eine der atomistischen Auffassung ähnliches, rein mechanisches Verständnis des Aristoteles. 25
im Begriff der "aitia" nicht aufgehoben, wenn auch nicht mehr in einen unmitelbaren Erklärungszusammenhang gestellt. 22 Vgl. Aristoteles, Physik, 11. Buch, Kapitel 3, 194 b; in der Textausgabe der Philosophischen Bibliothek Band 380, übersetzt von H. G. Zekl, Hamburg 1987, S. 63 f .. - Die Identifikation des Begriffes der Ursache mit dem der Erklärung wird bei Aristoteles nicht explizit vollzogen. Gleichwohl scheint es mir evident, daß es leitende Hinsicht bei der Explikation des Ursachebegriffes durch Aristoteles war, ein Konzept zu entwickeln, das dem im Regelfall bei Auftreten eines unbekannten Ereignisses entstehenden Erklärungsbedarf gerecht wird. Dieses ergibt sich insbesondere daraus, daß Aristoteies seinen Ursachebegriff anband der relevanten Fragestellungen entwickelt. Der durch sie formulierte Wissensbedarf (Woraus? Als was? Wodurch? Wozu?) bestimmt die Aristotelische Definition der diversen Ursachenbegriffe. Vgl. hierzu eingehend Richard Sorabji, Necessity, Cause and Blame, Perspectives on Aristotle's Theory, London 1980, S. 40 ff.
Zum Verhältnis der einzelnen Ursachenbegriffe zueinander und ihrer Bedeutung siehe Helene Weiss, Der Zufall in der Philosophie des AristoteIes, London 1942, S. 44 ff.
23
2'
Weiss, S. 83.
2!i
Vgl. dazu nur Weiss, S. 63.
26
1. Abschn.: Aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
Wie sich aus seiner Metaphysik, Buch VI, Kapitel 326 ergibt, ging auch Aristoteles davon aus, daß zumindest eine Causa efficiens ihren Effectus mit Notwendigkeit27 hervorbringt. 28 Dementsprechend erachtete er sowohl die Vergangenheit, als auch die Zukunft als "kausal geschlossen". Jeder Zustand der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt ist danach das notwendige Produkt seiner Causae zu einem davorliegenden Zeitpunkt.29
11. Kausalität als Grundlage für die Zuschreibung von Verantwortung: Das Kausalitätsverständnis der Stoa Eine erste bedeutende Funktionalisierung im Hinblick auf Zurechnungs- und Verantwortungsaspekte erfährt das Kausalitätsverständnis mit der Philosophie
26 In der hier verwendeten Textausgabe der Philosophischen Bibliothek, Band 307, Dritte Auflage, Hamburg 1989, deutsche Übersetzung von H. Bonitz, neubearbeitet von H. Seidl, Erster Halbband, S. 260 f. lautet diese Passage: "Denn fragt man: Wird dieses sein oder nicht? so ist die Antwort: Wenn jenes geschehen sein wird, im entgegengesetzten Falle aber nicht. Und dies wird stattfmden, wenn ein afideres eintritt. So wird man offenbar von einem bestimmten Zeitpunkt aus immer einen ZeitteiI hinwegnehmend bis zum gegenwärtigen Augenblick gelangen. 0 Und es gilt auch dasselbe, wenn jemand zu dem Geschehenen übergeht; denn alles dies, ich meine das Geschehene, findet sich schon in etwas. Alles Zukünftige also wird mit Notwendigkeit eintreten, ... ". 27 Aristotelts verwendet den Begriff der"Notwendigkeit"in vielfältiger Weise und mit durchaus unterschiedlicher Bedeutung. Die einer kausalen Beziehung beigelegte Vorstellung von Notwendigkeit ist dabei gänzlich verschieden von der"formalen "Notwendigkeit mit der etwa die Konklusion innerhalb eines syllogistischen Schlusses aus ihren Praemissen folgt. Was Aristoteles jeweils meint, wenn er außerhalb seiner logischen Erörterungen von"Notwendigkeit"spricht, ist je nach Kontext verschieden und zudem nicht immer eindeutig. Eingehend dazu Preus, Aristotle's Natural Necessity, in: Studi Internazionali di Filosofia, Vol. 1., Turin 1969, S. 91 ff.
So auch Gertrud E. M. Anscombe, Causality and Determination, Cambridge 1971, S. 2, die allerdings eine Passage aus dem IX. Buch, Kapitel 5 der Metaphysik (Philosophische Bibliothek Bd. 308, S. 115) als Beleg heranzieht. Anders Sorabji, S. 52 ff.
28
2. Inwieweit Aristoteles damit von einer umfassenden Determination alles Geschehens in der Welt ausging, ist ein in der Aristoteiesrezeption noch nicht ausdiskutiertes Problem. Vgl. dazu W. D. Ross, Aristotle's Metaphysics, Einleitung, Text und Kommentar, Oxford 1924, Kommentierung zu 1027 a 29 (S. 362 f.); D. M. Balme, Greek Science and Mechanism, Tbe Classical Quarterly, Vol. 33 (1939), S. 131 ff., sowie neuerdings eingehend Sorabji, insbesondere S. 143 ff., 227 ff. mit vielen weiteren Nachweisen.
n. Das Kausalverständnis der Stoa
27
der Stoa. 30 In Anknüpfung an die Tradition, gingen die Stoiker prospektiv von einer universellen und lückenlosen Determination des Weltgeschehens durch das göttliche"Fatum"3! und ex post betrachtend von ins Unendliche zuruckreichenden kausalen Dependenzrelationen ("Kausalketten") aus. 32 Zwischen Causa und Effectus vollzog sich nach den Vorstellungen der Stoiker ein mechanischer Prozeß, der als eine physisch existente Einwirkung der Causa auf den Effectus
Instruktive Darstellungen der Geschichte der Stoa und der vita ihrer Exponenten befmden sich bei Marcia L. Colish, The Stoic Tradition from Antiquity to the early Middle Ages, Vol. 1, Leiden 1985, S. 7 - 21 mit umfangreichen weiteren Nachweisen; sowie bei Max Pohlenz, Die Stoa, Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1948, S. 22 ff., 257 ff.; vgl. dazu auch Diogenes Laertius, Zweiter Band, Siebentes Buch, S. 7 ff. 30
Der in dem stoischen Begriff des "Fatums" , einem Synonym für Notwendigkeit", wiederkehrende Gedanke einer allmächtigen göttlichen Weltvernunft dürfte auf Herakleitos zurückgehen, der schon um 500 v. Chr. lehrte, daß das gesamte Naturgeschehen einem einzigen Weltgesetz ("Logos") unterworfen sei. Vgl. hierzu Capelle, S. 126 f.; Bumet, S. 113 f., sowie Walter Eckstein, Das antike Naturrecht in sotialphilosophischerBeleuchtung, WienlLeipzig 1926, S. 99 ff. 31
32 Alexander von Aphrodisias, De fato, xxn, (englische Übersetzung in: R. W. Sharples, Alexander of Aphrodisias on fate, Text, Übersetzung und Kommentar, London 1983, S. 70 f.) beschreibt die stoische Kausalauffassung wie folgt:" Aber alles, was in das Sein gelangt ist, hat etwas anderes im Gefolge, das von ihm als seiner Causa mit Notwendigkeit abhängt und alles, was in das Sein gelangt, hat etwas ihm Vorausgehendes, mit dem es als seiner Causa verbunden ist. Denn im Universum ist weder etwas, noch wird etwas sein, das ohne causa in das Sein gelangt ist, da es nichts unter den Dingen in ihm gibt, das abgetrennt und unverbunden von allen Dingen ist, die ihm vorausgegangen sind. () Und sie sagen, daß etwas ohne causa in das Sein gelangt, sei dem vergleichbar und ebenso unmöglich, daß etwas aus etwas, was nicht ist, in das Sein gelangt. Die Ordnung des Ganzen, die dem entspricht, reicht offensichtlich und unaufhörlich von Unendlichkeit zu Unendlichkeit. () Das Fatum selbst, die Natur und die Vorstellung gemäß derer das Ganze geordnet ist, behaupten sie sei Gott; es ist in allem, was ist und sein wird enthalten und stellt auf diese Weise die individuelle Natur eines jeden Dinges in den Dienst der Ordnung des Ganzen. Dieses ist, um es kurz zu fassen, ihre Auffassung über das Fatum. "- Darüber, daß es sich bei der von Alexander von Aphrodisias dargestellten und kritisierten Lehre um die der Stoa handelt, besteht in der Wissenschaft Einigkeit. Vgl. dazu nur Long, Stoic Determinism and Alexander of Aphrodisias De Fato, Archiv für Geschichte der Philosophie, Vol. 52 (1970), S. 247 f.; R. W. Sharples, Kommentar zu De Fato xxn, S. 152 ff.; vgl. auch die Darstellung der Lehren des Chrysippos, eines Schülers des Zenon bei Diogenes Laertius Zweiter Band, S. 76 f.; sowie Samuel Sambursky, The Pysical World ofthe Greeks, London 1956, S. 169 ff.; M. L. Colish, S. 31 f.; Max Pohlenz, S. 101 f. - Häufig diskutiertes und bereits von den Stoikern erkanntes Problem war die Frage nach der Möglichkeit freien und damit verantwortlichen menschlichen Handelns. Vgl. dazu insbesondere M. T. Cicero, De Fato, Randziffer 40 ff. (in der Ausgabe von Karl Bayer mit deutscher Übersetzung, München 1979, S. 74 ff.); Stough, Stoic Determinism and Moral Responsibility, in lohn Michael Rist: The Stoics, Berkeley/LosAngelcs/London 1978, S. 203 ff.; Reesor, Necessity and Fate in Stoic Philosophy, in: Rist S. 187 ff.; lohn Michael Rist, Stoic Philosophy, Cambridge 1969, S. 128 ff.; Long, S. 258.
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1. Abschn.: Aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
verstanden wurde. 33 Als Causa kommen danach prinzipiell nur Ereignisse in Betracht, die den Charakter eines aktiv gestaltenden Faktors haben. Gültiges Paradigma für eine Entscheidung darüber, ob ein Ereignis in diesem Sinne als eine Causa beschrieben werden kann, war die Vorstellung von einem durch aktives Handeln seine Umwelt verändernden Menschen. 34 Soweit ersichtlich, erfolgt erstmals in der Philosophie der Stoa eine bewußte Selektion unter den als potentielle Causae in den Blick zu nehmenden Antecedensfaktoren. Neben die Beschränkung auf Antecedensereignisse, die als aktiv gestaltende Faktoren aufgefaßt werden können und der damit verbundenen Elimination von Zuständen und negativen Faktoren aus dem Causa-Begriff, tritt eine weitere, offensichtlich an externen Relevanzkriterien orientierte Betrachtung, die sich in einer unterschiedlichen Bewertung der diversen Causae niederschlägt. 35 So soll es nach Auffassung des Chrysippos Haupt- (causae perfecti et principales) und Nebenursachen (causae adiuvantes et proximae) geben. 36 Sextus Empiricus berichtet von einer Dreiteilung in für sich selbst wirkende Ursachen (= Faktoren, die kraft ihrer Aktivität allein den Effectus herbei-
33 Vgl. Sextus Empirikus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, III. Buch, Ziffer 14 (in der deutschen Übersetzung von M. Hossen/elder, Frankfurt/Main 1985, S. 227): "Deshalb wäre, wie gesagt, allgemeiner die Ursache wohl dasjenige, durch dessen Tätigkeit die Wirkung entsteht. u; Seneca, Epistula Nr. LXV aus der Sammlung der"Epistulae morales ad Lucilium"auszugsweise in deutscher Übersetzung abgedruckt in Seneca, Vom glückseligen Leben, herausgegeben von H. Schmidt, 14. Auflage, Stuttgart 1978, S. 228 ff., 229 schreibt: "Die Stoiker nehmen an, daß es nur eine Ursache gibt: das Wirkende. u_ Die Art und Weise dieser Veränderung ist ihrerseits durch die Natur des"affektiertenuGegenstandesdeterminiert. So berichtet M. T. Cicero, De Fato, Randziffer 42, Zeile 6 ff. (S. 81) von einem berühmten Beispiel des Chrysippus wonach zwar eine Walze, um in Bewegung zu geraten, einen äußeren Anstoß benötige, die Möglichkeit und die Art ihrer Fortbewegung aber bereits in ihr angelegt sei. 34 So explizit Clemens von Alexandria, Stromateis, I. Buch, Kapitel 17, § 82, Ziffer 3 (in der deutschen Übersetzung von Hermann Overbeck, Basel 1936, S. 204). Vgl. dazu auch Michael Frede, Tbe Original N otion of Cause, abgedruckt in ders., Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, S. 125, 130 ff.
" Haben mehrere Faktoren die Eigenschaften einer Causa, so erkannten die Stoiker prinzipiell das Vorliegen einer Ursachenpluralität an. Nach Alexander von Aphrodisias waren dabei durchaus vielschichtige Wirkungsverknüpfungendenkbar. Alexander von Aphrodisias, De Fato, XXII (S. 71) schreibt über die Stoiker: "Sie sagen, daß für alle Causae gilt, daß es unmöglich ist, daß dann, wenn alle Umstände für beide, die Causa und das wofür diese die Causa ist, dieselben sind, die Sache einmal in bestimmter Weise nicht abläuft und ein andermal gleichwohl. "Diese Passage läßt deutlich erkennen, daß aus der Sicht der Stoa neben der causa auch noch andere Umstände existieren, die, obgleich für den Eintritt des effectus notwendig, nicht als relevant aufzufassen sind. 36
Vgl. den Bericht bei M. T. Cicero, De Fato, Randziffer 41 (S. 79).
11. Das Kausalverständnis der Stoa
29
führen), Mitursachen (= Faktoren, die mit gleicher Intensität wirken und zusammen den Effectus hervorbringen) und Hilfsursachen (= Faktoren, die den Eintritt des Effectus lediglich erleichtern, für diesen aber keine notwendigen Bedingungen sind).37 Die von Sextus Empiricus, aber auch von Chrysippos vorgenommenen Differenzierungen wirken wie eine Vorwegnahme heutiger Unterscheidungen von Alleintäterschaft, Mittäterschaft und Beihilfe. Nach dem Kausalitätsverständnis der Stoa enthält der Begriff der Causa offensichtlich nicht mehr nur bloß deskriptive, sondern auch bereits askriptive38 Aspekte, die auf ein Verantwortlichkeitsurteil zusteuern. 39 Das Abstellen auf das Paradigma des handelnden Menschen40 und die angeschlossenen Differenzierungen innerhalb des Causa-Begriffes erscheinen demgemäß als Ausdruck einer dem stoischen Kausalitätsverständnis unterliegenden Vorstellung gestufter Verantwortlichkeit. 41
37 Sextus Empiricus, 111.,15, (S. 227). Weitere Differenzierungenund Einteilungen waren durchaus gängig. Als Beispiel sei hier auf die Ausführungen bei M. T. Cicero, Topica, Kapitel XV - XVß (in der Ausgabe mit deutscher Übersetzung durchH. G. Zekl, Philosophische Bibliothek Band 356, Hamburg 1983, S. 40 - 47) verwiesen.- Vgl. dazu auch Dieter Nörr, Kausalitätsprobleme im klassischen römischen Recht, Festschrift für Wieacker, Göttingen 1978, S. 115, 136 ff. Den Versuch, ein konsistentes System der stoischen Causa - Begriffe zu erstelIen, unternimmt Frede, S. 139 ff.
,. Zu den Begriffen deskriptive und askriptive Sprache vgl. nur Joachim Hruschka, Strafrecht, Berlin 1983, S. 415 ff. ,. Vgl. dazu eingehend Frede, S. 130 ff. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist auch die Argumentation des Clemens von Alexandria, mit der er den stoischen Causa-Begriff gegen den Angriff, daß auch das Unterlassen der Verhinderung des Eintrittes eines Ereignisses dessen Causa sein könne, verteidigt. Clemens (Stromateis, I. Buch, 17. Kapitel, § 82, Ziffer 6 [ deutsche Übersetzung)) wendet ein, daß es doch wohl widersinnig sei, denjenigen, der einen Diebstahl nicht verhindert hat, als Dieb verurteilen zu wolIen. Ebenso könne nicht Gott deshalb Urheber des Bösen sein, weil er dies nicht verhindert habe (Stromateis § 84, Ziffer I, [ deutsche Übersetzung)). Offensichtlich ist bei Clemens von Alexandria der Gedanke der Verantwortlichkeit bzw. Vorwerfbarkeit integraler Bestandteil seines Kausalitätsverständnisses. Nicht Urheber und damit Causa ist derjenige, dem der Erfolg unter ethischen Gesichtspunkten nicht zur Last gelegt werden kann. 40
41 Frede, S. 131. - Vergegenwärtigt man sich, daß der Naturdeutung im Rahmen der Philosophie der Stoa nur geringes Gewicht zukam und sich zumeist nur als Ableitung aus ethischen und theologischen Fundamentalaussagen darstelIte, so erscheint es naheliegend, daß zumindest bei Kausalanalysen innerhalb eines ethischen oder juristischen Kontextes primär Aspekte der Zuweisung von Verantwortlichkeit im Vordergrund standen und den Causa-Begriff maßgeblich beeinflußt haben.
30
1. Abschn.: Aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
Erstmals taucht auch bei den Stoikern der Gedanke auf, daß die kausale Gesetzmäßigkeit aus der Beobachtung einer ausnahmslosen Wiederholung der gleichen Ereignisfolge erschlossen werden kann. Gleichförmigkeit wird hier erstmals als Ausdruck immanenter Regularität verstanden, die wiederum auf einem göttlichen Gesetz beruht. Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen, denn sie unterfallen stets demselben göttlichen Ablaufgesetz. 42 Induktives Denken wird auf diese Weise erstmals explizit als der maßgebliche Vorgang bei der Wahrnehmung von Kausalverläufen erkannt. Gleichwohl bleiben die Kausalgesetze nach stoischer Vorstellung Elemente der Seinswelt und sind Ausdruck göttlichen Ordnungswillens; allein ihre Aufdeckung ist Sache eines induktiven Denkprozesses. 43
Alexander von Aphrodisias, De Fato, XXII (S. 71) schreibt über die Stoiker: "Sie sagen, daß für alle causae gilt, daß es unmöglich ist, daß dann, wenn alle Umstände für beide, die causa und das wofür diese die causa ist, dieselben sind, die Sache einmal in bestimmter Weise nicht abläuft und ein andennal gleichwohl. Denn würde dieses geschehen, so gäbe es eine Bewegung ohne causa. "Siehe dazu auch: De Fato, X (S. 53). Eine eingehende Analyse dieser Passagen fmdet sich bei Sorabji, S. 64 f. mwN. 42
Vgl. M. T. Cicero, De Divinatione, Liber Primus, Ziffer 109 (S. 297): "Was da nämlich durch Eingeweide, Blitze, Wundermärchen und Sterne sich offenbarend vorgestellt wird, ist durch lang andauernde Beobachtung festgestellt worden. Aber auch über alles andere an den Dingen schafft lange Erfahrung mit ausgedehnter Beobachtung ein erstaunliches Wissen; dieses kann auch ohne Einfluß und Anstoß der Götter sein, da doch das, was sich aus und durch etwas ereignet und was die Sache ausmacht durch häufig sich wiederholende Wahrnehmungen zu erkennen ist. "Vgl. dazu auchSambursky, S. 174 f. - Im Kontext dieses archetypischen induktiven Räsonierens erlangte auch der Gedanke der Ursachenkomplexitäteine eigentümliche, bis heute im Prinzip gültige, affirmative Funktion. Die Vorstellung, daß ein singuläres Ereignis nur relativ zu einem Komplex von koinzidenten Ereignissen als Causa in den Blick genommen werden kann, ermöglicht es, enttäuschte Regularitätserwartungen zu verarbeiten. Tritt ein erwartetes Ereignis nicht ein, so kann dieses zwanglos mit der nicht erfaßten Existenz eines hemmenden Faktors erklärt werden. Dem entspricht die stoische Vorstellung von sog. verhaltenen Causae. So soll es möglich sein, daß in den Dingen anstelle der erwarteten Träger des determinierenden Logos ("logoi spermatikoi") erst später in Erscheinung tretende "Keime "enthalten sind, die dann eine Abweichung von einer zunächst erwarteten Regularität bewirken. Wenn sich etwa bei einem heranwachsenden Menschen später Mißbildungen ausprägen, so ist dieses nicht Ausdruck einer Irregularität, sondern durch das Vorhandensein entsprechender, regulär wirkender, aber nicht erwarteter Ursachen bedingt, die lediglich erst später in erscheinung treten. Vgl. dazu M. L. Colish, Vol. 1, S. 32. 43
m.
Zweifel am Determinismus im mittelalterlichen Denken
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111. Zweifel am Determinismus: Modeme Erkenntniskritik im mittelalterlichen Denken Essentialium mittelalterlichen Philosophierens war ein prinzipielles Streben nach Kontinuität zum Denken der Antike. 44 So bemühte sich insbesondere die Scholastik um eine Rezeption antiker Philosophie und dabei primär der des Aristoteles, dessen Lehre das mittelalterliche Kausalitätsverständnis praktisch allein geprägt hat. 4s Dabei wird das Denken in kausalen Relationen zum Dogma verabsolutierf6 und in die christliche Schöpfungsvision eingebunden. 47
Vgl. Kluxen, Charakteristik einer Epoche; zur Gesamtinterpretation der Philosophie des Lateinischen Mittelalters, in: Wissenschaft und Weltbild, 28. Jahrgang, Wien 1975, S. 83, 86; Wilhelm Windelbandt, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 17. Aufl., herausgegeben von Heim Heimsoeth, Tiibingen 1980, S. 226 f .
44
., Die Philosophie des Mittelalters ist gekennzeichnet von einer Vielzahl von AristoteIeskommentaren. Thomas von Aquin allein verfaßte Kommentare zu 8 Werken des Aristoteles. Vgl. S. Thomae Aquinatis, Opera Omnia, Band 4 mit dem Untertitel: Commentaria in Aristotelem et alios, Hrsg. Pater Robertus Busa, Stuttgart -Bad Cannstadt 1980. Von Seiten der arabischen Denker sind insbesondere die AristoteIeskommentare von Averroes und Avicenna zu nennen. Siehe dazu auch"The Commentators", Appendix zu: Simplicius, On Aristotle Physics 6, englische Übersetzung von David Konstan, London 1988, S. 141 ff. - Die aristotelische Vierteilung des Begriffes der Causa wird im Mittelalter regelmäßig übernommen. Vgl. etwa Avicenna, Danish Nama - i 'ala'i (Das Buch der wissenschaftlichen Erkenntnis), englische Übersetzung mit Kommentar von Parwiz Morewedge unter dem Titel: The Metaphysica of Avicenna (ibn Sina), London 1973, S. 41 f. und dazu den Kommentar von Morewedge S. 208 f.; Averroes, Tahafut al - Tahafut (Die Widerlegung der Widerlegung), S. 521, englische Übersetzung von Siman von den Bergh, Oxford 1954, Vol. I. S. 319; Thomas von Aquin, In octo libris Physicorum Aristotelis expositio, liber 11., lect. 10, numero 15, S. 59 ff. I 74 und dazu Ion Aertsen, Nature and Creature, Thomas Aquina's Way of Thought, Leiden I New York I Kopenhagen I Köln 1988, S. 11 f. Gleiches gilt für die Differenzierung des AristoteIes in"causa per se"und"causa per accidens"; sowie die damit verbundene Problematik der"Notwendigkeit"kausalerRelationen. Vgl. Thomas von Aquin, In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, liber VI, lect. 3, S. 447 f. und die Darstellung bei Aertsen S. 96 ff. mit umfangreichen weiteren Nachweisen . .. Besonders instruktiv hierzu ist die Erwiderung Averroes auf die gleich noch darzustellende Lehre al-Gazzalis in Tahafutal-Tahafut, S. 519ff., S. 318f., insbesondereS. 522, S. 319: "Verstand ist nun aber nichts anderes als Erkenntnis der Dinge mit ihren Ursachen () und derjenige, der Ursachen verneint, der muß auch die Existenz von Verstand ablehnen. Die Logik impliziert die Existenz von Ursache und Wirkung, und Wissen über diese Wirkungen kann nur durch das Erkennen ihrer Ursachen erworben werden. Ablehnung der Ursachen impliziert die Verneinung von Erkenntnis, und die Verneinung von Erkenntnis impliziert, daß nichts in dieser Welt tatsächlich erkannt werden kann, und daß das, von dem man annimmt, es sei erkannt, ist nicht mehr als eine Meinung, für die es weder einen Beweis, noch eine Definition gibt, und daß die wesentlichen Merkmale, aus denen sich eine Definition zusammensetzt, leer sind. Derjenige, der die Notwendigkeit eines jeden Gegenstandes der Erkenntnis verneint, muß annehmen daß eben diese, seine
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1. Abschn.: Aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
Für die modeme Kausalitätsdiskussion grundlegende neue Aspekte fmden sich erst bei zwei diesem Dogmatismus entgegentretenden Außenseitern des Geisteslebens ihrer Zeit: dem Araber Mohammed Ibn Mohammed AlGazzali48 und später dem Franzosen Nikolaus von Autrecourt. 49
eigene, Behauptung nicht notwendig eine Erkenntnis darstellt. "Vgl. dazu auch: Harry Austryn Wolfson: The Philosophy of the Kalam, Cambridge (Mass.) 1 London 1976, S. 553. 47 So erscheint für die Philosophie des Mittelalters Gott als die eine uranfängliche erste Causa, zu der alles Existierende als ein stets notwendiger und niemals akzidentieller Effectus über scheinbar endlos lange Kausalketten in einer Dependenzrelation steht. Vgl. 7homas von Aquin, In duodecim Iibros Metaphysicorum Aristotelis expositio, Iiber 6, lectio 3, numero 19, S. 448:" Sed causa primis gradus est simpliciter universalis: eius enim effectus proprius est esse: unde quicquid est, et quocumque modo est, sub causalitate et ordinate ilIius causae proprie continetur. "und, numero 26:"Relinquitur igitur quod omnia, quae hic fiunt prout ad priman causam divinam referuntur, inveniuntur ordinata et non per accidens existere; Iicet per comparationem ad alias causas per accidens esse inveniantur. Et propter hoc secundum fidem catholicam dicitur, quod nihil fit temere sive fortuito in mundo, et quod omnia subduntur divinae providentiae. "- Siehe auch das sog.: "Liber de causis", unter dem Titel: Über das reine Gute, bekannt unter dem Namen "Liber de causis"im Auftrag der Görres-Gesellschaft aus dem arabischen übersetzt und bearbeitet von Otto Bardenhewer, Freiburg 1882. Diese im Mittelalter einflußreiche Schrift eines Anonymus, die lange Zeit Aristoteles zugeschrieben wurde, ist tatsächlich aber wohl das Werk eines arabischen Philosophen und wurde zuerst in arabischer Sprache abgefaßt. Vgl. Otto Bardenhewer S. 37 ff. Diese Schrift schließt mit der These, daß es als erste Ursache ein "wahres erstes Eines"geben müsse (§ 31, S. 117 f.). Die Rezeption dieser Schrift durch die christliche Philosophie des Mittelalters führte zur Gleichsetzung dieses Topos des "wahren ersten Einen "mit der christlichen Gottesvorstellung. Vgl.: 7homas von Aquin: Super Librum de Causis expositio, herausgegeben von H. D. Saffrey, Fribourgh 1 Louvain 1954, S. 144 f .
.. (1059 - 1111 n. Chr.) Eine Darstellung der wenigen Fakten, die aus dem Leben des al-Gazzali bekannt sind, sowie eine Schilderung des politischen, philosophischen und religiösen Umfeldes, findet sich bei William Montgomery Watt, Muslim Intellectual, a Study of al - Ghazali, Edinburgh 1963, S. 7 - 24,57 f., 127, 147 f. und öfter; vgl. auch: ders., Islamic Philosophy and Theology, Edinburgh 1964, S. 91 ff. - Die Kausalitätskritik Al-Gazzalis ist Bestandteil einer umfassenden Streitschrift gegen die herrschende Philosophie die im Jahre 1095 n. Chr. unter dem Titel Tahafut al Falasifah (Die Widerlegung der Philosophen) erschien (englische Übersetzung von Sabih Ahmad Kamali, Nachdruck, Lahore 1963. Längere wörtliche Auszüge sind in der Replik Averroes: Tahafut al-Tahafut (Die Widerlegung der Widerlegung), englische Übersetzung enthalten. Neben Averroes in der angeführten Schrift (vgl. dazu auch: H. A. Wolfton: The Philosophy of the Kalam, S. 551 ff.) haben sich auch andere Denker mit der Kritik al-Gazzalis auseinandergesetzt. Genannt sei hier etwa der jüdische Gelehrte (Judah) Haievi, dessen Replik bei H. A. Wolfton: Judah Halevi on Causality and Miracles, Meyer Waxman Jubilee Volume, Chikago 1Jerusalern 1966, S. 137, 139 f. dargestellt ist. Nikolaus von Autrecourt (de U1tricuria) wurde etwa 1300 in der Gegend um Verdun geboren. Vgl. Dominik Perler in der Einleitung zu: Nikolaus von Autrecourt, Briefe, herausgegeben von Ruedi Imbach und Dominik Perler, Hamburg 1988, S. IX ff.; Rashdall, Nicholas de Ultricuria, a Medivial Hume, Proceedingsofthe Aristotelian Society, New Series, Vol. 7, London 1906/1907,
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ßI. Zweifel am Detenninismus im mittelalterlichen Denken
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Beide stellen, ob unabhängig voneinander bleibt unklar, lange noch vor Hume die revolutionäre These auf, daß das überkommene Kausalitätsverständnis weder logisch und vor allen Dingen auch nicht empirisch beweisbar sei. Ein tragfähiger logischer Beweis scheitert ihrer, der aristotelischen Syllogistik verpflichteten Ansicht nach an der Unmöglichkeit eines wahrheitskonservierenden Erweiterungsschlusses. so Für eine empirische Bestätigung der Annahme kausaler Notwendigkeitsrelationen fehlt es an einem entsprechenden, wohl durch unmittelbare Anschauung zu vermittelnden, einzig beweistauglichen Evidenzerlebnis. 51 Alltäglichen Kausalaussagen, wie etwa der Sentenz "C verursacht E", liegt, so der von beiden für gültig erachtete Befund, in aller Regel nicht mehr als eine bloße analoge Regularitätserfahrung zugrunde, die darin besteht, daß in der Vergangenheit wiederkehrend beobachtet werden konnte, daß auf das Auftreten eines C stets ein E folgte. Eine unmittelbare WahmehS. 1, 3 ff. - Inwieweit Nikolaus von Autrecourt die ThesenAl-Gazzalis kannte, ist unklar. Wolfson, Nikolaus of Auttecourt und Ghazali's Argument against Causality, Speculum, a Journal of Medieval Studies, Vol. 44 (1969), S. 234 ff. vertritt die Ansicht, daß Nikolaus von Autrecourt die Thesen Al-Gazzalis via einer in Europa verfügbaren lateinischen Übersetzung von Averroes' Tahafut aI Tahafut gekannt haben muß. Sein stärkstes Argument stützt sich auf die Tatsache, daß Nikolaus von Autrecourt sich in seinem zweiten Brief an Bernhard von Arezzo (S. 26) zur Erläuterung seiner Kritik am herrschenden Kausalitätsverständnis des gleichen Beispieles bedient, wie Al-Gazzali aus gleichem Anlaß in seinen Tahafut al - Falasifah. Dieses Beispiel wird auch bei Averroes zitiert; vgl. Tahafut al - Tahafut, S. 517 f., in der englischen Übersetzung, S. 316). Beide demonstrieren ihre Ansicht anhand des Bildes von der sich entzündenden Baumwolle bei Annäherung an das Feuer. '" So gibt es keinen gültigen Schluß von der Wahrheit des Satzes" A existiert" auf die Wahrheit des Satzes"B existiert", denn diese zweite Aussage ist nicht, auch nicht partiell in der ersten bereits enthalten. Ist dem aber so, so kann die Wahrheit der Aussage, "wenn A, dann B"nicht logisch bewiesen werden. Vgl. Al- Gazzali, Tahafut aI Falasifah, S. 185:"Das eine ist nicht das andere; das andere ist nicht das eine. Die Bestätigung des einen impliziert nicht die Bestätigung des anderen, noch impliziert dessen Vemeinung die Vemeinung des anderen."; Nikolaus von Autrecourt, Zweiter Brief an Bernhard von Arezzo, (13 - 21), S. 20 - 29; vgl. auch: Brief an Egidius, (2.), S. 61. Siehe zum ganzen auch Copleston, The Logical Empirism of Nicholas of Autrecourt, Proceedingsof the Aristotelian Society, New Series, Vol. 74, London 1974, S. 249,255 f.; Julius Rudolph Weinberg: Nikolaus of Auttecourt, New York 1969, S. 32 ff., 36. " Wie sich beide einen derartigen"empirischen Evidenzbeweis"vorstellten, bleibt unklar. Offensichtlich ging zumindest Nikolaus von Autrecourt davon aus, daß evidentes Wissen auch im Wege der Beobachtung der Außenwelt gewonnen werden kann. Im Zweiten Brief an Bernhard von Arezzo, (25), S. 29 f. schreibt er:" ... ut , quia mihi fuit evidens a1iquando, quod quando ponebam manum ad ignem, eram calidus, .. "( ... weil es mir irgendwann einmal evident war, daß mir deshalb heiß wurde, weil ich die Hand an das Feuer hielt, ... ). Copleston. S. 253 f. nimmt an, daß Nikolaus von Autrecourt hierbei eine Art"intuitives Wissen"im Sinne Oc/,hams als Erkenntnisgrundlage anerkannte. Vgl. hierzu die Ausführungen bei T. K. Scott jr., Nicholas of Autrecourt, Buridan and Ockhamism, Journal of the History of Philosophy, Vol. 9 (1971), S. 15, 28 ff. 3 Quentin
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1. Abschn.: Aus der Geschichte des Begriffes der Kausalität
mung einer physisch existenten Verknüpfung der Entitäten C und E gibt es darüber hinaus nicht. Eine solche Regularitätserfahrung ist aber bestenfalls geeignet, eine Wahrscheinlichkeitsprognose über das zukünftige Auftreten von C - E - Sequenzen zu begründen, nicht aber das Postulat eines entsprechenden deterministischen Sukzessionsgesetzes. 52 Wohl erstmals in der Geschichte der Philosophie wird hier das Denken in kausalen Relationen auf der Grundlage eines erkenntniskritischen Ansatzes infrage gestellt und so die heute noch geführte, letztlich erst von Hume eröffnete, modeme Diskussion praktisch vorweggenommen. 53
'2 Vgl Nikolaus von Autrecourt, Tractatus universalis ad videndum an sermonem Peripateticorum fuerint demonstrativi, regelmäßig als "Tractatus exigit"bezeichnet, abgedruckt bei J. Reginald O'Donnell, Nicholas of Autrecourt, Mediaeval Studies, Vol. 1., Toronto 1939, S. 179 ff., 237: "Tertia decima conclusio est quod de scitis per experientam iIlo modo quo dicitur sciri rheubarbarum sanat choleram vel adamas attrahit ferrum, habetur solum habitus coniecturativus, non certitudo, cum probatur quod certitudo per propositionem quiescentem in anima quae est iIlud quod producitur ut in pluribus a causa non libera est effectus eius naturalis; quaero quid appellas causam naturalern; vel iIlam quae produxit praeteritum ut in pluribus et adhuc producet in futurum si duret et applicetur? Et tunc minor non est scita, esto quod aliquid sit productum ut in pluribus; non est tarnen certum an sic debeat esse in futurum. "(Die dreizehnte Schlußfolgerung ist, daß die durch Lehrsätze aufgrund von Erfahrung, etwa der Art wie man sagt, man wisse, Rharbarber heilt Cholera oder ein Magnet zieht Eisen an, ausgedruckte Kenntnis allein nur mutmaßender Natur ist, nicht aber sicher, denn das, was sicher ist, wird auf der Grundlage einer in der Seele ruhenden Proposition bewiesen, wie etwa jene eine ist, wonach das, was in den meisten Fällen durch eine unfreie Ursache hervorgebracht wird, deren natürliche Wirkung ist. Ich frage, was nennst du eine natürliche Ursache; etwa jenes, was in der Vergangenheit in den meisten Fällen etwas hervorgebracht hat und von jetzt an hervorbringen wird, wenn es fortbesteht und in Anwendung bleibt? Nun ist aber der Untersatz nicht passend, er urnfaßt einigermaßen, was in den meisten Fällen hervorgebracht worden sein mag; es ist gleichwohl nicht sicher, ob es so bestimmt ist, daß dieses auch in der Zukunft so geschehe.) Vgl. auch: Zweiter Brief an Bemhard von Arezzo, (25), S. 28 ff.; sowie dazu, Weinberg, S. 69 f.; Copleston, S. 256 f.
" Zum philosophiehistorischen Stellenwert dieser Einsichten vgl. auch Copleston, S. 260 ff.; Rashdall, S. 16 ff. - Im Gegensatz zu der eindeutig erkenntniskritisch orientiertem Perspektive des Nikolaus von Autrecourt ist die Quelle der Argumentation Al-Gazzalis ein rigoroser religiöser Fundamentalismus. Kemthese Al-Gazzalis ist die Behauptung eines Widerspruches der Annahme notwendiger Ereignisfolgen, also der Vorstellung, daß auf das Causa-Ereignis A das EffectusEreignis B mit Notwendigkeit folgt, zur Vorstellung göttlicher Allmacht. Ein allmächtiger Gott kann an kausale Relationen nicht gebunden sein. Die erkenntnistheoretischen Argumente AlGazzalis haben innerhalb seines Konzeptes nur eine gewisse Hilfsfunktion.
Zweiter Abschnitt Das Kausalitätsverständnis in der modernen Wissenschaftstheorie I. Seine Grundlagen 1. David Hume
Rahmen und notwendiger Verständnishintergrund für die Hume'sche Kausalitätsanalyse ist sein Entwurf einer Grundstruktur menschlicher Wahrnehmungsrezeption, den er offensichtlich für ein gesichertes Ergebnis empirischer Exploration hielt. I So unterteilt er die, wie er es nennt, "Perceptions" des Geistes in zwei Gruppen: "Eindrücke" und "Vorstellungen". Unter "Eindruck~ ( "impression ") versteht er dabei das unmittelbare, ungefilterte sinnliche Wahmehmungserlebnis; während er mit dem Begriff der "Vorstellung " ( "idea") ein Destillat dieses bloßen Affektes charakterisiert, das von der konkreten Wahrnehmungssituation abgelöst und als eine Art "idee fixe" in den Fundus des Geistes eingestellt wird, um in der Zukunft bei dessen Operationen, Hume spricht von "Denken und Urteilen" ("thinking and reasoning"), als Parameter o. ä. zur Verfügung zu stehen. 2 Hiernach vermag der menschliche Geist
I Hume geht es nicht um die Erarbeitung oder Überprüfung theoretischer Konzepte. Sein Gegenstand ist der Mensch als seine Umwelt rezipierendes und handelnd gestaltendes Subjekt. Er nähert sich seinem Analysandum in der Art und Weise eines Naturwissenschaftlers; sein Material ist der empirisch gewonnene Befund. Hume, Ein Traktat über die Natur des Menschen, Einleitung, deutsche Übersetzung von Tbeodor Lipps, Hamburg 1978, S. 3 f.: "Das einzige Mittel, von dem Erfolg in unseren philosophischen Untersuchungen zu erhoffen ist, ist also dies: wir müssen 0 geradenwegs auf 0 den Mittelpunkt dieser Wissenschaften losgehen, auf die menschliche Natur selbst; 0 Wie die Lehre vom Menschen die einzig feste Grundlage für die anderen Wissenschaften ist, so liegt die einzig sichere Grundlage, die wir dieser Wissenschaft geben können, in der Erfahrung und Beobachtung". Eine eingehende Darstellung der Quellen des Hume'schen Denkens bei Thomas Reid (1710 - 1796),/saac Newton (1643 - 1727) und Francis Hutcheson (1694 - 1747) fmdet sich bei Norman Kemp Smith: Tbe Philosophy of David Hume, London 1949, S. 3 ff.
2
Vgl.: Traktat, Erstes Buch, I. Teil, l. Abschnitt, S. 8 ff.
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
Vorstellungen, etwa wie die einer wie auch immer gearteten Verknüpfung von Causa und Effectus, nur auf der Grundlage vorangegangener analoger sinnlicher Wahrnehmungen zu entwickeln3 • Eine quasi schöpferische Vorstellungsgabe ist der menschlichen Natur fremd. Auf der Basis dieses Strukturmodells analysiert Hurne in der Folge das für das Denken in Wissenschaft und Alltag gleichermaßen repräsentative deterministische Kausalitätsverständnis seiner Zeit\ dessen Wesensmerkmal er in der Vorstellung sieht, daß die Causa den betreffenden Effectus notwendig zur Folge habe müsse oder in konditionalen Termen ausgedrückt: die Causa stets als eine hinreichende Bedingung für den Eintritt des Effectus beschrieben werden kann. 5 Hume stellt nun fest, daß der hinter diesem Verständnis stehenden "Vorstellung" einer kausalen Notwendigkeitsrelation6 kein entsprechender sinnlicher "Eindruck" gegenübersteht. Zeitlich aufeinanderfolgende Ereignisse werden prinzipiell nur als bloße Sukzessionen erkannt; physische Zusammenhänge im Sinne eines wie auch immer gearteten "Erzeugens " eines Subsequensereignisses
Rume charakterisiert dieses von ihm fiir empirisch nachweisbar gehaltene Phänomen als die Priorität der Eindrucke vor den Vorstellungen. Vgl. Traktat, Erstes Buch, I. Teil, 1. Abschnitt, S. ISf.
3
• Weinberg, Hume's Theory of Causal Belief, abgedruckt in: ders., Ockham, Descartes and Hume, London 1977, S. 92 ff. I 94 spricht insoweit von dem "allgemein in der westlichen Welt akzeptierten Kausalbegriff, angefangen von den Vorsokratikern bis hin zu Rumes Zeitgenossen". Teilweise wird behauptet, die Causa sei nach der Konzeption Rumes nicht nur eine hinreichende, sondern auch eine notwendige Bedingung fiir die Entstehung des Effectus (vgl. Rartfllonore, Causation in the Law, S. 18; ihnen folgend Renry McCloskey, John Stuart MilI: A Critical Studie, London I New York 1971, S. 38). Diese These stimmt nur insoweit, als Rume seiner konkreten Analyse äußerst vereinfachte Sachverhalte zugrunde legt,indem er davon ausgeht, daß in der konkreten Situation, in der kausale Relationen aufgesucht werden, grundsätzlich fiir jedes EffectusEreignis nur ein bestimmtes Antecedensereignis existiert, das als causa in den Blick genommen werden kann. Die vorangegangene Isolierung einer Eins-zu-Eins -Ereignissequenz wird von Hume quasi vorausgesetzt. In einer solchen Welt ist denknotwendigjedes Causa-Ereignis auch notwendige Bedingung fiir den Eintritt des Effectus - Ereignisses. Vgl. Alfred lules Ayerfllume, Oxford 1980, S. 67. Anhaltspunkte dafiir, daß Rume annahm, eine causa könne nur eine unabhängig von der konkreten Situation per se norwendige Bedingung sein, existieren nicht. 5
Die der kausalen Relation beigelegten Attribute wie "Kraft", "Energie", "Wirksamkeit", etc. sind nicht mehr als metaphorische Ausdrücke fiir die gleiche Vorstellung. Vgl. hierzu: Rume, Traktat, Erstes Buch, Teil m, 14. Abschnitt, S. 212.
6
I. Seine Grundlagen
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durch ein Antecedensereignis sind auf der Grundlage menschlicher Wahrnehmung nicht nachweisbar. 7 Diesen, seine Thesen zur menschlichen Wahrnehmungsrezeption zunächst widerlegenden Befund8 , erklärt Hume mit einer weiteren ergänzenden habituellen Haltung des menschlichen Geistes, die er "Gewohnheit" ("custom ") nennt und deren Bedeutung darin liegen soll, aus der Erfahrung der ausnahmslosen Wiederholung einer bestimmten Ereignissequens a - b einen qualitativ neuen zusätzlichen Eindruck entstehen zu lassen9 , der zu der Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Ereignisse a und b führt. lO Die Entstehung dieses neuen Eindrucks, wie auch die der daran anknüpfenden Vorstellung einer
Vgl. Hume, Traktat, Erstes Buch, Teil m, 2. Abschnitt, S. 101 ff.; Traktat, Erstes Buch, Teil 14. Abschnitt, S. 211; Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Siebenter Abschnitt, Erster Teil, deutsche Übersetzung von Raoul Richter, Hamburg 1984, S. 77 : " Wenn wir uns unter äußeren Gegenständenumsehenund die wirksamkeit der Ursachen betrachten, so sind wir in keinem einzigen Fall imstande, irgend eine Kraft oder notwendige Verknüpfung zu entdecken, irgendwelche Eigenschaft, die die Wirkung an die Ursache bände und die eine zur unfehlbaren Folge der anderen machte. Wir bemerken nur, daß die eine tatsächlich, in Wirklichkeit der anderen folgt. " Vgl. dazu auch Braithwaite, The Idea of Necessary Connection, Mind, Vol. 36 (1927), S. 467 ff.
7
m,
Die Möglichkeit, die "Vorstellung" kausaler Notwendigkeitsrelationen im Wege eines logischen Schlusses aus der vorangegangenen Regularitätserfahrung zu gewinnen, schließt Hume aus. Vgl.: Traktat, Erstes Buch, Teil m, Abschnitt 6, S. 191 f.; Weinberg, S. 94; Stegmüller, Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und modeme Antworten, in: Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie, hrsg. von H. Lenk, Braunschweig 1971, S. 13, 16.
8
• Hierbei handelt es sich wohl mehr oder weniger um die Beschreibung einer Art "Metaeindruck ", dessen Auslöser nicht die Wahrnehmung der jeweiligen Ereignissukzession a - > b in der Außenwelt ist, sondern die "innere Tatsache" der häufigen und ausnahmslosen Wiederholung des Wahrnehmungserlebnisses, daß auf den Eintritt von a stets deJjenige von b folgte. 10 Hume 's Beschreibungen dieses Vorganges erscheinen heute eher dunkel. So spricht er an anderer Stelle auch von einer "Nötigung des Geistes" bei Wahrnehmung eines Ereignisses der Art a nicht nur eine dieser Wahrnehmung analoge Vorstellung zu bilden, sondern sich zudem auch den zukünftigen Eintritt eines Ereignisses mit der Qualität eines b vorzustellen (Traktat, Erstes Buch, m. Teil, 14. Abschnitt, S. 223 f.; Untersuchung, 7. Abschnitt, Zweiter Teil, S. 91)oder von einer "durch die Gewohnheit hervorgerufenen Geneigtheit , von einem Gegenstand auf die Vorstellung desjenigen überzugehen, der ihn gewöhnlich begleitete" (vgl. Traktat, Erstes Buch, m. Teil, 14. Abschnitt, S 224). - Humes psychologisierende Erklärungsversuche des Denkens in kausalen Relationen sind von seinen Rezensenten häufig kritisiert worden. Vgl. nur Stroud, Hume and the Idea of Causal Necessity, Philosophical Studies, Vol. 33 (1978), S. 39, 50 ff.; vgl. dazu auch Stegmüller, Probleme und Resultate, VII. Kapitel, 3.d.) (S. 516); Ayer/Hume, S. 55. Vgl. dagegen aber auch lohn Leslie Mackie, The Cement of the Universe, Oxford 1974, S. 27 f.
38
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
Notwendigkeitsbeziehung ist dabei, so Hume, dem menschlichen Einfluß entzogen. 11
In Auswertung dessen, was er empirisch exploriert zu haben glaubt, gelangt Hume zu seiner berühmten doppelten Kausalitätsdefinition: (1) Ursache heißt
ein Gegenstand, der einem anderen zeitlich vorausgeht und räumlich benachbart ist, sofern zugleich alle Gegenstände, die jenem ersteren gleichen, in der gleichen Beziehung der Aufeinanderfolge und räumlichen Nachbarschaft zu den Gegenständen stehen, die diesem letzteren gleichen. (2) Ursache ist ein Gegenstand, der einem anderen zeitlich vorausgeht, ihm räumlich benachbart, und zugleich so mit ihm verbunden ist, daß die Vorstellung des einen Gegenstandes den Geist nötigt, die Vorstellung des anderen Gegenstandes zu vollziehen, und der Eindruck des einen ihn nötigt, eine lebhaftere Vorstellung des anderen zu vollziehen. 12
1\ Der Befund, daß die Vorstellung kausaler Relationen trotz fehlender Wahrnehmungsgrundlage willkürlicher menschlicher Disposition entzogen ist, enthält letztlich eine naturalistische Rechtfertigung kausalen Denkens. Wenn der Satz "Müssen impliziert Können" gültig ist, so kann es dem Menschen nicht verboten sein, kausale Relationen zu postulieren, soweit ihn seine "Gewohnheit" dazu "nötigt". Vgl. dazu Lenz, Hume's Defense of Causal Inference, in: V. C. Chapell/Hume. A Collection of Critical Essays, London / Melbourne 1968, S. 169, 183 f. Die Möglichkeit einer rationalen Rechtfertigung sieht Hume offensichtlich nicht. Sein Skeptizismus ist Ausgangspunktfür die bis heute andauernde Diskussion um das Problem der Rechtfertigung induktiven Schließens. Eingehend dazu Woifgang Stegmüller, Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und modeme Antworten, S. 17; Salmon, Unflnished Business: The Problem of Induction, Philosophical Studies, Vol. 33 (1978), S. 1, 18; Bryan Skyrms, Choice and Chance, Belmont 1966, S. 22 ff.
12 Hume, Traktat, Erstes Buch, m. Teil, 14. Abschnitt, S. 229 f. Später gibt Hume in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand, (7. Abschnitt, Zweiter Teil, S. 92 f.) erneut eine doppelte Ursachen-Definition, die neben leicht gestrafften Formulierungen auf das Merkmal der räumlichen Nähe von Causa und Effectus ganz verzichtet, im übrigen aber inhaltsgleich lnit den im Text wiedergegebenen Definitionen aus dem Traktat ist. In Ausgabe C seiner Untersuchung (erschienem im Jahre 1756, also acht Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe im Jahre 1748) fügt Hume seiner Defmtion (1) noch folgende "Ergänzung" hinzu: "Oder mit anderen Worten: wobei, wenn der erste Gegenstand nicht bestanden hätte, der zweite nicht ins Dasein getreten wäre". Offensichtlich hielt Hume das angegebene hypothetische Konditional für eine seiner im ersten DefInitionsteil wiedergegebenen Regularitätsaussage äquivalente Sentenz. Ein offensichtlicher Fehler, denn eine Aussage über die in der Vergangenheit ausnahmslose Wiederholung einer bestimmten Ereignissequenz ist kein tauglicher Obersatz für die Deduktion eines derartigen hypothetischen Konditionals. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Antony Flew, Hume's Philosophy of Belief, I:.ondonlNew York 1961, S. 130 ff. - Die Frage, inwieweit diese beiden Definitionen ein adäquates Bild von Humes vorherigen Erörterungen zu vermitteln vermögen und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, ist durchaus problematisch. Vgl. hierzu etwa die Kontroverse zwischen J. A. Robinson, Hume's two Definitions ofCause, in: V. C ChapeIl, Hume, S. 129 ff., sowie einer Duplik auf den S. 162 ff. und 1'11. J. Richards, Hume's two Definitions of Cause, in: Chapell, S. 148 ff.; siehe dazu auch: Beauchamp/Rosenberg, S. 13 ff.
I. Seine Grundlagen
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Eine Notwendigkeitsbeziehung zwischen Antecedens - und Subsequensereignis ist danach das wesentliche Merkmal, das diese bloße Folge zu einer kausalen Relation erhebt. Diese Notwendigkeitsbeziehung ist das Resultat einer bestimmten habituell determinierten gedanklichen Operation, deren Material die unter (1) dargestellte Regularitätserfahrung bildet und zu deren Vollzug der unter (2) beschriebene, ein dem menschlichen Geist wesenseigener, "mentaler Akt" hinzutreten muß. 13 Eine singuläre Kausalaussage "a verursachte b" ist demnach dann "wahr", wenn neben den anderen Voraussetzungen, eine Regularitätserfahrung hinsichtlich der Ereignissequens a - b vorliegt, die geeignet war, jenen mentalen Mechanismus auszulösen, der zur Vorstellung einer Notwendigkeitsrelation zwischen a und b geführt hat.
2. lohn Stuart Mill lohn Stuart Mills Kausalitätsdoktrin ist integraler Bestandteil seines Entwurfes eines rationalen methodischen Konzeptes induktiver Wissensgewinnung. Im Ansatz dem Empirismus verpflichtet, geht auch Mill davon aus, daß menschliches Wissen nur durch unmittelbare Wahrnehmung und rationale Schlußfolgerungen aus vorhandenen Wahrnehmungsergebnissen gewonnen werden kann. 14 Er anerkennt, wie zuvor Hume, daß das Denken in kausalen Relationen im Sinne konstanter Notwendigkeitsverknüpfungen zwischen
13 Hume ist damit gerade nicht der Vater der sog. "Regularitätstheorie" . Nach dieser Auffassung steht hinter einer singulären Kausalaussage allein die Erfahrung, daß auf a immer b folgte, verbunden mit der Annahme, daß dieses auch in Zukunft weiterltin so der Fall sein werde. vgl. Norman Kemp Smith, The Philosophy of David Hume, London 1949, S. 88 ff.; NachKemp Smith, aaO, S. 91, Fußnote 2, war es erst Thomas Brown, der im Jahre 1805 in einer ersten Fassung seines später unter dem Titel "Inquiry into thc Relation of causc and cffcct" erschienenen Buches diese "Regularitätstheorie" vertrat. Brown schrieb: " Priority in the sequence observed, and invariableness of antecedense in the past and future sequences supposed, are thc clcments, and the only elements, combined in the notion of cause." (zitiert nach Kemp Smith, aaO.). Siehe auch: BeauchamplRosenberg, S. 139 ff.; Richards, S. 160.
14 lohn Stuart Mill, "System ~er deduktiven und induktiven Logik", Originaltitel: " System of Logic ", autorisierte deutsche Übersetzung durch Theodor Gomperz, Einleitung, §.4, in: lohn Stuart Mill: Gesammelte Werke, hrsg. von Theodor Gomperz, Leipzig 1884, Neudruck Aalen 1968, Band 2, S. 4 f. (fortan zitiert unter Mill, SdL, Buch, Kapitel, §, Band, Seite). Vgl. dazu Geoffrey Scarre, Logic and Reality in the Philosophy of John Stuart Mill, Dordrecht I Boston I London 1989, S. 15 ff.; sowie ferner Else Wentscher, Die Geschichte des Kausalproblcms, Leipzig 1921, S. 280 f.
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
sukzessiv auftretenden Ereignissen für die wissenschaftliche, wie auch die alltägliche Außenweltrezeption konstitutiv ist, gleichwohl aber die unmittelbare Wahrnehmung solche kausalen Relationen nicht aufzudecken vermag. Im Gegensatz zu Hume sieht Mill in der Annahme kausaler Relationen jedoch nicht eine im Kern irrationale Denkgewohnheit, sondern das Ergebnis einer rationalen Schlußfolgerung, deren Eigenschaft es ist, tatsächlich neues Wissen zu vermitteln. Nach seiner Ansicht geschieht dies durch einen Induktionsschluß vom bekannten Einzelfall (auf A' folgte B') auf einen bis dato unbekannten anderen Einzelfall (wenn in der Zukunft ein A auftritt, wird wieder ein B folgen). Mill führt zur Darstellung dieser Schlußfolgerung ein syllogistisches Schema ein, dessen Funktionsweise er aber nicht als Deduktion im Sinne der klassischen Logik verstanden wissen will'S , sondern als eine Art "Interpretation" der verwendeten Aussagen und ihrer Verknüpfungen. 16 Erste Prämisse dieses "Induktionssyllogismus " ist eine auf Erfahrung beruhende, wie es Scarre nennt, "lokale Uniformitätsaussage"'7 etwa der Art wie: Auf alle Ereignisse der Klasse A folgt ein Ereignis der Klasse B. Zweite Prämisse: A'ist ein Element der Klasse A. Konklusion: Auf A' wird ein Ereignis der Klasse B folgen. IB Denknotwendiges Prius für die Bildung so beschaffener "lokaler Uniformitätsaussagen " ist die Annahme eines "Alluniformitätsprinzips ". Nur unter der Prämisse, daß die Natur nur stets gleichförmig verlaufende Ereignissukzessio-
l' Mill lehnt den trivialen Syllogismus, etwa nach dem Modus Barbara, als eine Form von petio principii ab, da hier die Konklusion nicht mehr enthält, als bereits in den Prämissen angelegt ist und somit kein neues Wissen hinzugewonnenwird. Vgl. dazu Alan Ryan, The Philosophy of John Stuart Mill, 2. Auflage, Basingstoke I London 1987, S. 21 f.; Scarre, S. 18 ff. mit einer ausführlichen Darstellung der Bedeutung der Rezeption der Philosophie Waterlys durch Mill.
n. Buch, m. Kapitel,
16
Mill, SdL,
17
Siehe S. 96.
§. 4, Band 2, S. 223 f ..
18 Mills Folgerungsmodus, der auf eine Vermehrung des aktuellen Wissens abzielt, ist nicht im strengen Sinne deduktivistisch. Seine die erste Prämisse bildende "lokale Uniformitätsaussage" ist letztlich nicht mehr als ein induktives Argument an das ein deduktives Schlußverfahren angehängt wird, das notwendig wiederum nur zu einer induktiv gesicherten Konklusion führen kann. Gleichwohl nähert sich sein Induktionsmodell sehr nahe dem an, was heute unter einer kausalen Erklärung einer Ereignissequenz verstanden wird. Vgl. dazu: Ryan, S. 3 ff.; Scarre, S. 51 f. Hierauf wird später noch einzugehen sein.
I. Seine Grundlagen
41
nen kennt, kann sinnvoll behauptet werden, daß das, was von einer Entität ausgesagt werden kann, für alle Elemente dieser Entitätenklasse gültig ist. 19 Archetypus induktiven Schließens ist nach Ansicht Mills das Denken in kausalen Relationen. Die Erklärung von Ereignissequenzen durch "Natur- oder Kausalgesetze" ist der eigentliche Anwendungsfall einer induktiven Begründung "lokaler Uniformitätsaussagen" ,20 Das hierfür als notwendige Basisvorstellung erforderliche" Alluniformitätsprinzip" wird dabei durch eine weitere, ebenfalls induktiv gewonnene, All- und Existenzaussage ergänzt, das Kausalprinzip.21 Gerade für das juristische Kausalitätsverständnis von ganz wesentlicher Bedeu19 SdL, m. Buch, m. Kapitel, §. 1, Band 2, S. 359: "Wir müssen vorerst bemerken, daß die bloße Angabe dessen, was Induktion ist, ein Prinzip enthält, eine Voraussetzung in Betreff des Ganges der Natur und der Ordnung des Weltalls: die Voraussetzung nämlich, daß es in der Natur etwas derartiges gibt wie Parallelfälle; daß das, was einmal geschieht, bei einem genügenden Grade von Ähnlichkeit in den Verhältnissen wieder geschehen, und nicht nur wieder, sondern so oft geschehen wird, als dieselben Verhältnisse wiederkehren." Vgl. dazu auch Scarre, S. 80, 96 ff.; Robert McRae, Phenomenalism and John Stuart Mill's Theory of Causation, in: Philosophy and PhenomenologicalResearch, Vol. IX, Buffalo 1949, S. 237,248; l. H. RandalI: lohn Stuart Mill and the Working-out of Empiricism, abgedruckt in: lohn Stuart Mill: Critical Assessments, hrsg. von lohn Cunningham Wood, London I Sydney I Dover, New Hampshire 1987, Vol. 1, S. 252, 259 f. - Die Validität induktiven Räsonierens hängt letztlich von inneren Rechtfertigung dieses quasi Basisaxiomes ab. Eindeutige Stellungnahmen Mills zu der Rechtfertigungsfrage fehlen. In einer späteren Passage kennzeichnetMill sein" Alluniformitätsprinzip" nicht mehr nur als eine analytische Proposition, sondern als eine induktiv begründete All- und Existenzaussage. In SdL, Buch m, Kapitel 11., §. 1, Band 2, S. 360 heißt es: "Der Satz von der Gleichförmigkeit des Naturverlaufes ist das Grundprinzip oder Hauptaxiom der Induktion. Es wäre jedoch ein großer Irrtum, wollte man diese weitumfassende Verallgemeinerung als eine Erklärung des induktiven Verfahrens darstellen. Ich halte es im Gegenteil für einen Fall von Induktion 0." Zum Problem der scheinbaren Zirkularität dieser Aussage siehe Scarre, S. 93 ff.; Skyrms, S. 28 ff. 20
Mill, SdL,
m. Buch, IV.
Kapitel, §. 1, Band 1, S. 1 ff.
SdL, m. Buch, V. Kapitel, §. 2, Band 3, S. 14 f.: "Das Gesetz der U rSächlichkeit, dessen Anerkennung der Grundpfeiler der induktiven Wissenschaft ist, ist nur die alltägliche Wahrheit, daß man erfahrungsmäßig zwischen jeder Tatsache in der Natur und irgend einer anderen Tatsache, die ihr vorangegangen ist, ein Verhältnis unabänderlicher Aufeinanderfolge antrifft O. Für jedes Ereignis gibt es irgendeine Kombination von Gegenständen oder Ereignissen, 0 auf deren Auftreten immer jene Erscheinung erfolgt. Wir mögen noch nicht ausfindig gemacht haben, welche diese Vereinigung von Umständen ist; aber wir zweifeln nicht daran, daß es eine solche gibt und daß sie nie auftritt, ohne das betreffende Phänomen zu ihrer Wirkung oder Folge zu haben. Auf der Ausnahmslosigkeitdieser Wahrheit beruht die Möglichkeit, das induktive Verfahren auf Regeln zurückzuführen." - Alluniformitätsprinzip und Kausalprinzip sind nicht identisch. Behauptet ersteres nur, daß in der Vergangenheit beobachtete Gleichförmigkeit in der Zukunft ihre Fortsetzung fmden wird, so besagt das letztere darüberhinaus, daß jedes Ereignis die Subsequensentität einer solchen gleichförmig sich wiederholenden Sequenz darstellt. Vgl. dazu McRae, S. 248 f.
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
tung ist die von Mill in seine Kausalitätstheorie eingearbeitete Einsicht, daß die Welt unendlich mannigfaltig ausgestaltet ist und dementsprechend auch der Causa-Begriff dieser Komplexität Rechnung zu tragen hat. Mills Defmitiorr2 einer "Causa" lautet wie folgt: "Ursache ist daher, im philosophischen Sinne,
der Inbegriffder Bedingungen, positiver und negativer zusammengenommen, die Gesamtheit der Eventualitäten jeder Art, bei deren Verwirklichung das Consequens unvermeidlich erfolgt. Die negativen Bedingungen, deren Einzelangabe gewöhnlich sehr weitläufig wäre, kann man jedoch alle mit einem Gesamtausdruck als die Abwesenheit hindernder oder entgegenstehender Ursachen bezeichnen ".23 "Unvermeidlich erfolgt" steht in der Terminologie Mills für die Vorstellung, daß bei Auftreten der Causa der Effectus in jedem Falle eintritt, es also nicht etwa der Präsenz eines weiteren in der als causa markierten Entität nicht enthaltenen Faktors mehr bedarf, Um den effectus hervorzubringen. Mill spricht in diesem Zusammenhang auch von einer "unbedingten" oder "notwendigen" Folgebeziehung. 24 In konditionalen Termen ausgedrückt: Die Causa ist in jedem Falle eine absolut hinreichende Bedingung für den Eintritt des Effectus. 25 Diese Defmition schließt folgerichtig nicht aus, daß ein Ereignis einer bestimmten Art in unterschiedlichen Situationen jeweils durch eine andere kausale
22
SdL, III. Buch, V. Kapitel, §. 3, Band 3, S. 21 f.
Um aus einer Vielzahl der Antecedens- oder Subsequensfaktoren den einen oder dasjenige Ensemble ermitteln zu können, der oder das als die Causa oder der Effectus angesprochen werden kann, entwirft Mill einen Kanon von 5 Methoden (" Methods of Induction"), anband derer auf der Grundlage experimentell erhobener Befunde eine erfolgversprechende Analyse der kausalen Relation möglich sein soll. Vgl. dazu die Darstellungen bei lohn Leslie Maclde, Mill's Methods of Induction, in: Encyclopedie of Philosophy, Vol. 5, Hrsg. Paul Edwards, New York I London 1967, S. 324, 325 f.; Von Wright, S. 73 ff.; Skyrms, S. 85 ff. Eine Wertung und Kritik im Hinblick auf das juristische Erkenntnisverfahren findet sich bei Manfred Maiwald, Kausalität und Strafrecht, Göttingen 1982, S. 16 f.
2J
24
Mill, SdL, III. Buch, V. Kapitel, §. 6, Band 3, S. 29;
Vgl.: Georg Hendrik von Wright, Tbe Logical Problem of Induction, 2. Auflage, New York 1957, ChapterIV, §. 5, S. 73 sowie die dazugehörige Endnote Nr. 5; Henry lohn McCloskey: lohn Stuart Mill: A Critical Study, London I New York 1971, S. 37 f.; Absolut hinreichend in diesem Sinne bedeutet hier Unabhängigkeit von der weiteren Beschaffenheit der konkreten Situation.
~
I. Seine Grundlagen
43
Relation erklärt bzw. auf unterschiedliche Causae zurückgeführt werden kann. 26 Gleichwohl hat jedes konkrete Ereignis nach Mill' schem Verständnis grundsätzlich nur eine Causa. Es besteht mithin immer nur eine Eins-zu-Eins-Sequenz in Gestalt einer Notwendigkeitssukzession zwischen einer Causa und einem Effectus. Dieses ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der von Mill entworfenen Causa-Definition, wohl aber aus seinen weiteren Ausführungen. In SdL, III. Buch, VII Kapitel, §. 1 schreibt Mill, daß es aus seiner Sicht "als gewiß angesehen" werden könne, daß "jede Tatsache, die ins Dasein tritt, eine Ursache besitzt, und daß sich diese Ursache irgendwo unter den Tatsachen finden lassen muß, die ihrem Eintreten unmittelbar vorangingen". 27 Bei seinen Erörterungen zum Problem einer möglichen Ursachenpluralität, das notwendig dann auftritt, wenn das vorhandene Material an Antecedensereignissen die Bildung zweier oder mehrerer Faktorenensembles zuläßt, die unabhängig voneinander eine absolut hinreichende Bedingung für den Eintritt des EffectusEreignisses abgeben, also definitionsgemäß (mögliche) Causae sind, führt Mill aus, daß nur dann, wenn es in Ermangelung adäquater Methoden ausgeschlossen ist, eine dieser absolut hinreichenden Bedingungen als dann wohl eigentliche Causa zu konkretisieren, "die verschiedenen Antecedentien vorläufig als gesonderte Ursachen hingestellt werden (müssen) ".28 Offensichtlich verstand Mill die Annahme mehrerer konkreter kausaler Relationen nur als eine Art Arbeitshypothese über die augenblicklich in Ermangelung hinreichender methodischer Mittel nicht hinausgelangt werden kann und die damit letztlich nicht als eine abschließende singuläre Kausalaussage aufgefaßt werden darf. 29 Die Vorstellung einer Ursachenpluralität ist gleichwohl kein Bestandteil der Mill'schen Kausalitätskonzeption. Eins-zu-Eins-Sequenz in diesem Sinne meint jedoch nicht, daß einem als Effectus in den Blick genommenen Subsequenser-
26 Vgl. Mill, SdL, m. Buch, X. Kapitel, §. I, Band 3, S. 143: • Es ist also nicht wahr, daß eine Wirkung mit nur einer Ursache verknüpft sein muß, daß jede Erscheinung nur auf eine Weise hervorgebracht werden kann. Es gibt oft verschiedene von einander unabhängige Arten, wie dieselbe entstanden sein konnte.· Hieraus folgt, daß eine Causa im Sinne Mills nicht auch eine absolut notwendige Bedingung ist, denn es ist gerade nicht ausgeschlossen, daß es mehrere Ereigniskonstellationen gibt, die das gleiche Effectus-Ereignis zur unbedingten Folge haben. 27
Band 3, S. 76.
2B
Mill, SdL,
29
Vgl. dazu Ryan, S. 50 f.;
m. Buch, X.
Kapitel, §. 3, Band 3, S. 149.
44
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
eignis auch nur ein einzelnes Antecedensereignis als Causa korrespondiert. Mill erkennt klar, daß in aller Regel eine hinreichende Bedingung für den Eintritt eines Effectus-Ereignisses aus einer Vielzahl von Antecedensereignissen besteht. Erst die Akumulation aller dieser Faktoren führt zu einer Konstellation, von der mit induktiv gewonnener Sicherheit ausgesagt werden kann, daß das Effectus-Ereignis im Mill'schen Sinne "notwendig" folgen wird. 30 Folgerichtig lehnt Mill Konzeptionen jeder Art ab, die einzelne Antecedensereignisse, die per se keine hinreichende Bedingung für den Eintritt des Effectus-Ereignisses abzugeben vermögen, als "Causa" bezeichnen. 3!
11. Die einzelnen Aspekte des modemen Kausalitätsverständnisses 1. Die kausale Relation als eine "Notwendigkeitsbeziehung eigener Art" Im Anschluß an die Tradition32 geht man auch in der modemen Kausalitätsdiskussion grundsätzlich davon aus, daß die Vorstellung einer "Notwendigkeitsbeziehung" konstitutiver Bestandteil des Begriffs der kausalen Relation ist.33
Kein Bestandteil der Causa sind Antecedensereignisse, die nicht notwendige Bestandteile des eine hinreichende Bedingung für den Effectus-Eintritt darstellenden Faktorenensembles sind. Vgl. dazu Wolfe, Mill on Causality, in: The Personalist, Vol. LXII (1976), S. 96 f.
30
Vgl. Mi/I, SdL, III. Buch, V. Kapitel, §. 3, Band 3, S. 16: "Die wirkliche Ursache ist die Gesamtheit dieser Antecedentien, und wir haben, streng wissenschaftlich, kein Recht den Namen Ursache einer von ihnen mit Ausschluß der anderen zu erteilen. " Siehe dazu auch: A. Rosenberg , Mill and some Contemporary Critics on Cause, The Personalist, Vol. 54 (1973), S. 123 ff. - Diese Passage in Mills SdL ist wohl der Ausgangspunkt für die Entwicklung der bis heute in der Jurisprudens gültigen "Äquivalenztheorie ", wonach alle Bedingungen für den Eintritt einer Rechtsgutsverletzung prinzipiell gleichwertig sein sollen. So beruft sich das RG bei seiner ersten expliziten Entscheidung zu diesem Problem ausdrücklich auf Mill und seine Ausführungen an dieser Stelle.
31
Zu Ursprung und Entwicklung der Idee von der "kausalen Notwendigkeit" siehe oben S. 13 f.; vgl. auch: G. E. M. Anscombe, Causality and Determination, Cambridge 1971, S. 1 ff.; Taylor, Causation, in: The Monist, Vol. 47 (1962 I 63), S. 287,288 ff.; Weinberg, The Idea of Causal Efficacy, Journal of Philosophy, Vol. 47 (1950), S. 397 ff.
32
Vgl. etwa Georg Hendrik von Wright, Causality and Determinism, New York I London 1974, S. 9; Mario Bunge, Kausalität, Geschichte und Probleme, aus dem Amerikanischen übersetzt von Herbert Spengler, Tübingen 1987, S. 52; lohn Leslie Mackie, The Cement of the Universe, Oxford 1974, S. 193 ff.; Russel, On the Notion of Cause, in: Herben FeigllMay Brodbeck (Hrsg.), Readings in the Philosophy of Science, New York 1953, S. 387 f.
33
11. Einzelaspekte des modemen Kausalitätsverständnisses
45
Dabei ist man sich auch prinzipiell darüber einig, daß diese "Notwendigkeit" hier nicht logischer Natur ist, also etwa auf einem Implikationszusammenhang zwischen Sätzen der Objektsprache beruhf4, sondern als eine Relation eigener Art ("kausale Notwendigkeit") zwischen der als Causa (C) markierten AntecedensentitäfS und der den Effectus (E) darstellenden Subsequensentität gedacht werden muß, die ihrerseits objektsprachlich beschrieben werden kann.36 "Kausale Notwendigkeit" in diesem Sinne meint, daß der Eintritt des Effectus zwingend auf das vorangegangene Auftreten der Causa folgt. Das bedeutet: mit dem Vorliegen einer bestimmten Entität37 (= der Causa) zum Zeitpunkt T 1
Vgl. dazu insbesondere Rudolf Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, aus dem Englischen übersetzt von Walter Hoering, hrsg. von Martin Gardner, München 1969, S. 198 f.; Von Wright, S. 9.
34
35 Unter "Entität" soll hier etwa im Sinne von Kim, Causes and Events : Mackie on Causation, Journal of Philosophy, Vol. 68 (1971), S. 426,438 eine an einem konkreten Objekt an einem bestimmten On zu einem bestimmten Zeitpunkt manifestiene Eigenschaft verstanden werden. Eine "Entität" kann dabei sowohl ein "Zustand" - die kontinuierliche Präsenz einer Eigenschaft, als auch ein "Ereignis" - die Veränderung einer Eigenschaft -sein. Zu dem Begriff der "Eigenschaft" vgl. auch Sydney Shoemaker, Causality and Properties, in: ders.: Identity, Cause, and Mind, Cambridge 1984, S. 206 ff. - In aller Regel ist im Rahmen von Kausalanalysen allein von "Ereignissen" die Rede. Dabei verstehen die jeweiligen Autoren jedoch einen sehr weiten Ereignis-Begriff, der zumeist nicht nur Veränderungen, sondern auch deren Ausbleiben erfaßt. So deflnien C. J. Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, London I New York 1968, S. 2 ein Ereignis als eine Veränderung oder die Abwesenheit einer Veränderung an einem bestimmten Objekt. Ähnlich auch Rudolf Camap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, S. 190 f. - Zu weiteren Problemen mit dem Begriff des Ereignisses verbundenen Problemen siehe Donald Davidson, The Individuation of Events, in: ders., Essays on Actions and Events, S. 163 ff. 36 Dieses Verständnis kausaler Relationen darf wohl heute als so etwas wie die herrschende Meinung in der erkenntnistheoretischen Diskussion bezeichnet werden. Siehe dazu nur Davidson, Causal Relations, in: ders., Essays on Actions and Events, Oxford 1980, S. 149 (dt., Handlung und Ereignis, aus dem Englischen übersetzt von J. Schulte, FrankfunIM. 1990, S. 214); Vgl. dazu auch Jonathan Bennett, Events and their Names, Oxford 1988, S. 51 ff. Die Auffassung, wonach kausale Relationen im Sinne real wirkender Entitäten, wie etwa fallenden Steinen oder ähnlichem, zu verstehen sind, wurde in jüngerer Vergangenheit insbesondere noch von Harre, Concepts and Criteria, Mind, Vol. 73 (1964), S. 353, 354 - 361; HarrelMadden, In Defence of Natural Agents, Philosophical Quanerly, Vol. 23 (1973), S. 117 ff.; dies., Causal Powers, Oxford 1975, insbes. S. 82 ff., vettreten. Vgl. dazu auch Shoemaker, Causality and Properties, S. 206 ff.
Zur Vereinfachung wird hier zunächst nur davon ausgegangen, daß jede Causa nur aus einer singulären Entität besteht. Tatsächlich dürfte es praktisch keinen einzigen Fall geben, in dem nur eine singuläre Entität per se die Causa für eine bestimmte Effectusentität darzustellen vermag. Im Verlauf der Darstellung wird unter 3.) vertieft auf das Problem, daß realiter in aller Regel nur ein Komplex von Antecedensentitäten die Voraussetzungen einer Causa erfüllt eingegangen. 37
46
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
steht unabänderlich fest, daß zu einem späteren Zeitpunkt T 2 ein bestimmtes anderes Ereignis (der Effectus) eintreten wird. 38 Dem Gedanken der "kausalen Notwendigkeit" liegt die Vorstellung einer
Determination der Zukunft zugrunde. Mit dem Auftreten von C zum Zeitpunkt
T 1 wird die Zahl der möglichen Welten zum Zeitpunkt T 2 auf all diejenigen möglichen Weltzustände reduziert, in denen E enthalten ist. 39
Die wesentliche praktische Bedeutung dieses Determinationseffektes liegt in seiner Eigenschaft, die Grundlage für Voraussagen über die Zukunft bilden zu können. Das Wissen um das Vorliegen eines Ereignisses der Qualität eines C zum Zeitpunkt T 1 rechtfertigt die Prognose, daß zum Zeitpunkt T 2 ein E auftreten wird. 4O Hierauf aufbauend wird es möglich, planmäßig zu handeln und in die kommende Entwicklung der Welt einzugreifen. Die Einsicht, daß das Vorliegen von C zu einem zukünftigen Eintritt von E führt, läßt die Gestaltung der Zukunft manipulierbar werden. Wer möchte, daß in der Zukunft ein E in Erscheinung tritt, der muß in der Gegenwart eine C - Konstellation schaffenY Der Aspekt der Determination ist demnach überall dort bedeutsam, wo unter Zuhilfenahme des Begriffes der Kausalität aus der Prospektive Wirklichkeitsaussagen getroffen werden. Grundlage für die Annahme einer derartigen Notwendigkeitsbeziehung ist, wie bereits von Hume und Mill dargelegt, die Vorstellung der Existenz eines entsprechenden deterministischen Folgegesetzes, als dessen Instantation sich die jeweilige Entitätensequens erweist. Subsequensentität E folgt dann kausal notwendig auf den Eintritt der Antecedensentität C, wenn ein gesichertes deter-
3B Vgl. dazu nur Taylor, in: Encyclopedie of Philosophy, Vol. 2, ed. by Paul Edwards, 1965, S. 56,58, Stichwort: Causation; ders., Causation, in: The Monist, Vol. 47, (1962/63), S. 287,292.
Anscombe, Causality and Determination, S. 16; Von Wright, Causality, S. 16 ff.; Vgl. dazu auch Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, S. 525 f.
39
Schlick, Die Kausalität in der gegenwärtigen Physik, Erkenntnis, Band 1 (1930/ 31), S. 145, 158; Camap, S. 192; Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, S. 525 f.
40
4. Vgl.
Gasking, Causation and Recipes, Mind Vol. 64, Oxford 1955, S. 479 ff. (dt. in: Günter Posch, Kausalität, Neue Texte, Stuttgart 1981, S. 289 ff.), der die kausale Relation als eine "Herbeiführen-mittels-von ... " Relation erklären will; vgl. auch Gerhard Frey, Zur Frage der Ursachenfmdung, pragmatische Aspekte der Kausalforschung, in: Günter Posch, S. 55 ff., 66 f.; Von Wright, Erklären und Verstehen, S. 67 ff.
11. Einzelaspekte des modemen Kausalitätsverständnisses
47
ministisches Sukzessions-(Kausal-)gesetz42 besagt, daß auf Entitäten von der Art eines C stets eine Entität von der Art eines E folgt. Ein häufig gewähltes Ausdruckmittel für kausale Relationen sind Begriffe aus dem Bereich der Konditionenlogikn . Dabei erfüllen die jeweiligen Konditionale die Funktion einer semantischen Figur und dienen dem Zweck, die kausale Relation zwischen den jeweiligen Entitäten zu beschreiben und zu interpretieren. Wenn nun in der Folge etwa ein materiales Konditional verwandt wird, so wird damit nicht mehr als der Versuch unternommen, eine adäquate Veranschaulichung eines Aspektes der singulären Kausalaussage "C verursacht E" zu geben. Keinesfalls aber handelt es sich hierbei aber um eine bloße Formalisierung einer kausalen Relation, denn eine kausale Relation ist gerade keine logische Kategorie. 44 Der dargestellten "kausalen Notwendigkeitsrelation" im Sinne einer" immer wenn - dann immer - Beziehung" entspricht dabei ein sog. materiales Konditionats. Das Vorderglied eines solchen Konditionals bezeichnet man auch als
Welche, über den deterministischen Inhalt hinaus, weiteren Eigenschaften zum Definiens eines derartigen deterministischen Kausalgesetzes gehören, ist nach wie vor umstritten. Vgl. dazu nur Stegmüller, Das Problem der Kausalität, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift für Victor Kraft, Wien 1960, S. 171, 180 ff.; ders.: Ergebnisse und Resultate, Band I, S. 525 ff.; Emest Nagel, Tbe Structure of Science, 2nd. Edition, Indianapolis I Cambridge 1979 (reprint), S.74.
42
Die Analyse kausaler Relationen unter Zuhilfenahme von Termini technici aus dem Bereich der Konditionenlogik ist wohl der am häufigsten gewählte Ansatz (sog. "Conditional Approach") in der modemen erkenntnistheoretischen Literatur. In aller Regel geben die jeweiligen Autoren keine Auskunft darüber, warum sie diesen Ansatz gewählt haben. Vgl. etwa Lyon, Causality, in: Tbe British Journal for the Philosophy of Science, Vol. 18 (1967), S. 1 ff.; Vanquickenbome, An Analysis of Causality in Everyday Language, Logique et analyse, Vol. 12, (1969), S. 311 ff.; J.Lucas, Causation, in: Analytical Philosophy, ed. by Ronald J. Butler, Oxford 1962, S. 32 ff; Von Wright, Causality, S. 5 behauptet, daß der Ansatz über Bedingungsbegriffe unter anderen Möglichkeiten (Darstellung als funktionale Beziehungen; Verwendung probalistischer oder stochastischer Termini) schlicht der hilfreichste sei; ders.: Erklären und Verstehen, aus dem Englischen übersetzt von Grewendoif und Meggle, KönigsteinlTaunus 1984, S. 47. - Kritisch hierzu: Bunge, Kausalität, S. 270 f.; Wesley Salmon, Scientific Explanation and the Causal Structure of the World, Princeton 1984, S. 185 f. 43
44
Vgl. dazu nur David Lewis, Counterfactuals, Oxford 1973, S. 66; Bunge, Kausalität, S. 270 f.
Vgl. dazu nur Willard Van Orman Quine, Grundzüge der Logik, aus dem Amerikanischen übersetzt von Siejkes, 6. Auflage, FrankfurtlM. 1988, S. 38; Ronald N. Giere, Understanding Scientific Reasoning, 2nd Edition, New York 1984, S. 53 f. 4S
48
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
eine hinreichende Bedingung46 • Als Causa kann somit nur eine solche Antecedensentität in Betracht kommen, die als eine hinreichende Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität beschrieben werden kann. Der Gedanke der "Notwendigkeitsrelation" verlangt nicht, daß eine Causa auch stets eine per se notwendige Bedingung für den Eintritt des Effectus sein muß. Als notwendige Bedingung bezeichnet man regelmäßig das Vorderglied eines Konditionals, das nur wahr sein kann, wenn Hinterglied und Vorderglied die gleichen Wahrheitswerte aufweisen. 47 Eine Entität C ist dementsprechend dann eine notwendige Bedingung für eine Folgeentität E, wenn E dann und nur dann in Erscheinung tritt, wenn zuvor auch ein C existent gewesen ist. Dieses ist nun für eine "kausale Notwendigkeitsrelation " der dargestellten Art gerade nicht erforderlich. Ein Ereignis C vermag auch dann ein taugliches Antecedens einer "kausalen Notwendigkeitsrelation " zu sein, wenn das Subsequensereignis (E) seiner Art nach durchaus auch in Erscheinung treten könnte, ohne daß sich zuvor ein C ereignet hätte.
2. Die Eindeutigkeit der kausalen Verknüpfung Dem Begriff der Eindeutigkeit der kausalen Relation liegt die Vorstellung zugrunde, daß eine kausale Relation nicht bloß idealtypisch sondern notwendig nur eine Eins zu Eins Sequenz bezeichnen kann. 48 Jedem existenten Effectus korrespondiert nur eine Causa. Es ist ausgeschlossen, anzunehmen, daß ein Effectus zu mehreren kausal voneinander unabhängigen Antecedensentitäten in jeweils einer distinkten kausalen Relation steht.
Eine Antecedensentität (C) als eine hinreichende Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität (E) zu beschreiben heißt, daß man das Auftreten der folgenden Konstellationen für möglich erachtet: C+ E+; C- E-; C- E+ und die Möglichkeit eines C+ E- ausschließt. Siehe Skyrms, Choice and Chance, S. 80; Von Wright, Erklären und Verstehen, S. 45; Giere, Understanding Scientific Reasoning, S. 54.
46
47 Derartige Konditionale werden auch "Bikonditionale" genannt, da sie auch als die Konjunktion zweier materialer Konditionale mit jeweils vertauschtem Vorder- und Hinterglied verstanden werden können. C ist eine notwendige Bedingung für E, wenn die Sequenzen C + E + und C- E- möglich, die SequenzenC+ E- und C- E+ aber ausgeschlossen sind. Vgl. Skyrms, Choice and Chance, S. 80; Von Wright, Erklären und Verstehen, S. 45; Ronald N. Giere, Understanding Scientific Reasoning, S. 54 f. und 57 .
.. Bunge, S. 45 ff. - Zum Problem der sog. "Überdeterrnination" bzw. "alternativer Kausalität" wird erst später ausführlich Stellung genommen werden. Siehe unten, S. 87 ff.
ß. Einzelaspekte des modemen Kausalitätsverständnisses
49
Der Zusatz, daß dieser Grundsatz nur für voneinander kausal unabhängige Antecedensentitäten gilt, ist eine Konsequenz des Gedankens der Transitivität der Kausalrelation. Transitivität der kausalen Relation bedeutet, daß retrospektiv betrachtet auch eine Antecedensentität (Cl), die als Causa für diejenige Antecedensentität (C2) beschrieben werden kann, die ihrerseits die Causa für die als Effectus (E) in den Blick genommene Subsequensentität verkörpert, gleichfalls auch als Causa von E gilt. 49 Die Annahme, daß hier sowohl Cl, als auch C2 Causae von E sind, verletzt den Grundsatz der Eindeutigkeit der kausalen Relation nicht, da Cl und C2 voneinander kausal abhängig sind, denn C2 kann, isoliert betrachtet, ohne weiteres als der Effectus von Cl bezeichnet werden. Eine adäquate Ausdrucksmöglichkeit für dieses Erfordernis einer Eins zu Eins Sequenz in konditionaler Terminologie hat Konrad Mare Wogau vorgestellt. Eine Causa muß danach neben einer hinreichenden inbesondere auch eine, wie er es nennt, notwendige Bedingung post factum sein.50 Notwendige Bedingung post factum meint nicht, daß die fragliche Antecedensentität per se eine notwendige Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität sein muß. Gleichwohl muß die konkret der Kausalanalyse zugrunde liegende Situation derart beschaffen gewesen sein, daß keine weitere Antecedensentität vorlag, die ihrerseits per se eine hinreichende Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität abzugeben vermochte, ohne mit der in Rede stehenden Antecedensentität kausal verknüpft zu sein. •• Eine lehrsatzartige Ausformung hat der Gedanke der Transitivität der Kausalrelation im Mittelalter in der wohl auf Nikolaus von Amiens zurückgehenden Sentenz Quidquid est causa causae, est causa causati" (Was auch immer die Ursache der Ursache ist, ist die Ursache des Verursachten). Vgl. dazu insbesondere Jan Comelius Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffes: Relationen und ihre Verkettungen, Berlin 1988, S. 17 ff. mit einer umfassenden Darstellung der Geschichte dieser Sentenz. 00
'" On Historical Explanation, Theoria, Vol. 28, (1962), S. 213, 226 f. Die Terminologie Mare Wogaus übernimmt Vanquiekenbome, An Analysis of Causality in Everyday Language, S. 314. Inhaltsgleiche Formulierungen finden sich bei Maekie, Cement, S. 29 ff., 46 ("necessary in the circumstances"); Taylor, Causation, S. 302 f.; ders., in: Encyclopedie of Philosophy, S. 63. ("individually necessary condition") und Emest Nagel, The Structure of Science, 2nd Edition, Cambridge 1979 (reprint), S. 559 f. (OOcontingently necessary condition OO ). Kritisch dazu Seriven, Critical Study - The Structure of Science by Emest Nagel, The Review of Metaphysics, Vol. 17 (1964), S. 403,406; ders., Defects of the Necessary Condition Analysis of Causation, in: William Dray (Hrsg.), Philosophical Analysis of History, New York 1966, S. 258 - 262. Vgl. dazu auch die Gegenkritik bei Martin, The Sufficiency Thesis, Philosophical Studies, Vol. 23 (1972), S. 205 ff. 4 Quentin
50
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
Ein Antecedensentität ist demnach dann eine notwendige Bedingung post factum, wenn es unter dem tatsächlich vorhandenen Antecedensentitätenmaterial die einzige per se hinreichende Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität ist. Die Annahme, daß nur Eins zu Eins Sequenzen kausale Relationen sein können in Verbindung mit dem Grundsatz der Transitivität kausaler Relationen, ermöglicht es, die Vergangenheit auf der Grundlage einer kausalen Analyse in eine linear strukturierte Ordnung zu bringen. Jede gegenwärtig existente Entität steht retrospektiv betrachtet in einem kausalen Dependenzverhältnis zu nur einer bestimmten Kette von durch kausale Relationen miteinander verknüpften Antecedensentitäten. Führt der Gedanke der "kausalen Notwendigkeit" zu der Vorstellung einer Reduktion der möglichen zukünftigen Weltzustände (Determination), so bildet das Element der notwendigen Eins zu Eins Sequenz die Prämisse für eine abschließende und eindeutige Fixierung der kausalen Dependenz eines bestimmten in den Blick genommenen EffectusY Ließe man es zu, daß mehrere kausale Relationen nebeneinander bestehen oder akzeptierte man auch eine Viele zu Eins Sequenz als eine kausale Relation, so verlöre das Prinzip der Kausalität eine wesentliche Ordnungspotenz. Die Reduktion der kausalen Geschichte eines Ereignisses auf eindeutige
Dependenzrelationen erweist noch unter einem anderen Gesichtspunkt als sehr
hilfreich. Innerhalb einer Ordnung derartiger Abhängigkeitsverhältnisse ist es ohne weiteres möglich, ex post eine eindeutige Antwort auf die Frage zu geben, unter welchen Umständen eine bestimmte, möglicherweise unerwünschte, Entität E zum Zeitpunkt T 2 nicht eingetreten wäre.
Die Antwort lautet, wenn zu einem früheren Zeitpunkt T 1 das Auftreten derjenigen Antecedensentität C vereitelt worden wäre, zu der E in einem kausalen Dependenzverhältnis steht. Eine kausale Analyse unter Verwendung eines Causa-Begriffes, der auch durch das Merkmal post factum notwendige Bedingung konstituiert wird, beantwortet die insbesondere für die Zuweisung von
~I
Bekannteste Allegorie für diese lineare Ordnung ist das Bild der "Kausalkette
00.
Vgl. dazu
Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffes, S. 16 ff.; Benrand Russe/,
Human Knowledge, London 1948, S. 244. Eine weitere verwandte Allegorie ist das Bild des Stammbaumesoderentsprechender"Abstammungsmetaphem". Vgl. dazu nochmals Russe/, Human Knowledge, S. 483 ("causal ancestry"); Richard B. Braithwaite, Scientific Explanation, Cambridge 1953, S. 308; sowie Norwood R. Hanson, Patterns of Discovery, Cambridge 1961, S. 50 ff.
11. Einzelaspekte des modemen Kausalitätsverständnisses
51
Verantwortlichkeiten bedeutsame Frage "wie hätte das verhindert werden können" .52
3. Der "erkenntnistheoretische Begriff der Causa" als ein Komplex diverser Antecedensentitäten Der bisherigen Analyse der kausalen Relation lag das Modell einer Welt zugrunde, in der eine Causa stets nur aus einer singulären Entität im Sinne einer nicht weiter dividierbaren Einheit bestand. 53 Dieses findet jedoch in der Realität keine Entsprechung. Tatsächlich ist es vielmehr in aller Regel so, daß erst ein Komplex diverser Entitäten (Ereignisse und Zustände) im Verbund als eine per se hinreichende und post factum notwendige Bedingung für den Eintritt des Effectus und damit als Causa bezeichnet werden kann. Eine singuläre Antecedensentität die per se eine hinreichende Bedingung für das Auftreten des Effectus darzustellen vermag, gibt es praktisch nicht. Wenn etwa eine an einen Strohballen gehaltene brennende Fackel dessen Entflammen zur Folge hat, so ist es nicht nur der Vorgang der Annäherung der Fackel, der per se hinreicht, den Strohballen in Flammen aufgehen zu lassen. Vielmehr muß unter anderem noch genügend Sauerstoff vorhanden sein, der Strohballen darf keine zu hohe Feuchtigkeit aufweisen, usw .. Neben diesen Antecedensentitäten, die alle jeweils ein konstitutives Element dieses "Causa-Komplexes" sind, existieren im Allgemeinen noch Myriaden von weiteren Antecedentien, deren Vorliegen für die Beantwortung der Frage nach der Causa eines bestimmten Ereignisses bedeutungslos ist. So kann es etwa der Fall sein, daß vor dem Entflammen des Strohballens auch noch der Mond
'2 Vgl. Von Wright, Erklären und Verstehen, S. 62 f. Siehe oben, Fn. 37. - Vgl. dazu auch Bunge, Kausalität, S. 133 ff. - Häufig werden die hier behandelten Probleme auch unter Stichworten wie "Mehrfachverursachung" , "Pluralität der Causae" oder ähnlichem behandelt. Derartigen Formulierungen liegt regelmäßig eine an den Alltagssprachgebrauchangelehnte Sprechweise zugrunde, bei der bereits einzelne Antecedentien, die weder per se hinreichend, noch post factum notwendig für den Eintritt des Effectus sind, als Causa tituliert werden. Vgl. dazu etwa Dorothy Emmett, Tbe Effectiviness of Causes, London I Basinkstoke 1984, S. 73. Hier handelt es sich aber gerade nicht um einen Fall des möglichen Vorliegens mehrerer Ursachen (siehe dazu ausführlich unten S. 91 ff.), sondern lediglich um eine Konstellation, bei der die einzige existente Causa aus mehreren Antecedentien besteht. Wie hier Gruner, Tbe Plurality of Causes, Philosophy, Vol. 42 (1967), S. 367,368, dort insbesondere Fußnote 2.
'3
52
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modernen Wissenschaftstheorie
aufging. Sie alle erfaßt der Begriff der Causa nicht.54 Er markiert vielmehr nur einen bestimmten kleinen Ausschnitt aus dem unübersehbaren Antecedensszenario, das jedem als Effectus in den Blick genommenen Ereignis tatsächlich vorausgeht. All diejenigen Antecedentien, die konstitutiver Bestandteil des durch den Begriff der Causa erfaßten Komplexes sind, sollen in der Zukunft Kausalfaktoren genannt werden. Unter Verwendung der Begriffe der hinreichenden und notwendigen Bedingung läßt sich ein Kausalfaktor wie folgt beschreiben: Ein Kausalfaktor ist ein Antecedens, das zwar per se keine hinreichende Bedingung für den Eintritt des Effectus verkörpert, wohl aber ein konstitutives Element innerhalb eines Komplexes von Antecedensentitäten (der Causa) ist, der seinerseits eine per se hinreichende und post factum notwendige Bedingung für den Eintritt des Effectus darstellt. Konstitutiv in diesem Sinne meint, daß der die Causa bildende Entitäte~omplex die Eigenschaft einer per se hinreichenden Bedingung für den Eintritt des Effectus dann nicht aufweisen würde, wenn er nicht das fragliche Antecedens enthielte. Wenn etwa der Antecedensentitätenkomplex ABC eine per se hinreichende Bedingung für den Eintritt von P darstellt, so ist der Faktor A im Hinblick auf diese Eigenschaft ein konstitutives Element, wenn ein nur aus BC bestehender Komplex nicht per se hinreichend für den Eintritt von P wäre. 55 Das ist dann der Fall, wenn ein gesichertes deterministisches Folgegesetz existiert, wonach auf einen Komplex mit Entitäten von der Art A, B, C stets eine Entität von der Art eines P folgt, demgegenüber aber kein derartiges Sukzessionsgesetz im Hinblick auf Entitäten vom Typ P für einen Komplex nachgewiesen werden kann, der sich nur aus
54 Das ergibt sich zwar nicht denknotwendig aus der oben gegebenen Definition des Begriffs der Causa als einer hinreichenden und post factum notwendigen Bedingung, doch verlöre der Begriff der Causa jegliche Kontur, würde er auch solche Faktoren umfassen, die für die maßgeblichen Eigenschaften einer Causa ohne Bedeutung sind. Mare Wogau, On Historical Explanation, S. 224 hat zur KlarsteIlung deshalb eine Causa auch als eine "minimal hinreichende Bedingung" definiert.
" Man könnte die fragliche Entität auch als ein nonredundantes Element des eine hinreichende Bedingung markierendes Komplexes bezeichnen; vgl. Martin, The Sufficiency Thesis, S. 205; Maekie, Cement, S. 62 f.
II. Einzelaspekte des modemen Kausalitätsverständnisses
53
Entitäten der Klasse Bund C zusammensetzt. 56 Da diese Antecedensentitäten zwar nicht per se hinreichend für den Eintritt des Effectus sind, es gleichwohl aber der Fall ist, daß sie im Verbund mit weiteren tatsächlich vorhandenen Faktoren eine hinreichende Bedingung hierfür darzustellen vermögen, können sie zumindest als relativ hinreichende Bedingungen57 für den Eintritt des Effectus bezeichnet werden. Die Tatsache, daß der die Causa verkörpernde per se hinreichende Entitätenkomplex in der konkreten Situation auch eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt des Effectus ist, hat zur Folge, daß dann auch die enthaltenen singulären Entitäten als post factum notwendige Bedingung beschrieben werden können. Jedes konstitutive Element einer zumindest post factum notwendigen komplexen Bedingung ist seinerseits auch eine notwendige Bedingung. Ein Kausalfaktor ist demnach eine Antecedensentität, die eine post factum notwendige und relativ hinreichende Bedingung für den Eintritt des Effectus
darstellt. 58
Überprüft man in dem oben bereits dargestellten Beispiel von der brennenden Fackel und dem Strohballen nun die drei Antecedensentitäten Annähern der Fackel, Anwesenheit von Sauerstoff und Aufgehen des Mondes daraufhin, ob sie ein Kausalfaktor sind, so gelangt man zu dem folgenden Ergebnis: Das Anhalten der Fackel ist weder per se hinreichend (es bedarf in jedem Falle noch des Sauerstoffs) noch notwendig (man könnte auch ein Feuerzeug verwenden) für eine Entzündung des Strohballens. Es war jedoch sowohl relativ hinreichend
,. Maekie, Cement, S. 62 hat diese Relation zwischen den den Kausalfaktor bzw. den Effectus verkörpernden Entitätenklassendurch seine berühmtgewordene INUS-Formel (insufficient non-redundant part of an unnecessary but sufficient set of factors) veranschaulicht. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Darstellung der Bezüglichkeiten innerhalb einer konkreten Kausalfaktor (Maekie würde insoweit von einer Causa sprechen) - Effectus - Relation. Vgl. dazu auch die Kritik von Martin, The Sufficientcy Thesis, S. 206 ff., sowie Brand-Swain, On the Analysis of Causation, in: Myles Brand, The Nature of Causation, Urbana I Chikago I London 1976, S. 222 ff. S7
Vgl. Von Wright, Erklären und Verstehen, S. 60 und Endnote 29.
Vgl. zum ganzen Nagel, The Structure of Science, S. 558 ff.), Taylor, Causation, S. 296 ff., Mare Wogau, On Historical Explanation, S. 221 ff.) und Seriven, Critical Study I The Structure of Science by Ernest Nagel, S. 408 f. Siehe auch Lyon, Causality, British Journal of the Philosophy of Science, Vol. 18 (1967), S. I, 7 f., von dem der Ausdruck des "Kausalfaktors" übernommen wurde; sowie Maekie, Causes and Conditions, S. 245 ff.; ders., Cement, S. 29 ff. und dazu Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, Band I, S. 591 ff. SB
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
(weitere Faktoren waren präsent, so daß es zur Entzündung kam), als auch post factum notwendig (andere Faktoren, die gleiChfalls die notwendige Entzündungstemperatur bewirken konnten sind nicht ersiChtlich). Das Anhalten der Fackel ist folglich ein Kausalfaktor. Zum gleiChen Ergebnis gelangt man auch bezüglich der Anwesenheit von Sauerstoff. Insoweit liegt hier sogar eine absolut notwendige Bedingung vor, denn ein Verbrennungsvorgang ohne Sauerstoff ist unmöglich. Der Begriff der absolut notwendigen Bedingung impliziert jedoch denjenigen der relativ notwendigen Bedingung, sodaß hier auch dieses Merkmal eines Kausalfaktors erfüllt ist. Das vorherige Aufgehen des Mondes ist demgegenüber kein Kausalfaktor , denn es war weder post factum relativ hinreichend noch notwendig für das Entzünden des Strohballens. Eine singuläre Kausalaussage C verursachte E muß unter der Prämisse der oben gegebenen Causa-Definition in ihrem Vorderglied (C) eine Bezeichnung des gesamten Antecedentienkomplexes enthalten, der eine per se hinreiChende und ex post notwendige Bedingung für den Eintritt von E verkörpert. 59 Dieses kann dadurch geschehen, daß jede in betracht kommende Entität auch tatsächlich sprachlich bezeiChnet wird. Ein derartiges Unterfangen wäre jedoch nicht nur wenig hilfreiCh, sondern erscheint auch einigermaßen aussiChtslos. Der die Causa repräsentierende Antecedensentitätenkomplex ist zwar nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtzustand des Universums vor dem Eintritt von E, doch ist regelmäßig die Zahl der enthaltenen Entitäten derartig groß, daß es einer weiteren Selektion bedürfte, um letztlich zu einer wenigstens einigermaßen handhabbaren Aussage zu gelangen. Zudem wird es in den meisten Fällen auch bei sorgfaItiger Analyse kaum möglich sein, tatsächlich alle Kausalfaktoren zu explorieren, sodaß eine erschöpfende Beschreibung der die Causa bildenden Tatsachen schon am Fehlen eines entsprechend detaillierten Wissens scheitern wird. In aller Regel wird es jedoch möglich sein, durch die Benennung nur eines oder einiger weniger der Kausalfaktoren den der Causa zugrunde liegenden Tatsachenkomplex zu bezeichnen. Das wird immer dann der Fall sein, wenn
'9 Vgl. dazu Stegmüller, Ergebnisse und Resultate Band 1, S. 506 f.
ID. Notwendige pragmatische Konzessionen
55
diese Angabe zugleich eine Kennzeichnung eines tatsächlichen historischen Vorganges beinhaltet, dessen Elemente die Causa konstituieren. So erscheint der Passus "Das Anhalten der Fackel verursachte ... " als eine durchaus adäquate sprachliche Darstellung des gesamten die Causa ausmachenden Entitätenkomplexes, denn er identifiziert den historischen Vorgang, dessen Elemente die Causa bilden. 60
111. Notwendige pragmatische Konzessionen 1. Der reduzierte Kontext - das kausale Feld Unmittelbar einsichtig ist, daß eine umfassende Kausalanalyse im Sinne einer erschöpfenden Erhebung aller relevanten Antecedensentitäten, wie sie für eine erkenntnistheoretisch voll befriedigende Kausalerklärung zu leisten wäre, praktisch wohl nie möglich sein wird. So wird es in der Regel nicht nur an den entsprechenden Möglichkeiten zu einer insoweit adäquaten Erkenntnisgewinnung fehlen, sondern es werden bereits bloße Kosten-Nutzen-Erwägungen eine volle Ausschöpfung der gegebenen Möglichkeiten zur Erkenntnisgewinnung verbieten. Jedes Kausalurteil erfolgt daher auf einer, wenn man so will, unzureichenden Erkenntnisgrundlage und muß in seiner Bedeutung letztlich immer vor dem tatsächlich vorhandenen Erkenntnishintergrund gesehen werden. Im Grunde müßte zu jedem Kausalurteil eine ceteribus-paribus-Klausel hinzugefügt werden, 61 die der sonst ungesagt bleibenden Tatsache Ausdruck verleiht, daß dieses Urteil seinen Gültigkeitsanspruch nicht auf eine erschöpfende Exploration der "kausalen Geschichte" der als Effectus in den Blick genommenen Entität stützt, sondern nur auf einen Ausschnitt des tatsächlich vorhandenen Antecedensszenarios, dessen Analyse der Urteiler aufgrund
60 Vgl. Davidson, Causa! Relations, S. 155 ff., der insbesondere darauf hinweist, daß man grundsätzlich zwischen dem die Ursache bildenden "Ereignis" als einern raum-zeitlich konkretisierbaren historischen Vorgang und dessen sprachlicher Kennzeichnungunterscheidenmuß. So führt eine Kennzeichnung eines solchen ein Kompendium von Entitäten darstellenden Ereignisses durch die explizite Benennung nur einer konkreten Entität nicht zu einer Elirninierung der übrigen Entitäten aus dem Ereignis selbst (S. 157).
6' Vgl. dazu schon Vanquickenbome, S. 313.
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
externer Relevanzerwägungen als für eine Urteilsbildung hinreichend erachtet hat. 62 Der australische Philosoph lohn Anderson hat wohl als erster für diesen vom Urteiler auf der Grundlage externer Relevanzkriterien definierten Urteilskontext den Begriff des "kausalen Feldes" geprägt63 • Er soll hier übernommen werden. Wie dieses kausale Feld letztlich definiert wird, hängt von dem Kontext ab, innerhalb dessen nach der Causa gefragt, also ein Kausalurteil verlangt wird. Eine allgemeingültige Definition eines "kausalen Feldes" kann es dementsprechend nicht geben. Wichtig ist hier zunächst allein, sich zu vergegenwärtigen, daß jedes Kausalurteil etwa in dem Sinne C ist ein Kausalfaktor für den Eintritt von E praktisch mit dem Zusatz gelesen werden muß: "gültig innerhalb eines 'kausalen Feldes', konstituiert durch die Antecedensentitäten, A, B, ... ". In einem gerichtlichen Verfahren wird das "kausale Feld" letztlich durch das dem Gericht unterbreitete bzw. von diesem
Diesbezüglich läßt sich durchaus zwischen einem "horizontalen Komplexitätsproblem " und einem "vertikalen Komplexitätsproblem " unterscheiden, das sich aus der Anerkennung des Transitivitätsgrundsatzes ergibt. Ist der Satz "causa causae est causa causati" gültig, so ist die Geschichte einer jeden als Effectus in den Blick genommenen Entität praktisch endlos und niemals umfassend zu rekonstruieren. Gleichwohl sind die mit dieser Aporie verbundenen Auswirkungen auf singuläre Kausalurteile insoweit weniger problematisch, als es für die Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Antecedensentität ein Kausalfaktor für den Eintritt einer bestimmten Subsequensentität war, die Tatsache, daß es insoweit Myriaden von zeitlich vor dieser Antecedensentität belegenen "causae causae" gibt, unbeachtlich ist. Mit in das "kausale Feld" gehen nur all diejenigen Antecedensentitäten ein, die innerhalb der gleichen Kausalkette die auf ihre Kausalfaktorqualität zu überprüfende Antecedensentität mit dem Effectus verbinden. Mit der Konkretisierung der virtuellen Causa-Entität ist das "kausale Feld" in "vertikaler Hinsicht" abschließend defIniert. Das insbesondere in der Rechtswissenschaft immer wieder diskutierte Problem des "Abbruchs von Kausalverläufen " hat mit der Frage der sinnvollen DefInition des "kausalen Feldes" nichts zu tun. Es geht hier vielmehr um den erst auf der praktisch zweiten Stufe zu erörternden Aspekt der ascriptiven Relevanz eines bereits getroffenen Kausalurteils. "Bricht ein Kausalverlauf" - aus juristischer Perspektive - "ab", so besagt dies nur, daß zeitlich vor diesem Punkt belegenen "causae causae" kein Zurechnungsurteil tragen können. Vgl. in diesem Zusammenhang insbes. Thyren, Abhandlungenaus dem Strafrecht und der Rechtsphilosphie, Bd. 1., Lund 1894, S. 20 ff.; loerden, Strukturen, S. 26 ff. 62
Anderson, The Problem of Causality, in: ders., Studies in Empirical Philosophy, Sidney 1962, S. 126, 130. Populär wurde dieser Begriff erst durch seine Übernahme durch lohn Leslie Mackie, Cement, S. 35; ders., Responsibility and Language, Australasian Journal of Philosophy, Vol. 33 (1955 ), S. 143. Siehe dazu auch Urs Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, FrankfurtJM. 1989, S. 85 f.
63
m.
Notwendige pragmatische Konzessionen
57
erhobene Tatsachenmaterial konstituiert. Wenn § 286 I. S. 1 ZP064 den gesammelten Inhalt der Verhandlungen und das Ergebnis der Beweisaufnahme der Würdigung des Gerichtes überantwortet, so liegt hierin für die Kausalitätsfrage die Deftnition des "kausalen Feldes". 2. Der "alltagssprachliche Causa-Begriff"
Wenn im Alltag, aber auch in vielen Bereichen der Wissenschaft6S , Ursachen benannt werden, so handelt es sich dabei um mehr oder weniger konkretisierte singuläre Entitäten, die per se als die eine Ursache für den Eintritt eines bestimmten Ereignisses bezeichnet werden. So würde wohl die überwältigende Mehrzahl in dem oben erwähnten Beispiel auf die Frage nach der Ursache für das Entflammen des Strohballens antworten: "Die Ursache war das Anhalten der brennenden Fackel" . Versucht man den dieser Aussage zugrunde liegenden Causa-Begriff zu analysieren, so fallen zwei Dinge zunächst besonders ins Auge: Einerseits handelt es sich bei der als Causa bezeichneten Entität nicht um eine per se hinreichende, sondern lediglich um eine relativ hinreichende Bedingung für den Eintritt des Effectus (nach der oben eingeführten Terminologie damit nur ein Kausalfaktor). Andererseits werden nicht alle Entitäten, die relativ hinreichende Bedingungen für den Eintritt des Effectus sind, als Causa bzw. Ursache bezeichnet, sondern nur ein einzelnes Element aus der Menge der Antecedensfaktoren, die diese Eigenschaft aufweisen. Offensichtlich liegt der Unterschied zwischen der oben eingeführten Terminologie und der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffes der Causa nicht allein darin, daß im Alltag als Causa bezeichnet wird, was oben nur Kausalfaktor heißt. Eine derartig abweichende Sprechweise würde lediglich dazu führen, daß nun nicht mehr Faktorenkomplexe als Causa bezeich-
Vgl. dazu nur Egon Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 4. Aufl., München 1987, Rdn. 20 ff.; Zöller/Stephan, ZPO, § 286, Rdn. 9.
64
6' Hier ist insbesondere die Geschichtswissenschaft zu nennen, die dann, wenn sie historische Abläufe kausal interpretiert in aller Regel einen Causa-Begriff zugrunde legt, der dem im Alltag gebräuchlichen Begriff entspricht. Vgl. dazu insbesondere Morton Gabriel White, Foundations of Historical Knowledge, New York I London 1965, S. 105 ff.; Marc-Wogau, On historical Explanation, S. 213 ff. - Zum Causa-Begriff im deliktischen Haftungsrecht des BGB, siehe unten S. 109 ff.
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
net werden, sondern nur noch singuläre distinkte Entitäten. Sie hätte jedoch auch zur Folge, daß alle nur relativ hinreichenden Bedingungen als Causa bzw. Ursache genannt werden müßten. Die aus dem Begriff der Causa eliminierte Faktorenpluralität kehrte in der Gestalt einer Causa-bzw. Ursachenpluralität wieder. Um tatsächlich zu einer Aussage zu gelangen, die den Effectus auf nur eine Causa im Sinne einer singulären Entität zurückführt, bedarf es folglich noch der Vorschaltung eines besonderen Selektionsprozesses, in dessen Verlauf anband weiterer spezifischer Relevanzkriterien aus der Menge der möglichen Causae eine einzige ausgewählt wird. 66 Alle übrigen irrelevanten Kausalfaktoren erhalten Bezeichnungen wie "bloße weitere Bedingungen" oder "kausales Umfeld" .67 Die dabei die Prämisse bildenden Relevanzkriterien lassen sich der Kausalanalyse selbst nicht mehr entnehmen. Sie sind vielmehr ein Ausfluß der mit der konkreten Frage nach der kausalen Geschichte eines bestimmten Ereignisses verfolgten weiteren Zwecke. Welche Relevanzkriterien jeweils angelegt werden, kann nur unvollständig abstrakt beschrieben werden. Gerade im Alltag spielen häufig die Intuition und damit unreflektierte Denkhaltungen und Erfahrungen eine besondere Rolle. Hierzu noch einige Anmerkungen: Eine Standardsituation, in der man im Alltag die Frage nach der kausalen Geschichte zu stellen pflegt, ist das Auftreten eines unerwartet und scheinbar "irregulären" Ereignisses. 68 Auf der Suche nach einer einfachen aber befriedigenden Erklärung wird man im Ergebnis notwendigerweise den Kausalfaktor isolieren und zur Causa erheben, der die höchste Erklärungskraft besitzt.
Vgl. Gorovitz, Causal Judgements and Causal Explanations, The Journal of Philosophy, Vol. 62 (1965 ), S. 695 ff.; Dorothy Emmett, The Effectiveness of Causes, London I Basinkstoke 1984, S. 54 ff.
66
• 7 Vgl. HartlHonore, Causation in the Law, S. 30 ff.; Ducasse, On the Nature and the Observability of the Causal Relation, in: ders.: Truth, Knowledge and Causation, London I New York 1968, S. 1 ff., 5.
Vgl. dazu Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, 4. Auflage, Leipzig 1920, S. 277 f.; Scheibe, Ursache und Erklärung, in: Erkenntnisproblemeder Naturwissenschaft, Köln I Berlin 1970, S. 253, 255; Bertrand Russel, die Philosophie der Materie, Leipzig I Berlin 1929, S. 155, der das Denken in kausalen Relationen deshalb auch als das "Hilfstnittel des gemeinen Verstandes" kennzeichnet.
68
m. Notwendige pragmatische Konzessionen
59
Das wird in diesen Fällen regelmäßig ein solcher Kausalfaktor sein, der durch eine Entität verkörpert wird, die sich ihrerseits als quasi "abnonne" Veränderung des Weltzustandes darstellt. 69 Aus dem Blick gedrängt werden all die Kausalfaktoren, die entweder konstanter Natur (der Sauerstoffgehalt der Luft) sind oder doch zumindest als Ausdruck einer erfahrenen Regularität erscheinen (das Untergehen der Sonne). Typische abnonne Entitäten sind etwa Defekte (platzende Reifen, Kurzschlüsse) etc., aber auch insbesondere menschliche Handlungen. Der Grund hierfür ist denkbar einfach. Wer von gleichen Causae stets gleiche Effecti erwartet, der kann die Erklärung einer für ihn unerwarteten Tatsache nicht in Antecedensentitäten fmden, die sich als Ausdruck einer wie auch immer gearteten Normalität darstellen. Er muß vielmehr nach Antecedentien suchen, die ihrerseits "abnonn" erscheinen. Außerhalb dieser typischen Alltagssituation erfolgt die Selektion unter der Prämisse spezifisch kontextabhängiger Relevanzkriterien. Thre Auswahl hängt wesentlich von dem Zweck ab, zu dem die Kausalanalyse in der konkreten Situation eingesetzt wird. Unterschiedliche Intentionen verfolgende Betrachter werden dementsprechend verschiedene Kausalfaktoren auswählen und im Ergebnis als Causa kennzeichnen. 70 So wird in einem Fall, in dem ein elektrischer Kurzschluß unter anderem deshalb zu einem Brand in einem Kaufhaus geführt hat, weil der Nachtwächter, anstatt seinem Dienst nachzugehen, in einer benachbarten Gastwirtschaft ein Bier trank, ein Brandsachverständiger der Feuerwehr den Kurzschluß als Brandursache benennen; während etwa der Agent der Brandversicherungsgesellschaft die Abwege des Nachtwächters als Ursache deklarieren wird.
6. Der der Entscheidung darüber, was "normal" ist und was nicht zugrunde liegende Maßstab ist von Fall zu Fall verschieden und hängt wesentlich von dem Erfahrungshintergrund ab, der der entsprechenden Person zur Verfügung steht. Vgl. dazu Hart/Honore, Causation in the Law, S. 33 33 ff.
Vgl. Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, Band I, S. 508 f. mit einem instruktiven Beispiel; Frey, Zur Frage der Ursachenfmdung, S. 62; HartlHonore, Causation in the Law, aaO.; Emmett, The Effectiveness of Causes, S. 54 ff.; siehe auch Collingwood, Three Senses of the Word "Cause", in: Analytical Philosophy, hrsg. von Butler, Oxford 1962, S. 118 ff.; Schlick, Causality in Every Day Life and Recent Science, in: Readings in Philosophical Analysis, ausg. und hrsgg. Feigl und Sellars, New York 1949, S. 315 ff. - Den Versuch, einen Katalog der in Wissenschaft und Alltag gebräuchlichsten Selektionskriterien zusammenzustellen und eine zumindest grobe Systematik zu entwickeln, unternimmt Hesslow , The Problem of Causal Selection, in: Contemporary Science and Natural Explanation, Commonsense Concepts of Causality, hrsg. von Hilton, Brighton 1988, S. 11 ff. mit umfangreichen weiteren Nachweisen.
10
60
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
Mit der Einführung dieses kontext- und damit zweckgebundenen Selektionsprozesses wird der Bereich der reinen Kausalanalyse verlassen. Der CausaBegriff des Alltags, wie aber auch der einiger Wissenschaften, ist folglich ein hybridartiges Gebilde aus analytischen, aber auch aus spezifisch teleologischen Aspekten. Der Aussagegehalt singulärer Kausalaussagen, denen dieser Begriff zugrunde liegt, ist per se nur sehr begrenzt und gibt regelmäßig keine Auskunft über die tatsächliche kausale Geschichte eines Ereignisses. Es wird lediglich angezeigt, welcher kausale Aspekt innerhalb eines bestimmten Kontextes dem jeweiligen Betrachter bedeutsam erscheint. Eine Causa im Sinne der Alltagssprache ist demnach eine Antecedensentität, die eine relativ hinreichende und post factum notwendige Bedingung für den Eintritt des Effectus verkörpere 1 und zudem weitere Eigenschaften aufweist, die sie über die genannten "kausalen Qualitäten" hinaus aus der Sicht des jeweiligen Betrachters besonders relevant erscheinen lassen.
IV. Kausalität und Argument 1. Kausale Erklärung und kausale Voraussage nach earl G. Hempel Wie oben dargestellt kommt dem Denken in kausalen Relationen eine doppelte Funktion zu. Einerseits führt es zu der Vorstellung einer Determination der zukünftigen Weltentwicklung; andererseits vermittelt es eine geschlossenes Bild der Vergangenheit des gegenwärtigen Weltzustandes. Auf das Ergebnis einer abgeschlossenen Kausalanalyse lassen sich dementsprechend sowohl Voraussagen, als auch Erklärungen stützen.
Vgl. dazu auch die Analysen von Sriven, Critical Study I The Structure of Science by Ernest Nagel, S. 408 f.; Mackie, Causes and Conditions, S. 245 ff.; ders., Cement, S. 29 ff.; Nagel, Causal Explanations in Science, in: Cause and Effect, hrsg. von Lerner, New York 1965, S. 11, 19 f.; Ducasse, Truth Knowledge and Causation, S. 3 ff., der jedoch im übrigen eine von den oben genannten Autoren essentiell abweichende Kausalitätskonzeption vertritt. Nach Ansicht von Ducasse ist die Causa das eine singuläre Ereignis, das allein dem unmittelbar raum-zeitlich dem den Effectus verkörpernden Ereignis vorausgeht und eine innerhalb ihres Umfeldes hinreichende Bedingung für dessen Eintritt darstellt. Ein Selektionsproblem existiert auf der Grundlage dieser DefInition nicht.
71
IV. Kausalität und Argument
61
earl G. HempeF2 hat im Zuge seiner einflußreichen Arbeiten das Modell eines deduktiv-nomologischen Argumentes (sog. D-N Erklärung) entwickelt, das nach seiner Ansicht sowohl einer wissenschaftlichen Kausalerklärung, aber auch einer entsprechenden Voraussage zugrunde liegt.73 Die erste Prämisse dieses Satzschemas bildet ein Singularsatz, der die Beschreibung einer singulärer Antecedensentität enthält. Die zweite Prämisse wird durch eine hierauf Bezug nehmende allgemeine Gesetzesaussage gebildet. Daran angeschlossen ist die Konklusion mit einer Aussage über die prognostizierte bzw. explizierte Entität. 74 Bei der Voraussage (Prognose) verläuft dabei der praktische Untersuchungsvorgang entsprechend der" Deduktionsrichtung " . Wer eine Prognose aufstellen will, kennt die Prämissen (das Prognoszens) und möchte dieses präsente Wissen um den Informationsgehalt der in der Konklusion enthaltenen Aussage (dem Prognoszetum) erweitern. 7s
Vgl., Studies in the Logic of Explanation, in: ders., Aspects of Scientific Explanation and other Essays in the Philosophy of Science, New York I London 1965, S. 245, 248 ff.(zuerst veröffentlicht im Jahre 1948 zusammen mit Paul Oppenheim); ders., Aspects of Scientific Explanation, S. 331, 335 ff. (dt., Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, aus dem Amerikanischen übersetzt von Wolfgang Lenzen, Berlin 1977, S. 5 ff.). - Auf interessante Parallelen zwischen dem Hempelschen deduktiv-nomologischenErklärungsmodell und dem "Demonstrativen Syllogismus" des Aristoteles in seiner Zweiten Analytik weist Richard C. Jeffrey hin. Vgl. ders., Statictical Explanation versus Statistical Inference, in: Wesley C. Salmon, Statistical Explanation and Statistical Relevance, Pittsburgh 1971, S. 19 f. 71
Vgl. dazu Anhur Pap, Analytische Erkenntnistheorie, Wien 1955, S. 155; Popper, Naturgesetze und theoretische Systeme, in: Gesetz und Wirklichkeit, hrsg. von S. Moser, Innsbruck 1949, S. 43, 52; Vincent F. Brunner, Probleme der Kausalerklärung menschlichen Handelns, Bem 1983, S. 38 f.; Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, Band 1, S. 191 ff. mit einer ausführlichen Diskussion der These von der strukturellen Gleichartigkeit von Erklärung und Voraussage. 73
Da es sich hier um ein deduktives Argument handelt, folgt die Konklusion logisch notwendig aus ihren Prämissen. Es gibt demnach keine Graduierungen hinsichtlich der Stärke des Argumentes, wie dieses etwa bei einer induktiv-statistischen Erklärung der Fall ist. Vgl. Hempel, Aspects of Scientific Explanation, S. 381 ff. und dazu Salmon, Statictical Explanation, in: ders., Statistical Explanationand Statistical Relevance, Pittburgh 1971, S. 29, 30 ff.
74
" Vgl. Pap, aaD.; Hempel, Aspects of Scientific Explanation, S. 364 ff.
62
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
Angabe der Antecedensentität Allg. Gesetzesaussage
} } }
Angabe der vorhergesagten Entität
Prognoszens
Prognoszetum
Im Falle einer Erklärung hingegen geht es darum, die gegenwärtige Existenz einer bestimmten Entität als aus dem Auftreten einer bestimmten anderen Entität in Verbindung mit dem Wissen um ein bestimmtes allgemeines Gesetz als "folgerichtig " vorzustellen. Im Gegensatz zur Vorhersage besteht das präsente Wissen hier also in der Kenntnis der Konklusion (des Explanandum), die dementsprechend auch den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet. Der eine Erklärung Anstrebende ist nunmehr gehalten, das oben dargestellte deduktive Argument durch Auffinden eines entsprechenden Antecedens und die Angabe der notwendigen Gesetzesaussage zu komplettieren. Angabe der Antecedensentitäten Allg. Gesetzesaussage Angabe der erklärten Entität
} } }
Explanans
Explanandum
Die dabei stattfindende gedankliche Operation verläuft damit praktisch entgegen der "Deduktionsrichtung" . Wesensmerkmal dieses D - N Modells einer kausalen wissenschaftlichen Erklärung bzw. Voraussage ist es, daß die in der zweiten Prämisse enthaltene Gesetzesaussage die Struktur eines deterministischen Folgegesetzes hat. 76 Ein derartiges deterministisches Folgegesetz ist etwa die Aussage: Auf eine Entität von der Art eines C folgt stets eine solche von der Art eines E.
Zu den vielfältigen weiteren Problemen, die mit einer exakten Definition des Begriffes eines wissenschaftlichen Gesetzes im allgemeinen und dem eines Kausalgesetzes im besonderen verbunden sind, vgl. insbesondere Stegmüller, Das Problem der Kausalität, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift für Victor Kraft, S. 180 ff.; ders., Ergebnisse und Resultate, Band 1, S. 525 ff.
76
IV. Kausalität und Argument
63
Eine deduktiv - nomologische kausale Erklärung bzw. Voraussage liegt dementsprechend dann vor. wenn die erste Prämisse eine Existenzaussage über eine einzelne Entität enthält. die ihrer Art nach ein Element der Entitätenklasse ist. die das Vorderglied des die zweite Prämisse bildenden Kausalgesetzes verkörpert und in der Konklusion entsprechend eine Instanz des Hintergliedes dieses Kausalgesetzes der zweiten Prämisse beschrieben wird. Die erste Prämisse dieses kausalen Erklärungs bzw. Voraussageargumentes besteht im Ergebnis aus einer Benennung der die Causa bildenden Antecedensentität. während die Konklusion die den Effectus verkörpernde Entität widergibt. 77 Hempel interpretiert dementsprechend eine singuläre Kausalaussage etwa der Art c verursachte e als eine Erklärbarkeitsbehauptung folgenden Inhalts: Es gibt eine Antecedensentität c; es existiert ein allgemeines deterministisches Folgegesetz. wonach auf eine Entität der Art eines C stets eine solche von der Art eines E folgt; es gibt eine Subsequensentität e; c ist eine Instanz von C und e ist eine Instanz von E. Kurzgefaßt: Die Entitätensequenz c - e ist eine Instantation des Kausalgesetzes C - E. 78 Bei der bisherigen Darstellung blieb das Problem der Pluralität der Antecedensfaktoren unberücksichtigt um eine vereinfachte Darstellung der Basisstrukturen zu ermöglichen. Tatsächlich wird in aller Regel die erste Prämisse aus einem Kollektiv von Singularsätzen bestehen. die jeweils einen Kausalfaktor beschreiben (cl. c2 •...• c n). Mit der Zahl der Antecedensentitäten wächst auch die Zahl der maßgeblichen sich auf die jeweiligen Kausalfaktoren beziehenden deterministischen Folgegesetze. Die die zweite Prämisse bildende allgemeine deterministische Gesetzesaussage. wonach auf einen Antecedensentitätenkomplex der Art Cl. C2 •...• Cn stets eine Entität der von der Art eines E folgt. ist demgemäß ein Derivat aus der Konjunktion der verschiedenen auf die singulären Kausalfaktoren bezogenen einzelnen deterministischen Gesetzesaussagen. Wenn etwa das Zerbrechen einer von einem Tisch gestoßenen Porzellanvase kausal erklärt werden soll. so wird man neben dem Gravitationsgesetz. ein Ge-
Vgl. Hempel, Aspekts of Scientific Explanation, S. 351 f.; Stegmüller, Das Problem der Kausalität, S. 185.
77
78
Vgl. Hempel, Aspekts of Scientific Explanation, S. 349.
64
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
setz über die Bruchfestigkeit von Porzellan und noch weitere andere Gesetze anführen müssen. Sie alle lassen sich jedoch zu einer Gesetzesaussage zusammenfassen, wonach unter den gegebenen Umständen eine Vase dieser Art stets infolge eines derartigen Sturzes zerbrechen würde. 79 Die Rückführung singulärer Kausalaussagen auf das dargestellte StrukturmodelI wird dem oben explizierten Begriff einer kausalen Relation jedoch nicht voll gerecht. Zwar fmdet die als Wesensmerkmal vorgestellte Notwendigkeitsbeziehung zwischen Causa und Effectus in der deterministischen Gesetzesaussage der zweiten Prämisse des jeweiligen Argumentes einen adäquaten Ausdruck, doch trifft dieses nicht auch auf das Moment der Eindeutigkeit der kausalen Verknüpfung zu. Das deduktiv-nomologische Erklärungsmodellläßt es zu, eine Existenzaussage über eine singuläre Subsequensentität als Konklusion in mehrere Argumente einzustellen, deren Prämissen nicht äquivalente Aussagen hinsichtlich der Antecedentien enthalten. Es sind also durchaus Konstellationen denkbar, in denen die Beschreibung einer Subsequensentität mehrere nicht äquivalente deduktiv-nomologische kausale Erklärungen findet. Es ist dementsprechend erforderlich, eine weitere Proposition einzuführen: Eine deduktiv-nomologische Kausalerklärung liegt nur dann vor, wenn ein Argument mit der oben dargestellten Struktur gebildet werden kann, dessen Prämissen evident wahr sind und es ausgeschlossen ist, daß weitere nicht äquivalente Argumente dieser Art existieren, die ebenfalls in ihrer Konklusion eine Existenzaussage über die gleiche Entität enthalten. so
2. Kausale Relation und kontrafaktisches Konditional Als ein kontrafaktisches Konditional soll hier ein Bedingungssatz (Wenn ... , dann ... ) bezeichnet werden, bei dem aufgrund der spezifischen Kontextsituation feststeht, daß sowohl die das Vorderglied, als auch die das Hinterglied
79 Vgl. dazu Hempel, Aspects of Scientific Explanation, S. 345 ff., der dieses logisch aus den jeweiligen einzelnen Gesetzesaussagen GI, G2, ... , Gn abgeleitete Gesetz G* ein "minimal covering law" (minimal umfassendes Gesetz) nennt. 80
Brunner, S. 41.
IV. Kausalität und Argument
65
bildende Aussage nicht der Wirklichkeit entspricht, also falsch ist. 81 Um dem flktiven Charakter eines kontrafaktischen Konditionals Ausdruck zu verleihen, werden die jeweiligen Sätze im Konjunktiv gehalten. Ein typisches kontrafaktisches Konditional könnte etwa lauten:" Wenn es geregnet hätte, dann wäre die Straße naß geworden. 11
Bedingungssätze die zwar ein falsches Vorderglied aufweisen, deren Hinterglied aber gleichwohl wahr ist, sollen hier semikontrafaktische Konditionale genannt werden. 82 Die Verwendung derartiger Konditionale im Rahmen kausaler Analysen hat in Wissenschaft und Alltag eine lange Tradition. 83 Eine allseits akzeptierte Theorie kontrafaktischer Konditionale existiert gleichwohl nicht. Einig ist man sich allein darin, daß es wenig hilfreich ist, kontrafaktische Konditionale allein als bloße triviale Wahrheitsfunktionen zu verstehen, denn als solche kommt ihnen keine Aussagekraft zu. Ein Konditional mit einer deflnitionsgemäß falschen Aussage als Vorderglied ist stets wahr, gleichgültig welcher Wahrheitswert der das Hinterglied darstellenden Aussage beizumessen ist. 84 Eine Untersuchung der Bedeutung kontrafaktischer Konditionale muß, will sie tatsächlich etwas erreichen, den Bereich der reinen Aussagenlogik verlassen und insbesondere semantische Aspekte in ihren Ansatz einbeziehen.
Häufig wird anstatt von einem" kontrafaktischen" auch von einem" hypothetischen" (zum Beispiel Quine, Grundzüge der Logik, s. 40 ff.) oder auch einern" irrealen (so etwa Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, Band I, S. 329 ff.) Konditional" gesprochen, ohne daß hierdurch jedoch inhaltlich etwas anderes ausgesagt wird. 81
Diese Unterscheidung wurde von Goodman, The Problem of Counterfactual Conditionals, Journal of Philosophy, Vol. 44 (1947), S. 113, 114 übernommen, der insoweit hier allerdings von "semifaktischen Konditionalen" spricht. 82
So ergänzte zum Beispiel David Hume die erste Defintion des Begriffes der Ursache in seinen Untersuchungen über den menschlichen Verstand (7. Abschnitt, Zweiter Teil, S. 93) in nicht unproblematischer Weise durch ein derartiges kontrafaktisches Konditional. In der Ausgabe C aus dem Jahre 1756 heißt es:" Oder mit anderen Worten: wobei, wenn der erste Gegenstand nicht bestanden hätte, der zweite nicht ins Dasein getreten wäre" Hume, Untersuchungen über den menschlichen Verstand,; siehe oben S. 36, Fn. 12.
•3
Vgl. Chisholm, The Contrary-to-Fact Conditional, in: Feigl-Sellars, Readings in Philosophical Analysis, New York 1949, S. 482, 486; Will, The Contrary-to-Fact Conditional, Mind, Vol. 56 (1947), S. 236; siehe dazu auch die ausführliche Darstellung bei Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, Band I, S. 329 f.
M
5 Quentin
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
Worin liegt nun der Aussagegehalt dieser Bedingungssätze in der spezifischen Kontextsituation einer Kausalanalyse? Grundsätzlich erfüllen kontrafaktische Konditionalsätze im Kontext einer Kausalanalyse in gleicher Weise wie materiale Konditionalsätze die Funktion einer semantischen Figur, deren Zweck es ist, einzelne Aspekte des faktischen Verhältnisses der in Rede stehenden Entitäten (A und B) zueinander zu beschreiben bzw. zu interpretieren. Die in ihnen als einer trivialen Wahrheitsfunktion eigentlich enthaltene Aussage über das formelle Verhältnis der Wahrheitswerte der das Vorder-bzw. Hinterglied des jeweiligen Konditionals bildenden Sätze zueinander, ist somit als eine Aussage über das faktische Verhältnis der in diesen Sätzen beschriebenen Entitäten zu verstehen. 8S Im Kontext von Kausalanalysen fmden kontrafaktische Konditionale im Wesentlichen in zwei Formen Verwendung. Zum einen erfüllen sie die Funktion einer Quasi-Begründung singulärer Kausalurteile über existente Entitätensequenzen; zum anderen dienen sie als Darstellungsmittel für Aussagen über in der Vergangenheit mögliche, aber unterbliebene Kausalverläufe. (1.) Als"Begründung" für ein Kausalurteil über eine bestimmte existente Entitätensequenz dienen kontrafaktische Konditionale dann, wenn der Aussage, A war ein Kausalfaktor für den Eintritt von B (= Kausalurteil) der Hinweis beigefügt wird, " denn, wenn A nicht eingetreten wäre, hätte sich auch B nicht ereignet". Die zur Abstützung von Kausalurteilen in Rechtsprechung und juristischer Literatur allseits verwendete"Conditio-sine-qua-non-Formel" ist das vielleicht bedeutendste praktische Beispiel für eine derartige Argumentationsweise.
Wird von einer existenten Entitätensequenz A - > B am Ende einer Kausalanalyse ausgesagt: "wenn A nicht eingetreten wäre, dann hätte sich auch B nicht ereignet", so bedeutet dies, daß die Antecedensentität A in dem maßgeblichen "kausalen Feld" und vor dem Hintergrund des vorhandenen Wissens über kausale Abläufe (Naturgesetze etc.) als notwendige Bedingung für den Eintritt von B gelten muß. 86
as Siehe oben S. 47. Vgl. dazu auch David Lewis, Counterfactuals,Oxford 1973, S. 66. 116 Enti}ält der kontrafaktische Konditionalsatz"wenn A nicht, dann auch B nicht" eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit, so bedeutet dies zugleich, daß der zu dieser Aussage konträre semikontrafaktische Konditionalsatz," wenn A nicht eingetreten wäre, hätte sich B gleichwohl ereignet" falsch sein muß. Das Konditional" wenn A, dann B" ist also demnach dann nicht wahr,
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IV. Kausalität und Argument
Versucht man nun eine Art "Wahrheitsregel" für einen solchen kontrafaktischen Konditionalsatz zu entwerfen, so muß man sich zunächst den Bezugspunkt dieser Aussagen vergegenwärtigen. Ein kontrafaktischer Konditionalsatz, der am Ende einer Kausalanalyse steht, zieht eine Konklusion auf der Grundlage der im Rahmen dieser Analyse vorgestellten Erkenntnisse. Diese unterteilen sich in aller Regel in ein Wissen um das Vorliegen bestimmter Entitäten zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb eines bestimmten Zeitraumes und in ein Wissen um die universelle Gültigkeit bestimmter korrespondierender kausaler Gesetzmäßigkeiten87 • Die entsprechende "Wahrheitsregel müßte etwa wie folgt lauten: Der kontrafaktische Konditionalsatz, "wenn A nicht eingetreten wäre, dann hätte sich auch B nicht ereignet" ist wahr, wenn es auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnisse (Zusammensetzung des"kausalen Feldes", Naturgesetze) bei fiktiver Elimination der Entität A nicht möglich ist, die Existenz der Entität B ohne zusätzliche Fiktionerf8 weiterhin kausal 11
wenn der das Vorderglied bildende Satz falsch, der das Hinterglied verkörpernde Satz aber wahr ist. Ist es aber der Fall, daß das Hinterglied eines Konditionals nur dann wahr sein kann, wenn auch das Vorderglied wahr ist, so beschreibt die das Vorderglied dieses Konditionals bildende Existenzaussage eine notwendige Bedingung für die Existenz des durch das Hinterglied bezeichneten Objektes. Vgl. dazu nochmals Quine, Grundzüge der Logik, S. 43 f . ., Ein ZentraIproblem in der Diskussion kontrafaktischer Konditionale, die Frage der Abgrenzung akzidentieller von nichtakzidentiellen Relationen, kann hier ausgeklammert bleiben. Kausale Gesetzmäßigkeiten begriinden stets nicht-akzidentielle Relationen zwischen den in Rede stehenden Entitäten. Vgl. dazu Chisholm, The Contrary-to-Fact Conditional, S. 491 ff.; Goodman, The Problem of Counterfactual Conditionals, S. 114, 122 ff.; Zum Problem der exakten Definition eines eine nicht-akzidentielle Relation begriindendenGesetzes siehe StegTnÜller, Ergebnisse und Resultate, Band I, S. 319 ff. •• Zusätzliche Fiktionen liegen vor, wenn nach der hypothetischen Elimination Entitäten eliminiert oder hinzufmgiert werden, die in keiner kausalen Beziehung zu der fraglichen Antecedensentität stehen. Keine unzulässige zusätzliche Fiktion liegt dagegen in der nunmehrigen Annahme von sonst durch die hypothetisch eliminierte Entität in ihrer Entstehung blockierten Entitäten, aber auch in der Elimination von in ihrer Existenz von der hypothetisch eliminierten Entität abhängigen Entitäten. Wer in einem Fall in dem ein unachtsamer Mechaniker die Sprinkleranlage in einem Kaufhaus funktionsuntüchtig macht und infolge eines Brandes ein bestimmter Schaden entsteht, nun das Verhalten des Mechanikers hypothetisch eliminiert, der muß das Einsetzen im Brandfall durchaus"hinzudenken" und dann danach fragen, ob es gleichwohl zu diesem Schaden gekommen wäre. Unzulässig wäre es jedoch, etwa ein früheres Erscheinen der Feuerwehr zu unterstellen, da diese in keiner kausalen Relation zu dem Zustand der Sprinkleranlage steht. In der juristischen Diskussion wird das Problem der Zulässigkeit von Zusatzannahmen auch unter dem Aspekt der Relevanz"hypothetischer Kausalverläufe" diskutiert. Vgl. dazu etwa die in ihren Aussagen zu diesem Gesichtspunkt bedenkliche Entscheidung des BGH, Urteil vom 13.10.1966,
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
zu erklären. Erst wenn zusätzlich auch die Entität B hypothetisch aus dem Geschehen eliminiert wird, entsteht wieder ein konsistentes kausales Gefüge. Das eigentliche Problem liegt nun darin, daß bei einem bloßen Argumentieren mit einem kontrafaktischen Konditional noch keine überprüfbare Aussage über die den Kontext bildende Sachverhalts-konstellation und das zugrunde liegende Kausalgesetz gemacht wird. Wer lediglich aussagt, wenn A nicht gewesen wäre, dann hätte sich auch C nicht ereignet, der läßt offen, für welches "kausale Feld" diese seine Aussage Gültigkeit beansprucht und unterläßt es auch, das Kausalgesetz zu bezeichnen, unter das die beschriebene Entitätensequenz nach seiner Auffassung subsumierbar ist. Nur wenn das "kausale Feld", wie auch das in Bezug genommene Kausalgesetz, tatsächlich bekannt sind, hat ein derartiger Konditionalsatz einen Erläuterungswert. 89 Wer kontrafaktischen Konditional verwendet, trifft vor dem Hintergrund eines bestimmten gesicherten Erkenntnisstandes über gesetzmäßige Abläufe ein für den Bereich eines bestimmten"kausalen Feldes" gültiges Urteil über die bezeichnete Entitätensequenz, für das eine Begründung nicht explizit gegeben wird. Wenn daher im Bereich von Kausalanalysen kontrafaktische bzw. semikontrafaktische Konditionale zur der Bestätigung zuvor getroffener singulärer Kausalurteile über existente Entitätensequenzen herangezogen werden90 , so liegt hierin kein eigentlicher Nachweis der Richtigkeit des zuvor getroffenen Urteiles.
NJW'67, 551 f.; eingehend zum Ganzen Erich Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, FrankfurtlMain 1971, S. 23 ff. mwN.; Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung nach deutschem und österreichischem Recht, S. 76 ff.; Deutsch, Haftungsrecht, S. 167 ff. •• Chisholm, Law Statements and Counterfactuallnference, S. 103 ff.; vgL dazu auch die Kritik von Lewis, Counterfactuals, S. 65 f.
Dabei dienen kontrafaktische Konditionalssätze dazu, positive Kausalurteile zu bestätigen, während semikontrafaktischen Konditionalen die Aufgabe der Bestätigung negativer singulärer Kausalurteile zufällt. Wenn etwa von einer Entitätensequenz A - B ausgesagt wird, daß zwischen beiden eine kausale Relation besteht (positives singuläres Kausalurteil: "A verursachte B "), so lautet die kontrafaktische Rechtfertigung, "wenn A nicht eingetreten wäre, hätte sich auch B nicht ereignet". Wird über diese Entitätensequenz demgegenüber aber ein negatives singuläres Kausalurteil gefällt (" A ist nicht die Ursache von B"), weist der bestätigende Bedingungssatz nur ein falsches Vorder-, wohl aber ein wahres Hinterglied auf (semikontrafaktisches Konditional: "Auch wenn A nicht eingetreten wäre, hätte sich B gleichwohl ereignet"). 90
IV. Kausalität und Argument
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Die tatsächliche Bedeutung der Verwendung eines kontrafaktischen Konditionals"Argument" für ein bestimmtes Kausalurteilliegt vielmehr in einem anderen Aspekt dieser Aussage. Wer ein positives singuläres Kausalurteil durch eine derartigen kontrafaktischen Konditionalsatz bestätigt, behauptet damit insbesondere auch, daß für die Richtigkeit des Kausalurteiles insbesondere die Tatsache spricht, daß die Antecedensentität in der konkreten Situation eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität dargestellt hat. 91 Wenn daher, wie dies in der Praxis der Gerichte, aber auch in weiten Teilen der Rechtswissenschaft, mittels der zum Allgemeingut gewordenen "Conditiosine-qua-non-Formel" tagtäglich geschieht, positive Kausalurteile durch kontrafaktische Konditionalsätze bestätigt werden, so wird damit nur zum Ausdruck gebracht, daß die Möglichkeit die Antecedensentität als notwendige Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität beschreiben zu können, der entscheidende Gesichtspunkt für die Annahme einer kausalen Relation war. Daß dieses Urteil auch wahr ist, muß von dem Urteiler gegebenenfalls explizit, nämlich unter anderem durch Kennzeichnung des "kausalen Feldes" und Benennung des Obersatz für einschlägig erachteten Kausalgesetzes gesondert nachgewiesen werden. 92 (2.) Eine Aussage über einen in der Vergangenheit möglichen Kausalverlauf beinhaltet etwa die Feststellung: "Wenn dieser Hund am Ort LI zum Zeitpunkt Tl losgebunden worden wäre, hätte er den Briefträger am Ort L2 zum Zeit-
Vgl. dazu Nuchelmanns, 'Counterfactual Conditionals' and Singular Causal Statements, in: Proceedings of the XIth. International Congress of Philosophy - Bruxelles 1953, Amsterdam 1953, S. 16 ff.
91
Die in der Rechtswissenschaft auf der Conditio-sine-qua-non-Formel aufbauende sog. Bedingungstheorie ist dementsprechend auch kein Verfahren zum Nachweis von Kausalität, sondern definiert lediglich in spezifischer Weise den Obersatz für das zu treffende Kausalurteil. Sie ist kein "Ersatz" für eine eingehendeKausalanalyse. Zur Grundlegung der Bedingungstheoriesiehe Max von Buri, Zur Lehre von der Teilnahme an den Verbrechen und der Begünstigung, Gießen 1860, S. 2 ff.; ders., Über Causalitätund deren Verantwortung, S. 1 ff.; zusf. Günter Spendei, Die Kausalitätsformel der Bedingungstheorie, Heidelberg 1948, S. 16 ff. Zu der an die oben dargestellten Gesichtspunkte anknüpfenden Kritik vgl. nur Karl Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, Tübingen 1931, S. 18 ff.; ders., Vom Weltbild des Juristen, S. 132 ff.; dagegen SpendeI, S. 85 ff.; krit. auch Hans Jürgen Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, Hamburg 1968, S. 1 ff.; Armin Kaufmann, Tatbestandsmäßigkeit und Verursachung im Contergan-Verfahren, JZ'71, 569, 574 ff.; Schulin, Der natürliche - vorrechtliche Kausalitätsbegriff, S. 99 ff. 92
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
punkt TI gebissen". Wer ein solches Statement am Ende einer Kausalanalyse abgibt, will offensichtlich kundtun, daß er über Erkenntnisse verfügt, die es ihm ermöglichen würden, die Subsequensentität "Gebissenwerden des Briefträgers am Ort L2 zum Zeitpunkt TI" durch die Antecedensentität "Losbinden des Hundes am Ort LI zum Zeitpunkt Tl" kausal zu erklären. Er stellt aber gleichzeitig auch klar, daß beide Entitäten an den fraglichen Orten zu den bezeichneten Zeitpunkten nicht existent waren. Ein kontrafaktischer Konditionalsatz "wenn A eingetreten wäre, dann hätte sich auch B ereignet" beinhaltet danach zunächst nicht mehr als die Behauptung, daß es gute Gründe dafür gibt, eine Entitätensequenz A - B als eine Causa - Effectus - Relation zu begreifen, verknüpft mit der Feststellung, daß weder ein A, noch ein B vorliegt. 93 Nach dieser Interpretation ist ein derartiges kontrafaktisches Konditional im Ergebnis also nichts anderes als ein Ausdrucksmittel für ein singuläres Kausalurteil über eine fiktive Entitätensequenz. Wie bei alltäglichen singulären Kausalaussagen auch, handelt es sich bei der im Vorderglied bezeichneten fiktiven Antecedensentität in aller Regel nur um einen Kausaljaktor. Wer feststellt: "Wenn A vorhanden gewesen wäre, dann hätte sich auch B ereignet" behauptet implizit, daß es nach seinem Wissensstand zu dem fraglichen Zeitpunkt an dem bezeichneten Ort ein Antecedensentitätenkomplex vorlag, der nur noch des Hinzutretens eines A bedurft hätte, um eine vollständige Causa für B zu konstituieren. A war danach vor dem Hintergrund des in Rede stehenden "kausalen Feldes" eine relativ hinreichende Bedingung für den Eintritt von B und, da es lediglich auf das Fehlen von A zurückzuführen war, daß es später nicht zum Eintritt von B kam, insoweit auch notwendig. Eine "Wahrheitsregel" könnte hier folgendes Aussehen haben:
Vgl. Weinberg, Contrary-To-Fact Conditionals, Journal of Philosophy, Vol. 48 (1951), S. 16, 18; siehe dazu auch: Waletzki, Was ist ein irrealer Konditionalsatz, Kantstudien, Vol. 71 (1980), S. 254, 261. - Mackie, Counterfactuals and Causal Laws, in: Analytical Philosphy, lrst Series, hrsg. v. Reginald J Butler, S. 66,70 ff. sieht bereits in einem kontrafaktisches Konditional per se ein, wie er es nennt verdichtetes Argument ("condensed argument"). So soll der kontrafaktische Konditionalsatz" wenn A eingetreten wäre, dann hätte sich auch B ereignet" die zugrunde liegende allgemeine Gesetzesaussage" immer wenn A, dann B" bestätigen, indem er feststellt, daß die Gesetzesaussage auch bei Einfügung kontrafaktischer Instanzen gültig bleibt. Inwieweit diese Feststellung tatsächlich haltbar ist, hängt letztlich allein von der induktiven Bestätigung der Gesetzesaussage selbst ab ( S. 73). -Zum Verhältnis Naturgesetz - kontrafaktisches Konditional, siehe auch Kneale, Natural Laws and Contrary-to-fact-Conditionals, Analysis, Vol. 10 (1950), S. 121 ff. 9J
IV. Kausalität und Argument
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Der kontrafaktische Konditionalsatz" wenn A eingetreten wäre, dann hätte sich auch B ereignet" ist dann wahr, wenn es vor dem Hintergrund des vorhandenen Wissens möglich ist, die Antecedensentität A sowie die Subsequensentität B hinzuzufingieren und gleichwohl, ohne das weitere Fiktionen erforderlich wären, ein konsistentes kausales Gefüge zu behalten. Es ist also erforderlich, daß hinreichende Erkenntnisse über weitere Antecedensentitäten und korrespondierende kausale Gesetzmäßigkeiten vorliegen, die es gestatten, eine kausale Sequenz zu bilden, deren Effectus durch B verkörpert wird und deren Causa unter anderem A als einen Kausalfaktor einschließt. 94 Unterstellt, aufgrund unseres Wissensstandes folgt auf einen Entitätenkomplex A, C, E stets ein B. Wir wissen, daß C und E zu einem bestimmten Zeitpunkt t existent waren, ein A aber fehlte und auch im Zeitpunkt t' kein B vorhanden war. Der kontrafaktische Konditionalsatz" wenn A zum Zeitpunkt t eingetreten wäre, dann hätte sich auch B zum Zeitpunkt t' ereignet" ist demnach wahr, denn allein durch die Fiktion, daß A zum Zeitpunkt t vorlag und B zum Zeitpunkt t' eingetreten ist, entsteht hier eine kausale Sequenz mit B als Effectus und A als einem Kausalfaktor . 95
.. Hiz, On the Inferential sense of Contrary-to-fact Conditionals, in: Journal of Philosophy Vol. 48 (1949), S. 586 f. hat ein kontrafaktisches Konditional dementsprechend auch als eine metalinguistische Aussage bezeichnet, die feststellt, daß innerhalb eines bestimmten Systems von Aussagen ein ganz bestimmter Schluß möglich ist. Der kontrafaktische Konditionalsatz "wenn A eingetreten wäre, dann hätte sich auch B ereignet", besagt danach, daß, wenn die Existenz eines A innerhalb eines bestimmten Sytems als wahr akzeptiert wird, auch die Existenz eines B innerhalb dieses Systems als wahr akzeptiert werden kann. Vgl. dazu auch Chisholm, Law Statements and Counterfactual Inference, Analysis, Vol. 15 (1955), S. 97, 101 f. 9S Eine eigenständige hochdifferenzierte Theorie kontrafaktischer Konditionale fmdet sich bei David Lewis (Counterfactuals, Oxford 1973). Ausgangspunkt ist die Annahme einer Relation, die Lewis
"komparative Gesamtähnlichkeit zwischen möglichen Welten" nennt. Eine "mögliche Welt" ist dabei nicht etwa eine linguistische, sondern quasi-ontologische Entität eigener Art. Eine "mögliche Welt" ist der realen Welt"komparativ gesamtähnlicher" als eine bestimmte andere "mögliche Welt", wenn sie der realen Welt nach Abwägung aller Ähnlichkeiten und Unterschiede näher kommt, als die andere "mögliche Welt". Der kontrafaktische Konditionalsatz "wenn A in Erscheinung getreten wäre, dann hätte sich auch B ereignet" ist vor diesem Hintergrund nach Lewis dann wahr, wenn die flk:tive Welt, in der ein A und ein B vorhanden sind, der realen Welt "gesamtähnlicher" ist, als eine fiktive Welt in der nur ein A existiert. Mit anderen Worten: Es muß der Fall sein, daß, um nur das Vorderglied wahr zu machen, mehr von der realen Welt abgewichen werden muß, als dieses erforderlich ist um die Wahrheit sowohl des Vorder-, als auch des Hintergliedes zu garantieren. Kontrafaktische Abhängigkeit von Propositionen setzt Lewis dann in der Folge mit kausaler Dependenz gleich (Causation, Journal of Philosophy, Vol. 70 (1973), S. 556, 560 ff. Kritik an der Theorie von Lewis fmdet sich bei Berofsky, The Counterfactual Analysis of Causation, Journal of Philosophy, Vol. 70 (1973), S. 568 f. und Kim, Causes and Counterfactuals, Journal of Philosophy, Vol. 70 (1973), S. 570 ff.
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
Ist ein solcher kontrafaktischer Konditionalsatz "wahr " , so muß der konträre semikontrafaktische Konditionalsatz ("Wenn A eingetreten wäre, hätte sich B gleichwohl nicht ereignet") falsch sein. Es muß also ausgeschlossen sein, vor dem Hintergrund des vorhandenen Erkenntnisstandes lediglich ein A hinzuzufmgieren und trotzdem weiterhin ein konsistentes kausales Gefüge zu behalten. 96 Im Recht spielen derartige kontrafaktische Konditionale dann eine Rolle, wenn es darum geht, Unterlassungstätem bestimmte Rechtsgutsverletzungen zuzurechnen, wobei das pflichtgemäße Verhalten und der unverletzte Zustand des Rechtsgutes die jeweils in Vorder- und Hinterglied beschriebenen Entitäten darstellen. Der Urteiler gibt auf diese Weise zu verstehen, daß auf der Grundlage des von ihm ermittelten Sachverhaltes und vor dem Hintergrund seines Wissens über kausale Abläufe ein pflichtgemäßes Verhalten eine relativ hinreichende und post factum notwendige Bedingung für den Erhalt des unverletzten Zustandes des Rechtsgutes gewesen wäre. 97
V. Determinismus versus probabilistische Kausalität An der überkommenen deterministischen Kausalitätsauffassung wonach der Effectus auf die Causa mit Notwendigkeit folgen müsse, ist inbesondere in neuerer Zeit vermehrt Kritik geübt worden.
- Einen ähnlichen Ansatz hat auch schon Robert Stalnaker vorgestellt (A Theory of Conditionals, in: Emest Sosa, Causes and Conditionals, London 1975, S. 165 ff.). Ein kontrafaktisches Konditional" wenn A eingetreten wäre, dann hätte sich auch B ereignet" ist, vereinfacht dargestellt, nach Stalnaker dann wahr, wenn in der der realen Welt am nächsten gelegenen zugänglichen AWelt auch ein B vorkommt. Geht man wieder von dem oben angeführten Beispiel aus und fingiert man lediglich ein A hinzu, so wäre zum Zeitpunkt t ein Antecedenskomplex A, C, E gegeben, der aufgrund des vorhandenen Kausalgesetzes zu der Entstehung eines B in t' hätte führen müssen. Der angeführte semikontrafaktische Konditionalsatz ist demnach nur zu halten, wenn über die kontrafaktischen Elemente hinaus weitere Fiktionen vorgenommen werden. So könnte ein konsistentes kausales Gefüge etwa dadurch hergestellt werden, daß man fIktiv aus dem Antecedensmaterial die Entität C oder die Entität D eliminiert oder auch einen neuen Faktor X hinzufügt, der A im Hinblick auf B in seiner kausalen Bedeutung konterkariert. 96
Vgl. dazu etwa Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Auflage, Berlin 1969, S. 212 f.; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Berlin 1991, 29. Abschn. Rdn. 10 ff.
'TI
V. Detenninismus versus probabilistische Kausalität
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Ein Ausgangspunkt hierfür war die Entwicklung der modemen Naturwissenschaften, insbesondere die der Atom- und Quantenphysik. Heisenberg entdekkte, daß im Bereich der Atomphysik die Ausgangslage von Materieteilchen unmöglich exakt beschrieben werden kann. Von den hierfür konstitutiven jeweils kanonisch konjugierten Größen (Lage und Impuls; Zeit und Energie) kann tatsächlich immer nur eine scharf gemessen werden. Mit dem Grad der Meßschärfe der einen Größe nimmt die Unschärfe der anderen Größe proportional zu (" Heisenberg'sche Unschä1jerelation").98 Dementsprechend ist es bei dem Zerfall radioaktiven Materials prinzipiell99 unmöglich, die Zahl der emittierten Elektronen und deren Richtung durch deterministische Gesetzesaussagen zu beschreiben. Beide Faktoren sind lediglich im Wege statistischer Wahrscheinlichkeitsaussagen erfaßbar. Compton hat diese Erkenntnisse zum Anlaß genommen, das folgende Beispiel zu konstruieren: Radioaktives Material wird in der Nähe eines Geigerzählers deponiert, mit dem eine Bombe verbunden ist. Der ZÜDdmechanismus ist mit dem Geigerzähler derart verknüpft, daß die Bombe zur Detonation gebracht wird, wenn der Geigerzähler einen bestimmten Meßwert anzeigt. 100
Ausgangspunktwar die Erkenntnis, daß ein strahlendes Atom seine Energie nicht kontinuierlich, sondern unstetig, in Stößen abgibt, deren Frequenz keinen detenninistischen Regularitäten unterworfen ist, sondern nur statistisch gemessen werden kann. Vgl. Wemer Heisenberg, Atomforschung und Kausalgesetz, in: ders., Schritte über Grenzen, München 1971, S. 128, 132 f.; vgl. dazu auch: Max Planek, Der KausalbegriCf in der Physik, Leipzig 1937, S. 13 Cf.; Kelsen, Vergeltung, S. 267 Cf.; Oeser, Kausalität und Wahrscheinlichkeit, in: Kausalität, neue Texte, herausgegeben von Günter Poseh, Stuttgart 1981, S. 190, 216 Cf.
98
99 Hierin liegt die besondere Bedeutung der Heisenberg'schen Unschärferelation. Erschien bei anderen physikalischen Phänomenen zumindest noch die Möglichkeit eröffnet, durch eine erschöpfende Analyse sämtliche Parameter eindeutig zu bestimmen und auf diese Weise tatsächlich zu einer deterministischen Prognose zu gelangen, so ist im Bereich der Quantenphysik auch dieser Weg endgültig verstellt. Die exakte Fixierung einer relevanten Größe macht im Gegenzug die genaue Bestimmung einer anderen ebenso relevanten Größe grundsätzlich unmöglich. Lassen sich aber prinzipiell nicht alle maßgeblichen Parameter exakt bestimmen, so kann die Kausalanalyse notwendig nur zu einer Prognose mit einer Wahrscheinlichkeit unter 1 und damit nicht deterministischen Inhaltes führen. Vgl. dazu Reiehenbaeh, Kausalität und Wahrscheinlichkeit, Erkenntnis, Bd. 1 (1930 I 31), S. 158, 181; ders.: Das Kausalproblem in der Physik, in: Die Naturwissenschaften, Bd. 19 (1931), S. 713, 717; ders.: Kausalität und Wahrscheinlichkeit in der gegenwärtigen Physik, in: Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften, Bd. 38 (1932), S. 65, 68 f.
Vgl. A. H. Compton, Tbe Freedom of Man, New York 1969, S. 49; Auf die Urheberschaft Comptons hat Riehard Sorabji (Necessity, Cause and Blame, London 1980, S. 28) aufmerksam gemacht, nachdem Gertrud E. Anseombe (Causality and Determinism, Cambridge 1971, S. 24) dieses Beispiel Riehard Feynmann zugeschrieben hatte. 100
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
Explodiert nun in der Folge die Bombe, so ist es klar, daß emittierte Elektronen den Geigerzähler erreicht und zu der Anzeige eines Wertes veranlaßt ha ben, der die Auslösung des Zündmechanismus und im Ergebnis die Detonation der Bombe zur Folge hatte. Aus der Retrospektive betrachtet bestehen demnach keine Zweifel, den Zerfall des radioaktiven Materials als Causa und die Detonation der Bombe als Effectus aufzufassen. Gleichwohl war es ex ante unmöglich, mit Sicherheit vorauszusagen, daß emittierte Elektronen den Geigerzähler in ausreichendem Maße tangieren werden, da hinsichtlich der Zahl der Elektronen und der von ihnen eingeschlagenen Richtung nur statistische Hypothesen, nicht aber sichere Voraussagen möglich sind. Offensichtlich ist es also durchaus nicht ungewöhnlich, von einer kausalen Relation zwischen sukzessiv auftretenden Entitäten auszugehen, obwohl der Eintritt der Subsequensentität nicht nachweisbar eine unausweichliche Folge des Eintrittes der Antecedensentität war. Der Begriff der Kausalität bezeichnet in diesen Fällen lediglich ein Dependenzverhältnis innerhalb der betrachteten Entitätensequenz, wobei die Antecedensentität eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für den Eintritt der Subsequensentität darstellt. 101 Ganz unabhängig von der Quantenphysik, für die durch die Forschungsergebnisse Heisenbergs erstmalig ein Fall prinzipieller Nichtexplorierbarkeit von Entitätensukzessionen vorgestellt wurde, werden bloße stochastische Relationen als Grundlage für die Annahme analoger kausaler Beziehungen aber auch dann akzeptiert, wenn es aufgrund des Fehlens angemessener Untersuchungsmethoden nicht gelingt, in ausreichendem Maße Antecedensdaten zu erheben um im Wege eines Induktionsschlusses deterministische Aussagen rechtfertigen zu können. So werden im Alltag102 , aber auch in der Wissenschaft, häufig kausale
Vgl. dazu auch das von Jejfrey, Statistical Explanation versus Statistical Inference, in: Wesley C. Salmon, Statistical Explanation and Statistical Relevance, Pittsburgh 1971, S. 19, 25 f. vorgestellte Beispiel der Geschlechtsbestimmung des Nasciturus. Wird nach der Kreation bekannt, daß der Nasciturus etwa männlichen Geschlechtes ist, so kann retrospektiv eine erschöpfende kausale Erklärung hierfür gegeben werden. Offensichtlich hat ein Spennium mit einem YChromosom die Eizelle als erstes erreicht. Vor der Kreation sind gleichwohl nur statistische Aussagen möglich, da wir außerstande sind, Weg und Geschwindigkeit sämtlicher Spennien vorherzubestimmen. JeJJrey spricht hier treffend von einer "Lotterie mit zwei möglichen Kausalerklärungen" (S. 26). 101
102 vgl. dazu insbesondere Pattrick Suppes, A Probabilistic Theory of Causality, S. 7 ff., der die nicht ganz unproblematische These vertritt, daß singuläre Kausalurteile in der Alltagssprache prospektiv stets nur Wahrscheinlichkeitsrelationen zum Inhalt haben, während sie retrospektiv
V. Detenninismus versus probabilistische Kausalität
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Relationen angenommen, obwohl die Kausalanalyse durchaus nicht zur Entdekkung von "Notwendigkeitsrelationen" geführt hat. Salmon lO3 nennt hierfür folgendes Beispiel: 100 zufällig aus einer Population von 200 ausgewählten Ratten wird über die Nahrung eine große Dosis Sacharin zugeführt. Die übrigen 100 Ratten erhalten normale Nahrung. 14 % der 100 Ratten, die mit Sacharin versetzte Nahrung erhalten hatten, erkrankten an Krebs, gegenüber nur 2 % der Gruppe mit normaler Nahrung. Dieses Ergebnis veranlasste die den Versuch durchführenden Wissenschaftler zu der Annahme, daß Sacharin hier eine Krebsursache sei, obwohl die Zuführung von Sacharin hier lediglich signifikant positiv statistisch relevant lO4 für das Auftreten von Krebserkrankungen gewesen ist. Offensichtlich waren die beteiligten Wissenschaftler nicht in der Lage, die konkret in den Organismen der Ratten ablaufenden chemischen und physikalischen Vorgänge detailliert zu explorieren. Daß sie sich trotz der insoweit fortbestehenden "black-box" dazu entschlossen, Sacharin als Krebsursache (Karzinogen) zu bezeichnen, [rodet dabei seinen Grund zum einen darin, daß der für die medizinischen Wissenschaften relevante Aspekt des Ursachenbegriffes in dessen ex ante Komponente liegt und zum anderen für die Ermittlung deterministischer Zusammenhänge im Hinblick auf den spezifischen medizinischen Wissensbedarf insoweit kein Bedürfnis besteht. So geht es für die medizinische Forschung primär darum zu ermitteln, welche Entitäten den Eintritt bestimmter pathologischer Zustände wahrscheinlicher machen, um in der Folge einen Ansatzpunkt für präventive Therapien zu finden. Vergangenheitsrekonstruktion durch Ermittlung kausaler Dependenzverhältnisse ist insoweit ebensowenig erforderlich, wie ein Auffinden deterministischer Relationen. lOs In der Wissenschaftstheorie wurde auf die insbesondere durch die Analysen Heisenbergs zur Gewißheit verdichtete Einsicht, daß es Fälle gibt, in denen wir
tatsächlich ein kausales Dependenzverhältnisbeschreiben. Wenn etwa ein Mutter sagt: • Das Kind hat Angst vor Donner·, so meint sie, folgt man Suppes, nicht, daß das bezeichnete Kind bei jedem Donner Angst bekommen wird, wohl aber, daß hierfür eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht. Ist das Kind aber nach einem Donner verängstigt, so ist es evident, daß das Wahrnehmen des Donners die Causa und das Verängstigtsein der entsprechende Effectus ist. Wesley C. Salmon, Scientific Explanation and the Causal Structure of the World, Princeton 1984, S. 184 f. mit noch weiteren Beispielen.
103
104 Zum Problem der signifikanten positiven statistischen Relevanz vgl. die Darstellung bei Ronald N. Giere, Understanding Scientific Reasoning, 2nd Edition, New York 1984, S. 249 ff.
lOS
Siehe dazu ausführlich oben S. 234 ff.
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
prinzipiell nicht in der Lage sind, einen hinreichenden Kenntnisstand über die Antecedenskonstellation zu gewinnen um deterministische Aussagen rechtfertigen zu können, auf verschiedene Weise reagiert. Während radikale Gegner des Determinismus, wie etwa Gertrud Elisabeth Anscombe, dafür plädieren, die Vorstellung einer "Notwendigkeitsbeziehung" zwischen Causa und Effectus als irrationalen metaphysischen Ballast ganz aus dem Begriff der Kausalität zu verbannen lO6 und diesen Begriff allein noch auf das Vorhandensein einer kausalen Dependenzrelation zu reduzieren, wollen andere nur den Gedanken der "Notwendigkeitsrelation" als ex ante Komponente des Kausalitätsbegriffes auf ein probabilistisches Konzept zurückgenommen wissen. Beide Ansichten stimmen dabei darin überein, daß mit den Erkenntnissen Heisenbergs die Vorstellung eines universellen Determinismus in jedem Falle unhaltbar geworden ist. Derartigen Ansätzen ist entgegengehalten worden, daß ihre Berufung unter anderem auf die Quantenmechanik und die hierbei auftretenden Meßdefizite keine taugliche Grundlage für die Entwicklung eines nichtdeterrninistischen Kausalitätsbegriffes sei. Die Tatsache, daß bestimmte Vorgänge nicht als determiniert erkannt werden können, erlaubt noch lange nicht den Schluß, daß es sich hierbei auch realiter um nicht determinierte Prozesse handelt. Dem wurde jedoch entgegnet, daß für eine deterministische Auffassung von Kausalität keine wissenschaftliche Basis gegeben sei. Die Kemthese des universellen Determinismus, daß es stets möglich ist, bei vollständiger Kenntnis des gegenwärtigen Weltzustandes die Zukunft absolut korrekt vorauszusagen, ist nie praktisch verifizierbar, denn es gibt keinen Fall, in dem eine erschöpfende Analyse des Weltzustandes gelingen könne. Jede Kausalanalyse
106 Anscombe, Causality and Determinism, S. 24 ff.; aus ihrer Sicht war der Erfolg der deterministischen Physik Newtons ein "intellektuelles Desaster", das eine illusion erzeugt hat, der wir weiterhin zu genügen trachten (S. 20). Verursachung ist nach Ansicht von Frau Anscombe reiner Zufall (S. 25: " The Causation itself is, one could say, mere hap. It is difficult to explain this idea any further. ") Vgl. dazu auch Pattrick Suppes, A Probabilistic Theory of Causality, Acta Philosophica Fennica, Fasculum XXIV, Amsterdam 1970, S. 6; Wemer Heisenberg, Atomforschung und Kausalgesetz, S. 133; Compton, The Freedom of Man, S. 46 ff.; Sorabji, Necessity, Cause and Blame, S. 28 ff. mit weiteren Beispielen; Titze, Das Kausalproblem und die Erkenntnisse der modemen Physik, in: Kausalität, neue Texte, herausgegeben von Günther Posch, Stuttgart 1981, S. 31, 38 ff.; Knöpfet, Nichtdeterminierte Kausalität als Schlüssel zur Freiheitsfrage, Rechtstheorie, Bd. 20 (1989), S. 342, 348 f.
V. Detenninismus versus probabilistische Kausalität
77
kann letztlich nur die mehr oder weniger "maßgeblichen" Kausalfaktoren feststellen und sich im übrigen darauf zurückziehen, daß die nicht erhobenen Kausalfaktoren von vemachlässigbar geringem Einfluß auf das Ergebnis sind. Eine auf eine solche Analyse gestützte Prognose kann aber letztlich nur besagen, daß die prognostizierte Entität mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten wird, weil der Einfluß der nicht fixierten Kausalfaktoren vermutlich entsprechend gering ausfällt. 107 Die Annahme eines universellen Determinismus ist per se ein metaphysisches Axiom, nicht aber eine einem empirischen Nachweis zugängliche Aussage über die Wirklichkeit. Eine probabilistische Kausalitätstheorie vermag demgegenüber sehr viel eher eine adäquate Darstellung der erfaßbaren Realität zu vermitteln, als ein Idealvorstellungen verhafteter deterministischer Kausalitätsbegriff. 108 Eine vermittelnde Position nehmen in dieser Frage die sog. krypto-deterministischenlO9 Theorien ein. Diese sehen sich zwar durch die Einsicht in das prinzipielle Limitiertsein menschlichen Erkenntnisvermögens dazu veranlaßt, probabilistische Aussagen innerhalb kausaler Analysen zu akzeptieren, wollen aber an einem deterministischen Weltbild festhalten. Statistische Relevanzrelationen zwischen Entitäten sind danach nicht mehr als ein Indiz für das Vorliegen einer entsprechenden deterministischen kausalen Relation, keinesfalls aber eine zutreffende Wiedergabe von Wirklichkeit. Soweit im Alltag, aber auch in der Wissenschaft statistische Relevanzrelationen als Grundlage für die Annahme analoger kausaler Relationen akzeptiert werden, wird es in der Regel der Fall sein, daß dies nur mit Rücksicht auf ein vorhandenes "black-boxProblem" geschieht und im Hintergrund die Vorstellung bestehen bleibt, daß
107 Vgl. Reichenbach, Die Kausalstruktur der Welt und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft, in: Sitzungsberichte der mathematisch - physikalischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München, Jahrgang 1925, Heft 11 (Juli - Dezember) S. 133, 134 f.; ders.: Kausalität und Wahrscheinlichkeit, S. 176 f.
Hans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Berlin 1951, S. 186 ff.; Oeser, Kausalität und Wahrscheinlichkeit, S. 217 f.; Salmon, Scientific Explanationand the Causal Structure of the World, S. 189 f. 108
109 Vgl. dazu Moyal, Causality, Detenninism and Probability , Philosophy, Vol. 24 (1949), S. 310, 314 mwN.; Papineau, Probabilities and Causes, Journal of Philosophy, Vol. 82 (1985), S. 57, 62 ff., der diese Position als "Evidential View" kennzeichnet.
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2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
eine erschöpfende Analyse des gesamten Antecedensentitätenkomplexes deterministische Relationen zutage treten ließe. l1O Unabhängig davon, ob dem jeweiligen Konzept eine non-deterministisches oder aber doch ein krypto-deterministisches Weltbild zugrundeliegt, gehen praktisch alle probabilistischen Kausalitätstheorien von der gleichen Basisidee aus. ll1 Eine Entität C ist danach eine Causa für das Auftreten einer Entität E, wenn die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Entität von der Art eines E bei vorherigem Auftreten einer Entität von der Art eines C größer ist, als wenn es nicht zum Auftreten eines C gekommen wäre. 112 Anders ausgedrückt: Das Auftreten von Entitäten von der Art eines C muß für das Auftreten von Entitäten von der Art eines E von positiver statistischer Relevanz sein. 113
110 Interessant in diesem Zusammenhang Planek, Der Kausalbegriff in der Physik, S. 15, der zu der Feststellung gelangt, daß gerade die Heisenberg'sche Unschärferelation letztlich einem prinzipiellen Detenninismus verhaftet ist, indem sie die Problematik, nur statistische Aussagen machen zu können, als ein nicht eliminierbares WahrnehmungsdefIzit auffaßt, universelle detenninistische Kausalität aber weiterhin als konstitutiven Bestandteil in ihrem Weltbild beläßt.
111 Dies gilt im Grundsatz auch für die sehr einflußreiche Kausaltitätstheorie Wesley Salmons, der bei seinem Kausalitätskonzept nicht auf punktuelle Entitäten (Ereignisse), sondern, anknüpfend an Russels Begriff der "Causalline" (vgl. ders., Human Knowledge, its Scope and Limits, London 1951, S. 471 ff.), auf die Vorstellung eines kausalen Prozesses Bezug nimmt. Diesen charakterisiert er als einen Vorgang, durch den "Merkmale" übertragen werden. Ein "Merkmal" Q wird in diesem Sinne übertragen, wenn es sich im Verlauf eines kontinuierlichen Vorganges sowohl an dem raum-zeitlich fIxierten Punkt A, als auch an dem ebenfalls raum-zeitlich fIxierten Punkt B und dazu auf dem gesamten Intervall zwischen A und B manifestiert (vgl., ScientifIc Explanation and the Causal Structure of the World, S. 139 ff.). Schneiden sich kausale Prozesse an einem bestinunten Punkt, so ist es möglich, daß sie miteinander interagieren (kausale Interaktion). Dieses ist dann der Fall, wenn zumindest einer von beiden kausalen Prozessen nach diesem Schnittpunkt ein nunmehr modifIZiertes Merkmal Q' aufweist und in der Folge weiter überträgt (vgl. dazu insbesondere auch die Beispiele, S. 202 ff.). Der eigentliche probabilistische Aspekt in der Theorie Salmons liegt nun in der Annahme, daß eine Interferenz von kausalen Prozessen nicht notwendig zu einer bestinunten kausalen Interaktion führen muß. Es ist vielmehr durchaus möglich, daß die Überschneidung eines kausalen Prozesses von der Art PI mit einem solchen der Art P2 einmal zu einer bestinunten MerkmalsmodifIkation MI, einmal zu einer bestinunten anderen MerkmalsmodifIkation M2 und einmal zu gar keiner MerkmalsmodifIkation führt. Die entsprechenden kausalen Prozesse enthalten dann nur eine Art Wahrscheinlichkeitsdisposition (Salmon spricht hier von "Neigungen"), im Falle der Überschneidung mit einem bestinunten anderen kausalen Prozeß mit diesem in ein bestinuntes Interaktionsverhältnis einzutreten oder nicht. - Vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen von Sayre, Statistical Models of Causal Relations, Philosophy of Science, Vol. 44 (1977), S. 203, 205 ff. 112
Vgl. dazu nur Ellery Eells, Probabilistic Causality, Cambridge 1991, S 22.
V. Detenninismus versus probabilistische Kausalität
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Dabei bleibt zu beachten, daß auch stochastische Aussagen über das Auftreten bestimmter Entitäten im Verhältnis zueinander sind dabei stets relativ im Hinblick auf die zugrunde liegende Population und die sie kennzeichnenden Merkmale zu sehen. Das oben im Rahmen der Bedingungsanalyse der Kausalität erörterte Komplexitätsproblem stellt sich auch im Rahmen einer probabilistischen Kausalitätstheorie. Auch hier gibt es ein "kausales Feld" und nur für dieses sind Angaben über eine vorhandene statistische Relevanz gültig. 114 Über das nur aus der ex post Perspektive zu beurteilende Vorhandensein kausaler Dependenzrelationen sagt ein probabilistisches Kausalitätskonzept grundsätzlich nichts unmittelbar aus. I1S Thre Beurteilung bleibt notwendig einer weiteren gedanklichen Operation vorbehalten. Liegt eine Entitätensequenz C E vor und ist bekannt, daß Entitäten von der Art eines C von positiver statistischer Relevanz für das Auftreten von Entitäten von der Art eines E sind, so läßt sich sicherlich mit guten Gründen sagen, daß die konkrete Entität E hier in einem kausalen Dependenzverhältnis zu der Antecedensentität C steht, wenn keine weitere Antecedensentität ersichtlich ist, die gleichfalls von positiver statistischer Relevanz für das Auftreten einer Entität von der Art eines E ist. 116 Ohne diese zusätzlichen Überlegungen ist ein Schluß von der bekannten
113 Zum Begriff der positiven statistischen Relevanz, vgl. Sa/mon, in: ders. et alt., Statistical Explanation and Statistical Relevance, S. 3 ff. / 10 f. - Zu den praktischen Problemen, die mit der Feststellung statistischer Relevanzrelationen als Grundlage für Kausalanalysen verbunden sind vgl. Rogers, Causality, Explanation and Detection, S. 217 ff. 114
Vgl. dazu ausführlich Eells, S. 23 ff.
I" Vgl. dazu Kindhäuser, GA 1982, S. 477,484. Siehe auch Papineau, S. 64 f. 116 Ein probabilistisches Kausalitätskonzept, das auch singuläre Kausalurteile zuläßt, hat Pattrick Suppes (A probabilistic Theory of Causality, aaO.; ders., Conflicting Intuitions about Causality, in: Midwest Studies in Philosophy, Vol. IX (1984), hrsg. von Peter A, French et alt., Minneapolis 1984, S. 151 ff.) vorgelegt. Nach seiner DefInition ist ein Ereignis C, dessen vorheriges Auftreten für das spätere Auftreten eines anderen Ereignisses E von positiver statistischer Relevanz ist, zunächst nur als prima facie Causa zu begreifen (vgl. S. 12.). Das Vorhandensein von positiver statistischer Relevanz indiziert damit zunächst nur das Vorliegen einer analogen kausalen Relation. Eine Kontraindikation, aufgrund derer sich die Entität C als bloß scheinbare Causa (Spurious Cause) erweisen kann, liegt aber vor, wenn es ein weiteres zeitlich vor C liegendes Antecedensereignis C' gibt, das per se von gleicher positiver statistischer Relevanz wie C für den Eintritt des Subsequensereignisses E ist. In diesem Fall ist das Auftreten von C offensichtlich kausal irrelevant für den Eintritt von E, denn schon das zeitlich frühere in Erscheinung tretende Ereignis C' hat die entsprechende Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von E beglÜndet (vgl. S. 21 ff.). Das später
80
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
positiven statistischen Relevanz der Antecedensentität (C) für das Auftreten der Subsequensentität (E) auf das Bestehen eines entsprechenden kausalen Dependenzverhältnisses innerhalb einer bestimmten konkreten Entitätensequenz C E jedoch nicht möglich. Ein instruktives Beispiel hierfür bietet der oben bereits vorgestellte "Geigerzähler-Fall" Comptons. Das Deponieren radioaktiven Materials (Entität D) in der Nähe eines Geigerzählers ist von positiver statistischer Relevanz für dessen Ausschlag (Entität A). Eine Aussage dergestalt, daß in einer solchen Situation emittierte Teilchen radioaktiven Materials stets notwendig das Meßgerät tangieren kann bei gegenwärtigem Erkenntnisstand nicht getroffen werden. D ist keine hinreichende Bedingung für den Eintritt von A. Kommt es aber in der konkreten Situation zu einem Ausschlag des Geigerzählers und ergibt sich somit eine Entitätensequenz D - A, so läßt sich, wenn andere radioaktive Deponate als mögliche Ursachen nicht ersichtlich sind, sicher sagen, daß zwischen diesem Ausschlag und der konkreten Deposition des radioaktiven Materials ein kausales Dependenzverhältnis besteht. D war hier eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt von A.
VI. Einzelprobleme 1. Das Problem der sog. psychischen Kausalität Nicht selten wird ein Problem darin gesehen, ob Kausalität auch ein Konzept zur Erfassung von Entitätensequenzen sein könne, deren Antecedens am Beginn
hinzukommende Ereignis C hat hieran lediglich nichts geändert. Hätte C dagegen die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes vonE erhöht, so wäre es zusammen mit A' als "ergänzende Causa" (supplementary cause) aufzufassen (S. 33 f.). Wäre die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von B durch das in Erscheinung treten von C verringert worden, so soll C in der Terminologie von Suppes' (S. 43 f.) als eine "negative Causa" anzusehen sein. Das Konzept von Suppes schließt dabei durchaus die Annahme nicht aus, daß bestimmte Antecedensereignisse per se hinreichende Bedingungen für den Eintritt eines bestimmten Subsequensereignissessind. Hierbei handelt es sich lediglich um den Grenzfall probabilistischer Kausalität. Die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes des Subsequensereignisses infolge des Aufiretens des Antecedensereignisses beträgt hier 1. Suppes (S. 34) spricht in diesem Fall von hinreichenden oder determinierenden Causae. - Vgl. hierzu auch die kritischen Darstellungen des Konzeptes von Suppes bei Salmon, Probabilistic Causality, Pacific Philosophical Quarterly, Vol. 61 (1981), S. 50,61 ff. und Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, Band I, S. 600 ff.
VI. Einzelprobleme
81
und deren Subsequens am Ende eines zumindest teilweise in der Psyche von Menschen verlaufenden Prozesses stehen. 117 Ein instruktives und aktuelles Beispiel für eine derartige Konstellation bietet ein Fall, den der BGH vor nicht allzu langer Zeit zu entscheiden hatteYs Aufgrund eines Fehlers eines Arztes war einem Kind, das nur eine Niere besaß, auch noch diese Niere operativ entfernt worden. Für die nun erforderliche Transplantation einer gesunden Niere stellte sich daraufhin die Mutter des Kindes zur Verfügung. Das Gericht hatte nun darüber zu entscheiden, ob der Mutter für den Verlust ihrer Niere ein Schadensersatzanspruch gegen den behandelnden Arzt dem Grunde nach zusteht. Ein solcher deliktischer Schadensersatzanspruch nach § 823 I. BGB setzt hier voraus, daß zwischen dem zweifellos deliktischen Verhalten des das Kind operierenden Arztes und dem Nierenverlust der Mutter ein haftungsbegrundender Kausalzusammenhang besteht. Zwischen den Entitäten kontraindizierte Operation des Kindes und Nierenverlust der Mutter liegt unter anderem der Entschluß der Mutter, sich für die Nierenspende zur Verfügung zu stellen. Dieser ist das Ergebnis eines durch den körperlichen Zustand des Kindes motivierten Entscheidungsprozesses. Geht man nun davon aus, daß der körperliche Zustand des Kindes in einem Kausalzusammenhang zu dem deliktischen Verhalten des Arztes steht und auch der Nierenverlust der Mutter als Effectus ihrer Entscheidung zur Organspende verstanden werden kann, so hängt die Beantwortung der Frage, ob auch zwischen dem deliktischen Verhalten des Arztes und dem Nierenverlust der Mutter eine Causa-Effectus-Beziehung besteht, entscheidend davon ab, ob die Entitätensequenz Nierenverlust des Kindes - Entscheidung der Mutter zur Nierenspende als eine kausale Relation verstanden werden kann. Ist dies möglich, so läßt sich auf der Grundlage des Transitivitätsgrundsatzes (causa causae est causa causati)1I9 tatsächlich die Kausalkette zwischen dem deliktischen Verhalten des Arztes und dem Nierenverlust der Mutter schließen. In der Wissenschaftstheorie ist immer wieder in Frage gestellt worden, ob eine Beschreibbarkeit psychischer Vorgänge mittels kausaler Paradigmen schon
tt7 Vgl. ausführliche Darstellung bei Heinz Koriath, Kausalität, Bedingungstheorieund psychische Kausalität, Göttingen 1988, S. 141 ff. ttS
BGH, Urteil vom 30.06.1987, NJW'87, 2925.
tt9
Siehe dazu oben S. 49.
6 Quentin
82
2. Abschn.: Das Kausalitätsverständnis in der modemen Wissenschaftstheorie
aus grundsätzlichen Erwägungen heraus verneint werden muß .120 Von ganz unterschiedlichen Standpunkten ausgehend wird dabei häufig die Ansicht vertreten, daß "Physis" und "Psyche" so wesensverschieden seien, daß ein Konzept, wie das der Kausalität, das zur Beschreibung von Entitätensukzessionen in der Außenwelt entwickelt worden ist, prinzipiell nicht auf Vorgänge in der Psyche Anwendung fmden könne (sog. Mind-Body-Dualismus).121 So habe die "Psyche" weder eine räumliche Dimension l22 , noch gebe es in ihr mechanische Abläufe. Darüber hinaus fehle es ihr aufgrund der Subjektivität des jeweiligen Erlebens an jeglicher Anschaulichkeit ("Publizität") und damit Zugänglichkeit für eine empirische Exploration.
120 Eingehend zu dem zugrunde liegenden sog. "Mind-Body-Problem", Feigl, Tbe "Mental" and the "Physical " , in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. 11., hrsg. v. Herben Feigl et alt., Minneapolis 1958, S. 370, 374 ff.; Köhler, Tbe Mind-Body Problem, in: Dimensions of Mind, hrsg. v. Sidney Hook, New York 1960, S. 3 ff. - Von dieser in der Wissenschaftstheorie geführten Diskussion ist die moral- und rechtsphilosiphische Debatte um die Kompatibilität der Annahme eines universellen Determinismus einerseits und der Möglichkeit der Zuschreibung von Verantwortung andererseits zu unterscheiden. Die in diesem Zusammenhang gegebenen Antworten auf die Frage nach dem Vorhandensein "psychischer Kausalität" sind nicht das Ergebnis einer Exploration der Eigenheiten menschlicher Psyche, sondern ein Derivat aus dem für gültig befundenen Verantwortlichkeitsbegriff, der wiederum letztlich seine Wurzeln in der jeweiligen Weltanschauung hat. Beispielhaft hierfiirist der Streit, ob Strafe "Vergeltungs-" oder "Schutzstrafe " sei. Die Vertreter der Vergeltungsposition waren genötigt eine Determination menschlicher Entscheidungsbildungzu leugnen (vgl. dazu nur Karl Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Band 11., Teilband 1, 2. Auflage, Leipzig 1914, S. 68 ff.), während die Befürworter einer Schutzstrafe das Vorhandensein von Willensfreiheit unter Bezugnahme auf einen universell gültigen Determinismus verneinten (vgl. dazu nur Franz von lis$ Von "Opferzweifel" kann sinnvoll nur da die Rede sein, wo die alternativ in Rede stehenden Effectus Läsionen verschiedener Rechtssubjekte darstellen. Ist dies nicht der Fall, so sollte besser von "Effectus"- oder "Wirkungszweifel" gesprochen werden.
Dritter Abschnitt Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
I. Problemstellung Innerhalb des die Voraussetzungen für eine Haftungsbegründung definierenden Grundtatbestandes des § 823 I. BGB bildet der Begriff der Kausalität die notwendige Kopula zwischen den Merkmalen "zurechenbares Fremdverhalten " und "Rechtsgutsbeeinträchtigung ". Nur eine Aktivität, die sich als "kausal" im Hinblick auf die Rechtsgutsbeeinträchtigung erweist, kann, vorbehaltlich der Erfüllung weiterer Voraussetzungen, Grundlage für eine Haftung sein. Die Definition des Begriffes der Kausalität entscheidet folgerichtig mittelbar auch darüber, wie groß oder wie klein der Kreis der grundsätzlich für eine Haftung in Betracht kommenden Verhaltensweisen zu ziehen ist. Außerhalb der "Grenzen des Kausalen"\ gibt es zumindest nach dem Tatbestand des § 823 I. BGB keine deliktische Haftung. 2 I Dies gilt uneingeschränkt auch für die deliktische Haftung wegen eines Unterlassens. Wer es pflichtwidrig unterläßt, durch ein aktives Verhalten (V) die ohne sein Zutun existente Antecedensentität C zu eliminieren, ist für den späteren Eintritt einer Rechtsgutsverletzung (E) dann grundsätzlich haftbar, wenn die Existenz von C für den Eintritt von E relativ hinreichend und post factum notwendig war. Letzteres ist dann der Fall, wenn sich sagen läßt, daß es bei Elimination von C nicht zum Eintritt von E gekommen wäre (kontrafaktisches Konditional; conditio-sine-qua-non-Formel). Die bei Unterlassungsdelikten üblicherweise angestellten Überlegungen scheinen auf den ersten Blick anders zu verlaufen. Dem ist jedoch nicht so. Nach dem üblichen Priifungsschema soll es darauf ankommen, ob die Vornahme der pflichtgemäßen Handlung zu einem Unterbleiben der Rechtsgutsverletzung geführt hätte. Es wird also maW. danach gefragt, ob die Vornahme von V eine relativ hinreichende Bedingung für den Nichteintritt von E gewesen wäre. Vornahme von V bedeutet Elimination von C. V führt damit nur zum Nichteintritt von E, wenn die Elimination von C ein Ausbleiben von E zur Folge hat. Da dies nur dann der Fall ist, wenn C einen Kausalfaktor (= relativ hinreichende und post factum notwendige Bedingung) für den Eintritt von E darstellt, entscheidet auch hier folgerichtig zunächst allein das Ergebnis der Kausalanalyse dariiber, ob eine haftungsbegriindendeZurechnung überhaupt in Betracht kommt oder nicht. Anders gewendet: Ein Unterlassen kann dann und nur dann eine Haftung begriinden, wenn die aufgrund des Unterlassens unverändert gebliebene Antecedensentität ein Kausalfaktor für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung war. Der bei Unterlassungsdelikten üblicherweise gewählte Untersuchungsansatz führt damit ohne weiteres zu der oben bereits vorgenommenen Kausalanalyse zuriick. Der Begriff der Kausalität markiert im
I. Problemstellung
101
Das insoweit relevante Kausalitätsverständnis der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur wurde bereits in der Einleitung skizziert. 3 Es weist im wesentlichen die gleichen Strukturelemente auf, wie der im vorhergehenden Abschnitt dargestellte traditionelle wissenschaftstheoretische deterministische Kausalitätsbegriff. Die allenthalben etwas unscharfe Beschreibung einer kausalen Relation als einen "nach den Naturgesetzen bestehenden Bedingungszusammenhang " spiegelt ein Begriffsverständnis wieder, das sowohl den Aspekt der Determination als auch den der Dependenz beinhaltet. Ein haftungsbegründender Kausalzusammenhang besteht zwischen einem zurechenbaren Verhalten als einer singulären Entität und einer Rechtsgutsbeeinträchtigung demnach dann, wenn das fragliche Verhalten als eine relativ hinreichende und post factum notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsbeeinträchtigung beschrieben werden kann. In Rechtsprechung und Literatur ist es dabei üblich, in Anknüpfung an den alltäglichen Sprachgebrauch das konkrete Verhalten per se als "Ursache" zu bezeichnen. 4 Dieses ist solange relativ unbedenklich, als man nicht aus dem Blick verliert, daß es sich hier bei dem, was da als "Ursache" deklariert wird, nur um eine von vielen relativ hinreichenden und post factum notwendigen Bedingungen für den Eintritt der Rechtsgutsbeeinträchtigung handelt, die lediglich deshalb eine so exponierte Stellung genießt, weil sie zudem auch noch eine weitere durch das Gesetz postulierte Voraussetzung erfüllt, nämlich die
Ergebnis daher auch hier die Grenzen der Haftbarkeit. Der insbesondere in der Strafrechtswissenschaft noch geführte Streit darüber, ob ein Unterlassen kausal oder nur hypothetisch kausal für den Erfolgseintritt ist, kann hier als bloß tenninologischer Disput dahinstehen bleiben. Vgl. dazu nur Rolf Dietrich Herzberg , Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, Berlin 1972, S. 204 ff.; Urs Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, FrankfurtlM. 1989, S. 88 ff. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von einer "Begrenzungsfunktion" des Begriffes der Kausalität gesprochen. Vgl. etwa !solde Kluge, Alternative Kausalität, Stuttgart 1973, S. 33.
2
Vgl. dazu den Text auf S. 2 f. sowie die Nachweise in den dort angebrachten Fußnoten. - In der neueren insbesondere strafrechtlichen Literatur verstärkt sich die Tendenz, den rechtlich relevanten Kausalitätsbegriff explizit auf wissenschaftstheoretische Analyseergebnisse zu stützen. Vgl. insbesondere Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 84 ff.; Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, S. 137 ff.; Maiwald, Kausalität und Strafrecht, aaO.
J
• Vgl. dazu auch Hermann Lange, Schadensersatzrecht, § 3 ID. (S. 55). Zu den Problemen im Zusammenhang mit einem derartigen Sprachgebrauch bei den Fällen "kumulativer und alternativer Kausalität", siehe oben S. 87.
102
3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
zurechenbare Handlung einer anderen Person als der des Rechtsgutsträgers zu sein. Hinter dieser durch das Gesetz vorgenommenen Selektion steht jedoch bereits eine bestimmte Wertung, die sich nicht mehr auf bloße Kausalitätsaspekte stützt. Das maßgebliche "kausale Feld" wird dabei zum einen durch das von Seiten des Klägers - in Ausnahmefällen auch von Seiten des Beklagten - unterbreitete Evidenzmaterial und zum anderen durch die gerichtsbekannten Einsichten (insbesondere das allgemeine richterliche Erfahrungswissen) konstituiert.
In der Folge soll nun erörtert werden, inwieweit ein derartiges Kausalitätsverständnis im Rahmen des Tatbestandes des § 823 I. BGB tatsächlich begründbar ist und ob gegebenenfalls Korrekturen etwa durch Einführung probabilistischer Aspekte gerechtfertigt werden können. Danach wird erläutert werden, inwieweit die Vorschrift des § 830 BGB zu einer ModifIkation des durch § 823 I. BGB postulierten Basishaftungsschemas führt. Zuletzt werden noch im Rahmen zweier Exkurse abweichende Perspektiven hinsichtlich des Problems der Kausalität vorgestellt und diskutiert.
11. Der Begriff der Kausalität und das Culpa-Prinzip "Etwas Ursache nennen, ist ähnlich, wie zeigen und sagen: Der ist schuld. " Ludwig Wittgensteins
Deliktische Haftung im Sinne der §§ 823 ff. BGB ist Verschuldenshaftung. Tragender Grund für die Zurechnung einer Rechtsgutsverletzung und des daraus resultierenden Schadens ist mit den Worten Therings "nicht die Zufügung des Schadens ... , sondern die Schuld". 6 Ein "Schuldsein an" oder, was dem entspricht, ein "Verantwortlichsein für" in dem hier gemeinten Sinn, setzt wiederum unausweichlich ein "Ursächlich sein für" voraus7 •
, Tagebucheintrag vom 24.09.1937, abgedruckt in: Israel) Vol. 6, (1976), S. 391, 392.
Philosophia (Philosophical Quarterly of
• Rudolf von /hering, Das Schuldmoment im römischen Recht, Gießen 1867, S. 40. Siehe dazu auch Ernst von Caemmerer, Das Problem des Kausalzusammenhanges im Privatrecht, in: Gesammelte Schriften, Band 1., S. 395, 396 f.; ders., Das Verschuldensprinzip in rechtsvergleichender Sicht, RabelsZ, Band 42 (1978), S. 5, 8.
11. Der Begriff der Kausalität und das Culpa-Prinzip
103
Die Vorstellung, daß für einen Schaden nur derjenige zur Verantwortung gezogen werden kann, dem ein Verhalten zuzurechnen ist, das für den Eintritt des Schadens ursächlich war, verkörpert einen seit alters her in praktisch allen Rechtsordnungen wiederkehrenden Fundamentalsatr, der sich bis in das römische Recht zurückverfolgen läßt. Bereits seit den XII Tafel-Gesetzen stand es außer Frage, daß eine deliktische Haftung immer nur denjenigen treffen kann, der durch sein Verhalten objektiv einen schädigenden Erfolg ursächlich herbeigeführt hat. Dabei bildete das Vorliegen eines solchen Kausalzusammenhanges sogar zunächst per se einen hinreichenden Grund für die Bejahung einer entsprechenden Haftung. Die Einführung des Kriteriums der Schuld im Sinne eines auf den konkreten Schadensfall bezogenen konkreten Verantwortlichseins, war erst der weiteren Entwicklung des Haftungsrechtes vorbehalten.9
Vgl. Hart/Honore, Causation in the Law, S. 62 ff.; grundlegend Jonas, The Concept of Responsibility, in: Callahan-Engelhardt (Hrsg.), The Roots of Ethics, New Yorl / London 1981, S. 45, 51 ff.; zu weiteren möglichen Spielarten von Verantwortlichkeit neben der hier in Rede stehenden "causal responsibility" siehe Hart, Postscript: Responsibility and Retribution, in: ders., Punishment and Responsibility, Oxford 1968, S. 210 ff.
7
Daß es Verantwortung und Schuld auch außerhalb kausaler Relationen geben kann versteht sich von selbst. So ist insbesondere für den strafrechtlichen Schuldvorwurfbeim Versuch, wie aber auch bei den schlichten Tätigkeits- und den Gef"ahrdungsdelikten das Merkmal der Kausalität nicht konstitutiv. Vgl. dazu auch HartlHonore, Causation in the Law, S. 63 f. 8
• Ayiter, Kausalzusammenhang im Schadensersatzrecht, Annales de la Faculte de Droit d 'Istanbul (Istanbul Üniversitesi / Hukuk Fakültesi), Vol. 10 (1960), S. 237, 238 ff.; Jörs/KunkellWenger, Römisches Recht, 3. Auflage, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1949, §. 107, 1. a.) (S. 171 f.). Kausalzusammenhangmeinte dabei jedoch zunächst, wie sich insbesondere aus der Lex Aquilia und darauf bezogenen Juristenfragmenten ergibt, nur unmittelbare Verursachung. Die Vorstellung kausaler Verkettungen und einer Transitivität der kausalen Relation war den römischen Juristen wenn auch wohl nicht grundSätzlich fremd, galt ihnen jedoch aber zunächst nicht als taugliche Grundlage für eine haftungsbegIÜndendeZurechnung. Vgl. dazu insbesondere Kunkel, Exegetische Studien zur aquilischen Haftung, Zeitschrift der Savignystiftung, Romanistische Abteilung, Vol. 49 (1929), S. 158, 159 ff.; Ayiter, S. 239 f.; siehe dazu auch Boaz Cohen, The Principle of Causation in the Jewish and the Roman Law of Damages, in: Studi in Onore di Pietro de Francisci, Volume Primo, hrsg. von Antonio Giuffre, Mailand 1956, S. 303, 309 f. mit der Darstellung interessanter Parallelen zum alten jüdischen Recht, sowie Aquarius (Pseudonym), Causation and Legal Responsibility, The South African Law Journal, Vol. 58 (1941), S. 232, 247 f. - Eine ausführliche Darstellung des Problems der mittelbaren Kausalität in den verschiedenen Epochen des römischen Rechtes ausgehend von der Lex Aquilia einschließlich des philosophischen und rethorischen Kontextes fmdet sich bei Dieter Nörr, Causa Mortis, Auf den Spuren einer Redewendung, München 1986; vgl. dazu auch Selb, Kausalität in der dogmengeschichtlichen Betrachtung, in: Festschrift für Herdlitczka, München / Salzburg 1972, S. 215 ff.
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Die Vorstellung, daß es Verantwortlichkeit nur da geben kann, wo faktisch auch ein Kausalzusammenhang existiert, ist bis heute ein Basisaxiom des Rechtsdenkens geblieben. So stellte etwa das Reichsgericht gleich in seinem ersten Urteil zu einem Fall aus dem Bereich des deliktischen Haftungsrechtes apodiktisch fest: "Eine Verpflichtung zum Schadensersatz setzt schlechterdings voraus, daß die Beschädigung dem in Anspruch genommenen zur Schuld zugerechnet werden kann 0, dieses ist jedoch nur möglich, unter der Voraussetzung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen einem Handeln und dem schädlichen Erfolg". 10 Die Regelungen der §§ 823 ff. BGB haben diese scheinbar grundlegende Einsicht übernommen und den Nachweis eines haftungsbegrüDdenden Kausalzusammenhanges zur Bedingung der Möglichkeit einer deliktischen Verantwortlichkeit erhoben. 11 Die Verflechtungen zwischen den Begriffen Causa/Ursache und Schuld/Verantwortlichkeit sind in Denken und Sprache des Alltags, aber auch des Rechtes, vielfaItig und praktisch kaum auflösbar. 12 Die Ethymologiedes deutschen Wortes "Ursache" wie des lateinischen Wortes "Causa" spiegelt diese Situation eindrucksvoll wieder. So bezeichnete der Begriff der "Ursache" in der deutschen Sprache sowohl die "eigentliche Streitsache", aber auch den "Tatbestand", die "Schuld" und das "Vergehen" 13. Im Lateinischen steht das Wort "Causa" ebenfalls nicht nur für Begriffe wie "Quelle" oder "Beweggrund", sondern wurde auch im Sinne von "Schuld" oder "Rechtsfall" verwandt. 14 Auf die ursprüngliche Ableitung der Idee der Kausa-
10
RG, Urteil vom 02.12.1879, RGZ I, 89, 91 f.
11
Siehe dazu auch oben S. 12 mit den Nachweisen in Fn. 5
12 Vgl. etwa die von H.L.A Hart, Punishment and Responsibility, Dxford 1968, S. 214 ff. aufgeführten Beispiele für einen synonymen Gebrauch von Verantwonlichkeit und Ursächlichkeit bezeichnenden Begriffen und Redewendungen. 13 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Elfter Band, ßI. Abteilung, bearbeitet von Euling, Leipzig 1936, Stichwort: "Ursache", Buchstabe A, Nachdruck München 1984, Band 24, S. 2503 f. mit vielen Nachweisen. - Quasi spiegelbildlich bedeutet "schuldig" altdeutsch so viel wie, "die Ursache bildend". Siehe dazu wieder aaD., Neunter Band, bearbeitet von Heyne et alt., Nachdruck München 1984, Band 15, S. 1891.
14 Vgl. Karl Ernst und Heinrich Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 11. Auflage, Basel 1962, Erster Band, S. 1039 f., Stichwort: "causa", mit vielen Nachweisen aus der klassischen Literatur. Besonders hingewisen sei in diesem Zusammenhang noch auf die Redewendung "in causa esse" für "schuld sein", vgl. aaD.
11. Der Begriff der Kausalität und das Culpa-Prinzip
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lität aus Vorstellungen von Schuld und Vergeltung bei Anaximandros wurde bereits hingewiesen. 1s Worin liegt nun dieses scheinbar so zwangsläufige Korrespondenzverhältnis zwischen den Begriffen SchuldIVerantwortung und Kausalität? Etwas zu verantworten haben heißt, in dem Zwang zu stehen, die Existenz dieses Etwas rechtfertigen zu müssen. 16 Schuld an etwas sein, bedeutet sich dessen Vorhandensein zum Vorwurf machen lassen zu müssen. Beides aber kann sinnvoll nur demjenigen auferlegt werden, in dessen Macht es stand, auf das Ob des Eintrittes dieses Etwas Einfluß zu nehmen. Dementsprechend kann es eine Verantwortung für eine in der Vergangenheit liegende Rechtsgutsverletzung nur da geben, wo objektiv ex post betrachtet eine entsprechende Möglichkeit der Vermeidung bestanden hat. Die Begründung einer Verantwortlichkeit oder eines Schuldvorwurfes für Unabwendbares ist sinnlos.1 7 Eine Antwort auf die Frage danach, wie der Eintritt einer bestimmten Entität hätte vermieden werden können, ergibt eine Analyse der kausalen Dependenzverhältnisse. Jeder als Effectus in den Blick genommenen konkreten singulären Entität geht in aller Regel eine unübersehbare Vielzahl von Antecedensentitäten voraus, die jeweils als eine post factum notwendige Bedingung für deren Auftreten beschrieben werden können. Die Elimination nur einer von ihnen, hätte ex post betrachtet auch den Eintritt des Effectus vereitelt. 18 Adressat für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit für den Eintritt einer Rechtsgutsverletzung kann daher im Ergbnis nur sein, wem die Existenz mindestens einer Antecedensentität zur Disposition gestanden hat, die eine post factum notwendige Bedin-
" Siehe oben S. 21 f. Zur Bedeutung von "veranworten" als "sich rechtfertigen müssen" siehe nur Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Zwölfter Band, Erste Abteilung, bearbeitet von E. Wülcker et alt., Leipzig 1956, Nachdruck München 1984, Band 25, S. 79 f. - Siehe hierzu auch Jonas, Tbe Concept of Responsibility, S. 51 ff. 16
17 V gl. dazu Hans Jürgen Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzipund die conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, Hamburg 1968, S. 33 ff.; Edgar Hofmann, Die Umkehr der Beweislast in der Kausalfrage, Karlsruhe 1972, S. 86 ff. - Siehe in diesem Zusammenhang auch Chisholm, "He could have done otherwise", Tbe Journal of Philosophy, Vol. 64 (1967), S. 409 ff, 18
Siehe dazu oben S. 50.
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
gung (Kausalfaktor) für das Auftreten dieser Rechtsgutsverletzung ver-
körpert. 19
Das Culpa-Prinzip hat insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten eine nicht unwesentliche Wandlung erfahren. Der Gedanke der individuellen Vorwertbarkeit, der neben dem objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab des § 276 I. S. 2 BGB als bloßem Definiens der sog. äußeren Sorgfalt in dem Postulat des zusätzlichen Erfordernisses auch einer Verletzung der sog. inneren Sorgfalt20 weitergelebt hat und zum Teil noch weiter lebt21 , ist in der neueren Dogmatik praktisch vollkommen verdrängt worden. Zivilrechtliche Fahrlässigkeitshaftung bedeutet heute nicht mehr ein Einstehenmüssen für individuelles persönlich vorwertbares Fehlverhalten, sondern knüpft praktisch ausschließlich an die Enttäuschung einer bestimmten rollenbezogenen Verhaltenserwartung an, die in mehr oder weniger abstrakten Standards Ausdruck gefunden hat. 22 Der Parameter für die
19 Diese Dispositionsmöglichkeit kann auf zweierlei Weise gegeben sein. Einmal kann ein bestimmtes positives Thn selbst als Kausalfaktor in Betracht kommen, sodaß dessen Unterlassung bereits den Eintritt des unerwünschten Effectus vermieden hätte. Andererseits ist es aber auch möglich, daß durch die Vornahme einer bestimmten, tatsächlich aber unterbliebenen, Handlung ein Kausalfaktor eliminiert worden wäre. In ersteren Fall kommt der jeweilige Agent als "Begehungstäter" , im letzteren Fall als "Unterlassungstäter" in Betracht. - Inwieweit eine Unterlassung als "kausal" bezeichnet werden kann oder aber als lediglich "hypothetisch kausal" bezeichnet werden muß, mag hier dahinstehen. Vgl. dazu nur RolfDietrich Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, Berlin 1972, S. 204 ff.; Urs Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, FrankfurtlMain 1989, S. 88 ff.
Die Begriffe "äußere" und "innere Sorgfalt" stammen von Kilrl Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, Tübingen 1930, S. 266 ff.; vgl. dazu U. Huber, Zivilrechtliche Fahrlässigkeit, in: Festschrift für E. R. Huber, Göttingen 1973, S. 255,265 ff.
20
Insbesondere die Rechtsprechung, aber auch Teile des Schrifttums halten zumindest noch "pro forma" an der Vorstellung fest, daß die Verletzung der gemäß § 276 I. S. 2 BGB defInierten "äußeren Sorgfaltspflicht" noch nicht eo ipso einen analogen Schuldvorwurf begründet, sondern auch weiterhin eine dem individuellen Schuldvorwurf entsprechende Verletzung der "inneren Sorgfalt" hinzutreten muß. Vgl. dazu nur BGH, Urteil vom 13.06.1960, NJW'60, 600 f.; Esser, Schuldrecht, Bd. 1,4. Auflage, Karlsruhe 1970, § 38 ß. (S. 245 ff.); Deutsch, Haftungsrecht, § 18 m. (S 276 ff.). Praktisch begründet die Verletzung der "äußeren Sorgfalt" jedoch stets eine wohl nur noch theoretisch widerlegbare Vermutung für eine entsprechende Verletzung auch der inneren Sorgfalt. Vgl. nur BGH, Urteil vom 11.03.1986, NJW'86, 2757, 2758 mwN.; Krit. zur Aufrechterhaltung der Doktrin von der "inneren Sorgfalt" Brüggemeier, Deliktsrecht, Nr. 113; KÖt7., Deliktsrecht, Rdn 1118.
21
Eingehend dazu Kramer, Das Prinzip der objektiven Zurechnung im Delikts- und Vertragsrecht, AcP 171 (1971), S. 422,423 ff.; Brüggemeier, Gesellschaftliche Schadensverteilungund Deliktsrecht, AcP 182 (1982), S. 385,436 ff.; Leser, Zu den Instrumenten des Rechtsgüterschutzes im Delikts- und Gefährdungshaftungsrecht, AcP 183 (1983), S. 568, 588 ff., vgl. in diesem
22
11. Der Begriff der Kausalität und das Culpa-Prinzip
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Bestimmung des Gesollten ist allein noch "die im Verkehr erforderliche Sorgfalt" im Sinne von § 276 I. S. 2 BGB, ohne daß es noch auf das Vorhandensein eines Kongruenzverhältnisses zwischen dieser Verhaltenserwartung und der individuellen konkreten Leistungsfähigkeit ankäme. Die zivilrechtliche Fahrlässigkeit ist zu einem Vehikel objektiver Zurechnung geworden. Dieser Befund ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß das deliktische Haftungsrecht auch dann, wenn es bei der Bestimmung der Determinanten für den Schuldvorwurf von der Individualität des in Rede stehenden potentiell Haftpflichtigen abstrahiert, dem Verantwortlichkeitsgedanken verpflichtet bleibt und damit weiterhin ein festgestelltes objektives Vermeidenkönnen voraussetzt. Auch ein "durchschnittlich-ordentlicher Rechtsgenosse" kann nur verantworten müssen, was er objektiv vermeiden konnte. Kausale Dependenz bleibt ungeachtet des beschriebenen "Funktionswandels " eine Bedingung der Möglichkeit deliktischer Haftung. Aus dem Bestehen eines solchen kausalen Dependenzverhältnisses zwischen einem dem potentiell Haftpflichtigen zurechenbaren Verhalten und dem Eintritt der Rechtsgutsverletzung allein läßt sich andererseits gleichwohl noch kein Argument für eine entsprechende Verantwortlichkeit herleiten. So ist es ein Kennzeichen eines jeden Schadensfalles, daß stets auch dem betroffenen Rechtsgutsträger ein Verhalten zugerechnet werden kann, das eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt des Verletzungsereignisses darstellt. Wenn etwa Kfz-Lenker X unachtsam den Gartenzaun des Y beschädigt, so steht dieses Ereignis zu dem Fahrverhalten des X in gleicher Weise in einem kausalen Dependenzverhältnis, wie zu der zwei Jahre zuvor erfolgten Errichtung des Zaunes durch Y selbst. Ist es aber der Fall, daß sich das dem Rechtsgutsträger (Y) zuzurechnende Verhalten von dem des "Schädigers" (X) hinsichtlich seines kausalen Bezuges zur Rechtsgutsverletzung nicht unterscheidet, dann ist das Kriterium der Kausalität per se ungeeignet, in irgendeiner Weise einen Grund dafür zu liefern, warum der entstandene Schaden von den Schultern des ursprünglich betroffenen Y auf die des X abgewälzt werden soll. Dem Vorwurf
Zusammenhang auch Deutsch, Entwicklungstendenzendes Schadensrechts in Rechtsprechung und Wissenschaft, JuS '67 ,S. 152 ff.; Bemhard Groß/eid, Zivilrecht als Gestaltungsaufgabe, Karlsruhe 1977, S. 20 f.; Hans StolI, Richterliche Fortbildung und gesetzliche Überarbeitung des Deliktsrechts, Karlsruhe 1984, S. 16; sowie Lukes, Das Schadensausgleichsrecht- Funktionen und Faktoren im Zeitalter der Technik, VersR'83, 697, 701 ff.
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
des X, durch eine entsprechende Verhaltensänderung objektiv zur Vermeidung des Eintrittes der Rechtsgutsverletzung in der Lage gewesen zu sein, kann Y stets mit dem tu-quoque-Argument begegnen. 23 Hieraus läßt sich jedoch nur ein Argument gegen ein Haftungskonzept herleiten, das allein das Bestehen einer derartigen kausalen Dependenzrelation für eine Schadensüberwälzung genügen läßt. Als Bestandteil eines auf Verantwortlichkeit aufbauenden Ansatzes ist dieses Element gleichwohl unerläßlich. Die Tatsache, daß sich ein Dritter einen Kausalfaktor für den Eintritt des Verletzungsfalles zurechnen lassen zu muß, stellt erst jenes Gleichordnungsverhältnis zwischen ihm und dem verletzten Rechtsgutsträger her, auf dessen Grundlage sinnvoll danach gefragt werden kann, wen von beiden die entstandenen Lasten treffen sollen. Erst mit der Feststellung, daß X ebenso wie Y den Eintritt der Rechtsgutsverletzung vermeiden konnte, wird die Frage nach einer möglichen Abwälzung der Schadenslast überhaupt erst aufgeworfen, ihre Beantwortung aber in keiner Weise präjudiziert. Das Vorliegen eines kausalen Dependenzverhältnisses zwischen einem zurechenbaren Verhalten und dem Eintritt der Rechtsgutsverletzung läßt sich daher zutreffend als eine Bedingung der Möglichkeit deliktischer Haftung beschreiben. Es liefert per se betrachtet jedoch noch kein Argument dafür, warum der Urheber dieses Verhaltens und nicht der Rechtsgutsträger die Last des Schadens tragen sollte. 24
2J Vgl. dazu insbesondere Coase, The Problem of Social Costs, The Journal of Law and Economics, Vol. 3 (1960), S. 1 ff .. Michael Adams, Ökonomische Analyse der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung, Heidelberg 1985, S. 149, spricht in diesem Zusammenhang im Anschluß an Coase von einer "Symmetrie der Kausalität". Eine eher mißverständliche Ausdrucksweise, suggeriert sie doch das Vorliegen eines Widerspruches zu dem allgemein anerkannten Element der .. Asymmetrie" kausaler Relationen (vgl. dazu nur JohnLeslie Mackie, The Cementof the Universe, Oxford 1974, S. 160 ff.). Was Adams ausdrucken will, ist nicht mehr als die bereits unter dem Stichwort "Äquivalenztheorie .. juristisches Allgemeingut gewordene Einsicht, daß alle Antecedensentitäten, zu denen die in Rede stehende Subsequensentität in einem kausalen Dependenzverhältnis steht, gleichwertig sind.
24
Vgl. zum Ganzen auch Weinrib, Causation and Wrongdoing, S. 429 ff.
III. Der Begriff der Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung
109
111. Der Begriff Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung 1. Die Dichotomie der Zwecke deliktischer Haftung Jede Rechtsordnung hat sich im wesentlichen an zwei für sie existentiellen Vorgaben zu orientieren. Einerseits muß sie, um überhaupt als Recht anerkannt zu werden, für konkrete Konflikte zwischen Bürgern Lösungen bereithalten, die vor allgemein akzeptierten Gerechtigkeits-, Wert- und Moralvorstellungen bestehen können. Andererseits ist sie schon aus Gründen der Selbsterhaltung genötigt, durch Schaffung eines entsprechenden Systems aus Verhaltensanreizen, Bestandsgarantien und Freiräumen, die Individuen zum Ergreifen sozial nützlicher und zum Unterlassen sozial schädlicher Aktivitäten zu veranlassen, um so der Gesellschaft Wohlstand und Wohlfahrt zu garantieren. 25 Auch die herkömmlich der Unrechtshaftung nebeneinander zugewiesenen Aufgaben spiegeln diese beiden Gesichtspunkte wieder. So sieht man im allgemeinen die vornehmste Bedeutung des· Deliktsrechtes darin, in Schadensf,illen außerhalb von Vertragsverhältnissen dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit zur Durchsetzung zu verhelfen. 26 Zusätzlich
2' Dabei muß es dem Recht insbesondere darauf ankommen, gerade den aus sozial wünschenswerten Tätigkeiten fließenden individuellen Vorteilen einen Bestandschutz zu gewähren bzw. durch eine entsprechende Garantie bestimmter Nutzungsrechte derartige Tätigkeiten mit der Möglichkeit, individuellen Nutzen zu ziehen, zu verbinden. Eingehend dazu Adams, Ökonomische Analyse der Gefahrdungs- und Verschuldenshaftung, S. 154 mwN.; ders., Zur Aufgabe des Haftungsrechtes im Umweltschutz, ZZP, Bd. 99 (1986), S. 129, 139 f. und Fußnote 41.
Eine ausführliche Diskussion der ethischen Grundlagen des deliktischen Haftungsrechtes und seines Ursprunges in der Idee ausgleichender Gerechtigkeit fmdet sich bei Coleman, Moral Theories of Torts: Their Scope and Limits, in: Justice, Rights and Tort Law, hrsg. v. Michael D. Bayles und Bruce Chapman, Dordrecht I Boston 1983, S. 45, 65 ff.; ders., Corrective Justice and Wrongful Gain, II J. Legal Stud., 421, 422 ff. (1982); ders./Jeffrie G. Murphy, Philosophy of Law, Revised Edition, San Francisco I London, 1990, S. 143 ff. Als Keimzelle deliktischer Haftung anerkannt wird die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit von Fletcher, Fairness und Utility in Tort Theory, 85 Harv. L. Rev., 537 (1972); Englard, The System Builders, 9 J. Legal Stud., 27 (1980); Weinrib, The Insurance Justification and Private Law, 14 J. Legal Studies, 681, 685 ff. (1985) und insbesondere auch Epstein, A Theory of Strict Liability, 2 J. Legal Stud., 151 (1973) [ siehe dazu auch unten Fn. 22 ]. - Innerhalb der deutschen haftungsrechtlichen Literatur spricht man in diesem Zusammenhang häufig von der sog. "Ausgleichs- oder Kompensationsfunktion" des Deliktsrechtes (vgl. Franz von liszt, Deliktsobligationen, § 1 I. 1.) (S. 2); Ulrich Lorenz-Meyer, Haftungsstruktur und Minderung der Schadensersatzpflicht nach richterlichem Ermessen, lübingen 1971, S. 54 f.; Kramer, Objektive Zurechnung im Delikts- und Vertragsrecht, S. 427; Deutsch, Haftungsrecht, § 6 11. 3.) (S. 70); Menens in Münch.Komm.z.BGB, vor § 823, 26
110
3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
fließen jedoch auch verschiedene weitere moralische Prinzipien und Erwägungen ein, deren Ursprung häufig nur schwer aufgeklärt werden kann und die sich am ehesten mit Worten wie "Fairness" oder "Billigkeit" umschreiben lassen. 27 Daneben besteht im wesentlichen Einigkeit darüber, daß das modeme Deliktsrecht - neben seiner Funktion als Ausgleichsmodus für punktuelle bilaterale Konflikte zwischen einzelnen gleichgeordneten Rechtssubjekten - auch als ein Instrument sozialverträglicher Verhaltenssteuerung fungiert und insoweit präskriptive Wirkungen entfaltet. Die Zuweisung der Kompensationspflicht hat in diesem Sinnzusammenhang praktisch Sanktionscharakter und dient der Bewährung des durch die jeweilige Verkehrssicherungspflicht postulierten Verhaltensge- bzw. verbotes. Vorrangiges Ziel ist es dabei, präventiv, nämlich durch Einflußnahme auf Verhaltensentscheidungen, zu einer Reduktion des gesamtgesellschaftlichen Schadensaufkommens beizutragen. 28 Besonders schadensträch-
Rdn. 41, jeweils mwN. Die grundlegende Bedeutung der Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit als der eigentlichen Keimzelle deliktischer Haftung überhaupt wird dabei nur selten klar herausgearbeitet. Insbesondere ist es mißverständlich, was leider häufig geschieht, "Schadensabnahme" als den eigentlichen Haftungszweck zu bezeichnen. Die Übertragung der Schadenslast ist nur das Vehikel, um dem Gebot ausgleichender Gerechtigkeit im Einzelfall nachzukommen. - Eine kritische Auseinandersetzung mit der" Ausgleichsfunktion" des Schadensersatzes fmdet sich bei Gottfried Schiemann, Argumente und Prinzipien bei der Fortbildung des Schadensersatzrechtes, München 1981, S. 185 ff. n Siehe dazu die kritischen Anmerkungen bei Weyers, Unfallschäden, S. 573 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung; vgl. auch Calabresi, The Costs of Accidents, S. 293 ff., der diesbezüglich etwas abwertend von "moralischen Attitüden" spricht. Den Versuch, "Gerechtigkeitsideen" in der Praxis richterlicher Schadenszuweisung aufzuspüren, unternimmt Stamer, Zur Gerechtigkeit richterlicher Schadenszuweisung, VersR'84, 297 ff. 2. Die Präventionswirkung der Zuweisung der Kostentragungslast wurde sehr früh bereits durch von Liszt, Deliktsobligationen, § 1. I. (S. 1 f.) in das Blickfeld gerückt. Vgl. dazu auch Rümelin, Culpahaftung und Causalhaftung, AcP 88 (1888), S. 285, 296. Grundlegend Hans-Lea Weyers, Unfall schäden, FrankfurtlM. 1971, S. 446 ff.; Calabresi, The Costs of Accidents, S. 68 ff. und 244 ff.; KöfZ, Deliktsrecht, Rdn. 119 ff.; Adams, Zur Aufgabe des Haftungsrechtes im Umweltschutz, 135 ff.; Mertens in Münch.Komm.z.BGB, vor § 823, Rdn. 46 ff.; G. Wagner, Die Aufgaben des Haftungsrechts, IZ'91, 175, 176. - Siehe dazu auch noch unten die Ausführungen zum Economic Approach S. 144 ff. In der Mehrzahl der aktuellen Darstellungen des Deliktsrechtes weisen die jeweiligen Autoren eher beiläufig darauf hin, daß die Zuerkennung einer Haftpflicht auch eine Verhaltensanreizwirkung hat, bzw. räumt diesem Effekt nur sekundäre Bedeutung ein. Vgl. etwa Deutsch, Haftungsrecht, Erster Band, § 6 11. 4.) (S. 71 f.); ders., Grundmechanismen der Haftung nach deutschem Recht, IZ'68, 721,725; Menens in Münch.Komm.z.BGB, vor § 823, Rdn. 44; Larenz, Schuldrecht, Bd. I, 14. Aufl., München 1987, § 271. (S. 423 f.); für das angloamerikanische Recht, Prasser and Keetan on the Law of Torts, hrsg. von W. Page Keetan, 5th edition, St. Paul! Minnessota 1984, S.25 f.
ill. Der Begriff Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung
111
tige Aktivitäten werden durch die Defmition entsprechender Verhaltensstandards zunächst defmiert und im Wege der Androhung eines entsprechenden Haftungsrisikos negativ konditioniert?9 In dieser seiner Funktion als Verhaltenssteuerungsinstument mit dem Ziel der Schadensprävention folgt das deliktische Haftungsrecht unmittelbarO einer dem gesamtgesellschaftlichen Wohl verpflichteten Vorgabe. In einem antagonistischen Gegensatz zu der intendierten "Demotivationswirkung" der Haftungsandrohung, steht die durch die Garantie einer Schadlosstellung im Verletzungsfall ausgelöste positive Motivationswirkung für den seine Rechtsgüter "riskierenden" Rechtsgutsträger (sog. Garantie- o. Existenzsicherungsfunktion). So soll der Schutz bestimmter Rechtspositionen durch die Garantie einer Schadlosstellung im Verletzungsfall jedem Individuum den Bestand derjenigen Freiräume und Güter gewährleisten, die für eine sozialnützliche Selbstentfaltung unerläßlich sind und so die Bereitschaft wecken bzw. bestärken, sich angesichts der vielen Risiken "in die Welt zu wagen" und dort letztlich auch zum Nutzen aller tätig zu werden. 31 Eine weitere, allerdings eher akzidentielle und dementsprechend hinter Ausgleichs- und Präventionsfunktion zurücktretende Aufgabe des Schadensrechtes besteht zuletzt darin, durch eine entsprechende Zuweisung der Kostentragungslast den notwendig eintretenden Effektivitätsverlust so gering wie möglich zu halten. Der Weg zur Erreichung dieses Zweckes kann sowohl in der Herbeiführung eines "1.oss spreading" im Sinne einer Minimierung der individuellen
Zu den psycho-sozialen Faktoren für eine effektive Prävention siehe eingehend Weyers, Unfallschäden, S. 462 ff.; vg!. auch die empirischen Untersuchungen bei Kötz/Schä!er, Schadensverhütung durch ökonomische Anreize, AcP 189 (1989), S. 501 ff.
29
30 Mittelbar erfüllt natürlich auch der vom Deliktsrecht angestrebte gerechte Ausgleich einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme einer fremden Ressource eine bedeutende soziale Funktion. Bereits Aristoteles (siehe dazu oben) war klar, daß die vom Staat zu gewährleistende gerechte Verteilung von Gütern konservierender Mechanismen bedarf, die eintretende Verwerfungen durch die Einleitung antagonistischer Prozesse korrigieren. Der Gedanke der ausgleichenden Gerechtigkeit (in der eng!. Aristoteiesrezeption treffender als "corrective justice" bezeichnet) ist das flankierende formale Prinzip für die die Gesellschaft per se mit konstituierende Ressourcenverteilung. Seine Realisation ist zwar kein Defmiens der Gesellschaft per se, wohl aber eine notwendige Bedingung für den tatsächlichen Fortbestand des Defmitums.
Eingehend dazu Dubischar, Soziologienahe Dogmatik und dogmatische Soziologie im Schadensersatzrecht, in: Festschrift für loset Esser, Kronenberg 1975, S. 9, 11 f.; Luhmann, Öffentlich-rechtliche Entschädigung - rechtspolitisch betrachtet, in: Schriften der Hochschule Speyer, Band 24 (1965), S. 16 ff.
31
112
3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Schadenslast durch Verteilung auf möglichst viele Rechtssubjektel2, aber auch in der Überbürdung des Schadens in toto auf Rechtssubjekte, die diesen aufgrund ihrer Kapitalstärke ohne Verlust an gesellschaftlicher Effektivität verkraften können ("Deep pocket method"), bestehen. 33 Erzielung einer gerechten Entscheidung des Einzelfalles auf der Grundlage der Idee ausgleichender Gerechtigkeit einerseits und effektive Förderung des öffentlichen Wohles durch präskriptive Verhaltensteuerung andererseits, beruhenjedoch auf vollkommen unterschiedlichen Ansätzen. Jeder dieser beiden Aspekte zwingt zu einer gänzlich eigenen Problemsicht und basiert auf voneinander unabhängigen Erwägungen. Nicht selten führen sie zu widerstreitenden Lösungen. 34 Dieses wird gerade im Bereich des deliktischen Hafiungsrechtes dann besonders deutlich, wenn man beide Aspekte zunächst isoliert betrachtet. Ein ausschließlich dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit und weitergehenden Faimesserwägungen verpflichtetes Hafiungsrecht wählt als seinen Bezugspunkt immer nur den jeweils in der Vergangenheit belegenen einzelnen punktuellen Schadensfall. Es begrenzt seinen Gesichtskreis dementsprechend auf die Interessenlage der unmittelbar beteiligten Parteien und die durch sie repräsentierten Rechtspositionen. Die einzelnen Vorgänge (Verhalten, Rechtsgutsverletzung) werden folgerichtig nur als singuläre Entitäten in den Blick genommen. Die gesamtgesellschaftlichen Implikationen der in Betracht zu ziehenden Lösungen bleiben als solche ausgeblendet. Der maßgebliche Standpunkt ist die
ex-post-Perspektive. 35
32
Siehe hierzu Deutsch, Haftungsrecht, § 6 11. 3.) (S. 70 f.); Ca/abresi, The Costs of Accidents,
S. 39 ff.;
Weyers, Unfallschäden, S. 526 ff.; Wemer Rother, Haftungsbeschränkungim Schadensrecht, MünchenlBerlin 1965, S. 270; Prosser and Keeton on Torts, S. 24 f.; Calabresi, The Costs of Accidents, S. 39 ff. 33
Grundlegend dazu Fletcher, Fairness und Utility in Tort Theory, aaD.; ders., The search for Synthesis in Tort Theory, Law and Philosophy, Vol. 2 (1983), S. 63, 72 ff. Siehe dazu auch Großfeld, Zivilrecht als Gestaltungsaufgabe, S. 20 f.; Rudo/fWiethölter, Der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens, Karlsruhe 1960, S. 48 f.; Mertens in MünchKomm.z.BGB, vor § 823, Rdn. 50 ff. mwN. 34
Vgl. dazu Borgo, Causal Paradigms in Tort Law, 8 J. Legal Stud., 419, 454 (1979); Fletcher, Fairness and Utility in Tort Theory, S. 540 ff.; ders., The Search for Synthesis in Tort Theory, S. 74; R. W. Wright, Actual Causation versus Probabilistic Linkage: The Bane of Econornic Analysis, 14 J. Legal Stud., 435, 437 (1985); Palma J. Strand, The Inapplicability of Traditional Tort Analysis to Environmental Risks: The Example of Toxic Waste Pollution Victim Compensa3>
III. Der Begriff Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung
113
Ein de lege lata bezeichnendes Beispiel für einen solchen, ausschließlich durch die speziellen Verhältnisse des konkreten Schadensfalles definierten Betrachtungshorizont, innerhalb dessen es auch erlaubt ist, neben Ausgleichs- und Faimessgesichtspunkte, auch "deep-pocket"-Erwägungen einzubeziehen, bietet die "Billigkeitshaftung" nach § 829 BGB. Legislatorisches Ziel bei Einführung dieser Vorschrift war es, eine gerechte Einzelfallentscheidung auch da noch ennöglichen zu können, wo eine nur dem für das Deliktsrecht grundlegenden Verantwortungsprinzip (§§ 827,828 BGB) verpflichtete Betrachtungsweise aufgrund der Unzurechnungsfahigkeit des Täters nicht zu einem Ersatzanspruch führt, dieses aber im Ergebnis als "grob unbillig" erscheint. Es kommt hier allein auf eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles an, die zu dem Ergebnis führen muß, daß eine Freistellung des zurechnungsunfahigen Täters letztlich nicht näher präzierbaren "Gerechtigkeitsvorstellungen" signifikant widerspricht. 36 Wird dagegen die Schadensallokation allein als Vehikel zur Durchsetzung von Verhaltensstandards betrachtet, muß notwendig von den Interessen der Parteien und den Eigenheiten des konkreten Schadensfalles abstrahiert werden. 37 Verhalten und Rechtsgutsverletzung können allein noch als Repräsentanten einer bestimmten Klasse von Entitäten in den Blick genommen werden. Nur diese Klassen sind in der Folge Gegenstand der Bewertung. Ein Umstand, dessen Bedeutung für die Kausalanalyse unten näher erläutert werden wird. 38
tion, 35 Stan. L. Rev., 575, 606 (1983); Chapmon, Ethical Issues in the Law of Torts, in: M. D. Bayles / ders., Justice, Rights and Tort Law, S. 13, 14. So kann eine solche "konkrete Unbilligkeit" etwa anzunehmen sein, wenn "gerade die Unzurechnungsfahigkeitden Schaden verursacht hat" (BGH, Urteil vom 13.06.58, NJW'58, 1630); der Schädiger in erheblich besseren Vermögensverhältnissenlebt, als der Geschädigte (BGH, Urteil vom 24.04.79, NJW'79, 2096 f.) oder das Verschulden des unzurechnungsfahigen Täters im Verhältnis zum verletzten Rechtsgutsträger besonders schwer wiegt (vgl. BGH, Urteil vom 24.06.1969, NJW'69, 1762). Siehe zum ganzen nur Palandt!I'homos, § 829, 3.). 36
37 Weinrib, The Insurance Justification, S. 686 f. sieht in dieser am gesamtgesellschaftlichen Wohl ausgerichteten Funktionalisierung des Haftungsrechtes eine essentielle dogmatische Fehlorientierung. Nach seiner Ansicht liegt in der durch die aristotelische Idee der "ausgleichenden Gerechtigkeit" vorgegebenen Beschränkung auf "bilaterale Transaktionen" der Wesenskern des Privatrechtes überhaupt. Die Einführung überindividueller Betrachtungsmodi bedeutet dementsprechend für Weinrib ein Auflösen der kategorialen Verschiedenheit zwischen öffentlichem und privatem Recht. Dazu nochmals eingehend ders. Legal Formalism: On the Immanent Rationality of Law, 97 Yale L. 1., 949,992 ff. (1988).
,. Siehe unten S. 119 ff. 8 Quentin
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Die für ein solches Konzept gültigen Paradigmen sind zuvörderst das Ergebnis einer am gesamtgesellschaftlichen Wohl orientierten Analyse. Der Gesetzgeber des BGB hat durch die auch für das deliktische Haftungsrecht gültige Definition eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabes des § 276 I. S. 2 BGB den insoweit erforderlichen Perspektivenwechsel vollzogen. Die Definition dessen, was die im "Verkehr erforderliche Sorgfalt" ausmacht, orientiert sich an dem konkreten Schadensfall nur noch insoweit, als es ihn als eine typische Regelungssituation begreift und danach fragt, welches Verhalten in einem Fall dieser Art einer sinnvollen Ordnung des Gemeinschaftslebens zuträglich ist und die gültige Sorgfaltsnorm entsprechend definiert. 39 Ein konkretes Verhalten wird nicht per se, sondern als Ausprägung eines bestimmten Aktivitätstypus innerhalb eines bestimmten typisierten Kontextes in den Blick genommen und bewertet. Erscheint es nach dem Urteil des Richters im Hinblick auf ein sinnvoll geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben angemessen, sich in Situationen der vorliegenden Art regelmäßig so und nicht anders zu verhalten, so ist auch das konkrete Verhalten im Sinne des § 276 I. S. 2 BGB "sorgfältig" und damit nicht rechtswidrig. 40 Das Bestehen eines kausalen Dependenzverhältnisses zwischen Verhalten und Rechtsgutsverletzung im aktuellen konkreten Schadensfall ist insoweit kein Indiz für ein Rechtswidrigkeitsurteil mehr. "Garantiefunktion" , aber auch "Loss-spreading" und "Deep-Pocket-Method" haben insoweit keine spezifisch eigene Perspektive. Die hinter diesen Begriffen stehenden Erwägungen stellen vielmehr nur ergänzende Argumentationsansätze 3. Die bei der Definition der Sorgfaltsnonn maßgeblichen Aspekte sind natürlich sehr vielschichtig und heterogen. Neben regelutilitaristische Betrachtungen treten zum Beispiel auch "ordre public"Erwägungen etc. Eingehend dazu in rechtsvergleichender Darstellung B.S. MarkesinislChristian von Bar, Richterliche Rechtspolitik im Haftungsrecht, in: Recht und Staat, 502/503, Tübingen 1981, S. 7 ff.; vgl. dazu auch Prosser, Kausalzusammenhang und Fahrlässigkeit, AG fiir Forschung des Landes NRW, Heft Nr. 74, Köln / Opladen 1958, S. 19, 23; Stümer, Zur Gerechtigkeit richterlicher Schadenszuweisung, VersR'84, 297 ff.
BGH GrSZ Beschluß vom 04.03.1957, NJW'57, 785. Eingehend zum Ganzen Münzberg, Verhalten und Erfolg, S. 79 ff.; Nipperdey, Rechtswidrigkeitund Schuld im Zivilrecht, Karlsruher Forum 1959, S. 3 ff.; ders., Rechtswidrigkeit, Sozialadäquanz, Fahrlässigkeit, Schuld im Zivilrecht, NIW'57, 1777 ff.; ders., Tatbestandsaufbau und Systematik der deliktischen Grundtatbestände, NJW'67, 1985,1989 ff.; Fletcher, Fairness und Utility in Ton Theory, S. 558 ff. inbesondere S. 560. - Zur historischen Entwicklung der Fahrlässigkeitshaftung siehe Kötz, Haftung fiir besondere Gefahr, AcP 170 (1970), S. I, 2 ff; vgl. dazu auch Leser, Zu den Instrumenten des Rechtsgüterschutzes im Delikts- und Gefährdungshaftungsrecht, AcP 183 (1983), 568,587 ff. 40
ill. Der Begriff Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung
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zur Verfügung. So hat in der Praxis das Bestehen einer Haftpflichtversicherung und die damit gegebene Möglichkeit zur Schadensstreuung wird häufig auf die Bestimmung der Haftpflicht einen nicht unerheblichen Einfluß haben. 41 Im geltenden Haftungsrecht und der zu ihm entwickelten Dogmatik sind beide Positionen, die typisierende Betrachtung aus der ex ante Perspektive und die konkrete Betrachtung des individuellen Einzelfalles aus der ex post Perspektive, mehr oder weniger ungeachtet der sich aus ihrer Verschiedenheit ergebenden Spannungen, zu einer Einheit zusammengezwungen worden. 42 Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, hieran Kritik zu üben oder gar einen alternativen Lösungsvorschlag zu erarbeiten43 • Für eine de lege lata orientierte Analyse der BedeutungdesErfordernisseseineshaftungsbegründendenKausalzusammenhanges ist es gleichwohl erforderlich, die sich aus dieser Heterogenität ergebenden Konsequenzen im einzelnen aufzuzeigen. In der Folge soll daher versucht werden, das Merkmal der Kausalität aus beiden Blickwinkeln heraus getrennt zu beleuchten.
2. Haftungsbegründende Kausalität und die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit Der Gedanke der ausgleichenden Gerechtigkeit hat seinen locus classicus in der Philosophie des Aristoteles.44 Er beruht auf der Vorstellung, daß ein Zustand der Gerechtigkeit zwischen Bürgern als gleichgeordneten Subjekten nur dann besteht, wenn eine ihren Verhältnissen entsprechend angemessene Verteilung von Gütern durch die Rechts-
Vgl. dazu Weyers, Unfallschäden, S. 429 ff., 518 ff. Calabresi, The Costs of Accidents, S. 51; sowie Deutsch, Haftungsrecht, S. 71 mwN.
41
42 Ob man angesichts dieses Befundes überhaupt noch von einem "System" im eigentlichen Sinn dieses Wortes sprechen kann, erscheint äußerst fraglich. Ludwig Raiser (Die Zukunft des Privatrechtes, S. 32) hat das Haftungsrecht in diesem Zusammenhang nicht zu unrecht als einen "Flickenteppich " bezeichnet.
43 Vgl. dazu nur die Diskussion um die Frage, ob etwa das Unfallhaftpflichtrecht grundsätzlich aus dem Bereich des Deliktsrechtes herausgenommen und allein einem speziellen, an dem Gedanken adäquater sozialer Risikoverteilung ausgerichtetem, Regelungssystemzugewiesen werden sollte. Zu den dabei vorgeschlagenen "versicherungsrechtlichen Lösungen" siehe nur KöfZ, Haftung für besondere Gefahr, AcP 170 (1970), S. 1 I 12 ff.; Leser, S. 573; Mertens in Münch.Komm. z. BGB, vor § 823, Rdn. 51 jeweils mit vielen weiteren Nachweisen. 44
Nikomachische Ethik, 5. Buch, 7. Kapitel.
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
ordnung gewährleistet wird. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es nicht nur eines Regelungssystems, das anfänglich eine diesen Vorgaben verteilender (distributiver) Gerechtigkeit genügende Zuteilung gewährleistet, sondern auch geeigneter Korrekturmechanismen für den Fall, daß ein Bürger seinen Status auf Kosten eines anderen ausdehnt. Dieses ist nun die Aufgabe der ausgleichenden (korrektiven) Gerechtigkeit. 4s Ihr Gegenstand ist eine Konstellation, bei der die angemessene Proportion in der Güterverteilung zugunsten des einen und zu Lasten des anderen durch einen einseitigen Akt verschoben wird. Ein solcher Fall ist die unrechtmäßige Schädigung durch deliktisches Verhalten. Dabei wird quasi unwiderleglich vermutet, daß die Vornahme der schädigenden Handlung dem Täter einen dem auf Seiten des Verletzten eingetretenen Schaden entsprechenden Vorteil verschafft hat. 46 Es besteht somit nunmehr ein der proportionalen Gleichheit widersprechender Zustand im Sinne eines Plus zugunsten des Schädigers und eines Minus zu Lasten des Geschädigten. In Reaktion auf eine derartige Sachlage ist es nun ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, wenn durch Zuerkennung eines entsprechenden Schadensersatzanspruches 47 des Geschädigten gegen den Deliktstäter der
., Welche Ressourcenverteilung eine Gesellschaft für "distributiv gerecht" hält, ist grundSätzlich eine rein politische Entscheidung. Das formale Prinzip der "ausgleichenden Gerechtigkeit" knüpft blind an das Ergebnis dieser Entscheidung an. Jede Definition und Interpretation der Voraussetzungen für eine Haftung enthält notwendig immer auch eine Konkretisierung distributiver Gerechtigkeit. Siehe dazu auch Weyers, Unfallschäden, S. 577 f.; Kramer, Objektive Zurechnung im Delikts- und Vertragsrecht, S. 427. - Das formale Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit als einem Mittel zur Erhaltung einer bestimmten Ressourcenverteilung hat dementsprechendauch nichts zu tun, mit dem teilweise als archetypische "Gerechtigkeitsidee" vorgestellten Gedanken, wonach es immemoch besser sei, einen schuldlosen Täter haften zu lassen, als ein schuldloses Opfer (vgl. dazu etwa RudolfWiethö[ter, Der Rechtfertigungsgrunddes verkehrsrichtigen Verhaltens, Karlsruhe 1960, S. 48 f.). Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch, 7. Kapitel, 1132a, aus dem Griechischen übersetzt von Eugen Rolfes, hrsg. von Günter Bien, 4. Auflage, Hamburg 1985, S. 109: "In diesen Dingen redet man nämlich ganz allgemein von Vorteil, wenn auch der Ausdruck für einige Verhältnisse nicht eigentlich paßt, wie wenn z. B. der Schläger Vorteil und der Geschlagene Nachteil haben soll. " 46
47 Nach der am meisten verbreiteten deutschen Übersetzung der NikomachischenEthik durch Eugen Rolfes erscheint es so, als ob die Restitution des gerechten Vorzustandes eine Aufgabe staatlichen Strafens sei. So heißt es bei Rolfes, S. 109 : "aber der Richter sucht durch die Strafe einen
Ausgleich herbeizuführen, indem er dem Täter seinen Vorteil entzieht." Dies ist jedoch mißverständlich. Grund für den Ausgleich ist die durch die rechtswidrige Handlung herbeigeführte Verschiebung in der Güterzuordnung zwischen den Parteien, nicht aber eine wie auch immer geartete Läsion der staatlichen Ordnung. Die von Aristoteles in Buch V,
ill. Der Begriff Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung
117
vonnals existierende gerechte Verteilungszustand durch Abschöpfung des Plus und Ausgleich des Minus wiederhergestellt wird. 48 Regelungsgegenstand deliktischen Schadensersatzes ist demnach immer eine
post factum zu betrachtende Konstellation, bei der der Eintritt einer bestimmten
schädigenden Rechtsgutsverletzung auf ein konkretes vorheriges Fremdverhalten zurückgeführt werden kann. Dieser Vorstellung entspricht der Begriff der kau-
Kapitel V, 1131a als Beispiele deliktischen Verhaltens aufgezählten Fälle des Diebstahls, der Freiheitsberaubungetc. waren nachAthenischemRechtsverständnisprimär Gegenstand privatrechtlichen Ausgleiches, der sich im Wege einer entsprechendenSchadensersatzleistung vollzog (vgl. dazu Paul VmogradojJ, Outlines of Historical Jurisprudence, Vol. n., Oxford 1922, S. 165 ff.). Eine Auffassung die sich praktisch wesensgleich im klassischen Römischen Recht wiederfmden läßt, wobei sich allerdings in der Akkumulation der diversen Schadensersatzklagen, wie etwa beim Diebstahl, bloße Restitution (condictio furtiva) und Buße (actio furti prohibiti, actio furti concepti, etc.) verschränken (vgl. dazu nur Jörs/KunkellWenger, Römisches Recht, 3. Auflage, BerlinlGöttingenlHeidelberg 1949 [ repr. 1978 ], §. 157 [ S. 252 ff. ]). Es ist daher hier davon auszugehen, daß Aristoteles nicht das staatliche Strafen als den Ausgleichsmechanismuskorrektiver Gerechtigkeit angesehen haben karm, sondern allein den bürgerlich rechtlichen Schadensersatz. Vgl. dazu insbesondere Max Salomon, Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteies, Leiden 1937, S. 30 ff.; H. D. P. Lee, The Legal Background of two Passages in the Nichomachean Ethics, The Classical Quarterly, Vol. 31 (1937), S. 129, 130 f., mit einer detaillierten Darstellung der Parallelen zwischen den von Aristoteles bei 1131a gewählten Beispielen und dem späteren römischen Deliktsrecht; Harold Henry Joachim, Aristotle - The Nicomachean Ethics, A Comrnentary,hrsg. vonD. A. Rees, Oxford 1951, S. 137 ff.; Peter Trude, Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Staats- und Rechtsphilosophie, Berlin 1955, S. 101. - Zu der grundsätzlichen Frage, inwieweit der Gedanke ausgleichender Gerechtigkeit überhaupt einen bestimmten Modus für die Rückgängigmachung der ungerechtfertigten Güterverschiebung vorschreibt, siehe insbesondere Colemon, Moral Theories of Torts, S. 71 ff.; ders., Corrective Justice and Wrongful Gain, S. 422 ff . Vgl. dazu Thomas von Aquin, In decem libros Ethicorum ad Nicomachum comrnentarium, liber V, lectio VI, numero 6, in: S. Thomae Aquitanis, Opera Omnia, Band 4, hrsg. von Pater Robertus Busa, Stuttgart Bad-Cannstadt 1980, S. 185 (" Sed Iudex tentat, hoc adaequare, subtrahens a lucro et apponens damno, ... "); sowie Konrad Marc-Wogau, Aristotle's Theory of Corrective Justice and Reciprocity, in ders., Philosophical Essays, hrsg. vonL. Gustaftson et alt., Lund 1967, S. 21, 23 ff.; Harold Henry Joachim, S. 126 ff.; Posner, The Concept of Corrective Justice in Recent Theories ofTort Law, 1 J. Legal Stud., 187, 189 - 191 mwN. (1971). Der Aspekt der Reziprozität wurde in neuerer Zeit insbesondere von Fleteher aufgegriffen und zum Zentralbegriff seiner Haftungstheorie gemacht. Siehe dazu eingehend Fleteher, Fairness and UtiIity in Tort Theory, S. 543 ff.; vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen bei Englard, S. 63 ff. und Coleman, Justice and Reciprocity in Tort Theory, 14 W. Ontario L. Rev., 105 (1975). - Eine instruktive Erläuterung der Untergliederungen des Aristotelischen Gerechtigkeitsbegriffes fmdet sich bei H. Richards, Aristotle's Subdivisions of 'Partikular Justice', The Classical Review, Vol. 8 (1894), S. 185 ff.; Vgl. dazu auch William Francis Ross Hardie, Aristotle's Ethical Theory, 2. Auflage, Oxford 1980, S. 182 ff.
•8
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
salen Dependenzrelation .49 Er beschreibt ein entsprechendes Existenzabhängig-
keitsverhältnis zwischen zwei aufeinanderfolgenden Entitäten. Die konkrete Rechtsgutsverletzung und die aus ihr resultierende Schadensfolge können nur dann als in ihrem Entstehen von der Vornahme des fraglichen deliktischen Verhaltens abhängig verstanden werden, wenn das letztere insoweit eine post factum notwendige Bedingung für deren Eintritt beschreibt. Beide werden als singuläre Entitäten in den Blick genommen, nicht aber als Repräsentanten entsprechender Klassen, wie dieses bei einer Betrachtung aus der Prospektive notwendig der Fall wäre. Versteht man den Tatbestand des § 823 I. BGB zuallererst als ein Derivat aus der Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit, so verkörpert das Element des haftungsbegrundenden Kausalzusammenhanges im Sinne einer kausalen Dependenzrelation einen integrativen Bestandteil dieser Haftungsgrundnorm. so Haftung ohne kausale Dependenz stände nicht mehr in Konkordanz zu dieser das Haftungsrecht tragenden ethischen Grundeinsicht. Das Bestehen einer kausalen Dependenzrelation ist eine Bedingung der Möglichkeit deliktischer Haftung.
Ein sich aus der Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit rechtfertigendes Kausalitätsverständnis setzt demgegenüber nicht voraus, daß zwischen dem zurechenbaren Verhalten und der Rechtsgutsverletzung als Repräsentanten entsprechender Entitätenklassen eine Notwendigkeitsbeziehung besteht. Eine in diesem Sinne ausgleichsbedürftige Konstellation liegt immer schon dann vor, wenn das zurechenbare Verhalten eine post factum Bedingung für den Eintritt
4. Vgl. oben S. 48 ff.
'" Vgl. dazu Weinrib, Toward aMoral Theory of Negligence Law, Law & Philosophy, Vol. 2, S. 37,45 ff., ders., Causationand Wrongdoing, 63 Chikago-KentL. Rev., 407, 408 ff. (1987); ders., Legal Formalism, S. 992 f.; Horwitz, The Doctrine of Objective Causation, in: The Politics of Law, a Progresseive Critique, ed. by David Kairys, New York 1982, S. 201, 202. - Den interessanten Versuch, praktisch auf der Grundlage der Ausführungen des Aristoteles einen Katalog gültiger kausaler Paradigmen für eine haftungsbegIiindende Zurechnung zu entwickeln (Kraftentfaltung, Angst oder Schock, Nötigung, usw.), unternimmt Richard Epstein, A Theory of Strict Liability, 2 I. Legal Stud., 151, 166 ff. Vgl. dazu die Kritik bei Posner, Epstein's Tort Theory: A Critique, 8 I. Legal Stud., 457 (1979); Borgo, S. 425 -432; sowie die Replik Epsteins, Causation and Corrective Iustice: A Reply to two Critics, 8 I. Legal Stud., 477 (1979). Eine Kritik des Epstein'schen Ansatzes fmdet sich auch bei Steiner, Economies, Morality, and tbe Law of Torts, 24 U. Toronto L. I., 227,243 - 246 (1976). In ihrem Versuch, ein Kausalitätskonzeptzu entwerfen, das per se eine Verantwortungszuschreibung zu tragen vermag und so eine subjektive Zurechnung (Verschulden) entbehrlich macht, erinnert die Theorie Epsteins sehr an das Kausalitätsverständnis der Stoiker (siehe oben S. 26 ff.).
m.
Der Begriff Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung
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der Rechtsgutsverletzung darstellt, ohne daß es darauf ankäme, ob ein Verhalten dieser Art unter den gegebenen Umständen stets eine derartige Rechtsgutsverletzung zur Folge hätte oder nicht. Es ist folglich insoweit keine Voraussetzung für eine deliktische Haftung, daß das zurechenbare Verhalten auch eine zumindest relativ hinreichende Bedingung für den Eintritt der schadensstiftenden Verletzung verkörpert hat. Das Moment der Determination ist für die skizzierte archetypische Ausgangssituation ausgleichender Gerechtigkeit nicht konstitutiv. Es entspricht vielmehr der Idee ausgleichender Gerechtigkeit, auch da eine restitutionsbedürftige Konstellation zu bejahen, wo prospektiv lediglich Wahrscheinlichkeitsaussagen über die kausalen Bezüglichkeiten gemacht werden können. So wäre es offensichtlich kontraintuitiv , etwa im "Geigerzähler-Beispiel" von ComptonSI nach der Explosion der Bombe den Deponenten des radioaktiven Materials für Explosionsfolgen deshalb nicht haftbar machen zu wollen, weil prospektiv dieser Geschehensablauf keiner deterministischen Prognose zugänglich war. An dem Vorliegen einer kausalen Dependenzrelation zwischen dieser Entität und der zuvor erfolgten Deposition des radioaktiven Materials dürfte zumindest solange kein Zweifel bestehen, als vor dem Hintergrund der vorhandenen Tatsachenerkenntnisse keine andere Quelle radioaktiver Strahlungen in Betracht kommt. Mit dem Handlungsvorteil, der in der Wahrnehmung der Möglichkeit radioaktives Material an diesem Ort zu dieser Zeit ablegen zu können, zu sehen ist, korrelieren ex post betrachtet die eingetretenen schädlichen Explosionsfolgen. Eine entsprechende Haftung des Deponenten korrigiert die darin liegende rechtswidrige Güterverschiebung.
3. Haftungsbegründende Kausalität und Schadensprävention durch Verhaltenssteuerung Betrachtet man das deliktische Haftungsrecht demgegenüber allein als ein Mittel zur Reduktion des gesamtgesellschaftlichen Schadensaufkommens und läßt den Bezug zu den Ideen der ausgleichenden Gerechtigkeits2 , aber auch dem Verschuldensprinzips3 außer Acht, so verliert das Merkmal der Kausalität innerhalb der haftungsbegründenden Tatbestände seine dogmatische Einbindung .
SI
Siehe oben S. 73.
S2
Siehe dazu oben S. 115 ff.
S3
Siehe dazu oben S. 102 ff.
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Es erscheint nun als ein lediglich in den Dienst gestellter außerrechtlicher Begriff, der vor dem Hintergrund der maßgeblichen Zwecksetzung adäquat zu interpretieren ist. Leitender Gesichtspunkt ist dann allein noch die Frage, welches Begriffsinhaltsverständnis einen möglichst effektiven Einsatz der jeweiligen Haftungstatbestände zu garantieren geeignet ist. S4 Eine Reduktion des Schadensaufkommens durch das Unrechtshaftungssystem der §§ 823 ff. BGB ist erreichbar, wenn es gelingt, durch eine entsprechende Allokation von Haftungsrisiken effektive Verhaltensanreize zu begründen und damit auf die Entscheidungsbildung von Bürgern Einfluß zu nehmen. ss Dabei muß es darauf ankommen, durch die Belastung von besonders verletzungs- und damit auch schadensträchtigen Verhaltensweisen dazu zu motivieren, von derartigen Aktivitäten entweder ganz abzusehen oder aber doch zumindest Schutzmaßnahmen hinzuzufügen, die, wenn schon nicht zu einer gänzlichen Eliminierung, so doch aber zu einer Absenkung des Verletzungs- und damit Haftungsrisikos auf ein sozial verträgliches Maß führen. S6 Beides hätte dann im Ergebnis nicht nur eine Verminderung des gesamtgesellschaftlichen Schadensaufkommens, sondern auch eine bessere Absicherung der in ihrem Bestand jedem Indi-
Vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen bei Ernst Weinrib, S. 408 ff., der in diesem Zusammenhang auch von einem "extrinsischen Verständnis" des Haftungsrechtes spricht. Eine umfassende Kritik dieser Vorgehensweise fmdet sich bei Elliott, Goal Analysis versus Institutional Analysis of Toxic Compensation Systems, 73 Geo. L. ]., 1357 (1985). :54
" Die Fähigkeitdes Haftungsrechtes, durch die Zuordnung von Schadenskostentatsächlich effektive Verhaltensanreize setzen zu können, ist in der Literatur verschiedentlich in Zweifel gezogen oder sogar in Abrede gestellt worden. Teilweise verweist man auf die Schädigerentlastung durch das expandierende Haftpflichtversicherungswesen(eingehend hierzu Weyers, Unfallschäden, S. 461 f., Esser/Weyers, Schuldrecht, Bd. 11., S. 444 ff. mwN.; dagegen Adams, Ökonomische Analys..e der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung, S. 206 ff., 275 ff. [ Appendix I. ] und Fußnote 33 [So 10] mwN.); teilweise gibt man zu bedenken, daß eine Vielzahl menschlicher Verhaltensweisen nicht von einer adäquaten (Haftungs-) Risikoübersicht begleitet sind und somit der angestrebten Abschreckungswirkung hier schon von vornherein der Boden entzogen wird (vgl. dazu Latin, Problem-solving Behaviour and Tbeories of Tort Liability, 73 Calif. L. Rev., 677, 682 ff. (1985) und zum ganzen eingehend Sugarman, Doing Away with Tort Law, 73 Calif. L. Rev., 558, 559 591 (1985); Siehe dazu auch die Ausführungen bei Elliott, Tons and multiple Causes under U .S. Law, in: Attila FenyveslHans Leo Weyers (Hrsg.), Multikausale Schäden in modemen Haftungsrechten, Frankfurt I Main, 1987, S. 9, 30 f., G. Wagner, S. 177 f.; sowie Schiemann, S. 199 f.). 56 Calabresi, Tbe Cost of Accidents, S. 73 f.; eingehend dazu auch Steven Shavell, Economic Analysis of AccidentLaw, Cambridge (Mass.), 1987, S. 5 ff. - Zu den weiteren für eine wirksame Prävention erforderlichen psychisch-sozialen Faktoren siehe nur Weyers, Unfallschäden, S. 462 ff., sowie Latin, aaO. (vorherige Fußnote). Vgl. in diesem Zusammenhang auch G. Wagner, sowie die empirische Untersuchung von Kötz/Schäfer, aaO.
m.
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viduum garantierten Rechtsgüterwelt zur Folge. Der Zwang, weniger riskante Verhaltensweisen zu wählen bzw. riskante Aktivitäten "zu entschärfen" erzeugt darüberhinaus einen nicht unerwünschten Nebeneffekt, indem er die jeweiligen Akteure dazu anhält, sich um die Entwicklung von Schutzmechanismen etc. zu bemühen. Nicht zuletzt fmden Innovationen im Bereich von Schutztechniken gerade dann statt, wenn ein relevantes Haftungsrisiko droht. Prävention durch Negativkonditionierungvon Verhaltensweisen bedeutet Einflußnahme auf die Entscheidungsbildung vor der Vornahme einer bestimmten Handlung. Durch die Androhung negativer Konsequenzen soll ein Anreiz geschaffen werden, eine Verhaltensweise zu unterlassen, von der ex ante vorausgesagt werden kann, daß sie den Eintritt einer mißbilligten und daher zu vermeidenden Konstellation zur Folge haben wird. Die Entscheidung darüber, welches Verhalten aus Gründen der Prävention in den Gesichtskreis deliktischer Haftung aufzunehmen ist, beruht daher notwendig auf einer aus der Prospektive zu treffenden Aussage darüber, inwieweit sie den Eintritt einer tatbestandsmäßigen Rechtsgutsverletzung zur Folge haben wird oder nicht. Kausalität dient dementsprechend hier nicht der Herstellung von Dependenzrelationen zwischen existenten Entitäten, sondern hat hier die Aufgabe eine Prognose über die haftungsrechtlich relevanten Folgen eines bestimmten ins Auge gefaßten Verhaltens zu rechtfertigen. Präventionswürdig kann danach nur ein Verhalten sein, von dem aus der Prospektive ausgesagt werden kann, daß es innerhalb des gegebenen Handlungskontextes als Kausalfaktor für den Eintritt einer Rechtsgutsverletzung infrage kommt. Hielte man insoweit strikt an einem deterministischen Kausalitätsverständnis fest und ginge dementsprechend davon aus, daß es nur Notwendigkeitsbeziehungen zwischen Entitäten geben kann, so hätte dies zu bedeuten, daß ein Verhalten prinzipiell erst dann als haftungsbegründend kausal für den Eintritt einer bestimmten Rechtsgutsverletzung angesehen werden könnte, wenn über dieses Verhalten ausgesagt werden könnte, daß es innerhalb des gegebenen Handlungskontextes notwendig zum Eintritt eines derartigen Verletzungserfolges führen mußte. Es müßte feststehen, daß eine Wiederholung dieses Verhaltens unter diesen Umständen unausweichlich auch wieder das Auftreten einer solchen Rechtsgutsverletzung zur Folge hätte. Legt man seiner Betrachtung demgegenüber aber ein probabilistisches Kausalitätskonzept zugrundes7 , so gilt aus der hier maßgeblichen ex ante Per-
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
spektive eine bestimmte Verhaltensweise bereits dann als ursächlich für den Eintritt einer bestimmten Rechtsgutsverletzung, wenn diese Verhaltensweise geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes eines derartigen Verletzungserfolges zu erhöhen. Vergleicht man die beiden Konzepte im Hinblick auf ihre Präventionseffiziens, so liegt es auf der Hand, daß ein Kausalitätsbegriff, der nicht nur deliktische Aktivitäten, die mit Notwendigkeit eine Rechtsgutsverletzung zur Folge haben, sondern auch solche Verhaltensweisen erfaßt, die lediglich die Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Eintrittes einer Rechtsgutsverletzung erhöhen, einer Haftpflicht zuführt, eine weit stärkere Schutzwirkung zu entfalten geeignet ist. Prävention durch Negativkonditionierung ist hier auch schon da möglich, wo kein sicheres Wissen über zukünftige Abläufe existiert. Ein deterministisches Kausalitätsverständnis, das im Grunde eine Welt perfekten oder doch zumindest nahezu perfekten Wissens voraussetzt, ist für ein ein deliktisches Haftungsrecht, das Schadensprävention durch Einflußnahme auf Entscheidungsbildungen betreiben will, schlechterdings ungeeignet. Praktisch jede individuelle Entscheidung darüber, ob ein Verhalten im Hinblick auf seine Konsequenzen vorgenommen oder unterlassen werden soll, kann nur auf der Grundlage unsicheren Faktenwissens erfolgen. Auch wenn man der These beipflichtet, daß vollständige Tatsachenkenntnis stets deterministische Prognosen zu tragen geeignet ist, bleibt dieses für praktisch jede konkrete menschliche Entscheidung Illusion.58 Ein Deliktsrecht, das Verhaltensweisen grundsätzlich erst dann erfaßt, wenn von ihnen ausgesagt werden kann, daß sie notwendig zu einer Rechtsgutsverletzung führen, muß prinzipiell von einem Erkennenkönnen derartiger Notwendigkeitsbeziehungen ausgehen. Es müßte konsequenterweise Verhaltensweisen außer Acht lassen, über die selbst die jeweiligen Experten nur Risikoprognosen, nicht aber deterministische Aussagen zu treffen wagen. Unter Präventionsgesichtspunkten kann daher nur ein probabilistisches Kausalitätsverständnis angemessen sein. Sinnvolle und effektive Schadensprävention ist nur dann möglich, wenn jedem, der sich in einer Weise zu verhalten beab-
S7
Siehe dazu oben S. 72 ff.
Steven Shavell, An Analysis on Causation and the Scope of Liability in the Law of Torts, S. 466 ff. Siehe dazu auch die Darstellung dieses Problems oben S. 74 ff. so Vgl. dazu
m.
Der Begriff Kausalität und die Zwecke deliktischer Haftung
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sichtigt, die bereits die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer bestimmten Rechtsgutsverletzung erhöht, angedroht wird, dann, wenn sich tatsächlich ein in diesen Risikobereich fallender Verletzungserfolg ereignet, für den dadurch entstehenden Schaden einstehen zu müssen. Auch Verhaltensweisen, die nach alldem, was man über sie weiß, nur "möglicherweise" Rechtsgutsverletzungen zur Folge haben, sind grundsätzlich präventionswürdig. Das Problem, daß der Kreis der insoweit als "kausal" in Betracht kommen den Tätigkeiten unendlich groß ist und allemal auch Aktivitäten erfaßt, deren Negativkonditionierung nicht im Interesse sinnvoller Prävention liegen kann, tritt bei Verwendung eines probabilistischen Kausalitätsbegriffes nicht wesentlich intensiver auf, als bei einem Festhalten an dem überkommenen Determinismus. Auch dann, wenn man nur Verhaltensweisen in Betracht ziehen will, die per se oder relativ hinreichende Bedingungen für den Eintritt der fraglichen Rechtsgutsbeeinträchtigung waren, ist deren Zahl unendlich groß (Stichwort: Infiniter Regreß). Nicht zuletzt wurden all die bekannten Konzepte objektiver Zurechnung ("Adäquanztheorie" , "Nonnzweckzusammenhang" , "erlaubtesRisiko" , etc.), wie auch das Verschuldenserfordernis überhaupt59 bereits unter der Ägide eines deterministischen Kausalitätsbegriffes entwickelt. Die Schwierigkeit zu entscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten, das die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer konkreten Rechtsgutsverletzung auf 1 erhöht hat, aus Gründen sinnvoller Prävention zu einer Haftung führen sollte oder nicht, ist kaum geringer als bei einem Wert irgendwo unter 1. Immer muß letztlich eine Wertung vorgenommen werden, wobei die ex ante Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der konkreten Rechtsgutsverletzung nur eine Rolle unter vielen spielt. 60 Welches Verhalten auch aus Präventionsgesichtspunktenletztlich Grundlage für eine Haftung sein soll, ist eine Frage, die insoweit nach wie vor im Bereich der objektiven Zurechnung und bei der Festlegung des Verschuldensmaßstabes endgültig beantwortet werden muß. 61 Der Kausalitätsbegriff hat zunächst nur eine Basisabgrenzung zu leisten. Vor dem Hintergrund effektiver Prävention vermag er dieses am besten unter Zuhilfenahme eines probabilistischen Konzeptes. 62
'9 Wie bereits erwähnt ging das Römischen Recht anfanglich nur von einer reinen Erfolgshaftung aus, die erst später durch subjektive Merkmale (zunächst Vorsatz, dann auch Fahrlässigkeit) ergänzt wurde. Siehe dazu oben S. 103 mit den Nachweisen in Fn. 9. Vgl. in diesem Zusammenhang die vieldiskutierte Formel des Richters Leamed Hand für die Bestimmung des Fahrlässigkeitsmaßstabes, unten S. 129 f. mit den jeweiligen Fußnoten.
60
61
Vgl. dazu Mertens, Verkehrspflichten und Deliktsrecht, VersR'SO, 397, 399.
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Die Frage, ob ein zurechenbares Verhalten auch eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt der konkreten Rechtsgutsverletzung gewesen sein
muß, ist unter dem Gesichtspunkt der Prävention mit nein zu beantworten. Die Beurteilung der "Präventionswürdigkeit" einer bestimmten Verhaltensweise richtet sich danach, inwieweit sie ihrer Art nach die Gefahr in sich trägt, bestimmte Rechtsgutsbeeinträchtigungen herbeizuführen. Ob die konkret in Rede stehende Verletzung auch tatsächlich nicht eingetreten wäre, wenn der Beklagte auf die Vornahme dieser Aktivität verzichtet hätte, ist insoweit gleichgültig. Grund für die Negativkonditonierung ist die nur ex ante zu beurteilende Schädigungspotenz des in Rede stehenden Verhaltens, nicht die nur ex post beurteilbare aktuelle Schädlichkeit.
4. Haftungsbegründende Kausalität und ihr Verhältnis zu Garantiefunktion, Schadensstreuung und "Deep-Pocket-Method" Geht man davon aus, daß das Haftungsrecht durch die Schadloshaltung des verletzten Rechtsgutsträgers eine möglichst optimale Garantie seiner Rechtsgüterwelt anstrebt, so erweist sich eine Beschränkung des Kreises der möglichen Haftungsschuldner auf diejenigen, denen ein Verhalten zugerechnet werden kann, das für die Verletzung "kausal" war, als eher kontraproduktiv. Dabei ist es gleichgültig, ob man den Kausalitätsbegriff unter Zuhilfenahme der Begriffe der hinreichenden und post factum notwendigen Bedingung oder aber mittels probabilistischer Begriffsbildungen definiert. Häufig steht gerade das Kausalitätserfordernis einer effektiven Kompensation der infolge einer Rechtsgutsverletzung erlittenen Schäden entgegen. So ist es
62 Im Ergebnis wie hier, Mertens, Verkehrspflichten und Deliktsrecht, aaO.; Robinson, Multiple Causation in Tort Law: Reflections on the DES Cases, 68 Va. L. Rev., 713, 736 ff. (1982); ders., Probabilistic Causation and Compensation for Tortious Risk, 14 I. Legal Stud., 779, 783 - 789 (1985); Calabresi, Concerning Cause and the Law of Torts: An Essay for Harry Kalven, Ir., 43 U. Chi. L. Rev., 69, 71 f., 78 f. und 84 f. (1975); Siehe dazu auch die berechtigte Detailkritik von Borgo, Causal Paradigms in Tort Law, S. 419 Fußnoten 16 und 17 und die Grundsatzkritik bei Elliott, Goal Analysis versus Institutional Analysis of Toxic Compensation Systems, aaO. S. 1364 ff. (1985). Einen Versuch, Calabresis Idee von einem bloßen "causallink" als ausreichender Haftungsgrundlage für das deutsche Recht zumindest als Argument nutzbar zu machen, unternimmt Hager, Das neue Umwelthaftungsrecht, NJW'91 , 134, 138.
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in der Praxis nicht selten der Fall, daß gerade der "Verursacher" mittellos isf3 oder aber eine Haftungsbegrundung gerade deshalb scheitert, weil das Vorliegen einer kausalen Relation unbeweisbar bleibt. Soweit es darum geht, durch eine entsprechende Schadensallokation eine möglichst effektive Schadensstreuung zu erreichen, ist zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden. Eine, in der Regel allerdings bescheidene, Schadensstreuung läßt sich unmittelbar durch eine möglichst extensive Auslegung der jeweiligen Haftungstatbestände herbeiführen. Je mehr Personen in die Haftpflicht eingebunden werden können, desto größer ist das Kollektiv, das sich letztlich im Innenverhältnis in die Kostentragungslast teilen muß. Vor dem Hintergrund effektiver Schadensstreuung ist daher immer die Interpretation des Merkmales der haftungsbegrundenden Kausalität vorzuziehen, die eine Zurechnung einer Verletzung und der daraus resultierenden Schadensfolgen zu dem Verhalten möglichst vieler Rechtssubjekte gestattet. Es liegt daher im Interesse effektiver Schadensstreuung, ein bestimmtes Verhalten bereits dann als Ursache für einen Verletzungserfolg anzusehen, wenn es lediglich die Wahrscheinlichkeit von dessen Eintritt erhöht hat, ohne daß es dabei auf eine deterministische Relation ankäme. Der Aspekt der kausalen Dependenz ist im Hinblick auf eine möglichst weitgehende Schadensstreuung ineffektiv. Wird für eine Haftung gefordert, daß sich das Verhalten eines bestimmten Rechtssubjektes als post factum notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung erweist, so wird in einer
Ein Umstand den bereits Franz von Liszt, Deliktsobligationen, §. I, I. 1.) (S. 2 f.) mit Nachdruck beklagt hat. - Die enorme Expansion des Haftpflichtversicherungswesens seitdem von Liszt seiner Skepsis über die Garantie- bzw. Existenzsicherungspotenz des Haftpflichtrechtes Ausdruck verliehen hat, hat diesem Einwand wesentlich an Schärfe genommen. Nicht zu Unrecht sieht man heute in der Beantwortung der Frage, ob Haftung ja oder nein, nur noch eine Entscheidung darüber, ob die über die Haftpflichtversicherung hinter dem Beklagten stehende Versichertengemeinschaft oder aber die die Sozialversicherung tragende Solidargemeinschaft im Ergebnis rur den Schaden aufkommen soll. Vgl. dazu Hauß, Entwicklungslinien des deutschen Schadensersatzrechtes, ZVersWiss 56 (1967), S. 151, 153; Leser, S. 569 ff.; Stümer, S. 297 f.; zur historischen Entwicklung von Haftpflicht- und SoziaiversicherungswesenBrüggemeier, Gesellschaftliche Schadensverteilungund Deliktsrecht, AcP 182 (1982), S. 385,402 ff.; zu Theorie und Praxis der Haftpflichtversicherung eingehend Weyers, Unfall schäden, S. 117 ff., Brüggemeier, Deliktsrecht, Nr. 42 ff.; Sieg, Überlagerung der bürgerlich-rechtlichen Haftung durch kollektive Ausgleichssysteme, VersR'80, 1085 ff. 63
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Vielzahl von Fällen die Zahl der für eine Haftung infrage kommenden Rechtssubjekte auf 1 reduziert und so ein "loss spreading" gerade vermieden. War etwa ein an Krebs erkrankter Arbeiter sowohl an seiner ersten, als auch an seiner zweiten Arbeitsstelle karzinogenen Stoffen ausgesetzt, so führt das Erfordernis kausaler Dependenz hier grundsätzlich dazu, daß eine Haftung beider Arbeitgeber nur beim Vorliegen kumulativer Kausalität in Betracht kommen kann. Verzichtet man hingegen auf dieses Merkmal, so haften beide Arbeitgeber, denn beide haben das Auftreten von Karzinogenen und damit Stoffen zu vertreten, die geeignet waren, die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung des Arbeiters zu erhöhen. Ein idealtypisch auf möglichst effektive Schadensstreuung angelegtes Haftungsrecht verzichtet auf das Merkmal kausaler Dependenz und läßt für die Annahme eines haftungsbegriindenden Kausalzusammenhanges das Vorliegen einer probabilistischen kausalen Relation genügen. Das geltende deliktische Haftungsrecht, für das der Gedanke kausaler Dependenz unverzichtbar ist, läßt eine unmittelbare Schadensstreuung durch eine Erweiterung des Kreises der Haftpflichtigen aufgrund des Verzichts auf das Merkmal der kausalen Dependenz nur in Ausnahmefällen zu. Ein Beispiel bieten insoweit die noch im einzelnen zu besprechenden Vorschriften des § 830 I. S. 1 und S. 2, aber auch die Vorschrift des § 831 BGB. Eine mittelbare Schadenstreuung tritt ein, wenn die Schadenstragungslast einem Rechtssubjekt überbürdet wird, das in der Lage ist, über entsprechende Verteilungsmechanismen die entstehenden Kosten in Partitionen an eine Vielzahl von weiteren Rechtssubjekten weiterzugeben. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es gelingt ein Rechtssubjekt zur Haftung heranzuziehen, das entweder bereits adäquat versichert ist oder sich zumindest aber adäquat zu versichern in der Lage ist, und die Kostentragungslast auf diese Weise an die Versichertengemeinschaft weitergegeben werden kann. 64 Gleiches gilt auch, wenn, wie im Fall der Produzentenhaftung, für den HaftpflichtigenMöglichkeiten bestehen, die übertragenen Kosten über den Produktpreis an eine Vielzahl von Konsumenten weiterzureichen. 65
Eingehend dazu BTÜggemeier, Gesellschaftliche Schadensveneilung, S. 406 ff.; ders., Deliktsrecht, Nr. 34 ff.; Weyers, Unfallschäden, S. 518 ff.
64
Die gegebene Möglichkeit zur marktmäßigen Verteilung ist stets eines der Argumente für Haftungsverschärfungen im Rahmen der Produzentenhaftung gewesen. Vgl. dazu nur Calabresi, The Costs of Accidents, S. 51; Deutsch, Haftungsrecht, § 6 11. 3.) (S. 71); Baumgärtel, Die Beweislastverteilung bei der Produzentenhaftung, JA'84, S. 660,665.
6S
IV. Zwei besondere Sichtweisen deliktischer Haftung
127
Der Kausalitätsbegriff als solcher hat zu diesen Methoden der Schadensstreuung keinen konkreten inhaltlichen Bezug. Die Bestimmung des Kreises der Haftpflichtigen auf der Grundlage reiner Kausalitätserwägungen ist als solche blind gegenüber den weiteren Möglichkeiten und Eigenschaften der auf diese Weise bestimmten potentiell haftpflichtigen Rechtssubjekte. Kausale Paradigmen, die verstärkt Rechtssubjekte mit Möglichkeiten zur mittelbaren Schadensstreuung als potentiell Haftpflichtige dingfest zu machen geeignet sind, gibt es nicht. Gleiches gilt im Ergebnis für den "Deep-pocket" Aspekt. Auch diesbezüglich handelt es sich um einen Aspekt, dessen Beachtung im Rahmen der Kausalanalyse nicht möglich ist. 66
IV. Zwei besondere Sichtweisen deliktischer Haftung
und ihr Kausalitätsverständnis 1. "Economic Theory"
Eine vollkommen eigenständige Sichtweise haftungsrechtlicher Probleme hat die insbesondere in den USA sehr einflußreiche "Economic Theory" entwickelt. Nach ihrer Auffassung hat das Haftungsrecht allein die Aufgabe, durch eine sachgerechte Schadensallokation das gesamtgesellschaftliche Kostenaufkommen zu reduzieren. 67 Die Zuteilung von Hafiungsrisiken dient dabei ausschließlich dazu, Verhaltensweisen negativ zu konditionieren, deren Vornahme aufgrund ihrer Risikoträchtigkeit netto mehr Kosten verursacht, als ihr gänzliches Unterbleiben bzw. ihre Substitution durch eine bestimmte weniger riskante Alternativaktivität. Jeder Schadenslage liegt eine Konstellation zugrunde, bei der zwei oder mehr Rechtssubjekte eine nur einmal zur Verfügung stehende Ressource eigennützig beanspruchen. Eines dieser Rechtssubjekte ist notwendig
Vgl. dazu nur Calabresi, Concerning Cause and the Law of Tons: An Essay for Harry Kalven. Ir., S. 73 ff. Eine ausführliche Darstellung der Sekundärzweckeeffektiver Kompensation fmdet sich bei Calabresi, The Costs of Accidents, S. 35 ff. 66
Bedeutende Arbeiten auf diesem Gebiet hat insbesondere Guido Calabresi geleistet. Vgl. etwa "The Decision for Accidents: An Approach on Nonfault AIlocation of Costs", 78 Harv. L. Rev., 713 (1965); "Does the Fault System OptimaIly Control Primary Accident Costs?", 33 Law & Contemp. Probs., 429 (1968); The Costs of Accidents, London I New Haven 1970. 67
128
3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
der Rechtsgutsträger. Gleichgültig, wie die Entscheidung ausfällt, stets wird nur einer der Konkurrenten freigestellt, während der oder die anderen einen Schaden erleiden. 68 Wenn etwa das Hüttenwerk (H) durch die von seinem Hochofen ausgehenden Emissionen das Rosenbeet des Schrebergärtners (S) vernichtet, so geht es bei der Beantwortung der Frage nach der Schadensallokation letztlich nur darum, ob sinnvollerweise die Aktivität des Hüttenwerkes H (Betrieb des Hochofens) oder diejenige des S (Anlegen des Rosenbeetes) negativ konditioniert werden soll. Der konkrete, in der Vergangenheit belegene punktuelle Schadensfall per se ist insoweit uninteressant. Einzelfallgerechtigkeit, Fairness etc. sind keine eigenständigen Parameter mehr. 69
So insbesondereR. H. Coase, The Problem of Social Costs, S. 2; Vgl. dazu auch Borgo, Causal Paradigms in Tort Law, S. 423 f .
68
•• So insbesondere Posner, A Theory of Negligence, 1 ]. Legal Stud., 29, 33 (1972); LandesPosner, Causation in Tort Law: An Economic Approach, 12]. Legal Stud., 109, 110 (1983). Demgegenüber hat Colabresi häufig betont, daß gesamtgesellschaftlichorientierte Kosten-NutzenAnalysen bestenfalls geeignet sind, Teilaspekte einer sachgerechtenSchadensallokationauszuweisen. Mindestens gleichrangige Bedeutung kommt nach Ansicht Calabresis bei jeder haftungsrechtlichen Entscheidung auch weiterhin den Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit und der Fairness zu. In seinem Aufsatz, Does the Fault System ... , bemerkt er einleitend: "For the purpose of this article, I shall assume that the sole aim of any system of accident law is the minimization of the sum, of (a) accident costs and (b) the costs of avoiding accident costs. 0 I make this asssumption for analytical purposes only. I do not for a moment believe this to be the only aim of accident law. Yet fairness is ultimately a goal which any system of accident law must meet. " Vgl. dazu auch Calabresi-Melamed, Property Rules, Liability Rules and Inalienability: One View of the Cathedral, 85 Harv. L. Rev., 1089 Fn. 2 (1972). Auch, wenn derartige Vorbehalte in Calabresis Werk stets wiederkehren, bleibt jedoch der Eindruck bestehen, als ob es sich hierbei mehr oder weniger um eine Art ceteribus-paribus-Klausel handelt. Der Economic Approach hat insbesondere in den Vereinigten Staaten eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Grundlegende Einwände richten sich dabei sowohl gegen die insbesondere von Posner vertretene Identifikation von Gerechtigkeit und ökonomischer EffIZienz (da-zu eingehend Coleman, The Normative Basis of Economic Analysis: A Critical Review of Richard Posner' s The Economics of ]ustice, 34 Stan. L. Rev., 1105 (1982); ders., The Economic Analysis of Law, in: Ethics, Economicsand the Law, ed. by]. Roland Pennockand]ohn W. Chapman, Nomos, Vol. 24, New York I London 1982, S. 83 ff.; ders.llejJrie G. Murphy, Philosophy of Law, revised Edition, San Francisco I London, 1990, S. 213 ff.; Ronald M. Dworkin, Is Wealth a Value, 9 ]. Legal Stud., 191 (1980); Steiner, Economics, Morality, and the Law of Tons, 26 U. Toronto L. ]., 227, 229 243; Vgl. auch C. Edwin Baker, The Ideologyof the Economic Analysis of Law, Philosophyand Public Affairs, Vol. 5 (1975), S. 3 ff. und dazu die Replik von lules L. Coleman, Economics and the Law: A critical Review of the Foundations of the Economic Approach to Law, Ethics, Vol. 94 (1984), S. 649, 661 ff.), aber auch gegen den Anspruch der Economic Theory grundsätzlich anwendungstaugliche Paradigmen fiir die Bewältigung praktischer Probleme zur Verfügung zu haben (vgl. dazu etwa Leff, Economic Analysis of Law: Some Realism about Nominalism, 60 Va. L. Rev., 451 (1974).
o
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129
Der "AlgorithmuS"70 für die zu treffende Entscheidung ist die von dem amerikanischen Richter Learned Hand zunächst nur zur Bestimmung eines adäquaten Fahrlässigkeitsmaßstabes entwickelte Formel. Learned Hand hatte 1947 in dem Fall United States versus Caroll Towing Co. 71 ausgeführt, daß es nur dann fahrlässig sein könne, eine effektive Schutzmaßnahme zu unterlassen, wenn die aus der Höhe des zu erwartenden Schadens und der Wahrscheinlichkeit seines Eintrittes zu bildende Summe größer ist, als die für die Schutzmaßnahme aufzuwendenden Kosten. 72 Das Emissionsverhalten des Hüttenwerkes H ist demnach dann, aber auch und nur dann "blameworthy", wenn es für die Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Kostenaufkommens im Hinblick auf das Schadensrisiko unter dem Strich günstiger ist, in der Zukunft eine andere, weniger schadensintensive Verhaltensaltemative zu wählen. Entstehen etwa durch den Einsatz der weniger emissionsintensiven Produktionsweise zusätzliche Kosten (Effektivitätseinbußen, Kosten für Filteranlagen, etc.), so ist es nur dann angezeigt auf diese umzusteigen, wenn das sonst bei Fortsetzung der riskanteren Tätigkeit in Zukunft zu erwartende Schadensaufkommen tatsächlich größer ist. Nur in diesem Fall darf das Deliktsrecht Rechtsgutsträger S freistellen. 73 Die "Economic Theory" ist in der Folge konsequent dazu übergegangen, sämtliche deliktsrechtlichen Begriffe vor dem Hintergrund einer solchen KostenNutzen-Analyse neu zu defInieren und dementsprechend zu funktionalisieren.
70
So ausdrücklich lAndes/Posner, Causation in Tort Law: An Economic Approach, S. 111.
71
United States v. Caroll Towing Co., 159 F. 2nd 169 [2nd Cir. 1947]
72 Eine ausführliche Analyse der Learned Hand Fonnel fmdet sich bei Posner, A Theory of Negligence, S. 32; ders., Economoc Analysis of Law, 3rd edition, Boston I Toronto 1986, § 6. 1 (S. 147 ff.); kritisch dazu Calabresi/Hirschoff, Toward a Test for Strict Liability in Torts, 81 Yale L. J., 1055, 1056 ff.(1972); Grady, Untaken Precautions, 18 J. Legal Stud., 139 (1989). Die Frage nach der Rentabilität von Sicherungsmaßnahmen wurde schon früh als ein Gesichtspunkt bei der Bestimmung eines adäquaten Fahrlässigkeitsmaßstabesanerkannt. Vgl. dazu Terry, Negligence, 29 Harv. L. Rev., 40, 46 (1915). 73 Weitere verfeinerte Modelle finden sich bei Brown, Toward an Economic Theory of Liability, 2 J. Legal Stud., 323 (1973); Shavell, An Analysis of Causation and the Scope of Liability in the Law of Torts, 9 J. Legal Stud., 463 (1980); ders., Economic Analysis of Accident Law, Cambridge/Mass., 1987, insbes. S. 5 ff. und Cooter, Torts as the Union of Liberty and Efficiency: An Essay on Causation, 63 Chi-Kent L. Rev., 523 (1987); dazu auch Michael Adams, Ökonomische Analyse der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung, Heidelberg 1985, 158 ff .. - Einzelprobleme aus dem Bereich der Kausalität erörtern Rizzo/Amold, Causal Apportionement in the Law of Torts, An Economic Theory, 80 Colum. L. Rev., 1399 (1980) und lAndes/Posner, Joint and Multiple Tortfeasors: An Economic Analysis, 9 J. Legal Stud., 517 ff. (1980). - Vgl. zum ganzen auch Bemd Schilcher, Theorie sozialer Schadensverteilung, Berlin 1977, S. 73 ff.
9 Quentin
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Ein bestimmtes Verhalten gilt demnach auch nur noch dann als "haftungsbegründend kausal" für den Eintritt einer konkreten Rechtsgutsverletzung, "when
making him (gemeint ist der defendant) liablefor the consequences ofthe injury would promote an efficient allocation ofresources to safety and care; and when it would not promote efficiency for the defendant to behave differently, then the cause to an accident will be ascribed to an act of God or some other force on which liability cannot rest. In this view, the injurer 'causes' the injury when he is the cheapest cost avoider,' not otherwise. The idea of causation becomes a result rather than apremise of the economic analysis of accidents. n74 Hauptanliegen der Vertreter des Economic Approach ist es, Regeln für die Entscheidung von Rechtsproblemen - hier Haftungsfällen -, wie sie sich auf der Grundlage des geltenden Rechtes präsentieren, zu erarbeiten. Ob und wann eine derartige Entscheidungssituation vorliegt, bleibt folgerichtig stets einer durchaus an den Begriffsbildungen des geltenden Haftungsrechtes und damit auch dem außerrechtlichen Begriff der Kausalität ausgerichteten vorgängigen Subsumtionsarbeit vorbehalten. Ein Lebenssachverhalt wird erst dann zum Analysandum für den Economic Approach, wenn ihn sich auch der am geltenden Recht orientierte Richter zur Entscheidung vorlegen muß. 75 Die Defmition dessen, was einen "Haftungsfall" oder besser einen "virtuellen Haftungsfall" ausmacht, ist eine Frage überkommener Dogmatik. Der Begriff der Kausalität ist daher in diesem Sinne auch weiterhin ein wesentliches Element bei der Bestimmung der in den Blick zu nehmenden potentiellen "Schädiger-Geschädigten-KoDStellationen". Eine aus Sicht des Economic Approach haftungsrechtlich relevante Situation liegt dabei jedoch nicht nur dann vor, wenn eine bestimmte Aktivität für den Eintritt eines Schadens ursächlich geworden ist, sondern auch schon dann, wenn zwischen beiden Entitäten nur möglicherweise ein kausaler Zusammenhang be-
,. Landes/Posner, Causation in Tort Law: An Economic Approach, S. 110. Cooter, S. 540 zieht die folgerichtige Konsequenz, wenn er resümierend feststellt: "Insofar as efficiency is the only criterion for applying the word 'cause' , the legal meaning of this word is exhausted by the efficiency analysis. If 'cause' has no legal meaning beyond efficiency, it can be eliminated from discourse without loss, at least among economically literate scholars". " Landes/Posner, Causation in Tort Law, S. 115 ff. etwa greifen ohne weiteres auf die auf der Grundlage des amerikanischen Common-Law diskutierten und entschiedenen "Tort Cases in which Causation is in Issue" zu.
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steht16 • Das zumindest potentielle Bestehen einer kausale Verbindung zwischen Aktivität und Schadenserfolg ist damit implizit auch für den Economic Approach eine Bedingung der Möglichkeit deliktischer Haftung. Die oben von Posner gegebene Definitionhaftungsbegründender Kausalität ist geeignet, diesen Umstand eher zu verdecken, denn zu erhellen77 • Auch bei der eigentlichen ökonomischen Analyse der jeweiligen Sachverhalte spielen Kausalitätsaspekte eine bedeutende Rolle. Die Entscheidung darüber, ob es ökonomisch effizient ist, ein bestimmtes Verhalten im Hinblick auf den Eintritt derartiger Schäden in der Zukunft zu unterlassen, setzt eine kausale Prognose über die Schadensträchtigkeit sowohl der in Rede stehenden Aktivität, als auch der möglichen Verhaltensalternativen voraus. Nur wenn sich sagen läßt, daß bei der Wahl eines bestimmten sorgfältigeren Alternativverhaltens die Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Eintrittes derartiger Schäden in einem Maße sinkt, daß hierdurch die insoweit höheren Kosten für die erforderlichen Sorgfaltsmaßnahmen aufgewogen werden, ist derjenige, dem beide Verhaltensalternativen zu Gebote stehen im Verhältnis zum Rechtsgutsträger der "cheaper cost avoider" im Hinblick auf zukunftige Schäden und dementsprechend zur Haftung heranzuziehen. Ein bestimmtes Verhalten führt dann und nur dann zu einer Haftung, wenn es vor dem Hintergrund des vorhandenen Evidenzmaterials seiner Art nach geeignet erscheint, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer bestimmten schadensträchtigen Rechtsgutsverletzung zu erhöhen. Die Tatsache, daß das konkrete Verhalten aktuell zu einer Schädigung geführt hat, ist kein das Urteil über eine Haftungsbegründung präjudizierender Aspekt. 78
7. Daß auch Fälle des Urheber- oder Opferzweifels zu einer Haftung führen können, ist in der Economic Theory unumstritten. Dann aber muß auch bereits mögliche oder probabilistische Kausalität ausreichen, eine haftungsrechtlich relevante Täter-Opfer-Konstellation entstehen zu lassen. Vgl. dazu nur Shavell, Economic Analysis of Accident Law, S. 115 ff.
Die insbesondere von Posner und Landes betriebene Inkorporation von Kosten-NutzenErwägungen in das Kausalurteil kann wohl nur als unglücklich bezeichnet werden. Wenn etwa in dem oben angeführten Hüttenwerk-Schrebergärtner-Fall der Schrebergärtner als der "cheaper cost avoider" angesehen werden muß und daher eine Haftung des Hüttenwerkes zu verneinen wäre, so würden Posner/Landes hier im Ergebnis das Bestehen eines Kausalzusammenhanges verneinen. Vergegenwärtigt man sich, daß die Unterscheidung zwischen Kausalität als einem außerrechtlichem Begriff und weiteren, das eigentliche Zurechnungsurteil ausmachenden wertenden Betrachtungen eine nicht unwesentliche analytische Leistung der Jurisprudenz, aber auch der Erkenntnistheorie markiert, so fällt das "Kausalitätsverständnis" der Economic Theory weit hinter das Erreichte zurück. Vgl. dazu R. W. Wright, The Efficiency Theory of Causation and Responsibility: Unscientific Formalism and False Semantics, 63 Chi-Kent L. Rev., 553, 554 f. (1987). 77
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Wie bereits oben ausgeführt79 , treten bei einem derartigen allein am Präventionsgedanken orientierten Konzept die jeweiligen Entitäten nicht als punktuelle historische Momente, sondern allein als Repräsentanten bestimmter "Klassen" in den Blick. Der konkrete Schadensfall ist lediglich der Anlaß, über die haftungsrechtliche Konditionierung eines derartigen Verhaltens im Hinblick auf die Entstehung bestimmter Schäden in der Zukunft bzw. deren Vermeidung zu entscheiden und diese Entscheidung anband des konkreten Schadensfalles erstmalig manifest zu machen. Im Hinblick auf das geltende deliktische Haftungsrecht erweist sich der Ansatz der Economic Theory und damit auch das daraus abgeleitete Kausalitätsverständnis als lediglich partiell kompatibel. Wie bereits dargelegt, kennzeichnet das geltende deutsche Deliktsrecht, trotz der bereits angemerkten Modifikationen des Culpaprinzips, eine Fokussierung auf einen in der Vergangenheit belegenen punktuellen Schadensfall. Die, wie Englard80 auch für das deutsche Recht treffend feststellt, im Raum stehende Frage ist denkbar einfach. Steht dem verletzten Rechtsgutsträger ein Anspruch auf Schadensersatz gegen dem Beklagten zu oder nicht ? Sie ist mit ja zu beantworten, wenn der Beklagte ungerechtfertigter Weise durch sein Verhalten eine dem Kläger zustehende Ressource in Anspruch genommen hat und ihm dieser Sachverhalt individuell zum Vorwurf gemacht werden kann. Voraussetzung hierfür ist der Nachweis, daß die Vermeidung der Rechtsgutsverletzung dem Beklagten objektiv zur Disposition gestanden hat, was wiederum nur dann der Fall ist, wenn das die Rechtsgutsverletzung markierende Geschehen ex post betrachtet als in einem kausalen Dependenzverhältnis zu einem dem Beklagten zurechenbaren Verhalten stehend angesehen werden kann. sl
78 Grundlegend hierzu Calabresi, ConcemingCause and the Law ofTorts, 43 U. Chi. L. Rev., 69, 72,78, 84,90, der diese Form der Kasusalität als ein "causallink" bezeichnet hat. Siehe dazu auch PosnerlLandes, Causation in Tort Law, S. 111 f. 79
Siehe ausführlich oben S. 119 ff.
Englard, The System Builders: A Critical Appraisal of Modem American Tort Theory, 9 J. Legal Stud., 27, 35, 38, 47 ff.(1980).
80
8\
Siehe oben S. 102 ff.
IV. Zwei besondere Sichtweisen deliktischer Haftung
133
Ein derartiger Ansatz enthält keine adäquate Beschreibung der dargestellten Grundstruktur deliktischer Verschuldenshaftung. 82 Zwar ist Posner durchaus zuzugeben, daß das dem geltenden Deliktsrecht nach wie vor zugrunde liegenden aristotelischen Konzept der ausgleichenden Gerechtigkeit keine Auskunft darüber zu entnehmen ist, wann ein eine bestimmte Ressource in Anspruch nehmendes Verhalten tatsächlich als unrechtmäßig und schuldhaft zu beurteilen ist. 83 Dieser Befund rechtfertigt jedoch in keiner Weise den Schluß, daß das Deliktsrecht diese Frage allein auf der Grundlage einer regelutilitaristischen Betrachtung anband einer Kosten-Nutzen-Analyse beantwortet wissen will. 84 Es steht auch außer Zweifel, daß im Rahmen der insbesondere im Bereich der objektiven Zurechnung (erlaubtes Risiko, etc.) und des Verschuldens (Sorgfaltspflicht) anzustellenden wertenden Erwägungen Kosten-Nutzen-Gesichtspunkte eine bedeutende Rolle spielen,8S doch bedeutet es eine Verkennung der individualistischen Grundstruktur der Verschuldenshaftung, alle anstehenden Probleme allein "aus einem Punkte heraus kurieren" zu wollen. 86 Der funktionalistische Umgang 87 der Economic Theory mit dem Begriff der Kausalität im Rahmen der Haftungsbegrundung ist eine Konsequenz dieses monotheistischen Verständnisses. Wer das deliktische Haftungsrecht allein als ein soziales Steuerungselement begreift, der muß, wie oben bereits eingehend
Daß die §§ 823 ff. BGB auch der Maximierung des gesamtgesellschaftlichen Wohles dienen, ist heute, wie oben angedeutet, allgemein anerkannt. Dieser Befund darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß deliktische Haftung archetypisch auf der Vorstellung ausgleichender Gerechtigkeit beruht. Vgl. dazu Englllrd, S. 48 mwN .
32
•) Posner, Corrective Justice in Recent Tbeories of Tort Law, 10 J. Legal Stud., 187, 190 f. (1981). 84 Insbesondere läßt sich der Nikomachischen Ethik selbst kein Hinweis darauf entnehmen, daß Aristoteles insoweit zumindest auch in der Economic Tbeory verwandten Kathegorien dachte; vgl. M. I. Finey, Aristotle and Economic Analysis, in: Articles on Aristotle, Vol. 2, Ethics and Politics, hrsg. von Jonathan Barnes et alt., London 1977, S. 140, 142 ff.
Vgl. Steffen, Verkehrspflichten im Spannungsfeld von Bestandsschutz und Handlungsfreiheit, VersR'80, 409, 411; Mertens, Verkehrspflichten und Deliktsrecht, VersR'80, 397,401, in dessen Katalog der maßgeblichen Abwägungstopoi für eine adäqute Bestimmung von Verkehrssicherungspflichten die "volkswirtschaftliche Angemessenheit" nur einen Gesichtspunkt unter vielen darstellt. Vgl. hierzu auch Grady, Proximate Cause and the Law of Negligence, 69 Iowa L. Rev., 363 (1984); Coleman, Reply to Pilon, Tbe Personalist, Vol. 59 (1978), S. 307,312 f.
05
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Horn, Zur ökonomischen Rationalität des Privatrechts, AcP 176 (1976), S. 307,311 mwN.
86
87
Vgl. dazu Englllrd, S. 54.
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dargelegt, auf ein probabilistisches Kausalitätskonzept zurückgreifen und insbesondere auch von dem Erfordernis eines kausalen Dependenzverhältnisses zwischen Verhalten und Rechtsgutsverletzung Abschied nehmen. 88 Die oben dargestellten inhaltlichen Bezüglichkeiten zwischen den Begriffen Schuld und Verursachung gehen gänzlich verloren. Auch als Keimzelle für ein mögliches alternatives Haftungssystem de lege ferenda ist der Ansatz der Economic Theory gewichtigen Bedenken ausgesetzt. Ein haftungsrechtliches Konzept, das seine Aufgabe allein darin sieht, durch eine entsprechende Schadensallokation Verhaltensanreize zu setzen, muß zwei Voraussetzungen als tatsächlich gegeben annehmen. (1) Schadensstiftendes Verhalten ist typischerweise eine kontrollierte Aktivität, deren Unterlassung bzw. Substitution den jeweils Handelnden in der konkreten Situation ohne weiteres zur Disposition steht. (2) Jeder Mensch ist im Grunde ein homo oeconomicus und dementsprechend in nahezu allen Bereichen bei seinen Entscheidungen monetären Anreizen zugänglich. Beides scheint mir auf eine Vielzahl der sich in unserer Welt tagtäglich wiederholenden Schadensereignisse nicht zuzutreffen. Tatsächlich beruht ein großer Teil etwa der Straßenverkehrsunfälle auf punktuellen Unachtsamkeiten, Sorglosigkeiten etc., von denen zwar jede für sich vermeidbar erscheint, deren Auftreten aber praktisch nicht kontrollierbar ist. 89 Wer beim Linksabbiegen ein bevorrechtigtes Kfz schlicht übersieht und mit diesem kollidiert, der hat möglicherweise vorwertbar eine unrichtige Prognose über die Folgen seines Verhaltens gestellt, nicht aber eine Auswahlentscheidung zwischen zwei oder mehr Verhaltensalternativen getroffen. Ein allein an Prä-
.. So explizit Cooter, S. 534. Calabresi, Concerning Cause and the Law of Torts: An Essay for Henry Kalvenjr., 43 U. Chi. L. Rev., 69,85 (1975), hat demgegenüber versucht, das Erfordernis einer kausalen Dependenzrelationauch vor dem Hintergrund einer ökonomischenBettachtungsweise quasi zu retten. Es soll seiner Ansicht nach dazu dienen, eine Kalkulationsgrundlage für denjenigen abzugeben, der sich mit dem Gedanken trägt, eine bestimmte riskante Verhaltensweise zu wählen. Er muß danach damit rechnen, als der "cheapest cost avoider" im Ergebnis nicht für alle Schäden haften zu müssen, deren Eintritt bereits durch seine Aktivität wahrscheinlicher geworden ist, sondern nur für diejenigen, für deren Auftreten sein distinktes Verhalten tatsächlich eine post factum notwendige Bedingung markiert. Kritisch dazu R. W. Wright, Actual Causation vs. Probabilistic Linkage: The Bane of Economic Analysis, 14 I. Legal Stud., 435, 442 f. (1985). Vgl. dazu nochmals Englard, S. 43; Horn, S. 325; sowie Latin, Problem-Solving Behavior and Theories of Tort Liability, 73 Cal. L. Rev., 677, 682 - 694 (1985); mit einer Replik von Posner (Can Lawyers Solve the Problems of the Tort System ?, S. 747 ff.); G. Wagner, S. 177 f. Siehe dazu neuerdings auch Kirchgässner, Führt der homo oeconomicus das Recht in die Irre, IZ'91, 104 ff.
89
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ventionsgesichtspunkten orientiertes Haftungsrecht kann Fälle unbewußter Fahrlässigkeit im Grunde nicht erfassen. Daneben ist es nun einmal auch nicht der Fall, daß Menschen prinzipiell als homo oeconomicus agieren und reagieren. Viele gerade auch schadensträchtige Verhaltensweisen sind nicht Ausfluß einer rationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation, die sich durch eine entsprechende Einflußnahme auf bestimmte Parameter konditionieren ließe, sondern das Ergebnis ganz anderer, monetären Anreizen unzugänglichen Überlegungen oder Haltungen. 90 Wer auf der Autobahn bei einer nebelbedingten Sichtweite von 20 Metern mit 160 KmIh dahinrast und damit Leben- und Leibesgefahren für sich selbst und andere in Kauf nimmt, der wird sich, soweit er dieses überhaupt realisiert, auch durch ein noch so hohes Haftungsrisiko nicht abschrecken lassen. Ein nur auf Verhaltensanreize abstellendes Haftungssystem müßte derartige Fälle praktisch aus seinem Regelungsbereich ausnehmen, vermag es doch sein einziges Ziel, Prävention, hier nicht zu erreichen. 91 Einen Sachgrund, einen Schaden auch dann zu überbürden, wenn ein Präventionseffekt hierdurch nicht erzielt werden kann, gibt es vor dem Hintergrund der Economic Theory nicht.
2. Kausalität und "bewegliches System" In einer im Jahre 1941 erschienenen Arbeit stellte Walter Wilburg eine neue Sichtweise der Struktur zivilrechtlicher Haftung vor und erhob sie zum Kerngedanken eines in dieser Konsequenz neuen systematischen Ansatzes. 92 Er erkannte in der Antwort auf die Frage, wer für einen Schaden zu haften habe, nicht mehr die Konklusion eines strikt vollzogenen Rechtsfolgesyllogismus93 mit klassiflkatorischen Begriffen94 in der ersten Prämisse, sondern eine
90
Latin, S. 684 ff.
Hierbei handelt es sich nicht nur, wie RichaTd PosneT (in: deTs., Economic Analysis of Law, S. 16) offensichtlich meint, um ein bloßes "lack of realism", wie es jeder Theorie wesenseigen ist. Hier verfehlt ein den Anspruch auf Praktikabilität erhebendes Konzept seine Aufgabe.
91
WalteT WilbuTg, Die Elemente des Schadensrechtes, in: Arbeiten zum Handels,- Gewerbe- und Landwirtschaftsrecht, Nr. 84, Marburg 1941.
92
'13 Zum Begriff des Rechtsfolgensyllogismus siehe nur LaTenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 255 ff.
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wertend gezogene Bilanz aus der Zusammenschau verschiedener sog. "Haftungselemente" .95 Mit dem Begriff des "Haftungselementes" kennzeichnet Wilburg diejenigen Gesichtspunkte, denen innerhalb des geltenden Haftungsrechtes nach seiner Ansicht quasi die Funktion von Grundbausteinen zukommt. Das sind: erstens, die Inanspruchnahme fremder Rechtsgüter durch Eingriff oder Gefährdung; zweitens, die Veranlassung eines Schadensfalles durch der Sphäre des Haftenden zuzurechnende Umstände; drittens, der an den Haftenden gerichtete Vorwurf eines hierauf bezogenen Mangels; sowie viertens, die wirtschaftliche Potenz des Haftenden beziehungsweise ihn treffende Versicherungsobliegenheiten. Einem einen Schadensfall markierenden Sachverhalt können nun diese als "Haftungselemente " bezeichneten Aspekte in unterschiedlicher Intensität anhaften. Hinsichtlich jedes "Haftungselementes " wird nun für den potentiell Haftpflichtigenein durch den Grad der Ausprägung, den der jeweilige Aspekt an dem ihm zurechenbaren Verhalten oder aber auch in seiner Person selbst gefunden hat, ein entsprechender "Wert" (anschaulicher wäre wohl "Unwert") ermittelt96 • Im Anschluß daran erfolgt jene schon angesprochene "Zusammenschau der Haftungselemente" im Sinne einer quasi Aufsummierung der jeweils verwirkten "Werte" zu einem "Gesamtwert". Dabei liegt die Vorstellung zugrunde, daß die jeweiligen "Haftungselemente" einander ergänzende
.. Vgl. dazu Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie, Band 2, Heidelberg I Berlin I New York 1970, S. 19 ff.; Kindhäuser, Zur Definition qualitativer und komparativer Begriffe - Eine Entgegnung auf Herschels Typologie im Arbeitsrecht, Rechtstheorie, Band 12 (1981), S. 226, 235 f.. Siehe weiterführend dazu auch Hempel, Typologische Methoden in den Sozialwissenschaften, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. von Ernst Topitsch, 11. Auflage, KönigsteinlTaunus 1984, S. 85, 86 f . ., Wilburg, S. 29. 96 Die erforderliche Wertbestimmung setzt, soll sie einigermaßen gleichmäßig und transparent erfolgen, ihrerseits das Vorhandenseineines vorfIxierten Parameters voraus. Dieser ist das Ergebnis einer sog. "Basiswertung" , bei deren Vornahme hypothetisch danach gefragt wird, in welcher Intensität das in Rede stehende "Haftungselement" in einem typischen Norma1fall verwirklicht zu werden pflegt. Welche Konstellation in diesem Sinne als ein Normalfall zu gelten hat, ist anband des Gesetzes und unter Zuhilfenahme der Judikatur zu ermitteln. § 823 I. BGB enthält danach die "Basiswertung" , wonach ein durchschnittlich gefährlich und vorwerfbar Handelnder den typischen und erwartbaren Schaden zu ersetzen habe. Vgl. dazu insbesondere Bernd Schilcher, Theorie der sozialen Schadensverteilung, Berlin 1977, S. 214 f.; ders., Gesetzgebung und bewegliches System, in: Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, hrsg. von Franz Bydlinsld et alt., Wien I New York 1986, S. 287 f.; sowie Bydlinsld, Bewegliches System und juristische Methodenlehre, in: Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, S. 21, 30.
IV. Zwei besondere Sichtweisen deliktischer Haftung
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"Wertreihen" verkörpem. 97 Ein Minus im Sinne einer nur schwachen Ausprägung des Typus des ersten Haftungselementes kann etwa durch ein Plus bei der Verwirklichung eines anderen "Haftungselementes" kompensiert werden. Der so gewonnene "Gesamtwert" bildet in der Folge dann die Grundlage für das Abschlußurteil und damit die Beantwortung der Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang zu haften ist. Parameter für die zu treffende Entscheidung ist ein sog. "Grenzwert", der sich ergibt, wenn man von einer durchschnittlichen Realisierung aller für die fragliche Norm konstitutiven Haftungselemente ausgeht. Das zu beurteilende Verhalten führt dann zu einer Haftung, wenn dessen "Gesamtwert" diese "Wertgrenze" tatsächlich überschreitet. Das Merkmal der haftungsbegründenden Kausalität kehrt innerhalb dieses systematischen Ansatzes als Bestandteil des zweiten Haftungselementes ("Veranlassung eines Schadensfalles") wieder. Dabei gehen die Vertreter des "beweglichen Systems" grundsätzlich von einem der Tradition entsprechenden Kausalitätsinhaltsverständnis aus, das sowohl den Aspekt der Determination, wie auch denjenigen der kausalen Dependenz erfaßt. 98 Der wesentliche Unterschied zu herrschenden Vorstellungen besteht darin, daß das Merkmal der haftungsbegründenden Kausalität aufgrund der dem beweglichen System wesenseigenen Relativierung der Bedeutung der einzelnen Tatbestandselemente per se seine Position, eine Bedingung der Möglichkeit deliktischer Haftung überhaupt zu sein, einbüßt. Seine Reduktion auf den Status eines quasi "Rechnungspostens" innerhalb einer auf die Bestimmung eines Gesamtwertes zustrebenden Systems, macht es grundSätzlich möglich, daß ein Verhalten, das nur "defizitär" als Kausalfaktor für eine bestimmte Rechtsgutsbeeinträchtigung beschrieben zu werden vermag, gleichwohl zu einer Haftungsbegründung dann führen kann, wenn an ihm ein anderes Haftungselement eine signifikant über die "Basiswertung" hinausgehende Ausprägung erfahren hat. Im Hinblick auf das Merkmal der Kausalität steht das "bewegliche System" dabei vor einem besonderen Problem. Ein bestimmtes Merkmal als Haftungselement aufzufassen setzt voraus, daß dieses Merkmal seiner Art nach tatsächlich de facto eine unterschiedlich starke Ausprägung erfahren kann.
97
Wilburg, S. 29.
98 So ausdrücklich Franz Bydlinski, Probleme des Schadensrersatzrechtes, Stuttgart 1964, S. 22, 55 ff.; ders., Zum gegenwärtigen Stand der Kausalitätstheorie im Schadensrecht, Öffi1'58, S. I, 7 f.
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Hiervon jedoch kann gerade im Hinblick auf das Erfordernis des Bestehens einer kausalen Dependenzrelation nicht sinnvoll die Rede sein. 99 Aus der für die Betrachtung des punktuellen Schadensfalles maßgeblichen ex post Perspektive gibt es auf die Frage nach dem Bestehen kausaler Dependenzrelationen nur A1les- oder Nichts- Antworten. Entweder ein bestimmtes zurechenbares Verhalten repräsentiert eine notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung oder nicht. Die Annahme eines Mehr oder Weniger an kausaler Dependenz ist schon begrifflich ausgeschlossen. Die Vertreter des beweglichen Systems weichen dem aus, indem sie auf die Beweissituation Bezug nehmen, um auf diese Weise im Ergebnis auch da, wo das entsprechende Tatbestandsmerkmal durch einen klassiflkatorischen Begriff beschrieben wird, Spielraum für eine abstufende Betrachtung zu gewinnen. IOO Der bloße Kausalitätsverdacht steht danach zu der erwiesenen Kausalität in einem wesensgleichen Stufenverhältnis, wie etwa die dem Begriff der Schuld immanenten Graduierungen der leichten und der mittleren Fahrlässigkeit. Nicht nur die einzelnen Haftungselemente selbst, sondern auch die jeweiligen Beweisergebnisse, sind danach als komparative Größen aufzufassen. So erachten es die Vertreter des "beweglichen Systems" denn auch prinzipiell für möglich, daß in einem Fall, in dem ein haftungsbegründender Kausalzusammenhang nicht sicher nachgewiesen werden kann (Minus im Bereich des zweiten Haftungselementes), eine besonders große Gefährlichkeit des in Rede stehenden Verhaltens (Plus im Bereich des ersten Haftungselementes) im Ergebnis zu einer Überschreitung der "Wertgrenze" und damit zu einer Haftung führt. IOI Als ein mögliches methodisches Konzept unter vielen kann das "bewegliche System" den Anspruch, ein legitimes Instrument für Auslegung und Anwendung des geltenden Deliktsrechtes zu sein, grundsätzlich nur da erheben, wo der Gesetzgeber tatsächlich eine entsprechende Normgestaltung gewählt hat. Es muß sich nicht nur um einen Tatbestand handeln, dessen Elemente aus kompa-
.. Der Begriff der kausalen Dependenzrelation ist ein k1assifikatorischer, nicht aber ein komparativer Begriff. Vgl. dazu nur Rudolf Camap/Wolfgang Stegmüller, Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit, Wien 1959, S. 16; Kindhiiuser, aaO. 100 Siehe dazu insbesondere Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in: Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, S. 271 f. 101 Vgl. Bydlinski, Probleme des Schadensersatzrechtes, S. 70 ff.; ders., Zum gegenwärtigen Stand der Kausalitätstheorie im Schadensrecht, S. 7; Schilcher, Theorie der sozialen Schadensverteilung, S. 204 f.
IV. Zwei besondere Sichtweisen deliktischer Haftung
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rativen Sätzen lO2 bestehen, sondern es ist darüberhinaus auch erforderlich, daß die Normstruktureine gegenseitige Verrechnung der erzielten Werte zuläßt. Beides trifft auf die Bestimmungen des geltenden Deliktsrechtes mit Ausnahme des § 829 BGB 103 nicht zu. Kein Element der jeweiligen Haftungstatbestände der §§ 823 I. BGB kann im Sinne eines komparativen Satzes aufgefaßt werden: Immer ist die Rechtsfolgenanordnung, nämlich Haftung ja oder nein, ihrerseits klassifIkatorisch und von der Intensität der Verwirklichung der einzelnen Tatbestandsmerkmale unabhängig. So wirkt sich gerade auch im Bereich der Schuld, wo eine Graduierung prinzipiell möglich wäre, die Schwere des Schuldvorwurfes nicht auf den Umfang der Haftung aus. Nach der den jeweiligen Tatbeständen zugrunde liegenden Konzeption markieren die verschiedenen Merkmale nicht lediglich diverse Aspekte einer letztlich über allem stehenden Gesamtwertung, sondern beschreiben jeweils isoliert auf ihre Erfüllung hin zu überprüfende Voraussetzungen für ein eine Haftung bejahenden Rechtsfolgenausspruch. Die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten wechselseitigen Verrechnung der jeweils gewonnenen Resultate besteht nicht. 104
102
Vgl. dazu nochmals Otte, S. 271 f.
§ 829 BGB ordnet explizit an, die Höhe des Schadensersatzes von der Billigkeit, insbesondere den Vennögensverhältnissen der Beteiligten abhängig zu machen. Der Umfang der Ersatzpflicht ist nach Würdigung aller Umstände zu bestimmen, wobei die jeweiligen Aspekte zueinander in Beziehung zu setzen sind. So kann etwa eine hohe fInanZielle Leistungsfähigkeit des Schädigers auch bei geringem Verursachungsanteil zu einer verhältnismäßig hohen Ersatzverpflichtung führen. Vgl. dazu insbesondere BGH, Urteil vom 24.06.1969, NJW'69, 1762. Das Gesetz enthält hier einen komparativen Satz, indem es die Rechtsfolge in ihrem Bestand und ihrem Umfang nach von der Intensität der Tatbestandsverwirklichung abhängig macht und dabei quasi von einem "Gesamtwert" ausgeht, der, durchaus im Sinne des "beweglichen Systems", aus einer Zusammenschau der Verwirklichung der jeweiligen Tatbestandselemente zu entwickeln ist. 103
104 Diese strukturelle "Unbeweglichkeit" der Grundtatbestände der §§ 823 ff. BGB läßt ein Vorgehen im Sinne des "beweglichen Systems" im Bereich der richterrechtlichen Ausfüllung der jeweiligen Elemente durchaus zu. Ein besonders markantes Beispiel hierfür ist die Situation bei der richterlichen Begründung von Verkehrssicherungspflichten. Verschiedene Kriterien und Abwägungsmomente werden hier zueinander in Beziehung gesetzt, wobei dann tatsächlich letztlich eine Art "Gesamtwert" gebildet wird, der sich in der jeweiligen Verkehrssicherungspflichtniederschlägt. Eingehend dazu Mertens, Deliktsrecht und Sonderprivatrecht, AcP 178 (1978), S. 227, 234 ff.; ders., Verkehrspflichten und Deliktsrecht, S. 401 ff.; vgl. dazu auch Hauß, Entwicklungsliniendes deutschen Schadensersatzrechtes, ZVersWiss 56 (1967), S. 151, 165 ff.
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3. Abschn.: Der Begriff der Kausalität im geltenden Deliktsrecht
Der sich hieraus ergebenden Einsicht, daß das "bewegliche System" keine taugliche Grundlage für ein systemkonformes Verständnis und eine entsprechende Anwendung des geltenden Deliktsrechtes bietet, wird von ihren Vertretern im wesentlichen geteilt. Bydlinski hält einen Rückgriff auf das "bewegliche System" de lege lata demgemäß auch erst dann für zulässig, wenn das Vorgehen nach der überkommenen Methodik (Auslegung und Subsumtion) ergebnislos geblieben ist. 105 Für Wilburg selbst, aber auch Schilcher, liefert das "bewegliche System" das benötigte methodische Instrumentarium, um das geltende Deliktsrecht in seiner individualistischen Grundstruktur aufzubrechen und durch kollektive Wertungen anzureichern. H16 Das "bewegliche System" ist beiden sowohl das Vehikel für die Überwindung des geltenden, als auch die Basisstruktur für das zu schaffende zukünftige Recht.
lOS
Bydlinski, Bewegliches System und juristische Methodenlehre, S. 35 f.
Ziel Wilburgs, Einleitung S. vm war es, eine Neuorientierung des geltenden Rechtes herbeizuführen, die die, wie er es nennt, "Idee der Gemeinschaft gemäß dem nationalsozialistischen Pflichtgedankens " in sich aufnimmt und dadurch die dem Zivilrecht archetypisch zugrunde liegende individualistische Konzeption überwindet. - Schilcher, Theorie der sozialen Schadensverteilung, aaO. geht es, sechsunddreissig Jahre nach Wilburg, demgegenüber um den "Einbau einer sozialen Abwägung in das Schadensersatzsystem, der sich im Wege einer offenen Wertung vollziehen soll (S. 166 ff., 226 ff.). Die Bestimmung des Schadensersatzanspruchsollte nach Ansicht Schilchers zukünftig das Ergebnis einer abwägenden Betrachtung sein, die sowohl den Gedanken der individuellen, als auch den der sozialen Tragfähigkeit der Beteiligten einbezieht (S. 184 ff.). 106
Vierter Abschnitt Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfindung
Nach allgemeiner Auffassung ist es in einem Haftungsprozeß grundsätzlich Sache des Klägers, vorzutragen und gegebenenfalls nach Maßgabe des § 286 ZPO zu beweisen, daß ein dem Beklagten zurechenbares Verhalten in einem haftungsbegründenden Kausalzusammenhang zu der erlittenen Rechtsgutsbeeinträchtigung steht. 1 Geht man davon aus, daß Beweisgegenstand nur Tatsachen, "also der äußeren Wahrnehmung zugängliche Geschehnisse oder Zustände "2 sein können, so kann es sich bei einem Kausalzusammenhang nicht um einen Beweisgegenstand in diesem eigentlichen Sinne handeln. Die Feststellung von kausalen Relationen ist das Ergebnis eines gedanklichen Prozesses, in dessen Verlauf konkrete Wahrnehmungen zu abstrakten Erfahrungsdaten in Beziehung gesetzt und auf ihre Konkordanz hin überprüft werden. Eine Entitätensequenz als kausale Relation begreifen heißt, diese vor dem Hintergrund des vorhandenen Erfahrungswissens als ein Phänomen anerkennen zu können, das bestimmte
1 Während prinzipie1l Eingigkeit darüber herrscht, daß der Kläger insoweit grundsätzlich die Beweislast trägt, ist die Frage, ob das Vorliegen eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges analog § 286 ZPO zu beweisen ist, teilweise kontrovers diskutiert worden. Die herrschende Meinung geht gleichwohl grundsätzlich davon aus, daß § 286 ZPO den Beweis des haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges betrim, während § 287 ZPO nur auf den haftungsausfü1lenden Kausalzusammenhang anwendbar sein s01l. Vgl. dazu BGR, Urteil vom 13.12.51, NJW'52, 301, 302; Urteil vom 04.06.1986, NJW'86, 3080, 3081; Hans-Joachim Musielak, Grundprinzipien der Beweislast, Berlin 1975, 124 f.; ZölleriStephan, ZPO, § 287, Rdn. 3; Egon Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 4. Auflage, München 1987, Rdn. 190; Jürgen Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, Karlsruhe 1966, S. 53 ff. - Eine eingehende Darste1lung der Entwicklung in der Rechtsprechung findet sich bei Peter Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, München 1979, S. 50 ff. - Eine Anwendbarkeit des § 287 ZPO auch für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität bejaht Peter Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, Göttingen 1971, S. 84ff.; ders., Anmerkung zum Urteil des BGR vom 11.06.68, NJW'68, 2291 f.. Vgl. dazu StolI, Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel, AcP 176 (1976), 145, 147 ff.; ders., Besprechung von Peter Hanaus "Kausalität der Pflichtwidrigkeit", RabelsZ 36 (1972), 578 ff.; Arens, Dogmatik und Praxis der Schadenssschätzung, ZZP 88 (1975), I, 17 ff.
2
Zöller/Stephan, ZPO, § 286, Rdn. 9.
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4. Abschn.: Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfmdung
durch das jeweilige Kausalitätsverständnis deftnierte Merkmale aufweist. Eine singuläre Kausalaussage entspricht daher eher dem, was in der Terminologie des Beweisrechtes als ein Tatsachenurteil bezeichnet wird. Einen Kausalzusammenhang beweisen kann dementsprechend nur heißen, den konkreten Sachverhalt aufzubereiten und dem Gericht, soweit nicht vorhanden, Hintergrundwissen zu vermitteln, sodaß es diesem möglich wird, die VerhaltensRechtsgutsverletzungs-Sequenz unter den Begriff einer kausalen Relation zu subsumieren. Ob dem Kläger ein solcher Beweis gelingt, hängt unter anderem auch davon ab, welche Vorgaben durch den den Obersatz bildenden Kausalitätsbegriff gemacht werden. In diesem Zusammenhang kann sich daher nur ein Kausalitätsverständnis als sinnvoll erweisen, dessen "Ansprüche" für einen Kläger tatsächlich einlösbar sind. Betrachtet man sich unter diesem Blickwinkel den vorherrschenden deterministischen Kausalitätsbegriff, so erscheint dieser als in einem Haftungsprozeß praktisch verwendbarer Obersatz ungeeignet. Ohne daß hier erörtert werden müßte, ob die Vorstellung eines universellen Determinismus ein taugliches Paradigma für eine umfassende Weltdeutung bereithält oder nicht, kann doch sicher gesagt werden, daß die mit diesem Konzept verbundenen Anforderungen in einem Prozeß vor dem Hintergrund notwendig unvollständigen Faktenwissens niemals erfüllt werden können. Kein Kläger ist in der Lage, die insoweit erforderliche erschöpfende Defmition, geschweige denn Verifikation, aller relevanten Parameter des zugrunde liegenden Sachverhalts auch nur annähernd vorzunehmen. Müßte der Kläger tatsächlich den vollen Beweis erbringen, daß das dem Beklagten zurechenbare Verhalten als relativ hinreichende Bedingung für die eingetretene Rechtsgutsverletzung bezeichnet werden kann, so obläge es ihm, zuerst alle zur Konstitution einer vollen Causa im erkenntnistheoretischen Sinn neben dem zurechenbaren Verhalten zusätzlich erforderlichen Entitäten ihrer Art nach zu defmieren und danach das Gericht davon zu überzeugen, daß aus jeder dieser Entitätenklassen tatsächlich ein Element im konkreten Antecedensszenario vertreten war; ein offensichtlich unmögliches Unterfangen, setzt dieses doch letztlich eine erschöpfende Analyse der gesamten kausalen Geschichte der Rechtsgutsverletzung voraus. Jede an einem deterministischen Kausalitätsbegriff orientierte Entscheidung müßte daher entweder immer negativ ausfallen oder aber im Wege einer mehr oder weniger gut begründeten Vermutung die notwendig auftretenden Erkenntnisdeftzite überbrücken, indem sie jegliche Ergebnisrelevanz der nicht erhobenen Antecedens-
4. Abschn.: Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfindung
143
faktoren verneint um eine Notwendigkeitsbeziehungnoch da bejahen zu können, wo bestenfalls hohe Wahrscheinlichkeit vorliegt. 3 Die gerichtliche Praxis geht diesen Weg. Sie verzichtet mehr oder weniger offen auf einen entsprechend detaillierten Vortrag und schließt unter Zuhilfenahme verschiedener heuristischer Techniken auf die Existenz eines Sachverhaltes, der durch derartige deterministische Bezüglichkeiten gekennzeichnet ist. 4 Die Problematik dieser Vorgehensweise liegt unter anderem darin, daß sich die Entscheidung, ob auf der Grundlage eines notwendig rudimentären Beweisergebnisses nun auf das Bestehen einer deterministischen Folgebeziehung geschlossen werden kann oder nicht, nur sehr selten von vielfältig einfließenden Wertungen und Irrationalismen freigehalten werden kann. s Diesem Problem entgeht man auch nicht dadurch, daß man zwar an einem deterministischen Kausalitätsbegriff festhält, jedoch das erforderliche Beweismaß von der gegenwärtig allseits verlangten "Überzeugung von der Wahrheit, aufgrund einer zu keinen Zweifeln mehr Anlaß gebenden hohen Wahrscheinlichkeit"6 auf ein offen an bestimmten niederen Wahrscheinlichkeitsgraden orientierten Parameter reduziert. Ganz unabhängig davon, daß eine derartige Beweismaßreduktion de lege lata nicht vertretbar ist, begegnet dieses Verfahren den gleichen grundsätzlichen Bedenken. Die Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten bei der Bewertung von Beweisen ist in gleicher Weise eine kathegoriale Entscheidung, wie das "Gewinnen einer Überzeugung von der Wahrheit". Die Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Tatsachenbehauptung nun als "wahr" im Sinne des § 286 I.
3 Siehe dazu oben S. 83 f. einschließlich der dort aufgeführten Nachweise. Vgl. dazu auch Tribe, Trial by Mathematics: Precision and Ritual in the Legal Process, 84 Harv. L. Rev., 1329 ff. insbesondere Fn. 2 auf S. 1330 (1971).
Eine interessante Darstellung gebräuchlicher heuristischer Mechanismen zur Reduktion von Informationskomplexitätfindet sich bei SakslKidd, Human Information Processing and Adjucation: Trial by Heuristics, Law & Society, Vol. 15 (1980/81), S. 123, 127 ff. Siehe in diesem Zusammenhang auch die eindrucksvollen Beispiele aus der US-amerikanischen Rechtsprechung zur Frage der Verursachung von Krebs bei ntevitz, Judicial Attitudes Towards Legal and Scientific Proof of Cancer Causation, 3 Colum. J. Envtl. L., 344, 349 ff. (1977).
4
5 Vgl. dazu insbesondere Matone, Ruminations on Cause-In-Fact, 9 Stan. L. Rev., 60, 68 ff. (1956).
Ständige Rechtsprechung in Zivil- und Strafrecht. Vgl. RG, 1. Zivilsenat, Urteil vom 14.01.1885, RGZ 15, 338; RG, I. Strafsenat, Urteil vom 15.02.1927, RGSt 61, 202, 205. - Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung in der Rechtsprechung findet sich bei Reinhard Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, KölnlBerlinl BonnIMünchen 1978, S. 60 ff.. Vgl. dazu auch Bemhard Massen, Beweisprobleme im Schadensersatzprozeß, Diss. Bonn 1974, S. 86 ff.
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4. Abschn.: Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfmdung
ZPO anzusehen ist, ist von dem Urteil darüber, ob die gleiche Tatsachenbehauptung als überwiegend wahrscheinlich gelten darf, nicht qualitativ verschieden. 7 Selbst wenn man an der Vorgabe festhält, daß bei Kenntnis aller maßgeblichen Faktoren deterministische Relationen zwischen Entitäten feststellbar sind, also im Ergebnis einem Krypto-Determinismus huldigt, sollte angesichts der Unabweisbarkeit der Feststellung, daß ein Kläger bestenfalls nur einen kleinen Teil der relevanten Entitäten verifizieren kann, ein probabilistischer Kausalitätsbegriff, der sich an den praktischen Bedürfnissen des juristischen Alltags orientiert, den Vorzug verdienen. 8 Dieser pragmatische Begriff probabilistischer Kausalität muß im Auge behalten, daß das vom Kläger unterbreitbare Evidenzmaterial notwendig begrenzt ist. 9 Ein bestimmtes Verhalten sollte demnach schon dann als Kausalfaktor gelten können, wenn es seiner Art nach geignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer Rechtsgutsverletzung, wie sie der Kläger konkret erlitten hat, zu erhöhen. Es sollte ausreichen, wenn das fragliche Verhalten des Beklagten vor dem Hintergrund der durch den
Vgl. dazu auch Ball, The Moment of Truth: Probability Theory and Standards of Proof, 14 Vand. L. Rev., 807, 812 f. (1961). - Daneben dürfte es auch schon äußerst problematisch sein, Beweisergebnisse tatsächlich in konkreten Prozentzahlen wiedergeben zu wollen. Der Einwand, wonach das Recht dieses, etwa bei der Frage des Mitverschuldens, ohnehin schon von den Gerichten verlangt, scheint mir in diesem Zusammenhang unbehelflich. Die Angabe von Mitverschuldensquoten ist nach wie vor ein ausgesprochen "dunkles Kapitel" richterlichen Räsonierens. Es besteht kein Grund, die damit verbundenen Probleme auf die gesamte Beweiswürdigung auszudehnen. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere Kaye, The Limits of the Prepondarance of the Evidence Standard, Am. B. Found. Research J., 1982,487,494 ff.
7
Wer an der These festhalten will, daß jedes Ereignis letztlich den Effectus einer deterministischer Relation verkörpert, der mag hier probabilistische Bezüglichkeiten lediglich als ein Indiz für eine tatsächlich bestehende gleichartige Notwendigkeitsbeziehungauffassen. Ein Beispiel für ein derartiges Verständnis bietet etwa Papineau, Probabibilities and Causes, The Journal of Philosophy, Vol. 82 (1985), S. 57, 62 ff. Vgl. dazu auch Moyal, Causality, Determinism and Probability, Philosophy, Vol. 24 (1949), S. 310, 314, von dem der Begriff des "Krypto-Determinismus" übernommen wurde. S
• Aus diesem Grunde kann auch der hier zugrunde zu legende Begriff probabilistischer Kausalität auch nicht in dem Sinne verstanden werden, daß der Kläger darzulegen hätte, daß das fragliche Verhalten unter allen Umständen geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Rechtsgutsverletzung zu erhöhen. Würde man fordern, daß ein A in jedem denkbaren Kontext den Eintritt von B wahrscheinlicher macht, so setzte dies ebenfalls eine erschöpfende Spezifikation aller denkbaren Kontextsituationen voraus; eine gleichfalls uneinlösbare Vorgabe. Vgl. dazu eingehend Dupre, Probabilistic Causality Emancipated, in: Midwest Studies in Philosophy, Vol. IX., Minneapolis 1984, S. 169, 174 f.
4. Abschn.: Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfindung
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Kläger verfügbar gemachten Informationen (Erfahrungswissen, Faktenkenntnis) als non-redundanter Bestandteil eines Antecedensentitätenkomplexes gedacht werden kann, der geeignet ist, den Eintritt einer Rechtsgutsverletzung dieser Art zumindest wahrscheinlicher zu machen. Das Gericht muß die Überzeugung gewinnen, daß bei einer erneuten Vornahme eines derartigen Verhaltens in einer Situation, die derjenigen entspricht, die als feststehender Sachverhalt zugrunde zu legen ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer wesensgleichen Rechtsgutsverletzung größer ist, als sie es wäre, wenn es nicht zur Vornahme eines derartigen Verhaltens käme. Von einer solchen Konstellation ist sicher dann auszugehen, wenn das fragliche Verhalten als non-redundantes Element eines Entitätenkomplexes gedacht werden kann, der nach allgemeinem Erfahrungswissen als hinreichende Bedingung für den Eintritt einer derartigen Rechtsgutsverletzung anzuerkennen ist und wenn nach dem Vortrag des Klägers für die konkrete Situation nicht auszuschließen ist, daß ein solches Faktorenensemble tatsächlich vorgelegen hat. Der fragliche Komplex ist dann im Grunde nur der verifizierbare Ausschnitt eines noch größeren Entitätenkomplexes, bei dessen Vorliegen sogar eine deterministische Aussage über die kausale Relation getroffen werden könnte. Emittiert A die Substanz X und erleidet B an seinem Eigentum eine durch X-Immissionen hervorgerufene Verletzung, bleibt aber unklar, ob zur Emissionszeit der einen entsprechenden Schadstofftransfer ermöglichende Westwind geweht hat, so bleibt ein für eine deterministische Aussage möglicherweise tauglicher Entitätenkomplex, der die Entität "Westwind" als nonredundantes Element enthalten müßte, zwar denk-, aber gleichwohl konkret nicht verifizierbar. Verlangt man dagegen lediglich, daß die X-Emissionen des A den Eintritt der X-Schäden bei B zumindest wahrscheinlicher gemacht haben, so ist der klägerische Vortrag schon dann tragfähig, wenn er dem Gericht die Überzeugung davon zu vermitteln vermag, daß zur Tatzeit Wind aus West prinzipiell möglich war, denn schon dann kann von den Emissionen des A ausgesagt werden, daß sie ihrer Art nach geeignet waren, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von X-Schäden bei B zu erhöhen. Gleiches gilt wohl auch für einen Fall, in dem der Kläger dem Gericht lediglich Material präsentieren kann, aus dem sich ergibt, daß ein Verhalten, wie das des Beklagten, in Situationen, die der Kläger - Beklagten - Relation im zugrunde liegenden Sachverhalt wesensgleich sind, für das Auftreten von Rechtsgutsverletzungen von der Art, wie sie der Kläger erlitten hat, statistisch 10 Quentin
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4. Abschn.: Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfmdung
relevant ist. Auch hier müßte ein rigide an einem deterministischen Kausalitätsverständnis festhaltendes Gericht den Kausalitätsbeweis für gescheitert erklären, gelingt es dem Kläger doch schon nicht, vorzutragen, daß eine deterministische Gesetzmäßigkeit zwischen einem Antecedensentitätenkomplex mit einem Verhalten, wie dem des Beklagten als non-redundantem Element, und einer Rechtsgutsverletzung, wie der seinerseits erlittenen, überhaupt in Betracht kommt. Gleichwohl waren Gerichte in der Vergangenheit stets bereit, auch in solchen Situationen von einem tragfähigen Kausalitätsbeweis auszugehen. Ein in diesem Zusammenhang sehr interessantes Beispiel bietet ein Urteil des BGH vom 04.07.89. 10 Eine Studentin hatte behauptet, während ihres Aufenthaltes an einer Tierärztlichen Hochschule durch den Kontakt zu herumlaufenden Versuchstieren mit bestimmten Viren infiziert worden zu sein und dadurch eine Verletzung ihres Körpers erlitten zu haben. Ein exakter Nachweis des Infektionsweges war jedoch nicht möglich. So konnte die Klägerin weder beweisen, daß die fraglichen Viren überhaupt im Freien lebensfähig und damit übertragbar waren, noch konnte sie verifizieren, daß die zur Tatzeit herumlaufenden Versuchstiere tatsächlich mit diesem Virus infiziert waren. Für den Vortrag der Klägerin sprach bestenfalls eine gewisse Wahrscheinlichkeit. So war nach dem Stand der naturwissenschaftlichen Forschung zumindest nicht auszuschließen, daß derartige Viren im Freien überleben und entsprechend übertragen werden können. Daneben hatte die beklagte Hochschule eingeräumt, daß sich häufiger Versuchstiere in den jeweiligen Anlagen aufhielten, wobei durchaus die Möglichkeit bestand, daß sich zur Tatzeit darunter auch mit dem fraglichen Virus infizierte Exemplare befanden. Desweiteren hatte die Klägerin vorgetragen, daß sie nach Verlassen der Hochschule in keiner Weise mehr Kontakt zu möglichen Virusträgem gehabt habe und dementsprechend nicht ersichtlich sei, wie sie anders, als durch Berühren der bezeichneten Versuchstiere mit diesem seltenen Virus infiziert worden sein könne. Das Berufungsgericht hatte die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf ihre Revision hin stellte der BGH zunächst fest, daß vor dem Hintergrund des unterbreiteten Erkenntnismaterials nicht ausgeschlossen werden könne, daß die
\0 BGH, NJW'89, 2947. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Peter Gottwald, Kausalität und Zurechnung, Karlsruher Forum 1986, S. 3, 13 f.
4. Abschn.: Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfindung
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Klägerin Kontakt zu entsprechend infizierten Versuchstieren hatte und diese Kontaktaufnahme geeignet war, den fraglichen Virus auf die Klägerin zu übertragen. Sodann führt der Senat aus, daß aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden sei, wenn das Tatsachengericht hier nun auf der Grundlage der Feststellung, daß nach den Umständen keine andere Möglichkeit einer Infektion der Klägerin mit Viren dieser Art in Betracht kommt, darauf schließt, daß tatsächlich der Kontakt zu den Versuchstieren zur Infektion der Klägerin geführt hat. Die Tatsache, daß nach Ansicht des Gerichtes keine andere Kausalerklärung für die Infektion der Klägerin ersichtlich ist als der Kontakt zu den Versuchstieren, überbrückt hier mehrere Erkenntnisdefizite. Das Gericht sieht sich in der Lage, anzunehmen, daß die Berührung von infizierten Tieren im Freien in Verbindung mit weiteren Faktoren eine hinreichende Bedingung für eine Übertragung der entsprechenden Viren verkörpert, obwohl die Fachwissenschaften eine derartige Aussage nicht ohne weiteres zu halten bereit wären. Darüberhinaus vermutet es auch, daß alle weiteren, für die Konstitution einer vollen Causa notwendigen Faktoren (unter anderem auch das tatsächliche Vorliegen einer Infektion der berührten Tiere) auch realiter vorgelegen haben und gelangt so zu einer vollständigen deterministischen Kausalerklärung. lI Die hier skizzierte Entscheidungstechnik dürfte mehr oder weniger deutlich praktisch jeder richterlichen Erkenntnis in der Kausalitätsfrage zugunde liegen. Würde man stattdessen das vorgeschlagene pragmatisch probabilistische Kausalitätsverständnis zugrunde legen, so gelangte man zwanglos zu einer Annäherung von begrifflichem Anspruch und prozessualer Wirklichkeit. Die Gerichte stünden nicht mehr vor der Aporie, im Wege letztlich auch kaum begründbarer Wertungen und Erwägungen den Schluß auf das Bestehen einer deterministischen Relation trotz nur rudimentären Kenntnisstandes vollziehen oder aber in
11 Ein weiteres jüngstes Beispiel aus der strafrechtlichen Judikatur bietet die sog. Lederspray-Entscheidung des BGH (Urteil vom 06.07.1990, NJW'90, 2560). Eine GmbH hatte ein Lederspray produziert und auf den Markt gebracht, das, so die Anklage, zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Verwendem geführt hatte. Obwohl es, wie der BGH ausdrücklich feststellte (S. 2562, linke Spalte), "bis heute nicht möglich war, diejenige Substanz oder Kombination von Substanzen naturwissenschaftlich exakt zu identifizieren, die den Produkten ihre spezifische Eignung zur Verursachung gesundheitlicher Schäden verlieh", hielt der Senat einen rechtsfehlerfreien Nachweis eines Ursachenzusammenhanges(also Notwendigkeitsbeziehungund kausale Dependenz) für gegeben, weil das Tatsachengericht sich in der Lage sah, alle anderen in Betracht kommenden Schadensursachen aufgrund einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung ausschließen zu können.
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4. Abschn.: Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfindung
unbefriedigender Weise verweigern zu müssen. Die Transparenz gerichtlicher Entscheidungen gerade der Kausalfrage würde sicherlich erheblich zunehmen. Für den Aspekt der kausalen Dependenz ergeben sich unter der Prämisse eines probabilistischen Kausalitätsbegriffes hinsichtlich des prozessualen Nachweises keine strukturellen Unterschiede im Vergleich zu einem von einem deterministischen Kausalitätsverständnis ausgehenden Konzept. Auch hier wird aus dem gegebenenfalls unter Beweis zu stellenden Vortrag des Klägers, wonach das dem Beklagten zurechenbare Verhalten geeignet war, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Rechtsgutsverletzung zu erhöhen, darauf geschlossen, daß die konkrete Rechtsgutsverletzung bei Vermeidung dieses Verhaltens nicht eingetreten wäre, also in concreto zu dem fraglichen Verhalten des Beklagten in einem kausalen Dependenzverhältnis steht, wenn nicht ersichtlich ist, daß noch weitere Faktorenensembles in Betracht kommen können, die gleichfalls für die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Rechtsgutsverletzung von Relevanz sein können. Dem Beklagten obliegt es nun, einen derartigen Schluß durch den gegebenenfalls zu beweisenden Einwand zu desavouieren, daß in der konkreten Situation tatsächlich noch andere Entitätenkollektive existierten, die gleichfalls geeignet waren, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer derartigen Rechtsgutsverletzung zu erhöhen und die kein ihm zurechenbares Verhalten als ein non-redundantes Element aufwiesen. 12 Liegen also etwa Erkenntnisse vor, daß Rechtsgutsverletzungen von einer Art, wie sie der Kläger erlitten hat, statistisch häufiger auftreten, wenn zuvor ein Verhalten wie das des Beklagten vorgenommen wurde, so läßt sich eine kausale Dependenzrelation
12 Diese Sichtweise hannoniert ohne weiteres mit der Rechtsprechung des BGH zum Beweis sog. negativer Tatsachen. Auch hier muß der Kläger zunächst nur schlüssig behaupten, daß eine rechtszerstörende positive Tatsache nicht vorliegt. Der Beklagte ist dann nach Maßgabe des § 138 11. ZPO gehalten, konkrete Ausführungen zum Vorliegen entsprechender "positiver Tatsachen" zu machen. Gelingt ihm dies, ist es nun Sache des Klägers, diese Einlassungen zu widerlegen. Vgl. dazu BGH, Urteil vom 19.05.58, NJW'58, 1188 f. (bzgl. des Nichtvorliegens des Tatbestandes der Verwirkung); Urteil vom 02.12.60, NJW'61, 826, 828; Urteil vom 05.11.1980, NJW'81 , 577. Eine Klage ist, außer in den Fällen des § 830 I. S. 2 BGB, dementsprechend schon dann unschlüssig, wenn sich bereits aus dem Vortrag des Klägers ergibt, daß in der konkreten Situation auch noch ein weiteres nicht identisches AntecedensentitätkoUektiv existierte, das, ohne ein dem Beklagten zurechenbares Verhalten als non-redundantes Element aufzuweisen, ebenfalls seiner Art nach geeignet war, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Rechtsgutsverletzung zu erhöhen. In diesem Fall könnte nicht mehr ohne weiteres geschlossen werden, daß die fragliche Rechtsgutsverletzung tatsächlich noch zu dem in Rede stehenden Verhalten des Beklagten in einer kausalen Dependenzrelation steht.
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zwischen dem konkreten punktuellen Verhalten des Beklagten und der Rechtsgutsverletzung des Klägers ohne weiteres dann bejahen, wenn keine andere Kausalerklärung für deren Eintritt ersichtlich ist.
Zwischenergebnis: Aus den dem geltenden deutschen Deliktsrecht immanenten Prinzipien und seinen Zwecksetzungen läßt sich keine sachlich tragfähige Begründung für die Annahme herleiten, daß das Verhalten des potentiell Haftpflichtigen prospektiv betrachtet seiner Art nach eine zumindest relativ hinreichende Bedingung für die Rechtsgutsverletzung gewesen sein muß. Determination ist kein notwendiges Element eines adäquaten haftungsrechtlichen Kausalitätsverständnisses . Soweit aus der Prospektive zu treffende Aussagen erforderlich sind, ist es vielmehr sachgerecht auf ein probabilistisches Kausalitätskonzept zurückzugreifen. Zudem entspricht ein derartiges probabilistisches Kausalitätsverständnis auch sehr viel eher den tatsächlich ablaufenden Vorgängen im Rahmen eines zivilrechtlichen Erkenntnisverfahrens. Es reicht daher aus, wenn von dem Verhalten ex ante ausgesagt werden kann, daß es seiner Art nach geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von Rechtsgutsverletzungen, die der konkret in Rede stehenden wesensgleich sind, zu erhöhen. Der dem Deliktsrecht zugrunde liegende Gedanke ausgleichender Gerechtigkeit und das ihm immanente Verschuldensprinzip setzen daneben prinzipiell das Vorliegen einer kausalen Dependenzrelation zwischen dem zurechenbaren Fremdverhalten und dem Eintritt der Rechtsgutsverletzung voraus. Ein auf der Grundlage des § 823 I. BGB vorgehender Kläger muß dementsprechend vortragen und gegebenenfalls beweisen, daß das dem Beklagten zurechenbare Verhalten von einer Art war, die geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer dem Streitgegenstand entsprechenden Rechtsgutsverletzung zu erhöhen. Außerdem muß sich aus seinen Einlassungen ergeben, daß sich das konkrete Verhalten des Beklagten als eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt der tatsächlich erlittenen Rechtsgutsbeeinträchtigung darstellt. \3 Im insoweit durchaus passenden argumentativen Kleid des kontrafaktischen Konditionals der conditio-sine-qua-non-Formel: Das von dem Kläger zu unterbreitende Tatsachenmaterial muß so beschaffen sein, daß bei hypothetischer Elimination des Verhaltens des Beklagten und der vom Kläger erlittenen
13
Im Ergebnis ebenso Mertens, Verkehrspflichten und Deliktsrecht, VersR'SO, 397, 399.
150
4. Abschn.: Kausalität und gerichtliche Wahrheitsfindung
Rechtsgutsverletzung ein in sich konsistentes kausales Gefüge verbleibt, während bei bloßer Ausblendung des Verhaltens des Beklagten (semikontrafaktisches Konditional) ein inkonsistentes kausales Gefüge entsteht. 14 Dieses ist dann der Fall, wenn vor dem dem Gericht unterbreiteten Evidenzhintergrund die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Rechtsgutsverletzung bei Nichtbeachtung des klägerischen Verhaltens auf Null oder doch auf einen zumindest bei der Überzeugungsbildung im Rahmen des § 286 ZPO in verantwortlicher Weise negierbaren Wert sinkt. 15
14
Siehe oben S. 67 ff.
I' Vgl. dazu Stegmüller, Ergebnisse und Resultate, Band 1, S. 631 f.
Fünfter Abschnitt Haftungsbegründende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz: Die Tatbestände des § 830 I S. 1 und S. 2 BGB I. ZivilrechtIiche Mittäterschaft: Die gemeinschaftlich begangene unerlaubte Handlung im Sinne von § 830 I S. 1 BGB § 830 I. S. 1 BGB enthält, ausweislich der evidenten sprachlichen Parallelen, das zivilrechtliche Pendant zu § 2511. StGB. Die absolut herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur geht sogar grundsätzlich davon aus, daß die Bestimmung des § 830 I. S. 1 BGB sowohl hinsichtlich des ZurechnungsmodeUs aber auch der Bestimmung des Merkmals des "gemeinschaftlichen Begehens" analog den Begriffsbildungen in der strafrechtlichen Dogmatik zu interpretieren sei. 1
Diese Position ist aus zwei Gründen sehr problematisch. 2 Zum einen ist nicht zuletzt die Täterschaftslehre im Strafrecht in höchstem Maße umstritten. Eine allgemein akzeptierte strafrechtliche Mittäterschaftsdogmatik existiert in dieser Form nicht. 3 Der verlockend einfache Weg, Begriffsbildungen und I Vgl. BGH, Urteil vom 14.01.53, NJW'53, 499, 500; Urteil vom 14.01.84, NJW'84, 1226, 1228, ständige Rechtsprechung; Franz Bydlinski, Mittäterschaft im Schadensrecht, AcP 158 (1958), S. 410,411; Esser, Schuldrecht, Bd. 2, § 112 I.l.a.) (S. 446); Esser/Weyers, Schuldrecht, Bd. 2, § 60 I. 1. a.) (S. 512); Fikentscher, Schuldrecht, § 108, l.a.) (S. 779); PlancklGreijJ, § 830, l.a.); PalandtlIhomas, § 830, 2.a.); Mertens in Münch.Komm.z.BGB, § 830, Rdn. 7; SoergellZeuner, § 830, Rdn. 4; Ermanl-Drees, § 830, Rdn. 2; StaudingerlSchäfer § 830, Rdn. 5, mit dem ausdrücklichen Hinweis, bzgl weiterer Einzelheiten auf die strafrechtliche Literatur zum Problem der Mittäterschaft zurückzugreifen.
Vgl. dazu auch Max Rumpf, Die Teilnahme an unerlaubter Handlung, Diss. Göttingen 1904, S. 3 f.; 1homas Weckerle, Die deliktische Verantwortlichkeit mehrerer, Karlsruhe 1974, S. 64 f.; Deutsch, Das Verhältnis von Mittäterschaft und Alternativtäterschaft im Zivilrecht, IZ'72, 105; K. Schmidt, Konkursantragspflichten bei der GmbH und bügerliches Deliktsrecht, IZ'78, 661, 666.
2
So wird gerade auch die hier besonders interessierende Frage, ob Mittäterschaft bei Erfogsdelikten notwendig das Vorliegen eines Kausalzusammenhanges zwischen dem Eintritt der Rechtsgutsverletzung und dem Verhalten eines jeden Mittäters voraussetzt, durchaus unterschiedlich beantwortet. Die Vertreter der sog. "objektiven Theorie" gehen dabei davon aus, daß ein derartiger Kausalzu-
3
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5. Abschn.: HaftungsbegriindendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
Argumente des Strafrechts unter Berufung auf die ihnen entgegengebrachte allgemeine Akzeptanz quasi unbesehen zu adaptieren, ist somit für die Zivilrechtslehre nicht gangbar. Sie steht dementsprechend vor dem Dilemma, entweder die komplexe strafrechtliche Diskussion mit allen Kontroversen in die Dogmatik des § 830 I. S. 1 BGB einarbeiten oder aber selbst gestaltend und entscheidend in einen komplexen, originär strafrechtlichen Disput eingreifen zu müssen. Beides kann sie nicht wollen. Zum anderen folgt die Entwicklung strafrechtlicher Begriffe und Theorien gänzlich anderen leitenden Gesichtspunkten als dieses im Zivilrecht der Fall ist. Dieses wird gerade angesichts der modemen Entwicklungen im Bereich der strafrechtlichen Täterschaftslehre besonders deutlich. So hat insbesondere die Tatherrschaftslehre mit ihren Typusbegriffen originär strafrechtliche Orientierungspunkte. Täter im Sinne dieser Theorie ist gerade nicht der bloß rechtswidrig und schuldhaft handelnde Verursacher des tatbestandsmäßigen Erfolges, sondern die anband eigenständiger Kriterien im Einzelfall zu konkretisierende "Zentralgestalt des handlungsmäßigen Geschehens". Maßgeblich ist insoweit vielmehr die "Umschreibung des handlungsmäßigen Geschehens mit all seinen personalen Bezügen" durch den jeweils in Rede stehenden strafrechtlichen Tatbestand. Vorsatz- und Fahrlässigkeitstäterschaft sind strukturell verschiedene Begriffe. Vergegenwärtigt man sich, daß das zivilrechtliehe Deliktsrecht Vorsatz und Fahrlässigkeit prinzipiell gleichbehandelt (§§ 823 1., 276 I. S. 1 BGB), deliktisches Handeln als die rechtswidrige und schuldhafte Verursachung einer Rechtsgutsbeeinträchtigung beschreibt (§ 823 I. BGB) und den Unterschied zwischen Täterschaft und Teilnahme (§ 830 I. 11. BGB) letztlich aufhebt, so wird die Inkompatibilität von strafrechtlicher Täterschaftsdogmatik und zivilrechtlichem Deliktsrecht geradezu sinnfa1lig. 4
sammenbang stets gegeben sein muß (vgl. nur Lisu/Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechtes, Zweiter Band, 25. Auflage, Berlin1Leipzig 1927, § 50 m. 1.) [ S. 322 ]; Hippel, Deutsches Strafrecht, Zweiter Band, Berlin 1930, § 32 ß. [So 453 f.D, während dieses demgegenüber von den Vertretern der sog. "Animustheorie" (siehe etwa RG, Urteil vom 12.05.1880, RGSt 2, 160, 162 f.), aber auch von der modemen "Tatherrschaftslehre " (grundlegend dazu Claus Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 5. Auflage, BerlinlNew York 1990, S. 122 ff.) verneint wird. 4 Vgl. zum ganzen Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 25 ff., 122 ff., 327 ff.; Gössel in: Maurach, Strafrecht, Allgemeiner Teil Teilband 2, fortgeführt von Karl Heinz Gössel und Heim Zipf, 7. Aufl., Heidelberg 1989, § 47, Rdn. 77 ff.; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., Berlin 1969, § 15, Vorbem. (S. 98 ff.).
I. Zivilrechtliche Mittäterschaft im Sinne von § 830 I S. 1 BOB
153
Die Zivilrechtslehre ist daher genötigt, eigene Begrifflichkeiten und Modelle zur Interpretation des § 830 I. S. 1 BGB zu entwickeln. Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, auf strafrechtliche Erkenntnisse und Einsichten zurückzugreifen, doch bedarf es hierfür stets einer spezifisch zivilrechtlichen Rechtfertigung.
1. Das Zurechnungsmodell a) Die vertretenen Positionen (1.) Nach Ansicht von Riess verlangt § 830 I. S. 1 BGB in gleicher Weise wie § 823 I. BGB vom Kläger den Nachweis, daß das individuelle Verhalten eines jeden Mittäters für den Eintritt der erlittenen Rechtsgutsverletzung und dadurch vermittelt für den gesamten geltend gemachten Schaden ursächlich war. § 830 I. S. 1 BGB erfaßt demnach nur Fälle sog. "kumulativer Kausalität", bei denen sich im Grunde die volle Haftung jedes Beteiligten unabhängig davon, ob sie eine Mittätergemeinschaft bilden oder nur als Nebentäter in Erscheinung getreten sind, bereits aus einer bloßen Anwendung der §§ 823 I. iVm. 840 I. BGB ergibt. Folgerichtig erkennt Ries daher auch in § 830 I. S. 1 BGB keine Norm mit eigenständiger materiellrechtlicher Bedeutung, sondern lediglich ein "formales Bindeglied" im Sinne einer Rechtsfolgenverweisung zwischen den Vorschriften der §§ 823 und 840 I BGB.
Er glaubt dabei, diese These aus der Gesetzgebungsgeschichte heraus belegen zu können. Im I. Entwurf des BGB enthielt der § 714, der dem heutigen § 830 I. S. 1 BGB entspricht, noch selbst die Rechtsfolgenanordnung der gesamtschuldnerischen Haftung. Gleiches galt für den damaligen § 713, der für den Fall, daß neben dem Geschäftsherrn im Sinne des heutigen § 831 BGB oder dem Aufsichtspflichtigen entsprechend § 832 BGB (damalige Haftungsgrundlage: §§ 710 - 712), auch der Verrichtungsgehilfe oder der Beaufsichtigte selbständig deliktisch für den gleichen Schaden einzustehen hat, ebenfalls eine Solidarhaftung beider anordnete. Mit den 11. Entwurf wurde dann die Rechtsfolgenanordnung der Gesamtschuldnerschaft durch den § 764 I. (entspricht § 840 I. BGB) quasi vor die Klammer gezogen. Als Konsequenz strichen die Verfasser des 11. Entwurfes praktisch den gesamten § 713 und ersetzten ihn durch die
S
Ries, Zur Haftung der Nebentäter nach § 830 und § 840 BOB, AcP 177 (1977),543,546 f. und
552 f.
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5. Abschn.: HafnmgsbegründendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
inhaltlich abweichende Bestimmung des § 764 11., der der Regelung des heutigen § 84011. BGB entspricht. Demgegenüber wurde aus § 713 des I. Entwurfes lediglich die explizite Rechtsfolgenanordnung eliminiert, diese Vorschrift im übrigen aber unangetastet gelassen. Allein die Paragraphenzahl wurde noch in § 753 abgeändert. Der heutige § 830 I. S. 1 BGB entspricht diesem § 753 des 11. Entwurfes. Ries folgert nun aus diesen Vorgängen, daß die Verfasser des 11. Entwurfes auch den § 714 des I. Entwurfes, wie bei dessen Nachbarn § 713 geschehen, hätten streichen können, ohne hierdurch eine materiellrechtlich andere Regelung zu treffen, da dessen Regelungsgehalt durch den § 764 I. des 11. Entwurfes (heute § 840 I. BGB) wie derjenige des § 713 des I. Entwurfes praktisch absorbiert worden sei. § 830 I. S. 1 BGB sei daher, wie schon sein" Archetypus" aus dem 11. Entwurf (§ 753), materiell gegenstandslos und daher als nur formelle Verweisungsnorm auf § 840 I. BGB zu verstehen. 6 (2.) Auch wenn man diese Ansicht nicht teilt und davon ausgeht, daß § 830 I. S. 1 BGB eine gegenüber § 823 in Verbindung mit § 840 I. BGB eigenstän-
dige Bedeutung zukommt, ist man noch nicht notwendig zu der Annahme gezwungen, daß im Falle der Mittäterschaft dem Kläger der Nachweis eines haftungsbegründendenKausalzusammenhanges zwischen dem Individualverhalten eines jeden Beteiligten und der erlittenen Rechtsgutsverletzung erspart bleibt. So wurde und wird in der Literatur die Ansicht vertreten, daß § 830 I. S. 1 BGB stets ein erwiesenermaßen volldeliktisches Verhalten eines jeden Mittäters voraussetze. Seine eigenständige, über die §§ 823, 840 BGB hinausweisende Bedeutung des § 830 I. S. 1 BGB soll dabei aber darin liegenden, daß jeder Mittäter nicht nur für den Schaden einzustehen habe, der sich als Effectus der von ihm verursachten Rechtsgutsverletzung darstellt, sondern für alle Schäden, die auf das Verhalten auch der übrigen Beteiligten zurückzuführen sind. Kann demnach der Kläger nachweisen, daß der Beklagte Mitglied einer Mittätergemeinschaft ist und zudem durch sein individuelles Verhalten eine bestimmte Rechtsgutsverletzung verursacht hat, so räumt ihm § 830 I. S. 1 BGB die Möglichkeit ein, von diesem Mittäter den gesamten durch die Mittätergemeinschaft in toto verursachten Schaden ersetzt zu verlangen, ohne einen entsprechenden haftungsausfüllenden Kausalzusammenhang zwischen der durch das Individual-
6
Vgl. aaO. S. 546 f.
I. Zivilrechtliche Mittäterschaft im Sinne von § 830 I S. 1 BGB
155
verhalten verursachten Rechtsgutsverletzung und dem gesamten geltend gemachten Schaden nachweisen zu müssen. 7 Beispielhaft für eine solche Konstellation ist der Sachverhalt, der einer Entscheidung des AG Hamburg aus dem Jahre 1980 zugrunde lag. 8 Dort hatten Demonstranten, die, was zu unterstellen ist, zurecht als Mittäter im Sinne des § 830 I. S. 1 BGB angesehen worden waren, Verpackungsabfall auf das Grundstück eines Stromversorgungsunternehmens geworfen. Das betroffene Unternehmen verklagte einen der Mittäter, dem nachgewisen werden konnte, daß auch er Verpackungsabfall auf das Grundstück befördert hatte, auf Ersatz der Kosten für die Beseitigung des gesamten Abfalls. Das AG Hamburg verurteilte den Beklagten auf der Grundlage des § 830 I. S. 1 BGB antragsgemäß. In diesem Fall hatte der Beklagte erwiesenermaßen durch sein individuelles Verhalten das Eigentum der Klägerin verletzt. Gleichwohl blieb offen, welcher Schaden infolge dieser Rechtsgutsverletzung entstanden war. § 823 I. BGB ließe hier mangels Nachweises eines entsprechenden haftungsausfüllenden Kausalzusammenhanges keine Haftung auf den gesamten Schaden zu. § 830 I. S. 1 BGB schneidet demgegenüber unter diesen Umständen dem Beklagten die Berufung auf das Fehlen eines haftungsausfüllenden Kausalzusammenhanges ab und ermöglicht für diesen Fall damit eine Haftung.
Günter Brambring , Mittäter, Nebentäter und die Verteilung des Schadens bei Mitverschulden des Geschädigten, Berlin 1973, S. 46 ff. Im Ergebnis ebenso Rumpf, Die TeiInahme an unerlaubten Handlungen nach dem BGB, S. 53 f., der jedoch zusätzlich noch das Vorliegen eines "einheitlichen Schadens" verlangt. Es muß demnach eine Schadenskonstellation vorliegen, die es dem Verletzten unmöglich macht, diese in den einzelnen Mittätern zurechenbare Anteile zu dividieren. Der Tatbestand des § 830 I. S. 1 BGB ist dementsprechend um ein weiteres Merkmal zu ergänzen. Stefan Kreutzjger, Die Haftung von Mittätern, Anstiftern und Gehilfen im Zivilrecht, FrankfurtlMain 1985, S. 89 ff., will den jeweiligen Mittätern die Möglichkeit eines Gegenbeweises einräumen. § 830 I. S. 1 BGB enthält danach lediglich eine widerlegliche gesetzliche Vermutung dafür, daß je4e durch das Individualverhalten eines Mittäters verursachte Rechtsgutsverletzung für den gesamten Schaden auch haftungsausfüllend kausal ist. - In der Rechtsprechung des Reichsgerichtes wurde anfänglich gleichfalls diese Auffassung vertreten. So heißt es in einem Urteil vom 02.12.1879(RGZ 1, 89, 91 f.), daß auch eine "gemeinschaftliche Beschädigung ... mindestens irgendeinen verletzenden Akt gegen den Beschädigten auf Seiten dessen voraussetzt 0, der für die Folgen haftbar gemacht werden soll." Geht es etwa um eine Tötung durch mehrere Personen, so müsse eine "Mitwirkung beim Töten und Verwunden selbst" nachweisbar sein. Wird aber eine solche Mitwirkung festgestellt, kommt nunmehr "das Maß dieser Mitwirkung nicht mehr in Betracht". Der Schädiger habe vielmehr für den gesamten Schaden zu haften, soweit nicht das Gegenteil erwiesen würde. Vgl. dazu auch Crome, Von der Solidarität aus unerlaubten Handlungen, !herings Jahrbuch, Bd. 35 (1894), S. 100, 103 ff. 7
a Urteil vom 03.12.1980, NJW'81 , 1454.
156
5. Abschn.: HaftungsbegriindendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
Die Vertreter dieser Ansicht führen neben einer Bezugnahme auf den Wortlaut des § 830 I. S. 1 BGB9 insbesondere zur Begründung ins Feld, daß das Erfordernis des Vorliegens eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges zwischen Individualverhalten und Rechtsgutsverletzung für das Haftungsrecht von solch grundlegender Bedeutung sei, daß eine Modiftkation nicht zugelassen werden könne. Zudem würde ein völliger Verzicht auf den Nachweis eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges zwischen Individualverhalten und Rechtsgutsverletzung zu einer praktisch nicht vertretbaren Haftungsausweitung führen. 1O Dem Argument, den Geschädigten so in einer untragbaren Beweisnot hinsichtlich des haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges zurückzulassen, wird mit der These begegnet, der Gesetzgeber habe allein § 830 I. S. 2 BGB zur Korrektur unbilliger Beweislastverteilungen kreiert. Im Übrigen hätten bei der Lösung dieses Problems prozessuale Rechtsinstitute den Vorrang. Nicht zuletzt beruft man sich auch darauf, daß im Strafrecht gleichfalls Mittäterschaft bei Erfolgsdelikten nur dann angenommen wird, wenn jeder Mittäter ein Verhalten an den Tag gelegt hat, das einen Kausalfaktor für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges darstellt. ll (3.) Die herrschende Meinung vertritt demgegenüber die Ansicht, daß § 830 I. S. 1 BGB gerade im Bereich der Haftungsbegründung ein eigenständiges, von der Regelung des § 823 I. BGB nicht unerheblich abweichendes Zurechnungsmodell zugrunde liegt. Während § 823 I. BGB prinzipiell davon ausgeht, daß eine unerlaubte Handlung durch ein singuläres, nur einer Person zurechenbares Verhalten konstituiert wird, das einen Kausalfaktor für den Eintritt einer bestimmten Rechtsgutsverletzung verkörpert, löst sich § 830 I. S. 1 BGB von dieser Betrachtungsweise für den Fall dieses noch näher zu bestimmenden "gemeinschaftlichen Begehens ". Die einzelnen Verhaltensweisen werden hier nicht mehr als distinkte punktuelle Entitäten in den Blick genommen, sondern zu einer neuen, nicht mehr dividierbaren komplexen Entität verschmolzen, die sie in ihrer rechtlichen Bedeutung ablöst. Nicht mehr die derart absorbierten singulären Verhaltensweisen der jeweiligen Mittäter, sondern nur diese kom-
So meint Brambring, S. 44, daß der Passus "einen Schaden verursacht" einen ursächliches Verhalten jedes Mittäters erfordere.
9
10
Mit Blickrichtung auf die Schadensfälle bei gewalttätigen Großdemonstrationen spricht
Kreutziger, S. 81 f. von einer sonst eintretenden Haftung für bloße Anwesenheit bei gefährlichem Tun. 11
Vgl. dazu Brambring, S. 41 f.; Kreutziger, S. 84.
I. Zivilrechtliche Mittäterschaft im Sinne von § 830 I S. 1 BGB
157
plexe Entität ist daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie in einer kausalen Relation zu der in Rede stehenden Rechtsgutsverletzung steht. Auch müssen sich nunmehr alle Mittäter diesen gesamten Verhaltenskomplex zurechnen lassen. 12 Die neuere höchstrichterliche Rechtsprechung gelangt im wesentlichen zu dem gleichen Ergebnis, wobei sie ihre Vorstellung von der Zurechnungsstruktur des § 830 I. S. 1 BGB durch eine Kurzformel zu beschreiben pflegt, wonach der "gemeinschaftliche Wille die gemeinschaftliche Verursachung erzeuge". 13 Beispielhaft ist hierfür die Entscheidung im sog. "Steinschlachtfall" .14 Kinder waren beim Ausführen ihrer Hunde in Streit geraten, in dessen Verlauf sie sich mit Steinen bewarfen. Eines der Kinder (der Kläger) erlitt infolge eines Steinwurfes eine schwere Augenverletzung. Wer den Stein geworfen hatte, ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Fest stand lediglich, daß der verletzungsursächliche Stein von einem Kind geworfen worden war, das der Gruppe der Streitgegner des Klägers angehörte. Diese "Gegenpartei" erfüllte, was hier als unproblematisch zu unterstellen ist, hinsichtlich des Steinewerfens sämtliche Merkmale einer Mittätergemeinschaft im Sinne von § 830 I. S. 1 BGB. Das geschädigte Kind nahm nun ein Mitglied auf Ersatz des gesamten Schadens in Anspruch. Der BGH gab der Klage statt. Offensichtlich reichte dem Senat hier die Zugehörigkeit des Beklagten zu der Mittätergemeinschaft aus, ihn für den Schaden haftbar zu machen, obwohl in keiner Weise erwiesen werden konnte, daß dessen individuelles Verhalten einen Kausalfaktor für die eingetretene Rechtsgutsverletzung verkörpert hat. Geht man davon aus, daß die gemeinschaftliche Willensbildung nach Auffassung des BGH das tragende Element einer Mittätergemeinschaft im Sinne
12 Vgl. dazu insbesondere Jan Comelius Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, Berlin 1988, S. 78 f.; Bertram Cypionka, Deliktsrechtliche Haftung trotz ungeklärter Verursachung, Diss. Münster 1985, S. 3 f. Im Ergebnis ebenso Deutsch, Haftungsrecht, § 21 m. 1.) (S. 341); ders., Das Verhältnis von Mittäterschaft und Altemativtäterschaft im Zivilrecht, JZ'72, 105 ff.; Enneccerus/-Lehmann, § 247 I. 1.) (S. 962); Esser, Schuldrecht, Bd. H., § 112 vor 1.) und 1. a.) (S. 446); Fikentscher, Schuldrecht, § 108, La.) (S. 779); Fraenkel, S. 268 ff., 270; Mertens in: Münch.Komm.z.BGB, § 830, Rdn. 2; Palandtflhomas, § 830, 1.); Planek/-Greif!, § 830, La.); Staudinger/Schäfer, § 830, Rdn. 1 jeweils mit weiteren Nachweisen. [3 BGH, Urteil vom 25.05.1955, NJW'55, 1274, 1275; Urteil vom 11.05.1971, NJW'72, 40, 42; vgl. dazu bereits Frida Fanny Spitzer, Teilnahme an unerlaubter Handlung, Berlin 1931, S. 18 ff.
[4
BGH, Urteil vom 11.05.1971, aaO.
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5. Abschn.: HaftungsbegIÜndendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
von § 830 I. S. 1 BGB darstellt, so läßt sich die Formel von der "Erzeugung der gemeinschaftlichen Verursachung durch den gemeinschaftlichen Willen" wohl am ehesten so deuten, daß die Teilnahme am mittäterschaftlichen Konsens die unwiderlegliche Vermutung rechtfertigt, daß insoweit auch ein objektiver Kausalzusammenhang zwischen dem Individualverhalten eines jeden Mittäters und der eingetretenen Rechtsgutsverletzung besteht. 15 Die Rechtsfigur der unwiderleglichen Vermutung deckt sich im Ergebnis mit dem oben vorgestellten Zurechnungsmodell. Der eigentlich erhebliche rechtliche Tatbestand (der haftungsbegrundende Kausalzusammenhang zwischen Individualverhalten und Rechtsgutsverletzung) wird durch einen für gleichwertig erachteten Tatbestand (die Zugehörigkeit zur Mittätergemeinschaft) ersetzt. Das Resultat ist eine entsprechende Verschiebung des Beweisthemas. 16 Ein Kläger, der den Beklagten als Mittäter nach § 830 I. S. 1 BGB auf Schadensersatz in Anspruch nehmen will, muß dementsprechend nur noch vortragen und gegebenenfalls beweisen, daß dieser Beklagte einer Mittätergemeinschaft angehört, deren Gesamtverhalten für den Eintritt der Verletzung seiner Rechtsgüter und den daraus resultierenden Schaden ursächlich war. Will er dagegen den gleichen Beklagten aus § 823 I. BGB in Anspruch nehmen, kann er demgegenüber nur dann Erfolg haben, wenn ihm der Nachweis gelingt, daß das individuelle Verhalten des Beklagten einen Kausalfaktor für den Eintritt der erlittenen Rechtsgutsverletzung verkörpert.
l' Der dieser Auffassung innwohnende Vennutungscharakter ergibt sich ganz deutlich, wenn man sich die Entwicklung der Rechtsprechung vor Augen hält. Nachdem das Reichsgericht, wie bereits dargestellt (siehe oben Fußnote 7) zunächst noch den Nachweis einer haftungsbegIÜndenden Kausalität des Individualverhaltens eines jeden Mittäters verlangt hatte (Urteil vom 02.12.1879, RGZ I, 89, 91 f.), vollzieht sich bereits mit dem Urteil vom 07.05.1889 (RGZ 23, 158, 160 f.) eine Wandlung. Zwei Mittäter hatten ihr Opfer mit einem Besenstiel und einem Totschläger malträtien, das letztlich an den Folgen der Schläge mit dem Totschläger verstarb. Das RG unterstellt mittels einer bloßen Evidenzbehauptung, daß auch die Schläge mit dem Besenstiel ein Kausalfaktor für den Eintritt des Todes gewesen sind. So habe der Angriff mit dem Besenstiel das Opfer an einer erfolgreichen Verteidigung gegen die Attacken mit dem Totschläger gehinden. Mit dem Urteil vom 25.05.1955 (NIW'55, 1274 f.) vollzieht dann der BGH den letzten Schritt zu einer bloßen Kausalitätsvennutung bezüglich des Verhaltens der einzelnen Mittäter. An die Stelle einer Feststellung eines haftungsbegIÜndenden Kausalzusammenhanges tritt hier eine Aufzählung von Beispielen, wie das individuelle Verhalten des Mittäters für die Rechtsgutsverletzung kausal geworden sein könnte. 16
Vgl. dazu nur Goldschmidt, Zivilprozeßrecht, 2. Auflage, Berlin 1932, § 44 3.a.) (S. 137 f.).
I. Zivilrechtliche Mittäterschaft im Sinne von § 830 I S. 1 BGB
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Zur inneren Rechtfertigung für diese ModifIkation des Haftungsschemas zu Lasten der Beklagten beruft sich die herrschende Meinung letztlich auf ein Fairnessargument. § 830 I. S. 1 BGB will dem unbilligen Ergebnis abhelfen, daß der Geschädigte deshalb ohne Anspruch bleibt, weil er nicht nur durch eine, sondern durch mehrere untereinander abgestimmte Personen verletzt worden ist. 17 b) Diskussion Jedes weitere Nachdenken über Sinn und Bedeutung des § 830 I. S. 1 BGB im Haftungsrecht würde sich erübrigen, wenn zutrifft, was Ries aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift folgern zu können glaubt. § 830 I. S. 1 BGB wäre danach praktisch bedeutungslos und könnte eine schwache Existenzberechtigung bestenfalls aus einer Art Klarstellungsfunktion herleiten. Dem ist jedoch nicht so. Vielmehr erscheint es sogar angezeigt, aus der referierten Gesetzgebungsgeschichte einen genau gegenteiligen Schluß zu ziehen. Die Tatsache, daß die Autoren des BGB, nachdem sie sich bei der Ausarbeitung des 11. Entwurfes entschlossen hatten, die Anordnung der Gesamtschuldnerschaft für die Fälle paralleler Haftung verschiedener Personen für denselben Schaden durch Einführung des § 764 I. (heute § 840 I. BGB) generell zu regeln, nur § 714 nicht aber § 713 des I. Entwurfes fortbestehen ließen, erzwingt geradezu den Schluß, daß sie diese Vorschrift eben nicht für obsolet erachteten, sondern ihr eine über die bloße Kombination der §§ 823, 840 BGB hinausgehende Bedeutung beimaßen. Die entgegengesetzte Ansicht von Ries ist demgegenüber nur unter der wenig sinnfälligen Prämisse plausibel, daß die Verfasser des BGB den hinfällig gewordenen § 713 des I. Entwurfes strichen, gleichwohl aber den ebenfalls überflüssig gewordenen § 714 als § 753 in den 11. Entwurf aufnahmen. Muß man demnach davon ausgehen, daß § 830 I. S. 1 BGB eine über das durch die §§ 823 I. S. I, 840 BGB defInierte Haftungsschema hinausreichende Bedeutung zukommt, so bleibt die Frage trotzdem weiterhin offen, ob § 830 I. S. 1 BGB insoweit tatsächlich den Kläger von der Last befreit, das Vorliegen eines haftungsbegrundenden Kausalzusammenhanges zwischen dem Individual-
Vgl. BGH, Urteil vom 11.05.1971, NJW'72, 40, 42; Urteil vom 30.05.1972, NJW'72, 1366, 1369.
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5. Abschn.: Haftungsbegriindende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
verhalten eines jeden Mittäters und der erlittenen Rechtsgutsverletzung nachweisen zu müssen oder nicht. Der Wortlaut des § 830 I. S. 1 BGB spricht eindeutig für die von der herrschenden Meinung vertretene Ansicht. Hier ist nicht, wie wohl Brambring meint, von einer gemeinschaftlichen Verursachung eines Schadens durch koinzidierende aber distinkte unerlaubte Handlungen mehrerer die Rede, sondern von einer Schadensverursachung durch eine von mehreren gemeinschaftlich begangene unerlaubte Handlung. 18 Wenn nun der herrschenden Meinung gleichwohl entgegengehalten wird, daß das von ihr vertretene Zurechnungsmodell im Widerspruch zu dem Grundsatz stehe, daß jedermann nur für Rechtsgutsverletzungen haften könne, die er durch sein Verhalten verursacht habe, so geht diese Kritik am eigentlichen Problem vorbei. Wesensmerkmal mittäterschaftlicher Begehungsweise ist nach dem Zurechnungsmodell der herrschenden Meinung nicht eine partielle Suspendierung des Verursachungsgrundsatzes, sondern die wechselseitige Zurechnung des jeweiligen Individualverhaltens unter den Mittätern. § 830 I. S. 1 BGB erweitert auf diese Weise den Kreis dessen, was sich jeder Mittäter als sein Verhalten zurechnen lassen muß auf die Aktivität des gesamten Kollektivs. Der Nachweis, daß dieser Verhaltenskomplex in einem Kausalzusammenhang zu der erlittenen Rechtsgutsverletzung steht, muß von Seiten des Klägers aber nach wie vor geführt werden. 19 Auch eine teleologische Betrachtung mittäterschaftlicher Haftung spricht für das Zurechnungsmodell der herrschenden Meinung. Sinn und Zweck des § 830 I. BGB ist es, in bestimmten noch näher zu konkretisierenden Fällen zu vermeiden, daß ein zweifellos deliktisch Geschädigter letztlich deshalb ohne
18 So bereits ganz deutlich Planek/Greif!, BGB, § 830, 1.a.); Vgl. dazu auch Cypionka, Deliktsrechtliche Haftung trotz ungeklärter Verursachung, S. 3.
19 Vgl. dazu nochmals Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, S. 79. - Soweit diese Kritik von den Vertretern der Ansicht geübt wird, die eine Haftungserweiterung durch § 830 I. S. 1 BGB im Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität befürworten, trifft diese insoweit auch ein tu-quoque-Argument. Wenn die These richtig ist, daß man nur für etwas haften kann, was man durch sein individuelles Verhalten verursacht hat, dann muß dieses auch für die Schadenstragung gelten. Wenn man aber einem Mittäter bei erwiesener Teilschadenskausalität der von ihm verursachten Rechtsgutsverletzung die Restitution des gesamten Schadens zur Pflicht macht, dann haftet er im Ergebnis für Schadensfolgen, die nicht im Wege einer kausalen Relation auf ·seine" Rechtsgutsverletzung und auch nicht auf sein Individualverhalten riickfiihrbar sind.
I. Zivilrechtliche Mittäterschaft im Sinne von § 830 I S. 1 BGB
161
Ersatzanspruch bleibt, weil tatsächlich nicht nur eine, sondern mehrere Personen an dem im Ergebnis zum Schadenseintritt führenden Geschehen beteiligt waren. Ein Geschädigter, der Opfer eines Geschehensablaufes geworden ist, in den mehrere Personen verwickelt waren, wird naturgemäß erheblich größere Probleme haben, eine ex post Abklärung der kausalen Bezüglichkeiten herbeizuführen als jemand, der nur infolge des Verhaltens einer Person einen Schaden erlitten hat. Das aber gilt nicht nur für den Bereich der haftungsausfüllenden, sondern gerade auch für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität, deren Nachweis unter der erheblich strengeren Prämisse des § 286 ZPO geführt werden muß. Wenn die Vorschrift des § 830 I. S. 1 BGB nun diesem Problem abhelfen will, so kann sie das sinnvoll nur mit einem Zurechnungsmodell erreichen, das bereits im Bereich der haftungsbegründenden Kausalität Modifikationen vornimmt. Die Zusammenfassung der individuellen Aktivitäten der als Schädiger in Betracht kommenden Personen zu einem Komplex ist grundSätzlich geeignet, dieser Regelungsaufgabe gerecht zu werden. Das eigentliche wertend zu lösende Problem ist vielmehr, unter welchen Voraussetzungen es tatsächlich gerechtfertigt ist, im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung tätige Personen zu einer solchen Mittätergemeinschaft zusammenzufassen. Dieses soll im folgenden Abschnitt geschehen. Diese Auffassung zwingt jedoch noch zu einer weiteren Konsequenz: ist es einem Mittäter möglich nachzuweisen, daß seine Teilnahme in keiner kausalen Relation zu der eingetretenen Rechtsgutsverletzung steht, so gibt es keinen Sachgrund mehr, ihn weiterhin nach § 830 I. S. 1 BGB haften zu lassen. Soll § 830 I. S. 1 BGB den Geschädigten lediglich aus einer spezifischen Beweisnot befreien, so ist dieses Ziel bereits erreicht, wenn die entsprechende Beweislast auf die Gegenseite übergegangen ist. Darüberhinaus besteht jedoch kein Anlaß, dem Geschädigten einen Schuldner mehr zu verschaffen, der jedoch in die zugrunde liegende Rechtsgutsverletzung im Ergebnis nicht involviert ist. All das wird für die Vorschrift des § 830 I. S. 2 BGB mit der gleichen Begründung akzeptiert20 ; es ist kein Grund ersichtlich, warum für den Bereich des § 830 I. S. 1 BGB etwas anderes gelten sollte.
20
Siehe unten S. 166 und die Nachweise in Fn. 81. 1I Quentin
162
5. Abschn.: Haftungsbegründende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
2. Die konstitutiven Elemente zivilrechtlicher Mittäterschaft Der Begriff der gemeinschaftlichen Begehungsweise wird nach Ansicht der zivilrechtlichen Rechtsprechung in enger Anlehnung an die strafrechtliche Spruchpraxis durch zwei Elemente konstituiert. Zum einen bedarf es eines sog. gemeinsamen Tatentschlusses " . Danach muß eine Kollektiventscheidung sämtlicher Mittäter vorliegen, die darauf abzielt, einen bestimmten Tatbestand durch ein arbeitsteiliges Verhalten zu verwirklichen. Dabei kann möglicherweise aber auch schon die bloße "Kenntnis und Billigung der durch den anderen Mittäter geschaffenen Lage" ausreichend sein. 21 Zum anderen muß objektiv jeder Mittäter ein Verhalten gezeigt haben, das als eine "Förderung der Tatbestandsverwirklichung durch einen eigenen Tatbeitrag" aufzufassen ist. Wann derartiges der Fall ist, soll auf der Grundlage einer "wertenden Gesamtbetrachtung" zu ermitteln sein. 22 In jedem Falle ist Mittäterschaft im Sinne von § 830 I. S. 1 BGB danach nur denkbar, wenn alle Beteiligten vorsätzlich handeln. 23 11
11
11
Löst man sich demgegenüber aus den bereits eingangs skizzierten Gründen von einer derartigen rigiden Anlehnung an das Strafrecht und konzentriert sich auf den eigentlichen zivilrechtlichen Kern der Vorschrift des § 830 I. S. 1 BGB, erscheint das enge Verständnis der herrschenden Meinung nicht zwingend. § 830 I. BGB soll den deliktisch Geschädigten von der Beweisnot befreien, die ihn gerade deshalb trifft, weil das zu der Verletzung seiner Rechtsgüter führende Geschehen durch mehrere und nicht nur eine Person geprägt worden ist. 24 Dabei kann jedoch allein die Tatsache, daß in der kausalen Geschichte einer Entität mehrere Kausalfaktoren auftauchen, die verschiedenen Personen zuzurechnen sind, noch nicht den entscheidenden Sachgrund für deren
BGH, Urteil vom 14.01.1953, NIW'53, 499, 500; Urteil vom 24.01.1984, NIW'84, 1226, 1228; vgl. dazu aus der strafrechtlichen Judikatur: RG, Urteil vom 23.09.1924, RGSt 58, 279; Urteil vom 17.11.1936, RGSt 71,23,24 f.; BGH, Urteil vom 24.04.52, NIW'52, 1147 f.; Urteil vom 23.01.58, NIW'58, 836, 837; siehe auch Samson, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Band I, § 25, Rdn. 47; DreherlTröndle, StGB, § 25, Rdn. 7; Cramer, in: Schönke/Schröder, StGB, § 25 Rdn. 61 ff. mwN. 21
22
Vgl. BGH, Urteil vom 06.02.87, NStZ'87, 364.
Vgl. nur BGH, Urteil vom 08.11.1973, NIW'74, 360, 361; E17T/iUI/-Drees, BGB, § 830 Rdn. 3; SoergelfZeuner, BGB, § 830, Rdn. 4; Derlederin: AltemativkommentarzumBGB, § 830, Rdn. 2; Mertens in: Münch.Komm. zum BGB, § 830 Rdn. 7. 24 Vgl. etwa Mertens in: Münch.Komm. zum BGB, § 830 Rdn. 3 f.
23
I. Ziviln;chtliche Mittäterschaft im Sinne von § 830 I S. 1 BGB
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Zusammenfassung zu einer quasi molekularen Entität liefem. 2S Es muß vielmehr zwischen diesen Personen und deren Verhaltensweisen ein Interdependenzverhältnis bestehen, das es einerseits rechtfertigt, jeden Beteiligten als Urheber des Gesamtverhaltens zu begreifen und andererseits so beschaffen ist, daß es dem Geschädigten schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann, dieses Beziehungsgeflecht aufzuhellen. Ist dergleichen nicht der Fall, ist eine gesamtschuldnerische Haftung aller Beteiligten, nur auf der Grundlage der Annahme von Nebentäterschaft im Sinne der §§ 823, 840 I. BGB begründbar. Kennzeichen einer gemeinschaftliche Begehungsweise, wie sie von § 830 I S. 1 BGB gefordert wird, ist sicherlich das Vorliegen einer Verhaltensabstimmung zwischen den Beteiligten. Die dabei auftretenden Bezüglichkeiten liegen primär auf psychischem Gebiet. Gemeinschaftlichkeit kann nur meinen, Handeln nicht ohne den anderen und für den anderen. 26 Bei einer derartigen Konstellation liegt die Annahme nahe, daß zwischen der Verlautbarung der Teilnahmebereitschaft einerseits und den jeweiligen Handlungsentschlüssen andererseits psychische Kausalzusammenhänge 27 bestehen, sodaß in aller Regel einiges dafür spricht, daß auch ein Mitglied dieser Gemeinschaft, welches im Hinblick auf das konkrete Tatgeschehen kein Verhalten an den Tag gelegt hat, das als Kausalfaktor für die in der Folge eingetretene Rechtsgutsverletzung angesehen werden kann, gleichwohl durch sein Mittragen der Kollektiventscheidung die übrigen Beteiligten erst dazu motiviert hat, sich in einer Weise zu verhalten, die im Ergebnis zu der in Rede stehenden Rechtsgutsverletzung geführt hat. 28
2S So aber wohl das RG, Urteil vom 30.06.1904, RGZ 59,357, 359 (passim) und im Anschluß daran auch das Hans.OLG Hamburg, MDR'56, 676, sowie Rumpf, S. 51, die jedoch jeweils von einem Zurechnungsmodell ausgehen, das den Nachweis der haftungsbeglÜndenden Kausalität des Individualverhaltens jedes Beteiligten verlangt.
Bedenklich daher, OLO Hamm, Urteil vom 25.09.1984, NIW'85, 203. Hier wurde in einem DemonstrationssschadensfailMittäterschaft im Sinne § 830 I. S. 1 BOB bereits deshalb bejaht, weil der Beklagte "sich wenigstens geistig und willensmäßig mit den aktiven Schädigem und deren Schädigungsvorsatz identifiziert" hatte.
26
Zum Problem der psychischen Kausalität und ihrer rechtlichen Relevanz siehe oben S. 86 ff. mit weiteren Nachweisen.
27
So im Grundsatz bereits auch Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, S. 280 ff. s. 60 sieht demgegenüber in der Annahme psychischer Kausalität "weiter nichts als eine Fiktion". Diese Kritik hat auch dann wohl keine Berechtigung, wenn man § 830 I. S. 1 BOB
2lI
Max Rumpf,
164
5. Abschn.: HaftungsbegründendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
Ohne Frage kennzeichnet den von der herrschendem Meinung allein als ein Fall der Mittäterschaft zugelassenen "gemeinsamen Tatentschluß" ein solches Verhältnis psychischer Interdependenz. Wenn etwa bei einem Bandendiebstahl der Beteiligte A "Schmiere steht", während B und C den Tresor des 0 ausräumen, tatsächlich bei Tatausführung aber keine Polizei erscheint, so steht die Entität "Schmiere stehen" in keinem kausalen Dependenzverhältnis zu der in der Wegnahme liegenden Rechtsgutsverletzung. Stattdessen liegt es aber durchaus nahe, anzunehmen, daß sich B und C nicht zur Wegnahme entschlossen hätten, wenn nicht A seine Bereitschaft zur Übernahme des "Alarmpostens " kundgetan hätte. Derartige psychisch vermittelte Kausalzusammenhänge sind ex post für den Geschädigten praktisch nicht aufklärbar . Es macht daher einen guten Sinn, wenn § 830 I. S. 1 BGB hier die Verhaltensweisen von A, Bund C zusammenzieht und jedem von Ihnen zurechnet, wobei ihnen jedoch die Möglichkeit des Gegenbeweises offengehalten werden muß. Es bleibt jedoch die Frage, ob eine derartige Konstellation wirklich nur dann vorliegt, wenn ein solcher "gemeinsamer Tatentschluß" gefaßt worden ist. Sie ist zu verneinen. Psychisch vermittelte kausale Relationen bestehen sicher auch da, wo zwar kein Tatvorsatz, wohl aber ein gemeinsamer Handlungsentschluß besteht. A, B und C wollen an einer unübersichtlichen Stelle Bierfässer über die Straße rollen. B und C kommt dabei die Aufgabe zu, die Fässer über die Straße zu rollen, während A auf der gegenüberliegenden Straßenseite wartet, um diese mit einem Flaschenzug weiter zu transportieren. Motorradfahrer 0 fährt in ein von B und C gerolltes Faß und verletzt sich schwer. Auch hier steht das Unfallgeschehen in keinem kausalen Dependenzverhältnis zu dem äußeren Verhalten des A. Gleichwohl erscheint auch hier die Annahme naheliegend, daß die Bereitschaft des A, den Flaschenzug zu bedienen und seine dem Vorhaben entgegengebrachte Zustimmung, den Entschluß, an dieser Stelle Fässer über die Straße zu rollen und dessen Ausführung durch B und C mitverursacht hat. Die Tatsache, daß weder A noch B und C den Vorsatz hatten, 0 zu verletzen, ändert nichts daran, daß hier ein dem Komplott vorsätzlicher Schädiger ver-
als eine unwiderlegliche Vennutung auffaßt. Das Bestehen psychischer kausaler Dependenzverhältnisse wird bei gemeinsamen Handlungsentschlüssen in der Regel kaum geleugnet werden können. Es handelt sich also keinesfalls um eine Fiktion. Vgl. dazu auch die Replik von Traeger, S. 280 f., Fußnote 3.
I. Zivilrechtliche Mittäterschaft im Sinne von § 830 I S. 1 BOB
165
gleichbares Geflecht psychisch vermittelter kausaler Relationen besteht, dessen Aufschlüsselung dem Geschädigten praktisch unmöglich ist. Soweit A, B und C hier zumindest Fahrlässigkeit zur Last fällt, ist es dementsprechend durchaus angemessen, sie als Mittäter im Sinne von § 830 I. S. 1 BGB zu behandeln und folglich auch A bei Möglichkeit des Gegenbeweises haften zu lassen. Von einer "gemeinschaftlichen Begehung" im Sinne von § 830 I. S. 1 BGB ist folglich immer schon dann auszugehen, wenn mehrere Personen gemeinsam den Entschluß fassen, sich in einer konkreten Situation auf eine bestimmte Weise zu verhalten und die Gesamtheit der in Ausführung dieses Entschlusses vorgenommenen Aktivitäten in einer kausalen Relation zu der fraglichen Rechtsgutsbeeinträchtigung steht. 29 Alle Träger dieses Entschlusses sind Mittäter im Sinne von § 830 I. S. 1 BGB. Unwesentlich ist es, ob die Mitglieder dieses Kollektives die zu seinem Gesamtverhalten in einer kausalen Dependenzrelation stehende Rechtsgutsverletzung final herbeiführen wollten (direkter Vorsatz), lediglich billigend in Kauf nahmen (Eventualvorsatz) oder nur pflichtwidrig nicht vorhersahen und entsprechend vermieden (Fahrlässigkeit). Das Zivilrecht pflegt auch sonst insoweit keinen Unterschied zu machen (§ 276 I. S. 1 BGB).30
Im Ergebnis ebenso bereits Oertmann, BOB, § 830, 2.b.); Planck/Greijf, BOB, § 830, l.a.). Vergleichbar ist auch die Auffassung im anglo-amerikanischen Recht: Mehrere Personen haften als sog. "joint tortfeasors" unter anderem auch dann auf den gesamten Schaden, wenn sie einen gemeinsamen Handlungsentschluß fassen, dessen Ausführung zu einer deliktischen Schadensverursachung führt. Dabei reicht Fahrlässigkeit auf Seiten der Beteiligten prinzipiell aus. Vgl. Prosser and Keeton on the Law of Tons, § 46 (S. 323 f.); Salmond on the Law of Tons, 15. Auflage, hrsg. von R.F. V. Heuston, London 1969, § 165, (1.) (S. 592 f.).
29
Die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft, wie auch die fahrlässiger Anstiftung und Beihilfe, wird mit unterschiedlicher Begründung auch von LiszJ, Deliktsobligationen, S. 79; Demburg, Das bürgerliche Recht des deutschen Reiches und Preussens, Halle 1899, Zweiter Band, § 381, A. 2.); Crome, System des deutschen bürgerlichen Rechts, Tübingen 1900 - 1912, Zweiter Band, § 338, I.c.) (S. 1069); Weckerle, S. 69 ff. und Deutsch, Das Verhältnis von Mittäterschaft und Alternativtäterschaft im Zivilrecht, IZ'72, 105, 106 f.; ders., Haftungsrecht, Erster Band, § 21 ill. 3.) (S. 344 f.) anerkannt.
30
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5. Abschn.: HaftungsbegIÜndendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
11. Die Haftung wegen Schadensverursachung durch eine Handlung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB 1. Zurechnungsmodell und Tatbestand § 830 I S. 2 BGB postuliert prinzipiell das gleiche Zurechnungsmodell wie § 830 I S. 1 BGB. Die Anwendung dieser Vorschrift führt ebenfalls zu einer Zusammenfassung der jeweiligen individuellen Verhaltensweisen und rechnet diesen Komplex allen Beteiligten zu, die im Ergebnis dann für die Schadensfolgen als Gesamtschuldner zu haften haben. Seine Funktion besteht auch hier darin, wie bereits im Fall des § 830 I S. 1 BGB erörtert, den Geschädigten aus einer Beweisnot zu befreien, in die er nur deshalb geraten ist, weil in das zu seiner Verletzung führende Geschehen mehr als eine Person verwickelt war. Konsequenterweise ist daher auch hier jedem der Beteiligten die Möglichkeit des Gegenbeweises offenzuhalten. 31
Seinem Wortlaut nach erfaßt § 830 I S. 2 BGB grundsätzlich nur den Fall des sog. "Urheberzweifels" .32 Dieser ist dadurch gekennzeichnet, daß aufgrund einer unvollständigen Kausalanalyse als Causa zwar ein Entitätenkomplex ausgemacht werden kann, dessen Beschreibung aber nur so unscharf möglich ist, daß diese auf mehrere tatsächlich existente Komplexe zutrifft, wobei jeder dieser Komplexe durch ein anderes zurechenbares Verhalten mit konstituiert wird. Dazu noch einmal das bereits oben vorgestellte Beispiel: 0 wird bei einer Bergwanderung durch einen herabfallenden Stein verletzt. Oberhalb der Stelle, an der sich dieses ereignete, haben sowohl A als auch B jeweils einen Stein losgetreten. 33 Andere Steine sind zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort nicht abgegangen. Als Causa für die Verletzung des 0 läßt sich nur ein Entitäten-
31 Im Oegensatz zu § 830 I. S. 1 BOB erfreut sich diese Konsequenz hier allgemeiner Anerkennung. Vgl. nur Staudinger/Schäfer, BOB, § 830, Rdn. 40; SoergellZeuner, BOB, § 830, Rdn. 20; Erman/Drees, BOB, § 830, Rdn. 8 jeweils mit weiteren Nachweisen.
Siehe oben S. 98 f. Häufig ist in der Literatur in diesem Zusammenhang auch von "alternativer Kausalität" (vgl. etwa Peter Gottwald, Schadenszurechnung und Scbadensschätzung, München 1979, S. 113 ff.; Brambring, S. 92 ff.) oder "Alternativtäterschaft" (Deutsch, Das Verhältnis von Mittäterschaft und Alternativtäterschaft im Zivilrecht, aaO.) die Rede.
31
]] Dabei soll rur die weiteren Erörterungen davon ausgegangen werden, daß sich sowohl A, als auch B im Sinne von § 276 I. S. 2 BOB sorgfaltswidrig verhielten, als sie die in Rede stehenden Steine auslösten.
11. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BOB
167
komplex konkretisieren, der unter anderem ein Element enthält, das nur unvollständig mit "Lostreten eines Steines" gekennzeichnet werden kann. Da diese Beschreibung sowohl auf das Verhalten des A aber auch auf das des B zutrifft, kann zu keinem dieser beiden Entitäten eine Dependenzrelation nachgewiesen werden. A kann weiterhin mit Fug und Recht behaupten, daß sein individuelles Verhalten ("Lostreten eines Steines") letztlich nicht als Kausalfaktor für die Verletzung des 0 verifiziert werden konnte, da die gegebene Beschreibung auch auf das Verhalten des B zutrifft. Gleiches gilt umgekehrt für B. Gelangt nun hier § 830 I. S. 2 BGB zur Anwendung, so werden die Verhaltensweisen des A und des B künstlich zu einer Entität verschmolzen und in der Folge beiden als ihr Verhalten zugerechnet. Die Beschreibung "Lostreten eines Steines" reicht dann im Ergebnis aus, ein sowohl A als auch B zuzurechnendes Verhalten als Kausalfaktor für die Verletzung zu konkretisieren, ohne daß einer von beiden noch behaupten könnte, es käme eine andere ihm nicht zurechenbare Möglichkeit der Verletzungsherbeiführung in Betracht. Voraussetzung für die Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB ist jedoch, daß alle als mögliche Kausalfaktoren in Erwägung zu ziehenden Verhaltensweisen deliktisch sind. Es muß dementsprechend der Fall sein, daß dann, wenn man für jede einzelne Verhaltensweise unterstellt, sie stehe in einem haftungsbegrüDdenden Kausalzusammenhang zu der fraglichen Rechtsgutsverletzung, auch alle übrigen Voraussetzungen für eine HaftungsbegrüDdung erfüllt sind. Das jeweilige Verhalten muß folglich als rechtswidrig und schuldhaft qualifiziert werden können. 34 Auf das oben gegebene Beispiel bezogen: § 830 I. S. 2 BGB ist hier nur dann einschlägig, wenn sowohl das Lostreten des Steines durch A, als auch das Lostreten des Steines durch B jeweils als eine rechtswidrige und schuldhafte Verletzung des Körpers des 0 im Sinne von § 823 I. BGBJS angesehen werden
BOH, Urteil vom 01.10.1957, NJW'57, 1834, 1835; Urteil vom 20.06.89, NJW'89, 2943,2944 ständige Rechtsprechung. Mertens in MÜßch.Komm. zum BOB, § 830, Rdn. 26 mwN.; Derleder in Alternativkomm. zum BOB, § 830, Rdn. 8; Soergel!Zeuner, BOB, § 830, Rdn. 15; Staudmger/Schäfer, BOB, § 830, Rdn. 40.
34
Es nahezu unbestritten, daß § 830 I. S. 2 BOB zumindest analog auch dann anwendbar ist, wenn die fraglichen Verhaltensweisen eine andere Haftungsnorm erfüllen. Das gilt sowohl für Regelungen außerhalb der §§ 823 ff. BOB, die eine Verschuldenshaftung begriinden, als auch für solche, die lediglich eine Oefährdungshaftung postulieren. Eine analoge Anwendung des § 830 I. S. 2 BOB wird zurecht auch bei Anspriichen nach § 906 11. S. 2 BOB und aus enteignungsgleichem bzw. enteignendem Eingriff bejaht. Vgl. zum ganzen BOH, Urteil vom 23.09.1969, NJW'69, 2136, 2137 f. (bzgl. § 7 StVO); Urteil vom 15.12.1970; NJW'71, 509,510 (bzgl. § 833 BOB) ; Urteil vom
3S
168
5. Abschn.: HaftungsbegründendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
müßte, wenn hinsichtlich der Frage des haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges keine Zweifel mehr bestünden. Der dem § 830 I. S. 2 BGB zugrunde liegende Regelungsgedanke unterscheidet sich wesentlich von dem des § 830 I. S. 1 BGB. Ist bei Konstellationen eines gemeinsamen Handlungsentschlusses die Vermutung naheliegend, daß jeder Beteiligte zumindest durch seine Teilnahme an der Entschlußfassung einen psychisch relevanten Kausalfaktor gesetzt hat, so ist in Fällen des "Urheberzweifels " für eine gleichartige Annahme kein Raum. Es ist sogar prinzipiell ausgeschlossen, daß das individuelle Verhalten aller Beteiligtenjeweils eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt der Verletzung gewesen sein könnte. So ist es in dem Bergsteigerbeispiel sicher, daß nur ein Stein den 0 verletzt hat. Die Möglichkeit, daß sowohl zu dem Verhalten des A als auch zu dem des B ein kausales Dependenzverhältnis besteht, das in einer Welt perfekten Wissens evident wäre, ist hier gerade nicht gegeben. 36 Läge etwa ein gemeinsam gefaßter Entschluß von A und B vor, jeweils Steine loszutreten, könn-
27.05.1987, NJW'87, 2810,2812 (bzgl. § 90611. S. 2 BGB, nachbarrechtlichemAusgleichsanspruch, etc.) mwN.; Wemer Schülli, Rechtsprobleme beim Kausalitätsnachweis von Strahlenschäden, Jülich 1964, S. 170 ff.; Bydlinsdki, Aktuelle Streitfragen um die alternative Kausalität, S. 22 ff.; Schan/I, Zum Anwendungsbereich des § 830 I. S. 2 BGB, VersR'81, 105 f.; Mertens in Münch.Komm. zum BGB, § 830, Rdn. 26; Staudinger/Schäfer, BGB, § 830, Rdn. 40; SoergeltZeuner, BGB, § 830, Rdn. 14. SO aber E. Jung, Deliktische Schadensverursachung, Heidelberg 1897, S. 427 f., 430 ff.; wie hier FranzBydlinski, Probleme des Schadensersatzrechtes,Stuttgart 1964, S. 74; Weckerle, S. 114, der dementsprechend auch zu Recht feststellt, daß es aus diesem Grunde ausgeschlossen ist, § 830 I. S. 2 BGB als eine Kausalitätsvermutung zu begreifen. Daneben ist es auch nicht etwa der Fall, daß die Handlung des tatsächlichen "Urhebers" die anderen in Betracht kommenden Aktivitäten quasi "kausal abgeschirmt" hat, wie dies etwa offensichtlich Deutsch (Haftungsrecht, § 21 V., 2.) [So 351] im Auge hat, wenn er von "interferierender Verursachung" bzw. davon spricht, daß sich die Verhaltensweisen der Beteiligten "in ihrer Ursächlichkeit stören". Unterstellt man in dem Bergsteigerbeispiel, daß der von A losgetretene Stein den 0 traf, so kann über den von B ausgelösten Stein nicht ausgesagt werden, daß er 0 getroffen hätte, wenn nicht deljenige des A insoweit zuvor bzw. "dazwischen" gekommen wäre. Hier handelt es sich vielmehr eigentlich um Fälle, die allgemein mit Stichworten wie "hypothetische Kausalität", "überholende Kausalität" oder "Reserveursache " umschrieben werden. Vgl. dazu inbesondere Backhaus, Einige Überlegungen zum Verllältnis von kumulativer und hypothetischer Kausalität, VersR'82, 210 ff.; Deutsch, Haftungsrecht, § 12 11. (S. 157 ff.); Geigel/Schlegelmilch, Haftpflichtrecht, 1. Kapitel, Rdn. 35 ff. nwN. Zu typischen strafrechtlichen Lehrbeispielen hypothetischer Kausalität siehe etwa Erich Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, FrankfurtlM. 1972, S. 20 f.
J6
11. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
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te man an entsprechende psychische Interdependenzverhältnisse denken und dann auch die Anwendung des § 830 I. S. 1 BGB in Erwägung ziehen. 37 Die Anwendungsbereiche der §§ 830 I. S. 1 und 830 I. S. 2 BGB stehen insoweit zueinander in einem Verhältnis der Interferenz38 • Liegen die konstitutiven Elemente zivilrechtlicher Mittäterschaft vor, dann hat der Richter in dem vorliegenden Beispielsfall qua § 830 I. S. 1 BGB zu vermuten, daß A dann, wenn er schon nicht selbst der Auslöser des verletzungsursächlichen Steines war, zumindest durch sein Mittragen des gemeinsamen Handlungsentschlusses doch die Auslösung des Steines durch B mitverursacht hat, wobei die dann anzunehmende Kausalkette praktisch "durch die Psyche" des B zu dessen Handlung führt. § 830 I. S. 1 BGB würde damit hier im Grunde nicht zu einer Aufhebung der gegebenen Sachverhaltsalternativität, sondern lediglich dazu führen, daß sowohl A als auch B in beiden Alternativen als "Verletzungsverursacher" angesehen werden müßten. Beider Haftung ist dann praktisch das Ergebnis einer durch § 830 I. S. 1 BGB implizit angeordneten "gleichartigen Wahlfeststellung" . Ist demgegenüber davon auszugehen, daß A und B nicht in einem mittäterschaftlichen Verhältnis zueinander standen, so führt hier allein § 830 I. S. 2 BGB zu einer Haftung beider Akteure, obwohl nur eine alternative Sachverhaltsfeststellung möglich ist und jeder der beiden Akteure nur in einer Variante als deliktisch handelnder Schadensverursacher gelten kann. § 830 I. S. 2 BGB beruht folgerichtig im Gegensatz zu § 830 I. S. 1 BGB gerade nicht auf der Vermutung des Vorhandenseins nur schwer abklärbarer innerer Dependenzverhältnisse zwischen den in Betracht kommenden Aktivitäten39 sondern folgt eigenständigen wertenden Erwägungen.
Worin liegt nun diese besondere Problematik der Fälle des "Urheberzweifels"?
Das verkennt etwa auch Herbert Jung, Die sogenannte Gesamtursache, AcP 170 (1970), S. 426, 427, wenn er ohne nähere Begründung behauptet, § 830 I. S. 2 BGB sei nur auf FäJle der Nebentäterschaft anwendbar, bei denen jeder Nebentäter in Kenntnis des Verhaltens der übrigen gehandelt hat.
37
38 Zum Begriff der Interferenz siehe nur Klug, Zum Begriff der Gesetzeskonkurrenz, in: ders., Skeptische Rechtsphilosophieund humanes Strafrecht, Band 2, Berlin/Heidelberg/New York, 1981, S. 229,234 f.
3. Zur "psychischen Kausalität" als einem besonders virulenten "Black-box-Problem" siehe oben S. 84 ff.
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5. Abschn.: HaftungsbegriindendeKausalität ohne elWiesene kausale Dependenz
In aller Regel wird ein Geschädigter in einem Haftpflichtprozeß den Nachweis, daß ein bestimmtes Verhalten eine post factum notwendige Bedingung für die Verletzung seiner Rechtsgüter war, allein dadurch führen können, daß er vorträgt und gegebenenfalls beweist, daß dieses Verhalten seiner Art nach geeignet war, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer Verletzung dieser Art zu erhöhen und daß in concreto keine andere Antecedensentität in Betracht kommt, von der gleiches ausgesagt werden könnte. Geht man von einem deterministischen Kausalitätsverständnis aus, so gilt hinsichtlich der Notwendigkeitsrelation insoweit nichts anderes. Auch hier wird zumeist im Wege des Indizienbeweises aus der Tatsache, daß das fragliche Verhalten Eigenschaften aufweist, die es seiner Art nach geeignet erscheinen lassen, zusammen mit weiteren Antecedensentitäten einen Komplex zu bilden, der eine per se hinreichende Bedingung für den Eintritt der in Rede stehenden Rechtsgutsverletzung verkörpert und der Feststellung, daß kein weiterer Antecedensfaktor mit vergleichbaren Qualitäten vorhanden ist, auf die Präsenz der übrigen nicht erhobenen zur Komplettierung der Causa aber notwendigen weiteren Entitäten geschlossen. 40 Dieser Weg wird dem Verletzten im Fall des "Urheberzweifels" nun dadurch verstellt, daß mindestens zwei individuelle Aktivitäten im Antecedensszenario zu beobachten sind, die jede für sich die Eigenschaft aufweisen, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Verletzung erhöht zu haben. Nimmt man nun einschränkend nur solche Konstellationen in den Blick, die dadurch gekennzeichnet sind, daß jede der in Betracht kommenden Verhaltensweisen deliktisch ist, so steht man vor einem gewissen Dilemma. Beläßt man es bei dem durch § 823 I. BGB postulierten Zurechnungsmodell, wird einem nachweislich durch eine unerlaubte Handlung Geschädigten die Möglichkeit, Schadensersatz verlangen zu können, praktisch gerade deshalb abgeschnitten, weil er das Opfer nicht nur einer, sondern mehrerer deliktischer Verhaltensweisen geworden ist. Unterstellt man etwa in dem Bergwandererbeispiel, daß tatsächlich A den verletzungsursächlichen Stein losgetreten hat, so wäre 0 durch das deliktische Verhalten des A verletzt worden, könnte aber infolge des gleichfalls deliktischen Verhaltens des B seinen Ersatzanspruch nicht durchsetzen, da er an dem Erfordernis des Nachweises eines haftungsbegrundenden Kausalzusammenhanges scheitern müßte.
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Siehe dazu bereits oben S. 98, Fn. 152.
ß. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
171
Entschließt man sich demgegenüber dazu, die deliktischen Akteure als Gesamtschuldner haften zu lassen, so nimmt man in Kauf, daß auch Personen, denen kein Verhalten zurechenbar ist, das in einer kausalen Dependenzrelation zu der eingetretenen Rechtsgutsverletzung steht, trotzdem für diese einstehen müssen. Die Einräumung der Möglichkeit des Gegenbeweises hilft diesem Problem nur unwesentlich ab, da dieser wohl in der Regel aus praktischen Gründen scheitern wird. Es ist kaum anzunehmen, daß im Beispielsfall B über Mittel und Wege verfügt, erfolgversprechend dartun zu können, daß nicht der seinige, sondern der Stein des A den 0 getroffen hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er im Ergebnis neben A als Gesamtschuldner für eine Rechtsgutsverletzung haften, die er nicht verursacht hat.41 Es geht also letztendlich um die Frage, wem in dieser spezifischen Situation die Tatsache, nicht in einer Welt perfekten Wissens zu leben, zum Nachteil und zum Vorteil gereichen soll. Das Gesetz hat sich in Gestalt des § 830 I. S. 2 BGB für die Interessen des schuldlosen Opfers und gegen die Interessen der deliktischen Akteure entschieden. Der zugri.mde liegenden ratio legis kommt man dabei allerdings nicht näher, wenn man versucht, § 830 I. S. 2 BGB lediglich als einen bloßen Anwendungsfall allgemeiner Grundsätze der Beweislastumkehr oder einer Form gesonderter Beweislastverteilung zu begreifen. Die zugrunde liegende Situation des Urheberzweifels weist nicht die typischen Spezifika einer Konstellation auf, für die eine Beweislastumkehr anerkannt werden könnte. So sind die potentiellen Schädiger in aller Regel nicht besser in der Lage, die tatsächlichen kausalen Dependenzrelationen abzuklären als der Geschädigte selbst. 42 Auch liegt kein Fall einer Beweisvereitelung vor. Zwar ist es richtig, daß dem Geschädigten die Möglichkeit, den tatsächlichen Verletzer zu konkretisieren gerade duch das hinzutretende Verhalten des anderen "Beteiligten" abgeschnitten wird, doch ist es nur möglich, da von Beweisvereitelung zu sprechen43 , wo sinnvoll eine Pflicht zur Sicherung von Beweisen postuliert werden kann. Dieses ist aber gerade in den typischen Konstellationen des Urheberzweifels nicht der Fall. B hat
Die Tatsache, daß § 830 I. S. 2 BGB zur Haftung trotz fehlender kausaler Dependenzrelation führen kann, schließt es aus, diese Vorschrift als einen Anwendungsfall des Grundsatzes des versari in re illicita zu begreifen. So aber Köndgen, Kausalitätsvennutung und Gefährdungshaftung, NJW'70, 2281, 2282 f.; dagegen mit übeneugenden Argumenten bereits Weckerle , S. 118.
41
So auch Wolfgang Dieckmann, Voraussetzungen und dogmatische Grundlagen des § 830 I. S. 2 BGB, Diss. Göttingen 1971, S. 153.
42
43
So im Ansatz aber wohl Dieckmann, vorherige Fußnote, S. 154 ff.
172
5. Abschn.: Haftungsbegrundende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
dadurch, daß er einen Stein lostrat, dessen Abgang 0 zumindest auch gefcihrdet hat, möglicherweise die Pflicht verletzt, das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit des 0 unangetastet zu lassen. Sicher aber war ihm das Lostreten des Steines nicht deshalb verboten, weil dadurch 0 der Beweis eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges zwischen dem Verhalten des A und der in der Folge erlittenen Rechtsgutsverletzung nachhaltig erschwert werden würde. 44 Ebenso verfehlt wäre es, § 830 I. S. 2 BGB als eine Norm begreifen zuwollen, die eine Haftung für nur mögliche Kausalität postulieren Will.45 Wäre es nach Ansicht des Gesetzgebers für die Annahme deliktischer Haftung bereits ausreichend, daß durch ein zurechenbares Verhalten die Gefahr des Eintrittes einer der erlittenen Läsion wesensgleichen Rechtsgutsverletzung begründet worden ist, so wäre es nicht einsichtig, warum der Beherrscher dieser Gefahrenquelle von einer Haftung dann freigestellt werden sollte, wenn er den Nachweis erbringt, daß die konkrete Rechtsgutsverletzung zu seinem Verhalten in keinem kausalen Dependenzverhältnis steht. An der Tatsache der zurechenbaren Gefahrschaffung würde dieses im Grunde nichts ändern. Gleiches gilt im Ergebnis auch für eine Konstellation, bei der nicht ausgeschlossen werden kann, daß die konkrete Rechtsgutsbeeinträchtigung allein auf nicht als deliktisch bewertbaren Antecedensentitäten beruht. Auch hier wäre § 830 I. S. 2 BGB nach allgemeiner Meinung unanwendbar. Die Tatsache, daß auch eine Sachverhaltsalternative denkbar bleibt, bei der die konkrete Rechtsgutsverletzung undeliktisch verursacht worden ist, ändert im Grunde nichts daran, daß hier einem Rechtssubjekt ein gefahrträchtiges deliktisches Verhalten zurechenbar ist. Wenn ihn § 830 I. S. 2 BGB gleichwohl nicht haften läßt, dann nur deshalb, weil im Sinne dieser Vorschrift die zurechenbare deliktische Schaffung einer Gefahr allein noch keinen tragfcihigen Haftungsgrund abzugeben geeignet ist.46
Dementsprechend sind auch Ansätze verfehlt, die § 830 I. S. 2 BGB als eine Norm begreifen wollen, aufgrund derer für die schuldhafte Herbeifiihrung einer Beweisnot o. ä. zu haften sein soll. Eingehend dazu, Weckerle, S. 120 f.
44
In diesem Sinne etwa Planck/Greiff, BGB, § 830, 2. b.; Franz Bydlinski, Probleme des Schadensersatzrechtes, S. 77 f.; ders., Aktuelle Streitfragen, S. 9. Dem Grunde nach auch R. W. Wright, Causation and Tort Law, 73 Cal. L. Rev., 1735, 1818 ff. (1985), für die im Ergebnis der Regelung des § 830 I. S. 2 BGB entsprechenden sog. Summers-Rule (siehe dazu oben Fn. 57). Dagegen bereits Weckerle, S. 119 f.
45
46 Bydlinski, Probleme des Schadensersatzrechtes, S. 80 ff. ist der herrschenden Meinung in diesem Punkt auch von seiner Position aus folgerichtig entgegengetreten.
ß. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
173
Eine Annäherung an den hinter § 830 I. S. 2 BGB tatsächlich stehenden Regelungsgedanken scheint vielmehr nur dann möglich zu sein, wenn man versucht, diese Vorschrift als eine eigenständige Haftungsnorm zu begreifen, die in der beschriebenen Situation eine optimale Durchsetzung haftungsrechtlicher Zwecksetzungen anstrebt. (1.) Von dem aristotelischen Ideal ausgleichender Gerechtigkeit ist die Regelung des § 830 I. S. 2 BGB ein gutes Stück entfernt. Neben dem tatsächli-
chen Deliktstäter werden auch Personen zur Verantwortung gezogen, die durch ihr Verhalten letztlich nicht ihre Rechtssphäre auf Kosten des Geschädigten ausgedehnt haben. Sie gleichwohl haften zu lassen bedeutet, nunmehr im Wege des Schadensersatzes ihren Rechtskreis zugunsten des Geschädigten zu beschneiden und somit im Grunde eine wiederum ausgleichsbedürftige Lage zu schaffen. Gäbe es die Regelung des § 830 I. S. 2 BGB nicht, bliebe ein gerechter Schadensausgleich gleichfalls unerreichbar. Der Geschädigte müßte aus den oben genannten Gründen seinen Schaden selbst tragen, während der tatsächliche Schädiger ohne in Anspruch genommen zu werden, im Genuß seiner deliktisch erworbenen Vorteile bliebe. In einer solchen Situation aktueller Unerreichbarkeit ausgleichender Gerechtigkeit beschreibt § 830 I. S. 2 BGB nun denjenigen Lösungsweg, der in Relation zu der verfügbaren Alternative noch eher geeignet erscheint, den weiteren Zwecken deliktischer Haftung zu genügen. (2.) Vergegenwärtigt man sich jedoch, daß alle in Betracht kommenden Aktivitäten ein Risiko für das tatsächlich verletzte Rechtsgut begründet haben, so erscheint die Lösung des § 830 I. S. 2 BGB unter dem Gesichtspunkt effektiver Prävention gegenüber einem Konzept, das den Schaden auf den Schultern des Opfers beläßt, durchaus vorzugswürdig zu sein. Erweisen sich mehrere Aktivitäten prospektiv als unverantwortlich risikoträchtig im Hinblick auf ein bestimmtes Rechtsgut, so muß das Rechtssystem auf eine Negativkonditionierung aller dieser Aktivitäten bedacht sein. Dieses gilt auch dann, wenn sicher ist, daß sich in der eingetretenen Rechtsgutsverletzung nur das durch eine dieser Verhaltensweisen begründete Risiko realisiert hat. 47
.7 Vgl. dazu Landes/Posner, Joint and Multiple Tortfeasors, 9 J. Legal Stud., 517, 539 f. (1980); Richard A. Posner, Economonic Analysis of Law, Third Edition, Boston/Toronto 1986, S. 168; Shavell, An Analysis of Causation and the Scope of Liability in the Law of Torts, S. 493 f.
174
5. Abschn.: Haftungsbegrundende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
(3.) § 830 I. S. 2 BGB sichert dem Deliktsrecht auch die ihm zukommende Garantiefunktion. In Fällen des "Urheberzweifels" steht das Vorhandensein einer deliktischen Schädigung fest. Eine faktische Verweigerung effektiver Schadensersatzanspruche würde hier partiell Rechtsgüter schutzlos stellen, obwohl deren deliktische Schädigung außer Frage steht. (4.) Zudem führt § 830 I. S. 2 BGB in aller Regel zu einer, wenn auch nicht notwendig, besonders ausgeprägten Schadensstreuung, da die Schadenslast nunmehr mindestens auf zwei und nicht mehr nur auf einer Schulter ruht. (5.) Darüber hinaus, und das ist möglicherweise sogar der entscheidende Gesichtspunkt, ist die von § 830 I. S. 2 BGB vorgeschriebene Lösung gerade in Ansehung der spezifischen Opfer-Haftungskandidaten-Situationsehr viel eher geeignet, allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen zur Durchsetzung zu verhelfen, als die sachlogische Alternative. Kerngedanke dieses auf nicht näher spezifizierbare Billigkeitserwägungen rekurrierenden Räsonnements ist dabei ein quasi a-maiore-ad-minus-Argument. So erscheint es evident unbillig zu sein, einem Opfer deliktischer Schädigung die Möglichkeit einer Schadloshaltung deshalb zu nehmen, weil mehr als eine Person diesbezüglich seine Rechtsgüterwelt zumindest gefährdet hat. Die Konsequenz, daß in aller Regel auch Rechtssubjekte haften müssen, deren Verhalten in keinem ursächlichen Zusammenhang zu der eingetretenen Rechtsgutsverletzung steht, wiegt insbesondere deshalb weniger schwer, weil diesen immer noch ein Verhalten zur Last fallt, das aufgrund seiner Risikoträchtigkeit sozialschädlich erscheint. 48 Macht man mit diesen Überlegungen ernst, so lassen sich auf mehrere, mit der Auslegung des Tatbestandes des § 830 I. S. 2 BGB verbundene Fragenkreise sachrichtige Antworten geben .
•• Im Ergebnis ebenso Traeger, S. 288 ff.; Bydlinsld, Probleme des Schadensersatzrechtes, S. 75 f.; ders., Aktuelle Streitfragen um die alternative Kausalität, S. 8 ff.; Wiebke Buxbaum, Solidarische Schadenshaftung bei ungeklärter Verursachung im deutschen, französischen und anglo-amerikanischen Recht, Karlsruhe 1965, S. 114; M. Bauer, Die Problematik gesamtschuldnerischerHaftung trotz ungeklärterVerursachung, IZ'71, 4,6 f.; Weckerle, S. 104 ff., 123; Gottwald, Kausalitätund Zurechnung, Karlsruher Forum 1986, S. 3, 19; Cypionka, S. 46 ff.; wohl auch Esser/Weyers, Schuldrecht, § 60 I. 1. b.) (S. 513).
11. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
175
So wird in Literatur49 und RechtsprechungSO häufig noch ein weiteres zusätzliches Tatbestandsmerkmal in den § 830 I. S. 2 BGB hinein- bzw. aus ihm herausgelesen, wonach es erforderlich sein soll, daß zwischen den alternativ als Kausalfaktor in Betracht zu ziehenden Verhaltensweisen ein nicht näher bestimmter raum-zeitlicher Zusammenhang besteht. Gegen dieses Merkmal wurde häufig eingewandt, daß es inhaltsloSil und deshalb offensichtlich entbehrlich sei. Ein sicherlich nicht ohne weiteres von der Hand zu weisender Einwand. Weit gewichtiger erscheint es mir jedoch, daß sich ein derartiges Tatbestandsmerkmal überhaupt nicht in Übereinstimmung mit der § 830 I. S. 2 BGB zu entnehmenden ratio legis bringen läßt. Für "Urheberzweifels"-Konstellationen ist eine raum-zeitliche Nähe der in Betracht kommenden Entitäten nicht konstitutiv, sondern bestenfalls von akzidentieller Bedeutung. 52 Entscheidend ist, ob aufgrund der Pluralität deliktischer Verhaltensweisen die Rekonstruktion eines tatsächlich nur singulär bestehenden kausalen Dependenzverhältnisses unmöglich gemacht wird oder nicht. Die mit diesen Konstellationen verbundenen Wertungsprobleme, die sich letztlich auf die Frage konzentrieren, wem die bestehenden Erkenntnisdefizite sinnvollerweise zum Nachteil gereichen sollten, sind von dem Vorliegen einer raum-zeitlichen Nahebeziehung vollkommen unabhängig. Das Schutzbedürfnis des Geschädigten, wie auch die "Haftungswürdigkeit" der deliktisch handelnden Akteure bemessen sich an eigenständigen Parametern. Liegt eine Situation des "Urheberzweifels" vor, so macht es aus
.9 Planck/GreijJ, BGB, § 830, 2. a.); ErmanlDrees, BGB, § 830, Rdn. 14; Derleder in Altemativkomm. zum BGB, § 830, Rdn. 7; Staudinger/Schäfer, BGB, § 830, Rdn. 39; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band 2, 12. Auflage, München 1981, S. 669; Fikentscher, Lehrbuch des Schuldrechtes, S. 780.
", RG, Urteil vom 30.06.1904, RGZ 58, 357, 361; Urteil vom 1909, IW'09, 687 Nr. 11, ständige Rechtsprechung; BGH, Urteil vom 01.10.1957, NIW'57, 1834, 1835; offengelassen im Urteil vom 27.05.1987, NIW'87, 2810, 2812. 'I Vgl. dazu nur Bydlinski, Probleme des Schadensersatzrechtes, S. 72; ders., Aktuelle Streitfragen um die alternative Kausalität, S. 12 f.; Deutsch, Die dem Geschädigten nachteilige Adäquanz, NIW'81, 2731,2732; ders., Haftungsrecht, § 21 V. 2.) (S. 352); SoergelfZeuner, BGB, § 830, Rdn. 16; Mertens in Münch.Komm. zum BGB, § 830, Rdn. 32.
>2 Das "Urheberzweifels"-Konstellationen sehr viel häufiger dann auftreten werden, wenn die deliktischen Akteure in einem raum-zeitlichen Zusammenhang gehandelt haben, steht außer Frage. Hieraus ergibt sich jedoch kein Argument. Wer der raum-zeitlichen Nahebeziehungdas Wort redet, muß eine Begründung dafür liefern können, warum "Urheberzweifels"-Konstellationen bei raumzeitlicher Annäherung vor dem Hintergrund der dargestellten ratio legis eine andere Beurteilung erfahren müssen, als ein Fall des "Urheberzweifel" ohne einen derartigen spatio-temporalenKonnex.
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5. Abschn.: HaftungsbegründendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
der Opferperspektive keinen Unterschied, ob die Haftungskandidaten in einem raum-zeitlichen Zusammenhang tätig geworden sind oder nicht. Gleiches gilt für die Bewertung des Täterverhaltens. Eine risikoträchtige Läsion von Sorgfaltspflichten bleibt präventionswürdig, gleichgültig, ob sich ein anderes Rechtssubjekt eine Sekunde oder einen Tag später einer analogen Sorgfaltspflichtverletzung gegenüber dem gleichen Opfer schuldig gemacht hat. s3 Nichts anderes gilt im Ergebnis auch für die Auffassung, daß § 830 I. S. 2 BGB in gleicher Weise wie § 830 I. S. 1 BGB eine "gemeinschaftliche Gefährdung" im Sinne eines gemeinsamen Handlungsentschlusses verlange. 54 Wie oben bereits dargestellt, liegt in Fällen eines derartigen gemeinsamen Handlungsentschlusses die Vermutung psychisch vermittelter kausaler Dependenzverhältnisse nahe, die letztlich das Zurechnungsmodell des § 830 I. S. 1 BGB trägt. Ein Abstellen auf dieses Merkmal macht daher im Bereich der zivilrechtlichen Mittäterschaft einen guten Sinn. Demgegenüber ist es jedoch gerade ein Wesensmerkmal der Fallgruppe des "Urheberzweifels" , daß für die Vermutung, es bestünde letztlich doch ein haftungsbegründender Kausalzusammenhang zwischen dem Individualverhalten eines jeden Beteiligten und der konkreten Rechtsgutsverletzung kein Anlaß besteht. Es ist vielmehr sicher, daß nur einer der mehreren deliktisch handelnden Akteure tatsächlich die Verletzung des Geschädigten ursächlich herbeigeführt hat. § 830 I. S. 2 BGB belastet gleichwohl alle Beteiligten deshalb mit einem entsprechenden Haftungsrisiko, weil ihr Verhalten eine entsprechenmde Gefährlichkeit und mit Ausnahme der nachgewiesenen Kausalfaktorqualität zudem auch alle anderen Merkmale einer unerlaubten Handlung aufweist, nicht aber weil es irgendeinen Anlaß zu einer Kausalitätsvermutung gäbe. ss Es läßt sich damit im Ergebnis vorläufig festhalten, daß § 83f) I. S. 2 BGB dem Geschädigten die Möglichkeit einräumt, im Fall des "Urheberzweifels" alle Personen, deren Verhalten seiner Art nach geeignet war, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer Rechtsgutsverletzung dieser Art zu erhöhen, als Gesamt-
" Im Ergebnis ebenso, K. G. Deubner, Anmerkung zum Urteil des BGH vom 15.11.1960, NIW'61, 1013, 1014; Gernhuber, Haftung bei alternativer Kausalität, lZ' 61, 148, 152; Buxbaum, S. 115 ff.; Bauer, S. 7. So etwa Dieckmann, S. 51 ff.; Deutsch, Das Verhältnis von Mittäterschaft und Alternativtäterschaft im Zivilrecht, S. 106 f.
Sol
55 Im Ergebnis ebenso, Buxbaum, S. 119 ff.; Bauer, S. 7; Soergel!Zeuner, BGB, § 830, Rdn. 17; Mertens in Münch.Komm. zum BGB, § 830, Rdn. 31.
11. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
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schuldner auf Ersatz der erlittenen Schäden in Anspruch zu nehmen. Weitere Voraussetzung ist, daß alle Verhaltensweisen bei unterstellter Ursächlichkeit den Tatbestand einer rechtswidrigen56 und schuldhaften unerlaubten Handlung erfüllen. 57
2. Erweiterter Anwendungsbereich a) "Urheberzweifel " bei möglicher Komplementarität Gemeint ist hier eine Situation des Urheberzweifels, bei der zusätzlich auch noch die Möglichkeit besteht, daß die als potentielle Verletzer infrage kommenden Personen durch ihr jeweiliges Verhalten auch kumulativ die fragliche Rechtsgutsverletzung herbeigeführt haben können: A und B treten jeweils unabhängig voneinander einen Stein los. Zusätzlich werfen sie auch noch gemeinsam
,.; Die Annahme einer rechtswidrigen Handlung seitens aller Alternativtäter läßt sich adäquat nur vor dem Hintergrund der Lehre vom Verhaltensunrecht aufrecht erhalten. Bliebe man demgegenüber mit der Lehre vom Erfolgsunrecht der Vorgabe verpflichtet, daß das Rechtswidrigkeitsurteil an die Verursachung einer Rechtsgutsverletzung anknüpft, so wäre es unmöglich, ohne Zusatzannahmen einen Rechtswidrigkeitsvorwurf an jeden Alternativtäter zu richten. Vgl. zum Disput zwischen den Lehren vom Verhaltens- und Erfolgsunrecht nur v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechtes, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, hrsg. v. Leser, Tübingen 1968, S. 452, 478 ff., 542 ff.; Rudolf Wiethölter, Der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens, Karlsruhe 1960, S. 15 ff.; Esser, Schuldrecht, Bd. I, § 9 11. 1.) (S. 62 f.); Larenz, Rechtswidrigkeit und Handlungsbegriff im Zivilrecht, Festschrift für Dölle, Bd. I, München 1963, S. 169 ff.; zusf. mwN. u. krit. Anm. Kötz, Deliktsrecht, Rdn. 94 ff. 57 Im Anglo-amerikanischen Haftungsrecht werden derartige Fälle überwiegend in gleicher Weise entschieden. Leading Case ist dabei eine Entscheidung des Califomia Supreme Courts aus dem Jahre 1948 in einem geradezu "klassischen Fall" des Urhebenweifels, Summers v. Tice (33 Cal. 2d 80, 199 P.2d 1 [ 1948 D. Zwei Jäger feuerten mit ihren Schrotflinten jeweils fahrlässig in Richtung des Klägers, wobei ein Schrotkorn diesen erheblich verletzte. Unklar blieb, aus welcher der beiden Ladungen die verletzungsursächliche Kugel stammte. Das Gericht erklärte beide Schützen für haftbar, ließ ihnen jedoch die Möglichkeit des Gegenbeweises offen ("to absolve himself if he can", 84, 199 P.2d 5). - Zustimmung zu dieser Entscheidung fmdet sich sowohl bei Vertretern des Economic Approach, vgl. nur Posner, Economic Analysis of Law, S. 168; ders. Landes, Joint and Multiple Tortfeasors, S. 539 f.; Shavell, An Analysis of Causation, S. 494; als auch bei Repräsentanten der herrschenden Dogmatik, vgl. insoweit nur Scully, Proof of Causation in a Private Action for Acid Rain Damage, 36 Me. L. Rev., 117, 132 ff. (1984); Prosser and Keeton on Torts, § 41 (S. 271). - Diese sog. Summers-Rule hat in § 433 (B)'(3) des Second Restatements of Torts aus dem Jahr 1965 Eingang gefunden. Dort heißt es: "Where the conduct of two
or more actors is tortious, and it is proved that harm has been caused to the plaintiff by only one ofthem, but their is uncertainty as to which one has caused it, zhe burden is upon each such actor to prove that he has not caused the harm. " 12 Quentin
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5. Abschn.: HaftungsbegrundendeKausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
einen Stein in das Tal. Einer dieser drei in Betracht kommenden Steine verletzt den 0 schwer, ohne daß festgestellt werden könnte, welcher. Alle Verhaltensweisen erfüllen bei unterstellter haftungsbegründender Kausalität den Tatbestand einer unerlaubten Handlung. Auch hier ist § 830 I. S. 2 BGB fraglos zumindest analog anwendbar. Die Tatsache, daß sich A und B neben ihrem voneinander unabhängig vorgenommenen deliktischen Aktivitäten, die sie schon allein nach § 830 I. S. 2 BGB haften ließen, auch noch komplementär deliktisch verhalten haben, kann a maiore ad minus an dem Ergebnis nichts ändern. b) Alternativ strukturierte haftungsbegründende Kausalität Die Fälle alternativ strukturierter KausalitätS8 unterscheiden sich von den den eigentlichen Gegenstand der Regelung des § 830 I. S. 2 BGB bildenden Konstellationen des Urheberzweifels insbesondere dadurch, daß trotz erschöpfender Analyse die Kausalgeschichte des Effectus nicht linear strukturiert werden kann. Es bleibt möglich, aus dem vorhandenen Antecedensentitätenmaterial mehr als einen Komplex zu bilden, der je nach Kausalitätsverständnis (deterministisch oder probabilistisch) als hinreichende Bedingunt9 bzw. als "prima-Jacie-causa"60 für den Eintritt des Effectus beschrieben werden kann, ohne insoweit auch eine post Jactum notwendige Bedingung zu sein. 61 Dabei ist es durchaus denkbar, und nur dieser Fall soll im folgenden weiter behandelt werden, daß jeder dieser Antecedensentitätenkomplexe eine einer anderen Person zurechenbare deliktische Handlung als ein non-redundantes Element enthält. A und B schießen bei einer Treibjagd voneinander unabhängig aus Unachtsamkeit auf o. Beide Projektile erreichen den Körper des 0 gleichzeitig und führen den Verlust seines linken Auges herbei. Jeder dieser Schüsse war seiner Art nach geeignet, eine derartige Verletzung hervorzurufen. Es soll ausdrücklich unterstellt werden, daß der Verlust des linken Auges des 0 tatsächlich selbst
S8
Eine ausführliche Analyse dieser Fallgruppe fmdet sich oben auf den Seiten 87 ff.
Von hinreichenden Bedingungen ist sinnvollerweise nur dann die Rede, werm der Betrachtung ein deterministisches Kausalitätsverständis zugrunde liegt.
S9
Der Begriff der Prima-facie-causa steht hier im Sinne von Suppes für einen Entitätenkomplex der seiner Art nach geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes des Effectus zu erhöhen.
60
V gl. dazu auch die Darstellung bei Jan Comelius Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, Berlin 1986, S. 151 ff.
61
II. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
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bei totaler Aufklärung des gesamten Geschehnisses weder eindeutig auf den Schuß des A noch auf denjenigen des B zurückgeführt werden könnte. Dieser Sachverhalt ist in Ermangelung eindeutiger kausaler Dependenzrelationen zwischen der Rechtsgutsverletzung und einzelnen singulären zurechenbaren Verhaltensweisen nicht unter den Tatbestand des § 823 I. BGB subsumierbar. 62 0 würde hier bei der Durchsetzung seines Schadensersatzbegehrens etwa gegen A nicht wie im Fall des Urheberzweifels deshalb scheitern, weil er nicht in der Lage ist, die kausalen Dependenzverhältnisse hinreichend konkret zu spezifizieren, sondern weil keine in dieses Raster passende Kausalitätssituation vorliegt. Damit sind aber noch nicht alle Unterschiede zu den Fällen des Urheberzweifels aufgezeigt. Während in einer Konstellation des Urheberzweifels bereits die Verhaltensänderung nur eines Beteiligten ausgereicht hätte, die eingetretene Rechtsgutsverletzung zu vermeiden, entfällt bei einem alternativ strukturierten kausalen Verlauf die Rechtsgutsverletzung erst dann, wenn man unterstellt, daß alle Beteiligten tatsächlich ein anderes Verhalten gewählt hätten. Nur wenn man sowohl die Schußabgabe durch A als auch durch B hypothetisch eliminiert, gelangt man bei gleichzeitigem Hinwegdenken auch der Augenverletzung des 0 wieder zu einem konsistenten kausalen Gefüge. 63 Geht man demgegenüber aber analog von einem Fall des Urheberzweifels aus, also einer Konstellation, bei der jeweils von A und B fahrlässig ein Schuß in Richtung des 0 abgegeben worden ist, wobei nur ein Projektil den 0 am Auge traf, ohne daß abgeklärt werden konnte, welches, so ist es sicher, daß bereits die Verhaltensänderung eines der Beteiligten 0 die volle Sehkraft bewahrt hätte. Unklar ist lediglich, ob dieses für A oder B gilt. Wertet man diese Unterschiede nun am Maßstab der Regelung des § 830 I S. 2 BGB, so erscheint es für Fälle alternativ strukturierter Kausalität im
Nicht selten wird in diesen Fällen vorgeschlagen, anstatt nur einer, beide Handlungen "hinwegzudenken" , um auf diesem Wege wieder eine kausale Dependenzrelation zwischen dem Effectus und den jeweiligen Aktivitäten bejahen zu können (vgl. etwa Puppe, Der Erfolg und seine kausale Zurechnung im Strafrecht, S. 876 f.). Hier werden offensichtlich gewünschtes Ergebnis und Begründung verwechselt. Natürlich ist es möglich, ein vor dem vorhandenen Wissen um die kausalen Bezüglichkeiten tragfähiges kontrafaktisches Konditional durch hypothetische Elimination der in einer disjunktiven Relation zueinander stehenden Aktivitäten zu gewinnen. Die entscheidende Frage ist doch aber, wie sich die dabei stattfindende Verschmelzung von voneinanderunabhängigen Handlungen rechtfertigen läßt. 62
lAndes-Posner, Joint and Multiple Tortfeasors, S. 518, sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem "joint-car-case".
63
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5. Abschn.: HaftungsbegIÜndende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
Vergleich zu denjenigen des Urheberzweifels erst recht geboten zu sein, eine gesamtschuldnerische Haftung der Beteiligten zu postulieren. Die Tatsache, daß im Bereich der alternativ strukturierten Kausalität erst ein sorgfältiges Verhalten beider Schützen (im Beispielsfall A und B) die Integrität der Rechtsgüterwelt des Geschädigten im Ergebnis gesichert hätte, läßt deren Negativkonditionierung umso dringlicher erscheinen. 64 Führt die Anwendung des § 830 I S. 2 BGB inder Urheberzweifelsvariante des "Jägerbeispiels" noch dazu, daß bereits ein lediglich "gefährlicher Fehlschuß" eine Haftung nach sich zieht, geht es in der alternativ kausal strukturierten Variante nur noch um "Treffer". Gleiches gilt für eine Betrachtung unter der Prämisse der dem Deliktsrecht gleichfalls zugewiesenen Garantiefunktion. Auch in den Fällen alternativ strukturierter Kausalität steht fest, daß der Geschädigte Opfer deliktischen Verhaltens geworden ist. Seine Schadlosstellung ist also auch hier geboten. Wie in den Fällen des Urheberzweifels führt die Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB zudem ebenfalls zu einer, wenn auch nur schwach ausgeprägten Schadensstreuung. Für eine analoge Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB sprechen nicht zuletzt auch Gerechtigkeitserwägungen. Ein Wesensmerkmal alternativ strukturierter Kausalität ist es, daß die jeweiligen Verhaltensweisen nur deshalb nicht als eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung beschrieben werden können, weil auch eine andere Verhaltensweise insoweit gleiche Eigenschaften aufweist, ohne daß dieser Zustand zu beheben wäre. Im Gegensatz zu den Fällen des Urheberzweifels gibt es hier für den Geschädigten keine weitere Möglichkeit mehr, doch noch eine singuläre Verhaltensweise als post factum notwendige Bedingung zu individualisieren. Hier § 830 I. S. 2 BGB nicht analog anwenden heißt im Ergebnis, Fälle alternativ strukturierter Kausalität auch dann, wenn alle disjunktiv als Causa in Betracht kommenden
Vgl. dazu Edgerton, Legal Cause, 72 U. Pa. L. Rev., 211, 343, 347 (1924). A. A. sind die Vertreter der Economic Theory. Nach ihrer Auffassung macht es im Hinblick auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen keinen Sinn, die Verhaltensweisen von A oder B negativ zu konditionieren, denn weder A noch B können für sich durch eine Verhaltensänderungdas unerwünschte Ergebnis (den Schaden) venneiden. Vgl. dazu Cooter, Torts as a Union of Liberty and Efficiency: An Essay on Causation, Chi-Kent L. Rev., 523, 536 f. (1987); Landes/Posner, Causation in Tort Law: An Economic Approach, 12 J. Legal Stud., S. 109, 115 f. (1982). - Das ändert aber nichts an der Unabweisbarkeitder Tatsache, daß eine Verhaltensänderungbeider Akteure eine Venneidung der Rechtsgutsverletzung und damit auch des Schadens zur Folge gehabt hätte. Kritisch dazu auch R. W. Wright, The Efficiency Theorie of Causation: Unscientific Formalism and false Semantics, 63 Chi-Kent L. Rev., 553, 571 f. (1987). 64
11. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
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Entitätenkomplexe ein zurechenbares deliktisches Verhalten beinhalten, Konstellationen zufälliger Schädigung gleichzustellen. Ein Opfer, das gegenüber jedem der Beteiligten mit Fug und Recht behaupten kann, durch dessen Verhalten effektiv in seinen Rechten beeinträchtigt worden zu sein, müßte nach dem Grundsatz "casum sentit dominus" seinen Schaden selbst tragen. Ein kaum als gerecht zu bezeichnendes Resultat. Wenn § 830 I. S. 2 BGB schon der Unbilligkeit abhelfen will, die darin liegt, daß ein sicher deliktisch Geschädigter nur deshalb nicht schadlos gestellt wird, weil er unter zwei oder mehr ihm gegenüber unverantwortlich riskanten Verhaltensweisen nicht diejenige ausfmdig machen kann, die ihn letztlich lädiert hat, dann muß diese Vorschrift erst recht auch zum Zuge kommen, wenn bereits sicher ist, daß tatsächlich auch alle diese Aktivitäten quasi effektiv geworden sind und jede von ihnen ohne weiteres bei hypothetischer Elimination der "Alternativen" in den Status einer post factum notwendigen Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung hineinwachsen würde. 65 c) "Urheberzweifel" und hafiungsausfüllende Kausalität Wie im Fall des Urheberzweifels bei der Hafiungsbegründung, ist auch im Bereich der hafiungsausfüllenden Kausalität eine Konstellation möglich, in der es sicher ist, daß eine Rechtsgutsverletzung den gesamten Schaden oder doch zumindest eine konkretisierbare Schadenspartition66 verursacht hat, diese aber nur so unscharf beschrieben werden kann, daß insoweit mehrere vom Kläger erlittene, voneinander kausal unabhängige Rechtsgutsverletzungen in Betracht
os Im Ergebnis ebenso, Smith, Legal Cause in Actions of Torts, 15 Harv. L. Rev.103, Fn. 20 (S. 109) (1911); Edgerton, S. 346; Peaslee, Multiple Causation and Damage, 47 Harv. L. Rev., 1127, 1132 f. (1934); James Jr.lPerry, Legal Cause, 60 Yale Law Journal, 761 1763 (1951); Malone, aaO. S. 88 f.; Peczenik, Causes and Damages, S. 51 mwN.; ders., Causation and Fault in Torts, in: Recht und Gesellschaft, Festschrift für Helmut Schelsky, Berlin 1978, S. 371,375, 379; Prosser and Keeton on Torts, § 41 (S. 266 f.); D.M.A. Strachan, Tbe Scope and Application of the 'but for' Causal Test, 33 Mod. L. Rev., Vol. 386, 391 (1970). - Deutsch, Haftungsrecht, § 12 I. 4.) (S. 156) mwN. spricht in diesem Zusammenhang von einem Grundsatz, wonach rechtswidriges Verhalten eines anderen nicht entlasten könne. Läßt sich ein Gesamtschaden in Partitionen zerlegen, von denen einige' sicher bestimmten Rechtsgutsverletzungen zugeordnet werden können, während bzgl. anderer eine Urheberzweifelskonstellation besteht, so ist § 830 I. S. 2 BGB natürlich nur bzgl. dieser Partitionen anwendbar. Für die anderen Partitionen haften die festgestellten Urheber ohne irgendwelche Besonderheiten nach § 823 BGB.
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kommen, die jeweils zu einem Verhalten in einer kausalen Dependenzrelation stehen, für das verschiedene Personen verantwortlich sind. A und B versetzen dem 0 jeweils kausal unabhängig voneinander einen Schlag auf den Kopf. Infolge einer Hirnschädigung erleidet 0 eine Lähmung. Jeder der beiden Schläge war für sich betrachtet seiner Art nach geeignet, eine solche Lähmung hervorzurufen. Sicher ist, daß nur einer dieser Schläge zu der Lähmung geführt hat. Eine andere kausale Erklärungsmöglichkeit ist nicht ersichtlich. Geht man davon aus, daß sowohl der Schlag des A, als auch derjenige des B als eine rechtswidrige und schuldhafte Verletzung des Körpers des 0 im Sinne von § 823 I. BGB angesehen werden muß, so liegt hier nun im Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität eine dem Urheberzweifel bei der Haftungsbegründung wesensgleiche Situation vor. 0 müßte an dem Nachweis eines kausalen Dependenzverhältnisses zwischen dem eingetretenen Schaden (Lähmung) und einer Rechtsgutsverletzung scheitern, weil sowohl A als auch B sich darauf berufen könnten, daß die jeweils durch den anderen verursachte Rechtsgutsverletzung tatsächlich für den Schaden kausal geworden ist. 67 § 830 I. S. 2 BGB ist hier ohne weiteres analog anwendbar. d) "Anteilszweifel " und haftungsausfüllende Kausalität Der Fall eines sog. "Anteilszweifels" ist prinzipiell nur dann denkbar, wenn infolge des Zusammentreffens mehrerer Rechtsgutsverletzungen, die verschiedenen Personen zuzurechnen sind, ein Schaden entstanden ist, der grundsätzlich in voneinander kausal unabhängige Partitionen zerlegt werden kann. Bezüglich dieser Partitionen liegt nun eine "Zweifelssituation" vor, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, daß zumindest einzelne68 dieser Partitionen nur zu
Diese Aporie wird hier auch nicht dadurch gemindert, daß im Bereich der haftungsausfiillenden Kausalität ein entsprechender Nachweis am Maßstab der Vorschrift des § 2871. ZPO zu erbringen ist. So ist es hier zwar eher möglich als im Fall des § 286 ZPO, bei mehreren alternativ in Betracht kommenden Kausalverläufen aufgrund signifikant unterschiedlicher Wahrscheinlichkeiten die Überzeugung zu gewinnen, daß tatsächlich nur ein bestimmter Kausalverlauf vorliegt (vgl. BOH, Urteil vom 07.07.1970, NJW'70, 1970, 1971), doch bleibt nach wie vor ein großer Bereich erhalten, in dem eine derartige Feststellung nicht mehr getroffen werden kann.
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03 Es ist nicht erforderlich, daß die Zuordnung aller Partitionen ausgeschlossen ist. Eine Anteilszweifelssituation kann sich auch nur auf einige Partitionen des Oesamtschadens erstrecken. Bezüglich der in ihren kausalen Relationen sicheren Schadensteilen gelten zwanglos die allgemeinen Regeln. Stehen sie nur zu einer der Rechtsgutsverletzungen in einem kausalen Zusammenhang, so haftet deren Urheber allein gemäß § 823 I. BOB. Besteht ein solcher Kausalzusammenhang zu
11. Die Hafnmg bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
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einigen oder gar nur einer dieser Rechtsgutsverletzungen in einem kausalen Dependenzverhältnis stehen, es aufgrund fehlender Erkenntnisse gleichwohl aber unmöglich bleibt, insoweit eine exakte Zuordnung vorzunehmen. In einer derartigen Situation ist es prima facie ausgeschlossen, in Ermangelung der Nachweisbarkeit eines entsprechenden haftungsausfüllenden Kausalzusammenhanges alle Beteiligten für den gesamten Schaden als Nebentäter gemäß den §§ 823 I., 840 I. BGB zur Verantwortung zu ziehen. Dem Geschädigten bleibt grundSätzlich nur die Möglichkeit, in Anwendung des § 287 ZPO im Wege der richterlichen Schätzung zu einer Zuordnung der einzelpen Schadensteile zu gelangen. 69 Da der Geschädigte insbesondere bei der Beischaffung geeigneter Erkenntnisgrundlagen für eine entsprechende Schätzung vor nicht unerheblichen Problemen stehen kann, ist in der Vergangenheit immer wieder die Frage erörtert worden, inwieweit hier durch eine analoge Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB gleichwohl die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, alle Beteiligten als Gesamtschuldner auf Ersatz des gesamten Schadens in Anspruch nehmen zu können. Da eine Situation, in der die jeweiligen Schadenspartitionen nur zu einzelnen Rechtsgutsverletzungen in einem kausalen Dependenzverhältnis stehen, nach dem Erkenntnisstand nur eine mögliche Sachverhaltsaltemative sein kann, daneben aber auch noch andere Konstellationen in Betracht zu ziehen sein können, müssen weitere Differenzierungen vorgenommen werden. So kann es der Fall sein, daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß jede Rechtsgutsverletzung geeignet war, den gesamten Schaden allein zu verursachen70 , also für jede
mehreren Rechtsgutsverletzungen, so haben deren Verursacher als Nebentäter gesamtschuldnerisch zu haften (§§ 8231.,840 I. BGB). Vgl. dazu BGH, Urteil vom 13.02.1976. NJW·76. 798. 799.
6. Vgl. dazu nochmals BGH, aaO. Allein zur Verursachung geeignet zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang natürlich nicht. daß die fragliche Rechtsgutsverletzung als einzige Entität die gesamte Causa im erkenntnistheoretischen Sinn für das als Schaden in Betracht kommende Geschehen verkörpern muß. Ein derartiger Fall ist praktisch undenkbar. Ausreichend ist, daß die in Rede stehende distinkte Rechtsgutsverletzung post factum als non redundantes Element eines Entitätenkomplexes beschrieben werden kann, zu dem der gesamte Schaden in einem kausalen Dependenzverhältnis steht. Dabei ist es grundsätztlich ohne Bedeutung, ob noch weitere gleichfalls durch zurechenbare Verhaltensweisen verursachte Rechtsgutsverletzungenebenfalls non redundante Elemente dieses Entitätenkomplexes sind. solange nur für jede Rechtsgutsverletzung gilt. daß sie eine post factum notwendige Bedingung für die Entstehung des gesamten Schadens gewesen sein kann. In der gängigen aber unscharfen Terminologie: eine Alleinverursachungseignungliegt bei einem derartigen unterteilbaren Schaden nicht nur dann vor, wenn jede distinkte Rechtsgutsverletzungalleinjede Partition dieses Schadens verursacht haben
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5. Abschn.: Haftungsbegründende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
Rechtsgutsverletzung eine Sachverhaltsalternative konstruierbar bleibt, bei der diese eine notwendige Bedingung für den Eintritt sämtlicher zweifelhafter Schadenspartitionen darstellt. Daneben kann aber auch die Möglichkeit bestehen, daß nach dem Stand der Erkenntnisse hinsichtlich jeder Rechtsgutsverletzung eine Sachverhaltsalternative entworfen werden kann, in der diese einzelne Rechtsgutsverletzungen in keiner Weise schadenskausal geworden ist. Zieht man diese Möglichkeiten in Betracht, so lassen sich vier in der Folge näher zu betrachtende Fallgruppen bilden:
Fallgruppe 1: Die Analyse des Sachverhaltes ergibt, daß neben der Sachverhaltsalternative einer Anteilsverursachung auch in Erwägung gezogen werden muß, daß die jeweiligen Rechtsgutsverletzungen den gesamten Schaden allein verursacht haben können (Totalschadenskausalität vel Teilschadenskausalität). Letzteres ist immer dann der Fall, wenn für keine der in Rede stehenden Rechtsgutsverletzungen ausgeschlossen werden kann, daß sie eine post factum notwendige Bedingung für alle Schadenspartitionen war. 71 Hierzu ein Beispiel: A schlägt 0 auf den Kopf. Kurze Zeit später bringt auch noch B den 0 aus Unachtsamkeit zu Fall, sodaß er erneut einen Schlag auf den Kopf erleidet. In der Folge treten bei 0 Lähmungen im Bereich der linken Gesichtshälfte und Sehstörungen auf, die auf die von A und B zu vertretenden Einwirkungen zurückzuführen sind. Es ist dabei davon auszugehen, daß beide Verhaltensweisen eine rechtswidrige und schuldhafte Verletzung der körperlichen Integrität des 0 darstellen und folglich den Tatbestand des § 823 I. BGB verwirklichen. Weiterhin soll hier unterstellt werden, daß die verschiedenen Leiden voneinander kausal unabhängige Partitionen des gesamten Schadens ausmachen. Folgende Sachverhaltalternativen kommen nach dem Erkenntnisstand in betracht:
kann, sondern auch dann, wenn diese Eigenschaft nur den jeweiligen Rechtsgutsverletzungen kumulativ zukommt. Die Begründung hierfür ist ohne weiteres evident. Wäre klar, daß A und B durch die ihnen zurechenbaren Rechtsgutsverletzungen kumulativ die Lähmungen des 0 verursacht hätten, so müßten beide ohne weiteres als Nebentäter gemäß den §§ 823 I., 840 I. BGB auf den gesamten Schaden haften. Im Ergebnis wohl ebenso Bernhard Gmehling, Die Beweislastverteilung bei Schäden aus Industrieimmissionen, KölnlBerlinlBonnl München 1989, S. 215 ff. Dieser Konstellation entspricht für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität der oben unter (I) beschriebene fall des Urheberzweifels bei auch möglicher Komplementarität.
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11. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
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Alt. 1: Der Schlag des A war sowohl eine notwendige Bedingung für den Eintritt der Lähmung als auch für den Eintritt der Sehstörungen. Das Verhalten des B hat diese Eigenschaft nur in bezug auf Letztere. Alt. 2: Das zu Fall bringen durch B ist eine notwendige Bedingung für Lähmung und Sehstörung. Der Schlag des A nur hinsichtlich der Ersteren. Alt. 3: Die Sehstörungen stehen in einem kausalen Dependenzverhältnis zum Schlag des A; die Lähmungen zu dem zu Fall bringen durch B. Alt. 4: Der Schlag des A ist eine notwendige Bedingung für die Lähmung; das zu Fall bringen durch B für die Sehstörungen. In Alternative I. erscheint die dem Azurechenbare Rechtsgutsverletzung als notwendige Bedingung für alle Partitionen des Schadens, hinsichtlich der Sehstörung in Kumulation mit dem Verhalten des B. Für die von B zu vertretende Rechtsgutsverletzung gilt vice versa Gleiches und zwar in Sachverhaltsalternative 11. Die Alternative III. und IV. repräsentieren Fälle bloßer Teilschadenskausalität, denn die jeweiligen Rechtsgutsverletzungen zeichnen nur für eine Partition verantwortlich. Ausgeschlossen sind Konstellationen, in denen eine der in Betracht kommenden Rechtsgutsverletzungen nicht schadenskausal geworden ist.
Fallgruppe 2: Nach Auswertung des unterbreiteten Tatsachenmaterials kann die Möglichkeit nicht von der Hand gewiesen werden, daß die jeweiligen Rechtsgutsverletzungen entweder notwendige Bedingungen für nur einige Schadenspartitionen sind oder aber zu keinem Schadensteil in einer kausalen Relation stehen. Sicher ist, daß keine der in Betracht kommenden Rechtsgutsverletzungen ihrer Art nach geeignet war, für den gesamten Schaden ursächlich zu werden (Teilschadenskausalität vel fehlende haftungsausfüllende Kausalität). Auch hierzu ein Beispiel: A, Bund C fahren in der Eisenbahn an dem Weizenfeld des 0 entlang. Alle drei werfen unabhängig voneinander eine brennende Zigarette aus dem Fenster, wodurch zwei Brandherde entstehen. Eine Zigarette verglimmt folgenlos. Das gesamte Feld brennt nieder, ohne daß ex post festgestellt werden könnte, welche Areale durch welchen Brandherd vernichtet worden sind. Keiner der beiden gelegten Brandherde wäre allein geeignet gewesen, den gesamten Weizen in Flammen aufgehen zu lassen. Es ist davon auszugehen, daß jeder Zigarettenwurf das Eigentum des 0 rechtswidrig und schuldhaft verletzt (§ 823 I. BGB) hat. Jede Rechtsgutsverletzung war hier nun entweder
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5. Abschn.: Haftungsbegrundende Kausalität ohne elWiesene kausale Dependenz
ohne Schadensfolgen oder aber ursächlich für eine nicht mehr bestimmbare Partition des Gesamtschadens.
Fallgruppe 3: Weiterhin ist möglich, daß nach dem Erkenntnisstand von jeder Rechtsgutsverletzung ausgesagt werden kann, daß sie sicher einen Teil des Schadens verursacht hat, gleichzeitig aber auch feststeht, daß keine dieser Rechtsgutsverletzungen so beschaffen ist, daß sie für alle Schadenspartitionen eine notwendige Bedingung abzugeben vermochte. Gleichwohl ist es unmöglich einzelne Schadenspartitionen den jeweiligen Rechtsgutsverletzungen sicher zuzuordnen. Ein solcher Fall läge etwa vor, wenn man das oben vorgestellte Komfeldbeispiel abwandelt und davon ausgeht, daß tatsächlich drei Brandherde entstanden sind und jeder der Beteiligten für einen derselben eine notwendige Bedingung gesetzt hat. Da das Feld jedoch nicht durch nur einen Brandherd vernichtet worden ist, aber unklar bleibt, welche Schadenspartitionen auf welche Brandlegung entfallen, liegt hier eine Konstellation bloßer Teilschadenskausalität vor. Fallgruppe 4: Zuletzt läßt sich auch noch eine Sachlage denken, bei der von jeder der in Rede stehenden Rechtsgutsverletzungen ausgesagt werden kann, entweder den gesamten Schaden, nur einen nicht näher bestimmbaren Teil desselben oder aber gar keinen Schaden verursacht zu haben (Totalschadenskausalität vel Teilschadenskausalität vel keine haftungsausfüllende Kausalität). Dieses wäre in dem oben bei Fallgruppe 1 angegebenen Beispiel dann gegeben, wenn zu den dort aufgeführten 4 Sachverhaltsalternativen noch die beiden folgenden hinzuzunehmen wären. Alt. 5: Der Schlag des A ist eine notwendige Bedingung sowohl für die Lähmungen als auch für die Sehstörungen. Alt. 6: Lähmungen und Sehstörungen stehen allein in einem kausalen Dependenzverhältnis zu der von B zu verantwortenden Rechtsgutsverletzung. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung72 und auch ein Teil der Literatur73 wollen § 830 I. S. 2 BGB nur dann analog anwenden, wenn nach der
RG, Urteil vom 12.07.1928, RGZ 121,400,402 f.; BGH, Urteil vom 15.11.1960; NJW'61 , 263,264; Urteil vom 27.05. 1987, NJW'87, 2810, 2811, ständige Rechtsprechung; OLG Bamberg, Urteil vom 16.10.1947, NJW'49, 225 f. mit einer ablehnenden Anmerkung von Kuth; OLG Koblenz, Urteil vom 20.10.1948, AcP 150, 453, 454 f.; OLG Braunschweig, Urteil vom 05.12.1950, IR'51, 658, 659. Ob und inwieweit es diesbezüglich in der Rechtsprechung 72
11. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 2 BGB
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Sachlage die Möglichkeit nicht von der Hand gewiesen werden kann, daß der gesamte geltend gemachte Schaden, auch nur durch jede der in Betracht kommenden Rechtsgutsverletzungen allein verursacht worden ist. Ist es demgegenüber aber ausgeschlossen, daß die in Rede stehenden Rechtsgutsverletzungen per se den gesamten Schaden verursacht haben können, bleibt dem Geschädigten nur die Schätzung der jeweiligen Schadensanteile gemäß § 287 ZPO. Unklar bleibt, ob es für diese Meinung auch darauf ankommt, daß die jeweiligen Rechtsgutsverletzungen, wie in Fallgruppe 4, nicht haftungsausfüllend kausal geworden sind oder ob es, wie in Fallgruppe 1, ausreicht, daß nur Totalschadenskausalität jeweils nicht ausgeschlossen werden kann. 74 Demgegenüber gibt es jedoch auch Stimmen, die § 830 I. S. 2 BGB auch dann noch dem Geschädigten zugute kommen lassen wollen, wenn nicht mehr angenommen werden kann, daß jeder Beteiligte mit der von ihm verursachten Rechtsgutsverletzung den gesamten Schaden herbeiführen konnte.7s Danach wäre eine analoge Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB in praktisch allen Fallgruppen mit Ausnahme von Fallgruppe 2 möglich. Man argumentiert, daß in vielen dieser Fälle in der Praxis nicht einmal taugliche Grundlagen für eine Schätzung existieren werden, sodaß der Geschädigte in der Folge gleichwohl ohne durchsetzbaren Schadensersatzanspruch bleiben würde. Zudem müsse, wer bereit sei, via § 830 I. S. 2 BGB auch Personen auf den gesamten Schaden
zwischenzeitlich Irritationen gegeben hat oder nicht, kann hier auf sich beruhen. Vgl. dazu eingehend Gmehling, S. 21~ ff. Gemhuber, S. 149; Buxbaum, S. 127; Bauer, S. 8; Brambring, S. 118 ff.; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 114; Bydlinsld, Aktuelle Streifragen um die alternative Kausalität, S. 27; Deutsch, Haftungsrecht, § 21, V. 2.) Fußnote 87 (S. 351); Assmann, Multikausale Schäden im deutschen Hafiungsrecht, in: FenyvesWeyers (Hrsg.), Multikausale Schäden in modemen Haftungsrechten, FrankfurtJM., S. 99/ 122; Soergel/Zeuner, BGB, § 830, Rdn. 12; ErmanlDrees, BGB, § 830, Rdn. 9; Menens in Münch.Komm. zum BGB, § 830, Rdn. 21; Palandt!Ihomas, BGB, § 830, 2.c.bb.); Staudinger/Schäfer, BGB, § 830, Rdn. 30; Vgl. dazu auch Peczenik, Causes and Damages, S. 38 ff. mwN. insbesondere auch aus der skandinavischen Rechtspraxis.
73
Die Tatsache, daß Rechtsprechung und Lehre in aller Regel Fallstrukturen mit nur zwei Beteiligten vor Augen haben, legt jedoch den Schluß nahe, daß mögliche "A1leinverursachung" durch jeden Beteiligten in diesem Sinne implizit auch mögliche "Nichtverursachung" meint.
7.
"Kuth, Anmerkung zum Urteil des OLG Bamberg vom 16.10.1947, NIW'49, 225 f.; Diekmann, S. 24; Weckerle, S. 159 ff.; Cypion/(Q, S. 89 ff; Hager, Das neue Umwelthaftungsgesetz, NIW' 91, 134, 140, der dieses jedoch nur für den Fall zulassen will, daß alle Täter bekannt sind, den "Beteiligten" also nur das Insolvenzrisiko und die Auseinandersetzungslastüberbürdet wird.
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haften zu lassen, die diesen sicher nicht verursacht haben, a maiore ad minus erst Recht eine solche Haftung bejahen können, wenn eine Teilkausalität bereits feststeht. 76 Nicht zuletzt habe der Vorgänger des § 830 I. S. 2 BGB in der Fassung des ersten Entwurfes (§ 714 S. 2)77 ausdrücklich Fälle der Teilschadenskausalität einbezogen, sodaß auf einen entsprechenden gesetzgeberischen Willen geschlossen werden könne. 78 Außerdem führe die Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB im Ergebnis zu einer pro-rata-Haftung nach Kopfteilen, die den eigentlichen Verursachungsanteilen regelmäßig näher kommen wird, als in den Fällen echten "Urheberzweifels" .79 Erscheint es schon ausgesprochen zweifelhaft, ob es tatsächlich Fälle von Teilschadenskausalität geben kann, in denen der Geschädigte überhaupt nicht in der Lage ist, greifbare Anhaltspunkte für eine richterliche Schadenschätzung nach § 287 I. ZPO vorzutragenBO , so bestehen gegen eine analoge Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB auch durchgreifende grundsätzliche Bedenken. Eine analoge Anwendung von Rechtsvorschriften setzt prinzipiell voraus, daß die diebezüglich in den Blick genommene Sachverhaltskonstellation, zu dem im Tatbestand der fraglichen Vorschrift definierten Anwendungsfall quasi wesensgleich ist. 81 Die den eigentlichen Regelungsgegenstand des § 830 I. S. 2 BGB bildenden Fälle des "Urheberzweifels" zeichnen sich, wie oben dargestellt, dadurch aus, daß es dem Geschädigten gerade deshalb nicht gelingt, eine konkrete Aktivität als Kausalfakltor für die erlittene Rechtsgutsverletzung und damit auch den daraus resultierenden Schaden zu qualifizieren, weil mehrere gleichermaßen unerlaubte Verhaltensweisen insoweit konkurrieren. Für jede dieser Verhaltensweisen bleibt es offen, ob sie haftungsbegründend kausal geworden ist oder nicht. Kennzeichnend für diese Situation sind zwei Aspekte: der Geschädigte steht aufgrund der Tatsache, daß jeder Beteiligte im Hinblick auf das Verhalten
16
Kuth, S. 225 f.; Cypionka, S. 90; Weckerle, S. 161.
In § 714 S. 2 des ersten Entwurfes befand sich der folgende Passus: •... , wenn im Falle eines von mehreren verschuldeten Schadens der Anteil der einzelnen nicht zu ermitteln ist".
11
18
Cypionka, S. 91 f.; Weckerle, S. 160, jeweils mit Nachweisen.
19
Weckerle, S. 161.
... Vgl. dazu BGH, Urteil vom 07.07.1970, NJW'70, 1970, 1971 f. Vgl. dazu nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Auflage, BerlinlHeidelbergl New York 1979, S. 366 ff.
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der anderen schlüssig bestreiten kann, eine notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung gesetzt zu haben, vor dem drohenden Totalverlust. Den" Alternativtätern" fällt ein Verhalten zur Last, das nach dem Stand der Erkenntnis geeignet erscheint, die gesamte dem Kläger zugefügte Rechtseinbuße verursacht zu haben. Eine vergleichbare Situation liegt im Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität auf Seiten des Geschädigten nur dann vor, wenn sich die jeweiligen Urheber einer Rechtsgutsverletzung auf eine Sachverhaltsalternative berufen können, die sie von jeder Haftung freistellt. Derartiges ist nur bei Konstellationen der Fall, in denen möglich bleibt, daß jede der in Betracht kommenden für keine Schadenspartition eine notwendige Bedingung verkörpert. Unter diesem Gesichtspunkt kommen daher für eine analoge Anwendung prinzipiell nur die Fallgruppen 2 und 4 in betracht. Demgegenüber ist den" Alternativtätern" nur dann eine potentiell für die gesamte Rechtseinbuße verantwortliche Läsion zurechenbar, wenn Sachverhaltsalternativen nicht ausgeschlossen werden können, bei denen die von ihnen verursachte Rechtsgutsverletzung geeignet war, den gesamten Schaden zu verursachen. Letzteres ist nur in den Fallgruppen 1 und 4 gegeben. Eine analoge Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB kann daher bei Konstellationen der Fallgruppe 4 in Betracht kommen, denn nur hier liegt eine Situation vor, in der sich jeder Beteiligte einer Inanspruchnahme auf den gesamten Schaden mit dem Argument entziehen könnte, der oder die Urheber einer oder mehrerer anderer Rechtsgutsverletzungen kämen insoweit statt ihrer in Betracht. Kann sich ein deliktischer Akteur aber der Inanspruchnahme auf den gesamten Schaden schon plausibel mit dem Einwand widersetzen, daß die ihm zuzuschreibende Rechtsgutsverletzung gar nicht geeignet war "totalschadenskausal " zu wirken, andererseits aber auch nicht einwenden, überhaupt keinen Schadensbeitrag geleistet zu haben, so ist keine dem "Urheberzweifel " vergleichbare Sachlage gegeben. Wenn Kuth, Weckerle und Cypionka demgegenüber darauf abstellen, daß § 830 I S. 2 BGB auf der Billigkeitsüberlegung beruhe, daß das Unaufklärbarkeitsrisiko eher von den "Beteiligten" als von dem sicher Geschädigten getragen werden solle, so ist das im Ergebnis nicht unrichtig. Ungesagt bleibt jedoch, warum gerade diese Lösung "billig" erscheint. Sie ist es im Fall des "Urheberzweifels" deshalb, weil das, was wir über die jeweiligen Aktivitäten wissen, ohne das Vorhandensein der weiteren in Betracht zu ziehenden gleichartigen Verhaltensweisen ausreichen würde, eine Vollhaftung zu bejahen. In Situationen
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der Teilschadenskausalität ist es demgegenüber gerade nicht der Fall, daß allein die Konkurrenz gleich zu bewertender deliktischer Aktivitäten auf der Grundlage des vorhandenen Evidenzmaterials den Schluß auf eine Totalhaftung unmöglich macht. Dieser verbietet sich vielmehr bereits bei isolierter Betrachtung der jeweiligen distinkten Rechtsgutsverletzungen. Teilschadenskausalität ist kein wesensgleiches Minus im Verhältnis zu den Fällen des Urheberzweifels. Angesichts dieses eindeutigen Befundes ist auch die Berufung auf den angeblichen Willen des Gesetzgebers unbehelf1ich. Ungeachtet der schon grundsätzlichen Bedenken82 , die jedem Normverständnis entgegenschlagen, das zwar nicht vom Wortlaut der jeweiligen Vorschrift, wohl aber von den angeblichen Intentionen ihrer Schöpfer gedeckt ist, erscheint hier schon die Annahme, der historische Gesetzgeber habe tatsächlich in § 830 I. S. 2 BGB auch Fälle der Teilschadenskausalität aufnehmen wollen, kaum begründbar. Was spricht dafür, daß ein Gesetzgeber, der einen bestimmten in einem Entwurf noch enthaltenen Passus später ersatzlos streicht, tatsächlich weiterhin willens ist, die von ihm selbst eliminierte Regelung doch noch Gesetz werden zu lassen? Wohl nur sehr wenig, es sei denn, man will den Schöpfern des BGB unterstellen, sie hätten sich den Widersinn geleistet, im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens Regelungen zu streichen, die sie in der Endfassung eigentlich enthalten sehen wollten. Im Ergebnis ist also festzuhalten, daß eine analoge Anwendung des § 830 I S. 2 BGB im Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität nur dann zu rechtfertigen ist, wenn von jeder der in Betracht kommenden distinkten Rechtsgutsverletzungen ausgesagt werden kann, daß sie ihrer Art nach geeignet war, den gesamten Schaden zu verursachen. e) Alternativ strukturierte haftungsausfüllende Kausalität Soweit eine derartige Konstellation im Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität überhaupt vorkommen kann, ist sie analog § 830 I. S. 2 BGB zu lösen. Hinsichtlich der Begründung gilt das oben zum Problem der alternativ strukturierten haftungsbegründenden Kausalität Ausgeführte entsprechend.
82 Pointiert aber treffend dazu Kusch, Anmerkung zu den Urteilen des LG Kiel vom 25.05.1987 und des OLG Oldenburg vom 12.06.1987, NStZ'88, 502, 503; ders., Strafrecht und Sprache, NStZ'90, 478, 480 f.
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f) Das Problem der sog. Subsidiarität des § 830 I. S. 2 BGB
Die analoge Anwendung § 830 I. S. 2 BGB ist in der Vergangenheit immer wieder angesichts von Fällen diskutiert worden, bei denen zwar eine nicht auflösbare Sachverhaltsalternativität gegeben war, die Ersatzpflicht zumindest eines Beteiligten jedoch bei jeder der möglichen Konstellationen feststand. Fälle dieser Art sind sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden, aber auch für den Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität denkbar. Zur Erläuterung soll hier ein Beispiel gewählt werden, bei dem sich eine derartige Konstellation in Hinblick auf den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang ergibt. Fußgänger 0 wird von A auf der Straße angefahren und bleibt schwerverletzt liegen (Zeitpunkt TI). In der Folge überrollt auch B mit seinem Pkw den 0 (Zeitpunkt T 2). Der danach eintreffende Notarzt stellt den Tod des 0 fest. Unklar bleibt, ob 0 zum Zeitpunkt des Überrollens durch B bereits tot war oder nicht. Auch hier besteht, wie bei den Konstellationen des des "Urheberzweifels " ein Fall der Sachverhaltsalternativität. Es ist möglich, daß 0 bereits im Zeitraum nach Tl und vor T2 allein an den durch A beigebrachten Verletzungen verstarb (erste Sachverhaltsalternative); es ist aber auch denkbar, daß der Tod des 0 erst nach T2 infolge des Überrollens durch B eintrat (zweite Sachverhaltsalternative). Es ist davon auszugehen, daß sowohl A als auch B zurechenbar, rechtswidrig und schuldhaft handelten. Der Unterschied zu den Fällen des "Urheberzweifels" liegt hier darin, daß die Angehörigen des 0 nicht aufgrund dieser Sachverhaltsalternativität in eine Situation versetzt werden, in der sie weder A noch B wegen des fehlenden Nachweises eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges auf Schadensersatz in Anspruch nehmen können, denn in beiden Alternativen steht fest, daß das deliktische Verhalten des A eine post factum notwendige Bedingung für die Verletzung des Rechtsgutes Leben des 0 verkörpert. Die Haftpflicht des A steht somit in jedem Falle schon auf der Grundlage des § 823 I. BGB fest. Unklar ist lediglich, ob auch B durch sein Verhalten ebenfalls eine post factum notwendige Bedingung für den Eintritt des Todes des 0 gesetzt hat. Rechtsprechung 83 und herrschende Meinung 84 verneinen eine analoge Anwendbarkeit des § 830 I. S. 2 BGB mit dem Argument, daß der Geschädigte
B3
BGH, Urteil vom 07.11.78, NJW'79, 544 f.
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5. Abschn.: Haftungsbegründende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
hier nicht vor der Situation stehe, bei Nichtanwendung des § 830 I. S. 2 BGB letztlich ohne Anspruch zu bleiben obwohl er sicher deliktisch lädiert worden ist. § 830 I. S. 2 BGB diene nicht dazu. einem Geschädigten noch einen weiteren Schuldner zu verschaffen. Die Gegenmeinung hält es demgegenüber für unbillig, dem Geschädigten eine Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB etwa dann zu verweigern, wenn derjenige deliktische Akteur, dessen Ersatzpflicht feststeht, unauffindbar oder insolvent ist. 8S Gerade aber dieses "Billigkeitsargument" verkennt einen ganz wesentlichen Aspekt der Regelung des § 830 I. S. 2 BGB. Die vor dem Hintergrund des Gedankens der ausgleichenden Gerechtigkeit wenig zuträgliche Situation, daß bei Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB trotz möglicherweise fehlender kausaler Dependenz gehaftet werden muß, findet ihre Rechtfertigung gerade auch in dem Aspekt, daß andernfalls ein Opfer deliktischen Verhaltens ohne Ersatzanspruch bliebe. § 830 I. S. 2 BGB enthält insoweit eine Ausnahmeregelung, deren Analogiefähigkeit nur bejaht werden kann, wo die diese Vorschrift tragenden Gesichtspunkte auch tatsächlich zutreffen. Konstellationen von der hier besprochenen Art weisen derartige Aspekte, wie dargestellt, jedenfalls nicht auf. Die von § 830 I. S. 2 BGB aufgegriffenen strukturellen Probleme bei der Anspruchsbegründung in Fällen des Urheberzweifels sind von den hier angesprochenen Problemen der praktischen Anspruchsdurchsetzung in Fällen des "Zweitschädigerzweifels" essentiell verschieden.
Vor der genannten Entscheidung des BGH und gegen dessen frühere Rechtsprechung bereits Gemhuber, S. 148; Köndgen, Kausalitätsverrnutung und Gefährdungshaftung, NJW'70, 2281 f.; Heinze, Zur dogmatischen Struktur des § 830 I. S. 2 BGB, VersR'73, 1081, 1086; Brambring, S. 112; Esser, Schuldrecht, Bd. 2, S. 447. Der neuen Rechtsprechung des BGH folgen U. H. Schneider, Urteilsanmerkung, JR'77, 330 f.; Erman/Drees, BGB, § 830, Rdn. 10; Mertens in Münch.Komm. zum BGB, § 830, Rdn. 29; SoergelfZeuner, BGB, § 830, Rdn. 20; Palandt/Thomas, BGB, § 830, 3.c.) aa.). 84
Vgl. Fraenkel, Urteilsanmerkung, NJW'79, 1202 f.; Bydlinski, Aktuelle Streitfragen, S. 15 ff.; Brehm, S. 584 ff.; Deutsch, Die dem Geschädigten nachteilige Adäquanz, NJW'8I, 2731 ff.; Derleder, in: Alternativkomm. zum BGB, § 830, Rdn. 9; mit abweichender Begründung auch Assrnann, aaO.; Cypionka, S. 115 ff., will § 830 I. S. 2 BGB offensichtlich nur dann auf Folgeschädigungskonstellationenanwenden, wenn ein haftungsbegründenderKausalzusammenhang auch hinsichtlich des Verhaltens des "Zweitschädigers" feststeht.
&S
11. Die Haftung bei mehreren Beteiligten nach § 830 I S. 28GB
193
Zwischenergebnis Geht der Verletzung von Rechtsgütern des Klägers eine Mehrzahl von Verhaltensweisen verschiedener Personen voraus, so ist der Kläger, wenn er Ersatz für einen in der Folge entstandenen Schaden begehrt, grundsätzlich gehalten vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, daß das individuelle Verhalten jedes der in Anspruch genommenen Beklagten nicht nur seiner Art nach geeignet war, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer derartigen Rechtsgutsverletzung zu erhöhen, sondern in der konkreten Situation auch eine notwendige Bedingung für den Verletzungseintritt darstellte. Hiervon läßt das Gesetz Ausnahmen zu. Kann der Kläger nachweisen, daß mehrere Personen einen gemeinsamen Handlungsentschluß gefaßt haben, so ist der für eine deliktische Inanspruchnah-
me erforderliche Beweis des Bestehens eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges im Hinblick auf jeden Beteiligten an der Beschlußfassung nach Maßgabe des § 830 I. S. 1 BGB schon dann geführt, wenn das Gericht die Überzeugung gewinnt, daß mindestens eine der in Ausführung dieses Entschlusses vorgenommenen Verhaltensweisen die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Verletzung erhöht und für deren Auftreten auch eine notwendige Bedingung war. Der Kläger ist dann nicht mehr verpflichtet gegenüber jedem Beteiligten einzeln den Nachweis zu führen, daß ein bestimmtes individuell zurechenbares Verhalten tatsächlich für den Verletzungseintritt ursächlich war. § 830 I S. 1 BGB begründet hier die widerlegliche Vermutung, daß jeder Beteiligte an der gemeinsamen Beschlußfassung schon hierdurch einen Kausalfaktor für die in Ausführung dieses Entschlusses verursachte Verletzung gesetzt hat. Ist es der Fall, daß mehreren Personen jeweils ein Verhalten zur Last fällt, das geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit der erlittenen Rechtsgutsverletzung zu erhöhen, ohne daß das Vorhandensein eines entsprechenden kausalen Dependenzverhältnisses seitens des Klägers nachgewiesen werden kann, so ermöglicht § 830 I. S. 2 BGB die Inanspruchnahme aller dieser Personen als Gesamtschuldner, (1.) wenn jede Verhaltensweise für sich betrachtet alle weiteren Voraussetzungen für eine deliktische Haftbarkeit erfüllt (objektive Zurechnung; Rechtswidrigkeit; Schuld), also die Inanspruchnahme allein am fehlenden eines kausalen Dependenzverhältnisses scheitern würde, und (2.) die Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß die Rechtsgutsverletzung allein durch nicht zu einer Haftung führende Umstände verursacht worden ist. \3 Quentin
194
:hn.: Haftungsbegrundende Kausalität ohne erwiesene kausale Dependenz
Dies gilt unmittelbar für den Fall des wUrheberzweifels w, daneben aber auch analog für eine Konstellation nalternativ strukturierter Kausalität n. Darüber hinaus ist § 830 I. S. 2 BGB auch noch analog auf Fälle anwendbar, in denen zwar ein haftungsbegründender Kausalzusammenhang feststeht, aber im Bereich der "haftungsausfüllendenKausalität" eine "Urheberzweifels-Situation" oder aber ein Fall "alternativ strukturierter Kausalität" auftritt. Eine analoge Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB kommt auch für den in Betracht, daß sich eine "Urheberzweifelskonstellation" bzw. eine "alternativ strukturierte Kausalität" nur im Hinblick auf einzelne Schadenspartitionen ergibt (sog. Anteilszweifel).
Sechster Abschnitt Die Kausalitätsproblematik bei neuartigen Waldschäden und ihre deliktsrechtliche Bewältigung J. Die Kausalitätsproblematik Der Begriff des "neuartigen Waldschadens"l, wie auch sein emphatisierendes umgangssprachliches Synonym "Waldsterben"2, stehen für einen ganz besonders virulenten Fall sog. "Umweltschäden", deren deliktsrechtliche Aufarbeitung aufgrund der diesen Phänomenen wesenseigenen besonderen faktischen Komplexität, große Schwierigkeiten bereitet. 3 Nach dem gegenwärtigen Stand
I Vgl. Waldschäden und Luftverunreinigungen, Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, März 1983, StuttgartJMainz 1983 (im folgendenSondergutachten '83), Nr. 230.
Der Begriff des "Waldsterbens" erreichte im Jahre 1983 nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach den außergewöhnlichen Bekanntheitsgrad von 99%. Die Frage der Erhaltung der bedrohten Wälder war in dieser Zeit einer der zentralen Gegenstände der öffentlichen Diskussion. Vgl. dazu Martin Tampe-Oloff, Zur Komplexität als Hindernis problemorientierter Reaktion auf das Waldsterben, Diss. FreiburglBreisgau 1985, S. 70 ff. mit umfangreichem Datenund Umfragematerial. Einen Eindruck von der panikartigen Stimmung dieser Jahre vermitteln auch die Zitate der Aussagen von Forst-Verantwortlichen. Vgl. dazu Jochen Bölsche, Vor einem ökologischenHiroshima, in: ders., Das gelbe Gift, Todesursache: Saurer Regen, Hamburg 1984, S. 71 ff. 2
Zum Stand der naturwissenschaftlichen Forschung hinsichtlich der Wirkungszusammenhängesiehe Sondergutachten '83, Nr. 258 ff.; Pankrath, Deposition saurer und säurebildender Luftverunreinigungen, in: Wald- und Materialschäden durch "saure Niederschläge", Texte des Umweltbundesamtes, 28/82, Berlin 1983, Beitrag Nr. I, S. 5; Gregor, Auswirkungen saurer Niederschläge in Waldökosystemen, in: Wald und Materialschädendurch "saure Niederschläge", Beitrag Nr. 2, S. 17 ff.; ChristofBosch, Die sterbenden Wälder, München 1983, S. 57 ff.; Tampe-Oloff, S. 25 ff; Zeno Nöthig, Das Waldsterben, Aachen 1986, S. 113 ff.; Moosmayer, Waldschäden aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: Waldschäden als Rechtsproblem, 2. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht 1986, Düsseldorf 1987, S. 1/5 ff .. - Eine Darstellung der Kausalitätsproblematik bei "Umweltschäden" im allgemeinen und "Waldschäden" im besonderen aus juristischer Sicht, fmdet sich bei Wemer Schülli, Rechtsprobleme beim KausaIitätsnachweis von Strahlenschäden, in: Berichte der KemforschungsaniageJülich, Nr. 143, Jülich 1964, S. 92 ff.; Simitis, Haftungsprobleme deim Umweltschutz, VersR'72, 1087 / 1089 f.; Diederichsen, Zivilrechtliche Probleme des Umweltschutzes, in: Festschrift für Reimar Schmidt, hrsg. von Fritz 3
196
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
der Forschung ist es zwar möglich, einzelne Schadstoffe zumindest ihrer Art nach zu benennen, deren Vorhandensein in der Luft in einer bestimmten Konzentration bei Hinzutritt weiterer Umstände ein Absterben von Bäumen zur Folge haben kann. 4 Auch lassen sich die jeweiligen Emissionsquellen für diese Schadstoffe konkretisieren und deren Betreiber zumindest teilweise namhaft machen. Von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein scheint demgegenüber jedoch der Versuch, einzelne durchaus zurechenbare Emissionen eines solchen Schadstoffes als Kausalfaktor für das immissionsbedingte Absterben konkreter Bäume auszuweisen. Die absolute Mehrzahl der konkreten Waldschadensfälle stehen am Ende eines Immissionsszenarios, das sich im Wege einer post factum Analyse praktisch nicht in eine lineare Struktur bringen läßt. So repräsentiert ein konkreter Schadstoff in aller Regel nur eine Stimme innerhalb eines lang andauernden Konzertes von Immissionen verschiedenster Qualität und Quantität dessen Finale durch die letal wirkende Intoxikation der fraglichen Bäume markiert wird. Diese Stimme ist dabei, um im Bild zu bleiben, nicht nur unterschiedlich stark sondern auch noch wechselnd besetzt. Wenn etwa ein bestimmter Baum infolge einer mehrjährigen Immissionsbelastung unter anderem mit dem Schadstoff X abstirbt, so war die X-Komponente innerhalb dieses Immissionsszenarios nicht nur unterschiedlich intensiv, sondern auch das Produkt eines stets wechselnden Emittentenkollektivs. Bei dem Versuch der Rekonstruktion eines konkreten derartigen Immissionszenarios kristallisieren sich die Probleme um drei verschiedene Gesichts-
Reichert-Facilides et alt., Karisruhe 1976, S. 1/15 Cf.; Riidiger Lummert / Volker Thiem, Rechte des Bürgers zur Verhütung und zum Ersatz von Umweltschäden, in: Berichte des Umweltbundesamtes Nr. 3/80, Beriin 1980, S. 25 f.; Hans-Jörg Birk, Rechtsgrundlagenzum Schadensersatz und zur Entschädigung bei Immissionen, Schriftenreihe des Hauptverbandes der landwirtschaftlichen Buchstellen und Sachverständigen e.V., Heft 103, Bonn 1982, S. 16 f.; Walter Leisner, Waldsterben, Köln 1983, S. 3 Cf.; v. Usslar, Juristische Aspekte des Waldsterbens, NuR'83, 289 f. Scully, Proof of Causation in a Private Action for Acid Rain Damage, 36 Me. L. Rev., 117/ 118 Cf., 130 Cf. (1984). Vgl. dazu auch die auf S. 1 Fn. 1 Genannten. Interressant in diesem Zusammenhang auch Baxter, The SST: From Watts to Hariem in Two Hours, 21 Stan. L. Rev., 1, 38 Cf. (1968) zu den Kausalitätsproblemen bei Schäden durch Überschallflüge.
• Dieses gilt insbesondere für Schwefeldioxid und Stickoxide. Vgl. Sondergutachten'83, Nr. 308 Cf. und 315 Cf., sowie Nr. 389; ChristofBosch, S. 5; Waldschäden in der BundesrepublikDeutschland, Berichte der Landesanstalt für Immissionsschutz des Landes Nordrhein Westfahlen, Nr. 28 (1982), S. 106 f.; Scully, S. 119. Zur Verteilung von Schwefeldioxid und Stickoxiden in der Luft siehe Nöthig, S. 73 Cf. und 88 Cf.
I. Die Kausalitätsproblematik
197
punkte, die sich mehr oder weniger unscharf durch die Stichworte insuffiziente Relation, Urheberzweijel undjehlende Portionierbarkeit charakterisieren lassen.
Insuffiziente Relation meint in diesem Zusammenhang, daß es in aller Regel unmöglich ist, deterministische Aussagen darüber zu treffen, ob der Auswurf einer bestimmten Emissionsquelle tatsächlich seiner Art nach geeignet war, an einem bestimmten Waldstandort zu entsprechenden Schadstoffimmissionen und in der Folge zum Absterben der in Rede stehenden Bäume zu führen. Die Ursache hierfür liegt insbesondere darin, daß die jeweils von einer Vielzahl von Emittenten unterschiedlichster Provenienz ausgestoßenen Luftschadstoffe häufig über Hunderte von Kilometern hinweg in der Atmosphäre transportiert werden, ehe sie wieder auf die Erde niedergehen, so daß sich die Verbreitungsräume der jeweiligen Emmissionen vielfältig überlagern. 5 Welchen Weg ein an einem bestimmten Ort emmittiertes Schadstoffpartikel tatsächlich nimmt und welche Entfernung es dabei zurücklegt, ist das Resultat des Zusammenspieles unterschiedlichster im einzelnen nicht explorierbarer Faktoren, wie etwa der Temperatur, Stärke und Richtung des Windes, Luftfeuchtigkeit, etc. Darüber hinaus unterliegen die jeweiligen Schadstoffe auf ihrem Transportweg gerade auch aufgrund der Durchmischung mit anderen emittierten Substanzen nicht selten weiteren chemischen Umwandlungsprozessen, die auf ihre Toxizität unterschiedlichsten Einfluß haben können. So kann sich diese linear oder gar exponentiell erhöhen, aber auch vermindert oder ganz neutralisiert werden. 6 Diese Umwandlungsprozesse sind wiederum ihrerseits weder
Ein insoweit bedeutsamer Faktor liegt in der noch in den siebziger Jahren forciert betriebenen Errichtung sehr hoher Schlote. Dieses hatte einerseits zur Folge, daß die Immissionsbereicheextrem erweitert wurden und führte andererseits dazu, daß die jeweiligen Schadstoffpartikel zunächst nicht in räumlicher Nähe der Emissionsquelle, sondern erst nach längerem Transport ausfielen. Diese sog. "Hochschornsteinpolitik" hat einen nicht geringen Anteil an der Eutrophie synergistischer Prozesse, den vielfältigen Überlagerung von Verbreitungsräumen und den daraus resultierenden kaum überwindbaren Problemen bei der Rekonstruktion einzelner Immissionsschäden. Vgl. dazu nur Bosch, S. 57 f.; Bölsche, S. 75.
5
Vgl. Sondergutachten'83, Nr. 311,314,317; Nöthig, S. 76 ff. und 88 ff .. - In der Literatur wird zur Kennzeichnung dieser Phänomene häufig der Begriff des "Synergismus" verwandt. Ein Versuch, die möglichen Fälle synergistischer Prozesse systematisch darzustellen, findet sich bei Diederichsen, Zivilrechtliche Probleme des Umweltschutzes; vgl. dazu auch schon Bemhard Kleindienst, Der privatrechtliche Immissionsschutz nach § 906 BGB, in: Recht und Staat, Heft 298/299, Tübingen 1964, S. 64 ff.; Harry Westermann, Haftung für Anlagen der Energieversorgung: Immissionen, Veröffentlichungendes Instituts für Energiereicht an der Universität Köln, N r. 32/33, Köln 1973, S. 18, 35 f. 6
198
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtIiche Bewältigung
qualitativ noch quantitativ eindeutig bestimmbar, da auch sie von multiplen Faktoren abhängig sind, deren Präsenz stetig wechselt. Gleiches gilt im Ergebnis für den unmittelbaren Einwirkungsbereich. Auch hier haben vielfältige von Standort zu Standort wechselnde Faktoren einen nicht unerheblichen Einfluß auf die toxische Wirkung der niedergehenden Immissionen. So kann es der Fall sein, daß der Luftschadstoff X, der am Ort 01 in gleicher Konzentration vorliegt wie am Ort 02, bei 02 wachsende Tannen erheblich stärker lädiert als am Standort 01, etwa weil am Standort 02 bestimmte waldbauliche Fehler begangen wurden, die im Bereich 01 unterblieben sind. Jeder Schädigungsprozeß wird durch die naturbedingte wie künstlich erzeugte Eigentümlichkeitdes Standortes wesentlich mitbestimmt. 7 Die gesamte Situation wird zusätzlich noch dadurch verkompliziert, daß die in Betracht zu ziehenden Zeiträume sehr groß sind. Häufig werden immissionsbedingte Schadenslagen erst nach Jahren als solche erkannt, sodaß es durchaus denkbar ist, daß der ursächliche toxische Prozess bereits längere Zeit vor der Wahrnehmung seines Effectus abgeschlossen worden ist. 8 Daruberhinaus erstrecken sich auch die tatsächlich schädigungskausalen Immissionsphasen in vielen Fällen über mehrere Jahre, sodaß für eine auch nur annähernd vollständige Rekonstruktion des die Causa markierenden Immissionsszenarios teilweise mehr als ein Jahrzehnt in den Blick genommen werden muß. Insoweit fehlt es jedoch in der Praxis in aller Regel an einem entsprechenden Datenmaterial. Nicht zuletzt mangelt es bis heute an zureichenden und adäquaten Meßmethoden- bzw. einrichtungen. Angesichts der Tatsache, daß die jeweiligen Immissions- bzw. Depositionsszenarien eine durch Zeit und Ort wesentlich mitgeprägte Einzigartigkeit aufweisen, setzt deren umfassende Analyse praktisch für mehr oder weniger jeden Standort eine gesonderte Messung voraus, die zudem über lange Zeiträume erfolgen müßte, um zumindest einen ungefähren Aufschluß über die an diesem Ort vorhandene Belastung mit einem bestimmten Schadstoff zu erhalten. Zwar existieren inzwischen im
Als natürliche Standortfaktoren wären in diesem Zusammenhang insbesondere Trocken- und Kälteschäden, aber auch tierische Schädlinge und pilzliche Schadenserreger zu nennen. Vgl. dazu nur Sondergutachten'83, Nr. 267 ff., 363. Häufig diskutierte waldbauliche Faktoren sind falsche Standortwahl und Monokultur. Vgl. dazu Sondergutachten'83, Nr. 285 ff. und zusammenfassend Nr. 394; sowie auch Moosmayer, S. 11 f.
7
In diesem Zusammenhang ist in der Fachliteratur auch von sog. "latenten Schäden" die Rede. Vgl. Sondergutachten '83, Nr. 313,395.
8
I. Die Kausalitätsproblematik
199
großen und ganzen flächendeckend derartige Meßstationen, doch kann nicht von einer Kontrolldichte ausgegangen werden, die es gestatten würde, für jeden konkreten Standort das Immissionszenario auch nur annähernd exakt aufzuschlüsseln. 9 All das hat zur Folge, daß selbst dann, wenn der Ausstoß eines Schadstoffes, dessen toxische Wirkung als gesichert gelten darf, an einem bestimmten Ort über Jahre hin in gleichbleibender Quantität und Qualität erfolgt ist, bestenfalls eine statistisch fundierte Wahrscheinlichkeitsaussage darüber getroffen werden kann, ob Partikel aus dieser Emissionsquelle tatsächlich Bestandteil des Immissionsszenarios am Standort eines nunmehr abgestorbenen Baumes gewesen sind. Eine jeden Zweifel ausschließende Sicherheit gibt es in diesem Bereich nicht. lO Ist es schon, wie gesehen, äußerst problematisch, überhaupt eine, sei es auch nur probabilistische, Aussage darüber zu treffen, inwieweit Emissionen einer bestimmten Art zu konkreten stoffgleichen Immissionen an einem anderen Ort führen können, so muß es als schlechthin unmöglich angesehen werden, insoweit auch noch die jeweiligen Anteile mengenmäßig bestimmen zu wollen. Insbesondere die beschriebenen synergistischen Prozesse und multifaktorelle Determination konkreter Transportwege machen auch eine entsprechende Schätzung anband der Emissionsmengen unmöglich. Es ist daher ausgeschlossen, die Gesamtmenge der Immissionen eines bestimmten Schadstoffes an einem konkreten Standort entsprechend der Herkunft der einzelnen Partikel zu portionieren und entsprechende Verursachungsanteile zu ermitteln, um auf diesem Wege eine Grundlage für die Bildung von Haftungsquoten o. ä. zu gewinnenY Ein weiteres Elementarproblem liegt in der Tatsache, daß selbst dann, wenn es gelingt, einzelne Emittenten als Urheber, wenn auch nicht näher bestimmbarer Partitionen der Gesamtmenge eines bestimmten Schadstoffes innerhalb eines konkreten Immissionsszenarios auszumachen, in aller Regel hieraus noch nicht der Schluß gezogen werden kann, daß die diesem Emittenten zuzuordnenden Immissionen auch tatsächlich einen Kausalfaktor für das Absterben der in Betracht kommenden Bäume verkörpern.
• Vgl. dazu auch Lummertl17ziem. S. 186 f. 10 Scully. S. 131. 11
Vgl. dazu auch Lummertl17ziem. S. 185 f.; Scully. S. 131 f.
200
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
So ist es häufig der Fall, daß nur die Konsumtion geringer Mengen des tatsächlich in der Luft enthaltenen Schadstoffes in Verbindung mit einem Komplex weiterer präsenter Faktoren bereits geeignet ist, letale Wirkungen hervorzurufen. Das die konkrete "Todesursache " markierende Schadstoffensemble enthält nur ganz wenige Partikel der in der umgebenden Luft tatsächlich vorhandenen Schadstoffmenge. Da eine genaue Rekonstruktion dieses für den konkreten Exitus verantwortlichen Kollektivs ausscheidet, kann eine Urheberschaft eines Emittenten, der zumindest einen Beitrag zur Belastung der umgebenden Luft geleistet hat, nur dann bejaht werden, wenn sich der Schluß ziehen läßt, daß die in concreto kausale Schadstoffpartition einen repräsentativen Querschnitt des gesamten Immissionsszenarios darstellt und damit entsprechend auch einzelne Partikel aus jedem Beitrag enthält. Hierfür fehlt es jedoch in der absoluten Mehrzahl der Fälle an einer tauglichen Grundlage. Häufig ist der Anteil einzelner Emittenten an der Gesamtimmissionsmenge nur sehr klein. Es ist zudem oft davon auszugehen, daß nur sehr unregelmäßig Schadstoffpartikel aus einer bestimmten Quelle tatsächlich den fraglichen Standort erreichen. Die oft lange Latenz der fraglichen Schäden läßt eine Fixierung des Zeitraumes, in dem die sich später letal auswirkende Schadstoffkonsumtion durch die fraglichen Bäume stattgefunden hat, kaum zu, sodaß nicht selten ausgeschlossen werden kann, daß die einzelnen Emittenten mit zuzuschreibende Immissionen erst zu einem Zeitpunkt einsetzten, als der zu der tödlichen Intoxikation führende Konsunitionsvorgang bereits abgeschlossen war . Es liegt daher im Ergebnis eine Konstellation vor, bei der aufgrund einer unzureichenden Kausalanalyse zwar von einzelnen zurechenbaren Verhaltensweisen (Betrieb von Emissionsquellen) ausgesagt werden kann, daß diese ihrer Art nach geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes eines derartigen Effectus (Tod eines Baumes dieser Beschaffenheit an einem solchen Standort) wenn auch nur minimal zu erhöhen, gleichwohl aber nicht der Schluß gezogen werden kann, daß zwischen dem konkreten individuellen Verhalten und dem Eintritt des Effectus eine kausales Dependenzverhältnis besteht. Es liegt somit eine Konstellation vor, die oben durch das Stichwort des Urheberzweijels charakterisiert worden ist. Da in aller Regel eine Vielzahl von Emittenten alternativ als Täter in Betracht kommt, soll in der Folge hier von multipler Alternativtäterschaft die Rede sein.
I. Die Kausalitätsproblematik
201
Ein weiteres, für sog. "Masseschäden"12 typisches Problem tritt bei den WaldschadensfalIen in der Regel nicht auf, das Problem der Alternativopferschaft. Alternativopferschaftskonstellationen zeichnen sich dadurch aus, daß aufgrund des vorhandenen Informationsmaterials nicht konkretisiert werden kann, welche Schäden die Folge deliktischer Verhaltensweisen sind und welche nicht. Sicher ist lediglich, daß ein bestimmter Teil der aufgetretenen Schadensfalle durch deliktische Handlungen herbeigeführt wurde und damit prinzipiel ersatzfähig ist. Unabweisbar ist aber auch, daß der andere Teil dieser Schadensfalle keine Ursachen hat, die dem Grunde nach geeignet wären, dem Opfer einen deliktischen Schadensersatzanspruch zu verschaffen. Derartige Alternativopferschaftskonstellationen sind bei WaldschadensfalIen wohl nur in absoluten AusnahmefalIen anzutreffen. 13 Nach heutigem Erkenntnisstand spielen zwar von den jeweiligen Opfern selbst zu verantwortende Faktoren (falsche Standortwahl, etc.), aber auch Zufallsantecedentien (Kälteschäden, Schädlingsbefall), deren Folgen die jeweiligen Eigentümer getreu dem Grundsatz des "casum sentit dominus" gleichfalls zu tragen hätten, in Waldschadensszenarien regelmäßig auch eine Rolle, doch dürfte es kaum Konstellationen geben, in denen derartige Faktoren allein als mögliche Causa neben Sachverhaltsaltemativen mit Emissionscausae in Betracht zu ziehen sind. 14
12 Als "Masseschäden " sollen hier, in Anlehnung an die US-amerikanische Terminologie, in der von sog. "Mass exposure accidents" die Rede ist, Fallgruppen bezeichnet werden, bei denen Konstellationenmultipler Alternativtäterschaftund multipler Alternativopferschaftzusammentreffen. Vgl. dazu eingehend mit vielen Beispielen Rosenberg, The Causal Connection in Mass Exposure Cases: A "Public Law" Vision of the Tort System, Harvard Law Review, Vol. 97 (1984), S. 851, 853 ff.; vgl. dazu auch Bodewig, Probleme alternativer Kausalität bei Masseschäden, AcP 185 (1985), S. 506,508 ff. 13. Da das zumindest partielle Vorliegen derartiger Konstellationen nicht vollständig ausgeschlossen werden kann, sollen diese Fälle gleichwohl als quasi Sonderproblem diskutiert werden. Siehe dazu unten S. 268 ff.
14 Vgl. dazu Sondergutachten '83, Nr. 269 (bzgl. Trockenschäden), 273 (bzgl. Kälteschäden), 278 (bzgl. tierischen Schädlingen), 281 (bzgl. pilzlichen Schaderregem), 293 (bzgl. waldbaulichen Faktoren), sowie die zusammenfassende Beurteilung durch den Rat in den Nr. 295 ff. Ebenso Gmehling, S. 230.
202
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
11. Bisherige Lösungsansätze Die herrschende Meinung in der Literatur ist von der Ansicht geprägt, daß es auf der Grundlage des gegenwärtigen Erkenntnisstandes nicht möglich ist, für einen konkreten "neuartigen Waldschaden" einzelne Schadstoffemittenten zumindest de lege lata deliktsrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Ein Haupthindernis sieht man dabei in der oben beschriebenen komplexen kausalen Geschichte einzelner konkreter Waldschadensfälle. ls Den dabei angestellten Betrachtungen liegt in aller Regel ein deterministisches Kausalitätsverständnis zugrunde. Da über die Wirkungswege einzelner Schadstoffemmissionen, wie gesehen, nur bestenfalls probabilistische Aussagen getroffen werden können, ist dieses Ergebnis folgerichtig. Ansätze für eine de lege lata Bewältigung dieser Aporie werden zumeist im Bereich des Beweisrechtes gesucht. 16 Eine überzeugende Lösung wurde jedoch bis dato nicht gefunden.
1. Reduktion des Beweismaßes a) Generelle Beweismaßreduktion Ohne die hier in Rede stehenden Waldschadensfälle auch nur entfernt im Blick zu haben, ist schon mehrfach in der Vergangenheit einer Reduktion des Beweismaßes das Wort geredet worden. Favorit bei den Kritikern der herrschenden Meinung war und ist dabei ein Konzept, wonach der Beweis der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung schon dann als geführt gelten soll, wenn die Wahrscheinlichkeit des tatsächlichen Vorliegens einer entsprechenden
IS Vgl. LummertfIhiem, S. 139 ff., 180 ff.; Marburger/H. Herrmann, Die Verteilung der Darlegungs- und P.eweislast für Umweltschäden, IuS'86, 354, 357 f.; Medicus, Zivilrecht und Umweltschutz, IZ'86, 778, 781 f.; Diederichsen, Referat in der Abteilung Umweltrecht des 56. Deutschen Iuristentages, München 1986, L 48, 79 ff.; ders.lScholz, Kausalitäts- und Beweisprobleme im zivilrechtlichen Umweltschutz, WiVerw'84, 23, 28 ff.; Hager, Umweltschäden - ein Prüfstein für die Wandlungs-und Leistungsfähigkeit des Deliktsrechtes, NIW'86, 1961, 1966 f.; Gottwald, Kausalität und Zurechnung, S. 21 ff.; StejJen, Verschuldenshaftungund Gefährdungshaftung für Umweltschäden, NIW'90, 1817, 1820 f. Siehe in diesem Zusammenhang auch Strand, The Inapplicability of Traditional Tort Analysis to Environmental Risks: The Example of Toxic Waste Pollution Victim Compensation, 35 Stan. L. Rev., 575 ff., insbesondere S. 588 ff. (1983).
16 Vgl. dazu Delgado, Beyond SindeIl: Relaxations of Cause-in-Fact Rules for Indeterminate Plaintiffs, 70 Cal. L. Rev., 881, 896 f. (1982).
11. Bisherige Lösungsansätze
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Sachlage größer ist, als diejenige ihres Nichtvorliegens. 11 Kann folglich der Kläger vortragen und gegebenenfalls beweisen, daß zu mehr als 50 % davon auszugehen ist, daß ein dem Beklagten zurechenbares Verhalten in einer kausalen Relation zu der erlittenen Rechtsgutsverletzung steht, so hätte das Gericht danach bei seiner Entscheidung von dem Vorliegen eines entsprechenden haftungsbegrundenden Kausalzusammenhanges auszugehen. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Ansätze im Detail einzugehen. 18 Den Anspruch einer de lege lata Gültigkeit können sie in jedem Falle nicht erheben. 19 Das deutsche Zivilprozeßrecht geht prinzipiell davon aus, daß eine Tatsachenbehauptung dann und nur dann als wahr gelten darf, wenn der Richter zu der Überzeugung gelangt ist, daß diese Aussage die wahre Sachlage richtig wiedergibt. Das Gesetz gibt dabei dem Gericht keine konkreten Beweismaßbe-
11 So insbesondere Bemhard Maassen, Beweisprobleme im Schadensersatzprozeß,Diss. Bonn 1974, S. 54 ff. Vgl. dazu auch Ekelöf, Beweiswürdigung, Beweislast und Beweis des ersten Anscheins, ZZP, Band 75 (1962), S. 289 ff.; Kegel, S. 333 ff. Für eine Beweismaßreduktionde lege ferenda bei Umwelthaftungsf"allen auch Brüggerneyer, S. 221. Dieses Konzept frodet sein Vorbild insbesondere in der im anglo-amerikanischenZivilprozeßrechtgültigen sog. "prepondarance-of-theevidence-rule" , deren genauer Inhalt allerdings umstritten ist. Einige Gerichte nehmen an, daß jedes bloße Überwiegen bereits ausreichend ist, während andere es daneben weiterhin für erforderlich halten, daß die überwiegende Wahrscheinlichkeit auch ein "faires· oder "angemessenes" Maß erreicht. Vgl. dazu Rosenberg, The Causal Connection in Mass Exposure Cases: a "Public Law" Vision of the Tort System, 97 Harv. L. Rev., 851, 857 (1984); Ball, The Moment of Truth: Probability Theory and Standards of Proof, 14 Vand. L. Rev., 807, 808 (1961); Cross on Evidence, 6th Edition, London 1985, S. 143 f. - Eine Theorie der Beweislastverteilung nach der abstrakten Wahrscheinlichkeit vertritt Gerhard Reinecke, Die Beweislastverteilung als rechtspolitische Regelungsaufgabe, Berlin 1976, S. 39 ff.; ders. , Die gerichtliche Feststellung des Inhaltes mündlich geschlossener Verträge, IZ'77, 159, 162. So will Reinecke in vielen Fällen gesetzlicher Beweislastverteilung (§§ 118, 130 I. S. 2, 832 I. S. 2, 8361. S. 2 BGB) ein Prinzip erkannt haben, wonach stets der weniger wahrscheinliche Vorgang zu beweisen ist. Krit. dazu Hanns Prütting, Aktuelle Probleme der Beweislast, München 1983, S. 199 ff.
.. Eine wahrscheinlichkeitstheoretisch fundierte Theorie des "proof on the preponderance of evidence" frodet sich bei L. Jonathan Cohen, The Probable and the Provable, Oxford 1977, § 69 (S. 252 ff.). Dieses akzeptiert grundsätzlich auch etwa Maassen, S. 54 ff., der jedoch dem Gesetzgeber einen "Erkenntnisfehler" unterstellt, den es im Wege einer richterlichen Rechtsfortbildung praeter legern zu korrigieren gelte. - Eine Reduktion des Beweismaßes auf eine "überwiegende Wahrscheinlichkeit" wird im Schrifttum allgemein abgelehnt. Vgl. Bender, Das Beweismaß, in: Festschrift für Baur, S. 247,257 ff.; Musielak, Das Övervictsprinzip - Zum Verhältnis von richterlicher Überzeugung und Wahrscheinlichkeit, in: Festschrift für Kegel, hrsg. von Lüderitz und Schröder, FrankfurtlMain 1977, S. 451 ff.; Prütting, S. 194 f.; Brüggemeier, Umwelthaftungsrecht, KritJ'89, 209, 218. 19
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
stimmungen vor, sondern stellt den Schluß auf den "wahren Sachverhalt" in dessen pflichtgemäßes Ermessen. 20 b) Partielle Beweismaßreduktion nach GÜllter Hager Einen Versuch, der Kausalitätsproblematik bei Umweltschadensfällen durch eine zumindest partielle Reduktion des Beweismaßes de lege lata Herr zu werden, hat GÜllter Hager unternommen. 21 Nach Auffassung Hagers sollte ein potentielles Opfer immissionsbedingter Schäden, das von einem bestimmten Schadstoffemittenten Schadensersatz verlangt, den Nachweis des Bestehens eines haftungsbegründendenKausalzusammenhanges in zwei Stufen führen müssen. So soll der Kläger auf der ersten Stufe gehalten sein, vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, daß sein Eigentum (oder ein anderes Rechtsgut) überhaupt Schadstoffimmissionen ausgesetzt war, die die erlittene Verletzung zumindest mitverursacht haben. Ein diesbezüglich erforderlicher Beweis soll, in Abweichung von § 286 ZPO, dabei jedoch schon dann als geführt gelten, wenn für das Vorliegen einer derartigen kausalen Relation eine überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht. Ist es dem Kläger gelungen auf dieser "ersten Stufe" das Gericht davon zu überzeugen, überhaupt ein Opfer toxischer oder auf andere Weise schädlicher Immissionen geworden zu sein, steht er nun vor der "zweiten Stufe" auf seinem Weg zum Nachweis des Bestehens eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges. Er muß nun dartun, daß zwischen den seine Rechtsgüter beeinträchtigenden Immissionen und den dem Beklagten zurechenbaren Emissionen auch tatsächlich
20 In der Rechtsprechung der Revisionsgerichte wird grundsätzlich angenommen, daß das Tatsachengericht nur dann eine bestimmte Tatsachenbehauptung in verantwortbarer Weise für "wahr" halten kann, wenn für das Vorliegen einer entsprechenden Sachlage eine sehr hohe objektive Wahrscheinlichkeit spricht. VgI. dazu nur die grundlegende Entscheidung des RG mit Urteil vom 14.01.1885, RGZ 15, 338, 339.
Hager, Umweltschäden - ein Prüfstein für die Wandlungs- und Leistungsfahigkeit des Deliktsrechtes, NIW'86, 1961, 1967 f.; kritische Stellungnahmen fmden sich bei Diederichsen, Referat, L 89 f. und Gmehling, S. 206 f.
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11. Bisherige Lösungsansätze
205
eine, wie Hager es ausdrückt, "Verknüpfung" bestehf2 • Für den Beweis dieser Behauptung gilt dann wieder der durch § 286 ZPO vorgegebene Maßstab des Vollbeweises . Die für den auf erster Stufe angesiedelten Darlegungskomplex vorgeschlagene Beweismaßreduktion begründet Hager zunächst mit dem Argument, daß die Beweisnot des Geschädigten hier nicht eine zufällige, sondern vielmehr eine, aufgrund des aktuellen nur unzureichenden Wissensstandes, prinzipiell unvermeidliche sei. Zum anderen sei aufgrund der Objektivierung des Haftpflichtrechtes und die Expansion des Haftpflichtversicherungswesens eine grundsätzliche Annäherung an das Sozialrecht festzustellen. So gehe es auch im Haftpflichtrecht zumeist nur noch um die Zuordnung von Kosten zu bestimmten versicherten Risikobereichen und damit um eine der Regelungssituation des Sozialrechtes praktisch wesensgleiche Konstellation. 23 Ob auf der Grundlage sozialrechtlicher Vorschriften zu haften ist, bestimmt sich jedoch nach allgemeiner Auffassung im wesentlichen danach, ob sich der in Rede stehende Schaden als die Realisation eines bestimmten versicherten Risikobereiches präsentiert und deshalb durch den hierfür Verantwortlichen zu ersetzen ist. Dementsprechend reicht es im Sozialrecht aus, wenn sich etwa ein Unfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Effectus der versicherten Tätigkeit beschreiben läßt. 24 In der von ihm vorgeschlagenen Beweismaßreduktion, die insoweit auf eine Anpassung an den sozialrechtlichen Kausalitätsbegriff hinausläuft, sieht Hager daher nur eine sachlogische Konsequenz des von ihm konstatierten Konvergenzverhältnisses zwischen deliktischem Haftungsrecht und Sozialrecht.
Leider wählt Hager mit dem Wort "Verknüpfung" einen keiner exakten Definition zugänglichen Begriff. Natürlich meint Hager hier eine kausale Verknüpfung, doch bleibt offen, welche kausalen Paradigmen er für angemessen erachtet. Da es um in der Vergangenheit belegene konkrete Entitätensequenzen geht (Emissionen des Beklagten - Immissionen in der Rechtsgüterwelt des Klägers) und Hager offensichtlich auf das herrschende Kausalitätsverständnis Bezug nimmt jedenfalls läßt er keine abweichende Ansicht erkennen -, ist wohl davon auszugehen, daß der Kläger hier das Vorhandensein eines kausalen Dependenzverhältnisses darlegen muß und ein deterministisches Kausalitätsverständnis zugrunde zu legen ist. Dies bedeutet im Ergebnis, daß es nunmehr Sache des Klägers ist, vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, daß die dem Beklagten zurechenbarenEmissionen eine relativ hinreichende und post factum notwendige Bedingung für das Entstehen der seine Rechtsgüter beeinträchtigenden Immissionen waren. 22
23 24
Hager, S. 1968. Vgl. dazu nur Bemhard Gmehling, S. 205, Pn. 133 mwN.
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
Später zieht Hager dann auch noch Vergleiche zum Kausalitätsbegriff des Economic Approach und zwar explizit zu Calabresis Konzept des "causal link" .2S Quasi im Gegenzug für diese Lockerung des Kausalitätserfordemisses will Hager dann allerdings nur eine Proportionalhaftung zulassen. 26 Die von Hager zur Begründung der vorgeschlagenen Beweismaßreduktion vorgebrachten Argumente überzeugen nicht. Die Tatsache allein, daß die für Waldschadensfälle typische Beweisnot angesichts des nur unzureichenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes und aufgrund der faktischen Komplexität der jeweiligen Geschehnisse praktisch unausweichlich ist, ergibt noch kein Argument dafür, warum gerade deshalb der potentielle Schädiger abweichend von der Grundregel benachteiligt und der potentiell Geschädigte bevorteiligt werden sollte. Ebenfalls unbehelflich ist auch die Bezugnahme auf das im Sozialrecht gültige Beweismaß der hinreichenden Wahrscheinlichkeif7 • Dieses zumindest für den Kausalitätsbeweis im Sozialrecht allgemeingültige Beweißmaß bezieht seine Rechtfertigung gerade nicht aus der Tatsache, daß es im Sozialrecht letztlich um die Frage geht, ob ein bestimmter Schadensfall dem versicherten Risikobereich zuzuordnen ist2s, sondern ist Ausfluß des das Sozialrecht tragenden Opferschutzgedankens. Die hinter der Sozialversicherung stehende Solidargemeinschaft tritt dem Versicherten - anders als in der Ausgangssituation des Zivilrechtes - nicht als gleichgeordnetes Rechtssubjekt gegenüber, sondern will diesen gegen bestimmte Risiken sozial absichern. Würde hier ein Vollbeweis,
Hager, Das neue Umwelthaftungsgesetz, NJW'91 , 134, 138. - Zum Kausalitätsverständnis des Economic Approach siehe oben S. 191 ff. mit vielen weiteren Nachweisen.
15
1. Hager, Umweltschäden, S. 1968 ff.
Vgl. dazu nur BSGE 58, 76, 78 f.; SozR 2200, § 548 Nr. 38; SozR 2200, § 550, Nr. 29; eingehend dazu auch Amold Erlenkämper, Sozialrecht, 2. überarbeitete Auflage, Köln 1988, S. 96 ff. mit einer Stellungnahme auch zum Epidemiologischen Kausalitätsnachweis und dem NewcomerProblem. Siehe insoweit auch § 1 m. S. 1 BVG, wo das Beweismaß der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausdrücklich festgeschrieben wird.
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18 Grundsätzlich knüpft auch das Sozialrecht an den erkenntnistheoretischen Kausalitätsbegriff an und verlangt folgerichtig neben einer deterministischen kausalen Relation auch ein kausales Dependenzverhältnisfiir eine entsprechendeHaftungsbegründung. Der Gedanke der Risikobereichszuordnung fmdet seinen Ausdruck erst in der die spezifisch sozialrechtliche normative Zurechnung tragenden sog. Theorie der wesentlichen Bedingung. Vgl. dazu nur BSGE 1,72,76; 12,242,245; eingehenddazuErlenkämper, S. 72 ff.; Helmar Bley, Sozialrecht, 6. Auflage, FrankfurtJM. 1988, S. 212 ff.; Bertram Schulin, Sozialrecht, 3. Auflage, Düsseldorf 1989, Rdn. 706.
ß. Bisherige Lösungsansätze
207
etwa im Sinne von § 286 ZPO, verlangt, so könnte das Sozialrecht in vielen Fällen die ihm vom Gesetzgeber zugedachte Versorgungs- und Absicherungsfunktion gerade nicht erfüllen. 29 Folgt man der These Hagers, wonach das deliktische Haftungsrecht aufgrund der fortschreitenden Objektivierung des Haftungsmaßstabes und der zunehmenden Expansion des Haftpflichtversicherungswesens insoweit in ein Konvergenzverhältnis zum Sozialrecht getreten ist, als es auch im Deliktsrecht primär um Risikobereichszuordnung und nicht mehr um Zuschreibung individueller Verantwortlichkeiten geht, so vermag dieser Befund - wenn überhaupt - nur einer Übernahme der sozialrechtlichen Theorie von der wesentlichen Bedingung, nicht aber dem vorgeschlagenen Transfer des sozialrechtlichen Beweismaßes den Weg zu bereiten. Aber auch ganz ungeachtet dieser" Schräglage " in der Argumentation Hagers fehlt es ihm für seine Thesen an einer sachlichen Begründung. Das Vorhandensein eines Konvergenzverhältnisses zwischen zwei dogmatisch vollkommen verschiedenen Normbereichen, wie dem des Sozialrechtes und dem des Deliktsrechtes, in der sozialen Wirklichkeit, ist sicherlich ein Grund, über neue Konzepte de lege ferenda nachzudenken, nicht aber eine Rechtfertigung für eine Veränderung in der Dogmatik de lege lata. Auch die Tatsache, daß eine bestimmte Sachverhaltskonstellation mit den gültigen deliktsrechtlichen Paradigmen nicht, wohl aber mit Instrumenten des Sozialrechtes, sachgerecht erfaßt werden kann, gibt in keiner Weise eine tragfähige dogmatische Begründung für einen entsprechenden "Begriffstransfer" , sondern bestenfalls eine Veranlassung über dessen Begründbarkeit nachzudenken. Soweit Hager auf den von Calabresi stammenden Begriff des "causal link" Bezug nehmen will, bleibt seine Intention unklar. Vertritt er doch im Grundsatz eine Beweismaßreduktion, also eine Veränderung der Regeln für das "probare"30, liefert er hier eine Begründung für eine Modifikation des Kausalitätsbe-
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Vgl. dazu nur Bley, S. 216; Erlenkämper, S. 69 f., 96 ff.; Schulin, Rdn. 344.
Nicht deutlich wird in diesem Zusammenhang auch, welchem Beweismaßkonzept Hager tatsächlich den Vorzug gibt. Seine Ausführungen ( S. 1968) zu diesem Punkt sind widersplÜchlich. Einerseits sucht er Bezugspunkte bei dem sog. "Überwiegensprinzip", also der These, daß der Beweis einer Tatsachenbehauptung schon dann als geführt gilt, wenn für ihre Richtigkeit mehr spricht als gegen sie ("prepondarance of the evidence" , siehe oben S. 236 mit Fn. 35), andererseits beruft er sich jedoch im nächsten satz auf den Gedanken des "reasonable likelihood" , also diejenige Auffassung, die für einen durchschlagenden Beweis einen wie auch immer zu bestimmenden Grad
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
griffes als solchen, also des "probandums ". Der sich hinter dem Konzept des "causallink" verbergende probabilistische Kausalitätsbegriffunter Verzicht auf den Aspekt der kausalen Dependenz, beruht auf einen dogmatischen Ansatz (Economic Approach), der aufgrund abweichender Vorgaben ein eigenes anderes Kausalitätsverständnis entwickelt hat, das mit dem geltenden Deliktsrecht aus den bereits erörterten Gründen unvereinbar istY Was Hager, so scheint es jedenfalls, nicht nur bei der Bezugnahme auf Calabresis "causal link", sondern im Grunde bei seiner ganzen Argumentation mit dem Sozialrecht und dem Zurückgehen auf eine Proportionalhaftung im Auge hat, aber nicht expressis verbis sagt, ist letztlich die Vornahme eines Paradigmenwechsels bei UmweltschadensfaIlen. Umweltbeeinträchtigungen durch Immissionen sollen den jeweils hierfür verantwortlichen Emittenten als zu dem von ihnen zu vertretenden Risikobereich gehörig zugerechnet werden. Immissionsschäden sind danach konsequenterweise immer schon dann von bestimmten Emittenten zu tragen, wenn sie sich bei wertender Betrachtung als Realisation des durch die jeweiligen Emissionen begründeten Risikos darstellen, ohne daß es noch auf den Nachweis einer konkreten kausalen Dependenzrelation ankäme. Nur unter diesem Blickwinkel machen die Bezugnahmen auf das Sozialrecht und den Zurechnungsansatz des Economic Approach, aber auch das Bestehen auf eine Proportionalhaftung Sinn. Versteht man Hagers Konzept auf diese Weise, und ich meine man kann ihn so verstehen, dann geht es ihm letztlich um sehr viel mehr als nur eine partielle Beweismaßreduktion. Die Herabsetzung der Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung wird zum Mittel, um herkömmliche deliktische Verursachungshaftung durch ein Einstehenmüssen für ein zu verantwortendes Risiko zu ersetzen, wobei Hager dann jedoch auf halbem Wege stehen bleibt, wenn er die von ihm vorgeschlagene Beweismaßreduktion zwar auf die Sequenz: Immission -> Verletzung nicht aber auch auf die Sequenz: Emission - > Immission erstreckt sehen will,l2 Es läge im Grunde in der Konsequenz der Hagersehen
"verantwortbarer Wahrscheinlichkeit" für erforderlich hält. Vgl. dazu auch oben Fußnote 10 mit den jeweiligen Nachweisen. Siehe dazu oben S. 129 ff. Hagers Begründung jedenfalls läßt sich nichts dafür entnehmen, warum nur dieser eine Aspekt des haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges einer "Beweismaßreduktion " zugänglich sein sollte. Darüberhinaus erscheint diese Beschränkung auch nicht besonders praxisnah. Wie oben erläutert (Stichwort: "insuffiziente Relation"), stehen insbesondere Waldbauern, die Ersatz für 31
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ß. Bisherige Lösungsansätze
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Argumentation, den Kausalitätsbegriff als solchen zum Ansatzpunkt für Modifikationen zu wählen und dann offen auf das Erfordernis kausaler Dependenz nicht nur zwischen Immissionen und Verletzungseintritt, sondern insgesamt, also zwischen den Emissionen des Beklagten und der erlittenen Rechtsgutsverletzung ganz zu verzichten und stattdessen eine rein prospektivische Betrachtung genügen zu lassen, die allein danach fragt, ob der Eintritt von Verletzungen, wie sie der Kläger erlitten hat, durch Emissionen, wie sie der Beklagte zu vertreten hat, wahrscheinlicher gemacht worden ist und aufgrunddessen wertend als eine Realisation des mit derartigen Emissionen verbundenen Risikos verstanden werden kann. Daß ein derartiges Konzept mit dem geltenden Deliktsrecht und dem ihm archetypisch zugrundeliegenden Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit, sowie auch dem Verschuldensprinzip, unvereinbar ist, wurde bereits dargelegt. 33
2. Umkehr der Beweislasr4 a) Bei Überschreitung von Immissionsrichtwerten In einem Urteil aus dem Jahre 197735 hat sich der BGH eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, welche Bedeutung der Überschreitung von Immissionsrichtwerten beim Nachweis eines haftungsbegründendenKausalzusammenhanges in einem Haftungsprozeß zukommen kann. 36
erlittene Einbußen an ihren Bäumen verlangen, gerade bei dem Nachweis, daß die Emissionen eines bestimmten Emittenten zum relevanten Immissionsszenario beigetragen haben, vor den eigentlichen Problemen. Für diesen Aspekt der kausalen Relation will es jedoch Hager bei einem Vollbeweis nach § 286 ZPO belassen. Vgl. dazu die kritischen Ausführungen zum Kausalitätsverständnis des Economic Approach, oben S. 132 ff. mit vielen weiteren Nachweisen, sowie die Erörterungen zum Verschuldensprlnzip und zum Gedanken der "ausgleichenden Gerechtigkeit" als Grundmodell deliktischer Haftung, oben auf den S. 102 ff., ebenfalls mit vielen weiteren Nachweisen.
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Zum Problem des Begriffes der Beweislastumkehr siehe Zöller/-Stephan, ZPO, vor § 284, Rdn. 21. Vgl. dazu auch BGH, Urteil vom 8.12.71, NJW'72, 1131.
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Vgl. BGH, Urteil vom 16.12.1977, NJW'78, 419.
Dem sog. Kupolofen-Urteil des BGH vom 18.09.1984, NJW'85, 47 kommt insoweit keine Bedeutung zu. Dieser Entscheidung lag ein Sachverhalt zugrunde, bei dem an dem Bestand einer kausalen Relation zwischen den dem Beklagten zurechenbaren Emissionen und der Rechtsgutsverletzung des Klägers kein Zweifel möglich war. Bei der Erörterung der PfIichtwidrigkeit, gelangte der Senat zu der Ansicht, daß es, in Abweichung von der grundsätzlichen Beweislastvertei-
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
Der Kläger, Betreiber einer Baumschule, hatte infolge einer Erkrankung vieler seiner Bäume erhebliche Ertragseinbußen erlitten. In unmittelbarer Nähe zu den Liegenschaften des Klägers betrieb der Beklagte eine Ziegelei, von der aus fluorhaltige Gase in die Luft emittiert wurden. Der Kläger behauptete nun, daß die Verluste in seinem Baumbestand auf immissionsbedingte Fluorintoxikationen zurückzuführen seien und, daß die von dem Beklagten zu verantwortenden Emissionen dieses für ihn schädliche Im.missionsszenario ausgelöst hätten. Immissionsmessungen ergaben, daß die Bäume des Klägers tatsächlich Fluorkonzentrationen in der Luft ausgesetzt waren, die die durch die TA-Luft definierten Immissionsgrenzwerte für diese Substanz erheblich überschritten. Der BGH stellte nun fest, daß die Tatsache der Überschreitung von Immissionsrichtwerten lediglich als ein Indiz dafür gewertet werden könne, daß die am Immissionsmeßpunkt aufgetretenen Schäden tatsächlich ein Effectus dieser Immissionslage sind. 37 Die Bedeutung der Beweistatsache "Überschreitung von Immissionsrichtwerten " wird damit in zweierlei Hinsicht konkretisiert. Zum einen beschränkt sich, nach Ansicht des BGH, ihre Tragfähigkeit als Anknüpfungstatsache für weitere Schlußfolgerungen allein auf die Verifikation der Behauptung, daß die streitgegenständlichen Schäden tatsächlich eine Folge der fraglichen Immissionen sind. Das bedeutet im Umkehrschluß: Immissionsricht-
lung, nunmehr Sache des EmittentenlBeklagten sei, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, daß das ihm zurechenbare Verhalten nicht als pflichtwidrig qualifiziert werden könne. Tragendes Argument für diese Entscheidung war, neben einer Berufung auf die Beweislastverteilung bei § 906 11. S. 1 BGB, die Erwägung, daß der Emittent aufgrund der vorhandenen Sachnähe sehr viel eher in der Lage sei, den Nachweis zu führen, daß zu keiner Zeit Emissionsrichtwerte überschritten worden sind. Die Situation von Betreibem emittierender Anlagen ist, nach Ansicht des BGH, deIjenigen eines Produzenten hinsichtlich seines Produktes vergleichbar. Auch hier ist anerkannt, daß einem Produzenten, dessen Produkt einen Schaden verursacht hat, der Nachweis obliegt, daß ihm insoweit kein Fehler unterlaufen ist ( S. 49). -Zu weiteren Aspekten dieser Entscheidung vgl. Gottwald, Kausalität und Zurechnung, S. 9; Diederichsen, Referat, L 83; Marburger/-H. Herrmann aaO.; Medicus, S. 784 f.; Baumgärtel, Urteilsanmerkung, IZ'84, 1109 f., sowie neuerdings J. Hager, Der Kupolofenfall, JURA'91, 303 ff. - Erstmals in der Rechtsprechung wurde eine derartige Beweislastumkehr im Anschluß an die Kupolofen-Entscheidung des BGH vom OLG Hamm, Urteil vom 13.07.87, NJW'88, 1031, 1032, allerdings nur in Rahmen einer Hilfsbegründung, bejaht. BGH, S. 420. - Folgerichtig kontraindizieren Richtwerteunterschreitungennach Auffassung des BGH die Annahme, daß entstandene Schäden auf immissionsbedingte Intoxikationen zurückführbar sind. Es bleibt nun dem Kläger überlassen, durch Beischaffung weiteren Beweismaterials dem gericht gleichwohl die Überzeugung zu vermitteln, daß seine Schäden der Effectus des Immissionsszenarions sind. 37
11. Bisherige Lösungsansätze
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werteüberschreitungen sind ohne jede Aussagekraft für die Beantwortung der Frage, auf welche Emissionen dieses Immissionsszenario tatsächlich zurückzuführen ist. Der Nachweis einer Immissionsrichwerteüberschreitung vermag einem Kläger daher prinzipiell nur beim Beweis der Behauptung, ein Opfer immissionsbedingter Verletzungen geworden zu sein, eine begrenzte Hilfestellung zu leisten. Keine Bedeutung hat dieses Faktum jedoch dann, wenn es darum geht, zwischen diesem Immissionsszenario und bestimmten Emissionen kausale Bezüglichkeiten aufzuzeigen. Zum anderen kommt Immissionsrichtwerteüberschreitungen, nach dieser Einschätzung des BGH, dabei grundsätzlich nur die Bedeutung eines Indizes zu. Werden von Seiten des Klägers Immissionsrichtwerteüberschreitungen nachgewiesen, so reicht dieses allein noch nicht aus, ohne weiteres den Schluß zu rechtfertigen, daß zumindest die erlittenen Schäden ein Effectus dieser Übermaßimmissionen sind. Eine derartige Feststellung kann vielmehr nur am Ende einer alle Umstände berücksichtigenden Gesamtwürdigung stehen, innerhalb derer die Richtwerteüberschreitung nicht mehr als einen für die klägerische Behauptung sprechenden Faktor repräsentiert. 38 Vergegenwärtigt man sich die hinter der Bestimmung von Immissionsrichtwerten stehenden Überlegungen, so erscheint die Bewertung von Immissionsrichtwerteüberschreitungen lediglich als Indiz für das Vorliegen von Immissionschäden durch den BGH als durchaus sachgerecht. Immissionsrichtwerte verkörpern sog. "Wirkungsstandards " . Diese werden von dem jeweiligen Normgeber gesetzt um Immissionsobergrenzen zu definieren, deren Überschreitung aufgrund des dann für gegeben erachteten Schädigungsrisikos unbedingt vermieden werden sollte. Sie sind das Ergebnis eines sachverständigen Urteils über die Gefährlichkeit von Immissionen eines bestimmten Schadstoffes im Kontext eines notwendig von konkreten Einzelsituationen abstrahierenden und daher für das Geltungsgebiet cum grano salis repräsentativen Rahmenszenarios. 39 Daß das im konkreten Fall in Rede stehende "kausale Feld" mit diesem abstrakt generalisierend bestimmten Kontext
Der BGH benennt explizit einige der zusätzlich in Betracht zu ziehenden Faktoren. So sollen insbesondere die jeweiligen Meßmethoden, weitere mögliche Vorbelastungen, etc. in die Abwägung einfließen. Vgl. dazu Leitsatz Nr. 1 dieser Entscheidung, sowie S. 419 f. 38
Eingehend dazu Feldhaus, Entwicklung und Rechtsnatur von Umweltstandards, UPR'82, 137, 138 f., 143 ff.; Czajka, Anmerkungen zu aktuellen Fragen des Immissionsschutzrechtes aus der Sicht eines Verwaltungsrichters, Forum Städte-Hygiene, Band 29 (1978), S. 214; Jarass, Der rechtliche Stellenwert technischer und wissenschaftlicher Standards, NJW'87, 1225, 1226.
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des Normtatbestandes deckungsgleich ist, ist jedoch keinesfalls selbstverständlich. Der Aussagewert derartiger Immissionsrichtwertefixierungenläßt sich daher nur dann sachgerecht bestimmen, wenn neben dem bei der Urteilsbildung zugrunde gelegten Hintergrundwissen über die in Rede stehenden chemischen und biologischen Abläufe auch das vom Normgeber für sachgerecht erachtete Rahmenszenario in die Betrachtung einbezogen wird. 40 Die Kompatibilität der in den Richtwertebestimmungen enthaltenen sachverständigen Gefährlichkeitsprognose über einen bestimmten Schadstoff bzw. dessen Konzentration innerhalb eines bestimmten Mediums für einen konkreten Haftungsprozeß hängt damit wesentlich davon ab, inwieweit die konkreten Umstände des Einzelfalles dem vom Normgeber seinen Untersuchungen zugrunde gelegten Szenario entsprechen. Erst, wenn ein derartiges Entsprechungsverhältnis positiv festgestellt werden kann, ist es zulässig, in der generalisierenden Aussage des Normgebers, wonach bei Überschreitung des durch den Richtwert defmierten Immissionslimits vermehrt mit dem Auftreten von Schäden zu rechnen ist, ein sachverständiges Urteil über die Schädigungseignung des jeweiligen Schadstoffes auch in dem konkreten Einzelfall zu sehen. Die Tatsache der Überschreitung dieses Immissionsrichtwertes liefert dann zumindest ein Indiz dafür, daß ein eingetretener konkreter Schaden auch tatsächlich eine Immissionsfolge ist. Für geschädigte Waldbesitzem geht von dieser Entscheidung im Ergebnis wenig Hilfreiches aus. Als Opfer multipler heterogener Emissionen liegt ihr Problem primär darin, aufzuzeigen, welche Emittenten Urheber des sie beeinträchtigenden Immissionsszenarios sind. Der Nachweis, daß die erlittenen Schäden die Folge toxischer Immissionen sind, dürfte ihnen in aller Regel gelingen, ohne entscheidend auf das Indiz der Überschreitung von Immissionsrichtwerten
Das Problem der fehlenden Spezifikation von Immissionsrichtwerten im Hinblick auf den konkreten Einzelfall spielte auch bei den Nachbarklagen aufgrund der Geräuschbelastung durch Sportstätten eine bedeutende Rolle. Dabei ging es um die Frage, wann bestimmte Geräuschimmissionen nicht mehr "erheblich" und nicht mehr "ortsüblich" im Sinne von § 906 BGB sind. Der BGH (Urteil vom 17.12.1982, NIW'83, 751 f.) maß dabei der Einhaltung der in der VDIRichtlinie 2058 ("Beurteilung von Arbeitslärm in der Nachbarschaft") festgelegten Grenzwerte nur eine geringe Bedeutung zu, weil der beim Erlaß der Richtlinie in Betracht gezogene" Arbeitslärm " die SpezifIka der Geräuschentwicklung beim Betrieb eines Tennisplatzes nicht aufweise. Weiterführend dazu, Papier, Sportstätten und Umwelt, UPR'83, 73, 75; Hagen, Sportanlagen im Wohnbereich, UPR'85, 192. Vgl. in diesem Zusammenhang auch BGH, Urteil vom 23.03.1990, IZ'91, 91, 92 ff. m. Anm. GerIach.
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angewiesen zu sein. Von wirklicher Relevanz sind diese Grundsätze daher folgerichtig nur für Geschädigte, denen der Nachweis, ein Opfer toxischer Immissionen zu sein, schwer fällt, die aber ohne weiteres über Mittel und Wege verfügen, die Quellen der sie betreffenden Immissionen namhaft zu machen. 41 b) Bei Überschreitung von Emissionsrichtwerten In der bereits erwähnten "Kupolofen-Entscheidung" aus dem Jahr 1984 hat der BGH in einem obiter dictum angedeutet, daß eine Beweislastumkehr auch für den Bereich des haftungsbegründendenKausalzusammenhanges dann infrage kommen kann, wenn der Emittent und potentielle Verletzer durch Verwaltungsvorschriften festgelegte Emissionsrichtwerte nachweislich überschritten hat. 42 Im Anschluß an diese Entscheidung ist von verschiedener Seite die Ansicht vertreten worden, daß die Überschreitung von Emissionsrichtwerten prinzipiell eine Umkehr der Beweislast für den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang zur Folge haben muß. 43 (1.) Versucht man diese vom BGH zumindest für möglich gehaltene Form der Beweislastumkehr einer der bisher anerkannten Fallgruppen zuzuordnen, gerät man in nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Eine Überschreitung vorfixierter Richtwerte für den Schadstoffausstoß ist weder ein Fall von Beweisver-
Die These des BGH, wonach durch Immissionsrichtwerteunterschreitungender Schluß auf das Vorliegen von Immissionsschäden kontraindiziert, läßt diese Entscheidung praktisch zu einem Danaer-Geschenk für mögliche Immissionsopfer werden. Die zum Schutz vor Immissionsschäden erlassenen Richtwerte erweisen sich bei deren Unterschreitung als zusätzliche beweisrechtliche Hürde für die jeweiligen Kläger, müssen sie doch jetzt nicht nur mit allgemeinen Nachweisproblemen kämpfen, sondern auch gegen ein zusätzliches Kontraindiz antreten. 41
42
BGH, Urteil vom 18.09.84, NJW'85, 47, 48.
Vgl. Baumgärtel, Fn. 40; Diederichsen, Fn. 40, L 86 f.; Gottwald, Fn. 40, S. 15 f.; Medicus, S. 781; sowie insbesondere auch Köndgen, S. 352 f. MarburgerlH. Herrmann, S 358 wollen eine Beweislasturnkehr bei Richtwerteüberschreitung nur zulassen, wenn zusätzlich konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Kausalzusammenhanges gegeben sind. Ausdrücklich gegen eine Beweislasturnkehr ist Adams, Zur Aufgabe des Haftungsrechtes im Umweltschutz, S. 148 ff. Auch bereits die Entscheidung des BGH in dem "Baumschulen-Fall", die sich ausdrücklich nur mit der Überschreitung von Immissionsrichtwerten beschäftigte, hatte in der Literatur Anlaß gegeben, einer Beweislasturnkehr für den gesamten Nachweis des haftungsbegründendenKausalzusammenhanges bei gegebener Emissionsrichtwerteüberschreitung das Wort zu reden. So bei der Besprechung dieser Entscheidung ausdrücklich Walter, NJW'78, 1158 f.; ebenso Alfred Rest, Luftverschmutzung und Haftung in Europa, Kehl I Straßbourg I Arlington 1986, S. 97 und neuerdings auch Gmehling, S. 231 f. 43
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
eitelung"'l, noch liegt hierin eine Verletzung irgendwelcher Aufklärungs-, Beratungs- oder Dokumentationspflichten4s • Sie läßt sich auch nicht durch Sphärenerwägungen und das insoweit häufig bemühte "Näheprinzip" rechtfertigen. Hinter derartigen Begriffsbildungen steht in aller Regel die Erwägung, daß sich die Beweislast für den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang unter Umständen umkehren kann, wenn der nach der Grundregel nicht beweisbelasteten Partei die für eine Beweisführung relevanten Daten ohne weiteres zur Verfügung stehen bzw. von ihr ohne Schwierigkeiten erhoben werden können, während die an sich beweispflichtige Gegenpartei zu diesen Daten praktisch keinen Zugang hat. Die Probleme des Kausalitätsnachweises bei Waldschäden liegen jedoch im wesentlichen gerade nicht darin, daß dem Kläger relevante Daten aus in seiner Person liegenden Gründen nicht zugänglich sind, während sie dem Zugriff des Beklagten ohne weiteres offenstehen, sondern sie beruhen auf der Tatsache, daß aufgrund der faktischen Komplexität von Waldschadenslagen und des gegenwärtig noch sehr beschränkten Wissens über die eigentlichen Zusammenhänge, eine hinreichende Beweisführung häufig schlechthin nicht möglich ist. In einer solchen Situation, in der keine der beiden Parteien aufgrund der Rolle, die sie in dem zugrunde liegenden Schadensszenario spielt, in signifikanter Weise eher in der Lage ist, dem Gericht Klarheit über die kausalen Bezüglichkeiten zu schaffen, ist für eine Beweislastumkehr auf der Grundlage von Gesichtspunkten wie "Nähe" oder "Sphäre" kein Raum. Auch der Versuch, eine Beweislastumkehr bei Emissionsrichtwerteüberschreitung auf Sanktionserwägungen zu stützen46 , ist wenig aussichtsreich. Eine Beweislastumkehr als prozessuale Sanktion für ein pflichtwidriges Verhalten des Beklagten kann es sinnvollerweise nur da geben, wo die verletzte Rechtspflicht gerade die Führbarkeit des Nachweises der haftungsbegründendenKausalität gewährleisten sollte. Rechtsprechung47 und herrschende Meinung48 im Schrifttum gehen dem-
.. Vgl. BGH, Urteil vom 6.11.62, NJW'63, 389, 390, wobei der Senat seine Entscheidung unter anderem auf eine analoge Anwendung der §§ 427, 444 ZPO stützt. - Eingehend zur Beweislastumkehr bei Beweisvereitelung Musielak, S. 133 ff.; Volker Wahrendorj, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, Köln 1976, S. 124 ff. jeweils mit vielen weiteren Nachweisen . ., Vgl. dazu BGH, Urteil vom 7.6.88, NJW'88, 2611, 2613; Urteil vom 28.6.88, NJW'88, 2949, 2950. 46
So aber Gottwald, Kausalität und Zurechnung, S. 16.; Baumgärtel, S. 1110.
Vgl. dazu BGH, Urteil vom 13.12.84, NJW'85, 1774, 1775; siehe auch BGH, Urteil vom 21.09.82, NJW'83, 333, 334. 47
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entsprechend auch zurecht davon aus, daß eine Beweislastumkehr als prozessuale Reaktion auf die Verletzung einer Rechtspflicht da und nur da in Betracht kommen kann, wo der mit der Postulierung dieser konkreten Pflichten verfolgte Schutzzweck gerade auch der Schaffung derart unklarer Sachlagen vorbeugen wollte. Derartiges ist etwa bei der Verletzung von Dokumentationspflichtenetc. der Fall, nicht aber bei der Überschreitung von Emissionsrichtwerten. (2.) Aussichtsreicher erscheint es demgegenüber, bei seinen Überlegungen an die zur Beweisverteilung bei der Verletzung von technischen Sicherheitsregeln49 , sowie Unfallverhütungsvorschriften angestellten Erwägungen anzuknüpfen. So sollte etwa nach Ansicht Marburgers in einem Haftungsprozeß die Beweislast für den Kausalzusammenhang immer schon dann auf den Beklagten übergehen, wenn feststeht, daß dieser einschlägige technische Sicherheitsregeln, wie etwa VDE-Bestimmungen oder bestimmte DIN-Normen, verletzt hat. Zur Begründung verweist Marburger auf den Gedanken der "pflichtwidrigenRisikoerhöhung". Technische Sicherheitsregeln definieren die Voraussetzungen, unter deren Beachtung ein bestimmtes riskantes Verhalten noch als sozialadäquat hingenommen werden kann. Werden diese Vorgaben nicht eingehalten, so liegt hierin eine Erhöhung des mit der jeweiligen Aktivität verbundenen Risikos auf ein nicht tolerables Maß. sO Ließe man in einer solchen Situation die Beweislast für den Kausalzusammenhang beim Kläger, so liefe man Gefahr, daß viele Fälle rechtswidriger Risikoerhöhung haftungsrechtlich sanktionslos blieben und so
Vgl. dazu nur von Bar, Verkehrspflichten, München 1980, S. 288 ff.; Gmehling, S. 247 mwN. Noch weit restriktiver StolI, Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel, AcP 176, 145, 161 ff., der letztlich zu dem Ergebnis gelangt, daß der Gedanke einer Beweislastumkehr nach Maßgabe des Pflichtinhaltes auf dem Gebiet der außervertraglichen Haftung prinzipiell keine Anwendung fmden könne . 4B
Zum Begriff "Regel der Technik" und "technische Sicherheitsregel" eingehend Peter Marburger, Die Regeln der Technik, 1979, S. 33 ff.; ders., Die haftungs- und versicherungsrechtliche Bedeutung technischer Regeln, VersR'83, 597, 598 ff.; Vgl. dazu auch Barbara Veit, Die Rezeption technischer Regeln im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, Düsseldorf 1989, S. 5 ff.
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Zu der Bedeutung technischer Sicherheitsregeln als der Grenzziehung zwischen intolerabler Gefahr und Restrisiko und den antagonistisches verfassungsrechtlichen Vorgaben (Gefahrenabwehr, Daseinsvorsorge, Beachtung der Grundrechte der Technikanwender) eingehend Roßnagel, Die rechtliche Fassung technischer Risiken, UPR'86, 46, 47 ff. mwN.
50
216
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
das dem Haftungsrecht zugrunde liegende Prinzip der unerlaubten Risikoerhöhung ausgehöhlt würde. 51 Soweit Marburger hier einer Beweislastumkehr als Durchsetzungsinstrument für technische Regeln das Wort reden will, kann dem nicht gefolgt werden. Die durch die Regeln der Technik definierten Verhaltensstandards unterscheiden sich qualitativ nicht von anderen ebenfalls kodifizierten oder nur richterrechtlich begründeten Verkehrspflichten. Jedes verkehrspflichtwidrige Verhalten, wie etwa zu schnelles Fahren oder ein Unterlassen des Winterdienstes auf Gehwegen, beinhaltet einen Fall rechtswidriger Risikoerhöhung. Es ist nicht ersichtlich, daß hier ein anderes Durchsetzungsbedürfnis bestehen würde, als dies bei Regeln der Technik der Fall ist. Folgt man dem Ansatz Marburgers so müßte im Ergebnis die Beweislast für den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang immer schon dann umgekehrt werden, wenn eine Verkehrspflichtverletzung des Beklagten im Raum steht. Der Übergang der Beweislast für den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang auf den Beklagten würde praktisch zur Regel. Die Konsequenz wäre eine einer Systemverschiebung gleichkommende umfassende Haftungsverlagerung, für die eine Rechtfertigung nicht ersichtlich ist. Eine derartige Beweislastumkehr ist systemkonform nur dann vertretbar, wenn der festgestellten Verletzung einer technischen Regel tatsächlich ein Aussagewert beigemessen werden kann, der es rechtfertigt, dann, wenn von Seiten des Beklagten nichts Gegenteiliges mehr vorgetragen und bewiesen wird, auf das Vorhandensein einer kausalen Relation zwischen der Regelmißachtung und der in Rede stehenden Rechtsgutsverletzung zu schließen. Dies ist letztlich nur dann der Fall, wenn die erwiesene Nichteinhaltung der maßgeblichen Verhaltensregel, hier die Überschreitung des einschlägigen Emissionsrichtwertes, tatsächlich eine Vermutung für das Bestehen eines kausalen Zusammenhanges zwischen dem regelwidrigen Verhalten und der eingetretenen Rechtsgutsverletzung zu begründen geeignet ist. Die Tatsache der Nichteinhaltung der Verhaltensnorm muß die regelwidrige Aktivität, ohne daß es weiterer Feststel-
SI Marburger, Die haftungs- und versicherungsrechtliche Bedeutung technischer Regeln, S. 604; im Ergebnis ebenso von Bar, Verkehrspflichten, S. 291 ff.; bezogen auf ausreichend spezifizierte Unfallverhütungsvorschriften auch StolI, Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel, AcP 176 (1976), 145, 165; andeutungsweise auch Diederichsen, Zur Beweislastverteilung bei Schadensersatzansprüchenaus Vertrag, Delikt und Geflihrdungshaftung, Karlsruher Forum 1966, S. 21,24 f.
ß. Bisherige Lösungsansätze
217
lungen bedürfte, als ihrer Art nach geeignet erscheinen lassen, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer Rechtsgutsverletzung, wie sie der Beklagte erlitten hat, zu erhöhen. Dies setzt voraus, daß die einschlägige Regel praktisch die erste Prämisse für eine kausale Erklärung der erlittenen Rechtsgutsverletzung durch das regelwidrige Verhalten vorfonnuliert. Dergleichen ist selbstverständlich nur da möglich, wo Geschehensabläufe in Rede stehen, die stets relativ gleichförmig ablaufen und durch eine überschaubare Menge von Faktoren konstituiert werden. Nur in Bezug auf weitgehend spezifizierbare und gut erforschte Sachverhaltskonstellationen läßt sich letztendlich sagen, welches Verhalten aller Voraussicht nach welche Konsequenzen zeitigen wird und eine dementsprechende Verhaltensregel konstituieren.52 Komplexe Ereigniskonstellationen mit einer großen Zahl nicht erhebbaren, aber durchaus nicht unbeachtlichen Faktoren entziehen sich einer derartigen kausalen Prognose. Sie betreffende technische Regeln etc. müssen notwendig mit weit weniger spezifizierten Prognosen oder bloßen Schätzungen auskommen. 53
52 Ein Beispiel für die Begründung einer widerleglichen Kausalitätsvermutung auf der Grundlage einer hinreichend spezifizierten anerkannten Regel der Technik bietet das Urteil des BGH vom 19.04.1991, NJW'91, 2021, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag. Der Kläger verlangte Schadensersatz für Schäden auf seinem Grundstück, die er auf den Aushub einer Baugrube auf dem Nachbargrundstück zurückführte. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, daß bei dem Aushub der Grube einschlägige DIN -Vorschriften für die Gebäudesicherung bei Ausschachtungen etc. nicht beachtet worden waren. Der BGH erachtete aufgrund dieses Befundes die Voraussetzungen für eine widerlegliche tatsächliche Vermutung für das Bestehen eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhang zwischen dem Aushub der Baugrube und den Verletzungen des Eigentums des Klägers für gegeben ( S. 2022). Die in Rede stehenden DIN -Vorschriften legten fest, welche Maßnahmen bei Aushub einer Grube und deren Sicherung zu ergreifen sind, um eine Beeinträchtigung des benachbarten Terrains zu vermeiden. Hinter derartigen Festlegungen steht fraglos eine sachverständige Kausalitätsprognose etwa des Inhaltes, daß bei Grubenaushub unter Nichtbeachtung der genannten Vorgaben die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von Beeinträchtigungen in der Nachbarschaft erhöht wird. Da der Aushub von Baugruben als ein vergleichsweise eng begrenzter Vorgang durch Berücksichtigung relativ weniger Faktoren erfaßt und seine "propensities" im Hinblick auf Schädigungen in der Nachbarschaft erkannt werden können, haben entsprechende DIN -Normen einen sehr hohen SpezifIkationsgrad. Die ihnen unterliegende Gefahrenprognose ist praktisch für jede "normale Baugrube" gültig.
Zu der Frage, wann technische Normen und Standards als "antezipiertes Sachverständigengutachten" Verwendung fmden können, eingehend Feldhaus, S. 138 ff.; Niklisch, Technische Regelwerke - Sachverständigengutachten im Rechtssinne? , NJW'83, 841 ff. Vgl. dazu aus der Rechtsprechung BGH, Urteil vom 29.06.1966, NJW'66, 1858 f.; BGH, Urteil vom 17.12.1982, NJW'83, 751, 752; BVerwG, Urteil vom 17.02.1978, NJW'78, 1450, 1451 f. (mit Anmerkung von Hans-Rudolj Horn, NJW'78, 2409 f.); Urteil vom 29.04.1988, NJW'88, 2396,2398. 53
218
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
Ob die Überschreitung von Emissionsrichtwerten eine Beweislastumkehr zu rechtfertigen vermag, erscheint vor diesem Hintergrund äußerst zweifelhaft. S4 SO haben Emissionsrichtwerte zwar in einem gewissen Sinne prognoseähnlichen Charakter, doch fehlt es ihnen ganz offensichtlich an der für die Begründung einer Vermutung im Hinblick auf bestimmte Emissions - > Immissionsschadens-Sequenzen erforderlichen SpezifIkation. Im Gegensatz etwa zu Unfallverhütungsvorschriften werden Emissionsrichtwerte nicht im Hinblick auf bestimmte mögliche Schadenslagen defIniert. Umweltrechtliche Standards, wie etwa Emissionsrichtwerte enthalten lediglich generalisierende Aussagen, die verarbeitete Komplexität auf meßbare Größen reduzieren und damit notwendig in hohem Maße vergröbern. 55 Die berücksichtigten Parameter sind im wesentlichen genereller Natur. Fehlt ihnen daher ein entsprechend individualisierender Bezug, so sind sie notwendig schon aus diesem Grunde als Anknüpfungstatsaehe für eine, wenn auch widerlegliehe, Kausalitätsvermutung im Hinblick auf eine konkrete Emissionsquelle - > Immissionschaden-Sequenz ungeeignet. S6 Neben dem sich auch bei Immissionsrichtwerten stellenden Kompatibilitätsproblem, gewinnt zusätzlich noch ein weiterer Aspekt wesentlich an Bedeutung. Regeln der Technik sind stets mehr als nur eine Wiedergabe naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie enthalten immer auch eine überlagernde rechtliche
54 Der BGH hat sich zu der Frage der Bedeutung der Tatsache einer Emissionsrichtwerteüberschreitung für den Nachweis eines haftungsbegründendenKausalzusammenhangesüber das Obiter Dictum im "Kupolofen-Urteil" hinaus noch nicht explizit geäußert. Die bereits besprochene "Baumschulen-Entscheidung" betraf nur die Überschreitung von Immissionsrichtwerten. - Zu dem hiervon zu unterscheidenden Problem, inwieweit eine Überschreitung von Emissionsrichtwerten bereits eine Verkehrspflichtverletzung darstellt. Nach wohl herrschender Meinung begründet die Mißachtung einer überbetrieblichen technischen Regel zumindest eine Vermutung für eine entsprechende Verletzung der "äußeren Sorgfalt". Vgl. Herschet, S. 619; Rudolf Lukes, Die Bedeutung der sog. Regeln der Technik, in: Regeln der Technik und Schadensersatz, Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität Köln, Heft 23/24, Köln 1969, S. 31; a. A. Marburger, Die haftungs- und versicherungsrechtlicheBedeutung technischer Regeln, S. 603 f, 604 f.; Veit, S. 187 ff. mit Nachweisen aus der strafrechtlichen Judikatur und dem strafrechtlichen Schrifttum auf den S. 208 f. mit den dazugehörigen Fußnoten. Zu dem reziproken Problem der Begründung einer Verkehrspflichtverletzung trotz Einhaltung der Richtwerte, eingehend Diederichsen, Gutachten, L 58 ff.
" Vgl. dazu insbesondere Feldhaus, S. 139, 140 ff.; Vallendar, Ermittlung und Beurteilung von Immissionen nach der TA Luft, GewArch 1981, S. 281, 282 f.; Peter Marburger, Wissenschaftlich-technischer Sachverstand und richterliche Entscheidung im Zivilprozeß, Karlsruhe 1986, S. 62 f. 56
Im Ergebnis ebenso Rehbinder, S. 158.
11. Bisherige Lösungsansätze
219
Bewertung, die sich etwa bei Sicherheitsregeln primär an der Fragestellung: was ist eine vor dem Hintergrund des Vorsorgegrundsatzes umd mit Rücksicht auf die Erfordernisse der Daseinsvorsorge und die grundrechtlich geschützte Sphäre der Technikanwender eine nicht mehr hinzunehmende Gefahr; was ist sozialadäquates Restrisiko, orientiert. 57 Bei der Bestimmung von Emissionsrichtwerten ist diese normative Komponente ganz besonders stark ausgeprägt. Emissionsrichtwerte definieren, wie Feldbaus dargelegt hatsa , sog. "Vorsorgestandards" . Sie enthalten daher nicht mehr als Zielvorgaben, deren Einhaltung zur Aufrechterhaltung bzw. Garantie einer erwünschten Umweltqualität unerläßlich erscheint. Ihre Bestimmung ist das Ergebnis einer in starkem Maße auch politischen Willensentscheidung. Man definiert aus prophylaktischen Gründen Obergrenzen im Hinblick auf ein für notwendig erachtetes "Umweltniveau" einerseits und mit Rücksicht auf das ökonomisch Zumutbare andererseits. 59 Wissenschaftlich technische Erkenntnisse über Wirkungszusammenhänge etc. sind insoweit lediglich Bestandteil des sich dem Entscheidungsträger darbietenden Abwägungsmaterials. Die, wie die TA-Luft, von politischen Instanzen als Verwaltungsvorschriften konzipierten Regelwerke unterscheiden sich insoweit grundlegend von den durch nicht-
S7
Vgl. dazu nochmals Roßnagel, Die rechtliche Fassung technischer Risiken, aaO.
Vgl., Fußnote 29, S. 142 f.; vgl. dazu auch ders., Der Vorsorgegrundsatz des BImSchG, DVBI'80, 133 ff.; Jarass, aaO.; KlöpferlKröger, Zur Konkretisierung der immissionsschutzrechtlichen Vorsorgepflicht, NuR'90, 8 ff. S8
S9 Czajka, S. 215 bezeichnet die TA Luft daher auch zu Recht als einen "Ausdruck der Kunst des Möglichen", die den FabrikSchornstein nicht nur als Emissionspunkt in den Blick nimmt, sondern daneben auch in EIWägung ziehen muß, "daß die Schlote auch rauchen müssen". Vgl. dazu auch SchajJhausen, Umweltpolitik erfordert Abwägung zwischen ökologischem Nutzen, bürokratischem Aufwand und wirtschaftlicher Belasnmg, Forum Städte-Hygiene, Band 29 (1978), S. 222 f., Papier, Bedeutung der VeIWaltungsvorschriften im Recht der Technik, in: Festschrift für Lukes, hrsg. von Leßmann et alt., Köln 1989, S. 159, 160 ff., Marburger, Wissenschaftlich-technischer Sachverstand und richterliche Entscheidung im Zivilprozeß, S. 62; ders., Gutachten, C 107 f.; Roßnagel, S. 50; sowie von Lersner, Verfahrensvorschläge für umweltrechtliche Grenzwerte, NuR'90, 193 ff.- Eine eingehende Analyse der Unterschiede zwischen juristischen Urteilen und administrativen bzw. legislatorischen Entscheidungen im Bereich des Umweltrechtes und der Verzahnung von wissenschaftlichem und umweltpolitischen EIWägungen findet sich bei GelperI'arlock, Tbe Uses of Scientific Information in Environmental Decisionmaking, 48 S. Cal. L. Rev., 371 (1974). Sehr aufschlußreich in diesem Zusammenhang auch Richard B. StewartlJames E. Krier, Environmental Law and Policy, 3rd Edition, Indianapolis 1978, S. 325 ff. mit einer ausführlichen Darstellung der US-amerikanischen Pollution Control Legislation und der für die Definition der jeweiligen Standards maßgeblichen EIWägungen.
220
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
staatliche Gremien entwickelten technischen Normen, wie DIN-Vorschriften etc. 60 Neben dem bereits festgestellten nur generellen Charakter dieses "Vorsorgestandards" , sind es gerade auch diese sehr heterogenen, Kausalitätsgesichtspunkte nur begrenzt berücksichtigenden Erwägungen, die hinter der Festlegung von Emissionsrichtwerten stehen, die eine unmittelbare Anwendung als Prämisse für konkrete Kausalurteile ausschließen. 61 Emissionsrichtwerteüberschreitungen können im Einzelfall die Qualität eines Indizes haben, mehr aber jedoch nicht. So scheint es denkbar, daß die Tatsache des Vorliegens von Übermaßemissionen in Verbindung mit weiteren konkreten Faktoren ein auf einer Gesamtwertung beruhendes positives Kausalurteil wesentlich mitzutragen geeignet ist. Die oben insoweit vom BGH im Hinblick auf die Überschreitung von Immissionsrichtwerten entwickelten Grundsätze sind auch hier durchaus analog in Betracht zu ziehen. Immer aber muß dabei die Art und Weise, wie diese Standards gewonnen wurden und welche Intentionen mit ihnen verfolgt werden, Berücksichtigung finden. Pauschale Bewertungen sind in diesem Zusammenhang unzulässig. (3.) Zuletzt gilt es noch einige grundsätzliche Anmerkungen zu diesem Thema zu machen. Bei der gesamten Diskussion um das Problem der Beweislastumkehr bei Überschreitung von Emissionsrichtwerten etwa im Sinne des obiter dictum des BGH, sollte nicht aus dem Auge verloren werden, daß mit dieser Maßnahme wohl nur in einem sehr geringen Teil der "Waldschadensfalle" tatsächlich etwas zugunsten der geschädigten Eigentümer getan werden kann. Ein Großteil der schadensstiftenden Immissionen resultiert aus dem Regelbetrieb emittierender Anlagen also unter Beachtung der Emissionsrichtwerte. Für eine Beweislastumkehr in der eben diskutierten Form bietet sich hier kein Ansatz-
Auch aus diesem Grunde begegnet die vom BGH im "Baugrubenfall" (siehe oben Fn. 59) vorgenommene Beweislastumkehr keinen Bedenken, handelte es sich doch bei den nicht eingehaltenen anerkannten Regeln der Technik um DIN-Normen und damit tatsächlich Regeln, die als eine bloße Wiedergabe wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse verstanden werden können und die von einem neutralen Verband aufgestellt wurden. Zu den materiellen Voraussetzungen für die QualifIkation technischer Regelwerke als SachverständigengutachteneingehendNiklisch, S. 844 ff.; krit. zur "Unabhängigkeit" der Regelwerke nichtstaatlicher Vereinigungen aufgrund der Maiorität der Technikanwender innerhalb dieser Gretnien, Roßnagel, S. 50 f. mwN. 60
Vgl. dazu auch VGH Mannheim, GewArchiv 1980, 197,201 f., in dem die TA-Luft aus diesen Gründen auch nicht als ein "antezipiertes Sachverständigengutachten" anerkannt wird. Zustimmend Papier, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1981, hrsg. v. d. Gesellschaft für Rechtspolitik, Trier 1981, S. 91 f.; Nicklisch, S. 842. 6\
11. Bisherige Lösungsansätze
221
punkt. Soll über den Weg der Haftung tatsächlich nennenswerter Einfluß auf das Waldschadensgeschehen genommen werden, so müssen hierfür andere Ansatzpunkte gesucht und gefunden werden. c) Bei Mißachtung von Dokumentations- oder Statussicherungspflichten Eher spekulativ hat Brüggemeyer angeregt zu erwägen, ob nicht ausnahmsweise" - in anloger Anwendung der arzthaftungsrechtlichen Grundsätze über die Verletzung der Dokumentations- und sog. diagnostischen Befundsicherungspflicht" - der Emittent gehalten sein kann, zu beweisen, daß sein Emissionsbeitrag nicht zu der in Rede stehenden Rechtsgutsverletzung geführt hat. 62 Die Begriffe "Dokumentationspflicht" und "diagnostische Befundsicherungspflicht" kennzeichnen zwei voneinander verschiedene Pflichtenkreise, deren Verletzung anerkanntermaßen Beweiserleichterungen zugunsteneines geschädigten Patienten bis hin zur Beweislastumkehr nach sich ziehen kann. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1978 bekannte sich der BGH erstmals zu der Auffassung, daß jeder Arzt gegenüber seinen Patienten aus diagnostischen aber auch aus therapeutischen Gründen verpflichtet ist, ordnungsgemäße Krankenunterlagen zu führen, in denen die für die ärztliche Diagnose und die Therapie wesentlichen medizinischen Fakten in einer für den Fachmann hinreichend klaren Form zu verzeichnen sind. 63 Dabei verstand der BGH diese Pflicht, wie anders wäre sonst sein Hinweis auf die Stellung des Verwalters eines fremden Vermögens und die dort anzutreffende Interessenlage erklärbar, offensichtlich als ein Derivat eines nicht näher spezifizierten allgemeinen Grundsatzes, wonach jeder, der als Sachwalter fremder Interessen fungiert, über seine insoweit getroffenen Maßnahmen dem Interessenten gegenüber Rechenschaft abzulegen hat. 64 Wird nun diese Dokumentationspflicht verletzt, so
62
Umwelthaftungsrecht, S. 221 f.
BGH, Urteil vorn 27.06.1978, NJW'78, 2337, 2338 f.; bestätigt in BGH, Urteil vorn 21.09.1982, NJW'83, 333, 334 passim; Urteil vom 10.01.1984, NJW'84, 1408 f.; Urteil vorn 18.03.1986, NJW'86, 2365, 2366; Urteil vorn 28.06.1988, NJW'88, 2949 f.; Urteil vorn 24.01.1989, NJW'89, 2330, 2331. Vgl. dazu auch Erich Steifen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 3., neubearbeitete Auflage, Köln 1989, S. 102 ff. 6:l
BGH, S. 2339, linke Spalte. Der BGH vollzog hier eine Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung, wonach ärztliche Dokumentationennur eine interne Gedächtnisstütze seien, hierzu aber keine Pflicht gegenüber dem Patienten bestünde.
M
222
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik: und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
kann dies zu Beweiserleichterungen zugunsten des betroffenen Patienten führen, die bis hin zu einer Beweislastumkehr reichen können. Ob es tatsächlich bis zu einer solchen Beweislastumkehr kommt, hängt dabei im wesentlichen davon ab, ob und inwieweit trotz der nachlässigen Dokumentation eine dem Patienten nach allgemeinen Grundsätzen obliegende Beweisführung billigerweise noch zugemutet werden kann oder nicht. Essentialium dieses Ansatzes ist dabei das Bestehen eines Dependenzverhältnisses zwischen der Dokumentationspflichtverletzung und der konkreten Beweisführungsnot des Patienten. 6S Es ist folgerichtig, hypothetisch danach zu fragen, in welcher Beweissituation sich der Patient befände, wenn der Arzt ordnungsgemäße Aufzeichnungen geführt hätte. Wäre es ihm danach möglich gewesen, einen Beweis für seine Behauptung anzutreten oder aber zu erkennen, daß diese nicht der Wahrheit entspricht, so kann die Beweislast, vorbehaltlich einer gesonderten Billigkeitserwägung, insoweit auf den Arzt übergehen. 66 Zulässigkeitsvoraussetzung für den nach der Anregung von Bruggemeier im Wege eines Analogieschlusses zu vollziehenden Transfer dieser Grundsätze auf das Umwelthaftungsrecht, ist das Bestehen einer prinzipiellen Vergleichbarkeit zwischen dem Verhältnis Arzt-Patient oder besser Sachwalter-Interessenträger und dem Verhältnis zwischen einem Emittenten und einem Immissionsbetroffenen. Dies aber ist wohl kaum der Fall. Ein Sachwalter-Interessenträger-Verhältnis und Insonderheit das Arzt-Patientenverhältnis kennzeichnet ein übli-
Die beweisrechtliche Behandlung von Dokumentationspflichtverletzungen ist in der Rechtsprechung des BGH nicht ganz einheitlich. So wird im Urteil vom 18.03.1986 angenommen, die unterbliebene Dokumentation sei auch ein Indiz rur die Annahme, daß die nicht dokumentierte aber gebotene Maßnahme auch tatsächlich unterlassen worden sei ( S. 2366 f.). Im Urteil vom 28.06.1988 soll eine fehlende Dokumentation geeignet sein, eine Vermutung rur das tatsächliche Unterbleiben einer wiederum gebotenen Maßnahme zu begIÜnden.
6S
66 In aller Regel ist eine derartige Konstellation nur im Hinblick auf die Frage, ob eine bestimmte gebotene Maßnahme ärztlicherseits vorgenommen wurde oder nicht, tatsächlich denkbar. Konstellationen, bei denen ein Patient zwar in der Lage ist, das Vorliegen eines ärztlichen (Fehl-)Verhaltens zu beweisen, aber bei dem Nachweis eines hafnmgsbegIÜndendenKausalzusammenhanges zwischen diesem Verhalten und der erlittenen Rechtsgutsbeeinttächtigung infolge fehlerhafter oder unterbliebener Dokumentation in eine unbillige Beweisnot gerät, dürften praktisch sehr selten sein. In seinem Urteil vom 28.06.1988 ( S. 2949) geht der BGH sogar prinzipiell davon aus, daß Dokumentationspflichtverletzungen rur den Nachweis eines haftungsbegIÜndenden Kausalzusammenhanges ohne unmittelbare Bedeutung sind. In anderen Entscheidungen wird die Möglichkeit einer Beweislastumkehr aufgrund einer Dokumentationspflichtverletzung auch rur den Bereich der haftungsbegIÜndenden Kausalität nur passim erwähnt. Vgl. BGH, Urteil vom 24.01.1989, S. 2331.
11. Bisherige Lösungsansätze
223
cherweise67 auf wirksamen vertraglichen Abmachungen beruhender Interessengleichlauf. Der Dokumentationspflichtige wird bewußt auf Veranlassung und im Interesse etwa des Vermögensinhabers oder des Patienten in dessen Rechtskreis tätig und nimmt dafür notwendig dessen Vertrauen in Anspruch bzw. ihm wird ein entsprechendes Vertrauen entgegengebracht. Sein Pflichtenkreis wird wesentlich durch diese Nähebeziehung und die ihr wesenseigene Vertrauensstellung geprägt. Eine auch nur annähernd vergleichbare Konstellation besteht zwischen Emittent und Immissionsbetroffenen nicht. Ihr Kontakt ist grundsätzlich unfreiwillig. Sein Kennzeichen ist der Konflikt. Eine Ausgangs!Constellation, die eine Rechenschaftspflicht des Emittenten, etwa aufgrund des entgegengebrachten Vertrauens oder Ähnlichem, begründen könnte, ist nicht ersichtlich. Eine Übertragung der Grundsätze bezüglich Beweiserleichterungen bei der Verletzung von Dokumentationspflichtenscheitert dementsprechend schon deshalb, weil es an einer zur Begründung einer entsprechenden PflichtensteIlung erforderlichen Beziehung zwischen Emittent und Immissionsbetroffenen fehlt. Aus im wesentlichen gleichen Gründen kann auch eine von Bruggemeier angedachte Beweislastumkehr analog den Fällen unterlassener Erhebung medizinisch zweifelsfrei gebotener Befunde hier nicht infrage kommen. In einer grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 1987 hatte BGH anerkannt68 , daß einen Arzt eine "sich aus der Behandlung des Patienten ergebende Verpflichtung" trifft, "durch entsprechende Untersuchungsmaßnahmen einen bestimmten Krankenstatus zu erheben". Kommt er dieser Pflicht nicht nach, geht nach Maßgabe der von ihm insoweit zu vertretenden Vereitelung der Aufklärung des Sachverhaltes die Beweislast auf ihn über. Auch hier ist die vom BGH postulierte Beweislastumkehr wiederum nur eine Sanktion für die Verletzung einer in der Eigenheit des Arzt-Patienten-Verhältnisses wurzelnden materiellen Handlungspflicht, für die es in einem Emittenten-Immissionsgeschädigten-Verhältnis keine Entsprechung gibt. Weder die vom BGH geltend gemachten, im Vordergrund stehenden therapeutischen Zwecke, noch das Persönlichkeitsrecht des Patienten, dem Rechenschaft über den Gang der ärztlichen Behandlung abzulegen ist69 , finden in Emittenten-Immissionsbetroffenen-Konstellationen ein auch nur annäherndes Äquivalent.
.7 Eine Ausnahme bildet insoweit nur die Geschäftsführung ohne Auftrag .
.. BGH, Urteil vom 03.02.1987, NJW'87, 1482,1483 . •• BGH, S. 1483, rechte Spalte.
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
Näher liegt in diesem Zusammenhang da schon eine Analogie zu der dem Produzenten neuerdings auferlegten sog. Pflicht zur Statussicherung.70 Hiernach ist der Hersteller eines bestimmten Produktes zum Schutz des Verbrauchers verpflichtet, sich vor dessen Inverkehrgabe über das Freisein von typischerweise aus seiner Sphäre herrührenden Sicherheitsmängeln zuverlässig zu vergewissern. Kann ein geschädigter Verbraucher nachweisen, daß der Hersteller dieser Pflicht, etwa durch Vornahme adäquater Endkontrollen, nicht oder nicht ausreichend nachgekommen ist, greifen zu seinen Gunsten Beweiserleichterungen insoweit Platz, als nun der Hersteller gehalten ist, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, daß ein bestimmter in der Folge tatsächlich aufgetretener typischer Produktfehler erst nach der Inverkehrgabe, also nicht mehr in der Produktionssphäre, entstanden ist. 71 Bezugspunkt für diese Beweislastumkehr ist damit nicht im eigentlichen Sinne der Kausalzusammenhang, sondern die Frage, ob überhaupt ein dem beklagten Hersteller zurechenbare, Kausalfaktoreigenschaften aufweisende Antecedensentität vorgelegen hat. In den Tatsacheninstanzen war offengeblieben, ob das Zerbersten einer Sprudelflasche, das zu nicht unerheblichen Verletzungen geführt hatte, entweder durch eine zu geringe Befüllung der Flasche (ein dem beklagten Hersteller ohne weiteres zuzurechnender Umstand) oder durch einen in der Produktionssphäre entstandenen Haarriß in der Flasche (auch ein dem beklagten Hersteller ohne weiteres zuzurechnender Umstand) oder aber durch einen erst nach der Inverkehrgabe durch den Hersteller auf dem Vertriebsweg eingetretenden Haarriß (dem beklagten Hersteller nicht mehr zurechenbar) verursacht worden ist. In dieser für den klagenden Verbraucher prekären Situation"n gibt der BGH nun dem Produzen-
Grundlegend insoweit BGH, Urteil vom 07.06.1988, NJW'88, 2611 mit Anm. von Reinelt. Ein vergleichende Gegenüberstellung von Produzentenhaftung und Umwelthaftung fmdet sich bei G Hager, Umwelthaftung und Produkthaftung, IZ'90, 397 ff. 70
71
BGH, S. 2613.
Da unsicher bleibt, ob dem Hersteller überhaupt ein für den Fehler ursächlicher Umstand zur Last gelegt werden kann und daneben auch die Möglichkeit besteht, daß auch ein einem Dritten zurechenbarer Umstand den Fehler verursacht haben kann (Haarriß auf dem Vertriebsweg) wäre der Kläger hier schutzlos. - Zwar genügt ein Verbraucher den an ihn gestellten Anforderungen für den Kausalitätsnachweis unter anderem auch dann, wenn er beweisen kann, daß als Ursache für den Produktfehler nur ein in der Herstellersphäre belegener Umstand in Betracht kommen kann (vgl. BGH, Urteil vom 19.06.1973, NIW'73, 1602, 1603 ["FeuelWerkskörper"J). Dies war dem Kläger hier jedoch gerade nicht möglich, weil auch ein einem Dritten zur Last zu legender Umstand, dessen Vorliegen ent-
72
11. Bisherige Lösungsansätze
225
ten auf, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, daß weder die erste noch die zweite Sachverhaltsalternative der Wahrheit entspricht, sondern nur die dritt, ihn freistellende Sachverhaltsalternative in Betracht kommen kann. Gelingt ihm dies nicht, so ist zu vermuten, daß eine der beiden ersten Sachverhaltsalternativen die Wirklichkeit wiedergibt und somit ein dem Beklagten zurechenbarer Umstand die Rechtsgutsverletzung haftungsbegründend verursacht hat. 73 Dabei sieht der BGH in dieser den Produzenten im Prozeß treffenden zusätzlichen Darlegungs- und Beweisobliegenheit praktisch eine Transformation und, wenn man so will, auch Prolongation dieser ursprünglich aus dem neminem-IaedereGrundsatz hergeleiteten materiellerechtlichen Pflicht zur Statussicherung.14 Die vorgenommene Beweislastumkehr hat damit weder Sanktionscharakter , noch versteht sie sich als eine auf Billigkeits- und Interessenerwägungen beruhende ad hoc Reaktion auf eine bestimmte akute Beweislage. Wie bei den oben bereits dargestellten Fällen einer Beweislastumkehr im Arzt -Patienten-Verhältnis, auf die der BGH ausdrücklich Bezug nimmfs, soll sich vielmehr hier ein zunächst allein materiellrechtlich determiniertes Rechtsverhältnis im Wege einer zu-
weder sicher ist oder doch nicht ausgeschlossen werden kann, allein den Produktfehler verursacht haben kann. - Eine Urheberzweifelssituation im Sinne § 830 I. S. 2 BGB liegt ebenfalls nicht vor, weil nicht sicher gesagt werden kann, ob dem Hersteller überhaupt ein deliktisches Verhalten zur Last fallt. Es ist daher zumindest ungenau, wenn behauptet wird, der BGH habe hier erstmals die Beweislast für den haftungsbegründendenKausa1zusammenhangin toto umkehren wollen (In diesem Sinne etwa Walter Rolland, Produkthaftungsrecht, Köln 1990, Teil 11., Rdn. 11'7). Tatsächlich schließt der BGH mit dieser Entscheiduung eine Lücke zwischen seiner bisherigen Rechtsprechung und der Regelung des § 830 I. S. 2 BGB. Ließ die Apfelschorf-Entscheidung (siehe vorherige Fußnote) eine Haftung des Produzenten auch nur dann zu, wenn sicher war, daß nur aus seiner Sphäre stammende Umstände als Fehlerquelle in Betracht kommen konnten, erlaubt § 830 I. S. 2 BGB eine Haftungsbegründung nur dann, wenn feststeht, daß dem Produzenten ein Verhalten zur Last fällt, das schadensursächlich gewesen sein kann. Besteht dagegen, wie im vorliegenden Fall auch noch die Möglichkeit, daß ein Dritter die Verletzung verursacht hat, so ist der Schluß auf ein verletzungsursächliches Fehlverhalten des Herstellers im Sinne des Apfelschorf-Urteiles nicht möglich (ein Anscheinsbeweisscheitert hier aus den gleichen Gründen, vgl. BGH, Urteil vom 02.12.86, NJW'87, 1694 f.). Eine Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB scheitert demgegenüber an dem fehlenden Nachweis eines deliktischen und potentiell ursächlichen Herstellerverhaltens. Mit der Sprudelflaschen-Entscheidung führt der BGH nun eine, allerdings mit engen Voraussetzungen versehene Beweislastumkehr ein, die es ermöglicht den Produzenten, vorbehaltlich eines Gegenbeweises, im Zweifelsfall auch schon dann haften zu lassen, wenn nicht sicher ist, ob ihm überhaupt ein deliktisches Verhalten zur Last fällt, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, daß nicht auch ein Dritter als Verletzungsurheber in Betracht kommt. 7. BGH, aaO. 73
lS
BGH, S. 2613, rechte Spalte. IS Quentin
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
mindest punktuellen Modiftkation der prozessualen Rollen fort- und gegen allgemeine Beweislastgrundsätze durchsetzen. 76 Diese dogmatische Konstruktion weicht von dem herkömmlich für den Nachweis des Verschuldens im Rahmen der Produkthaftung verwendeten Begründungsansatz77 nicht unerheblich ab. Interessant, weil einerseits damit über die arzthaftungsrechtlichen Ansatz hinausgehend und andererseits sich dem Verhältnis Emittent-Immissionsbetroffener stärker annähernd, ist die Herleitung einer derartigen Beweislastumkehr aus einer ausschließlich deliktsrechtlich begründeten materiellen Sorgfaltspflicht. 78 Die durch die Sprudelflaschen-Entscheidung anerkannte Prolongation der Produzenten treffenden Sorgfaltspflichten um eine Statussicherungspflicht, hatte im konkreten Fall eine Konstellation zum Gegenstand, bei der es um die Frage ging, ob dem Produzenten ein Fabrikationsfehler unterlaufen ist oder nicht. Grundsätzlich bestehen jedoch keine Bedenken, diese Statussicherungspflicht auch auf Konstellationen auszudehnen, bei denen eine Verletzung der Herstellerpflicht zur ordnungsgemäßen Beseitigung von Industrieabfällen im Raum steht. Anerkanntermaßen trifft einen Produzenten die Pflicht, die bei der Produktion anfallenden Abfälle für Mensch und Umwelt gefahrlos zu beseiti-
,. Der Ausnahmecharakter seines Judizes wird vom BGH ausdrücklich betont, indem der Senat darauf hinweist, daß der Grundsatz, wonach der Verbraucher Produktfehler, haftungsbegründende Kausalität und objektiven Zurechnungszusammenhang zu beweisen hat, prinzipiell gültig bleibt. Siehe BGH, S. 2313 linke Spalte, mwN. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des BGH zuletzt bestätigt im Urteil vom 30.04.1991, NJW'91 , 1948, 1951 ("HIV-Blutkonserve") mwN. Vgl. dazu auch Kuchinke, Die Risiken der Beweisführung bei Haftungsklagengegen den Produzenten, in: Festschrift für Laujke, 1971, S. 113, 131; Baumgärtel, Die Beweislastverteilung bei der Produzentenhaftung, JA'84, 660, 668 f.; Brüggemeier, Deliktsrecht, 573 ff. n Die Rechtsprechung zur Beweislastumkehr bei der Verschuldensfrage stützt sich im wesentlichen
auf Sphären- und Interessenerwägungen. Grundlegend, BGH, Urteil vom 26.11.1968, NJW'69, 269,274 f. ("Hühnerpest"); Urteil vom 17.03.1981, NJW'81 , 1603, 1605 ("Apfelschorf"); vgl. dazu auch Rolland, Rdn. 112 ff. nwN. - Kritisch zu diesem allein auf Sphärenerwägungen gestützten Ansatz bereits Baumgärtel, Die Beweislastverteilung bei der Produzentenhaftung,JA'84, 660, 664 f., der insbesondere auch "Ioss- spreading"- und "deep-pocket"-Gesichtspunkte zur Begründung heranziehen will. Zur deliktsrechtlichen Begründung der Produzentenhaftung und alternativ diskutierten vertragsrechtlichen Modellen siehe nochmals BGH, Urteil vom 26.11.1968, NJW'69, 269; Diederichsen, Wohin treibt die Produzentenhaftung, NJW'78 , 1281 ff., zusf. Rolland, Rdn. 8 ff. mwN. 18
n. Bisherige Lösungsansätze
227
gen. 79 Ein derartiger Produktionsabfall sind natürlich auch die im Rahmen des Herstellungsprozesses freiwerdenden Emissionen. Bezieht man die in der Sprudelflaschen-Entscheidungdurch den BGH anerkannte Statussicherungspjlicht auf diesen Bereich "negativer Produktion" , so läßt sich zumindest ein entsprechendes Pflichtenprogramm für einen Schadstoffe emittierenden Produzenten noch relativ unproblematisch umreißen. Ein Produzent, der Schadstoffe emittiert, ist danach genau wie bei der Inverkehrgabe seiner "positiven Produkte" gehalten, durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, daß die von ihm in die Atmossphäre entlassenen Emissionen "fehlerfrei" sind. Zu denken wäre dabei etwa an regelmäßige Messungen des Schadstoffgehaltes am Emissionspunkt, aber auch an eine ordnungsgemäße Wartung und Überprüfung der jeweiligen Anlagen (Energieumwandler jeder Art, Hochöfen, etc.), aus denen die Emissionen erfolgen. Der Versuch, die Bedingungen für eine entsprechende Beweislastumkehr zu definieren, erweist sich demgegenüber als weitaus schwieriger. Muß ein geschädigter Verbraucher im Hinblick auf die "positive Produktion" des beklagten Herstellers vortragen und gegebenenfalls beweisen können, Opfer eines "typi_ schen Produktfehlers " geworden zu sein, der aus der Herstellersphäre stammen kann, so kann dies im Hinblick auf Produktionsabfalle nur bedeuten, daß der Kläger auch hier darlegen muß, beim Umgang mit Abfallen aus der Produktion des Beklagten aufgrund eines "typischen Entsorgungsmangels " , der aus der Produzentensphäre stammen kann, zu Schaden gekommen zu sein. Der Kläger muß folgerichtig das Gericht zunächst erst einmal davon überzeugen können, daß mit einem "typischen Entsorgungsmangel " behafteter Abfall aus der Produktion des Beklagten für seine Verletzung ursächlich war. Gelingt es ihm dann darüberhinaus auch noch, vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, daß der Beklagte sich nicht in ausreichendem Maß darüber vergewissert hat, daß in dem von ihm zu verantwortenden Bereich alle zur Gewährleistung einer adäquaten Abfallentsorgung erforderlichen Maßnahmen durchgeführt worden sind, so kehrt sich die Beweislast endlich insoweit um, als es nun dem "Abfallerzeuger" obliegt, darzutun, daß der in Rede stehende Entsorgungsfehler nicht auf einem von ihm zu vertretenden Umstand beruht.
Grundlegend BGH, Urteil vom 07 .10.1975, NJW'76, 46 f.; Brüggemeier, Deliktsrecht, 555; zum Verhältnis AbfaIlentsorgungspflicht gemäß § 823 I. BGB - Entsorgungspflicht kraft AbfaIlgesetz siehe zunächst Ekrutt, Verkehrssicherungspflichtbei der AbfaIlbeseitigung, NJW'76, 885 und dazu die Kritik von Bim, NJW'76, 1880 f. 79
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
Für Emission - Immissionsschadens - Relationen wie den Waldschadensf3.llen bringt der Transfer der durch die Sprudeltlaschen-Entscheidung anerkannten Statussicherungspflicht damit keine nennenswerte Erleichterung. Die in Aussicht gestellte Beweislastumkehr betrifft den Immissionsbetroffene so belastenden Nachweis eines Kausalzusammenhanges zwischen der Emission an einem bestimmten Emissionspunkt und den erlittenen Immissionsfolgen gerade nicht, sondern hat ihn zur Voraussetzung. Eine Fallkonstellation, bei der dem Geschädigten tatsächlich in Anwendung dieser Grundsätze geholfen werden könnte, müßte etwa folgendes Aussehen haben: B, ein Besitzer von Obstbaumplantagen verliert aufgrund übermäßiger Immissionen des Stoffes X einen Teil seiner Ernte. Die in Rede stehende Plantage ist Emissionen aus der Anlage des P ausgesetzt, was auch ohne weiteres nachgewiesen werden kann. Bei der Produktion im Werk des P fallen X-haltige Gase an, denen jedoch vor der Emission durch entsprechende Filteranlagen die X -Anteile wieder entzogen werden. Es ist nicht außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit, daß die jeweiligen Filteranlagen nur insuffizient funktionieren und dementsprechend zumindest punktuell doch einmal X-haltige Emissionen aus der Anlage des P frei werden können. B kann nun nachweisen, daß P erforderliche Kontrollmessungen am Ende des "Emissionsweges" nicht durchgeführt und dadurch seine Pflicht zur Statussicherung verletzt hat. In dieser Situation obliegt es nun P, darzulegen und zu beweisen, daß die Kontamination der Plantagen des B mit dem Stoff X nicht auf ein Fehlverhalten seinerseits zurückzuführen ist. Für typische Waldschadenslagen und die sich in diesen Fällen stellenden Kausalitäts- und Beweisprobleme wächst den betroffenen Waldbesitzern aus der Möglichkeit der Beweislastumkehr aufgrund der Verletzung einer Statussicherungspflicht keine Hilfe zu. Davon unberührt bleibt natürlich die Möglichkeit allein auf der Grundlage von Sphären- und allgemeinen beweisrechtlichen Erwägungen, wie sie im Recht der Produzentenhaftung im Hinblick auf die Beweislastumkehr bei der Verschuldensfrage schon lange üblich sind, anzunehmen, daß ein Emittent gehalten ist, Auskunft darüber zu geben, welche Emissionen qualitativ und quantitativ von seinen Anlagen ausgehen und ob er sich an die durch öffentlich rechtlich Vorgaben (Emissionsrichtwerte) gesetzten Sicherheitsstandards gehalten hat. Hierin läge praktisch eine Beweislastumkehr für die Einhaltung der genannten Standards. Für eine Beweislastumkehr auch für den Bereich des haftungsbe-
n.
Bisherige Lösungsansätze
229
gründenden Kausalzusammenhanges fmdet sich darüber hinaus jedoch keine Rechtfertigung.
3. Anscheinsbeweis bei Emissionsrichtwertüberschreitungen a) Die Struktur des Anscheinsbeweises Grundsätzlich gilt ein Anscheinsbeweis als geführt, wenn der Richter sich in der Lage sieht, auf der Grundlage allgemeiner Erfahrungssätze, ohne nähere Prüfung, die Überzeugung vom Vorliegen der Beweistatsache zu gewinnen. 80 Handelt es sich bei der Beweistatsache um das Bestehen einer kausalen Relation zwischen zwei aufeinanderfolgenden Entitäten x und y, so muß ein von einem deterministischen Kausalitätsverständnis ausgehendes Gericht prima facie zu folgendem Ergebnis gelangt sein. Es gibt ein gesichertes Folgegesetz, wonach auf das Auftreten einer Entität von der Art eines x in Verbindung mit noch weiteren Faktoren (a, b, c, ... ) stets eine Entität von der Art eines y folgt. Der dem Rechtstreit zugrunde liegende konkrete Sachverhalt weist neben einem x und einem y auch alle übrigen Faktoren (a, b, c, ... ) auf. Ein anderer Faktorenkomplex, der kein X enthält, gleichwohl aber seiner Art nach geeignet ist, eine hinreichende Bedingung für das Auftreten eines y zu verkörpern, liegt in der konkreten Situation nicht vor. Wesensmerkmal des Anscheinsbeweises im Bereich der haftungsbegründenden Kausalität ist der Verzicht auf eine erschöpfende Kausalanalyse des zugrunde liegenden Sachverhaltes. 81 Der Beweis des Vorliegens einer kausalen
.. Vgl. zu den Kontroversen um den Anscheinsbeweis und dessen Rechtsnatur insbesondere, Heinz Wassermeyer, Der prima-facie-Beweis und die benachbarten Erscheinungen, Münster 1954; Helmut Kohlhosser, Der Anscheinbeweis in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Diss. Mainz 1963, S. 75 ff.; Diederichsen, Zur Beweislastverteilung bei Schadensersatzansprüchenaus Vertrag, Delikt und Gefährdungshaftung, Karlsruher Forum 1966, S. 21, 22 ff.; ders., Zu Rechtsnatur und systematischer Stellung des Anscheinsbeweises, VersR'66, 211, 213 ff.; Weitnauer, Wahrscheinlichkeit und Tatsachenfeststellung, Karlsruher Forum 1966, S. 6, 12 ff.; A. Blomeyer, Beweiswürdigung und Anscheinsbeweis, Gutachten zum 46. Deutschenjuristentag, München 1966, S. I, 16 ff. mit kritischen Anmerkungen zu Wassermeyer, Kohlhosser und Diederichsen; ]ürgen Prölls, Beweiserleichterungenim SchadensersatzpTOzeß,Kahrlsruhe 1966, S. 5 ff.; Greger, Praxis und Dogmatik des Anscheinsbeweises, VersR'SO, 1091 ff.
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
Relation zwischen der Rechtsgutsverletzung y und einem dem Beklagten zurechenbaren Verhalten x, gilt vielmehr schon dann als geführt, wenn es möglich ist, auf der Grundlage allgemeiner Lebenserfahrung den Typus eines Lebenssachverhaltes zu entwickeln, bei dem stets ein dem Beklagten zurechenbares Verhalten x, x', x", ... einen Kausalfaktor für das spätere Auftreten einer Entität y verkörpert und der vorliegende konkrete Sachverhalt dieser Typusbeschreibung entspricht. So kann es der Fall sein, daß in der Vergangenheit in einer durch bestimmte Merkmale wiederkehrend gekennzeichneten Situation, Verhaltensweisen von der Art eines x, x', x", ... entweder in Verbindung mit den Entitäten a und b oder a und c oder a und d zu dem späteren Auftreten eines y geführt haben. Diese sich ähnelnden Lebenssachverhalte bilden nun die Grundlage für die Entwicklung einer Typusbeschreibung . Entspricht nun die klägerische Sachverhaltsdarstellung diesem Typus und scheidet eine andere Möglichkeit der Kausalerklärung aus, so sieht sich das Gericht in der Lage, nach Maßgabe des § 286 ZPO die Überzeugung zu gewinnen, daß auch hier ein dem Beklagten zurechenbares Verhalten von der Art eines x, x', x", ... einen Kausalfaktor für das Auftreten der Subsequensentität y verkörpert. Es verzichtet auf eine Untersuchung, ob das die Causa darstellende Antecedensentitätenensemble durch die Entitäten x, x', x", ... in Verbindung mit a und b, a und c oder a und d konstituiert worden ist. 82 Stattdessen wird vermutet, daß eine
Dadurch unterscheidet sich der Anscheinsbeweis vom sog. "Vollbeweis " , der nur geführt werden kann, indem das gesamte Causaszenario nahezu erschöpfend analysiert wird. Vgl. dazu insbesondere Kohlhosser, S. 80 ff. mwN. aus der Rechtsprechung; Kegel, Der Individualanscheinsbeweis und die Verteilung der Beweislast, in: Festgabe für Kronstein, hrsg. von Kun Biedenkopfet alt., S. 321, 327 f. 11
Ein Beispiel hierfür bietet ein Sachverhalt, der einer Entscheidung des OLG Köln vom 17.12.84 (NJW'85, 1402) zugrunde lag. Mehrere Personen, die von dem Beklagten, einem Dentisten (D), zahnärztlich behandelt worden waren, erkrankten in der Folgezeit an Hepatitis B. Das Gesundheitsamt ermittelte daraufhin eine Hepatitis B-Erkrankung des D. Einer der an Hepatitis B erkrankten Patienten (P) nahm nun den Zahnarzt auf Schadensersatz in Anspruch, weil dieser ihn ohne Schutzhandschuhebehandelthatte. Das OLG Köln bejahte zurecht die Möglichkeit eines Anscheinsbeweises für eine Infektion des Klägers durch den beklagten Zahnarzt im Zuge der Behandlung. In Fachkreisengilt es als gesichert, daß Hepatitis-B-Viren schon durch bloße Berührung der Haut und dabei insbesondere der Schleimhäute, mit infizierten Gegenständen oder der bloßen Haut einer infizierten Person übertragen werden können. Allgemeiner Lebenserfahrung entspricht es, daß Zahnärzte im Zuge einer alltäglichen Behandlungssituation in Hautkontakt mit ihren Patienten treten, etwa indem sie diesem eingangs begrüßend die Hand schütteln oder aber während der eigentlichen Behandlung, soweit sie ohne Schutzhandschuhe arbeiten, in der Mundhöhle deren 12
11. Bisherige Lösungsansätze
231
dieser möglichen Konstellationen auch tatsächlich vorgelegen hat. 83 Dabei kommen zwei verschiedene Konstellationen in Betracht. Zum einen ist es möglich, daß die verschiedenen typusgerechten Geschehensverläufe auch verschiedene, aber jeweils dem Beklagten zurechenbare Umstände als Kausalfaktoren enthalten. Der Richter ist dann der Überzeugung, daß hier, gleichgültig wie es sich auch genau zugetragen hat, immer ein Verhalten des Beklagten für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung in haftungsbegründender Weise ursächlich geworden ist. Zum anderen kann es aber auch der Fall sein, daß ein positiv festgestellter dem Beklagten zurechenbarer Umstand bei jedem der typusgerechten Geschehensverläufe für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung ursächlich geworden ist. In dieser Situation geht der Richter davon aus, daß das Verhalten des Beklagten in jedem Falle in einem "kausalen Feld" stattgefunden hat, innerhalb dessen es zu einem Kausalfaktor für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung geworden ist. 84
Wände etc berühren. Außerdem ist davon auszugehen, daß die während der Behandlung verwandten Instrumente mit Körpersekreten des Arztes benetzt werden und gleichfalls mit der Mundhöhle des Patienten in Berührung kommen. Wenn P nun vorträgt vor seiner X-Erkrankung von Dr. Dohne Schutzhandschuhe ein Inlay eingesetzt bekommen zu haben, so behauptet er einen Lebenssachverhalt, der diesem Geschehenstypus "zahnärztliche Behandlung" entspricht. Es ist daher prima faeie davon auszugehen, daß P etwa bei :lern begrüßenden Händedruck, erst Recht aber im Rahmen der konkreten Behandlung, insbesondere auch im Bereich der Mundschleimhaut, mit der Hand des Arztes selbst und/oder von ihm gefiihrten Instrumenten in Berührung gekommen ist. Da andere Erldärungsmöglichkeiten für eine X-Infektion des P nicht ersichtlich sind, reicht allein der gegebebnenfalls unter Beweis gestellte Vortrag, sich in einer typischen "zahnärztlichen Behandlungssituation" bei Dr. D befunden zu haben aus, im Wege des Beweises des ersten Anscheins zu der Überzeugung zu gelangen, daß Dr. D durch ein ihm zurechenbares Verhalten P im Zuge von dessen Behandlung mit X-Viren infiziert hat. P kann es sich ersparen, den Vollbeweis durch konkrete Benennung und Verifikation der maßgeblichen Verhaltensweise (Händedruck, Berührung der Mundschleimhautmit infizierten Instrumenten bzw. die bloße Hand des Dr. D) und der genauen Beschreibung des Infektionsweges zu führen. Vgl. OGHBrZ (Köln), Urteil vom 01.06.50, NJW'51, 26,28; BGH, Urteil vom 17.04.51, NJW'51, 653, 654; Urteil vom 20.12.63, VersR'64, 263, 264; Urteil vom 23.09.69, NJW'69, 2136,2137; Urteil vom 25.02.88, NJW-RR'88, 788, 790; Urteil vom 04.05.88, NJW'88, 2040, 2041; Prölls, S. 14 ff.; Wussow, Unfallhaftptlichtrecht, 13. Auflage, Rz. 46.
13
Der Anscheinsbeweis wird daher auch treffend als Beweis des "irgendwie" bezeichnet worden. Gemeint ist, daß in einer Anscheinsbeweissituation der Richter zu dem Schluß kommt, daß "irgendein" dem Beldagten zuzurechnendes Verhalten "irgendwie" ursächlich geworden ist. Vgl. Kohlhosser, S. 83 f.; Volker Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsprozeß, Köln 1976, S. 38. 14
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und illre deliktsrechtliche Bewältigung
Der Beklagte kann sich diesem Anscheinsbeweis entgegenstellen, indem er entweder vorträgt, es bestehe keine Erfahrungsgrundlage für eine derartige Typenbeschreibung oder aber einwendet, der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt unterfalle diesem Typusbegriff nicht, etwa weil er zudem das Element z aufweist, daß Entitäten von der Art eines x, x', x", ... kausal abzuschirmen pflegt.8S Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, daß der Anscheinsbeweis der Kausalität im Grunde nur den eigentlichen Tatsachenbereich betrifft, nicht aber den "Erkenntnishintergrund" , also das empirisch gesicherte Wissen über die entsprechenden Naturgesetze. Ein Anscheinsbeweis setzt die Überzeugung des Richters voraus, für einen bestimmten Geschehenstypus über ein derart gediegenes Hintergrundwissen zu verfügen, daß es sicher möglich ist, für jeden typusgerechten konkreten Geschehensablauf eine tragfähige Kausalerklärung zu konstituieren. Fehlt es an einem entsprechenden umfassenden Hintergrundwissen, so ist ein Anscheinsbeweis grundsätzlich nicht zulässig. Darüber hinaus scheidet ein Anscheinsbeweis natürlich auch dann aus, wenn sich das in Rede stehende Geschehen in einer jeder Typisierung entzogenen singulären Konstellation besteht. 86 Der Beweis des ersten Anscheins bewirkt nach dem Gesagten zweierlei nicht. Er modifiziert in keiner Weise den Kausalitätsbegriff. Die Berufung auf die allgemeine Lebenserfahrung und daraus resultierende Typusbildungen führt nicht zur Ersetzung deterministischer durch probabilistische Kausalitätsvor-
Zum Problem des Gegenbeweises vgl. BGH, Urteil vom 17.04.51, NJW'51, 653, 654; Urteil vom 08.01.1964, NJW'64, 764, 765; Urteil vom 20.06.1978, NJW'78, 2032 f.; A. Blomeyer, S. 1, 18 ff.; Dietmar HainfflÜller, Der Anscheinsbeweis und die Fahrlässigkeit im heutigen Schadensersatzprozeß, Tübingen 1966, S. 174 ff.; Kollhosser, S. 85 f .
8S
.. Dies ist vor allem immer dann der Fall, wenn menschliche Entscheidungen und Willensentschließungen den Beweisgegenstand bilden. Es entspricht daher auch der ganz herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur, daß bei der Beurteilung individueller Verhaltensweisen die Grundsätze des Anscheinsbeweises nicht herangezogen werden können. Vgl. dazu aus der Rechtsprechung nur BGH, Urteil vom 18.03.1987, NJW'87, 1944 f. (kein Beweis des ersten Anscheins für den Freitod eines Menschen); Urteil vom 04.05. 1988, NIW'88, 2040, 2041 (kein Anscheinsbeweis für eine vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalles bei einer Brandlegung); Urteil vom 30.04.1991, NJW'91, 1948, 1949 (Anscheinsbeweis für eine HIVInfektion infolge einer Transfusion kontaminierten Blutes, bei Nichtzugehörigkeit zu den bekannten Risikogruppen) jeweils mwN., sowie Egon Schneider, Beweismaß und Beweiswürdigung, 4. Auflage, München 1987, Rdn. 259 ff.; Zöller/Stephan, ZPO, § 286, Rdn. 17; krit. Gerhard Walter, Freie Beweiswürdigung, Tübingen 1979, S. 207 ff.
11. Bisherige Lösungsansätze
233
stellungen. 87 Ein Gericht, das prima-facie ein Kausalzusammenhang für gegeben erachtet, geht nicht davon aus, daß der zurechenbare Umstand nur lediglich wahrscheinlich einen Kausalfaktor für die Rechtsgutsverletzung darstellt. Es ist vielmehr schon deshalb von dem Bestehen eines Kausalzusammenhanges überzeugt, weil der streitgegenständliehe Sachverhalt einem Geschehenstypus entspricht, von dem auf der Grundlage gesicherten Erfahrungswissens gesagt werden kann, daß hier immer ein dem Beklagten zurechenbaren Umstand eine rechtlich relevante Ursache für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung darstellt. Prima-facie-Beweise beruhen auch nicht auf einer Reduktion des Beweismaßes. 88 Maßstab bleibt das Postulat des § 286 I. ZPO. Es handelt sich lediglich um einen strukturell besonderen Beweisgang, bei dem exakte Subsumtion unter klassifikatorische Begriffe nach vorgängiger erschöpfender Analyse durch eine typologische Betrachtung ersetzt wird. b) Der Anscheinsbeweis bei Überschreitung von Emissionsrichtwerten
In Literatur und Rechtsprechung ist häufiger die Ansicht vertreten worden, daß eine Mißachtung allgemein anerkannter Regeln der Technik einen Anscheinsbeweis für das Bestehen eines haftungsbegTÜDdenden Kausalzusammenmhanges zwischen der regelwidrigen Handlung und einer in der Folge eingetretenen Rechtsgutsverletzung zu tragen vermag. 89 Ob dies für technische Regeln zutreffend ist oder ob der Anscheinsbeweis seiner Struktur nach hier möglicherweise überhaupt nicht paßt, braucht hier nicht abschließend erörtert zu werden. Als Anknüpfungstatsache rur einen Anscheinsbeweis käme eine Überschreitung von Emissionsrichtwerten jedenfalls nur dann in Betracht, wenn sich durch die Richtwerteüberschreitung eine Situation ergäbe, die einem Sachverhaltstypus entspricht, von dem sich nach gesi-
87
So aber wohl HainTnÜller, S. 164 ff.; Egon Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rnr.232.
BGH, Urteil vom20.12.1963, VersR'64, 263, 264; Greger, aaO.; a.A., Hans-JoachimMusielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, BerlinlNew York 1975, S. 120 ff.; Bender, Das Beweismaß, in: Festschrift für Fritz Baur, hrsg. von Grunsky et alt., S. 247, 259 ff.; Kegel, S. 328 ff.
88
•• Vgl. BGH, Urteil vom20.06.1978,NJW'78, 2032 f. mwN.; OLG Koblenz, NJW-RR'88, 1486; Herschel, Regeln der Technik, NJW'68, 617, 619; Lipps, Herstellerhaftung beim Verstoß gegen "Regeln der Technik"?, NJW'68 , 279, 281 f.; a. A. Marburger, Die haftungs- und versicherungsrechtliche Bedeutung technischer Regeln, S. 604.
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
chertem Erjahrungswissen sagen läßt, daß hier derartige Emissionen, wie sie
der Beklagte zu vertreten hat, immissionsbedingte Rechtsgutsverletzungen, wie sie der Kläger erlitten hat, verursachen. 90 Gerade das ist jedoch nach gegenwärtigem Wissensstand über Emissionen und ihre Auswirkungen nicht möglich. Ein Erfahrungswissen, das die Bildung von Sachverhaltstypen zuließe, bei deren Vorliegen es nach Maßgabe des § 286 ZPO vertretbar wäre, auszusagen, daß derartige Emissionen hier bestimmte Immissionsschäden verursachen werden, gibt es gegenwärtig praktisch nicht. Voraussetzung für eine die Möglichkeit eines Anscheinsbeweises der Kausalität eröffnende Typenbildung ist neben einem sicheren Wissen über kausale Gesetzmäßigkeiten auch eine hinreichende Kenntnis über die Zusammensetzung des kausalen Feldes in bestimmten einer typisierenden Beschreibung zugänglichen Situation. Beide Voraussetzungen sind im Bereich der emittentenfernen Immissionsschäden wohl noch nicht annähernd erfüllt. Der Anscheinsbeweis eröffnet nicht die Möglichkeit vorhandene Defizite im Bereich des Hintergrundwissens, aber auch im Bereich der Spezifikation kausaler Felder zu überbrücken, sondern erlaubt in Ausnahmefällen allein den Verzicht auf eine umfassende Aufhellung des streitgegenständlichen Sachverhaltes, wenn sich dessen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sachverhaltstypus feststellen läßt, der in seinen Causa-Eigenschaften hinreichend erforscht iSt. 91
4. "Epidemiologischer Kausalitätsbeweis " Der gerade in jüngster Zeit im Zusammenhang mit Umweltschadensfällen häufiger erwähnte92 sog. epidemiologische Nachweis eines Kausalzusammenhanges bezeichnet ein insbesondere in der Medizin anerkanntes Verfahren, vermittels dessen kausale Bezüglichkeiten auch noch da definiert werden können, wo ein hinreichendes Hintergrundwissen über konkrete biologische und
90
Vgl. dazu nochmals Hainmüller, S. 210; sowie die oben in Fn. 84 Genannten.
9' Siehe hierzu Kollhosser, S. 79 f. und die in den Fn. 13 und 15 nachgewiesenen Entscheidungen aus der Rechtsprechung des BGH.
So etwa von Brüggemeier, Umwelthaftungsrecht, S. 218; Delgado, S. 884 f.; Diederichsen, Referat, L 84; Hager, Das neue Umwclthafumgsgesetz, NIW'91. 134, 137; Köndgen, 346 ff.; Rosenberg , 656 f. 92
ß. Bisherige Lösungsansätze
235
chemische Abläufe nicht existiert.93 Dieser "epidemiologische Kausalitätsnachweis" läuft in zwei großen Schritten ab. 94 Im Rahmen des ersten Schrittes wird zunächst die als Effectus in den Blick zu nehmende Krankheit9S und eine weitere Entität oder ein entsprechender Entitätenkomplex, von der bzw. dem Causa-Eigenschaften vermutet werden, klassiftkatorisch definiert. In der Folge wird dann auf der Grundlage verschiedener Studien zu ermitteln versucht, ob das vorangehende Auftreten einer solchen Entität bzw. eines solchen Entitätenkomplexes für das darauf folgende Auftreten einer Krankheit dieser Klasse von statistischer Relevanz ist. Läßt sich eine solche statistische Relevanzbeziehung nachweisen, so ist in einem nunmehr zweiten Prüfungsschritt danach zu fragen, ob von dieser statistischen Relevanzbeziehung ausgehend auf das Bestehen einer kausalen Bezüglichkeit geschlossen werden kann. 96 Dies setzt in jedem Falle
Der Nachweis kausaler Bezüglichkeiten ist eine der beiden Hauptaufgabender epidemiologischen Forschung. Nach der Defmition von Brian MacMahonflhomtls F. Pugh, Epidemiology, Boston 1970, S. 1 ist Epidemiologie "the study of the distribution and determinants of disease frequency in man" . Eine gleichlautende Definition fmdet sich auch bei Abraham M. Lilienjeld/David E. Lilienfeld, Foundations of Epidemiology, 2nd Edition, New York 1980, S. 3 .• Von besonderer praktischer Bedeutung ist der "epidemiologische Kausalitätsbeweis" für die Krebsforschung und dabei insbesondere im Hinblick auf das Problem der Entstehung von Karzinomen infolge bestimmter gruppenspezifischer Verhaltensweisen und Expositionen. V gl. dazu stellvertretend für viele etwa Stocks, Recent Epidemiological Studies of Lung Cancer Mortality, Cigarette Smoking and Air Pollution, Brit. J. Cancer, Vol. 20 (1966), S. 595 ff.; Denny Vagerö, Studies in Cancer Epidemiology, Huddinge 1984; Ulrich Abel, Epidemiologie des Krebses, München 1986 mit vielen weiteren Nachweisen; Soskolne et alt., Epidemiologic and Toxicologic Evidence for Chronic Health Effects, Archives of Environmental Health, Vol. 44 (1989), S. 180 ff. - Schwer;.,unktmäßig als Beweismittel eingeführt wurden epidemiologische Studien bisher, soweit ersichtlich, nur in den USA im Rahmen von Klagen auf Schadensersatz für Krebserkranlrungen infolge radioaktiven Fallouts oder anderer Schadstoffexpositionen. Siehe Allen v. United States, 588 F. Supp. 247 (D. Utah 1984), rev'd , 816 F. 2nd 1417 (10th Cir. 1987), cert. denied, 108 S. Ct. 694 (1988), sowie dazu Michael O. FinkelsteinlBruce Levin, Statistics for Lawyers, New York 1990, S. 17 ff. mwN.; Estep, Radiation Injuries and Statistics, 59 Mich. L. R. 259,268 ff. (1960) . 93
.. Vgl. MacMahon/Pugh, aaO. S. 18 ff.; B. Black/D. E. Lilienjeld, Epidemiologic Proof in Toxic Tort Litigation, 52 Fordham L. Rev. 732, 750 ff. 9' Eingehend dazu MacMahon/Pugh, S. 47 ff.
Statistische Relevanzbeziehungen allein reichen prinzipiell nicht für die Bejahung einer kausalen Relation zwischen den beteiligten Entitätenklassen aus. So kann es etwa der Fall sein, daß es sich bei den beiden in einer statistischen Relevanzbeziehung zueinander stehenden Entitäten tatsächlich um lediglich zeitlich gestaffelte distinkte Wirkungen einer gemeinsamen Ursache handelt, also zwischen beiden keine kausale Relation besteht. Vgl. in diesem Zusammenhang den Disput zwischen Burch, Tbe Surgeon Generai's "Epidemiologic Criteria for Causality." A Critique, J. Chron. Dis., Vol. 36,821 ff. (1983) und A. M. Lilienfeld, Tbe Surgeon Generai's "Epidemiologic Criteria for Causality": A Crticism of Burch's Critique, J. Chron. Dis., Vol. 36, 837 ff. (1983),
96
236
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
die Hinzunahme weiterer wissenschaftlicher Daten und Erkenntnisse voraus. 97 Ob im Ergebnis der Schluß gezogen werden kann, daß die als möglicher Kausalfaktor in den Blick genommene Entität (bzw. der entsprechende Entitätenkomplex) tatsächlich ihrer Art nach geeignet ist, eine solche Krankheit zu verursachen, hängt dabei wesentlich davon ab, inwieweit die Annahme einer derartigen kausalen Relation in das bis dato für gesichert erachtete medizinische und biologische Wissen integriert werden kann. 98 Dariiberhinaus werden in der Regel Kontrolluntersuchungen verschiedener Art angestellt, um zu überprüfen, ob die beobachtete statistische Relevanzrelation auch unter veränderten Bedingungen nachweisbar ist. 99 Der "epidemiologische Beweis" eines Kausalzusammenhanges ist demnach kein Fall eines Beweises auf der Grundlage bloß statistischer Daten, sondern ein kombiniertes Verfahren bei dem eine statistische Relevanzbeziehung lediglich die Rolle eines Initialindizes für einen komplexen durch kontextabhängige Relevanzvorgaben determinierten Wertungs- und Abwägungsprozeß verkörpert. Die an seinem Ende stehende wissenschaftliche Aussage ist das Resultat entsprechend heterogener Erwägungen und hat den Charakter eines Urteils.
genau über diesen Punkt am Beispiel der Verursachungseignung von Rauchen für die Entstehung von Lungenkrebs. Siehe dazu auch McDonald, Asbestos and Lung Cancer: Has the Case been Proven?, Chest, Vol. 78 (1980), Supplement, S. 374 ff. Regelmäßig werden epidemiologische Erhebungen ohnehin bereits in Verbindung mit weiteren Untersuchungsergebnissen vorgestellt. Beispielhaft hierfür ist etwa die Untersuchung von Sokolne et alt., aaO. 97
Die biologische und medizinische Plausibilität der Annahme eines solchen Kausalzusammenhanges ist dementsprechend der wohl wichtigste Überprüfungsgesichtspunkt. Weitere Prüfungskriterien sind etwa das Vorliegen verschiedener, zueinander aber konsistenter statistischer Erhebungen, das Vorhandensein eines hohen Zusatzrisikos, zeitlicher Zusammenhang, Quantitätsdependenz ("starke Ursache - starke Wirkung") oder das Fehlen anderweitiger Erklärungsmöglichkeiten. Vgl. dazu etwa Mervyn Susser, Causal Thinking in the Health Sciences, Oxford 1973, S. 64 ff.; Austin B. Hill, A short Textbook ofMedicai Statistics, London 1977, S. 285 ff. - Einen allgemein anerkannten nahe zu klassischen Kanon von Prüfungspunkten für die kausale Interpretation statistischer Relevanzbeziehungenenthält das sog. Henle-Koch-Verfahren. Locus Classicus ist Koch, Über bakteriologische Forschung, in: Verhandlungen des X. Internationalen Medizinischen Kongresses, Berlin 1890, S. 35 ff. Eingehend zum Henle-Koch-VerfahrenBlack-D. E. lilien/eid, 762 ff.; MobilialRossignol, Tbe Role of Epidemiology in Determining Causation in Toxic Shock Syndrome, Jurimetrics Journal, Fall 1983, S. 78, 83 f . 98
.. Hili, aaO. Zu weiteren Kontrollverfahren, insbesondere den sog. Case-Control Studies, vgl. MacMahon/Pugh, S. 241 ff.; Mobilia/-Rossignol, S. 84.
n.
Bisherige Lösungsansätze
237
Vor die Frage gestellt, wie und im Hinblick auf welches Beweisthema die Ergebnisse eines derartigen "epidemiologischen Kausalitätsbeweises" in einen Haftungsprozeß inkorporiert werden können, ist es zunächst erforderlich, sich über die wesentlichen Unterschiede zwischen medizinischem und haftungsrechtlichem Kontext und dem damit verbundenen Informationsbedarfklar zu werden. In der medizinischen Wissenschaft dient der "epidemiologische Kausalitätsbeweis" der Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Entität oder ein bestimmter Entitätenkomplex geeignet ist, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Es geht demnach nicht darum, singuläre Kausalurteile über konkrete in der Vergangenheit belegene Entitätensequenzen zu treffen, sondern im Mittelpunkt steht allein die Intention, mögliche Kausalfaktoren für eine bestimmte Krankheit ihrer Art nach zu konkretisieren, um so einen Ansatz für eine präventive Behandlung und sinnvolle Gesundheitsvorsorge zu finden. 1°O Dabei geht es nicht um die Ermittlung einer vollen Causa im erkenntnistheoretischen Sinn. Ausreichend ist es, wenn von einer bestimmten Entität ausgesagt werden kann, daß sie im Verbund mit anderen, nicht näher spezifizierbaren weiteren Entitäten zum Auftreten der fraglichen Krankheit führen kann und daß diese Möglichkeit, ausweislich des statistisch sichtbar gemachten Zusatzrisikos, nicht von der Hand zu weisen ist. Gefordert sind weder deterministische Bezüglichkeiten, noch geht es um die Aufdeckung kausaler Dependenzrelationen zwischen punktuellen Entitäten. Am Beispiel der Entitäten "Rauchen" und "Lungenkrebs" veranschaulicht: Dem Mediziner kommt es zuvörderst darauf an, ob Rauchen seiner Art nach geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Lungenkrebs zu erhöhen, weniger darauf, zusammen mit welchen Faktoren Rauchen notwendig zu Lungenkrebs führt und überhaupt nicht darauf, inwieweit die Lungenkrebserkrankung des Kettenrauchers X ein Effectus seines vorangegangenen dauernden Nikotingenusses ist. Folgerichtig verstärkt sich in der Medizin der Trend, das Ergebnis einer" epidemiologischen Analyse" nicht mehr im Sinne eines Kausalurteils ("Rauchen verursacht Lungenkrebs") zu fassen, sondern in diesem Zusammenhang nur noch von "Risikofaktoren" zu sprechen. 101 Demgegenüber geht es im Rahmen eines zivilrechtlichen Haftungsprozesses primär um die Beurteilung eines konkreten in der Vergangenheit belegenen punktuellen Ereignisses. Ein Kläger benötigt zum Obsiegen den Nachweis, daß das dem Beklagten zurechenbare Verhalten eine notwendige Be-
100
Vgl. MacMahonlPugh, S. 17 f.; Abel, S. 11; Susser, S. 3.
101
So etwa Abel, S. 16 f.
238
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
dingung für den Eintritt seiner Rechtsgutsverletzung verkörpert hat. Hierauf jedoch gibt der "epidemiologische Kausalitätsbeweis" prinzipiell keine unmittelbare Antwort. So kann allein aus der Tatsache, daß Rauchen nach dem epidemiologisch fundierten Urteil von Fachwissenschaftlem als ein karzinogenes Verhalten im Hinblick auf die Ausbildung von Lungenkrebs bezeichnet werden kann, noch nichts darüber ausgesagt werden, ob für die konkret in Rede stehende Lungenkrebserkrankung das vorangehende dauerhafte Rauchen des X tatsächlich eine notwendige Bedingung dargestellt hat. 102 Hierfür bedarf es stets eines weiteren Urteils, das sich in der Regel nur dann treffen lassen wird, wenn dieses Verhalten des X das einzig tatsächlich in der bekannten Vorgeschichte seines Lungenkrebsleidens präsente Karzinogen verkörpert oder aber andere vorhandene karzinogene Antecedensfaktoren die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von Lungenkrebs nur so minimal erhöhen, daß das Gericht gleichwohl, unter Beachtung von § 286 ZPO, die Überzeugung zu gewinnen vermag, daß tatsächlich das Rauchen als Kausalfaktor in Betracht kommen kann. 103 Inwieweit ein in der jeweiligen Fachwissenschaft akzeptierter "epidemiologischer Beweis" auch als im Sinne von § 286 ZPO tragfähiger Nachweis für die Kausalitätseignung einer bestimmten Entität angesehen werden kann, ist ein weiteres vielschichtiges Problem. In aller Regel wird ein solcher "epidemiologischer Beweis" als Bestandteil eines Komplexes von Evidenzmaterial dem Gericht präsentiert werden. 104
102 Treffend daher der Columbia District Court in Ethyl Corporation v. EvironmentaI Protection Agency, 541 F.2d I, 26 (C. A. D. C. 1976), cert. den. 96 S. Ct. 2662,2663 (1976): "epidemiology is most relevant because it studies phenomena actually occurring in humans under 'natural conditions' but can only draw inferences from observed correlations rather than prove cause and effect relationships." Siehe dazu auch MobilialRossignol, S. 81, 85 f.; Eingehend dazu auch Weitnauer, Wahrscheinlichkeit und Tatsachenfeststellung, Karlsruher Forum 1966, S. 6 ff. 103 "Epidemiologische Studien" kommen hier als Entscheidungsgrundlage nur dann in Betracht, wenn das für die Antecedensentität ermittelte Zusatzrisiko ("attributable risk") derartig groß ist, daß das Gericht bereits hieraus die Übeneugung zu gewinnen vermag, daß auch in dem konkreten Fall nur diese Entität als Kausalfaktor infrage kommen kann. Diese Fälle aber werden ausgesprochen selten sein. - In der US-amerikanischen zivilrechtlichen Prozeßpraxis, deren Beweismaß durch die "preponderance-Rule" definiert wird, ist der Beweis existenter kausaler Dependenz schon dann geführt, wenn das Zusatzrisiko 50% überschreitet und insoweit auf zweiter Stufe eine tragfähige "kausale Interpretation" möglich ist. Vgl. dazu Black/Iilienfeld, 767 ff. In der Spruchpraxis der Gerichte haben "epidemiologische Beweise" jedoch bis dato eher zu einer Desavouierung von Kausalitätsbeweisen geführt; dies insbesondere wohl deshalb, weil das Zusatzrisiko nur in Ausnahmefällen 50 % überschreiten konnte. Vgl. FinkelsteinlLevin, S. 21 mwN. 104
Vgl. FinkelsteinlLevin, S. 21.
n. Bisherige Lösungsansätze
239
Im Hinblick auf den "epidemiologischen Nachweis" wird das Gericht dabei zunächst zu prüfen haben, ob die den epidemiologischen Studien zugrunde liegenden statistischen Erhebungen für den konkreten Fall überhaupt aussagekräftig sind. Es gilt zu entscheiden, ob die bei den jeweiligen Untersuchungen für gegeben erachteten Ausgangsbedingungen auch für den konkreten Fall gültig sind. Bereits hier muß das Gericht eine erste wertende Alles-oder-Nichts-Entscheidung über die Relevanz der vorgelegten epidemiologischen Daten für die Beurteilung des konkreten Falles treffen. Sind die vorgelegten "epidemiologischen Studien" in diesem Sinne einschlägig, muß sich das Gericht darüber klar werden, inwieweit es sich der in der jeweiligen Fachwissenschaft akzeptierten Interpretation der beobachteten statistischen Relevanzbeziehung als einer kausalen Relation anzuschließen vermag. Dabei sind insbesondere die in denjeweiligen Fachwissenschaften abweichenden Maßstäbe für eine Überzeugungsbildung in Rechnung zu stellen. Gerade in einer medizinischen Untersuchung, bei der es etwa um die Entdeckung präventionsbedürftiger karzinogener Faktoren geht, werden an die Bejahung einer kausalen Bezüglichkeit sicherlich sehr viel geringere Anforderungen gestellt werden können, alls dies auf der Grundlage des § 286 ZPO in einem Haftungsprozeß der Fall sein darf. Einem im Hinblick auf die Erhaltung der Gesundheit durchaus vertretbaren fachwissenschaftlichen Urteil muß nicht eine in einem Haftungsprozeß haltbare Überzeugungsbildung zugrunde liegen. lOS Die insoweit auf "zweiter Stufe" von Biologen oder Medizinern angestellten Erwägungen und Wertungen können daher nicht mehr Gewicht für sich beanspruchen, als das eines praktisch vorweggenommenen Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob die in den Blick genommene Antecedensentität ihrer Art nach geeignet ist, eine derartige Subesequensentität zu verursachen. Das Gericht ist stets gehalten, wie bei jedem anderen Sachverständigengutachten auch, eigenständig zu überprüfen, ob es zu einer gleichlautenden Überzeugung gelangen kann oder nicht. Wird ein "epidemiologischer Nachweis", was die Regel sein wird, zudem zusammen mit anderem Beweismaterial vorgelegt, so ist zusätzlich eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, wobei die Tatsache der statistischen Relevanz der Antecedensentität für das Auftreten der Subsequensentität und der "kausalen
lOS Zu den prinzipiellen Unterschieden zwischen wissenschaftlicher und juristischer Informationsverarbeitung und Urteilsbildung siehe GelpelTarlock, S. 372 ff., 390 ff.
240
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
Interpretation" dieser Sequenz durch die jeweilige Fachwissenschaft nur einen Aspekt unter mehreren ausmacht. Im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Waldschadensfälle kommt "epidemiologischen Kausalitätsnachweisen " immer dann eine Bedeutung zu, wenn es um den Nachweis einer Verursachungseignung bestimmter Entitäten oder Entitätenkomplexe geht. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Beklagte die klägerische Behauptung bestreitet, das am Immissionspunkt anzutreffende Immissionsszenario habe zu den erlittenen Schäden geführt. Hier können epidemiologische Studien, die entsprechend exponierte Baumbestände mit solchen vergleichen, die nicht einem derartigen Immissionsszenario ausgesetzt waren, möglicherweise Rückschlüsse darauf zu- lassen, inwieweit eine derartige Immissionsexposition die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes eines solchen Schadens zu erhöhen vermag, also geeignet ist, einen solchen Schaden zu verursachen. Immer ist der "epidemiologische Kausalitätsnachweis" dabei nicht mehr und nicht weniger als ein für diese Tatsachenbehauptung streitendes Indiz. Er ist kein "Deus ex machina" für die Behebung gegebener Evidenzdefizite. 106 Seine Verwertung ist nur in Verbindung mit weiterem Informationsmaterial möglich, im Hinblick auf das er nur eine ergänzende, nicht aber ersetzende Funktion zu erfüllen vermag.
111. Die Kausalitätsproblematik der Waldschadensfälle 1. Das Problem der insuffizienten Relation Nach dem hier für das geltende Deliktsrecht vertretenen probabilistischen Kausalitätsverstäodois setzt die Annahme eines haftungsbegrüDdenden Kausalzusammenhanges zwischen einem bestimmten zurechenbaren Verhalten und einer in der Folge eingetretenen Rechtsgutsverletzung unter anderem voraus, daß von diesem Verhalten ausgesagt werden kann, daß es seiner Art nach ge-
106 Die erforderliche Einbindung in vorhandenes gesichertes Erfahrungswissen über kausale Abläufe läßt Ausgriffe über den vorhandenen Wissenstand hinaus nicht zu. Selbstverständlich scheidet ein "epidemiologischer Beweis" auch dann aus, wenn aufgrund zu kleiner Referenzgruppen oder langer Latenzperioden nicht genügend Daten für einigermaßen abgesicherte Statistik gewonnen werden können. Vgl. zu dem damit verbundenen "First- Case"-Problem BlacklLilienfeld, S. 776 ff.
III. Die Kausalitätsproblematik der Waldschadensfälle
241
eignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer derartigen Rechtsgutsverletzung zu erhöhen. 107 Nimmt man als Rechtsgutsverletzung das Absterben bestimmter Bäume an einem bestimmten Standort (Immissionspunkt) und als zurechenbares Verhalten die Emission bestimmter Schadstoffe auf eine bestimmte Art und Weise wiederum an einem bestimmten Standort (Emissionspunkt)l08 in den Blick, so muß zur Überzeugung des Richters zunächst von Folgendem auszugehen sein: (1) Die emittierten Schadstoffe sind ihrer Art nach geeignet, in Verbindung mit bestimmten anderen Faktoren, bei ausreichender Immissionsintensität Bäume zum Absterben zu bringen. (2) Das fragliche Baumsterben ist möglicherweise die Folge einer übermäßigen Belastung der umgebenden Luft mit diesem Schadstoff. (3) Der Schadstoffausstoß am Emissionspunkt ist seiner Art nach geeignet, unter Hinzutritt bestimmter anderer Faktoren (Wetterbedingungen, Temperaturen, synergistische Prozesse mit weiteren Luftschadstoffen, etc.), deren zumindest zeitweiliges Vorliegen wahrscheinlich ist, am Immissionspunkt zu einer Erhöhung des Gehaltes dieses Schadstoffes in der Luft zu führen. Dieses muß zudem zu einem Zeitpunkt geschehen sein können, in dem die fraglichen Bäume noch keine bereits letal wirkende Intoxikation erfahren hatten. 109 Vergegenwärtigt man sich, was oben unter dem Stichwort der "insuffizienten Relation" zu typischen WaldschadensfaJ.len ausgeführt wurde, so scheint es
107 Darüber hinaus ist natürlich weiterhin auch erforderlich, daß die in Rede stehende Rechtsgutsverletzung in einem kausalen Dependenzverhältnis zu dem fraglichen Verhalten steht. Dieses setzt voraus, daß sich das Letztere ex post betrachtet als non redundantes Element eines Antecedensentitätenensembles präsentiert, das eine notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung verkörpert hat. Zu den tnit diesem Erfordernis verbundenen Problemen siehe unten 3.). 108 Vgl. dazu auch Schroll, Die Gefährdung bei Umweltdelikten, Öffil'90, 681, 687 f., dessen Ausführungen ich den Begriff des "Etnissionspunktes" entnommen habe. Nach dem Verständnis von Schroll gilt als "Etnissionspunkt" der "entweder anlagenbedingte oder aber bescheidmäßig festgelegte Ort, an dem Schadstoffe in die Luft, in das Wasser oder in den Boden abgegeben werden". Als derartige Emissionspunkte kommen nicht nur eng begrenzte Einrichtungen, wie Schornsteinöffnungen oder Hochöfen in Betracht, sondern auch größere Flächen, wie etwa Böden oder Dächer, die mit entsprechenden Lösungsmitteln etc. behandelt worden sind. Gleichwohl wird letzteres bei den hier in Rede stehenden Waldschadenskonstellationennur sehr selten der Fall sein. 109 Eine ähnliche Aufgliederung des erforderlichen Kausalitätsnachweises hat bereits Diederichsen, Referat, L 80 ff., allerdings unter der Ägide eines deterministischen Kausalitätsverständnisses, vorgenommen. Diederichsen unterscheidet in diesem Zusammenhang "Kausalitätseignung" , "Initial-, Grund- und Handlungskausalität" .
16 Quentin
242
o\bschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
zumindest in Teilbereichen durchaus möglich zu sein, derartige probabilistische kausale Bezüglichkeiten aufzuzeigen. 110 Dieses·gilt insbesondere für Fallkonstellationen, in denen Luftschadstoffe wie Schwefeldioxid oder auch verschiedene Stickoxide die Rolle des Protagonisten übernehmen, deren toxische Wirkung für Bäume und Pflanzen bei einer bestimmten Immissionsintensität nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann. So darfwohl davon ausgegangen werden, daß etwa ein Waldbesitzer, der das Absterben seiner Bäume auf eine Immission gerade dieser Stoffe zurückführt, insoweit keinen gesonderten Nachweis hinsichtlich deren toxischer Wirkung mehr zu führen braucht und damit also dem oben unter (1) aufgeführten Erfordernis ohne weiteres genügt. Auch wird sich der unter (2) für erforderlich gehaltene Nachweis, daß das konkrete Baumsterben zumindest wahrscheinlich die Folge übermäßiger Schwefeldioxid und/oder Stickoxidkonzentration in der Luft war, in aller Regel schon durch die Feststellung führen lassen, daß der Immisionspunkt in einem Gebiet belegen ist, in dem über längere Zeiträume erhöhte Konzentrationen dieser Schadstoffe in der Luft gemessen werden konnten. Auch dieses sollte angesichts der inzwischen erreichten Meßdichte in vielen Fällen möglich sein. Die Herstellung einer Beziehung zwischen dem konkreten Immissionsszenario und dem Schadstoffausstoß etwa einer bestimmten Großanlage, wie sie unter (3) gefordert wird, ist demgegenüber wesentlich komplizierter. Relativ einfach dürfte noch der Nachweis fallen, daß an dem ins Auge gefaßten Emissionspunkt tatsächlich Schwefeldioxid und/oder Stickoxide emittiert worden sind. In diesem Zusammenhang ist auch an entsprechende Beweiserleichterungen, wie etwa einen Anscheinsbeweis oder auch eine Beweislastumkehr zu denken. Sehr viel schwieriger dürfte es dagegen sein, Aussagen darüber zu treffen, welche Verbreitungsräume die jeweiligen Emissionen ihrer Art nach haben. Der klagende Waldbauer müßte dem Gericht vortragen und gegebenenfalls beweisen, daß die am Emissionspunkt ausgestossenen Schadstoffpartikel unter Zugrundelegung durchschnittlicher Umweltbedingungen (Wetterverhältnisse, etc.) geeignet sind, den Immissionspunkt unter Beibehaltung ihrer toxischen Qualitäten zu erreichen. Auch hierbei sind Beweiserleichterungen hinsichtlich der Beibringung
110 Hier befindet sich denn auch der eigentliche Ansatzpunkt für etwaige epidemiologische Kausalitätsnachweise. Vgl. dazu auch schon Diederichsen, Referat, L 84.
III. Die Kausalitätsproblematik der Waldschadensflille
243
derjeniger Daten denkbar, die dem Betreiber der Emissionsquelle ohne weiteres verfügbar sind (Temperatur der emittierten Gase, Schadstoffkonzentration, Dauer, etc.) oder zu deren Dokumentation er gegebenenfalls sogar verpflichtet ist. 111 Gelingt es dem Kläger, dem Gericht die Überzeugung zu vermitteln, daß der Immissionspunkt im Verbreitungsraum der dem Beklagten zuzurechnenden Emissionen belegen ist, so darf ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß die fraglichen Schadstoffemissionen ihrer Art nach geeignet sind, das Schadstoffszenario am Immissionspunkt negativ zu beeinflussen und so zumindest die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes eines immissionsbedingten Baumsterbens zu erhöhen.
2. Das Problem der fehlenden Proportionierbarkeit Da eine Rechtsgutsverletzung immer schon dann zu bejahen ist, wenn ein zurechenbares Verhalten einen Kausalfaktor für den Eintritt der als Rechtsgutsverletzung zu qualifizierenden Entität darstellt, kommt es für die Frage der Haftungsbegrütidung nicht mehr darauf an, in welcher Intensität das jeweilige Rechtsgut durch das fragliche Verhalten lädiert worden ist. Für die Beantwortung der Frage, ob der Betreiber einer Schadstoffe emittierenden Anlage das Eigentumsrecht etwa eines Waldbauern beeinträchtigt hat, ist es daher letztlich gleichgültig, ob nur drei oder unzählig viele aus den ihm zurechenbaren Emissionen stammende Schadstoffpartikelchen ein non redundantes Element des Immissionsszenarios verkörpern, das zu dem Absterben der in Rede stehenden Bäume geführt hat. Zu einem rechtlich relevanten Problem wird das Fehlen jeglicher Proportionierbarkeit erst in einem anderen Zusammenhang, nämlich dann, wenn von einer gesamtschuldnerisch haftende Emittentenmehrheit ausgegangen werden muß. Hier ist es nun ausgeschlossen, für die Beantwortung der Frage, welchen Anteil an der Schadenslast letztlich jeder Emittent im Innenverhältnis zu tragen hat, durch Heranziehung etwa feststehender Verursachungsbeiträge Anhaltspunkte für eine von der holzschnittartigen Regelung des § 426 I. BGB abweichende Haftungsverteilung zu gewinnen.
111
Siehe dazu oben S. 221 ff.
244
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
3. Das Problem des "Urheberzweijels" Die bei "WaldschadensfaIlen" typischerweise auftretenden Urheberzweifelskonstellationen sind prinzipiell in Anwendung der Vorschrift des § 830 I. S. 2 BGB zu bewältigen. Ein Fall des Urheberzweifels im Sinne des § 830 I. S. 2 BGB liegt, wie gesehen, immer dann vor, wenn der zugrunde liegende Sachverhalt die Bildung mehrerer nicht vollständig identischer Entitätenensembles zuläßt, von denen jedes seiner Art nach geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer Rechtsgutsverletzung von der Art, wie sie der Kläger erlitten hat, zu erhöhen. Weiterhin muß es der Fall sein, daß jedes dieser Entitätenensembles mindestens ein jeweils einem anderen Rechtssubjekt zurechenbares Verhalten als non redundantes Element aufweist, das, unterstellt man das Bestehen eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhanges, ohne weiteres zu einer deliktischen Haftung des Zurechnungsadressaten führen würde. 112 Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des § 830 I. S. 2 BGB auf MasseschadensfaIle wird in der Literatur häufig eingewandt, daß diese Vorschrift hier deshalb nicht anwendbar sei, weil es bei derartigen Konstellationen praktisch nie der Fall sei, daß einer der potentiellen Schadensverursacher allein den ganzen Schaden verursacht haben könnte. 1l3 Soweit dahinter die Vorstellung steht, daß § 830 I. S. 2 BGB nur dann Anwendung fmden könne, wenn jede der in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsalternativen nur ein deliktiisches Verhalten aufweist, so ist dies unzutreffend. Entscheidend ist, ob jeder der Alternativtäter dann, wenn sicher wäre, daß die Sachverhaltsdarstellung die sein deliktisches Verhalten als Verletzungsursache ausweist, zutreffend ist, für den gesamten Schaden haften müßte. Dies ist aber auch immer dann der Fall, wenn injeder der möglichen Sachverhaltsalternativen mehrere potentielle Deliktstäter enthalten sind deren Verhalten lediglich kumuliert als Ursache für die Schadensverursachung in Frage kommt. Da ein deliktisch Handelnder nicht nur dann nach § 823 I. BGB für den gesamten Schaden haften muß, wenn sein Verhalten
112
Vgl. zum ganzen oben S. 166 ff.
113 So etwa Assmann, S. 128 f.; Brüggemeier, Deliktsrecht, Nr. 785; wohl auch Diederichsen, Referat, L 85; RGRK-Steffen, § 830, Rdn. 15 f.; MünchKomm.z.BGB-Mertens, § 830, Rdn. 21, 53 jeweils mwN.
111. Die Kausalitätsproblematik der Waldschadensfälle
245
die einzige haftungsrechtlich relevante Ursache für den Verletzungseintritt und den daraus resultierenden Schaden war, sondern auch dann, wenn sein Verhalten erst im Verbund mit weiteren deliktischen Verhaltensweisen zum Eintritt der Verletzung geführt hat (sog. kumulative Kausalität; Vollhaftung aller Akteure als Gesamtschuldner nach den §§ 823 1., 840 I. BGB), erscheint es wenig einsichtig, nun für den Fall der Alternativtäterschaft nur Konstellationen der Einzeltäteralternativität § 830 I. S. 2 BGB zuzuordnen und Fälle der Mehrtäteralternativität auszuklammern. Eine Konstellation der Mehrtäteralternativität in der entweder A + B oder aber C + D das Eigentum des 0 verletzt haben, ist im Hinblick auf die für die Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB wesentlichen Gesichtspunkte nicht von einer Einzeltäteralternativitäts-Konstellation zu unterscheiden, bei der lediglich offen geblieben ist, ob A oder C Rechtsgüter des 0 lädiert haben. In beiden Fällen bliebe der sicher deliktisch geschädigte o ohne Ersatzanspruch, wenn er sein Begehren allein unter der Prämisse des § 823 I. BGB geltend machen müßte, denn er kann in beiden Fällen nicht nachweisen, daß die erlittene Rechtsgutsverletzung zu dem deliktischen Verhalten auch nur eines der Akteure in einem kausalen Dependenzverhältnis steht. Gleichwohl ist das Verhalten aller Akteure deliktisch und dementsprechend präventionswürdig . Eine Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB scheidet dagegen allerdings bei solchen Waldschadenslagen aus, bei denen sich ein Immissionsszenario konstruieren läßt, daß kein zurechenbares deliktisches Verhalten als non redundantes Element aufweist. Dieses ist etwa dann der Fall, wenn das Absterben von Bäumen an einem bestimmten Standort auch allein durch Immissionen erklärt werden kann, die ausschließlich auf ein nicht objektiv zurechenbares oder aber ein gerechtfertigtes Emissionsverhalten zurückgeführt werden können. In welchem Umfang diese Möglichkeit besteht, hängt wesentlich davon ab, inwieweit die Gerichte bereit sind, unter Zuhilfenahme der gebräuchlichen Kriterien objektiver Zurechnung wie Adäquanztheorie, Risikoerhöhungslehre, sozialadäquatem Verhalten, erlaubtem Risiko, etc. Emissionsverhaltensweisen für nicht zurechenbar zu erklären oder aber, durch eine entsprechende Konstitution der relevanten Sorgfaltspflichten insoweit von einem Rechtswidrigkeitsurteil bzw. einem Schuldvorwurf absehen. Ganz wesentlich wird es in diesem Zusammenhang auch darauf ankommen, ob die Gerichte bereit sein werden, über durch öffentlich rechtliche Vorschriften vorgegebene Verhaltensstandards
246
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
hinausgehende zivilrechtliche Sorgfaltspflichten anzuerkennen oder nicht. 1l4 Einige Autoren gehen angesichts dieser Unwägbarkeiten davon aus, daß § 830 I. S. 2 BGB tatsächlich wohl nur in wenigen Fällen praktische Relevanz erlangen können wird. l1S Mir erscheint, ohne hierauf näher eingehen zu wollen, diese Skepsis durchaus gerechtfertigt zu sein.
IV. Einzelprobleme 1. Proportio1Ullhajtung im Außenverhältnis statt Vollhaftung mit 1nne1Ulusgleich? An Lösungsansätzen, wie dem hier vertretenen, die zu einer Vollhaftung jedes einzelnen lediglich als Alternativtäter in Betracht kommenden Emittenten führen, ist in der Vergangenheit mehrfach Kritik geübt und stattdessen praeter legem eine Teilhaftung der jeweiligen Alternativtäter bereits im Außenverhältnis befürwortet worden. Häufig gewählter Anknüpfungspunkt für derartige Konzepte ist eine inzwischen berühmt gewordene Entscheidung des California Supreme Courts 116. Verschiedene Arzneimittelproduzenten hatten in den Jahren zwischen
114
Eingehend dazu Diederichsen, Referat, L 58 ff.; BTÜggemeier, Deliktsrecht, Nr. 777.
So etwa Steffen, Verschuldenshaftung und Gefährdungshaftung für Umweltschäden, NJW'90, 1817,1821.
115
116 Sindel v. Abort Laboratories, 26 Cal.3d 588, 163 Cal.Rptr. 132, flJ7 P.2d 924, [1980] cert. denied,449 U.S. 912 (1980). - Vgl. zu dieser Entscheidung Note (K. A. Biehl), Proof ofCausation in Multiparty Drug Litigation, 56 Tex. L. Rev., 125 (1977); Note, Market Share Liability: An Answer to the DES Causation Problem, 94 Harv. L. Rev., 668 (1981); de LousanojJ, "Market Share" Liability - Die neueste Entwicklung im amerikanischen Recht der Produzentenhaftung, RIW'83 , 145 ff., sowie Bodewig, S. 508 ff. - Ablehnend mit eingehender Begründung, Note (J. B. Newcomb), Market Sha~ Liability for Defective Products: An ID-Advised Remedy for the Problem of Identification, 76 Nw. U. L. Rev., 300 (1981); Comment (B. B. Redemann), Manufacturers Liability Based on a Marked Share Theory: SindeIl v. Abott Laboratories, 16 Tulsa L. J., 286, 309 ff. (1980). Kritische bzw. skeptische Anmerkungen finden sich auch bei, Prosser and Keeton on Torts, § 103 (S. 713 f.). Gorrwald, Kausalität und Zurechnung, S. 25 f., sieht in dem Konzept der "Market Share Liability" keinen für das deutsche Recht de lege lata kompatiblen Ansatz. - Die DES-Problematik liegt noch einigen weiteren Gerichtsentscheidungen in den USA zugrunde. Schadensersatzklagengegen DES-Hersteller wurden in mehr als 1000 Fällen erhoben. Vgl. die Nachweise in Market Share Liability: An Answer to the DES Causation Problem, Fn. 3 und 8.
IV. Einzelprobleme
247
1941 und 1971 DES-haltige Präparate hergestellt und vertrieben. Diese sollten von schwangeren Frauen eingenommen werden und dazu dienen, Fehlgeburten vermeiden zu helfen. Wie sich erst später feststellen ließ, war die künstlich hergestellte chemische Verbindung DES1l7 geeignet, bei zum Zeitpunkt der Einnahme in utero befmdlichen Töchtern dieser Frauen Vaginalkrebs zu verursachen, der jedoch erst viele Jahre nach der Einnahme dieses Mittels manifest wurde. Mrs. SindeIl, deren Mutter ein DES-Präparat während der Schwangerschaft genommen hatte, war an Vaginalkrebs erkrankt und nahm nun eine Gruppe von DES-Herstellers, die während der fraglichen Zeit derartige Präparate vertrieben hatten, auf Schadensersatz in Anspruch. Das Gericht machte den Erfolg einer solchen Klage zunächst grundSätzlich davon abhängig, daß die in Anspruch genommenen Arzneimittelhersteller zusammen einen wesentlichen Teil ("substantial share") der gesamten DES-Produktion auf sich vereinigen. Dabei ging das Gericht von der Erwägung aus, daß eine Haftung aller Beklagten trotz des Wissens darnm, daß tatsächlich nur ein DES-Hersteller letztlich durch sein Verhalten einen Kausalfaktor für die konkrete Erkrankung gesetzt hat, nur dann in Betracht kommen könne, wenn mit einiger Sicherheit feststeht, daß dieser tatsächliche Schädiger auch unter den Beklagten zu fmden ist. Dieses sei im Ergebnis nur dann sicherzustellen, wenn sich die Klage letztlich gegen die Hersteller eines "substantial share" der relevanten DES-Produktion richtet. Da die Klägerin mit ihrer Klage diesem Erfordernis nachgekommen war, sprach ihr das Gericht Ersatzansprüche gegen jeden der Beklagten zu, beschränkte diese aber in der Höhe auf den jeweils von den Beklagten im einzelnen gehaltenen Marktanteil ("market-share-liability"). Leitender Gesichts-
117 Das Künel DES steht für Diethylstilbestrol, ein künstlich hergestelltes Östrogen, erstmals synthetisiert im Jahre 1938 in England. Nachdem die US-amerikanischeFood and Drug Administration (FDA) im Jahre 1941 DES überprüft und unbeanstandet gelassen hatte, wurden daraufhin in den USA DES-haltige Produkte in großer Zahl vertrieben. Erst 1971 erklärte die FDA unter dem Eindruck verschiedener Studien Schwangerschaft zu einer Kontraindikation für die Einnahme DEShaItiger Produkte. Vgl. zum ganzen, Comment, Manufacturers Liability based on a Marked Share Theory, S. 287 f. insbes. auch die Fn. 6 - 9; Note, Marked Share Liability: An Answer to the DES Causation Problem, S. 668 f.; Robinson, S. 717 ff.. - Auf die mit diesen Geschehnissen verbundenen mannigfaltigen Probleme insbesondere im Hinblick auf Fragen der Vorhersehbarkeit und des Verschuldens kann hier nur hingewiesen werden. Angesichts des Geschilderten kann eine Haftung der jeweiligen DES-Hersteller wohl nur verschuldensunabhängig im Sinne einer Gefahrdungshaftung für das Inverkehrbringen schadensträchtiger Produkte begründet werden. Vgl. dazu nochmals Comment, Manufacturers Liability based on a Marked Share Theory, S. 314 f.
248
6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
punkt hierbei war offensichtlich die Überlegung, daß jeder DES-Hersteller für einen konkreten Schaden nur insoweit haften könne, als es wahrscheinlich ist, daß dieser Schaden auf die Einnahme eines Präparates aus seiner Produktion zurückgeführt werden könne. Diese konkrete Verursachungswahrscheinlichkeit lasse sich sachgerecht analog des dem jeweiligen Hersteller zukommenden Marktanteiles bestimmen. Unter teilweise unmittelbarer Bezugnahme auf die diese Entscheidung tragenden Grundsätze schlagen die Vertreter einer Proportionalhaftungslösung vor, in Fällen multipler Alternativtäterschaft die als Alternativtäter in Betracht kommenden Haftungskandidaten bereits im Außenverhältnis jeweils nur entsprechend der auf sie entfallenden Verursachungswahrscheinlichkeit haften zu lassen. Wer danach etwa eine Anlage betreibt, deren Emissionen mit einer Wahrscheinlichkeit von 10% für den Eintritt einer bestimmten Rechtsgutsverletzung ursächlich geworden sein können, hat folglich auch nur für 10% des entstandenen Schadens aufzukommen. 118 Als Parameter für eine Bestimmung der konkreten Verursachungswahrscheinlichkeit wurde dabei unter anderem, wiederum analog SindeIl versus Abott, der auf jeden Emittenten entfallende Anteil am Gesamtausstoß eines bestimmten Schadstoffes vorgeschlagen (sog. "pollution-share-liability"). In der nun folgenden Diskussion soll zunächst unter a.) auf die von den Vertretern einer solchen Proportionalhaftungslösung an einer Vollhaftung geübten Kritik im einzelnen eingegangen werden. In der Folge wird dann unter b.) die Proportionalhaftungslösung der durch § 830 I. S. 2 BGB präjudizierten Vollhaftung unmittelbar gegenübergestellt, um deren Vorzüge und Nachteile, gerade auch im Hinblick auf die das deliktische Haftungsrecht tragenden Prinzipien, quasi synoptisch erörtern zu können.
l1S Vgl. Rosenberg, S. 881 ff., 892 ff, 924 ff.(Conclusion); Delgado, 899 ff.; Scully, S. 141 ff.; Robinson, Multiple Causation in Tort Law: Reflections on the DES Cases, 68 Va. L. Rev., 713, 736 ff. (1982); ders., Probabilistic Causation and Compensation for Tortious Risk, 14]. Legal Stud., 779, 781 ff. (1985); Bodewig, S. 531 ff.; Köndgen, ÜberIegungenzur Fortbildung des Umwelthaftpflichtrechtes, UPR'83, 345 I 346 ff., der diese Lösung zumindest für "diskutabel" hält; Adams, Zur Aufgabe des Haftungsrechtesim Umweltschutz, ZZP, 99.Band (1986), S. 129, 155 ff.; ders. , Ökonomische Analyse der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung, Heidelberg 1985, S. 191 ff.; Hager, Umwelthaftungsgesetz, S. 139 f.; im Ansatz bereits auch schon Rother, Die Begriffe Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden in ihrer Beziehung zueinander, Festschrift für KarI Larenz zum 70. Geburtstag, hrsg. von Gotthan Paulus et alt., München 1978, S. 537,543 f.
IV. Einzelprobleme
249
a.) Die gegen eine Vollhaftungslösung vorgebrachten Argumente verfolgen im wesentlichen zwei Stoßrichtungen. Die eine führt im Ergebnis zu dem Vorwurf, daß eine Vollhaftung im Außenverhältnis eine unbillige Benachteiligung der potentiellen Schädiger überhaupt und der verklagten potentiellen Schädiger im besonderen zur Folge habe. Die andere rügt ökonomische Ineffiziens und damit verbunden eine nur unzureichende Verfolgung der eigentlichen Zwecke deliktischer Haftung. (1.) Eine strikte Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB auf Fälle multipler Alternativtäterschaft wird teilweise deshalb als unbillig empfunden, weil dann nicht mehr annähernd gewährleistet werden könne, daß die wahren Schadensverursacher auch tatsächlich in Anspruch genommen werden. Es sei vielmehr damit zu rechnen, daß einerseits viele "Beteiligte" im Ergebnis für die schädlichen Folgen von Rechtsgutsverletzungen zu haften hätten, zu denen das ihnen zurechenbare Verhalten in keinem ursächlichen Zusammenhang steht, während andererseits ein Großteil der tatsächlichen Schadensverursacher unbehelligt davonkommt. 119 Geht man beispielsweise von einem Fall aus, in dem der Kläger nur 10 von 60 als Alternativtäter in Betracht kommenden Emittenten in Anspruch nimmt, so liegt es nahe, daß unter den Beklagten keine oder wenige tatsächliche Schadensverursacher zu finden sind, während viele Emittenten, deren Verhalten realiter in einem kausalen Zusammenhang zu der erlittenen Rechtsgutsbeeinträchtigung steht, nicht zur Verantwortung gezogen werden. Die durch § 426 BGB jedem im Außenverhältnis auf den gesamten Schaden haftenden Alternativtäter eingeräumte Möglichkeit der Regreßnahme kommt nach dieser Ansicht nur geringe Bedeutung zu, da die Durchsetzung der jeweiligen Ansprüche häufig aufgrund fehlender Nachweismöglichkeiten oder aber auch nicht vorhandener Solvenz zum scheitern verurteilt sein wird. 120 Der Einwand, daß bei Anwendung der Vollhaftungslösung Rechtssubjekte zur Verantwortung gezogen werden, deren Verhalten in keinem kausalen Zusammenhang zu der erlittenen Rechtsgutsverletzung steht, ist in der Sache zutreffend, doch handelt es sich hierbei nicht um eine "Unzuträglichkeit", die
119 Vgl. dazu Rosenberg, S. 882 f.; Scully, S. 134 ff.; Delgado, S. 892 f.; sowie auch Note (Newcomb), Market Share Liability for Defective Products, S. 326 ff. 120 Vgl. Bodewig, S. 526; Scully, S. 135. - Zu beachten ist, daß es nach US-amerikanischem Haftungsrecht nicht grundSätzlich der Fall ist, daß zwischen den Alternativtätern ein Innenausgleich stattfmdet. Die von Seiten US-amerkanischer Rechtswissenschaftler an einer Vollhaftungs!ösung geübte Kritik sollte daher auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
gerade bei Umweltschäden von der hier in Rede stehenden Art neu auftritt, sondern um eine auch der Regelung des § 830 I. S. 2 BGB wesenseigene Konsequenz. Gerade auch die archetypischen Fälle des "Urheberzweifels " , deren Lösung unumstritten ist, zeichnen sich dadurch aus, daß mindestens ein Rechtssubjekt für eine Rechtsgutsverletzung haften muß, zu der das ihm zurechenbare Verhalten in keiner kausalen Relation steht. Vergegenwärtigt man sich in diesem Zusammenhang noch einmal den oben bereits strapazierten Beispielsfall der beiden Bergwanderer A und B, die jeweils unabhängig voneinander einen Stein lostreten, von denen einer den unterhalb von A und B seines Weges ziehenden 0 am Kopf trifft und nicht unwesentlich verletzt, ohne daß abgeklärt werden könnte, welcher der beiden Steine 0 lädiert hat, so wird dieses besonders deutlich. Es dürfte unstreitig sein, daß dieser Fall nach § 830 I. S. 2 BGB zu lösen ist; mit dem Ergebnis, daß A und B als Gesamtschuldner für den Schaden des 0 haften. Da aber sicher ist, daß nur ein Stein den 0 traf, also auch ein Stein ohne relevante Spuren zu hinterlassen ins Tal rollte, liegt es.in der Natur dieses Ergebnisses, daß entweder A oder B für eine Rechtsgutsverletzung haften, für die das ihnen zurechenbare Verhalten (Lostreten eines Steines) keinen Kausalfaktor verkörpert. Wenn also einer Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB auf Masseschadensfälle entgegengehalten wird, daß dies eine Haftung trotz Fehlens eines Kausalzusammenhanges zur Folge haben kann, so handelt es sich hierbei im Grunde nicht um einen Einwand gegen die Anwendung dieser Vorschrift auf derartige Fallkonstellationen, sondern um eine Kritik an der Regelung des § 830 I. S. 2 BGB schlechthin.!2! Hierzu ist zweierlei anzumerken: Zunächst muß festgehalten werden, daß ungeachtet der Tatsache, ob man bereit ist, die durch § 830 I. S. 2 BGB erfolgende bewußte Inkaufnahme der Haftung von Nichturhebem zu akzeptieren oder nicht, hieraus kein Argument erwächst, daß zwar gegen die Vollhaftungslösung, aber für eine etwaige Proportionalhaftung spricht. Auch die Proportionalhaftungslösung postuliert im Ergebnis auf strukturell identische Weise eine Haftung trotz realiter fehlender Verursachung. Ließe man etwa in diesem Sinne A und B nur auf 50 % des entstandenen Schadens haften, so wäre es noch immer der Fall, daß 1 Beklagter zur Verantwortung gezogen würde, obwohl er sicher nicht schadensursächlich gehandelt hat. Der Unterschied zur VoIlhaftungslösung besteht im wesenlichen darin, daß keiner der "Beteiligten" zunächst
121
So auch Bodewig, S. 512,539; Siehe dazu auch oben S. 169 ff.
IV. Einzelprobleme
251
im Außenverhältnis für den gesamten Schaden einzustehen hat und sich erst in vielen Regreßprozessen im Idealfall zu 50 % zu entlasten suchen muß. Auch die Proportionalhaftungslösung reagiert auf die Einsicht nicht in einer Welt perfekten Wissens zu leben mit der Annahme einer Haftung aller potentiellen Urheber. 122 Darüber hinaus vermag dieser Einwand auch per se betrachtet nicht zu überzeugen. Natürlich muß prinzipiell die Frage gestellt werden, ob eine unmodifIzierte Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB auf Fälle multipler Alternativtäterschaft, trotz rigider Beachtung der durch den Tatbestand definierten Grenzen, nicht doch im Ergebnis die dieser Norm zugrunde liegende Billigkeitserwägung konterkariert. So scheint es doch zumindest auf den ersten Blick so zu sein, als ob das hinter § 830 I. S. 2 BGB stehende Gerechtigkeitsargument, wonach es besser sei, deliktisch handelnde Akteure trotz möglicherweise fehlender Kausalität zu belasten, als ein unschuldiges Opfer leer ausgehen zu lassen, dann an Überzeugungskraft verliert, wenn etwa im Ergebnis 99 "Nichttäter" haften müssen, um unter dem Strich nur ein Opfer freizustellen. Man stelle sich etwa nur vor, in dem Bergwandererbeispiel hätten nicht nur 2, sondern 100 Personen oberhalb von 0 jeweils kausal unabhängig voneinander einen Stein losgetreten. Einer dieser 100 Steine hat 0 am Kopf getroffen und nicht unwesentlich verletzt. Es bleibt ungeklärt, welcher dieser Steine tatsächlich zu der Verletzung des 0 geführt hat. In Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB gelangt man hier zu dem Ergebnis, daß alle 100 Steinauslöser als Gesamtschuldner auf Schadensersatz zu haften hätten; mit der denknotwendigen Konsequenz, daß 99 Personen hier für einen Schaden einzustehen haben, zu dem das ihnen zurechenbare Verhalten in keiner kausalen Dependenzrelation steht. 123 Was bei Konstellationen mit 2 oder 3 Alternativtätern noch ohne
122 Umgekehrt liegt aber auch in der Feststellung, daß die Proportionalhaftungslösung notwendig zu falschen Ergebnissen führe(so etwa Gmehling, S. 229) kein durchgreifender Einwand gegen dieses Konzept. Auch § 830 I. S. 2 BOB führt im Hinblick auf den unerkennbar gebliebenen Nichtverursacher immer zu einem "falschen Urteil". Es liegt im Wesen von Urheberzweifelskonstellationen, daß jede denkbare Lösung (Vollhaftung aller Alternativtäter; Proportionalhaftung; Nichthaftung) immer zumindest zu einem Teil falsch ist. 123 Einen untauglichen Versuch diesem Problem zu entgehen, hat der California Supreme Court in seiner Entscheidung SindeIl versus Abott unternommen, indem er dem Kläger aufgab, alle oder doch zumindest einen wesentlichen Teil der in Betracht kommenden "Beteiligten" auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Die Zahl der in einem Prozeß Beklagten hat auf die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmter Alternativtäter auch realiter der Urheber des Schadens ist, keinen Einfluß. So
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ihre deliktsrechtliche Bewältigung
weiteres eingängig zu sein scheint, erweist sich bei unbefangener Betrachtung angesichts der Vorstellung einer Haftung von 99 Nicht-Urhebern zum Wohle eines einzigen Opfers zunächst als eher kontraintuitiv .124 Löst man sich demgegenüber jedoch von der Suggestivkraft scheinbarer Evidenzerlebnisse, so muß man zu der Einsicht gelangen, daß es letztlich keinen guten Grund dafür gibt, warum die für Fälle multipler Alternativtäterschaft typische Eutrophie der Zahl der "Haftungskanditaten" im Hinblick auf das die Regelung des § 830 I. S. 2 BGB im Kern tragende Gerechtigkeitsargument von wesentlicher Bedeutung sein sollte. An der zugrundeliegenden und von § 830 I. S. 2 BGB ins Auge gefaßten Problemkonstellation ändert sich nichts, gleichgültig ob diesbezüglich 2 oder 100 potentielle Täter zur Debatte stehen. Die Frage bleibt auch hier, ob ein sicher deliklisch geschädigtes Opfer nur deshalb ohne durchsetzbaren Ersatzanspruch bleiben soll, weil nicht nur eine, sondern me)lfere Personen ihm gegenüber ein präventionswürdiges, deliktisches Verhalten an den Tag gelegt haben. Es besteht kein Grund, diese Gerechtigkeitsfrage jetzt nur deshalb anders zu beantworten, weil die Zahl der in Betracht kommenden Alternativtäter auf einmal signiftkant angewachsen ist. 125 Keiner der vielen Alternativtäter in einem Fall multipler Alternativtäterschaft ist letztlich stärker belastet, als wenn er sich diese Position mit nur einem oder zwei Rechtssubjekten teilen müßte. Eine tatsächliche Inanspruchnahme unmittelbar oder auch im Regreßwege ist sogar eher unwahrscheinlich als etwa in dem Fall der zwei fahrlässig handelnden Jäger, wie er der Entscheidung Summers versus Tice zugrunde lag.
bleibt es in dem Beispielsfall dabei, daß jeder Steinauslöser nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 % als tatsächlicher Urheber der vom Kläger erlittenen Rechtsgutsverletzung in Betracht kommt, ganz unabhängig davon, ob dieser tatsächlich 1, 50 oder allen 1()() Steinauslösern eine Klageschrift zustellen läßt oder nicht. Vgl. dazu eingehend Robinson, Multiple Causation in Ton Law, S. 724 f. 124 Vgl. dazu eingehend R. W. Wright, Causation in Ton Law, 73 Cal. L. Rev., 1735, 1817 f. (1985) mwN. aus der US-amerikanischen Rechtsprechungspraxis, der hier dann folgerichtig auch zu dem Ergebnis gelangt, daß eine der Entscheidung Summers versus Tice und damit letztlich auch § 830 I. S. 2 BGB entsprechende Regelung, bei einer größeren Anzahl von Alternativtätern nicht ohne weiteres anwendbar sein könne. Vgl. dazu auch Comment, Manufacturers Liability based on a Marked Share Theory: SindeIl v. Abott Laboratories, S. 312 f.; sowie Robinson, Multiple Causation in Ton Law, S. 724 f.
l2S Wie hier, Note, Proof of Causation in Multiparty Drug Litigation, 56 Tex. L. R., 125, 128 (1977).
IV. Einzelprobleme
253
Bedenken gegen eine Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB treten allerdings dann auf, wenn man abweichend den eigentlichen Haftungsgrund nicht in dieser Gerechtigkeitserwägung, sondern in der Möglichkeit des tatsächlichen Bestehens einer kausalen Dependenzrelation zwischen dem jeweiligen konkreten Verhalten der Beklagten und dem Eintritt der Rechtsgutsverletzung sehen Will. 126 Dieser Haftungsgrund verflüchtigt sich folgerichtig bei Masseschadensfällen analog dem Absinken der konkreten Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines solchen kausalen Abhängigkeitsverhältnisses. So scheinen sicherlich Zweifel angebracht, ob, wie etwa in dem Beispielsfall der 100 Steinauslöser, bei einer Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer konkreten kausalen Dependenzrelation von 1 %, tatsächlich noch eine Vollhaftung auf Grundlage möglicher Kausalität zu rechtfertigen ist. Geht man jedoch, wie oben dargestellt, richtigerweise davon aus, daß § 830 I. S. 2 BGB gerade keine Haftung für mögliche Kausalität postuliert, sondern primär auf der schon mehrfach beschriebenen Gerechtigkeitserwägung beruht, dann ist für derartige Einwände hier kein Raum. 121 Ungeachtet dessen verlieren diese Bedenken im Hinblick auf "Waldschadensfälle " noch aus anderen Gründen wesentlich an Gewicht. Kennzeichen der eigentlichen Fälle des Urheberzweifels ist die Tatsache, daß es nach dem Ergebnis der Kausalanalyse klar ist, daß keinesfalls alle der als "Beteiligte" im Sinne von § 830 I. S. 2 BGB in Betracht kommenden Rechtssubjekte schadensursächlich gehandelt haben. Häufig wird es, wie etwa in den obigen "Steinschlag-Beispielen", sogar so sein, daß nur einer aus dem Kreis der "Beteiligten" Täter gewesen sein kann, während alle anderen für diese Rolle ausscheiden. Hier ist die Belastung nicht schadenskausal handelnder Akteure als unvermeidbar in Kauf zu nehmen. Waldschadensfälle sind demgegenüber nicht von dieser Art. Zwar wird es auch hier häufig so sein, daß lange nicht alle Emittenten, deren Schadstoffausstoß seiner Art nach geeignet war, die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer Rechtsgutsverletzung von der in Rede stehenden Art zu erhöhen, auch tatsächlich ex post betrachtet eine notwendige Bedingung für die konkret aufgetretene Läsion gesetzt haben, gleichwohl ist dieses nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen. Es bleibt denkbar, daß das konkret wirksame Schadstoffensemble Partikel sämtlicher Emittenten als non redundante Elemente
126
So ganz offensichtlich Wright, Causation in Tort Law, S. 1819 f.
127
Vgl. oben S. 174.
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6. Abschn.: Die Kausalitätsproblematik und ibre deliktsrechtliche Bewältigung
enthalten hat. Waldschadensfälle sind in aller Regel Fälle des Urheberzweifels bei möglicher Komplementarität. 128 Hinzu tritt noch ein weiterer gerade bei den hier näher zu betrachtenden Waldschadensfällen bedeutsamer Aspekt, der sich erst dann erschließt, wenn man sich bei der Betrachtung von einzelnen konkreten Schadenskonstellationen löst und stattdessen das gesamte Geschehen in den Blick nimmt. Kommen etwa für den Tod einzelner Bäume an einem bestimmten Standort 100 Emittenten als potentielle Täter in Betracht, wobei die Annahme realistisch erscheint, daß nur ganz wenige von ihnen tatsächlich einen kausalen Beitrag geleistet haben, so führt die Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB zu einer Haftung vieler zwar deliktisch handelnder Rechtssubjekte, zu deren Verhalten jedoch die konkrete Rechtsgutsverletzung in keinem kausalen Dependenzverhältnis steht. Vergegenwärtigt man sich jedoch, daß es nicht nur einen, sondern viele dieser Schadensfälle gibt, für deren Verursachung ceteribus paribus auch stets nur dieses Emittentenkollektiv in Betracht kommt, so liegt es nahe anzunehmen, daß jeder dieser Emittenten mit seinem Verhalten einen Kausalfaktor für mindestens einige dieser vielen konkreten Rechtsgutsverletzungen gesetzt hat. Führt daher auch eine Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB in vielen Einzelfällen dazu, daß ein Emittent für die Folgen einer Rechtsgutsverletzung einstehen muß, zu der das ihm zurechenbare Verhalten in keiner kausalen Relation steht, so ist es doch gleichwohl nicht der Fall, daß damit, anders als in dem oben geschilderten Bergsteigerbeispiel, für ein tatsächlich per se unschädliches Verhalten gehaftet werden müßte. 129 Auch der zweite Teil dieses Argumentes vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen. Richtig ist, daß ein sich auf § 830 I. S. 2 BGB stützender Kläger grundSätzlich nicht gehalten ist, alle als Alternativtäter in Betracht kommenden Rechtssubjekte in Anspruch zu nehmen, sodaß es durchaus möglich ist, daß viele gleichfalls als "Beteiligte" im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizierende Emittenten zunächst nicht zur Verantwortung gezogen werden. Soweit hierin deshalb eine Unzuträglichkeit zu Lasten der tatsächlich Beklagten liegen soll, weil sie so Gefahr laufen, einen Regreßprozeß deshalb zu verlieren, weil das zweite Gericht den Sachverhalt anders würdigt als das
128
Siehe dazu auch oben S. 177.
129
Vgl. dazu insbesondere Rosenberg, S. 883.
IV. Einzelprobleme
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Erstgericht, kann dem nicht zugestimmt werden. Jeder Beklagte vermag dem aus eigener Kraft hinreichend vorzubeugen, indem er die nicht verklagten "Konkurrenzemittenten" im Wege der Streitverkündung nach § 72 I. 1. Alt. ZPO in das Verfahren einbezieht und so insbesondere der Nebeninterventionswirkung (§§ 68 1. HS, 74 I. vel III. ZPO) aussetzt. Werden von 3 Emittenten, die in vergleichbarer Weise im Umkreis des Immissionspunktes Kraftwerke betreiben nur 2 nach § 830 I. S. 2 BGB in Anspruch genommen und werden diese zu Schadensersatzleistungen verurtdt, wobei das Gericht feststellt, daß ihr jeweiliger Schadstoffausstoß seiner Art geeignet ist, die am Immissionspunkt eingetretenen Schäden zu verursachen, so kann durch eine entsprechende Streitverkündung auch der dritte zunächst unverklagte Emittent an diese Feststellungen gebunden werden. Der Calijomia Supreme Court sah demgegenüber in der Möglichkeit, daß der "wahre Täter" zumindest von Seiten des Opfers letztlich unverklagt bleibt, offensichtlich ein echtes Problem materieller Gerechtigkeit, lag doch seinem Postulat, wonach die Klägerin so viele DES-Hersteller zu verklagen habe, daß zumindest die Urheber eines "substantial-share" der in Betracht zu ziehenden Produktion tatsächlich die beklagte Partei bilden, die Erwägung zugrunde, daß die in der Entscheidung Summers versus Tice l30 niedergelegten, § 830 I. S. 2 BGB im wesentlichen entsprechenden Grundsätze, nur dann anwendbar sein können, wenn tatsächlich auch gewährleistet ist, daß in diesem Verfahren der "wahre Täter" zumindest auch zur Verantwortung gezogen wird. Hierbei werden evidentermaßen materiellrechtliche Haftungsbegründung und prozessuale Durchsetzung miteinander vermengt. Die Haftung von Alternativtätern beruht, wie dargestellt, primär auf der Gerechtigkeitserwägung, Haftung trotz fehlenden Nachweises kausaler Dependenz ausnahmsweise da zuzulassen, wo auf Seiten jedes HaftpflichtigenSozialwidrigkeit (Gefährlichkeit, Handlungsunrecht, etc.) und damit Präventionswürdigkeit ohne weiteres vorliegt und ein Bestehen auf erwiesener kausaler Dependenz sicher deliktisch geschädigte Opfer ersatzlos ließe. Die Frage, warum und wann Altemativtäter haftbar sind, beantwortet sich dementsprechend vollkommen unabhängig davon, wie wahrscheinlich es ist, daß der "wahre Täter" auch tatsächlich prozessual in Anspruch genommen werden wird oder nicht. Oder, anders gewendet, aus der Tatsache, daß der Geschädigte auch den "wahren Täter" aktuell in Anspruch nimmt (mitverklagt),
130
Siehe oben S. 177.
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ergibt sich noch kein Argument dafür, warum er auch befugt sein sollte, ein Rechtssubjekt zu Schadensersatzleistungen heranzuziehen, zu dessen Verhalten der erlittene Schaden in keinem kausalen Dependenzverhältnis steht. Hieran ändert sich im Ergebnis auch nichts, wenn man allein, fernab von dogmatischen Erwägungen, die Interessen der Parteien in den Blick nimmt. Versetzt man sich etwa in die Lage des Klägers, so kann es in dieser Situation nur darauf ankommen, mit möglichst geringem Aufwand ein Urteil gegen zumindest einen oder doch, soweit erforderlich, mehrere zahlungskräftige Schuldner zu erwirken. Daran, annehmen zu dürfen, mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen Titel gegen den wahren Täter in der Hand halten zu können, hat der Kläger darüberhinaus kein Interesse. Aus der Perspektive der Beklagten kommt es demgegenüber, abgesehen von der Möglichkeit des Entlastungsbeweises, darauf an, daß gleichfalls viele kapitalkräftige Alternativtäter mitbeklagt bzw. in den Prozeß einbezogen werden, um so für den Fall der tatsächlichen Inanspruchnahme bessere eigene Regreßchancen zu haben. Auch hier spielt letztlich die Frage, ob auch der wahre Täter mitverurteilt worden ist oder nicht keine Rolle. Natürlich käme diesbezüglich das "substantial-share-Erfordernis" den Beklagten hier entgegen, doch besteht unter diesem Aspekt für eine solche Konditionierung der Klagemöglichkeit, abgesehen von dem Problem einer dogmatischen Begründung de lege lata, angesichts der Möglichkeit der Streitverkündung kein anerkennenswertes praktisches Bedürfnis mehr. (2.) Einen weiteren durchaus eigenständigen Ansatzpunkt für eine Kritik an der Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB hat insbesondere Bodewig herausgearbeitet. Nach seiner Ansicht heben sich Masseschadensfälle von den archetypischen Fällen des Urheberzweifels unter anderem auch gerade dadurch ab, daß der Vielzahl von potentiellen Tätern gleichfalls eine große Zahl von Opfern gegenübersteht. Wenn nun § 830 I. S. 2 BGB in jedem von einem einzelnen Opfer angestrengten Haftungsprozeß Anwendung findet, so kann dieses dann, wenn immer derselbe potentielle Schädiger in Anspruch genommen wird, zu dem Ergebnis führen, daß er am Ende für den allen Opfern entstandenen Schaden haften muß, obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, daß er durch ein ihm zurechenbares Verhalten einen Kausalfaktor hierfür begründet hat. Angenommen T, der das Produkt X vertreibt, hat insoweit einen Marktanteil von 10 %. Das Produkt X erhöht die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Krankheit Y. Nach Konsum des Produktes X erkranken 100 Personen an Y. Unklar bleibt, aus welcher Produktion das jeweils konsumierte X stammte. Da T nur einen
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Marktanteil von 10% hält, besteht, was hier als Arbeitshypothese unterstellt sein soll, in jedem Einzelfall eine Wahrscheinlichkeit von 10%, daß das verletzungsursächliche X von T produziert worden ist. Verklagen hier nun alle 100 Y-Kranken nur T auf Schadensersatz, so müßte T, bei jeweiliger Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB, im Ergebnis auf den gesamten durch die XProduktion überhaupt verursachten Schaden haften, obwohl er an dieser Produktion nur zu 10% beteiligt gewesen ist. Bodewig sieht in diesem Ergebnis eine Benachteiligung des Schädigers T, die allein darauf zurückzuführen ist, daß ihm eine Vielzahl von Opfern gegenübersteht, die ihre Ansprüche in distinkten Prozessen geltend machen können. Wäre nur ein Rechtsgutsträger geschädigt worden, so hätte T nur 10% des Gesamtschadens zu ersetzen gehabt. 13l Bodewigs Argumentation stützt sich dabei auf zwei Beispielsfälle. In einer Tiefgarage sind Pkw eingestellt, die unterschiedlichen Personen gehören (A, B, C). In einer Nacht steigen unabhängig voneinander die drei Diebe D 1, D2 und D3 in die Garage ein und entwenden jeweils einen Wagen. Nur Dl wird gefaßt. Es bleibt unklar, welchen Wagen Dl gestohlen hat. Verklagen nun alle Eigentümer in getrennten Prozessen den Dl auf Schadensersatz, so hätte er in Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB im Endergebnis für alle Pkw aufzukommen, obwohl er nur einen gestohlen hatte. Diesem Fall stellt Bodewig nun einen Sachverhalt gegenüber, bei dem das Warenlager des A von mehreren unabhängig voneinander agierenden Dieben Dl, D2 und D3 "ausgeräumt" wird, wobei jeder nur einen Teil der eingelagerten Waren an sich nimmt. Hier bleibt § 830 I. S. 2 BGB unanwendbar, so daß der einzig ergriffene Dieb Dl nur nach den §§ 823 1., 11. BGB iVm. 242 I. StGB auf den Anteil haftet, den er tatsächlich gestohlen hat. Dl wird hier im ersten Fall nach Ansicht von Bodewig nur deshalb benachteiligt, weil ihm mehrere und nicht nur ein Opfer gegenüberstehen. 132 Die Argumentation Bodewigs überzeugt nicht. Zudem ist sie auf die in Rede stehenden Waldschadensfälle nicht übertragbar. Dem Bodewig'schen Argument von der Benachteiligung des Dl im Tiefgaragen-Fall allein aufgrund der Tatsache des Vorhandenseins einer Opferpluralität
Bodewig, S. 534.
131
Bodewig, S. 525 ff.. Die Bodewig'sche Argumentation ist gerade in diesem Punkt durchaus wohlwollend aufgenommen worden. Vgl. etwa Diederichsen, Referat, L 88. 132
17 Quentin
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käme nur dann eine gewisse Überzeugungskraft zu, wenn sich beide Fälle aus der Opferperspektive gleich ausnehmen würden. Die Rechtsposition des A im Tiefgaragen-Fall dürfte sich von derjenigen im Warenlager-Fall nicht dadurch unterscheiden, daß er sich im ersten Fall die Rolle des Opfers mit anderen teilen muß, während er im zweiten Fall allein diese Position ausfüllt. Nur wenn A durch die Tatsache, nur ein "Alternativopfer" zu sein, keine Benachteiligung erfahrt, macht es Sinn, ohne weiteres von einer unberechtigten SchlechtersteIlung des Dl durch das bloße Vorliegen einer Opferpluralität zu reden. Dieses ist aber gerade nicht der Fall. Die von Bodewig beigezogenen Beispielsfälle unterscheiden sich dadurch, daß im Warenlager-Fall sicher ist, daß Dl das Eigentum des A lädiert hat, sodaß ein haftungsbegründender Kausalzusammenhang zweifelsfrei feststeht. A sieht sich lediglich dem Problem gegenüber, den auf DIentfallenden Schadensanteil festzustellen. Hierbei handelt es sich um ein Problem des haftungsausfüllenden Kausalzusammenhanges, dessen Nachweis unter den wesentlich erleichterten Anforderungen des § 287 ZPO erfolgen kann. A darf daher davon ausgehen, zumindest doch annähernd den Teil seines Schadens von D 1 ersetzt erhalten zu können, den dieser ihm tatsächlich zugefügt hat. Demgegenüber steht im Tiefgaragen-Fall stets auch der haftungsbegründende Kausalzusammenhang in Zweifel. So kann etwa A nicht gemäß § 286 ZPO dem Gericht die Überzeugung davon vermitteln, daß tatsächlich Dl seinen Wagen gestohlen hat. Ließe man § 830 I. S. 2 BGB außer Betracht, so bliebe A ohne durchsetzbaren Anspruch. Er ist damit nicht in einer dem Warenlager-Fall vergleichbaren Situation und zwar gerade deshalb, weil er nur Eigentümer eines Teiles der Gesamtdiebesbeute ist. Zudem hält sich die Benachteiligung des D 1 insoweit in Grenzen, als sie sich nur auf das Aufklärungs-bzw. das Insolvenzrisiko erstreckt. Würden alle drei Diebe gestellt, so könnte Dl bei D2 und D3 gemäß § 426 I. BGB Rückgriff nehmen und hätte so im Ergebnis doch nur eine seinem Verursachungsanteil entsprechende Schadenslast zu tragen. Es ist mithin nicht so, daß sich Tiefgaragen-Fall und Warenlager-Fall nur durch die Tatsache unterscheiden würde, daß im ersten Fall mehrere und im zweiten Fall nur ein Opfer existiert. Die Opferpluralität im Tiefgaragen-Fall führt vielmehr auch zu einer Benachteiligung jedes einzelnen Opfers, die eine antagonistische SchlechtersteIlung des potentiellen Täters, wie sie durch § 830 I. S. 2 BGB erfolgt, zu rechtfertigen geeignet ist. Darüber hinaus weist der von Bodewig vorgestellte Tiefgaragenfall eine Struktur auf, die sich von den in Rede stehenden Fällen multipler Alternativtä-
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terschaft in einem ganz wesentlichen Punkt unterscheidet. Während es im Tiefgaragenfall ausgeschlossen ist, daß etwa Dl alle drei Pkw gestohlen und damit sowohl A, als auch B, als auch C beeinträchtigt hat, muß gerade in den Waldschadens-und DES-Fällen auch diese Möglichkeit als eine relevante Sachverhaltsalternative ins Auge gefaßt werden. So bleibt es stets denkbar, daß Emissionen aus der Anlage X in allen Fällen, in denen in dem entsprechenden Verbreitungsgebiet Bäume abgestorben sind, ein non redundantes Element des tatsächlich wirksamen Immissionsszenarios waren, auch wenn dieses in Relation zu Sachverhaltsalternativen mit heterogenen Verletzungsszenarien eher unwahrscheinlich ist. Gleiches gilt für Konstellationen von der Art der DES-Fälle. Auch hier ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß Produkte eines Herstellers mit einem Marktanteil von nur 10% in allen Erkrankungsfällen einen Kausalfaktor verkörpern. 133 Wenn daher ein Anlagenbetreiber bzw. ein bestimmter Hersteller im Endeffekt tatsächlich für alle entstandenen Schäden in Anspruch genommen werden sollte, so muß er auch bei einer Gesamtbetrachtung nicht für einen Schaden haften, dessen Totalverursachung ihm denkunmöglich zur Last fallen kann. b.) Die durch § 830 I S. 2 BGB präjudizierte Vollhaftungslösung erweist sich gegenüber der alternativ vorgeschlagenen Proportionalhaftung auch im direkten Vergleich, mit Rücksicht auf die das Deliktsrecht tragenden Prinzipien, bei der Lösung von Fällen multipler Alternativtäterschaft als vorzugswürdig. Dem Ideal ausgleichender Gerechtigkeit im Sinne des Aristoteles bleiben beide Ansätze ihrer Struktur nach gleichermaßen fern. Sowohl die Voll- als auch die Proportionalhaftungslösung führen unbestreitbar dazu, daß in vielen Fällen Emittenten im Außenverhältnis für Schäden haften müssen, die nicht oder nicht in diesem Umfang in einem kausalen Dependenzverhältnis zu ihrem Verhalten stehen. Der Haftungsauspruch hält daher folgerichtig in der Regel nicht die Mitte zwischen dem fiktiven Handlungsvorteil des Schädigers und dem erlittenen Nachteil des Geschädigten, sondern verschiebt die Grenze zum Vorteil des Ersteren und zu Lasten des Letzteren. Die Proportionalhaftungslösung hebt sich jedoch von dem Konzept des § 830 I. S. 2 BGB hierbei insoweit ab, als sie durch die Reduktion des Haftungsumfanges bereits im Außenverhältnis diese Systemverschiebung in engeren Grenzen hält. Sie nähert
133 Der Fall, daß Hersteller X insgesamt weniger Y-Produkte auf den Markt gebracht, als Erkrankungsfälle aufgetreten sind, dürfte wohl kaum je Realität gewinnen.
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sich idealiter einem Wunschzustand ausgleichender Gerechtigkeit sogar weitgehend an, wenn man auf der Seite der Geschädigten nicht nur ein individuelles, sondern quasi alle Opfer in den Blick nimmt. Die den deliktischen Akteur bei einer entsprechenden umfassenden Inanspruchnahme durch letztlich alle Opfer treffende Haftungslast dürfte dann im Ergebnis die ihm zugeflossenen fiktiven Handlungsvorteile tatsächlich annähernd aufzehren. Mag dieses im Ergebnis möglicherweise auch zutreffen, so liegt hierin doch kein legitimer Rechtfertigungsansatz. Ausgangspunkt für diesen Betrachtungsansatz ist ein nicht mehr vertretbarer Paradigmenwechsel. Nicht nur der aristotelische Gedanke ausgleichender Gerechtigkeit, sondern gerade auch das geltende Deliktsrecht nehmen hinsichtlich ihrer Ausgleichs- und Kompensationsfunktion auf individuelleSchädiger-Geschädigten-Konstellationen bezug und entwickeln ihre Gerechtigkeitsmaßstäbe gerade auf der Grundlage einer derartigen Eins-zu-eins-Situation. Die Substitution individueller Opfer durch entsprechende "Opferklassen" als nunmehr neue Referenzobjekte für eine Gerechtigkeitsbetrachtung verläßt diesen eigentlichen Gesichtskreis der Regelungen der §§ 823 ff. BGB. Ausgleichende Gerechtigkeit in diesem Sinne, ist nicht mehr ausgleichende Gerechtigkeit, wie sie das geltende Deliktsrecht anstrebt. l34 Die Proportionalhaftungslösung verkörpert in ihrem Wesenskern nicht lediglich eine andere mögliche Antwort auf eine bestimmte Frage innerhalb des Konzeptes des Deliktsrechtes, sondern beinhaltet eine strukturell neue Form von Haftung. Einzustehen ist nicht mehr für angerichtete Schäden, sondern für ein bestimmtes zuzurechnendes Schadensrisiko anläßlich des Eintrittes eines Schadens, der sich seiner Art nach als eine Realisierung dieses Risikos klassifizieren läßt. Proportionalhaftung ist der Versuch einer Risikoregulation, der den Schadensfalllediglich als quasi Vehikel für seine Ziele benutzt. Folgerichtig geraten der individuelle Geschädigte und seine Interessen mehr oder weniger gänzlich aus dem Blick.
134 Die Abkehr von der individualistischen Grundstruktur des Deliktsrechtes wird von den Vertretern der Proportionalhaftungslösungteilweise offen vollzogen. Siehe in diesem Zusammenhang insbesondere Robinson, Probabilistic Causality, S. 789 f.; Rosenberg , insbesondere S. 993 ff., hat in diesem Zusammenhang zurecht von einer "Public Law Vision" des Deliktsrechtes gesprochen. - Kritisch dazu Eliott, Torts with multiple Causes under U.S. Law, S. 26 ff.; ders., Why Courts? Comment on Robinson, 14 J. Legal Stud., 799 (1985). Vgl. dazu insbesondere auch die oben ausführlich dargestellte Kritik an der deliktsrechtliche Konzeption der "Economic-Theory" . Siehe S. 132 ff.
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Proportionalhaftung ist nicht Ausdruck einer auf deliktsrechtlichen Grundprinzipien beruhenden, der Situation der Massenschadensfälle angepaßten "Täter-Opfer-Dialektik"13S, sondern bezieht sich primär auf die Täterperspektive. Dies wird überdeutlich, wenn man sich von dieser eher generalisierenden Sichtweise der Dinge löst und sich die faktische Situation eines beliebigen indivuellen Waldschadensopfers in das Gedächtnis zurückruft. Läßt man nämlich im Sinne der Proportionalhaftungslösung Schadstoffemittenten tatsächlich bereits im Außenverhältnis nur analog des Gewichtes des ihnen zurechenbaren Beitrages zum Gesamtimmissionsszenario haften, so müßte ein geschädigter Waldbauer, um letztlich eine seinen Schaden vollständig abdeckende Ersatzleistung zu erhalten, im Ergebnis alle in Betracht kommenden Emittenten zur Verantwortung ziehen. Ein angesichts der Vielzahl der ins Auge zu fassenden potentiellen Schadensverursacher, die in aller Regel nur teilweise namhaft gemacht werden können, sowie des ohnehin problematischen wissenschaftlichen Kenntnisstandes l36 hoffnungsloses Unterfangen. Das Risiko der Nichtermittelbarkeit ginge voll zu Lasten des schuldlos deliktisch geschädigten Opfers. Das scheinbar in der Herstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Emissionsbeitrag und Schadenstragungslast liegende "Plus an Gerechtigkeit"13? wird um den Preis einer mehr oder weniger großen Unterkompensation auf Seiten der Kläger erkauft. Das mit den Massenschadensfällen notwendig verbundene Aufklärungs- und Ausfallrisiko wird durch die Proportionalhaftungslösung nicht eliminiert, sondern lediglich zu Lasten der Geschädigten umgeschichtet, dessen
m Ausdruck von Diederichsen, aaO. in Bezug auf den Lösungsvorschlag Bodewigs. Delgado, S. 894 f. hat zurecht darauf hingewisen, daß eine Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wirkungsmechanismender jeweiligen Luftschadstoffe in aller Regel sehr viel eher von den Beklagten erwartet werden kann, als von den Klägern. Dieses ist insbesondere dann zutreffend, wenn als Emittenten große Unternehmen in Betracht kommen, die über Entwicklungsabteilungen verfügen, die sich personell und materiell auf höchstem verfügbaren Standard bewegen. 136
Vgl. dazu auch Robinson, Multiple Causation in Tort Law, S. 743 ff .. - Die eigentliche, ein "höheres Maß an Gerechtigkeit" suggerierende Bedeutung der Proportionalhaftungslösung liegt nicht etwa darin, daß sie zu einer quasi Veringerung der Fehlerquote bei gerichtlichen Entscheidungen in Fällen des Urheberzweifels führt. Drre wesentliche Folge ist vielmehr, daß sich Kläger und Beklagter die Folgen der Unaufklärbarkeit und damit auch das Irrtumsrisiko letztlich teilen müssen. Während in Anwendung der Vollhaftungslösungdas Aufklärungsrisiko im Verhältnis Kläger I Beklagter voll zu Lasten des Letzteren geht, findet bei der Proportionalhaftungslösungeine Partionierung statt. Kaye, The Limits of the Preponderance of the Evidence Standard: Justifiably Naked Statistical Evidence and Multiple Causation, A. B. Found. Research J., Jahrgang 1982, S. 487, 496 ff., hat in diesem Zusammenhang die Proportionalhaftungslösung auch als die "Error Equalizing Rule" bezeichnet. 137
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Schadensersatzanspruch damit im Ergebnis nur mit einem wohl nicht unerheblichen Damnum versehen realisierbar sein wird. Letzteres ließe sich auf der Grundlage entsprechender Zusatzannahmen rechtfertigen, wenn bei Wald-, aber auch anderen MasseschadensfaJ.len der Geschädigte typischerweise über bessere Informationen hinsichtlich des Kreises der in Betracht zu ziehenden Alternativtäter und der diesen zurechenbaren Emissionen verfügen würde, als die potentiellen Schädiger, sodaß eine Überbürdung des Aufklärungsrisikos im Interesse einer möglichst optimierten Wahrheitsfmdung angezeigt wäre. Gerade das Gegenteil ist aber in der Regel der Fall. Zumindest dann, und dies wird wohl die typischerweise anzutreffende Konstellation sein138 , wenn der in Anspruch genommene Alternativtäter Betreiber eines Kraftwerkes oder einer industriellen Anlage ist, wird gerade umgekehrt der Beklagte über bessere Informationen und, was dem letztendlich gleichkommt, auch über bessere Möglichkeiten für eine Informationsbeschaffung verfügen. Branchennähe und Insiderwissen werden es ihm, etwa im Verhältnis zu einem geschädigten Waldbesitzern, erheblich erleichtern, weitere Schadstoffemittenten namhaft zu machen. Die regelmäßig wohl vorhandene Finanzkraft läßt das Einholen eigener Recherchen zu und ermöglicht zielgerichtetes Forschen. Soweit ein in Anspruch genommener Alternativtäter vor dem Problem steht, ein Konzept für eine sinnvolle Portionierung des Schadens vorlegen zu müssen, um der holzschnittartigen pro-Kopf-Haftung des § 426 I. S. 1 BGB zu entgehen, so kann ihm hier durchaus, worauf später noch gesondert einzugehen sein wird, der Gedanke der "pollution-share-liability" als Schlüssel für eine Be-
ll8 In der absoluten Mehrzahl der Fälle werden in der Praxis die geschädigten Waldeigentümer gehalten sein, zuvörderst Großemittcnten in Anspruch zu nehmen. Zum einen dürften gerade gegenüber Großemittcnten bessere Nachweismöglichkeiten und dementsprechend größere Durchsetzungschancen bestehen als gegenüber Betreibem von Emissionsquellen, deren Anteil am Gesamtaufkommen den Charakter einer vemachlässigenswerten Größe aufweist, zum anderen stammt der "Löwenanteil" vieler Luftschadstoffe aus dem Betrieb großer Anlagen, wie etwa Fernheizwerken oder Betrieben der industriellen Produktion. So betrug im Iahre 1980 etwa der auf den Betrieb von Kraft- und Fernheizwerken entfallende Anteil an den Schwefeldioxid-Iahresemissionen 60 % (oder 1060 kt), während 29 % (oder 1024 kt) auf die industrielle Produktion rückfiihrbar waren. Nur 9 % (oder 310 kt) der Schwefeldioxid-Iahresemissionen '80wurden durch Haushalte und Kleinverbraucher verursacht. Für 2 % (oder 75 kt) zeichnete der öffentliche Verkehr verantwortlich. Bei den Stickoxid-Iahresemissionen'78 war die Verteilung wie folgt: Kraft- und Fernheizwerke 31 % (oder 940 kt), Industrie 19 % (oder 580 kt), Haushalte und Kleinverbraucher 5 % (oder 140 kt) und öffentlicher Verkehr 45 % (oder 1340 kt). Quelle: Sondergutachten'83, S. 17 und 19.
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stimmung der im Innenverhältnis zu tragenden Schadenslasten zur Seite gestellt werden. Auch die Überbürdung des Insolvenzrisikos auf potentielle Alternativtäter erweist sich aus analogen Erwägungen heraus als durchaus sachgerecht. Zum einen dürfte im Regelfall die finanzielle Leistungskraft der Alternativtäter , wenn man einmal von Kleinstemittenten absieht, erheblich höher sein, als die der klagenden Opfer, sodaß schon aus" deep-pocket" -Gesichtspunkten heraus die durch die Vollhaftungslösung herbeigeführte Risikoallokation berechtigt zu sein scheint; zum anderen ist das Insolvenzrisiko bei einer großen Zahl von Regreßpflichtigen, die ihrerseits in der Regel fmanziell sehr potent sein dürften, nicht über die Maßen hoch einzuschätzen. Vergleicht man Voll- und Proportionalhaftung auch vor dem Hintergrund der übrigen oben dargestellten Zwecke deliktischer Haftung, so spricht hier im Ergebnis ebenfalls vieles für die durch § 830 I. S. 2 BGB präjudizierte Lösung. Dies gilt insbesondere auch für eine an dem Gedanken des "loss-spreading" orientierte Betrachtung. Da man, wie bereits dargestellt, wohl davon ausgehen muß, daß der überwiegende Anteil der in Rede stehenden Schadstoffemissionen aus dem Betrieb von Kraft-und Fernheizwerken stammt bzw. als Abfallprodukt bei der industriellen Produktion anfallt, stehen dem Kläger im Regelfall als Beklagte Rechtssubjekte gegenüber, denen mannigfaltige Mechanismen zur Verfügung stehen, um Schadenslasten abzuleiten und auf eine Vielzahl von Schultern zu verteilen. So ist es sowohl den Betreibern von Kraftwerken etc. als auch der Industrie prinzipiell möglich, die zusätzlichen Lasten über den Preis ihrer Produkte an ihre Kunden weiterzugeben. 139 Auch die dem Haftungsrecht zuerkannte Garantiefunktion kann besser durch die Vollhaftungslösung als durch ein auf eine Proportionalhaftung abstellendes Konzept wahrgenommen werden. Proportionalhaftung in Waldschadensfalien bedeutet für den verletzten Kläger, daß er sein Recht letztlich nur teilweise wird wahren können. Der ihm zustehende Anspruch auf Integrität seiner Rechtsgüterwelt ist, trotz des erbrachten Nachweises deliktisch geschädigt worden zu sein, praktisch nur teilweise realisierbar. Bejaht man demgegenüber eine Vollhaftung, so hat der Kläger eine realistische Aussicht auf eine vollständige Restitution seiner lädierten Rechtsgüter .
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Vgl. dazu auch Delgado, S. 893 f.
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Weniger deutlich senkt sich die Waage zugunsten der Vollhaftungslösung dann, wenn man den Gedanken der Prävention durch sachgerechte Schadensallokation in den Blick nimmt. Sicherlich hat die mit einer strikten Anwendung des § 830 I. S. 2 BGB verbundene Negativkonditionierung einen nicht unerheblichen Präventionseffekt, stehen doch viele Emittenten nun vor einem kaum übersehbaren Haftungsrisiko (" crushing liability" 1~. Insbesondere dem Economic Approach verpflichteten Autoren haben dem jedoch mit einiger Berechtigung entgegengehalten, daß eine Vollhaftung und das damit verbundene Alles-oder-Nichts-Prinzip nicht geeignet sind, die als potentiell Haftende in betracht kommenden Emittenten oder Produzenten zu einem insgesamt gesehen ökonomisch effizienten Verhalten zu veranlassen. 141 So führt eine Vollhaftung ohne Rücksicht auf die Wahrscheinlichkeit einer haftungsbegründendenkausalen Relation dazu, daß die Adressaten des von der Haftungsnorm ausgehenden Verhaltensanreizes entweder zuviel oder zuwenig für Vorsorgemaßnahmen aufwenden. Dieser Kritik ist zuzugestehen, daß die Gefahr einer möglichen Vollhaftung im Außenverhältnis für viele kleinere und Kleinstemittenten ein ihre Aktivitäten möglicherweise erdrosselnde "Aussicht" darstellen kann. 142 Einen durchgreifenden Einwand gegen die oben vorgeschlagene Lösung enthält sie jedoch nicht. Ökonomische Effizienz durch Erzeugung eines entsprechenden Abschreckungseffektes ist nur ein Ziel haftungsrechtlicher Regelungen und folgerichtig nicht das Maß aller haftungsrechtlichen Dinge. Die oben angestellten Erwägungen haben ergeben, daß die Vollhaftungslösung im Gegensatz zu dem Konzept einer Proportionalhaftung zu einer gerechteren Allokation des Unaufklärbarkeits- und Insolvenzrisikos führt, indem sie dieses den potentiellen Schädigem und nicht dem schuldlosen Opfer zuweist. Daneben gewährleistet die Vollhaftungslösung auch eine bessere Berücksichtigung von "deep pocket" und "loss spreading" Gesichtspunkten. Zudem ist sie eher geeignet, die dem
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