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German Pages 696 Year 2012
Kanzleisprachenforschung
Kanzleisprachenforschung Ein internationales Handbuch Herausgegeben von Albrecht Greule, Jörg Meier und Arne Ziegler unter Mitarbeit von Melanie Glantschnig, Jakob Reichsöllner und Elisabeth Scherr
De Gruyter
ISBN 978-3-11-019337-4 e-ISBN 978-978-3-11-026188-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
Seit 1997 treffen sich im Abstand von zwei Jahren regelmäßig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern Europas, um sich als Internationaler Arbeitskreis Kanzleisprachenforschung zu deutschsprachigen Kanzleien in Mittel-, Ostund Südosteuropa auszutauschen. Die Ergebnisse dieses Austausches werden seitdem in der Buchreihe Beiträge zur Kanzleisprachenforschung festgehalten und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Von Beginn an war es dabei Ziel des Arbeitskreises, einerseits einen systematischen Überblick zu Gegenständen, Gebieten, Positionen und Stationen der Kanzleisprachenforschung zu bieten, andererseits aber auch besonders die Heterogenität einer Auseinandersetzung mit sowie die Vielfalt in den Perspektiven auf Kanzleisprachen aufzuzeigen. Diesem Ziel ist letztlich auch das vorliegende Handbuch geschuldet, dessen Realisierung maßgeblich durch den Arbeitskreis initiiert wurde. Nach langer Genese können wir nun hiermit als Ergebnis das Handbuch Kanzleisprachenforschung vorlegen und hoffen, dass die Publikation als Nachschlagewerk und informative Quelle für Wissenschaftler verschiedener Disziplinen ebenso fruchtbar sein mag wie für interessierte Laien. Dass das Handbuch in der vorliegenden Form überhaupt entstehen konnte, ist dabei natürlich nur einer massiven Unterstützung von verschiedenen Seiten zu verdanken. So möchten wir uns zuvorderst beim Verlag de Gruyter und insbesondere bei Frau Birgitta Zeller sowie Frau Henriette Slogsnat für ihre jederzeit unkomplizierte Unterstützung und Betreuung bedanken. Frau Melanie Glantschnig, Herrn Jakob Reichsöllner und Frau Elisabeth Scherr vom Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz danken wir für die mühevolle und zeitintensive Einrichtung der Beiträge, ihre teils umfangreichen Recherchen, anfallende Korrekturarbeiten sowie für die Indizierung der Register zum Handbuch. Sie haben sich um die Arbeit an diesem Band in besonderer Weise verdient gemacht. Nicht zuletzt ist es selbstverständlich den Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren Beiträgen diesen Band überhaupt erst ermöglicht haben, zu verdanken, dass das Handbuch in der vorliegenden Form zustande gekommen ist und ein aktuelles und facettenreiches Bild der gegenwärtigen Kanzleisprachenforschung bieten kann. Ihnen allen gilt unser Dank für die durchweg positive und konstruktive Zusammenarbeit. Verbunden mit der Hoffnung auf eine auch weiterhin gute Zusammenarbeit in der Auseinandersetzung um Kanzleien und Kanzleisprachen, ist der Wunsch, dass dieses Handbuch dazu beitragen kann, einen Anstoß zu geben, sich auch in Zukunft den immer noch bestehenden Desiderata der Kanzleisprachenforschung anzunehmen. Regensburg / Klagenfurt / Graz, im Spätsommer 2011
Albrecht Greule, Jörg Meier & Arne Ziegler
Einleitung
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Gegenstände und Zielsetzung Probleme der Durchführung Aufbau und Gliederung Hinweise zur Benutzung Ausblick und Desiderata Literatur
Gegenstände und Zielsetzung
Die Kanzleisprachenforschung orientiert sich hinsichtlich ihres Gegenstandes und Erkenntnisinteresses im Rahmen der sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächer prinzipiell an dem seit dem 18. Jh. gebräuchlichen Terminus Kanzleisprache (vgl. u. a. Moser 1750; Sonnenfels 1785) und fokussiert damit die geschriebene Sprache der städtischen, fürstlichen und kaiserlichen Kanzleien im Spätmittelhochdeutschen, Frühneuhochdeutschen und Mittelniederdeutschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie im Baltikum und Skandinavien. In jeder wissenschaftlichen Forschungsrichtung, so auch in der Kanzleisprachenforschung, ist eine Synopse des aktuellen Wissensstandes als Bezugsbasis notwendig, um der zukünftigen Forschung eine Übersicht zu gewähren und Orientierung zu verschaffen. Das vorliegende Handbuch stellt sich daher im Wesentlichen zwei Aufgaben. Erstens will es bestehende Probleme und Desiderata der aktuellen Kanzleisprachenforschung interdisziplinär aufarbeiten und insofern den gegenwärtigen Kernbereich in seinen zentralen Linien unter Berücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse nachzeichnen. Zweitens sollen wissenschaftstheoretische Grundlagen sowie methodologische Orientierungen ohne Wertung dokumentiert und ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick der unterschiedlichen im Bereich der Kanzleisprachenforschung relevanten Ansätze geboten werden, um derart die Leser in die Lage zu versetzen, die dargestellten Analysen nicht nur nachzuvollziehen, sondern idealiter selbst durchzuführen und zu bewerten. Thematisch werden dabei die verschiedenen Richtungen sprachwissenschaftlicher Tätigkeit sowie interdisziplinäre Aspekte der Kanzleisprachenforschung in den einzelnen Kapiteln des Handbuchs berücksichtigt. Ein Schwerpunkt liegt auch in der Darstellung unterschiedlicher Kanzleien in den Sprachgebieten des Deutschen vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit in Europa, d.h. die Darstellungen greifen mitunter deutlich über den geschlossenen deutschen Sprachraum hinaus. Mit diesem Handbuch wird damit erstmals ein umfänglicher Überblick über den Gegenstand, die Geschichte, die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen und den
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Stand der Kanzleisprachenforschung gegeben, die sich in den vergangenen 15 Jahren als eigenständige Forschungsrichtung im Rahmen der Sprachgeschichtsforschung fest etabliert hat. Entsprechend der skizzierten Aufgabenstellung des Handbuchs zeigen die Beiträge des Bandes ein breites Spektrum methodischer Ansätze sowie thematischer Facetten und lassen das Handbuch insgesamt zu einem sprachhistorischen Kaleidoskop zu Fragestellungen der aktuellen Kanzleisprachenforschung werden.
2.
Probleme der Durchführung
Das vorliegende Handbuch hat auf dem langen Weg seiner Entstehung eine durchaus wechselhafte Geschichte hinter sich, die sowohl durch Kontinuität als auch durch Wandel gekennzeichnet ist. Entgegen dem ursprünglichen Plan mussten einige Vorhaben revidiert, andere ergänzt werden, so dass sich im Resultat ein anderes Bild der Darstellung ergeben hat, als dies zu Beginn beabsichtigt war. Auf der inhaltlichen Seite war zu Beginn der Arbeit an dem Handbuch einerseits etwa eine stärkere Berücksichtigung der diatopischen Variation geplant, indem auch der territorialen Zergliederung des deutschen Sprachgebiets, die das bekannte breite sprachliche Spektrum mit sich bringt, stärker Rechnung getragen werden sollte. So waren ursprünglich Einzelbeiträge für das Handbuch auch zu den geografischen Randbereichen und Sprachkontaktzonen, wie z.B. zu Kanzleien im alemannischen Sprachgebiet, im Elsass, in Lothringen, Luxemburg usw., aber auch zu Kanzleien in weiteren ehemaligen Sprachinseln in Mittelost- und Südosteuropa geplant. Andererseits war aber auch ein stärkeres thematisches Ausgreifen in interdisziplinäre Fragestellungen geplant, indem Beiträge etwa zur Bedeutung der Kanzleisprachenforschung für die Historischen Wissenschaften, das Archivwesen, die Editionswissenschaft, die Fachsprachenforschung usw. vorgesehen waren. Dass nicht alle diese ursprünglich geplanten Beiträge Eingang in den vorliegenden Band gefunden haben, hat unterschiedliche Gründe, die allerdings mehr oder weniger sämtlich darin fußen, dass keine Bearbeiter oder Bearbeiterinnen mit entsprechender Expertise zu finden waren, die die durchaus mühevolle und zeitintensive Arbeit an einem Handbuch-Artikel in Kauf zu nehmen bereit gewesen wären. Auf der anderen Seite sind auch neue Beiträge im Verlauf der Arbeit an dem Handbuch hinzugekommen, die in der vorliegenden Form zu Beginn nicht vorgesehen waren. So zeigte sich beispielsweise, dass es sinnvoll ist, den geplanten Überblicksartikel zur Morphologie weiter in einen Beitrag zur Morphologie der Verbal- und einen der Nominalgruppe zu differenzieren, so dass sich der Überblick für den Leser einfacher gestaltet und die Rezipierbarkeit erleichtert wird. Das Handbuch versammelt Beiträge von Autorinnen und Autoren aus 12 europäischen Ländern. Nicht zuletzt dieser Internationalität ist es geschuldet, dass die in den verschiedenen Ländern üblichen Konventionen methodischer und analytischer Vorgehensweise auch Eingang in den Band gefunden haben. Als ausgewiesene Expertinnen und Experten für den jeweils in den Artikel bearbeiteten Bereich wurde den Autoren in der Behandlung ihres Themas weitgehend freie Hand gelassen, weshalb die einzelnen
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Beiträge von der inhaltlichen Gestaltung sowie vom Umfang mitunter erheblich voneinander abweichen. Hier wurde von den Herausgebern bewusst nicht vereinheitlichend eingegriffen. Vielmehr sind die Herausgeber der Überzeugung, dass gerade die mitunter ausgesprochen unterschiedlichen Vorgehensweisen im Bemühen um den Gegenstand Kanzleisprachen geeignet sind, den in der Forschungsgemeinschaft üblichen Methodenpluralismus angemessen zu reflektieren und insofern unbedingt in einem Handbuch, das ja immer die Aufgabe hat, den aktuellen Forschungsstand, aber natürlich auch die aktuell verwendeten Methoden der Analyse – und seien sie noch so disparat –, abzubilden.
3.
Aufbau und Gliederung
In fünf Hauptkapiteln fokussieren ausgewiesene Fachleute der nationalen und internationalen Forschergemeinschaft in 40 Beiträgen die verschiedenen Aspekte der aktuellen Kanzleisprachenforschung und stellen die unterschiedlichen Problemfelder zur Diskussion. Ein Anhangkapitel mit umfänglichen Registern beschließt den Band. Das Handbuch ist dabei in die folgenden Hauptkapitel gegliedert: I.
Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte Positionierung und Abgrenzung – Stationen und Berührungspunkte
II. Gebiete und Phänomene Linguistische Analyseebenen und Forschungsansätze
III. IV. V. VI.
Kanzleien des Niederdeutschen Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebietes Register
Mit Blick auf die gewählte Einteilung lässt sich feststellen, dass sich das Handbuch quer zu diesen Hauptkapiteln unter inhaltlichen Aspekten grob in drei Teile differenzieren lässt. Den ersten Teil bilden Artikel, die die Kanzleisprachenforschung thematisch einerseits sprachhistorisch verorten – und in diesem Zusammenhang beispielsweise auch die Beziehung von Luther zur deutschen Kanzleisprache hinterfragen – und andererseits gegenüber angrenzenden Disziplinen, etwa der Historischen Stadtsprachenforschung, positionieren, aber auch interdisziplinäre Bezüge zu verwandten Fächern herstellen, wie z. B. der Rechtsgeschichte oder der Kulturgeschichte, sowie solche Artikel, die sich der Kanzlei als Institution und somit als Produktionsstätte der Schriftlichkeit, als Archiv usw. annehmen. Der zweite thematische Großbereich widmet sich den Kanzleisprachen aus dezidiert linguistischer Perspektive. Hier finden sich Beiträge, die die verschiedenen sprachwissenschaftlichen Beschreibungsebenen zum Ausgangspunkt der Betrachtung nehmen und exemplarisch an ausgewähltem Material sprachliche Merkmale von Kanzleitexten erfassen und dokumentieren. Daneben sind in diesem Bereich aber auch solche Artikel versammelt, die ihre Perspektive aus einer disziplinären Position gewinnen und die Kanzleisprachen in ihrer Bedeutung für die jeweilige Fachdisziplin hinterfragen. Solche Disziplinen, die in der Kanzleisprachenforschung immer schon eine prominente Rolle
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gespielt haben, sind etwa die Pragmatik, die Onomastik oder auch die Historische Textlinguistik und natürlich die kontrastive Kanzleisprachenforschung, die sich gezielt dem Einfluss des Lateinischen auf die Volkssprache zuwendet. Den dritten Bereich bilden schließlich Beiträge, die sich den Kanzleien in ihrer Distribution sowohl im geschlossenen als auch am Rande und außerhalb des deutschen Sprachgebiets zuwenden und diatopische Charakteristika dokumentieren. Grundsätzlich wurde bei der Gliederung der Beiträge dabei der in der Sprachgeschichtsforschung üblichen Differenzierung zwischen dem niederdeutschen und dem hochdeutschen Sprachgebiet gefolgt, ergänzt um Artikel zu deutschsprachigen Kanzleien in Staaten außerhalb und am Rande des geschlossenen deutschen Sprachgebiets. Bei den letztgenannten Überblicksartikeln ist dabei stets jener geographische Raum erfasst, der durch die gegenwärtigen Staatsgrenzen des jeweiligen Staates umrissen ist. Daneben finden sich aber auch Beiträge zu geographischen Großregionen Europas wie dem Baltikum oder Skandinavien.
4.
Hinweise zur Benutzung
Aufgrund seiner Charakteristik als Nachschlagewerk und Informationsquelle ist bei der Gestaltung des Handbuchs nicht primär von einem linearen Leseprozess des Bandes durch den Rezipienten ausgegangen worden, sondern es wird vielmehr unterstellt, dass eine punktuelle Lektüre einzelner Beiträge den „Normalfall“ darstellt. Bei der Strukturierung des Bandes ist daher auf rezeptionserleichternde Maßnahmen, die ein gezieltes Nachschlagen und Informieren ermöglichen und somit durchaus ein selektives Lesen unterstützen, besonderer Wert gelegt worden. In diesem Sinne sind auch die nachfolgenden Hinweise zur Benutzung zu interpretieren. Insgesamt ist mit dem Handbuch beabsichtigt, einen möglichst breiten Rezipientenkreis zu erfassen. Die mit dem vorliegenden Sammelband angesprochene Zielgruppe sind insbesondere Studierende und Lehrende der germanistischen Sprachgeschichtsforschung und der Linguistik, der kulturwissenschaftlichen Fächer sowie angrenzender Disziplinen, wie etwa der Geschichtswissenschaften, der historischen Hilfswissenschaften oder auch der Rechtswissenschaften. Nicht zuletzt soll aber auch der interessierte Laie in die Lage versetzt werden, das Handbuch mit Gewinn zu benutzen. Entsprechend dieser erhofften „gemischten“ Leserschaft war eine verständliche und problemorientierte Darstellung in den einzelnen Beiträgen daher eines der vorrangigen Ziele. Sie soll dabei einerseits einen Ergebnisüberblick ermöglichen sowie andererseits einen Einblick in aktuelle Forschungsschwerpunkte gewähren. Darüber hinaus wird auch der nichtwissenschaftlichen Leserschaft die Orientierung erleichtert, indem alte und neue Fragestellungen der Forschung deutlich bezeichnet, aufgearbeitet und vernetzt werden. Dem Textteil des Handbuchs sind umfängliche Register angeschlossenen. Sie enthalten ein Personen-, ein Sach- sowie ein Ortsregister, das die im Band erwähnten geographischen Orte beinhaltet. Sie sollen dem interessierten Leser die gezielte Rezeption und ein effizientes Nachschlagen im Bedarfsfalle ermöglichen. In das Personenregister
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wurden dabei lediglich jene Namen aufgenommen, die explizit im Text erwähnt sind. Eine ausschließliche Nennung als Belegverweis oder im Literaturverzeichnis wurde nicht berücksichtigt. Ebenfalls im Personenregister zu finden sind Bezeichnungen für Personengruppen. Dies betrifft etwa ethnische Gruppen, Volksgruppen oder Stammesnamen wie z.B. Siebenbürger Sachsen, Ottonen, Esten, Letten usw. Die Register sind konsequent alphabetisch unter Verzicht auf eine Tiefenstrukturierung ausgelegt, um auf diese Weise potentielle Redundanzen und Doppelungen zu vermeiden. Mit Ausnahme der diatopischen Sprachstufenbezeichnungen (mhd., fnhd., mnd. usw.) sind sämtliche spezifischen Abkürzungen aufgelöst worden, um gegebenenfalls Fehlinterpretationen vorzubeugen. Verblieben sind nur die in der schriftlichen Standardsprache üblichen Abkürzungen wie u.a., vgl., usw., die als bekannt vorausgesetzt werden können. Ein Abkürzungsverzeichnis wie ansonsten in Handbüchern durchaus üblich wurde damit obsolet. Auf ein Tabellen- und Abbildungsverzeichnis wurde aufgrund der geringen Anzahl der Visualisierungen im Handbuch ebenfalls verzichtet.
5.
Ausblick und Desiderata
Nach Abschluss der Arbeiten am Handbuch greift der ernüchternde, aber durchaus positiv zu bewertende Eindruck Raum, dass längst nicht sämtliche Probleme und Aufgaben der Kanzleisprachenforschung nunmehr abgearbeitet wären, sondern dass vielmehr das vorliegende Handbuch lediglich ein erster Schritt auf dem Weg einer weiteren Erforschung der Kanzleisprachen sein kann. Auch viele der in diesem Handbuch versammelten Beiträge weisen explizit auf rezente Desiderata der Forschung hin. So wird an verschiedenen Stellen wiederholt darauf hingewiesen, dass auch gegenwärtig immer noch Untersuchungen zu einer Reihe von Ländern oder Regionen, d.h. Sprachlandschaften fehlen, in denen deutschsprachige Kanzleitexte verfasst wurden (vgl. hierzu auch Meier/Ziegler 2002). Genannt sind u.a. ohne Anspruch auf Vollständigkeit etwa die Ukraine, Russland, aber auch die Schweiz, d.h. das westoberdeutsche Sprachgebiet, dem zwar ein geringerer Anteil an der Entwicklung zum Neuhochdeutschen zuzusprechen ist, als dies etwa für das Ostmitteldeutsche oder Ostoberdeutsche anzunehmen ist, das aber dennoch in einer systematischen Erfassung deutschsprachiger Kanzleien sicher nicht übergangen werden darf. Gleiches gilt selbstverständlich auch für die zahlreichen ehemaligen Sprachinseln in Südosteuropa, von denen im vorliegenden Band schon aus Kapazitätsgründen nur eine kleine Auswahl synoptisch in den verschiedenen Beiträgen behandelt werden konnte. Auch eine Heuristik der deutschsprachigen Kanzleien nach Kanzleistatus in Korrelation zu sprachlandschaftlichen Kriterien fehlt gegenwärtig immer noch. Aus linguistischer Perspektive bleiben ebenfalls offene Fragen – Fragen, deren Beantwortung wohl in erster Linie an den Aufbau und die Zugänglichkeit gewichteter Korpora geknüpft sein dürfte. Trotz einer weithin akzeptierten Orientierung an Korpora in der sprachhistorischen Arbeit fehlen allerdings solche systematischen Korpora für Kanzleitexte vollständig. In der Folge ist etwa das weitgehende Fehlen größerer Längsschnittuntersuchungen zu einzelnen Textsorten der Kanzleien ebenso zu beklagen, wie
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empirische Studien zur Genese und Diversifikation einzelner Textsorten und sich daran anschließende Fragen. Unser Bild der historischen Kanzleisprachen ist also nach wie vor ausgesprochen unvollständig. Es ließe sich mithilfe von korpusbasierten Analysen erheblich verfeinern, was ohne Zweifel der Sprachgeschichtsforschung insgesamt zugute käme. Gerade die Kanzleien waren schließlich die Orte professioneller Schriftlichkeit, an denen durch Schreiber verschiedener Provenienz und Bildung Geschriebenes für unterschiedliche Zwecke produziert wurde und somit einerseits aktuelle sprachliche Entwicklungsprozesse kumulieren konnten sowie andererseits sprachliche Routinen konserviert wurden. Das gewichtigste Desideratum der Kanzleisprachenforschung bleibt also auch für die Zukunft eine systematische und analytische Dokumentation der Schriftzeugnisse aus möglichst vielen deutsch schreibenden Kanzleien. So bleibt am Ende die Hoffnung, dass auch in zukünftigen Jahren die Kanzleisprachenforschung ihren festen Platz im Rahmen der germanistischen Sprachgeschichtsforschung einnehmen wird und möglichst viele Kolleginnen und Kollegen sich um den Gegenstand Kanzleisprachen bemühen werden. Genug zu tun wäre jedenfalls!
6.
Literatur
Meier, Jörg/Ziegler Arne (2002), Kanzleisprachenforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Bibliographie. (Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 2). Wien. Moser, Friedrich Carl (1750), Abhandlung von den europäischen Hof- und Staats-Sprachen: nach deren Gebrauch im Reden und Schreiben. Frankfurt am Main. Sonnenfels, Joseph von (1785), Über den Geschäftsstil. Die ersten Grundlinien für angehende österreichische Kanzleybeamten. 2., etwas verm. Aufl. Wien.
Albrecht Greule, Regensburg (Deutschland) Jörg Meier, Klagenfurt (Österreich) Arne Ziegler, Graz (Österreich)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Albrecht Greule/Jörg Meier/Arne Ziegler Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
I.
1.
2.
3.
4.
K ANZLEISPRACHENFORSCHUNG IM RAHMEN DER DEUTSCHEN SPRACHGESCHICHTE Positionierung und Abgrenzung – Stationen und Berührungspunkte . . . . . . . .
1
Jörg Meier, Klagenfurt (Österreich) Die Bedeutung der Kanzleien für die Entwicklung der deutschen Sprache . . . .
3
Jörg Meier, Klagenfurt (Österreich) Räumliche und zeitliche Abgrenzung einer Erforschung der deutschen Kanzleisprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Albrecht Greule, Regensburg (Deutschland) Geschichte der Kanzleisprachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Jörg Meier, Klagenfurt (Österreich) Kanzleisprachenforschung im Kontext Historischer Stadtsprachenforschung und Historischer Soziopragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
5.
Ingo H. Warnke, Bremen (Deutschland) Kanzleisprachenforschung und Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
6.
Mária Papsonová, Košice (Slowakei) Kanzleisprachenforschung und Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
7.
8.
Otto Spälter, Lauf (Deutschland) Die Kanzleien des Alten Reiches im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Birgit Stolt, Uppsala (Schweden) Luther und die deutsche Kanzleisprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
XIV
9.
Inhalt
Robert Peters, Münster (Deutschland) Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel vom Niederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Kerstin Elstner, Regensburg (Deutschland) 10. Schreiber und Kanzlisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Artur Dirmeier, Regensburg (Deutschland) 11. Archive und Kanzleiorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
II. GEBIETE UND PHÄNOMENE Linguistische Analyseebenen und Forschungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Michael Elmentaler, Kiel (Deutschland) 12. Phonologie und Graphematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Dana Janetta Dogaru, Sibiu (Rumänien) 13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Dana Janetta Dogaru, Sibiu (Rumänien) 14. Zur Flexionsmorphologie des Verbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Jörg Riecke, Heidelberg (Deutschland) 15. Die Lexik der Kanzleisprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Hans Ulrich Schmid, Leipzig (Deutschland) / Arne Ziegler, Graz (Österreich) 16. Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Peter Ernst, Wien (Österreich) 17. Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Britt-Marie Schuster, Paderborn (Deutschland) 18. Textlinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Albrecht Greule, Regensburg (Deutschland) 19. Textsorten der Kanzleisprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Erika Windberger-Heidenkummer, Graz (Österreich) 20. Onomastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Ursula Schulze, Berlin (Deutschland) 21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch / Latein . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Inhalt
XV
III. KANZLEIEN DES NIEDERDEUTSCHEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Robert Peters, Münster (Deutschland) 22. Die Kanzleisprache von Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Robert Peters, Münster (Deutschland) 23. Die Kanzleisprache Lübecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Anke Jarling, Münster (Deutschland) 24. Die Kanzleisprache von Braunschweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Dzintra Lele-RozentƗle, Riga (Lettland) 25. Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
IV. KANZLEIEN AUF HOCHDEUTSCHEM SPRACHGEBIET . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Peter Wiesinger, Wien (Österreich) 26. Bairisch-österreichisch – Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Susanne Näßl, Regensburg / Leipzig (Deutschland) 27. Bairisch: Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Rainer Hünecke, Dresden (Deutschland) 28. Kanzleisprache der Stadt Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Rudolf Steffens, Mainz (Deutschland) 29. Mittelrheinische Kanzleisprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Robert Möller, Lüttich (Belgien) 30. Die Kanzleisprache der Stadt Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
V. KANZLEIEN AM RANDE UND AUSSERHALB DES GESCHLOSSENEN DEUTSCHEN SPRACHGEBIETS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Lenka VaĖková, Ostrava (Tschechien) 31. Tschechien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Libuše Spáþilová, Olomouc (Tschechien) 32. Die Prager Kanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
XVI
Inhalt
Claudia Greul, Graz (Österreich) 33. Deutsche Kanzleisprache in Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Mária Papsonová, Košice (Slowakei) 34. Die deutsche Kanzleisprache in der Slowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Dana Janetta Dogaru, Sibiu (Rumänien) 35. Deutsche Kanzleisprache in Siebenbürgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Marija Javor Briški, Ljubljana (Slowenien) 36. Slowenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Józef Wiktorowicz, Warschau (Polen) 37. Die deutsche Kanzleisprache in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Dzintra Lele-RozentƗle, Riga (Lettland) 38. Baltikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Stefan Mähl, Uppsala (Schweden) 39. Skandinavien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Martina Pitz †, Lyon (Frankreich) 40. Kanzleisprache im germanisch-romanischen Grenzgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
VI. REGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 1. 2. 3.
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
I. KANZLEISPRACHENFORSCHUNG IM RAHMEN DER DEUTSCHEN SPRACHGESCHICHTE Positionierung und Abgrenzung – Stationen und Berührungspunkte
Jörg Meier, Klagenfurt (Österreich)
1.
1. 2. 3. 4. 5.
1.
Die Bedeutung der Kanzleien für die Entwicklung der deutschen Sprache
Die Begriffe Kanzlei und Kanzleisprache Zur Entwicklung des Kanzleiwesens und der Herausbildung deutscher Kanzleisprachen Zur Entwicklung des Kanzleistils Die Bedeutung der Kanzleien für den Sprachausgleich Literatur
Die Begriffe Kanzlei und Kanzleisprache
Der in der Diplomatik verwendete Terminus Kanzlei (cancellaria) ist ein Hilfsbegriff, der erst im späten 12. Jahrhundert eine Entsprechung in den Quellen findet. »Es ist damit diejenige Stelle oder Personengruppe gemeint, die den Urkunden eines Ausstellers ihre äußere und innere Form gibt« (von Brandt 1998, 93). Bereits seit dem 4. Jahrhundert ist die Bezeichnung Kanzler (Cancellarius) belegt, zunächst für Amts- bzw. Gerichtsdiener – abgeleitet von cancelli, den Schranken, die Behörden, Amtsräume und Gerichte abtrennten. Der Terminus Kanzler wurde bei den Franken und Alemannen für den Gerichts- oder Grafschaftsschreiber verwendet, seit dem 9. Jahrhundert für den Urkundenschreiber geistlicher Fürsten und im 10. Jahrhundert für den Leiter der erzbischöflichen Kanzleien in Köln und Trier. Diese Funktion ist seit Otto I. auch am königlichen Hof kontinuierlich nachweisbar und im 12. Jahrhundert ist die Bezeichnung cancellaria in mehreren europäischen Ländern belegt. Daraus leitete sich im Weiteren der Name für die Beurkundungsstelle selbst ab (vgl. u. a. Kluge 1999, 424). Kanzleien als größere, feste Organisationen mit einem Kanzler und mit Notaren sowie mehreren Schreibern und Hilfspersonal waren eine eher späte und außergewöhnliche Entwicklung (vgl. von Brandt 1998, 93). Von verschiedener Seite wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht adäquat sei, sich bei dem Begriff Kanzlei in jedem Fall eine feste bürokratische Organisation im Sinne einer modernen Verwaltungsinstitution vorzustellen, denn besonders für das frühe und hohe Mittelalter, zum Teil auch noch für die Zeit danach, wäre dies in vielen Fällen eine anachronistische Betrachtungsweise (vgl. ebd.). Bis zum hohen Mittelalter waren Kanzleien keine fest organisierten Behörden, »deren Arbeit nach festgelegten Regeln oder in einer hierarchischen Struktur« ablief, vielmehr handelt es sich bei dem Begriff Kanzlei für die ältere Zeit um eine »wissenschaftliche Hilfskonstruktion« (Hartmann 1994, 32). Mit dem Begriff wird der »Kreis der bei einem Aussteller tätigen, […] des Schreibens kundigen und mit den Traditionen vertrauten geistlichen Notare und Schreiber« bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen »Per-
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
sonenkreis von schwankender, uneinheitlicher Größe, dem es oblag, den Urkunden eines Ausstellers die verbindliche Gestalt zu verleihen«. Immer dann, »wenn die Urkunden eines Ausstellers eine Reihe einheitlicher Formen aufweisen« (ebd.) und auch nachweisbar ist, dass bestimmte Schreiber und Notare an der Produktion einer größeren Zahl von Urkunden beteiligt sind, kann von dem Vorhandensein einer Kanzlei gesprochen werden. Eine »Kanzleimäßigkeit« wird somit durch die »Summe der gemeinsamen inneren und äußeren Merkmale der Urkunden eines Ausstellers bestimmt«, die mit Hilfe eines »Schrift- und Diktatvergleichs« (ebd.) festgestellt werden kann. Dabei ist es wesentlich, einzelne Schreiberhände, individuellen Stil, Eigenarten, Arbeitsweisen und Gewohnheiten der Notare bei der Ausformung des Kanzleidiktats und seine Berührungspunkte mit anderen Kanzleien zu bestimmen und jene übereinstimmenden Merkmale […] zu beschreiben. (ebd.; vgl. auch Santifaller 1986, 35ff.)
Hinsichtlich ihres Gegenstandes und Erkenntnisinteresses orientiert sich die Kanzleisprachenforschung im Rahmen der sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächer an dem erst seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlichen, primär am Textproduzenten orientierten Terminus Kanzleisprache und stellt damit die geschriebene Sprache der städtischen, fürstlichen und kaiserlichen Kanzleien im Spätmittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie im Baltikum und Skandinavien in den Mittelpunkt der Untersuchungen (vgl. Bentzinger 2000, 1665; Meier / Ziegler 2000). Der Begriff Kanzleisprache bezeichnet somit in einer allgemein gefassten Definition den besonderen administrativen Schriftsprachgebrauch in relativ großer Unabhängigkeit von Ort und Zeit, wohingegen er in einer engeren Definition häufig auf die besonderen Ausformungen im deutschen Sprachraum im Kontext der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache bezogen wird und in dieser Bedeutung auch in anderen Sprachen Verwendung findet. Da es die bzw. eine deutsche Kanzleisprache nicht gibt, finden Klassifikationen der verschiedenen Kanzleisprachen in Abhängigkeit von Typologien der einzelnen Kanzleibetreiber, und damit zusammenhängend auch der unterschiedliche Wirkungskreis kanzleisprachlicher Texte seit längerem in der Forschung Beachtung. Wie in der Bibliographie Kanzleisprachenforschung im 19. und 20. Jahrhundert dokumentiert wurde, existieren Untersuchungen zu den kaiserlichen Kanzleien sowie zu kurfürstlichen, herzoglichen, fürstlichen, städtischen, bischöflichen Kanzleien bzw. Kanzleisprachen und auch zur Kanzlei des Deutschordens (vgl. Meier / Ziegler 2002). Nicht nur der sich im Kanzleischrifttum präsentierende Schreibdialekt, sondern zahlreiche weitere soziale, funktionale und textuelle Faktoren hängen mit der Zusammensetzung einer Kanzlei nicht unwesentlich zusammen, allerdings gehören Fragen nach der Schreibersoziologie, der Herkunft und Ausbildung sowie den Aufgabenbereichen der in der Kanzlei tätigen Schreiber nach wie vor zu den Desideraten der Forschung. Bei der Klassifizierung der Kanzleiproduktion sind auch die Fragen nach den räumlichen und zeitlichen sowie inhaltlichen Grenzen von kanzleisprachlicher Schriftlichkeit in den vergangenen Jahren noch keineswegs ausreichend beantwortet worden (vgl. Meier 2001; 2009b; vgl. auch Beitrag 2 von Meier in diesem Handbuch).
1. Die Bedeutung der Kanzleien für die Entwicklung der deutschen Sprache
2.
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Zur Entwicklung des Kanzleiwesens und der Herausbildung deutscher Kanzleisprachen
Im frühen und hohen Mittelalter war mit dem Lateinischen als Amts- und Kanzleisprache im gesamten Deutschen Reich und in weiten Teilen Europas eine gewisse Einheitlichkeit der Schriftstücke einer Kanzlei in Bezug auf das Formular und die sprachliche Form gegeben. Erst mit dem Aufkommen bzw. der vermehrten Ausbreitung deutschsprachiger Urkunden sowie von Kanzleitexten in anderen europäischen Sprachen kam es im Laufe des 13. Jahrhunderts und dann besonders seit dem 14. Jahrhundert zu einer größeren Vielfalt der Schreib- und Geschäftssprachen mit ihren regionalen Bedingtheiten und überregionalen Bezügen. Unterschiedliche Ausgleichsprozesse auf schreib- bzw. schriftsprachlicher Ebene, von denen auch und besonders die Kanzleisprachen betroffen waren, führten schließlich zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Kanzleien wie die der wettinischen Fürsten oder von Städten wie Nürnberg, Regensburg und Prag, aber auch zahlreiche andere, außerhalb des heutigen geschlossenen deutschen Sprachgebiets liegende Kanzleien, hatten daran einen wesentlichen Anteil (vgl. u.a. Greule 2001a; Meier / Ziegler 2003; 2008; Ernst 2009; Moshövel / Spáþilová 2009; vgl. auch Meier / Ziegler 2002 sowie Beitrag 27 von Näßl und Beitrag 32 von Spaþilová in diesem Handbuch). Im 12. Jahrhundert entwickelte sich die Reichskanzlei zu einer selbständigen Behörde, deren tatsächliche Leitung einem Hofkanzler oblag. Bei dem Aufbau der mittelalterlichen Landesherrschaft kam der Kanzlei eine zentrale Bedeutung zu, weil ihr permanentes organisiertes Vorhandensein die Kontinuität der Herrschaft mit verbürgte. Im 13. Jahrhundert war die Kanzlei als Behörde in den weltlichen und geistlichen Territorien vorhanden und der Kanzler als Vorstand war in der Regel als politischer Vertrauter im Rat des Landesherrn zu finden. Der Übergang vom geistlichen zum weltlichen Kanzleipersonal vollzog sich seit dem 15. Jahrhundert. In den Kanzleien der Städte, die sich vor allem seit dem 14. Jahrhundert bildeten, war der Stadtschreiber lange Zeit der einzige rechtskundige kommunale Beamte (vgl. u. a. Fleckenstein 1959–66; Pitz 1959; Jeserich / Pohl /Unruh 1983ff.). Bereits in karolingischer Zeit wurden die Agenden der Kanzlei (die Ausstellung von Urkunden) von Angehörigen der Hofkapelle wahrgenommen, an deren Spitze der archicapellanus (Erzkanzler) stand. Aber erst unter Otto I. erhielt das Amt des Kanzleileiters eine feste Form. Für Italien und zum Teil auch für Burgund gab es seit Otto I. eigene Kanzler und formell auch eigene Kanzleien, bis Heinrich V. 1122 die italienische Kanzlei aufließ. Auf den Urkunden der deutschen Herrscher gab es, im Unterschied zu anderen Kanzleien, keine Schreibervermerke, so dass die Identifikation der Notare häufig kaum möglich ist. Einhergehend mit einer expandierenden Schriftlichkeit vergrößerte sich seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert auch die Zahl des Kanzleipersonals und die Kanzleiorganisation wurde durch Ressortzuteilungen und Kanzleiordnungen sowie die Verfeinerung der Arbeitsabläufe verbessert. Seit dem 14. Jahrhundert stieg die Zahl der weltlichen Kanzleimitarbeiter, deren juristischer Ausbildung wachsende Bedeutung zukam. Die Kanzleien wurden im Spätmittelalter als Hofinstitutionen zu einem spezifischen Bestandteil des Herrschaftssystems (vgl. ebd.).
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Die Kanzleien als Beurkundungsstellen standen auch bei der Ausbildung der landesherrlichen Verwaltung am Anfang der Entwicklung. Die immer zahlreicher und differenzierter werdenden schriftlichen Aufgaben wurden im 13. Jahrhundert auch dezentralen Schreibstuben, die sich zu Verwaltungskanzleien wandelten, anvertraut, wohingegen die Hofkanzlei zentrale Verwaltungsfunktionen übernahm. Stadtschreiber sind seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert nachweisbar und seit dem späteren 13. Jahrhundert verfügen die größeren städtischen Kanzleien bereits über einen Mitarbeiterstab für die verschiedenen Kanzleiarbeiten (vgl. u. a. Pitz 1959; Burger 1960; Jeserich / Pohl / Unruh 1983ff.; vgl. auch Beitrag 2 von Meier in diesem Handbuch). Besoldete, unter Eid stehende Kanzleischreiber, ursprünglich Kleriker, seit dem 15. Jahrhundert zunehmend juristisch gebildete Laien, arbeiteten in den Kanzleien. In fürstlichen Kanzleien unterstanden sie einem Kanzler und die »Dienstbezeichnungen wechselten (Kanzlist, Sekretär, Notar, je nach Ort Stadt-, Land-, Klosterschreiber, auch Stadtklerk)« (Benzinger 2000, 1668). Die Struktur der Kanzleien war verschieden und es gab beispielsweise in der kursächsischen Kanzlei wiederholte Umstrukturierungen (vgl. Kettmann 1967, 39ff.). Auch die Aufgaben der Kanzleischreiber waren je nach Anlass verschieden. Sie reichten von der Führung von Rechnungsbüchern und der Herstellung von Reinschriften und deren Kollation mit Konzepten über Registratur- und Ordnungsarbeiten zur Abfassung von Konzepten und Protokollführung beim Rat oder bei Gericht. (Benzinger 2000, 1668)
Die Tätigkeiten der Kanzleischreiber waren meist recht genau festgelegt, wobei besonders »ihre Aufgabe, für die Rechtsparteien gleichlautende Urkunden herzustellen« (ebd.) sprachgeschichtlich von Bedeutung ist.
3.
Zur Entwicklung des Kanzleistils
Der bis ins Mittelalter zurückverfolgbare Begriff canzley-styl umfasste »formelle, in Handbüchern definierte Schreibregeln für gerichtliche Schriftstücke und Amtstexte unter Einbezug von lateinischen Fachbegriffen« (Meier 2009a, 132). Außerdem dokumentierte »die Einführung einer eigenen, nur für Gebildete verständlichen Schreibart und Wortwahl in der Schriftsprache die Unterscheidung zwischen Gelehrten und dem gemeinen Volk« (ebd., 133). In dem Maße, in dem seit dem Spätmittelalter die Korrespondenz zwischen Landesherren untereinander, aber auch die Korrespondenz ihrer Behörden immer umfangreicher wurde, bildeten sich im zwischen- wie innerstaatlichen Schriftverkehr aufgrund historisch entwickelter politisch-sozialer Faktoren feste Gewohnheiten und Regeln heraus: der Kanzleistil. Im Kontext der fortschreitenden Vervollkommnung der Kanzleisprache bildete die Kenntnis dieser Gewohnheiten bzw. der ihr zugrunde liegenden historischen Verhältnisse die Voraussetzung für deren zeremonielle Umsetzung im Schriftverkehr. Die landesherrliche Kanzlei kann als ein wichtiger Umschlagplatz der Formenelemente von der Urkunde zum Schreiben angesehen werden; vor allem, nachdem im 14. / 15. Jahrhundert Kanzleibeamte dazu übergingen, umfangreiche Sammlungen von
1. Die Bedeutung der Kanzleien für die Entwicklung der deutschen Sprache
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Urkundenformularen und Textvorlagen anzulegen. Der Kanzleistil als zunächst ungeschriebener Comment wurde damit in geschriebene bzw. gedruckte Formen von Kanzleihilfsmitteln überführt. Die Kanonisierung der Formenverwendung anhand solcher Kanzleihilfsmittel erreichte im 17. / 18. Jahrhundert ihre Hochblüte, doch danach begann ein anhaltender Formenabbau. Der Kanzleistil war bereits zur Zeit seiner Hochblüte ein Gegenstand der zeitgenössischen Sozialkritik. Der Kanzleistil des 17. / 18. Jahrhunderts bestimmte die formale Gestaltung eines Schriftstücks unter Beachtung der Vorgaben, die sich aus dem Verhältnis zwischen Absender und Empfänger sowie dem Inhalt des von ihnen schriftlich zu verhandelnden oder zu fixierenden Geschäftes ergaben. Die Gestaltung bezweckte Würde und Wirksamkeit, die formal präzise und präjudizfreie Rangwahrung des Schreibenden ebenso wie die inhaltlich bestmögliche Vermittlung bzw. Durchsetzung seiner schriftlich fixierten Intention. Die zweckmäßige Gestaltung der Schriftstücke umfasste die Wahl der Sprache (v. a. deutsch und französisch), die Zusammensetzung der äußeren Gesamtform, die Variation der einzelnen Formenelemente sowie die Benutzung von angemessenen Schreibund Beschreibstoffen. Auch wenn der Kanzleistil insbesondere bei der Formulierung der narrativen und dispositiven Textteile im Kontext mit oft mehrmals verschachtelten Satz-Perioden nicht den modernen Auffassungen von stilistischer Klarheit entspricht, muss den damaligen ›Satzungetümen‹ durchaus das Bemühen um Präzision und Klarheit zugestanden werden (vgl. ebd.). Formular-, Titulatur- und Kanzleilehrbücher sind seit dem Frühmittelalter bekannt. Im Spätmittelalter wurden sie mit dem Wiederaufleben der Schriftlichkeit neu entdeckt. Die Basis bildeten die landesherrlichen, städtischen oder kirchlichen Register- bzw. Missiv-Buchführungen als Belege für die ausgehende Korrespondenz. Sie dienten auch als Mustersammlung für andere auszufertigende Urkunden oder Schreiben. Zunächst gab es eine parallele Abschriftensammlung, in der allenfalls eine abstrakte Überschrift über dem konkreten Schriftstück den Formelcharakter hervorhob. In weiterer Abfolge wurden Namen und Daten in der Abschrift durch n.n. ersetzt, so dass ein abstraktes Formular entstand. Verfasser solcher Formularbücher lassen sich sowohl im weltlichen als auch im geistlichen Kanzleibereich finden. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts erschienen in immer größerer Zahl auch Formular- und Rhetorikbücher (Formulare), die ausschließlich in deutscher Sprache verfasst, jedoch von ihrem Inhalt und ihrer Anlage her noch von den entsprechenden älteren lateinischen Werken abhängig waren (vgl. Nickisch 1969, 17ff.). Die verschiedenen, häufig nachgedruckten Formularbücher des 15. und auch noch des 16. Jahrhunderts stimmten in ihrer Anlage, ihrem Inhalt und oft selbst im Wortlaut völlig überein (vgl. ebd., 25). In den an vielen größeren Orten entstehenden Schreibschulen, in denen die künftigen Schreiber, Notare und Sekretäre der städtischen und höfischen Kanzleien ausgebildet wurden, fanden Formulare Verwendung (vgl. Nickisch 1991, 77f.), und auch alle bisher näher untersuchten, größeren deutschsprachigen Kanzleien benutzten solche Formularbücher (vgl. Meier 2002; 2004; 2009a). Dass sich der jeweilige Kanzleiusus häufig erstaunlich gleichmäßig und über einen längeren Zeitraum hinweg hielt, hing auch mit den benutzten Formular- und Muster-
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
büchern zusammen (vgl. von Brandt 1998, 94). Eines der bekanntesten Werke, das seit 1480 infolge des Buchdrucks besonders im deutschsprachigen Süden und Westen weite Verbreitung fand, und auf die auch der Kölner Schryfftspiegel zum Teil zurück geht (vgl. Götz 1992, 192), ist die Sammlung Formulare und teutsch Rhetorica, die in verschiedenen Städten Deutschlands herausgegeben wurde (u. a. in Augsburg, Ulm und Straßburg; vgl. Nickisch 1969, 248f.). In den Formularbüchern wurden nicht nur geeignete Ausdrucksmittel und entsprechende Synonyme, sondern auch textuelle Strukturen anhand von Mustertexten dargeboten, wie ein Auszug aus einem Inhaltsverzeichnis verdeutlicht: (1) RegiǕter Item des erǕten iǕt hye geǕetzt die rethorica mit frag vnd antwurt Tytel aller Ǖtnd Ǖendbrief, Ǖinonima vnd colores / daz alles zĤ dem brieffmachen vnd zĤ Ǖch nen lieplichen vnd geplumpten reden dienen iǕt. Item Ǖch n gepl mpte rede mit kurtzen Ǖprüchen. Item ander Ǖch n reden die ein beniuolentzten wol geǕchriben mügent werden […]. Nach dem Ǖint begriffen Ǖinonima mancherley w rter vnd wie wol die verkert Ǖint Ǖo beteütendt Ǖy doch ein meynunge an dem. Vorred einer verbüntlichen vereynigung […]. (Grüninger: Formulare 1486, fol. a2a) Die Kommunikationspraxis und das spezifische Textwissen in einer Kanzlei sowie das Verfassen eines konkreten Schriftstückes wurden von verschiedenen Faktoren beeinflusst (vgl. Meier 2004, Kap. 3.5. und 3.7.). Als Vorbild dienten dem Schreiber sowohl die Muster in den Formularbüchern der jeweiligen Kanzleien, die einen zeitgenössischen überregionalen Usus dargestellt haben dürften, aber auch gewisse Formulierungsregeln und Textmuster, die in einer Region verwendet wurden. Sie könnten in städtischen Kanzleien entstanden und bei der Migration der Schreiber durch diese verbreitet worden sein. Als alleiniger Grund für die große Ähnlichkeit in den Textmustern und Formulierungen kann die Verbreitung gedruckter Formularbücher und Briefsteller allerdings nicht angesehen werden, da sich Briefe, vor allem aufgrund des herrschenden Dispositionsschemas, im gesamten 15. Jahrhundert und auch bereits davor im deutschen Sprachraum formal stark zu ähneln scheinen (vgl. Möller 1998, 56; vgl. auch Meier 2004, Kap. 4.3.). Die Formular- und Kanzleibücher konnten eine ganze Reihe unterschiedlicher Abschnitte enthalten. Titel, also die in Briefen und Urkunden zu verwendenden Bezeichnungen bzw. Anschriften der unterschiedlichen Würdenträger und Personen von Stand, waren ein wichtiger Bestandteil. Von großer Bedeutung war außerdem – in Anlehnung an die antike Rhetorik – die strenge Fünfteilung des Briefes (Salutatio, Captatio benevolentiae bzw. Exordio, Narratio, Petitio und Conclusio). Wörter und zum Teil auch Syntagmen mit ähnlicher Bedeutung, die sich zur Zusammenstellung in mehrgliedrigen Formeln eignen, wurden – als weiterer Bestandteil mit sprachlich-rhetorischer Thematik – unter Überschriften wie z. B. Synonyma rhetoricalia zusammengestellt. Weitere wichtige Bestandteile waren darüber hinaus die Orthographie- und Interpunktionsleh-
1. Die Bedeutung der Kanzleien für die Entwicklung der deutschen Sprache
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ren. In den Formularbüchern wurden nicht nur geeignete Ausdrucksmittel, sondern auch textuelle Strukturen anhand von Mustertexten dargeboten. Wenngleich die meisten Formular- bzw. Kanzleibücher mehrere der genannten Teile aufweisen, enthält kaum eines alle der angeführten Abschnitte. Für eine weitere Unterteilung und Einordnung ist es wichtig, zu unterscheiden, welche Bestandteile vorhanden sind und welche Akzente innerhalb der einzelnen Abschnitte gesetzt werden. Es gibt beispielsweise in der regionalen Prägung der Titel Unterschiede und z. B. auch in der Art der exemplarisch dargestellten Brief- und Urkundenmuster. Da die Werke häufig anonym erschienen, außerdem oft ähnliche Titel hatten, andererseits auch als Neubearbeitungen und Neuauflagen unter anderem Titel erschienen, ist es – wie Otto Clemen bereits 1921 formulierte – »nicht leicht in diese Literatur Ordnung zu bringen« (Clemen 1921, 2). Zu beachten ist, dass in den Formularbüchern die orthographisch-grammatischen Anweisungen in der Regel als eine Art der Auseinandersetzung mit der Sprache aufgefasst wurde, und dass diese Teile für zeitgenössische Benutzer kaum eine herausragende Bedeutung besaßen, wie z. B. ein Abschnitt aus Formulare und teutsch Rhetorica deutlich zeigt, in dem die Orthographie zwischen Stilfiguren und stilistischen Grundsätzen erwähnt wird: (2) Frag. was muß einer wiǕǕen das er mug kunnen allerley brieff deǕsterbas articulieren / vn die eines yegliche artickels deǕsterbas zu Ǖamme Ǖetze / vn orthographire. Antwurt. Er muß wiǕǕen cogruitates / coiunctoes / coǕstructoes / copulatoes distinctiones / orthographia / mutatoes / alteratoes / vn vberige wort vermyden. (Grüninger 1486, Bl. Iv) Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts blieb die Grundlage der Formularbücher weitgehend unverändert, und auch in den vielen Epistel- und Kanzleibüchern, die nach 1530 erschienen, galt immer noch das traditionelle Dispositionsschema. Das Vorgetragene hatte eine rhetorisch wohlgeformte Sprachgebung mit groß angelegten, vielfach gegliederten Satzgefügen aufzuweisen, und die jeweilige Stillage wurde von der Standeszugehörigkeit bestimmt. Sprachlich und inhaltlich waren die Formularbücher des 16. Jahrhunderts vollständig von der Verwaltungspraxis der Kanzleien geprägt. Während die frühen Werke vor allem eine Systematisierungs- und Normierungsfunktion hatten, wandten sich die Autoren im 17. Jahrhundert teilweise bereits durchaus kritisch, bisweilen sogar parodierend gegen die Formvorschriften, und in den Brieftheorien wurde nun die genaue Einteilung von Briefarten wichtig (vgl. Meier 2009a).
4.
Die Bedeutung der Kanzleien für den Sprachausgleich
Die zentrale Frage, ob eher der jeweilige Schreiber oder der Schreibort primär sei, ist auch für die Entwicklung der deutschen Sprache und den Sprachausgleich von erheblicher Bedeutung. Die Untersuchungen Bruno Boeschs, der von einer »dominierenden Rolle der örtlichen Schreibtradition« ausgeht (1957, 5) und Dieter Haackes, der eine
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Dominanz der (auswärtigen) Schreibergewohnheiten konstatiert (vgl. 1964, 140f.), haben die Kanzleisprachenforschung dazu bewogen, davon auszugehen, dass die Herkunft des Schreibers im 13. und 14. Jahrhundert auffälliger ist als im 15. und 16., wo der Schreibusus vor allem in höher organisierten Kanzleien bestimmend wirkte (vgl. Moser 1985, 1404). Doch auch in dieser Zeit ist individueller Schreibgebrauch z. B. in Wittenberg sowohl in der Stadtkanzlei als auch in der kurfürstlichen Kanzlei feststellbar, der jedoch den überregionalen Sprachausgleich unterstützte (vgl. Kettmann 1996, 131ff.). Soziolinguistisch ist dabei von Relevanz, dass die Trennung von ›höherer‹ und ›niederer‹ Kanzleiarbeit im 14. und 15. Jahrhundert sowie die Zunahme des Schriftverkehrs durch zahlreiche Schreibende mit niedrigerem Bildungsgrad, den geregelten Sprachausgleich hemmten (vgl. Schmitt 1966, 317f.). Auch die Frage, ob große Kanzleien progressiver sind als kleine, ist differenziert zu beantworten. Während Schulze und Bürgisser gegen eine geringere Einschätzung kleinerer Kanzleien zu bedenken geben, dass die dort tätigen ungeübten Schreiber eher der Tradition folgen als geübte Kanzleischreiber (vgl. Schulze 1967, 22f.; Bürgisser 1988, 3), weisen Suchsland und Otto nach, dass alle Entwicklungen in Jena und Zeitz gleichlaufend mit großen Kanzleien vollzogen werden (vgl. Suchsland 1968, 246f.; Otto 1970, 282ff.). Und auch wenn Skála darauf hinweist, dass die Egerer Kanzleisprache der Prager in nichts nachsteht (vgl. 1967, 13), ist laut Bentzinger »die Vorbildwirkung großer Kanzleien zu akzeptieren« (2000, 1669). So fördert die kursächsische Kanzlei »im Omd. die Durchsetzung der nhd. Diphthongierung« und »die kaiserliche Kanzlei hilft im Süden o-Formen (sonst für sunst) verbreiten« (ebd., 1669f.; vgl. Kettmann 1967). Bei den Stadtkanzleien beginnen die östlichen mit dem Sprachausgleich, besonders die nordbayrischen und oberfränkischen (Regensburg, Nürnberg, Bamberg), indem sie rhfrk. und md. Einflüsse aufnehmen und mit Augsburg, Eger, Prag, Leipzig, Erfurt und anderen böhm. und omd. Städten in Beziehung treten. (Moser 1985, 1404, 1406; vgl. Skála 1970, 99ff.; vgl. Bentzinger 2000, 1670)
Resümierend festzuhalten ist, dass das Md. mehr vom Obd. aufnimmt als umgekehrt, und der Osten gegenüber dem (politisch zersplitterten) Westen voranschreitet (vgl. Moser 1985, 1404, 1406), doch verlaufen diese Prozesse keineswegs »geradlinig« (Bentzinger 2000, 1670). Bis ins 17. Jahrhundert hinein reicht die Vorbildwirkung der Kanzleisprachen, die auch durch ihre von Beginn an im Allgemeinen strenge Normierung zu erklären ist (vgl. ebd., 1668). Umso verwunderlicher ist es, dass ihre Einflüsse auf den Kanzleistil nach wie vor nicht umfassend erforscht sind (vgl. Ernst 2009; Meier 2009a). Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts stehen sich die Kanzleisprachen unterschiedlicher Regionen so nahe, dass sie der entstehenden neuhochdeutschen Schriftsprache »ein einigermaßen festes Gerüst der äußeren sprachlichen Form (in der Morphologie wohl ähnlich wie in der Graphie) zu vermitteln in der Lage sind« (Moser 1978, 56). Laut Bentzinger wird, seitdem »die sprachhistorische Rolle der Kanzleisprachen erfüllt ist«, dieses Gerüst in der Folgezeit »durch Druckersprachen, herausragende Autoren wie Luther, Schulmeister und Grammatiker« weiter ausgebaut (2000, 1670). Das Phänomen Schreibsprache des 17. bis 20. Jahrhunderts ist nicht einfach als Fortsetzung der Geschäfts- und Kanzleisprachen des Spätmittelalters und der begin-
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nenden Neuzeit zu sehen. Das Varietätenspektrum des Deutschen verändert sich seit dem 16. Jahrhundert in einem vielfältigen Umschichtungsprozess immer mehr und es kommt sowohl zu sprachsoziologischen, medialen sowie strukturellen Umschichtungen, auch in den Bereichen der Sprachgebrauchs-, Sprachbewusstseins- und Sprachkontaktgeschichte.
5.
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
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1. Die Bedeutung der Kanzleien für die Entwicklung der deutschen Sprache
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Jörg Meier, Klagenfurt (Österreich)
2.
1. 2. 3. 4.
1.
Räumliche und zeitliche Abgrenzung einer Erforschung der deutschen Kanzleisprachen
Einleitung Die Anfänge deutschsprachiger Kanzleien in Europa Ausblick Literatur
Einleitung
Wenn die räumliche und zeitliche Distribution deutschsprachiger Kanzleien charakterisiert werden soll, sind verschiedene Aspekte zu beachten, wobei zunächst davon auszugehen ist, dass die Verwendung, Geltung und Distribution einer Sprache weniger auf ihren sprachinternen Eigenschaften beruht als vielmehr auf sprachexternen Faktoren und Parametern. Soziopragmatische Faktoren, wie die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die wissenschaftlich-technologischen Leistungen und die kulturelle Ausstrahlung, spielen dabei eine dominante Rolle. Darüber hinaus sind u. a. auch Fragen des Sprachbewusstseins und der Sprachloyalität der Sprachteilnehmer von großer Bedeutung. Bei der Skizzierung einer sprachgeographischen und sprachperiodischen Einordnung der deutschen Kanzleisprachen muss berücksichtigt werden, wann und wo der Beginn deutschsprachiger Kanzleien in Europa zu vermuten ist, wie die politische, ökonomische und soziokulturelle Konstellation der jeweiligen Region war, von wem und in welchen Domänen deutsche Kanzleisprachen verwendet wurden und welchen Charakter Deutsch außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums besaß. Außerdem muss beachtet werden, welche Rolle die deutsche Sprache im Handel oder in internationalen Beziehungen spielte und ab wann Kanzleien als deutschsprachig zu bezeichnen sind. In seiner Einleitung zum ersten Band der Beiträge zur Kanzleisprachenforschung schreibt Albrecht Greule zur sprachperiodischen Einordnung und diatopischen Dimension der Anfänge der deutschen Kanzleisprachen: Da deutschsprachige Urkunden zuerst um die Mitte des 13. Jahrhunderts im Südwesten auftauchen, können die Kanzleisprachen zwar auch noch das Mittelhochdeutsche betreffen; die Fülle kanzleisprachlicher Texte gehört jedoch zur Periode des Mittelniederdeutschen und des Frühneuhochdeutschen. (Greule 2001b, 14)
16
2.
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Die Anfänge deutschsprachiger Kanzleien in Europa
Als Prämisse für eine Orientierung in Raum und Zeit lässt sich im Hinblick auf den Beginn deutscher Kanzleien und Kanzleisprachen zunächst in etwa das 13. bis 15. Jahrhundert als zeitlicher Rahmen abstecken, wobei die Anfänge einer offiziellen Verwendung des Deutschen bereits in die Stauferzeit fallen. Wie bekannt, beginnt das Corpus altdeutscher Originalurkunden mit dem Erfurter Judeneid vom Ende des 12. Jahrhunderts. Im Hinblick auf die Herausbildung deutschsprachiger Kanzleien war die wichtigste Neuerung im 13. Jahrhundert das Entstehen einer volkssprachlichen Prosa, die immer stärker in Bereiche eindrang, die bisher dem Lateinischen vorbehalten waren. Die nächsten deutsch geschriebenen Rechtstexte sind das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch und der Sachsenspiegel, die beide um 1224 / 25 in der Regierungszeit Friedrichs II. verfasst wurden (vgl. Schmidt-Wiegand 1998). Sowohl in einer lateinischen als auch in einer deutschen Fassung erschien der berühmte Mainzer Reichslandfrieden Kaiser Friedrichs II. von 1235. Es handelt sich dabei um das erste im ganzen Staat gültige volkssprachliche Gesetz im westlichen Europa. Das Versöhnungsabkommen von 1248 zwischen den Erzbischöfen von Trier und Köln auf der einen Seite und dem Pfalzgrafen vom Rhein auf der anderen ist einer der frühesten Verträge in deutscher Sprache, allerdings belegen auch diese Zeugnisse geschriebener mittelhochdeutscher Volkssprache noch keine allgemeine Entwicklung des Deutschen zur Kanzleisprache. Diesen Beleg liefert erst eine breitere Verwendung im Bereich von Staat und Verwaltung: schriftlich fixierte Beschlüsse auf Hof- und Reichstagen, in der Gesetzgebung, in Urkunden, in den staatlichen und städtischen Kanzleien und im Geschäftsleben. Aus der Zeit Kaiser Ludwigs des Bayern liegen größere volkssprachliche Gesetzessammlungen vor – der Österreichische Landfrieden (1254), der Bayerische Landfrieden (1256), das Österreichische Landrecht (um 1298) und das Oberbayerische Landrecht (1346) – und die Münchner Kanzlei Ludwigs war auch die erste kaiserliche Kanzlei, die in größerem Umfang in Deutsch urkundete. Stadtrechte, wie die von Braunschweig, Lübeck, Freiburg im Breisgau, Winterthur und Straßburg, wurden von der Mitte des 13. Jahrhunderts an vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt, und auch Urbare wurden ab diesem Zeitpunkt vermehrt in deutscher Sprache geführt. Doch erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts nahm die Beurkundung in städtischen und fürstlichen Kanzleien einen größeren Umfang ein. Insgesamt ist bis zum Jahre 1300 von etwa 4.000 deutschsprachigen Urkunden gegenüber geschätzten 500.000 lateinischen auszugehen (vgl. Wilhelm 1932, 20ff.; Rautenberg 2000, 1302). Besonders in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist dann außerhalb der kaiserlichen Kanzlei ein auffallendes Ansteigen der Zahl der Urkunden in deutscher Sprache zu beobachten (1240–1259 = 42, 1260–1279 = 348, 1280–1299 = 3.169 Urkunden; vgl. u. a. Wilhelm 1932, 20ff.). Wurde in der Prager Kanzlei Karls IV. noch fast die Hälfte aller Urkunden auf Latein verfasst, so herrschte unter seinem Nachfolger Wenzel, ab 1378, auch in der kaiserlichen Kanzlei das Deutsche vor (vgl. auch Beitrag 32 von Spaþilová in diesem Handbuch). Neben der kaiserlichen und den städtischen Kanzleien, in denen Deutsch nun immer häufiger als offizielle Sprache verwendet wurde, gab es mit der Hanse noch eine andere große Institution, die das bisher gebrauchte Latein durch die eigene Sprache ersetzte.
2. Räumliche und zeitliche Abgrenzung einer Erforschung der deutschen Kanzleisprachen
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In den Kontoren und Niederlassungen der Hanse war die Geschäftssprache seit etwa 1350 überwiegend und seit 1370 / 80 ausschließlich Mittelniederdeutsch. Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert war Mittelniederdeutsch die internationale Sprache des gesamten Ostsee- und eines Teils des Nordseeraums (vgl. u. a. Sanders 1982). Die Schriftlichkeit des Handels nahm mit der Einführung der Buchführung im 13. Jahrhundert und dem Sesshaftwerden der bislang wandernden Fernkaufleute stark zu, wie an Handlungsbüchern, Korrespondenzen, Einträgen in Schuldbüchern bzw. Grundbüchern der Stadt sichtbar wird. Blieb diese Schriftlichkeit in den Anfängen noch lateinisch, so wechselte auch die Hanse mit dem Wandel der Kaufmannshanse in eine Städtehanse um 1300 und dem zunehmenden Gebrauch des Deutschen in den städtischen Kanzleien die Schriftsprache (vgl. Ureland 1987 ). Die deutsche Sprache verbreitete sich aufgrund der großen Siedlungsbewegung vom 12. bis zum 14. Jahrhundert und der Handelsmacht der Hanse vom 13. bis 16. Jahrhundert nicht nur als Muttersprache, sondern erwarb im Norden und Osten auch eine privilegierte Stellung als städtische Verkehrssprache. Durch den Zuzug von deutschen Kaufleuten und Handwerkern waren Städte wie Wisby auf Gotland, Kalmar, Stockholm, Kopenhagen, Oslo oder Bergen am Ende des Mittelalters zweisprachig, wobei Deutsch das höhere Prestige besaß und gesellschaftlich dominierte (vgl. auch Beitrag 39 von Mähl in diesem Handbuch). Das Mittelniederdeutsche war bis weit in das 16. Jahrhundert hinein die ›Lieblingsfremdsprache‹ der weltlichen oberen und mittleren Schichten, und die Sprache besaß dabei ein solches Prestige, dass für diesen Zeitraum eine sprachliche Trennung zwischen oberen und unteren Schichten und damit eine soziolektale Zweisprachigkeit zu konstatieren ist. In Stockholm war der erste namentlich bekannte Bürgermeister im Jahre 1297 ein Deutscher und auch in den Ratsversammlungen waren die Deutschen so stark vertreten, dass das schwedische Stadtrecht 1345 vorschrieb, dass fortan nicht mehr als die Hälfte der Ratsherren Deutsche sein dürften. In zahlreichen baltischen Städten, wie z. B. Riga, Reval / Tallin oder Dorpat / Tartu, war Deutsch städtische Umgangssprache (vgl. Haugen 1984; vgl. auch Beitrag 38 von Lele-Rozentale in diesem Handbuch). Auch in Polen, Böhmen und dem damaligen Ungarn erwarb Deutsch im Spätmittelalter eine ähnliche Stellung. Zuwanderung, technische Fortschrittlichkeit und Städtegründungen Deutscher waren auch hier die Gründe dafür, dass Deutsch zur bevorzugten Zweitsprache und oft zur städtischen Umgangssprache wurde (vgl. auch Beitrag 37 von Wiktorowicz, Beitrag 31 von VaĖková und Beitrag 33 von Greul in diesem Handbuch). Die slawischen Völker waren bereits im Zuge der frühmittelalterlichen Ostexpansion und Christianisierung zwischen der Elbe-Saale-Linie und der Oder mit den zugewanderten Deutschen zu den deutschen Neustämmen der (Ober-)Sachsen, Brandenburger und Mecklenburger zusammengewachsen. Die hochmittelalterliche Ostsiedlungsbewegung dehnte den deutschen Sprachraum bis jenseits der Oder nach Schlesien und Pommern, aber auch nach Böhmen und Mähren aus. Dort wurden vor allem der breite Saum entlang der Mittelgebirge und fast alle neu gegründeten Städte deutsch oder überwiegend deutsch. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts waren deutsche Geistliche, Kaufleute, Handwerker, Bergleute und Bauern ins Land gerufen worden. Am Hof in Prag überwog Deutsch als höfische Sprache, und im 14. Jahrhundert war das Deutsche in nahezu sämtlichen Städten des Königreichs Böhmen und vor dem König gebräuchlicher als das Tschechische (vgl. Graus 1980, 91ff.).
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Der Landadel in Böhmen kämpfte jedoch, anders als es in Skandinavien, Polen und auch in Ungarn der Fall war, erbittert gegen die neuen Fremden, so dass es in Ansätzen schon im 12. und 13., besonders aber im 14. und 15. Jahrhundert eine Fremdenfeindlichkeit und einen »Sprachenkampf [gab], der im damaligen Europa nicht seinesgleichen hatte« (Skalá 1976). Die Deutschböhmen, die immerhin ein Drittel der Landesbevölkerung ausmachten, wurden als Ausländer in Böhmen betrachtet, die man möglichst wieder loswerden wollte. Seit dem 14. Jahrhundert wurde ihnen kein Amt am Hof mehr verliehen und sie durften vor Gericht ihre Sprache nicht verwenden. Nur wenn ihre Eltern die tschechische Sprache erlernt hatten, konnten Kinder Grund und Boden erben. Gegenüber dem König bestand der Adel darauf, dass es sich in Böhmen und Mähren um ein einsprachig-tschechisches Königreich handle. Deutsch war bis zum Jahr 1527, in dem die böhmische Krone an die Habsburger ging, aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Erst nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) finden sich in den Stadtbüchern wieder deutsche Einträge. In Mittelost- und Südosteuropa gab es seit dem Hochmittelalter deutsche Einwanderung und Städtegründungen in Siebenbürgen (damals Ungarn, heute Rumänien), in Ungarn selbst, in der Slowakei und im heutigen Slowenien (Gottschee) sowie nach der Befreiung Ungarns von der türkischen Herrschaft – allerdings erst im 17. Jahrhundert – im Banat (heute Rumänien und Serbien) und der Batschka. Aus dem Gebiet des heutigen Ungarn sind seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts älteste deutschsprachige Zeugnisse in Form von Urkunden aus dem Westen überliefert (z. B. 1352 Ödenburg / Sopron und Güns / KĘszeg). In den Gebieten Siebenbürgens (heute Rumänien) finden sich älteste Belege einer deutschen Kanzleisprache erst 100 Jahre später ab dem Jahre 1419 (vgl. Bassola 1995, 223; 2001; vgl. auch Beitrag 33 von Greul und Beitrag 35 von Dogaru in diesem Handbuch). Der Anfang einer deutschen Kanzleisprache in der Slowakei ist aufgrund der guten Forschungslage relativ sicher auf das Jahr 1346 und die Stadt Pressburg / Bratislava zu datieren. Trotz des bereits im 14. Jahrhundert erheblichen Einflusses des Deutschen, bleibt die Kanzleisprache bis zum Jahre 1410 dominant lateinisch geprägt. Seit diesem Zeitpunkt übersteigt die Anzahl der deutschsprachigen Textzeugen die lateinischen dann jedoch deutlich (vgl. Meier / Ziegler 1998; Meier 2000; Ziegler 2000; 2003). Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wurden, nach der militärischen Eroberung durch den deutschen Orden und die nachfolgende Besiedlung, auch Teile Westpreußens und ganz Ostpreußen deutsch. Auch in Lettland und Estland bildete sich eine bürgerliche deutsche Schicht heraus. Im Süden umfasste der deutsche Sprachraum von Anfang an den größten Teil der heutigen Schweiz, das heutige Südtirol und das Elsass. Bereits im Verlauf der bairischen Besiedlung und Expansion schob sich im Gebiet des heutigen Österreich die deutsche Sprachgrenze bis an die heutige Ostgrenze vor. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts kam es zu keiner territorialen Expansion des Heiligen Römischen Reichs mehr, sondern zu einem kontinuierlichen Abbröckeln an den Rändern. Im Jahr 1438 ging die Herrschaft im Reich wieder auf die Habsburger über, und mit Kaiser Maximilian I. begann eine besonders sprachbewusste Periode. Durch Heirat hatte die Habsburgerdynastie 1477 den Anspruch auf Burgund, das auch das heutige Belgien und die heutigen Niederlande umfasste, erworben und war damit zur Großmacht aufgestiegen. Wenngleich in der Gesellschaft am kaiserlichen Hof viel Französisch ge-
2. Räumliche und zeitliche Abgrenzung einer Erforschung der deutschen Kanzleisprachen
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sprochen wurde, verwendete Maximilian in offiziellen Schreiben an Angehörige des Reichs, auch an die frankophonen Reichsstädte, konsequent die deutsche Sprache. Zur Zeit Maximilians wurde in der kaiserlichen Kanzlei bewusst Sprachpflege getrieben und unter seinem Kanzler Niclas Ziegler, der an einer Orthographiereform interessiert war, ist »in der Wiener Kanzlei viel zur systematischen Vereinfachung der graphemischen Varianten getan worden, z. B. bei der Monophthongierung und der Vereinfachung von Konsonantenhäufungen« (von Polenz 2000, 162; vgl. Moser 1977). Wenn von den Anfängen der deutschen Kanzleisprachen in Europa die Rede ist, impliziert dies selbstverständlich immer noch ein Nebeneinander von Deutsch und Latein. Diese häufig funktional bedingte Zweisprachigkeit der einzelnen Kanzleien ist während des gesamten 13. und 14. Jahrhunderts im skizzierten deutschen Sprachraum zu beobachten. Erst im Verlauf des 14. Jahrhunderts und schließlich im 15. Jahrhundert gaben immer mehr Kanzleien das Lateinische zugunsten der deutschen Sprache auf und sind somit im eigentlichen Sinne als deutschsprachige Kanzleien zu bezeichnen.
3.
Ausblick
Wenngleich sich in neueren Sammelbänden und in dem vorliegenden Handbuch Beiträge aus zahlreichen Ländern besonders Mittel- und Osteuropas zur Thematik der deutschen Kanzleisprachen finden (vgl. u. a. Grabarek 1997; Greule 2001a; Meier / Ziegler 2003; Meier / Ziegler 2008; Ernst 2009; Moshövel / Spáþilová 2009), fehlen immer noch neuere Untersuchungen zu einer Reihe von Ländern, u. a. in Sprachinseln und Sprachkontaktzonen Südosteuropas, der Ukraine und Russlands, aber auch der Schweiz, in denen Kanzleitexte in deutscher Sprache verfasst wurden (vgl. Meier / Ziegler 2000, 100). Sowohl eine umfassende Aufarbeitung der unterschiedlichen deutschsprachigen Kanzleien mit ihren jeweils spezifischen Textsortenspektra als auch eine sprachgeographische Analyse der verschiedenen Kanzleien innerhalb und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebietes liegen bisher nicht vor.
4.
Literatur
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
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Albrecht Greule, Regensburg (Deutschland)
3.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
1.
Geschichte der Kanzleisprachenforschung
Kanzleien und ihre Bedeutung für die Sprachgeschichte Forschungen im 19. und 20. Jahrhundert (bis 1945) Erforschung der Urkundensprache Kanzleisprachenforschung in der Nachkriegszeit Kanzleisprachen und Sprachausgleich Der Internationale Arbeitskreis Kanzleisprachenforschung Kanzlei und Textsorten Literatur
Kanzleien und ihre Bedeutung für die Sprachgeschichte
Das Hauptziel der Kanzleisprachenforschung ist die Beschreibung der Geschichte der deutschen Sprache unter dem Aspekt der Abhängigkeit geschriebener Texte von der Stelle ihrer Produktion (Kanzleischreibe) und den dort schreibenden Menschen (Kanzleischreiber) her. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ist die Produktion deutschsprachiger Texte (besonders des Geschäftsschrifttums, d. h. der Urkunden und Akten) von den so genannten Kanzleien (auch Schreibstätten) abhängig. Zu den volkssprachigen Texten, die im 13. Jahrhundert vermehrt auftreten und in bislang dem Latein vorbehaltene Domänen eindringen, gehören auch Urkunden und Urbare (vgl. Paul 2007, 17). Das Ende der Kanzlei als typische Schreibstätte wird durch das Aufkommen der Druckkunst, der Technik der Textherstellung mit beweglichen Lettern, seit Mitte des 14. Jahrhunderts und durch die Offizinen, die frühen Druckwerkstätten, eingeläutet. Die Typologie der Kanzleien und damit auch der aus ihnen hervorgehenden Texte richtet sich nach den Auftraggebern. Die Auftraggeber, die nicht in jedem Fall selbst über eine Kanzlei als feste Organisation mit einem Kanzler an der Spitze, mit Notaren, mehreren Schreibern und Hilfspersonal verfügten, sind vereinfacht gesagt der Kaiser / König, ein Fürst, eine Stadt, ein Bischof oder ein Kloster. Daraus ergibt sich – in Relation zum unterschiedlich weiten Wirkungskreis der Kanzleien – die für die Forschung wichtige Unterscheidung in Texte, die in der kaiserlichen / königlichen, einer kurfürstlichen, herzoglichen, fürstlichen, städtischen, bischöflichen oder klösterlichen Kanzlei geschrieben wurden (vgl. Greule 2001, 13f.). Außer Urkunden und Akten wurden in den Kanzleien auch Texte folgender Textklassen abgefasst und geschrieben: Kopialbücher, Register, Briefe, Urbare, Rechnungsbücher, Stadtbücher, Amtsbücher usw. (vgl. Bentzinger 2000, 1665). Auf Grund ihrer zunächst nur regional begrenzten kommunikativen Reichweite sind kanzleisprachliche Texte primär Quellen spätmittelalterlicher Schreibdialekte. Trotz
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
dieser regionalen Ausprägungen besteht kein Zweifel, dass sie – nach komplizierten Ausgleichprozessen – die Grundlage für die Herausbildung einer neuhochdeutschen Schriftsprache bildeten. Dass die Sprachform der Kanzleien seit dem 16. Jahrhundert Vorbildfunktion hat, wird nicht nur durch Martin Luther, sondern auch durch Fabian Frangk (1531), Martin Opitz (1624), Justus Georg Schottelius (1663), Johann Christoph Adelung (1781), Rudolf von Raumer (1854) und Karl Müllenhoff (1863) ausdrücklich bezeugt (vgl. Bentzinger 2000, 1665f.).
2.
Forschungen im 19. und 20. Jahrhundert (bis 1945)
Auf Karl Müllenhoff beruft sich Konrad Burdach, der in der Einleitung zu seiner Habilitationsschrift Die Einigung der Neuhochdeutschen Schriftsprache (Halle an der Saale 1884) die Erforschung der Geschichte der Kanzleisprache fordert und folgendes Forschungsprogramm aufstellt: Untersuchung der Kanzleisprache nach der »localen Verschiedenheit nach den einzelnen Landschaften«, nach dem Verhältnis zum Latein, zu Luthers Sprache, zum Briefstil, zu der Verkehrssprache des täglichen Lebens (Bentzinger 2000, 1666). Diese Forderungen wurden im folgenden Jahrhundert durch eine Vielzahl von Untersuchungen weitgehend erfüllt. Die Forschungsintensität wurde durch den Zweiten Weltkrieg zwar unterbrochen, wurde jedoch unter veränderten politischen Bedingungen nach 1945 weitergeführt und ist nach 1989 dadurch, dass nun ostmitteleuropäische Archive (auch westlichen Forschern) zugänglich sind, sogar noch ausgeweitet worden. Abgesehen von Editionen von Urkunden aus ostmitteldeutschen, schlesischen und Oberlausitzer Städten sowie vor allem aus oberdeutschen Städten (vgl. Kapitel 3), wurden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Entwicklungen in oberdeutschen Kanzleisprachen untersucht. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht das Ostmitteldeutsche im Vordergrund – mit besonderem Blick auf die Prager und andere böhmische Kanzleisprachen und ihre Rolle für die Herausbildung der deutschen Schriftsprache (vgl. Kapitel 4) (vgl. Bentzinger 2000, 1666). Aber auch die Untersuchung von Kanzleisprachen niederdeutscher Herkunft wurde im 20. Jahrhundert in Angriff genommen, beginnend mit einer Dissertation über die lautlichen Verhältnisse in der mittelniederdeutschen Kanzleisprache Anhalts (vgl. Kahle 1908).
3.
Erforschung der Urkundensprache
Eine entscheidende Verbesserung für die Erforschung der Urkundensprache brachte die 1929 von Friedrich Wilhelm begonnene Edition der »altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahre 1300« (abgekürzt als CaOU = Corpus der altdeutschen Originalurkunden). Das Corpus mit über 5000 sorgfältig edierten Urkunden erschien in mehreren Bänden zwischen 1932 und 1986 (vgl. Wilhelm 1932ff.). Damit begann eine rege Forschungstätigkeit, die sich nicht nur dem Aufkommen der deutschen Sprache und den verschiedenen Schreibdialekten widmete, sondern auch die Sprachverwendung in der Abhängigkeit
3. Geschichte der Kanzleisprachenforschung
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von Urkundentyp, Urkundenaufbau und den kommunikativen Bedingungen der Ausstellung von Urkunden in deutscher Sprache in Betracht zog. Auffällig ist die Beobachtung, dass die deutsche Beurkundung im alemannischen Raum (Konstanz, Zürich, Basel, Straßburg, Freiburg i. B.) begann (vgl. Boesch 1943). Das CaOU und damit die Urkunden des 13. Jahrhunderts bilden die Grundlage für eine stattliche Reihe von Untersuchungen der Formelsprache der deutschen Urkunden (vgl. Reiffenstein 1969; de Boor 1975), der Lexik (vgl. Boesch 1945; de Smet 1975), der Morphologie (vgl. de Boor 1974; 1976a; 1976b; Dittmer 1989; Kronenberger 2002) und der Orthographie (vgl, Schulze 1964, am Beispiel von diutsch). Darüber hinaus werden deutsche Urkunden zur sprachgeographischen Auswertung herangezogen (vgl. Boesch 1945; Kranzmayer 1956). Der Syntax der mittelhochdeutschen Urkundensprache widmet sich besonders Ursula Schulze (vgl. 1975; 1991). Darüber hinaus entstand eine Reihe von Untersuchungen zu den Schreibdialekten der Urkunden einzelner Städte und kleinerer Territorien (vgl. Gleißner 1935 (Vögte von Weida, Gera und Plauen); Hammerschmidt 1948 (Jena); Haacke 1964 (Nürnberg); Suchsland 1968 (Jena); Zeman 1972 (Troppau); Bürgisser 1988 (Altbayern); Ernst 1996 (Wien)).
4.
Kanzleisprachenforschung in der Nachkriegszeit
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verdient das Wirken der tschechischen Germanisten Emil Skála (1928–2005) und ZdenČk MasaĜík (geb. 1928) besondere Beachtung. Ihr Schaffen und die methodischen Auswirkungen auf die Kanzleisprachenforschung nach 1945 sind gekennzeichnet durch ihre ausdrücklich auf Archivarbeit gestützten Forschungen. Im Mittelpunkt des Wirkens von Emil Skála stand das Frühneuhochdeutsche in Böhmen, besonders die Kanzleisprache in Eger (tschechisch Cheb) (vgl. Skála 1967) und das Prager Deutsch (vgl. Skála 1966). Einen wichtigen Beitrag zur Erhellung der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache verdankt die Germanistik seinem Vergleich der Regensburger Kanzleisprache mit der Prager Kanzleisprache (vgl. Skála 1968). Das Forschungsinteresse von ZdenČk MasaĜík, der in Brno / Brünn lehrte, richtet sich vornehmlich auf die frühneuhochdeutsche Kanzleisprache Mährens. Sein Hauptwerk Die frühneuhochdeutsche Geschäftssprache in Mähren (MasaĜík 1985) gilt als methodisches Musterbeispiel der historischen Sprachgeographie. Beiden Forschern, die beide bei Theodor Frings in Leipzig studierten, ist es zu verdanken, dass die Kanzleisprachen ein Forschungsgegenstand der deutschen Sprachgeschichte geblieben sind. Dadurch, dass sie Zugang zu den Archiven in Tschechien hatten und haben und die dortigen Archivalien auswerteten, öffneten sie und ihre Schüler den Blick auf neue Materialien, eine Basis, die sich nach der Wende 1989 als sehr tragfähig für ein gesamteuropäisches Forschungsspektrum erwies.
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5.
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Kanzleisprachen und Sprachausgleich
Zur Klärung der Rolle, die die Kanzleien bzw. deren Sprachverwendung beim überregionalen Sprachausgleich, der in der neuhochdeutschen Schriftsprache gipfelte, spielten, haben besonders Ludwig Erich Schmitt (1936; 1966), Heinrich Bach (1937 / 1943) und Werner Besch (1967) beigetragen. Die Parameter, die dabei von verschiedenen Forschern herausgearbeitet wurden (örtliche Schreibtradition vs. auswärtige Schreibergewohnheiten, Herkunft und Bildungsgrad der Schreiber, 13. / 14. Jahrhundert vs. 15. / 16. Jahrhundert, höhere vs. niedere Kanzleiarbeit, Urkundenkonzept vs. Urkundenoriginal, Progressivität und Vorbildwirkung der großen Kanzleien, Vorreiterrolle der östlichen Stadtkanzleien, Rolle der Urkunden-Empfänger) stellt zusammenfassend Rudolf Bentzinger (2000, 1669f.) dar. Als eigener Akt kann – gegenüber den Vorgängen, die sich zwischen den oberdeutschen und mitteldeutschen Kanzleien im Rahmen des Sprachausgleichs abspielten – die Ausdehnung des landschaftlichen Sprachausgleichs auf den niederdeutschen Sprachraum verstanden werden. So lenken mehrere Forscher und Forscherinnen (vgl. Dahl 1960; Rösler 1987; 1997; 2001; Brox 1994; Lehmberg 1999) das Augenmerk auf das Eindringen des Neuhochdeutschen in Kanzleien des (mittel)niederdeutschen Sprachgebiets seit Ende des 14. Jahrhunderts (vgl. Bentzinger 2000, 1670). Als Forschungsergebnis kann mit den Worten von Rudolf Bentzinger und Hans Moser festgehalten werden: »Zu Beginn des 16. Jh. [stehen sich] die Kanzleisprachen so nahe, daß sie der aufkommenden nhd. Schriftsprache ›ein einigermaßen festes Gerüst der äußeren sprachlichen Formen (…) zu vermitteln in der Lage sind‹« (Bentzinger 2000, 1670; Moser 1978, 56).
6.
Der Internationale Arbeitskreis Kanzleisprachenforschung
Für die weitere Entwicklung der Kanzleisprachenforschung im Sinne der Grundlagenforschung sind die umfangreichen Aktivitäten des finnischen Germanisten Ilpo Tapani Piirainen (geb. 1941) von Wichtigkeit. Seit 1972 an der Universität Münster lehrend, entdeckte er bereits ab 1969 die umfangreichen Vorkommen frühneudeutscher Texte in den Archiven der damaligen Ostblockstaaten, besonders aber in slowakischen Archiven und erschließt sie bis heute systematisch. Damit legte er auch den Grundstein für eine Kanzleisprachenforschung, die nach 1989 als europäisch bezeichnet werden kann. Eine Summa des umfangreichen Werkes von I. T. Piirainen bleibt ein Desiderat; eine Übersicht bietet die Bibliographie in der ihm gewidmeten Festschrift (vgl. Meier / Ziegler 2001, 601–612). Als Schüler von I. T. Piirainen setzen Jörg Meier (Klagenfurt) und Arne Ziegler (Graz), konzentriert auf die Masse des frühneuhochdeutschen kanzlistischen Schrifttums in der Slowakei, seine Arbeit fort (vgl. Ziegler 2003; Meier 2004). Beide Forscher leiten seit seiner Gründung im Jahr 1999 den Internationalen Arbeitskreis Kanzleisprachenforschung (IAK) (vgl. Meier / Ziegler 2000). Der IAK richtet regelmäßige Tagungen (Regensburg 1999, Münster 2001, Bochum 2003, Wien 2006, Olomouc 2008, Graz 2010)
3. Geschichte der Kanzleisprachenforschung
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aus, deren Vorträge in der Reihe Beiträge zur Kanzleisprachenforschung ebenso veröffentlicht werden (vgl. u. a. Greule 2001; Meier / Ziegler 2003; Meier / Ziegler 2008) wie eine Bibliographie zur Kanzleisprachenforschung im 19. und 20. Jahrhundert (vgl. Meier / Zieger 2002). Auch das vorliegende Handbuch ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zahlreicher im IAK vereinigten Forscherinnen und Forscher aus ganz Europa.
7.
Kanzlei und Textsorten
Während anfänglich wesentliche Impulse auf die Erforschung der Sprache der Kanzleien von der Frage ihres Einflusses auf die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache (vgl. Kapitel 5) ausgingen, tritt dieser Bereich in jüngster Zeit mehr und mehr in den Hintergrund. Die wichtigen Fragen, die sich in den Diskussionen im Verlauf der Tagungen des IAK in den Vordergrund drängen, sind definitorischer und kommunikativer Art; es geht nunmehr verstärkt um das Handeln mit dem in den Kanzleien hergestellten Schrifttum. Als wichtiges Forschungsparadigma zeichnet sich dazu eine umfassende Typologie der in den Kanzleien geschriebenen Texte und deren Vernetzung in die kommunikativen Zusammenhänge vor allem in der Stadt ab (vgl. Ziegler 2003 am Beispiel von Preßburg / Bratislava; Rösler 2003). So tritt neben die traditionellen Forschungsparadigmen der kanzleisprachlichen Graphematik, Grammatik, Texttypologie und Dialektologie nun auch die Kanzlei-Pragmatik. Die wichtigsten Texterzeugnisse der Kanzleien sind unbestritten die Urkunden und ihre Sprache, die lange im Vordergrund des Forschungsinteresses standen und deshalb gut erforscht sind (vgl. Kapitel 3). Neben den Urkunden wurden weitere Recht setzende und Recht dokumentierende Texte, die der herrschaftlichen oder städtischen Verwaltung dienten, hergestellt und untersucht, z. B. Rechtsbücher, Schöffenbücher, Stadtbücher (vgl. Geuenich 2000), Testamente (vgl. Spaþilová 2000), Protokolle. Ferner typische Verwaltungstexte wie Urbare (vgl. Greule 2003), Weistümer (vgl. Krämer / Spieß 1986), Rechnungen und Quittungen (vgl. Greule 1989) und nicht zu vergessen der Brief als »paradigmatische Kommunikationsform der Frühen Neuzeit« (Meier 2004, 153ff.). In diesem Zusammenhang ergeben sich Forschungsdesiderate, darunter die Frage, ob auch literarische und religiöse Texte in Kanzleien geschrieben wurden; ferner die Frage nach dem Verhältnis geistlicher oder weltlicher Einzelschreiber zu einer oder mehreren Kanzleien und schließlich die interessante Frage nach dem Verhältnis der Druckersprache zur Kanzleischreibe.
8.
Literatur
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
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3. Geschichte der Kanzleisprachenforschung
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
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Jörg Meier, Klagenfurt (Österreich)
4.
1. 2. 3. 4.
1.
Kanzleisprachenforschung im Kontext Historischer Stadtsprachenforschung und Historischer Soziopragmatik
Einleitung Historische Kanzleisprachenforschung, Stadtsprachenforschung und Historische Soziopragmatik Aufgaben für eine soziopragmatisch orientierte Kanzleisprachenforschung Literatur
Einleitung
In den vergangenen Jahrzehnten ist in der Sprachgeschichtsschreibung, besonders für die frühneuhochdeutsche Periode, neben einer arealen Ausweitung der Untersuchungsbasis, einer systematischeren Behandlung der verschiedenen sprachlichen Teilbereiche und einer zunehmenden Hinwendung zum Textkorpus-Prinzip, auch eine stärkere Berücksichtigung sprachsoziologischer Aspekte feststellbar. Im Rahmen der pragmatischen Wende sind mit einer Neubestimmung der Begriffe Stadtsprachen und Kanzleisprachen auch eine Reihe neuer Fragestellungen in den Vordergrund des Forschungsinteresses getreten. An Stelle des sprachlichen Systems wurden zunehmend Sprachverwendungsstrukturen beschrieben, wodurch traditionelle systemlinguistische Fragestellungen durch kommunikative ergänzt oder ersetzt wurden. Die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität von Sprache wird seither in ihrer funktionalen und situativen Differenzierung untersucht. Eine soziopragmatisch orientierte Sprachgeschichtsschreibung geht »über bloße historische Linguistik« hinaus und weist »auf historische Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft im Rahmen kommunikativer Praxis« hin (von Polenz 2000, 9). Dabei kommt u. a. auch der Darstellung von Medien- und Bildungsgeschichte sowie der Textsortenentwicklung ein besonderer Stellenwert zu (vgl. u. a. Schank 1984; Steger 1984; von Polenz 1991; Steger 1998). Der traditionellen sprachgeschichtlichen Darstellung eines System- und Strukturwandels anhand einer isolierten Formengeschichte werden die vielfältigen Aspekte des Funktionswandels von Sprache entgegengestellt (vgl. u. a. Wolff 1999; von Polenz 2000). Im Zuge der Bemühungen um die Konzeption und Erarbeitung regionaler Sprachgeschichten wurde in den letzten Jahren damit begonnen, die sprachhistorischen Eigengesetzlichkeiten regionaler Entwicklungsverläufe zu analysieren. Die Einbeziehung stadtsprachlicher Traditionen in die Sprachverhältnisse einer Region sowie die Kontrastierung von städtischer und ländlicher Schriftlichkeit sollte dabei ebenso berücksichtigt werden wie die sprachlichen Verhältnisse innerhalb und außerhalb der offiziellen Kanzleischriftlichkeit (vgl. u. a. Meier 2008).
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2.
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Historische Kanzleisprachenforschung, Stadtsprachenforschung und Historische Soziopragmatik
Innerhalb der germanistischen Linguistik ist die Historische Stadtsprachenforschung, trotz einer Reihe von älteren Untersuchungen, eine relativ junge Disziplin. Wissenschaftsgeschichtlich wurde Stadtsprache zunächst in der Dialektologie, später zusätzlich im Rahmen der Soziolinguistik und schließlich auch innerhalb der Pragmatik untersucht. Für die historischen Stadtsprachen bzw. städtischen Kommunikationsformen kann auch der Terminus Stadtvarietäten verwendet werden, der neben einer begrifflichen Abgrenzung im Rahmen der Varietätenlinguistik den Vorteil eines relativ geschlossenen Konzeptes bietet (vgl. u. a. Dittmar 1997, 193ff.; Barbour / Stevenson 1998, 108ff.; Ernst 2000, 155; Veith 2002, 134ff.). Bei der gegenwärtigen Sprachgeschichtsschreibung ist festzustellen, dass häufig eher Variabilitäten, Gegensätzlichkeiten, Spannungen und Widersprüche im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses stehen, z. B. zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, zwischen spontan-emotionaler und rational-standardisierter Sprache, individueller, sozialkollektiver und institutioneller, privater und öffentlicher Sprache, zwischen allgemeiner und spezialisierter, zwischen lokaler, regionaler und überregionaler Sprache, zwischen soziokulturellen und staatlichen Raumverhältnissen, sowie zwischen Deutsch und anderen Sprachen (vgl. von Polenz 2000, 12f.). Obwohl es bereits seit dem Beginn der sprachwissenschaftlichen Germanistik immer auch Untersuchungen zu Aspekten regionaler Sprachgeschichte gab, wurden besonders in den letzten Jahren die historischen Eigengesetzlichkeiten einzelner Sprachregionen, auch unter Einbeziehung interdisziplinärer Fragestellungen, erforscht (vgl. u. a. Besch 1998, XXXVIf.; Besch / Solms 1998). Die Sprachhistoriographie führt mit diesem Forschungsansatz ein Konzept fort, das in der Geschichtswissenschaft bereits seit längerem unter Bezeichnungen wie Geschichtliche Landeskunde oder Historische Kulturraumforschung etabliert ist und dem auch die Dialektologie wesentliche Impulse verdankt (vgl. u. a. Macha 2000, VIIIf.). Regionale Sprachgeschichte kann in strukturlinguistischer und in soziopragmatischer Hinsicht, bei der die Region als eine sozialgeographische bzw. historisch-politische Einheit gesehen wird, die auch durch ein sich wandelndes soziokommunikatives Netzwerk charakterisiert ist, betrachtet werden. Wenn regionale Sprachgeschichte als Teil einer Kommunikationsgeschichte verstanden wird, sollte nicht nur nach der Region, der eine dominierende Varietät zugrunde liegt, sondern auch nach der Verbindung zwischen politisch-historischer und sprachlicher Identität gefragt werden (vgl. Mattheier 1998). Im Rahmen der historischen Stadtsprachenforschung, die sich von Beginn an nicht auf eine isolierte Betrachtung städtischer Kommunikationsformen beschränkt hat (vgl. Maas / Mattheier 1987), wurden vor allem in den letzten Jahren, in denen soziokulturelle und pragmatische Fragestellungen stärkere Berücksichtigung fanden, auch stadtsprachliche Traditionen in Korrelation zur Region sowie die sprachlichen Verhältnisse innerhalb und außerhalb der offiziellen Kanzleischriftlichkeit untersucht (vgl. Blume 1997; BisterBroosen 1999; Elmentaler 2000; Meier / Ziegler 2006; Meier 2007a; Meier / Ziegler 2008; Moulin u. a. 2010; vgl. zur Konzeption und Erarbeitung regionaler Sprachgeschichten u. a. Reiffenstein 1995; Besch / Solms 1998; Macha u. a. 2000).
4. Kanzleisprachenforschung im Kontext Stadtsprachenforschung und Soziopragmatik
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Auch in neueren sprachhistorischen Arbeiten ist allerdings immer noch zu beobachten, dass häufig lediglich vermeintlich historisch wertvolle, zumeist juridische Texte analysiert werden. Linguistische Untersuchungen zu alltagsnäheren Texten – etwa zu Briefen, Testamenten, Handwerkerrechnungen, persönlichen Berichten und anderen Texten, die in der städtischen Alltagskultur relevant waren – fehlen, bis auf einige Ausnahmen (vgl. z. B. Fischer 1998; Rösler 2000; Spaþilová 2000a; 2000b; Meier 2001b; Meier / Ziegler 2003b; Ziegler 2003; Meier 2004). Selbstverständlich haben auch viele der eher als alltagsnah bezeichneten Texte häufig einen juridischen Charakter, sind aber in der Regel doch weitaus persönlicher und individueller als z. B. ein Ratsprotokoll oder ein Rechtstext (vgl. Meier 2005). Bis in die Gegenwart hinein wurde der Zusammenhang von Alltag und Sprachgeschichte meist im Rahmen von Untersuchungen zur Sachkultur mitbehandelt. Verantwortlich für diese Vernachlässigung in der Beschäftigung mit alltagssprachlichen Phänomenen ist u. a. die Tatsache, dass die schriftliche Bewältigung von Alltagssituationen in der Geschichte eher selten festzumachen ist (vgl. Wegera 1998, 139f.). Da jedoch seit dem Spätmittelalter Alltagsbereiche einer zunehmenden Verschriftlichung unterlagen, hat die Untersuchung der Kommunikationspraxis einer Stadt oder Kanzlei auch diese Bereiche zu reflektieren und bestenfalls sämtliche verwendeten Texte zu erfassen. Es ist daher als eine der Aufgaben einer modernen Sprachhistoriographie anzusehen, alltägliche Kommunikationsnetze, ihre Entstehung, Veränderung und Frequentierung und deren grundsätzliche Bedeutung für die Entwicklung der Sprache aufzuzeigen, ohne den direkten Einfluss auf die Sprache in jedem einzelnen Fall immer beweisen und beziffern zu können (ebd., 141).
Die Darstellung der Kommunikationspraxis einer Stadt und ihrer Kanzlei, unter Berücksichtigung dieser Netzwerke und aller vorhandenen Textsorten, blieb jedoch bisher weitgehend ein Forschungsdesiderat (vgl. u. a. Meier 1997; 1999; Ziegler 1999; 2000; Meier / Ziegler 2002; 2003a; Ziegler 2003; Meier 2004; Meier / Ziegler 2006; Meier 2007a). Trotz einer mittlerweile durchaus häufig anzutreffenden Korpusorientierung sprachhistorischer Arbeiten fehlen gegenwärtig größere diachrone Längsschnitt- bzw. Reihenuntersuchungen, die darüber informieren könnten, wie sich bestimmte Textsorten im historischen Verlauf entwickelt haben, nahezu vollständig, und auch Querschnittuntersuchungen, die das Textsortenrepertoire sowie den kommunikativen Haushalt einer bestimmten Gesellschaft darstellen, liegen bisher nur in Ansätzen zu Flugschriften (vgl. Schwitalla 1983) und juristischen Texten (vgl. Warnke 1999) vor (vgl. Meier 2001a). Wenn sich eine sprachhistorische Untersuchung das Ziel setzt, die städtische Kommunikationspraxis einer historischen Gesellschaft zu beschreiben, kann dies selbstverständlich sinnvoll nur anhand eines ausgewählten, aber repräsentativen Korpus geschehen. Bei einer Reihe von aktuellen groß angelegten Forschungsprojekten ist der Vorteil einer Arbeit mit Originalhandschriften erkannt worden, so z. B. auch bei der neuen Grammatik des Mittelhochdeutschen, die auf der Basis eines nach Zeit- und Sprachräumen sowie Textsorten strukturierten Korpus mittelhochdeutscher Handschriften entsteht (vgl. Wegera 2000). Es sollte eine Sprachgeschichtskonzeption angestrebt werden, die geeignet erscheint, die sprachliche Situation und die kommunikativen Netzwerke einer historischen Stadt
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
und Kanzlei zu rekonstruieren und »die Entwicklung von Kommunikationsmitteln und -formen des Deutschen als zeitspezifische ›Antworten‹ auf soziale, kulturelle, mentale o. a. Konstellationen und Ausdrucksbedürfnisse« (Cherubim 1987, 99) zu beschreiben. Wenn die Kommunikationspraxis einer Stadt oder Kanzlei untersucht werden soll, so sind sinnvolle Rückschlüsse über den Text auf einen historischen Diskurs nur durch eine Berücksichtigung kultureller, sozialer und kognitiver Einflüsse möglich. Im Kontext einer kognitiv orientierten historischen Linguistik und vor dem Hintergrund, dass Sprache ein bedeutender Teil des gesamten kognitiven Systems ist, über das Menschen verfügen, wird eine Hinwendung zu einer genaueren Untersuchung historischer Diskurse – verstanden als all diejenigen Bereiche des Wissens einer Gesellschaft, die wesentlich für die Wahrnehmung, Kategorisierung und Begriffsbildung sind – erforderlich. Dabei ist der Text die Schnittstelle, an der die Zusammenhänge zwischen Kognition und Sprache deutlich werden. Erst auf der Grundlage einer Interpretation vor dem Hintergrund seines Welt-, Sprach- und Textwissens bekommt der Text für den Hörer bzw. Leser einen Sinn (vgl. Rolf 1994; Pörings / Schmitz 1999, XI, 205). Wenn diese Zusammenhänge berücksichtigt werden sollen, muss sich sprachhistorische Forschung nicht nur den sprachlichen Elementen eines Textes zuwenden, sondern auch den Phänomenen, die als Interpretationshilfen für die an einem Kommunikationsprozess Beteiligten zu deuten sind. Dabei ist davon auszugehen, dass sich die Teilnehmer einer Kommunikationsgemeinschaft von bestimmten mental repräsentierten prototypischen Mustern, die sich bei der Bewältigung immer gleicher Kommunikationsaufgaben bewährt haben, in Hinblick auf spezifische Mechanismen der Textproduktion und -rezeption leiten lassen (vgl. Meier / Ziegler 2003b; Meier 2007b). Eine solche Auffassung beruht auf der Vorstellung, dass eine Sprachgeschichte mehr zu leisten hat als nach abstrakten Eigenschaften sprachlicher Ausdruckseinheiten zu fragen und diese zu beschreiben, denn Bedeutung existiert nicht in den Wörtern oder Sätzen (allein), sondern konstituiert sich u. a. aus Sprachwissen, Voreinstellungen, Intentionen, Kontextbedingungen und kommunikativen Handlungszusammenhängen im jeweils konkreten Text (vgl. von Polenz 2000, 46). Diese Faktoren sind dem Sprachhistoriker aber nicht unmittelbar zugänglich, sondern können nur indirekt über den Text ermittelt werden. Entscheidende Fragen einer auf den vorgenannten Prämissen beruhenden Sprachbetrachtung sind deshalb, wie sich verschiedene Wissensbereiche in Texten konstituieren, welche Informationen bezüglich seiner Sinnkonstitution uns ein historischer Text liefern kann, und mit welchen Methoden – die über den Rahmen einer rein deskriptiven Sprachbetrachtung hinausgehen – wir uns einem Text nähern können, um Kenntnisse über die verschiedenen Bereiche einer historischen Gesellschaft zu erlangen.
3.
Aufgaben für eine soziopragmatisch orientierte Kanzleisprachenforschung
»Sprache ist immer und zuerst eine soziale Erscheinung. [...]. Primär hat Sprache immer Mitteilungscharakter; sie würde nicht existieren ohne den angesprochenen Partner und ist mithin stets und zuerst ein soziales Phänomen« (Eggers 1986, 11). Vergleichbare Zitate, wie dieses gleich am Anfang einer der nach wie vor bekanntesten Sprachgeschichten
4. Kanzleisprachenforschung im Kontext Stadtsprachenforschung und Soziopragmatik
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stehende, lassen sich in allen älteren und erst recht in sämtlichen aktuellen Sprachgeschichten des Deutschen finden, sogar in Werken, die soziale Komponenten dezidiert ausklammern (vgl. z. B. Tschirch 1983, 15), wodurch der Eindruck entstehen könnte, dass germanistische Sprachgeschichtsschreibung sich bereits immer als Teil der Sozialgeschichtsschreibung versteht. Realiter haben wir es jedoch häufig bei der Vorstellung vom sozialen Charakter der Sprache und der Sprachgeschichte allenfalls mit einem Wissenschaftstopos zu tun [...], durch den die Sprachgeschichte-Autoren eine Art Absolution erwirken gegen den Vorwurf, sich zu wenig mit dem gesellschaftlichen Charakter der sprachlichen Veränderungen beschäftigt zu haben. (Mattheier 1990, 293)
Auch in der historischen Forschung wurden im Rahmen einer als Gesellschaftsgeschichte aufgefassten Sozialgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten bis dahin wenig beachtete Themenbereiche und Aspekte der Entwicklung der deutschen Gesellschaft behandelt, wobei die Schwerpunkte des Forschungsinteresses vor allem im 19. und 20. Jahrhundert lagen (vgl. besonders Kocka 1986; 1989; Schieder / Sellin 1986f.; Wehler 1987–2008; 1988; 1993). Wenn moderne Sozial- und Gesellschaftsgeschichte auf aktuellem Reflexionsniveau und Leistungsstand Untersuchungen durchführen will, muss sie problemorientiert und theoriegeleitet vorgehen und dabei explizit mit Idealtypen, Modellen und Theorien arbeiten. »Zugleich ist sie zu empirischer Strenge und zu einem weiten, unkonventionellen Verständnis von möglichen Quellenbeständen verpflichtet« (Wehler 1993, 9). Aufgrund der Interdisziplinarität der Probleme darf sie sich dabei nicht mit etablierten Fragestellungen und Vorgehensweisen der jeweiligen Wissenschaftstraditionen begnügen, sondern muss fächerübergreifende Analysen anstreben. Allerdings ist dabei zu beachten, dass interdisziplinäre Forschung weder im Objektbereich grenzenlos werden noch mit subjektivistisch konzipierten Methoden arbeiten darf; vielmehr muss sie sich um methodologische Bewusstheit bemühen, die sich an den erkenntnisleitenden Interessen der historischen Sprachgeschichtsschreibung orientiert. In verschiedenen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte wird Sprachgeschichte im Sinne einer Sprachverwendungsgeschichte bzw. Kommunikationsgeschichte gesehen, da auch historische Texte »nur im Diskurs, in der sozialen Interaktion vollständig zu verstehen« sind (Große 1991, 16). Eine zunehmend pragmatisch orientierte externe Sprachgeschichtsschreibung beschreibt Textsorten in ihrem jeweiligen Kontext. Wenn »Sprache als Form sozialen Handelns« verstanden wird (Cherubim 1984, 803), sollten der soziale und situative Kontext sprachlicher Entwicklung, die Korrelation von Sprache und Handlung (vgl. Warnke 1995; vgl. auch Beitrag 5 von Warnke in diesem Handbuch), Sprachwandel als Folge sozialen Handelns, sozial-situative Bedingungen der Sprachproduzenten und Rezipienten sowie eine situationsverankerte Sprachkontaktforschung berücksichtigt werden. Ein so verstandener ʌȡãȖȝĮ-Begriff impliziert u. a. Subjekthaftigkeit, Zeitlichkeit, Anwendungsorientiertheit, Kontextualität und Kommunikation (vgl. u. a. Stachowiak 1986). Dabei wird die Frage nach dem ›Sosein‹ sprachlicher Wandelprozesse durch die Frage nach dem ›Warum‹ ergänzt, im Hinblick auf die Bewusstseinsstrukturen einer jeweiligen Zeit und Gesellschaft (vgl. Besch 1988, 187; Sonderegger 1979; 1999; Klein 1992).
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Mit dem Kombinationsterminus soziopragmatisch ist als Objekt von Sprachgeschichtsschreibung Sprache im gesellschaftlichen Handeln gemeint. Somit sind Arten von Sprache (Varietäten) nicht einfach nur bestimmten Gruppen zuzuordnen (im soziolinguistisch engeren Sinne), sondern auch verschiedenen Handlungs- und Verhaltensweisen von Gruppen in Situationen im Sinne einer funktional determinierten »inneren Mehrsprachigkeit« (Löffler 1994, 86ff.), die es in unterschiedlichen Konstellationen (Repertoires) in jeder Gruppe gibt (vgl. von Polenz 2000, 13). Sprachgeschichte kann nicht nur potentiell in einer gewissen Korrelation zur Sozialgeschichte erforscht werden, sondern ist vielmehr ein zentraler Bestandteil von Sozialgeschichte, da Sprache für den Aufbau, die Erhaltung oder Veränderung von Gesellschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Tätigkeiten konstitutiv ist. Innerhalb einer so verstandenen Sozialgeschichtsforschung werden einerseits bestimmte soziale Teilgruppen oder Institutionen untersucht und andererseits auch die allgemeine Geschichte im Rahmen einer Sozialgeschichte als ›Gesellschaftsgeschichte‹ umfassender und differenzierter neu dargestellt (vgl. Kocka 1989, 2f.; von Polenz 2000, 15). Aufgrund einer Reihe von Faktoren, wie etwa dem Übergang vom Lateinischen zur Volkssprache, der Veränderung städtischer Kommunikationssituationen sowie der Erweiterung des Textsortenspektrums und der Vertextungsmuster, sind das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit für eine solche Neuorientierung besonders interessant. Gemeinsame Grundlage der bisherigen sprachpragmatischen Arbeiten ist eine prinzipielle Konzentration auf den Zeichenbenutzer und die konkrete Situation der Zeichenverwendung. Diese Ausrichtung ist dabei bereits seit Charles W. Morris (1938 / 1972) vorgegeben, der in seinem dreistufigen Modell das sprachliche Zeichen in Beziehung zu anderen sprachlichen Zeichen (Syntaktik), zu den Designata (Semantik) sowie den Zeichenbenutzern (Pragmatik) setzte und damit den Forschungsbereich der Linguistik um pragmatische Ansätze erweiterte. Alle bisherigen Vorschläge einer Historischen Pragmatik wollen nicht nur die komplexen Kommunikationszusammenhänge erfassen, sondern sind auch bemüht, den Kommunikationsprozess unter Berücksichtigung möglichst aller beteiligten Einflussgrößen zu beschreiben. Zuletzt legte Peter Ernst ein Modell Historischer Pragmalinguistik vor, das die zu berücksichtigenden Dimensionen verdeutlicht (vgl. u. a. Ernst 2001a; 2001b; 2002; 2004). Dieses dreidimensionale Schema ist als ein zu erweiterndes Basismodell zu verstehen, an dessen zentraler Stelle der Text steht, als diejenige Instanz, über die und mittels derer Kommunikation stattfindet. Das durch Joshua Fishman (1966, 428) bekannt gewordene Diktum «Who speaks what language to whom and when« soziolinguistischer Untersuchungen wird dabei auf sprachhistorische Fragestellungen angewandt, wodurch drei grundlegende Dimensionen – die der Textproduktion, der Textrezeption und der Situation – bezeichnet werden können. Im Rahmen einer Historischen Textlinguistik auf soziopragmatischer Grundlage ist das von Ernst entwickelte Modell jedoch zu ergänzen (vgl. Meier 2004, Kap. 2.1; Meier / Ziegler 2006). Die Erweiterungen betreffen vor allem die Dimensionen der Textproduktion und -rezeption sowie die Berücksichtigung des jeweils konkreten historisch-gesellschaftlichen Diskurses als wesentliche soziopragmatische Variable, die über den textsituativen Rah-
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men die gesamte kommunikative durch den Text instrumentalisierte Handlung wesentlich beeinflusst. Während bei Ernst auf der Ebene der Textproduktion nur der Autor als für die Textgestaltung Verantwortlicher erscheint und von diesem angenommen wird, dass er intentional auf die Textfunktion wirkt, ist diese Dimension besonders für die Untersuchung einer städtischen Kommunikationspraxis im Spätmittelalter, aber auch noch in der Frühen Neuzeit, als schriftliche Kommunikation weitgehend über Schreiber professionalisiert war, weiter zu differenzieren, indem zwischen Schreiber und Auftraggeber unterschieden wird. Es ist anzunehmen, dass mindestens zwei kommunikative Situationen vorlagen, die auch in ganz unterschiedlicher Weise – zumindest potentiell – auf den Text wirkten und damit über den Text erfahren werden konnten. Vor allem im Zusammenhang mit Ansätzen, die die Intentionalität als wesentlich und dominant für Textfunktionalität präferieren, ist diese zweifache Kommunikationssituation zu beachten (vgl. Reichmann / Wegera 1988; Wegera 1991; Reichmann 1996). Es bleibt stets zu fragen, wessen Intention sich überhaupt am Text festmachen lässt: Die des Schreibers als tatsächlichem Textproduzenten, oder die des Auftraggebers eines Schriftstückes, der mit dem Text etwas bewirken möchte, allerdings – in der Regel – keinen direkten sprachlichen Einfluss auf die konkrete Gestaltung des Textes ausübt? Auch die Dimension der Rezeption bedarf einer Differenzierung zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren sowie zwischen dem direkten und indirekten Empfänger. Diese Unterscheidung soll darauf verweisen, dass ein Text einerseits immer für einen konkreten Empfänger bestimmt ist (z. B. für den Richter einer Stadt als unmittelbarem Adressaten), dass der – von wem auch immer – intendierte Adressat andererseits aber durchaus auch eine größere Teilöffentlichkeit sein kann (z. B. die gesamte Stadtöffentlichkeit im Falle von Rechtstexten und Erlassen als mittelbarer Adressat). Ebenso darf nicht davon ausgegangen werden, dass lediglich der unmittelbare Adressat den konkreten Text rezipiert (direkt), sondern auch andere Leser den Text erfassen (z. B. der Kopist, der ein Schriftstück in das Stadtbuch überträgt), die darüber hinaus noch nicht einmal demselben historischen Diskurs entstammen müssen (z. B. der Sprachhistoriker, der den Text analysiert), wodurch andere Wissensbestände (konnotative und assoziative) in die Textinterpretation eingebracht werden, die u. U. zu einer unterschiedlichen Rekonstruktion der kommunikativen Handlung (indirekt) führen (vgl. Schmidt 1975, 63). Während die Textproduktion grundsätzlich als Sinn stiftender Entscheidungsprozess zu charakterisieren ist, der auf der Ausnutzung kommunikativer Kompetenzen basiert und nicht allein als sprachlicher Vorgang zu charakterisieren ist, kann die Textrezeption als Vorgang einer Regelinterpretation bezeichnet werden, insofern in der kommunikativen Interaktion über den Text eine geordnete Menge von Instruktionen vermittelt wird, die sowohl sprachlich als auch nicht-sprachlich referieren und vom Rezipienten in einer konkreten kommunikativen Situation aktualisiert werden (vgl. ebd., 60ff.). Eine Berücksichtigung von Voreinstellungen der Textproduzenten im Hinblick auf die intendierten Rezipienten sowie von Bewertungen derselben im Hinblick auf die Textproduzenten ist erforderlich, da selbstverständlich auch diese mentalen Vorgänge immer Teil der Gesamtsituation und eines historisch-gesellschaftlichen Diskurses sind, der berücksichtigt werden muss, wenn Fehlinterpretationen und voreilige Schlussfolgerungen
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
vermieden werden sollen. Dabei müssen diejenigen Bereiche einbezogen werden, die als epistemische Netze einer Gesellschaft, als Bereiche kollektiven Wissens (Weltwissen, Sprachwissen, Textwissen etc.), zu umschreiben sind. Sie sind immer Bestandteil einer kommunikativen Handlung, da der Text nur vor dem Hintergrund dieser Wissensbereiche interpretierbar und verständlich wird. Tradierte Formen der Textgestaltung sind hier ebenso zu verorten wie eine gesellschaftlich bedingte Normentoleranz, die hinsichtlich der Adäquatheit einer Äußerung ebenso wirkt wie im Hinblick auf die Verwendung spezifischer (wiederum zumeist tradierter) stilistischer Formen in Bezug auf den konkreten textsituativen Rahmen, das Verhältnis von Absender und Adressat, die Textfunktion sowie den jeweiligen Kommunikations- und Handlungsbereich. Da sich nach wie vor kein übergreifendes textanalytisches Untersuchungsinstrumentarium durchgesetzt hat, ist es dringend erforderlich, die wichtigsten textlinguistischen Arbeitsfelder (Textgrammatik, Textmuster, Textualität, Textebenen, Textklassifikation) in einem historischen Kontext möglichst integrativ zu untersuchen, um dadurch Kriterien nicht nur für die Sprachentwicklung aufzuzeigen. Dabei sollte berücksichtigt werden, wie historische Kommunikationsverhältnisse und textliches Handeln vermittelbar sind (vgl. u. a. Sandig 1983; Tophinke 1999), und in welchem Verhältnis die jeweilige Textproduktion zu induzierten Vorgaben bzw. Textmustern steht (vgl. z. B. Gloning 1993; Meier 2007b). Unter Berücksichtigung der vorgenannten Ansätze sollte eine integrative Konzeption auf historisch soziopragmatischer Grundlage Kanzleien als soziale Orte und bedeutende Institutionen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kommunikationspraxis in den Mittelpunkt von Untersuchungen stellen. Dabei müssen einerseits die Faktoren, die eine kanzleisprachliche Schriftlichkeit beeinflussen und deshalb für einen spezifischen Sprachusus einer Kanzlei verantwortlich sind, und andererseits die Möglichkeiten der Einflussnahme der Kanzleisprachen auf eine Entwicklung des Frühneuhochdeutschen sowie auf den historisch-gesellschaftlichen Diskurs näher untersucht werden.
4.
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4. Kanzleisprachenforschung im Kontext Stadtsprachenforschung und Soziopragmatik
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Ingo H. Warnke, Bremen (Deutschland)
5.
1. 1.1. 1.2. 2. 2.1. 2.2. 3.
1.
Kanzleisprachenforschung und Kulturgeschichte
Kanzleisprachen und Sprachgeschichte Philologische Praxis Interdisziplinäre Entgrenzungen Kanzleisprachen und Kulturwissenschaft Philologischer Kulturbegriff Kulturelle Funktionen Literatur
Kanzleisprachen und Sprachgeschichte
Die verschiedenen Perspektiven auf das Thema Kanzleisprachenforschung gründen in einem allgemeinen, gemeinsamen Verständnis von Kanzleisprache als geschriebene Sprache von städtischen, fürstlichen und kaiserlichen Kanzleien im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit mit Fokus auf die deutschsprachige Schreibpraxis. Möchte man einen etwas breiteren Ausschnitt wählen, so könnte man sich auch auf eine Definition von Greule (2001) beziehen, die er als Bestimmung eines offenen Kanzleibegriffs für die Sprachgeschichtsschreibung vorschlägt. Unter Kanzleisprache wird hier Geschäftsschrifttum verstanden, »das im Auftrag eines Königs, eines Fürsten, einer Stadt, eines Bischofs oder eines Klosters von einem ›Schreiber‹ verfasst wurde« (Greule 2001, 13). Quellen aus Kanzleien sind demnach Auftragstexte und folglich an Akteure mit unterschiedlichen Interessen gebunden. Diese pragmatische Dimension der Kanzleisprachen, ihre Bindung an institutionalisierte Handlungskontexte, macht sie nicht nur für die Historiolinguistik im engeren Sinne als Studium von historischen Ausprägungen der Laut- und Formbestände einer Sprache interessant, sondern auch für eine pragmatisch orientierte Sprachgeschichtsschreibung, wie sie seit Ende der 1970er-Jahre diskutiert und gefordert wird (vgl. Sitta 1980). Kanzleisprachen sind in einem deutlich umrissenen kulturhistorischen Kontext verankert: Institutionen, personale und soziale Akteure, Herrschafts- und Handlungsräume sowie Textproduktionsprozesse liegen offen oder sind zumindest recht eindeutig zu rekonstruieren. Der Zusammenhang von historisch-pragmatischer und neuerer kulturwissenschaftlicher Forschung ist dabei sehr eng (vgl. Ernst 2001). Jedoch war und ist die Kanzleisprachenforschung zunächst und überwiegend Ausdruck des Sammlungsgebotes der Philologien. Wenngleich damit nicht notwendigerweise eine Ausklammerung von pragmatischen bzw. kulturellen Kontexten verbunden sein müsste, konzentrieren sich die meisten, vor allem die einschlägigen Arbeiten doch auf formale Aspekte jenseits kultureller Funktionen. Ich werde daher zunächst knapp diese philologische Praxis skizzieren
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
und vor diesem Hintergrund auf die neueren Entgrenzungsversuche einzelner Arbeiten eingehen. So soll verständlich werden, welcher kulturwissenschaftliche Horizont mit Kanzleisprachen verbunden ist. Zentral für die zukünftige Forschung ist meines Erachtens die kulturelle Funktion von Kanzleisprachen, auf die ich abschließend eingehen werde. 1.1.
Philologische Praxis
Die Kanzleisprachenforschung ist in ihrer überwiegenden Gesamtheit nach Forschungspraxis und Ergebnispräsentation Teil einer schriftgebundenen und konvergenzorientierten Sprachgeschichtsschreibung. Sie entspricht dem written language bias der Linguistik (vgl. Linell 2005) und ist in ihren Forschungstraditionen einer teleologischen Vorstellung von dialektalem Ausgleich sprachlicher Variation verpflichtet, wie sie seit dem 18. Jahrhundert, namentlich seit Georg Christoph Adelung, zu den vorrangigen Erklärungsmodellen der deutschen Sprachgeschichte gehört (vgl. Sonderegger 1992, 117). Exemplarisch kann dies am ersten Satz der einschlägigen Untersuchung zur Dresdner Geschäftssprache des 16. Jahrhunderts von Fleischer (1970, 6) abgelesen werden: »Die Ausbildung und Festigung unserer nhd. Schriftsprache, der genormten, allgemeinverbindlichen Sprachform, ist noch nicht völlig aufgehellt.« Ideal dieser und vieler einschlägiger Arbeiten der Kanzleisprachenforschung ist eine Rekonstruktion der Entstehung und Struktur konvergenter Schriftnormen des Deutschen am Beispiel einzelner Quellen. Dieses Forschungsideal entspricht der philologischen Grundhaltung des Sammelns und Wiederherstellens durch präzise Ermittlung von Texten und Textbausteinen. Durch Bezug auf historische Perioden mit besonderen Kulturmomenten schafft sich die philologische Praxis hier ihre zentralen Fragestellungen, bindet sich aber zugleich auch an Vorstellungen von Kontinuität, Denkmälerheuristik und Einheitstendenzen. In der Sprachgeschichte des Deutschen zielt dieses philologische Interesse auf die Klärung von Umständen der Entstehung konvergenter Formen der Schriftlichkeit. Für ein solches Forschungsinteresse bieten sich die Kanzleien als Orte normierter oder zumindest teilweise normierender Literalität auch sehr gut an. Im Mehr oder Weniger der Konvergenzorientierung und Gleichsetzung von Schrift und Sprache drücken sich folglich auch die verschiedenen Spielarten der Kanzleisprachenforschung aus. Schrift und Konvergenz sind in jedem Fall die traditionellen Bezüge einer Sprachgeschichte des amtlichen Schriftsprachengebrauchs im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Von besonderer Bedeutung ist hier das topologische Modell des sprachlichen Ausgleichs, das auch als sprachgeographisches Paradigma bezeichnet wird. Seit dem 19. Jahrhundert interessiert man sich für die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kanzleien unter dem Gesichtspunkt eines so genannten dialektalen Ausgleichs; zentral sind etwa die Entstehungsthesen zum Nhd. von Konrad Burdach und Theodor Frings, zu nennen sind auch Emil Skála und Hans Eggers. Die vorrangig raumbezogene Beschäftigung mit den Kanzleien reicht dabei bis in die Gegenwart. Sofern überhaupt kulturgeschichtliche Aspekte berücksichtigt werden, sind diese wiederum häufig genau an diesen sprachgeographischen Modellen orientiert, denn in der philologischen Kanzleisprachenforschung geht es wesentlich um die Raumdifferenzierungsfunktion
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der Variantennormierung. Dies entspricht einer allgemeinen Forschungsausrichtung, die Kultur an Räume gebunden sieht und in der Volkskunde seit den 1920er Jahren prominent entwickelt wurde. Das Interesse an Sprachlandschaften verbindet sich hier früh mit dem Versuch, gegenwärtige Varietäten historisch verstehen und dabei »Kulturströmungen und Kulturprovinzen« (Aubin u. a. 1926, 3) beschreiben zu wollen. Geschichte, Sprache und Volkskunde verbinden sich zu einem kulturmorphologischen Modell, zum Versuch der integrativen Erklärung von Siedlungsgeschichte, Stammesgeschichte, Religionsgeschichte usw. Kanzleien sind in einem solchen Modell Orte der Verdichtung von allgemeinen Kulturströmungen der konvergenten Nationenbildung. Man geht davon aus, dass in der raumgebundenen Sprachpraxis der Kanzleien wesentliche Grundlagen einer späteren nationalen Varietät des Deutschen gelegt werden. Erschlossen sind die Vorgänge der angenommenen Vereinheitlichung durch Kartierungen, wobei die Grenzen sprachlicher Formen als Kulturgrenzen erscheinen. Die Darstellung von Territorien, Isoglossen und Verbreitungsgebieten sprachlicher Formen lesen sich in älteren Arbeiten der Sprachgeographie teilweise wie geopolitische Bekenntnisse. Raum- und zeitübergreifende Funktionen der amtlichen Kommunikation sind aus diesem Forschungsinteresse weitgehend ausgeschlossen. In das raumgeographische Forschungsparadigma gehört etwa die Beschreibung von Entstehungsorten, Kulturräumen, Sprach- und Kulturlandschaften, nicht jedoch von Feldern wie Sozialgeschichte, Akteuren, Textfunktionen oder Mediengeschichte. Erst mit der grundsätzlichen Kritik am Raumprimat in der Sprachgeschichtsschreibung etablieren sich seit den 1990er Jahren Ansätze, die soziale oder institutionengeschichtliche Dimensionen von Kanzleisprachen in den Blick nehmen. Wolff (2004, 104) ist dafür ein Beispiel, wenn er für das Frnhd. die Differenzierung von Gebrauchstextarten beschreibt und diesen Vorgang als Merkmal der Periode ansieht. Eine grundlegende Kritik am sprachgeographischen Paradigma formuliert auch Reichmann (2003). Nun steht das ältere sprachgeographische Interesse an den Kanzleisprachen mit seiner Betonung vor allem der Meißnischen Kanzlei für die Entstehung der nhd. Schriftsprache aber gar nicht neben artikulierten Vorstellungen von Kultur. Im Gegenteil spricht auch aus diesen philologischen Forschungen ein implizites Kulturmodell, das vor allem konfessionell geprägt ist. Polenz (1994) weist darauf hin, dass man in der Konzentration auf das Ostmitteldeutsche schon seit dem 18. Jahrhundert – zu nennen wäre hier noch einmal Adelung – einen »protestantischen [...] und / oder preußischen Regionalpatriotismus« (Polenz 1994, 137) erkannt hat, was in den Gegenentwürfen seit den 1960er Jahren das Forschungsinteresse noch immer konfessionsgeschichtlich beeinflusst. Infolge des Konvergenzmodells, also des Interesses an der Entstehung einer einheitlichen Hochsprache, sind Kanzleisprachenforschungen in ihren deskriptiv-philologischen Ausprägungen also durchaus schon Teil von historischen Modellen und Kulturprogrammen. Es darf daher die Frage gestellt werden, ob angesichts der nahezu flächendeckenden Kanzleisprachentätigkeit im deutschen Sprachgebiet die reine Sammlung von Sprachdaten überhaupt einen gemeinsamen Zweck jenseits solcher Kulturmodelle verfolgen kann. Die idiographische Ausprägung der philologischen Kanzleisprachenforschung lässt diese Frage unberührt, so dass bis heute zahlreiche Einzeluntersuchungen unverbunden nebeneinander stehen.
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Nun hat man auch in älteren Forschungen durchaus erkannt, dass soziologische Fragestellungen im Kontext der Kanzleisprachenforschung direkt aufgeworfen werden – hier ist vor allem die DDR-Sprachgeschichtsschreibung zu nennen –, jedoch hat der systemlinguistische Zwang zur lückenlosen Strukturbeschreibung auch hier kulturgeschichtliche Einzelbetrachtungen dezidiert marginalisiert. Kettmann (1967, 270) rechtfertigt dies mit den normativen Worten: »Alle Einzelbetrachtungen sind jedoch vor dem Hintergrund der Gewohnheitsorthographie in der Kanzlei zu sehen.« Eine kulturwissenschaftliche Reflexion der philologischen, raumgeographischen und strukturorientierten Forschungspraxis ist inzwischen aber geboten. Denn der »Begriff Kulturwissenschaft umfasst auch das Verhältnis von Disziplinen zu ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit« (Fauser 2003, 9) und lässt mithin fragen, warum welche Gegenstände durch welche Disziplinen behandelt werden. Diese fragende Haltung richtet sich nicht zuletzt auf eine Kritik an hervorgebrachtem Wissen (vgl. Daniel 2001), die ich für produktiv halte. 1.2.
Interdisziplinäre Entgrenzungen
Die vorrangig philologische Arbeitsweise der älteren Kanzleisprachenforschung ist inzwischen durch neuere kulturwissenschaftliche Erkenntnisinteressen ergänzt; Datenfixierung wird dabei durch interdisziplinäre Fragestellungen erweitert. Man kann insoweit von einer Entgrenzung der Kanzleisprachenforschung sprechen. Raumgeographische Vorstellungen bleiben als Ordnungsinstrument aber auch hier oft noch unreflektiert bestimmend, das zeigt der große Anteil von Beiträgen zur diatopischen Variation in Greule (2001). Integrative Kategorien, die die Streuung von Kanzleischreibungen in anderen als Raumzusammenhängen darstellen, sind in der Minderzahl (vgl. Meier 2001). Während jedoch die älteren Arbeiten (vgl. Schützeichel 1974), wie ausgeführt, fast vollständig einem sammelnden, philologisch-positivistischen Wissenschaftsideal verpflichtet sind, finden sich in den jüngeren Darstellungen zur Amtssprache durchaus auch Überlegungen zu den Bedingungen von sprachlichen Veränderungen, die in wirtschaftlichen, verwaltungsgeschichtlichen oder rechtshistorischen Kontexten erkannt werden (vgl. Lehmberg 1999). Mit Verweis auf Fichtenaus (1957) gewichtige Untersuchung zu mittelalterlichen Denk- und Machtstrukturen im Spiegel von Urkundenformeln sind Beschreibungen diplomatischer Strukturen und ihrer Beziehungen zur politischen Theorie auch sehr sinnvoll, wie Wolfram (1999) zeigt. So stellt Hannick (1999, VII) für die Slavistik fest, dass »das Kanzleiwesen [...] mit Staatssystem und Gesellschaftsform aufs engste verbunden ist«; zugleich beklagt er aber auch, dass dieser Zusammenhang »in der slavistischen Forschung nur ungenügend erforscht« wurde. Das gilt auch für die Germanistik. Von Interesse sei daher »eine Untersuchung des Verhältnisses von Kanzleiwesen als staatlicher Institution und Instrument der Macht einerseits und sprachlicher Komponente andererseits«. Es gibt dafür durchaus Vorbilder. So zeigt die eindrucksvolle Arbeit von Holzapfel (2008) zur Kanzleikorrespondenz des späten Mittelalters in Bayern, welche sozial- und politikgeschichtliche Funktion sprachliche Routinen in Urkunden haben. Ich werde im Weiteren fragen, welcher Kulturbegriff für solche Arbeiten relevant ist und welche Systematik für eine kulturwissenschaftliche Sprachgeschichtsschreibung dabei erhellend sein könnte.
5. Kanzleisprachenforschung und Kulturgeschichte
2.
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Kanzleisprachen und Kulturwissenschaft
Die wünschenswerte Systematisierung kulturwissenschaftlich orientierter Arbeiten zu Kanzleisprachen setzt selbstverständlich eine Klärung von Kulturbegriffen und disziplinären Zuständigkeiten voraus. Die Vielfalt und teilweise auch Vagheit der Kulturbegriffe in der neueren Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen steht dieser Absicht aber entgegen, denn Kultur ist zwar ein gerne gebrauchtes, aber keineswegs eindeutiges Wort, von einem wissenschaftlichen Terminus kann man überhaupt nicht sprechen. So nennt Wolff (2004, 105ff.) etwa bestimmende Faktoren für die frnhd. Periode und unterscheidet dabei politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie den »Aufschwung der Städte« (Wolff 2004, 106) von kulturellen Aspekten wie »Universitätsgründungen« (Wolff 2004, 107). Nicht nur, dass beide Entwicklungen natürlich auf das Engste miteinander zusammenhängen, die Trennung von Kultur und Polis bei Wolff ist nicht nachvollziehbar und bleibt vortheoretisch. Für Kanzleisprachen stellt sich damit die Frage, was eigentlich ihr kulturgeschichtlicher Kern ist. Ich möchte vorschlagen, diesen im Kontext einer frühneuzeitlichen Innovationsgeschichte zu sehen. Polenz (2000, 99) nennt als Dimensionen dieser Innovationen die Entwicklung der Schreiblandschaften, die Schriftexpansion, die Variantenreduzierung und die sprachpolitische Verdrängung weniger gewichteter Varianten. Kanzleien sind zentrale Elemente solcher Umschichtungen. Nun ist das kulturgeschichtliche Interesse der jüngeren Kanzleisprachenforschung Ausdruck einer Neuorientierung der gesamten Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen. Sprachgeschichte als Kulturgeschichte zu verstehen, ist Anliegen etwa von Gardt u. a. (1999). Kultur wird hier einerseits in strukturalistischer Tradition als Netz von Bedeutungssystemen (vgl. Gardt u. a. 1999, 1) verstanden, andererseits, mit Verweis auf die jüngeren Kulturwissenschaften, als System der Weltdeutung und Handlungsorientierung. Bezieht man einen solchen Begriff von Kultur auf die Beschäftigung mit Kanzleisprachen, so interessieren keinesfalls mehr isolierte Formbestände, sondern weit eher die Einbindungen von Handlungsroutinen der Kanzleien in die Bewältigung der Sinngebungsprozesse spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gesellschaften. Die Normierung von Sprache erscheint dann als Versuch der Konstituierung nationaler Identität im Konzert der europäischen Machtstrukturen. Über Sprachpolitik, also die regelgeleitete Verwendung von Sprachen, wird soziale Distinktion fassbar. Sprache und kulturelle Identität erfahren in den Kanzleien eine institutionelle Verschmelzung, die Teil einer grundsätzlichen kulturellen Konvergenztendenz ist. Folglich sind gerade die Kanzleisprachen für neuere Forschungsinteressen der Sprachgeschichtsschreibung zentral, denn Kanzleien haben Teil an der innovativen »Strukturierung sozialer Gemeinschaften« (Mattheier 1999, 11). Gardt (2003) weist jedoch zu Recht darauf hin, dass eine kulturorientierte Sprachwissenschaft nicht erst mit den Cultural Studies an Bedeutung gewinnt. Jedoch bleibt zu bedenken, dass Kultur mit seiner ausgesprochen flexiblen Polysemie nicht nur ein Joker in geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungen geworden ist, sondern als Totalitätsbegriff funktioniert, ebenso wie Identität und Sprache selbst (vgl. Hermanns 1999). Besonders beliebt ist in der Wendung des Interesses auf Kultur dabei eine fast
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
schon ins Nichtssagende laufende Pauschaldefinition von Kultur mit Verweis auf Edward Tylor. Sinnvoller scheint mir die Präzisierung von kulturgeschichtlichen Dimensionen für jeweilige Gegenstandsbereiche zu sein. Gardt (2003) plädiert dafür, die kulturwissenschaftliche Wendung der Sprachwissenschaft als Kontextualisierung zu verstehen. Mithin berücksichtigt eine kulturwissenschaftliche Kanzleisprachenforschung also die Kontexte der Schreibpraxis in Kanzleien. Sprache wird nicht in positivistischer Tradition isoliert erfasst, etwa als lexikalische, morphologische oder syntaktische Struktur, sondern vor dem Hintergrund kontextueller Faktoren. Es geht darum, Sprache »in einen philosophischen, religiösen, politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, technischnaturwissenschaftlichen, ästhetischen und alltagsweltlichen Rahmen zu stellen« (Gardt 2003, 272). Dabei ist man nicht an einer Taxonomie des Kulturellen interessiert, zentral sind strukturgebundene Fragestellungen zu sozialen Kontexten mit ihren jeweiligen Ausdrucksformen und Organisationsprinzipien. Für die Kanzleisprachenforschung folgen daraus neue Impulse. Zunächst ist die interdisziplinäre Ausrichtung der kulturorientierten Forschung zu nennen. Hinzu kommt, dass kulturorientierte Forschungen nicht länger einem positivistischen Wissenschaftsideal verpflichtet sind, das in der summarischen Dokumentation von Fakten seine Legitimation findet, sondern in der Reflexion von Wissensbeständen und ihrer kulturellen Bedingtheit. Für die Kanzleisprachenforschung ist dieser Schritt markant, denn gerade sie ist oder war ja dem sammelnden Arbeiten der Philologien auf das engste verpflichtet. Dabei werden regionale oder lokale Varianten von Schreibformen mit äußerster Genauigkeit dokumentiert, die Frage aber, unter welchen Voraussetzungen die Normierung von Sprache mit welchen Effekten erfolgt, wird gar nicht erst gestellt. Jüngeres Beispiel einer solchen Forschungshaltung ist die Arbeit von Näßl (2001), die dieses positivistische Wissensideal fortträgt, mit akribischer Genauigkeit Varianten erfasst, um als Ergebnis der Untersuchung eben diese Variation festzuhalten; kulturwissenschaftliche Perspektiven sucht man hier vergebens. Eine Bestimmung der innovativen Funktionen von Variation und Konvergenz und ihre Bindung an Räume und Akteure ist aber sicherlich gerade im Feld der Kanzleisprachenforschung die interessantere Aufgabe der neueren Forschung. Genau dort, wo Fragen danach gestellt werden, kommen kulturwissenschaftliche Interessen ins Spiel. Dies zeigt etwa die institutionengeschichtliche Untersuchung von Brox (1994) zum Schreibsprachenwechsel vom Mnd. zum Nhd. in Münster. Prosopographische Erklärungsansätze verbinden sich hier mit Beschreibungen regionaler Interferenzen. Die kulturwissenschaftliche Orientierung wird an dem Ziel erkennbar, die »Ursachen und Umstände« darstellen zu wollen, die bei der »Annahme der neuhochdeutschen Schriftsprache im gesamten öffentlichen und privaten Schreibwesen Münsters« (Brox 1994, 75) von Bedeutung waren. Es handelt sich um ein ganzes Bündel von Faktoren; Wirtschafts- und Sozialgeschichte sind dabei ebenso zu bedenken, wie die Geschichte von Schreibmanufakturen, Schriftlichkeitsforschung, Mediengeschichte und Textsortengeschichte. Eine kulturwissenschaftliche Kanzleisprachenforschung erfasst Innovationen also in komplexen Kontexten. Auch Polenz (1994, 135ff.) erörtert die Vielschichtigkeit der normativen Diskussionen zur Sprachrichtigkeit. So nennt er mit Verweis auf Josten (1976) Regionen, Autoren, Institutionen und philologische Arbeiten. Eine funktional orientierte Kanzleisprachenforschung berücksichtigt diese kul-
5. Kanzleisprachenforschung und Kulturgeschichte
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turgeschichtlichen Kontexte, wie die Studie von Ziegler (2001) zu makrostrukturellen Merkmalen frühneuhochdeutscher Kanzleisprachen zeigt. 2.1.
Philologischer Kulturbegriff
Nun könnte man die bisherigen Ausführungen so verstehen, als seien Philologie und Kulturwissenschaft konträre Praxen des wissenschaftlichen Arbeitens. Dies gilt aber nur für eine sehr enge, strukturbezogene philologische Praxis der Sprachgeschichtsschreibung, die jedoch über lange Zeit die Kanzleisprachenforschung dominierte. Die Entgrenzung einer rein datenorientierten Quellenauswertung im kulturwissenschaftlichen Paradigma trifft sich erstaunlicherweise gerade mit einer solchen Philologie besonders gut, die sich ohnehin als Kulturwissenschaft verstanden hat. Hier ist Hermann Pauls Programm der Kulturwissenschaft zu nennen und für die Kanzleisprachenforschung zu nutzen. Paul (1920, 37) betont die Komplexität des kulturwissenschaftlichen Arbeitens, denn es gehe hier darum, den geistigen Zustand der Menschen und ihre gesellschaftliche Konstruktion zu erforschen, ihre Religion, ihre Verfassung, ihr Recht, den Zustand der Wissenschaft und Technik, die ganze Vorstellungswelt, die Sitte, wozu auch die Sprache gehört.
Bei der Zwecksetzung eines solchen kontextuellen Denkens wird man heute sicher andere Zugänge als Paul haben, der kulturmorphologisch denkt und mithin »den inneren Zusammenhang [...] zwischen den verschiedenen Zweigen der Kultur« (Paul 1920, 50) nachweisen möchte. Das interdisziplinäre Denken der kulturgeschichtlichen Philologie entspricht jedoch dem gegenwärtigen kontextuellen Denken durchaus und ist ein lohnender Bezugspunkt in der disziplinären Wissenschaftsgeschichte. 2.2. Kulturelle Funktionen Eine kulturwissenschaftliche Kanzleisprachenforschung sollte ihre Ordnung schließlich in einer Systematik historischer Funktionen finden. Andernfalls läuft sie Gefahr, im vagen Feld der Möglichkeiten des Kulturellen ungenau und damit disziplinär unsichtbar zu werden. Unter einer Funktion im linguistischen Sinn kann man zunächst sehr allgemein die kommunikative Leistung von Sprache in Bindung an Kontextfaktoren verstehen. Dabei sind Zwecke und Effekte sprachlichen Handelns zu unterscheiden. Unter einem Zweck verstehe ich intendierte Ziele sprachlichen Verhaltens, unter einem Effekt nicht intendierte, aber durch sprachliches Handeln bewirkte Folgen. Die Unterscheidung von beabsichtigter (also bewusster) Funktion sozialen Handelns und nicht-intendierter (also unbewusster) Funktion ist einschlägig bei Merton (1957) geleistet. Man könnte sicherlich eine Raumdifferenzierungsfunktion von Kanzleisprachen rechtfertigen, ebenso wie eine Sprachdifferenzierungsfunktion oder eine Sprachnormierungsfunktion. Jedoch sind dabei die referentiellen Faktoren noch zu unklar, um allgemein nutzbar zu sein. Für die Kulturgeschichte der Kanzleien sind vielmehr die Funktionen im Ausbau von Merkmalen moderner Kultursprachen zentral. Dies sind mit Warnke (1999 und 2001) Literalität, Überregionalität, Polyfunktionalität, Literarizität,
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Intersozialität, Philologität, Institutionalität und Internationalität. Die frühneuzeitlichen Kanzleisprachen haben dabei vor allem Relevanz für die Ausprägung der Merkmale Literalität, Überregionalität, Polyfunktionalität, Intersozialität und Institutionalität. Bereits Moser (1985, 1399) hat gezeigt, dass die Rechtsfähigkeit einer Sprache, also die Funktion der Herstellung schriftgebundener Verbindlichkeit von Rechtsverhältnissen sowie von Rechts- und Verwaltungsakten, eine substantielle Bedeutung für den Ausbau standardsprachlicher Varietäten hat. Es sind also nicht religiös gebundene Texte, die vorrangig zur Standardisierung von Schriftkommunikation beigetragen haben, sondern Rechts- und Verwaltungstexte, Texte, die in Kanzleien entstanden sind. Dies gilt für ganz unterschiedliche Kultursysteme, etwa für Formen sehr früher Schriftlichkeit in Babylonien, für die so genannte Schriftexpansion im europäischen Spätmittelalter oder die koloniale Sprachpolitik im 19. Jahrhundert. Von besonderer kulturgeschichtlicher Bedeutung ist selbstredend die Ablösung lateinischer Schriftpraxis in europäischen Kanzleien durch volkssprachige Varietäten. Dieser innovative Prozess ist Ausdruck einer Besinnung auf kulturelle Eigenständigkeit und fördert dieses Bewusstsein auch. Die Praxis der Kanzleien trägt folglich zu einer europäischen Differenzierung der Ausdrucksformen im öffentlichen Sprachgebrauch bei. Diese Differenzierungsfunktion stützt aber im nationalsprachigen Varietätenraum auch eine gegenläufige Tendenz, die Tendenz zur Vereinheitlichung von Kommunikation. Europäische Differenzierung und nationalsprachige Normierung greifen also ineinander und sind wechselseitige Folgen. Gerade deshalb sind die Kanzleien auch immer wieder Gegenstand der »Erforschung von Konvergenzprozessen« (Glaser 2003, 57). Bei Kettmann (1967, 11) wird dies »der grundsätzliche Weg zur deutschen Schriftsprache« genannt. Das Spannungsfeld von kultureller Diversität und sprachlicher Normierung ist aber bis heute nicht hinreichend ausgemessen. Mit Blick auf die komplexen Kontexte kultureller Innovation seit dem Spätmittelalter und unter Berücksichtigung der damit verbundenen Funktionen wird man ein präziseres Verständnis der Kanzleisprachen gewinnen.
3.
Literatur
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5. Kanzleisprachenforschung und Kulturgeschichte
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
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Mária Papsonová, Košice (Slowakei)
6.
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Kanzleisprachenforschung und Rechtsgeschichte
Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte Kanzleisprache und Rechtssprache Deutsches Recht und deutsche Kanzleisprachen außerhalb der Zentralgebiete Recht und Sprache Zur Entwicklung des Rechtswortschatzes Literatur
Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte
Der Wechsel von der lateinischen zur deutschen Kanzleisprache beginnt im Südwesten des deutschsprachigen Zentralgebietes in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in den kleinen städtischen und fürstlichen Kanzleien, verbreitet sich zunächst in das BairischÖsterreichische, um sich dann zögernd nach Norden und Nordosten fortzusetzen (vgl. Schmidt-Wiegand 1993, 594). Dieser Entwicklung folgen in kurzem Zeitabstand die von der deutschen Ostsiedlung erfassten Gebiete: In Schlesien erscheint das Deutsche bereits 1261, in Mähren 1282, aus Böhmen und Galizien (Krakau) sind deutsche Urkunden im Jahre 1300 belegt (vgl. Skála 1983, 70), auf dem Gebiet des heutigen Ungarn seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts (1352 Ödenburg / Sopron, vgl. Bassola 2001, 190f.), die erste verlässlich datierte deutschsprachige Urkunde aus dem Gebiet der heutigen Slowakei (Pressburg / Bratislava) stammt aus dem Jahre 1346 (vgl. Ziegler 1999, 14). Während für den Übergang vom universalen Latein zur Volkssprache im Altland mehrere Ursachen erörtert werden (u. a. die Entstehung der städtischen Kanzleien und die fortschreitende Verschriftlichung des Rechts, vgl. Schmidt-Wiegand 1993, 594f.), lässt sich die seit dem 14. Jahrhundert zunehmende deutschsprachige Beurkundung in den außerhalb gelegenen Gebieten vor allem durch die privilegierte Stellung der Neusiedler erklären, die im direkten Zusammenhang mit dem mitgebrachten ius Teutonicum zu sehen ist (vgl. Kapitel 3). Die Fülle kanzleisprachlicher Texte gehört demnach zur Periode des Frühneuhochdeutschen (1350–1650), jener historischen Sprachstufe des Deutschen, die das hochmittelalterliche Deutsch ablöst und den komplizierten Entstehungsprozess der modernen Standardsprache einleitet (vgl. Reichmann / Wegera 1993, 5). In der von den Rechtshistorikern (Eberhard Freiherr v. Künßberg, Otto Gönnenwein) vorgelegten Periodisierung der Geschichte der deutschen Rechtssprache, für die das Verhältnis von Deutsch und Latein den Ausschlag gibt und die unter sprachhistorischem Aspekt problematisch ist, entspricht diese Zeit mehr oder weniger der zweiten und dritten Periode. Die zweite ist
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte die Zeit vom 13. Jahrhundert bis zur Rezeption des römischen Rechts, die Blütezeit der deutschen Rechtssprache, in der die Schriftsprache der Gesetze (z. B. des Mainzer Reichslandfriedens), vor allem aber die der Rechtsbücher (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel u. a.) und der Stadtrechte (Magdeburger, Lübecker Stadtrecht u. a.) vorwiegend deutsch ist – freilich nicht im Sinne einer einheitlichen deutschen Rechtssprache, sondern in Form verschiedener, landschaftlich gebundener Verkehrs- oder Geschäftssprachen, die untereinander in Austausch treten konnten, was in der Regel zu einem Sprachausgleich und damit zu einer Vereinheitlichung führte. (Schmidt-Wiegand 1989, 61)
Am Ende dieser Periode stehen die Bambergische Halsgerichtsordnung (1507) und die Carolina (1532). Für die dritte Etappe ist das Wiedereindringen des Lateinischen in die deutsche Rechtssprache durch die Rezeption des römischen Rechts charakteristisch, was einerseits die Zurückdrängung des Deutschen, auf der anderen Seite aber auch die Erweiterung des Rechtswortschatzes durch Fremd- und Übersetzungswörter zur Folge hat (vgl. Schmidt-Wiegand 1998, 75).
2.
Kanzleisprache und Rechtssprache
Die oben genannten spätmittelalterlichen Rechtskodizes galten in Deutschland lange als maßgebliche Grundlage nicht nur der rechtshistorischen, sondern auch der sprachhistorischen Forschung. Noch im 19. Jahrhundert traten die Vertreter jener Wissenschaftszweige, die sich mit dem besonderen Verhältnis zwischen Recht und Sprache befassten (Historiker, Philologen, Juristen), unter einem gemeinsamen Namen – dem Namen der Germanisten – auf (vgl. Schmidt-Wiegand 1998, 72). Trotz der inzwischen eingetretenen Spezialisierung setzt die Beschäftigung mit diesem Phänomen nach wie vor ein interdisziplinäres Herangehen von Fachleuten mehrerer Wissenschaftsgebiete voraus. Neben den direkten Rechtsquellen werden seit dem 20. Jahrhundert verstärkt auch die mittelbaren Quellen herangezogen. Darunter sind alle Zeugnisse gemeint, die über verpflichtende Normen und Rechtsvorgänge etwas aussagen, die für Eigenart und Inhalt des älteren Rechts von Bedeutung sein können (vgl. Bader 1966, 1984). So sind auch die Urkunden beglaubigte Schriftstücke über Vorgänge rechtserheblicher Natur, neben rein berichtendem Stoff enthalten rechtlich erhebliche Aufzeichnungen auch die seit dem 12. Jahrhundert überlieferten Stadtbücher, die sich seit Beginn des 14. Jahrhunderts mehr und mehr spezialisieren (Statutenbücher, Stadtbücher über Rechtssprechung, über die Verwaltung, privatrechtliche Stadtbücher u. a. m., vgl. Haberkern / Wallach 1972, 588). Quellen für sprach-, kultur-, wirtschafts- und sittengeschichtliche Forschungen sind die Weistümer, für die Erkenntnis des Alltags- und des Rechtslebens einer bestimmten Zeit die Stadtchroniken. Wichtige Rechtsquellen können aber auch literarische Zeugnisse (Dichtung) sein, darüber hinaus das Traditions- und Sagengut (Sagen, Legenden, Volkslieder), Namen-, Bild- und Sprachgut (Rechtssprüche, Rechtssprichwörter), Inschriften, Marken und verschiedene Sachgüter (vgl. Bader 1966, Sp. 1983ff.; Schmidt-Wiegand 1998, 74). Der so weit gezogene Kreis der Rechtsquellen schließt im Prinzip die gesamte schriftliche Produktion der spätmittelalterlichen Kanzleien und sämtliche Textsorten mit ihren Subsorten ein (vgl. Greule 2001a). Als Philologe wird man sich der engen Verflech-
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tung zwischen der Kanzlei- und der Rechtssprache in Abhängigkeit davon bewusst, auf welcher Ebene (Graphematik, Morphologie, Syntax, Lexik) ein Text beschrieben und ausgewertet wird. Während bei den immer noch überwiegenden Analysen des Schreibgebrauchs der Kontext weitgehend in den Hintergrund treten kann, ist seine Einbeziehung zu Zwecken der inhaltlichen Deutung und evtl. Übersetzung des Zeugnisses in das heutige Deutsch oder eine andere moderne Sprache unumgänglich. Dies setzt vor allem die eingehende Analyse des Satzbaus und die exakte lexikalische Aufarbeitung des Wortschatzes voraus (vgl. Greule 2001b, 38; Papsonová 2003).
3.
Deutsches Recht und deutsche Kanzleisprachen außerhalb der Zentralgebiete
Die Ausbreitung des deutschen Rechts vom altdeutschen Gebiet aus nach Osten ist ein Phänomen von gesamteuropäischem Rang, das mit der kulturellen wie politischen Entwicklung weiter Räume Europas vielfältig verknüpft ist und das maßgeblich dazu beigetragen hat, dass das Deutsche in den von der Ostsiedlung erfassten Gebieten bald nach der Niederlassung der Hospites zur vorherrschenden Verschriftlichungssprache wurde. Nach der (in ihren Anfängen ebenfalls von Missionaren aus deutschen Landen getragenen) Christianisierung hat vor allem die Ostsiedlung und die damit einhergehende Übernahme des deutschen Rechts die wichtigste Rolle bei der Einschmelzung der östlich der Zentralgebiete lebenden Völker in den abendländischen Kulturkreis die wichtigste Rolle gespielt (vgl. Ebel 1952, 3). Im Gebiet der deutschen Ostsiedlung erscheint zum ersten Mal auch der Begriff des ius Teutonicum, der hier zugleich zum allgemeinen Inbegriff des Fortschritts wird und seine symbolhafte Bedeutung von der ersten Hälfte des 12. bis ins 18. Jahrhundert bewahrt. Ius Teutonicum bedeutet ursprünglich vor allem die Siedlungs- und Rodungsfreiheit sowie das freie Grundbesitzrecht, zu denen ein ganzes Gefüge anderer Rechte und Freiheiten hinzukommt, die das deutsche Recht als eine Rechtsordnung für sich erscheinen lässt. Denn dieses meist schon im Privileg verliehene Recht der deutschen Neusiedler ist nicht nur besser als deren heimisches Recht im Altsiedelland, sondern auch besser als das vorgefundene Gewohnheitsrecht der bereits ansässigen Bevölkerung. Diese kann allerdings durchaus späterhin in den Genuss des bestätigten Siedlerrechts kommen, so dass das inzwischen geltende deutsche Recht an einem Ort oder in einer Region keineswegs als Beleg für die deutsche Herkunft aller ihm unterliegenden Bewohner gelten kann. Die Gerichtsbarkeit nach dem eigenen Recht wurde nicht nur zur Grundlage der privilegierten Stellung der Siedler, sondern auch zu einem zentralen Aufbaufaktor der Siedlungsgebiete. Parallel zu der neuen sozialen Schicht der freien Bürger in den nach dem westlichen Muster gegründeten und verwalteten Städten entsteht auf dem Land die Schicht der freien Bauern (vgl. Kroeschel 1992, Bd. 1, 211f.). Das Rechtsbuch, von dem eine starke und nachhaltige Wirkung ausgegangen war und das in den ostmitteleuropäischen Verbreitungsgebieten eine weitgehende Rechtsvereinheitlichung veranlasste, war der Sachsenspiegel. Der Autorität und Wirkung dieser privaten Rechtsaufzeichnung ist höchstwahrscheinlich auch der Umstand zuzuschreiben,
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
dass die nach dem Sachsenrecht lebenden, aus verschiedenen Teilen des Altlandes stammenden deutschen Hospites in den kolonisierten Gebieten allgemein Sachsen genannt werden. Das zwischen 1220 und 1235 entstandene Privatwerk des anhaltinischen Ritters Eike von Repgow, eines der ersten Prosawerke in deutscher Sprache (die lateinische Urfassung ist verloren gegangen), ist zur Zeit in etwa 460 Handschriften überliefert, die verschiedene Entwicklungsstufen des Textes zeigen und mehrere Textklassen unterscheiden lassen. Wahrscheinlich zu Beginn des 14. Jahrhunderts bildete sich die Einteilung des Landrechts in drei Bücher heraus, im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts kamen – von der Glosse des märkischen Hofrichters Johann von Buch ausgehend – die glossierten Formen auf, die eine Harmonisierung des Sachsenspiegels mit dem gelehrten, römisch-kanonischen Recht zum Ziel hatten (vgl. Ebel 1990; Lück 2005, 25ff.). Auf der Grundlage dieser norddeutschen Kodifizierung, die bald nach ihrer Entstehung Modellcharakter erworben hatte und ins Lateinische und Niederländische sowie in slawische Sprachen (Polnisch, Tschechisch, Russisch, Ukrainisch) übersetzt wurde, entstanden in Süddeutschland der Deutschenspiegel und das Kaiserliche Land- und Lehnrecht (seit dem 17. Jahrhundert Schwabenspiegel genannt). Von dem landrechtlichen Teil der Spiegel entwickelten sich die Stadtrechte – vor allem das Sächsische Weichbildrecht bzw. Magdeburger Recht, verschiedene von den jeweiligen Stadtgemeinden selbst geschaffene Willküren und Handfesten sowie die Hof- und Dorfrechte – Schulzenrechte und Weistümer (vgl. Bader 1966; Ebel 1990; Schmidt-Wiegand 1998; Schott 1991, 373ff.). Von der Autorität des Sachsenspiegels (Ssp.) und des Magdeburger Rechts (MR) in den Gebieten der Ostsiedlung zeugen die in den Archivbeständen mehrerer europäischer Länder reichlich überlieferten Rechtskodizes: Sie reichen von den Abschriften der im Mutterland entstandenen Fassungen über autonome Rechtssammlungen, die neben den althergebrachten Gesetzen auch die neuen Lebensverhältnisse der Siedler widerspiegeln, über Texte, die sich mit der Glossierung und Kommentierung der Hauptwerke (Abecedarien, Remissorien) beschäftigen, bis zu Übersetzungen in die jeweilige landeseigene Sprache. Einen Überblick der Quellen (Handschriften, bisher vorliegende Editionen, einschlägige Sekundärliteratur) bringt die 1990 von Ulrich-Dieter Oppitz vorgelegte, auf älteren Verzeichnissen (Carl Gustav Homeyer) basierende Zusammenstellung, die sich jedoch – durch die wissenschaftshistorischen und kulturpolitisch-ideologischen Verhältnisse im ehemaligen Ostblock bedingt – als ergänzungs- und korrekturbedürftig erweist (vgl. Bily 2008b, 97). Neben den zum Teil bereits edierten und philologisch aufgearbeiteten Rechtsbüchern bieten die Archivbestände in den ehemals kolonisierten Ländern eine bunte Vielfalt der mittelbaren deutschsprachigen Zeugnisse (Urkunden im weiten Sinne des Wortes, Rechts- und Stadtbücher, Protokolle, Chroniken etc.), die in den letzten Jahrzehnten verstärkt erschlossen, verzeichnet bzw. neu katalogisiert werden (vgl. Bassola 2001; Meier 2004, 76f.) und sowohl für die sprach- als auch für die rechtshistorische Forschung von großer Relevanz sind. So lässt unter anderem das in der schriftlichen Produktion der Stadtkanzleien reichlich enthaltene, nur lückenhaft untersuchte Namengut (Personen-, Orts- und Flurnamen) wichtige Schlüsse auf das frühere Rechtsleben zu, von der jahrhundertlangen Wirkungsgeschichte des ius Teutonicum in den Gebieten der Ostsiedlung zeugen auch solche bis jetzt kaum beachtete Quellen wie Inschriften und Malereien an bzw. in wichtigen Bauwerken (Kirchen, Rathäuser), die daran angebrach-
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ten alten Maß- und Gewichtseinheiten, Sühnekreuze, Grenzmarken, Figuren etc. An die Zugehörigkeit zur Magdeburger Stadtrechtsfamilie erinnert beispielsweise bis heute die wohl am weitesten im Osten nachweisbare Rolandfigur auf der Giebelspitze des Bartfelder Rathauses (Bartfeld / Bardejov in der Nordostslowakei), oder das seit 1802 am Ufer des Dnjepr stehende Denkmal, das vom Stolz der ukrainischen Stadt Kiew auf ihre alten Privilegien kündet (vgl. Lück 2005, 80ff.). Wie in den Zentralgebieten der deutschen Sprache sind auch die außerhalb der geschlossenen Sprachlandschaften entstandenen deutschsprachigen Schriftzeugnisse spätestens seit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert Gegenstand der sprach- und rechtshistorisch bezogenen Untersuchungen. Nach der durch den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen verursachten Pause werden die Forschungen in den 1970er-Jahren zaghaft fortgesetzt und besonders seit den 1990er-Jahren intensiviert. Neben den deutschen Forschern sind an den unter verschiedenen Teilaspekten (sprach- und rechtshistorisch, sprachgeographisch, funktional, soziopragmatisch, textsortenspezifisch u. a.) realisierten Untersuchungen auch Wissenschaftler/innen aus entsprechenden Ländern (Tschechien, Ungarn, Slowakei, Polen, Litauen, Estland, Weißrussland, Ukraine) beteiligt. Auch wenn im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zumeist die wichtigsten und repräsentativsten Kodizes und Textsorten, d. h. in erster Linie die unmittelbaren Rechtsquellen stehen, »gibt es bis heute keine wissenschaftlich fundierte Vorstellung von dem Verbreitungsgebiet des sächsisch-magdeburgischen Rechts in Osteuropa« (Lück 2008, 6). Nur unzureichend ist man darüber hinaus auch der Frage nachgegangen, inwieweit sich diese mitgebrachte Gerichts- und Gemeindeverfassung auf der einen und die lokale Rechtstradition, d. h. das schriftlich nicht fixierte Gewohnheitsrecht der alteingesessenen Bevölkerung auf der anderen Seite, beeinflusst oder ergänzt haben. Diese Lücke soll das an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig seit 2004 in Kooperation mit den Vertretern der genannten Länder und ähnlich ausgerichteten Institutionen realisierte Forschungsprojekt Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas schließen. Im Rahmen dieses Langzeitvorhabens, das der Beeinflussung osteuropäischer Ordnungen durch das sächsisch-magdeburgische Recht vom Mittelalter bis zur Gegenwart gewidmet ist, sind auf der Grundlage des Vergleichs deutscher Rechtstexte und ihrer Übertragungen in die Sprachen der Rezeptionsgebiete sowohl rechtshistorische wie auch philologische Auswertungen des Materials geplant (ausführlich zu den Zielen, zum Forschungsstand in einzelnen Ländern sowie zu offenen Fragen vgl. Lück 2008; Teilergebnisse vgl. Bily 2008, 2009, 2010; Carls 2009). Es ist davon auszugehen, dass im Rahmen dieses Akademievorhabens vor allem in den bis jetzt von der germanistischen Forschung kaum berücksichtigten Ländern Europas (Moldawien, Russland, Gebiete ehemaligen Jugoslawiens) bislang unbekannte Schriftquellen entdeckt werden, die das Bild über das Verbreitungsgebiet des deutschen Rechts, folglich auch der deutschen Kanzleisprachen präzisieren können.
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4.
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Recht und Sprache
Das Verhältnis von Recht und Sprache ist seit Johann Gottfried Herder Gegenstand philosophischer Betrachtung. Nach Friedrich Carl von Savigny ist die Sprache das wichtigste Medium des Rechts, weswegen er die philologische Methode als eine der vier juristischen Arbeitsmethoden hervorhebt. Jacob Grimm überträgt die Gedanken seines Lehrers auf die Sprachwissenschaft und legt in den Deutschen Rechtsaltertümern (1828) die erste historisch angelegte Sammlung des Rechtswortschatzes vor. Nach dem von ihm geprägten Postulat ist die volkstümliche Sprache des althergebrachten Gewohnheitsrechts im Mittelalter keine abseitige Sprache einer kleinen berufsbezogenen Gruppe, also keine Fachsprache im engeren Sinne, sondern vielmehr ein wichtiger Bereich des allgemeinen Sprachlebens. Sie wird nicht nur von einer bestimmten Berufsgruppe verwendet, sondern zugleich von allen Sprachteilnehmern, wenn sie mit Recht in Berührung kommen. Man bezeichnet sie deswegen auch als Sprache des Rechtslebens (Grosse 1964; Schmidt-Wiegand 1990, 347). Demnach hat es die deutsche Rechtssprache gegeben, lange bevor sich im Spätmittelalter der Berufsstand der Juristen herausgebildet hat. Neben der Sprache der Jäger und Fischer gehört sie zu den ältesten Fachsprachen, unterscheidet sich jedoch von diesen bzw. von der gegenwärtigen Fachsprache des Rechts durch eine größere Nähe zur Gemeinsprache, der von Anfang an die begriffliche Schärfe fehlt (vgl. Schmidt-Wiegand 1990, 345). Mit Karl Bader ist die deutsche Rechtssprache plastisch wie das ältere Recht selbst und überreich an Synonymen, damit aber auch unbestimmt und fließend. Jede Landschaft hat im Mittelalter ihre Rechtssprache, ihre Ausdrücke, die im Nachbardorf anderen Rechtsgehalt haben können. (Bader 1966, 2018)
Darüber hinaus gibt es auch innerhalb einer Landschaft eine Reihe von Synonymen, deren Inhalt wiederum bestimmten Veränderungen bzw. Anpassungen an die Gegebenheiten der jeweiligen Zeit unterliegen kann (vgl. Peters 1995, 361). Seit der Begründung des Deutschen Rechtswörterbuchs (DRW) im Jahre 1894 wird die Rechtssprache mit exakten historisch-philologischen Methoden erfasst. Auch die praktische Arbeit an diesem bedeutenden lexikographischen Werk zeigte bald, dass sich der Rechtswortschatz von dem gemeinsprachlichen nur schwer abgrenzen lässt. Nachdem sich der ältere Definitionsversuch (›Rechtsterminus ist jeder Ausdruck für eine rechtlich relevante Vorstellung mit Einschluss der Symbole, Maße und Münzen‹) als unzureichend erwiesen hat, werden im DRW und davon ausgehend in der philologischen und rechtshistorischen Forschung a) Rechtswörter im engeren Sinn, b) Rechtswörter im weiteren Sinn und c) Nichtrechtswörter unterschieden: a) Bei den Rechtswörtern im engeren Sinne handelt es sich um Wörter wie achte, gerade, gewere, handgemal, richter, vride, schöffe, die in der Grundsprache von vornherein eine rechtsspezifische Sache bezeichnen und ohne diesen Zusammenhang nicht denkbar sind. Ihre Bedeutung liegt meist fest und im Vergleich zu den Rechtswörtern im weiteren Sinn, die eine außerrechtliche Sache nur rechtlich werten, zeichnen sie sich durch eine größere Eindeutigkeit aus. b) Die aus der deutschen Gemein- oder Alltagssprache stammenden Rechtswörter im weiteren Sinne werden zwar auch in rechtstechnischem Sinn gebraucht, haben aber
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daneben ihre allgemeinsprachliche Bedeutung erhalten, z. B. ansterben, ding, hof, klage, man, gut, laster, schade. Durch ihre Nähe zur Gemeinsprache haftet ihnen eine gewisse Vagheit an. c) Nichtrechtswörter sind Ausdrücke, die grundsätzlich ein außerrechtliches Verhältnis bezeichnen (baum, haus, strasse, zaun, kind), aber auch in einer Beziehung vorkommen können, in welcher sie ausschließlich für die Bezeichnung eines Rechtsverhältnisses verwendet werden (vgl. DRW I, IXf.; Köbler 1984, 57; Schmidt-Wiegand 1999, 2342). Der Wortschatz des älteren deutschen Rechts als der vom Willen der Gemeinschaft getragenen, verbindlichen Ordnung erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens (Strafrecht und Strafverfahren, Familien- und Erbrecht, Dorf- und Nachbarrecht) und gehört verschiedenen historischen Schichten an. Die Übertragung der übernommenen Rechtswörter (Erbwörter, Rechtswörter im engeren Sinne) auf neue Verhältnisse und Institutionen führte bei vielen Bezeichnungen zu einer ausgeprägten Polysemie, das Nebeneinander von regional bedingten bzw. älteren und jüngeren Ausdrücken zu einer starken Synonymie, viel seltener sind in der Rechtssprache gleichlautende Wörter (Homonyme) auszumachen. Neben den Simplizia, die zumeist der Erbwortschicht angehören (vgl. Schmidt-Wiegand 1998, 75), sind in der Rechtssprache die durch Wortbildung entstandenen Wörter stark vertreten. Mit Zusammensetzungen und Ableitungen versuchte man die vorhandene Polysemie der Wörter einzuschränken, wodurch der Bestand an Rechtswörtern im engeren Sinne vermehrt wurde. Andererseits stieg dadurch auch die Zahl der bedeutungsverwandten Wörter, zwischen denen größere sachliche oder semantische Unterschiede bestehen können. Aus wenigstens zwei Ausdrücken der gleichen Wortkategorie bestehen auch die Paar- oder Zwillingsformeln, die »in einer Zeit der überwiegend mündlichen Überlieferung und Pflege eines logisch kaum durchdachten und formulierten Rechts ein Mittel zur Erfassung rechtlicher Gegebenheiten« (Matzinger-Pfister 1972, 78) waren und als eine Frühform der Definition (vgl. Schmidt-Wiegand 1998, 74) zu den charakteristischen Merkmalen der älteren deutschen Rechtssprache gehören. Zur Festigung rechtlicher Begrifflichkeit haben auch die festen Wortverbindungen bzw. phraseologischen Wendungen beigetragen, die in den Quellen des Magdeburger Rechtskreises reichlich vorhanden sind. Bei den Erbwörtern ist die Polysemie (Mehrdeutigkeit) durch die Übernahme und Übertragung (Metonymie) auf neu hinzugekommene Rechtsverhältnisse zu erklären (vgl. Schmidt-Wiegand 1999, 2347), bei den Nichtrechtswörtern ergibt sie sich vor allem aus der Tatsache, dass sie in den Rechtsquellen sowohl in ihrer alltagssprachlichen Bedeutung (Bed.) als auch in speziellen Beziehungen vorkommen können, in welchen sie ausschließlich für die Bezeichnung der Rechtsverhältnisse verwendet werden. So ist das Substantiv ding, das zu den Kernbegriffen mittelalterlicher Rechtssprache gehört, in mehreren rechtspezifischen Verwendungen nachzuweisen, die sich auf die ursprüngliche Bedeutung (›Gericht, Gerichtssitzung, -verhandlung‹) zurückführen lassen (so ›Gerichtstermin‹, ›Gerichtspflicht‹, ›Verfügung, rechtliche Abmachung‹, ›Straftat, Vergehen‹, ›Angelegenheit, Ereignis‹, ›Habe, Besitz‹), aber auch schon in der in die Gemeinsprache übernommenen, im neuzeitlichen und Gegenwartsdeutsch allein noch ge-
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
bräuchlichen Bedeutung ›Sache, Gegenstand‹. Während der Inhalt des Simpliziums oft mitttels attributiver Verbindungen präzisiert werden muss (in der Bed. ›Gericht‹ sind es Verbindungen wie rechtes / gehegtes / gehauen ding, in der Bed. ›Gerichtstermin‹ das erste / andere / dritte / virte / nächste ding), haben die davon gebildeten Substantive teiding bzw. teidingen, dingtag, gedinge durch Zusammensetzung und Ableitung eine inhaltliche Festlegung erfahren und kommen kaum in mehr als einer Bedeutung vor. Eine ähnlich starke semantische Aufspaltung wie bei ding ist auch bei weiteren (synonymen) Bezeichnungen für ›Gerichtsversammlung‹ zu beobachten, so bei gericht, recht, tag (vgl. Papsonová 2003). Unter den aus der Alltagssprache stammenden Wörtern zeigen besonders die Verben wie finden, behalten, brechen, folgen, fordern u. a. eine bunte Skala an Bedeutungen, die man von der gemeinsprachlichen bis zur ausgeprägt rechtlich-phraseologischen Verwendung hierarchisieren kann. Den Wortverbindungen über jn. finden, jdm. selbsibend finden entspricht die Bedeutung ›vor dem Gericht einen Urteilsvorschlag machen, Recht sprechen‹, die Verbindung jm. fi nden heißt ›einen Urteilsvorschlag machen, auf dem das Verfahren durch neue Urteilsfragen weitergebaut wird‹. Darüber hinaus können die gemeinsprachlichen Wörter in verschiedenen Rechtsquellen in unterschiedlichen rechtsspezifischen bzw. rechtstechnischen Bedeutungen erscheinen. So bezeichnet das Substantiv baum im Sachsenspiegel neben dem ›wachsenden Holz‹ (in dieser Bed. synonym auch (gesatztes, fruchtbares) holz) die Parierstange, die beim Zweikampf zwischen die Kämpfenden gestoßen werden kann (vgl. Ebel 1993, 67). Im Bergrecht dagegen, das ein Sonderrechtsgebiet repräsentiert (vgl. Conrad 1962, 358ff.), kommt baum als eine für die Berechnung der Länge verwendete Einheit vor (vgl. Papsonová 2006, 293). Auf den norddeutschen Ursprung der Rechtskodifizierung weist in den Quellen des Magdeburger Rechtskreises das Nebeneinander von regional bedingten Varianten hin wie vormund (mnd. bzw. mnl.) und vor- / fürspreche (md.), wicbilde (nd.) und gericht, recht (md.), Wortverbindungen wie echte not, farendes gut (nd.) – ehafte / ehaftige not, farende habe (md.), die den echten Synonymen zuzuordnen sind (vgl. Schmidt-Wiegand 1989, 70ff.; Peters 1995, 363ff.). Um echte Synonyme handelt es sich auch bei parallel gebrauchten älteren und – oft von diesen gebildeten – jüngeren Rechtswörtern wie erbe – erbegut – erbeigen – eigen, besunderung – teilung – erbeteilung, bauer – ingebauer – gebauer. Durch Zusammensetzung und Ableitung ist man also der Vagheit überkommener Rechtswörter begegnet, auf der anderen Seite zeugt das Nebeneinander von solchen tautologischen Bildungen wie gerade – frauengerade, morgengabe – frauenmorgengabe, stul – schöffenstul, wicbilde – wicbilderecht davon, dass die althergebrachten Begriffe vielfach nicht mehr verstanden wurden und ihre Bedeutung auf diese Art und Weise präzisiert und gestützt werden sollte (vgl. Schmidt-Wiegand 1999). Neben den Synonymen, die sich inhaltlich weitgehend decken ( fronen – befronen; vespilen – vertopeln; unbescholten – unversprochen – volkumen usw.) und oft tautologische Paarformeln bilden (erbe und / oder gut, erlos und rechtlos, gewalt und gewere, unverholen und unverstolen, wille oder laube), zeichnen sich die auf den Sachsenspiegel zurückgehenden Texte durch eine Fülle von Ausdrücken aus, die größere semantische Unterschiede aufweisen und nicht unbedingt als Synonyme zu werten sind, die jedoch in denselben Kontexten vorkommen und denselben Rechtsgehalt haben. Dies soll
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hier am Beispiel der semantischen Erfassung derjenigen Ausdrücke demonstriert werden, die den Rechtsgang mit seinem wichtigsten Beweismittel – dem Eid (›Selbstverfluchung für den Fall des Wortbruches‹) – betreffen. So könnte man beiden Gliedern des frequentierten Wortpaars klagen und antworten bzw. antworten und klagen, die als neutral bzw. nicht merkmalhaft zu werten wären, eine beinahe unüberschaubare Reihe von Ausdrücken zuordnen, die mit Anschuldigung und Verteidigung vor Gericht zusammenhängen und entweder in ihrer einzig belegten Bedeutung oder in einer der Bedeutungen mit den genannten Verben mehr oder weniger verwandt sind. Vergleicht man jedoch die Kontexte, in denen diese Vielfalt von Wörtern anzutreffen ist, sind hier sachliche Unterschiede auszumachen, aufgrund derer sich diese Reihen in kleinere Untergruppen bedeutungsverwandter Wörter gliedern lassen. Die erwähnten Unterschiede hängen vor allem mit den Bedingungen zusammen, ob es sich um die so genannte schlichte Klageerhebung und Verteidigung (d. h. um eine ohne Zeugen abgehaltene Gerichtssitzung) handelt, oder ob die Beteiligten mit Beweisen und mit Eideshelfern vor Gericht erscheinen. Bei der einfachen Klage werden dem Verb klagen etwa folgende Ausdrücke mehr oder weniger gleichgesetzt: ansprechen, beklagen, besagen, beschuldigen, bezeihen, schuldigen, sprechen, zeihen. Wenn der Kläger seine Klage mit seinem eigenen Eid beweist und beschwört, werden – meist in formelhaften Verbindungen – die Verben bewären, geloben, gewären, schwören, verrichten gebraucht. In den Kontexten, wo der Beweis unter Hinzuziehung der Zeugen erbracht wird, stehen behalten, bezeugen, gezeugen, volbringen, volfüren, volkumen. Mit der Hilfe von Zeugen kann man die Anklage abwehren, hier steht am häufigsten entgehen in seiner speziellen rechtlichen Verwendung (einer sache mit unschuld / mit gezeugen entgehen, jm. selb sibende entgehen usw.). Soll der Gegner durch Zeugenaussage (durch Eideshelfer) eines Verbrechens überführt werden, wird dies mit Hilfe von folgenden Verben zum Ausdruck gebracht: überleuten, übersagen, überwinden, überzeugen, verwinden, verwinnen, verzeugen (alle ausschließlich in dieser Bed.). Wenn schließlich der Rechtsstreit durch das formale Beweismittel des Gottesurteils, also durch den gerichtlichen Zweikampf, entschieden werden soll, sind Verbindungen mit bereden, überreden, überwinden üblich (jn. einer sache bereden, jn. / ein haus mit kampfe bereden, unrecht auf jn. mit kampfe bereden, jn. mit seinem leib an den seinen überreden, jn. selbsibend / mit seinem schreimanne / mit seinem gezeuge überwinden, jn. des meineides überwinden und Ähnliches). Eine ähnliche Steigerung lässt sich bei den Benennungen beobachten, die sich aus antworten entwickeln, allerdings ist hier die Skala der bedeutungsverwandten Ausdrücke nicht so bunt wie bei klagen. Für die Verteidigung ohne Zeugen werden antworten – verantworten benutzt. Wo sich der Angeklagte mit Eideshelfern von der Anschuldigung freimacht und diese widerlegt, stehen in den Magdeburger Quellen die Verben (sich) entreden, sich gerichten, sich unschuldigen, unterreden bzw. die Verbindung sich unschuldig machen. In der Handfeste der siebenbürgischen Stadt Rodenau, die eher auf den süddeutschen Rechtskreis hinweist, wird in dieser Bedeutung sich entbrechen und sich beschönen verwendet. Es handelt sich also oft um Ableitungen von bereits bedeutungsverwandten Verben (sagen, sprechen, reden) oder von demselben verbalen Simplex (bereden, sich entreden, überreden, unterreden). Diese Wortbildungen mit verschiedenen Präfixen enthalten auf der einen Seite eine Verstärkung, Intensivierung oder Steige-
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rung, andererseits haben sie auch eine Einschränkung der vorhandenen Polysemie zur Folge, die bis zur Monosemierung geht (vgl. Schmidt-Wiegand 1999, 2344f.). Sie stehen zumeist in phraseologischen bzw. mehr oder weniger festen Wortverbindungen. Zur Verdeutlichung seien hier diejenigen mit dem Phrasem auf den heiligen, d. h. ›mit dem Eid auf die Reliquien‹ genannt: etw. / jn. auf den heiligen behalten, etw. auf den heiligen bewären / entsagen / gewären / gezeugen / schwören / verrichten / volbringen, etw. auf den heiligen unschuldigen, sich einer sache auf den heiligen unschuldigen, sich zu etw. auf den heiligen ziehen, sich einer sache auf den heiligen beschönen, einer sache mit sein eines hand auf den heiligen entgehen. Ähnliche onomasiologische Reihen wie für klagen und antworten lassen sich für Sachverhalte aufstellen, die das weitere Umfeld der Gerichtssitzung betreffen: So soll man den Schuldigen oder Verbrecher begreifen, angreifen, aufhaben, aufhalten, bestätigen, fangen, finden, gestätigen, er kann auf der anderen Seite aber auch entgehen, entlaufen, sich entlösen, entrinnen, entweichen, fliehen, wegkumen. Für die beisitzenden Urteilsfinder sind in den Magdeburger Quellen die Bezeichnungen dingman, ratman, schöffe, urteiler zu belegen, die den Rechtswörtern im engeren Sinne angehören (vgl. Köbler 1984, 57), aber auch die Nichtrechtswörter wie burger, geselle, herre, man in einer der bezeugten Einzelbedeutungen; in der Rodnauer Handfeste ist in dieser Funktion nur geschworener nachzuweisen (vgl. Papsonová 2003). Als Homonyme sind vor allem die Substantive mit gleicher Form zu werten, deren unterschiedliche Bedeutung nur im Genusunterschied begründet ist und die in denselben Rechtszusammenhängen gebraucht werden. So sind die Bedeutungen des Maskulinums gezeuge von der des gleichlautenden Neutrums nicht eindeutig auseinanderzuhalten, ähnlich kann bei erbe oft erst aus dem weiteren Textzusammenhang die Bedeutung entschlüsselt werden. Nur mit Einbeziehung des Kontextes sind verschiedene Bedeutungen des im Sachsenspiegel und Magdeburger Recht sehr frequentierten Substantivs gewere zu deuten, das in demselben Rechtsdenkmal in verschiedenen Schreibungen vorkommen kann (gewere, gewer, gwer, wer), die sowohl für ›Gewährsmann‹ und ›Gewährschaft, Haftung‹ als auch für ›Besitz, Besitzrecht‹ und ›Waffe‹ stehen. Ähnlich können infolge des ge-Abfalls (niederdeutsch) und der Apokopierung die Formvarianten des Femininums gerade (rade, rat ›Frauenausstattung‹, d. h. die persönlichen Gebrauchsgegenstände im Sondervermögen der Frau, die regelmäßig in weiblicher Linie weitervererbt wurden) in der Schreibung mit den Wörtern zusammenfallen, deren Bedeutungen von der gerade weit entfernt sind (›Rad, Wagenrad‹, ›Beratung‹, ›Anstiftung‹, ›Ratsversammlung‹). Dieser lautliche Zusammenfall kann bei inhaltlicher Deutung bzw. Übertragung der archaischen Rechtssätze in eine andere lingua vulgaris etliche Sinnverschiebungen und Missverständnisse zur Folge haben (vgl. Papsonová 2000; 2003). Die Hauptwerke der Primärperiode (Sachsenspiegel, Magdeburger Recht) und die von diesen stark abhängigen Quellen konservieren also weitgehend die archaischen Verfassungszustände, die sich mit der spätmittelalterlichen Wirklichkeit des Staats- und Rechtslebens nicht unbedingt decken. Die althergebrachten Rechtsbestimmungen, die auch im Altland vielfach nicht mehr verstanden (vgl. Schmidt-Wiegand 1999, 2343) und in den Werken der Sekundärperiode kommentiert wurden (vgl. Bader 1966, 1990), sind in den von deutscher Ostsiedlung erfassten Gebieten, in denen das deutsche Recht zu einem der wichtigsten Aufbaufaktoren wurde, unterschiedlich rezipiert worden.
6. Kanzleisprachenforschung und Rechtsgeschichte
5.
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Zur Entwicklung des Rechtswortschatzes
Auf diese Unterschiede soll im Folgenden am Beispiel von zwei der bekanntesten deutschsprachigen Rechtskodizes der Slowakei hingewiesen werden, die auf den Sachsenspiegel bzw. das Magdeburger Recht zurückgehen und die sich ab dem Jahr 1370 entwickeln. Bei der 1378 in Sillein / Žilina (Nordwesten der heutigen Slowakei) niedergeschriebenen Rechtssammlung (vgl. Piirainen 1972), für die sich die Bezeichnung Magdeburger Recht eingebürgert hat, handelt es sich um eine umfangreiche Kompilation aus mehreren Quellen des schlesisch-magdeburgischen Rechtskreises (SachsenspiegelLandrecht, Sächsisches Weichbildrecht, Magdeburger-Breslauer Recht, MagdeburgerGörlitzer Recht, Krakauer Extravaganten des Sachsenspiegels (vgl. Oppitz 1990, Bd. I, 62; Papsonová 2003, 41f.)), die sich die Silleiner Bürger (d. h. die deutschen Patrizier) ohne jegliche Modifikation in ihr Rechtsbuch (SRb.) eintragen ließen. Die so genannte Zipser Willkür (ZW), ursprünglich Landrecht genannt, stellt dagegen eine autonome partikuläre Gesetzsammlung des bekanntesten Siedlungsgebietes der Slowakei, der abgeschlossenen Kolonie der Oberzipser Sachsen dar (Piirainen / Papsonová 1992), in der das Bürgertum und das freie Bauerntum eine enge Verbindung eingegangen sind, die in der Stadt-Land-Siedlung ihren Ausdruck fand (vgl. Kroeschel 1992, Bd. 1, 211f.). Die unterschiedlichen Bedingungen des Ansiedlungsvorgangs (vgl. Papsonová 2003, 70f.) finden in der Sprache beider Kodizes einen starken Niederschlag: Gegenüber dem altertümlichen Silleiner Text mit einer hohen Frequenz an fachspezifischem Wortschatz, einer reichen Synonymie, Polysemie und Homonymie, erstarrten Ausdrücken und Verbindungen, mit einer Vielfalt an Paarformeln und regional bedingten Varianten steht der viel kürzere, einfachere und verständlichere Text der Willkür, in dem vor allem der Anteil der Rechtswörter im engeren Sinne, der formelhaften Wendungen und bedeutungsverwandten Wörter stark zurückgeht. So ist das mittelhochdeutsche Kompositum wîcbilde mit der lange umstrittenen Bedeutung (›Rechtsbezirk‹, ›Stadtgebiet‹), das vor allem in den Gebieten östlich der Elbe zum festen Rechtsbegriff wurde (vgl. Kroeschel 1960; Schmidt-Wiegand 1994), im SRb. in seiner mnd. Form überliefert und besonders oft in der Verbindung binnen / binnem wicbilde zu bezeugen. Viel seltener sind die in den mitteldeutschen Handschriften des Sachsenspiegels bevorzugten synonymen Verbindungen in / innen / unter dem gericht nachzuweisen (vgl. Ebel 1993), nur vereinzelt kommt in der Bedeutung ›Rechtsbezirk‹ auch recht vor. In vergleichbaren Kontexten des Zipser Landrechts steht neben recht entweder das aus dem umliegenden Sprachareal entlehnte Substantiv hattert, hattart, hatter (ung. határ, slow. chotár), oder wird der Gültigkeitsbereich des Rechts umschrieben (in disem lande, in steten adir mergten adir in dorffern, in den fir vnd czwenczig steten, d. h. in den 24 zur Oberzipser Rechtsgemeinschaft gehörenden Orten). Die Meinungen über das Etymon des Substantivs hatter, das mit denselben Bedeutungen (›Dorfkataster, -bezirk‹, ›Grenzzeichen‹, ›Bemarkung‹) nicht nur im Slowakischen und Ungarischen, sondern auch in Mähren (kotár), im Serbokroatischen, Kroatischen, Slowenischen (kotar, hotar), Ukrainischen (chutor) sowie in ganz Siebenbürgen nachzuweisen ist, gehen stark auseinander. Höchstwahrscheinlich ist ahd. etter (ätter, ötter), das ursprünglich ›Grenzmittel‹ (Hindernis, Gehege, Grenzzeichen) bedeutet und im weiteren Verlauf sprachlicher und rechtlicher Entwicklung auf
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
den begrenzten Raum selbst angewendet wird, noch vor 1000 ins Pannonisch-Slawische übernommen und von den Slawen an die Ungarn weitervermittelt worden (vgl. Papsonová 2003, 71). Allgemein verständliche Paraphrasen anstelle der in den Primarquellen frequentierten Rechtstermini bzw. formelhaften Verbindungen sind im eigenständigen Zipser Recht sehr oft anzutreffen, so für gerade bzw. frauengerade (waß dy fraw dan hot gebrocht an Erbe ader am gelde ader an andern dyngen; was dy fraw vor gutis hot, daz sal ir nymand nemen), für den ›Hausfriedensbruch‹, dem in den schlesischen Quellen eine ganze Reihe von synonymen Substantiven entspricht (heimsuche, haussuchunge, heimsuchen, heimsuchunge, suchunge), oder für das im Zusammenhang damit frequentierte Rechtswort schreimann (Pl. Schreileute ›Leute, die die Notrufe gehört haben, Zeugen und Helfer bei der Klage‹) sowie das verwandte Kollektivum gerüfte, gerufe (›Hilfsgeschrei, Notrufe zur Versammlung der Nachbarn und Ergreifung des Übeltäters‹), das im Silleiner Text und dessen Vorlagen in einer Reihe von Verbindungen (Funktionsverbgefügen) nachzuweisen ist wie das gerüfte schreien, mit / one gerüfte klagen, dem gerüfte folgen etc. Andererseits steht oft für feste Formeln mit ihrer reichen Metaphorik, die die Prozesshaftigkeit des älteren deutschen Rechts wiederspiegeln, ein einfaches Wort: Die oben genannten, in den schlesischen Quellen in großer Belegdichte vorkommenden Wortverbindungen mit dem Phrasem auf den heiligen wurden in den Bestimmungen der Willkür durch das Verb sweren (›schwören‹) ersetzt. Auch die für die ältere deutsche Rechtssprache charakteristische Fülle an bedeutungsverwandten (synonymen) und mehrdeutigen (polysemen) Wörtern wird im Zipser Recht weitgehend aufgegeben. Während im Silleiner Rechtsbuch und dessen Vorlagen für die Gerichtsversammlung neben der festen Verbindung vir bänke (›eingehegter Gerichtsort, Gerichtsversammlung‹) und den monosemen Substantiven schöffenstul, stul, teiding in einer der belegten Bedeutungen fünf weitere Synonyme nachzuweisen sind (ding, gedinge, gericht, recht, tag), stehen in der ZW nur gericht und recht in dieser Bedeutung. Für ›Blutsverwandte‹ stehen in der Silleiner Kompilation busem, erbe, erbekind, freund, niftel, nächster und besonders oft mage mit verschiedenen Attributen (nächster ebenbürtiger mage, rechter geschworen mage). In den Handschriften der Willkür sind nur freund mit geläufigen Attributen (nächste / geborene freunde) und der substantivierte Superlativ nächster nachzuweisen. Davon, dass das Recht des Altlandes unter veränderten Bedingungen unterschiedlich rezipiert wird, zeugen darüber hinaus erhebliche inhaltliche Differenzen zwischen beiden spätmittelalterlichen Rechtstexten. Stellvertretend ein Vergleich: Die Quellen des schlesisch-magdeburgischen Rechtskreises sehen neben der Todesstrafe und verschiedenen Geldstrafen (busse, geld, gewette, wergeld, wandel, schade) bei vielen Vergehen die peinliche Leibesstrafe vor (die Strafen am Haupt, am Leib, am Hals, an Hand, an Haut und Haar). In der ZW fehlen dagegen die Verstümmelungsstrafen völlig bzw. sie werden nicht explizit genannt. Oft sind Formulierungen anzutreffen wie So sal her vürpas mer key(n) recht czwischen vns haben; So sal man eyn recht übir sy thun; das hot her czuuorantworten, am häufigsten ist die Verbindung der bestet an des landes pus. Aus dieser knappen Gegenüberstellung (mehr dazu und Beispiele vgl. Papsonová 2005) lässt sich schließen, dass sich die Sprache des Rechtslebens in der spätmittelalter-
6. Kanzleisprachenforschung und Rechtsgeschichte
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lichen Oberzips gegenüber der Rechtssprache des altbesiedelten Landes durch eine deutliche Vereinfachung und Verlagerung zur Gemeinsprache auszeichnet. Dies weist darauf hin, dass das Recht der Zipser Freibauernsiedlung von vornherein eher darauf angelegt war, allgemein verständlich zu sein. Im Unterschied zur Silleiner Rechtskompilation und ihren Vorlagen, die den Sprachstand und den altertümlichen Wortschatz des spätmittelalterlichen deutschen Rechts weitgehend konservieren, macht sich in der autonomen Rechtssammlung der abgeschlossenen Kommunität der Zipser Sachsen ein deutliches Streben nach der Befreiung vom Formalismus des älteren Prozesses bemerkbar.
6.
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6. Kanzleisprachenforschung und Rechtsgeschichte
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Otto Spälter, Lauf (Deutschland)
7.
Die Kanzleien des Alten Reiches im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit
1. 2. 2.1.
Zum Begriff der Kanzlei Entwicklung und Wandel der Kanzleien Schriftlichkeit und Schriftorganisation am spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Königshof 2.2. Die Schriftlichkeit und deren Organisation in den Landesherrschaften 2.2.1. Erste Phase der Entwicklung der Schriftlichkeit 2.2.2. Zweite Phase der Entwicklung im 14. Jahrhundert 2.2.3. Dritte Phase um die Mitte des 15. Jahrhunderts 2.3. Entwicklung der Schriftlichkeit in den großen Reichsstädten 3. Die Kanzlei und ihr Führungspersonal 4. Literatur
1.
Zum Begriff der Kanzlei
Die Kanzlei – der Begriff ist vom Lateinischen cancelli, ›Schranken, Gitter, Grenzen‹ abgeleitet – war mit das vorrangige zentrale Herrschaftsinstrument im spätmittelalterlichen Regiment, und das sowohl beim Königtum als auch bei den Landesfürsten und Städten, unter ihnen vor allem den großen Reichsstädten. Sie war durch den Bildungsvorsprung der in der Kanzlei tätigen Schreiber (Notare), Obersten Schreiber (Protonotare), die lange ausschließlich aus dem geistlichen Stand kamen, und später auch Kanzler – bei allen zeitlichen Wandlungen – neben dem Rat stets der Mittelpunkt der Herrschaftsübung. Die Schriftlichkeit, wie sie in ihr gepflegt wurde, war die Voraussetzung für die Intensivierung der Herrschaft, wie wir sie im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit – etwa vom 13. bis zum 16. Jahrhundert – allerorten feststellen können. In diesem Zeitraum wandelte sich die Kanzlei von der einfachen Schreibstube zum differenzierten, omnipotenten Machtgebilde schlechthin, mit Zuständigkeiten für Verwaltung, Gericht, Finanzen, Militär und Beziehungen zu den Nachbarn und überhaupt nach außen, seit dem 15. Jahrhundert in einem eigens errichteten Gebäude, der Kanzlei. Dazu ist festzustellen, dass der Begriff Kanzlei verbreitet erst relativ spät, um 1450 auftaucht, in dem Moment also, als die bisherige Urkundenkanzlei von der Verwaltungskanzlei (vgl. Patze 1986) abgelöst wurde, nicht vorher. Das geschah in einer parallelen Entwicklung zur Entstehung fester landesherrlicher Residenzen bzw. städtischer Rathäuser und damit parallel zur ortsfesten Fundierung von Herrschaft vor allen in den Territorien. Die Kanzleierzeugnisse – bis zur Zeit Kaiser Maximilians (1493–1519) vielfach Produkte von so genannter pragmatischer Schriftlichkeit wie Urkunden und Briefe sowie (mit zeitlicher Verzögerung) Amtsbücher, Akten, Gerichtsprotokolle und Verordnungen, selten historische Dokumente – wurden lange Zeit von Hand geschrieben, erst ab ca.
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
1470 zum Teil auch gedruckt. Am Anfang war der Beschreibstoff ausschließlich Pergament, im 14. Jahrhundert mit steigender Tendenz auch Papier, das dann im 15. und 16. Jahrhundert in großem Umfang auch das Material des im Regierungs- und Verwaltungsgeschehen neu eingeführten Buchdrucks wurde.
2.
Entwicklung und Wandel der Kanzleien
Die Schriftlichkeit im Alten Reich entfaltete sich in erster Linie auf drei politischen Ebenen, mit jeweils unterschiedlichen Interessen und Zielen. Neben dem Königtum waren es die Landesherrschaften und Reichsstädte, vereinzelt auch landesherrliche Städte, die im Laufe eines Jahrhunderte langen Prozesses spezifische Formen der Schriftlichkeit und der Schriftorganisation entwickelten. 2.1.
Schriftlichkeit und Schriftorganisation am spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Königshof
Die Anfänge der spätmittelalterlichen königlichen Kanzlei waren vom ausgehenden Hochmittelalter vorgegeben, zuletzt ganz wesentlich vom Schriftwesen Kaiser Friedrichs II. (1212–1250). Unter Friedrich bildeten sich im Reich nun allenthalben auf regionaler Basis (vermehrt) eigene, machtvolle politische Einheiten, die Landesherrschaften oder Territorien, die das Reich eher als Vorstellung und Wunsch denn als Realität erscheinen ließen. Der Kaiser selbst hielt sich in der Zeit seit ca. 1230 konsequenterweise nur noch selten im Reich auf, sondern kümmerte sich – wegweisend für die Zukunft von königlicher Machtausübung –intensiv um seine Erblande (auf Sizilien sowie in Unteritalien) und schuf in ihnen, von spätrömisch-byzantinischen Traditionen ausgehend, straffere Strukturen von staatlicher Verwaltung, zu denen ganz wesentlich auch das Schriftwesen (mit einem festeren Verband von Notaren bzw. Schreibern) gehörte. Beschäftigt war dieses hauptsächlich mit der Ausfertigung von Urkunden, darunter Mandaten als wichtigstem Instrument im Verwaltungsablauf, und Briefen, darüber hinaus aber erstmals auch schon mit dem Erlass von Gesetzesbestimmungen – vor allem den berühmten Konstitutionen von Melfi von 1231 – sowie von wichtigen Verordnungen, wie man sie ansonsten noch nicht kannte. Beachtlich war überdies – wenn man das Ganze von Friedrichs Herrschaftsgebiet überblickt – die Zahl der ca. 2300 Beurkundungen. Für das Reich im spezifischen Sinn erlangten die großen Privilegien von 1219 bis 1232 für die Fürsten und Städte sowie die Landfriedensregelungen von 1235 dabei besondere Bedeutung. Singuläre Dokumente für Sizilien waren ein Registerfragment von 1239 / 40 mit Einträgen zu den ausgestellten Urkunden sowie eine Kanzleiordnung von 1244. Der im Schriftwesen gepflegte und unter anderem an antiken Mustern mit sprachlichrhetorischer Kunst geschulte Kanzleistil galt für lange Zeit als beispielhaft, und zwar weit über die engen Grenzen des italienischen Südens hinaus. Im Reich war es nicht annähernd gleich gut um Verwaltung und Schriftlichkeit bestellt wie unter Friedrich II. auf Sizilien, auch wenn es unter ihm in gewisser Weise mit teilhatte an dem dortigen Niveau. Das ist besonders augenfällig, als nach dem Interreg-
7. Die Kanzleien des Alten Reiches im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit
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num (1250–1273) mit seinen politischen Turbulenzen Rudolf von Habsburg (1273–1291), aus einem, was die Schreibkultur anlangt, durchaus rückständigen Land stammend, die Herrschaft im Reich übernahm. Zwar wurden von seinen Schreibern erstaunlicherweise immerhin ca. 2500 Urkunden ausgefertigt, erstmals erschien in ihnen auch das Deutsche als Urkundensprache. Was die Notare an Textarten und Texten (meist in einer flotten gotischen Gebrauchskursive) ausfertigten, konnte aber nicht entfernt mehr der Breite des Materials und dem stilistischen Niveau genügen, wie man es von Friedrich II. speziell aus Sizilien gewohnt war. Die sehr verzögerte allmähliche Entwicklung der Schriftlichkeit und Kanzleitätigkeit im Herrschaftsbereich des Königs, wie sie hier mühsam ihren Anfang nahm, war indes nicht primär dem Herrscher bzw. dessen Territorium anzulasten, sondern hatte ihre Ursache in prinzipiellen Problemen des Alten Reiches, die sich hemmend auswirkten (vgl. Krieger 2003, 18ff.): Zum einen im Reisekönigtum ohne festen Mittelpunkt und klare Verwaltungsstrukturen und damit immer nur einem räumlich und inhaltlich begrenzten Geltungsbereich mit schriftlich fundierter Machtausübung. Zum anderen im Status des hohen Adels, speziell dem der Reichsfürsten, der einen gleichmäßigen Zugriff des Königtums auf das Reich bzw. dessen Glieder verhinderte; denn in den regionalen Landesherrschaften beanspruchte und praktizierte die adelige Führungsschicht in hohem Maß Eigenständigkeit mit entsprechenden Hoheitsrechten zulasten des Königtums. Dessen Basis war schon von einem sehr frühen Moment an nicht das Reich, sondern nur noch jeweils das Land, aus dem der König selbst kam. Angesichts dieser föderalen Situation im Alten Reich war es erstaunlich, welch positive Entwicklung das Schriftwesen am Königshof – in einem freilich lang dauernden Prozess – aufs Ganze dennoch nahm. Wenn an sich wichtiges Schriftgut lange fehlte, so deswegen, weil aufgrund der eingeschränkten Position des Königs manches auf seiner Ebene entbehrlich war, was in den Landesherrschaften und großen Städten aus deren Perspektive als unerlässlich erschien. Wie unter Rudolf von Habsburg so blieb die Situation darum in der Hauptsache auch unter Rudolfs Nachfolgern bis 1308. Erst unter König Heinrich VII. (1308–1313), dem ersten Luxemburger im Königsamt, wurden nachweislich erstmals (Auslauf-) Register für die ausgestellten Urkunden benutzt, wobei anscheinend – wie auch später noch üblich – nicht alle ausgehenden Urkunden erfasst wurden; Briefe galten ohnehin nicht als aufzeichnungswürdig. Immerhin war mit der Führung von Übersichten zu den vom König erteilten Privilegien usw. als grundlegenden Instrumenten zu sachlich-übersichtlicher Verwaltung und rechtlicher Sicherheit, allerdings ohne Scheidung der Reichs- von den Territorialangelegenheiten, ein Anfang gemacht. Der Wert von solchen Registern wurde unter Ludwig dem Bayern (1314–1317) in der Kanzlei offenbar von Anfang an erkannt; denn unter ihm führte man nun offenbar mit gewisser Stetigkeit Register. Von diesen ist vor allem das zweite bemerkenswert; denn es trennt in den (regestenartigen) Eintragungen erstmals die Reichssachen von den herzoglich-bayerischen Angelegenheiten und den so genannten Ersten Bitten. Überhaupt gewann das königliche Schriftwesen – trotz der seit Rudolf I. kaum veränderten Zahl von ca. 2500 Urkunden und Briefen – unter Ludwig wieder mehr Format und Ansehen, was primär vor allem damit zu tun hatte, dass das Herzogtum Bayern seit langem eine
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
weit überdurchschnittlich entwickelte Landesorganisation und nach den Maßstäben des Reiches ein vorzügliches Schriftwesen hatte (vgl. Kapitel 2.2.). Auf dieser Basis konnte Ludwig der Bayer die Schriftlichkeit seines Königtums aufbauen. Denn unabhängig vom Territorium existierte – typisch für die Zeit – beim König nach wie vor kein Schriftwesen. Bemerkenswert ist, dass unter Ludwig der Gebrauch des Deutschen als Urkundensprache mit einem Gesamtanteil von ca. 46 %, bei weltlichen Urkundenempfängern sogar von ca. 84 %, beträchtlich zunahm und im oberdeutschen Raum das normierte Deutsch der Ludwig-Kanzlei als einer frühen Form von (oberdeutscher) Gemeinsprache bis in die fränkische Region hinein Nachahmung und Verbreitung fand. Der Wandel zu einem höheren Niveau im Schriftwesen setzte sich unter dem Luxemburger Karl IV. (1347–1378) in noch intensiverer Weise fort. Karl IV. war ja selbst – von französischer Bildung geprägt – ein sprachtalentierter und schriftkundiger Mann, der wie einst Friedrich II. sogar selbst literarisch tätig war. Er forcierte den Fortschritt wie sein Vorgänger Ludwig zwar wiederum primär von seiner politischen Basis aus, also von Böhmen und von Prag als den Zentren seiner Hausmacht, aber mit einer im Spätmittelalter doch ungewöhnlichen Ausweitung der Schriftlichkeit. Dabei mag die (geschätzte) Zahl von insgesamt sicherlich mehr als 10.000 Beurkundungen bereits als sichtbares äußeres Zeichen von der neuen Qualität von Schriftlichkeit gelten. Sie überrascht nicht, wenn man Karls, nach dem Vorbild seines Vaters, König Johanns von Böhmen (1310– 1346), bereits im eigenen Territorium sehr fortgeschrittenes, gut organisiertes Schriftwesen mit den Ämtern eines Kanzlers, Protonotars, Notars, dazu denen des Registrators, Sigillators und Archivars sowie einer Gruppe von Konzeptbeamten betrachtet. Da war ein Grad von Differenzierung und Effizienz gepflegt wie bisher auch nur ansatzweise nirgendwo sonst. Bezeichnend ist dazu, dass unter Karl IV. mit der so genannten Goldenen Bulle 1356 auch das quasi erste Verfassungsdokument des Alten Reiches ausgearbeitet wurde. Freilich ist es bei allem Ehrgeiz und Erfolg evident, dass es auch unter Karl IV. – bei aller Bevorzugung von Prag –nicht zu einer ortsfesten Kanzlei im späteren Sinn gekommen ist, sondern das Schriftwesen vielmehr eng mit dem wandernden König verbunden blieb, nicht anders als das vorher unter Ludwig dem Bayern der Fall war und als das nachher unter König Wenzel (1376 / 78–1400), König Rupprecht (1400–1410) und auch Kaiser Sigismund (1410–1437) noch der Fall sein wird. Beim Kanzleipersonal nahm im Übrigen die Zahl der studierten Juristen gegenüber der Zeit von Ludwig dem Bayern bezeichnenderweise um ca. das Dreifache zu. Kennzeichnend für die folgende Zeit im Reich ist, dass es im königlichen Kanzleibetrieb weiterhin – wie bisher meist – keine Trennung zwischen den Angelegenheiten des Reiches und denen des jeweiligen königlichen Erblandes gab, das Reich also nie als eigenständige Größe behandelt wurde. Auffällig ist ferner die anhaltende Dominanz des Traditionellen mit einem hohen Anteil an Beurkundungen. Diese mehrten sich ständig, was unzweifelhaft für die wachsende Wertschätzung und Bedeutung der Schriftlichkeit spricht, und erreichen unter Kaiser Sigismund (1410–1437) eine Zahl zwischen 15.000 und 20.000, wie man mutmaßt. Doch zeigt das beim Fehlen einer effizienten Buchführung zu wichtigen Gegenständen in den Reichsangelegenheiten – nur das Reichsregister wurde weitergeführt und ein Reichsachtbuch neu begonnen, für wenige Jahre auch an einem Briefbuch geschrieben – die einseitige Orientierung am Althergebrachten nur umso deutlicher.
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Mit Mut zum Neuen im Schriftbereich versuchte sich dann wenigstens partiell Friedrich III. (1440–1493), dessen Anteil an der Fortentwicklung des königlichen Schrift- und Kanzleiwesens lange verkannt wurde. Allein schon die Mundierung der enormen Zahl von 40.000 bis 50.000 Urkunden weist darauf hin, welchen Stellenwert das Schriftliche im Herrschaftssystem des habsburgischen Königs erlangte. Das wird indes noch deutlicher, wenn man die formal-inhaltliche Ausweitung der Schriftlichkeit in den Blick nimmt: So wurde im Zuge einer Gerichtsreform mit der Reformatio Friderici 1442 ein völlig neuer Stil im Gerichtswesen eingeführt, der das Schriftliche auf allen Stufen eines Prozesses betonte und damit die Objektivität und Überprüfbarkeit förderte. Begonnen wurde auch damit, Registraturen zu nutzen und Unterlagen wie Entwürfe für Privilegien sinnvoll zu ordnen sowie Akten anzulegen. Freilich hielten diese Bemühungen nicht Schritt mit dem raschen Anwachsen des Materials, das zu ordnen gewesen wäre, entstanden vergleichsweise doch nur wenige Kanzleibehelfe. Als besonderes Manko ist zu registrieren, dass das gesamte Finanzwesen keine Modernisierung und Verschriftlichung erfuhr. Völlig fehlen ferner Personallisten, Hofordnungen etc., wie sie in den fortgeschritteneren Territorien mittlerweile vorhanden waren. Immerhin bemühte sich Friedrich III., bei den Kanzleitätigkeiten eine klare Trennung zwischen den österreichischen und den königlichen Angelegenheiten einzuführen, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg. Unter Friedrichs Sohn, Maximilian I. (1486–1519), galt freilich eine solche Trennung von vornherein nicht als opportun, die Absicht ging vielmehr im Zuge des Bemühens um Reform der zentralen Behörden dahin, die Zuständigkeit in Reichsangelegenheiten künftig auf die 1498 neu geschaffene Hofkanzlei mit zu übertragen. Damit sollten die Reichsinteressen den habsburgischen Zielen untergeordnet und die so genannte Römische Kanzlei, die traditionelle Reichskanzlei, die von den (mittlerweile selbstbewussteren) Reichsständen als wichtiges Instrument der eigenen Politik verstanden wurde, letztlich ausgeschaltet werden. In den folgenden, jahrhundertelangen Auseinandersetzungen um die Rolle bzw. Existenzberechtigung der Römischen Kanzlei verlor diese schließlich trotz der reichständischen Gegenwehr angesichts des habsburgischen Übergewichts an Bedeutung und Ansehen, bis sie unter Joseph I. (1705–1711) definitiv von der Hofkanzlei verdrängt war. Da diese von Anfang an als lediglich ausführendes Organ von Hofrat und Hofkammer konzipiert war, wurde aber selbst diese zu einer Einrichtung mit geringen direkten politischen Gestaltungsmöglichkeiten herabgestuft. Allerdings vergrößerten sich der organisatorische Umfang (mit der nun stattlichen Zahl von 44 Kanzleibediensteten) und der Tätigkeitsbereich der Kanzlei mit neuen Zielsetzungen in der Schriftlichkeit beträchtlich. Das erklärt sich ganz wesentlich damit, dass der Hof Maximilians und mit ihm dessen Kanzlei in Europa weit mehr Ansehen und Geltung erlangte als der irgendeines königlichen Vorgängers im Reich. Speziell mit Maximilians Wunsch und Auftrag an die Kanzlei, seine eigene Person und seine Dynastie in Schriftzeugnissen zu verherrlichen, wuchs ihr über den Bereich der pragmatischen Schriftlichkeit hinaus auch eine ganz neue Aufgabe zu. Zu ihrer Bewältigung trug freilich ganz wesentlich der intensive Einsatz des neuen Mediums des Drucks bei. Mit einem hohen Grad von Aktualität und in der stattlichen Auflage von 350 bis 400 Exemplaren ließ Maximilian seine häufigen offiziellen und halboffiziellen Verlautbarungen, insbesondere seine Mandate an die Reichsstände und die Stände seiner Erblande, nach dem Kanzleientwurf im
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Druck verbreiten. Damit gewann unter Maximilian das Schriftwesen über den Einsatz im klassischen Bereich und mit klassischen Mitteln hinaus eine völlig neue Dimension. Der Hof Karls V. (1519–1556), des Erben Maximilians, gehörte wegen der Vereinigung verschiedener Dynastien zum komplexesten der Zeit. Das Reich spielte im universal ausgerichteten Herrschaftsdenken und zwangsläufig auch im Herrschaftssystem dabei eine durchaus untergeordnete Rolle, so wichtig die Probleme im Reich vor allem wegen der turbulenten reformatorischen Bewegung auch erscheinen mochten. Die Reichskanzlei, die im Gesamtsystem separat gleichwohl wieder einen Platz fand, hatte darin einen entsprechend geringen Stellenwert. Und der Reichsvizekanzler, der ihr – nach dem Mainzer (Reichs-) Erzkanzler als nominellem Leiter – vorstand, hatte nur sehr eingeschränkte Kompetenzen; denn die Führung der Kanzleigeschäfte war ihm nur für den Fall der Verhinderung des (spanischen) Großkanzlers und kraft dessen ausdrücklicher Ermächtigung zugestanden. Die gesamte politische Korrespondenz ging normalerweise durch die Hand des Großkanzlers. So verringerte sich die Bedeutung der Kanzlei des Reiches in entscheidender Weise weiter. Allerdings darf nicht außer Acht bleiben, dass im Gesamtsystem von Karls Herrschaft die Kanzlei generell nochmals eine enorme Aufwertung erfuhr und hohen Rang gewann. So oblag es den Kanzleileuten ganz wesentlich, – gegenüber den Tagen Maximilians I. sogar in verstärktem Maß – die kaiserliche Politik zu vermitteln, mit offiziellen Schreiben genauso wie mit dem (mehrsprachigen) Entwurf von kaiserlichen Reden oder Gesetzen, auch offiziellen (und inoffiziellen) mehrsprachigen Nachrichtenblättern, die den Ruhm Karls V. mehren sollten. Das heißt, die Kanzlei in ihrer Gesamtheit nahm – und zwar wiederum speziell mit im Druck verbreiteten Versionen von Schreiben wie schon bei Maximilian – eine zentrale Funktion bei der Inszenierung der Person des Kaisers und der Ausbreitung seiner politischen Vorstellungen in der Öffentlichkeit wahr und hatte sich weit entfernt von der gleichsam klassischen Urkunden-Kanzlei früherer Tage. Gewandelt hatte sich indes mit den Schriftinhalten inzwischen die Schrift selbst, nämlich zu der so genannten humanistischen Schrift, bei der die Kalligraphie wichtig war. Das Deutsche wurde in allen Textarten, soweit sie das Reich betrafen, nun mit Selbstverständlichkeit verwendet, und das mit einem hohen Maß an einheitlicher Sprachgestalt. Das Lateinische hingegen blieb nun inhaltlich besonders anspruchsvollen Textarten vorbehalten, die meist nur für einen kleinen Kreis von Empfängern bestimmt waren. Bei der Trennung der Habsburger nach Karl V. in eine spanische und eine deutsche Linie und der damit verbundenen Beschränkung Kaiser Ferdinands I. (1556–1564) auf die habsburgischen Erblande und das Reich änderten sich die Kanzleiverhältnisse letztlich nur marginal. Dominant blieb weiterhin die Hofkanzlei; eine eigene Reichskanzlei war – angesichts der Vernachlässigung der Reichsangelegenheiten und der Konzentration Ferdinands auf die habsburgischen Erblande – phasenweise sogar überhaupt nicht mehr vorgesehen. So spiegelt die Situation der Reichskanzlei gut die Situation des Reiches insgesamt wider. Natürlich gab es im königlichen Schriftwesen Fortschritte, Weiterentwicklungen, vor allem durch die inhaltliche Erweiterung des Schriftgutes etwa im Zuge der Reichsreformbestrebungen seit dem späten 15. Jahrhundert, der reformatorischen Bewegung nach 1517 oder der Versuche zur Perfektionierung der Herrschaft bzw. der politischen
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und gesellschaftlichen Disziplinierung der Lebensverhältnisse mit Gesetzeswerken wie den – erst später so bezeichneten – Reichspolicey-Ordnungen von 1530, 1548, 1551 und 1577. Aber die frühmoderne Staatsbildung mit konsequenter, bürokratischer Verschriftlichung vieler Regierungsvorgänge erfolgte doch viel nachhaltiger in den Territorien des Reiches, nicht primär im Reich als Ganzem. 2.2. Die Schriftlichkeit und deren Organisation in den Landesherrschaften 2.2.1. Erste Phase der Entwicklung der Schriftlichkeit Die Entwicklung der Schriftlichkeit als Herrschaftsmittel verlief in den Territorien des Reiches räumlich und zeitlich mit unterschiedlicher Intensität – je nach ständischem Rang und räumlicher Lage des jeweiligen Territoriums –, insgesamt aber im Unterschied zum königlichen Schriftwesen in wesentlich effizienterem, stetigerem Fortschreiten zur quantitativen und qualitativen Steigerung der Schriftlichkeit in allen Bereichen des landesherrlichen Regiments. Der Fortschritt vollzog sich dabei entsprechend den landesherrlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen in drei deutlichen Phasen. Deren erste war gekennzeichnet von den Anfängen der Schriftlichkeit bei den Reichsfürsten, unter ihnen wiederum vor allem bei den geistlichen Reichsfürsten, einschließlich der jüngeren reichsunmittelbaren Abteien, vor allem der Zisterzienser, die zunächst auf Grund der größeren Bildung ihrer Vertreter und der größeren Wertschätzung des schriftlich Fixierten im Schriftwesen einen deutlichen Vorsprung vor den anderen hatten. Die Bischofssitze als die traditionell mit der Schriftlichkeit viel länger vertrauten Einrichtungen – selbst die größeren – hatten allerdings schon am Ende dieser ersten Phase eher eine nur noch durchschnittliche Qualität von Schriftlichkeit, wenn man die Zahl der beschäftigten Schreiber – selten mehr als zwei – und die Zahl der Beurkundungen betrachtet und mit der in großen weltlichen Territorien vergleicht. Im Ganzen betrachtet fällt aber auf, dass die Fürsten im Süden und Westen des Reiches generell in der Nutzung der Schriftlichkeit zeitig viel weiter fortgeschritten waren als die anderen. Weit voraus waren unter den weltlichen und speziell den fürstlichen Landesherren zunächst die böhmischen, vor allem bis zum Tod von Ottokar II. 1278, aber auch noch danach, und zwar sowohl mit der Zahl der Beurkundungen – 285 erfolgten allein in den 14 Jahren zwischen 1264 und 1278 – als auch mit der Organisation des Schriftwesens und den weit gespannten personellen Verbindungen bis nach Rom und den aus diesen sich erklärenden anspruchsvollen Urkundentexten, die in ihrer Zeit im weltlichen Bereich kaum ihresgleichen fanden. Zwischen 1300 und 1305 kam es, ungewöhnlich genug, auch bereits zu einer ersten Bergbaugesetzgebung. Vergleichbar gut entwickelt war die Schriftlichkeit nur noch in Tirol: Von 1288 an beginnt hier sogar bereits eine ununterbrochene Reihe von Rechnungsbüchern der landesfürstlichen Kammer und der Ämter im Land. Im gleichen Jahr wurde auch schon ein landesfürstliches Gesamturbar angelegt, dem bald Einzelurbare von Ämtern folgen. Da konnte auch die gut entwickelte Schriftlichkeit der Wittelsbacher in Bayern nicht ganz mithalten, obwohl sie – bei maximal zwei bis vier Schreibern – sowohl mit der Zahl der Beurkundungen – in den 30 Jahren zwischen ca. 1260 und 1290 in Oberbayern 280, in Niederbayern ebenso vielen, in
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der kurzen Zeit zwischen 1290 und 1297 hier zusätzlich noch einmal 166 – wie auch mit der Breite des Schriftgutes rasch ein beachtliches Niveau erreichte. Zeitig wurden hier auch die ersten Bücher angelegt: um 1280 ein oberbayerisches Urbar und zwischen 1291–1294 das älteste herzogliche Rechnungsbuch, das früheste seiner Gattung aus dem 13. Jahrhundert überhaupt. Dabei fällt für Niederbayern auf, dass alsbald eine sachliche Differenzierung am Hof und überdies eine Dezentralisierung hin zu den Außenämtern vorgenommen wurden. 2.2.2.
Zweite Phase der Entwicklung im 14. Jahrhundert
Eine zweite Phase der Entwicklung mit deutlichen, wenn auch zeitlich oft etwas differierenden Angleichungsvorgängen in den einzelnen Landesherrschaften lässt sich für das 14. Jahrhundert beobachten. Die geistlichen Territorien und insbesondere eine große Landesherrschaft wie die der Wittelsbacher in Bayern behielten für ca. ein viertel bis halbes Jahrhundert ihren Vorsprung in Schriftlichkeit und Verwaltung, und zwar – neben einer stattlichen Zahl von Beurkundungen (mit gut 700 allein in Niederbayern von ca. 1300 bis 1330) – nun auch mit der Einführung von Güteraufzeichnungen und den Anfängen zur Register- und Aktenführung, darunter sogar sachthematisch angelegten Spezialregistern, wie z. B. Kammerbüchern mit Aufschreibungen zur Finanzverwaltung oder Konzeptregister n. Mit mehr oder minder starker Verzögerung bildeten die übrigen aber im Laufe des Jahrhunderts analoge Organisationsformen und Arten von Schriftlichkeit aus. Selbst in einer so relativ jungen Landesherrschaft wie der der fränkischen Zollern – sie war erst während des Interregnums ab ca. 1260 entstanden – sind am Ende des 14. Jahrhunderts so gut wie keine Unterschiede mehr zu den schon länger existierenden Territorien zu erblicken. Um 1330 findet man schon überall die gleichen Organisationsstrukturen für das Schriftwesen mit einem Protonotar an der Spitze und mindestens einem, oft aber mehreren Notaren neben bzw. unter ihm. Ab ca. 1350 / 60, spätestens 1360 / 70 ist in sämtlichen Landesherrschaften die Führung von Amtsbüchern gebräuchlich – von Urbaren oder Landbüchern, Lehenbüchern, Kopiaren vor allem – und ein genereller Gleichstand erreicht. Dies erhellt, welche Rolle die Schriftlichkeit auch bei neu etablierten Landesherren mittlerweile spielte. Ähnlich wie bei den Zollern in Franken war es in allen vergleichbaren Landesherrschaften, z. B. in der Grafschaft Württemberg. Bis um ca. 1430 wird sich das Schriftwesen überall weiterentwickeln bzw. stabilisieren, mit Fortführung der bereits früher begonnenen Amtsbücher und der Anlage neuer als Ersatz für die alten, sowie der Anlage von Sachakten. Im Unterschied zu den Beurkundungen, die gleichsam nach außen gerichtet waren, betrafen die Bücher und Akten nun aber das Interne der Herrschaft, zur Nachprüfbarkeit der Vorgänge und zu ihrer Bewahrung im Gedächtnis der Landesherrschaft. Das können wir ähnlich wie bei den bayerischen Herzögen etwa auch bei den Grafen von Kleve beobachten, die im Nordwesten des Reiches – wohl unter dem Einfluss der benachbarten Regionen von Frankreich – in der Entwicklung der Schriftlichkeit seit dem 14. Jahrhundert unter den Laien besonders weit fortgeschritten waren, – mit einem Urbar 1319, einem Kopiar von ca. 1338 und einem Lehensregister, das 1368 beginnt. Aber auch bei den Wettinern in der Markgrafschaft Meißen und der Landgrafschaft Thüringen werden im 14. Jahrhundert durch neues
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Schriftgut deutlichere Konturen im Regierungs- und Verwaltungssystem erkennbar. So gab es bei ihnen, abgesehen von der stattlichen Zahl von ca. 2000 Beurkundungen allein für die Jahre von 1381–1406, eine (als Bruchstück erhaltene) Hofhaltungsrechnung von 1330, aus demselben Jahr auch eine Liste wertvollerer Urkunden, die im Archiv separat verwahrt wurden u. ä., alles in allem also eine beachtliche Reihe von Kanzleibehelfen (meist auf Papier) für die unterschiedlichsten Sachbereiche. Die habsburgischen Lande bieten vergleichbare Beispiele für diese allgemeine Entwicklung. Als Sprache verwendete man in entscheidenden Schritten zum Frühneuhochdeutschen zunehmend das Deutsche, allerdings nicht überall auf einheitlichem Niveau. Einen beachtlichen Standard erreichte es vor allem im Süden des Reiches von Württemberg bis Böhmen. Lateinische Urkunden waren – z. B. bei einem Gesamtanteil von ca. 5–10 % im Teilherzogtum von Bayern-München – allenfalls noch die Regel bei einzelnen konservativen klerikalen oder ausländischen Empfängern. In der Schrift bediente man sich in den Urkunden und Briefen der gotischen Gebrauchskursive, in der Regel ohne besondere Schmuckformen. Die Bücher wurden meist erst in Formen begonnen, die sich mit der so genannten Bastarda der Buchschrift näherten, im zeitlichen Fortgang aber hat man die Eintragungen oft auch in eiliger, beinahe schon flüchtiger Schrift vorgenommen. 2.2.3.
Dritte Phase um die Mitte des 15. Jahrhunderts
Hatte man bis ca. 1430 die bisher eingeführten Behelfe weiterbenutzt oder durch gleichartige neue ersetzt, so erfuhr das Schriftwesen in einer dritten Phase um die Mitte des 15. Jahrhunderts einen kräftigen Innovationsschub, und zwar durch die wachsende Neigung der Landesherren zu einer bis dahin ungeahnten Intensivierung und Perfektionierung der Herrschaft in ihren Territorien mittels des Schrifteinsatzes. Äußeres Zeichen für diese neue Stufe in der Nutzung der Schriftlichkeit im Herrschaftsapparat war die Einrichtung einer – jetzt auch so benannten – Kanzlei als einer echten, überall seit ca. 1460–1480 bezeugten zentralen Behörde, eigentlich dem Regierungsmittelpunkt, mit einem Kanzler oder Protonotar als Behördenvorstand und in der Regel einem eigenen Gebäude oder Gebäudetrakt als Sitz eben der Kanzlei in unmittelbarer Nähe zur (oder auch in der) Residenz des Landesherrn. So wissen wir es – mit gewissen zeitlichen Verschiebungen – eigentlich von allen Fürstentümern. Die Rolle des Kanzlers bzw. Protonotars beschränkte sich in der Praxis dabei meist nicht auf die Leitung des Schriftwesens, vielmehr wurde der Kanzler – zunächst oft ein studierter Geistlicher, später in der Regel ein Jurist bürgerlicher Abkunft – mit zur obersten und wichtigsten Person im landesherrlichen Regiment überhaupt. Das heißt, der Kanzler wurde zumindest für eine Weile, bis um ca. 1530 – neben den Räten des Herrschers – zu einem der offiziellen Sachwalter und Leiter der gesamten landesherrlichen Politik und die Kanzlei, der er vorstand, zum bevorzugten Herrschaftsinstrument. Die gewaltige Mehrung der Schriftlichkeit in Politik und Verwaltung auf diesem Weg der Intensivierung von Herrschaft, die überall feste und schriftlich festgehaltene Ordnungen erforderte, wurde zum wesentlichen Merkmal der Zeit, in der die grundlegenden Strukturen des modernen Staates zumindest vorbereitet, zum Teil aber auch bereits geschaffen werden. So erleben wir es etwa unter Herzog Albrecht III. im bayeri-
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schen Teilherzogtum von Bayern-München (1438–1460) oder auch in der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach bzw. der von Brandenburg-Bayreuth / Kulmbach unter Albrecht Achilles (1437–1486 bzw. 1464–1486), mit neuen Zielen und Methoden des landesherrlichen Handelns. Das enorme Wachstum des Schriftgutes war dabei wesentlich mit verursacht durch die Verwendung völlig neuer Produkte von Schriftlichkeit, und zwar – neben den klassischen Urkunden und den zahllosen Briefen sowie weiteren Amtsbüchern – zusätzlich nun den Akten von schematisierten Bestallungsbriefen von Dienern sowie Dienerlisten, desgleichen schriftlich fixierten Eidesleistungen von Dienern, Städten und Klöstern zur Treueverpflichtung gegenüber dem Landesherrn, auch von Protokollen über Sitzungen von Kollegialorganen, gedruckten landesherrlichen Mandaten u. ä. Erleichtert hat diesen massenhaften Einsatz von Schriftlichem ohne Zweifel das mittlerweile reichlich vorhandene Papier als Schreibmaterial, ermöglicht und herbeigeführt hat es aber der neue Wille der Landesherren zur Durchdringung ihrer Territorien mit einer bis dahin ungewohnten Regelungsabsicht und -sucht sowie der intensiveren Teilhabe an der Reichspolitik mit einer Vervielfachung der Korrespondenz, selbst der eigenhändigen der Landesherrn. Auch der Wunsch zur rechten Selbstdarstellung der eigenen Person und der eigenen Dynastie begünstigte – wie beim Königtum – die Verschriftlichung im Regiment der Herrscher. Zur klaren Strukturierung des umfangreichen Schriftwesens wurden konsequenterweise (im Rahmen von allgemeinen Hofordnungen oder auch separat von ihnen) Kanzleiordnungen (mit Hinweisen zur sachgerechten Ordnung und Aufbewahrung der Archivalien bzw. zur Geschäftsordnung für das Personal und dem Publikumsverkehr in der Kanzlei) erlassen. Mit der Reformation gewann die Schriftlichkeit noch eine zusätzliche Qualität. Im Religionsstreit erlangte sie vor allem über die Kanzleien der konfessionell einflussreicheren Territorien, etwa die der Zollern in Franken sowie der Wettiner in Kursachsen auf protestantischer Seite bzw. die der Wittelsbacher in Bayern sowie der Habsburger in Österreich auf katholischer Seite, mit der Abfassung wichtiger Briefe und konfessioneller Bekenntnisschreiben bisher ungeahnte Bedeutung. Freilich wurde sie dabei auch zum Instrument noch weitergehender Normierung innerstaatlicher Verhältnisse und zur Stärkung obrigkeitlicher Kompetenzen, etwa mit der Abfassung von Kirchenordnungen. Diese neue Tendenz im Gebrauch von Schriftmaterial fand auch in der Anlage von neuartigen Amtsbüchern mit territorialen Bestimmungen zur Umsetzung der Reichsordnungen über die Reichskreispolitik (seit 1512) und zur so genannten guten Policey (seit 1530) Ausdruck. Bei deren Anlage und Verbreitung bediente man sich nun aber auch des Buchdrucks sehr gezielt. In immer neuen Bearbeitungen wurden solche Bestimmungen – ebenso wie Bürgerverzeichnisse und Dorfordnungen – obendrein ständig perfektioniert und den aktuellen Verhältnissen und Bedürfnissen angepasst. Es waren die ersten groß angelegten Bestrebungen zur genauen Erfassung und inneren Neugestaltung der Territorien im Sinne einer Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse und zur Disziplinierung der Untertanen durch schriftlich niedergelegte, strenge Verhaltensregeln.
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Entwicklung der Schriftlichkeit in den großen Reichsstädten
Beachtlich war neben der Entwicklung der Schriftlichkeit in den fürstlichen Landesherrschaften die durchaus eigenständige in den großen Reichsstädten, wie etwa Nürnberg oder Frankfurt, in anderer Weise auch in bedeutenden landesherrlichen Handelsstädten wie Köln oder Breslau. Bei einer Reichsstadt wie Nürnberg blieb zwar die Zahl der Beurkundungen anfangs sehr bescheiden, aber es wird hier seit 1285 vom Stadtschreiber ein Achtbuch geführt, das erste von einer ganzen Serie weiterer Stadtbücher. In Breslau existieren seit 1287 sogar schon Rats- und Schöffenlisten, seit 1299 überdies Rechnungsbücher. Dieser Trend setzte sich in der Folge verstärkt fort. Auch in den Handelshäusern der Städte, nicht nur im jeweiligen Stadtregiment, hatte das Schriftwesen mit eigenen Schreibstuben und Handelsbüchern frühzeitig einen festen Platz. Das heißt also, dass das Schriftwesen alsbald über eine breite Basis verfügte, entsprechend den Bedürfnissen der Kommune und von deren Bürgern bereits seit dem frühen 14. Jahrhundert. Im Laufe des 14. Jahrhunderts steigerte sich der Einsatz der Schriftlichkeit rasch weiter, speziell im Zuge der Ausweitung der Handels- und Bergbaubeziehungen auf die Städte im Osten, in Böhmen und Mähren und auch nach Ungarn. Eine große Rolle spielten bei dieser Entwicklung vor allem aber auch die Kontakte zu den italienischen Städten und deren Handelshäusern, die zum Vorbild für kaufmännische Praxis und pragmatische Schriftlichkeit, auch in der Verwaltung der Kommunen wurden. Die Städte pflegten ja immer einen regen wirtschaftlichen und kommunikativen Austausch. Voraus waren sie wegen der gewerblichen und kaufmännischen Interessen in der Buchführung bei einzelnen Handelshäusern (seit ca. 1300 in Nürnberg) wie auch in dem Erlass von Satzungen, die Normen für das Zusammenleben im Gemeinwesen schufen. Seit 1320 wurden in Köln überdies bereits bedeutendere Ratsbeschlüsse protokolliert. In Nürnberg wurden ausführliche Niederschriften zwar erst seit 1471 (von eigens bestellten Ratsschreibern) angefertigt, gleichzeitig dann aber auch Rats- und Briefbücher geführt. Frühzeitig, seit dem 14. Jahrhundert, entstanden dazu auch Chroniken, erst durch traditionsbewusste Patrizier, später, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, auch durch Stadtschreiber. Den Höhepunkt erreichte die städtische Schriftlichkeit im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, als Reichsstädte eine führende Rolle in der reformatorischen Bewegung einnahmen und sie über das Ökonomische und Kommunikative hinaus politisch zu einem außerordentlich wichtigen Faktor in der Reichspolitik wurden. Nürnberg ist dafür – als mächtiger Stadtstaat und ein zentraler Ort des Druckmediums – ein herausragendes Beispiel. Parallel zu dieser Entwicklung der Schriftlichkeit ließ man sich in Städten wie Nürnberg (aber auch in den Landesherrschaften und deren Städten) alsbald auch die Ordnung und Archivierung des Schriftgutes (durchaus zeittypisch in Schachteln, Laden und Truhen) sowie die sichere Lagerung in Stuben und Gewölben, zu Zeiten auch in der Sakristei einer der großen Stadtkirchen angelegen sein. In Nürnberg geschah dies seit 1429 mit durchaus mustergültiger Übersichtlichkeit in der Lagerung der Archivalien und entsprechenden Inventarlisten bzw. Findbüchern. In Köln wird das Archiv erstmals sogar schon 1322 erwähnt.
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Die Kanzlei und ihr Führungspersonal
Wenn man die Geschichte der Kanzlei, um den Begriff pauschal zu verwenden, für das Reich im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit überblickt, so ist zu wiederholen, dass von Kanzlei erst spät die Rede war, nämlich verbreitet erst seit ca. 1450, dass aber in stetigem Fortschreiten spätestens seit den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts eine kontinuierliche Entwicklung des Schriftwesens stattfand. Sie war auf allen Stufen vorrangig das Werk – vom Willen des jeweiligen Herrschers oder Herrschaftsgremiums einmal abgesehen – von Notaren, Protonotaren, später auch das von Kanzlern, also den Herren mit der Verfügungsgewalt über die Schriftlichkeit als einem besonderen Herrschaftsinstrument. Wegen ihrer besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten gehörten sie stets zur geistigen und politischen Führungselite ihrer Zeit und waren oft maßgebliche Mitgestalter der Politik, auch wenn ihnen der lange relativ bildungsferne Adel, dem sie dienten, in der Hierarchie der gesellschaftlichen Schichten weit voran stand. Nach den Maßstäben der Epoche waren sie hervorragend geschult, in früherer Zeit meist an Chorherrenstiften, in späterer dann aber in der Regel (zusätzlich) an unterschiedlichen Universitäten, insbesondere in Italien oder – noch später – auch solchen im Reich, und das auch vermehrt ohne geistliche Vorbildung. Ohne diese Eliteleute hatten auch die Mächtigen kein sicheres Fundament, vor allem nicht in den wichtigen Bereichen des Rechts und der Finanzen. Sie waren dazu auch über ihren engeren Hofkreis bzw. städtischen Dienstbereich hinaus wegen ihres Kenntnisreichtums und ihrer weitreichenden Kontakte allgemein angesehene und geschätzte Leute. Sie verfügten ja auch untereinander über – um es modern zu sagen – nützliche Netzwerke. Ihren Herren dienten sie dabei oft beachtlich lange, nicht selten über mehrere Jahrzehnte hinweg. Für einzelne Schreiber boten sich dabei mit der Gunst des Herrn auch beachtliche Aufstiegschancen innerhalb der Ämterhierarchie, vom einfachen Schreiber bis zum Kanzler. Im Einzelfall wurde die Karriere aber auch durch den Wechsel des Dienstherren (etwa von einer Reichsstadt zu einem Landesherrn oder von einem Landesherrn gar zum König) gefördert; denn besonders tüchtige und weltgewandte Männer dieser Schicht waren – in der Regel stammten sie aus bürgerlichen, nicht adeligen Häusern – vielerorts als Helfer dringend gesucht, auch für Sondermissionen ohne eigentliches Amt. Freilich waren ihre Befugnisse von Anfang an – bei aller Kompetenz, über die sie verfügten, und allem Vertrauen, das man ihnen schenkte – immer begrenzt und stand ihre Tätigkeit in einem natürlichen Spannungsverhältnis zum Herrschaftsanspruch des jeweiligen Herrn. Nicht selten sind daher Klagen speziell von Kanzlern über ihnen nicht ausreichend gewährte Selbständigkeit, weil die Obrigkeit misstrauisch auf ihrem Führungsanspruch beharrte. Wichtig war – ungeachtet der prinzipiellen Stellung – stets ein gutes Einvernehmen zwischen dem Herrn und dessen Kanzler, wie bei allen wichtigen Ämtern.
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
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Birgit Stolt, Uppsala (Schweden)
8.
Luther und die deutsche Kanzleisprache
1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.2.1 3.2.1.1. 3.2.1.2. 3.2.1.2.1. 3.2.1.2.2. 3.2.1.2.3. 3.2.1.3. 3.2.1.4. 3.2.1.5. 3.2.2. 3.2.3. 4. 5. 6.
1.
Einleitung Untersuchungsgegenstand Analyse ausgewählter Briefe Brief Luthers an Kurfürst Johann Briefe Luthers an Käthe Einleitender Teil Anschrift und Anrede Bezeichnungen und ihre Attribute Standesbezeichnung Tätigkeiten Liebesbeziehung Zusammenfassung Exkurs: Stichprobe aus lateinischen Freundesbriefen zum Vergleich Friedensgruß Hauptteil Abschließender Teil Zusammenfassung Quellen Literatur
Einleitung
Ich rede nach der sächsischen Kanzlei – ohne dieses Tischredenzitat kommt wohl keine Darstellung der Luthersprache aus. Wie es zu deuten ist, ist umstritten. Einigkeit scheint heute darüber zu herrschen, dass es zu einer Überschätzung der Rolle der Kanzleien bei der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache geführt hat. »Neuere Untersuchungen erhärten aber den Eindruck, daß Luther eine Art oobd.-omd. Ausgleich der Schreibsprachen gemeint hat und z. T. auch wirklich vorfand«, schreibt Werner Besch (1985). Besch betont, dass Kanzleisprache im Hinblick auf Wortschatz und Syntax / Stil Fachsprache und daher von »begrenzter Führungsrolle« (vgl. 1985, 1783) ist. Was auffällt, ist Luthers Ich rede in diesem Zusammenhang. Kanzleisprache hat ihren Geltungsbereich innerhalb der geschriebenen Sprache. Wir finden hier eine Spannung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Dass Luther mit Ich rede nicht seine mündliche Ausdrucksweise gemeint haben kann, hat man wohl von Anfang an vorausgesetzt. Dem Textsortenstil nach ist seine Sprache als Kanzelsprache beschrieben worden, hörerbezogen und für die Aufnahme durch das Ohr vorgesehen. Für Luther war Schreiben gleichzusetzen mit Reden, d. h. er las auch Geschriebenes laut und das gesprochene Wort war für ihn weitaus wichtiger (und lebendiger) als Schriftlichkeit (vgl. Stolt 2000,
84
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
44, 46, 86f.). Inwieweit hat sich Kanzleisprache auf Luther ausgewirkt, wenn man von den Ausgleichsbemühungen zwischen den Dialekten absieht? Im Folgenden soll das Textmusterwissen im Vordergrund stehen und zwar als mentale Repräsentation von Textstrukturen [...]. Jeder Schreiber aktiviert bei der Textproduktion [...] seine Kenntnisse über bestimmte Textstrukturen und -muster [...]. Dabei variiert eine Textproduktion immer zwischen einer absoluten Einhaltung und Berücksichtigung tradierter Wissensbestände auf der einen Seite sowie der Innovation durch die Anpassung an die jeweils neue spezifische Situation auf der anderen Seite und bewegt sich deshalb immer in einem Spektrum zwischen Tradition und Innovation. (Meier 2004, 102f.)
Für die Tradierung des Formulierungs-, Text- und Textmusterwissens waren vor allem die Briefsteller und Formularbücher zuständig, die Anweisungen für das korrekte Verfassen von Briefen und anderen Urkunden boten, sowie Sammlungen von Musterurkunden und Briefmustern, die für die städtischen Schreiber verbindlich waren und die zeitgenössischen überregionalen Gebrauchsnormen für das Verfassen von offiziellen Texten darstellen (vgl. Meier 2004, 103; Nickisch 1969). So genannte Briefsteller nahmen im Rhetorikunterricht großen Raum ein. Rhetorik wurde zeitweilig sogar mit Brieflehre gleichgesetzt. Die Regeln wurden mit dem Beginn deutschsprachiger Briefe auch für diese übernommen (vgl. Meier 2004, 158ff.). Der lateinisch-kanzlistische Brieftypus war in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts maßgebend für die zeitgenössischen Latein-, Schreib- und Kanzleischulen und blieb es zunächst noch auch für die auf Deutsch abgefassten Schreiben. Wie bewegt sich Luther zwischen Tradition und Innovation?
2.
Untersuchungsgegenstand
Martin Luthers umfassende Korrespondenz gilt als ein erster Höhepunkt in der Geschichte des deutschen Briefes. Wir wählen als Untersuchungsgegenstand den Privatbrief Luthers, mit gelegentlichen Stichproben aus Luthers Korrespondenz mit seinem Fürsten zum Vergleich, und untersuchen ihn im Hinblick auf kanzleisprachliches Textmusterwissen und Textmusterausnutzung, um die Spannung zwischen offi ziell Gegebenem und Persönlichem, Schriftsprachlichem und Mündlichem zu studieren. Luther schrieb weitgehend ohne kuriale Schablonen, in natürlichem Ton, mit gesprächsnahen Mitteln [...]. [Er] versuchte sich in Sprache und Stil auf die jeweiligen Empfänger einzustellen und wich von Kanzleivorschriften hinsichtlich Titel und Anrede ab. (Meier 2004, 160 f.)
Wie, wie weit und mit welchem Resultat dies geschah und mit dem obigen Ich rede... zusammen zu sehen ist, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Hier wird vor allem eine Gruppe von Briefen aufgegriffen, in denen die Spannweite zwischen Privatem und Offiziellem so groß wie möglich war: die erhaltenen Briefe Luthers an seine Frau Käthe. Dies hat, angesichts der überwältigenden Menge erhaltener Lutherbriefe – 2531 Exemplare, davon1507 in lateinischer und 1024 in deutscher Sprache1 –, den
1
Dazu ist zu bemerken, dass sich Luther in Briefen an Tischgenossen und nahe Freunde gelegent-
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85
Vorteil einer überschaubaren Anzahl: Nur insgesamt 20 Exemplare der Briefe an Käthe sind uns erhalten. Der erste stammt vom 4. Oktober 1529, der letzte vom 14. Februar 1546, wenige Tage vor Luthers Tod. Zeitlich verteilen sie sich hauptsächlich auf drei Gruppen, geschrieben in den Jahren 1530 (fünf Briefe), 1540 (vier Briefe) und 1546 (sechs Briefe). Leider haben wir kein Zeugnis aus Käthes Hand; nur indirekt können wir ihre Reaktion aus Luthers Texten erschließen. Anhand seiner Briefe soll untersucht werden, inwieweit und mit welchem Stilwillen Luther sich der Textmuster bediente bzw. von ihnen abwich. Zum Textmusterwissen sei hierfür an Folgendes erinnert: Im Abschnitt Textstrukturen städtischer Kommunikation in der frühen Neuzeit stellt Jörg Meier eine »exemplarische Textstruktur der Kommunikationsform Brief« (Meier 2004, 198, 200) vor.2 Er findet fünf Strukturelemente, die hier verkürzt zitiert werden: 1. Salutatio (Ersamer, weiser Richter...), 2. Exordium (Ich hab verstanden, das [...] Wolte derhalben selbst [...]), 3. Narratio (Denn er weis sich E.E.N.W. wol zue erinnern [...]), 4. Petitio (Ist derhalben [...] meine treuliche bitt) und 5. Conclusio (Hiemit Gott dem Herren [...] befohlen [..] Geben auf der Schmölnitz 13 Augustij Anno 1585). Diese Struktur folgt dem normalen rhetorischen Gliederungsprinzip, das auch Luther in seinen offiziellen Texten und Sendbriefen einhielt (vgl. Stolt 1969, 12ff.; 1974). Sie folgten gänzlich dem lateinischen Muster.
3.
Analyse ausgewählter Briefe Luthers
3.1.
Brief Luthers an Kurfürst Johann
Als Ausgangspunkt nehmen wir uns einen Brief Luthers an Kurfürst Johann vom 14. Juli 1529 vor, dessen Gliederungsstruktur mit dem oben wiedergegebenen Muster verglichen werden soll (WA Br 5, Nr. 1447): (1)
2
Dem durchleuchtigsten, hochgebornen fürsten und herrn, herrn Johannes, Hertzog zu Sachsen und kurfursten, Landgrauen ynn Duringen und Marggrauen zu Meissen, meinem gnedigsten herrn. Gnad und fride ynn Christo! Durchleuchtigster, hochgeborner furst, gnedigster herr! (Salutatio). Diesen Er Wolfgang Calixtum, so ich zuuor [...] gen Cronswitz zum prediger geschickt [...] hab ich itzt widderumb daselbst hin sich zu begeben [...] vermocht[...] Nu beschweret er sich des, das eym prediger nicht sold und behausung bestellet sey. (Narratio). Ist der halben mein unterthenige bitt, E[uer] k[ur] f[urstlicher]g[naden] wolten gnediglich verschaffen, das er versehen werde [...] (Petitio) Hie mit Gott befolhen, Amen. Xiiij Julij 1529. E. k.f. g. Untertheniger Martinus Luther (Conclusio)
lich auch lateinisch-deutscher Mischsprache bediente (vgl. Stolt 2000, 17ff.); wie diese in der Zählung behandelt sind, geht nicht hervor. Meier spricht dort versehentlich von Exordio für korrekt Exordium.
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Wir finden hier einige Abweichungen vom obigen Schema. Zunächst, vorangestellt, steht die Anschrift. Sie besteht aus zwei Gliedern: außer dem Eigennamen des Adressaten mit der sorgfältigen Titulatur enthält sie dazu auch die Angabe der persönlichen Beziehung zum Absender: meinem gnedigsten herrn, eine höfliche Untertänigkeitsformel. Die Titulatur wird anscheinend in der Forschung nicht zum eigentlichen Brieftext gezählt. Da sie in offiziellen Briefen genau vorgeschrieben war, ist sie einerseits wichtig, andererseits stereotyp und für die Forschung inhaltlich uninteressant. Wie es sich damit in privaten Briefen verhielt, ist m. W. nie geklärt oder systematisch behandelt worden. Dass sie auch dort nicht unwichtig war, kann man sich im Vergleich mit heutigen Gebräuchen leicht vorstellen: Erst heutzutage wird es immer mehr üblich, sich nur auf den Eigennamen zu beschränken. Bei älteren Adressaten kann jedoch der Titel (vor allem ein Dr.!) auch heute notwendig sein, und es ist nicht lange her, dass sich erwachsene unverheiratete Frauen dagegen wehrten, mit Fräulein angesprochen zu werden. Mit persönlicher Empfindlichkeit muss in diesem Bereich auch heute noch gerechnet werden. Es handelt sich hier um einen der wichtigsten Lehrgegenstände der Kanzlei: die standesgemäße korrekte Titulatur, die in den Lehrbüchern – Formulare und tütsch rhetorica – besonders sorgfältig gepflegt und ausgebaut war und neben der Disposition und sonstigen wichtigen Förmlichkeiten auch den Hauptinhalt der deutschen Brieflehren bildete. Neben den Formularien gab es so genannte Titelbüchlein, die lediglich Muster für An- und Überschriften, Eingangs- und Schlussformeln enthielten. Sie waren nicht nur für die beruflichen Schreiber verfasst, sondern dienten auch als handfeste praktische Hilfe für Laien, denen lange Listen von Eingangs- und Schlussformeln und ein ausführliches Titelbuch für alle Stände und Würden geboten wurden (vgl. Nickisch 1969, 20ff.). Die Anschrift diente nicht, wie eine heutige Adresse, nur zur Information des Briefboten, dazu war sie viel zu aufwendig. Die besondere Sorgfalt und Genauigkeit, die darauf verwendet wurde, und die wichtige Bedeutung, die ihr zukam, war eigens auf den Empfänger gerichtet und Teil der diesem schuldigen Ehrerbietung. Im zeremoniellen Handlungsspiel des höflichen Umgangs entspricht sie der (mehr oder weniger tiefen) Verbeugung, dem Ziehen des Hutes im Gruß, bevor das Wort ergriffen wird. Da sie einen so wichtigen Bestandteil der Kunst des Briefeschreibens ausmachte, zähle ich sie mit zum Textganzen, obwohl sie im offiziellen Verkehr lediglich dem vorgeschriebenen Muster folgte und von Fürstenbrief zu Fürstenbrief gleichlautend war. Wir werden im Folgenden sehen, ob bzw. wie Luther in seinen Briefen an Käthe darin verfährt. In diesem Punkt erweitere ich das Textmuster. Die Salutatio folgt dem Schema. Sie enthält zwei Punkte: 1. den formelhaften Friedensgruß. Dieser wird häufig abgekürzt (G.u. f., G. et P. in Domino), und kann mit zuvor abgeschlossen werden (vgl. Meier 2004, 198). Die darauf unmittelbar folgende direkte Anrede ist augenfällig kürzer als die Anschrift und wiederholt nur zwei Titel mit den dazugehörigen attributiven Adjektiven: hochgeborner Fürst und gnedigster Herr, also nur die Eigenschaften, die Luthers persönliche Beziehung zu dem Empfänger betreffen. Anschrift, Friedensgruß und Anrede / Salutatio bilden somit eine schrittweise Kontaktetablierung zwischen Absender und Empfänger, wobei der Friedensgruß einleitend die wohlwollende Absicht des Schreibers signalisiert. Auf ein Exordium, mit der Aufgabe der Aufmerksamkeits- und Sympathieerwekkung (vgl. Lausberg 1960, §263ff.), verzichtet Luther und kommt direkt zur Sache. Eine
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Reduzierung des Exordiums gilt als kennzeichnend für Luthers Briefstil überhaupt (vgl. Mennecke 1983, 144ff.).3 Den eigentlichen Inhalt des Briefes enthalten die darauf folgenden narratio und petitio. Der Terminus Narratio ist nicht als Bezeichnung der Darstellungsart Erzählung (im Gegensatz zu Beschreibung, Bericht, Erörterung, Betrachtung etc.) zu verstehen (vgl. Stolt 1989, 381ff.). Er entstammt der juristischen Gattung der Rhetorik und umfasste in der Anklage- bzw. Verteidigungsrede vor Gericht die (parteiische) Tatverlaufsschilderung, die auch eine Erzählung als Exkurs enthalten konnte (vgl. Lausberg 1960, §289ff.). Im Brief legt sie den eigentlichen Gegenstand des Schreibens dar. Luther berichtet vom Briefüberbringer, einem Prediger, der auf kurfürstlichen Befehl nach Cronschwitz geschickt worden war, den Ort wieder verlassen hatte und nicht wieder zurück wollte. Ein im Textbild durch größeren Abstand vom Vorangegangenen und Nachfolgenden hervorgehobener Satz beschließt dieses Stück und benennt / definiert explizit das Anliegen, das sich als eine Beschwerde entpuppt: Nu beschweret er sich des, das eym prediger nicht sold und behausung bestellet sey. Dieser Satz kann durch seine hervorgehobene Stellung und Bedeutung im Text als Propositio (d. h. der gedankliche Kern der Narratio; vgl. Lausberg 1960, §262) 4 gelten. Auch der Argumentationsschritt der Petitio ist durch größeren Abstand im Text als Neuansatz markiert. Luther setzt sich für den Briefüberbringer ein und bittet um Sold und Behausung für ihn, mit der Mitteilung, er habe ihn bereits des also vertrostet. Um seinen Standpunkt zu motivieren, fügt er ein utilitas-Argument hinzu, das den Nutzen für den Kurfürsten nennt, sollte dieser Luthers Bitte folgen. Dieses ist nicht ohne Pointe: Und wo er kund die Nonnen zu fride bringen und yhn allen gefallen wurd, wie sie schreiben, were die kost nicht ubel angelegt. Luther überlässt danach den Entschluss zuversichtlich dem Fürsten: E.k.f.g. wird sich wol wissen zu halten. Der zitierte Abschluss (Conclusio) enthält mehrere Momente: 1. die Abschlussformel, als solche durch Hiermit markiert und formelhaft mit Amen beschlossen; 2. das Datum, 3. die Ortsbezeichnung, 4. die Ergebenheitsformel und 5. die Unterschrift. Die Abschlussformel mit ihrem Wunsch um Wohlergehen kann variieren. Beispielsweise endet der vorangehende Brief (Nr. 1446) so: Christus unser herr und heiland sey mit E.k.f.g. allezeit, Amen. Falls Absender und Empfänger an verschiedenen Orten wohnen, geht dem Datum eine Ortsbezeichnung voran. Die Ergebenheitsformel richtet sich nach dem jeweiligen Beziehungsverhältnis zwischen Sender und Empfänger und war dementsprechend abgestuft. Es kommt vor, dass Luther noch nachträglich etwas einfällt, so dass er ein Postscriptum hinzufügt (gegebenenfalls sogar mehrere, vgl. Nr. 3512, Br 9), so auch in diesem Fall, wo er eine Briefbeilage kommentiert: [So es ] E.k.f.g. gelus-
3
4
In einer früheren Entwicklungsstufe der Formularien fehlte das Exordium (vgl. Joachimsohn (1893, 77ff.). Es ist zweifelhaft, ob die bei Meier (2004, 198, 200) angeführten Beispiele als Exordium zu betrachten sind, da sie keine Aufmerksamkeits- und Sympathieerreger enthalten und auch als regelrechte Einführung in die Narratio gelesen werden können. Die fünf bei Lausberg angeführten Teile sind exordium, narratio, propositio, argumentatio, peroratio.
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tet, mugen sie aus des Von Wildenfels briefe hie bey gelegt selbs vernemen, wie sie den man achten. Nach diesem einleitenden Überblick über das Schema, das Luther bei seiner Briefabfassung als Textmuster diente und je nach den Umständen angepasst, abgewandelt und variiert wurde, wenden wir uns jetzt den Briefen an Käthe zu. Wir untersuchen, was Luther an Inhalten in die äußerlich so kanzleisprachlich steife Form verpacken konnte. 3.2.
Briefe Luthers an Käthe
Der erste erhaltene Lutherbrief an Käthe vom 4. Oktober 1529 wird als Ausgangspunkt hier angeführt (WA Br 5, Nr. 1476):5 (2)
Meinem freundlichen lieben Herrn Katharina Lutherin , Doctorin, Predigerin zu Wittenberg Gnad und Friede in Christo! Lieber Herr Käth! Wisset, daß unser freundlich Gespräch zu Marburg ein Ende hat, und seind fast in allen Stücken eins, ohne daß die Widerteil wollten eitel Brot im Abendmahl behalten und Christum geistlich darinnen gegenwärtig bekennen. Heute handelt der Landgraf, ob wir könnten eins werden, oder doch gleichwohl, so wir uneins blieben, dennoch Brüder und Christus´ Glieder unter einander uns halten. Da arbeit der landgraf heftig. Aber wir wollen des Brüdern und Glieders nicht, friedlich und guts wollen wir wohl. Ich achte, morgen oder übermorgen wollen wir aufbrechen und zu E. Gn. Herrn gen Schl. in Voigtland ziehen, dahin uns S.K.F.G. berufen hat. Sage dem Herrn Pommer, daß die besten Argumente seind gewesen des Zwinglii, daß corpus non potest esse sine loco, ergo Christi corpus non est in pane, des Oecolampadii: dies Sacramentum est signum corporis Christi. Ich achte, Gott habe sie verblendet, daß sie nichts haben müssen fürbringen. Ich habe viel zu tun, und der Bott eilet. Sage allen gute Nacht und bittet für uns! Wir seind noch alle frisch und gesund und leben wie die Fürsten. Küßt mir Lensgen und Hänsgen! Am Tage Francisci, 1529. E. williger Diener Martinus Luther Johann Brenz, Andreas Osiander, Doctor Stephan von Augsspurg seind auch hier kommen. Sie seind hier toll worden mit Schweißschrecken [Pestfurcht], gestern haben sich bei funfzig geleget, deren seind eins oder zwei gestorben.
Eine erste Durchsicht macht eine Anpassung des Schemas an die Bedingungen von Privatbriefen bei ihrer Analyse notwendig. Eines ist sofort klar: In keinem Brief fehlt ein Titel! Sowohl Anschrifts-Titulatur als auch die Anrede in der Salutatio sollten vom Adressaten gelesen werden und machten, wie oben gesehen, kommunikationstheoretisch eine stufenweise Annäherung und Kontaktnahme aus. Da bei Privatbriefen die offizielle
5
Der leichteren Lesbarkeit halber werden Lutherzitate nach der Weimarer Ausgabe in leicht geglätteter Form angeführt: u und i stehen stets für den Vokal, j und w für den Konsonanten. Doppelschreibung von Konsonanten wird vereinfacht, wenn sie die Lesung merkbar erschwert.
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Anschrift entfällt, ist ihre Einhaltung ein Stilmittel, je nachdem zur Parodie oder zur Distanzierung. Anschrift, Friedensgruß und Anrede bilden den gemeinsamen Vorspann eines Briefes, ehe der Schreiber zur eigentlichen Sache kommt. Erst danach ist der persönliche Kontakt etabliert. Das obige Schema wird wie folgt behandelt: a) Einleitender Teil: Anschrift (Titulatur); zweiteilig: Dem [...], meinem[...] – Friedensgruß – Anrede (Salutatio) b) Hauptteil: Sachbericht (Narratio) – (ev.) Propositio – (ev.) Bitten, Aufforderungen (Petitio) c) Abschließender Teil: Abschlussformel – Datum, Ort, Ergebenheitsformel + Unterschrift Als Gliederungssignale im Text kommen (allerdings nicht notwendigerweise) vor: als Abschluss der Anschrift: zu Handen, als Abschluss des Friedensgrußes: zuvor, und als Abschluss des Brieftextes (Hauptteils): Hiermit Gott befohlen. Das Hauptgewicht der Analyse liegt auf dem einleitenden Teil. Der Hauptteil ist vom Kanzleistil großenteils unabhängig und kann kursorisch behandelt werden. Erst mit dem Abschluss erhebt sich wieder die Frage von der Abhängigkeit bzw. des Einflusses kanzleisprachiger Vorbilder. Die verschiedenen Teile stehen nicht isoliert voneinander, sondern müssen oft im Zusammenhang miteinander gesehen werden. Die Reihenfolge wird deswegen in der Analyse nicht immer strikt eingehalten. Insbesondere betrifft dies Anschrift und Anrede, die sich ja auf dieselbe Person beziehen. 3.2.1.
Einleitender Teil
3.2.1.1. Anschrift und Anrede Der erste erhaltene Brief Luthers an seine Frau, vom 4. Oktober 1529, trägt die Anschrift: Meinem freundlichen lieben Herrn Katharina Lutherin , Doctorin, Predigerin zu Wittenberg. Luther hat hier die Reihenfolge umgekehrt. Statt mit Der doctorin, Predigerin zu Wittenberg[...] zu beginnen, fängt er mit dem persönlichen Schlussteil der Titulierung an, entsprechend meinem gnädigsten Herrn, in der gnädig durch freundlich und lieb ersetzt ist. Erst danach kommt die offizielle Namenangabe und der Standestitel: Katharina Lutherin ist die korrekte offizielle Namensform für Luthers Frau, Doctorin der ihr zukommende Titel. Die darauf folgende Benennung Predigerin ist wohl teils eine Neckerei, die sich auf Käthes Mundgewandtheit bezieht,6 ebenso wie die parodierende Bezeichnung Herr, auf die wir später zurückkommen. Sie demonstriert aber auch Käthes theologische Belesenheit und Lateinkenntnisse aus ihrer Klosterzeit: Luther berichtet im
6
So heißt es etwa in WA TR 4081: Sie kans so fertig, das sie mich weit damit überwindet.
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Narratio-Teil vom Marburger Religionsgespräch in einer Weise, die Käthes Verständnis der Dinge, worum es ging, voraussetzt, und gibt ihr darüber hinaus den Auftrag, Bugenhagen (auf lateinisch!) über sowohl Zwinglis als auch Oecolampadus beste Argumente zu informieren! Auch in den Tischgesprächen finden sich Beispiele dafür, dass Käthe sich an einer lateinisch geführten Diskussion beteiligen konnte. Eine Durchsicht des Materials ergibt, dass Luther für gewöhnlich seine Anschrift mit der persönlichen Beziehung Meiner... beginnt. Sie wird oft abgeschlossen mit zu Handen, kann aber auch mit einer nochmaligen persönlichen Beziehungsbezeichnung enden. Im folgenden Beleg beginnt Luther mit scherzhaft-ironischer Untertänigkeit (s. u.) und trägt den innigen Ton nach: (3)
Meiner gnedigen Jungfer katherin lutherin von Bora und Zulsdorff zu Wittemberg, meinem liebchen (Nr. 2512) (In der Unterschrift kehrt es wieder: Dein Liebchen Martin Luther.)
Die wenigen Ausnahmen, die mit Der... anfangen, sind scherzhaft bzw. ironisch und betonen dazu beide das liebe. Nr. 3519: Der reichen Frauen... endet mit: meinem liebchen zu Handen, Nr. 4203; Der heiligen sorgfältigen Frauen... mit meiner gnädigen lieben Hausfrauen (zu Frau als Titel gehobenen Standes s. u.). Die Vorlage bietet Luther augenscheinlich Anreiz zu immer neuen Variationen (Variatio war ein beliebtes rhetorisches Stilmittel). Jede Anschrift ist anders und drückt die tagesaktuelle Laune des Schreibers aus. Da es die offiziellen, in der Briefrhetorik so wichtigen Titulierungen sind, die parodiert werden, finden wir hier ein augenzwinkerndes, genüssliches Necken (vgl. Stolt 1999, 23ff.). Die Bezeichnung Herr wird im obigen Brief nach der darauf folgenden förmlichen Salutatio Gnad und Friede in Christo! in der direkten Anrede wiederholt: Lieber Herr Käth! Wisset, daß... Erst im nächsten Abschnitt geht Luther in der Anrede zum Du über, um in der Unterschrift mit der scherzhaften Abwandlung untertäniger Abschiedsformel und Selbstdarstellung zum Ausgangspunkt zurückzukehren: E[uer] williger Diener Martinus Luther. Der Rahmen ist intakt. Ironie und gutmütiges Necken paart sich mit Respekt. Luther liebte es, sich als Käthes williger Untertan hinzustellen. Im Hause führte Käthe das Regiment, was damaliger Sitte entsprach. Sie hatte einem großen Haushalt mit etlichem Gesinde vorzustehen, was ein energisches Auftreten notwendig machte. Jedoch hatte sie nicht weniger Respekt vor ihrem Ehemann, den sie niemals duzte und oft mit seinem Titel Doktor anredete. Herr, jedes Mal mit dem Attribut lieb, ist noch in zwei weiteren Anschriften Luthers an seine Frau aus den dreißiger Jahren überliefert, wo Luther anscheinend einen Spaß an der Aufeinanderfolge von Herr, Frau hatte: Meinem lieben Herrn, Frau Katherin Luthern zu Wittenberg zu handen (Nr. 1683, 15.8. 1530). Meinem freundlichen, lieben Herrn, Frau Katherin von Bora, D. Lutherin zu Wittemberg (WA Br 7, Nr. 2130, 29.7. 1534). Bereits das Studium dieser Titulaturen, die bei aller Förmlichkeit so deutlich privaten Charakter tragen und das offizielle Muster quasi zu einer scherzhaften Verbeugung ausnutzen, lehrt uns, dass die Titulatur in der Anschrift mit zum eigentlichen Brieftext
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gehört und sich ebenso direkt an den Empfänger wendet und von diesem gelesen werden will wie die Salutatio. Es kommt vor, dass Briefausgaben und Übersetzungen von Luthers Briefen erst mit der Salutatio einsetzen.7 Dass dabei viel an Aufschlüssen über die gegenseitigen Beziehungen, die Gefühlslage der Kontrahenten, das wie das, was folgt, gemeint ist, dabei verloren gehen, zeigt bereits dieser unser erster Beleg. Doch nicht nur die Parodie ist hier aufschlussreich für den gesamten Gefühlston des Briefes, sogar der Eigenname ist alles andere als stereotyp. Wie schrieb sich Luthers Ehefrau eigentlich korrekt? Eine Durchsicht des Materials ergibt, dass dies damals ganz der jeweiligen Laune des Schreibers überlassen war. In der Anschrift finden wir meist Variationen von Katharina: Katharina Lutherin ; Katharin Lutherin; Katherin Luderin; Katherin Lütherin; Katherin Doctor Lutherin; Katherin von Bora, D. Lutherin; Catharina Luthers von Bore; Katherin Lüdherin; Kethe, Doctorin Lutherin; Kethe Ludern von Bora; Käthen Lutherin. Man bekommt den Eindruck, dass Luther sich einen Spaß daraus machte, den Namen seiner Frau immer aufs Neue zu variieren. In der auf den Friedensgruß folgenden persönlichen Anrede wechselt Ket[h]e mit Kät[h]e, Ket[h]a, Kät[h]a, Ket. Dies zeigt: Katharina war die distanzierende, offizielle, vorwiegend der Schriftsprache vorbehaltene Form. Im Hause redete Luther seine Ehefrau mit Käthe an. Der Wechsel zwischen Katharina und Käthe demonstriert den textsortenstilistischen Übergang von schriftsprachlich-offizieller Adressierung zu verschriftlichter privater Mündlichkeit. Während die Titulatur in der Anschrift noch dem Bereich offizieller – wenn auch laut verlesener – Schriftlichkeit angehört, wird mit der Übergangsformel des Friedensgrußes der Schritt in die persönliche Beziehung getan. Zur Parodie eignet sich vor allem die Titulatur wegen ihrer festgelegten Förmlichkeit. Dies nutzt Luther aus. Wir verharren noch etwas auf dem Punkt Titulatur und untersuchen, was Luther in dieses von der Forschung vernachlässigte Gebiet investiert hat. 3.2.1.2. Bezeichnungen und ihre Attribute Luther beginnt die Titulatur zumeist auch im ersten Glied mit Meinem ... Der Abschluss zu handen fehlt oft. Diese Abschlussformel kann Luther humoristisch variieren: Zu Händen und Füßen (Nr.4201, vgl. unten). 3.2.1.2.1. Standesbezeichnung Die Bezeichnungen, die Luther für seine Frau verwendet, sind vielfältig. Am häufigsten finden wir Standesbezeichnungen: neben dem parodierenden Herr: Frau, Hausfrau, Jungfrau / Jungfer. Nicht ein einziges Mal adressiert Luther einen Brief an seine liebe
7
Beispielsweise die schwedische Ausgabe ausgewählter Lutherbriefe: Valda bref af Martin Luther, Stockholm 1910 (ohne Angabe von Herausgeber oder Übersetzer). Eine Neuausgabe mit einer Auswahl und sprachlicher Redigierung, die lediglich eine Modernisierung bedeutete, erschien 2004.
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Frau im Sinne von Ehefrau. Frau war damals in erster Linie noch Standestitel. Als Ehefrau Doktor Luthers, aus (niederem) Adel stammend, hatte Käthe Anspruch darauf. Jungfrau bezeichnete »die junge Herrin, Gebieterin, ohne Rücksicht darauf, ob sie verheiratet oder unverheiratet ist« (Grimm 1878, Sp. 72f.), Jungfer: »Von dem Begriff der jungen Herrin ausgehend [...] ein ehrenvoller Name« (Grimm 1878, Sp. 72f.). Hausfrau war die verantwortliche Gebieterin und Leiterin der häuslichen Wirtschaft und somit ebenfalls ein respektheischender Titel (vgl. Grimm 1878, Sp. 72f.). Durch das Attribut liebe, herzliebe wird die offizielle Anschrift persönlich. Die Bezeichnungen Frau, Jungfrau / Jungfer verwendet Luther ab 1540, nachdem er seinem Schwager das heruntergewirtschaftete kleine Erbgut Zölsdorf abgekauft hatte, dessen Instandsetzung Käthe energisch in Angriff nahm. Er tituliert Käthe untertänig als Gutsherrin, macht sich einen Spaß aus der Kombination Jungfer und Frau sowie dem Kontrast zwischen der hochtrabenden Anschrift und der bescheidenen Wirklichkeit und der Lage des neuen Eigentums am Saumarkt, die Luther weidlich ausnutzt. Sowohl Frau wie Hausfrau kann in ein und derselben Anschrift vorkommen, wobei sich das Attribut anpasst: Zu Frau gehört eine förmlichere, respektvollere Anrede. Der folgende Beleg ist scherzhaft-parodierend, was sich in der Bezeichnung Säumarkterin und in der Abwandlung von zu handen ausdrückt, wo Luther parodierend einen Kniefall vor der gnädigen Frau suggeriert: (4) Meiner lieben haussfrauen Katherin Ludherin, Doctorin, Seumarckterin zu Wittenberg meiner gnedigen frauen zu handen und fussen (Nr. 4201) Luthers Hausfrau Käthe war nicht das, was heute abschätzig als Nur-Hausfrau bezeichnet wird. In der folgenden respektvollen Titulatur, förmlich mit Der beginnend, wird die ganze Spannweite ihrer Kompetenz sichtbar, die nicht nur hauswirtschaftliche Fähigkeiten umfasste, sondern es Luther auch ermöglichte, mit ihr über theologische Dinge zu sprechen. Wie viel an ironischem Augenzwinkern darin enthalten ist, lässt sich schwer sagen. Der Brief enthält einen Gruß an Melanchthon und diskutiert mehrere Bibelstellen und Melanchthons Kommentar: (5) Der Tieffgelereten frauen Katherin Lütherin, meiner gnedigen hausfrauen zu Wittemberg (Nr. 4199, 6.2. 1546) 3.2.1.2.2. Tätigkeiten Respekt und Anerkennung ihrer Tüchtigkeit, das Regiment zu führen in Haus und Garten, und des guten Bieres, das sie zu brauen verstand, rühmte Luther in mehreren Briefen und nahm sie durch Bezeichnungen wie Gärtnerin, Bräuerin in seine Titulaturen auf: (6)
8
Meiner freundlichen lieben Käthen Lutherin, Bräuerin und Richterin8 auf dem Saumarckte zu Wittenberg zuhanden (Nr. 4191, WA Br 11)
Bei Grimm (1878, Sp. 893) wird Richterin wie folgt definiert: »Von Personen, die etwas entscheiden oder beurteilen« (Nr. 4191).
8. Luther und die deutsche Kanzleisprache
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Auch in der folgenden Anschrift kommt die Anerkennung von Käthes Vielseitigkeit deutlich zum Ausdruck: (7) Meiner hertzlieben hausfrauen, Katherin Lutherin, Doctorin, Zülsdorfferin, Säumarckterin, und was sie mehr sein kann (Nr. 4195) 3.2.1.2.3. Liebesbeziehung Im folgenden Beleg beginnt Luther in parodierender Förmlichkeit und Untertänigkeit, um im zweiten Glied mit einer Liebesbeziehung zu enden: (8)
Meiner gnedigen Jungfer katherin lutherin von Bora und Zulsdorff zu Wittembergk, meinem liebchen (Nr. 3512)
Die Mischung zwischen hochtrabendem und intimem Stil wird in der Anrede zielstrebig fortgesetzt: (9)
G.u.f.! Mein liebe Jungfer und frau kethe! Eur gnade sollen wissen, das wir hier (Gott lob) frisch und gesund sind, fressen wie die Behemen [...] (Nr. 3512)
Ähnlich im folgenden Beispiel, das sogar förmlich mit Der anfängt, und scherzhaft auf Käthes Gutsherrinentätigkeit auf dem heruntergewirtschafteten Erbgut Zuhlsdorf anspielt: (10) Der Reichen frauen zu Zulsdorff, frauen Doctorin Katherin Lüdherin, zu Wittemberg leiblich wonhafftig, und zu Zulstorff geistlich wandlend, meinem liebchen, zu Handen. (Nr. 3519) Die von Luther beabsichtigte stilistische Kontrastwirkung zwischen hochtrabender Förmlichkeit und liebevoller Beziehung in bescheidener Wirklichkeit zeigt, wie stark empfängerorientiert, kontaktpflegend und emotionalitätsbetont Luthers Anschrift abgefasst ist. Damit kann sich der Unterschied zwischen Anschrift und Anrede stark verringern. Luther zieht mitunter die Grenze nicht sehr scharf. Im folgenden Beleg nimmt er Elemente der Titulatur, die eigentlich in die Anschrift gehörten, in die den Brieftext beginnende Anrede hinein, andererseits ersetzt er den Namen Katharina, den er üblicherweise der Anschrift vorbehält, mit Käthe: (11)
Meiner hertzlieben Kethe, Doctorin Lutherin etc., frauen auff den [sic!] neuen Saumarckt zu handen. G.u.f.! Liebe Jungfrau Kethe, gnedige fraue von Zulsdorff (und wie E[uer] g[naden] mehr heist)! Ich füge Euch und Eur. g. untertheniglich zu wissen [...] (Nr. 3509)
Eine ungewöhnliche Anschrift und Anrede findet sich in einem der letzten Briefe Luthers, vom 10. Februar 1546 aus Eisleben (Nr. 4203), in dem er Käthe Vorwürfe wegen ihrer (berechtigten!) starken Sorgen um sein Wohlergehen macht und ihr mangelndes Gottvertrauen vorwirft: Sie wolle an Gottes Stelle sorgen. Die vorwurfsvolle Haltung drückt sich bereits im ersten Wort der Titulatur aus, die sich deutlich als Ironie zu erken-
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
nen gibt. Luther beginnt sie nicht mit Meiner lieben..., sondern mit dem unpersönlichen Der..., endet jedoch liebevoll: (12) Der H[eiligen] sorgfeltigen9 Fr[auen] Fr[auen] Kath[erin] Luth[erin], Doctorin, Zulsd[orferin] zu Wit[tenberg], meiner g[nedigen] lieben Hausfrauen. G und F in Christo! Allerheiligeste Frau Doctorin! Wir dancken euch gantz freundlich fur Euer grosse sorge, dafur ir nicht schlaffen kundt [...] Unterschrieben: Euer heiligkeit williger Diener M.L. Diese Anrede ist ohne den Inhalt des Briefes, der ganz in der rhetorischen Tradition des seelsorgerlich-ermahnenden Zuspruches steht (vgl. Stolt 2000, 168ff.), unverständlich. Was die Attribute betrifft, sei noch allgemein darauf hingewiesen, welche emotionale Rolle die so oft vorkommende Wiederkehr von liebe, herzliebe in den Titulaturen und Anreden sowie die zwar nicht so häufigen, aber desto innigeren Bezeichnungen mein (dein) Lieb[i]chen spielen. In aller Kürze, auf dem Hintergrundwissen der »kurialen Schablonen«10 (Meier 2004, 161), das auch bei dem Empfänger vorausgesetzt wird, beleuchten diese Titulierungen die sowohl von warmer Liebe als auch von gegenseitigem Respekt und Humor gekennzeichnete Beziehung zwischen den Ehegatten (vgl. Stolt 2000, 163ff.). 3.2.1.3. Zusammenfassung Die Analyse hat gezeigt, dass die Titulatur den ersten Schritt in der persönlichen Kontaktnahme bildet, den emotionalen Ton anschlägt, empfängerbezogene Hinweise gibt, mit der Anrede nach dem Friedensgruß zusammen zu sehen und von dem übrigen Brieftext nicht abzusondern ist. Textsortenstilistisch steht sie auf der Kommunikationsstufe Schriftlichkeit, die mündlich verlesen werden soll und ist dem offiziellen Textmuster der Kanzlei nachempfunden, das selektiv ausgenutzt bzw. parodiert und im Hintergrund mitgehört wird, während in der Anrede (verschriftlichte) Mündlichkeit vorherrscht. Da es vor allem der zweite Teil der kanzleisprachlichen Titulatur ist, der hier aktualisiert wird, der mit meinem(r) beginnt und die persönliche Beziehung des Schreibers ausdrückt, verringert sich der Unterschied zwischen Anschrift und Anrede und kann bei Luther gelegentlich verschwimmen. Die Gefühlslage zeugt von Hochachtung und wird im Laufe der Jahre zunehmend herzlicher. 3.2.1.4. Exkurs: Stichprobe aus lateinischen Freundesbriefen zum Vergleich Ein Beleg aus Luthers lateinischen Coburg-Briefen während des Reichstags zu Augsburg 1530 soll zeigen, wie effektiv Luther die Attribuierung in der Anschrift zu nutzen weiß, und wie notwendig ihre Beachtung bei der Textanalyse ist. Das freundschaftliche Ver-
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In der Bedeutung von ›sorgenvoll, ängstlich‹. Bei Meier (2004, 161) ist zu lesen: »Er [Luther] schrieb weitgehend ohne kuriale Schablonen, in natürlichem Ton, mit gesprächsnahen Mitteln [...].«
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hältnis zwischen Melanchthon und Luther wurde durch die Geschehnisse einer Zerreißprobe ausgesetzt, was als erste Krise zwischen beiden bezeichnet wird. Melanchthon, der die Verhandlungen zu führen hatte, wurde von schlimmen Sorgen fast verzehrt und bat Luther inständig um Rat und tröstlichen Zuspruch. Luthers Briefe haben die Forschung durch einen herben Ton befremdet (vgl. Stolt 1998). Bereits in der Anschrift im Brief vom 27. Juni 1530 verpackt Luther jedoch eine vielsagende Hochschätzung für den, der sie lesen kann. Auch der darauf folgende Friedensgruß ist nachdrücklich variiert: (13) Philippo Melanchthoni, charissimo Christi discipulo, Christophoro. Gratiam et pacem in Christo, in Christo, inquam, non in mundo, Amen. [...] mi Philippe [...] (WA Br 5, Nr. 1605, 399) ›An Philipp Melanchthon , Christi liebsten Jünger, Christophorus. Gnade und Friede in Christus, in Christus, sage ich, nicht in der Welt! Amen. [...] mein Philipp [...]‹ Indem Luther Melanchthon mit dem Bild des Heiligen Christophers identifiziert, der unter der Bürde des Christkindes fast zusammenbricht, wird in einem einzigen Wort ein Reichtum an Mitgefühl, Hochschätzung und Verständnis der Belastung, der Melanchthon ausgesetzt war, ausgedrückt. Die im Brieftext folgenden Ausführungen sind nur auf diesem Hintergrundakkord zu lesen. Drei Tage später, am 31. Juli, zeugt eine andere Bezeichnung von seinem Mitgefühl und der Hochschätzung des Mitarbeiters / Freundes: (14) M. Philippo, confessori Christi, martyri vero, Melanchthoni, fratri suo charissimo (WA Br 5, Nr. 1668, 516) ›[Luther an] M[agister]Philipp, Christi Bekenner, wahrer Zeuge / Märtyrer, [an] Melanchthon, seinen liebsten Bruder‹ Hier zeigt sich deutlich die kommunikative Aufgabe der Anschrift, die wie eine liebevolle Umarmung im persönlichen Verkehr wirkt. 3.2.1.5. Friedensgruß Der Friedensgruß hat seinen festen Platz in der schrittweisen Kontaktaufnahme vor der direkten Anrede und besteht meist aus den Abkürzungen G. u. F. Er kann auch, wie das nachfolgende Beispiel zeigt, durch zuvor abgegrenzt werden. Er hat nicht nur formelhaften Charakter und Übergangsfunktion: Luther kann ihn erweitern und die persönliche Zugeneigtheit ausdrücken, ihn aber auch polemisch einsetzen. In diesem Material findet sich ein Beleg in einem der letzten Briefe, in dem Luther ergreifend seiner angeschlagenen Gesundheit und Schwäche Ausdruck gibt: (15) Meiner herzlieben Hausfrau, Katherin Lutherin [...] G. u. F. in Christo, und meine alte, arme Liebe, und wie e[uer] G[nade] weiß, unkräftige zuvor. Ich bin sehr schwach gewesen auf dem Weg hart vor Eisleben [...] Unterzeichnet: M. Luth. dein altes Liebichen (Nr. 4195)
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Luther kann ihn sogar polemisch abwandeln. Obwohl dies nicht im eigentlichen Textmaterial vorkommt, soll der Beleg hier angeführt werden. Er entstammt Luthers zornigem Brief an Albrecht von Mainz vom 31. Juli 1535, der von Ute Mennecke behandelt wird, und lautet: Buße und Vergebung der Sünden zuvorn (WA Br 7, Nr. 2215). Durch die Variation der Formel wird der Tenor des ganzen Briefes signalisiert. Zu notieren ist, dass der Friedensgruß trotz seiner Kürze und Stereotypizität in keinem Lutherbrief fehlt! Er scheint in etwa der Funktion der Sympathiegewinnung des Exordiums zu entsprechen. 3.2.2. Hauptteil In dem oben abgedruckten ersten erhaltenen Brief an Käthe lassen sich Narratio und Petitio deutlich erkennen. Luther berichtet in der Narratio vom Marburger Religionsgespräch, eingeleitet mit Wisset, und gibt ihr in der Petitio den Auftrag einer Botschaft an Bugenhagen: Sage dem Herrn Pommer[...]. Wie bereits vermerkt, ist es ein qualifizierter Auftrag, der zeigt, dass sich Käthe – als ehemalige Nonne – an einer auf lateinisch geführten theologischen Diskussion beteiligen konnte. Sie war nicht Nur-Hausfrau. Es folgen noch zwei Aufforderungen, die privater Natur sind und kaum mit der Dignität einer Petitio übereinstimmen: Sage allen gute Nacht und bittet für uns [...] Küßt mir Lensgen und Hänsgen. In den Briefen, in denen Luther Käthe mit meiner gnädigen Frau / Jungfer o. Ä. tituliert, prägt dies oft auch den Hauptteil, indem Käthe mit E.G. angeredet wird. Dabei kann Luther von Abschnitt zu Abschnitt zwischen du und Ihr / Euer Gnaden wechseln. Die Mischung von förmlich-ergeben und alltäglich-familiär bis grob (Saumarkt in doppeltem Sinn) wird offensichtlich gern und geschickt ausgenutzt. Ein besonders ergiebiges Beispiel bietet Nr. 3509 (2. Juli 1540), wo Luther seiner großen Freude über die Genesung Melanchthons nach schwerer Krankheit Ausdruck gibt. Um den engen Zusammenhang zwischen Anschrift, Anrede und Brief zu illustrieren, sei es hier zitiert: (16) Meiner hertzlieben Kethe, Doctorin Lutherin etc., frauen auf den neuen saumarckt zu handen. G.u.f.!Liebe Jungfrau Kethe, gnedige fraue von Zulsdorff (und wie E.g. mehr heist)! Ich füge Euch und Eur g[naden] untertheniglich zu wissen, das mirs hier wol gehet. Ich fresse wie ein beheme und sauffe wie ein deudscher, das sey Gott gedanckt, Amen. Das kompt daher, M. Philipps ist warlich tod gewest und recht wie lasarus vom Tod aufferstanden [...] (Nr. 3509) Im Weiteren schreibt er von der Besetzung einer Pfarrstelle und geht zum Du über: Da magstu auch als eine kluge fraue und doctorin mit M. George Maior und M. Ambrosio helffen zu raten [...], um dann wieder zu wechseln: Ich hab der Kinder briefe [....] kriegt, aber von E. gnade hab ich nichts kriegt. Werdet jtzt auf die vierde schrifft, ob Gott wil, ein mal auch antworten mit eur gnedigen hand. Danach geht das Schreiben im Du zu Ende. Die Hauptteile und -inhalte der Briefe sind mit ihren persönlichen Kommentaren, kurzen Mitteilungen über tagesaktuelles Geschehen, Reiseplänen u. a.m. so spontan all-
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tagssprachlich / mündlich abgefasst als es mit dem Medium der Schriftlichkeit nur möglich war. Dazu sind viele in großer Eile zustande gekommen, wie ja auch dieser Brief vermerkt: der Bote eilet. Dies findet sich häufig in den Coburg-Briefen, in Abschlussformeln: Eilend, der Bote wolt nicht harren, grusse, kusse, [...] (Nr. 1582, 5. Juni 1530), aber auch einleitend nach Friedensgruß und Anrede: [...] Meine liebe Käte! Dieser Bote lief eilend fürüber, das ich nichts mehr schreiben konnte [...] (Nr. 1682, 14. August 1530), und gleich am nächsten Tag: Jetzt kan ich nicht mehr schreiben, weil der bote so wegfertig da sitzt und harret kaume (Nr. 1683, 15. August 1530), ein Schreiben, das alle Anzeichen hastig hingeworfener Kurzmitteilungen trägt. Auf die Briefinhalte kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sei nur hingewiesen auf einen Trostbrief – im damaligen Sinne von ›getrost machen, Mut und Zuversicht einflößen‹ – an Käthe aus Eisleben kurz vor Luthers Tod, der mit allen Mitteln der damaligen Rhetorik abgefasst ist (vgl. Stolt 2000, 167ff.). Luther nutzt u. a. die Doppeldeutigkeit des Wortes sorgen aus: ›für jemand sorgen bzw. sich Sorgen machen um jemand‹: Ich sorge, wo du nicht aufhörest zu sorgen [...] Bete du und lasse Gott sorgen [...] der sorget für dich [...] (Nr. 4203). 3.2.3. Abschließender Teil Der Übergang vom Haupttext zum Abschlussteil kann durch ein formelhaftes Hiermit Gott befohlen markiert werden, braucht es jedoch nicht. Oft fällt Luther danach noch anderes ein: Hie mit Gott befolhen, Amen! Und las die Kinder beten. Es ist alhie solche hitze und durre [...] (Nr. 3512). Die Ortsangabe fehlt häufig. Käthe wusste ja, wo sich Luther befand. Das Datum wird regelmäßig angegeben, auch wenn die Eile des Briefboten besonders betont wird: Der Bote eilete seer. An S. Dorothentag 1546. (Nr. 4199). Auch das Datum kann Luther mitunter humoristisch verwenden. In einem Brief vom 6. Februar 1546 schreibt er aus Halle von der großen Wiedertäuferin Saale, die über die Ufer getreten war und ihn an der Weiterreise nach Eisleben gehindert hatte, so dass er mit seinen Begleitern wieder umkehren musste: An S. Paulus Bekehrungstag, da wir auch uns von der Saala gen Halla kereten. (Nr. 4191). Die Unterschrift kann uns einerseits sehr förmlich anmuten. Luther schreibt nie Dein Martin. Häufig steht lediglich Martinus Luther D., D für Doktor, oft abgekürzt: Mart. Luther D. Jedoch wird der Ton im Laufe der Jahre immer wärmer und der förmliche Name bekommt persönlich-herzliche Attribute. Die Unterschriften sind zusammen mit der Anschrift zu sehen; gemeinsam bilden sie den Rahmen des Schriftstückes. In dem oben zitierten Brief Nr. 2130 vom 29. Juli 1534 aus Dessau, betitelt: Meinem freundlichen, lieben Herrn, Frau Katherin von Bora […], mit der Anrede: Lieber herr kethe, lautet die Unterschrift: Dein liebchen Mart. Luther D. Die Bezeichnungen häufen sich 1540. Der oben zitierte Brief Nr. 3509 vom 2. Juli 1540, dessen Anschrift mit Meiner hertzlieben Kethe beginnt und dann Untertänigkeit und Derbheit mischt, ist unterzeichnet: Martinus Luther. dein hertzliebchen. Ähnlich zwei Wochen später (16. Juli, Nr. 3512), wo bereits die Anschrift, angefangen in steifer Förmlichkeit: Meiner gnedigen Jungfer [...], in Herzlichkeit endet: meinem liebchen, was die Unterschrift wiederholt: Dein Liebchen Martin Luther. Auch ein dritter Brief (26. Juli 1540, Nr. 3519) beginnt förm-
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lich: Der Reichen frauen zu Zulsdorff [...] meinem liebchen zu Handen, unterzeichnet sich entsprechend: Dein liebchen M. Luther D. Auch zwei der letzten Briefe Luthers aus Eisleben im Februar 1546 enden M. Luth. dein altes liebichen (Nr. 4195, 1. Februar 1546) bzw. Dein Liebichen Martinus Luther D. (Nr. 4201, 7. Februar 1546). Niemals jedoch benennt sich Luther dein [lieber] Herr (wie es eine schwedische Übersetzung will), 11 nur Käthe bekommt diesen Titel, und dann kann die Unterschrift heißen: E[uer] williger Diener Martinus Luther (Nr. 1467).
4.
Zusammenfassung
Die Kanzleisprache bildet den festen Bezugspunkt, der nicht nur rhetorisch-stilistische Finessen (Variatio, Wortspiele usw.) sondern auch die standesgemäßen Assoziationen zur Verfügung stellt und konnotiert, auch für die persönlichsten Privatbriefe. Dabei ist es gerade die Titulatur, so häufig gar nicht zum eigentlichen Brieftext gezählt,12 die im kommunikativen Handlungsspiel eine wesentliche Rolle spielt. Die Anschrift ist erster Kontaktpunkt zwischen Sender und Empfänger, die in ihren beiden Teilen das gegenseitige Verhältnis rollenmäßig bestimmt und damit die Distanz festlegt. Ist dies im offiziellen Verkehr festen Regeln unterworfen, bietet der Privatbrief dem Schreiber alle Möglichkeiten, sich parodierend dazu zu verhalten, sie augenzwinkernd abzuwandeln, genüsslich zu mischen, zwischen Distanz und Intimität zu wechseln bzw. sie völlig zu ignorieren. Ihr Schema und ihre rigiden Vorschriften sind im Hintergrundsbewusstsein ständig gegenwärtig. Wir haben gesehen, wie Luther sie der Tageslaune entsprechend auf den Empfänger einstellt und variiert, wie eine – untertänige bis höfliche – Verbeugung, scherzhaft ironisierend, aber auch durchaus respektvoll. Dabei werden alle Nuancen der persönlichen Beziehung durchgespielt, vergleichbar ironischem Kniefall, dankbarer Anerkennung, freundschaftlichem Händedruck, scherzhaftem Schulterklopfen bis liebevoller Umarmung. Alle offiziellen festen Bestandteile der Gliederung finden sich auch in den Privatbriefen und können ausgenutzt und abgewandelt werden. Gliederungsmarkierungen: Friedenswunsch, zuhanden, zuvor, Wisset..., Hiermit Gott befohlen, sowie Datumsangaben haben ihren festen Platz. Die Zueignung in der Unterschrift: Dein... passt sich der einleitenden Titulierung an, sofern sie nicht der Eile zum Opfer fällt. Besonders beachtlich ist die Spannweite in der Kombination von distanzierter Förmlichkeit und intimer persönlicher Nähe und Unmittelbarkeit. Auch auf dem Gebiet des Kanzleistils zeigt sich die Souveränität, mit der Luther über alle Teile der Rhetorik verfügt. Kennzeichnend ist dabei keine kühle Berechnung, sondern sein Fingerspitzengefühl im Umgang mit sowohl den gröbsten als auch den feinsten Nuancen sprachlicher Ausdrucksmittel jedweder Art (vgl. Stolt 2000).
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12
Vgl. die Neuausgabe (2004, 190) einer anonymen Auswahl und Übersetzung von 1910, die die Unterschrift Dein Liebichen in Nr. 4201 vom 7. Februar 1546 mit Din käre herre M.Luther wiedergibt und damit in der heutigen Genderdiskussion ein völlig falsches Signal setzt. In der schwedischen Ausgabe fehlt sie völlig. Dies ist kein Einzelfall.
8. Luther und die deutsche Kanzleisprache
5.
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Quellen
WA = (1883–2009), D. Martin Luthers Werke, kritische Gesamtausgabe, (Weimarer Lutherausgabe), 120 Bände, Weimar.
6.
Literatur
Arndt, Erwin / Brandt, Gisela (1983), Luther und die deutsche Sprache, Leipzig. Besch, Werner (1985), Entstehung und Ausformung der neuhochdeutschen Schriftsprache / Standardsprache, in: Werner Besch / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2), Berlin / New York, 1781–1810. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm (1878, 1893), Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4 / 1878, Bd. 14 / 1893, München. Joachimsohn, Paul (1893), »Aus der Vorgeschichte der Formulare und teutsch rhetorika«, in: ZDA, 37 / 1893, 24–121. Lausberg, Heinrich (1960), Handbuch der literarischen Rhetorik, München. Meier, Jörg (2004), Städtische Kommunikation in der frühen Neuzeit. Historische Soziopragmatik und Historische Textlinguistik, (Deutsche Sprachgeschichte. Texte und Untersuchungen 2), Frankfurt am Main u. a. Nickisch, Reinhard M. G. (1969), Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts, (Palaestra 254), Göttingen. Mennecke, Ute (1983), »Von der Freiheit des Briefeschreibens. Luthers Brief an Albrecht von Mainz vom 31. Juli 1535«, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hrsg.), Martin Luther. Text & Kritik Sonderband, München, 144–156. Stolt, Birgit (1998), »Vorwürfe als Trost? – Zum officium consolandi in Luthers Coburg-Briefen«, in: Theologische Beiträge, 29 / 1998, 270–283. Stolt, Birgit (2000), Martin Luthers Rhetorik des Herzens, (UTB 2141), Tübingen. Stolt, Birgit (1989), »Die problematischen ›Darstellungsarten‹ der Stilistik«, in: Jean Granarolo (Hrsg.), Hommage à Richard Thieberger, Nice, 381–399. Stolt, Birgit (1999), »Luthers Sprache in seinen Briefen an Käthe«, in: Martin Treu (Hrsg.), Katharina von Bora. Die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages, (Ausstellungsband), Wittenberg, 23–32. Stolt, Birgit (1969), Studien zu Luthers Freiheitstrakt, mit besonderer Rücksicht auf das Verhältnis der lateinischen und der deutschen Fassung zu einander und die Stilmittel der Rhetorik, (Stockholmer germanistische Forschungen 6), Stockholm. Stolt, Birgit (1974), Wortkampf. Frühneuhochdeutsche Beispiele zur rhetorischen Praxis, (Stockholmer germanistische Forschungen 13), Frankfurt am Main / Stockholm.
Robert Peters, Münster (Deutschland)
9.
Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel vom Niederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen
1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 6. 6.1. 6.2. 6.3. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Vorbemerkung Die Ursachen Der Ablauf Das Kanzleipersonal Die Kanzlei Das Personal und seine Sprachhaltung Die Syndici Die Sekretäre Der Schreibsprachenwechsel in den einzelnen Kanzleizweigen Das Reichskammergericht und der auswärtige Schriftverkehr Der innere Kanzleibetrieb Die ratsabhängigen Behörden Die Sprache der Ratsherren und der übrigen Bürger Der Verkehr zwischen Bürgern und Rat Die Sprache der Bürger nach anderen Zeugnissen Die zweite Phase des Schreibsprachenwechsels Priorität der Mündlichkeit oder der Schriftlichkeit? Das Drei- bzw. Vierphasenmodell Die Gestalt des Hochdeutschen Der Schreibsprachenwechsel zum Niederländischen Folgen des Schreibsprachenwechsels Literatur
1.
Vorbemerkung
»Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts steht alle deutschsprachige Schriftlichkeit unter dem bestimmenden Prinzip der Regionalität« (Besch 1995, 251). Im 16. Jahrhundert vollzieht sich dann »die größte Sprachumstellung unserer Geschichte« (ebd., 242). Im mittel- und oberdeutschen Raum entsteht eine überregionale hochdeutsche Schriftsprache. Diese breitet sich schon in ihrer Entstehungsphase nach Norden und Westen hin aus und verdrängt u. a. die mittelniederdeutschen Schreibsprachen. Das Niederdeutsche wird in seinen schriftlichen Domänen durch das Hochdeutsche ersetzt. Der Schreibsprachenwechsel setzt um 1500 ein, um 1650 / 1700 ist er beendet. Der Beitritt Norddeutschlands zum Hochdeutschen kann in seiner Bedeutung für die deutsche Sprachgeschichte nicht überschätzt werden. Er war »ausschlaggebend für das weitere Schicksal einer gesamtdeutschen Schriftsprache [...]. Dadurch erweiterte sich das Geltungsareal der […] neuen Schriftsprache in entscheidender Weise [...]« (Besch 1985, 1802). Ohne den Beitritt Norddeutschlands hätte sich die süddeutsche Schreibsprache durchsetzen können.
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Bislang lag der Schwerpunkt der Erforschung des Schreibsprachenwechsels auf den so genannten Rezeptionsarbeiten. Diese untersuchen den Wechsel in einer bestimmten Stadt oder Region, vorzugsweise in den Kanzleien, oder sie behandeln einen bestimmten Bereich innerhalb des gesamten niederdeutschen Sprachraums. Seit dem Beginn der 1980er-Jahre hat das Thema eine neue Karriere erlebt.
2.
Die Ursachen
Die Ausbreitung der neuen hochdeutschen Schriftsprache erfolgt in den Anfängen noch zur Zeit des schriftsprachlichen Ausgleichsprozesses. Der ostmitteldeutsch-ostoberdeutsche Raum ist das Zentrum einer schreibsprachlichen Expansion nach Norden, Westen und Südwesten. Die Ursachen der Ausbreitung des Hochdeutschen liegen also nicht so sehr in spezifisch niederdeutschen, westmitteldeutschen oder westoberdeutschen Verhältnissen, sondern vor allem in der Expansionskraft des Ostmittel-/ Ostoberdeutschen. Mit der Expansionskraft korrespondiert auf niederdeutscher Seite die Aufnahmebereitschaft der neuen Schriftsprache. In den Rezeptionsarbeiten werden verschiedene Ursachen des Schreibsprachenwechsels genannt. Sie sind in der Abhängigkeit der schreibsprachlichen Entwicklung vom politischen und juristischen, in geringerem Maße auch vom kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Umbruch der Zeit um und nach 1500 zu suchen, im Machtzuwachs der Territorialstaaten, der Einführung des römischen Rechts und des Reichskammergerichts, dem Humanismus, der Reformation und dem Machtverlust der Hanse. Im 15. und 16. Jahrhundert können die Landesherren ihre Macht auf Kosten der Städte ausweiten. Die Zunahme ihrer politischen Macht lässt die Fürsten zur sprachbestimmenden Gruppe werden (vgl. Peters 1998, 122). Die Sprache der norddeutschen Höfe ist geprägt durch dynastische Verbindungen mit dem Süden. Die Fürsten sind kulturell und sprachlich nach Süden hin ausgerichtet. Die Veränderung der kulturellen Ausrichtung wirkt auf die Sprachbewertung. Hochdeutsche Kultur und Sprache genießen ein höheres Prestige als das Niederdeutsche. So ist der Schreibsprachenwechsel zum Hochdeutschen in seinem Anfangsstadium vor allem im Zusammenhang mit dem Hof und weniger mit der Stadt zu sehen. Die Wertschätzung des feineren und eleganteren Hochdeutschen führte zu einem Prestigeverlust des Niederdeutschen. Die »Fremd-Orientierung« (Hoffmann 2000, 134) hat wohl an den Fürstenhöfen eingesetzt, erfasste dann die Kreise der Juristen und Humanisten und schließlich – mit beträchtlicher Zeitverzögerung – die städtischen Oberschichten. Von großer Bedeutung sind die schreibsprachlichen Verhältnisse in Brandenburg. Mit den Hohenzollern erhält 1451 der kurfürstliche Hof und damit die Verwaltung eine feste Residenz in Cölln. Die Schreibsprache der kurfürstlichen Kanzlei ist hochdeutsch. »Die Kanzleibeamten waren alle Hochdeutsche, die brandenburgische Kanzlei ging zunächst ganz in den Bahnen der fränkischen« (Lasch 1910, 33). »Später sind es u. a. Töchter von Brandenburger Fürsten, die das Hd. an anderen Höfen des nd. Raumes fördern, so in Calenberg-Göttingen und in Mecklenburg« (Bichel 1985, 1866). Die landesherrlichen Verwaltungen gehen früh zum Hochdeutschen über. Aus der herzoglichen Kanzlei Mecklenburgs liegen schon einige hochdeutsche Urkunden von
9. Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel
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1493, dem Amtsantritt des aus Nürnberg stammenden Kanzlers Dr. Grunwald (1493– 1501), vor (vgl. Steinmann I, 220ff.). Unter seiner Leitung geht die herzogliche Kanzlei bereits zu Anfang des 16. Jahrhunderts zum Hochdeutschen über. Um diese Zeit ist jedoch der Gebrauch des Hd. in Mecklenburg noch so ungewöhnlich, daß die Rostocker das ›Hochdudesch‹ Dr. Grunwalds nicht verstehen können und den Herzog bitten, statt des Kanzlers ihnen einen Einheimischen, der mit ihnen ›in der sprake concordert‹ sei, zu Verhandlungen zu schicken. Grunwalds hd. Konzepte werden fortan von den Sekretären in nd. Form abgefaßt. (Gabrielsson 1983, 131)
Aber seinen mitteldeutschen Nachfolgern gelingt bereits der Durchbruch. Von 1517 an überwiegen die hochdeutschen Schreiben der herzoglichen Kanzlei an Rostock. Die Landesherren und ihre Kanzleien bevorzugen das Hochdeutsche, weil diese Sprache bei ihnen ein höheres Prestige genießt als das Niederdeutsche, weil die kurfürstliche Kanzlei Brandenburgs hochdeutsch schreibt, wegen ihrer dynastischen Verbindungen mit dem Süden und aus politischen und juristischen Gründen. Diese werden im Folgenden erörtert. Die Professionalisierung der Rechtsprechung erfolgte auf der Grundlage des römischen Rechts (vgl. Lehmberg 1999, 371). Die Institutionalisierung des römischen Rechts wird 1495 auf dem Reichstag zu Worms mit der Gründung des Reichskammergerichts beschlossen. Dieses befand sich seit 1527 in Speyer. Nach seiner Gründung wird das Gericht auch für die Städte Norddeutschlands nach und nach zur obersten Appellationsinstanz (vgl. Lehmberg 1999, 93). Im Schriftverkehr mit dem neuen Gericht verspricht der Einsatz des Niederdeutschen nur geringen Erfolg. Zwischen den norddeutschen Territorien und Städten scheint darüber Einigkeit geherrscht zu haben, dass das Niederdeutsche als Kommunikationsmittel mit dem Reichskammergericht nicht ausreiche. In der Regel gehen die ersten hochdeutschen Schreiben an das Reichskammergericht, so in Lübeck (1498), Rostock (1529) und Münster (1529). Da das Verfahren nun in der Hand von Juristen liegt, sind Fürsten und Städte auf Juristen mit hochdeutscher Sprachkompetenz angewiesen. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert befinden sich die meisten Universitäten, an denen auch die Juristen niederdeutscher Herkunft ausgebildet werden, im hochdeutschen Sprachraum. Das Hochdeutsche bzw. die hochdeutsche Rechtssprache ist zunächst Fachsprache der in Recht und Verwaltung tätigen Juristen und Kanzlisten (vgl. Lehmberg 1999, 375). An den im Süden des Reichs, in den großen Reichsstädten, stattfindenden Reichstagen nehmen die norddeutschen Reichsstände aktiv teil. »Dorthin entsenden sie ihre bereits wohl einer hochdeutschen Varietät zumindest zum Teil kundigen Gesandten, um wortwörtlich ein (hochdeutsches) Wörtchen mitreden zu können« (Nagel 2008, 46). 1531 entsteht der protestantische Schmalkaldische Bund, dem auch lutherische norddeutsche Fürsten und Städte angehören – die ersten beitretenden Städte sind Bremen und Magdeburg. »Durch die Mitgliedschaft ergaben sich vielfältige Kontakte in den mdt. und auch obdt. Raum, eine umfangreiche Korrespondenz und vor allem ein erheblicher Kontakt mit römischrechtlichen Verfahrensweisen fand statt« (Lehmberg 1999, 375). Ob und inwieweit auch der Machtverlust der Hanse, der durch die Handelskonkurrenz der niederländischen und oberdeutschen Städte sowie durch den Machtzuwachs der Lan-
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
desfürsten bedingt war, eine Ursache für den Schreibsprachenwechsel ist, ist kaum zu entscheiden. Innerhalb des beschriebenen Ursachenbündels sind das Sprachverhalten und -bewusstsein im Umfeld der Fürsten, die kommunikativen Notwendigkeiten der Fürsten und Städte im Verkehr mit den Institutionen des Reichs sowie in Sprachsituationen, an denen zunehmend Nichtniederdeutsche beteiligt sind, von besonderer Bedeutung. Die norddeutschen Territorien und Städte sind in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in ein hochdeutschsprachiges Kommunikationsgeflecht eingebunden. Für die norddeutschen Kanzleien, Juristen und Diplomaten und ihre Schreiber wurde die Beherrschung des Hochdeutschen – in Wort und in Schrift – zwingend erforderlich (vgl. Peters 1998, 123; 2003, 158). »Der Norden brauchte das Hochdeutsche, der Süden aber nicht das Niederdeutsche« (Nagel 2008, 46).
3.
Der Ablauf
Gabrielsson (1983, 149) hat auf Grund der Rezeptionsarbeiten eine Übersichtskarte vorgelegt, auf der gezeigt wird, wann der Übergang zum Hochdeutschen in den Städten stattgefunden hat:
Abb. 1: Überblickskarte (Gabrielsson 1983, 149) Die Jahreszahl vor dem Rechteck bedeutet den Beginn der Aufnahme des Hd. [...], die Zahl hinter dem Rechteck den endgültigen Abschluß des Ablösungsprozesses. Von den beiden Zahlen im Rechteck stellt die erste den Abschluß im auswärtigen, die zweite denjenigen im inneren Kanzleibetrieb dar. (Gabrielsson 1983, 149)
9. Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel
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Eine weitere Karte (Gabrielsson 1983, 148) veranschaulicht »die Stoßrichtung der ostmd. Schriftsprache aus dem osächs. Kultur- und Wirtschaftsraum um Leipzig – Meißen – Wittenberg nach Norden und Nordwesten« (ebd., 147). Das südliche Elbostfalen war schon im späten Mittelalter zum Hochdeutschen übergegangen: Die Merseburger Urkunden sind seit 1350, die Mansfelder seit 1370, die Zerbster und Dessauer seit etwa 1400 hd. In Halle hören die nd. Eintragungen der Schöffenbücher 1417 auf, in Eisleben ist noch 1430 auf dem Amt nd. geschrieben worden, und ähnlich liegen die Dinge in Wittenberg. (Gabrielsson 1983, 137)
Der Sprachenwechsel erfolgt zuerst in der Schrift, dann auch im mündlichen Sprachgebrauch. Auch um 1500 ist der Südosten das Einfallstor für das Hochdeutsche. Gabrielsson unterscheidet auf seiner Karte nach der zeitlichen Abfolge drei Zonen. Zone I umfasst die Mark Brandenburg und das nördliche Elbostfalen (Magdeburg), dazu Danzig und das südostfälische Goslar. Am frühesten vollzieht sich der Wechsel in der Mark Brandenburg. Hof und Kanzlei der Hohenzollern sind schon seit der Mitte des 15. Jahrhunderts hochdeutschsprachig. Die Berliner Stadtkanzlei folgt 1504, Brandenburg 1515–1525, Cölln bei Berlin 1527. Hier ist der Übergang in den Kanzleien bis 1570, in Brandenburg wesentlich früher, abgeschlossen. Zu Zone II gehören die Städte an der Ostseeküste und das kernostfälische Gebiet. Hier ist bis 1570 nur der auswärtige Kanzleiverkehr hd. geworden [...], während der Innendienst noch bis um die Jahrhundertwende nd. bleibt und die Aufnahme des Hd. insgesamt erst zwischen 1620 und 1650 zum Abschluß kommt. (Gabrielsson 1983, 147)
Zone III umfasst Westfalen und den nordniedersächsischen Raum um Bremen, Hamburg, Lübeck. In den Kanzleien der Stadt Münster vollzieht sich der Schreibsprachenwechsel etwa 15 bis 20 Jahre früher als in den anderen westfälischen Städten, nur etwas später als in den Kanzleien der Stadt Köln. Die frühe Aufnahme des Hochdeutschen in Münster kann als Übernahme der Kölner Neuerung erklärt werden. Nach dem Einsetzen des Sprachenwechsels in Münster bildet diese Stadt eine Zeitlang eine Insel, auf der die Übernahme des Hochdeutschen bereits erfolgt, bis dann die Neuerung von der Umgebung, den anderen westfälischen Städten, aufgenommen wird (vgl. Peters 1994, XIIIf.).1 In den nordniedersächsischen Städten findet der Wechsel im auswärtigen Schriftverkehr in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts statt. Im inneren Kanzleibetrieb erfolgt der Wechsel in Hamburg nach 1610, die Sprache der Ratsherren bleibt bis ins dritte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts niederdeutsch (vgl. Gabrielsson 1983, 141).2 »In Lübeck, Hamburg und Bremen erfolgt der endgültige Abschluß der Rezeption um 1650 bzw. kurz danach, in den entlegeneren Gebieten Ostfrieslands und in Bergen kurz vor 1700« (ebd., 150).
1 2
Vgl. zu Münster den Artikel 22 von Peters »Die Kanzleisprache Münsters«. Vgl. zu Lübeck den Artikel 23 von Peters »Die Kanzleisprache Lübecks«.
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Die Kanzleien Norddeutschlands gehen zumeist zwischen 1540 und 1560 zum Hochdeutschen über. Gabrielsson (vgl. 1932 / 33, 6) stellt den Schreibsprachenwechsel in den verschiedenen Domänen dar; Ergebnis ist das so genannte »Sickermodell«. Der Wechsel erfasst zuerst die Amtssprache: Die Kanzleien der Fürsten gehen voran, ihnen folgen die städtischen Kanzleien, die zunächst im Schriftverkehr mit mittel- und süddeutschen, bald auch mit norddeutschen Fürsten und Städten, schließlich auch im inneren Kanzleiverkehr, in der Verwaltung der Stadt, die neue Sprache verwenden. Fast gleichzeitig ist in den meisten Städten der Beginn des Übergangs in der Gerichtssprache zu beobachten, bald darauf begegnen wir den ersten hd. Privaturkunden: Schuldverträgen, Kaufbriefen und Testamenten. Am längsten aber hält sich das Nd. dort, wo man Rücksicht zu nehmen hat auf die ›schlichten vnd eynfoldighen Lüde‹ und auf die ›anfangenden schölers‹, d. h. in Kirche und Schule. (Gabrielsson 1932 / 33,6)
Der Ablösungsprozess geht in den verschiedenen Lebensbereichen phasenverschoben vor sich, er vollzieht sich funktional und sozial von oben nach unten: Deutlich zeichnet sich das Fortschreiten des Hd.-Gebrauchs von den offiziell geprägten Domänen zu den privateren ab: vom Politischen über das Privatrechtliche zum Privaten. Gleichzeitig läßt sich eine soziale Stufenfolge ablesen: vom Fürsten über den Bürger zum einfachen Volk (Bichel 1985, 1866),
d. h. von den Ober- über die Mittel- zu den Unterschichten. Ebenso geht der Weg von der Schriftsprache zur Sprechsprache.
4.
Das Kanzleipersonal
4.1.
Die Kanzlei
Die Sekretäre bzw. Schreiber können sich in den verschiedenen Kanzleizweigen und Schreibsituationen sprachlich unterschiedlich verhalten. In den Einzelheiten des Wechsels spielen natürlich lokale Besonderheiten eine Rolle; der Sprachenwechsel ist in der Regel abhängig vom Wechsel im Amt des Kanzleileiters oder des Schreibers. »Beim Wechsel zu einem einheimischen Schreiber kann es durchaus zu einem zeitweiligen Rückfall in die niederdeutsche Schreibsprache kommen« (Peters 1994, XIII). 4.2
Das Personal und seine Sprachhaltung
Träger des Wechsels, die Innovatoren (vgl. Denkler 2007, 445), sind die Beamten (Syndici, Sekretäre) und die gelehrten Ratsherren. »Solange es für den hd. Schriftverkehr in fürstlichen und städtischen Kanzleien an sprachlich versierten Niederdeutschen fehlt, werden vielfach md. oder obd. Kanzler und Sekretäre berufen« (Gabrielsson 1983, 124). Es ist eine aktive hochdeutsche Sprachkompetenz nötig, um die zum Hochdeutschen wechselnde auswärtige Korrespondenz zu führen.
9. Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel
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4.2.1. Die Syndici Die Syndici gehören der Kanzlei nicht an, sie üben aber auf die Arbeit der Kanzlei einen beachtlichen Einfluss aus (vgl. Dahl 1960, 31). Auf sie trifft zu, was Markus Denkler über die Innovatoren sagt, dass sie »relativ ungebunden von Gruppennormen und traditionellen Mustern agieren können« (Denkler 2007, 445). Heinsohn (1933, 73) stellt fest, »daß sich die neue hochdeutsche Sprache bei den Syndicis der Stadt Lübeck am frühesten durchsetzt.« 4.2.2.
Die Sekretäre
Für den Fortgang des Schreibsprachenwechsels sind die Sekretäre von großer Bedeutung. Sie diktieren oder verfassen die Mehrzahl der Konzepte, die dann von den Schreibern in Reinschrift ausgefertigt werden. Die Sekretäre hochdeutscher Herkunft und die Niederdeutschen, die an einer hochdeutschen Universität studiert haben, machen den Wechsel im Bereich der Amtssprache möglich. Heinsohn zeigt am Beispiel des Lübeckers Lambertus Becker, wie ein Sekretär vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen übergeht. Die Sprache Beckers ist zwischen 1530 und 1552 aus verschiedenen Kanzleibereichen bekannt. Das Niederstadtbuch-Konzept führt er niederdeutsch. 1531 schreibt er hochdeutsch an einen Nürnberger Bürger. Das Hochdeutsche bereitet ihm noch große Schwierigkeiten. Den Briefverkehr mit dem Reichskammergericht beginnt Becker 1530 in niederdeutscher Sprache. 1531 schreibt er eine niederdeutsch-hochdeutsche Mischsprache. In der Zeit von 1531 bis 1551 ist seine Sprache in diesem Zweig das Hochdeutsche, von wenigen niederdeutschen Einzelwörtern durchsetzt. Der hochdeutsche Empfänger und die Autorität des Kammergerichts verursachen schon um 1530 die Hinwendung des Sekretärs Becker zum Hochdeutschen (vgl. Heinsohn 1933, 76). In Münster ist aus dem Jahre 1542 ein hochdeutsches Konzept mit dem Adressenvermerk desselben Schreibers erhalten: »Dusser breve dre to schrieven, eyn an Rom. Kon. Majestat, de ander an Key. Matt. Commissarien, de derde an de stende des rychs, mut. mut.« (Brox 1994, 17). Der Schreiber verwendet für seinen eigenen Gebrauch das Niederdeutsche; das Hochdeutsche des Textes ist dem Diktierenden geschuldet.
5.
Der Schreibsprachenwechsel in den einzelnen Kanzleizweigen
5.1.
Das Reichskammergericht und der auswärtige Schriftverkehr
Zuerst gehen der Schriftverkehr mit dem Reichskammergericht und die auswärtige Korrespondenz zum Hochdeutschen über. Den Anstoß zum Wechsel geben Briefe der kaiserlichen Kanzlei und des Reichskammergerichts. Folgende Abstufungen sind zu erkennen: Schreiben an das Reichskammergericht zu Speyer, an Adressaten im hochdeutschen Sprachgebiet, an die Landesherren, an Adressaten im niederdeutschen Sprachgebiet (vgl. Dahl 1960, 82ff.). Das erste hochdeutsche Schreiben aus einer Kanzlei geht meist an das Reichskammergericht. Die Kanzleien schreiben früh hochdeutsch an das Reichskam-
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
mergericht in Speyer, um dort richtig verstanden zu werden. Als zweite Gruppe beim Übergang zum Hochdeutschen folgt die auswärtige Korrespondenz, zuerst die an Adressaten im hochdeutschen Sprachgebiet. Hochdeutsche Schreiben der kaiserlichen Kanzlei rufen früh hochdeutsche Antworten hervor. In der Zeit des Wechsels ist die Sprachwahl adressatenorientiert; die Schreibsprache wird bewusst gewählt. So findet sich auf einem hochdeutschen Konzept aus der fürstbischöflichen Kanzlei Münster an den Herzog von Kleve vom Jahre 1556 die Bemerkung: »Dit conzept up westfelisch tho ingrosseren« (Brox 1994, 18). Der Schreiber soll also bei der Ausfertigung des Originals die Sprache wechseln: an den Kaiser hochdeutsch, in die Region niederdeutsch. Auch die Göttinger Kanzlei orientiert sich an der Sprache des Empfängers. Es ergibt sich das »Bild einer differenzierten Sprachverwendung« (Lehmberg 1999, 273) von hochdeutschen Schreiben an den eigenen Landesherren und niederdeutschen an die Städte des niederdeutschen Sprachgebiets. Es scheint nach 1500 ein Gefälle zwischen der niederdeutschen und der hochdeutschen Sprache entstanden zu sein, auf Grund dessen man sich bemühte, an den Kaiser sowie an mittel- und oberdeutsche Fürsten und Städte in hochdeutscher Sprache zu schreiben (vgl. Lehmberg 1999, 153ff.). Zeitverschoben erfolgt dann der Wechsel auch in der Korrespondenz mit den städtischen Kanzleien des niederdeutschen Sprachgebiets. 5.2.
Der innere Kanzleibetrieb
Im inneren Kanzleidienst hält sich das Niederdeutsche länger. Der Übergang zum Hochdeutschen beginnt in Göttingen nach 1545, in den Gerichts- und Stadtratsprotokollen erfolgt er 1585–90, er endet zwischen 1590 und 1600 (vgl. Lehmberg 1999, 266). In Rostock erfolgt der Übergang 1571–1573, nur die Grundbücher gehen erst 1598 zum Hochdeutschen über (vgl. Dahl 1960, 107). In Lüneburg ist der Abschluss gegen 1600, in Hamburg um 1620 erreicht. In Lübeck erfolgt der Wechsel im Niederstadtbuch 1590 / 91. Letzte niederdeutsche Eintragungen enden 1615 (vgl. Heinsohn 1933, 182). Das Oberstadtbuch behält das Niederdeutsche noch zwei Jahrhunderte länger, bis zum Jahre 1809, bei (vgl. ebd., 182). Es kann unterschieden werden zwischen Texten, die weniger an traditionelle Formen gebunden sind, und der amtlichen Buchführung, einem stark traditionsorientierten Bereich. Das Hochdeutsche findet sich in den Protokollen früher als in der amtlichen Buchführung, und die Sprache des gleichen Schreibers weicht in Protokollen und Stadtbüchern voneinander ab (vgl. Heinsohn 1933, 184). Als die kanzleiinterne Schreibsprache bereits das Hochdeutsche ist, ist anfangs weiterhin das Niederdeutsche die gesprochene Sprache der Ratssitzungen, »so daß der jeweilige Schreiber nahezu eine Übersetzung des Gehörten vornehmen mußte, um hdt. protokollieren zu können« (Lehmberg 1999, 253). Die gesprochene Sprache bleibt nicht ohne Einfluss auf die Niederschrift des Sekretärs / Schreibers. Dies kann für Lübeck bei den Marstall- und den Stadtbuchprotokollen nachgewiesen werden, »in denen der Sekretär abwechselnd nd. und hd. protokolliert, je nach dem Sprachenwechsel in den Aussagen des Klägers bzw. Beklagten« (Heinsohn 1933, 185).
9. Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel
5.3.
109
Die ratsabhängigen Behörden
Die Schriftlichkeit der Ratsämter – vor allem Rechnungen – verdankt ihre Sprachform in der Hauptsache den Ratsherren, die mit den Ämtern betraut sind. In Lübeck beginnt der Übergang im Jahre 1593, er endet erst um 1630 / 40 (vgl. Heinsohn 1933, 181). Die Ratsherren bleiben also länger beim Niederdeutschen als die Kanzleien. Sie nehmen die neue Sprache erst nach den Kanzleibeamten auf. Innerhalb der städtischen Bevölkerung bilden sie aber die kulturelle Oberschicht, die das Vorbild für die übrigen Schichten wird. Die Kanzlei ist die Institution, in der die neue Schriftsprache zuerst Fuß fasst und in der sie sich zuerst durchsetzt. Die Kanzleien sind »die ersten Einbruchstellen für das Hochdeutsche« (Schulte Kemminghausen 1939, 6). Der Übergang in der Kanzlei bildet die erste Phase des Schreibsprachenwechsels. Durch ihn verliert das Mittelniederdeutsche seine Funktion als amtliche Sprache.
6.
Die Sprache der Ratsherren und der übrigen Bürger
Die Sprache der Ratsherren in den Rechnungen der ratsabhängigen Behörden bleibt länger niederdeutsch als die der Kanzlei (vgl. Kapitel 5.3.). Auch nach dem Wechsel im inneren Kanzleibetrieb bleibt das Niederdeutsche die gesprochene Sprache der Ratssitzungen. Heinsohn beobachtet, dass die Sentenz des Lübecker Rates in den Protokollen auch der hochdeutschen Schreiber auf Niederdeutsch wiedergegeben wird (vgl. Heinsohn 1933, 34). Für Rostock bemerkt Dahl: »Noch in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts war der Sprachgebrauch der Bürger auch vor dem Rat nd.« (Dahl 1960, 114). 6.1.
Der Verkehr zwischen Bürgern und Rat
Auf Druck von Wismar, Rostock und Stralsund beauftragte der Rat von Lübeck eine Kommission mit der Revision des Stadtrechts. 1586 wird das Revidierte Stadtrecht in hochdeutscher Sprache publiziert (vgl. Teske 1931). Damit ist das Hochdeutsche Sprache des lübischen Rechts geworden. In Rostock sind die Burspraken bis 1603 niederdeutsch (vgl. Dahl 1960, 117), in Hamburg bis 1614 (vgl. Gabrielsson 1983, 132). In Lübeck sind sie bis 1631 auf Niederdeutsch geschrieben, das erste hochdeutsche Formular stammt von 1634 (vgl. Heinsohn 1933, 43). In Emden sind die Burspraken bis 1650 niederdeutsch (vgl. Gabrielsson 1983, 132). 6.2.
Die Sprache der Bürger nach anderen Zeugnissen
Die Testamente sind in Lübeck von öffentlichen Notaren ausgefertigt, die gleichzeitig als Substitute in der Lübecker Kanzlei tätig sind. Die Substitute, die seit 1560 / 70 teilweise hochdeutsch schreiben müssen, verwenden in den Testamenten vorwiegend die Sprache der antragstellenden Personen, und die ist bis etwa 1600 das Niederdeutsche.
110
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
In Rostock »geht das Bürgertum allgemein erst mehrere Jahrzehnte später als die Stadtkanzlei zur neuen Schriftsprache über« (Dahl 1960, 169), und zwar in einem »langsame[n], über ein halbes Jahrhundert sich erstreckende[n] Übergang, dessen Ende etwa im dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts liegt« (ebd., 151). 6.3.
Die zweite Phase des Schreibsprachenwechsels
Die zweite Phase des Schreibsprachenwechsels erfolgt in der Zeit zwischen 1580 / 90 und ca. 1650. Sie umfasst die klientennahen Bereiche des Kanzleiwesens, die niedere Gerichtsbarkeit, die Schriftlichkeit der Gilden, Schule, Kirche und Buchdruck sowie das private Schrifttum. Diese zweite Phase gehört nicht zum Thema des Beitrags, nur einige Bemerkungen seien erlaubt. Erst seit 1674 wird in Oldenburg das Gildebuch der Schiffergesellschaft auf Hochdeutsch geführt, und in Emden bleiben mehrere Zunftbücher bis in das Jahr 1700 niederdeutsch (vgl. Gabrielsson 1983, 133). Daß die Bürger […] sehr viel länger als die Berufsschreiber die nd. Schreibsprache beibehalten, hängt natürlich damit zusammen, daß sie in der Schule noch nicht hd. schreiben gelernt haben. Dem sprachlichen Übergang in der Schule kommt deshalb eine entscheidende Rolle zu. (ebd., 133)
Größtenteils erst nach 1600 gehen die Unterrichtssprache und die Sprache der Schulbücher zum Hochdeutschen über. Auch die Sprache der Predigt wird meist erst nach 1600 hochdeutsch.
7.
Priorität der Mündlichkeit oder der Schriftlichkeit?
Herkömmlich wird angenommen, beim Sprachenwechsel habe man es »zunächst mit einem vornehmlich schreibsprachlichen Prozess zu tun« (Denkler 2008, 22). Vor einigen Jahren ist die Annahme vertreten worden, der Sprachenwechsel vom Mittelniederdeutschen zum Hochdeutschen habe zunächst im Bereich der gesprochenen Sprache stattgefunden. Die städtischen Oberschichten seien im 16. Jahrhundert in der Sprechsprache zum Hochdeutschen bzw. zu einer stark von diesem beeinflussten Ausgleichssprache übergegangen. Als Folge sei dann der schriftliche Verkehr auf Hochdeutsch umgestellt worden (vgl. Mihm 1999; 2003). Arend Mihm geht also von einer »Priorität des Gesprochenen« (Mihm 1999, 74) aus. Aus den bisherigen Untersuchungen zum Schreibsprachenwechsel geht aber deutlich hervor, dass dieser zuerst in den Kanzleien erfolgt. In der Zeit nach dem Wechsel in der Kanzlei ist die Sprache der städtischen Oberschichten, und das sind insbesondere die Ratsherren, noch niederdeutsch (vgl. Heinsohn 1933, 36). Zwischen dem Wechsel in der Kanzlei und dem der Ratsherren liegen in der Regel einige Jahrzehnte. Ein Beispiel aus Münster erweist die mangelnde Hochdeutsch-Kompetenz der Ratsherren im Jahre 1533. Der schwäbische Laienprediger Melchior Hoffman ist ein früher Repräsentant des Täufertums. Im Mai 1533 wird er in Straßburg verhaftet; auf einer Synode der Straßburger Prediger muss er sich theologisch verantworten. Martin Bucer
9. Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel
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schreibt eine Widerlegung der Hoffmanschen Thesen, die 1533 in Straßburg im Druck erscheint. Die münsterische Stadtobrigkeit will Bucers Widerlegungsschrift zur Kenntnis nehmen, hat aber wohl Schwierigkeiten mit dem Straßburger Hochdeutsch, daher lässt sie den Text in das münsterische Niederdeutsch übersetzen (vgl. Besch 1995). Die Tatsache, dass der Bucer-Text in Münster ins Niederdeutsche übersetzt werden musste, zeigt, dass in der politischen Führungsschicht der Stadt 1533 noch keine ausreichende Verstehenskompetenz, geschweige denn eine ausreichende Sprechkompetenz im Hochdeutschen vorhanden ist. Fischer (2000, 110) hat gezeigt, dass auch in höchsten Patrizierkreisen und sogar im Umgang mit Auswärtigen in Soest im 16. Jahrhundert selbstverständlich die niederdeutsche Mundart verwendet wurde. Der Sprechsprachenwechsel der Oberschichten findet erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Am herkömmlichen »Modell eines zweistufigen Sprachwechsels mit Vorangehen der Schriftsprache« (Fischer 2000, 113) ist festzuhalten. Allerdings ist mit Fischer (ebd.) für die Schicht der studierten Juristen und Diplomaten »von einer relativ gut ausgebildeten Zwei- oder Mehrsprachigkeit auch im Bereich der gesprochenen Sprache auszugehen«, jedoch zur Zeit des Wechsels in der Kanzlei nicht für die städtischen Oberschichten, die Ratsherren. Die Juristen und Diplomaten der Landesherren und der Städte sind entweder hochdeutscher Herkunft oder sie haben das Hochdeutsche während des Studiums oder im direkten mündlichen Kontakt mit der Sprache der mittel- und oberdeutschen Städte gelernt (vgl. Maas 1983, 124). Für diese Gruppe ist für schriftliche und mündliche Verhandlungen geschriebene und gesprochene Kompetenz im Hochdeutschen erforderlich. So sind von der Hand des Syndikus der Stadt Münster, Dr. Johann van der Wyck, niederdeutsche, hochdeutsche und lateinische Schriftstücke überliefert, er wählte seine Schreibsprache bewusst (vgl. Nagel 2002, 88). Am Beispiel van der Wycks zeigt sich, dass für einen Politiker und Diplomaten der Stadt die Beherrschung des Hochdeutschen unerlässlich geworden war.
8.
Das Drei- bzw. Vierphasenmodell
Es zeigt sich, dass bestimmte Merkmale der neuen Sprache eher als andere übernommen worden sind (vgl. Fischer 1998, 205). Zur linguistischen Beschreibung des Sprachwechselprozesses hat Gabrielsson (1983, 126ff.) das Dreiphasenmodell vorgestellt. Es liefert eine zeitliche Gliederung der Übernahme der sprachlichen Merkmale. Die drei Phasen sind – zeitverschoben nach gesellschaftlichen Gruppen und Domänen – immer wieder anzutreffen. »Die erste Phase bewahrt den nd. Grundcharakter der Schriftsprache, weist aber aus dem Bestreben des nd. Schreibers, sich der neuen Mode anzupassen, eine Reihe von hd. Eindringlingen auf« (Gabrielsson 1983, 127), oft gebrauchte Kleinwörter, Titel und Anreden, Kanzlei- und Rechtswörter. Im Allgemeinen »werden keine Lautgesetze übernommen, sondern was zunächst durchdringt, sind einzelne hd. Formen« (Dahl 1960, 199). Die zweite Phase, die eigentliche Übergangszeit, zeigt das Bemühen niederdeutsch sprechender Personen, niederdeutsche Sprachformen nach bereits bekannten Gleichun-
112
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
gen zu verhochdeutschen. In dieser Phase, in der ein hochdeutscher Text beabsichtigt ist, kommt es zu mischsprachlichen Texten (Missingsch). Es kommt zu Hyperkorrektionen und zu hybriden Formen. Zwei Beispiele seien angeführt: In dem Rechenboich des Dortmunder Rektors Friedrich Beurhaus steht in der Eintragung von 1595: »Ein groiß Bruidwein gehalten […] dreihundert Reichsdaler zu Brutschatte angewyst« (Schulte Kemminghausen 1930, 15–20). In einem Bittbrief der Hempe Mestmaker an den Rat der Stadt Osnabrück vom Jahre 1622 heißt es über ihren Mann: »vnd den Abendt Vmb mitter nachtt, tag vor tagk, thaun vnd vull ein kúmptt« (Maas 1988, 117). In der dritten Phase ist der Grundcharakter der Sprache bereits hochdeutsch, sie weist noch eine Reihe von niederdeutschen Resten auf. So sind die Zweite Lautverschiebung und die Neuhochdeutsche Diphthongierung durchgeführt. In einem Soester Ratsprotokoll von 1595 ist von außergewöhnlich späten und starken Schneefällen die Rede: »Anno 1595 Montag nächst Judica hat es gegen Abend angefangen zu schniggen, welches die ganze Nacht, den folgenden Dienstag und sunsten weiters etliche Zeit continuirt« (Fischer 1995, 534). Teile des niederdeutschen Wortschatzes haben sich in sonst schon rein hochdeutscher Umgebung am längsten gehalten, so Orts- und Flurnamen, Berufsbezeichnungen, Straßennamen, so in Münster Spiekerhof, Drubbel, Verspoel, Bült, Breul. Im Gegensatz zu Gabrielsson, der das Dreiphasenmodell vorgestellt hat, unterschied schon Heinsohn vier Phasen: 1. Niederdeutsch mit hochdeutschen Einflüssen (vgl. Heinsohn 1933, 185), 2. Nieder-(Hoch)deutsch, eine niederdeutsche-hochdeutsche Mischsprache mit größeren niederdeutschen Anteilen, 3. (Nieder)-Hochdeutsch, eine niederdeutsche-hochdeutsche Mischsprache mit größeren hochdeutschen Anteilen (vgl. ebd., 143f.), 4. Hochdeutsch mit niederdeutschen Relikten (vgl. ebd., 186). Wie Heinsohn, so unterteilt auch Maria Prenger-Berninghoff in ihrer Untersuchung des Rechenboichs des Dortmunder Rektors Friedrich Beurhaus Gabrielssons zweite Phase in die Phasen 2a und 2b, in eine Mischsprache niederdeutsch-hochdeutsch mit überwiegenden niederdeutschen Anteilen und in eine Mischsprache niederdeutsch-hochdeutsch mit überwiegenden hochdeutschen Anteilen (vgl. Prenger-Berninghoff 2009, 144). Das Vierphasenmodell Heinsohns und Prenger-Berninghoffs ist als Verbesserung des Dreiphasenmodells zu werten, da die Mischungsverhältnisse der Phase 2 wohl nur selten ein ausgewogenes Verhältnis zeigen.
9.
Die Gestalt des Hochdeutschen
Das Problem, welche Art von Hochdeutsch in Norddeutschland und Westfalen übernommen wurde, ist noch nicht hinreichend aufgearbeitet worden. Der Schreibsprachenwechsel breitete sich von Südosten nach Nordwesten über den niederdeutschen Sprachraum aus. So wurde denn auch traditionell davon ausgegangen, der Übernahmeprozess sei als Rezeption des Ostmitteldeutschen erfolgt. Wie Mattheier (1981) für Köln, so vermutet Maas (1985, 617) für Norddeutschland die Übernahme der oberdeutschen Varietät. Demgegenüber hält Besch (1985, 1802) an der Rezeption des Ostmitteldeutschen fest:
9. Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel
113
»Ausschlaggebend für das weitere Schicksal einer gesamtdeutschen Schriftsprache war der rasche Beitritt Norddeutschlands zum Hochdeutschen meißnischer Prägung.« Jürgen Macha hat die Oberdeutsch-Hypothese für Köln modifiziert (vgl. Macha 1991). Die Schreibsprache in den Kölner Verhörprotokollen sei im Prinzip hochdeutsch. »Man will ›Hochdeutsch‹ schreiben« (ebd., 48). Nach dieser »hochdeutschen« Phase kommt es um 1600 in Köln zu »einer Art von zeitweiliger bairisch-oberdeutscher Schreibmode« (ebd., 53), ein Reflex der politischen und kulturellen Ausrichtung nach Süddeutschland »mit der Etablierung bayrischer Wittelsbacher als Erzbischöfe« (ebd., 53) und der Gegenreformation. Die oberdeutsche Schreibmode ist in Münster und den Osnabrücker Verwaltungstexten etwas weniger stark ausgeprägt als in Köln. Der südliche Einfluss gelangt über Köln nach Münster und bis nach Osnabrück. Die oberdeutsche Schreibmode im Nordwesten ist der Tatsache geschuldet, dass es sich bei Münster und Osnabrück um geistliche Territorien handelt, die als Bistümer zum Erzbistum Köln gehören. In Soest, Braunschweig und in den Osnabrücker Drucken überwiegt dagegen die allgemein-hochdeutsche Orientierung. In Braunschweig war der Einfluss der oberdeutschen Schreibmode am geringsten. Vermutlich hat die ostmitteldeutsch-ostoberdeutsche Ausgleichssprache aus dem Raum Leipzig-Wittenberg ins Ostfälische ausgestrahlt. Wie die Variable nicht zeigt, reicht der ostmitteldeutsche Einfluss bis nach Soest. In Osnabrück treffen eine oberdeutsch beeinflusste Kanzleischreibe und eine ostmitteldeutsch geprägte Drucksprache aufeinander (vgl. Peters 2003). Die oberdeutschen Marker können auch in niederdeutsche Texte eindringen. So scheint der Gebrauch des Suffixes -nus unabhängig von der jeweiligen Schreibsprache zu erfolgen. In Lemgo gibt es 1583 aufgrund eines Schreiberwechsels zwei Kämmereirechnungsbücher: (1)
Dat erste boeck kemner Johann Rikenn, darinne dero von Lemgo entfencknuß und uthgiffte vortekent, de anno domini 1583. (Stöwer-Gaus 1988, 57)
(2)
Dieß ist daß ander Buich Johann Reichen, Kemnern, darin der von Lemgo Einnahme oder Entpfencknis und Außgabe de anno etc. 83 vorzeignett. (ebd.)
Der niederdeutsche Text zeigt -nus, der hochdeutsche -nis. Dieser Befund deutet darauf hin, dass das Suffix -nus nicht als Teil des oberdeutschen Schreibsystems gesehen wird, sondern dass es – unabhängig von der verwendeten Schreibsprache – als fremde Schreibmode zu werten ist.
10.
Der Schreibsprachenwechsel zum Niederländischen
Auf dem Augsburger Reichstag von 1548 werden im Burgundischen Vertrag zwischen dem Kaiser und den Kurfürsten alle Teile der Niederlande zum Burgundischen Reichskreis zusammengefügt. Dieser soll von der Reichsgerichtsbarkeit und der Gültigkeit der Reichstagsbeschlüsse eximiert sein. Adel und Städte der habsburgischen Niederlande wirken in den Institutionen des Reichs nicht mit (vgl. Peters 1998, 123). Dies wird der
114
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Grund dafür sein, dass die Ausbreitung der hochdeutschen Schriftsprache an der Grenze des Burgundischen Kreises endet (vgl. Mihm 1992, 115f.; Peters 1998, 123). Westlich der späteren deutsch-niederländischen Staatsgrenze werden die regionalen Schreib- und Drucksprachen vom Niederländischen verdrängt. Die wirtschaftliche und kulturelle Blüte Hollands führt, zusammen mit dem Calvinismus, zur Ausbreitung der niederländischen Schriftsprache bis an die Ostgrenze der Niederlande. Diese Ausbreitung wird als »hollandse expansie« (Muller 1939) beschrieben. Im 16. und 17. Jahrhundert werden die nordniederdeutschen Schreibsprachen des groningisch-ostfriesischen Raumes vom Niederländischen und vom Hochdeutschen verdrängt; dieses Gebiet unterliegt also einem gespaltenen Schreibsprachenwechsel (vgl. Niebaum 1997, 51), vom Niederdeutschen zum Niederländischen westlich und vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen östlich der Ems. Die schreibsprachliche Neuorientierung Groningens erfolgt um 1600 (vgl. Niebaum 1996); sie ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts abgeschlossen. Groningen gibt die niederländische Sprache an seine Umgebung weiter. Östlich der niederländisch-deutschen Staatsgrenze gilt das Niederländische im südwestlichen Ostfriesland, in den Grafschaften Bentheim und Lingen und in einzelnen kleinen Enklaven des Westmünsterlandes (vgl. Kremer 1998, 16). Den Anfang des Wechsels zum Hochdeutschen macht in Ostfriesland die gräfliche Kanzlei. Am längsten, bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, hält die Emder Stadtkanzlei im inneren Betrieb am Niederdeutschen fest. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ist das Niederländische im Südwesten die – neben dem Hochdeutschen – zweite Schriftsprache. Es ist Kirchen- und Schulsprache der reformierten Gemeinden, Sprache des Buchdrucks und wird auch zur Sprache der Kaufleute. Sprache der Verwaltung und der Rechtsprechung bleibt auch im Südwesten das Hochdeutsche. Der Übergang zum Deutschen erfolgt in den Schulen seit 1845, in der Kirche zwischen 1843 und 1883 (vgl. Kremer 1983, 14). In der Grafschaft Bentheim gilt um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert neben der hochdeutschen Kanzleisprache das Niederländische als Schreibsprache der reformierten Kirche. Mit der Souveränität der reformierten Kirche im Kirchen- und Schulwesen (1701) dringt das Niederländische auch in die kommunale Verwaltung vor. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird das Niederländische aus der Schule und zum großen Teil aus der reformierten Kirche der Grafschaft Bentheim verdrängt (vgl. Kremer 1998, 21). In der Grafschaft Lingen führt die politische und kirchliche Bindung an die Niederlande seit 1551 zunächst nur zu einer Niederlandisierung in den Textsorten des Rentamtes, das seine Abrechnungen der zuständigen Rechenkammer vorzulegen hatte (vgl. Taubken 1981, 388). Verstärkt kommt das Niederländische in der oranischen Zeit (1597– 1605) auf, als neben Drostamt und Rentamt auch einige Prädikanten der reformierten Kirche das Niederländische verwenden. Parallel erfolgt der Übergang vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen. Um 1600 sind also in der Grafschaft Lingen, soziofunktional unterschieden, drei Schriftsprachen in Gebrauch.
9. Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel
11.
115
Folgen des Schreibsprachenwechsels
Bei der Übernahme der hochdeutschen Schriftsprache handelt es sich um einen »partiellen Sprachenwechsel« (Menke 1992, 229), um die erste Phase des Sprachenwechsels vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen. Das Niederdeutsche verliert seine kultursprachlichen Funktionen; es existiert fortan als eine Gruppe von Mundarten. Einige dieser Mundarten – etwa das Nordniederdeutsche, Mecklenburgische und Münsterländische – werden seit dem 19. Jahrhundert zu Kulturdialekten ausgebaut. Der Schreibsprachenwechsel führt zur Herausbildung einer medialen Diglossie mit hochdeutscher (bzw. am Westrand niederländischer) Schriftsprache und niederdeutscher Sprechsprache. Die Ober- und Bildungsschichten werden zweisprachig. Als Folge der Übernahme des Hochdeutschen vertieft sich die Kluft zwischen der Ober- und Bildungsschicht und der Masse der Bevölkerung. Das Hochdeutsche ist als Sprache gesellschaftlich gehobener Berufe zunächst eine Männersprache (vgl. Bichel 1985, 1886). Die Familien- und damit auch Frauensprache bleibt noch lange das Niederdeutsche. Eine Folge des Schreibsprachenwechsels ist die Teilung des ostniederländisch-niederdeutschen Schreibsprachenareals in einen kleineren niederländischen und einen größeren hochdeutschen Teil: Die Schreibsprachengrenzen verlagerten sich: Vor dem Wechsel verliefen sie im Südwesten und Süden, zwischen dem Westfälischen und dem Westmitteldeutschen; durch den Wechsel wurde diese Schreibsprachengrenze aufgehoben. Eine neue Grenze, zwischen dem Niederländischen und dem Hochdeutschen, entstand im Westen. (Peters 2000, 178f.)
12.
Literatur
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9. Die Rolle der Kanzleien beim Schreibsprachenwechsel
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118
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
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Kerstin Elstner, Regensburg (Deutschland)
10. Schreiber und Kanzlisten
1. 2.
2.4. 2.5. 2.5.1. 2.5.2. 2.6. 2.7. 2.7.1. 2.7.2. 3. 4. 5.
Aufgaben der Schreiber und Kanzlisten Zur Forschung am Untersuchungsgegenstand Schreiber und Kanzlisten, beispielhaft dargestellt an kaiserlichen Kanzleien Erste Ansätze im 19. Jahrhundert Untersuchungen Emil Gutjahrs Anfang des 20. Jahrhunderts Vorherrschender Schreibstil in Zeiten fehlender Orthographie Problematik der Unterscheidung von Kanzlei- und Empfängerurkunden Folgen der Arbeitsteilung Identifizierung einzelner Beamter: Methoden und Tücken Untersuchungen von Dirk Noordijk (1925) – Auseinandersetzung mit vorausgehenden Arbeiten Neue Identifizierungskriterien bei Ludwig Erich Schmitt (1936) Studien Helmut Bansas (1968) Methodische Verfahren zur Erfassung des Kanzleipersonals Namenlose Handschriften – handschriftenlose Namen Fortführung der Arbeit Bansas durch Peter Moser (1985) Untersuchungen von Hans Moser (1977) Hierarchische Gliederung des Kanzleipersonals Arbeitsablauf Aufgaben der Forschung und ihre Schwierigkeiten Bedeutung der Schreiber und Kanzlisten für die Kanzleisprachenforschung Literatur
1.
Aufgaben der Schreiber und Kanzlisten
2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.3.
Helmut Bansa betont in seinen Studien zur Kanzlei Kaiser Ludwigs des Bayern, dass der Titel schriber / schreiber bzw. lat. notarius nicht zwangsläufig bedeute, dass dieser Beamte auch oder ausschließlich mit dem Erstellen von Schriftzeugnissen beschäftigt gewesen sei. »Mit diesen Titeln bezeichnete man offenbar ganz allgemein alle schreibkundigen, des Lateins mächtigen, zu geistigen und schriftlichen Tätigkeiten befähigten und bestimmten Helfer des Königs« (Bansa 1968, 104). Peter Moser gibt hierzu an, dass der Titel eines schreibers sowohl für hochrangige Beamte als auch für die hierarchisch niederen Schreibarbeiter Verwendung gefunden habe. Dies hat nun zur Folge, dass sich die genaue Tätigkeit eines (möglicherweise sogar namentlich bekannten) Kanzleimitarbeiters des Mittelalters und der frühen Neuzeit oftmals kaum nachvollziehen lässt. Die höchste Stellung unter dem Kanzleipersonal nahmen der Kanzler und der Protonotar (lat. ›oberster Schreiber‹) ein, die sich wohl durch Weisungsbefugnis und Verantwortung gegenüber den ihnen untergeordneten Kanzleimitarbeitern und deren Arbeiten
120
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
auszeichnen. Für die Kanzler Ludwigs des Bayern kann Peter Moser mittels Handschriftenanalyse überlieferter Urkunden keine besonders intensive Schreibtätigkeit nachweisen. Dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass diese Beamten wohl weniger mit Schreibarbeit als vielmehr mit Überwachung, Kontrolle und Prüfung derselben betraut waren. Ähnliche Informationen liefert Hans Moser in seiner Arbeit zur Kanzlei Kaiser Maximilians I., wenn er an die Spitze des Kanzleipersonals den Kanzler als für die auslaufenden Schreiben letztverantwortlichen Beamten stellt, der zwar das gesamte Schrifttum einer Prüfung auf inhaltliche und formale Korrektheit unterziehen muss, dieses jedoch nicht selbst mundiert (also abgeschrieben bzw. schriftlich ausgefertigt) hat; hierfür waren die niederen Beamten – die Schreiber – zuständig.
2.
Zur Forschung am Untersuchungsgegenstand Schreiber und Kanzlisten – Beispielhaft dargestellt an kaiserlichen Kanzleien
Sucht man nach Forschungsliteratur zum Schreibpersonal und den Kanzlisten mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kanzleien, so muss man feststellen, dass explizit dazu kaum wissenschaftliche Untersuchungen existieren. Auf diesem Gebiet gewonnene Erkenntnisse finden sich beinahe ausschließlich innerhalb thematisch weiter greifenden Arbeiten, insbesondere aber in denjenigen zu den kaiserlichen Kanzleien und ihrer Schriftzeugnisse (vor allem Urkunden). Dass sich das Augenmerk der Forschung hierbei tendenziell eher auf die kaiserlichen Kanzleien richtet, liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass diesen auf Grund des weiträumigeren »Geltungsareals« und der »Geltungshöhe« (Terminologie nach Werner Besch und Hans Moser) dieser Schreibsprachen höhere Einflusskraft auf das Deutsche und seine Entwicklung zugesprochen wird. Zur Erfassung und Identifizierung des Kanzleipersonals haben die Wissenschaftler bisweilen unterschiedliche Wege eingeschlagen – jedoch meist ähnliche, teilweise aber auch kontroverse Ergebnisse hinsichtlich der Bedeutung der Schreiber und Kanzlisten für die Kanzlei- und insbesondere die Schreibgeschäfte erzielt. Im Folgenden werden beispielhaft einige Untersuchungsmethoden und Ergebnisse chronologisch dargelegt. Untersuchungsmethoden und Ergebnisse chronologisch dargelegt. 2.1.
Erste Ansätze im 19. Jahrhundert
Einer der ersten, der sich genauer mit dem schreibenden Personal einer Kanzlei beschäftigt, ist Franz Pfeiffer. Er versucht mittels sprachlicher Analyse von Urkunden der Kanzlei Kaiser Ludwigs des Bayern nicht nur zu zeigen, aus welchen dialektalen Räumen dieser seine Kanzleimitarbeiter bezog, sondern vor allem, dass Differenzen im Schreibstand verschiedener Urkunden auf die unterschiedlichen, dialektal bedingten Schreibgewohnheiten des Personals zurückzuführen sind, welche infolge fehlender orthographischer Norm Niederschlag im Schrifttum finden konnten. Da seine Studien allerdings in die 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreichen, werden sie heute vielfach als veraltet betrachtet und seine Argumentation bisweilen kritisiert (Bürgisser 1988, 9; Schmitt 1966, 134).
10. Schreiber und Kanzlisten
121
2.2. Untersuchungen Emil Gutjahrs Anfang des 20. Jahrhunderts 2.2.1. Vorherrschender Schreibstil in Zeiten fehlender Orthographie Neue Studien zur Organisation der Kanzlei Karls IV., dessen Kanzleibeamten sowie deren Funktion und Persönlichkeit veröffentlicht Anfang des 20. Jahrhunderts Emil Gutjahr. Gutjahr richtet sein Augenmerk besonders auf den in der Prager Kanzlei gepflegten Patrizier-Dialekt, die Sprache der höheren Stände, welcher seiner Ansicht nach die Grundlage für die Entwicklung einer gemeindeutschen, sprich neuhochdeutschen, Schriftsprache ist. Er weist insbesondere auf die vorherrschenden und vom Schreibpersonal auch eingehaltenen stilistischen sowie formalen Regelungen – den Kanzleistil – hin. Dass in der Kanzlei Karls IV. tatsächlich ein bestimmter Schreibstil existiert, belegt Gutjahr zum einen durch eine Urkunde von 1375, welche diesen selbst thematisiert, und zum anderen durch Urkundenanalyse und -vergleich. Er endet schließlich mit der Ansicht, dass »alle Schreiber derselben Kanzlei […] immer in derselben, der heimischen Mundart ihrer Kanzlei [schreiben und redigieren]« (Gutjahr 1910, 199).
2.2.2.
Problematik der Unterscheidung von Kanzlei- und Empfängerurkunden
Bei der analytischen Vorgehensweise werden dadurch hohe Anforderungen an den Wissenschaftler gestellt, dass zunächst aus den vorliegenden Urkunden der Kanzlei diejenigen zu extrahieren sind, die tatsächlich vollständig in dieser gefertigt wurden. Ausschließlich solche erkennt Gutjahr als echte Kanzleiurkunden an. Der typische Kanzleistil der Prager Kanzlei Karls IV. dient ihm hierbei als signifikantes Merkmal. Neben den in der Kanzlei selbst und somit vom (bisweilen) bekannten Personal hergestellten Urkunden existieren aber auch solche, welche vollständig vom Empfänger ausgefertigt wurden – deshalb die Bezeichnung Empfängerurkunden – und nur zur Besiegelung in die eigentlich laut Unterfertigung ausstellende Kanzlei kamen. Daneben wurden auch Diktate des Empfängers oftmals als Vorlage für die Urkundenausfertigung verwendet (= kanzleiredigierte Empfängerurkunden). In diesen Fällen ist also auch das Schreibpersonal der Empfängerkanzlei zu berücksichtigen. Gutjahr warnt allerdings – sollte sich in vom Empfänger (dessen Kanzlei in einem anderen dialektalen Einzugsgebiet liegt) ausgefertigten bzw. konzipierten Urkunden die für die Prager Kanzlei typische sechsische Mundart wieder finden lassen – davor, voreilig auf Sprachausgleich zu schließen bzw. die Einflusskraft der Prager Kanzlei zu hoch zu bewerten. Gutjahr geht davon aus, dass Urkundenkonzepte der Empfänger durchaus vom Schreibpersonal der ausstellenden Kanzlei erneut überarbeitet wurden (wie es z. B. der Fall bei kanzleiredigierten Urkunden ist), wodurch auf Grund der Vermischung verschiedener dialektaler Schreibmerkmale fälschlicherweise der Eindruck einer Misch- oder Ausgleichssprache entstehen könnte.
2.2.3.
Folgen der Arbeitsteilung
Weiterhin stellt Gutjahr bei seinen Untersuchungen fest, dass die Arbeitsteilung in den Kanzleien dazu führte, dass oftmals mehrere Kanzleimitarbeiter an der Fertigstellung
122
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
einer einzigen Urkunde mitwirkten (Diktat, Reinschrift, Registratur, Unterfertigung), was eine sprachliche Analyse nicht gerade erleichtert. Das Beamtenpersonal der Kanzlei Karls IV. teilt Gutjahr in drei Gruppen, an deren Spitze der Hofkanzler stand. Die höheren Hofbeamten (hohe Räte) waren die Urheber bzw. Initiatoren des Beurkundungsgeschäfts. Das übrige Kanzleipersonal gliedert Gutjahr erneut in höhere und niedere Beamte, wobei die höheren als notarii bezeichnet werden – diese sind tätig als registratores (Eintrag ins Register), correctores (Vergleich von Diktat und Reinschrift), redactores (Angleichen der Diktate an Sprache und Stil der kaiserlichen Kanzlei!) sowie dictatores (Entwurf des Schreibkonzeptes), während die niederen die eigentlichen Schreiber waren. 2.2.4.
Identifizierung einzelner Beamter – Methoden und Tücken
Die Tatsache, dass einzelne Beamte im Laufe mehrerer Jahre in verschiedenen Arbeitsbereichen nachgewiesen werden konnten, erlaubt nun Gutjahr, Vermutungen über eine mögliche berufliche Laufbahn bestimmter Kanzleimitarbeiter anzustellen. In seinen Ausführungen listet Gutjahr auf, in welcher Funktion und in welchem Umfang notarii und Kanzler als Verfasser bzw. Urheber in der Kanzlei tätig waren. Hierbei stützt er sich insbesondere auf Hinweise in den Urkunden selbst und die Unterfertigungen. Während zumindest ein Teil der höheren Kanzleibeamten auch namentlich verzeichnet wurde, fanden die schriber jedoch gar keine Erwähnung. Auch ausführlichere biographische Informationen lassen sich nur zu einzelnen herausragenden Kanzlern zusammentragen, welche jedoch vor allem repräsentative und kulturelle Funktionen außerhalb der Kanzlei zu erfüllen hatten und infolge dessen, abgesehen vom Mandatieren (Auftragserteilung zur Erstellung einer Urkunde), weniger mit der Ausfertigung der Urkunden selbst zu tun hatten. Was das namentlich bekannte Kanzleipersonal betrifft, so warnt Gutjahr davor, von einem Namen, der eine (vermeintliche) Herkunftsbezeichnung enthält (wie z. B. Conradus de Gysenheim), auf dessen tatsächliche geographische und damit auch mundartliche Wurzeln zu schließen; derartige Namen, welche zwar die ursprüngliche Heimat einer Familie bezeichnen, entsprechen etwa den heutigen Familiennamen, die vermutlich bereits über mehrere Generationen in der Familie weitergegeben wurden und somit kein sicheres Kriterium für die Herkunft einer einzelnen Person darstellen. 2.3.
Untersuchungen von Dirk Noordijk (1925) – Auseinandersetzung mit vorausgehenden Arbeiten
1925 nimmt sich Dirk Noordijk der Kanzleisprachen (speziell des 15. Jahrhunderts) an und diskutiert hierbei kontrovers bisherige Forschungsergebnisse (insbesondere was die vielfach verteidigte These anbelangt, die Prager Kanzleisprache bilde die Grundlage der neuhochdeutschen Standardsprache), deren Mängel und bestehende Desiderata. Er betont besonders die Bedeutung der Kenntnis um die Herkunft des schreibenden Kanzleipersonals für die Kanzleisprachenforschung und kritisiert in diesem Zusammenhang, dass bisher der Einfluss der Sprache der Kanzleischreiber vielfach unberücksichtigt gelassen wurde. Noordijk betrachtet es als logische Schlussfolgerung, dass mangels einer
10. Schreiber und Kanzlisten
123
verbindlichen orthographischen Norm die eigenen sprachlich-dialektalen Besonderheiten der Schreiber Niederschlag in den Schriftstücken finden. »Erst eine gründliche Untersuchung dieser Verhältnisse kann eine richtige Einsicht in den historischen Zusammenhang […] zwischen kaiserlicher Kanzleisprache und Schriftsprache entstehen lassen« (Noordijk 1925, 2). Informationsquelle für die Herkunft des Schreibpersonals sind für Noordijk die Urkunden selbst – jedoch nicht die Unterfertigungen (da der hier genannte Name nicht unweigerlich identisch mit dem tatsächlichen Schreiber sein muss), sondern der Inhalt, der oftmals die Kanzleimitarbeiter selbst betrifft bzw. nennt. Dem Einwand Gutjahrs, nicht unkritisch ortspezifische Beinamen als Herkunftsbezeichnungen anzusehen, schließt sich Noordijk an. Von der Annahme seiner Vorgänger, es habe sich in der Kanzlei Friedrichs III. und Maximilians I. eine Art Einheitssprache in Form einer Ausgleichssprache entwickelt, welche allmählich Anerkennung im Reich gefunden habe, entfernt er sich aber. Dieser These stellt er entgegen, dass die genannten Herrscher immer einen Teil ihres Kanzleipersonals auch auf Reisen mit sich geführt hätten, welche gegebenenfalls Schriften ausfertigen mussten; so erklären sich die vermeintlichen Ausgleichstendenzen als bloße Eigentümlichkeiten der aus der ständigen Kanzlei zu Reisen abgezogenen Schreiber. Gleichzeitig betont Noordijk aber auch die gravierende Einflusskraft der Kanzleien anderer dialektaler Einzugsgebiete, mit denen eine Kanzlei in Kontakt stand, zum einen durch den wechselseitigen Schriftverkehr, zum anderen durch das Übertreten der Schreiber von einer Kanzlei zur anderen. An der Arbeit Gutjahrs bemängelt Noordijk, dass dieser zwar Untersuchungen zum Kanzleipersonal anstellt, jedoch nicht versucht, dessen ursprüngliche Herkunft zu ermitteln, so dass letztlich das Auftreten spezifischer sprachlicher Merkmale und Besonderheiten in den Urkunden nicht geklärt werden kann (vgl. Noordijk 1925, 172). 2.4.
Neue Identifizierungskriterien bei Ludwig Erich Schmitt (1936)
Der Klärung der Herkunft und der Zusammensetzung des Personals der Kanzlei Karls IV. schreibt auch Ludwig Erich Schmitt, der sich 1936 mit dem Schreibusus dieser Kanzlei beschäftigt, eine entscheidende Rolle zu. Wie Gutjahr, so betont auch er, dass sich trotz fehlender Orthographienorm in der Prager Kanzlei und so vermutlich auch schon in derjenigen Kaiser Ludwigs des Bayern die Mitarbeiter an bestimmten sprachlich-stilistischen Schreibgewohnheiten orientierten. Differenzen zwischen den einzelnen Schriftstücken seien aber auf die unterschiedliche landschaftliche Herkunft der Schreiber zurückzuführen. Als wichtige Quelle für die Identifizierung des Kanzleipersonals nennt Schmitt die Registratur- und Korrekturvermerke. Ebenso weist Schmitt auch darauf hin, dass aus der bloßen Kenntnis des Namens eines Kanzleischreibers nicht übereilt auf dessen Herkunft geschlossen werden darf. Er sieht vielmehr im Besitz geistlicher Pfründe (insbesondere derjenigen, welche vor dem Eintritt in die Kanzlei erworben wurden) einen Anhaltspunkt für die Herkunft des jeweiligen Kanzleischreibers. Unter deren Berücksichtigung kann Schmitt zu einem groben Überblick über die Herkunftsgebiete des Kanzleipersonals Karls IV. kommen. Biographische Informationen kann aber auch er lediglich zu den hohen Kanzleibeamten liefern, nicht zu den zahlreichen niederen Schreibern.
124 2.5.
I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Studien Helmut Bansas (1968)
2.5.1. Methodische Verfahren zur Erfassung des Kanzleipersonals Weitere wichtige Ergebnisse für die Kanzleisprachenforschung bezüglich des Schreibpersonals liefert Helmut Bansa in seinen 1968 veröffentlichten Studien zur Kanzlei Ludwigs des Bayern. Hierin beschreibt er zwei methodische Verfahren zur Erfassung des Personals: Zum einen besteht die Möglichkeit zum Schriftvergleich mittels der erhaltenen Zeugnisse (Bansa untersucht auf diese Weise Urkunden der Kanzlei Ludwigs des Bayern bis 1329), zum anderen lassen sich die Kanzleimitarbeiter über deren namentliche Nennung in Urkunden oder anderen Quellen erfassen. Mit welcher Akribie beim Handschriftenvergleich vorgegangen werden muss, wird verständlich, wenn Helmut Bansa erläutert, dass einige Handschriften sich zwar recht deutlich von allen anderen unterscheiden, bei manch anderen jedoch dafür z. T. auf winzige Eigentümlichkeiten einzelner Buchstaben geachtet werden muss (wie Schleifen, Schäfte, An- und Abschwünge). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass sich Handschriften im Laufe vieler Jahre aus physiologischen Gründen, bisweilen aber auch ohne jeglichen äußeren Anlass ändern können. Schreibzeugnisse einer Hand aus den ersten und letzten Jahren ihrer Tätigkeit unterscheiden sich oft so erheblich, dass sich das Urteil aufdrängt, es würden zwei verschiedene Schreiberhände vorliegen. Erst der Vergleich über Schriftzeugnisse der Übergangsjahre (sofern diese vorliegen bzw. überhaupt zu ermitteln sind), anhand derer die allmähliche Abänderung der Schrift nachvollziehbar wird, lässt die Erkenntnis zu, es handle sich wohl um die mundierten Schriften eines einzigen Schreibers.
2.5.2.
Namenlose Handschriften – handschriftenlose Namen
Dennoch erlaubt diese Kleinstarbeit häufig lediglich, eine Handschrift von einer anderen zu unterscheiden und demgemäß die verschiedenen Schriftzeugnisse in Gruppen einzuteilen; die Zuordnung zu einem namentlich bekannten Kanzleibeamten schließt sich dem nicht unweigerlich an. Die meisten Mundatoren der ludwigschen Kanzlei bleiben also anonym. Jedoch besteht für die Kanzleisprachenforschung die Möglichkeit, auf Grund sprachlich-dialektaler Eigenheiten und Besonderheiten in den Quellen, den Schreiber bzw. dessen Herkunft auf ein bestimmtes Mundartgebiet einzugrenzen. Untersuchungen in diese Richtung haben auch gezeigt, dass das Schreibpersonal einer Kanzlei nicht unweigerlich aus der näheren Umgebung des Kanzleisitzes selbst stammen muss. Darüber hinaus konstatiert Moser, dass umgekehrt namentlich bekannte Kanzleimitarbeiter nicht immer einer Handschrift zuzuordnen waren, so dass man sich letztlich oft mit der Feststellung zufrieden geben muss, dass in der Kanzlei ein Beamter betreffenden Namens tätig war.
2.6.
Fortführung der Arbeit Bansas durch Peter Moser (1985)
Mitte der 80er Jahre führt Peter Moser die Arbeit Helmut Bansas weiter. Moser ordnet vorwiegend durch Schriftvergleich die überlieferten Urkunden nach Handschriften und
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teilt in Gruppen ein. Hierbei gibt er an, über welchen Zeitraum und mit welcher Intensität einzelne Handschriften in der Kanzlei Ludwigs nachweisbar sind. Jedoch können nur wenige der auf diese Weise ermittelten Handschriften auch einer personellen Identität zugeordnet werden. Darüber hinaus gelingt Moser die Ermittlung von Herkunftsgebieten einzelner Schreiber, wozu ihm nach eigenen Angaben in erster Linie die Namen der Kanzleibeamten dienen. Mahnung zur Vorsicht bezüglich möglicherweise übereilter Schlussfolgerung von Namen auf entsprechende Herkunftsgebiete, wie man sie u. a. bei Schmitt und Gutjahr findet (vgl. oben), fehlen bei Moser allerdings. Soweit es für ihn nachvollziehbar ist, macht Moser Angaben zur Ausbildung des Kanzleipersonals, insbesondere verweist er auf diejenigen, die ein universitäres Studium durchlaufen haben. Doch Angaben zu Name oder Ausbildung einzelner Kanzleimitarbeiter kann auch Moser fast nur für das hochrangige Kanzleipersonal geben, welches, wie bereits mehrfach erwähnt, weniger mit der Mundiertätigkeit selbst beschäftig war, als vielmehr mit der Kontrolle und Korrektur der mundierten Schriften. 2.7.
Untersuchungen von Hans Moser (1977)
2.7.1. Hierarchische Gliederung des Kanzleipersonals Eine Möglichkeit des Aufbaus und Arbeitsablaufs einer Kanzlei stellt Hans Moser 1977 in seinen graphematischen Untersuchungen von Urkunden der Innsbrucker Kanzlei Kaiser Maximilians I. dar. Moser geht von einer dreistufigen Hierarchie des Kanzleipersonals aus: Zur Gruppe der leitenden Beamten und somit zur Spitze der Kanzlei zählt er den Kanzler und den obersten Sekretär. In der Hierarchie folgen dann die übrigen Sekretäre, wobei dieser Titel »in manchen Fällen eine bloße Rangbezeichnung […] für Personen im königlichen Dienste« ist und diese somit nicht unbedingt in der Kanzlei selbst tätig sind (Moser 1977, 27). An dritter und letzter Stelle benennt er die Schreiber, welche die Gruppe der mittleren und niederen Beamten bildeten. Wichtig ist nun – insbesondere für eine mögliche Identifizierung bisher anonym gebliebener Schreiber – die bisweilen durch Quellen belegte Annahme Mosers, dass die Sekretäre für die Anstellung der Kanzleischreiber zuständig sind, welche hierbei oft auf Personen zurückgriffen, zu denen sie in Verwandtschafts-, Freundschafts- oder einem anderen Abhängigkeitsverhältnis standen. Wie Bansa, so stellt auch Moser fest, dass die meisten Kanzleischreiber anonym bleiben. Abgesehen von ihrer Schreibarbeit hätten diese ansonsten wohl kaum eine Bedeutung für die Kanzlei gehabt. Moser verweist in diesem Zusammenhang auf die Hofordnung von 1498, welche die in der Kanzlei tätigen Personen auflistet – jedoch die Namen der Kanzleischreiber nicht nennt. Quellen (speziell Beschwerdebriefe) zeigen, dass diese wohl nur Erwähnung fanden, wenn sie negativ auffielen. Auch für die Kanzlei Maximilians I. gilt, dass hauptsächlich Herkunft und Werdegang der höheren Beamten nachvollzogen werden kann. An diesen lässt sich allerdings ablesen, dass die in der Kanzlei Maximilians I. tätigen Beamten nicht nur aus der näheren Umgebung kamen, sondern auch aus anderen Regionen und damit – was für die Kanzleisprachenforschung von Bedeutung ist – aus anderen dialektalen Einzugsgebieten.
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2.7.2. Arbeitsablauf Des Weiteren zeichnet Moser den Arbeitsablauf der Kanzlei nach, der so oder zumindest ähnlich auch für andere Kanzleien des Mittelalters und der frühen Neuzeit angenommen werden darf. Das Resultat seiner Arbeit zeigt nun, dass bei der Ausstellung von Urkunden stets mehrere Personen beteiligt waren. Zunächst wurde nach Absprache mit dem jeweiligen Kanzleiinhaber vom Kanzler oder Sekretär ein Konzept entworfen, welches einem Schreiber zum Mundieren übergeben wurde. Das fertige Schriftstück ging schließlich wieder zur Prüfung an einen der Ratssekretäre zurück, der dieses unterzeichnete. Eine weitere Prüfung wurde vom Kanzler vorgenommen. Besonders wichtig für die Auswertung der Urkunden bzw. deren sprachlicher Merkmale und Besonderheiten ist die Tatsache, dass sich also nicht die Signatur des Schreibers selbst auf der Urkunde befindet, sondern diejenige eines verantwortlichen Beamten höheren Dienstgrades. Der Name des eigentlichen Schreibers findet somit nirgends Erwähnung. Eine zusätzliche Abschrift der Urkunde wurde bei der Registratur vorgenommen, wobei wieder mit einer Abweichung vom Konzept und dem mundierten Original zu rechnen ist, selbst wenn Konzept, Original und Registratur auf ihre Einheitlichkeit hin abgeglichen werden mussten – wobei es bei dieser Prüfung wohl eher um inhaltliche Punkte und weniger um sprachliche und orthographische Feinheiten gegangen sein dürfte.
3.
Aufgaben der Forschung und ihre Schwierigkeiten
Trotz der bisher erzielten Ergebnisse auf dem behandelten Gebiet der Schreiber und Kanzlisten steht die Wissenschaft immer noch vor zahlreichen Schwierigkeiten sowie unbeantworteten Fragen und ungelösten Problemen. So wird allseits zwar betont, dass die Kenntnis der Herkunft der einzelnen Schreiber von großer Bedeutung für die Bewertung und Beurteilung der Kanzleisprachen ist, jedoch liegen derartige Informationen zum gesamten Schreibpersonal einer Kanzlei nicht immer vor. Ernüchternd ist die oben bereits erwähnte Feststellung, dass vermeintliche Herkunftsangaben im Namen tatsächlich nur dem Nachnamen ähnliche Namensbestandteile sind, von denen nicht auf heimatlichen Ursprung geschlossen werden kann und darf. Darüber hinaus liegt der Forschung eine regelrechte Flut an Quellenmaterial vor, welches in seiner Gesamtheit bisher nicht vollständig überblickt und geordnet werden konnte. Ob dies zukünftig möglich sein wird, bleibt fraglich, auch weil immer mit noch im Verborgenen liegenden, unbekannten Schriftzeugnissen verschiedener Kanzleien zu rechnen ist. Problematisch ist des Weiteren, dass der unterzeichnende Verantwortliche einer Urkunde nicht unweigerlich auch der tatsächliche Mundator bzw. nicht der einzige war, weshalb der mühsame Handschriftenvergleich unerlässlich für die Kanzleisprachenforschung bleibt. Doch selbst wenn mittels dieser Methode eine Einteilung der Schriftzeugnisse einer Kanzlei in nach Handschriften geordnete Gruppen ermöglicht wird, so ist damit nicht unweigerlich die Identifizierung der Schreiber verbunden. Die meisten vorliegenden biographischen Informationen zu einzelnen Kanzleimitarbeitern beziehen sich vor allem auf Angehörige des höheren Beamtentums, die weniger für die schriftliche Ausfertigung als vielmehr für
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den reibungslosen Arbeitsablauf und die Überprüfung der fertigen Schriftstücke verantwortlich waren. Das niedere Kanzleipersonal, welches in erster Linie die Schreibarbeiten erledigte, ist vielfach anonym geblieben. Und auch wenn es bisweilen Wissenschaftlern gelingt bzw. gelungen ist, Handschriften einem namentlich bekannten Kanzleischreiber zuzuordnen, bleibt immer noch ein gewisser »Unsicherheitsfaktor« bestehen (Bürgisser 1988, 5). Wenn nun aber Herkunft und Werdegang vieler Schreiber auch nicht bekannt sind, so kann zumindest – ganz vorsichtig – infolge sprachlicher Analyse sowie eines Handschriftenvergleichs und der daraus resultierenden Gruppierung der nichtidentifizierten Schreiberhände der Versuch gewagt werden, von den schreibsprachlichen Besonderheiten einer Handschrift ausgehend den möglichen Herkunftsraum des Schreibers auf ein bestimmtes Mundartgebiet einzuschränken. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass für die Ausfertigung von Urkunden oftmals Formulare, eine vorausgegangene Urkunde oder auch Konzepte des Empfängers bzw. der Empfängerkanzlei verwendet wurden. Die Herauskristallisierung von spezifischen sprachlichen Merkmalen der ausstellenden Kanzlei bzw. des Schreibers selbst wird dadurch nochmals erschwert. Wenn an dieser Stelle nun beispielhaft lediglich Ergebnisse herangezogen wurden, welche auf dem Gebiet der Erforschung kaiserlicher Kanzleien erzielt wurden, so soll deshalb nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass auch die Untersuchung des Kanzleipersonals kleinerer regionaler und städtischer Kanzleien von großer Bedeutung ist, zu welchen ebenso Ergebnisse vorliegen. Woran es der Forschung noch mangelt, sind übergreifende Gesamtdarstellungen, welche die Zuständigkeiten und Einflussmöglichkeiten des Kanzleipersonals sowie die Entwicklung und Veränderung der Kanzleien im Laufe des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf Grund sich wandelnder Aufgaben beschreiben.
4.
Bedeutung der Schreiber und Kanzlisten für die Kanzleisprachenforschung
Gerade was die Klärung der Bedeutung einzelner Kanzleien bzw. Kanzleisprachen für die Entwicklung der neuhochdeutschen Standardsprache anbelangt, so spielt die Berücksichtigung des Schreibpersonals einer Kanzlei eine gravierende Rolle. Bei diachronem und synchronem Urkundenvergleich werden Veränderungen bzw. Unterschiede auf Ebene des Laut- und Schreibstands sowie im Bereich der Lexik und Syntax deutlich. Da die Schreiber, die sich zwar an formalen und stilistischen Regelungen ihrer Kanzlei orientieren mussten, noch nicht auf eine geregelte und verbindliche Orthographie zurückgreifen konnten, sind neben dem diatopischen Faktor (also dem räumlichen Standort der Kanzlei selbst) und dem diachronen des historisch bedingten Sprachwandels ebenso die dialektal begründeten sprachlichen Eigenheiten jedes einzelnen Schreibers, welche unweigerlich Niederschlag in ihrem gefertigten Schrifttum finden, zu berücksichtigen. Wie Max Bürgisser beispielhaft aufgezeigt hat, lassen sich oftmals scheinbar unerklärliche Rückschritte auf Laut- und Schreibstandebene über die räumlich-dialektale Herkunft des Schreibers einfach erklären. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Identifizierung des betreffenden schreibenden Beamten – was sich oft, wie bereits dargestellt, als äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich erweist.
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Hinsichtlich der Bedeutung und Einflusskraft von Kanzleischreibern waren Sprachhistoriker nicht immer einer Meinung. Ulrich Kriegesmann stellt in seinem 1990 erschienenen Werk Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache im Widerstreit der Theorien die dem Mitte des 20. Jahrhunderts diesbezüglich entfachten »Meinungsstreit« (Kriegesmann 1990, 251) auslösenden Kontroversen gegenüber: Bruno Boesch vertritt die Ansicht, dass zwar die Herkunft des Schreibpersonals einer Kanzlei nicht vollkommen unberücksichtig gelassen werden kann, sich die Schreiber jedoch stets dem Schreibusus der Kanzlei angepasst hätten, wodurch der Standort der Kanzlei in den Vordergrund der Betrachtung rückt (vgl. Boesch 1946, 28f.). Dagegen betont Friedrich Hefele in seinen Untersuchungen am Freiburger Urkundenbuch, dass weniger die Kenntnis des Ausstellungsortes einer Urkunde als vielmehr diejenige der Schreiber und ihrer Herkunft von Bedeutung ist, da sie die maßgeblichen Träger der im Schrifttum auftretenden Sprachform seien (vgl. Hefele 1951, LIX). Dem schließt sich auch Diether Haake an, der konstatiert, dass »eine Urkundenuntersuchung, auch sprachlicher Art, immer nach dem Schreiber fragen muß. […] Das Problem der Urkundensprache wird immer das der Schreiber sein« (Haake 1955, 389).
5.
Literatur1
Bansa, Helmut (1968), Studien zur Kanzlei Kaiser Ludwigs des Bayern vom Tag der Wahl bis zur Rückkehr aus Italien (1314–1329), (Münchner historische Studien, Abteilung geschichtliche Hilfswissenschaften 5), Kallmünz. Besch, Werner (1979), »Zur Bestimmung von Regularitäten bei den sprachlichen Ausgleichsvorgängen im Frühneuhochdeutschen«, in: ZdPh, 98 / 1979, Sonderband, 130–150. Boesch, Bruno (1946), Untersuchungen zur alemannischen Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Laut- und Formenlehre, Bern. Bürgisser, Max (1988), Die Anfänge des frühneuhochdeutschen Schreibdialekts in Altbayern. Dargestellt am Beispiel der ältesten deutschen Urkunden aus den bayerischen Herzogskanzleien, Stuttgart. Ernst, Peter (1994), Die Anfänge der frühneuhochdeutschen Schreibsprachen in Wien, (Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft 3), Wien. Gutjahr, Emil A. (1906), »Zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache (Studien zur deutschen Rechts- und Sprachgeschichte). Die Urkunden deutscher Sprache in der Kanzlei Karls IV.«, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 57 / 1906, Leipzig. Gutjahr, Emil A. (1910), Die Anfänge der neuhochdeutschen Schriftsprache vor Luther. Streifzüge
1
Im Folgenden wird die für vorliegenden Artikel verwendete und zitierte Literatur aufgeführt. Da dies jedoch lediglich ein verschwindend geringer Teil der zur Thematik der Schreiber und Kanzlisten vorliegenden Forschungsliteratur ist, darf ausdrücklich auch auf die darin beinhalteten Literaturverzeichnisse sowie insbesondere auch auf die Bibliographie des IAK zur Kanzleisprachenforschung (vgl. unten) verwiesen werden. Leider muss man feststellen, dass nur wenig Literatur vorliegt, welche sich explizit dem Personal bestimmter Kanzleien widmet, so dass Erkenntnisse und Informationen in mühsamer Arbeit aus zahlreichen verschiedenen Werken, welche allgemein ausgewählte Kanzleien, die Urkunden-, Sprachforschung o. Ä. behandeln, zusammengetragen werden müssen.
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durch die deutsche Siedlungs-, Rechts- und Sprachgeschichte auf Grund der Urkunden deutscher Sprache, Halle. Haacke, Diether (1955), »Das Corpus der altdeutschen Originalurkunden«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 77 / 1 / 1955, Tübingen, 375–392. Hefele, Friedrich (1951), Freiburger Urkundenbuch, 2. Bd., Freiburg / Breisgau. Kriegesmann, Ulrich (1990), Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache im Widerstreit der Theorien, (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 14), Frankfurt am Main u. a. Meier, Jörg / Ziegler, Arne (2002), Kanzleisprachenforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Bibliographie, (Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 2), Wien. Moser, Hans (1977), Die Kanzlei Kaiser Maximilians I. Graphematik eines Schreibusus, (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 5 / I), Innsbruck. Moser, Hans (1984 / 1985), »Die Kanzleisprachen«, in: Werner Besch / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), Berlin / New York. Moser, Peter (1985), Das Kanzleipersonal Kaiser Ludwigs des Bayern in den Jahren 1330–1347, (Münchner Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 37), München. Noordijk, Dirk G. (1925), Untersuchungen auf dem Gebiet der kaiserlichen Kanzleisprache im XV. Jahrhundert, Gouda. Pfeiffer, Franz (1864), »Die Kanzleisprache Kaiser Ludwigs des Baiern«, in: Germania Vierteljahresschrift, 9 / 1864, Wien, 159–172. Schmitt, Ludwig Erich (1936), Die deutsche Urkundensprache in der Kanzlei Kaiser Karls IV. (1346–1378), (Zeitschrift für Mundartforschung, Beiheft 16), Halle / Saale. Schmitt, Ludwig Erich (1966), Untersuchungen zu Entstehung und Struktur der ›Neuhochdeutschen Schriftsprache‹, Bd. 1: Sprachgeschichte des Thüringisch-Obersächsischen im Spätmittelalter. Die Geschäftssprache von 1300 bis 1500, Köln / Graz.
Artur Dirmeier, Regensburg (Deutschland)
11. Archive und Kanzleiorganisation
1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 4. 5.
1.
Einleitung Kanzlei und Kanzleipersonal Kanzleitypen Reichskanzlei Päpstliche Kanzlei Fürstenkanzlei Städtische Kanzlei – öffentliche Notare Kloster- und Stiftskanzlei Kanzlei der Kaufleute und Händler Zusammenfassung Literatur
Einleitung
Kanzleien entstanden überall dort, wo Rechts-, Verwaltungs- oder Wirtschaftsangelegenheiten schriftlichen Niederschlag verlangten. Ihrer Funktion nach waren die Kanzleien bis ins 13. Jahrhundert vor allem Beurkundungsstellen und wandelten sich mit zunehmender Differenzierung der administrativen Anforderungen zu Verwaltungskanzleien. Erst im 13. Jahrhundert sprechen die Quellen von Kanzlei im heutigen Sinn. Die Archive wiederum waren ihrer Entstehung nach Rechtsarmarien weltlicher und kirchlicher Institutionen und bis ins Spätmittelalter vor allem Urkundenarchive. Das nichturkundliche Schriftgut blieb im Spätmittelalter vor allem in der Kanzlei und wurde, von einzelnen Amts- und Geschäftsbüchern abgesehen, nicht dauerhaft bewahrt. Die Sprache der Kanzleien ist durch hohe Funktionalität und Formelhaftigkeit geprägt, war ursprünglich lateinisch und ging unter Aufnahme volkssprachlicher Elemente in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ins Mittelhochdeutsche über. Dieser Sprachwandel vollzog sich nach Region, Kanzlei und Textsorte (Archivalientyp) unterschiedlich und ist im Einzelnen zu untersuchen. Insbesondere bei Kanzleien kirchlicher Institutionen trat der Übergang zur Volkssprache mit gewisser Verzögerung auf (zum Archiv- und Kanzleibegriff vgl. auch Colberg 1980; Csendes u. a. 1991; Meisner 1969; Papritz 1983). Anhand des überlieferten Schriftguts lassen sich die Geschäftsvorgänge in den Kanzleien verfolgen und studieren.1 Im Archiv wird die ursprüngliche Schriftgutablage
1
Einen guten Überblick über die allgemeine Entwicklung der Schriftgutproduktion bieten folgende Ausstellungskataloge: Wild (1983), Fleischmann (2000), Cramer-Fürtig (Hrsg., 2006), Laschinger (Hrsg., 2009), Natalini (Hrsg., 1992) und Beck / Henning (1994).
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
der Kanzlei abgebildet und gegebenenfalls rekonstruiert. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in allen Archiven nur ein Bruchteil des in den Kanzleien tatsächlich entstandenen Schriftguts erhalten blieb. Bei Veränderungen der territorialen oder administrativen Zuständigkeit folgte das Schriftgut der neu gebildeten Verwaltungseinheit – man spricht in diesem Zusammenhang von Archivfolge. Die Kanzleien werden zunächst über die Urkundenproduktion, ab dem 13. Jahrhundert zunehmend über die Führung von Amts- und Geschäftsbüchern und seit dem 15. / 16. Jahrhundert durch die allmählich einsetzende Aktenführung greifbar. Schrift- und Diktatvergleich sind die entscheidenden Untersuchungskriterien. Bei den auslaufenden Urkunden unterscheidet man zwischen solchen, die in der eigenen Kanzlei verfasst wurden, und den so genannten Empfängerausfertigungen. Anhand der verschiedenen Vermerke lässt sich der Weg des Schriftstücks durch die Kanzlei des Ausstellers bis hin zum Empfänger verfolgen – vom Entwurf der Konzepte, die mit oder ohne Korrektur zur Mundierung und Ausfertigung führten, bis hin zu Registratur- und Archivvermerken. Als Indikator für einen professionellen Kanzleibetrieb gilt die Führung von Registern, in denen vornehmlich auslaufende Urkunden verzeichnet werden. Grundlegendes Ordnungsprinzip in den Archiven ist das Provenienzprinzip, das die Entstehungszusammenhänge abbildet.
2.
Kanzlei und Kanzleipersonal
Unter Kanzlei versteht man eine bei Hof, bei Klöstern und Stiften, bei Städten und Märkten angesiedelte Beurkundungsstelle mit unterschiedlicher Anzahl von Notaren und Schreibern. Abgesehen von der päpstlichen Kanzlei und der Reichskanzlei verfügten vor allem die Klöster und Stifte über geschulte Schreiber. Die Funktion des Kanzlers erfuhr dabei durch die Jahrhunderte einen Bedeutungswandel. Die Bezeichnung Kanzler tritt bereits im 4. Jahrhundert in der Bedeutung eines Gerichtsdieners auf, im fränkischen Reich als Gerichts- und Grafschaftsschreiber, im 9. Jahrhundert als Schreiber geistlicher Fürsten, im 10. Jahrhundert als Leiter erzbischöflicher Kanzleien. Unter Kaiser Otto I. verfestigte sich dieses Amt am königlichen Hof. Der lateinische Begriff cancellaria zur Kennzeichnung einer Beurkundungsstelle findet sich frühestens Ende des 12. Jahrhunderts und wird erst im 13. Jahrhundert im heutigen Sinn verwendet. Bischöfliche Kanzleien sind seit Mitte des 12. Jahrhunderts, landesherrliche Kanzleien wenige Jahrzehnte später nachweisbar: in Bayern seit 1209, in der Landgrafschaft Thüringen 1218, in der Landgrafschaft Meißen 1235. In größeren Städten wie auch in Klöstern werden Kanzleifunktionen über einzelne namentlich genannte Schreiber greifbar. Voraussetzung für die Entwicklung städtischer Kanzleien war die Ausbildung von Selbstverwaltungsorganen verbunden mit der Notwendigkeit, Beurkundungen vorzunehmen. So nutzten die Städte vor der Ausbildung eigener Schreibstuben diejenigen der nahen Klöster und Hospitäler. Insgesamt zeichnet sich bei der Entwicklung des Kanzleiwesens und damit der Ausbildung pragmatischer Schriftlichkeit eine gewisse West-Ost- und Süd-Nord-Verzögerung ab. Kanzleien waren in der Anfangsphase keine fest eingerichteten Institutionen, sondern arbeiteten vielfach mit Gelegenheitsschreibern. Mit zunehmender Schriftlichkeit kam es dann zu einer stärkeren Ausdifferenzierung der Verwal-
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tungsaufgaben, zur Ausbildung von Abteilungen mit eigener Schriftgutverwaltung und zur Nutzung von Formelbüchern als interne Hilfsmittel. Voraussetzung dafür war die Verfügbarkeit professioneller Schreiber und Notare, die formal und inhaltlich korrekte Urkunden abfassen konnten. In engem Zusammenhang mit den Kanzleien entwickeln sich die Archive als Rechtsarmarien der verschiedenen Institutionen. Angesichts der Reisetätigkeit der Könige und vieler Fürsten lagerte man die Urkunden zunächst in Kisten, die durch mehrere Schlösser gesichert waren und mitgeführt werden konnten. Die Amtsbücher blieben hingegen als ständige Hilfsmittel in der Kanzlei aufgestellt. Mit dem Anwachsen der Archivbestände wuchs auch die Notwendigkeit, die Rechts- und Besitztitel bei Bedarf schnell aufzufinden. Als Hilfsmittel zur Auffindung der Urkunden entstanden seit dem 14. Jahrhundert Repertorien, von denen frühe Exemplare aus der Kanzlei des Bischofs (1316) und des Domkapitels (1374) von Freising oder der Herzöge von Bayern-Ingolstadt (1417) erhalten blieben. Die Entwicklung dieser Findmittel verläuft dabei vom Kopialbucheintrag mit zusätzlicher Angabe des Lagerorts bis hin zum reinen Archivverzeichnis. Im Kopialbuch wurden die Originalurkunden abschriftlich erfasst und mit kurzen Inhaltsangaben versehen, im Register die Urkunden in Kurzform mit Datum wiedergegeben. Die eingetragenen Urkunden- und Aktengruppen wurden bevorzugt nach Sachgruppen alphabetisch gegliedert. Genügten die Buchstaben des Alphabets zur Kennzeichnung der Laden nicht mehr aus, so benutzte man das mehrfache Alphabet (AA, AAA) oder verschiedenfarbige Fassungen wie etwa im Losungamt der Stadt Nürnberg (vgl. Fleischmann 2000, 164ff.). Neben alphabetischen und nummerischen Systematiken treten auch Sonderzeichen auf, die an Hausmarken erinnern. Mit der Verfestigung des Kanzleiwesens setzt im Spätmittelalter die Aktenproduktion ein. Als Hauptmerkmal der Akten gilt der wechselseitige Schriftverkehr. Das auslaufende Schriftstück wird im Akt als Konzept abgelegt, während die Antwort des Korrespondenzpartners als Original erscheint (vgl. Scherzer 1992, 145ff.). Auf diese Weise ist es möglich, den Gang einer Verhandlung anhand der abgelegten Schriftstücke nachzuvollziehen. Zum besseren Verständnis des Sachverhalts liegen den Akten ältere Urkunden und Amtsbuchauszüge in Abschrift bei. Eine Sonderform des Schriftwechsels sind die seit etwa 1240 vom Empfänger besiegelten und zurückgesandten Mandate. Auf diese Weise teilte der Empfänger mit, dass er die Benachrichtigung zur Kenntnis genommen hat. Bei Rundschreiben führte dies zur Mehrfachbesiegelung bzw. zur Mehrfachunterschrift. Lorenz Fries, der Sekretär der Bischöfe von Würzburg, beschrieb die Aufgaben der Registratur in einer Kanzleiordnung wie folgt: »Des registrators ambt ist, solche brive und schriften an geburende ort aigenlich zu erlegen, damit er dieselben zu ferner notturft gewislich wider finden und ufzulegen wisse« (ebd., 145). Solche oder ähnliche Formulierungen finden sich seit dem ausgehenden Mittelalter in vielen Kanzleihilfsmitteln und Archivrepertorien.
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3.
Kanzleitypen
3.1.
Reichskanzlei
Bei der Reichskanzlei handelt es sich um eine Beurkundungsstelle im Gefolge des Herrschers (vgl. Koch 1973; 1979; Appelt 1979; Bistricky 1998; Csendes 1981). In der Beurkundungspraxis vollzieht sich von der Merowinger- hin zur Karolingerzeit ein deutlicher Wandel. Die eigenhändige Unterschrift der Herrscher reduziert sich in der Karolingerzeit auf einen Vollziehungsstrich im Monogramm. Die Urkundenschrift verliert merklich an Kursivität und geht zur diplomatischen Minuskel über. Insgesamt gesehen entstehen klarere Formen. Auch die personelle Zusammensetzung der Kanzlei verändert sich. Während die merowingische Königsurkunde weltliche Hofbeamte – so genannte Referendare – rekognoszierten, ging die Kanzlei unter dem Hausmeier Pippin in geistliche Hände über. Erste höhere Notare treten zur Zeit Pippins in diplomatische Dienste und erhalten dort hohe kirchliche Ämter. Erstmals 819 tritt ein Hofkanzler auf, der nicht mehr aus dem Kreis der Notare hervorgeht, sondern von außen eingesetzt wird. Da der Hofkanzler nicht mehr selbst unterschreibt, treten seine Notare stärker in den Vordergrund. Das normierte Urkundenwesen der Reichskanzlei ging in den Wirren der Zeit Ludwigs des Frommen verloren. Ein deutlicher Wandel vollzog sich erst wieder mit dem Notar Heberhard (859), der sich durch hohe Professionalität auszeichnete und einen eigenen Stil entwickelte. Gehörte die Kanzlei zunächst zum Aufgabengebiet der Hofkapelle, begann sie sich im 12. Jahrhundert in eine eigenständige Behörde zu verwandeln. Gleichzeitig verlor die Hofkapelle ihre politischen Aufgaben, die nun auf die Kanzlei übergingen (vgl. Fleckenstein u. a. 1991, 70ff.). Aus merowingischer Zeit haben sich insgesamt 38 Originalurkunden in der Reichskanzlei erhalten. Von den ostfränkischen Karolingern zwischen 826 und 911 sind insgesamt 571 echte Diplome überliefert, davon 307 im Original, von den Ottonen und Saliern insgesamt 3.321 Urkunden und von Lothar III. bis Heinrich VI. 2.207 Urkunden, davon 880 im Original. Die Schriftgutproduktion der Reichskanzlei umfasste neben den rechtssichernden Präzepten rechtssetzende Gesetze (Placita, Mandate) und Briefe. Die Kanzler übernahmen als enge Vertraute der Herrscher zunehmend politische Aufgaben. Unter Heinrich VI. begann sich die Kanzlerwürde zu einem Hofamt zu entwickeln. Die eigentliche Kanzleileitung war unter Friedrich I. Barbarossa auf die Protonotare übergegangen. Die Zahl der Notare und Schreiber in der Reichskanzlei schwankte zwischen einem und fünf. Verbindliche und klar umgrenzte Kanzleiregeln gab es nicht. Zunehmende Schriftlichkeit führte seit dem späten 12. Jahrhundert zu stärkerer Vereinheitlichung und Formalisierung des Kanzleibetriebs. Mit vermehrter Urkundenproduktion im ausgehenden 12. Jahrhundert erhöhte sich die Zahl des Kanzleipersonals unter gleichzeitiger Aufsplittung in verschiedene Funktionen und Differenzierung der Schriftgutproduktion. Die juristische Ausbildung der Kanzleikräfte gewann sukzessive an Bedeutung. Die Besetzung der Kanzleiämter lag traditionell beim Herrscher (vgl. Jeserich u. a. 1983). Seit der Regierungszeit Rudolfs von Habsburg wurde der Kanzler durch einen
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Vizekanzler vertreten. Ab Adolf von Nassau beanspruchten die drei rheinischen Erzbischöfe die Besetzung der Kanzleiämter. Schließlich entwickelten sich unter Sigismund eigene Kanzleien für Böhmen, Luxemburg und vermutlich Schlesien. In Konkurrenz zur Reichskanzlei entstand eine eigene Hofkanzlei. Als erster Laie im Kanzleramt erscheint 1432 Kaspar Schlick, der sich zuvor im diplomatischen Bereich verdient gemacht hatte. Schließlich wird das Kanzleramt 1559 aufgelassen und die Leitung dem Vizekanzler übertragen. In der Reichsregimentsordnung von 1500 wird dem Mainzer Erzbischof die Bestellung der Kanzleibeamten offiziell zugesprochen. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass der König die Kanzlei nicht mehr zur Stärkung seiner Hausmacht nutzen konnte. Unter Ferdinand existierte wiederum eine Kanzlei mit zwei Abteilungen, die für Landes- und Reichssachen zuständig waren. Schließlich folgte 1620 unter Melchior Klesl die definitive Trennung zwischen Reichs- und Hofkanzlei.2 Die Überlieferung der Reichskanzlei speist sich bis ins 14. Jahrhundert aus der Urkundenproduktion, die ausschließlich als Empfängerüberlieferung erhalten ist. Sicher ist die Registerführung unter Heinrich VII. und Ludwig dem Bayern zu belegen.3 Eine nennenswerte Rechnungsüberlieferung konnte jedoch ohne eine zentrale Finanzverwaltung nicht entstehen. Im Unterschied zur Reichskanzlei kam es unter den französischen und englischen Königen bereits frühzeitig zu einer ausgeprägten Finanzverwaltung. Eine Rechnung der französischen Domänenverwaltung aus dem Jahre 1202 / 1203 blieb erhalten. Jedoch ging die Überlieferung zur französischen Finanzverwaltung 1737 mit dem Brand der Chambre des comptes fast vollständig verloren. 3.2.
Päpstliche Kanzlei
Das Vatikanische Archiv wurde unter Papst Paul V. (1612) eingerichtet und durch Papst Leo XIII. (1881) für die Geschichtsforschung geöffnet.4 In seiner heutigen Form geht das Vatikanische Archiv auf viele selbständige Teilarchive und Behördenregistraturen zurück (vgl. Fink 1951). Kernstück seiner Überlieferung sind die unter Papst Innozenz III. (1198) einsetzenden Registerserien.5 Die Registrierung erfolgte in der Regel nach den Originalen, teilweise auch nach den Konzepten (vgl. Frenz 2000).
2 3
4 5
Zur Überlieferung der Reichskanzlei in der Frühen Neuzeit vergleiche man Winkelbauer u. a. (2004). Zur Registerführung vgl. Csendes u. a. (1995, Sp. 581ff.). Eine Registerführung gab es an den Königshöfen in Frankreich unter Philipp August ab 1204, im Königreich Aragon unter Jakob I. (1213–1276), in England unter Johann (1199–1209), in Sizilien unter Friedrich II. ab 1230 / 1240, angiovinische Register ab 1265 (350 Bde.), in Sizilien unter aragonesischer Herrschaft von 1312 bis 1819 (über 1.100 Bände), in verschiedenen Serien, aus der Reichskanzlei unter Heinrich VII. 1311 / 1312 (nicht erhalten), unter Ludwig IV. von 1314 bis 1332 (vgl. Bansa 1971; 1974), unter Karl IV. 1361 / 1362 und in größerer Vollständigkeit ab König Ruprecht. Zur Entwicklung der päpstlichen Kanzlei zusammenfassend vgl. Rabikauskas u. a. (1991, Sp. 921ff.). Zum Geschäftsgang in der päpstlichen Kanzlei vgl. Herde (1967) und Schwarz (2005). Harry Bresslau (1958) nennt die Hauptserie der Register mit ca. 2.400 Bänden, die Register der Datarie bis Pius VII. mit 2.150 Bänden und die Brevenregister; Othmar Hageneder (1993) nennt
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Im 1. Jahrtausend werden die Kanzleibeamten über die Datumszeile der Privilegien fassbar. Als oberste Hofbeamte traten die so genannten iudices de clero auf, darunter der primicerius und der secundicerius notarium. Als eigentlicher Kanzleileiter ist der primicerius anzusprechen, der im 11. Jahrhundert durch den bibliothecarius ersetzt wurde. Die eigentlichen Geschäfte führte ein cancellarius, später ein vicecancellarius. Seit Honorius III. (1216) bleibt das Kanzleramt vakant, und seit 1320 werden nur noch Kardinäle zu Vizekanzlern bestellt. Bis ins 14. Jahrhundert war die apostolische Kanzlei die einzige Expeditionsbehörde der Kurie. Im Laufe des 14. Jahrhunderts entwickelte sich ein eigenes Büro für die Erledigung politischer Aufgaben. Diese politische Abteilung, oft auch camera secreta genannt, wird Ende des 15. Jahrhunderts zum Kollegium der apostolischen Sekretäre. Vizekanzler und Notare bedienten sich bei ihrer Arbeit privat angestellter Hilfskräfte, der Abbreviatoren, die 1463 ein siebzigköpfiges Kolleg bildeten. Die Skriptoren, etwa 100 an der Zahl, wurden 1436 ebenfalls zu einem Kolleg zusammengefasst. Zu nennen sind das Amt des Korrektors, das Siegelamt, das Registerbüro und die Signatura sowie die Prokuratoren als Vertreter der Petenten (vgl. Frenz 2000). Unter Bonifaz IX. wird der Datar greifbar, der das Datum auf die Suppliken setzte. Der 1588 als Behörde eingerichteten Datarie war das gesamte Gnadenwesen zugeordnet. Seit dem Amtsantritt Sixtus IV. (1471) wurden systematisch neue Kollegien gegründet, die nahezu ausnahmslos bis in die Napoleonische Zeit bestanden. Die einzelnen Ämter und Behörden verwalteten ihr Schriftgut selbst, so dass umfangreiche Registraturen entstanden. Als Kernstück des päpstlichen Archivs wird das von Sixtus IV. errichtete Archiv in der Engelsburg angesehen. Im Jahre 1798 wurde dieses in das Vatikanische Archiv überführt und durch weitere Archive ergänzt: Archive der Datarie (1892), der Borghese (1893), der Brevia Lateranensia (1906), des Konsistoriums (1917), des Brevensekretariats (1908) u. a. Die Bestände des Vatikanischen Archivs setzen im größeren Umfang erst im hohen und späten Mittelalter ein. Eine hervorragende Quelle zur europäischen Geschichte bilden die Registerserien. Die Bände sind meist nach Pontifikatsjahren mehr oder minder chronologisch geordnet, beginnen mit den Registern Johanns VIII. sowie Gregors VII. und setzen dann mit Innozenz III. (1198) fortlaufend ein (vgl. Diener 1972). Die Herausgabe der päpstlichen Register bis 1378 übernahm die École française d’Athènes et de Rome. Daran anschließend setzt das Repertorium Germanicum mit sämtlichen deutschen Betreffen – Personen, Orten – aus den vatikanischen Registerserien und Kameralbeständen ein. Der derzeitige Bearbeitungsstand reicht von 1378 bis 1471 und soll bis 1517 fortgeführt werden. Auf den Empfänger bezogen entstehen bei der Pius-Stiftung für Papsturkundenforschung nach Diözesen gegliederte Regestenwerke: Italia pontifica, Germania pontifica, Gallia pontifica. Die ursprünglich einheitliche Serie der Register spaltet sich seit dem 14. Jahrhundert durch die zunehmende Differenzierung des Geschäftsgangs in verschiedene Reihen. Die Avignonesischen Register (353 Bände) tragen ihren Namen nach dem Lagerort im
die Registra Vaticana, die Register aus Avignon, die Registra Lateranensia (bis 1503 insgesamt 2.359 Bände) sowie die unter Benedikt XII. (1334–1342) eingerichteten Supplikenregister.
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Papstpalast zu Avignon, von dem sie 1783 nach Rom zurückkehrten. Die Lateranregister beginnen mit der Regierungszeit Bonifaz’ IX., reichen bis Leo IX. und erhielten ihren Namen nach dem Aufbewahrungsort, an dem sie nach der Rückkehr aus Paris untergebracht waren. Sie zählen heute 2.467 Bände und betreffen fast ausschließlich Gratial- und Justizsachen. Als solche sind sie die wichtigsten Gegenstücke zu den Supplikenregistern. Diese umfassen 7.365 Bände und sind von Klemens VI. bis Leo IX. überliefert. Ende des 15. Jahrhunderts setzen die Brevia Lateranensia ein, die jedoch seit dem 16. Jahrhundert keinen näheren Aufschluss über den Inhalt der Supplik geben. Das Brevensekretariat produzierte zwischen 1554 und 1840 etwa 5.660 Bände. Im Unterschied zur Überlieferung der Register wurde derjenigen der Rechnungen bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Von der apostolischen Kammer – der zentralen Finanzbehörde – haben sich Hauptbücher in großer Zahl erhalten (vgl. Weiß 2003; Märtl 2005). Besonders hinzuweisen ist auf die drei Gruppen dieser Überlieferung: Introitus et Exitus, Collectoriae und Obligationes et Solutiones. Die spätere Überlieferung der apostolischen Kammer liegt heute im Römischen Staatsarchiv. Die Hauptbücher der kurialen Finanzverwaltung beginnen gegen Ende des 13. Jahrhunderts und reichen bis ins 16. Jahrhundert, von 1279 bis 1528 sind insgesamt 566 Bände erhalten. Die Collectoriae Camerae enthalten in der Hauptsache Abrechnungen der päpstlichen Kollektoren vom Ende des 13. Jahrhunderts und bieten in 504 Bänden wichtige Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, Topographie und Statistik. Bei den Obligationes et Solutiones handelt es sich vorwiegend um Register, in denen Zahlungsverpflichtungen und Quittungen über erfolgte Zahlungen gebucht sind. Sie zählen 88 Bände und gehen von 1295 bis 1509. Die Diversa Cameralia reichen in 253 Bänden von 1289 bis 1572 (vgl. Frenz 2000). 3.3.
Fürstenkanzlei
Die Schriftlichkeit der Verwaltung war im 12. Jahrhundert bereits so weit fortgeschritten, dass die Ausbildung fester Kanzleiformen notwendig wurde (vgl. Wild 2005). Diese werden zunächst bei den geistlichen, dann auch bei den weltlichen Landesherren und Adelsgeschlechtern fassbar (vgl. Noichl 1978). Formular und äußere Gestaltung der bayerischen Herzogsurkunden stehen anfänglich unter dem Einfluss der Königsurkunde (vgl. Wild 2005). Über die Rechtsgeschäfte der bayerischen Herzöge informieren die knapp gehaltenen Traditionsnotizen der bayerischen Hochstifte und Klöster.6 Heinrich der Löwe war Herzog von Sachsen und Bayern, jedoch ist nur für sein sächsisches Herrschaftsgebiet eine Kanzlei in Braunschweig nachweisbar. Für das Herzogtum Bayern ist erstmals unter den Wittelsbachern eine Kanzlei für das Jahr 1209 belegt.7 Aus dem Geschäftsschriftgut der bayerischen Herzöge sind überliefert: Register im diplomatischen Sinn, Urbare, Lehenbücher, Schuldregister, Pfandbücher, Rechnungen u. a. Ganz
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Aus der Zeit Ottos I. (1180–1183) liegen 24 Urkunden vor (vgl. Rall 1976, 274). In diesem Zusammenhang sei auf die durch Peter Acht (1936) und Hans Rall (1937) entstandenen Dissertationen hingewiesen. Kopialbücher der Pfälzer Kanzlei sind seit 1356, Registerbände seit 1353, Zinsbücher seit 1350 / 1361 erhalten (vgl. Rall 1976, 285; Ettelt 1992; Spitzlberger 1993; Brockhoff / Krenn 2003).
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allgemein beginnt die Registerführung an deutschen Fürstenhöfen in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts.8 Der politische und administrative Briefverkehr wird erst im 14. und 15. Jahrhundert in ausreichender Dichte fassbar (vgl. Holzapfel 2008; Hochedlinger 2009). Die Kanzlei übernahm zusätzlich Aufgaben in der Finanzverwaltung, da dort die nötigen Schreib- und Verwaltungskenntnisse vorhanden waren (vgl. Mersiowsky 2000, 125).9 Die überlieferten Rechnungen stammen von unterschiedlichen Verwaltungsebenen, von zentralen, mittleren und unteren Instanzen. Die Überlieferung der landesherrlichen Rechnungen setzt mit der Reiserechnung des Bischofs Wolfger von Passau (1203 / 1204) und einem Fragment der Herren von Bolanden (1258 / 1262) ein (vgl. ebd., 43). In den bayerischen Teilherzogtümern beginnt die Rechnungsüberlieferung Ende des 13. Jahrhunderts mit Bänden des oberen Viztumamts 1291 / 1294, des Viztums von Straubing 1335 (vgl. Vogeler 1999), des Landschreibers von Straubing 1368 sowie mit den Kammerbüchern des Herzogtums Bayern-München 1393 / 1399. Noch im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts waren die Rechnungsbücher wenig strukturiert (vgl. Mersiowsky 2000, 112). Mitte des Jahrhunderts begannen die Schreiber damit, Überschriften und Teilsummen zu bilden und für jede Einzelbuchung eine neue Zeile zu beschreiben (vgl. ebd.). Überlieferte Teilrechnungen und eingeheftete Rechnungsbelege lassen den Informationsfluss erkennen, aus dem heraus der Schreiber zunehmend routinemäßig eine Hauptrechnung erstellte. Als Vorform der Hauptrechnungen nimmt Mersiowsky ein kontinuierliches, tagebuchartiges Verzeichnis an (vgl. ebd., 302). Die bischöflichen Kanzleien lassen ebenfalls eine hohe Professionalisierung erkennen. Neben der Funktion als geistliches Oberhaupt der Diözese war ein Bischof zugleich Landesherr im Gebiet des Hochstifts. Die Verwaltung und damit die Schriftgutüberlieferung ist aufgeteilt in diejenige des Bischofs und des Domkapitels. Letzteres gliedert sich seit dem 12. Jahrhundert in die Vermögensmassen des Propstes und des Kapitels. Als Beispiele für die Verwaltung bischöflicher Kanzleien wird auf diejenigen von Köln, Würzburg und Regensburg verwiesen (vgl. Janssen 1983; Acht 1988). Die Kanzlei der Erzbischöfe von Köln war nach dem Vorbild der Reichskanzlei organisiert. Kanzleichef war ein cancellarius oder capellarius / capellanus aus dem Domkapitel, dem zwei bis drei Notare, darunter ein protonotarius, zur Seite standen. Die Trennung von Kanzlei und erzbischöflicher Hofkapelle – cancellaria que vulgo capellaria vocatur – wird in
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Zur Registerführung vergleiche man die Dissertationsschrift von Julia Hörmann (1998). Eine Registerführung gibt es bei den Erzbischöfen von Trier 1313 / 1314, in der Grafschaft Hennegau zwischen 1287 und 1312, bei den Grafen von Holland in den Jahren 1324ff., den Grafen und Herzögen von Cleve-Mark 1356, den Erzbischöfen von Mainz 1347, den Erzbischöfen von Salzburg 1364, den Bischöfen von Speyer nach 1336, den Erzbischöfen von Köln 1370; Tiroler Register sind ab Meinhard II. 1308 zu finden, bei den Markgrafen von Brandenburg 1342 usw. Weitere frühe Territorialrechnungen haben sich erhalten für das Herzogtum Brabant 1257, das Herzogtum Kärnten 1268 / 1273, die Grafschaft Tirol 1288ff. (Tiroler Raitbücher), die Grafschaft Geldern 1291, die Grafschaft Bar 1291 / 1292, die Grafschaft Hennegau 1295 / 1304, Territorialrechnungen des Salzburger Vitztumamts 1284 und für das Herzogtum Österreich 1326 / 1338. Die Überlieferung im deutschen Nordwesten setzt in einer Reihe von Territorien in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein. Zu den Tiroler Raitbüchern vergleiche man Haidacher (1993; 1998).
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Köln mit dem Regierungsantritt des Bischofs Konrad von Hochstaden (1238–1261) vollzogen. Die Wahrnehmung der geistlichen Obliegenheiten war einem Offizial (iudex ordinarius) übertragen. Dessen Gerichtsbarkeit wird in den Bistümern Köln und Regensburg um 1250 greifbar (vgl. König 2003, 182ff.). Gleichzeitig entstanden mit den Offizialaten neue Beurkundungsinstanzen. Schon 1319 / 1320 erhielt das Kölner Offizialat ein Organisationsstatut und eine Geschäftsordnung (vgl. Janssen 1983). Ein erzbischöflicher Notar legte 1295 ein Kopiar der wichtigsten Urkunden an, die ersten Lehensregister folgten 1363 / 1364. Das Kopiar war in die Sachgruppen 1. Allodialia, 2. Pronunciaciones, 3. Castra aperta, 4. Feuda simplicia, 5. Feuda castrensia gegliedert. Zeitgleich entstehende Registerauszüge zu bestimmten Sachkomplexen weisen auf die später gebildeten Sachaktenregistraturen hin. Mitte des 15. Jahrhunderts ging man dazu über, die Papierkonzepte nicht mehr zu vernichten, sondern aufzubewahren. Dies war der Übergang zur Aktenführung und Registraturbildung, die das Registerwesen allmählich verdrängten und überflüssig machten. Die erste kölnische Hof- und Kanzleiordnung datiert in das Jahr 1469, eine Dienstanweisung für den erzbischöflichen Kanzler in die Zeit um 1490. Die Würzburger Kanzleiordnungen setzen 1506 ein (vgl. Frenz 1984). Für das bischöfliche Archiv auf der Feste Marienberg existierte bereits im 14. Jahrhundert ein Verzeichnis. Demnach war der Archivbestand auf zehn Kästen mit den Buchstaben A bis K aufgeteilt. Im 15. Jahrhundert kamen zwei weitere Kästen hinzu. Die Neuordnung der Registratur zu Beginn des 16. Jahrhunderts geht auf den Kanzleivorstand und Geschichtsschreiber Lorenz Fries zurück (vgl. ebd.). Die Registerführung der fränkischen Hochstifte setzt in Bamberg spätestens unter Bischof Lampert (1374–1399), in Würzburg unter Bischof Gerhard von Schwarzenberg (1372–1400), in Eichstätt unter Bischof Johann von Heydeck (1417) ein (vgl. Wild 1983, 96). In den Hochstiften Mainz und Passau beginnt die Registerführung Mitte des 13. Jahrhunderts (vgl. Rück 1975). Die Registereinträge basieren teils auf Konzepten, teils auf Originalen. Die Rechnungslegung und Rechnungsführung der deutschen Hochstifte setzt Ende des 13. Jahrhunderts ein, beginnend mit den ältesten kurkölnischen Rotuli 1277–1291 und den Rechnungen des Salzburger Viztums 1284.10 Normative Quellen wie Ämterund Rechnungsordnungen beginnen im 15. / 16. Jahrhundert. Die gesamte Bandbreite hochstiftischer Rechnungslegung lässt sich am Beispiel des Hochstifts Bamberg ablesen (vgl. Krausert 1956). 3.4.
Städtische Kanzlei – öffentliche Notare
Das Schriftwesen der Städte beginnt mit der Ausfertigung von Siegelurkunden, gefolgt von Rechnungs- und Ratsbüchern (vgl. Pitz 1959; Steinführer 2005). Nicht nur in der
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Rechnungen des Erzbistums Prag sind aus dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts erhalten. Die Prager Kapitelsrechnungen sind von 1363 bis 1381 und 1394 bis 1419 belegt, die Rechnungen des Hochstifts Freising beginnen 1397 / 1401 (Hinweise darauf finden sich bereits im frühen 14. Jahrhundert im so genannten Notizbuch Bischof Konrad Sendlingers), diejenigen des Regensburger und des Konstanzer Domkapitels 1360 und diejenigen des Hochstifts Bamberg 1420.
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städtischen Kanzlei entstand Schriftgut, sondern auch bei den sonstigen Dienststellen, wie die den Amtsbüchern beiliegenden Notizen erkennen lassen. Die Hauptaufgabe der städtischen Kanzlei bestand im Abfassen und Ausfertigen von Urkunden und Briefen des Rates. Zahlenmäßig die meisten Urkundengruppen betraf die freiwillige Gerichtsbarkeit, insbesondere den Grundstücksverkehr und die Testamente. Eine wichtige Gruppe städtischer Urkunden sind diejenigen der Richter und Schöffen, die im 13. / 14. Jahrhundert zunehmend hinter den Ratsgremien als Beurkundungsinstanz zurücktreten. In den Städten an Rhein, Maas und Mosel stellt das Schöffenkolleg die älteste Verwaltungsbehörde dar. Dabei geht die Ausbildung der städtischen Siegelurkunden zeitlich mit dem Ausbau der Ratsverfassung einher. Deshalb beginnt in vielen Städten die beurkundende Tätigkeit der Bürgerschaft in Form der Mitbesiegelung. Nach der Ausformung der Kanzlei führte der Stadtschreiber den Schriftverkehr, protokollierte die Ratssitzungen und übernahm diplomatische Funktionen. In größeren Städten lag die Leitung der Kanzlei in der Hand eines so genannten Protonotars oder obersten Schreibers, daneben wirkten ein Rentkammerschreiber und weitere Kanzleischreiber. Der Stadtschreiber führte Stadtbücher, Ratsprotokolle und Korrespondenzen, fertigte die städtischen Urkunden aus, veröffentlichte die Ratsentscheidungen und war für das Archiv verantwortlich (vgl. Burger 1960; Kropaþ 2000). Er verwahrte das Signet und verwendete es auf Geheiß des Rats oder des Briefmeisters. Die offenen Briefe des Rats hatte er vor dem Auslauf in ein Register einzutragen, die geschlossenen Briefe hingegen nur auf besondere Anweisung. Aus dem Beschlussprotokoll wurde im 16. Jahrhundert das Sitzungsprotokoll. Stadtschreiber treten unter der Bezeichnung notarius civium seit dem frühen 13. Jahrhundert auf: Köln 1227, Schwäbisch Hall 1228, Braunschweig 1231, Regensburg 1233, Strassburg 1233, Lübeck 1243, Basel 1250, Augsburg 1258, Zürich 1275, Wien 1276. Vereinzelte Hinweise sprechen auch dafür, dass Schreibarbeiten durch benachbarte Klöster oder einen Schulmeister besorgt wurden. Einblick in den Kanzleibetrieb bieten die Stadtschreiberordnungen von Augsburg 1362 / 1363, Winterthur 1520 oder Bruchsal 1551. Die öffentlichen Notare treten im deutschsprachigen Raum Mitte des 13. Jahrhunderts unter der Bezeichnung tabelliones auf (vgl. Schuler 1976; Gawlik u. a. 1993; Meyer 2000). Als kaiserlich oder päpstlich autorisierte Notare waren diese berechtigt, öffentliche Urkunden unter Beachtung spezieller Formvorschriften – Eingangsdatierung, Unterschrift, Signet – auszustellen. De facto ließ das Besiegelungsrecht der Gerichtsherren den Notaren nur geringe Möglichkeiten der Betätigung. Anders verlief diese Entwicklung in Italien und Südfrankreich. Dort führte der erhöhte Bedarf an notariellen Schriftsätzen bereits um 1120 (Genua) zu deren Protokollierung mit anschließender Aufbewahrung. Es entstanden die so genannten Imbreviaturbücher. Unter italienischem Einfluss fand das öffentliche Notariat zunächst in Südfrankreich und Mitte des 13. Jahrhunderts in Deutschland Eingang. Frühe städtische Urkunden sind seit der Mitte des 12. Jahrhunderts aus Italien und Frankreich überliefert (vgl. Prevenier / Hemptinne 2000): Genua 1122, Péronne 1151, Amiens 1152, Valenciennes 1155. In den Städten an Rhein, Main und Donau wird die beginnende Beurkundungspraxis der Bürger über die Stadtsiegel greifbar (vgl. Diederich 1984; Dirmeier 2008). Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts sind städtische Siegelurkunden aus dem südost- und mitteldeutschen Sprachraum erhalten: Regensburg 1213,
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Wien 1221 / 1231, Altenburg 1268, Leipzig 1287 und Westfalen seit dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts. Neben der Siegelurkunde treten seit dem 14. Jahrhundert auch Chirographe (Spaltzettel) auf, die eher für kleinere Rechtsgeschäfte gebraucht wurden. Grundsätzlich ist bei der Ausbildung der städtischen Kanzleien von einem engen Zusammenhang zwischen kommunaler Schriftlichkeit und kirchlichen Kanzleien auszugehen. Nichturkundliches städtisches Geschäftsschriftgut entsteht in Frankreich und Italien ab dem 12. Jahrhundert, in Deutschland mit Rats- und Rechnungsbüchern ab dem 13. Jahrhundert. Die Überlieferungssituation für die Städte Köln, Lübeck, Nürnberg ist außerordentlich gut und beginnt bei der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Liegenschaftssachen. Diese setzt 1130 bei den Kölner Sondergemeinden mit den so genannten Schreinskarten ein,11 die ab 1230 in Buchform fortgesetzt werden. Anders verlief die Entwicklung in Lübeck. Dort verzichtete man auf das Umschreiben der Vorakten in Bücher und begnügte sich mit dem Aufbewahren der Zettel. Die zahlreich überlieferten Stadtbücher enthalten neben Privilegien- und Briefsammlungen vor allem Aufzeichnungen über bürgerliche Privaturkunden. Ernst Pitz betrachtet mittelalterliche Stadtbücher als frühe Form behördlichen Aktengutes (vgl. Pitz 1959, 23f.; Kropaþ 2000, 238ff.). Abschriften in Stadtbüchern sicherten zum einen die Überlieferung, falls die Originale beschädigt werden oder verloren gehen sollten, zum anderen dienten sie als eine Art Aktensammlung. Die ältesten bekannten Stadtbücher stammen aus Lübeck (1227), Rostock (1258), Stralsund (1270), Kiel (1264) und Augsburg (1276). Die Entwicklung der Stadtbücher verlief von Mischhandschriften hin zu zunehmend spezialisierten Amtsbüchern. Aus der Vielfalt der Stadtbücher des 14. Jahrhunderts sei hingewiesen auf Protokollbücher,12 Eidbücher, Botenbücher, Statutenbücher (Köln 1325 / 1326), Gerichtsbücher, Steuerregister, Neubürgerbücher (Lübeck 1259, Augsburg 1288, Straßburg 1292, Dortmund 1295, Nürnberg 1302, Frankfurt 1311, Soest 1302, Zürich 1351; vgl. Koch 2002), Achtbücher (Nürnberg 1285, Augsburg 1302), Urfehdebücher, Leibgedingsregister, Fehdebriefregister (Köln 1384–1420), Brief- oder Missivbücher (Lübeck 1366, Köln 1367, Hildesheim 1368), Geleitregister, Ämterordnungen und Verlassenschaftsinventare. Als Vorort der Hanse führte die Lübecker Kanzlei zwei Privilegienkopiare, das eine nach Ausstellergruppen (1298), das andere chronologisch (14. Jahrhundert) geordnet. Eine ähnliche Vielfalt herrschte im Rechnungswesen. Die diversen Sonderrechnungen, etwa zu Kriegskosten, Gesandtschaften, Reisekosten, Judenzins, Salzdepot, Zöllen, städtischer Waage, Akzisen, Pfandschaften, Ewiggeldern oder Leibgedinge, wurden in der Rentkammer zu einer Hauptrechnung zusammengeführt. Stadtrechnungen setzen in den oberitalienischen und französischen Städten im späten 12. Jahrhundert ein (Piacenca 1170, Siena 1226, Genua 1235, Florenz 1240, Avia 1246, Poitiers 1230, Ussel 1264, Millau 1266) und breiten sich nördlich der Alpen seit den 1270er-Jahren aus (Ypern
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Wolfgang Herborn (1995) verweist auf das Schreinswesen in Andernach (1190) und Metz (1197). Bekannt sind Protokollbücher aus Frankfurt, Köln, Nürnberg, Augsburg und Regensburg (verloren), entstanden Mitte des 14. Jahrhunderts.
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1267, Brügge 1280, Gent 1280, Dordrecht 1280, Osnabrück 1285, Koblenz 1276–1289, Augsburg 1320, München 1318, Köln 1351, Nürnberg 1377, Regensburg 1383). Mittelalterliche Rechnungsbelege blieben nur vereinzelt erhalten. Eine serielle Überlieferung von Rechnungsbelegen setzt erst im 16. Jahrhundert ein. In Duisburg sind nebeneinander zwei Typen von Rechnungstexten erhalten (vgl. Mihm / Mihm 2007): zum einen Rechenschaftsberichte auf Pergamentrollen, die zur Rechtfertigung vor den Kontrollgremien dienten, zum anderen Haushaltsjournale in Form von Papierkladden zur Überwachung der laufenden Einnahmen und Ausgaben. Daran zeigt sich, dass das alte mündliche Prüfungsverfahren erst allmählich durch schriftliche Rechnungslegung ersetzt wurde. 3.5.
Kloster- und Stiftskanzlei
Die Schriftlichkeit der hl. klösterlichen Verwaltung begegnet uns früh bei den Benediktinern in der Regel des hl. Benedikt und bei den Zisterziensern in der Carta caritatis. Immer wieder finden sich in liturgischen Handschriften auch administrative Notizen und Texte. Diese Entwicklung beginnt mit der schriftlichen Fixierung der Rechte über Grundbesitz, Eigenkirchen und Hörige, die durch Schenkungen und Tausch an Klöster und Stifte übergingen. Die zur Sicherung der Erwerbstitel ausgefertigten Urkunden gingen vielfach verloren, während Abschriften in Kopial- und Traditionsbüchern erhalten blieben. Zu den ältesten dieser Codices gehören das 824 angelegte Traditionsbuch des Hochstifts Freising und das Kopialbuch des Klosters Lorsch aus dem 12. Jahrhundert. Insgesamt sind etwa 30 Urbare vom Ende des 8. Jahrhunderts bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts überliefert. Im 13. / 14. Jahrhundert schwillt der Strom der Urbare, Rödel, Zinsregister, Stiftbücher, Lehensbücher, Schuldverzeichnisse, Teidingsbücher, Ehehaftordnungen und Ehehaftprotokolle gewaltig an. Für klösterliche Immunitätsbezirke und Hofmarken kommen vereinzelt Gerichtsbücher hinzu. Frühe Schriftlichkeit ist eng mit den Klöstern der Benediktiner und Zisterzienser verbunden (vgl. Goez 2003). So war der Zellerar eines Zisterzienserklosters gegenüber seinem Abt zur Rechnungslegung verpflichtet, zunächst wohl mündlich und spätestens seit 1190 schriftlich. Die hierarchische Struktur des Zisterzienserordens begünstigte hierbei die Ausbildung eines mehrstufigen Systems der Rechnungslegung. So forderte Abt Stephan Lexington um 1230 eine schriftgestützte klösterliche Administration. Dazu gehörte die Abrechnung aller klösterlichen Amtsträger bis hin zum Grangienmeister ebenso wie die Gegenüberstellung aller Einnahmen und Ausgaben in einer jährlichen Gesamtbilanz. Die Existenz eines Archivs bildete für Lexington die Voraussetzung für eine geordnete Geschäftsführung. »Alle Dokumente sollten gesammelt und geordnet werden, damit kein Schaden durch Diebstahl oder Betrug entstehe« (ebd.). Die zentralistische Verfassung des Ordens mit straffer Organisation, jährlichen Generalkapiteln und Visitationen förderte dabei die Verschriftlichung in den einzelnen Klöstern. Etwa gleichzeitig zum Reformwerk des Stephan Lexington werden in Altbayern effiziente Verwaltungskanzleien sichtbar. So verpflichtete Bischof Siegfried von Regensburg die Laienbrüder seines Bürgerspitals zur jährlichen Rechnungslegung (1230), und Abt Hermann von Niederalteich (1242) baute in dem gleichnamigen Benediktinerkloster ei-
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ne funktionsfähige Kanzlei auf. Seit der Zeit Hermanns von Niederalteich wurden dort Register, Urbare, Kopialbücher, Lehenbuch, Abtlisten, Formelbücher und Necrologien geführt (vgl. Klose 1967), zudem ein Güterverzeichnis des Klosters aus der Zeit Karls des Großen – der Breviarius Urolfi – kopiert. Das Archivregister des Klosters aus dem 14. / 15. Jahrhundert ist alphabetisch nach Verwaltungskomplexen, nach Privilegien der Kaiser, Könige, Herzöge und Bischöfe sowie nach Zollbefreiungen aufgebaut. Getrennt davon führten die Klöster eine zweite Schriftgutablage für geistliche Belange. Dort wurden Ablass- und Weihebriefe, Professzettel, Anniversare, Visitationsprotokolle und später Kapitelbücher verwahrt. Derartige Dokumente geistlicher Verwaltungsführung haben nur von wenigen Klöstern, wie etwa der Zisterze Kaisheim, die Säkularisation überdauert. Die Niederalteicher Kanzlei war im weitesten Sinne die zentrale Verwaltungsstelle des Klosterterritoriums. Leiter der Kanzlei von Niederalteich war der Abt, der die Einträge korrigierte, ergänzte und überwachte. Die Funktion von Notaren übernahmen die Verwalter einzelner Klosterämter, während die eigentlichen Schreibgeschäfte zwei Schreiber ausübten. Als deutlicher Hinweis auf ein ausgebildetes Kanzleiwesen gilt das Führen von Registern.13 Inhaltlich betreffen diese Register ausschließlich grundherrschaftliche Belange. Zur gleichen Zeit entstanden in verschiedenen Klöstern Sammelhandschriften, wie etwa in Niederalteich und dem Damenstift Obermünster (vgl. Mai 1976). Klösterliche Rechnungen (vgl. Toch 2000; Harvey 2002; Lübbers 2009) liegen u. a. für Christchurch (Canterbury) 1198 / 1199, Kingswood (Gloucestershire) 1241 / 1242, Beaulieu 1269, Westminster 1275, Saint-Maurice d’Agaune 1285 / 1286, Kaisheim 1288, Aldersbach 1291, St. Emmeram 1305 / 1306, Heilsbronn 1338, Scheyern 1339, Amorbach 1349, Regensburg-Obermünster 1368 oder Regensburg-Niedermünster 1379 vor. Dabei scheint es, dass die ältesten Rechnungen anlässlich der gemeinsamen mündlichen Rechnungslegung der einzelnen Klosterämter vor dem Abt oder Propst entstanden. Diese schriftliche Zusammenfassung mündlich vorgetragener Rechenschaftsberichte diente vor allem als Gedächtnisstütze. Bei den Regensburger Klöstern und Stiften vollzog sich der Übergang von den in Satzform formulierten Einträgen zur Tabellenform in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. 3.6.
Kanzlei der Kaufleute und Händler
Um den Überblick über Forderungen und Verbindlichkeiten zu behalten, bedienten sich die Kaufleute und Händler seit dem 13. Jahrhundert der Buchhaltung und seit 1340 vereinzelt der doppelten Buchführung. Ältestes Zeugnis für die allmählich einsetzende Buchführung ist das Fragment eines florentinischen Bankiers aus dem Jahre 1211. Mit der Einführung von Journalen kam Ende des 14. Jahrhunderts die Aufzeichnung von
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Diese setzten in den Klöstern Altbayerns Mitte des 13. Jahrhunderts ein: in St. Emmeram 1219 / 1275, in Niederalteich 1242, Oberalteich 1245, Passau-St. Nikola 1264, in Scheyern 1266, Biburg 1267, Neustift 1292, in Regensburg-St. Johann 1305 und in Ensdorf 1335 (vgl. Wild 1973).
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I. Kanzleisprachenforschung im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte
Geschäftsvorgängen in chronologischer Form auf (vgl. Wülfing-Peters / Dini 1983; Arlinghaus 2002). Nach den Untersuchungen von Arlinghaus (2000) diente die Buchführung italienischer Kaufleute primär der Gedächtnisstütze und weniger der Kontrolle des Geschäftserfolgs. Sowohl nördlich als auch südlich der Alpen wurden vornehmlich die eingeräumten Kredite, also die Forderungen notiert. Die Fixierung der Informationen erfolgte in schwerfälliger Satzform und noch nicht in übersichtlichen Tabellen. Fernhändler und Großkaufleute versorgten die mittelalterlichen Zentren mit Tuchen, Gewürzen und allerlei Luxuswaren. Zunächst begleiteten sie ihre Waren selbst, später schlossen sie sich zu Fahrtgemeinschaften zusammen und wurden allmählich sesshaft. Die Geschäfte leiteten sie dann von einem zentralen Kontor, d. h. einer Schreib- und Geschäftsstube, aus. Dies bedingte wiederum die Verschriftlichung, um die Einkünfte und Schuldforderungen besser zu überblicken. Im Kontor waren die Geschäftsbücher, die Rechnungen und das Bargeld hinterlegt. Die Kaufleute notierten ihre Forderungen und Verbindlichkeiten in so genannten Handlungsbüchern. Bei den ausländischen Niederlassungen bediente man sich des Faktoreisystems. Jedoch hatte der Faktor – auch als Handlungsdiener oder Lieger bezeichnet – als Beauftragter einer Gesellschaft je nach Land unterschiedliche Funktionen. Mit dem Geschäftsbuch eines Lübecker Gewandschneiders aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, dem Geschäftsbuch der Nürnberger Holzschuher (1304–1307), dem Kaufmannsbuch der Warendorp / Clingenberg (1330 / 1331), dem Regensburger Runtingerbuch (1383–1407) oder den Geschäftsbüchern des Nürnberger Unternehmers Ulrich Stark (1426–1463) haben sich Beispiele früher Geschäftsunterlagen erhalten.14 Für den italienischen Raum sind vor allem die Geschäftsbücher der Medici und des Francesco Datini zu erwähnen. Das Firmensystem Datinis stellte den Prototypen einer Holding dar, die in den Medici-Firmen des 15. Jahrhunderts ihre volle Entwicklung fand (vgl. Dini 1986; Origo 1957). Die Buchhaltung Datinis ist ab 1383 erhalten und umfasst mehr als 500 Haupt- und Geschäftsbücher, etwa 300 Verträge sowie über 140.000 Briefe. Aus diesen Unterlagen erhalten wir Informationen darüber, wie umfangreich die Buchführung italienischer Kaufleute bereits im 14. Jahrhundert war, zum anderen bieten sie Einblick in ein europaweit agierendes Handelsunternehmen. Geschäftliche Aufzeichnungen waren nach Erledigung meist ohne Interesse und wurden deshalb vernichtet. Insgesamt ist die mittelalterliche und frühneuzeitliche Kaufmannsüberlieferung durch den Zufall geprägt.
14
Aus Nürnberg sind die Geschäftsbücher des Leupold Schürstab (1364–1383), des Ulman Stromer (1385 / 1390), der Kreß-Gesellschaft (1382–1397), des Marquart Mendel (1425–1438) und des Ulrich Stark (1426–1463) erhalten (vgl. Stromer 1967); zu Geschäftsbüchern aus Regensburg vergleiche man die Monographie von Klaus Fischer (2003).
11. Archive und Kanzleiorganisation
4.
145
Zusammenfassung
Die gesellschaftlichen Veränderungen des 12. / 13. Jahrhunderts, insbesondere die Herrschaftsintensivierung und der Ausbau der Städte, führten in allen Bereichen zu einer Zunahme und Ausbreitung der Schriftlichkeit. Aus den Beurkundungsstellen des Hohen Mittelalters entwickelten sich äußerst differenzierte Verwaltungskanzleien, die bereits Ende des Mittelalters auf gut strukturierte Aktenregistraturen zurückgreifen konnten. Durch die gemeinsame Ablage von einlaufendem Schriftgut, Notizen, Exzerpten und Konzepten zu bestimmten Sachverhalten entstanden Akten. Die diversen Randnotizen und Nachträge in den Amtsbüchern wurden damit überflüssig.
5.
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11. Archive und Kanzleiorganisation
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II. GEBIETE UND PHÄNOMENE Linguistische Analyseebenen und Forschungsansätze
Michael Elmentaler, Kiel (Deutschland)
12. Phonologie und Graphematik
1. 2. 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.2.1. 2.2.2.2. 2.2.2.3. 2.2.2.4. 2.2.2.5. 2.2.3. 2.3. 3. 3.1. 3.2. 4.
1.
Historische Graphematik und historische Phonologie – Zielsetzungen und Gegenstandsbereiche Historische Graphematik Abriss der Forschungsgeschichte Methodologie der historischen Graphematik Probleme autonomistischer Graphemanalyseverfahren Segmentale Graphematik Analysen zum Graphieninventar Analysen zur graphematischen Klassengliederung Analyse von kontextbedingten Schreibungen Analyse von freier Variation Analyse von lexemgebundenen Schreibungen Suprasegmentale Graphematik Schreibsprachwandel Historische Phonologie Dialektrekonstruierende Verfahren Lauthistorische Interpretation der schriftlichen Überlieferung Literatur
Historische Graphematik und historische Phonologie – Zielsetzungen und Gegenstandsbereiche
Die historische Graphematik (seltener auch: Graphemik) befasst sich auf der Basis überlieferter Schriftzeugnisse mit der Struktur, dem diachronen Wandel und dem synchronen Kontakt von Schreibsystemen aus der Zeit vor der orthographischen Kodifizierung. Graphematische Analysen bedienen sich in der Regel strukturalistischer Verfahrensweisen und zielen darauf ab, die Grundeinheiten des Systems (Graphe, Graphien, Grapheme, Allographe) und die Regeln ihrer Verknüpfung zu komplexeren Einheiten (z. B. graphischen Silben oder Wörtern) zu beschreiben. Hierbei spielt im Falle von Alphabetschriftsystemen – um die es hier ausschließlich geht – die Rekonstruktion der GraphieLaut-Zuordnungsregeln eine zentrale Rolle. Aufgabe der historischen Phonologie in einem strengen Sinne ist die Rekonstruktion historischer Phonemsysteme und ihres diachronen Wandels, insbesondere ihrer Weiterentwicklung zu den durch direkte Beobachtung erschließbaren Phonemsystemen der rezenten Dialekte. In einem weiteren Verständnis kann darunter eine Teildisziplin verstanden werden, die ganz allgemein auf die Erschließung historischer Lautverhältnisse unter Einschluss auch nicht-distinktiver und suprasegmentaler Lautphänomene und in nicht notwendigerweise systembezogener Perspektive abzielt.
152
II. Gebiete und Phänomene
Zwischen historischer Graphematik und historischer Phonologie besteht trotz der jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen ein enger Zusammenhang, da die Graphematik die Funktionsweise historischer Schreibsysteme nicht erklären kann, ohne Bezüge zur Lautebene herzustellen, während umgekehrt ein Teil der historischen Phonologie bei ihrem Versuch einer Rekonstruktion historischer Lauterscheinungen auch die überlieferten Schreibungen berücksichtigt.
2.
Historische Graphematik
2.1.
Abriss der Forschungsgeschichte
Bereits im 19. Jahrhundert setzt, insbesondere in der Germanistik, eine intensive Beschäftigung mit der volkssprachlichen Überlieferung ein, die als Erkenntnisquelle für die Erschließung historischer Dialektverhältnisse und für die Rekonstruktion des Prozesses der neuhochdeutschen Schriftsprachentstehung entdeckt wurde (vgl. Pfeiffer 1864; Heinzel 1874; Wuelcker 1877; Rückert 1878; Kauffmann 1890; Brandstetter 1890ff.; Arndt 1898; Scholz 1898; Forschungsüberblick bei Wilhelm 1932, XII–XX). Die schreibsprachhistorischen Arbeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie die Studien von Højberg Christensen (1918), Gleißner (1935), Schmitt (1936), Bach (1937; 1943) oder Boesch (1946) können aufgrund ihres Bemühens um ein genaueres Verständnis der Regelhaftigkeit und Funktionalität historischer Schreibsysteme als unmittelbare Vorläufer der historischen Graphematik aufgefasst werden. So nimmt etwa Schmitt (1936, 24, 71) bereits explizit auf strukturalistische Kategorien Bezug, indem er versucht, die Feldauffassung von Ipsen und Trier für die historische Schreibsprachforschung nutzbar zu machen. Die Herausbildung einer historischen Graphematik im eigentlichen Sinne wird üblicherweise in die 50er- und 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts datiert, als man unter dem Einfluss der strukturalistischen Phonologie, teils auch schon EDV-gestützt, versuchte, Untersuchungsprozeduren für die Analyse historischer Schreibsysteme sowie eine konsequente Terminologie für die Bezeichnung ihrer Basiseinheiten zu entwickeln. Die von Diderichsen (1953) und Spang-Hansen (1959) am Beispiel des Gegenwartsdänischen entwickelte autonomistische Methodik, die die Anwendung strukturalistischer Operationen wie der Distributionsanalyse und der Minimalpaarbildung vorsah, wurde in verschiedenen Studien an historischen Texten erprobt (vgl. Allén 1965; Sjölin 1970; Meijering 1974; Feitsma 1974; Zürcher 1978; Jaspers 1979; Sandberg 1983; Koller 1989; Larsen 2001, 59ff.; Glaser 1988, 319ff.). Auf der anderen Seite entwarfen McLaughlin (1963), Kettmann (1967), Piirainen (1968) und Fleischer (1966; 1970) eine ebenfalls strukturalistisch geprägte graphematische Methodik, die eine Bezugnahme auf ein lauthistorisches Referenzsystem impliziert, ein Verfahren, das seither ebenfalls in zahlreichen Arbeiten zur Anwendung gelangte und verfeinert wurde (vgl. Kap. 2.2.2.). Ein allen diesen Modellen gemeinsamer Ansatzpunkt ist die schreibsprachliche Variation. Bereits Hermann Paul (1880, 255f.) hatte die ausgeprägte Variation in vormodernen Kanzleitexten, entgegen dem damals vorherrschenden Verdikt der Willkür und Beliebigkeit, als regelhaft und prinzipiell interpretierbar erachtet. Alle graphematischen
12. Phonologie und Graphematik
153
Arbeiten basieren auf dieser Hypothese, dass schreibsprachliche Variation ein »natürlicher Aggregatzustand« (Mihm 2000, 367) nicht-kodifizierter Schreibsprachen sei und somit eine bedeutende Erkenntnisquelle für die historische Sprachwissenschaft darstelle (vgl. Milroy 1992, 156, 194; Elmentaler 2001). Unterschiedliche Auffassungen bestehen jedoch darüber, wie diese Variation am besten zu beschreiben sei und wie sie sich interpretieren lasse. Grundsätzlich können in der Kanzleisprachenforschung zwei Verwendungsweisen des Begriffs Variation beobachtet werden. Zum einen wird von Variation im Sinne einer synchronen Koexistenz von Schreibstilen gesprochen. Da das lateinische Buchstabeninventar für die Wiedergabe der volkssprachigen Lautungen nicht ausreichte (vgl. Grubmüller 1998, 302f.), wurden durch Buchstabenkombinationen oder mithilfe superskribierter Zeichen neue Möglichkeiten zur Wiedergabe des Gehörten geschaffen. Da diese Verschriftungsprozesse keiner zentralen Steuerung unterlagen, entwickelten sich landschaftlich oder domänenspezifisch differenzierte Schreibsprachen, aber auch innerhalb einer Region oder eines Verwendungsbereichs konnten sich unterschiedliche Schreibsysteme herausbilden. Hierbei dienten die lateinischen Lautzuordnungsregeln dem zeitgenössischen Leser als grobe Orientierung (vgl. Penzl 1971, 28f.; 1982, 170). Aufgrund der beruflichen Mobilität der Kanzleischreiber und ihrer individuellen Gestaltungsspielräume bei der Referenz auf die Lautung kam es auch innerhalb der Kanzleien zu einem Nebeneinander von diversen Schreibstilen, so dass der Begriff Kanzleisprache bereits eine starke Abstraktion darstellt und keinesfalls das Vorhandensein einer lokalen Schreibnorm impliziert (vgl. Hefele 1955; Haacke 1964; Meissburger 1965). Die Heterogenität dieser individuellen Verschriftungssysteme dürfte einerseits auf die jeweils unterschiedliche Wahrnehmung und Bewertung von Lauterscheinungen, andererseits aber auch auf divergierende pragmatisch-stilistische Zielsetzungen beim Schreiben zurückgehen. Von dieser Koexistenz von Schreibstilen ist die systemimmanente Variation als graphematische Variation im eigentlichen Sinne zu unterscheiden. Auch die individuellen Schreibsysteme sind oftmals durch ein aus moderner Sicht außerordentlich hohes Maß an Variation charakterisiert, deren systematische Beschreibung und funktionale Interpretation eine der zentralen Aufgaben der historischen Graphematik darstellt (vgl. Kap. 2.2.). Als zweite Hauptaufgabe kann die Untersuchung der Umstände und Gründe des diachronen Schreibsprachwandels betrachtet werden (vgl. Kap. 2.3.). In terminologischer Hinsicht gab es zahlreiche Vorschläge, innerhalb derer sowohl der zentrale Begriff des Graphems als auch die damit verbundenen Begriffe Graph, Graphie, Allograph usw. unterschiedlich definiert wurden (vgl. Kohrt 1985; 1998). Auf graphetischer Ebene ist zunächst zwischen Zeichenrealisierungen (als tokens) und Zeichentypen zu differenzieren, die man als Graph-Exemplare vs. Graphen bezeichnen könnte. Davon sollen im Folgenden die Graphien als graphematische Basiseinheiten unterschieden werden, die einem historischen Bezugslaut (Phonem oder Phon) entsprechen. Graphien können aus einem Graphen (Monographie, z. B. ) oder aus zwei oder mehreren (Digraphie, z. B. oder , Trigraphie, z. B. usw.) Graphen bestehen. Ein Graphem wiederum ist eine klassifizierte Einheit innerhalb eines Schreibsystems und kann mehrere Allographien als Realisierungsformen umfassen.
154
II. Gebiete und Phänomene
2.2. Methodologie der historischen Graphematik 2.2.1. Probleme autonomistischer Graphemanalyseverfahren Autonomistische Graphemanalyseverfahren gehen davon aus, dass die Struktur historischer Schreibsysteme ohne Rekurs auf die dem System korrespondierende Lautung beschrieben werden solle. Diese konsequente Fokussierung auf die Schriftebene lässt sich als Gegenbewegung zu der in der Sprachwissenschaft lange Zeit vorherrschenden Vorstellung verstehen, die Schrift verschleiere und verberge die wahre Struktur der Sprache (vgl. Elmentaler 1999, 87f.). In der historischen Graphematik konnten sich die autonomistischen Ansätze jedoch aus verschiedenen Gründen letztlich nicht durchsetzen. Zum einen lässt sich das von dieser Richtung als obligatorisch erachtete Verfahren der Minimalpaaranalyse auf historische Texte mit ihrem jeweils beschränkten und nicht beliebig erweiterbaren Umfang praktisch kaum anwenden, wie zuletzt z. B. entsprechende Versuche von Larsen (2001) gezeigt haben. Prinzipiell muss die Anwendbarkeit dieses Verfahrens auf variantenreiche Schreibsysteme, in denen der Austausch von Graphien oftmals keine Bedeutungsänderung hervorruft, in Zweifel gestellt werden (vgl. Kohrt 1998, 554f.). Ein zweites Problem der autonomistischen Graphemanalyseverfahren ist die lautunabhängige Segmentierung der Minimaleinheiten. Der hohe Aufwand, den einige Studien betrieben haben (diskutiert bei Larsen 2001, 55ff., 109ff.), um ohne Rekurs auf die Lautung Konsonanten- von Vokalgraphien zu unterscheiden oder Digraphien als Einheiten zu definieren, hat berechtigte Kritik an den »Selbstfesselungen« (Timm 1987, 72) der Autonomisten hervorgerufen, die das philologische Vorwissen vollständig ausklammern (vgl. Kohrt 1998, 556ff.). Der dritte und Haupteinwand gegen die autonomistischen Verfahren besteht darin, dass mit der Ausblendung des Lautbezugs die wichtigste Grundfunktion von Alphabetschriftsystemen außer Acht gelassen wird. Auch wenn ein Schreibsystem die Lautung nicht unmittelbar reflektiert und, wie schon Bach (1937, 29) bemerkt, nur eine »sehr kräftige abstraktion« der Mundart darstellt, besteht doch in der Wiedergabe von Lauten eine zentrale Aufgabe von Alphabetschriften (vgl. Larsen 2001, 31). Daher ist die Beschreibung der komplexen Beziehungen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit als eine wesentliche Aufgabe der historischen Graphematik anzusehen.
2.2.2.
Segmentale Graphematik
Bei der Analyse von Schreibsprachen kann, ähnlich wie im phonetisch-phonologischen Bereich, eine segmentale und eine suprasegmentale Perspektive eingenommen werden. Die meisten der bisher vorliegenden Studien vertreten in erster Linie einen segmentalgraphematischen Standpunkt, wobei sie auf strukturalistische Verfahrensweisen zurückgreifen. Damit gehen, ähnlich wie auch beim Übergang von der zur modernen Phonologie, einige grundlegende Neuerungen gegenüber der vorstrukturalistischen Forschung einher. Gegenstand sind nicht mehr nur isolierte schreibsprachliche Phänomene, sondern graphematische Systeme, deren innere Struktur über Distributionsanalysen ermittelt wird. Das impliziert eine exhaustive Analyse (vgl. Schmitt 1936, 24, 58, 71; Bach
12. Phonologie und Graphematik
155
1937, 32; Fleischer 1966, 7), denn nur bei einer lückenlosen Beschreibung des graphematischen Systems (bzw. des vokalischen oder konsonantischen Teilsystems) kann neben dem Variablen auch das Konstante erfasst und die Funktion der einzelnen Graphien genauer bestimmt werden (Glaser 1985, 13). In diesem Zusammenhang hat sich auch eine exakte Quantifizierung der Graphienhäufigkeiten durchgesetzt, auf die in älteren Arbeiten, wohl auch wegen des hohen Auswertungsaufwandes, häufig verzichtet worden war. Statistische Signifikanzprüfungsverfahren kamen bisher nur in wenigen Fällen zum Einsatz (vgl. Bentzinger 1973, 15f.; Elmentaler 1998), da der begrenzte Umfang der Korpora oftmals keine günstigen Anwendungsmöglichkeiten bietet. Als eine der wichtigsten methodischen Anforderungen an die historische Graphematik wurde schon früh die schreiberseparierende Quellenauswertung hervorgehoben (vgl. Paul 1880, 255f.; Tümpel 1894, 78), die jedoch nur in wenigen Untersuchungen tatsächlich praktiziert wurde (z. B. Brandstetter 1891; 1892; Højberg Christensen 1918; Müller 1953; Schwitzgebel 1958; Fleischer 1970). Kettmann (1967, 299) bezeichnet die Schreiberseparierung als »unerläßliche Vorbedingung« der graphematischen Analyse, und auch der Niederlandist Berteloot (1995, 123) weist auf das »plus aan informatie« hin, das durch die »individualiserende methode« zu erlangen sei, denn nur hierdurch ließen sich die Motive der Schreiber rekonstruieren und genauere Aufschlüsse über das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit erlangen. Wie Moser (1977, 98f.) zeigt, läuft eine nicht schreiberdifferenzierende Analyse Gefahr, graphematische Differenzierungen zu neutralisieren. Segmentalgraphematische Analysen können auf verschiedenen Ebenen operieren, wobei sie jeweils spezifische Einblicke in die Funktionalität historischer Schreibsysteme geben. Grundsätzlich lassen sich folgende Analysemöglichkeiten unterscheiden: a) Analysen zum Graphieninventar, b) Analysen zur graphematischen Klassengliederung, c) Analyse von kontextbedingten Schreibungen, d) Analyse von freier Variation und e) Analyse von lexemgebundenen Schreibungen. 2.2.2.1.
Analysen zum Graphieninventar
Die Graphieninventare volkssprachlicher Schreibsysteme sind in der Regel deutlich umfangreicher als die zeitgleichen Inventare für das Lateinische, das z. B. im Bereich des Vokalismus weitgehend mit fünf Vokalgraphien auskommt (vgl. Elmentaler 2003, 92ff.; Mihm 2004b, 348ff.). Zugleich lassen sich jedoch auch bei den volkssprachlichen Systemen große Unterschiede im Umfang der Inventare und in den Graphienpräferenzen feststellen, die auf die (synchrone und diachrone) Existenz unterschiedlicher Schreibstile auch innerhalb einer Region oder Kanzlei hindeuten. Die Aussagekraft dieser rein ausdrucksseitigen Analysen ist allerdings beschränkt, da ohne Berücksichtigung der Lautreferenz die Funktion der einzelnen Graphien nicht erfasst werden kann. Um erklären zu können, wie sich innerhalb einer Kanzleisprache neue Graphien etablieren können, wäre eine systematische Untersuchung der Graphienwanderung über verschiedene europäische Schreibsprachen hinweg aufschlussreich, etwa zur empirischen Überprüfung der Frings’schen These einer Ausbreitung des nachgestellten bei Vokalgraphien von Frankreich über Flandern nach Deutschland (vgl. Frings 1939, 86ff.).
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II. Gebiete und Phänomene
2.2.2.2. Analysen zur graphematischen Klassengliederung Die graphematische Klassenanalyse zielt darauf ab, schreibsprachliche und lautliche Strukturen in systematischer Weise aufeinander abzubilden, um Aufschluss über die lautreferenzielle Funktion der Graphien eines Schreibsystems zu gewinnen. Hierzu werden zunächst sämtliche Graphien einer Stichprobe auf die Einheiten eines lautetymologisch definierten Referenzsystems projiziert. Als Referenzsystem wird in germanistischen Arbeiten teils ein idealisiertes Lautsystem des Mittelhochdeutschen, teils das Lautsystem des Westgermanischen herangezogen; im romanistischen Bereich dient das Lateinische als Folie. Die Einheiten dieser Referenzsysteme werden in Anlehnung an Fleischer (1966) häufig als Phoneme bezeichnet, was kritisiert wurde, da »das zugrundeliegende phonologische System [...] nicht bekannt sein kann (sondern vielmehr erst aus der Analyse des Geschriebenen rekonstruiert werden soll)« (Kohrt 1998, 558). Börner (1976, 24f.) und Glaser (1985, 31) sprechen daher von »Meta-Elementen« bzw. »Metaphonemen« im Sinne abstrakter, lautetymologisch (nicht phonologisch) definierter Einheiten, die sich auf ein lediglich als Ordnungsschema dienendes »Metasystem« beziehen. In anderer Terminologie wird hierfür der Begriff »Lautposition« verwendet (Mihm 2000, 372; Elmentaler 2003, 97ff.). Hierbei wird – unter Rekurs auf den Lautstand der modernen Dialekte – auch die Stellung, in der ein Referenzlaut sich befindet (bei Vokalen z. B. der konsonantische Folgekontext oder die Silbenstellung), mit einbezogen. In ähnlicher Weise verwenden auch andere Autoren ein mit Blick auf die regionalen Dialektverhältnisse modifiziertes mittelhochdeutsches Referenzsystem (vgl. Bürgisser 1988, 52f.; Freund 1991, 21; Wiesinger 1996, 19). Prinzipiell gilt, dass das Referenzsystem feinmaschig genug sein muss, um graphematische Differenzen (mit potenzieller Lautrelevanz) sichtbar werden zu lassen. Im Rahmen einer Distributionsanalyse wird für jede Einheit des Referenzsystems ermittelt, durch welche Graphien sie in welcher Häufigkeit realisiert wird (z. B. wgerm. /o:/ zu 50 % durch , zu 25 % durch und zu 25 % durch ). Werden mehrere Lautpositionen im Wesentlichen durch dieselben Graphien realisiert, kann von graphematischer Kollision gesprochen werden, die betreffenden Lautpositionen zählen zu derselben graphematischen Klasse. Da eine vollständig identische Realisierung von Lautpositionen in der Praxis nur selten vorkommt, muss anhand quantitativer Kriterien festgelegt werden, ab wann man von der Existenz einer graphematischen Klasse ausgeht (Glaser (1985, 39) verwendet hier das Konzept der »Leitgraphie«). Die graphematische Klassenanalyse liefert zunächst lediglich Erkenntnisse darüber, welche historischen Laute schreibsprachlich noch differenziert werden und welche nicht. Dieser Befund bedarf einer sorgfältigen Interpretation, da eine graphematische Kollision häufig keine lautliche Kollision impliziert. Wie zahlreiche graphematische Untersuchungen festgestellt haben, finden sicher anzusetzende Phonemoppositionen oftmals in der Schriftlichkeit keinen Niederschlag, während umgekehrt nicht-distinktive Lautunterschiede gelegentlich wiedergegeben werden. Hieraus lässt sich folgern, dass historische Schreibsprachen nicht, wie es häufig angenommen wurde, ausschließlich funktional relevante, also distinktive Lautoppositionen reflektieren (diese These findet sich schon bei Paul 1880, 246; vgl. Glück 1987, 75f.). Dementsprechend ist auch Fleischers (1965, 462) These, die graphematische Variation hätte »ihre klaren Grenzen dort, wo Oppositionen ge-
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fährdet werden könnten, die für den Kommunikationseffekt notwendig sind«, in dieser Pauschalität nicht haltbar, da durchaus graphematische Kollisionen stattfinden konnten, ohne den »kommunikativen Effekt« (Fleischer 1966, 95) zu gefährden (vgl. die Argumentation von Kohrt 1985, 331ff., 466f.; 1987, 148ff.). Dass bei der Verschriftung der Volkssprachen kommunikative Notwendigkeiten keine zentrale Rolle spielten, zeigt sich auch in der variablen Distanz, die die historischen Schreibsysteme zur Lautung aufweisen konnten. Während manche lautabstrahierenden Systeme z. B. im Vokalismus nur fünf graphematische Klassen aufweisen, werden in lautdifferenzierenden Systemen bis zu 18 vokalische Graphemklassen unterschieden (vgl. Mihm 2000, 375ff.; 2001a). Bei diesen schreiberspezifischen »Relevanzsetzungen« (Mihm 2002, 240) spielten offenbar eher stilistische als kommunikative Überlegungen eine Rolle. Auch im synchron-diatopischen Vergleich treten bedeutende Systemunterschiede zwischen den historischen Schreibsprachen zutage (vgl. Weber 2003).
2.2.2.3. Analyse von kontextbedingten Schreibungen Neben der Analyse der graphematischen Klassengliederung bildet die Beschreibung und Interpretation der Variation innerhalb dieser Klassen ein zentrales Ziel graphematischer Untersuchungen. Wenn eine Lautposition durch zwei oder mehr Graphien realisiert wird, stellt sich die Frage, ob diese Variation bestimmten Regeln folgt oder ob es sich um fakultative Varianten handelt. In diesem Zusammenhang spielt die Überprüfung potenziell variationsauslösender Kontexte eine entscheidende Rolle. Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass z. B. Vokalveränderungen vor bestimmten Folgekonsonanten (z. B. Dehnungen oder Diphthongierungen), die uns aus den rezenten Dialekten bekannt sind, durch Digraphien in den historischen Schreibsprachen reflektiert werden (Bischoff 1981; Elmentaler 1999; Mihm 2004b). Hierbei handelt es nicht um distinktive (phonematische) Lautphänomene, sondern um Wiedergaben kontextbedingter Allophonie, wie sie sich – entgegen gelegentlich geäußerter Erwartungen (vgl. die kritische Diskussion dieser »Binsenweisheit« bei Kohrt 1987, 157) – auch in anderen europäischen Schreibsprachen finden (Belege in Elmentaler 2003, 156f.). Hieran wird wiederum deutlich, dass sich die Kanzleischreiber nicht primär an kommunikativen Notwendigkeiten ausgerichtet haben können, sondern offenbar aufgrund ihrer individuellen »perception of a salient allophony« (Lass 1997, 58) auch funktional irrelevante, aber auffällige Merkmale zum Ausdruck gebracht haben.
2.2.2.4. Analyse von »freier« Variation Variation, für die keine Kontextbindung nachgewiesen werden kann, also in diesem Sinne freie Variation, stellte für die historische Graphematik stets eine besondere Herausforderung dar, da sie unseren Vorstellungen von einem geregelten Graphiengebrauch am stärksten widerspricht. Insbesondere für die wortbezogene Variation, die schon in den frühen schreibsprachhistorischen Untersuchungen als auffälliges Phänomen wahrgenommen wurde, wurde nach Erklärungen gesucht. Sieht man von der in vielen Fällen nicht plausibel zu machenden Hypothese ab, dass die Variation auf Nachlässigkeiten
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II. Gebiete und Phänomene
oder auf die Inkompetenz der Schreiber zurückzuführen sei, dann sind in der Literatur vor allem zwei Erklärungsmöglichkeiten in Betracht gezogen worden. Die erste geht davon aus, dass es in der Vormoderne ein graphematisches »Alternanzgebot« (Voeste 2008, 27) gegeben habe, wie es heute z. B. im Bereich der Lexik wirksam ist (vgl. Fleischer 1966, 17f.). Schon Rosenhagen (1909, XXIII) spricht von der »Freude« des Kanzleischreibers, »mit den verschiedenen ihm bekannten Schreibmöglichkeiten abzuwechseln«, Virgil Moser (1929, 39f.) vom »Schmuck der Schrift«, den er mit einer ornamentalen Tendenz von Gotik und Barock in Verbindung bringt, und Schmitt (1966, 24) von der »ästhetische[n] Freude an der Abwechselung«, wobei als Argument angeführt wird, dass die Graphienvarianten häufig »in unmittelbarer Nachbarschaft zweioder mehrfach auftreten« (Cordes 1968, 89; ähnlich Otto 1970, 287; Bentzinger 1973, 19; Voeste 2008, 31 sowie schon ein unbekannter Autor im Jahre 1732, zit. bei Nerius 2007, 321). Ein alternativer Erklärungsansatz bezieht sich darauf, dass die wortbezogene Graphienvariation lautliche Variationsspielräume reflektiere, wie wir sie auch aus der gesprochenen Sprache der Gegenwart kennen. Explizit findet sich diese Annahme bei Lass (1997, 65) mit Bezug auf die mittelenglische Schriftlichkeit ausgeführt: In such a situation, with spelling not as rigidly conventionalized as it is now, we would expect, if we construed tokens of a lexeme in a text as ›utterances‹, that the written variation would parallel the spoken. [...] The safest bet would seem to be taking orthographic variation as (roughly) mirroring phonological.
Gestützt wird diese These durch die Beobachtung, dass wortbezogene Graphienvariation nicht in allen Systembereichen gleichermaßen auftritt, sondern je nach Referenzlaut unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Das könnte darauf hinweisen, dass bei Lauten, die ein größeres allophonisches Variationsspektrum aufweisen, auch eine stärkere allographische Variation zu verzeichnen ist als bei Lauten mit geringerer Varianz (vgl. Elmentaler 2003, 167f.). Die Tragfähigkeit der beiden alternativen Hypothesen zur Deutung der wortbezogenen Variation bedarf noch einer Überprüfung auf breiterer empirischer Grundlage. 2.2.2.5. Analyse von lexemgebundenen Schreibungen Dass das Auftreten von Graphien an lexematische Kontexte gebunden sein kann, ist für viele volkssprachliche Schreibsysteme beobachtet worden, wobei Fleischer (1970, 457f.) bereits ausdrücklich auf die wichtige Rolle von Lexembindungen bei der Durchsetzung neuer Graphien hinweist. Doch erst in jüngerer Zeit beginnt die sprachhistorische Forschung diesem Phänomen im Zusammenhang mit dem Konzept der »lexikalischen Diffusion« (Labov 1994, 541ff.; Bybee 2002a; 2002b) stärkere Aufmerksamkeit zu schenken. So kann Denkler (vgl. 2006, 121ff.) lexikalische Diffusion bei der Übernahme hochdeutscher Lehngraphien in westfälischen Texten des 16.–18. Jahrhunderts nachweisen, in denen alte niederdeutsche Schreibungen weniger variablenweise als wortweise ersetzt werden. Für Kölner Urkunden des späten Mittelalters gelangen Bohn / Rapp (1995, 283) zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn sie feststellen: »›Neue‹ oder ›moderne‹ Formen kommen immer wortgebunden, nie ›lautgebunden‹ vor, und dies scheint der gän-
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gige Weg zu sein, auf dem sich die neuen Schreibtraditionen einbürgern«. Auf einige Beispiele für lexemgebundene Innovationen in den ostoberdeutschen Schreibsprachen des 16.–18. Jahrhunderts verweist Rössler (2005, 69, 73, 108, 196f. u.ö.). Voeste (2008, 130ff., 159ff., 171, 201f., 205f.) weist am Beispiel einiger Neuerungen in frühneuzeitlichen Drucken auf die Bedeutung der »Diffusion durch das Lexikon« hin. 2.2.3. Suprasegmentale Graphematik Eine Analyse von Schreibsystemen unter suprasegmentalen Gesichtspunkten bezieht sich auf graphematische Phänomene, die die Grenze des einzelnen Segments (der Graphie) überschreiten, also etwa Schreibsilben oder geschriebene Wörter und Sätze. Die Frage, inwieweit suprasegmentale (prosodische) Eigenschaften der Lautung wie etwa Rhythmus, Akzent, Intonation, Pausen usw. in der Schriftlichkeit reflektiert werden, ist Gegenstand einer quellenbasierten historischen Phonologie (dazu Kap. 3.). In der rezenten Orthographietheorie wird für das geschriebene Gegenwartsdeutsch häufig ein syllabisches Prinzip angenommen, nach dem sich – von Ausnahmen abgesehen – die graphische Worttrennung am Zeilenende richtet (Leh-rer, stau-big, gra-ben statt *Lehr-er, *staub-ig, *grab-en, vgl. Nerius 2007, 128ff.). Neuere diachrone Untersuchungen von Güthert (2005) deuten darauf hin, dass sich diese Praxis während des späten 16. Jahrhunderts weitgehend durchgesetzt hat, wobei allerdings noch lange Zeit danach Ausnahmen zu verzeichnen sind, die sich teilweise auch auf typographische Erfordernisse (z. B. keine Trennung der Ligaturen , , , ) zurückführen lassen. Für die Zeit vor der Durchsetzung der syllabischen Schreibregel hat neuerdings Voeste (2008, 116ff.) auf das Nebeneinander von silbischer und morphologischer Analyse (mit »Kompromisslösungen« wie manch=cherley) hingewiesen und die Wirksamkeit »graphotaktische[r] Präferenzregeln« (ebd., 120) in Betracht gezogen, aufgrund derer z. B. Umstellungen, Einfügungen oder Verschiebungen vorgenommen worden seien, um das Auftreten von Vokalen zu Beginn der zweiten Trennsilbe zu vermeiden (bay=ern > bay=ren, bau=en > bau=wen, Fraw=en > Fra=wen). Paul (1880, 257) sieht in der letzten Phase der neuhochdeutschen Schreibsprachentwicklung eine zunehmende Tendenz zu einer »direkte[n] Verbindung zwischen Schriftbild und Bedeutung« ohne Umweg über die Lautierung, d. h. eine Entwicklung zu einer immer stärkeren Leserorientierung durch morphologisches Schreiben, was er als »natürliche[n] Entwicklungsgang« von Orthographien betrachtet. In der Tat kann man in der stufenweisen Durchsetzung lautunabhängiger, suprasegmentaler Schreibmerkmale wie der Markierung von Wortgrenzen durch Spatien ab dem 9. Jahrhundert (vgl. Nerius 2007, 170), der Kennzeichnung von Wortklassen durch wortinitiale Großschreibung ab ca. 1500 (vgl. Bergmann / Nerius 1998), der Auszeichnung von Wort- und Morphemgrenzen innerhalb komplexer Wortformen (landvogt analog zu vogt statt älterem landuogt) im 16. Jahrhundert (vgl. Voeste 2008, 108ff.) und schließlich der Durchsetzung einer konstanten Wortschreibung (vgl. Ruge 2004) eine zunehmende »Morphologisierung der Schrift« (Eisenberg 1983, 61ff.) erkennen. Hierbei ist insbesondere dem letzten Entwicklungsschritt hin zu einer kontextübergreifenden Morphemkonstantschreibung in jüngerer Zeit vermehrte Aufmerksamkeit zuteilgeworden, da erst dieser Wandel den
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II. Gebiete und Phänomene
Übergang vom Lautieren zum stillen Lesen im Sinne einer direkten, lautunabhängigen Sinnentnahme möglich gemacht hat. In den einschlägigen Untersuchungen von Hatz (1986), Ewald (1997) und Ruge (2004) hat sich gezeigt, dass sich eine Schemakonstanz bei wechselnden Kontexten, wie wir sie aus der modernen Orthographie kennen (Hunde / Hund statt *Hunt, Glas / Gläser statt *Gleser), in einigen Kategorien erst im 17. oder 18. Jahrhundert durchsetzt (z. B. statt in der Komparation erst nach 1650, soll / sollst statt sol / solst überregional erst ab 1770, nach Ruge 2004). In einigen Fällen erwies sich zudem die Differenzierung von morphologischen und lautlich motivierten Schreibungen als schwierig, etwa wenn sich auslautendes , oder auch als Reflex regionaler Lenisaussprache deuten ließe (vgl. Mihm 2004a). Kaum erforscht ist in diesem Zusammenhang bisher die Durchsetzung der Wortkonstantschreibung in identischem Kontext, also der Abbau der unter 2.2.2.4. behandelten wortbezogenen Graphienvariation. Ewald (1997, 237f.) weist auf den hohen Analyseaufwand entsprechender Untersuchungen hin, da diese eine »Erfassung aller vorgefundenen Schreibungen aller vorgefundenen Einzelmorpheme« erforderten. Da der Abbau der wortbezogenen Variation aber eine entscheidende Voraussetzung für die Annahme eines »morphologischen« bzw. »morphemidentifizierenden« Prinzips in der deutschen Orthographie ist (Mihm 2001b, 342), verdienten diese Prozesse trotz des erforderlichen Aufwands ein eingehenderes Studium (erste Versuche: hierzu bei Elmentaler 2003, 285ff.; Ravida 2010). Untersuchungen zu regionalen Schreibsprachen deuten darauf hin, dass die wortbezogene Schreibvariation noch im 17. Jahrhundert praktiziert wurde und weitgehende Akzeptanz fand (vgl. Macha 1998, 53). Im Kontext eines syntaktischen Schreibprinzips sind vor allem die Großschreibung am Satzanfang und die Interpunktion in Betracht zu ziehen. Die satzinitiale Großschreibung hat sich nach den Ergebnissen von Bergmann / Nerius (1998) bis zum 16. Jahrhundert als Gliederungsmittel etabliert. Die Entwicklung der Interpunktion wurde bislang vorwiegend mit Bezug auf den Grammatikerdiskurs, weniger mit Blick auf den schreibsprachlichen Usus beschrieben. Die traditionelle Auffassung, die Interpunktion habe zunächst als Hilfsmittel für die Intonation gedient und sich erst später zu einem Mittel zur Veranschaulichung syntaktischer Strukturen entwickelt (vgl. Höchli 1981), ist durch neuere Forschungsergebnisse (vgl. Simmler 1994) in Frage gestellt worden, so dass die Deutung dieser Prozesse zurzeit noch umstritten ist. In der Gegenwartsorthographie spielen ästhetisch-stilistische Aspekte nur eine untergeordnete Rolle, da graphostilistische Variation wegen der festen Wortschreibung nur in Ausnahmefällen möglich ist, etwa wenn von zwei möglichen Lehnwortvarianten bewusst die konservativere gewählt wird (Geographie statt Geografie). Weitergehende Nutzungen, wie sie aus Literatur und Werbung bekannt sind (vgl. Nerius 2007, 278), bewegen sich außerhalb der kodifizierten Norm. In vormodernen Schreibsprachen ohne feste Wortschreibung dagegen kann das Graphieninventar auch frei zur stilistischen Variation eingesetzt werden. Bei ausgeprägter wortbezogener Variation könnte auf die Orientierung der Schreiber an einem Alternanzgebot geschlossen werden (vgl. Kap. 2.2.2.4.). Darüber hinaus wurde gelegentlich ein Bemühen um graphische Distinktion, etwa durch den Gebrauch von zweistöckigem statt einstöckigem vor und , angenommen (vgl. Fleischer 1966, 24; 1970, 58f.), ohne dies jedoch eindeutig nachweisen zu
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können. Die Schwierigkeit besteht hier wie auch bei anderen Interpretationsversuchen darin, dass die Lautrelevanz des Graphiengebrauchs oft nicht ausgeschlossen werden kann. In jüngster Zeit wurde auf die Möglichkeit graphotaktischer Wohlgeformtheitskriterien hingewiesen (Voeste 2008, 55ff.), anhand derer Schreiber bzw. Drucker durch »Vergewichtung« und »symmetrischen Ausgleich« (ebd.) versucht hätten, ausgewogene Wortbilder herzustellen. Neben den sprachinternen wurden in der Forschung auch sprachexterne Gründe für schreibsprachliche Variation in Betracht gezogen. Die umstrittene These, dass sich bestimmte Formen der Variation wie der Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien (lanndt statt land) auf ökonomische Interessen der Kanzleischreiber zurückführen ließen, die nach Zeilen honoriert worden seien (z. B. Weizsäcker 1867, LXXII), muss trotz der Bemühungen um einen empirischen Nachweis (vgl. Strebl 1956, 34ff.) nach wie vor als unbewiesen gelten. Ein Teil des in den Druckersprachen des 16. Jahrhunderts beobachtbaren Abbaus der Variantenvielfalt lässt sich möglicherweise als Verzicht auf teure oder reparaturanfällige Drucktypen im Zuge einer »Rationalisierung des Setzvorgangs« (Voeste 2008, 80ff.) erklären. Neben den ökonomischen sind bei der Interpretation graphematischer Variation auch soziopragmatische Faktoren wie der Adressatenbezug (vgl. Möller 1998) und die Rücksichtnahme auf domänen- oder textsortenspezifische Schreibgewohnheiten (vgl. Stopp 1980; Fischer 1998, 50ff.) zu berücksichtigen. 2.3.
Schreibsprachwandel
Reichmann (1998, 27ff.) unterscheidet in seinem einführenden Beitrag zum Handbuch Sprachgeschichte zwei grundlegende Modelle des sprachlichen Wandels, zum einen das »Entwicklungsmodell«, das von einer kontinuierlichen kommunikativen Optimierung sprachlicher Systeme ausgeht, zum anderen das »Einheitsmodell«, nach dem Sprachwandel als ein von der Heterogenität zur Homogenität verlaufender Prozess beschrieben wird. Die Übertragung dieser finalistischen Modelle auf den Bereich der historischen Graphematik hat gezeigt, dass beide nur eine beschränkte Reichweite besitzen. In der Germanistik gehen vom Einheitsmodell vor allem die Ansätze aus, die den Schreibsprachwandel im Sinne einer kontinuierlichen Entwicklung auf die Zielnorm der neuhochdeutschen Schriftsprache betrachten. In diesen letztlich auf Wissenschaftstraditionen des 19. Jahrhunderts zurückgehenden Arbeiten (vgl. Wegera 2007) werden graphematische Veränderungen vorwiegend auf den horizontalen Kontakt von Schreibdialekten zurückgeführt. Im Mittelpunkt steht die Überprüfung der Prinzipien, die zu einer Durchsetzung der für die spätere neuhochdeutsche Schriftnorm charakteristischen Varianten geführt haben (vgl. Stopp 1976; Besch 1985). Aufgrund der Fokussierung dieses Modells auf die Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache bleiben die zahlreichen Entwicklungen, die die historischen Schreibsprachen unabhängig davon eingeschlagen haben, tendenziell zu wenig beachtet (vgl. Mattheier 1981). Das Einheitsmodell erweist sich somit nur für die jüngeren Entwicklungsphasen und nur mit Blick auf einen Teil der deutschsprachigen Regionen als beschreibungsadäquat. Das Entwicklungsmodell lässt sich demgegenüber auch auf frühere Sprachstufen und beliebige Regionen anwenden. Auch hier hat sich jedoch gezeigt, dass die schreibsprach-
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II. Gebiete und Phänomene
liche Praxis den Erwartungen oftmals widerspricht. So hält Fleischers These, dass sich der diachrone Wandel von Schreibsprachen als Prozess der »Systemoptimierung« verstehen lasse, bei dem, einer systemimmanenten »Kausalität« (Fleischer 1966, 68, 94) folgend, »funktionelle Belastungen« (ebd.) beseitigt und kommunikativ notwendige Oppositionen eingeführt würden, den Ergebnissen vieler schreibsprachlicher Untersuchungen nicht stand. Vielmehr verlaufen die Entwicklungen oft diskontinuierlich und ohne erkennbare Zielrichtung: »Von Kontinuität und Linearität seit dem späten Mittelalter kann nicht die Rede sein« (Mattheier 1984, 777; vgl. auch Haacke 1963, 145f.; Kettmann 1968, 355). Dies gilt nicht nur für den Wandel im Bereich der Graphieninventare, sondern auch für Veränderungen in den Graphie-Laut-Korrespondenzen und in der graphematischen Klassengliederung. Dementsprechend ordnet auch Sonderegger (1979, 323) die »Geschichte der Schreibsysteme« unter die sprachhistorischen »Inkonstanten« ein. Auch die von Meisenburg (1996, 21) für die romanischen Sprachen vorgetragene These, dass sich »eine zunehmende Orientierung von Schriftsystemen und Schreibstrategien an den Interessen der Rezipienten aufzeigen« lasse, lässt sich allenfalls bei einer sehr pauschalen und teleologischen Betrachtungsweise plausibel machen, erscheint jedoch kaum geeignet, die komplexen Veränderungsprozesse in den volkssprachlichen Schreibsystemen des 9. bis 16. Jahrhunderts zu erklären. Spätestens seit der stärkeren Hinwendung zur Regionalität in der Sprachgeschichtsforschung des letzten Jahrzehnts (vgl. Besch / Solms 1998; Macha u. a. 2000; Berthele 2003; Besch u. a. 2003) ist die Inadäquatheit der finalistischen Beschreibungs- und Deutungsmodelle offensichtlich geworden. Vor diesem Hintergrund ist die Erklärungskraft neuer Ansätze zu prüfen, die der Diskontinuität der Entwicklungen stärker Rechnung tragen, etwa von Polenz’ (2000, 79f.) Gedanken der Sprachgeschichte als »soziopragmatischer Stilgeschichte [...], d. h. als Geschichte starker Ausnutzungen und Konventionalisierungen längst vorhandener Systemmöglichkeiten« (vgl. Elmentaler 2003, 180ff.).
3.
Historische Phonologie
Ziel der historischen Phonologie ist die Rekonstruktion historischer Lautverhältnisse, wobei hierzu grundsätzlich zwei Wege eingeschlagen werden: die von den modernen Dialekten ausgehende Rekonstruktion historischer Sprachzustände und die Analyse der schriftlichen Überlieferung. 3.1.
Dialektrekonstruierende Verfahren
Dialektrekonstruierende Verfahren haben sich seit dem späten 19. Jahrhundert (vgl. Jostes 1885; Damköhler 1890; Collitz 1902) als Methode zur Rekonstruktion historischer Mündlichkeit etabliert. Entsprechend dem Diktum, »die lebenden Mundarten sind der heutigen Forschung sicherster Erkenntnisquell« (Frings 1924, 7), wurde unter dem Einfluss der strukturellen Phonologie eine »infralinguistische strukturell-genetische Methodik« (Wiesinger 2005) zur systematischen Rekonstruktion historischer Phonemsysteme und ihres diachronen Wandels entwickelt und erprobt. Im Rahmen eines Handbuchs zur
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Kanzleisprachenforschung erübrigt sich eine genauere Erörterung dieser Verfahren, die auf eine Analyse der schriftlichen Überlieferung verzichten. Dennoch sei angedeutet, dass dieser Verzicht einige Nachteile beinhaltet. So lassen sich mit einem Rekonstruktionsverfahren, das von den modernen Dialekten ausgeht, keine historischen Lautgegebenheiten rekonstruieren, die später wieder rückgängig gemacht wurden, es sind keine absoluten Datierungen möglich, und Prozesse der lexikalischen Diffusion lassen sich nicht erfassen. 3.2.
Lauthistorische Interpretation der schriftlichen Überlieferung
Als Vertreter einer historischen Phonologie, die die schriftliche Überlieferung als Ausgangspunkt und sicherste Erkenntnisquelle ansieht, sind in der germanistischen Tradition z. B. Penzl (1971, 1982) und Simmler (1979, 1981) zu nennen (vgl. auch Kohrt 1998, 561; Mihm 2007, 101ff.), in der Romanistik die Vertreter einer dialektologisch ausgerichteten »Skriptaforschung« (Völker 2003, 9ff.), in der Anglistik z. B. die Studien im Anschluss an den Linguistic Atlas of late mediaeval English (McIntosh u. a. 1986). Darüber hinaus hat auch die historische Graphematik aufgrund des den Schreibsprachen inhärenten Bezugs auf die Lautung in vielen Punkten zur Entwicklung einer Methodik zur Rekonstruktion historischer Lautverhältnisse beigetragen. Bei der Interpretation der kanzleisprachlichen Überlieferung ist zu beachten, dass die hier verwendeten Schreibsprachen wohl meist nicht auf den Basisdialekt, sondern auf eine gehobene Form der Mündlichkeit Bezug nehmen, die in der Forschung als »Herrensprache« (Pfalz 1925), »höhere Umgangssprache« (Bentzinger 1973), »oberschichtige Sprachform« (Ernst 1994) oder »Akrolekt« (Mihm 2003) bezeichnet worden ist. Möglichkeiten zur Erschließung basisdialektaler Mündlichkeit bieten Textsorten informelleren Charakters (vgl. die quellenkritischen Reflexionen bei Brandstetter 1890, 235ff.; Heinrichs 1967; Steffens 1988). In jüngerer Zeit wurde neben der Überlieferung städtischer, kirchlicher oder fürstlicher Kanzleien daher vermehrt auch ländliche Schriftlichkeit herangezogen (Maas 1995; Denkler 2006). Von den verschiedenen Methoden zur Rekonstruktion historischer Lautungen seien abschließend nur drei genannt: a) die Analyse von Direktanzeigen und Hyperkorrektionen, b) die Reimanalyse und c) die graphematische Systemanalyse. a) Das Verfahren der Analyse von Direktanzeigen und Hyperkorrektionen basiert auf der Annahme, die historischen Schreibsprachen ließen aufgrund ihrer Autonomie und ihres Konservativismus nur dort punktuelle Einblicke in die dialektale Mündlichkeit zu, wo ein Schreiber versehentlich nicht der Schreibtradition folgte; Lasch (1925, 67) spricht hier von »Entgleisungen nach der gesprochenen Sprache hin«. Hierbei werden Direktanzeigen als unmittelbare und Hyperkorrektionen als mittelbare Reflexe dialektaler Aussprachen verstanden (vgl. Besch 1965; Bischoff 1981; Heinrichs 1961; 1967; Denkler 2006, 207ff.). Die Sammlungen solcher Reflexe gesprochener Sprache, z. B. in den entsprechenden Artikeln des zweiten HSK-Teilbandes Sprachgeschichte, geben Einblicke in die sprachliche Grundschicht, doch sind die isolierten Graphien lautlich kaum interpretierbar, solange ihr Status innerhalb des jeweiligen Schreibsystems nicht geklärt wird.
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II. Gebiete und Phänomene
b) Die Reimanalyse bietet für einen Teil der schreibsprachlichen Überlieferung eine gute Möglichkeit, durch Vergleich von Endreimsilben lautähnliche oder lautidentische Vokale zu ermitteln (vgl. Marwedel 1973, 65ff.; Wiesinger 1996, 52ff.; Nybøle 1997, 54ff.). Allerdings ist angesichts der Distanz der meisten Reimdichtungen von der dialektalen Mündlichkeit und wegen der Praxis des Gebrauchs unreiner oder rein schriftsprachlicher Reime eine sorgfältig abwägende Interpretation erforderlich. Für die Kanzleisprachenforschung kommt diese Methode wegen ihrer Bindung an literarische Quellen kaum in Frage. c) Die graphematische Systemanalyse ist als Verfahren zur Rekonstruktion historischer Mündlichkeit bislang wenig genutzt worden, obwohl sie Rückschlüsse auf Lautkollisionen und -differenzierungen zulässt. Über kontextbezogene Analysen lassen sich darüber hinaus allophonische Lautveränderungen erschließen (vgl. Kap. 2.2.2.2. und 2.2.2.3.). In jüngster Zeit ist die graphematische Systemanalyse auch als Verfahren zur Rekonstruktion suprasegmentaler (prosodischer) Eigenschaften der Lautung, etwa von Akzentverhältnissen in historischen Dialekten, eingesetzt worden (vgl. Elmentaler 1998; Mihm 2002; 2004b, 361ff.).
4.
Literatur
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Dana Janetta Dogaru, Sibiu (Rumänien)
13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs
1. 2. 3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.2.1. 4.1.2.1.1. 4.1.2.1.2. 4.1.2.1.3. 4.1.2.1.4. 4.1.2.2. 4.1.2.2.1. 4.1.2.2.2. 4.1.2.2.3. 4.1.2.3. 4.1.2.3.1.
1.
Vorbemerkung Textgrundlage und Darstellung Substantiv Kasusflexive Flexion im Singular Flexion im Plural Adjektivflexion Die determinative Flexion Allgemeine Feststellungen Besonderheiten Maskulina im Singular Nominativ Genitiv Dativ Akkusativ Neutra im Singular Nominativ und Akkusativ Genitiv Dativ Feminina im Singular Nominativ und Akkusativ
4.1.2.3.2. 4.1.2.3. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.2.1. 4.2.2.1.1. 4.2.2.1.2. 4.2.2.1.3. 4.2.2.1.4. 4.2.2.2. 4.2.2.2.1. 4.2.2.2.2. 4.2.2.3. 4.2.2.3.1. 4.2.2.3.2. 4.2.2.4. 4.3. 4.4. 5. 6.
Genitiv und Dativ Plural Die indeterminative Flexion Allgemeine Feststellungen Besonderheiten Maskulina im Singular Nominativ Genitiv Dativ Akkusativ Neutra im Singular Nominativ und Akkusativ Genitiv und Dativ Feminina im Singular Nominativ und Akkusativ Genitiv und Dativ Plural Flexionslosigkeit Komparation Desiderata Literatur
Vorbemerkung
Flexionsmorphologie im strukturalistischen Sinne ist die Analyse von Form, innerer Struktur, Funktion und Vorkommen der gebundenen Morpheme in ihrer Funktion als kleinste bedeutungstragende Einheiten in Bezug auf die Regularitäten der Kasus- und Numerusbildung und der Komparation sowie der verbgrammatischen Kategorien Tempus und Modus (vgl. Bußmann 2008, 455f.). Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die flexivischen Muster der Substantive und Adjektive in den Kanzleisprachen im frühneuhochdeutschen Sprachgebiet; sie behandelt also das, was gemeinhin Deklination genannt wird. Die zeitgleichen niederdeutschen Ausprägungen bleiben hier unberücksichtigt.1
1
Zur Flexionsmorphologie des Verbs vgl. den Beitrag 14 in diesem Band.
172
2.
II. Gebiete und Phänomene
Textgrundlage und Darstellung
Die »durch eine ausgeprägte, insbesondere geographische und schreibschichtliche Variabilität« gekennzeichnete frühneuhochdeutsche Flexionsmorphologie (Wegera / Solms 2000, 1542) wird mit der Zeit durch den Zwang des Schreibusus der Institution oder des Schreibortes allmählich eingeengt. Allerdings prägten soziale Schichtung und territoriale Varianten die Schreibpraxis der einzelnen Kanzleien noch bis ins 17. Jahrhundert hinein. Kaiserliche, fürstliche und sonstige Kanzleien konkurrierten in ihrer Vorbildfunktion, anstatt die Variationsbreite zu schmälern (vgl. Hartweg / Wegera 2005, 61f.; Bentzinger 2000). Die nachfolgend dargelegten Befunde skizzieren somit Momentaufnahmen in einem Entwicklungsprozess, nicht jedoch ein bereits festgefügtes flexionsmorphologisches System, wie es sich im Neuhochdeutschen mehr oder weniger herausgebildet hat. Unsere Beschreibung bezieht sich auf einzelne Kanzleien. Der jetzige Dokumentationsstand ist noch weit davon entfernt, vollständig zu sein. Zur Kanzleisprache liegen aus dem Oberdeutschen themenbezogene Monographien für Prag aufgrund eines Stadtbuchs der Neustadt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Ono 1986) [im Folgenden als Belegkürzel Prag] und für Eger aus der Zeit von 1310 bis 1500 und von 1500 bis 1660 (Skála 1967) [Eger I und Eger II], aus dem ostmitteldeutschen Gebiet aufgrund von Ratsdokumenten verschiedener Art (Stadtbücher, Gerichtsbücher, Rechnungen, Briefe) für Jena vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (Suchsland 1968) [Jena] und für Dresden aus dem 16. Jahrhundert (Fleischer 1970) [Dresden] sowie für Breslau vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (Arndt 1898) [Breslau] vor. Mit der Beschreibung der Geschäftssprache Mährens vom 15. bis zum 16. Jahrhundert wird der Flexionsstand an der Grenze zwischen dem Oberdeutschen und Ostmitteldeutschen dokumentiert (MasaĜík 1985) [Mähren]. Neben diesen hauptsächlichen Quellen werden nachfolgend an entsprechenden Stellen einzelne morphologische Befunde zur Kanzleisprache Karls IV. und Wenzels von Luxemburg sowie der Vögte von Weida, Gera und Plauen von Wilhelm Schmidt (vgl. Gesch. d. Spr. 2007) mit berücksichtigt. Weitere frühneuhochdeutsche Quellenwerke liefern für unseren Zweck kein oder kaum brauchbares Material. Verwiesen sei ergänzend auf die nominalflexivische Beschreibung der Urkundensprache Churs im 13. und 14. Jahrhundert (vgl. Ludwig 1989, 213ff.), die sich in der Morphologie deutlich vom klassischen Mittelhochdeutschen abhebt (vgl. ebd., 215). In der Dokumentation steht zunächst eine einleitende Beschreibung des allgemeinen Befundes in frühneuhochdeutscher Zeit. Es folgen dann die spezifischen belegbaren kanzleisprachlichen Daten aus den genannten Belegorten und Quellenwerken.
3.
Substantiv
3.1.
Kasusflexive
Zu den kennzeichnenden Prozessen gehören im Frühneuhochdeutschen die Kasusnivellierung und die Numerusprofilierung. Die seit dem Althochdeutschen zum Mittelhoch-
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deutschen hin weitgehend abgebauten Kasusflexive erfahren im Frühneuhochdeutschen infolge phonologischer Prozesse (insbes. e-Apokope) und durch Analogiebildungen bzw. Ausgleichsprozesse innerhalb eines Paradigmas weitere Nivellierung und werden immer mehr analytisch von Substantivbegleitern ersetzt (vgl. Wegera / Solms 2000, 1542; MasaĜík 1985, 121). Die vereinfachten morphologischen Paradigmen werden partiell zu neuen Systemen konstituiert. Kennzeichnend für den Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen sind aber auch Entwicklungsprozesse, die sich nicht konstitutiv auswirken, sondern zu einem negativen Ergebnis führen (vgl. MasaĜík 1985, 121). 3.1.1. Flexion im Singular Im Singular betreffen die Ausgleichsprozesse insbesondere die mittelhochdeutschen Paradigmen der femininen i-Stämme und die n-Stämme. Die femininen i-Stämme verlieren infolge der seit dem Mittelhochdeutschen grassierenden e-Apokope das Allomorph -e im Singular Genitiv und im Dativ. Der Umlaut büßt seine Funktion als Kasusmarker ein, sodass er ausschließlich als Pluralmarker fungiert (vgl. Wegera / Solms 2000, 1542). In allen Kanzleien dominieren die apokopierten Formen. Prag: Bis zum 18. Jahrhundert steht wortgebunden neben dem Nullmorphem auch -en: bey der thür neben bis zu hausthüren; die schwache Flexion ist in Anlehnung an die Mundart entstanden. – Eger I: Apokopierte Formen (ohne Umlaut) stehen im Genitiv und Dativ neben nichtapokopierten mit Umlaut (infolge der Verschmelzung der i-Stämme): Genitiv / Dativ preut(e) / praut, Dativ geburt / geb)rte, Genitiv czwitrechte, Dativ zwitraht, -heit und -schaft haben im Singular meist ein Nullmorphem. Eger II: Viele Feminina, die heute gemischt dekliniert werden, gehen nach der i-Deklination. Im Dativ Singular erscheint sehr häufig neben der neuhochdeutschen Form das Allomorph -(e)n der schwachen Deklination: an einer seiln ›Säule‹, kundtschafftenn. – Jena: -e und Nullmorphem sind allomorph wortgebunden: bis nach 1410 Dativ Singular geburt neben geburte, Genitiv Singular werlde (einziger Beleg), bis gegen 1480 Akkusativ Singular argeliste, gegen 1480 bis etwa 1500 bei mhd. zît und bei Ableitungen auf -heit und -keit im Genitiv, Dativ und Akkusativ Singular. – Dresden: -e ist im Genitiv und Dativ Singular vereinzelt erhalten: vff Jhrer Bchriffte, Jhrer pflichte erJnnert neben Jrer pflicht. Die ehemals schwache Flexion der m., f. und n. n-Stämme wird größtenteils aufgelöst, und die Lexeme werden in andere Flexionsgruppen überführt. Die Feminina werden mit den Subst. der ô-Stämme verschmolzen, wobei zwei Entwicklungen möglich sind: entweder Übertragung des Morphs -(e)n der obliquen Kasus auf den Nominativ Singular oder dessen Tilgung im gesamten Singular. Bei der Übernahme des Morphs -en in den Nominativ Singular verschiebt sich die Lexemgrenze (zunge-Ø > zungen-ø), so dass die Numerusdistinktion aufgehoben ist. Die gegenläufige Tendenz der Tilgung der Allomorphe im Singular, verbunden mit deutlicher Numerusdifferenzierung, verläuft sehr langsam; Belege mit -(e)n-Kasus sind bis ins 18. Jahrhundert zahlreich nachzuweisen (vgl. Wegera / Solms 2000, 1543). Prag: Die (oberdeutschen) schwachen und starken Formen stehen nebeneinander. Auch o-Stämme können im Akkusativ Singular das Morph -n aufweisen: kein ander als Stoßklingen, ›Kirche‹ und ›Frau‹ erscheinen im Akkusativ mit Nullmorphem und
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im Genitiv und Dativ Singular mit dem Morph -n der schwachen Deklination. – Eger I: Die Übertragung des -en in den Nominativ Singular ist vereinzelt belegt: puchse neben pühsen, glocke neben glocken. Eger II: Nominativ und Akkusativ Singular erscheinen teilweise apokopiert, teilweise dringt (zur Mundart) -n in den Nominativ Singular: glock, 1 kubl putter neben 18 kandl puttern. Die »häufige mhd. Zweigleisigkeit der Feminina zum Deklinationstyp« (Skála 1967, 175) führt zu Schwankungen bei denselben Wörtern: in der gaß neben in der Bindergassen; nur apokopiert kommen zech, auff freier straß, in der wang geschlagen vor. – Jena: Die schwachen Feminina flektieren im 14. Jahrhundert weitgehend wie im Mittelhochdeutschen, nach 1400 lässt sich wortgebunden der Übergang zu e-Formen, zuerst im Akkusativ, dann im Dativ feststellen. – Dresden: Ursprünglich schwache Formen tendieren zur Aufgabe der Kasusoppositionen; Ende des 16. Jahrhunderts erscheinen auch Formen mit -en: Zu vnBer lieben frawen, von Beiner Muhmen. Parallel dazu dehnt sich das Morph -en auf ursprünglich starke Feminina in allen obliquen Kasus aus: Beiner zelen Genitiv, bey Der thuren Dativ. Ende des 16. Jahrhunderts steht -en nur bei ursprünglich schwachen, im Akkusativ fast nur bei Substantiva, deren Flexion seit älterer Zeit schwankt: eine miBBtpfuttzen, Jn dy naBen. – Mähren: Die n-Deklination entspricht dem früheren Paradigma (in der ersten fastwochen, mit der cҊungen), wobei in Nordmähren Neigung besteht, das Allomorph besonders im Akkusativ Singular abzuwerfen. Die ô-Stämme, im Nominativ Singular in der Regel apokopiert, weisen im Dativ Singular neben den starken Formen auch schwache auf: bei der wis, zu der lichtmess, noch der licht messen, bey der landstrossen. – Breslau: Die mittelhochdeutschen schwachen Formen flektieren in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts schwach (Genitiv Singular der kirchen, Dativ Singular. von frauwen, in einer summen); gegen Ende überwiegen apokopierte Formen. Von den ursprünglich schwachen Maskulina tritt ein Teil durch Tilgung der en-Allomorphe und Übernahme des -(e)s im Genitiv Singular in die Klasse der starken Flexion, ein anderer Teil erhält im Nominativ Singular analog zu den obliquen Kasus das Allomorph -en und zusätzlich im Genitiv das -(e)s, oft bei Einbuße der Numerusopposition; bei einigen fungiert der Umlaut numerusdistinktiv. Ähnlich wie die nhd. Lexeme Glaube, Funke, Wille usw. schwankende Stammgestalt haben (je nach Form des Nominativs Singular ist das Genitivmorph -s oder -(e)ns), finden sich vom 13. / 14. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert Lexeme mit entsprechendem Allomorph im Genitiv: Furstens, Tyrannens, Blutzeugens, Lowens (vgl. Wegera / Solms 2000, 1543). Prag: Maskulina schwanken zwischen starker und schwacher Flexion. Im Nominativ apokopierte Formen haben im Genitiv, Dativ und Akkusativ regelmäßig das Allomorph -en der schwachen Deklination, solche, bei denen das Allomorph -n im Nominativ die Regel ist, bleiben schwach. ›Schelm‹ wird gegen Ende des 16. Jahrhunderts zuweilen schwach dekliniert, ›Herr‹ erhält gelegentlich die starke Genitiv-Endung -s. Endungsloser Dativ findet sich vereinzelt bei Fremdenbezeichnungen wie z. B. bei Von keinem Vnger; ›Friede‹ verliert im Akkusativ die ganze Endung. – In der Kanzlei Kaiser Karls IV. tritt die e-Apokope nach Dentalen ein: bet ›Bitte‹, guerd (mhd. gevaerde) ›Hinterhalt‹, gult ›Zins, Steuer‹ (vgl. Schmitt 1936). Das Morph -en der schwachen Deklination ist jedoch in der Urkundensprache Wenzels erhalten. – Eger I: Die Deklination der schwachen Substantive entspricht weitgehend dem mittelhochdeutschen Schema; gelegentlich lässt
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sich im Nominativ Singular e-Apokope feststellen: haber, veter, gezevg neben geczeuge. Neuerungen treten vereinzelt auf: -n dringt in den Nominativ Singular: karren neben karre, garten, während sich die starke Deklination bei einigen mittelhochdeutschen schwachen Substantiven durchgesetzt hat: Genitiv Singular preutigums, Dativ Singular breutigum, leichnam, schwanken manche noch Nominativ Singular schad, schade, Genitiv Singular schaden (wie im Mittelhochdeutschen), schadens, schades. Eger II: Nominativ Singular ist meist apokopiert, gelegentlich wird das Morph der obliquen Kasus -n in den Nominativ Singular übernommen: ein karn, mezen ›Maß‹, was neben dem schwachen Genitiv Singular auf -(e)n zur Bildung des starken -(e)s-Genitivs (Übertritt in die starke Deklination) des pauers neben baurn oder auch zu endungslosen Formen wegen des bierschönck führt. Im Dativ und Akkusativ Singular schwankt der Gebrauch von Formen mit Nullmorphem und solchen mit schwacher Endung stark. – Jena: Die Verhältnisse entsprechen im 15. Jahrhundert denen in Eger I. ›Schaden‹ hat seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, ›Willen‹ im 16. Jahrhundert den Übergang zur starken Deklination vollzogen, während garte nach dem alten Paradigma dekliniert wird. – Dresden: Die maskulinen Personenbezeichnungen haben das Morph -e im Nominativ teils bewahrt, teils abgeworfen; der graffe gilt 1556 als Sonderfall. Der Nominativ auf -e gegen neuhochdeutsch -en begegnet vor allem Anfang des 16. Jahrhunderts: kaBte ›Kasten‹, Decklache, Eyn garte neben Eyn garten; im Genitiv stehen starke und schwache Formen nebeneinander, wobei Personenbezeichnungen -ens entgegen dem Neuhochdeutschen aufweisen können: Des knabens neben Des knabenn, des Bothens neben des Bothen, jedoch nur mit -en: des … furBten, während im Dativ und Akkusativ fast durchgehend -en steht; vereinzelt ist mit des BurgermeiBters wille. ›Nutz‹ und ›Friede‹ bilden im Nominativ und Akkusativ -en und den Genitiv auf -ens. Die Ausdehnung des schwachen -en auf ursprünglich starke Maskulina und auf ter-Stämme, wohl erst seit dem 15. Jahrhundert, erfolgt in geringem Ausmaß in allen obliquen Kasus bis Ende des 16. Jahrhunderts. Besonders starke Schwankungen zwischen starker und schwacher Flexion weisen ›Vormund‹ und ›Bauer‹ auf, ›Nachbar‹ neigt zur schwachen Flexion, allerdings ohne typisches -e im Nominativ Singular. – Mähren: Bei den n-Stämmen ist die schwache mittelhochdeutsche Deklination regelmäßig erhalten, oft mit e-Apokope im Nominativ Singular. Wortgebunden sind im 16. Jahrhundert öfters starke Formen belegt: des weingartens, dieses Namens. Die konsonantischen nt-Stämme sind bereits zur a-Deklination übergetreten, obgleich sich gelegentlich noch endungslose Formen finden (vnd schullen guet frunt sein), während die ter-Stämme neben den starken Formen bis in die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts auch endungslose Genitivformen aufweisen: in gegenwurt meines vater, seines bruder; schwache Flexionsformen wie seynes brudern sind vereinzelt. – Breslau: Im 14. / 15. Jahrhundert erfolgt der Übertritt mittelhochdeutscher schwacher Substantive in die starke Deklination wortgebunden: herczogis (1393) – den weissen herczog (1440), leichnams (1447); im 16. Jahrhundert finden sich keine Abweichungen vom Neuhochdeutschen mehr. Bei der starken Flexion werden die wenigen verbliebenen Kasusendungen der Maskulina und Neutra infolge des umfassenden Prozesses der e-Apokope getilgt (vgl. Wegera / Solms 2000, 1543). Prag: -e ist nur in einer erstarrten Formel vom Ende des 16. Jahrhunderts erhalten: nach gethanem Aide sowie konkurrierend in Einzelfällen im 17. Jahrhundert: nachst
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Verwiechenen S. Steffens tage neben an S. Johannes tag, mit der Zinze neben von der zinß, hier wohl mit Genuswechsel verbunden. – In der Urkundensprache Karls IV. stehen in allen Kasus des Singular Formen mit den Allomorphen ø und -e fast gleichberechtigt nebeneinander. – Eger II: Die Apokope des Dativ-e ist (wie in der Mundart) viel weiter verbreitet als im Genitiv Singular widderkauffe, uff iglichs jare. – Jena: Im 14. Jahrhundert überwiegt erhaltenes Allomorph -e, Anfang des 15. Jahrhunderts schwankt man zwischen Erhaltung bzw. Apokopierung, nach 1470 setzen sich die apokopierten Formen durch. Vor allem nach -er halten sich im Dativ Singular und Nominativ, Genitiv und Akkusativ Plural Formen mit auslautendem -e neben apokopierten Formen. Das schwankende Dativ-e Singular führt um 1500 zu einem grammatisch nicht berechtigten -e auch im Nominativ und Akkusativ Singular. – Dresden: Es überwiegen die nichtapokopierten Formen, wobei Substantive in festen Wendungen stets apokopiert erscheinen: Inn got, mit Bchutz vnd Bchirm, vor anfang. Auch die Substantive auf nhd. -en bilden am Anfang des 16. Jahrhunderts teilweise Dativ Singular mit -e (Nominativ Singular mit -em): neben Dem Bodeme vs. Jm bodem. Nach Suffix mhd. -unge erscheint meist kein -e. – Mähren: Bezüglich der Dativ-e-Apokope bei maskulinen Substantiven besteht infolge der sporadischen Beteiligung der nordmährischen Apokope ein Nord-Süd-Gefälle. Bei Substantiven auf -unge (mittelhochdeutsche ô-Deklination) überwiegt das apokopierte Suffix. Die Nord-Süd-Opposition bei e-Apokope macht sich auch bei den neutralen ursprünglichen ja-Stämmen bemerkbar, ebenfalls beim Derivationssuffix -nisse, -nusse. – In der Urkundensprache der Vögte von Weida, Gera und Plauen sind apokopierte Formen bis auf -unge- und -nisse-Derivaten im Nominativ Singular selten. – Breslau: Die Derivate auf -unge wahren das Allomorph -e in allen Kasus des Singular in großer Zahl bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts; nach 1470 finden sich auch apokopierte Formen (Nominativ werbung, Dativ erwelung, Akkusativ awsrichtung), 1524 steht mit raichunge (Nominativ Singular) die letzte nicht apokopierte Form. Auch das relativ stabile Genitiv -(e)s fehlt gelegentlich. Der s-Schwund tritt bes. nach Dental und bei mehrsilbigen Lexemen auf -er, -el und -en auf (vgl. Wegera / Solms 2000, 1543; Shapiro 1941). Prag: Im 18. Jahrhundert findet sich apokopiertes -s in formelhaften Wendungen (wegen des meins aÿdt neben wegen des Mainaÿdts) und in Appositionen, in Eger II vereinzelt: geben des vnser herrn des konnigk potschaft (neben konigs), eines articulsbrief, laut des zettel, in Dresden bei vorangehendem -s: ein kauff Beins Haus, des gantzen proceBs, bei ›Gefängnis‹. Bei Maskulina erschwert das stabile Genitiv-Morph -(e)s den Wechsel aus einer Deklinationsklasse in die andere (vgl. Wegera / Solms 2000, 1543). Allerdings können bis ins 17. / 18. Jahrhundert Nomina agentis mit voller Endung nachgewiesen werden: trompetere, fragere (vgl. Gesch. d. Spr. 2007, 412). In der Urkundensprache Wenzels fallen die mhd. ja- und a-Stämme zusammen. – Eger I: Einzelne Substantive der a- und ja-Stämme treten zur schwachen Deklination über: on hirssen bzw. den hirten (neben den hirt). Einhergehend mit Umlautung im Plural folgen Substantive der a-Deklination der i-Klasse. – Mähren: Im 16. Jahrhundert erfolgt der Übertritt in die schwache Deklination bei ursprünglichen ja-Stämmen, von -e-Apokope im Nominativ Singular begleitet: hirte / Hirt. – Breslau: Der Übertritt
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starker Substantive zu schwachen ist wortgebunden: Genitiv Singular sonen, Akkusativ Singular sonen. 3.1.2. Flexion im Plural Anfangs bestehen im Frnhd. aufgrund der Genitiv-Formen drei Pluralgruppen, welche zum Nhd. hin zu einem Paradigma zusammenfallen. Bei den ehemaligen neutralen a-Stämmen und iz- / az-Stämmen (er-Plurale) tritt im Genitiv Plural das Morph -e zunächst als Kasusflexiv auf; es wird durch e-Apokope schwinden bzw. durch Ausbildung des e-Plurals aufgrund der Verschiebung der Stammgrenze des Pluralstamms indirekt zum Bestandteil des Stamms: mhd. Nom. Sg. wort vs. Nom. Pl. wort-ø, Gen. Pl. wort-ø-e; nhd. Nom. Sg. Wort vs. Nom. Pl. Wort-e-ø, Gen. Pl. Wort-e-ø (vgl. Wegera / Solms 2000, 1543). Prag: a-Substantive und Substantive mit er-Plural sind zum neuhochdeutschen Flexionssystem übergetreten; Apokopierungen im Genitiv Plural bei a-Substantiven begegnen vereinzelt: der pferdt. – Eger I und II: Der Genitiv Plural der neutralen a-Stämme hat in der Regel Nullmorphem. – Jena: Die wenigen nachgewiesenen Genitiv-Plural-Formen von Substantiven auf -en sind meist apokopiert: lehin; nach 1470 geht auch bei den anderen Substantiven das e-Allomorph verloren: ampt, furstentumb neben furstenthume, jar, recht. Die er-Plurale haben bis gegen 1500 im Nominativ, Genitiv und Akkusativ Plural oft ein zusätzliches Kasusmorph: -e kindere Nominativ Plural, gutere Akkusativ Plural, g)ter’ Genitiv Plural. – Breslau: -e folgt dem Pluralmorph bis Mitte des 15. Jahrhunderts: gutere, kindere, geswistere. Bei den ursprünglichen ô- / jô-Stämmen tritt -(e)n als Genitiv-Allomorph im Plural auf. Auch hier schwindet das Kasusflexiv indirekt durch seine Übernahme in den Nominativ / Akkusativ, wodurch es zum Numerusmorph wird: mhd. Nom. Sg. gëbe-ø vs. Nom. Pl. gëbe-ø, Gen. Pl. gëbe-n; nhd. Nom. Sg. Gabe-ø vs. Nom. Pl. Gabe-n-ø, Gen. Pl. Gabe-n-ø (vgl. ebd., 1543f.). Prag: Die schwache Pluralendung erscheint im Plural regelmäßig; Nullmorphem ist erst Anfang des 18. Jahrhunderts in mehrere fuhr, auf Zwey Stundt nachgewiesen. – Eger II: Neben Genitiv-Formen mit dem normalen Genitiv-Morph -en erscheinen nicht selten hyperstarke Formen als Folge der Vermischung der alten starken Formen auf -e im Nominativ und Akkusativ Plural mit solchen auf -en und der Analogie nach den iStämmen sach, vertzeichnus aller handtlung, der einnam vnd außgab. Im Nominativ und Akkusativ Plural überwiegt Nullmorphem; allerdings ist der Übergang zur schwachen Deklination häufig erfolgt, und schwache und starke Formen stehen nebeneinander: auss gab neben gemeine außgaben, vncost neben vncosten, der mühlen notturfft neben mühln notturfften. – Jena: Die Übernahme des Genitiv-Allomorphs -(e)n in Nominativ und Akkusativ Plural ist Ende des 14. Jahrhunderts belegt; schwache Plural-Formen sind seltener als schwache Singular-Formen. – Mähren: Die Bildung von Nominativ und Akkusativ Plural wird durch die Apokope beeinflusst. Neben den hyperstarken Formen mit Nullmorphem die zwo chlag, drey sproch (Nominativ Plural), Ҋeelmeß (Akkusativ Plural) finden sich die mittelhochdeutschen Plurale alle gobe (Nominativ), czwai sache, Ҋeelmesse czum heiligen krewcҊ (Akkusativ) und schwache Plurale: vnd haben dy sachen (Akkusativ Plural).
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Das Morph -(e)n als Kasusmorphem im Genitiv Plural tritt neben den Feminia auch bei Maskulina und Neutra auf, was im Obd., speziell im Alem. des 16. Jhs., »in Einzeltexten zu einer nahezu hundertprozentigen Einführung des -(e)n im Gen. Pl. aller Genera (analog zum Dat. Pl.)« (ebd., 1544) führen wird. Der Dativ Plural besteht z. T. bis ins 18. Jh. als Leitform (vgl. ebd., 1543f.). Prag: Die Bildung des Plural Genitivs auf -en (statt -e) bei starken Maskulina ist vom 16. bis 18. Jahrhundert ein geläufiger Prozess bei a-Stämmen: Innerhalb 6 Tagen, wegen briefen, der Vmständen halber und i-Stämmen: etlichen leuten. Neutra zeigen wenige Abweichungen vom Neuhochdeutschen, Genitiv Plural auf -en sind Einzelerscheinungen: der Rechten halber. – Eger II: Das Allomorph -en im Genitiv begegnet bei aStämmen vereinzelt (anders als allgemein im Oberdeutschen), wohl in Analogie zu den starken Feminina, ähnlich wie bei Luther: wie anderer orthen gebreuchlich, alhier vnd ander ortten, bei ja-Stämmen nur in einem einzigen Beleg: auff der kayssern pygencknuß. – Jena: Die maskulinen schwachen Genitiv-Plurale sind nicht selten: apposteln, meystern, schwagern, monchen(n), fußknechten, allerdings stehen daneben teilweise in den gleichen Urkunden die starken Formen des Nominativ und Akkusativ Plural. – Dresden: Das Morph des Dativs im Plural fehlt verhältnismäßig selten: auff beiden Zcedel, Mewrer vbirgebene Artickel neben der Masse der regelgerechten Belege. Das kann auch das Auftreten eines -n im Genitiv Plural entgegen neuhochdeutscher Norm erklären: der … trebern, Brawern halben, ebenso den Wegfall im Dativ Plural und die Anfügung des -n im Singular bei Substantiven auf -er: Keuffern (Singular) Ende des 16. Jahrhunderts. Die Numerusprofilierung erfolgt durch den Ausbau der Pluralkennzeichnung, wobei keine neuen Flexive geschaffen oder fremde herangezogen werden, sondern das bereits existierende Inventar an Morphen systematisiert wird. Der Ausbau erfolgt nicht geradlinig, sondern bei einzelnen Flexiven territorial »recht unterschiedlich« (ebd., 1544). Das Plural -e der ehemaligen maskulinen a- und i-Stämme unterliegt der e-Apokope (vgl. Gr. Frnhd. III, § 67ff.). Der Prozess setzt – zuerst bei den mehrsilbigen Substantiven auf -er, -el, -en und -em, die den Plural mit -e bilden, – bereits im Mittelhochdeutschen ein (vgl. Triwunatz 1913; Frnhd. Gr., § M 8). Neben den ursprünglich numerusunbezeichneten neutralen Lexemen (z. B. wort) wechseln dann auch diese, ursprünglich ausreichend durch -e als pluralmarkiert geltenden Lexeme zu Gruppen mit anderen Numerusflexiven über. Bei einigen wird sich im 17. / 18. Jahrhundert der ehemalige -e-Plural wieder durchsetzen und die fremden, durch Analogie entstandenen Pluralbildungen verdrängen: aus Stücker wird wieder Stücke, Künig-en ĺ König-e, Täg-ø ĺ Tage (vgl. Wegera / Solms 2000, 1544). Prag: Die e-Apokope bei Plural-Formen der maskulinen a-Stämme zeigt eine variable zeitabhängige Ausbreitung. Im 16. Jahrhundert ist die Apokopierung sehr unregelmäßig (inkl. bei ›Tag‹, dem Lexem mit den meisten apokopierten Pluralformen, steht der Plural auf -e neben apokopiertem Plural), im 17. Jahrhundert kommen nur nichtapokopierte Plural-Formen vor, während im 18. Jahrhundert die apokopierten überwiegen. Bei i-Stämmen erfolgt die e-Apokope die ganze Zeit über unregelmäßig. Nullmorphem im Nominativ und Akkusativ Plural der neutralen a-Stämme gilt als Folge von Apokopierung (nicht als mittelhochdeutsches, dem Singular gleichkommendes Plural-Morph). – Eger I: Das Fehlen des -e im Nominativ und Akkusativ Plural der maskulinen a-
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Stämme ist selten. Der Angleich der neutralen a-Stämme an die maskulinen a-Stämme findet konsequenterweise auch vereinzelt statt. Eger II: Bei maskulinen a-Stämmen ist die Form mit Nullmorphem die normale Form, bzw. sie steht neben Belegen auf -e: die schue seins knechts neben 1 par schug. Bei ja-Stämmen ist das Plural-Morph meist ebenfalls weggefallen, allerdings finden sich noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Belege mit -e: bede burgermeistere, burgere, multzere. Der Angleich der neutralen a-Stämme im Nominativ und Akkusativ Plural an die maskulinen a-Stämme ist vereinzelt belegt: zwey jahre, vber die pferde; die Masse der Belege bilden Fälle mit Nullmorphem. – Jena: Die wenigen maskulinen Substantive auf -el im Nominativ Plural sind apokopiert, im Akkusativ Plural ist die Erhaltung des -e bis zum ersten Drittel des 15. Jahrhunderts an die Schreiber gebunden, später überwiegt die e-Apokope. Substantive auf -en sind selten belegt; darunter am häufigsten bei ›Gulden‹, das im einzigen Beleg im Nominativ Plural apokopiert ist, während im Akkusativ Plural die Erhaltung des -e bei wenigen Schreibern vorkommt. Substantive auf -er haben im Nominativ, Genitiv und Akkusativ Plural, besonders im reichlich belegten Nominativ Plural, Formen mit auslautendem -e sehr lange neben apokopierten, welche vereinzelt seit den letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts auftreten. Von mhd. bruoder und dem Kollektivum gebrüeder sind Formen des Nominativ, Genitiv und Akkusativ Plural auf -e bei vielen Schreibern im gesamten Zeitraum vorhanden: brudere neben brude’. Die neutralen a-Stämme stehen im Nominativ und Akkusativ Plural entsprechend dem Mittelhochdeutschen mit Nullmorphem, seit Ende des 14. Jahrhunderts finden sich daneben auch Formen auf -e. – Dresden: Die Entwicklung des -e als Pluralmarker ist durch die lautlich bedingte Apokope erschwert. Bei allen Substantiven starker Flexion (ausgenommen die neutralen a-Stämme) begegnet es meist im Nominativ und Akkusativ, wobei die Apokope fast nur in Verbindung mit Zahlen oder ähnlichen Mengenangaben eintritt, wo das Attribut den Numerus hinreichend kennzeichnet und die Flexionsendung unterbleiben kann. Die neutralen a-Stämme weisen hingegen einen Überhang an apokopierten Formen auf. Nomina agentis und ter-Substantive bilden den Plural mit und ohne -e: Flushendelere, Eynnehmere, Burgere, gebrudere, tochtere vs. vorsteher, Burger, eynwohner. Bei den ursprünglich schwach flektierenden Maskulina kommt nur bei einem Schreiber Die hane vor, wobei die schwache Form sonst bis ins 19. Jahrhundert begegnet. Gegen das Neuhochdeutsche behalten das mittelhochdeutsche Morph ursprünglich stark ›Zins‹ bis Ende des 16. Jhs.: Welcher ZcinBe, alle tzinBe, wegen d(er) großen Zinße, gelegentlich auch Zwehne Schurze und starke ›Bett‹ und ›Hemd‹ bis Mitte des Jahrhunderts: 2 Hemde, 2 Spann betthe. – Mähren: Der Nominativ Plural der ursprünglichen a-Stämme wird durch das Morph -e signalisiert, wobei in Südmähren auch Pluralformen mit Nullmorphem belegt sind: vierzehen tag, die hoff, visch, die weingartperig. Das Morph -e ist Plural-Morph bei Nomina agentis: dy rychtere und dy perkmeistere, dez kunigsreichs ynwonere, der purgere lehen u. a. Für die neutralen a-Stämme ist es im Plural (und dem Plural auf -er) aufgrund der verbreiteten Apokope in den meisten südund mittelmährischen Territorien schwer zu entscheiden, ob das Nullmorphem die ältere endungslose Form wiedergibt oder apokopiert wurde: alle jar, die recht, drei ziehende Roß. – Breslau: Die flexionslosen Plural-Formen der neutralen a-Stämme bleiben auf die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts beschränkt: alle unser gebot, die recht.
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II. Gebiete und Phänomene
Im klassischen Mhd. umfasst der -er-Plural wenige Lexeme (blat, ei, huon etc.). Seit dem 14. / 15. Jahrhundert steigt die Zahl der Lexeme mit -er-Pl.; neben den ehemals starken Neutra ohne Numerusunterscheidung wird das Morph -er auch von einigen Maskulina gebraucht. Im 16. Jahrhundert setzt sich der -er-Plural gegenüber -e und dem unbezeichneten Plural durch. Im 17. Jahrhundert ist der neuhochdeutsche Entwicklungsstand nahezu erreicht. Bei den meisten noch im 18. Jahrhundert nachgewiesenen Formen mit -e, die in der Standardsprache -er haben, oder umgekehrt mit -er, die dann auf -e enden, handelt es sich um Lexeme, die im Neuhochdeutschen als Dubletten mit semantischer Differenzierung vorhanden sind, so Land-e vs. Länd-er, Licht-e vs. Lichter (vgl. ebd., 1544). Die Entwicklung der -er-Plural-Formen ist stärker im Oberdeutschen (vgl. Gürtler 1913, 103ff.). Prag: Der Übergang der neutralen a-Stämme zum er-Plural, entsprechend der neuhochdeutschen Konvention, wird im 16. Jahrhundert vollzogen: khinder, Zwey lichter, die Palleten-Bücher, die Amts bücher, die Pfänder; Maskulina haben den -er-Plural angenommen. – In der Kanzlei Kaiser Karls IV. ist das Plural-Morph bei dorf, haus / hus, kint, kleid anzutreffen, nicht bei lant und gut, in der Urkundensprache Wenzels ist gut zum er-Plural übergegangen. – Eger I: Bei den neutralen a-Stämmen lässt sich »ein Schwanken zwischen alter endungsloser Pluralbildung und neuer mit er-Suffix« (Skála 1967, 56) feststellen: dache – decher, gute, lehengute – g)ter, claider, kleider – claiden; eine Ausdehnung auf Maskulina findet nicht statt. Eger II: Der Deklinationstyp mit er-Plural ist häufig: die ämbter, abgeführte detzgelder (Nominativ), die schin painer, nester (Akkusativ); Belege ohne -er kommen vereinzelt vor: platt (Nominativ), zwej kind, 3 duch, schöb liecht (Akkusativ). Gelegentlich steht -er als Pluralmorph auch bei ja-Stämmen: loße meuler, meßgewandter (Akkusativ) (neben 2 meßgewant, etzlich gewandt Akkusativ Plural). Die Übertragung des -er auf maskuline a-Stämme (an frembden orttern) ist vereinzelt zu finden, bei maskulinen n-Stämmen trifft sie in Sonderfällen ein: ahntter (Nominativ), von der gefannger wegen (Genitiv). – Jena: Die er-Plurale breiten sich nach 1400 aus. Die Übertragung des Morphs auf starke Maskulina geschieht vereinzelt: ortern / ortern sowie gegen Ende des 15. Jahrhunderts beim ursprünglichen Wurzelnomen ›Mann‹: mennere (Nominativ), radmennere, radmenner (daneben auch rathmanne), menner. – Dresden: -er steht bei neutralen a-Stämmen konkurrierend zu -e und dem Nullmorphem bis Mitte des 16. Jahrhunderts, wobei neben -er bis Ende des 16. Jahrhunderts -ere stehen kann: kindere, heuBere neben heuBer, Bredter; mit sekundärem -er als Pluralmorph erscheint nur guttere. Gegen das Nhd. wird -er auch auf vereinzelte neutrale ja-Stämme übertragen: Zwey Hembder; bei Maskulina erscheint – wie in Eger II und in Jena – -er wortgebunden: Die … ortter, ann etzlichenn ortternn vs. eynige ortte, Bronnen oder Börner, daneben der Borne, so auch beim Wurzelnomen ›Mann‹. Dies zeigt sich auch beim Substantiv ›Vormund‹, bei dem nur ein Schreiber (mit oberdeutschen Beziehungen) -er hat, ansonsten schwacher Plural vorkommt; ›Vormund‹ zeigt auch im Singular mehrfache Variationen zwischen starken und schwachen Formen. – Mähren: Der Übertritt der neutralen a-Stämme zum er-Plural ist weit verbreitet. (Bei einigen er-losen Substantiven im Dativ Plural kann allerdings nicht bestimmt werden, welche Formative im Nominativ anzusetzen sind: von weiben, in talen, in dewczen landen, seinen kinden.) Zu ›Mann‹ können alle möglichen Pluralallomorphe hinzutreten, nicht selten bei ein und demselben Schreiber, allerdings
13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs
181
zeitlich und territorial differenziert. In den süd- und mittelmährischen Niederschriften setzt sich -er erst im 16. Jahrhundert durch (weil die Analogiestütze wie in weiber, kinder fehlte), während es in den nordmährischen Kanzleien früher auftaucht; r-lose Plurale sind noch in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts häufig. – Breslau: -er fehlt bei ›Weib‹ nur in mit iren weiben und kindern (1431). Das ursprüngliche Pluralmorph des schwachen Substantiv-Flexivs -(e)n erfährt eine »stark genusorientierte Umbesetzung« (Wegera / Solms 2000, 1544). Bei den Feminina wird das Kasusmorph -(e)n des Genitiv und Dativ Plural auch in den Nominativ und Akkusativ übernommen, gleichzeitig werden die Kasusmorphe der ursprünglich schwachen Formen getilgt. Die ehemaligen ô- / jô-Stämme und die schwachen Formen fallen damit zusammen; -(e)n wird vorherrschendes Pluralmorph (vgl. ebd.). Der Plural im Nominativ und Akkusativ der starken Feminina zeigt in Prag regelmäßig das Morph -(e)n, Ausnahmen Anfang des 18. Jahrhunderts sind: mehrere fuhr, auf Zwey Stundt. – In Eger II überwiegen apokopierte bzw. endungslose Formen. Substantive, die zur schwachen Deklination übergegangen sind, stehen neben starken. – Jena: Die Kennzeichnung des Nominativ und Akkusativ Plural durch das Morph -en ist seltener als die Bildung schwacher Formen im Singular. »Mehrmals sind sie [die schwachen Formen] bei mhd. messe, sache, sêle, vigilie und hufe zu finden« (Suchsland 1968, 158). Das Lexem persôn hat im Plural mehrmals ekthliptische Formen, auch im Genitiv Plural. Bei den femininen i-Stämmen sind schwache Formen sehr vereinzelt zu erkennen: herschafftenn (Genitiv Plural), tagzceitten (Akkusativ Plural). – Dresden: In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts steht neben neuhochdeutsch -en noch das mittelhochdeutsche Morph -e: etliche wuche, Beine Bchulde (Akkusativ Plural) bzw. Die lucken, Zcwue Schalen, WolbewuBter Bchulden, oder aber wortgebunden noch Nullmorphem: beide parte – beide parthen – beider parth. In der zweiten Hälfte sind -e-Plurale nur in Einzelfällen nachzuweisen; die -e-Form mutiert z. T. zum Singular: nhd. Stätte (wie auch maskulin Schurz > Schürze). Gegen die neuhochdeutsche Norm erscheinen mit -en: in Die Bchauffelnn vnd Bten axtenn, etliche blutrúnBten (Akkusativ) neben Vmb … 1 blutrunBt (Singular) und bmelte anewalden, erkorne … anwalt(e)n. Die im Neuhochdeutschen klare Trennung bei Substantiven auf -el, -er und -em, -en, dass Feminina das Morph -n und Maskulina und Neutra Nullmorphem bzw. Umlaut erhalten, gilt nicht: vor ein par Btiffeln, die Zcigel, Jrer eideme neben Jrer eidemen. – Mähren: Das Morph -en ist infolge der e-Apokope nicht in den Nominativ Plural gedrungen, im Akkusativ steht es vereinzelt. Die kleinere Gruppe von Neutra mit dem Plural-Morph -(e)n (hërze, ôre, ouge, wange) erfährt eine vorübergehende Ausweitung (ding-en, wort-en, wek-en, gesichten, element-en etc.), die im Neuhochdeutschen auf wenige Lexeme reduziert wird (vgl. Wegera / Solms 2000, 1544f.). Prag: Einzelne Wörter der neutralen a-Stämme weisen das Morph -(e)n, so wieder die Rechten (1692), Was er aber Vor mitteln gehabt (1711) auf. – Eger II: Bei neutralen ja-Stämmen treten trotz des Übergewichts der starken Deklination Belege mit schwacher Deklination auf (alle Belege stehen allerdings im Dativ): mawrern vnd czigeldecken, den handtwerckhen, vntern crämen. – Dresden: ›Recht‹ erscheint im Singular und im Plural stets mit -en. Von den mittelhochdeutschen stark flektierten Maskulina erhalten nur wenige das Morph -(e)n im Plural (vgl. ebd., 1545).
182
II. Gebiete und Phänomene
Eger II: Das Plural-Morph -(e)n steht (als Apokope) neben Nullmorph: für 4 vergult und versilbert knopfen (1581) neben für die knopf. – Jena: Das Morph -en erscheint vorwiegend im Genitiv Plural bei apposteln, meystern, fußknechten, schwagern neben schweger im Akkusativ Plural, bei monchen neben monche im Nominativ Plural, gelegentlich im Akkusativ Plural bei versorgern, nutzen, punckten. Die schwachen Formen stehen teilweise in den gleichen Urkunden neben den starken Formen. »Der -s-Plural ist im Frnhd. noch ohne größere Bedeutung« (ebd.). In den hier durchgesehenen Quellenwerken ist der Plural auf -s nur in Fremdwörtern belegt. Die sprachhistorische Entwicklung des morphologischen Plural-Umlauts hängt eng mit der graphischen Bezeichnung des Umlauts zusammen (vgl. Moser 1929, § 16; Frnhd. Gr., § L 8). Begünstigt durch die e-Apokope übernehmen die ehemaligen maskulinen a-Stämme den Umlaut des Stammvokals, die Bildungsweise der ehemaligen i-Stämme. Während der -er-Plural mit umlautbarem Stammvokal regelmäßig mit Umlaut einhergeht, erhält ihn die Gruppe mit -e-Plural und mit unmarkiertem Plural nicht immer: Stäbe, Särge, Nägel vs. Galgen, Tage, Waren (vgl. ebd., 1543). Prag: Der Umlaut wird bei a-Stämmen in der Regel markiert. Er erscheint auch bei Wörtern, die neuhochdeutsch nicht umgelautet werden: die wegen 1585, in Einzelfällen als redundanter Plural-Marker: die täge 1705 (in der Regel tage). Bei i-Stämmen ist der Umlaut trotz e-Apokope nicht konsequent bezeichnet: unterschiedliche Vorwurff. ›Bruder‹ wird stets umgelautet. Von den ursprünglich femininen i-Stämmen haben lediglich ›Stadt‹, ›Faust‹ und ›Hand‹ die starke Deklination mit Umlaut erhalten, wobei im 17. und 18. Jahrhundert bei der Umlautbezeichnung Schwankungen möglich sind. Die neutralen a-Stämme, die den Plural auf -er bilden, sowie die Neutra mit dem Plural auf -er erscheinen umgelautet. – In der Urkundensprache Karls IV. wird ›Hand‹ im Dativ Plural umgelautet, später in der Kanzlei Wenzels hingegen nicht. – Eger I: Der Umlaut wird bei Maskulina in der Regel markiert; umgelautete und umlautlose Formen stehen aufgrund des Übergangs in eine andere Deklinationsklasse nebeneinander: kauffe neben keuffe, cheuffe, morde neben morde, gerten neben garten. Während die ehemaligen u-Stämme und die Verwandtschaftsbezeichnungen meist umgelautet werden (s)n, s)en bzw. veter, br)der neben bruder), erscheint ›Hand‹ (Dativ Plural) umlautlos und ›Nacht‹ wird nur adverbial zu Dativ Plural umgelautet. Neutra mit -er-Plural schwanken. Mitunter weist der Plural neutraler a-Stämme als Analogiebildung nach der i-Deklination umgelauteten Vokal auf closter. Eger II: Neben den umgelauteten Formen maskuliner a-Stämme, auch solcher Lexeme, die neuhochdeutsch keinen Umlaut haben (täg, wegen), stehen umlautlose Formen: peum neben alle baum, vögel neben vogel. Bei maskulinen i-Stämmen wird der Umlaut nur gelegentlich nicht bezeichnet. In femininen i-Stämmen ist der Umlaut meist durchgeführt und bezeichnet und unterscheidet damit die apokopierten Plural-Formen von den Singular-Formen, ebenso in neutralen a-Stämmen, die zum Deklinationstyp auf -er übergetreten sind. – Jena: Die maskulinen a-Stämme werden nur vereinzelt umgelautet, manchmal neben umlautlosen Formen; rate ist der einzige Beleg für den ohne Umlaut gebildeten Plural eines i-Stammes. ›Bruder‹ und ›Vater‹ erscheinen umgelautet. Die neutralen a-Stämme mit Plural auf -er sind meist nicht umgelautet. Bei femininen i-Stämmen ist der Umlaut bei wenigen Schreibern bezeichnet; ›Hand‹ und ›Tochter‹ kommen umlautlos vor. – Dresden: Umlaut erscheint bei schwachen Maskulina
13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs
183
und bei starken Substantiven auf -en, -el, -er. ›Hand‹ und ›Nacht‹ sind meist umlautlos. Auffällig sind einige umlautlose Belege von i-Stämmen oder von Wörtern, die sich ihnen bereits im Mittelhochdeutschen im Pluralumlaut angeschlossen haben: aus diBen … RatBlagen, an Wochen Margkten, Die hern … Cammer Rathe, wobei die Häufigkeit vom jeweiligen Schreiber abhängt; in den meisten Fällen stimmt die Umlautform mit der neuhochdeutschen Form überein. Entgegen dem Neuhochdeutschen umgelautet, kommen vor: Der Reichstege, Jnn Wochen tegen, 7 gröBchen. – Mähren: Der Umlaut macht sich bei a-Stämmen im Plural vor allem in den südlichen Territorien bemerkbar. Obwohl er bei e-Apokope zur Kennzeichnung des Plurals dient, begegnet er auch, wenn das Plural-e nicht apokopiert wurde, so dass der Plural doppelt markiert wird: hinter den höfen, all täg, mit wägen, von gemessen tegen, des Eritags in Phingstfeiertëgen, etteleiche eker. ›Sohn‹ weist meist Umlaut auf, ›Bruder‹ seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Bei femininen i-Stämmen geht der Umlaut mit e-Apokope einher: 9 pratpenkch, die fleischpenkch, gens. Der Umlaut bei Neutra, die den Plural auf -er bilden, schwankt. – In der Urkundensprache der Vögte von Weida, Gera und Plauen wird der Umlaut bei aSubstantiven bezeichnet: epfile, epphil (Akkusativ), erczte (Nominativ), welden (Dativ). Der Umlaut des Stammvokals ist auch mit dem Plural auf -(e)n kombinierbar (Nämen, mütern, Kräfften etc.), allerdings ist die Anzahl solcher Bildungen begrenzt und insbesondere auf das Oberdeutsche und Westmitteldeutsche beschränkt (vgl. ebd., 1545). In der Kanzleisprache ist der Umlaut bei Lexemen mit dem Plural-Morph -(e)n vor allem bei solchen nachgewiesen, die ihn auch im Neuhochdeutschen beibehalten haben. Prag: vereinzelt im 16. Jahrhundert: seine schöden (Akkusativ, 1580), neben die Schaden (Nominativ, 1709). – Eger II: Nominativ Plural bei 3 khern neben 3 karn und rohrkesten (dagegen erscheint in nicht umgelauteter Form oder mit unbezeichnetem Umlaut burgen ›Bürge‹) und Akkusativ Plural bei läden, fur 3 mandel pogen, scheden, kern / kärn. – Jena: nur bei ›Schaden‹ seit Mitte des 15. Jahrhunderts.
4.
Adjektivflexion
Entwicklungsgeschichtlicher Grundzug der deutschen Adjektivflexion ist das Nebenund Nacheinander zweier Prinzipien, die die Auswahl eines der einem Adjektiv in den einzelnen Singular- und Plural-Kasus zur Verfügung stehenden Flexive prägen: Laut der Formenregel wird die Adjektivflexion von den sonstigen grammatischen Ausdrucksträgern der Substantivgruppe beeinflusst (vgl. Hotzenköcherle 1968, 3). Der Grammatikalisierungsprozess der Adjektivflexion im Sinne von Artikelflexion, der bereits im Germanischen beginnt, gilt im Frühneuhochdeutschen als abgeschlossen. Laut der konkurrierenden Sinnregel wurden genusindifferente bzw. genusmarkierte Flexive aufgrund der referentiellen Bestimmtheit / Unbestimmtheit des außersprachlichen Referenten gebraucht (vgl. Frnhd. Gr., § M 34, Anm. 1, 2; Wegera / Solms 2000, 1549f.). Im Frühneuhochdeutschen erfolgt die morphologische Markierung weitgehend an einer einzigen Stelle der Substantivgruppe (sog. monoflexivisches Prinzip). Die Grammatikalisierung der Distribution grammatisch indeterminierter und determinierter Morphe
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II. Gebiete und Phänomene
unterliegt landschaftlich einer unterschiedlichen Entwicklung. Die Stellung des attributiven Adjektivs ins Vorfeld gilt als fixiert; die im Nachfeld noch mögliche Nachstellung korreliert mit Flexionslosigkeit. Die seltene Flexion des prädikativen Adjektivs begegnet im Oberdeutschen bis ins 16. Jahrhundert (vgl. ebd., 1550). 4.1.
Die determinative Flexion
Im Frühneuhochdeutschen weist die determinative Flexion folgendes Paradigma auf (Frnhd. Gr., § M 35):
Tab. 1: Determinative Flexion der Adjektive im Frühneuhochdeutschen2 4.1.1. Allgemeine Feststellungen In Prag, Eger I und II und Mähren entspricht die determinative Flexion des Adjektivs weitgehend dem Neuhochdeutschen, während sie in Jena mit Ausnahme von Nominativ und Akkusativ Singular Feminin und Nominativ und Akkusativ Plural und in Dresden mit Ausnahme von Nominativ Singular Feminin und vom Plural aller Genera, wo auch der Übergang zum neuhochdeutschen -e überwiegt, noch mit dem Mittelhochdeutschen übereinstimmt. Varianten sind meist das Ergebnis von Synkopierung und Apokopierung (vgl. auch indeterminative Flexion). Determinative Flexion kommt – unterschiedlich häufig – auch nach dem bestimmten Artikel bzw. nach Possessiv- und Demonstrativpronomen vor, meist im Singular und seltener im Plural. In Prag steht -er im Singular nach dem bestimmten Artikel bis Ende des 16. Jahrhunderts, in Eger II hingegen ganz vereinzelt der anspenniger haubtmann, grammatisch determinativ -e im Plural Neutrum Akkusativ manchmal die arme leut. In Jena erscheint im Singular -er mehrfach nach dem bestimmten Artikel und zuweilen nach dem Demonstrativpronomen, in Dresden nach dem bestimmten Artikel dagegen in wenigen Fällen, vereinzelt im Dativ am bahrem gelde, nach dem Demonstrativpronomen bei einzelnen Schreibern und in Mähren mitunter sowohl nach dem bestimmten Artikel als auch nach den Pronomina. Im Plural kommt die determinative Flexion in Dresden
2
Die spitze Klammer (>) zeigt die im Frnhd. eingetretene und (weitgehend) abgeschlossene Entwicklung, die Tilde (~) eine konkurrente Verwendung an.
13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs
185
teilweise nach bestimmten Pronomina, die nach neuhochdeutscher Norm indeterminative Flexion fordern. Gereihte Adjektive vor dem Substantiv verhalten sich unterschiedlich. Das erste bleibt unflektiert: in Prag ganz selten ein klein Rother fleckh, in Eger II manchmal, häufig auch alle drei. Oder aber sie werden determinativ und indeterminativ nebeneinander flektiert: in Jena bisweilen, in Mähren oft. In Dresden wird im Singular hingegen das erste flektiert, und die übrigen haben Nullmorphem, im Plural ist dies aber auch umgekehrt möglich. Nachgestellte Adjektive werden sowohl determinativ als auch indeterminativ flektiert. In Prag und in Eger I und II sind die flektierten in der Minderzahl. In Jena erscheinen nachgestellte Adjektive, determinativ oder indeterminativ flektiert, bis ins erste Drittel des 15. Jahrhunderts verhältnismäßig oft, danach seltener. 4.1.2.
Besonderheiten
4.1.2.1.
Maskulina im Singular
4.1.2.1.1. Nominativ Dresden: Anfang des 16. Jahrhunderts findet sich das Nullmorphem vielfach, die Form wird um 1550 seltener, um gegen Ende des Jahrhunderts vereinzelt zu begegnen. Ab ca. 1550 überwiegt das Allomorph -er, das zu Anfang des Jahrhunderts aufgetaucht war. 4.1.2.1.2. Genitiv Prag: Im 16. und 17. Jahrhundert steht das historisch determinative Morph -(e)s, erst im 18. Jahrhundert das nhd. -(e)n. – Eger II: Formen auf -es und -en stehen nebeneinander. – Jena: Es steht -es, nur vereinzelt kommt im 16. Jahrhundert (mit Ekthlipsis) -en vor. – Dresden: Im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts ist das historische Morph neben -en häufig; es reicht bis gegen Ende des Jahrhunderts. – Breslau: Bis zur Hälfte des 15. Jahrhunderts tritt determinatives -es auf: irstes kouffes. 4.1.2.1.3. Dativ Prag: Der Dativ ist mit dem Akkusativ zusammengefallen (wie in den bairischen Dialekten), die Einheitsform -en begegnet bis auf eine Ausnahme -em durchgehend. – Eger I: Das zweisilbige Morph -(e)me wiseme ist selten. Eger II: Die Adjektive enden vereinzelt auf -r und häufig auf -n. – Jena: Die volle Form ewigeme, andirme, disme steht noch im 14. Jahrhundert, vereinzelt bis ins 15. Jahrhundert. Bei Apokope steht teils vereinzelt, teils mehrfach bei vielen Schreibern -en (statt -em), gegebenenfalls mit Ekthlipsis: mid wolbedachten m)te, (von) guten willen. – Dresden: Bei einzelnen Schreibern steht -en statt -em (wie im Nominativ), wohl als Artikulationserleichterung.
186
II. Gebiete und Phänomene
4.1.2.1.4. Akkusativ Eger II: Es begegnet häufig e-Synkope; eine Besonderheit ist das Morph -r in folgendem Beleg: fur 8 statkandel alten vnd newer wein (1540). – Dresden: Das Nullmorphem findet sich vereinzelt bei nachgestelltem Adjektiv: vffn Montag … neBt kunfftig. 4.1.2.2.
Neutra im Singular
4.1.2.2.1. Nominativ und Akkusativ Prag: Am häufigsten steht das regelrechte -es, in Belegen aus dem 16. und 17. Jahrhundert gelegentlich das indeterminative -e und in Einzelfällen -en. – Dresden: Im Nominativ begegnet bis Ende des 16. Jahrhunderts häufig ein Nullmorphem: Ein clein gehemert BchuBBelgen. Für das Allomorph -es lassen sich bis zum zweiten Drittel des Jahrhunderts kaum Belege mit pränuklearem Adjektiv finden: 2 kuBBen (›Kissen‹) ein groBBis Vnd ein cleinis, Niemants frembdes, Ehre vnd alles guttes; nur ein Schreiber hat Bein heiligs worth, kleines JnBigel. Im Akkusativ sind die Formen mit Nullmorphem in der Überzahl, erst Ende des 16. Jahrhunderts wird -es häufiger. 4.1.2.2.2. Genitiv Jena: Determinativ -es steht durchgehend, vereinzelt kommt im 16. Jahrhundert (mit Ekthlipsis) nhd. -en vor. – Dresden: Anfang des 16. Jahrhunderts ist (wie bei den Maskulina) neben -en das historische Morph häufig; es reicht bis Ende des Jahrhunderts. 4.1.2.2.3. Dativ Prag: Die Adjektive besitzen, vom Neuhochdeutschen abweichend, auch im Dativ (einheitlich mit dem Genitiv) das Morph -en. Eger I: Das zweisilbige Morph -(e)me steht selten. – Dresden: -en statt -em (wie bei Maskulina) steht bei einzelnen Schreibern. 4.1.2.3.
Feminina im Singular
4.1.2.3.1. Nominativ und Akkusativ Eger I: Im Nominativ steht selten noch die alte Form -iu (ir vorbeschribnew Leipding g)et 1375). Eger II: Im Akkusativ erscheint als Folge des Zusammenfalls der Kasusmorphe -er und -e in der Mundart, wo beide durch ein mixed vowel wiedergegeben werden, mehrmals -er. – Dresden: Im Nominativ tritt neben dem neuhochdeutsch gültigen -e selten auch das Nullmorphem allomorph auf: Ein gros zcinen BchuBBel, eine Bwartz Bchawbe; das Nullmorphem kommt allerdings bei einem Schreiber in der Mehrheit vor. Im Akkusativ ist hingegen das Morph -e die Regel; das Nullmorphem ist als Apokopierung anzusehen.
13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs
187
4.1.2.3.2. Genitiv und Dativ Prag: -en steht im Genitiv vereinzelt, im Dativ manchmal. – Eger II: -en steht vereinzelt im Dativ. – Jena: -ere wird (im Unterschied zu -[e]me) zu -er verkürzt. 4.1.2.4.
Plural
Prag: Die Adjektivflexion weicht vom Neuhochdeutschen im Genitiv ab, meist steht dann -en, der Akkusativ solchen sachen ist eine Ausnahmeerscheinung. – Eger I: Bei Neutra steht im Nominativ ganz vereinzelt das historische -eu (ellev chint, 1310). Im Dativ kann Kontraktion eintreten: in aygen preuheusern. Eger II: Bei Maskulina sind im Nominativ det. -e und das Nullmorphem allomorph. Eine Besonderheit ist ein Beleg von 1571: zwenn junger schuczen (Nominativ). Im Dativ ist det. -er möglich: dem armer leuten (1530). Bei Feminina kann im Akkusativ – wie im Singular – auch -er auftreten. Jena: -ere wird im Genitiv (anders als -[e]me) zu -er verkürzt, gelegentlich jedoch taucht im 14. und 15. Jahrhundert nach -r- und -n- die synkopierte Form -re auf. 4.2.
Die indeterminative Flexion
Im Frühneuhochdeutschen weist die indeterminative Flexion folgendes Paradigma auf (vgl. Frnhd. Gr., § M 36):
Tab. 2: Indeterminative Flexion der Adjektive im Frühneuhochdeutschen3
4.2.1. Allgemeine Feststellungen Wie im Falle der determinativen Flexion macht sich der neuhochdeutsche Stand der indeterminativen Deklination vor allem in den oberdeutschen Kanzleien breit, allerdings mit Elementen mittelhochdeutscher Flexion übersät. Während in Jena weitgehend noch das
3
Die spitze Klammer (>) zeigt die im Frnhd. eingetretene und (weitgehend) abgeschlossene Entwicklung, die Tilde (~) eine konkurrente Verwendung an.
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II. Gebiete und Phänomene
mittelhochdeutsche Flexionssystem erhalten ist, stimmen die Morphe in Dresden grundsätzlich mit den neuhochdeutschen überein. Varianten sind mittelhochdeutsche Relikte oder kommen durch Synkopierung und Apokopierung zustande: In Eger kommen verkürzte Formen besonders im Maskulin und Neutrum vor. In Jena sind bei Wörtern auf -en / -n (v. a. bei oft attributiv gebrauchten Präteritumspartizipien starker Verben) in den Kasus auf -en ekthliptische Formen die Regel, während die im Neuhochdeutschen üblichen vollen Formen im 15. Jahrhundert selten sind und erst im 16. Jahrhundert häufiger werden. Die Apokopierung bei mehrsilbigen Adjektiven auf -en, -er und -ber / -bar in den Kasus auf -e setzt um 1400 ein und ist weit weniger durchgreifend als Synkopierung und Ekthlipsis; meist stehen die nichtapokopierten Formen neben den verkürzten; nach 1470 greift die Apokopierung in den e-Kasus auch bei anderen Adjektiven. In Dresden steht neben dem regelrechten Morph -e die apokopierte Form im Nominativ Singular aller Genera, ekthliptische Belege sind nicht selten. 4.2.2.
Besonderheiten
4.2.2.1.
Maskulina im Singular
4.2.2.1.1. Nominativ Prag: Determinative Flexion kommt bis Ende des 16. Jahrhunderts vor. – Eger II: Die apokopierten und nicht apokopierten Formen konkurrieren; bei zwei nebeneinander stehenden Adjektiven ist das erste meist nicht flektiert. Vereinzelt begegnet unorganisches -en: hat ein erbern radt noch gelosn. – Jena: Indeterminative Flexion fällt vor Personennamen auf: junge Bartel Zcirolt, junge Nickel Kronn. 4.2.2.1.2. Genitiv Prag: Nach -r tritt e-Synkope auf. – Eger II: Synkopierte und nicht synkopierte Belege stehen nebeneinander. Sonderformen sind das historische det. -s: seines vnnutzens maulß, das det. -er des Nominativs: des edeln Albrechten oberster canczlers, an die Mundart angelehnt erscheint des gr)n viereckheten offens. 4.2.2.1.3. Dativ Prag: Wegfall von -en begegnet vereinzelt. – Eger II: Auslautendes -m und -n erscheinen vertauscht, so dass determinative Flexion nach dem bestimmten Artikel (von den gemeinem man) und umgekehrt indeterminativ bei Artikellosigkeit (zu offenen marcktt) auftritt. – Dresden: Nullmorphem erscheint häufig: mit eynem Btatlich volk, Der kaiBerlich Cantzlej nicht gemeBs. 4.2.2.1.4. Akkusativ Eger II: Synkopierte und nichtsynkopierte Formen stehen in der Regel nebeneinander. Adjektivisch gebrauchte Stoffnamen erscheinen zuweilen in der mittelhochdeutschen
13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs
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endungslosen Form: fur dem gulden kopff, aus gab auff dem stainen kasten, hat man dem steinern man ufm steinen rohrkasten gesetzt. Schwach dekliniert werden auch Herkunftsbezeichnungen: auff den Leipzigen markt, ein rindern bradten gestoln. 4.2.2.2. Neutra im Singular 4.2.2.2.1. Nominativ und Akkusativ Prag: Das indeterminative -e und das Nullmorphem sind allomorph, vereinzelt kommt im Akkusativ det. -s vor. – Jena: Indeterminative Flexion begegnet selten nach ein, kein, solch oder Possessivpronomen. 4.2.2.2.2. Genitiv und Dativ Prag: In Ausnahmen steht im Dativ det. -em. – Eger II: Im Dativ erscheint oft das indet. -n auch in artikellosen Fügungen zu rechtlichnn erkenttnis, aus lauttern rocken vnd kornn meel; vereinzelt steht umgekehrt -m statt -n: in einem zimlichem, pillichem, geburlichem geldt. 4.2.2.3.
Feminina im Singular
4.2.2.3.1. Nominativ und Akkusativ Prag: Im Akkusativ tritt im 16. Jahrhundert das historisch mögliche -en auf; apokopierte Fälle sind in der Regel bei Steigerungsformen, sonst nur in Einzelfällen nachgewiesen. – Eger II: Im Akkusativ bleibt -en häufig bewahrt. – Jena: Das nhd. -e erscheint im Akkusativ seit dem 14. Jahrhundert, im 15. Jahrhundert herrscht es gegenüber dem alten Morph -en vor, das Anfang des 16. Jahrhunderts nur noch vereinzelt belegt ist. – Mähren: Mhd. -en schwindet erst im 16. Jahrhundert. 4.2.2.3.2. Genitiv und Dativ Prag: Im Genitiv und Dativ erscheint vereinzelt das determinative Morph -er. – Eger II: Als Sonderfall wird im Genitiv -m statt -n belegt: seiner aigenem handtschrift; im Dativ Singular erscheint ein unorganisches -r: von der altern Solchen und det. -e: von der junge Margaretha Felberin. 4.2.2.4.
Plural
Prag und Jena: Nominativ und Akkusativ weichen durch das Auftreten des det. -e vom Neuhochdeutschen ab. – Eger II: Im Nominativ fällt das regelrechte -en gelegentlich weg. Im Vokativ steht das indeterminative Morph -(e)n allein (Prag: lieben herren von der Iglaw, Jena: im 15. Jahrhundert, Breslau: lieben herren, lieben frunde, liben sone) oder aber neben dem neuhochdeutsch determinativen Morph -e (Jena: seit 1470). In Eger I
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II. Gebiete und Phänomene
steht in Urkunden des Rates die determinative Flexion, in Privatbriefen dagegen die indeterminative, in Eger II ist lediglich die indeterminative Flexion belegt. 4.3.
Flexionslosigkeit
Ob ein Nullmorphem tatsächlich Flexionslosigkeit bedeutet oder Folge der e-Apokope ist, lässt sich nicht immer mit Sicherheit bestimmen. Prag: Unflektierte oder endungslose Belege sind nicht sehr häufig. Nullmorphem kommt meist im Nominativ und Akkusativ Singular der Neutra vor, bei ›viel‹ und ›wenig‹ immer. – Eger I: Die unflektierte Form ist meist Folge von e-Apokope. Attributiv gebrauchte Adjektive stehen unflektiert sowohl vorangestellt als auch nachgestellt, bei prädikativem Gebrauch kommt stets die unflektierte Form vor. Eger II: Die unflektierten Formen dominieren; sie erscheinen meist attributiv, vor- und nachgestellt, in allen Singular- und Plural-Kasus, besonders häufig bei Neutra im Nominativ oder Akkusativ Singular. Die unflektierte Adjektivform der ursprünglichen ja- und wa-Stämme auf -e ist sowohl prädikativ als auch attributiv selten belegt. – Jena: Die unflektierte Form des attributiven Adjektivs steht fast ausnahmslos im Nominativ Singular aller Geschlechter und im Akkusativ Singular Neutrum nach dem unbestimmten Artikel, nach Possessivpronomen, nach solch und kein und ohne vorhergehende Artikel oder Pronomen. Die Formen mit Nullmorphem nach dem bestimmten Artikel nach 1480 und vor allem nach 1500 sind hingegen Apokopierungen indeterminativ flektierter Adjektivformen. Es fallen die in den verschiedensten Kasus attributiv gebrauchten unflektierten Formen des Partizip Präsens auf. Im Nominativ Akkusativ Plural kann in einzelnen Fällen – regelwidriger – Gebrauch starker Formen auf -e vorliegen. – Dresden: Die unflektierte Form des Adjektivs wird prädikativ verwendet, wobei ja-stämmige Adjektive in einigen Fällen das auslautende -e noch bewahrt haben: Zcu kleyne … Backen, getraw, gehorßam vnnd gewehre Zcu Bein. 4.4.
Komparation
Die Komparation der Adjektive entspricht dem neuhochdeutschen Stand (vgl. Wegera / Solms 2000, 1551). Es treten folgende Besonderheiten auf: Eger I: Unregelmäßige Steigerung: guot – pesser, peste, bezst, mer, me, merer (doppelter Komparativ), minner – mynst. Die zu mer und myner gehörigen mittelhochdeutschen Positive michel bzw. lützel werden nicht mehr gebraucht. Manche Adjektive haben keinen Positiv: er ›früher‹, erst, ynner, leczer, leczt, nider, obere, äuszer. Eger II: Im Superlativ kann neben -est auch -ist stehen. Umlautgebrauch schwankt nur bei mehrsilbigen Adjektiven. Doppelter Komparativ ist bei mehr weiterhin möglich. – Jena: Der von den i-haltigen Suffixen bewirkte Umlaut ist fast nur beim Wurzelvokal -a- bezeichnet, wobei das Fehlen der Umlautung bei anderen Wurzelvokalen nicht nur durch die ahd. ô-haltigen Suffixe, sondern auch durch die mitteldeutsche Schreibtradition verursacht ist. Von den unregelmäßig gesteigerten Adjektiven ist der Komparativ von ›viel‹ belegt: vmbe mehir sicherheit (willin). Nach Wurzeln auf -er und nach -ch wird das -e im Superlativsuffix regelmäßig synkopiert. – Dresden: Bei umlautfähigem Stammvokal tritt der Umlaut ein, er wird bei -o- und
13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs
191
-u- allerdings teilweise nicht bezeichnet. Bei einzelnen Schreibern steht der Komparativ adverbial noch auf -en: nicht habe lengern dulden wollen. Neben besser erscheint adverbiell noch baß. Der Superlativ wird neben -(e)st auch auf -ist gebildet; er kann anstelle von regelrechten determinativen bzw. indeterminativen Formen mit Nullmorphem (endungslos) stehen. Die Superlativformen von ›viel‹ und ›wenig‹, ›groß‹ und ›klein‹ zeigen in antonymischer Gegenüberstellung Abweichungen vom Neuhochdeutschen: weder an meiBten noch am kleinBten, entweder mit dem wenigBt(en) odder großten.
5.
Desiderata
Das gewichtigste Desideratum kanzleisprachlicher Untersuchungen – nicht nur mit Bezug auf die Flexionsmorphologie – ist eine analytische Dokumentation, in der Schriftzeugnisse aus möglichst vielen Deutsch schreibenden Kanzleien unter möglichst vielen sprachlichen Fragestellungen beleuchtet werden. Die territoriale Zergliederung des deutschen Gebiets bringt bekanntlich das breite sprachliche Spektrum mit sich. Sprachanalysen auch aus geografischen Randbereichen (wie dem deutschen Südwesten, der auf die Entwicklung des Neuhocheutschen weniger Einfluss genommen hat als die hier berücksichtigten oberdeutschen und ostmitteldeutschen Sprachlandschaften) und den Sprachinseln sind unerlässlich. Eine Ordnung nach Kanzleistatus, mit der sprachlandschaftlichen Gliederung einhergehend, wäre dabei wünschenswert. Die frühneuzeitlichen Kanzleien als konsequente Produzenten von Geschriebenem unterschiedlichen Zwecks und als Sammelstelle von Schreibern mit verschiedener Herkunft und Bildung sind Schmelztiegel für aktuelle sprachliche Entwicklungstendenzen und Ort sprachlichen Konservatismus zugleich. Sie sind der Ort, an dem die in der Zeit benutzten Sprachformen einzigartige Erkenntnis über das Werden des heutigen Deutsch bewahren. Auf den engeren hier systematisch behandelten Bereich der Deklination bezogen, ist eine Erweiterung der Darstellung auf die Flexionsmorphologie der Pronomen naheliegend.
6.
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13. Flexionsmorphologie des Substantivs und Adjektivs
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Dana Janetta Dogaru, Sibiu (Rumänien)
14. Zur Flexionsmorphologie des Verbs
1. 2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.2. 2.2.1. 2.2.1.1. 2.2.1.2. 2.2.1.3. 2.2.1.4. 2.2.1.5. 2.3. 2.3.1. 2.3.1.1. 2.3.1.2. 2.3.1.3 2.3.1.4. 2.3.1.5. 2.3.1.6. 2.3.1.7. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.4. 2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4. 2.5. 3. 4.
1.
Grundlage Flexionsmuster Vereinheitlichung der schwachen Flexion Ausstoß des Themavokals Rückumlaut Ausgleich von Personalflexiven Spezifische Erscheinungen Präsens Indikativ Präsens Konjunktiv Präteritum Indikativ Präteritum Konjunktiv Imperativ Vereinheitlichung der starken Verben Umfang des Ablauts und sein Ausgleich Erste Ablautreihe: a) î, î – ei, i – i; b) î, î – ê, i – i Zweite Ablautreihe: a) ie, iu – ou, u – o; b) ie, iu – ô, u – o Dritte Ablautreihe: a) i, i – a, u – u; b) ë, i – a, u – o Vierte Ablautreihe: ë, i – a, â – o Fünfte Ablautreihe: ë, i – a, â – ë Sechste Ablautreihe: a, a – uo, uo – a Siebte Ablautreihe: a, â, ei, ou, ô, uo – ie, ie – a, â, ei, ou, ô, uo Vokalwechsel im Präsens – Abweichungen vom Neuhochdeutschen Grammatischer Wechsel – Abweichungen vom Neuhochdeutschen Schwankende starke und schwache Flexion Ausgleich der Präterito-Präsentien + mhd. wellen Bestand Umlaut Flexivische Transformation in der 2. Person Singular Indikativ Präsens Entwicklung des Stammvokals – Abweichungen vom neuhochdeutschen Stand Angleichung der athematischen und der kontrahierten Verben Schlussbemerkung Literatur
Grundlage
Dem Charakter des Frühneuhochdeutschen als Übergangsepoche entsprechend, wird sich folgender Beitrag mit Zeugnissen der Herausbildung der neuhochdeutschen Konjugationsmuster in frühneuhochdeutscher Zeit befassen, wie sie in oberdeutschen und ostmitteldeutschen kanzleisprachlichen Texten belegt sind. Eine Beschreibung der Flexionsmorphologie im strukturalistischen Sinne als System mittels Morpheminventar und
196
II. Gebiete und Phänomene
Distributionsregeln verbietet sich, da das Frühneuhochdeutsche gerade im Bereich der Flexion »durch eine ausgeprägte, insbesondere geographische und schreibschichtliche Variabilität« gekennzeichnet ist (Wegera / Solms 2000, 1542). Als Quellen wurden herangezogen: aus dem Oberdeutschen eine Studie für Prag aufgrund eines Stadtbuchs der Neustadt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Ono 1986) [im Folgenden als Belegkürzel Prag] und Untersuchungen für Eger aus der Zeit von 1310 bis 1500 und von 1500 bis 1660 (Skála 1967) [Eger I und Eger II], aus dem Ostmitteldeutschen eine Studie für Jena zum 14. bis zum 16. Jahrhundert (Suchsland 1968) [Jena], eine für Dresden zum 16. Jahrhundert (Fleischer 1970) [Dresden], beide Studien aufgrund von Ratsschreiben, sowie eine Untersuchung für Breslau für die Zeit vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (Arndt 1898) [Breslau]. Eine Beschreibung des Flexionsstandes der Geschäftssprache Mährens liefert Daten aus dem Grenzbereich zwischen dem Oberdeutschen und Ostmitteldeutschen vom 15. bis zum 16. Jahrhundert (MasaĜík 1985) [Mähren]. Vorliegende Skizze bezieht sich somit auf einen sprachgeographischen Bereich, der bei der Herausbildung des Neuhochdeutschen besonderes Gewicht besaß. Im Folgenden steht in jedem Themenfeld einleitend eine Beschreibung des allgemeinen Befundes in frühneuhochdeutscher Zeit. Es folgen dann die spezifischen kanzleisprachlichen Daten aus den genannten Belegorten und Quellenwerken.
2.
Flexionsmuster
Die Vereinheitlichungs- und Ausgleichsprozesse in der schwachen Flexion, der Wechsel starker Verben zur schwachen Flexion, die Reduzierung der Möglichkeit zur rückumlautenden Flexion, die Übernahme der regelmäßigen Flexion auch bei einigen besonderen Verben sowie die Annahme der schwachen Flexion durch frühneuhochdeutsch neugebildete Verben zeigt die Entwicklung der althochdeutsch / mittelhochdeutschen schwachen Flexion zur neuhochdeutschen regelmäßigen Normalflexion. Bei den starken Verben manifestiert sich dieser entwicklungsgeschichtliche Grundzug derart, dass sie ihren Status als eigene Klasse weitgehend einbüßen und seit der Aufklärung als Ausnahmen betrachtet werden (vgl. Wegera / Solms 2000, 1545; Augst 1975, 263). 2.1.
Vereinheitlichung der schwachen Flexion
2.1.1. Ausstoß des Themavokals Die im Mittelhochdeutschen begonnene Verteilung der thematischen schwachen Verben ohne Wechsel des Wurzelvokals und jener athematischen mit Wechsel des Wurzelvokals ist lexemabhängig bzw. durch die Silbenquantität bedingt. Während im Mittelhochdeutschen eine Vereinheitlichungstendenz zugunsten athematischer Verbformen besteht, wird die Verteilung zum Neuhochdeutschen hin durch die lautliche Umgebung geregelt. Die Umverteilung von -e- / -ø- verläuft im Frühneuhochdeutschen über eine Vermischung der historischen Gruppen: Lexeme mit Themavokal verlieren ihn durch Synkope (lern-t-en), während umgekehrt ursprünglich athematische Lexeme das -e- erhalten (theil-et-e). Der
14. Flexionsmorphologie des Verbs
197
Ausgleich begünstigt zunächst die -e-haltige Variante. Nach einem Anstieg im 16. Jahrhundert sinkt die Anzahl der Belege mit -e- im 17. Jahrhundert deutlich, ohne dass eine phonemische Regelung bereits gewirkt hätte (vgl. Wegera / Solms 2000, 1545). Prag: Der Themavokal ist im Präteritum nur im Plural erhalten. Die Bildung des Partizip Präteritums schwankt: Im 16. Jahrhundert überwiegen mit 5:3 athematische Formen, im 17. Jahrhundert halten sie sich mit den thematischen die Waage, im 18. Jahrhundert dreht sich (gemäß der allgemeinen Tendenz zur Nicht-Synkopierung) mit 2:3 die Frequenz zugunsten der thematischen Verben. – Eger I: Im Partizip Präteritum kann bei jan-Verben ohne Wechsel des Wurzelvokals das -e- stehen oder ausfallen, bei rückumlautenden Verben steht es in der Regel, ên- und die ôn-Verben sind nur gelegentlich athematisch. Die bairische Eigenheit, den Konjunktiv Präteritum auf -et bzw. auf -at zu bilden, ist in Eger auf die schwachen Verben beschränkt; die Formen auf -et, -at gelten aber als Indikative. Eger II: Bei den wenigen auftretenden Präteritum-Formen aufgrund des oberdeutschen Präteritumschwunds überwiegt die thematische Bildung. Im Partizip Präteritum stehen -e- und -ø-Formen nebeneinander. Bei auf mittelhochdeutsche Dubletten zurückgehenden Lexemen (rechenen / rechen, zeichenen / zeichen) steht die mittelhochdeutsche längere Form: ab gerechent, gerechent, verzaichent neben abgerechet, verzeichnet. – Jena: Formen des Präteritums Indikativ und Konjunktiv sind kaum belegt. Im Partizip Präteritum (wie im Infinitiv) wird in der Regel synkopiert; in den wenigen unverkürzten Formen erscheint der Themavokal oft als -i-. Die mittelhochdeutschen mehrsilbigen Wurzeln auf -en erhalten das unbetonte -e auch dort, wo es im Neuhochdeutschen ausgestoßen wird (gezeichint, geeygent, geordent, vorlo)ckente, berechenen). – Dresden: Der Themavokal erscheint – von gekahret abgesehen – nie in Formen mit Rückumlaut; umgelautet stehen Formen mit Themavokal neben athematischen. – Mähren: Die Synkope unterbleibt häufiger in Nordmähren. Doppelformen erscheinen vor allem in der 3. Person Singular Indikativ Präsens und Präteritum sowie im Partizip Präteritum. – Eine verbreitete Erscheinung ist die Ekthlipsis bei Wurzeln auf -t im Partizip Präteritum: gemelt, gemeste gans Eger II in Jena, allerdings auch in der 3. Person Präsens Indikativ, und bei Formen des Präteritums: gestifft, geret, redte, leisten ›leisteten‹ in Mähren und in Breslau. 2.1.2. Rückumlaut Der Rückumlaut wird bis auf Ausnahmen ausgeglichen. Schwankungen sind bei häufigen Verben (setzen, stellen, schenken) bis ins 18. Jahrhundert belegt, »die ›rückumlautende‹ Bildung auch des unflektierten Part. Prät. (z. B. geschankt) verallgemeinert das im frühen Frnhd. vorwiegend md. ausgewiesene Flexionsmuster (obd.: geschenket)« (Wegera / Solms 2000, 1546). Die neuhochdeutsche Regelung wird im 18. Jahrhundert unter Einfluss der Grammatiker wirksam (vgl. ebd., 1545f., Frnhd. Gr., § M 96). Die Rückumlautung wird nachfolgend nur bei Verben mit Präsensvokal -e- verfolgt, da sich bei Verben mit Wurzelvokal -u-, -o- [-uo-] wegen Nichtbezeichnung des Umlauts nicht feststellen lässt, ob der Rückumlaut schon einen Ausgleich erfahren hat. Prag: Beim Verb kennen halten sich im 16. Jahrhundert Rückumlaut und Umlaut die Waage, bei nennen überwiegt im 17. Jahrhundert Rückumlaut, Anfang des 18. Jahr-
198
II. Gebiete und Phänomene
hunderts stehen beide umgelautet, einhergehend mit Erhalt des Themavokals. Denken hat im Partizip Präteritum schon im 16. und 17. Jahrhundert Rückumlaut. Vereinzelte Belege finden sich bei: ver / abwenden (mit und ohne Rückumlaut im Partizip Präteritum), versetzen (bis auf eine Ausnahme im 16. Jahrhundert mit Umlaut), brennen (ein einziger Beleg mit Umlaut). – Eger I: Im Präteritum und Partizip Präteritum kommen bei jan-Verben lexemabhängig entweder nur rückumgelautete Formen (gehaczt, behafft, gerackt, rante) vor, oder aber Rückumlaut und ausgeglichenes Partizip Präteritum stehen nebeneinander (prante – geprant / geprent; genant / genennet, benennet; schencken / schancken – schanckte – geschanckt / geschenckt; gesaczt / geseczt, geseczet, stalte – (be)stalt / bestellet, bestelt). Neubildungen durch unorganischen Rückumlaut, der außerhalb historischer Bedingungen aufgrund von Analogie eingetreten ist, sind gelart 1450 (neben gelert), vmbkart 1460 (neben gekert). Eger II: Nebenformen mit Umlaut sind seltener als früher, meist bei kennen im Partizip Präteritum, bei setzen im Präteritum, bei schenken. Das umgelautete Partizip Präteritum gedenckt stimmt mit der Mundart überein. Die Analogiebildung hochgelardt herr wird im 17. Jahrhundert häufiger, das seltene Präteritum hat immer Rückumlaut. – Jena: Der Rückumlaut ist im Präteritum und Partizip Präteritum in der Regel auf dem mittelhochdeutschen Stand (gesaczt, beschaczte, gehordten, aber auch geh rte, entdackt, geschangkt, hat furgestreckt neben Verben mit Rückumlaut). Wie im Mitteldeutschen hat mhd. (ver)kouffen Umlaut im Infinitiv und Präsens durch altes -j- bewirkt, so dass Rückumlaut auftritt (verko)ffen, vorkoufft, vorkaufft). Ebenso weisen kêren und lêren regelmäßig Rückumlaut auf. – Dresden: Rückumlaut ist häufig vertreten 1. bei Verben, welche neuhochdeutsch doppelformig erscheinen (senden, wenden), die noch Anfang des 16. Jahrhunderts nur mit Rückumlaut vorkamen, 2. bei solchen, die den Rückumlaut bis in die neuhochdeutsche Norm erhalten haben (brennen, kennen, nennen, rennen), wobei die Umlautformen am stärksten bei den Schreibern konkurrieren, die durch weitere oberdeutsche Einflüsse gekennzeichnet sind; 3. bei solchen, die über den neuhochdeutschen Stand hinaus gehen (bedackt, Vormergkt – Vormarckt, Vorpfant – vorpfendt, geBchatzt, Wein geBchangkt – geBchenckt, vorBchmacht – geBchmeet, auBgeBatzt – geBetzt – geBatzt, gestalt – geBtellet, furgeBtragkt – furgestreckt), die von einzelnen Schreibern nur mit Rückumlaut oder in beiden Formen verwendet werden; 4. bei solchen, die (wie im Neuhochdeutschen) bereits Umlaut haben (iBt … erwehnet, ertzelet, geBteckt, widergelöhBt, gehört, auch gehort, gehorett, eyngerewmet, erlewbt, geteuffet, auch getaufft) und 5. bei kehren und lehren, die bis ins zweite Drittel des 16. Jahrhunderts Rückumlaut haben. – Mähren: Die Zahl der rückumlautenden Verben geht über den neuhochdeutschen Gebrauch hinaus, die Frequenz ist im Vergleich zum Mittelhochdeutschen geringer. Bei nennen und setzen überwiegt im Präteritum die umlautlose Form, während im Partizip Präteritum auch Formen mit Umlaut auftreten; im Partizip Präteritum kommen Doppelformen bei rücken, erkennen vor, bei wenden hingegen nur Formen mit Umlaut. – Breslau: Der Rückumlaut hält sich bis ins 16. Jahrhundert (gesaczt, erczalt, entsaczt, geschanckt, dirczalt, entwant).
14. Flexionsmorphologie des Verbs
199
2.2. Ausgleich von Personalflexiven Im Frühneuhochdeutschen stehen im Plural neben der mittelhochdeutschen Variante mit landschaftlichen Prioritäten vier Flexionsmöglichkeiten zur Verfügung; zum Neuhochdeutschen setzt sich Typ drei durch (vgl. Wegera / Solms 2000, 1546):
Tab. 1: Flexionsmöglichkeiten im Plural
Die landschaftlich variierenden Personalendungen werden auch im Singular Indikativ ausgeglichen:
Tab. 2: Ausgleich landschaftlich variierender Personalendungen im Singular Indikativ
Die starken Verben erhalten in der 2. P. Sg. Prät. spätestens im 16. Jahrhundert die Endung -(e)s bzw. -(e)st und sind somit in dieser Position an die schwachen Verben angeglichen. Im Alemannischen des 15. Jahrhunderts ist auch die Endung -t möglich. Der Imperativ Singular der starken Verben kann das -e der schwachen Verben und ggf. den Erhalt des Stammvokals aufweisen: neme, ziehe (vgl. ebd., 1546). Allgemein ist zu sagen: Der kanzleisprachliche Gebrauch nur bestimmter Formen (vor allem belegt sind die 1. und 3. Person Singular und Plural) bewirkt, dass das Formensystem des Verbs nicht vollständig und in den verschiedenen Korpora unterschiedlich besetzt ist. Häufiger auftretende Erscheinungen sind: e-Synkope des Morphs -et in der 3. Person Singular und 2. Person Plural Indikativ Präsens, einhergehend mit Ekthlipsis bei Dentalstämmen, vor allem bei schwachen Verben, die Apokope des Pluralmorphs bzw. die Assimilation des -n an das w- in der 1. Person Plural, das Anfügen eines unorganischen -e in der 3. Person Singular Indikativ Präteritum analog zu schwachen Verben. Eger II: Auslautendes -e hat sich besser als in der Deklination erhalten, vor allem im Konjunktiv. – In Jena und Dresden weisen die Präsens- und Präteritummorphe der starken und schwachen Verben weitgehend den neuhochdeutschen Stand auf, sieht man von Synkope und Apokope ab. – Jena: Die Apokope setzt in Formen auf -e erst nach 1470 ein und ist seltener als e-Ausstoß. – Dresden: Die apokopierte Form überwiegt allein in der (selten belegten) 1. Person Singular Präsens Indikativ, auch die mitteldeutschen Mundarten haben hier e-Abfall. – Mähren: Syn- und Apokope (besonders in den südmährischen Quellen) in der 1. Person Singular Indikativ Präsens, im Singular Konjunk-
200
II. Gebiete und Phänomene
tiv Präsens, im Singular Präteritum und in der 2. Person Singular Imperativ bewirken beträchtliche Abweichungen. U.a. ist die Apokope im Präteritum Singular Grund dafür, dass Perfekt-Formen zu 90 % bevorzugt werden (die Frequenz des Präteritums ist höher bei Präteritopräsentien). 2.2.1.
Spezifische Erscheinungen
2.2.1.1.
Präsens Indikativ
1. Person Singular: Prag: Es steht allein das Morph -e; mit enklithischen Personalpronomen wird es bei starken Verben gelegentlich apokopiert. – Eger I: Neben dem meist apokopierten Morph -e begegnet die -n-Erweiterung, wenn das Pronomen folgt. – 2. Person Singular: Eger II: Neben dem mhd. -est/-ist erscheint synkopiertes -st. – 3. Person Singular: Prag: Die e-Synkope des Morphs -et tritt zeitgebunden auf, in der Regel im 16. Jahrhundert, seltener im 18. Jahrhundert. Anders verhalten sich werden, das in allen Zeitabschnitten e-Synkope aufweist, fangen und rufen (7. Ablautreihe), die auch im 16. Jahrhundert nur ohne Synkope vorkommen, und die schwachen Verben, die mit und ohne Synkope nebeneinander stehen. – Eger II: -t steht neben -et. Bei Verben der 7. Ablautreihe und bei schwachen Verben fällt das Morph vereinzelt weg: Er widerruf neben Er widerruft bzw. Jorg Syman kawff ein gartten. – Jena: Ekthlipsis ist in den Formen auf -et verbreitet, daneben stehen noch unverkürzte (für schwache Verben siehe auch oben): wirdit, heldit, vorheldet. – 1. und 3. Person Plural: Eger I: Die 3. Person endet in den meisten Fällen auf -nt, während die 1. Person bei enklitischem Pronomen das Morph -en apokopiert. Eger II: Das mittelhochdeutsche Morph -ent ist vereinzelt erhalten. – Jena: Bis ins erste Drittel des 15. Jahrhunderts, in einem Einzelfall noch am Ende des Jahrhunderts, begegnet als Folge von n-Assimilation die Form ohne -n: habe wir, henge wir. – Mähren: Die Apokope des Pluralmorphs bzw. die n-Assimilation ist im nördlichen Mähren wirksam: geb wier bzw. auch bekenne wir. Der Systematisierungstendenz unterliegt auch das Morph -ent, das in Südmähren im 14. Jahrhundert noch häufig ist und sich im 15. Jahrhundert als t-lose Form durchzusetzen beginnt, die nordmährischen Territorien (um Olmütz, Jägerndorf, Zuckmantel) sind »viel progressiver« (MasaĜík 1985, 127). – Breslau: Die -n-Assimilation erfolgt bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. – 2. Person Plural : Prag: Das mittelhochdeutsche Morph -et wird zu -t synkopiert. – Eger II: -t steht neben -et. – Jena: Entgegen der Tendenz zur Synkope erscheint das Morph -et / -ed, nur im Einzelfall das im Oberdeutschen / Westmitteldeutschen herausgebildete -ent. 2.2.1.2.
Präsens Konjunktiv
Prag: In der 1. und 3. Person stehen apokopierte Formen neben nicht-apokopierten. – Eger II: Entgegen der Synkope im Indikativ wird das -e in der 2. Person Singular und Plural nie synkopiert. Hingegen tritt e-Apokope in der 3. Person Singular Konjunktiv Präsens und Präteritum ein, mit Ausnahme von Konjunktiv Präsens von geschehen, bei dem nie apokopiert wird. Von der e-Apokope sind in der 3. Person Singular auch schwache Verben betroffen: won, geher, baw vs. verfertige, bezalle.
14. Flexionsmorphologie des Verbs
2.2.1.3.
201
Präteritum Indikativ
1. und 3. Person Singular: Prag: Bei starken Verben tritt selten ein unorganisches -e an. – Eger I: -e ist weit verbreitet: veriahe, swure. Eger II: Außer in der 3. Person steht -e manchmal auch in der 1. Person. – Jena: -e tritt bei starken Verben bei dem Schreiber auf, der auch im Nominativ und Akkusativ der maskulinen a-Stämme ein unberechtigtes -e schreibt. – Breslau: lisse, als Girsik … quome. – 2. Person Singular: Breslau: Von lassen begegnet die merkwürdige Form liste du, wohl in Analogie zum ungrammatischen -e in der 3. Person (vgl. Arndt 1898, 88). – 1. Person Plural: Jena: Bei enklithischem Pronomen stehen vereinzelt -n-lose Formen: scholde wir, tete wir. – 3. Person Plural: Eger II: Bei schwachen Verben überwiegen die vollen Formen: beschwereten, während bei starken Verben synkopierte und nicht-synkopierte Formen nebeneinander stehen. 2.2.1.4.
Präteritum Konjunktiv
Eger II: Eine besondere Erscheinung ist, an die Mundart angelehnt, -et in der 3. Person bei werden: vnd so er alßdan meister würdet, soll er. Bei schwachen Verben überwiegen wie im Indikativ die vollen Formen mit -e-: wonete, getrauetten. 2.2.1.5.
Imperativ
Prag: Der Singular kommt mit Nullmorphem vor. – Eger II: Gegen das Mittelhochdeutsche steht bei starken Verben das Morph -e, während bei schwachen Verben oft e-Apokope eintritt. 2.3.
Vereinheitlichung der starken Verben
Der Ausgleich der qualitativen bzw. quantitativen Ablaute in den Ablautreihen 1 bis 5 zwischen Singular und Plural bewirkt die Profilierung des Tempusunterschieds zwischen Präsens und Präteritum (vgl. Solms 1984); die teilweise Nivellierung des Numerus- und Modusunterschieds gilt als epochendefinierend (vgl. Behaghel 1928, 149). Der Ablautausgleich findet in den einzelnen Ablautreihen sprachgeographisch und chronologisch versetzt statt (vgl. ChiriĠa 1988) und ist durch weitere phonologische Sprachveränderungen gesteuert (vgl. Wegera / Solms 2000, 1547). Allgemein lässt sich folgendes feststellen: Prag: Finite Formen von Verben der 2. Ablautreihe sind selten belegt, der Plural Präteritum von Verben der 3. Ablautreihe fehlt. – Jena: Es lässt sich über die Stammbildung in der 2. und 3. Ablautreihe und die Entwicklung des Vokalwechsels in den Ablautreihen 2 bis 5 wenig sagen. – Mähren: »Die wichtigsten Entwicklungstendenzen der Epoche« spiegeln sich im Belegcorpus wider (MasaĜík 1985, 127). – Breslau: Singular und Plural Präteritum sind wenig präsent, zwei Formen belegen, dass neuhochdeutscher Ausgleich vollzogen ist: blib (1. Ablautreihe) und standen (7. Ablautreihe).
202
II. Gebiete und Phänomene
2.3.1.
Umfang des Ablauts und sein Ausgleich
2.3.1.1.
Erste Ablautreihe: a) î, î – ei, i – i; b) î, î – ê, i – i
Prag: Die Vokaldehnung ist im Partizip Präteritum nicht konsequent bezeichnet; noch im 18. Jahrhundert erscheint bei greifen, reißen, scheiden trotz Doppelkonsonant -ie- neben -i-. – Eger I: Der mittelhochdeutsche Stand ist meist bewahrt. Im Präteritum kommt es vereinzelt zum Ausgleich zwischen den beiden Untergruppen: lech neben leych, schrei; im Partizip Präteritum erscheint auch -ie-, das auf Dehnung deutet. Eger II: Formen mit gekennzeichneter Vokaldehnung -ie- und mit i-Schreibung stehen nebeneinander, bei bleiben erscheint nur -ie-Schreibung. – Jena: Im Infinitiv steht bis gegen 1470 -i-, -ie- oder -y-, danach auch -ei-. Der einzige Beleg für Präteritum Singular stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts: man schreib (mhd. -ei-). Anfang des 15. Jahrhunderts erscheint im Partizip Präteritum mitunter gesenktes -e-, vereinzelt noch im 16. Jahrhundert, seit Mitte des 15. Jahrhunderts bei mhd. schrîben und blîben auch -ie-. – Dresden: Neben -i- steht im Präteritum Singular bisweilen noch mhd. -ei-: (ich) Bchrib – man Bchreib (mehrfach), er Riet ›ritt‹. – Mähren: Im 16. Jahrhundert begegnen nicht ausgeglichene Präteritum-Formen vereinzelt: do entweich er, den ersten vorschreib und versacҊt er; im 14. und 15. Jahrhundert hatten sie noch »die Oberhand« (MasaĜík 1985, 128).
2.3.1.2.
Zweite Ablautreihe: a) ie, iu – ou, u – o; b) ie, iu – ô, u – o
Prag: Im 16. Jahrhundert erscheint im Partizip Präteritum oft -a- statt -o-, wohl aufgrund der Neigung zur Verdumpfung im Bairischen, was auch die wenigen -u-Formen erklären könnte, falls es sich nicht um Angleichung an das Plural Präteritum handelt. Eine Ausnahme machen bieten, gießen, schließen, bei denen nur -o-Formen vorkommen. – In den Urkunden Karls IV. können die mittelhochdeutschen Präteritalvokale und der Stammvokal des Partizips Präteritum zusammenfallen: kor, kos. – Während in Eger I der Ausgleich vereinzelt eintritt (czogen), ist der Vokalausgleich in Eger II auf dem neuhochdeutschen Stand. – Jena: Noch im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts begegnet die nicht ausgeglichene Form sie zugen (Konjunktiv), sie dringt zu dieser Zeit ins Partizip Präteritum ein. – Dresden: Die ausgeglichene Form ist im Präteritum Plural durchgesetzt; im Partizip Präteritum erscheint neben -o- auch -u-: vorBchoben neben den Eid heim geBchuben. – Mähren: Der Ausgleich ist bis auf Einzelfälle (die zugen gen Olomucz) vollzogen.
2.3.1.3
Dritte Ablautreihe: a) i, i – a, u – u; b) ë, i – a, u – o
Prag: Im Singular Indikativ Präteritum steht -o- neben -a- (oberdeutsche Verdumpfung); im 16. Jahrhundert finden sich gelegentlich Partizip-Präteritum-Formen, die auf hyperkorrekte Schreibung hindeuten: geschalten vs. gescholten. – Eger I: Die häufig belegten Verben der 3. Ablautreihe weisen regelmäßige Flexion auf. Eger II: Der Singular-Plural-Ausgleich im Präteritum ist vereinzelt belegt: sturb neben starb, hulft, verdorben ›verdarben‹; bei werden gilt noch -a- neben -u-. Neben dem überwiegenden Konjunktiv
14. Flexionsmorphologie des Verbs
203
Präteritum mit -ü-, durch Entrundung vereinzelt als -i, ist auch die neuhochdeutsche Bildung mit der ausgeglichenen Form vorhanden: erf)nde neben finde, fende, bewürff, hülff; für werden finden sich mehrere Schreibvarianten: würde, wurde, vereinzelt entrundet: wirde. – In Jena und Dresden herrscht große Ähnlichkeit: Konjunktiv Präteritum hat meist noch mittelhochdeutsch -u- oder -o-: sie gewonnƝ, er befunde, sie behulffen, er verstorbe (Jena), Wie ichs mir Hulffe, Do das gerbhaus vorturbe (Dresden). Analog nach Untergruppe 3 a) steht gelegentlich im Partizip Präteritum auch in der Ablautreihe 3 b) -u-: behulffin, vorgulden (Jena), gewurffen, gehulffen (Dresden). Folgende Unterschiede sind festzustellen: In Jena ist im Präteritum auch bei werden die Senkung u > o bzw. ü > ö nachweisbar, in Dresden herrscht im Singular Präteritum noch die ältere Form ward / wardt vor, wurde bleibt vereinzelt, während im Plural wurden steht. – Mähren: Der Ausgleich Singular-Plural ist durchgeführt, jedoch auch noch: sturben sy. Zur 3. Ablautreihe gehört im Präsens auch bringen, während sich im Präteritum und Partizip Präteritum schwache Formen zeigen. 2.3.1.4.
Vierte Ablautreihe: ë, i – a, â – o
Prag: In der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts weisen im Präteritum alle Verben (außer kommen) regelgerechtes -a- auf, das analog oft auch ins Partizip Präteritum übertritt: geschwaren, gestachen, gestalen, besprachen; bei nehmen, stechen, stehlen steht daneben auch -u-. In späteren Belegen erscheint bis auf Ausnahmen (ausgenamben, angeträffen) regelgerechtes -o-. – Eger II: Im Präteritum wird die Dehnung nach dem Ablaut mit -hmarkiert, vor allem im Plural. Alle Verben (außer kommen und nehmen) bilden das Partizip Präteritum mit -o-; als Einzelfall gilt gepflagen, analog zum Präteritum. – Dresden: Präteritum und Partizip Präteritum entsprechen der neuhochdeutschen Norm. In allen Belegorten machen kommen und nehmen ungefähr gleiche Entwicklungen durch. Im Präteritum Indikativ steht regelgerechtes -a- (außer in Prag), der (häufiger belegte) Konjunktiv Präteritum wird mit Umlaut bezeichnet. Im Partizip Präteritum steht neben dem mehrheitlichen regelgerechten -o- auch -u-, in Prag bis zum Ende des 16. Jahrhunderts mehr als doppelt so oft als in jüngeren Belegen (hier auch im Infinitiv und im Präsens Singular und Plural), in Eger, Dresden und Mähren (auch 3. Person Singular Indikativ) nur vereinzelt. Die o- / u-Konkurrenz kann einerseits analog zur dritten Ablautreihe sein, andererseits mundartlich relevant (Prag, Eger, Mähren), eine Folge von Schreibgepflogenheiten (sie ist häufiger bei Schreibern, die auch andere u-Schreibungen zeigen) oder lautlich bedingt durch Nasal (Dresden). In Dresden sind u-Formen um 1590 / 1600 nicht mehr belegt. 2.3.1.5.
Fünfte Ablautreihe: ë, i – a, â – ë
Prag: Im Präteritum steht -a-; im Partizip Präteritum erscheint das Verb geschehen vereinzelt zu geschen kontrahiert. – Eger I: Neben regelmäßigen Formen geschehen, sehen treten besonders im 15. Jahrhundert auch kontrahierte geschen, sen / seen auf, die dann analog zu den Wurzelverben flektieren. Das wegen ist mit Partizip Präteritum gewegen (nicht gewogen, wie sonst im Frühneuhochdeutschen, vgl. Gesch. d. Spr. 2007,
204
II. Gebiete und Phänomene
397) rückständig. – Dresden: Abweichungen vom Neuhochdeutschen sind lautlich bedingt: durch Schwund des intervokalischen -g- (Vffleyt neben ligt), des -h- (geBchiet), durch Beibehaltung des auslautenden -ch, auch dort, wo nach dem Inlaut ausgeglichen ist (geBchach neben geBchaen). Mhd. wëgen kennt sowohl altes Hat geweg(e)n als auch neuhochdeutsch Dehn wier in der Stadtwoge gewogen. 2.3.1.6.
Sechste Ablautreihe: a, a – uo, uo – a
Prag: Im Präteritum sind -a- und -u- belegt, wobei heben in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts immer in der Form hub begegnet. Im Partizip Präteritum stehen vereinzelt neben der mittelhochdeutschen Form mit -a- die neuhochdeutsch mit -o- und die oberdeutsche schwache Bildung angehobt, angehebt, angehebet, im 18. Jahrhundert steht nur noch die neuhochdeutsche Form. Die einzige mittelhochdeutsche Bildung geschwaren beruht vermutlich auf hyperkorrekter Schreibung. – Eger I: Die j-Präsentien bilden das Partizip Präteritum stark. Bei heben begegnet mhd. -a-: gehaben, angehaben, aufgehaben, erhaben, bei swern hingegen -o-. Eger II: Es erscheint regelmäßig hub. Während tragen im Partizip Präteritum nur einmal mit -o-, sonst mit -a- erscheint, hat schwören weiterhin -o-. – Jena: heben hat im Partizip Präteritum durchgehend mhd. -a-. – Dresden: Im Präteritum Indikativ und Konjunktiv steht -u-, der Umlaut wird allerdings nicht bezeichnet, im Partizip Präteritum -a-. Heben zeigt im Präteritum mhd. -u-, im Partizip Präteritum begegnen Schwankungen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Das Partizip Präteritum von schwören wird mit -o- gebildet. 2.3.1.7.
Siebte Ablautreihe: a, â, ei, ou, ô, uo – ie, ie – a, â, ei, ou, ô, uo
In allen Belegorten steht im Präteritum neben dem mhd. -ie- auch die Schreibung mit -i-, in Prag auch mit -e-, im Partizip Präteritum der Stammvokal des Infinitivs. Schwankungen bei der Bildung des Partizips Präteritum bereiten den Weg zur neuhochdeutschen Bildung vor: laufen hat in Prag im 16. Jahrhundert im Partizip Präteritum meist -au-, ganz vereinzelt -ou- und -u-, im 18. Jahrhundert gänzlich -o-, in Eger II -o-: entloffen, fur geloffen. – Jena: Der Präteritalvokal -ie- setzt sich um 1500 auch im Partizip Präteritum durch (Übergang in die 1. Ablautreihe). – Dresden: scheiden schwankt zwischen der mittelhochdeutschen Form geBcheid(en), beBchaidenn und der neuhochdeutschen Analogieform geschieden, iBt … vorBchid(en). – Breslau: -ei- ist bei entscheiden und bescheiden bis ins 15. Jahrhundert bewahrt. 2.3.2.
Vokalwechsel im Präsens – Abweichungen vom Neuhochdeutschen
Prag: In der 1. Ablautreihe ist die neuhochdeutsche Diphthongierung allein bei wisen, erschinen nicht durchgeführt. In der 2. Ablautreihe erscheint im Präsens als Folge der im Oberdeutschen häufigen Entrundung eu > ei vom einzig belegten Verb ziehen die Form zeit … aus. Einige Verben der 4. und 5. Ablautreihe weisen in der 3. Person Singular Indikativ das nach der 1. Person Singular ausgeglichene -e- auf: nemet (1706), einnümbt (1714) (hyperkorrekte Schreibung). In der 6. Ablautreihe erscheint mittelhochdeutscher
14. Flexionsmorphologie des Verbs
205
Umlaut vereinzelt auch in der 3. Person Plural: scheffen neben schaffen. In der 7. Ablautreihe stehen im 16. Jahrhundert bei Verben mit Stammvokal -a- umgelautete und nicht umgelautete Formen nebeneinander, ausgenommen laufen, das fast immer mit Umlaut erscheint, während im 18. Jahrhundert die Kennzeichnung des Umlauts ausbleibt. – In den Urkunden Wenzels unterbleibt in der 1. Ablautreihe die Diphthongierung im Präsens. – Eger I: In der 2. Ablautreihe ist der mittelhochdeutsche Vokal eu < iu erhalten: peutt, zewcht. In der 4. Ablautreihe fällt neben dem schriftsprachlichen o das mundartliche u, ), ü auf, vor allem bei kommen belegt. In der 5. Ablautreihe steht in der 1. Person Singular neben der nach dem Plural ausgeglichenen Form noch die mittelhochdeutsche. In der 7. Ablautreihe erscheint Umlaut bei hauen: hewht. Eger II: In der 1. Ablautreihe wird im Präsens (nach dem Präsens der 2. Ablautreihe) hyperkorrekte Schreibung benutzt: schreut ›schreit‹, seudt ›seiht‹. In der 2. Ablautreihe erscheint in der 2. und 3. Person Singular neben Ausgleich zu -ie- noch mhd. -eu-: scheust neben abschieß. In der 3. Ablautreihe erscheint vereinzelt -ie- neben -i-: gieldt, gildt, hielfft und gelegentlich Umlaut -ü- gemäß Konjunktiv Präteritum: vorstürbt neben verstirbt, stirbett. In der 4. Ablautreihe begegnet nur bei nehmen ein Ausgleich in der 3. Person Singular: nimbt neben häufigem nembt. kommen kennt neben Formen mit -o- auch die mit -u- und vereinzelt mit Umlaut. In der 6. Ablautreihe kann -a- in der 3. Person Singular unbezeichneter Umlaut sein oder als zum Infinitiv analoger Gebrauch gedeutet werden. Es steht vorleufft (7. Ablautreihe) neben laufft daruon (der Umlaut wird auch in der Mundart nicht bezeichnet: laft.). – Jena: -eu- ist nur bei einem Schreiber in der 3. Person Singular erhalten; mitunter begegnet der Pluralvokal -e- im Singular, was auch als Senkung i > e betrachtet werden kann. Der Beleg (man) pfleget »kann vielleicht als Anzeichen des Übertritts dieses Verbs zur schwachen Konjugation gewertet werden« (Suchsland 1968, 202). – Dresden: Die Verben der 2. Ablautreihe haben in der 2. und 3. Person Singular den Diphthong meist erhalten: Du leugBst, beut ›bietet‹, scheubt ›schiebt‹. Bei kommen schwankt der in der neuhochdeutschen Norm vollzogene Ausgleich: Während im Singular -o- und -u-Formen wechseln, haben Plural und Konjunktiv Präsens nur -o-. – Mähren: Die 2. Ablautreihe hat in der 3. Person Singular Präsens -eu- erhalten: ir ains enphleucht, der verleust di hant, czuhet sich ein. Bei geben (5. Ablautreihe) ist die mittelhochdeutsche Form in der 1. Person Singular gelegentlich erhalten. 2.3.3. Grammatischer Wechsel – Abweichungen vom Neuhochdeutschen In den Urkunden Wenzels ist der Wechsel h / g noch präsent: emphahen, emphehet zu emphi(e)ng. – Eger I: Während der mittelhochdeutsche grammatische Wechsel bei Verben der 1. Ablautreihe (leiden, geliden) entgegen dem Neuhochdeutschen ausgeglichen wird, ist er in der 5. Ablautreihe bei wësen und in der 7. bei hahen – gehangen, enphahen – enpfangen, vahen – vingen – gevangen erhalten; bei slahen (6. Ablautreihe) tritt er gelegentlich ein: geslagen vs. geslahen. Eger II: In der 1. Ablautreihe wird der Wechsel d / t gegen das Neuhochdeutsche weiterhin aufgehoben: erlidene vnkosten neben gelietten, während der Wechsel h / g besteht: zihen ›bezichtigen‹ – Ine getziegen er hab inn ein messer abtzogen. In der 6. Ablautreihe ist der grammatische Wechsel z. T. erhalten. – Jena: Der grammatische Wechsel ist in größerem Umfang als im Neuhochdeutschen
206
II. Gebiete und Phänomene
bis ins 16. Jahrhundert erhalten. Bei mhd. lîhen (1. Ablautreihe) ist der Wechsel h / g in der Schreibung auch nach 1500 vereinzelt festzustellen (in der gesprochenen Sprache ist die Unterscheidung unsicher, da g weitgehend spirantisch gesprochen wurde); allerdings sind Partizipialformen mit -h- seit Mitte des 15. Jahrhunderts belegt. Der Rhotazismus s / r ist nach 1500 zugunsten von -r- ausgeglichen; nach 1470 begegnet waz / was nicht. – Dresden: Bei leiden (1. Ablautreihe) ist der Wechsel d / t ausgeglichen, während neben gelihen, geliehen auch geligen, geliegen, neben haben / ich … vortziehen auch Der er Bich … vortzigen erscheint (wie in Eger II). Es ist jedoch unsicher, ob tatsächlich der Wechsel h / g reflektiert wird (vgl. Jena). Bei verlieren (2. Ablautreihe) begegnet zwar der Ausgleich s / r im Präsens, von wësen (5. Ablautreihe) steht neben war jedoch auch was bei mehreren Schreibern. Bei schlagen (6. Ablautreihe) ist der Infinitiv mit -h- noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts erhalten, um 1550 stehen (neben -h-Infinitiven) Partizip Präteritum mit -g- und mit -h- nebeneinander. Auch in der 7. Ablautreihe steht im Infinitiv und Präsens mhd. -h- bei empfangen, anfangen. – Mähren: Der grammatische Wechsel ist im 15. Jahrhundert nicht konsequent durchgeführt. Allein h / g ist mit überwiegender Mehrheit ausgeglichen; in der 1. Ablautreihe erscheinen Belege mit -h- nur noch im Präsens. In der 2. Ablautreihe sind ausgeglichene Formen im Präsens nicht zu verzeichnen: di hent verliessen. Auch bei wësen ist der grammatische Wechsel in größerem Umfang belegt. »Beträchtlichere Ausgleichsbemühungen, die zum neuhochdeutschen Stand geführt haben, sind erst im 16. Jahrhundert zu verzeichnen« (MasaĜík 1985, 128). – Breslau: Mhd. was ist durchgehend erhalten. 2.3.4. Schwankende starke und schwache Flexion »Die Zahl st. Verben sinkt von rund 375 Verben im Mhd. auf etwa 175 im Nhd. Der Übergang st. Verben zur schw. Flexion ist im Frnhd. nicht nur nicht abgeschlossen, vielmehr gibt es beträchtliche Schwankungen in die eine oder andere Richtung« (Gesch. d. Spr. 2007, 398). Prag: Vom mhd. schwachen wîsen erscheinen im 16. Jahrhundert neben schwachem Partizip Präteritum nach der 1. Ablautreihe auch starke Formen, im 17. und 18. Jahrhundert hingegen nur noch starke. Mhd. schwach gelîchen bildet ab dem 17. Jahrhundert nur starkes Partizip Präteritum. Entgegen dem Neuhochdeutschen bildet ziehen (2. Ablautreihe) schwaches Präteritum: was es nach sich ziehete. Zu schwachen Formen neigt besonders die 3. Ablautreihe: von schelten Präteritum und Partizip Präteritum, von finden und verwunden Partizip Präteritum. Aus der 4. Ablautreihe ist 1588 ein schwaches Präteritum von kommen nachgewiesen (heinb khumte), und es stehen bespracht vs. besprachen nebeneinander, wobei die starke Form wie gesprochen gebraucht ist (so hab ich meinen nachtbar angetraffen, so haben vns miteinander besprachen) und evtl. auf hyperkorrekte Schreibung zurückgeht, während die schwache Form zu Sprache ›sprechend gemacht‹ gebildet wurde (habt ir aber dem schuldiger bespracht bey der H/errn/ yglauer obrigkeit). Aus der 6. Ablautreihe kommen heben und schaffen mit schwachem und starkem Partizip Präteritum vor. rufen (7. Ablautreihe) bildet während der gesamten Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert nebeneinander starke und schwache Formen im Präteritum wie im Partizip Präteritum. – Eger I: Der im Mittelhochdeutschen bestehende
14. Flexionsmorphologie des Verbs
207
Unterschied zwischen starkem laden ›eine Last tragen‹ (6. Ablautreihe) und schwach laden ›laden, berufen‹ ist zugunsten des starken Verbs beseitigt. Die Verben heischen und rufen (7. Ablautreihe) bilden das Präteritum schwach: heyschte, beruft. Eger II: wîsen bildet neben schwachem Partizip Präteritum (naußgeweist) öfters auch das starke: bewießen, hinausgewisen, gewisen. Zum starken Partizip Präteritum gesoffen (2. Ablautreihe) gibt es ein schwaches Faktitivum vollgeseufft ›besoffen gemacht‹. schmelzen (3. Ablautreihe) bildet ein transitives und intransitives schwaches Partizip Präteritum. In der 4. Ablautreihe sind schwache Formen (außer bespracht, vgl. Prag) äußerst selten. Als Besonderheit gilt das schwache Partizip Präteritum von schlagen (6. Ablautreihe): das feuer hetten sie mit den claidern aussleght. In der 7. Ablautreihe zeigt das Partizip Präteritum zu transitiv und intransitiv hängen starke und schwache Mischformen, wobei stark gehangen auch transitiv gebraucht werden kann: hat man dem Hansen Walter am galgen gehängen. – Jena: Die Vermischung des Präteritum der schwachen Verben hangen, hengen, henken mit dem Präteritum des transitiv gebrauchten starken Verbs mhd. hâhen ist im 15. Jahrhundert eingetreten: Infinitiv hengen, Partizip Präsens (an)hangende, das Partizip Präteritum nach 1400 gehangen, vorher auch gehengit. Mhd. wîsen, prîsen erscheinen auch nach 1500 bzw. 1525 vereinzelt schwach: ab(e)geweist, gepreist vs. bewisen, furgewisen. Vom Verb heischen ist nur ein starkes Partizip Präteritum belegt: geheischin. – Dresden: Die Vermischung von starker und schwacher Flexion kommt bei folgenden Verben vor: beginnen: begunBt (mit euphonischem s, typisch für das Md.), brauen: gebrawenn – gebrawet (überwiegend), dringen: gedrungen ›drängen‹, erfrieren: erfrohret, falten: ein gefaldene Bchurtz, fleißen, befleißen: beflieBBen, geflieBBen Bein, hangen, hängen: gehangen – gehengt (transitiv), heischen: geheiBchen worden, preisen: gepreiBet werde, rächen: gerochen, rufen: gerofft – geruffen, schmelzen: Bindt … geBchmoltzen – vff kohlen zuBchmeltzt Bein muBBen, spalten: ein finger auffgeBpald(en), verderben: Vorterbt, weisen, beweisen: beweyBt werd(en), angeweiBt – bewyBen, eyngewieBen. Starke und schwache Formen stehen bis Ende des 16. Jahrhunderts nebeneinander. – Breslau: Es sind schwache Präteritum-Formen von den Verben schaffen und rufen und schwaches Partizip Präteritum von weisen und preisen belegt. 2.4.
Ausgleich der Präterito-Präsentien + mhd. wellen
Die Präterito-Präsentien erfahren im Frühneuhochdeutschen flexivische Transformation durch vollständigen Übergang zur schwachen Flexion (gönnen, taugen im 17. Jahrhundert) bzw. eine Reihe von Angleichungen, die teilweise über das im Neuhochdeutschen Erhaltene hinausgehen (Morph -e in der 1. P. Sg. Ind. Präs., -t in der 3. P. Sg. Ind. Präs.) oder aber schwinden (eigen, turren, welche bis ins 16. Jahrhundert und frühe 17. Jahrhundert belegt sind) (vgl. Wegera / Solms 2000, 1548). 2.4.1. Bestand Prag: Das Präteritum von wollen ist im Verhältnis zu anderen Verben oft belegt. – Eger I: Es sind alle mittelhochdeutschen Präterito-Präsentien belegt, Eger II: türren geht unter. – Jena: Von mhd. touc ist nur eine konjunktivische Präteritalform aufzufinden: er tochte;
208
II. Gebiete und Phänomene
von können sind die Formen des Infinitiv und des Präsens Plural seit 1440, des Präteritum seit etwa 1400 belegt; von müssen ist das Präsens selten, von wissen im Präsens nur das Partizip nachgewiesen. – Dresden: Reflexe von turren sind auf das erste Drittel des 16. Jahrhunderts beschränkt. – Mähren: Alle Präterito-Präsentien sind mit unterschiedlicher Frequenz vertreten. – Breslau: Von turren sind im 15. Jahrhundert zwei PräteritumFormen belegt. – Allgemein sporadisch kommt dürfen vor. 2.4.2.
Umlaut
Der Umlaut wird weit über den neuhochdeutschen Stand hinaus verwirklicht. In Eger I gilt im Infinitiv stets die umgelautete Form. – Bei können ist in Prag die Entwicklung des -ü- zu -ö- im Infinitiv fast ganz durchgeführt, teilweise entrundet zu -e-, umlautlose Formen stehen vereinzelt: khunnen 1586, khonnen 1676, in Eger II steht weiterhin Umlaut, in Mähren hingegen -o-. – Von mögen stehen in Jena nur umgelautete Formen, in Dresden und Mähren daneben auch umlautlose. – Bei müssen wird der Umlaut in Prag seit dem 17. Jahrhundert konsequent bezeichnet, in Eger II und Mähren steht neben -ü- manchmal -u-, während in Dresden nur umlautlose Formen belegt sind. – Bei sollen kommt Umlaut in Jena und Dresden im Plural Präsens vor, in Jena sowohl bei -uFormen schullen, sullen, s)ln als auch bei -o-Formen sollen, s llen, soln. Der Konjunktiv Präsens weist in Dresden neben der -o-Form die umgelautete mehrfach auf: Bölle… genohmen haben, der Konjunktiv Präteritum in Jena gelegentlich: soilde(n), s ilde(n). – Neben wollen stehen in Prag bis Ende des 16. Jahrhunderts mhd. wellen und (als Weiterführung des mhd. -e-) wöllen, in Eger I dominiert wellen im 14. Jahrhundert neben wollen, wöllen, während sich im 15. Jahrhundert das Verhältnis umkehrt; in Eger II sind wellen und wöllen im Infinitiv nur vereinzelt belegt, in Jena steht Umlaut vereinzelt im Plural Präsens Indikativ und im Konjunktiv Präteritum, in Dresden im Infinitiv sowie Konjunktiv Präsens und Präteritum, in Mähren wechseln wellen / wollen. 2.4.3. Flexivische Transformation in der 2. Person Singular Indikativ Präsens Die Entwicklung der 2. P. Sg. Ind. Präs. verläuft je nach Lexem verschieden (vgl. Wegera / Solms 2000, 1548; Best 1983). Die 2. Person Singular Indikativ Präsens ist in der Kanzleisprache selten. Neuhochdeutsch -st ist nachgewiesen: bei können in Prag Ende des 16. Jahrhunderts, bei mögen in Dresden, bei sollen in Prag im 18. Jahrhundert, bei wollen in Prag Ende des 16. Jahrhunderts, in Eger II neben der mittelhochdeutschen Form, in Dresden häufiger seit dem 17. Jahrhundert. 2.4.4. Entwicklung des Stammvokals – Abweichungen vom neuhochdeutschen Stand Bei dürfen ist in Eger I vereinzelt ein starkes Partizip Präteritum belegt: bedorffen. In Eger II ist der Ausgleichprozess im Präteritum und Partizip Präteritum weit fortgeschritten: Formen auf -o- sind seltener als bei Luther, das Partizip wird schwach gebildet. – Dresden: Im Konjunktiv Präsens überwiegen -o-Formen.
14. Flexionsmorphologie des Verbs
209
Bei können stehen in Prag in der 1. und 3. Person Singular Indikativ Präsens Ende des 16. Jahrhunderts einige Fälle mit verdumpftem -o- neben der neuhochdeutschen Form kann, die danach alleinherrschend ist, während im Präteritum allein mhd. -u- erscheint. – Eger II: Im Partizip Präteritum (und Infinitiv, Konjunktiv Präsens) steht über das Neuhochdeutsche hinaus fast überall eine ausgeglichene Form mit -ö-, im Präteritum auch mhd. -u- / -ü-. – Jena: Die -u-Form begegnet vereinzelt auch nach 1500. – Dresden: Bis Ende des 16. Jahrhunderts wird das Präteritum von können außer mit -o- auch mit -u- gebildet, im Partizip Präteritum erscheint zuweilen ebenfalls -u-. – Mähren: Es überwiegen -u-Formen. Bei mögen tritt in Eger II im Konjunktiv Präsens neben -ö- auch -u- und -ü- auf, im Präteritum ist mhd. -a- vereinzelt belegt. – Jena: Die Form mog für Singular Indikativ Präsens tritt bei einem Schreiber auf. – Dresden: Im Präteritum steht regelmäßig -o-, manche Schreiber bezeichnen im Konjunktiv Präteritum den Umlaut. – Breslau: Formen mit -o- und -u- stehen nebeneinander: mochte vs. muchte. Bei müssen steht in Prag zu Anfang des 18. Jahrhunderts im Singular Präsens fast immer die ausgeglichene Form mues, in früheren Belegen erscheint jedoch -u-. – Dresden: Im Präteritum steht neuhochdeutsch -u-, als Folge der Senkung u > o bei einem Schreiber auch -o-. – Mähren: Formen mit -ue, -uo- und -u- wechseln im Präsens und Präteritum. sollen kennt in Jena eine große Varianz: Im Singular ist bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts vereinzelt -o- zu finden; es wird Ende des 14. Jahrhunderts durch die charakteristisch mitteldeutsche Form sal verdrängt, die ab etwa 1500 wieder durch sol Konkurrenz erhält. Im Plural Präsens überwiegen im 14. Jahrhundert im Plural -u-Formen, Anfang des 15. Jahrhunderts -o-Formen, danach wieder die -u-Formen, die sich bis etwa 1470 halten; nach 1500 erscheinen sie kaum noch. – Dresden: Je nach Schreiber überwiegt Bal oder Bol, wobei solche mit oberdeutschem Einfluss mehrheitlich Bol schreiben, Bal hält sich bis Ende des 16. Jahrhunderts. – Mähren: sal kommt oft in den nordmährischen Kanzleien vor. – Breslau: Die mitteldeutsche und die oberdeutsche Form stehen nebeneinander: sal, salt und solde, sulde. Beim Verb wissen sind in Prag die vereinzelten, über das Neuhochdeutsche hinausgehenden -i-Formen im Partizip Präteritum als Entrundung, nicht als die ursprüngliche mittelhochdeutsche Form zu werten. – Eger I: Im Partizip Präteritum erscheint gewist (das auch in der Mundart belegt ist). Eger II: Das entrundete wiste begegnet vereinzelt im Konjunktiv Präteritum (die Entrundung hat sich in der Mundart erhalten), häufiger ist weste, im Partizip Präteritum nur gewust. – Jena: Das Präteritum ist auch mit -o- belegt. – Breslau: Seit Anfang des 15. Jahrhunderts erscheint im Präteritum und Partizip Präteritum neben -o-Formen: wost, wosten auch die neuhochdeutsche md. -u-Form, die nach 1450 zur Regel wird. Bei turren sind in Dresden das Präsens (Dringken thar nch kan) und das Präteritum in der im Oberdeutschen und Mitteldeutschen gängigen (mhd.) -o-Form (torBte einer […]Blahen) nachgewiesen. – In Breslau steht das Präteritum: torsten, dorste. Beim Verb gönnen findet sich in Eger II günnen (neben tügen), das zur schwachen Konjugation übergeht, wobei noch Reste der alten Flexion erscheinen, aber kein -a- im
210
II. Gebiete und Phänomene
Singular Präsens. – Dresden: Im Präsens (Infinitiv, Konjunktiv Präsens) herrscht neuhochdeutsch -o- vor, im Partizip Präteritum dagegen ist -u- stärker: gegunst (schwache Form mit euphonischem s). – Breslau: gegunst. Bei wollen erscheint in Prag im Konjunktiv Präteritum und im Partizip Präteritum vereinzelt die mittelhochdeutsche Form. – Eger I und II: wellen steht gelegentlich bis ins 17. Jahrhundert – Jena: Der Plural Indikativ Präsens kennt nach 1400 auch die -uFormen; sie sind im ganzen 15. Jahrhundert sehr häufig, dagegen nach 1500 kaum noch belegt. Der Konjunktiv Präteritum ist (wie das Präteritum) selten und hat zwischen 1430 und 1450 Formen mit -e- und - i-. – Dresden: Ein Schreiber schreibt im Konjunktiv Präteritum wellen, als Entrundung des Umlauts. – Mähren: Im Präteritum überwiegt -o-, obgleich oberdeutsche und mitteldeutsche Formen wellen / wollen wechseln. – Breslau: wellen ist auf das 14. Jahrhundert beschränkt. 2.5.
Angleichung der athematischen und der kontrahierten Verben
Beim Verb tun erscheint in Prag im 16. und 18. Jahrhundert der Infinitiv in der Langform, im 17. Jahrhundert hingegen athematisch, während in der Flexion im gesamten Zeitraum die thematische Form begegnet; auch der Imperativ ist zweisilbig: thuet. Das Präteritum Konjunktiv ist nur Anfang des 18. Jahrhunderts belegt, stets mit dem enklitischen Pronomen kontrahiert thettes, thets. – Eger I: Wie im Bairischen hält sich das -n in der 1. Person Singular Indikativ Präsens lange; die analoge Form tue tritt schon im 13. Jahrhundert auf. Die Grapheme und zeigen einen Diphthong an, es ist jedoch nicht zu entscheiden, ob mhd. uo oder mda. du gemeint ist. Der Monophthong herrscht vor. Die selten belegten Singular und Plural Präteritum-Formen weisen den gleichen Vokal -e- auf. Das Partizip Präteritum wird mit oder ohne ge- gebildet. Eger II: In der 1. Person Singular Indikativ Präsens werden die analogen Formen mit voller Endung häufiger. In der 3. Person Singular ist im 16. Jahrhundert das athematische thut die Regel, im 17. Jahrhundert kommt noch thuet vor. Im Indikativ Präteritum erscheint auch im Plural -e-. Im Partizip Präteritum stehen nebeneinander Formen mit -a- und -o- (die verdumpfte Form häufiger als bei Luther), mit Augment und ohne. Sonderformen sind thun und gethutt. – Jena: 1. Person Singular Indikativ Präsens ist stets n-los. Übergestelltes e über dem Stammvokal indiziert im 14. Jahrhundert vermutlich allein die Vokallänge, im 15. Jahrhundert jedoch den Übergang zur thematischen Flexion. Der Plural Präteritum hat neuhochdeutsch -a-. Das Partizip Präteritum wird mit dem Augment ge- gebildet. – Dresden: In der 1. Person Singular Präsens Indikativ steht apokopiertes thu, in der 3. athematisches thut, während im Plural und Infinitiv athematische und thematische Formen variieren. Das Präteritum hat Reflexe des mhd. tëte: er thet (im Unterschied zu Jena; im 16. Jahrhundert nehmen auch im Ostmitteldeutschen unter oberdeutschem Einfluss die e-Formen gegenüber den a-Formen zu). Der Konjunktiv Präsens hat in der 3. Person Singular Formen mit und ohne -e, der Konjunktiv Präteritum stets mit Morph, im Unterschied zum Indikativ Präteritum, wo auch apokopierte Formen vorkommen. Partizip Präteritum ist gethan. – Breslau: -n ist in der 1. Person Singular Indikativ Präsens erhalten. Bei gehen und stehen begegnen in Prag und Dresden ausnahmslos Formen mit Wurzelvokal -e- (Luther 1533, 43v hat: »Das wort, Aie Aollen laAAen stahn«), teilweise in der
14. Flexionsmorphologie des Verbs
211
Langform im Infinitiv. – Eger I: Es kommen nur die kontrahierten Formen vor, in Eger II die Langformen, stets Neuentwicklungen, nicht alte analoge Bildungen mit thematischem Vokal. – Jena: Die Form mit Wurzelvokal -e- begegnet bis 1400, danach Formen mit -ei- und »zahlreiche Formen mit -ehe-, die eindeutig den Übergang zur thematischen Flexion anzeigen« (Suchsland 1968, 212), während nach 1500 die h-losen Formen in der Minderzahl sind; sie sind als jüngere Kontraktion der neuen thematischen Formen zu werten (vgl. ebd.). In der 1. Person Singular Indikativ Präsens wird bei gehen in Prag nicht apokopiert, bei stehen in Einzelfällen, in der 3. Person Singular kommt es nicht zur Synkope, in Eger II überwiegt die kurze Form. Im Präteritum überwiegt die ie-Schreibung in Prag und in Eger II, in Jena und Dresden dagegen der Kurzvokal. Im Plural Präteritum begegnet von stehen in Prag die -u-Form (< mhd. -uo-) konsequent, im Singular kommen schon im 16. Jahrhundert Formen mit -a- vor, ebenso regelgerechtes stunden in Eger II. Das Partizip Präteritum von gehen wird in Prag im 16. Jahrhundert vierfach häufiger mit Augment gebildet als ohne, im 17. Jahrhundert dreht sich das Verhältnis um, im 18. Jahrhundert überwiegen die ge-Formen wieder, aber nicht so klar wie im 16. Jahrhundert. In Eger I und II wird es mehrheitlich ohne ge- gebildet, in Eger II nur seltenst auch gegangen, von stehen hingegen gestanden. In Jena sind nur gegangen bzw. gestanden belegt, in Dresden vorgangen, geBtanden. Sein zeichnet sich durch Formenreichtum aus. Der Infinitiv ist in Prag sein / seyn, in Eger I sin und sein, in Jena (ge)sin / (ge)sein. In der 1. und 3. Person Plural Indikativ Präsens konkurrieren in Prag die ursprüngliche Indikativ-Form (sint) und die ursprüngliche Konjunktiv-Form (sein) sowie die aus beiden kombinierte seint, wobei die eine oder andere geläufiger verwendet wird: im 16. Jahrhundert sindt, im 18. Jahrhundert seind und sein (sind ist nicht belegt) und im 17. Jahrhundert halten sich alle drei ungefähr die Waage. In Eger II kommt neben der mitteldeutschen neuhochdeutschen Form sind bis ins 17. Jahrhundert hinein in unterschiedlichen Schreibungen seind vor, möglicherweise unter mundartlichem Einfluss. In Jena begegnen konkurrierend (wie im Mittelhochdeutschen im mitteldeutschen Sprachgebiet) sin, sint(d), mit Dental seit etwa 1430 durchgesetzt, später sein, seind(t), mit Dental erst nach 1480, wobei nach 1500 die diphthongierten Formen in der Überzahl sind. In Dresden sind die 1. und 3. Person zusammengefallen, und es variieren sein und sind mit der Kontaminationsform seind; die schwache Vertretung von sind fällt auf. In Mähren steht in der 3. Person Plural Präsens die sein-Form häufiger im Norden, in Mittel- und Südmähren häufiger sind und seind/t, obgleich die territoriale Verteilung nicht eindeutig ist. In Breslau werden die PräsensFormen von der Wurzel es abgeleitet. In der 3. Person Plural Indikativ Präsens herrscht sint / sind vor, selten Ende des 14. Jahrhunderts, md. sent, seint ist auf das 15. Jahrhundert beschränkt. Schwaches und starkes Partizip Präteritum konkurrieren: In Prag überwiegt gewesen, in Eger I gewest, in Eger II und Dresden treten gewest und gewesen nebeneinander auf, als Teil des Verbalkomplexes und in adjektivischer Verwendung, in Jena steht gewest, in Breslau bis 1560 gewest, danach gewesen. Der thematische Infinitiv von haben ist in allen Belegkanzleien beinahe vollständig durchgesetzt. In der 1. Person Singular Indikativ Präsens steht in Eger I in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mhd. han, um die Mitte des Jahrhunderts kommen beide Formen vor, danach schwindet han. In Jena ist han einmal belegt. In Dresden ist nur
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II. Gebiete und Phänomene
habe / hab belegt, in der 3. Person stehen hat und habt nebeneinander, hat überwiegt. Für die 1. Person Plural Indikativ Präsens gilt in Eger I bei enklitischem Pronomen die Kurzform, vorangestellt schon in älterer Zeit haben, in der 3. Person meist haben, habent, selten nur han. In Dresden kommt in der 3. Person in niederen Textschichten kontrahiertes han vor, daneben wie in der Mundart die Assimilation -ben > -m. Im Präteritum Indikativ fällt in Eger II der Gebrauch der Konjunktivform im Indikativ auf: hett die rormayster vnd die gesellen vor zert; so auch in Dresden. Im Konjunktiv Präteritum tritt in Jena in der 1. und 3. Person Plural ein unorganisches -t ein: wir hettent, sie hettent. In Dresden kommt Konjunktiv Präteritum hette / het häufiger als Konjunktiv Präsens Bie habe vor. In Eger II stehen in der 3. Person Singular Konjunktiv Präsens und Präteritum oft apokopierte Formen. Das Partizip Präteritum begegnet in Jena einmal zu gehad kontrahiert. In Breslau dringt gehabt seit Mitte des 15. Jahrhunderts durch, bis dahin steht gehat, die kontrahierten Formen sind zahlreich. In Mähren wird die kontrahierte Form vorzugsweise als Hilfsverb benutzt, die volle als Vollverb; die vollen Formen überwiegen. Bei lassen ist in Prag im Infinitiv die thematische Form durchgesetzt, außer Apokope und Synkope gibt es keine Abweichungen vom Neuhochdeutschen. – Eger I: Im Infinitiv erscheint die kontrahierte Form. Eger II: Im Partizip Präteritum erscheint neben dem üblichen -a- auch -o-, vermutlich langes -ô- im Infinitiv indizierend.
3.
Schlussbemerkung
Das an Einzelbelegen skizzierte Variantenspektrum bei der Kennzeichnung verbflexivischer Muster lässt deutlich werden, dass die aus der Kanzleisprache zu erkennenden Entwicklungstendenzen bei der Herausbildung des Neuhochdeutschen noch alles andere als vollständig beschrieben und in ihrer Motivation erklärt sind. Eine umfassende Aufarbeitung des reichhaltigen Quellenmaterials steht noch aus, und zwar sowohl hinsichtlich der Erfassung nach Belegort und Zeit als auch in Bezug auf die Interpretation. Diese Aufgabe anzugehen, sollte sich die historische Linguistik vornehmen. Nur so können die intralinguistischen Ursachen des Sprachwandels transparent werden, die neben den äußeren, im weitesten Sinne gesellschaftlichen Prozessen zum heutigen Deutsch geführt haben.
4.
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Jörg Riecke, Heidelberg (Deutschland)
15. Die Lexik der Kanzleisprachen
1. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2. 4. 5.
1.
Gegenstandsbestimmung Skizze und Interpretation des Forschungsstands Zur Lexik spätmittelhochdeutscher Kanzleisprachen Zur Lexik frühneuhochdeutscher Kanzleisprachen Vorschläge zur weiteren Erforschung kanzleisprachlicher Lexik Der semasiologische Zugang Der onomasiologische Zugang Schluss Literatur
Gegenstandsbestimmung
Eine zusammenfassende monographische Untersuchung der Lexik der deutschen Kanzleisprachen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit liegt bisher nicht vor. Auch die dabei zu berücksichtigenden Einzelaspekte sind erst in Ansätzen erforscht. Die Schwierigkeit einer Untersuchung beruht zum einen auf der unübersehbar großen Zahl kanzleisprachlicher Texte, zum anderen aber auch darauf, dass bereits die Gegenstandsbestimmung der Lexik der Kanzleisprachen zahlreiche Probleme aufwirft. Der vorliegende Artikel wird daher zunächst einen Überblick über die verschiedenen Aspekte kanzleisprachlicher Lexik zu geben versuchen. In einem zweiten Teil soll an ausgewählten Beispielen angedeutet werden, welche Aufgaben die zukünftige Kanzleisprachenforschung zu lösen hätte. Der Terminus Kanzleisprache als Sammelbegriff für die geschriebene Sprache der städtischen, fürstlichen und kaiserlichen Kanzleien des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit umfasst eine große Zahl verschiedener Textsorten, die nur dann gewinnbringend zusammenfassend beschrieben werden kann, wenn es um die Beschreibung der lexikalischen Merkmale einer bestimmten Einzelkanzlei gehen soll. In monographischer Form untersucht sind beispielsweise die mittelalterliche deutsche Kanzleisprache Südund Mittelmährens (vgl. MasaĜik 1966), deutschsprachige Urkunden und Stadtbucheintragungen Südböhmens zwischen 1300 und 1419 (vgl. Boková 1998), die Kanzleisprache in Eger 1310 bis 1660 (vgl. Skála 1967), die Sprache der Jenaer Ratsurkunden 1317 bis 1525 (vgl. Suchsland 1968), die Sprache der Troppauer deutschen Urkunden von 1325 bis 1596 (vgl. Zeman 1972), die Prager Kanzlei Karls IV. (vgl. Schmitt 1936), die frühneuhochdeutsche Geschäftssprache in Mähren (vgl. MasaĜik 1985), die Kanzlei Kaiser Maximilians I. (vgl. Moser 1977), die kursächsische Kanzleisprache zwischen 1486 und 1546 (vgl. Kettmann 1969), die Geschäftssprache des 16. Jahrhunderts in Dresden (vgl.
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II. Gebiete und Phänomene
Fleischer 1970) oder die Zeitzer Kanzleien im 16. Jahrhundert (vgl. Otto 1970). Der Schwerpunkt der meisten dieser Arbeiten liegt auf den Gebieten Phonologie, Graphematik und Morphologie. Dazu treten Untersuchungen einzelner Stadt- und Rechtsbücher, stellvertretend genannt seien hier das Silleiner Rechtsbuch von 1378 bis 1524 (vgl. Papsonová 2003) und das Stadtbuch von Schwedler / Švedlár (vgl. Piirainen / Meier 1993). Besonders die Kanzleien in den deutschsprachigen Gebieten der Slowakei wurden in den letzten Jahren intensiv erforscht; hier liegen inzwischen zahlreiche Editionen vor (vgl. z. B. Ziegler 1999), deren lexikalische Auswertung einerseits Aufschlüsse über typische regionalsprachliche Merkmale, andererseits aber auch Hinweise auf die Vermeidung solcher regional gebundener Lexeme in Texten mit überregionaler kommunikativer Reichweite geben wird. In dieser Hinsicht wären besonders der Beitrag der ostmitteleuropäischen Kanzleien für die lexikalische Variantenreduktion und damit ihr Anteil an der »Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache« in Zukunft noch genauer zu bestimmen. Beispiele für die Vermeidung regional gebundener Lexeme sind aus anderen Textsorten bekannt, etwa für den Krakauer Druck der ursprünglich Nürnberger Schülergespräche Sebald Heydens von 1527 (vgl. Riecke 1995). Unter den Gesichtspunkten Regionalismen vs. Vermeidung von Regionalismen ließe sich folglich die Bedeutung gerade dieser Regionen beschreiben, für die spezifischen lexikalischen Merkmale der Kanzleisprache insgesamt wäre damit aber noch wenig gewonnen. Für diesen Zweck muss vielmehr die Gesamtheit der – wie auch immer räumlich und textuell heterogen zusammengesetzten – kanzleisprachlichen Texte berücksichtigt werden. Die Ausgangsfrage zielt daher zunächst weniger darauf, welche Lexeme in irgendeiner Weise auffällig sind oder in auffälliger Weise vermieden werden, sondern vor allem darauf, welche Lexeme überhaupt in kanzleisprachlichen Texten verwendet worden sind. In einem zweiten Schritt wären die Texte dann nach Textsorten gegliedert getrennt zu beschreiben.
2.
Skizze und Interpretation des Forschungsstands
Da grundsätzlich wohl fast alle im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit denkbaren Textsorten in einem kanzleisprachlichen Kontext möglich sind, können die Kanzleisprachen den gesamten jeweils zeit- und ortstypischen Wortschatz spiegeln. Es ist davon auszugehen, dass nicht nur regionale Unterschiede eine Rolle spielen, sondern dass auch die Größe und Bedeutung einer Kanzlei Einfluss auf den Wortgebrauch hat. Das Spektrum der Texte reicht von den in Weistümern festgehaltenen ländlichen Quellen, in denen zum Beispiel bestehende Rechtsverhältnisse aufgezeichnet wurden, bis zu den von Kanzleischreibern aufgezeichneten Hexenverhörprotokollen (vgl. Macha 2005). Als Beispiele können zwei Weistümer aus der Kurpfalz gelten, so das Dorfweistum Schluchtern, Landkreis Heilbronn (vgl. Kiesow 2004) und das Dorfweistum Dallau, NeckarOdenwald-Kreis (vgl. Kollnig 1985); Hexenverhörprotokolle sind im Zeitraum von 1580 bis 1650 an mehr als 150 Orten im gesamten deutschsprachigen Raum entstanden. Da beide Textgruppen – mit unterschiedlichen Intentionen – durch Befragung der Untertanen entstanden sind, können sie Reflexe gesprochener Sprache enthalten. Aber auch für
15. Lexik der Kanzleisprachen
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Rechnungsbücher sind solche Reflexe nachgewiesen (vgl. Greule 1989; zum Verhältnis von dialektaler Mündlichkeit und ländlicher Schriftlichkeit vgl. Knoop 1998). Diese und wohl fast alle übrigen Texte aus städtischen, fürstlichen und kaiserlichen Kanzleien tragen in unterschiedlicher Stärke einen amtlichen Charakter und bewegen sich demzufolge in einer rechtlichen Sphäre. Wichtig ist aber der Hinweis, dass zusammen mit dem rechtlichen Kontext immer auch persönliche Angelegenheiten mitgeteilt werden können (vgl. Piirainen 1998, 180). Daher kann kanzleisprachliche Lexik nicht von vornherein auf rechtssprachliche Lexik eingegrenzt werden. Es scheint aber in Einzelfällen, deren Geltungsweite noch zu untersuchen ist, so zu sein, dass beispielsweise städtische Kanzleien bestimmte Vorgänge, die nicht im engeren Sinne zu ihren Aufgaben gehörten, an Privatpersonen zur Aufzeichnung übertragen haben. So geschehen etwa bei der Aufzeichnung des Regensburger Pfandregisters vom Jahre 1519, mit dessen Herstellung der Rat der Stadt Regensburg drei nicht zur Kanzlei gehörige Handwerker beauftragte (vgl. Matzel / Riecke 1988a; 1988b). Dafür mag die politisch höchst fragwürdige Enteignung und Vertreibung der Regensburger Juden unmittelbar nach dem Tod Kaiser Maximilians verantwortlich gewesen sein. Der in das Pfandregister eingegangene Wortschatz (Schmuckstücke, Kleidung und alltägliche Gebrauchsgegenstände) wäre aber zudem aus heutiger Sicht im Vergleich zur Mehrzahl der sonstigen kanzleisprachlichen Aufgaben und Schriftstücke doch wohl untypisch gewesen. Dieses Beispiel könnte erklären, dass in den kanzleisprachlichen Textsorten Alltagswortschatz und Fachwortschätze, die nicht in einem rechts- oder amtssprachlichen Kontext stehen, etwas in den Hintergrund zu treten scheinen. Im Zentrum stehen vielmehr sozial bindende und dokumentierende Texte mit Wortschätzen, die in der Mehrzahl rechtsprachlich geprägt sind. Als sozial bindend werden Texte angesehen, deren Auftraggeber / Autoren / Schreiber / Drucker die Absicht verfolgen, sozialbereichsspezifische Handlungen von Menschen verbindlich festzulegen und Verstöße gegen ihre Einhaltung gegebenenfalls durch Strafandrohung soweit wie möglich auszuschließen. (Reichmann / Wegera 1988, 1)
Hierher gehören vor allem Rechts- und Geschäftstexte, die ihren kommunikationsgeschichtlichen Ort vielfach in den Stadt- und Territorialverwaltungen haben. Demgegenüber werden als dokumentierend solche Texte angesehen, deren Auftraggeber / Verfasser / Schreiber / Drucker Ereignisse, Besitzverhältnisse, Fakten aller Art mit dem Zweck festgehalten, gespeichert, dokumentiert sehen möchten, Vorhandenes in eine Übersicht zu bringen und verfügbar zu machen […]. Dieser Texttyp tritt im Frühneuhochdeutschen im Zusammenhang mit dem Ausbau der territorialen, städtischen, frühindustriellen Administration verstärkt neu auf. Ihm gehören vor allem Stadtbücher, Protokolle, Urbare, Zinsverzeichnisse, annalistische Chroniken […] an. (ebd., 52)
Wo es sich bei den sozial bindenden und den dokumentierenden Texten um kanzleisprachliche Schriften handelt, dominieren in der Regel rechtliche Themen. Daher ist davon auszugehen, dass es in erster Linie Rechtswörter oder rechtssprachliche Verwendungsweisen von alltagssprachlichen Wörtern sind, die als textkonstituierende lexikalische Merkmale der Kanzleisprache gelten können. So kann in einem allgemeinen Sinne unter Lexik der Kanzleisprache zwar weiterhin der gesamte Wortschatz verstanden
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II. Gebiete und Phänomene
werden, der in den verschiedenen Kanzleien verwendet wird. In einem engeren Sinne charakteristisch für die Lexik der Kanzleisprache sind dann aber nicht mehr nur alle in Kanzleien verwendeten Lexeme in ihrer ausdrucksseitigen Gestalt, sondern diejenigen (rechtssprachlichen) Verwendungsweisen von allgemeinsprachlichen Wörtern, die nur oder vorwiegend in kanzleisprachigen Texten erscheinen. Die Beschreibung beispielsweise von regional gebräuchlichen Bezeichnungen für Wochentage und Monate ist für die jeweiligen Sprachlandschaften wichtig, und die kanzleisprachlichen Texte sind eine wichtige Quelle für ihre Erforschung. Zur kanzleisprachlichen Lexik selbst zählen sie in diesem engeren Sinne jedoch nicht. Dringend geboten sind zunächst textsortenspezifische Auswertungen der kanzleisprachlichen Lexik, aber auch eine intensivere Erforschung der westmitteldeutschen und westoberdeutschen Kanzleisprachen (vgl. etwa als Ausgangspunkt für das Rheinland Schützeichel 1974). Ein repräsentatives kanzleisprachliches »Lesebuch« mit »Wortverzeichnis« gibt es bisher nur für das Niederdeutsche (vgl. Lasch 1925). 2.1.
Zur Lexik spätmittelhochdeutscher Kanzleisprachen
Rudolf Bentzinger widmet der Lexik der Kanzleisprachen in seinem grundlegenden, zwölfspaltigen Handbuchartikel Die Kanzleisprachen (Bentzinger 2000) immerhin eine knappe Spalte. Auch hier wird der Wortschatz als »umfangreich« und darüber hinaus – was noch eingehender zu prüfen wäre – als »genau strukturiert« bezeichnet. Auch nach seinen Untersuchungen dominieren im Verhältnis zum Gesamtwortschatz nicht »Rechtswörter im engeren Sinne wie reht, vride, âhte«, sondern »Wörter mit rechtssprachlichen Konnotationen wie abelâzunge ›Erlass von Abgaben‹, anegewinnen ›gerichtlich nachweisen‹« (ebd., 1668). Die Beispiele sind aus einem Beitrag von Ursula Schulze geschöpft, die eine erste Beschreibung der mittelhochdeutschen Urkundensprache vorgelegt hat (vgl. Schulze 1988). Damit sei aber zugleich auf das Problem verwiesen, dass unsere Kenntnis der mittelhochdeutschen Lexik der Kanzleisprachen bei derzeitigem Forschungsstand fast ausschließlich auf Friedrich Wilhelms Corpus der Altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300 und seiner Auswertung im Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache (WMU) beruht. Auch die Belege für die von Bentzinger (2000, 1668) benannten Doppelformen wie leit oldir vngemach, wissentlich und bedahtlich oder weren noch versagen stammen aus dem 13. Jahrhundert (vgl. Boesch 1946, 36ff.; weitere Beispiele des Typs tun kunt gibt Sparmann 1963; zur Formelhaftigkeit der Datumszeile vgl. de Boor 1975). Das Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache legt in jedem Falle eine Grundlage für die lexikalische Beschreibung der Kanzleisprache in spätmittelhoch- und frühneuhochdeutscher Zeit; auch die Untersuchung der Wortbildung der Kanzleisprachen nimmt hier ihren Ausgang (vgl. Ring 2008). Es eignet sich zugleich als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung im 14., 15. und 16. Jahrhundert, die ein sehr viel größeres Spektrum an Textsorten und Regionen umgreift. Vor allem können Ursula Schulzes Beispiele verdeutlichen, welche Art von Verwendungsweisen die Lexik der mittelhochdeutschen Urkundensprache (als Teilmenge der Kanzleisprache) vom mittelhochdeutschen Allgemeinwortschatz unterscheidet und damit zu einem besseren Verständnis des mittelhochdeutschen Varietätenspektrums
15. Lexik der Kanzleisprachen
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beitragen. Neben urkundensprachlichem abelâzunge ›Erlass von Abgaben‹ kennt das neue Mittelhochdeutsche Wörterbuch (MWB) etwa die theologisch gespeiste Bedeutung ›Vergebung (der Sünden)‹; neben urkundensprachlichem anegewinnen ›gerichtlich nachweisen‹ – man vgl. daneben das Substantiv anegewin ›Gewinn, Erwerb‹ – findet sich im MWB ›jmdm. etw. abnehmen (bes. durch Kampf oder gerichtl. Entscheidung), jmdm. etw. zufügen‹. Weitere Beispiele sind: a) mhd. urkundensprachlich abelâz ›Abzug, Minderung‹ (als geldwirtschaftlicher Begriff), neben ›Abzug, Minderung‹ nennt das MWB auch ›Vergebung der Sünden‹, ›Straf-, Schuldenerlass‹ sowie ›das Unterlassen, Nachlassen‹; b) mhd. urkundensprachlich bete ›Fürsprache, rechtliche Untersuchung, Forderung‹, auch allgemein ›Bitte, Ersuchen‹ sowie ›(Geld-)Buße‹ neben allgemein ›Abgabe‹. Matthias Lexers Mittelhochdeutsches Handwörterbuch kannte die rechtssprachlichen Verwendungsweisen noch nicht, das MWB nennt ›Bitte, Wunsch, Aufforderung, Abgabe, Bede‹; c) mhd. urkundensprachlich betrüeben ›beinträchtigen, schädigen, betrüben‹, das MWB nennt ›etw. (Klares) trübe machen, verdunkeln; jmdn. / etw. beeinträchtigen, schädigen‹; d) mhd. urkundensprachlich bewegen ›bewegen, veranlassen (Klage) anstrengen‹, das MWB nennt ›einen Entschluss fassen, sich zu etw. entschließen, anschicken, auf etw. / jmdn. verzichten, etw. / jmdn. aufgeben; jmdn. bewegen‹. e) mhd. urkundensprachlich bezzerunge ›Schadenersatz, Widergutmachung, Sühneleistung, Ausbesserung (einer Brücke), Verbesserung, Aufbesserung, Gewinn, Mehrertrag, Erlös, Tadel, Rüge‹, das MWB nennt ›Besserung, Verbesserung; Bestrafung, Züchtigung; Entschädigung, Wiedergutmachung, Bußleistung‹. Ein genauer Vergleich aller im WMU ermittelten Verwendungsweisen mit den Angaben im MWB würde die Besonderheiten des Gebrauchs spätmittelhochdeutscher kanzleisprachlicher Lexik noch deutlicher hervortreten lassen. Besonders erhellend scheint das Beispiel bete zu sein, da hier auch in den Urkunden spezifisch urkundensprachliche Verwendungsweisen wie 1. ›Fürsprache, rechtliche Untersuchung, Forderung‹, 2. ›(Geld-) Buße‹ neben allgemeinsprachlichen Verwendungsweisen wie ›Bitte, Ersuchen‹ stehen. Alle diese Lexeme finden sich auch im Deutschen Rechtswörterbuch (DRW), wenngleich nicht immer mit denselben Verwendungsweisen, da das Corpus der Altdeutschen Originalurkunden erst im späteren Verlauf der Bearbeitungszeit in den Quellenbestand des Rechtswörterbuchs aufgenommen wurde (vgl. Schulze 1988, 45). Dass die Lexeme im Deutschen Rechtswörterbuch aber zumindest ausdruckseitig und gegebenenfalls mit noch anderen rechtssprachlichen Verwendungsweisen aufscheinen, spricht für einen sich im Spätmittelalter herausbildenden rechts- und kanzleisprachlichen Sonderwortschatz, der seitdem in seinen Grundzügen vorliegt und in den folgenden Jahrhunderten vor allem einer noch exakteren Binnendifferenzierung bedurfte.
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II. Gebiete und Phänomene
2.2. Zur Lexik frühneuhochdeutscher Kanzleisprachen Die weitere Entwicklung der kanzleisprachlichen Lexik in frühneuhochdeutscher Zeit ist bisher nicht zusammenfassend erforscht worden. Ein Ausgangspunkt kann, abgesehen von der Anknüpfung an die Ergebnisse aus mittelhochdeutscher Zeit, Ludwig Erich Schmitts Glossar zur deutschen Urkundensprache in der Kanzlei Kaiser Karls IV. (1346–1378) sein (vgl. Schmitt 1936, 123ff.). Auch Schmitt ist bemüht, alltagssprachliche Verwendungsweisen von urkundensprachlichen Verwendungsweisen abzugrenzen, so z. B. antworten: 1. ›Antwort geben‹, 2. »meist meint es in der Urkundensprache ›übergeben, ausliefern‹« (Schmitt 1936, 126) oder Ziel als ›Zahlungstermin‹ (ebd., 225). Für die Mehrzahl der Belege werden jedoch keine oder nur lateinische Bedeutungsangaben gegeben, hier sollen offenbar die Belege für sich sprechen. Das Glossar müsste folglich gründlich überarbeitet werden. Darüber hinaus zeichnen sich jenseits der Textsorte Urkunde nun immer weitere Textsorten mit weiteren lexikalischen Beständen ab, die jedoch noch nicht systematisch erfasst sind. Hier ist vor allem an die weiter oben schon genannten Stadtbücher, Protokolle, Urbare, Zinsverzeichnisse und annalistischen Chroniken zu denken, die den Kernbestand der nun immer stärker sich ausdehnenden dokumentierenden Textsorten ausmachen. Lexeme aus diesen Texten sind im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB) enthalten und gegebenenfalls als rechtssprachlich markiert. Wenn es sich um Rechtswörter im engeren Sinne oder Wörter der Alltagssprache in rechtlichen Kontexten handelt, finden sie sich ebenfalls im Deutschen Rechtswörterbuch (DRW). Ein Blick in das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch zeigt für das Fortleben der von Ursula Schulze herangezogenen Beispielwörter das folgende Bild. Notiert werden Verwendungsweisen, die ausschließlich oder mehrheitlich aus kanzleisprachlichen Quellen belegt sind: a) mhd. urkundensprachlich abelâz ›Abzug, Minderung‹ (als geldwirtschaftlicher Begriff), findet sich in frnhd. ablas 4. ›Nachlass, Minderung (einer finanziellen Verpflichtung oder sonstigen Last); Befreiung von einer solchen Verpflichtung‹. In kanzleisprachlichen Kontexten erscheinen mindestens auch ablas 2. ›bei der Aufgabe eines Gutes zu entrichtende Gebühr‹; 11. ›Vorrichtung zur Regulierung (von Gewässern)‹ und 12. ›das Ablassen des Weins aus dem Faß‹; b) mhd. urkundensprachlich abelâzunge ›Erlass von Abgaben‹ findet sich in fnhd. ablassung 3. ›Nachlass oder Erlass von etw. (z. B. einer finanziellen Verbindlichkeit)‹. In kanzleisprachlichen Kontexten erscheint auch ablassung 4. ›Aufhebung, Annulierung von etw.‹; c) mhd. urkundensprachlich bete ›Fürsprache, rechtliche Untersuchung, Forderung‹ findet sich in frnhd. 1bete 2. ›Bitte, Ersuchen (für die gesamte Skala zwischen Bitten und gebotsähnlichem Auffordern gebraucht)‹, 3. ›von Seiten der Herrschaft erhobene gebietende Bitte um Leistungen‹, 7. ›Aufforderung, Geheiß‹. Als Spezialisierung von bete 2. findet sich bete 8. ›von angesehenen Personen für einen Verurteilten vorgetragene Fürbitte, Gnadengesuch‹. In weiteren kanzleisprachlichen Kontexten erscheint auch bete 4. ›von der Landesherrschaft auf verliehenes, verpachtetes Gut bezogene Leistungsverpflichtung des Inhabers des Gutes‹, im Einzelnen ›steuerliche Veranla-
15. Lexik der Kanzleisprachen
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gung‹, ›Verpflichtung zur Naturalabgabe‹, ›Leistungsverpflichtung‹, als Metonymie auch ›Recht auf Festsetzung einer Bede und deren Einnahme‹, ›Abgaben-, Bedebezirk‹. Dann folgt als Metonymie zu 4. bete die Verwendungsweise 5. ›auf eine Bitte bzw. auf eine steuerrechtliche Verpflichtung hin erfolgende tatsächliche Leistung, Steuer, Naturalabgabe, Dienstleistung‹. An bete 1. ›Gebet‹ knüpft in partiell amtlicher Hinsicht bete 6. ›Abgabe für kirchliche Zwecke, Kirchenopfer, Kollekte‹ an; d) mhd. urkundensprachlich betrüeben ›beeinträchtigen, schädigen‹ findet sich in frnhd. betrüben 4. ›jn. (z. B. tätlich, verbal) angreifen‹ […] ›jn. in seiner Rechts- und Wirtschaftsstellung antasten, einengen, bedrängen, schädigen‹, ›etw. (z. B. das Land) unterdrücken, brandschatzen; (eine Instanz) bedrängen‹; e) mhd. urkundensprachlich bewegen ›bewegen, veranlassen, (Klage) anstrengen‹ findet sich zumindest zum Teil in frnhd. bewegen 6. ›jn. zu etw. (einer Handlung) bewegen, veranlassen; etw. anstiften; j. zu etw. (einer Haltung) bringen, führen‹. In kanzleisprachlichen Kontexten erscheint auch bewegen 5. ›(ein Heer) aufbringen, aufbieten und ins Feld stellen‹; f) mhd. urkundensprachlich bezzerunge ›Schadenersatz, Widergutmachung, Sühneleistung, Ausbesserung (einer Brücke), Verbesserung, Aufbesserung, Gewinn, Mehrertrag, Erlös, Tadel, Rüge‹ findet sich in frnhd. besserung 1. ›Besserung, Verbesserung des Zustandes‹, etwa in d) ›wirtschaftlicher Mehrwert‹, e) ›Verbesserung der Rechtslage (insbesondere des Urteils)‹, f) ›Beglaubigung einer Urkunde‹, j) ›wirtschaftlicher Gewinn, Ausbeute im Bergbau‹; besserung 2. ›Ausbesserung, Instandhaltungstätigkeit, Reparatur‹; besserung 3. ›Bewirtschaftung, Nutzung von etw.‹; besserung 7. ›Ersatzleistung, Gegenleistung, Buße, Genugtuung, Entschädigung, Vergeltung, Sühneleistung‹; 8. ›Strafe, jm. in Folge eines Verstoßes auferlegte körperliche Peinigung (oft in Relation zum Verstoß), finanzielle Abgabe, Buße, Verbannung‹. Ein solcher Vergleich, der hier nur vorläufigen Charakter tragen kann und für weitergehende Schlussfolgerungen eine sehr viel detailliertere Untersuchung der Quellen und Verwendungsweisen voraussetzt als hier möglich ist, gibt erste Hinweise auf die weitere Entwicklung. Er zeigt in Ansätzen eine zunehmende Ausdifferenzierung der verschiedenen kanzleisprachlichen Bedeutungen, die nicht zuletzt durch die genauen Bedeutungsbeschreibungen des FWB klar hervortreten. An Beispielen der Bedeutungsverschiebungen von mhd. bete zu frnhd. bete wird – in Verbindung mit dem Befund zu mhd. bete – sichtbar, wie in der frühen Neuzeit zur Verschriftlichung des Lebens auch so etwas wie eine Verrechtlichung des Lebens tritt. Das vormals religiös geprägte Wort wird nach Ausweis des FWB mehr und mehr in die Sphäre von Recht und Verwaltung hinübergezogen. Man vergleiche dazu auch das Deutsche Wörterbuch (DWB) der Brüder Grimm unter Bede, Bethe, Bete und Bitte sowie das DRW unter Bede ›Abgabe, Steuer‹ (zu beiden Wörterbüchern vgl. auch Lobenstein-Reichmann 2010). Aber nicht jede mittelhochdeutsche urkundensprachliche Verwendungsweise, etwa mhd. bewegen als ›eine Klage anstrengen‹, findet im Korpus des FWB einen fachsprachlichen Fortsetzer. Das DRW verzeichnet diese Bedeutung unter bewegen nicht; auch unter den kanzleisprachlichen Verwendungsweisen begegnen folglich kommunikative Eintagsfliegen, die im Prozess der Verfachsprachlichung ausgeschieden werden.
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II. Gebiete und Phänomene
Weitere Hinweise auf die lexikalische Entwicklung in frühneuhochdeutscher Zeit gibt für das Ostmitteldeutsche die Studie Ottos (1976); Hinweise auf spezifische regionale lexikalische Besonderheiten kanzleisprachiger Texte aus der Slowakei gibt zudem Papsonová (1997; 2000), für Siebenbürgen Dogaru (2011). Im Folgenden soll nun aber an zwei Beispielen angedeutet werden, welche Untersuchungen zur künftigen Erforschung der kanzleisprachlichen Lexik, insbesondere in frühneuhochdeutscher Zeit, erforderlich sind (vgl. auch Moser 1985).
3.
Vorschläge zur weiteren Erforschung kanzleisprachlicher Lexik
Die zukünftige Erforschung kanzleisprachlicher Lexik kann in textbezogener Hinsicht von konkreten kanzleisprachlichen Einzeltexten, von spezifischen kanzleisprachlichen Textsorten oder von der gesamten Textmenge einer bestimmten Kanzlei ausgehen. In lexikalischer Hinsicht können zentrale Begriffe und Sachbereiche des Kanzleiwesens semasiologisch bzw. onomasiologisch erschlossen werden. Die damit verbundenen verschiedenartigen Erkenntnisinteressen und Methoden können sich wechselseitig ergänzen und befruchten (grundlegend vgl. Reichmann 1998). 3.1.
Der semasiologische Zugang
Als Beispiel für den semasiologischen Zugang zur kanzleisprachlichen Lexik bietet sich das Substantiv frnhd. kanzlei mit seinen Ableitungen an. Das Wort ist eine Nachbildung des 14. Jahrhunderts von mlat. cancellaria ›Verwaltungsbehörde, Schreibstube des Kanzlers‹ mit dem Suffix -îe. Älter ist das Nomen agentis ahd. kanzellâri, kanzilâri, mhd. kanzelaere, kanzler aus spätlat. cancellârius ›Vorsteher einer Behörde‹ (vgl. Kluge / Seebold, 467). Für das Frühneuhochdeutsche verzeichnet das FWB nun zunächst das Lexem kanzlei ›Schreibstube einer Obrigkeit‹; metonymisch auch: ›Personal der Schreibstube‹. Dazu treten als Ableitungen und Komposita, in zeitlicher Staffelung: – 15. Jahrhundert (9): kanzelerei (kantzellarie, 1. Hälfte 15. Jh.); kanzleiampt (seit 1464); kanzleigefälle ›Kanzleigebühren‹, kanzleigelt (seit 1470); kanzleigericht (seit 1474); kanzleihandel (seit 1478); kanzleisekret (seit 1486); kanzleieid (a.1498); kanzleisekretär (seit 1498). – 16. Jahrhundert (61): kanzleipetschaft, kanzleitisch (16. Jahrhundert); kanzleischrift (seit 1516); kanzleikopie, kanzleisak (a. 1523); kanzleibuch, kanzleiinventar (seit 1523); kanzleisache (seit 1524); kanzleiordnung (seit 1525); kanzleirechnung (seit 1526); kanzleitruhe, kanzleitürhüter (a. 1527); kanzleiverwandter, kanzleiverweser (seit 1527); kanzleipraktik (a. 1531); kanzleiisch (seit 1534); kanzleidiener (seit 1537); kanzleigewölbe (a.1539); kanzleigeselle (seit 1543); kanzleiperson (seit 1544); kanzleigeschäft (seit 1549); kanzleiverwalter, kanzleiverwaltung (a. 1550); kanzleikaste (a. 1553); kanzleirat, kanzleistube, kanzleistunde (seit 1553); kanzleiregister (a. 1555); kanzleischuld (a. 1557); kanzleiarbeit (seit 1557); kanzleiakte (a. 1559); kanzleibote, kanzleibrief, kanzleigerechtigkeit (a. 1559); kanzleiregistrator, kanzleistil (seit 1559); kanzleipetschier, kanzleitaxe (seit 1561); kanzleigut, kanzleihandlung
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(a. 1564); kanzleiplaz (seit 1565); kanzleilade (a. 1566); kanzleijunge (seit 1566); kanzleifriede, kanzleikonzipist (a. 1569); kanzleisubstitut (seit 1573); kanzleibesoldung, kanzleihand (a. 1575); kanzleimühe (a. 1575); kanzleikamer, kanzleimangel (a. 1578); kanzleidienst, kanzleikleidung, kanzleiknecht, kanzleikollektur, kanzleiverfal (a. 1581); kanzleidirektor, kanzleigebür (a. 1588); kanzleilehen (seit 1591); kanzleilagerbuch (a. 1592); kanzleiadvokat (a. 1597). – 17. Jahrhundert (41): kanzleijura (seit 1600); kanzleiwonung (a. 1604); kanzleirecht (a. 1608); kanzleiprotokol (seit 1608); kanzleiverrichtung (seit 1609); kanzleiausgabe, kanzleiexpedition, kanzleigutsche, kanzleischreiber, kanzleischreiberdienst, kanzleivortrag, kanzleiwesen (a. 1610); kanzleibeamter, kanzleistelle (seit 1610); kanzleiregiment (a. 1616); kanzleiangehöriger, kanzleiaudienz, kanzleinotar, kanzleinotdurft, kanzleioffiziant (a. 1617); kanzleiprokurator, kanzleirat(s)stube, kanzleischrank (a. 1618); kanzleiarchiv, kanzleihandschrift, kanzleiherre, kanzlei(in)siegel (a. 1620); kanzleibibal ›Trinkgeld‹, kanzleipedel, kanzleiurteil, kanzleivisitation, kanzleivorrat, kanzleizimmer (a. 1628); kanzleikonsultation (a. 1633); kanzleigewalt, kanzleiunkosten (a. 1637); kanzleiintrade, kanzleikasse (a. 1640); kanzleirezes, kanzleischein (a. 1644); kanzleiinstruktion (a. 1645). Das FWB enthält darüber hinaus noch Hinweise auf das Vorkommen von Kanzlei als Grundwort, belegt sind landeshaubtmankanzlei und statkanzlei. Die Datierung der Erstbelege der Kanzlei-Wortbildungen zeigt sehr deutlich die Entfaltung der Kanzleitätigkeiten vor allem seit den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts. Die genaue Untersuchung der Verwendungsweisen in der Wortfamilie Kanzlei würde zudem wohl einen differenzierten Einblick in die Tätigkeiten einer frühneuzeitlichen Kanzlei ermöglichen. Ein Blick in das DRW zeigt die Entwicklung vor allem in der zweiten Hälfte des 17. und des 18. Jahrhunderts. Es finden sich in geradezu überbordender Vielfalt 371 weitere Belege für das ältere Neuhochdeutsche, von Kanzleiabbreviator bis Kanzleizollstube. Neben dem schon älteren frnhd. kanzleistil begegnen nun mit Kanzleiduktus (mit Verweis auf Johann Friedrich Geißler, Anleitung zu dem Dreßdner cantzley-ductus, 18. Jahrhundert), Kanzleischreibart, Kanzleisprache und Kanzleiwörterbuch (mit Verweis auf Johann Balthasar von Antesperg, Das deutsche kayserliche schul- und canceley-wörterbuch, Wien 1738), aus dem DWB wären noch die Adjektive kanzleiteutsch und kanzleistilig zu ergänzen und damit weitere Bezeichnungen, die nun auch erste Reflexion über den Gegenstand andeuten. 3.2.
Der onomasiologische Zugang
In einem zweiten Schritt soll nun das Sachfeld Kanzlei in seiner onomasiologischen Vernetzung zumindest streiflichtartig beleuchtet werden. Wesentlich erleichtert wird dieser Zugang im FWB durch die Angabe von bedeutungsverwandten Wörtern unter der Sigle Bdv. Für kanzlei ist zu nennen: briefkammer; expedition; gewölbe; pfalzstube; rathaus; registratur; schatzhaus; schatzkamer und schreibstube. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der hier im Einzelnen hervortretenden Verwendungsweisen wären genauer zu untersuchen. Die onomasiologische Vernetzung der Kanzlei-Lexeme entfaltet sich aber noch weiter, wenn auch solche Lexeme hinzugenom-
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II. Gebiete und Phänomene
men werden, in deren Bedeutungsbeschreibung oder in deren Erläuterungsteil ebenfalls Kanzlei oder eine verwandte Bezeichnung genannt wird. Als Beispiele für die verschiedenen Typen können gelten: abhilflich, auch abhelflich, ›in der kanzleistilistischen Wendung abhilfliche masse‹; angellung ›Fürsprache‹ (Skála, Kanzleisprache Eger, 1967); ausschreiben 4. ›(kanzleitechnisch) ein Schriftstück vervielfältigen, kopieren‹; collationiergeld ›Kanzleigebühr für die Kollationierung‹; gehaltkammer ›Archiv (in einer Kanzlei)‹; zu gehalten 2.; gnadenkammer ›Privilegienkanzlei‹; jungschreiber ›junger Kanzleibeamter‹. – Bdv.: gerichtschreiber, schreiberknecht, unterschreiber; kepler, zu mlat. capellarius, ›Leiter der bischöflichen Kanzlei in Köln‹. – Bdv.: canonik; landschreiber ›aus dem Kanzleiwesen hervorgegangener Territorialbeamter mit unterschiedlicher Funktion und Befugnis‹; insbes. ›einfacher Schreiber‹, ›Gerichtsschreiber, Notar‹, ›Rechtspfleger mit richterlichen Befugnissen‹, ›höherer Verwaltungs- und Finanzbeamter‹; parition, die; zu parieren, ›Kanzleiwort aus dem Frz.‹; statschreiber ›von einer Stadt zur schriftlichen Fixierung und Verwaltung von wirtschaftlich, rechtlich oder anderweitig relevanten Fakten und Ereignissen angestellte Person, Stadtkanzler, Leiter der Stadtkanzlei‹. Auf einer tieferen Ebene ergeben sich weitere Vernetzungen über die Kompositionsglieder oder die bedeutungsverwandten Lexeme. Frnhd. kamerkanzlei, kamergerichtskanzlei führen auf Kamer5 ›Münzkammer; Schatzkammer; Rüstkammer‹; mehrfach metonymisch, dann z. B.: ›Vermögen einer (fürstlichen, städtischen, geistlichen) Behörde‹; ›Finanzverwaltung einer (fürstlichen, städtischen, geistlichen) Behörde‹. – Bdv. (zu letztgenannter Metonymie): fiskal, kanzleigeschäft, renterei. Frnhd. kanzleischreiber, jungschreiber und landschreiber stehen demgegenüber in Verbindung zu weiteren Wortbildungen mit Schreiber und schreiben (vgl. ausschreiben 4), das Lemma ladschreiben verbindet den Kanzleiwortschatz mit frnhd. ladung ›mündliche oder schriftliche Vorladung vor Gericht‹; auch: ›Klage‹; ›Urteil‹; in einem Beleg: ›Jüngstes Gericht‹. Die Angabe der Bedeutungsverwandtschaft (citation, dilation, gebotbrief, (für)heischung, manung, tagforderung, urteil, verkündigung) deutet die Richtung an, in der weitere Verbindungen zu finden sind. Ein anderes Feld eröffnet z. B. frnhd. amptschreiber ›Verwaltungsbeamter, Amtsschreiber, Protokollant‹; als bedeutungsverwandt erweist sich hier u. a. aufzwicker ›Protokollant‹ und aufzwicken ›etw. (Worte o.ä.) aufnehmen, schriftlich festhalten‹. Über die Bedeutungsangabe ›Protokollant‹ erschließt sich dann ein weiteres Feld von Bezeichnungen, die in eine immer dichtere onomasiologische Vernetzung der kanzleisprachlichen Tätigkeiten einmündet. Ein nächster Schritt verbindet Protokoll zum Beispiel mit dem Lemma gedenkbuch in der Bedeutung ›Protokollbuch bei Städten und Gemeinden für offizielle Eintragungen‹, mit lesmeister in der Bedeutung ›Protokollant bei Gericht, Gerichtsschreiber‹ sowie – mit regionaler Fixierung – landesbestelte ›von den Landständen gewählter ständiger Sprecher und Protokollant bei Landtagen (in der Lausitz und Schlesien)‹. Auf das nicht weniger zentrale Stichwort Urkunde führt schließlich die Bedeutungsverwandtschaft von kanzleinotdurft, büchse1, siegelhaus und kapsel in der Bedeutung ›Urkundenbehälter‹, kapselgeld ›Gebühr für die Besiegelung von Urkunden‹. Auf diese Weise ließe sich schließlich der gesamte kanzleisprachliche Wortschatz miteinander vernetzen.
15. Lexik der Kanzleisprachen
4.
227
Schluss
Mit der vorliegenden Skizze sollte eine Bestandsaufnahme geleistet und zugleich die Aufmerksamkeit auf zentrale Bereiche der spätmittelalterlichen und vor allem frühneuzeitlichen kanzleisprachlichen Lexik gelenkt werden. Dabei dürfte an exemplarischen Beispielen deutlich geworden sein, wie die kanzleisprachlichen Lexeme miteinander verbunden sind und welch dichtes kanzleisprachlich geprägtes onomasiologisches Netz sich seit der frühen Neuzeit über den deutschen Wortschatz ausbreitet. Die Beschäftigung mit der kanzleisprachlichen Lexik führt demgegenüber kaum zu neuen Ergebnissen für die Beurteilung der Rolle der Kanzleisprachen bei der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Vielmehr deutet sich in lexikalischer Hinsicht die Herausbildung einer neuen Varietät des Deutschen an, die geeignet ist, die stetig wachsenden kommunikativen Aufgaben in Recht und Verwaltung zu meistern.
5.
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II. Gebiete und Phänomene
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15. Lexik der Kanzleisprachen
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16. Syntax
1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. 4. 5. 6.
1.
Einleitung Communis opinio – Die Behandlung der kanzleisprachlichen Syntax in allgemeinen sprachgeschichtlichen Darstellungen und Lehrbüchern Kanzleisprachen und kanzleisprachliche Syntax in älteren Handbüchern und Sprachgeschichten Kanzleisprachen und kanzleisprachliche Syntax in neueren Handbüchern und Sprachgeschichten Kanzleisprachen und kanzleisprachliche Syntax in der jüngeren Forschung Zusammenfassendes zum Forschungsstand Probleme einer kanzleisprachlichen Syntax am Beispiel komplexer Satzgefüge Zusammenfassendes und Folgerungen Quellen Literatur
Einleitung
Gibt es eine Syntax der Kanzleisprachen? Diese Frage, die scheinbar den gesamten nachfolgenden Beitrag infrage stellt, gleich zu Beginn zu formulieren, scheint auf den ersten Blick nur wenig geschickt. Sie hat allerdings auf den zweiten Blick durchaus ihre Berechtigung, da sie nach dem originären Gegenstand einer Syntax der Kanzleisprachen fragt und insofern zuvorderst und zwingend beantwortet werden muss. Anders formuliert könnte die Frage auch lauten: Wie unterscheidet sich denn grundsätzlich eine mittelhochdeutsche, frühneuhochdeutsche oder mittelniederdeutsche Syntax von einer Syntax der Kanzleisprachen? Da davon auszugehen ist, dass prinzipiell sämtliche syntaktischen Möglichkeiten der jeweiligen synchronen sprachlichen »Zustände« (Coseriu 1974, 99) auch in Kanzleitexten realisiert werden, dürfte eine streng empirisch induktiv ausgerichtete, deskriptive und phänomenorientierte Syntax der Kanzleisprachen zu denselben Ergebnissen gelangen, so dass sich der Gegenstand einer Syntax der Kanzleisprachen tendenziell aufheben würde. Dieser unterstellte Befund erstaunt allerdings, denn trotz aller rezenten forschungspraktischen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einer Syntax der Kanzleisprachen1 sowie genereller Probleme einer historischen Syntax des Deutschen (vgl. Ziegler 2003,
1
Forschungspraktische Schwierigkeiten stellt in erster Linie u. a. ein bisher immer noch fehlendes nach zeitlichen, sprachgeographischen Kriterien, aber etwa auch nach Kanzleigröße und -art gewichtetes Korpus kanzleisprachlicher Texte dar.
232
II. Gebiete und Phänomene
220f.) wird doch in nahezu jeder sprachhistorischen Darstellung auf die Bedeutung der Kanzleien, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung zu einer neuhochdeutschen Syntax, nachdrücklich aufmerksam gemacht. Überschaut man die vorliegende sprachhistorische Literatur zu dieser Thematik, scheint es doch gerade so, dass nicht sämtliche syntaktische Möglichkeiten des jeweiligen Sprachsystems zu einer Zeit in Kanzleitexten im selben Maße realisiert werden wie in anderen Textformen, sondern dass offenbar bestimmte syntaktische Konstruktionen – zumindest frequentiell – für die Kanzleisprachen typisch sein sollen. Hier findet scheinbar eine Auswahl statt und dies bedeutet, wir haben es aus varietätenlinguistischer Perspektive mit einer Präferenz von bestehenden Varianten aus dem System zu tun. Beim Versuch, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie also eine kanzleisprachliche Syntax ausgesehen haben mag bzw. darzustellen ist, kann es daher also nur darum gehen, zu klären, welche syntaktischen Möglichkeiten des Systems präferentiell in höherem Maße in Kanzleitexten im Vergleich zu anderen Texten realisiert sind und in welchen Kanzlei-Textsorten sie dabei für welche Sprachhandlungen verwendet werden. Eine derart konstituierte Syntax wäre in diesem Sinne dezidiert pragmatisch orientiert, insofern sie zuvorderst den Aspekt der kommunikativen Verwendung syntaktischer Einheiten ins Auge fasst und nach »Mengen funktional äquivalenter Äußerungsformen« (Hundsnurscher 2002, 88) sucht. Über einen Vergleich von Äußerungsformen unter grammatischen Gesichtspunkten kann schließlich die funktionale Belastung einzelner syntaktischer Konstruktionsformen herausgearbeitet werden und ihr Beitrag zur illokutionären Funktion bestimmter Typen und Äußerungsformen explizit gemacht werden (vgl. ebd.).2 Allerdings: Eine Syntax der Kanzleisprachen – gleich welcher theoretischen Ausrichtung folgend –, die das Diktum von der Kanzleisyntax rechtfertigen würde, liegt bis heute nicht vor! Ziel des vorliegenden Beitrags kann es daher natürlich auch nicht sein, Versäumnisse der Vergangenheit in einem Handbuch aufzuarbeiten und wohlmöglich eine Syntax der Kanzleisprachen nun an dieser Stelle zu skizzieren oder gar vorzulegen. Dies erfordert schlicht größere Forschungsanstrengungen, die wohl nur schwerlich von Einzelpersonen geleistet werden können. Nichtsdestotrotz soll im Weiteren auf die Notwendigkeit der Erarbeitung einer solchen Syntax nachdrücklich hingewiesen werden.
2.
Communis opinio – Die Behandlung der kanzleisprachlichen Syntax in allgemeinen sprachgeschichtlichen Darstellungen und Lehrbüchern
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher nicht, im Sinne eines detaillierten Forschungsberichts einen vollständigen Überblick darüber zu geben, was bisher im Detail über kanzleisprachspezifische Syntax geforscht worden ist. Es wird vielmehr der Frage nachgegangen, welche Forschungsergebnisse Eingang in gängige Handbücher der historischen Grammatik des Deutschen und in Darstellungen der Geschichte der deutschen
2
Erste Überlegungen zu einer pragmatischen Syntax im Zusammenhang mit den älteren Sprachstufen des Deutschen bieten u. a. Schmid (2005), Ziegler (2005), Habermann (2010).
16. Syntax
233
Sprache gefunden haben. Denn was sich dort findet, darf als Indikator dafür gelten, was im Fach Germanistik aktuell als communis opinio gilt. 2.1.
Kanzleisprachen und kanzleisprachliche Syntax in älteren Handbüchern und Sprachgeschichten
In der älteren Forschung wurden die Kanzleisprachen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit vorwiegend unter dem Aspekt gesehen, inwieweit sie den überregionalen Sprachausgleich beförderten. Syntaktisches wurde in solchen Zusammenhängen nur ausnahmsweise thematisiert. Im Vordergrund stehen, sieht man ältere Sprachgeschichten durch, vor allem lautlich-graphematische Verhältnisse und Entwicklungen, daneben allenfalls lexikalische Aspekte. So enthält die materialreiche Darstellung von Adolf Socin (1888, 146ff.) ein Kapitel über »die kaiserliche Kanzleisprache, ihre Ausbildung und ihre Verbreitung«, im Anschluss (ebd., 169ff.) ein weiteres mit dem Titel »Die Erhebung der Kanzleisprache zur gemeindeutschen Literatursprache und ihr Kampf mit den Dialekten«. Syntaktisches wird nirgendwo angesprochen. Virgil Mosers (1909) Monographie über die »frühneuhochdeutschen Schriftdialekte« enthält zwar auch ein sehr knappes Kapitel über die »Satzlehre« (ebd., 222ff.). Aspekte der Kanzleisprachen werden darin jedoch nicht thematisiert. Hermann Hirt (1925) begnügt sich mit der Bemerkung, schon Luther habe »die Kanzleiwörter bekämpft und die ganze unnatürliche Ausdrucksweise des Kanzleistils« (ebd., 201). Man kann diese Bewertung wohl auch auf die Syntax von Kanzleitexten beziehen. In Einzeldetails konkret wird dagegen Otto Behaghel in seiner Sprachgeschichte (1928). Er weist auf »zahlreiche neue Präpositionen« hin, die »freilich größtenteils nur der Schriftsprache, zumal der Kanzleisprache angehören wie kraft, laut, maszen, mittelst, trotz, vermöge, während, wegen, um – willen« (ebd., 51f.). In anderem Zusammenhang wird der »Tonfall der Satzschlüsse«, der »den lateinischen Kursus« nachahme, als syntaktisch-rhetorisches Stilmittel bezeichnet (ebd., 271). Dieser Bezug zum Lateinischen ist auch an anderen Stellen thematisiert, wobei stets davon ausgegangen wird, dass zumindest zu Beginn der kanzleisprachigen Vertextung in der Volkssprache vielfach lateinische syntaktische Muster übernommen wurden, da die deutsche Sprache bis zu diesem Zeitpunkt noch keine gleichwertige syntaktische Norm entwickelt hatte (vgl. Guchmann 1969, 78; Admoni 1980; Drücke 2001, 240f.). Die Untersuchungen von Schulze (1975; 1991) widersprechen in ihren Befunden allerdings solchen Auffassungen. Gerade in den Urkunden, also einer bereits zu Beginn der volkssprachigen Überlieferung hochgradig formalisierten Textsorte, die zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange lateinische Tradition aufweist und insofern für eine Übernahme lateinischer syntaktischer Muster und damit verbunden der Ausprägung einer lateinischen Lehnsyntax besonders empfänglich sein sollte, ist das genaue Gegenteil der Fall. Die deutschsprachigen Urkunden zeichnen sich im kontrastiven Vergleich zu den lateinischen Vorläufern sowie Parallelurkunden durch eine weitgehende syntaktische Eigenständigkeit aus, so dass syntaktische Latinismen kaum zu beobachten sind.3
3
Ausführlich zum Zusammenhang Deutsch – Latein vgl. auch den Beitrag 21 von Schulze.
234
II. Gebiete und Phänomene
In der nach wie vor unentbehrlichen historischen Syntax von Otto Behaghel (1923– 1932) werden, anders als in seiner Sprachgeschichte, typisch kanzleisprachliche Satzoder Satzteilstrukturen allerdings nicht thematisiert. Auch in Walter Henzens (1954) Buch über das Verhältnis von Schriftsprache und Mundarten stehen im einschlägigen Kapitel über »Urkunden- und Kanzleisprache« (ebd., 66ff.) vor allem phonetisch-graphematische Ausgleichsprozesse im Vordergrund. Nebenbei verweist Henzen auf die rhythmische Gestaltung von Satzschlüssen (»Cursus«), »die im Stil der päpstlichen Kurie ihre bereits tausendjährige Geschichte hatte« (ebd., 74). Dazu nennt er als Charakteristikum der Kanzleisprache einen »übermäßigen Formelsegen«, der »von der einfachen Zwillingsformel (ganz und stete, alle die disen brief sehen oder hören lesen) bis zu komplizierten Satzfügungen« (ebd., 81) reiche. Eine entsprechende Formelhaftigkeit glaubt er auch auf lexikalischer Ebene zu erkennen. Die Rede ist von »starren Kanzleiblüten«. Die voluminöse »Deutsche Philologie im Aufriss«, eine Art germanistischer »Summa Philologiae« der Nachkriegszeit, enthält einen Beitrag »Frühneuhochdeutsch« von Arno Schirokauer (1957) mit einem Abschnitt über »Urkunden-, Kanzlei- und Geschäftssprache« (ebd., 860ff.). Das Urteil über die Syntax der Kanzleisprachen fällt vernichtend aus: Die »Schriftsätze liefern Listen einer vielleicht pedantischen, vielleicht magischen Zwei- und Dreigliedrigkeit juristischer Termini. Im Übrigen wird die Magerkeit ihres geistigen Inhalts nur wettgemacht durch eine unendliche Fülle graphischer Einzelheiten« (ebd., 861). Auf die Formelhaftigkeit der Kanzleisyntax zielt die Bemerkung ab, »nur im Bereich des Gerichts« existiere, »was sie umständlich und gespreizt ›tun kund zu wissen‹« (ebd.). Kanzleideutsch war demzufolge »Deutsch mit einem Kratzfuß«, und selbst ein herausragender Autor wie Steinhöwel reite »in den Widmungen die hohe Schule eines geschraubten Kanzleideutsch« (ebd.). Ähnlich die Bewertung bei Adolf Bach (1965). Für ihn ist »konservativer, ja reaktionärer Geist« (ebd., 295) ein Kennzeichen der Kanzleisprachen. Das wird allerdings nicht an syntaktischen Gegebenheiten festgemacht, sondern an Schreibungen wie Jena oder Fulda (mit finalem -a) und an noch heute gebräuchlichen Wortformen wie z. B. dero, desto. Hugo Moser (1969) erörtert in erster Linie allgemeine Aspekte wie die Entstehung der spätmittel- und frühneuhochdeutschen Kanzleisprache (n) und thematisiert wie auch Hans Eggers (1986) vor allem die lautlichgraphematische und morphologische Beschaffenheit. Syntaktisches kommt bei Moser überhaupt nicht, bei Eggers nur ansatzweise zur Sprache. Er nennt Doppel- und Dreifachformeln als kanzleitypische Züge (vgl. ebd., 103). Kaum eine der älteren Sprachgeschichts- und Grammatikdarstellungen lässt im Zusammenhang mit der Behandlung von Kanzleisprachen den Stand der neuhochdeutschen Mono- und Diphthongierung unerwähnt. Teilweise kommt Morphologisches zur Sprache, vereinzelt auch die Lexik. Gelegentlich wird Luthers berühmtes Diktum über sein Verhältnis zur Meißnischen und zur kaiserlichen Kanzlei zum Anlass genommen, zu fragen, inwieweit einzelne Kanzleisprachen (die Prager oder die sächsische) das Lutherdeutsch antizipiert oder zumindest den Weg dorthin geebnet haben. Syntaktisches spielt allenfalls am Rande eine Rolle. Wenn kanzleisprachspezifische Syntax überhaupt angesprochen wird, wird der formelhafte oder übermäßig komplizierte syntaktische Stil mehr bemängelt als begründet. Ein wichtiger Grund dafür dürfte sein, dass in der junggrammatisch geprägten historischen Grammatikschreibung, die auch die ältere Sprach-
16. Syntax
235
geschichtsschreibung insgesamt prägte, die historische Laut- und Formenlehre im Vordergrund stand. Die Mittelhochdeutsche Grammatik von Hermann Paul erhielt zwar ab der 14. Auflage von 1944 eine »Satzlehre« von Otto Behaghel. Kanzleisprachen spielen auch hier keine Rolle, was natürlich damit zusammenhängt, dass sich die Grammatik des Mittelhochdeutschen zu dieser Zeit (und noch lange danach) vorwiegend mit Werken der Klassik befasste und kaum mit der deutschen Urkundensprache, die ja für das 13. Jahrhundert bereits gut fassbar gewesen wäre (und die durchaus als frühe Kanzleisprache gelten kann). Im Übrigen ist auch der Syntaxteil der letzten (25.) Auflage der Grammatik von Hermann Paul (2007) so gut wie urkundensprachfrei. 2.2. Kanzleisprachen und kanzleisprachliche Syntax in neueren Handbüchern und Sprachgeschichten Neuere Darstellungen (etwa seit den 1980er Jahren) legen im Zusammenhang mit der Behandlung von Kanzleisprachen den Akzent verstärkt auf deren sozial- und rechtshistorische Verankerung. Wiederholt wird auch darauf hingewiesen, dass »hauptberufliche« Kanzleischreiber »nebenberuflich« als Autoren oder Übersetzer tätig waren. Als Prototyp des literarisch ambitionierten Kanzlisten gilt Johannes von Tepl, der Verfasser des Ackermann aus Böhmen. Solche Querverbindungen zwischen »literarischem« und kanzleimäßigem Schreiben thematisiert (u. a.) auch der englische Germanist Christopher J. Wells (1990), der in verschiedenen Kapiteln seiner »Sprachgeschichte bis 1945« auf kanzleisprachliche Gegebenheiten eingeht. Im Abschnitt über »Kanzleistil« (ebd., 136ff.) nennt er als Charakteristika der Kanzleisyntax komplexe Satzperioden »mit ihrer Zwei-, Drei- und Mehrgliedrigkeit aus parallel gebauten Satzteilen« (ebd., 136f.), dazu »oft schwerfällige deiktische Partikeln […] wie obgenannt, selbige, vorgenannt, ehgenannt«, die »die ästhetische Wirkung beeinträchtigen, indem sie Präzision auf Kosten der Klarheit erreichen« (ebd., 137). Gerade der mehrgliedrige Ausdruck wird an verschiedenen Stellen immer wieder als eine wesentliche syntaktische Erscheinung der Kanzleisprachen angesehen; allerdings ist dieser etwa auch im Deutsch der Humanisten häufig zu belegen und dürfte insofern wohl nur eingeschränkt als Kennzeichen kanzleisprachlicher Syntax im Sinne einer differentia specifica anzusehen sein (vgl. Drücke 2001). Als weitere Spezifika der kanzleisprachlichen Syntax führt Wells die Nichtsetzung von Artikeln (wie noch heute Kläger, Beklagter oder Unterzeichneter statt der Kläger, der Beklagte oder der Unterzeichnete) an, ferner die Konservierung des Objektsgenitivs (vgl. ebd., 250f.), die Differenzierung von daz / das als Artikel und Subjunktion, die Herausbildung komplexer Subjunktionen wie als daß, auf daß, bis daß (u. a.), die Tendenz zur Verbletztstellung in abhängigen Sätzen (vgl. ebd., 275f.), in Zusammenhang damit auch zum Satzrahmen (vgl. ebd., 279) und schließlich Besonderheiten der Negation (vgl. ebd., 281). Während also in der Mittelhochdeutschen Grammatik von Hermann Paul auch nach ihrer Erweiterung um ein Syntaxkapitel kanzleisprachliche Gegebenheiten kaum Berücksichtigung fanden (s. o.), räumt die Frühneuhochdeutsche Grammatik von Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993) dem Schreibusus der Kanzleien insgesamt und
236
II. Gebiete und Phänomene
damit auch der kanzleispezifischen Syntax beträchtlichen Raum ein. Als kanzleisprachentypisch gelten z. B. spezifische Strukturtypen im Bereich der Nominalgruppe wie Nichtsetzung und Positionierung des Artikels (§ S 6, 17), bestimmte Stellungsvarianten von Adjektiv-, Partizipial- und Genitivattributen (§ S 19, 22, 24, 42, 72), »adverbial gebrauchte Partizipien mit Genitiv« wie unangesehen, unbeschadet, unerwartet (§ S 88, 133), die man wohl besser als »präpositional gebrauchte Partizipien« bezeichnet sollte, die Verwendung bestimmter Periphrasen (§ S 174f.), besondere Konstruktionen mit Infinitiv oder Partizip (S § 188, 195, 205, 209f.), Besonderheiten der Satztopologie (§ 246, 249) und der Struktur des Verbalkomplexes (§ S 252, 257) sowie bestimmte syntaktische Subordinationsarten (§ S 266, 268, 306, 317). Diese Aspekte sind teilweise bereits in der Historischen Syntax von Robert Peter Ebert (1986) behandelt worden. Auch für Peter von Polenz (2000) sind hypotaktische Strukturen von hohem Komplexitätsgrad Merkmale der Urkunden- und mithin der Kanzleisyntax (vgl. ebd., 185). Die strikte Handhabung des Rahmenprinzips wurde »zum amtlichen bzw. gelehrten Prestigemuster« (ebd., 190). Im selben Jahr wie dieser erste Band der Sprachgeschichte von Peter von Polenz erschien auch der zweite Teilband der Sprachgeschichte im Rahmen der HSK-Serie (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaften) mit einem ohnehin sehr kurzen Beitrag von Rudolf Bentzinger (2000) zum Thema »Kanzleisprachen«. Syntaktisches kommt darin nur beiläufig im Abschnitt »Stilistische Grundzüge der Kanzleisprachen« zur Sprache. Die Syntax sei, so heißt es »vielgestaltig und dem gehobenen schreibsprachlichen Stil verpflichtet« (ebd., 1668). Hingewiesen wird – unter Rekurs auf Ursula Schulze (1975) – auf die komplexe Syntax, die aber keine sklavische Nachahmung lateinischer Strukturen sei, und auf regional unterschiedliche Invokationsformeln. Damit hat es in diesem Beitrag, was speziell die Kanzleisyntax angeht, sein Bewenden. In der letzten Auflage der Sprachgeschichte von Wilhelm Schmidt (2007) wird beispielsweise »Kanzlei- / Geschäftssprachen« im Rahmen eines übergeordneten Kapitels »Kommunikationsgruppen und Funktiolekte im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit« (ebd., 111f.) thematisiert, ohne jedoch auf grammatische Einzelheiten einzugehen. Die Sprachgeschichte von Hans Ulrich Schmid (2009) schließlich enthält einen Abschnitt »Die Kanzleien – ›Kompetenzzentren‹ in Sachen Schreiben« (ebd., 45f.), in dem als »Merkmale der Kanzleisprache« im syntaktisch-stilistischen Bereich lange, komplexe Satzperioden […] jedoch zumeist mit klarer Strukturierung, mit Endstellung des finiten Verbs in abhängigen Sätzen und teilweise komplexen Sub- und Konjunktionen […], mit denen das inhaltlich-logische (kausale, konditionale, adversative, finale, konsekutive, modale) Verhältnis zwischen Aussageteilen präzise zum Ausdruck gebracht wird. (Schmid 2009, 46)
Die syntaktische Komplexität wird mit der Notwendigkeit sprachlicher Explizitheit begründet.
16. Syntax
2.3.
237
Kanzleisprachen und kanzleisprachliche Syntax in der jüngeren Forschung
Auch in der jüngeren Forschung bleiben syntaktische Untersuchungen zu Kanzleitexten die Ausnahme. Ein Blick in die Bibliographie zur Kanzleisprachenforschung im 19. und 20. Jahrhundert, die Arbeiten bis zum Jahr 2000 erfasst, zeigt, dass unter den ohnehin nur spärlich belegten Untersuchungen zu grammatischen Fragen lediglich ein geringer Anteil die Syntax betrifft (vgl. Meier / Ziegler 2002). Von insgesamt 1.028 verzeichneten Arbeiten zur Kanzleisprachenforschung widmen sich gerade einmal 110 Untersuchungen der Grammatik im weitesten Sinne, was einem Anteil von 11 % entspricht.4 Von diesen 11 % sind es wiederum nur 27 Arbeiten, die sich ausdrücklich syntaktischen oder morphosyntaktischen Fragestellungen zuwenden (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Prozentuale Verteilung der grammatischen Arbeiten in verschiedene Untersuchungsbereiche5
Relativiert werden muss die Aussagekraft der syntaktischen Untersuchungen überdies, wenn man berücksichtigt, dass nahezu ausschließlich Untersuchungen zu Einzeltexten und / oder einzelnen Kanzleien und / oder Schreiborten und / oder einzelnen Schreiber-
4 5
Hier sind allerdings nur solche Arbeiten erfasst, die einen grammatischen Bezug im Titel explizit erkennen lassen und somit eine gesicherte Zuordnung ermöglichen. Als allgemein grammatisch sind jene Arbeiten bezeichnet, die bzgl. ihres grammatischen Untersuchungsgegenstandes anhand des Titels nicht näher spezifiziert werden konnten.
238
II. Gebiete und Phänomene
persönlichkeiten aus dem Zeitraum zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert vorliegen, die mitunter zu ganz verschiedenen Ergebnissen gelangen (vgl. Meier / Ziegler 2002; Ziegler 2009). Bezieht man etwa die sprachgeographischen Grenzen des Deutschen in mittelhochdeutscher, frühneuhochdeutscher und mittelniederdeutscher Zeit ein und überträgt diese auf die heutige nationalstaatliche Einteilung Europas, so liegen unter Berücksichtigung aller belegten Arbeiten zur Kanzleisprachenforschung im genannten Zeitraum Untersuchungen zu Kanzleien aus 17 Staaten und einer Großregion, nämlich dem Baltikum, vor, wie die nachfolgende Graphik zeigt (Abb. 2 entnommen aus Meier / Ziegler 2008, 25): 1 Luxemburg 1 1 Frankreich
3 3
Estland
5 7
Italien
8 9 10
Niederlande
31 32
Rumänien
35 41
Schweiz
100 106
Tschechien
184 438
Deutschland 0
50
100
150
200
250
300
350
400
450
500
Abb. 2: Belegdichte aller Arbeiten zur Kanzleisprachenforschung im 19. und 20. Jahrhundert
Eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse im Hinblick auf generelle Aussagen zu syntaktischen Strukturen der Kanzleisprachen ist somit natürlich nur sehr bedingt gegeben. Auch in jüngster Zeit bleibt diese Heterogenität im Hinblick auf zugrundeliegende Korpora, methodisches Vorgehen, theoretische Grundannahmen, regionale Zuordnung, zeitliche Einordnung für syntaktische Untersuchungen zur kanzleisprachigen Syntax bestehen. Dabei suchen verschiedene Autoren zumeist den Anschluss an traditionelle Thesen – etwa im Zusammenhang mit Aussagen zur Komposition des Ganzsatzes, zum Verhältnis Parataxe und Hypotaxe, zur Komplexität der Nominalgruppe sowie des Verbalkomplexes (s. o.) – und überprüfen diese an unterschiedlichen Korpora und unterschiedlichen kanzleisprachigen Textsorten. Einige Beispiele sollen diese disparate Forschungslage verdeutlichen. So stellt z. B. Kretterová (2001) in einer topologischen Untersuchung für verschiedene mittelslowakische Texte im Anschluss an Behaghel
16. Syntax
239
(1923–1932) und MasaĜík (1985) fest, »dass die Rahmentendenzen im Gliedsatz des Frühneuhochdeutschen bestätigt wurden« (Kretterová 2001, 164). An anderer Stelle kommt sie im Zusammenhang einer syntaktischen Analyse des ältesten Stadtbuches von Bratislava / Pressburg – also einem Kanzleitext aus der Westslowakei – zu dem Schluss, dass im Hinblick auf die Realisierung des Satzrahmens der Stellungstyp mit partiell gebildetem Rahmen am häufigsten zu beobachten ist (vgl. Kretterová 2008, 67). Ein Konstruktionstyp, den Wiktorowicz (2001) ebenfalls dominant in Kanzleitexten in Krakau beobachtet, allerdings als typisch für die Krakauer Kanzleisprache annimmt, insofern er nach Aussagen von Admoni (1967, 184ff.), Ebert (1980, 383ff.; 1986, 105ff.) und Margetts (1969, 53ff.) nicht mit der üblichen Tendenz im frühneuhochdeutschen Sprachraum übereinstimmt, nach der der vollständig ausgeprägte Rahmen im 14., 15. und 16. Jahrhundert die vorherrschende Form darstellt. Er kommt zu dem Schluss: »Die Befunde der Krakauer Kanzleisprache stehen […] im Gegensatz zu dem übrigen frühneuhochdeutschen Sprachraum und zu den Entwicklungstendenzen im syntaktischen Bereich der damaligen Zeit« (Wiktorowicz 2001, 218). Die vermeintliche Sonderstellung der Krakauer kanzleisprachigen Syntax, die offensichtlich einen älteren Sprachstand widerspiegelt, erklärt er mit der Sprachinsellage der Stadt und dem Einfluss des Polnischen – ein Befund, der sicherlich für Bratislava / Pressburg nicht anzunehmen ist. Auch Dogaru (2003) sucht den Anschluss an Admoni und konstatiert für einen Kanzleitext aus Siebenbürgen u. a., dass der Einfachsatz einen relativ einfachen Satzbauplan aufweist, jedoch aufgrund verschiedener textverknüpfender Elemente eine bedeutende Rolle für die Rezeption spielt, Parataxe und Hypotaxe Verwendung finden und über 90 % aller abhängigen Elementarsätze eingeleitet sind (vgl. Dogaru 2003, 184). Bassola (2003) widmet sich der topologischen Ordnung des Verbalkomplexes auf Basis eines selbst zusammengestellten Korpus verschiedener Kanzleitexte, d. h. auch verschiedener Textsorten unterschiedlicher Provenienz aus dem spätmittelalterlichen Ungarn des 14. und 15. Jahrhunderts. Er konstatiert zum einen die Tendenz der Nachstellung des Finitums im zweigliedrigen Verbalkomplex, während er für dreigliedrige Verbalkomplexe eine freie Variation der topologischen Ordnung feststellt (vgl. Bassola 2003, 197). Diese Untersuchungen bauen im Grunde auf seinen Analysen zum Ofner Stadtrecht auf und ergänzen diese (vgl. Bassola 1985). Die hier für den hochdeutschen Sprachraum lediglich angedeuteten Befunde gelten allerdings gleichermaßen für Kanzleien des Niederdeutschen. Trotz einiger vorliegender Arbeiten zum Mittelniederdeutschen (vgl. etwa Rösler 1997; Bieberstedt 2005), die auch syntaktische Aspekte der Kanzleisprachen berücksichtigen, hält Peters (1987, 85) fest: »Die mnd. Syntax wurde bisher nur unzureichend auf Variabilität hin erforscht.« Dieser Befund scheint auch heute noch uneingeschränkt Gültigkeit zu haben, so dass auch hinsichtlich einer umfassenden syntaktischen Untersuchung mittelniederdeutscher Kanzleitexte gegenwärtig noch erhebliche Desiderata bestehen. Neben den skizzierten eher in klassischer Tradition stehenden Arbeiten, deren Verdienst dadurch natürlich keinesfalls geschmälert ist, finden sich in jüngster Zeit auch vermehrt syntaktische Untersuchungen zur Kanzleisprache, die im Zuge neuerer theoretischer Ansätze und damit verbunden veränderter methodischer Zugriffsweisen zu verorten sind.
240
II. Gebiete und Phänomene
Neue Impulse erhielt die Erforschung kanzleisprachlicher Syntax dabei vor allem aus dem Bereich der Textlinguistik und der Historischen Pragmatik.6 Dies ist wohl in erster Linie damit zu begründen, dass gegenwärtig generell kaum eine syntaktische Analyse dezidiert von pragmatischen, textlinguistischen oder soziolinguistischen Faktoren abstrahiert und ausschließlich sprachformale Kriterien in der Untersuchung berücksichtigt. »Ganz im Gegenteil: Es scheint, dass eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit sprachlichen Äußerungen in historischen Zusammenhängen eine integrative Perspektive auf Sprache geradezu verlangt« (Ziegler 2010, 2) und insofern stärker als zuvor versucht wird Aspekte des Sprachgebrauchs an solche des Sprachsystems anzubinden, d. h. eine pragmatische Perspektive zumindest mitzudenken. Beispielhaft genannt sei die Arbeit »Das Frühneuhochdeutsche in der Olmützer Stadtkanzlei. Eine textsortengeschichtliche Untersuchung unter linguistischem Aspekt«, in der sich Spáþilová (2000) explizit und nach kanzleisprachlichen Textsorten differenziert den syntaktischen Strukturierungen des Kanzleischrifttums widmet. Sie weist die verwendeten syntaktischen und lexikalischen Mittel konsequent den jeweiligen Formulierungsmustern mit einer textsortenspezifischen inhaltlichen Struktur zu, d. h. erfasst das Repertoire syntaktischer kanzleisprachlicher Möglichkeiten in Verbindung mit den jeweiligen sprachlichen Routinen und weist somit gleichsam einen ersten Schritt in Richtung einer pragmatisch orientierten syntaktischen Untersuchung kanzleisprachlicher Texte. Auch Rainer Hünecke (2009) erkennt in einer kleineren Untersuchung zum ältesten Dresdner Stadtbuch solche schreiberunabhängigen textsortenspezifischen syntaktischen Formulierungshandlungen. Er führt diese auf entsprechende Traditionen in der Verschriftlichung existierender Rechtsdiskurse zurück (vgl. Hünecke 2009, 168). Eine pragmatische Orientierung prägt ebenfalls die Arbeit von Arne Ziegler (2003), der das gesamte Kanzleischrifttum der Pressburger Kanzlei von den Anfängen bis zum Jahre 1500 untersucht. Zwar ist seine Arbeit ebenfalls primär im Rahmen einer Historischen Textlinguistik zu verorten7, die von ihm ermittelten Textmuster folgen aber im Grunde dem Ansatz einer pragmatischen Syntax, die sich aufgrund der inhärenten Schwierigkeiten einer historischen Syntax vom Satzbegriff gelöst hat. Auch aktuell begegnen in der Folge nun häufiger Arbeiten zur Kanzleisprachenforschung, die eine pragmatisch orientierte Perspektivierung in den syntaktischen Analysen vertreten. So etwa Peter Ernst (2011) in einem Aufsatz zur syntaktischen Variation in Wiener Ratsurkunden vom 13. bis 15. Jahrhundert oder auch Claudia Greul (2011) in ihrem Beitrag »Der Schreibusus in steirischen Kanzleitexten an der Schwelle zum Neuhochdeutschen«.
6 7
Zum Einfluss der Textlinguistik sowie der Pragmatik auf die Kanzleisprachenforschung generell vgl. die Beiträge 17 von Ernst und 18 von Schuster. Vgl. ausführlich den Beitrag 18 von Schuster.
16. Syntax
2.4.
241
Zusammenfassendes zum Forschungsstand
Grundsätzlich ist in Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen an dieser Stelle davon auszugehen, dass sowohl die satzsyntaktische als auch die textsyntaktische Strukturierung kanzleisprachlicher Texte durch spezifische formal-grammatische Merkmale gekennzeichnet sind, etwa durch ein reichhaltig vorhandenes Reservoir an Partikeln und Konjunktionen (vgl. Ziegler 2009). Resümiert man die wiederholt genannten syntaktischen Charakteristika, die für Kanzleisprachen symptomatisch sein sollen, ergibt sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die nachfolgende stichpunktartige Liste: – – – – – – – – – –
Komplexe Satzgefüge Syndetische Reihungen von Nominalgruppen Zunehmend hypotaktische Konstruktionen Besonderheiten der Negation Artikelreduktion Auffälligkeiten im Partizipialgebrauch Formelhaftigkeit in den Syntagmen (Reihungen, syntaktische Parallelismen usw.) Intensiver Ausbau der Nominalgruppe durch Attribuierungen, Nominalklammer Dominanz des vollständig realisierten Rahmens beim mehrteiligen Prädikat Festigung der Verbstellung in Haupt- und Nebensatzkonstruktionen
Nicht alle diese in der Literatur wiederkehrenden Annahmen erfuhren bisher allerdings eine kritische Überprüfung am Material, sondern wurden oftmals vielmehr als sprachhistorisches Faktum behandelt. Zwar soll nicht bezweifelt werden, dass z. B. komplexe Satzgefüge auch in kanzleisprachlicher Syntax vorfindlich sind, inwiefern diese aber als differentia specifica gelten können, d. h. als distinktives Merkmal die Syntax von Kanzleitexten gegenüber der Syntax anderer Texte abgrenzbar machen, scheint bislang nur unzureichend beantwortet. Schwitalla (2002) geht jedenfalls in seinem Aufsatz »Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil. Aufstieg und Fall eines sprachlichen Imponierhabitus« davon aus, dass das syntaktische Vorbild der Kanzleisprachen bis ins 17. Jahrhundert hinein als »unbezweifelt akzeptierte Form einer hohen und würdigen Diktion« (Schwitalla 2002, 387) galt, die eben nicht nur in Kanzleitexten, sondern auch in wissenschaftlichen, literarischen Texten, ja sogar in Gedichten und Liebesbriefen gepflegt wurde. Auf dieses Faktum verweist zuvor auch Bentzinger und führt als Begründung aus: »Die Vorbildwirkung der Kanzleisprachen bis ins 17. Jh. hinein ist auch durch ihre strenge Normierung von Anfang an zu erklären […]« (Bentzinger 2000, 1668; vgl. Ziegler 2009). Im Folgenden soll daher exemplarisch und stichprobenartig überprüft werden, inwieweit tatsächlich komplexe Satzgefüge als ein Charakteristikum kanzleisprachlicher Syntax im vorgenannten Sinne anzunehmen sind.
242
3.
II. Gebiete und Phänomene
Probleme einer kanzleisprachlichen Syntax am Beispiel komplexer Satzgefüge
Konkrete Angaben zur Komplexität der kanzleisprachlichen Satzgefüge finden sich etwa in Schulze (1991, 145f.), die in einer Münchener Urkunde aus dem Jahre 1294 aus der Kanzlei der Herzöge von Oberbayern einen Ganzsatz mit zehn Teilsätzen – fünf vor und fünf nach dem finiten Verb des Hauptsatzes und dabei eine bis zu dreifache Einbettung belegt, oder auch bei Admoni (1980, 42ff.), der in einem Schreiben des Erzherzogs von Trier aus dem Jahre 1411 einen Ganzsatz mit 39 Teilsätzen und bis zu 15-facher Einbettung vor dem Hauptsatz bei insgesamt 790 Wortformen zählt. Die 39 Teilsätze waren dabei sämtlich durch Rechtsverschiebung des finiten Verbs oder durch Konjunktionen als Nebensätze markiert – so Admoni (vgl. Ziegler 2009). Einen ganz ähnlichen Befund konstatiert Schwitalla (1983) in einem Schreiben König Maximilians I. an die Reichsstände aus dem Jahre 1498. Er beobachtet hier einen Ganzsatz mit 14 Teilsätzen und bis zu fünffacher Einbettung (vgl. ebd., 236ff.). Dogaru (2010) untersucht die Ganzsätze in Hermannstädter Ratsprotokollen in der Zeit von 1556 bis 1562 und ermittelt unter den 135 beobachteten Satzgefügen u. a. ein Satzgefüge mit 16 Gliedsätzen und eine Tiefenstaffelung der Satzgefüge bis zu einem Gliedsatz sechsten Grades (vgl. ebd., 695f.). Auch Marija Javor Briški hält mit Blick auf Eintragungen von Liegenschaftskäufen in das älteste Gerichtsbuch von Kranj (1517–1520) fest: »Aus syntaktischer Perspektive sind komplexe Sätze kennzeichnend.« Was den Autoren im Hinblick auf die syntaktische Gestaltung kanzleisprachlicher Texte offensichtlich vor Augen steht, sind Konstruktionen wie im folgenden Beispiel exemplarisch dargestellt.8 (1)
8
Es sein fur vns kumen Jn vns[er]n Rat Cunrad Kyczmag[e]n dye=czeit vnser Statrichter vnd jost laspot vnd Jorig Turss vns[er] mitgesworn Burger vnd haben vor vns bekant Das haynreich Vnd Gatl sein Swester des Mathes von Naytraw kynder jn den czeiten als se nu czu Jaren Jrer Vornuft kumen sein vor Jn vnbetwu[n]g[e]n vnd mit gutem willen mitsampt der Annan Jrer muter vnd mit dem vlreich karl von haimburg Jrem Öh[ei]m bekant haben Also als hensl hönigler Jr Stewpruder dem got genad Jn geschaft hatt 22 phunt News weiss gelts vngriss[cher] müncz vnd weru[n]g vnd dyselben Jnngehabt hat Vl=reich hönigler vnd kunigu[n]d sein hausfraw vncz[e]n czu Jaren der vornuft der obgenan[ten] kynder Das der ebenant haynreich seine 11 phunt vnd dy vorbena[n]t Gatl sein Swester auch ire 11 phunt als der obgenan[ten] Müncz vnd weru[n]g von dem ebenan[ten] vlreich hönigler vnd von kunigu[n]d seiner Hausfraun gancz vnd gar haben eingenumen vnd enphang[e]n mit bereitem gelde vnd haben mit guter vornuft vnd mit gutem willen an Irer vnd an aller irer czukunftiger erben stat Den vorben[anten] Vlreich hönigler kunigu[n]d sein hausfraw vnd alle Ire erben gesprochen vnd gesagt von den obgenan[ten] 22 phuntn der ebenan[ten] müncz vnd vmb alle andre geltschult dy se ader Jr vorgenante Muter czu Jm hat vor czusprechen gehabt frey quitt vnd ledig an allen
Beispiel (1) ist aus Ziegler (2009, 276) entnommen.
16. Syntax
243 ausprach vnd essru[n]g gancz vnd gar ewi=kleich[e]n jnkunftigen czeiten pey iren guten trewen an alles geuere […] (AMB AP / 1.2.a Nr. 1, fol. 193 / 1424)
Deutlich wird an diesem Beispiel natürlich auch die Tatsache, dass die Entscheidung, ob ein komplexes Satzgefüge vorliegt oder nicht, nicht immer zweifelsfrei zu entscheiden ist und vielfach der linguistischen Interpretation unterliegt. Bereits 1986 hält MasaĜík hinsichtlich der syntaktischen Gestaltung kanzleisprachlicher Texte fest, dass »die bisherigen Arbeiten über die deutsche Kanzleisprache […] die syntaktische Problematik entweder überhaupt nicht einbezogen« oder »sie lediglich auf isolierte Teilfragen konzentriert haben« (MasaĜík 1986, 143). Er erklärt dies einerseits damit, dass die Kanzleisprachen des 14. / 15. Jahrhunderts von der traditionellen Rhetorik vorangegangener Jahrhunderte abhängig seien, zum anderen aber sich auch durch Phänomene auszeichnen, die bereits eine Tendenz in Richtung der Entwicklung zur neuhochdeutschen Schriftsprache hin erkennen lassen, so dass sich die Kanzleisprachen in syntaktischer Sicht geradezu in einer ambivalenten Situation befinden. Zu den Phänomenen, die er vor Augen hat, zählt etwa die »zunehmende Unterordnung der Gliedsätze, wobei aber immer noch manche Konjunktionen polysem sind und durch verschiedene Zusatzindikatoren verdeutlicht werden müssen« (ebd. 143). Er erkennt dies damit zusammenhängend, »dass sich die Zone der Übergänge der beiden polaren Begriffe Parataxe und Hypotaxe allmählich ändert« (ebd.) und verweist darauf, dass ein »spezielles Problem der Kanzleisprache auf diesem Gebiet […] u. a. die Klassifizierung der möglichst losen und lockeren Aneinanderreihung der wenig offiziellen Niederschriften« sei (ebd.). MasaĜík spricht hier gleich mehrere Probleme an, erklärt aber das angesprochene Dilemma syntaktischer Urteile in Bezug auf das Satzgefüge mit der Tatsache, dass gerade im Frühneuhochdeutschen die Syntax in einer Situation zwischen Kontinuität und Wandel zu verorten ist, die eine eindeutige Klassifikation – nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Interpunktion im heutigen Sinne, d. h. mit syntaktischer Gliederungsfunktion – geradezu verbietet. Etwas vorsichtiger als die oben angeführten Autoren äußert sich in Bezug auf das Vorkommen komplexer Satzgefüge in Kanzleitexten Johannes Erben (2000) im Handbuch Sprachgeschichte der HSK-Reihe: Der Ausbau von »Elementarsätzen« und auch ihre Verbindung zu zusammengesetzten Sätzen (Satzgefügen) nehmen im Frnhd. erheblich zu, wenngleich daneben Baumuster weniggliedriger Einfachsätze und deren parataktische Reihung wirkungskräftig bleiben […]. Im Funktionalstil kanzleihafter Rechts- und Verwaltungssprache wird nicht selten der Text einer ganzen Urkunde als Satzgefüge organisiert, wobei etwa ein überlanges Satzgefüge aus 44 Elementarsätzen (darunter Nebensätze 15. Grades) an die obere Grenze des Ausbaus reicht und auch in der frnhd. Verwaltungssprache keineswegs eine beibehaltene Norm darstellt. (Ebd., 1589)
Auch Erben greift somit zwar auf die Befunde Admonis (1980) zurück, schränkt aber bereits ein, dass diese keineswegs die Regel seien und durchaus Kanzleitexte überliefert sind, die eben gerade nicht derartige komplexe Satzgefüge aufweisen. Solche Feststellungen sind allerdings in der Literatur nur selten zu finden. Vermutlich aufgrund einer Perspektivierung, die nur das syntaktisch Besondere, die Ausnahme, in den Kanzleitexten
244
II. Gebiete und Phänomene
sucht, nicht aber das Regelhafte, den unmarkierten Fall. Eine solche Sichtweise ist zwar verständlich, verstellt aber allzu leicht den Blick auf die sprachliche Realität. Neben den dargestellten komplexen Satzgefügen sind nämlich in kanzleisprachlichen Texten syntaktische Gefüge weit geringeren Ausmaßes zu beobachten und zwar in wesentlich höherer Frequenz im Vergleich zu komplexen Satzgefügen, wie das folgende Beispiel verdeutlichen kann.9 (2)
Jt[em] Hann[s] Newdarfer vnd Anna sein hawsfraw hab[e]nt gerügt von des Joh[ann]es ires Suns wegen auf eyn halben wayngart[e]n Schön vl genant gelegen auf der Stat gepiet Den hann[s] der Jung list ynne hat vnd ist ir Rüegung (AMB AP / 1.2.a Nr. 1, fol 180 / 1424)
Und überdies begegnen komplexe Satzgefüge aber auch nicht exklusiv in kanzleisprachlichen Texten, wie folgende Beispiele verdeutlichen können:
9 10
(3)
Vgolinus Ǖchreibt das die ein hĤbǕche fraw werd angeǕehen die do iǕt hübǕch vnd geziert vo[n] haubt wolgeǕtalt vo[n] amplick vnd eines fr͗lich[e]n angeǕichtes vo[n] kleinen Ǖubtil[e]n glider[e]n vnd Ǖchmalen leibs weýǕs als milch vnd mĤrb als ein hĤnlein das du Ǖie mit einem nagel des vingers Ǖchneid[e]n magǕt vnd iǕt zĤchtig Ǖchýmpflich vnd Ǖchemig eins Ǖittigen gangs vnd gutter Ǖitten vnd mit tugenden wol geziert dieǕelb fraw Ĥbertrifft weýtt die hĤbǕche der venus vnd iǕt zupreýǕen (von Eyb 1472, fol. 8b; zitiert nach reprographischen Nachdruck 1993, 20)
(4)
Ich hân der geschrift vil gelesen beidiu von den heidenischen meistern und von den wîssagen und von der alten und niuwen ê und hân mit ernste und mit ganzem vlîze gesuochet welhiu diu hoehste und diu beste tugent sî dâ mite der mensche sich ze gote allermeist und aller næhest gevüegen müge und mit der der mensche von gnâden werden müge daz got ist von natûre, und dâ mite der mensche aller glîchest stande dem bilde als er in gote was in dem zwischen im und gote kein underscheit was ê daz got die crêatûre geschuof (Meister Eckart o. J. von abegescheidenheit; zitiert nach Quint 1993, 400f.)
(5)
du hst (fürtreffender vnd wytverrümpter mane) vor langem • als du des yetz genanten mines gnedigosten herren lanthofmaister gewesen bist • min translatze vnd tütschung boecy de consolacione philosophie zĤ meren mlen gelopt vnd mir gerten? die gedruckt, vsz zegeen lssen Vnd als jch das dozeml nit tĤn mocht, vrsachen halb, daz das letscht bĤche nit gantz zĤ end gebrcht was • rietest du • daz jch doch dann etlich ander miner translatzen vnd schriften • die jch in vergangen zyten vß schwerem vnd zierlichem latine nit ne arbeit zĤ tütsch gebracht hett • wölt lssen trucken vnd vsgeen • vmb daz die menschen, vil klĤger dingen dar Inne begriffen • vnd so zewissen gĤt sint ouch antailhäftig werden möchten, vnd ir gemüt zĤ zyten darmit in kurtzwyle ergetzen (von Wyle 1478, fol.3b; zitiert nach Graham 2006)10
Beispiel (2) ist aus Ziegler (2009, 279) entnommen. • = Virgel
245
16. Syntax
(6)
Dieser red will ich dir ein Exempel setzen / von eynem vnerfarnen balbierer oder scherer / wie man sy dañ nennet (dañ diß v͗lcklin allein / sich diser zeit der wundartznei vnderwindet) disem kam ein verwundter für / mit einer zimlichen breyten wunden im waden / welche gåntzlich vom lufft / dann sy lange zeyt vnuerbunden bliben / geåndert was / der gĤt meister bsan sich nit lang / trachtet der sach auch nit weitter nach / sunder hefftet die wundt als bald / volgten gar bald hernach vnleidliche schmertzen / am drittƝ tag schlĤg ein brand herzĤ / den sibendƝ tag aber mocht er nitt überleben (Ryff 1542, 57; zitiert nach Habermann 2001, 441) 11
Die Liste der Beispiele ließe sich freilich um ein Vielfaches ergänzen und soll an dieser Stelle nur verdeutlichen, dass komplexe Satzgefüge in frühneuhochdeutscher Zeit in ganz verschiedenen Texten zu beobachten sind. Sie begegnen in medizinischer Gebrauchsprosa, in chronikalem Schrifttum, in humanistischen Texten usw. Aus unserer Sicht ergibt sich damit allerdings gleichzeitig die berechtigte Frage, warum in der Literatur komplexe Satzgefüge als Spezifika der Kanzleisprachen angenommen werden, wo doch einerseits auch einfache Satzgefüge – und zwar in erheblich höherer Frequenz – vorkommen und andererseits komplexe Satzgefüge auch in anderen, nicht kanzleisprachlichen Texten sehr wohl in durchaus hohem Maße zu belegen sind. Wie ist der Erkenntnisgewinn der oben zitierten Aussagen zu syntaktischen Merkmalen der Kanzleisprachen dann generell zu bewerten? Es wird deutlich, dass hier dringend eine empirische Überprüfung angezeigt ist, die durch eine noch ausstehende Erarbeitung einer Syntax der Kanzleisprachen geleistet werden könnte (vgl. Ziegler 2009, 280).
4.
Zusammenfassendes und Folgerungen
In den älteren Handbüchern zur historischen Grammatik und in Sprachgeschichten wurden die Kanzleisprachen, wenn überhaupt, nur am Rande berücksichtigt. Teilweise wurden die sprachlichen Hervorbringungen von Kanzleischreibern im Kontrast zu anderen, als höherwertig eingestuften Quellen auch dezidiert abgewertet. Für eine unvoreingenommene Darstellung der Syntax der Kanzleisprachen fehlten in verschiedener Hinsicht die Voraussetzungen. Erst in Darstellungen seit den 1980er-Jahren wurde das Phänomen Kanzleisprache neu gesehen und bewertet. In größerem Umfang wurden nun auch syntaktische Besonderheiten berücksichtigt, und zwar deskriptiv und quellenbezogen, nicht mehr (ab)qualifizierend und ohne nennenswerte Rückbindung an historisches Material. Als typisch kanzleisprachlich werden in den aktuellen Hand- und Lehrbüchern ganz verschiedene syntaktische Phänomene im Bereich von Nominal- und Verbalgruppe, Topologie und Subordination dargestellt. Die kanzleisprachliche Syntax wird nach wie vor – implizit oder explizit – vielfach kontrastiv auf Nichtkanzleitexte bezogen, eine Sehweise, die gewiss ihre Berechtigung hat. Sofern beleggestützt gearbeitet und argumentiert wird, geschieht das bislang allerdings auf der Basis eher zufällig ausgewählter Beispiele und
11
Beispiel (6) ist aus Ziegler (2009, 279) entnommen.
246
II. Gebiete und Phänomene
allenfalls begrenzter Korpora (individuelle Autoren, Einzelkanzleien, Einzeltexte). Unser Bild von der Syntax der historischen Kanzleisprachen, so wie es Hand- und Lehrbücher, aber auch aktuelle Arbeiten zeichnen, ist deshalb nach wie vor – man gestatte den Ausdruck – äußerst pixelig. Es ließe sich mithilfe von korpusbasierten Analysen noch erheblich verfeinern, was dann wiederum der historischen Grammatik zugute käme, ebenso der Sprachgeschichtsforschung im weiteren Sinne. Und schließlich könnte sogar eine umfassendere Kulturgeschichte, die ihrerseits ohne Sprachgeschichte überhaupt nicht denkbar ist, davon profitieren.
5.
Quellen
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6.
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16. Syntax
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Peter Ernst, Wien (Österreich)
17. Pragmatik
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Zum Verhältnis von Systemlinguistik und Pragmatik in der Sprachgeschichtsschreibung Kommunikationsbedingungen in historischen Kontexten Anwendung 1: Längsschnitt Anwendung 2: Querschnitt Resümee Literatur
Zum Verhältnis von Systemlinguistik und Pragmatik in der Sprachgeschichtsschreibung
Pragmatik ist bekanntlich die Lehre vom menschlichen Handeln, Pragmalinguistik die Lehre vom Handeln mit Sprache. Der Vorstellung zugrunde liegt ein dynamisches, interaktives Konzept von Sprache, in dem Sprache nicht nur als Werkzeug gebraucht wird, sondern Teil des Sprachverwenders dank seiner kognitiven Fähigkeiten wird. Die Zweiteilung, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts oft postuliert wurde, als deren Resultat Systemlinguistik und Pragmatik in einen Gegensatz traten (Systemlinguistik vs. Pragmatik = Sprachinternes vs. Sprachexternes = Sprachsystem vs. Sprachgebrauch), kann heute nicht mehr aufrecht erhalten werden; vielmehr handelt es sich um zwei verschiedene Betrachtungsweisen von Sprache, die einander ergänzen und nicht ausschließen. Daraus folgt, dass auch diachrone Deskriptionen von Sprachzuständen sowohl unter systemlinguistischen als auch pragmatischen Aspekten möglich sein müssen. In der Sprachgeschichte sind wir allerdings fast ausschließlich auf schriftliche Quellen angewiesen, bei denen einzelne Erhebungsmethoden der synchronen Pragmatik wegfallen, etwa die direkte Befragung von Sprachverwendern u. a. Als Ziel der historisch-pragmatischen Sprachforschung kann »die Gewinnung von Einsichten in den Gebrauch von Sprache in früheren Perioden als Kommunikationsmittel« (Bax 1983, 3) gesehen werden. So gesehen ist die Historische Sprachwissenschaft seit ihren Anfängen pragmalinguistisch ausgerichtet, auch wenn man sich dessen nicht bewusst war. Letztlich sind Fragen nach den Ursachen von Laut- und Sprachwandel, Änderungen im Wortschatz durch Kulturkontakte oder kulturmorphologische Überlegungen auch pragmalinguistisch motiviert, d. h. sie stellen das Verhältnis von Sprachzeichen und Sprachverwender in den Vordergrund, auch wenn man diese Gedankengänge damals nicht als pragmalinguistisch bezeichnet hat. Was seit den 70er Jahren an Neuorientierung hinzugekommen ist, betrifft die theoretische Fundierung und Systematisierung des pragmatischen Ansatzes in der Sprachgeschichte.
252
II. Gebiete und Phänomene
Die Ziele der Historischen Pragmalinguistik kann man noch weiter differenzieren in: a. »Sprachgebrauchskonventionen in einer (bestimmten) historischen Sprach(gebrauchs) gemeinschaft« und b. der »Entwicklung bestimmter Sprachgebrauchskonventionen über einen bestimmten Zeitraum« (Bax 1983, ebd.) hinweg. Dies kann sich in mehreren konkreten Richtungen äußern (vgl. Cherubim 1984, 807): a. Ansätze einer pragmatisierten historischen Semantik, die etwa Bedeutungswandel nicht nur durch die Umprägung von Inhalten erklärt, sondern das kultur- und geistesgeschichtliche Umfeld sowie die Einwirkung von Situation und Sprachhandlungselementen mit berücksichtigt. b. In Richtung einer historischen Sprechakttheorie, die bestimmte Sprachhandlungstypen aus schriftlichen Dialogstrukturen extrahiert. Es erhebt sich dabei die Frage, ob Unterschiede zwischen historisch dokumentierten Sprechakten (etwa der rituellen Beschimpfung des Feindes vor dem Kampf) festgestellt werden können. c. In Richtung einer historischen Partikelforschung, die derzeit nur in Ansätzen vorliegt. d. In Richtung einer historisch ausgerichteten Überprüfung der Grice’schen Konversationsmaximen, etwa ob sie für frühere Zeiten auch gelten bzw. inwieweit sie modifiziert werden könnten. Schließlich kann die pragmatische Sprachgeschichtsforschung wie jede Wissenschaftsdisziplin als reiner Selbstzweck betrieben werden oder mit konkreten Applikationsansichten, etwa als Hilfsmittel, um literarische und andere Texte aus dem historischen Kontext interpretieren zu können.
2.
Kommunikationsbedingungen in historischen Kontexten
Es versteht sich von selbst, dass mittelalterliche Kommunikationsbedingungen – und darunter wollen wir alle Kommunikationsvorgänge vor Erfindung des Buchdrucks verstehen – nicht mit den heutigen Möglichkeiten der Massenmedien Zeitungen und Internet auf dieselbe Stufe zu stellen sind. Die mittelalterlichen Kommunikationsvorgänge waren in vielerlei Hinsicht und aus heutiger Perspektive beschränkt, nämlich: a. in materieller Hinsicht: Der Schreibstoff war teuer und stand nicht jedermann zur Verfügung; b. in handwerklicher Hinsicht: Die Tätigkeit des Schreibens war (aus verschiedenen Gründen) wenigen Personen vorbehalten; c. in kulturgeschichtlicher Hinsicht: Lesen und Schreiben war für das Alltagsleben nicht notwendig und wurde nur von einer kleinen Gruppe von Spezialisten beherrscht. Wenn man davon ausgeht, dass Verschriftlichung von Sprache ein sekundärer Prozess gegenüber ihrer mündlichen Verwendung ist, müssen die Überlegungen in der Mündlichkeit wurzeln. Der mündliche Kommunikationsvorgang, der seit Ferdinand de Saussure im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung steht, sieht eine einfache Faceto-face-Kommunikation vor:
17. Pragmatik
253
Abb. 1: Mündliche Kommunikation (de Saussure 2001, 14)
Schrift ist für den klassischen Strukturalismus ein sekundäres Zeichensystem; aber prinzipiell ist auf diese Weise auch Kommunikation über schriftliche Produkte möglich: Sprachliche Äußerungen werden aufgezeichnet, wodurch sie konserviert und transportiert werden können, also unabhängiger von Zeit und Raum werden. Der Vorgang der Verschriftlichung wird in der Grafik in Form eines Buchsymbols ergänzt:
Abb. 2: Schriftliche Kommunikation
Eine Reihe von Untersuchungen zur historischen Pragmalinguistik fallen in diese Sparten, etwa jene von Stefan Sonderegger über das gesprochene Althochdeutsch (vgl. Sonderegger 1980) oder von Helmut Henne zur Rekonstruktion gesprochener Sprache im 18. Jahrhundert (vgl. Henne 1980). Marcel Bax hat in historischen Texten wie dem Hildebrandslied Dialogstrukturen offengelegt (vgl. Bax 1983). Allerdings werden auf diese Art nur Sprachhandlungen, die gleichsam im Text eingefroren sind, dokumentiert. Man muss aber nicht auf dieser Stufe stehen bleiben. Ein Text interagiert nämlich auch mit Rezipienten, die zu diesem Kommunikationsvorgang als Dritte hinzutreten und die vom Produzenten mitgedacht oder auch nicht mitgedacht sind. Diese situative Rezeption kann außerdem zu einem beliebigen Zeitpunkt nach Entstehung des Textes erfolgen, der von sprachexternen Faktoren wie Haltbarkeit von Tinte, Papier, Pergament etc. abhängt. Das soziale Handeln tritt also aus der Textebene heraus und wird zweidimensional:
254
II. Gebiete und Phänomene
Abb. 3: Rezeption durch Dritte (X)
Dieses sehr einfache Basismodell kann in verschiedene Richtungen ausformuliert werden. Die umfassendste und aktuellste Interpretation stammt von Arne Ziegler, der von der »Dimension der Textproduktion« (in Abbildung 3 symbolisiert durch A), der »Dimension der Textrezeption« (B) und der »Dimension der Situation« (X) spricht (Ziegler 2003, 34). Sein Modell, das hier nicht im Einzelnen beschrieben werden kann, berücksichtigt die verschiedenen Bedingungen dieser Aspekte sehr genau:
Abb. 4: »Grundmodell historischer Textlinguistik« (Ziegler 2003, 69)
17. Pragmatik
255
Nach Jörg Meier können »Rückschlüsse über den Text auf einen historischen Diskurs nur über eine Berücksichtigung kultureller, sozialer und kognitiver Einflüsse« gezogen werden (Meier 2003, 14). Wie aber kann man das anhand des Textes praktizieren? Joshua Fishmans soziolinguistische Maxime »Who speaks what language to whom and when« (Fishman 1966, 428) ist sehr gut für pragmatische Zwecke verwendbar, wenn man sie zu folgendem Wortlauf umformuliert: Wer kommuniziert was mit wem, für wen, warum, wie, unter welchen Umständen und mit welchen beabsichtigten oder realen Konsequenzen? Mit dieser Leitformel sollte man in der Lage sein, alle Kommunikationsaspekte in den drei Dimensionen der Produktion, der Rezeption und der Situation, angemessen zu beschreiben. Dabei muss man sich allerdings auch der Spezifik der Kanzleistile bewusst sein. Kanzleien, seien es nun historische oder gegenwärtige, produzieren Schriftstücke für den Gebrauch. Ihre Erzeugnisse sind also geschäftlicher Natur, zweckgebunden und z. T. juristisch bindend. An diese Fakten ist demnach auch die Pragmatik der Kanzleisprachen gebunden.
3.
Anwendung 1 – Längsschnitt
Im Folgenden wird auf die deutschsprachigen Urkunden Südböhmens zurückgegriffen, die Hildegard Boková ihrer Sprachanalyse zugrunde gelegt hat (vgl. Boková 1998). Es handelt sich um 20 bisher unedierte Urkunden aus den Jahren 1333 bis 1412, die die Autorin im Anhang ihrer Arbeit im vollen Wortlaut wiedergibt (vgl. Ernst 2004). Die Frage, wie kommuniziert wird, soll zuerst beantwortet werden, da sie für alle Texte gleich ist. Es handelt sich um Urkunden, die einem feststehenden formalen Muster folgen. Im 13. Jahrhundert beginnt sich in Urkunden bekanntlich ein reglementiertes Formular durchzusetzen, das zwar nicht immer genau befolgt wird, das aber mit den vier Teilen a) Einleitungsformel, b) Verfügung, c) Beurkundungsformel mit Siegelvermerk und d) Datierung beschrieben werden kann. Die Urkunden aus Boková 1998 bieten regestenhaft folgendes Bild (siehe Tab. 1, S. 254). An den Dokumenten fällt auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches auf. Es handelt sich um Urkunden, wie es hunderte aus dieser Zeit und aus allen größeren Städten des deutschen Sprachraums gibt. Der Zeit entsprechend, finden sich keine allein siegelnden Frauen (obwohl dies vereinzelt auch vorkommen kann) und keine Juden. Bei genauerem Hinsehen kann man jedoch vier Urkunden entdecken, bei denen die kommunizierende Person nicht in eigener Sache handelt, sondern für jemand anderen. Die Nummern dieser Urkunden sind in der obigen Tabelle 1 in ein kleines Kästchen gesetzt (Nr. 4, 8, 13, 17). Damit wird eines deutlich: Die Träger des Rechtsgeschäfts sind nicht a priori auch die im Kommunikationsvorgang handelnden Personen. Anders ausgedrückt: Bei der Frage nach der kommunikativen Funktion der Urkunden muss man unterscheiden zwischen dem Inhalt (das ist das beschriebene Geschäft) und der kommunikativen Aufgabe. Diese kommunikative Aufgabe ist für alle Urkunden dieselbe: Es soll mit der Urkunde ein Rechtsbeweis geliefert werden, und zwar für die handelnden, die betrof-
256
II. Gebiete und Phänomene
Tab.1: Deutschsprachige Urkunden aus Südböhmen zwischen 1333 und 1412 (vgl. Boková 1998)
257
17. Pragmatik
fenen als auch für nicht anwesende oder in Zukunft existierende Personen. Man kann daher die Frage »zu welchem Zweck?«, die in der Tabelle einstweilen noch mit dem Platzhalter Y markiert war, für alle Urkunden beantworten mit »Rechtsbeweis des beschriebenen Vorgangs«. Ebenso einhellig zu beantworten ist die Frage, mit wem kommuniziert wird. Die Antwort darf nicht »mit dem Geschäftspartner« lauten, da diese, wie die vier herausgehobenen Urkunden beweisen, oft keinerlei Verbindung zum Aussteller haben. Es kann auch in fremder Sache gesiegelt werden. Die Antwort lautet daher vielmehr: »mit allen, die diese Urkunde lesen oder vorgelesen bekommen«, und dies wird in allen Urkunden auch ausdrücklich genannt; es ist ein Teil der Form, ohne den die Urkunde gar keine Rechtskraft erhält. Man könnte das kommunikative Schema somit auch in eine Formel bringen: X (Aussteller) erklärt gegenüber Y (Leser / Hörer) Vorgang Z Das kommunikative Schema ist immer dasselbe: Der Aussteller bürgt vor dem Leser / Hörer, dass das in der Urkunde beschriebene Geschäft rechtsgültig ist. Die Felder X und Y wenden sich an den außersprachlichen Rezipienten; man kann sie sogar als perlokutionär bezeichnen, den kommunikativen Vorgang als perlokutionären Akt. Als weitere Besonderheit ist zu bemerken, dass der Kommunikationsvorgang genau genommen nicht terminisiert ist und daher im Prinzip bis heute andauert: Auch wir, die heutigen Leser, werden als Zeugen dieses Geschäfts angesprochen, auch wenn damit kein perlokutionärer Effekt mehr verbunden ist. Das müsste nicht so sein, denn man könnte in Kommunikationsvorgänge auch diesbezügliche Klauseln einbauen (... »für die Dauer der gesetzlichen Schutzfrist« ... o. Ä.). Aber das juristische Denken jener Zeit war wohl nicht so weit entwickelt. Zweck der Privaturkunden ist es also, innerhalb der Gesellschaft den Rechtsbeweis über den geschilderten Vorgang zu erbringen, und dieser wurde zuvor durch mündliche Zeugen hergestellt. Die Zeugenreihen, die sich noch in den frühen Urkunden finden und die diese Tradition fortsetzen, werden durch die Urkunde an sich ersetzt. Der Kommunikationsvorgang wird von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit übertragen und darin fortgesetzt, die Schrift wird damit nicht zum Antipoden der Mündlichkeit, sondern zu ihrer Verlängerung: Mündliche und schriftliche Sprache ergänzen einander.
4.
Anwendung 2 – Querschnitt
Aus dem Corpus der deutschsprachigen Wiener Ratsurkunden aus dem späten 13. bis frühen 15. Jahrhundert, das Ernst (1994) zugrunde liegt, wird im Folgenden der gesamte Text der Wiener Ratsurkunde Nr. 42 vom 24. April 1303 herausgenommen: (1)
WIR Chvnrat der Polle ze den zeiten Pvrger Maister vnd der Rat von der Stat ze Wienne veriehen an disem Prief vnd tvn chvnt allen den die nv lebent vnd hernach chvnftich sint . Daz dev Erber vrowe vro Ilian di Götesvelderinne dvrch reht Ehaftnöt als si vor vns hat bewært mit zwain Erbern mannen mit hern Chunraten dem Hvobmaister vnd mit hern Levpolten vof der Gæl Ein
258
II. Gebiete und Phänomene
Fvetergrvob an dem Hohen Markt hat verchavffet Friderichen dem Minneganch dem Sneider vnd siner Havsvrowen vron Alhaiten vnd sinen Erben vmbe Ainlef Phvnt Wienner Phenning der si reht vnd redlich gewert ist vnd also daz er ir oder swem si iz geit alle Jar da von dienen schol zehen Schilling Phenning ze rehtem Pvrchreht als Pvrchrehtes reht ist Daz disev rede also stete sei vnd ovch vnzebrochen des geben wir Zevg disen Prief versigilt mit vnser Stat Jnsigil Diser Prief ist geben ze Wienne da von Christes Pvrt was Tavsent Jar Drevhvndert Jar darnach in dem dritten Jar An Sand Georgy Tach (Ernst 1994)1 Eine pragmatische Analyse dieses Textes muss von folgenden Vorüberlegungen ausgehen: Die Rollen der satzgerechten Kommunikation werden laut Valenzgrammatik vom finiten Verb bestimmt. Es regiert den Gesamtsatz und weist jedem Satzteil seine semantische, formale und – für unsere Betrachtungsweise besonders wichtig – pragmatische Funktion zu. Es darf an die Kasustheorie erinnert werden, die sich in besonders günstiger Weise mit der Valenzgrammatik verbindet. Für eine historische Valenzbeschreibung althochdeutscher Verben sei an die grundlegende Arbeit von Albrecht Greule erinnert:
Abb. 5: Valenz von ahd. 3jehan / bijehan (Greule 1999)
In diesem Sinn kann jeder Satz unseres kurzen Textes hinsichtlich der Frage analysiert werden, welche Rollen das finite Verb verlangt bzw. ob diese ausgefüllt werden. Die Rollen ergeben sich dabei durch die semantische Füllung der Leerstellen (aber nicht im Sinne der Kasustheorie, sondern auf valenztheoretischer Basis).
1
Da eine diplomatische Wiedergabe nicht notwendig ist, wurden Virgeln und andere Satzzeichen getilgt, Abkürzungen ausgeschrieben, Vokale mit darübergesetztem e als , alle v mit darübergesetztem o als sowie alle langen s als rundes verschriftlicht.
17. Pragmatik
259
Der Text enthält drei Hauptsätze, ihre Prädikate sind veriehen vnd tvn, chvnt geben und ist geben. An erster Stelle steht die Frage nach der Situation, die im Wesentlichen mit der Illokution gleichgesetzt werden kann. Wie wir in Anwendung 1 gesehen haben, muss der Text nicht mit der Kommunikationsabsicht identisch sein. In unserem Fall ist er das jedoch, da sich die Aussteller gleichermaßen an den Empfänger wie auch an alle gegenwärtigen und zukünftigen Zeugen richten. Die Illokution im ersten Satz ist die Darstellung des Sachverhalts, also der eigentliche Verkauf, der jedoch in mehreren Nebensätzen geschildert wird. Die Rollenstruktur des Satzes ergibt als Folge dieser die Handlungsträger auf die Fragen – – – –
Wer macht kund?: der / die Aussteller Was wird kundgemacht?: der beschriebene Verkauf Wer ist an der Kundmachung beteiligt?: die Zeugen Wie wird kundgemacht?: mittels der ausgestellten Urkunde (selbstreferentiell).
Die Illokution des zweiten Satzes ist der eigentliche Rechtsakt < RECHTSBEWEIS> als juristisches Mittel. – Wer stellt den Rechtsbeweis aus?: der / die Aussteller – Was wird als Rechtsbeweis ausgestellt?: die vorliegende Urkunde (selbstreferentiell) – Wie wird der Rechtsbeweis ausgestellt?: mit dem Siegel der Stadt Neu gegenüber dem ersten Satz ist eine Kausalrolle auf die Frage – Warum wird dieser Rechtsbeweis ausgestellt?: Damit der Verkauf rechtskräftig ist. Die Rolle der Beteiligten ist in Satz 2 nicht besetzt. Die Illokution des dritten Satzes ist die < DATIERUNG und LOKALISIERUNG > des Rechtsakts. Die Wer-Rolle ist nicht vergeben, der Satz ist im Passiv formuliert. – – – –
Was wird datiert und lokalisiert?: die vorliegende Urkunde (selbstreferentiell) Wann?: Zeitangabe Wo?: Ortsangabe Neu gegenüber Satz 1 und 2 sind die »Wann-Rolle« und die »Wo-Rolle«.
260
Tab. 2: Die Illokution < KUNDMACHUNG > in Textbeispiel (1)
II. Gebiete und Phänomene
17. Pragmatik
261
Tab. 3: Die Illokutionen < RECHTSBEWEIS > und < DATIERUNG und LOKALISIERUNG > in Textbeispiel (1)
5.
Resümee
Die Pragmatik der Kanzleisprachen muss zu Analysen führen, die nicht textinterne Strukturen erklärt, sondern gleichsam aus dem Text heraus in die Dimension der Situation führt. Sie darf sich nicht nur auf die beschriebenen Inhalte beschränken, sondern muss alle Aspekte des menschlichen Handelns, die sich aus dem Text ablesen lassen, berücksichtigen. Mit Hilfe der beschriebenen Arbeitstechniken lässt sich jeder historische Text in ein Rollenschema mit sprachinternen und sprachexternen2 Faktoren überführen. Zahl und Art der Rollen werden nicht anhand eines kognitiv vorab gebildeten Rahmens oder einer linguistischen Theorie zugewiesen, sondern ergeben sich im Laufe der Analyse durch den Text von selbst. Es ist zu erwarten, dass spezifische Rollen auch für bestimmte Arten von Texten charakteristisch sind und sich mit steigender Zahl der Untersuchungen auch eine Textsortensystematik erstellen ließe. Letztlich sollten auf diese Weise die Rollen der Zeichenverwender auf einer linguistischen Basis, aber unter Beachtung des historischen Kontexts erfasst werden können.
2
Christian Braun nennt dies »extratextuelle Matrix« (Braun 2009, 69).
262
6.
II. Gebiete und Phänomene
Literatur
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Britt-Marie Schuster, Paderborn (Deutschland)
18. Textlinguistik
1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 5.
Einleitung: Ausgangssituation Grundfragen der aktuellen Textlinguistik Profil der historischen Textlinguistik Historische Textlinguistik und Kanzleisprachenforschung Kanzleitexte und ihr Status in der institutionellen Kommunikation Textlinguistische Erfassung der Kanzleitexte Textfunktion Makrostrukturen von Kanzleitexten Mikrostrukturen in Kanzleitexten Forschungsdesiderate Literatur
1.
Einleitung: Ausgangssituation
Kanzleitexte, dazu zählen u. a. Memoriale und Konzepte, Verkaufsurkunden und Quittungen, Schiedssprüche und Schlichtungsprotokolle sowie Rechtsordnungen oder Gerichtsbriefe (vgl. Ziegler 2003, 141), gehören der pragmatischen Schriftlichkeit an. Die unvollständige Liste, die das große Spektrum der Rechtstexte (vgl. Busse 2000) noch zu berücksichtigen hätte, weist auf die Heterogenität der Texte und Texttraditionen hin, die eine textlinguistische Erfassung des Gesamtbestandes der Kanzleitexte erschwert. In den letzten gut 15 Jahren sind nun auf dem Gebiet der Kanzleisprachenforschung etliche textlinguistische Arbeiten, besonders zur Beschreibung von Textsorten, vorgelegt worden, so dass das 1999 von Meier beklagte Forschungsdesiderat, dass es diachron »zu vielen Kommunikationsbereichen und Textsorten noch keine sprachwissenschaftlichen Untersuchungen« gebe (Meier 1999, 131), im Bereich der Kanzleitexte nur noch eingeschränkt gilt. Zu den Kerntextsorten (i. S. v. Gansel / Jürgens 2007, 78), etwa Testamenten (vgl. u. a. Spáþilová 2000b; Bieberstedt 2007; 2009) oder unterschiedlichen Protokollen (vgl. u. a. Topaloviü 2003; Lange 2008), oder zur Kommunikationsform Brief (vgl. u. a. Grolimund 1995; Möller 1998; Meier 2004) liegen heute umfangreiche Untersuchungen vor. Starke Aufmerksamkeit haben zum Beispiel Protokolle erfahren (vgl. u. a. Mihm 1995; 1999; Ramge 1999; Rösler 1995; Spáþilová 2005). Als gut aufgearbeitet können zudem die für städtische Kanzleien charakteristischen Stadtbücher gelten (vgl. u. a. Meier / Ziegler 2001; 2004; Ziegler 2003). Die vorliegenden Untersuchungen stellen eine Basis für weitere textlinguistische Forschungen zu Einzelfragestellungen dar und versprechen darüber hinaus Zugänge zum Textsorten- und Textmusterwandel. Für die textlinguistische Beschäftigung mit Kanzleitexten sprechen übergreifend
264
II. Gebiete und Phänomene
Faktoren wie etwa der Übergang vom Latein zur Volkssprache, eine rasante Diversifi kation der Textsorten und damit verbunden die Entstehung neuer Vertextungsmuster für neue kommunikative Bedingungen, d. h. eine Ausweitung der Schreibpraxis auf bisher unbekannte städtische Kommunikationssituationen und Textsorten. (Ziegler 2003, 33)
Die Integration textlinguistischer Fragestellungen zeigt sich nicht nur in der vornehmlich auf das Frühneuhochdeutsche und durch ihren Gegenstand auf die institutionelle Kommunikation konzentrierte Kanzleisprachenforschung, sondern in der gesamten soziopragmatischen Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen, für die u. a. die dreibändige Sprachgeschichte von von Polenz (1994; 1999; 2000) steht. Auch hier lässt sich seit den frühen Ansätzen vom Ende der 1970er-Jahre (vgl. u. a. Sitta 1980) und dann verstärkt seit den 1990er-Jahren ein Einbezug textlinguistischer Fragen feststellen, so etwa in den Vorschlägen zu einer Kommunikationsgeschichte des Deutschen (vgl. Mattheier 1995), in einer Geschichte der Kommunikations- und Dialogformen des Deutschen (vgl. Fritz 1994) oder auch im Rahmen der historischen (Text-)Pragmatik (vgl. Cherubim 1998). Trotz unterschiedlicher Perspektiven wird in den Ansätzen die Auffassung geteilt, dass die »Genese kommunikativer Systeme ein zumindest in weiten Teilen empirisch nachvollziehbarer Vorgang« ist (Ziegler 2003, 15). Im Folgenden wird zunächst kurz die Forschungssituation in der Textlinguistik skizziert (vgl. Kap. 2). Daraufhin werden die Überschneidungen, jedoch auch Unterschiede zwischen synchroner und diachroner Textlinguistik (vgl. Kap. 3) thematisiert, die auf stellenweise unterschiedlichen Erkenntnisinteressen beruhen. Welche Zugangsweisen zum Phänomen Text in der Kanzleisprachenforschung bisher gewählt wurden, wird Gegenstand des folgenden (vierten) Kapitels sein. Dabei wird auf einige Forschungsdesiderate hingewiesen, zu denen die Herausarbeitung der Textsortengenese, also der Herausbildung, Etablierung und Veränderung von Textsorten gehört, denn »[…] selbst die banalsten Textsorten – und zwar genau dann, wenn sie Formularcharakter haben, wie etwa Lottoscheine oder Reisepässe – sind das Ergebnis einer historischen Entwicklung« (Adamzik 2008, 172).
2.
Grundfragen der aktuellen Textlinguistik
In den letzten gut 40 Jahren hat sich die Textlinguistik in der linguistischen Forschung etabliert. Ähnlich wie in anderen Teildisziplinen der Linguistik, die auf eine längere Forschungsgeschichte zurückblicken können, haben sich Forschungstraditionen herausgebildet, die u. a. zu unterschiedlichen Textmodellen – von grammatischen bis zu integrativen (vgl. Ziegler 2003, 57; Heinemann / Heinemann 2002, 66ff.) – und Ansätzen zur Textsortenbeschreibung und -analyse geführt haben. Der in dieser Vielfalt zum Ausdruck kommende Methodenpluralismus ist jedoch kein beklagenswerter Umstand, worauf Fix (2008, 17) aufmerksam macht, sondern auch Ausdruck eines wissenschaftlichen Normalisierungsprozesses, der den unterschiedlichen Zugängen zum Phänomen Text Rechnung trägt. Die Tatsache, dass es schwierig war und ist, sich auf einen Textbegriff (vgl. etwa die Auflistung bei Adamzik 2004, 38ff.) zu einigen, ebenso wie die Tatsache, dass ein intersubjektiv geteilter Texttypen- und Textsortenbegriff fehlt, reflektieren den
18. Textlinguistik
265
Umstand, dass das Spektrum von Texten groß ist und dieses kaum in gleicher Weise von allen Textualitätskriterien erfasst werden kann. Das Spektrum reicht von Notizzettel oder Bahnfahrkarte bis zum elaborierten philosophischen Traktat, berührt nicht nur im Falle des Essays die literarische Kommunikation, sondern umfasst auch Formen tertiärer Schriftlichkeit (vgl. Schmitz 2003) in der digitalen Kommunikation, für die eine enge Verzahnung von Text, Bild und Grafik charakteristisch ist. Die anhaltende Diskussion um die Textsortenklassifikation (vgl. Adamzik 2000; 2004; 2008) hat denn auch erbracht, dass es weder das eine Basiskriterium (z. B. die Textfunktion; vgl. Rolf 1993) gibt, von dem sich alle textlichen Produkte erfassen lassen, noch ein textanalytisches Verfahren vorhanden ist, das sich für die Analyse aller Texte gleichermaßen anbietet (vgl. u. a. beispielsweise Fix 2003 zur Gedichtanalyse oder zur Analyse von Verwaltungstexten). Dies soll nicht heißen, dass es so etwas wie einen Forschungsstand in der Textlinguistik nicht gäbe: Die pragmatische Wende (vgl. Feilke 2000), die Texte von ihrer Einbettung in bestimmte Interaktionskontexte her bestimmt, und die kognitive Wende (vgl. Figge 2000), die Texte nicht vom Wissen des Textproduzenten und -rezipienten entkoppelt, haben in ihrem Zusammenspiel zu einem Textbegriff geführt, bei dem Texte auf der Schnittstelle zwischen Kommunikation und Kognition liegen. Heutige textlinguistische Entwürfe bestimmt die Einsicht, dass Texte weit mehr als miteinander verknüpfte Sätze, nämlich die – thematisch bestimmte und eine Funktion ausübende – Grundeinheit menschlicher Kommunikation bilden. Texte als Hervorbringungen und Mittel sprachlichen Handelns rückten damit ins Blickfeld der Linguisten. Das ist der Kern eines Textbegriffs, mit dem wir es heute noch zu tun haben, erweitert um die kognitive Dimension, nämlich um die Erkenntnis, dass der Umgang mit Texten auch den Einsatz von Wissen verschiedener Art zur Bedingung hat. (Fix 2008, 15)
Durch diese Orientierungen sind auch die frühen Auseinandersetzungen um Texte und Nicht-Texte ebenso wie die Vorstellung, Kohärenz sei ausschließlich objektimmanent zu ermitteln, obsolet. Wie durch Texte Interaktionskontexte hergestellt werden, welche Textebenen wie zu modellieren sind und von welchem Blickwinkel aus das Textverstehen zu betrachten ist, ist nicht unumstritten. Davon zeugt beispielsweise die Bandbreite handlungstheoretischer Entwürfe in der Textlinguistik (vgl. Hartung 2000). Nach Fix (2008, 17) und Meier / Ziegler (2004, 129) stellen die Bestimmung von Textualitätskriterien und die Annäherung an die Typik von Texten einschließlich des Verhältnisses von Texttyp – Textklasse – Textsorte – Textmuster die Kardinalfragen der Textlinguistik dar. Auch heutige textlinguistische Debatten nehmen noch auf die Textualitätskriterien von de Beaugrande / Dressler (1981) Bezug, zu denen sie Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität, Intertextualität zählen. Uneinigkeit herrscht nicht nur im Hinblick auf die Vollständigkeit dieser Liste. So schlagen Heinemann / Heinemann beispielsweise noch die Textualitätskriterien Prototypikalität und Diskursivität (Heinemann / Heinemann 2002, 94) vor. Zudem wird auch der Stil verstärkt zu den textkonstitutiven Faktoren gezählt (vgl. Sandig 2006, 309ff.; Fix 2008, 20). Diskutiert wird zudem die Frage, ob eine interne Hierarchie der Textualitätskriterien vorhanden ist, wobei pragmatische Modelle eine Überordnung des Textualitäts-
266
II. Gebiete und Phänomene
kriteriums Intentionalität annehmen: »Intentionalität ist ohne Frage das grundlegende Merkmal der Textualität« (Heinemann 2008, 137), wobei dieses Kriterium wiederum Situationalität, Akzeptabilität, Intertextualität steuern soll (vgl. Heinemann 2008, 137). Gansel / Jürgens (2007, 27) weisen mit van Dijk (1980, 76) jedoch darauf hin, dass es auch eines Rezipienten bedarf, der Intentionalität zuweist. Auch Akzeptabilität erweist sich als eine rezipientenabhängige Kategorie: Dies scheint als Textualitätskriterium problematisch, denn Akzeptabilität ist in starkem Maße subjektiv. Gehört sie zu den Textualitäts-Kriterien, dann müßte ein und dasselbe Gebilde von einem Rezipienten als Text aufgefaßt werden, von einem anderen nicht. (Vater 1992, 52)
Obwohl mittels der Textualitätskriterien zentrale Aspekte von Texten erfasst werden, besteht die Möglichkeit, sie je nach theoretischem Standpunkt neu zu ordnen. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Textualitätskriterien unterschiedlichen Theorietraditionen entstammen, in denen entweder das Handeln von Textproduzenten oder die Textrezeption bzw. Text-Leser-Interaktion im Vordergrund steht (vgl. kritisch Feilke 2000, 76). Auch der Begriff Kohärenz, heute zumeist mit einer semantisch-thematischen Tiefenstruktur (vgl. Gansel / Jürgens 2007, 24) assoziiert, lässt aus einer kommunikationsanalytischen Perspektive (vgl. Fritz 1982) andere Gewichtungen zu. Niemand bezweifelt heute die Relevanz von Themen bzw. ihrer Erkennbarkeit für die Kohärenz eines Textes. Während jedoch pragmatische Modelle Thema als Redegegenstand sehen und somit im Bereich des Referierens verorten (vgl. Fritz 1982, 208; Schröder 2003, 55ff.), basiert die Themenidentifikation im Rahmen eher kognitivistischer Modelle auf Ableitungsprozeduren, die auf der Grundlage des Propositionengeflechtes eines Textes operieren (vgl. Dijk 1980, 45ff.). Auch die Gesichtspunkte, unter denen kohäsive Vertextungsmittel thematisiert werden, unterscheiden sich. Zum Kernbereich gehören anaphorische und kataphorische Proformen und Artikel (vgl. zur Textphorik etwa Hoffmann 2000) oder Verknüpfungsmittel wie Konjunktionaladverbien oder Konjunktionen. Früh wurde auf die textkonstitutive Funktion von Ellipsen, Modus oder Tempus (vgl. Weinrich 1976) aufmerksam gemacht. Textgrammatik und -semantik sind jedenfalls bei der empirischen Textanalyse nicht eindeutig voneinander abzugrenzen, da etwa Koreferenzbeziehungen durch die Abfolge von Nominalisierung – Pronominalisierung – Renominalisierung gebildet werden können, in die wiederum Substitutions- und Kontiguitätsrelationen einfließen. Letztere zählen bei Harweg (1968) zu den Pronomina, bei Agricola (1979) zu den Topikrelationen und in einer jüngeren Textlinguistik, bei Hausendorf / Kesselheim (2008, 120ff.), zu den Themaentwicklungshinweisen. Mittlerweile ist die Auseinandersetzung mit Kohäsionsmitteln nun selbst zu einem differenzierten Arbeitsgebiet geworden, in das wieder unterschiedliche sprachtheoretische Prämissen einfließen: So geht es nicht mehr nur um die Erfassung eines abgegrenzten Repertoires grammatischer Mittel, sondern der Blick richtet sich auf ihre Funktionalität, die in einer Wechselbeziehung zur Textsortenspezifik steht: Textgrammatik bedeutet in der Textlinguistik Unterschiedliches. […] Kommunikativ-pragmatische Ansätze seit den 1980er Jahren […] drehen die Blickrichtung um. Sie schauen vom Text auf den Satz und fragen danach, welche Ausprägungen Sätze in mündlichen und schriftlichen
18. Textlinguistik
267
Texten als Sprachgebrauchsphänomene unter Wirkung kommunikativ-pragmatischer Faktoren (Situativität, Funktion, Textsorte) erhalten. (Gansel / Jürgens 2008, 55)
Darüber hinaus wird die Instruktionsfunktion von Kohäsionsmitteln beim Textverstehen (vgl. Charolles 1989) betont und entsprechend ist die Untersuchung von Kohäsionsmitteln ein wichtiges Instrument, um Texte zu beurteilen und / oder zu optimieren (etwa im Zürcher Textanalyseraster, vgl. Sieber 1994, 153ff.). Übergreifend lassen sich in der derzeitigen textlinguistischen Diskussion folgende Trends feststellen: Durch die Pragmatisierung des Textbegriffs und durch den Einbezug von Wissensbeständen dominiert heute ein dynamischer Textbegriff, der sich von der Auffassung des Textes als statischem Bezugsobjekt gelöst hat. Durch den Einbezug von Interaktionszusammenhängen, die wesentlich durch Texte konstituiert werden, wird sowohl versucht, den Sitz im Leben von Texten genauer zu bestimmen, als auch der kulturellen Prägung von Texten – ebenfalls im Hinblick auf deren historische Variabilität – nachzugehen. In dieser Entwicklung verschwindet aus der engeren texttheoretischen Diskussion zwar der transphrastische Ansatz, Kohäsionsmittel bleiben jedoch ein wichtiges Instrumentarium zur Textsortenbeschreibung. Die Abwendung vom statischen Objekt Text zeigt sich in jüngster Zeit auch darin, dass Texte verstärkt als Texte-in-Vernetzung (vgl. Janich 2008, 193) gesehen werden. Dort, wo nicht nur von referentieller Intertextualität (z. B. Zitat), sondern von Text-Textmuster-Beziehungen die Rede ist, berührt sich diese Diskussion mit dem zweiten Forschungsschwerpunkt der Textlinguistik, der Frage nach der Texttypik bzw. nach dem Verhältnis von Texttyp – Textsorte – Textmuster. Während Texttypen ein eher auf Deduktion basierendes theoretisches Konstrukt und ein auf hohem Abstraktionsniveau angesiedeltes Kriterium zur Ordnung unserer Textwelt darstellen, werden Textsorten – orientiert an konkreten Textexemplaren – eher induktiv erfasst; unter Textmuster wird – grosso modo – der Schnittpunkt bestimmter Wissensbestände verstanden, die Textproduktion und -rezeption steuern. Dass in neueren Überblickswerken nun häufiger Textsorten- und Textmustervarianten oder Spielarten von Textsorten aufgeführt werden, reflektiert diese Orientierung. Mit der Annahme von Varianten wird darauf aufmerksam gemacht, dass es gerade für weniger standardisierte Textsorten (etwa den Zeitungskommentar oder die Glosse) unterschiedliche, aber akzeptierte Realisationsmöglichkeiten gibt. Letztere können als Varianten prinzipiell gleichwertig gedacht oder mit einem der Prototypentheorie entliehenen Modell von Zentrum und Peripherie verstanden werden (vgl. etwa Sandig 2006, 413ff.). Charakteristisch für die heutige Textsortendebatte ist zudem, dass Faktoren wie der Kommunikationsbereich, die Situation, das damit verbundene Verhältnis von Textproduzenten und Textrezipienten, die Textfunktion oder das Medium, die bei der Bestimmung von Textsorten immer noch als zentral erachtet werden, hinsichtlich ihrer Tragweite überprüft werden (vgl. Adamzik 2008). Ein Begriff wie Medium (bzw. Kommunikationsform wie bei Brinker 2005, 147) bedarf einerseits durch die Existenz von Hypermedia einer Problematisierung, andererseits ist durch die Annahme medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit / Mündlichkeit im Anschluss an Koch / Oesterreicher (1985), die auch in der historischen Textlinguistik rezipiert worden sind, die einfache Differenz von geschrieben und gesprochen aufgehoben worden (vgl. auch Kapitel 3.). Da hier nicht der Ort ist, die gesamte
268
II. Gebiete und Phänomene
textsortenlinguistische Debatte im Detail aufzugreifen, sei hier nur auf einen, für die historische Textbetrachtung problematischen Punkt, die Unterscheidung von textextern (so die Kommunikationssituation) und textintern (so strukturelle Merkmale), hingewiesen. Aus dem Blickwinkel von Interaktionstheorien (vgl. Heinemann / Heinemann 2002, 12ff.) sind die Interaktanten nicht bloße Erfüllungsgehilfen der jeweiligen Situation, sondern stellen die Interaktionssituation u. a. durch entsprechende Kontextualisierungsleistungen her – im Sinne der Ethnomethodologie ist dies ein doing. Mag die Interaktionssituation in Texten auch zerdehnt (vgl. Ehlich 1984) sein, so sind Textproduzent und Textrezipient und ihr beispielsweise rollentypisches Handeln nicht nur etwas dem Text Äußerliches, sondern ersterer kann allein durch seine Perspektivierungen im Text präsent sein. Das schließt auch die Vertextung der möglichen symmetrischen / asymmetrischen Rollenkonstellation ein, die durch lexikalische Mittel oder die realisierten sprachlichen Handlungen erfolgt oder aber am gesamten Stil sichtbar wird. Ähnlich bilden Texte kein gegenüber der Situation abgeschlossenes hermetisches Gebilde, was sich auch am Vorkommen von Deiktika zeigen lässt.
3.
Profil der historischen Textlinguistik
Eine wichtige Aufgabe der historischen Textlinguistik ist die Erfassung des volkssprachlichen Texttypenrepertoires in unterschiedlichen Epochen. Vorschläge finden sich etwa bei Steger (1998) oder Kästner / Schütz / Schwitalla, die unsere Textwelt nach den fünf Funktionsbereichen »Alltagswelt«, »Institutionen«, »Religion«, »Wissenschaft« und »Dichtung« (2000, 1606) gliedern. Bei einer historischen Textbetrachtung ist darüber hinaus zunächst der zunehmenden »Verschriftlichung des Lebens« und ihrer kulturellen Bedeutung Rechnung zu tragen, da Texte »Mittel der Verdauerung des in sich flüchtigen sprachlichen Grundgeschehens, der sprachlichen Handlung« (Ehlich 1984, 18) sind. Verschriftlichung ist einmal als Übergang von oral geprägten zu literal geprägten Traditionen in unterschiedlichen Kommunikationsbereichen (vgl. Giesecke 1992; Betten 2000), einmal als die Adaption von schon vorliegenden, vorwiegend lateinischen Texttraditionen zu verstehen. Giesecke (1990) hat zudem gezeigt, dass auch der Übergang von einer oral-skriptographischen zu einer typographischen Kultur sich nicht bruchlos und erst dynamisch mit der beginnenden Massenkommunikation der Reformation vollzieht. Hiermit steht im Zusammenhang, dass in der jüngeren Sprachgeschichte stark kontextgebundene Texte nachzuweisen sind, die entsprechend viele Deiktika, definite Kennzeichnungen oder spezielle, aus einer Kommunikationsgeschichte resultierende Lexeme aufweisen. Ebenso kann die verbale Markierung von Themenabfolgen, interpropositionalen und interillokutionären Bezügen ausbleiben oder deren Erkennbarkeit durch die Polyfunktionalität von Verknüpfungsmitteln erschwert sein (vgl. Schuster 2001). Die historische Textbetrachtung sensibilisiert besonders für den selbstverständlich auch für heutige Texte gültigen Umstand, dass Texte Produkte von Zeit und auf Zeit sind. Sie sind Produkte von Zeit, da sie sowohl Materialisation eines über mehrere Stadien / Personen erfolgenden Schreibprozesses (zum Verhältnis von Konzept-Original-Kopie vgl. etwa Piirainen 2001) sein können als auch eine Prägung durch die Kommunikationsverhält-
18. Textlinguistik
269
nisse einer Zeit erfahren. Sie sind Produkte auf Zeit, da gerade Gebrauchstextsorten häufig nur eine beschränkte zeitliche Gültigkeit besitzen. Die Frage nach den Verstehensvoraussetzungen, nach der Kohärenz von Texten, auch im Zusammenspiel mit der Kohäsion, zu beantworten, erfordert demnach den Aufbau einer Ersatzkompetenz und besondere methodische Umsicht. Was verstehbar, verständlich und wie das Verstehen durch Techniken des Verständlich-Machens gestützt wird (vgl. Biere 1989), hat einen historischen Index. Um historische Texte in Hinsicht auf die Textualitätskriterien Kohärenz, Kohäsion und Akzeptabilität überhaupt beurteilen zu können, ist der Einzeltext in Beziehung zu anderen Texten zu setzen, sind Textsortenallianzen zu bezeichnen und sprachreflexive und -normierende Werke zu berücksichtigen. Damit steht die systematische Rekonstruktion der auf den jeweiligen historischen Text wirkenden und durch ihn aber auch konstituierten spezifischen Interaktion in Verbindung. Verbindet sich die Bestimmung der Kohärenz historischer Texte also mit der Erfassung von Situationalität und Intertextualität (bzw. Diskursivität), so besitzt das Textualitätskriterium Informativität in historischen Texten, auch aufgrund historisch variabler Stile, kaum Relevanz. Dabei ist hervorzuheben, dass die Erfassung von Kohäsionsmitteln bisher eher ein Nebenprodukt der historischen Syntax und Grammatik ist. Dennoch sind funktionale Betrachtungsweisen, der Abgleich kommunikativer Aufgaben und grammatischer Mittel, der historischen Grammatik nicht fremd, wie etwa eine Fülle von Studien zur rezeptionsbezogenen Syntax des Frühneuhochdeutschen zeigt (vgl. etwa Rössing-Hager 1983; Petry 1999; Dogaru 2006). Neben der Verschriftlichung und ihrer kulturellen Bedeutung stellt die damit einhergehende Textsortenexpansion einen wichtigen Ansatzpunkt historischer Betrachtung dar, wobei hier nach dem Verhältnis von Textsortenexpansion und der Herausbildung funktionaler Sprachvarietäten (vgl. Steger 1998, 297) zu fragen ist. Zwar ist mit unterschiedlichen Entwicklungen – je nach Kommunikationsbereichen – zu rechnen, in der institutionellen Kommunikation dürften jedoch Ausdifferenzierung der Institution und interne Homogenisierung der entstandenen Produkte miteinander korrelieren. Zur Erfassung dieses Zusammenhangs dominieren heute integrative Zugriffe, die sowohl funktionale als auch strukturelle Merkmale von Texten sowie intertextuelle Verknüpfungen zu anderen Texten berücksichtigen. Durch den integrativen Zugriff werden nicht nur Textfunktionen und -strukturen, sondern auch rekurrente lexikalisch-syntaktische Muster (vgl. Kapitel 4.2.3.) erkennbar. Neben der Rekonstruktion der historischen Ausprägung von Textualitätskriterien und der Modellierung von Textsorten sollte die historische Textlinguistik besonders dafür prädestiniert sein, Wandelphänomene zu erschließen. Dazu gehört nicht nur die Erfassung allmählicher Entwicklungen, die zu Konvergenz und Divergenz von Textsorten führen können, sondern auch die Wirkung besonderer Textsorten und ihrer charakteristischen Muster, denen ein kulturelles Prestige zugesprochen wird. Das kulturelle Prestige der Kanzleitexte zeigt sich etwa in den Schriften der Reformation und des Bauernkriegs (vgl. Brandt 1988; Bentzinger 2000, 1665), aber auch bei frühen Zeitungen (vgl. Demske-Neumann 1996).
270
II. Gebiete und Phänomene
4.
Historische Textlinguistik und Kanzleisprachenforschung
4.1.
Kanzleitexte und ihr Status in der institutionellen Kommunikation
Kanzleitexte spielen bei der Verschriftlichung des Lebens eine große Rolle, tragen wesentlich zur Textsortenexpansion bei und entwickeln ihr Funktionsprofil im Wechselspiel mit der Institution. Die Verschriftlichung des Lebens bedeutet nach BertelsmeierKierst im Hinblick auf das Rechtswesen Folgendes: In einer über Jahrhunderte auf der Autorität des mündlichen Verfahrens ruhenden Rechtskultur, in der die face-to-face-Kommunikation, der Einsatz von Stimme und Körper eine erhebliche Bedeutung für den Rechtsakt und seine Legitimierung in der mittelalterlichen Gesellschaft hatte, signalisiert die Ausbildung schriftlicher Rechtstraditionen einen tiefgehenden Umbruch sozialer, politischer und kultureller Prozesse. (Bertelsmeier-Kierst 2008, 12)
Die Autorin macht auf den Unterschied zwischen Verschriftlichung und Verschriftung aufmerksam, wobei sich letztere auf unmittelbare Reflexe der Sprechkultur beziehen solle: Ansonsten erweisen sich Aufbau, Sprache und Syntax als sehr normiert. […] Wir haben es also auch bei Urbaren, obwohl die Aufzeichnungen auf dem gewiesenen Recht beruhen, nicht mit ›Verschriftung‹, sondern ›Verschriftlichung‹ d. h. entwickelten Formen von Schriftlichkeit zu tun. (ebd., 59)
Aus diesem Zitat gehen einige für Kanzleitexte wichtige Bestimmungen hervor: der hohe Grad an Standardisierung und der nur punktuelle Einfluss der zu Grunde liegenden mündlichen Interaktionssituation. So weisen etwa auch frühneuzeitliche Protokolle, die auf mündlichen Verhandlungssituationen basieren, eine schriftsprachlich-professionelle Überformung auf. Wie Topaloviü (2003, Kap. 4.3.) gezeigt hat, gehört das Gebot neutraler Schriftsprachlichkeit zum Wissen des Protokollanten. In der zum Teil formelhaften Diktion können sich zwar Reflexe historischer Mündlichkeit zeigen, sie besitzen jedoch eine nur untergeordnete Bedeutung (vgl. Mihm 1995, 51). Die schriftsprachliche Überformung mündlicher (Rechts-)Handlungen lässt sich nun aus der Institution heraus erklären: Kanzleitexte sind Mittel und Ausdruck der institutionellen Kommunikation. Aus unterschiedlichen Perspektiven, so in der Sozialphänomenologie und ihrer Vorstellung kommunikativer Gattungen als »historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte Lösungsmuster für strukturelle kommunikative Probleme« (Luckmann 1986, 256), in der Funktionalpragmatik (vgl. Ehlich 2000) oder in der Systemtheorie (vgl. Luhmann 1998), ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass institutionelle Kommunikation an ein Ensemble rekurrenter kommunikativer Aufgaben, Zwecke oder binärer Codes gebunden ist, die standardisierte kommunikative Lösungen bedingen, die das Schreiberindividuum kaum mehr erkennen lassen: Kommunikative Musterbildung und Institutionalisierung gehen – schon aufgrund ihrer Rechtsverbindlichkeit – Hand in Hand (vgl. etwa auch Meier / Ziegler 2004, 133). In Institutionen ist der einzelne Text immer auf eine Anschlusskommunikation verpflichtet, durch die die Zuordnungen zu und Abgrenzungen von anderen Institutionen ebenfalls kommuniziert werden. Texte verweisen also immer schon auf Prätexte und schränken auch die sprachlichen Gestal-
271
18. Textlinguistik
tungsmöglichkeiten der folgenden Texte ein, ohne sie deshalb zu determinieren – sie sind damit dynamisch stabil. Texte sind damit nicht nur Ausdruck und Vermittlungsinstanz sprachlicher, durch den Usus einer Kanzlei vermittelter sprachlicher Konventionen, sondern sie sind mit Vorgängertexten einer Kommunikationsgeschichte vernetzt (z. B. ein Antwortschreiben). Ihre Produzenten müssen sich auf schon gefundene Lösungen zu institutionellen Problemen beziehen, die als Textmuster (etwa die Abfolge von salutatio, exordium, narratio, petitio und conclusio beim Brief ) durch Briefsteller präsent sind. Auf die Bedeutung von Briefstellern, Formular- und Musterbüchern wie die Formulare und deutsch rhetorica, auch im Hinblick auf die idealtypische Struktur der Urkunde (vgl. Abb. 1), wurde oft verwiesen (vgl. u. a. Grolimund 1995; 2001; Meier 2004; 2007; 2009). Textteile I. Protokoll
II.
Substantia
III. Eschatokoll
Elemente der Textstruktur 1. Invocatio 2. Intitulatio 3.
Inscriptio + Salutatio
4. 5. 6.
Arenga (= Prologus, Exordium) Promulgatio Narratio
7.
Dispositio
8.
Sanctio
9. Corroboratio 10. Subscriptio 11. Datierung 12. Apprecatio
Inhalt Anrufung des göttlichen Namens. Angabe von Namen und Titel des Ausstellers. Angabe von Namen und Titel des Empfängers + Gruß. Einleitende Formel literarischen Charakters. Bekanntgabe des Willens des Ausstellers. Umstände, die der Rechtshandlung vorausgingen. Darlegung des beurkundeten Rechtsgeschäfts. Formelhafte Anordnung weltlicher oder geistlicher Strafen für den Fall einer Verletzung des Rechtsgeschäfts. Angabe der Beglaubigungsmittel. Unterschriften des Ausstellers und der Zeugen. Datenangaben. Formelhafter Schlußwunsch.
Abb. 1: »Idealstruktur einer Urkunde« (Spáþilová 2000a, 109)
Mit Meier / Ziegler (u. a. 2001; 2004; vgl. Abb. 2) lässt sich notwendige Verwiesenheit auf Prätexte sowohl als Partizipation an der institutionellen Interaktion als auch am kanzleisprachlichen Diskurs lesen, der von ihnen epistemologisch verstanden wird. Gemeint sind Wissensvoraussetzungen, die in die Produktion, jedoch auch in die Rezeption kanzleisprachlicher Texte einfließen.
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II. Gebiete und Phänomene
Abb. 2: »Einflussgrößen« (Ziegler 2003, 88)
Die institutionelle Einbettung und die damit verbundene Ähnlichkeit der Schreibaufgaben bei vorhandenen Mustern für Brief, Urkunde oder Protokoll führt zu einer Gleichförmigkeit von Texten (vgl. Spáþilová 2000a, 98). Textproduzenten folgen nun jedoch nicht sklavisch starren Vorgaben: Zum einen unterscheiden sich die Kanzleitextsorten hinsichtlich ihrer Formelhaftigkeit, zum anderen erlauben einige Textteile (etwa die narratio) eine an die Spezifika der Situation angepasste Realisierung, die gegebenenfalls auch Besonderheiten einzelner Schreiber deutlich machen kann: In den stark formelhaften Rahmen des Texttyps Urkunde […] sind einzelne Textsorten eingebettet. Den Raum für ihre Gestaltung bieten die Narratio und die Dispositio. Die Darstellung einzelner Textsorten erfolgt nach den Regeln der Rhetorik: Formulierungsmuster entsprechen den realisierten Sprechhandlungen, die in einer konkreten Rechtssituation geführt werden. […] Stark normierte Textsorten (z. B. Vidimus) erlauben keine kreative Tätigkeit; der Schreiber hält sich streng an das Formulare. Es gibt jedoch Textsorten, deren einzelne Textexemplare nach einer konkreten Situation zu formulieren waren. Die inhaltliche Struktur dieser Textsorten umfaßt neben formelhaften Elementen auch solche, die der Schreiber frei abfassen mußte. (Spáþilová 2000a, 293)
Sowohl Spáþilová (2000a) als auch Ziegler (2003) stellen fest, dass sich kaum ein Schreiber beispielsweise an die ideale zwölfgliedrige Struktur der Urkunde hält: »In der Substantia fehlt stets die Arenga, eine diesen Teil der Urkunde einleitende, nicht rechtserhebliche Formel literarischen Charakters, die dem Verfasser die Möglichkeit gab, sich individuell zu präsentieren« (Spáþilová 2000a, 111).
18. Textlinguistik
4.2.
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Textlinguistische Erfassung der Kanzleitexte
4.2.1. Textfunktion Aus dem institutionellen Charakter der Kanzleikommunikation ergeben sich bestimmte Textfunktionen. Dazu gehören zum einen institutionsstabilisierende Funktionen (so das Präsenthalten von Wissensbeständen), zum anderen Funktionen, die mit dem rechtlichen Status der in der Kanzlei verfassten Texte zusammenhängen und die häufiger als deklarativ oder deontisch (vgl. Schröder 2001, 110) bezeichnet werden. Zum Dritten besitzen Kanzleitexte auch sozialsymbolische Funktionen (bezogen auf ihr kulturelles Prestige). In den meisten Klassifikationen tauchen die genannten Funktionen, wenngleich mit zum Teil anderen Bezeichnungen, wieder auf: In Anlehnung an die Funktionstypologie von Heinemann / Viehweger (1991, 148) sich ausdrücken, kontaktieren, informieren, steuern sehen Meier / Ziegler (2001, 144) die folgenden »Primärfunktionen der städtischen Kommunikationspraxis« vor: Dokumentation (mit der dominanten Funktion Erinnern und Bewahren), Information (mit der dominanten Funktion Informieren), Appellation (mit der dominanten Funktion Kontaktieren), Legitimation (mit der dominanten deklarativen Funktion In-Kraft-Setzen), Instruktion (mit der dominanten direktiven Funktion Steuern und Gebieten). Das Erinnern und Bewahren ist auf die interne Stabilisierung der Institution bezogen, während die anderen Funktionen im weiteren Sinne als kommunikativ zu bezeichnen sind. Andere Veröffentlichungen arbeiten in Anlehnung an die von Brinker (2005) oder Rolf (1993) vorgeschlagenen Textfunktionen, die auf der Sprechakttheorie basieren (so etwa deklarativ, kommissiv, informativ / assertiv, expressiv, appellativ / direktiv). Gegen eine ausschließliche Modellierung der Textfunktion auf der Grundlage der Sprechakttheorie sind jedoch die Argumente einzuwenden, die überhaupt das Arbeiten mit der Sprechakttheorie in der Sprachwissenschaft erschweren: Zum einen ist es unumgänglich, mit der Vorstellung von dem Paar direkt und indirekt zu arbeiten. Zum anderen werden Texte, die auf illokutionärer und propositionaler Zweistelligkeit (z. B. mit erläuternden Funktionen, etwa Rechtsbelehrungen) basieren, nicht erfasst. Zum Dritten muss bei Texten – als einem Ensemble aufeinander folgender Sprachhandlungen – eher eine Polyfunktionalität denn eine Monofunktionalität angenommen werden. Stadtbucheinträge (beispielsweise Schuldbriefe oder Testamente) werden etwa von Wiktorowicz (2007, 276) grundsätzlich als indirekt deklarativ gewertet, obgleich sie in ihrer Formulierung eher assertiven darstellenden Textsorten entsprechen sollen. Ähnlich misst er Kauf- oder Werkvertrag, Bürgschaft, Eid, Gelübde oder Erlaubnis eine indirekt kommissive Textfunktion zu, da sie nach dem Muster des Berichts vertextet werden, also wiederum eine assertive Funktion haben. Spáþilová, die in ihren unterschiedlichen Veröffentlichungen mit den Funktionen Brinkers arbeitet, misst dem Testament im Gegensatz dazu eine rein deklarative Funktion zu (vgl. Spáþilová 2000a, 253). Stärker mit der Annahme der Polyfunktionalität historischer Texte arbeitet Mihm (1999, 22). Er zeigt anhand der Kodifi kation Duisburger Rechtsaufzeichnungen aus dem Jahr 1532, wie direktive Funktion, judikationsregelnde Funktion, repräsentative Funktion (bezogen auf die Materialität der Rechtsaufzeichnung), limitative Funktion und die sozialsymbolische Funktion zusammenwirken. Möglicherweise würde es sich anbieten,
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II. Gebiete und Phänomene
Funktionen entlang einer Interaktionsgeschichte zu denken: So unterscheidet Franke (1987) zwischen sprechakt-korrelierenden Texttypen des ersten, zweiten und dritten Zugs (etwa Nachfrage) und dialog-korrelierenden Texttypen (z. B. Verhandlungstexte). Bei der Durchsicht der Veröffentlichungen ist zudem auffällig, dass alternative handlungstheoretische Modelle, wie sie von Schröder (2003) umfassend beschrieben worden sind, nicht genutzt werden. Handlungstheoretische Modelle orientieren sich zentral eher daran, welche kommunikativen Aufgaben in einem Text erledigt werden müssen und wie lexikalische und grammatische Mittel in einen Bezug zueinander zu setzen sind. 4.2.2. Makrostrukturen von Kanzleitexten Neben der Modellierung von Textfunktionen konzentriert sich die Kanzleitextforschung auf Makrostrukturen, zu deren Ermittlung unterschiedliche Vorschläge gemacht wurden. Insgesamt wird der Begriff Makrostruktur eher in loser Verknüpfung zu van Dijk (1980) gebraucht, da die Ermittlung von Makrostrukturen durch Makroregeln an historischen Texten meines Wissens nicht erprobt worden ist. Meier (2001), Ziegler (2003) oder Meier / Ziegler (2001, 228) vertreten die Vorstellung, dass sich die Makrostruktur aus einer Textarchitektur und inhaltlichen Textkomposition zusammensetze, während die Mikrostruktur sich durch topikalisch-rhematische Verknüpfungen und Propositionalität charakterisiere. Für die von ihnen untersuchten Stadtbücher bilden sich ein narrativer Typus, ein registrativer Typus und ein protokollierender Typus heraus. Interpropositionale Relationen im Sinne von Sachverhaltsverknüpfungen wie bei van Dijk (1980, 22ff.), Heinemann / Viehweger (1991, 42ff.) oder Heinemann / Heinemann (2002, 77) werden hier wie in anderen Ansätzen nur am Rande thematisiert. Ähnlich vertritt Bieberstedt bei seiner »strukturell-funktionalen Herangehensweise« (2009, 15) die Auffassung, dass die Makrostruktur eine »abstrakte Globalstruktur« (ebd.) sei und sich von Basisstrukturen, Substrukturen und Mikrostrukturen abgrenzen ließe. Während die Makrostruktur beim Testament die Bestandteile Eingangsprotokoll, Substantia und Eschatokoll aufweise, finde sich beim Eingangsprotokoll die Basisstrukturebene der Invocatio und der Intitulatio, die wieder bestimmte Formelemente hervorbringe, so etwa performative Vollzugsformeln wie die Überlassungsformel (vgl. ebd., 21), die wiederum mit Konditionalklauseln verbunden sei. Spáþilová (2000a, 108) hingegen unterscheidet in unterschiedlichen Veröffentlichungen zwischen Textstrukturen und inhaltlichen Strukturen. Der Erfassung von Makrostrukturen scheint die Auffassung zu Grunde zu liegen, dass sie Aufbauprinzipien von vor allem Brief und Urkunde widerspiegele und eine Art Raster darstelle, das mit einer inhaltlich-thematischen Struktur verbunden ist. Dabei ergeben sich Korrespondenzen zwischen der Position einer Äußerung in der Makrostruktur und ihrer syntaktischen Gestaltung, lexikalischen Formulierung und pragmatischen Bedeutung. Allerdings werden – im Gegensatz zu anderen Bereichen der Textlinguistik – andere Textebenen (vgl. etwa Motsch 1996, 17: semantische Textstruktur, Illokutionsstruktur) kaum erwähnt, allerdings angeschnitten: So spricht Spáþilová (2007, 4279) von der Aufeinanderfolge der relevanten Sprechhandlungen bei der Ratsschlichtung. Eher eine Ausnahme stellt Wiktorowicz dar, der Texte mit Bezug auf Heinemann / Viehweger (1991) als Handlungsmuster erfasst (vgl. etwa Wiktorowicz 2009, 249).
18. Textlinguistik
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4.2.3. Mikrostrukturen in Kanzleitexten Korrespondierend mit dem rechtsverbindlichen Charakter werden vor allem performative Formeln bzw. deklarative Sprachhandlungen erfasst. Zu den performativen Formeln gehören z. B. die der testamentarischen Donation, etwa jmdm. etwas bekennen und geben (vgl. Kaleta-Wojtask 2001, 263ff.), performative Formeln deklarativen Charakters wie her x hat bekannt, x und y haben bekannt (vgl. Wiktorowicz 2007, 275), die Formulierung der Promulgatio mittels thun kund (notum facimus als Vorbild) oder Schluss- (von rechts wegen) bzw. Appellationsformeln (vgl. Waligóra 2007, 269). Häufiger wird, im Zusammenhang mit der textkonstitutiven Bedeutung von Stil, auf Zwillingsformeln aufmerksam gemacht, die ein Behelf für Schreiber aus dem Frühneuhochdeutschen gewesen sein sollen, »um den vollen Umfang eines Begriffs durch Summierung ähnlicher oder identischer Bezeichnungen zu verdeutlichen« (Spáþilová 2007, 436). Bei lexikalischsyntaktischen Konstruktionen wird die Verwendung von Appositionen thematisiert, die sich in der Intitulatio bei der Parteienidentifizierung und zur Markierung rechtsverbindlicher Positionen findet (vgl. Spáþilová 2000a, 122; Ziegler 2003, 238; Wiktorowicz 2007, 277). Zu den häufiger genannten Strukturen gehören Partizipial- und Infinitivkonstruktionen (vgl. Dogaru 2009, 83) oder Nominal- oder Präpositionalgruppen, etwa zur Darstellung des Streitgegenstandes im Schlichtungsprotokoll (von ihres erbteils wegen, von solcher sachen wegen) (vgl. Spáþilová 2007, 435). Daneben schließen sich die Texte an rechtssprachliche Tendenzen an, wie bei der Nutzung der Univerbierung, bei der Bildung von Abstrakta oder bei der Nutzung des Nominalstils (vgl. Ziegler 2009). Zusätzlich ergeben sich Textsortenpräferenzen im syntaktischen Bereich: So werden Präferenzen für Gefügetypen, für geschlossene Gefüge (besonders mit Subjektsätzen) z. B. bei Dekreten (vgl. Waligóra 2007, 265), oder die Bevorzugung bestimmter Adverbialsätze wie etwa Konditionalsätze genannt: Konditionalsätze sind imstande, Rechte und Pfl ichten eines Zunftmitglieds auszudrücken – sie kommen am häufigsten vor. Sie nennen Bedingungen, die oft als Rechte des Zunftmitglieds interpretiert werden können, aus denen sich Pflichten ergeben. (Spáþilová 2000a, 269)
Daneben werden auch sprachliche Mittel thematisiert, die besonders mit dem Kanzleistil verbunden sind: Dogaru (2009, 74) verweist auf kanzleistilistische Elemente wie so, die aus der Interrogativreihe entstandenen Relativpronomen wer und welcher / welches oder welch + Substantiv und Subjunktionen wie wenn / wann, ab / ob, wo und so. 4.2.4. Forschungsdesiderate Da der Fokus der Kanzleitextlinguistik auf dem skizzierten Wechselverhältnis zwischen Makro- und Mikrostrukturen liegt, werden textgrammatische / -semantische Fragen der Textkonstitution eher am Rande behandelt. Der Aufbau von Koreferenzbeziehungen, die Rolle und der Status von Deiktika oder auch die texttopische Metakommunikation beispielsweise mittels Querverweisformeln (vgl. Gloning 2003, 405ff.) werden wenig thematisiert. Inwiefern Kanzleitexte eine besondere Abfolge von Nominalisierung – Pronominalisierung – Renominalisierung aufweisen, wäre in einer Geschichte des Verständlich-Machens ebenso zu untersuchen wie die zur Verfügung stehenden sprachlichen
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II. Gebiete und Phänomene
Mittel, um Textreferenten zu identifizieren oder auszuzeichnen. Im Hinblick darauf, dass der Sprachgebrauch in der Kanzlei sowohl kreative als auch retardierende Momente (vgl. Ziegler 2003, 94) enthält, ließen sich zudem häufig mit der Kanzleisprache identifizierte sprachliche Einheiten und ihr Anteil an der Textsortenkonstitution ermitteln. Da mit der Kanzleisprache bestimmte Relationshinweise (etwa Subjunktionen wie sintemal) assoziiert werden, sollte ihre kotextuelle Funktion, zu denen etwa die Abschnittsgliederung (so durch Item), die Initialisierung eines neuen Themas oder Subthemas, etwa durch dann bei einer narrativen Vertextungsstrategie, oder die Verbindung interpropositionaler Relationen detailliert herausgearbeitet werden. Obwohl sowohl in der Kanzleisprachenforschung als auch in der historischen Linguistik eine Fülle text(sorten)linguistischer Untersuchungen veröffentlicht worden ist, fehlen noch größere Längsschnittuntersuchungen zu einzelnen Textsorten und besonders zur Übergangsphase vom Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen (eine Ausnahme vgl. Fritz / Straßner 1996). In gleicher Weise fehlen in der Kanzleisprache empirische Studien zur Textsortengenese und besonders dazu, wie Kanzleitexte im 17. und 18. Jahrhundert ausgesehen haben. Mit dem genannten Zeitabschnitt ist auch verbunden, wann die Kanzlei vom Vorreiter zum Nachzügler wird (vgl. Brooks 2001) und ihre Vorbildwirkung auf andere Textsorten verliert. Bisher ist diese Frage nahezu ausschließlich unter Rekurs auf sprachreflexive Werke, nicht aber in Bezug auf potentiell veränderte Textsortenallianzen untersucht worden. Die Veränderung von Kanzleitextsorten, gehen mit ihnen nicht direkt institutionelle Wandlungen einher, darf man sich ebenso kleinschrittig wie epochemachend vorstellen: Bei allen Textsorten, bei denen nicht eine Instanz ganz bestimmte Vorgaben setzt, sondern die in der Verantwortung individueller Produzenten liegen, vollzieht sich die Entwicklung demgegenüber allmählich, und jeder Einzeltext wirkt, wenn auch nur in einem minimalen Ausmaß, auf den Typ zurück, bekräftigt das geläufigste Realisierungsmuster oder aber weicht davon mehr oder weniger stark ab. (Adamzik 2008, 173)
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II. Gebiete und Phänomene
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18. Textlinguistik
281
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Albrecht Greule, Regensburg (Deutschland)
19. Textsorten der Kanzleisprachen
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Fragestellung Textklassifikation und Quellenkunde Textsorten und Kommunikationsbereiche Von der Textsorte zum Textmuster Nomenklatur und Forschungen Literatur
Fragestellung
Um die Problematik der viel diskutierten Textsortendefinition und Textsortenbeschreibung soweit wie möglich zu umgehen, wird der Artikel auf die Fragestellung konzentriert: Wie lässt sich das in den Kanzleien verfertigte deutschsprachige Schrifttum (Kanzleischrifttum) übersichtlich klassifizieren? Dabei werden unter weitgehender Vermeidung des Terminus Textsorte zwei Möglichkeiten der Klassifikation beschrieben: 1. Zuordnung zur geschichtswissenschaftlichen Quellenkunde, 2. Einordnung der Fragestellung in die Historiolinguistik.
2.
Textklassifikation und Quellenkunde
Die in den Historischen Hilfswissenschaften gängige Auffassung von Quellen (»Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann«, Kirn nach von Brandt 1986, 48) muss im Hinblick auf das Schrifttum der Kanzleien auf spezielle Quellenkunde eingeschränkt werden. Denn es geht beim Kanzleischrifttum um zeitlich (im Wesentlichen Frühe Neuzeit), räumlich (Kanzleien, in denen deutsch geschrieben wurde) und sachlich (vornehmlich Geschäftsschrifttum) begrenzte, schriftliche Quellen. Als Schriftgut gehört die Kanzleiproduktion zu jenen Quellen, die »in ihrer Entstehung nicht den Zweck der historischen Unterrichtung der Mit- und Nachwelt verfolgen, sondern aus anderer Zwecksetzung […] entstanden« sind (von Brandt 1986, 53), aber für die mittelalterliche und neuere Geschichte die wichtigste und umfangreichste Gruppe darstellen. Es handelt sich um Texte, die aus geschäftlichen oder privaten Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart zu dem Zweck entstanden, Geschäftliches, Rechtliches, Politisches, Wirtschaftliches oder Persönlich-privates zu dokumentieren. Es geht um das Schriftgut,
284
II. Gebiete und Phänomene
das die Archive zur Verfügung stellen können: Gesetze und Verträge, Privilegien und Mandate, Schenkungs-, Kauf- und Verkaufsurkunden, Geschäftsbriefe, Gerichts- und Verwaltungsakten, politische Korrespondenzen, Protokoll- und Rechnungsbücher usw., kurzum alles das, was unter den beiden großen Sammelbegriffen der Urkunden und Akten zusammenzufassen ist. Daneben gehören hierher aber auch Schriftquellen des nichtgeschäftlichen Bereichs wie Privat-(auch Liebes-)Briefe, Werke der Wissenschaft, der Dichtkunst, der Unterhaltung usw. […]. (von Brandt 1986, 53f.)
3.
Textsorten und Kommunikationsbereiche
Nach der Öffnung der Archive in den ehemaligen Ostblockstaaten nach 1989 konnten die dortigen Archivbestände systematisch auf frühneuhochdeutsches Kanzleischrifttum durchforstet werden. Ein Teilergebnis seiner umfangreichen Forschungen in den sehr ergiebigen slowakischen Archiven legte Jörg Meier mit der Darstellung der Bestände der Kanzlei der Stadt Leutschau / Levoþa in der Ostslowakei vor (vgl. Meier 2004). Es werden dabei drei Großbereiche der kanzlistischen Textproduktion unterschieden: 1. Stadtbücher (81 Exemplare), 2. Urkunden (196 Exemplare) und 3. Briefe (2.086 Exemplare). Die Kriterien der Differenzierung sind vorwiegend textextern-funktional. Stadtbücher enthalten Eintragungen aller Lebenssphären der Stadt und ihrer Bürger. Sie werden entsprechend subklassifiziert in a) »Bücher der städtischen und außerstädtischen Gerichtsbarkeit«, b) »Bücher der städtischen Administration und des Gerichtswesens« und c) »Bücher der städtischen Finanzen und Wirtschaft« (Meier 2004, 112ff.). Als schriftliche Zeugnisse rechtlicher Übereinkommen sind Urkunden die typischen Produkte der mittelalterlichen Kanzleien; sie werden aber ab dem Ende des 14. Jahrhunderts nach und nach in ihrer Anzahl von Stadtbüchern und Briefen übertroffen. Die thematisch äußerst vielfältigen Urkunden der Stadtkanzlei in Leutschau werden von Meier (ebd., 128ff.) in drei Klassen unterteilt: a) »In Angelegenheiten der Stadt herausgegebene«, b) »In Angelegenheiten der Bürger, Adligen und anderer Städte herausgegebene«, c) »Urkunden der Bürger«. Besondere Dokumente der Kommunikationspraxis einer Stadt in der Frühen Neuzeit sind Briefe. Meier unterteilt die im Leutschauer Archiv vorfindlichen gut 2.000 Briefe in zwei Subklassen: a) Briefe der Stadt (Korrespondenz Leutschaus mit anderen Städten), b) Briefe der Bürger (vgl. ebd., 131ff., mit Gesamtverzeichnis der städtischen Korrespondenzen sowie der Briefe der Notare und Stipendiaten: 245ff.). Im Rahmen einer Paralleluntersuchung bietet Arne Ziegler einen Überblick über sämtliche im Stadtarchiv von Pressburg / Bratislava lagernde frühneuhochdeutschen Texte bis zum Jahr 1500 (vgl. Ziegler 2003, 339ff.); zum Problem der Klassifizierung dieses Textbestandes vgl. Kapitel 4.
4.
Von der Textsorte zum Textmuster
Die pragmalinguistische Beschreibung der städtischen Kommunikationspraxis anhand der deutschsprachigen Textproduktion der Kanzlei in Pressburg / Bratislava im 14. und 15. Jahrhundert erforderte auch Ansätze zu einer Textklassifi kation. Arne Ziegler (2003,
19. Textsorten der Kanzleisprachen
285
279ff.) geht dabei den Weg von der Textsorte zum Textmuster und schließt von Textsorten auf Textmuster: »Während Textsorten – im Alltagsverständnis – immer an konkrete Realisationsformen von Texten gebunden sind […], werden Textmuster, als abstrakte Modelle, idealtypisch verstanden« (ebd., 280). Ein Textmuster ist beispielsweise das Stadtbuch, das nicht nur als heterogene Einheit, sondern auch als mediale, kommunikative, funktionale und textstrukturelle Einheit verstanden werden kann. Es handelt sich um eine Kommunikationsform mit dominant dokumentativer Funktion (vgl. ebd., 305). Das spezifische Textmuster konstituiert sich aus der Makrostruktur der Stadtbücher. Hierfür werden drei Prototypen ermittelt: 1. narrativer Prototyp, 2. registrativer Prototyp, 3. protokollierender Prototyp. Nicht in jedem Fall ist das prototypische Muster vollständig realisiert (vgl. ebd., 307f.). Eine Tabelle verdeutlicht die Verteilung der makrostrukturellen Prototypen auf das Textspektrum, das sich aus Memorialen / Konzepten, Rechtstexten, Verkaufsurkunden, Schuldverschreibungen, Quittungen, Testamenten, Protokollen, Briefen, Registern und Stadtbüchern zusammensetzt. Darunter sind Register, Protokolle und Briefe / Urkunden so genannte Basisklassen (vgl. ebd., 315).
5.
Nomenklatur und Forschungen
Einer eindeutigen Klassifikation des Kanzleischrifttums stellt sich nicht zuletzt die Nomenklatur in den Weg. Weder die Selbstbenennungen noch die Benennungen der Quellen in den Archiven sind einheitlich und eindeutig. Sie schwanken von Land zu Land, von Landschaft zu Landschaft. Benennungsgründe können sein: die Thematik (z. B. verzeichnen Privilegienbücher der Stadt verliehene Privilegien), die Funktion (Geleitbücher dienten der Vollstreckung gegen auswärtige Schuldner), die Institution, in der die Texte aufgezeichnet wurden (z. B. Ratsbücher), der Aufbewahrungsort (Schreinsbücher wurden im Schöffenschrein aufbewahrt) (vgl. Geuenich 2000, 21f.) oder sogar die Farbe des Einbands (z. B. sind die Einbanddeckel des Gelben Stadtbuchs der Stadt Regensburg mit gelblichem Pergament überzogen). Während Urkunde dank einer langen intensiven Erforschung dieser Quellengattung, die bis in die Antike zurückreicht, klar definiert ist als »ein unter Beobachtung bestimmter Formen ausgefertigtes und beglaubigtes Schriftstück über Vorgänge von rechtserheblicher Natur« (von Brandt 1986, 82), gibt es für die Quellengattung Verzeichnis der Grundstücke einer Grundherrschaft und der darauf ruhenden Lasten und Rechte verschiedene, teils landschaftlich unterschiedliche Namen: Liber praedialis, Polyptychon, Berain, Lagerbuch, Rodel, Salbuch, Urbar (vgl. Geuenich 2000, 25). An den Versuchen, die Vielfalt der Stadtbücher zu gliedern, hält Geuenich (vgl. ebd., 26) folgende Dreiteilung für sinnvoll: a) Bücher des Rats (mit Ratsprotokollen, Ratsbeschlüssen, Satzungen, Privilegien usw.), b) Bücher des Gerichts (mit Eheverträgen, Erbschaftssachen, Testamenten usw.), c) Bücher der Finanzverwaltung (mit Steuerbüchern, Kämmereibüchern, Rechnungsbüchern, Zinsregistern usw. In Österreich sind die Stadtbücher nur eine Untergruppe der Stadtrechtsquellen. Innerhalb dieser Quellengattung sind darüber hinaus Satzungen (Stadtrechte, Handfeste, Willküren), Stadtrechtsbücher und sonstige (Urteilssammlungen, Gerichtsprotokolle usw.) zu unterscheiden. Die Gruppe der Stadtbücher umfasst ihrerseits in Österreich:
286
II. Gebiete und Phänomene
Urkundensammlungen, Steuerbücher, Ratslisten, Testamente, Handwerkerordnungen (vgl. Ernst 2000, 501f.) Während das Kanzleischriftgut aller Gattungen in unterschiedlicher Intensität der Geschichtswissenschaft als Quelle der Geschichtsschreibung dient, liegt das Interesse der Sprachwissenschaft in erster Linie in der Erforschung der in den Texten verwendeten Schreibdialekte, in dem zu einer einheitlichen deutschen Schriftsprache führenden Sprachausgleich und in dem in den Texten fixierten Namenschatz (vgl. Debus 2000).
6.
Literatur
Brandt, Ahasver von (1986), Werkzeug des Historikers: eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, 11. Aufl., Stuttgart. Debus, Friedhelm (Hrsg.) (2000), Stadtbücher als namenkundliche Quelle. Vorträge des Kolloquiums vom 18.–20. September 1998, Stuttgart. Ernst, Peter (2000), »Stadtbücher und verwandte Quellen in Österreich, exemplarisch dargestellt«, in: Friedhelm Debus (Hrsg.), Stadtbücher als namenkundliche Quelle. Vorträge des Kolloquiums vom 18.–20. September 1998, Stuttgart, 501–516. Geuenich, Dieter (2000), »Was sind eigentlich ›Stadtbücher‹? Versuch einer Definition«, in: Friedhelm Debus (Hrsg.), Stadtbücher als namenkundliche Quelle. Vorträge des Kolloquiums vom 18.–20. September 1998, Stuttgart,17–29. Meier, Jörg (2004), Städtische Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Historische Soziopragmatik und Historische Textlinguistik, Frankfurt am Main u. a. Ziegler, Arne (2003), Städtische Kommunikationspraxis im Spätmittelalter. Historische Soziopragmatik und Historische Textlinguistik, Berlin.
Erika Windberger-Heidenkummer, Graz (Österreich)
20. Onomastik
1. 1.1. 1.2. 2. 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.2. 4. 5.
Kanzleisprache und Onomastik Kanzleisprache als sprachhistorische Größe und als Terminus in der Onomastik Kanzleisprachenforschung und Onomastik: Konvergenzen und Divergenzen Namenforschung und kanzleisprachliche Textsorten Von der Diplomatik und Quellenkritik zur Pragmatik und Korpuslinguistik Quellentypen mit hohem Auswertungspotenzial Urkunden Urbare Stadtbücher Fragestellungen, Auswertungen und Ergebnisse Anthroponomastik Rufnamen Bei- und Familiennamen Toponomastik Zusammenfassung Literatur
1.
Kanzleisprache und Onomastik
1.1.
Kanzleisprache als sprachhistorische Größe und als Terminus in der Onomastik
Der Begriff Kanzleisprache umfasst im weitesten Sinn den besonderen administrativen Sprachgebrauch von Herrschafts- und Verwaltungszentren. In engerer Definition bezieht sich Kanzleisprache auf die Geschäftssprache weltlicher (höfischer, städtischer) wie kirchlicher (klösterlicher) Kanzleien Europas im Mittelalter und in der Neuzeit. Die örtlich gebundene, meist städtische Kanzlei »fungiert als institutioneller Rahmen, der einen spezifischen kanzleisprachlichen Schreibusus überhaupt erst ermöglicht« (Ziegler 2003, 29). Mit der Tradierung und dem Ausbau spezieller Textsorten und Textmuster wird in Kanzleien das Ziel verfolgt, wirtschaftspolitische und rechtlich relevante Diskurse effizient(er) zu gestalten. Im kanzlei- bzw. geschäftssprachlichen Schriftverkehr erfüllen Eigennamen eine wesentliche Funktion: Sie sind die unbedingt erforderlichen, möglichst stabil zu haltenden sprachlichen Zugriffsindizes auf gespeicherte und noch zu speichernde mentale Daten über einzelne Objekte bzw. Individuen, die es zu identifizieren gilt. Mehr noch, kanzleisprachliche Kommunikation fördert den Ausbau onymischer Benennungssysteme, weil bestimmte Personenkreise wirksam registriert und Raumausschnitte ausreichend identifiziert werden müssen. Obwohl die historische Namenforschung zunehmend Rücksicht auf den situativen Kontext kanzleisprachlicher Texte nimmt und bei der Datengewin-
288
II. Gebiete und Phänomene
nung und -auswertung auch nicht auf intertextuelle Bezüge verzichten kann, bedingt die Spezifik des Eigennamens immer auch eine partikularisierende und isolierende Deskription. Der Name wird meist rasch aus dem Text herausgezogen, allenfalls wird noch sein Mikrokontext berücksichtigt. Im toponomastischen Sektor wird er mit seinem Denotat verknüpft, sei es, um Benennungsmotive zu erkennen und eine Etymologie zu erstellen, sei es, um in die historische Entwicklung proprialer Systeme zu blicken. Bei Anthroponymen stellen sich in diesem Punkt aufgrund ihrer Wählbarkeit andere Fragen, da Etymologien und Deutungen nur vom Namen derjenigen Person aufstellbar sind, für die dieser Name geprägt wurde. Die Frage »Wie erfüllen die Namen ihre Funktion in einem juristischen Kontext?« (Koß 2000a, 305) deckt das klassische selegierende Prinzip implizit auf und erfordert Antworten, die stärker namenpragmatisch und textlinguistisch ausgerichtet sind. Kanzleisprache taucht nur sporadisch als Terminus in onomastischen Publikationen auf. In einem Beitrag zur historischen Phonetik und Graphematik der Namen interpretiert Kleiber beispielhaft die Alternanz von und in schwäbischen Toponymen des 13. bis 15. Jahrhunderts (vgl. Kleiber 1995, 596ff.). Der Befund ergibt, dass in zehn Kanzleien (Skriptorien) im Gebiet des mittleren Neckars ausschließlich vorkommt und nur in einer alem. oder überwiegt (Kanzleiortlokalisation). Die Kartierung der an den jeweiligen Kanzleiorten lokalisierten Toponyme (Besitzortlokalisation) zeigt ein eindeutiges -Areal, lässt die Verschriftung der Toponyme als Direktwiedergabe regionaler sprechsprachlicher Realität erkennen und spiegelt eine historische Isoglosse. Kanzleisprachliche Normierung und Stilisierung im proprialen Schreibgebrauch frühmittelalterlicher Reichskanzleien thematisiert Menke (vgl. 1996, 1686ff.). Er verweist u. a. auf die zitatähnliche Einbettung volkssprachlicher Namen im (noch) lateinischen Urkundenkontext und auf eine für die Rechtswirksamkeit geforderte Latinisierung von Herrschernamen. Ein weiteres Beispiel für die Einbindung des Begriffs Kanzleisprache ist der Beitrag Diffusion oder Polygenese? Zur Interpretation onomastischer Karten von Rosa und Volker Kohlheim. Sie verweisen auf die ostmitteldeutschen, seit dem 16. Jahrhundert auftretenden »kanzleisprachlichen Ortsnamenschreibungen auf -a« (Kohlheim / Kohlheim 2007, 63) und vermuten, dass es vom 15. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts auch Schreiber gegeben habe, die südwestdeutsche Zunamen, Herkunftsnamen wie Balgheim und Behaim (Böhmen), willkürlich zu Balga (vgl. Nied 1938, 38) und Beha (vgl. Nied 1938, 25) transformiert hätten. Am Zunamen Blaha wird gezeigt, dass sich bisherige etymologische Ansätze dahingehend vervollständigen lassen. Eine explizite Verbindung zwischen Kanzleisprache und Onomastik stellt auch Hellfritzsch her. Er spricht von einer »onymischen Komponente der Zwickauer und Chemnitzer Kanzleisprache« (Hellfritzsch 2007, 488) und erörtert zentrale und periphere Graphien in überregionalen Zusammenhängen. Die Kanzleien beider Städte haben einen eigenständigen Anteil an der Herausbildung großräumlicher schriftsprachlicher Einheiten, der sich auch am begrenzten Material des Personennamenbestandes (vgl. Hellfritzsch 2007, 488ff.) abbildet.
20. Onomastik
1.2.
289
Kanzleisprachenforschung und Onomastik: Konvergenzen und Divergenzen
Methodische Zugriffe der Kanzleisprachenforschung und Onomastik lassen sich in einigen Punkten durchaus vergleichen. Onomastische Innovationen und Systembildung, wozu z. B. Überlegungen zu Diffusion und Polygenese von Zunamen gehören, müssen gesamteuropäisch (vgl. Beech / Bourin / Chareille 2002) betrachtet werden. Bereits Moser betont, dass die Profilierung der Kanzleisprachen aus einem soziologisch interpretierbaren Zurückdrängen des Lateinischen heraus zu verstehen sei und als »gemeineuropäische Entwicklung« (Moser 1985, 1400) angesehen werden müsse. Deutsch kommunizierende Kanzleien sind auf dem Boden von 25 europäischen Staaten der Gegenwart zu finden (vgl. Meier / Ziegler 2008, 24). Eigennamen sind jedoch grenzüberschreitende Europäer: In Bezug auf ihre präproprialen Grundlagen, d. h. in ihren Ausgangsformen, die im Benennungsakt herangezogen werden, sind Namen kanzleisprachlicher Texte lexikalischgrammatisch sowohl in europäischen Einzelsprachen als auch darüber hinaus verankert. Kanzleisprachenforschung und Onomastik verbindet neben einer europäischen Ausrichtung vor allem ein gemeinsames Interesse am kanzleisprachlichen Textsortengeflecht. Alle kanzleisprachlichen Texte, in denen Eigennamen auftauchen, können als Quellen für eine durchaus kontextbewusste Materialentnahme genutzt werden. Wechselseitig rezipierte Äußerungen zum kanzleisprachlichen Textsortenspektrum finden sich auf beiden Seiten. Dieter Geuenich (2000) und Reinhard Kluge (2000) versuchen das in Stadtbüchern enthaltene Textsortenspektrum typologisch in den Griff zu bekommen. Dem Problem der Klassifikation von Kanzleitexten, vor allem bei Stadtbüchern und Urkunden, widmet sich Rösler (2003) im Rahmen der Kanzleisprachenforschung. Dabei steht das Quellenkorpus zum Atlas frühmittelniederdeutscher Schreibsprachen im Fokus, das auch schon in der Onomastik hinsichtlich seiner Auswertbarkeit untersucht wurde (vgl. Rösler 2000). Bilateralitäten lassen sich ebenso in der Beurteilung von Urbaren ausmachen. Schon Kleiber betont die Ergiebigkeit von Urbaren für die Onomastik (vgl. Kleiber 2000). Daran anknüpfend verweist Greule (2003) auf den Wert der »Urbare als Kanzleiprodukte und Sprachquellen«. Beide unterstreichen den sprunghaften Anstieg der Namen in urbarialen Quellen ab dem 13. Jahrhundert, korrelierend mit der zunehmenden Genauigkeit der Güterbeschreibungen (vgl. Kleiber 2000, 412ff.; Greule 2003, 62), beide skizzieren die vielfältigen Auswertungspotenziale. Eine »Urbarlinguistik« (Greule 2003, 57) darf nicht erst am Schreibort Kanzlei ansetzen, sondern muss mit Sicherheit auch auf die vorausgehende Erhebungsarbeit der Amtmänner in der bäuerlichen Bevölkerung Bezug nehmen. Gerade die so textkonstitutiven Eigennamen werden unter diesen Voraussetzungen von der lokalen Mündlichkeit in eine regionale Schriftlichkeit befördert. Eine beispielgebende korpusgestützte Dokumentation liegt nun mit den Gemeindenamen Tirols (vgl. Anreiter / Chapman / Rampl 2009) vor, der zahlreiche Vorarbeiten, insbesondere auch zu Urbaren (vgl. Anreiter 2004a; 2008), vorausgegangen sind. Allgemein lässt sich sagen, dass Onomastik wie Kanzleisprachenforschung auf dieselben Quellen zugreifen, zu denen neben den erwähnten Textallianzen Stadtbuch und Urbar auch das gesamte Kontingent der Urkunden zählt. Beide profitieren von der Datierbarkeit und Lokalisierbarkeit dieser Quellen.
290
II. Gebiete und Phänomene
Im breit angelegten Forschungsbereich der Kanzleisprachenforschung ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte, da graphematische, phonetisch-phonologische sowie lexikalisch-semantische Analysen wegen ihrer Wortbezogenheit zueinander in Beziehung zu setzen sind. Gemeinsamkeiten konstituieren sich selbstverständlich über korpuslinguistische, varietätenlinguistische (darunter sprachgeographische, dialektologische), soziolinguistische und sprachpragmatische Zugänge. Morphosyntaktische Untersuchungen sind von onomastischer Seite auf die Nominalphrase beschränkt, können aber im Rahmen einer Textlinguistik der Eigennamen schon bei der Analyse von Identifizierungsund Lokalisierungsstrategien an Profil gewinnen. Spezifika und Anreiz der historischen Onomastik bleiben meist Fragen nach der tatsächlichen sprechsprachlichen Relevanz der in kanzleisprachlichen Textsorten eingetragenen und mit ihnen eingeführten Namen, die Klärung der Namenmotivation – aufgrund der Datenlage auch ein (vorläufiger) Verzicht darauf –, das Aufstellen einer oder mitunter mehrerer plausibler Namenetymologien sowie die Deskription von Benennungssystemen und ihrer Entwicklung.
2.
Namenforschung und kanzleisprachliche Textsorten
2.1.
Von der Diplomatik und Quellenkritik zur Pragmatik und Korpuslinguistik
Die in den Kanzleien in Auftrag gegebenen und produzierten Textsorten bilden einen so reichhaltigen Fundus für onomastische Studien, dass sie für Namenbücher unverzichtbar sind. Das Altdeutsche Namenbuch (ANB), das die Ortsnamen Österreichs und Südtirols von den Anfängen bis 1200 verzeichnet (vgl. Hausner / Schuster 1989ff.), dokumentiert vor allem die historischen Belege der Toponyme (im weitesten Sinne) sehr genau. Die Lemmatisierung, vgl. dazu das Beispiel Plankenwarth (Abb. 1) zeigt, dass die historischen Namenbelege quellenkundlich ausgewiesen sind und bei Bedarf auch geprüft wurden. Plankenwarth ist ein Burgname, heute Schloss Plankenwarth, und als lokalisierende Spezifikation integraler Bestandteil des Gemeindenamens St. Oswald bei Plankenwarth. Der kollationierte (d. h. geprüfte) Erstbeleg stammt aus dem ersten Band des von Zahn (1875-1903) edierten Urkundenbuchs des Herzogthums Steiermark (UB Stmk), der zweite Beleg, datiert 1180, ist einer Kopie (C) vom Ende des 12. Jahrhunderts (JhE) entnommen, und zwar dem Codex traditionum monasterii Garstensis (Tr Gars), während der letzte aus einem Insert (Ins.) oder Transsumpt stammt, bei dem der Inhalt einer älteren Urkunde, einer zwischen 1265 und 1274 durchgeführten und mit 1177 datierten Fälschung (F), zur Bestätigung der Rechtskräftigkeit in einen jüngeren Urkundentext aus dem Jahr 1304 übernommen wurde. Die Urkunde ist im ersten Band des Urkundenbuches zur Geschichte der Babenberger (Fichtenau / Zöllner 1950) ediert. Weder Namenbücher wie das ANB noch die darin ausgewerteten Quellen, insbesondere Urkundenbücher, sind unwiderrufbar abgeschlossene Informationsträger, sie fixieren bloß einen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und Methodenstandard. Vorbehalte gegenüber älteren Ausgaben, – auch wenn es sich zu ihrer Zeit um großartige Einzelleistungen handelte –, gelten heute der Vollständigkeit des Materials, der Qualität seiner Textgrundlagen (z. B. Wiedergabe aufgrund einer Abschrift und nicht aufgrund des bis
20. Onomastik
291
Abb. 1: Eintrag aus dem ANB (Hausner / Schuster 1990, 118)
heute erhaltenen Originals) sowie der kritischen Bewertung der darin enthaltenen Dokumente einschließlich ihrer oft problematischen chronologischen Einordnung. Grundsätzlich sind es Qualität und Umfang der auswertbaren Quellen, die das onomastische Ergebnis nachhaltig beeinflussen. Aufgrund ihres Interesses an Erstbelegen und Frühnennungen zieht die Onomastik nicht nur deutsche Kanzleitexte ab dem 13. Jahrhundert heran, sondern greift neben antiken Quellen (vgl. Anreiter 2005) auch auf solche des Früh- und Hochmittelalters zurück. Damit gerät z. B. das Namengut aus karolingischen und ottonischen Reichskanzleien (vgl. Menke 1990; 1996) in den Blickpunkt, ebenso die frühen klösterlichen Textzeugnisse (Urkunden, Traditionsbücher, Verbrüderungsbücher etc.). Dabei ist zu betonen, dass die in der Onomastik gut verankerte Methode der Quellenkritik (vgl. Schützeichel 1962; Debus 2004; 2008) gerade in diesem zeitlichen Vorfeld besonders wirksam wurde. Dokumente, die der Urkundenproduktion vorangehen und sie begleiten, haben einen besonderen Stellenwert. Sonderegger spricht von »drei Quellengattungen Vorakt / Urkunde / Dorsualnotiz« (Sonderegger 2008, 55) und gleichzeitig von Überlieferungsschichten (vgl. ebd., 53). Alle drei leisten einen ganz spezifischen Beitrag für die Deutung althochdeutscher Belege, vor allem dann, wenn z. B. eine Ortsnamennennung in allen drei Quellengattungen voneinander abweicht, wobei jede der Lieferant der autochthonen althochdeutschen Form (vgl. ebd., 55f.) sein könnte. Quellenkritisch bedeutsam sind die Urkundenvorlagen. Darunter subsumiert Blok (vgl. 1990, 261) vieles, nämlich nicht nur Vorurkunden, sondern auch Anträge (Requeste) des Empfängers (Destinatärs), Konzepte des Ausstellers und die sich beim Aussteller befindlichen Archivalien, z. B. Urbare oder Güterverzeichnisse. Die den tatsächlichen Namengebrauch stärker reflektierenden Konzepte (Vorakte, Entwürfe) mögen dabei gesamteuropäisch gesehen bis zur meist archaisierenden und stilisierten Mundierung (Reinschrift) juridischen Wert besessen haben, der bei unterbliebener Mundierung stieg, sicher jedoch die sorgfältige Aufbewahrung dieser Texte erforderte (vgl. Blok 1990, 263). Auch für das deutsch verfasste Kanzleischrifttum der Frühen Neuzeit unterstreicht man
292
II. Gebiete und Phänomene
die Produktionskette von Konzept, Original und Kopie und misst Konzeptbüchern mehr Authentizität zu (vgl. Piirainen 2001, 188), was sich auch auf die Eigennamen auswirkt. Beachtenswert sind auch Doppelausfertigungen von Originalurkunden. Bei Kopien ist eine mögliche »Angleichung der Namenformen an die Sprachnorm des Kopisten« (Blok 1990, 259) infolge sprachräumlicher Distanz und zeitlicher Entfernung möglich. Unter sprachräumlicher Distanz ist geringe oder fehlende Vertrautheit mit Norm und Gebrauch orts- und regionalsprachlicher Subsysteme zu verstehen. Mit zeitlicher Entfernung wird die damit einhergehende Vernachlässigung des Faktors Sprachwandel umrissen. Das Verhältnis von Original und Kopie wird in der Onomastik vielfach thematisiert. Abfassungs- und Bezugszeit stimmen bei Originalurkunden überein, bei spät erfolgten Kopien ist das nicht der Fall. Formale Fälschungen können die Bezugszeit des Originals reproduzierend nachahmen, während inhaltliche Fälschungen oft Schreibungen der Abfassungszeit aufweisen. Wie Debus in seinen Beiträgen zu quellenkritisch fundierter Namenforschung im Anschluss an Neuß (vgl. 1992, 136) formuliert, sei nicht nur die Opposition original vs. kopial, sondern auch die Opposition authentisch vs. traditionsgebunden berechtigt (vgl. Debus 2004, 108f.; Debus 2008, 363). Das, was in diplomatischer Sicht eine Originalurkunde ist, ist in namenkundlicher Sicht oft eine Kopie. Aus namenkundlicher Sicht ist ein diplomatisches Original nur ein Glied einer Belegkette, in der jedes Glied für die Namengeschichte von Wert ist«. (Blok 1990, 260)
Der höhere Quellenwert modernisierter Kopien ist an der mutmaßlichen Sprachrealität zu messen. Solche Kopien spiegeln immer nur eine regionalsprachliche Schriftlichkeit wider, die, unter der Annahme der Authentizität, nur einen interpretierenden Zugriff auf die leider verschlossene historische Mündlichkeit erlaubt. Bekannte Vorbehalte gegenüber älteren Editionen haben auch in der Onomastik dazu geführt, Originalhandschriften und Digitalisierungen heranzuziehen und Archivbestände, darunter kanzleisprachliche Textsorten, kritisch zu sichten und exakt zu transliterieren, um gemäß der Zielsetzung aussagekräftige und relevante Korpora zu erstellen. Die Unzuverlässigkeit historischer Editionen ist bei allen Fragestellungen, die an eine möglichst genaue Interpretation des Graphem-Phonem-Verhältnisses gebunden sind, ein großes Problem. Unterschiede zwischen Original und Edition lassen sich typisieren und z. B. am Material des ANB an zahlreichen Beispielen (vgl. Hausner 2008) untermauern. Die »zeitaufwändige Umfeldrecherche« (ebd., 51) muss in Kauf genommen werden, um der diachronen Namenforschung ihren linguistischen Qualitätsstandard zu sichern. Werden Eigennamen im theoretischen und methodischen Rahmen der Pragmatik (vgl. Blanár 2004) und Textlinguistik (vgl. Krüger 2004) untersucht, wird meist nicht mehr von Quellen (vgl. Debus 1996; 2000; 2001), sondern von Korpora (auch Quellenkorpora) gesprochen (vgl. Ernst 1997). Greule differenziert zwischen Quelle und Korpus, indem er den geschichtswissenschaftlichen und philologischen Begriff der Quelle mit dem Vorkorpus gleichsetzt und damit diejenigen Texte meint, aus denen Namen gewonnen (exzerpiert) werden: »Quellen sind demnach nicht identisch mit Corpora; es handelt sich bei ihnen vielmehr um die als Text(e) verschriftlichte Vorform eines Namen-Corpus« (1995, 341). Ein onomastisches Vorkorpus sollte mit Bedacht erstellt werden: Die onomastische Frage vorweg zu stellen und erst dann die passende Quel-
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lenart zu ermitteln, hat ebenso seine Berechtigung (vgl. Neuß 2000, 137; Scherf 2000, 230) wie die Ergiebigkeit eines onomastisch vielversprechenden Quellentyps zu testen. Das eigentliche Namenkorpus umfasst nur die exzerpierten onymischen Daten primärer (Originalhandschriften) und sekundärer Quellen (Editionen) und kann durch mündliche Daten (Mundartformen) ergänzt werden (vgl. Greule 1995, 340f.). Eine häufige Darstellungsform ist die chronologisch geordnete Belegreihe aus schriftlichen Quellen. Die übliche Integration mündlicher, an Varietäten gebundener Realisierungsformen von Namen (sogenannte Mundartformen) erzeugt dann ein heterogenes Korpus. Erst wenn das Wechselspiel von Eigennamen, koreferenten Pronomina und definiten Kennzeichnungen (Nominalphrasen mit Determinator), das nur auf den gesamten Text projizierbar ist, Untersuchungsgegenstand einer textlinguistisch ausgerichteten Onomastik wird, lässt sich die Differenzierung in Vorkorpus und Namenkorpus relativieren. Um nicht nur möglichst viele Anhaltspunkte für eine stichhaltige Namendeskription und -deutung zu gewinnen, sondern auch Grundlagen für daran anknüpfende komplexere Fragestellungen zu erhalten (z. B. Namenschichten eines Areals, Wandel von Namensystemen), werden gegenwärtig Qualität und Nutzen umfangreicher onymischer Belegsammlungen intensiv diskutiert. Solche, meist Jahrhunderte umspannende Belegsammlungen, sind nur durch gezielte Auswahl, Aufbereitung und Analyse geeigneter Textkorpora zu erzielen. In den Geschichtswissenschaften wird die Bedeutung der Quellengattung im Hinblick auf Namengebrauch und Systembildung ausdrücklich betont (vgl. Härtel 1997b, 11). Das betrifft in erster Linie den Personennamengebrauch, denn vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit ist das, was wir heute als rechtlich fixierte Personennamensequenz (Gesamtname, Namenformular) kennen, ein labiles Gefüge. Man entnahm daraus nur, was die Kommunikationssituation (rechtlich) erforderte bzw. in ihr (soziokulturell) angemessen erschien. 2.2. Quellentypen mit hohem Auswertungspotenzial 2.2.1. Urkunden In der Kanzleisprachenforschung und Onomastik, ja in den historischen Wissenschaften allgemein, nimmt die Urkunde, betrachtet als Quellentypus, Textsorte oder Textmuster, eine besondere Position ein. Die sprachhistorische Relevanz der im Verlauf des 13. Jahrhunderts expandierenden deutschen Beurkundung wird oft betont (vgl. Moser 1985, 1399f.; Bentzinger 2000, 1667). Die Anzahl bekannter deutschsprachiger Urkunden dürfte um 1300 schon über 4000 liegen. Die Schnittstelle lateinisch-deutsch ist für die Onomastik je nach Fragestellung beachtenswert. So sind z. B. althochdeutsche Ortsnamen im syntaktischen Rahmen des Lateinischen flexionsmorphologisch von Besonderheiten gekennzeichnet (vgl. Wiesinger 1992, 363f.). Namen in frühmittelalterlichen und jüngeren lateinischen Urkunden (vgl. Kapitel 2.1.) werden meist typologisch, pragmatisch und etymologisch ausgewertet. Es sei nur knapp auf Publikationen des interdisziplinären Projekts Nomen et gens hingewiesen, das Personennamen vom dritten bis zum achten Jahrhundert untersucht, die Quellen sehr kritisch einordnet und kommentiert (vgl. Hawicks / Runde 2006) und auch Datenbank-
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II. Gebiete und Phänomene
zugriffe sowie onomastische Auswertungspotenziale, z. B. der frühen bairischen Traditionsurkunden, thematisiert (vgl. Böck / Geuenich 2006). Erwähnt sei auch das seit 2005 bestehende Projekt Onomastik und Akkulturation (vgl. http://www.uni-saarland. de/ak4/fr41/haubrichs/html/forschung.html), das die Entwicklung der Namengebung, ihrer Semantik und Motivation in der Begegnung von Christentum, Imperium und barbarischen gentes zwischen Spätantike und frühem Mittelalter (4.–8. Jahrhundert) zum Inhalt hat. Einschlägige Informationen zu frühen toponymischen Belegen bieten z. B. auch die Sammelbände Ortsname und Urkunde (vgl. Schützeichel 1990) und Philologie der ältesten Ortsnamenüberlieferung (Schützeichel 1992). Historisch und transdisziplinär ausgerichtet ist der Band Personennamen und Identität (vgl. Härtel 1997a), der von Personennamen des Frühmittelalters ausgehend auch das Spektrum kanzleisprachlicher Textsorten im engeren Sinn berührt. Das onomastische Auswertungspotenzial von Urkunden steht außer Diskussion. In der gegenwärtigen toponomastischen Forschung wird bei der Korpusbildung eine explizite Benennung und Spezifizierung der Quellentypen (vgl. Anreiter 2004a-c; 2005; 2006a-b) zu einem methodischen Postulat erhoben. Wenn historische Namenbelege nur mit der Abkürzung urk. (urkundlich) und einer entsprechenden Datierung versehen sind, sogar wenn es sich nicht um den Quellentyp Urkunde handelt, weil Urkunde als archivalischer Prototyp verstanden wird, so ist das methodisch inadäquat. Die Urkundenlehre kennt eine Vielfalt an Subtypen. So verbergen sich hinter der Sigle historischer Urkundenbücher Konglomerate unterschiedlicher Urkundentypen, z. B. Testamente, Verleihungs- und Verkaufsurkunden, Ratsurkunden, oft zusammen mit dem Texttyp Personenregister. Ein Beispiel für ein solches Spektrum ist das Regensburger Urkundenbuch (RUB I und II), herausgegeben von Widemann (1912) und Bastian / Widemann (1956), das Rosa Kohlheim (1990) für ihre Untersuchung der Regensburger Beinamen des 12. bis 14. Jahrhunderts auswertet. Die graphematische Form der daraus entnommenen Namen ist mit Rücksicht auf das Editionsverfahren des Urkundenbuches beschrieben (vgl. Kohlheim R. 1990, 31ff.), was zwangsläufig bei der Lemmabildung (in einem alphabetisch angelegten Nameninventar) zu einem bedingt originalkonformen Zitat der Namensequenz führt, z. B. »›Perhttolt der taschner‹ (1343; RUB I, S. 751), ›umb Chnr. den taschenner‹ (1348; RUB I, S. 761), ›Albel toschner‹ (1350; RUB I, S. 763)« (Kohlheim 1990, 130). Editionstechnik, Forschungsstand und -interesse beeinflussen bei edierten Urkunden die Qualität des onymischen Materials. Das wachsende Spektrum kanzleisprachlich wie onomastisch relevanter Editionen sollte kritisch geprüft werden. So erhebt Rosa Kohlheim (2004) in ihrer Besprechung der Regesten der Reichsstadt Weissenburg (vgl. Jäger 2002) zu Recht die Frage, wie weit Normalisierung und Adaption der in den Regesten erscheinenden Personen-, Orts- und Flurnamen gehen sollten, wenn z. B. Beß als Elisabeth (Jäger 2002, Nr. 167) erscheint und dadurch die onomastisch relevante Realisierungsform unterdrückt wird. Auch Fehlinterpretationen, vgl. anno 1425 Peter Rotermel als »Peter Rotermehl« (Jäger 2002, Nr. 289) statt Rotärmel oder Rotermel, können vorkommen (vgl. Kohlheim R. 2004, 454). Übersetzungen wie »aus dem Garten der Frau Zeh« (Jäger 2002, Nr. 655) für aus der Zehin garten sind onomastisch nur bedingt brauchbar. Auf Originale oder Digitalisierungen sollte bei spezifisch onomastischen Auswertungen
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nie verzichtet werden. Auch online verfügbare Quellen wie das Württembergische Urkundenbuch (vgl. http://www.wubonline.de) sind durch Zusätze und Verbesserungen, von der Druckfehlerkorrektur über die Erweiterung der Literaturhinweise bis hin zu Belegen für wiederentdeckte Originale, den klassischen Printversionen überlegen. 2.2.2.
Urbare
Ein Urbar(ium), auch Salbuch, Lagerbuch, Gültbuch, Terminierbuch, Rechtung, Berain, Rodel oder (Zins-)Rötel (mlat. rotulus ›Rolle‹), ist eine bedeutende Rechtsquelle mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lehenswesens. Urbare stellen grundherrschaftliche Besitz- und Einkunftsverzeichnisse dar, in denen Klöster und Villikationen die wirtschaftlichen Leistungen ihrer Untertanen oder Grundholden registrieren. Sie sind mediale Träger wirtschaftspolitisch, rechtlich und administrativ relevanter Kommunikationshandlungen und gehen zeitlich bis ins 12. Jahrhundert zurück. Die in den Urbaren vertretenen toponymischen Subklassen (Bergnamen, Talnamen, Gewässernamen, Siedlungsnamen, Flurnamen) reichen mitunter bis in lokale Mikrostrukturen. Sehr gut vertreten sind auch Hofnamen (Benennungen von Gütern, Lehen, Höfen und Huben), mit denen man lokalisiert und gleichzeitig auch die dort lebende, abgabenpflichtige Person(engruppe) mitbezeichnen kann. Hofnamen sowie die besonders zahlreich vertretenen Personennamen sind textuell eng miteinander verknüpft, wie z. B. eine Passage aus dem Urbar der Hofmark Stumm (Zillertal), ca. 1450, belegt: »Item Knoll(e)nlehen zu oberen Nar(e)pach ein halbes lagel hat geraicht Heys Knoll« (Anreiter 2008, 81). In Urbare als namenkundliche Quellen (2000) betont Kleiber den Aspekt pragmatischer Schriftlichkeit sowie die Möglichkeit, in den Verschriftungsphasen Spuren und Reflexe der Mündlichkeit bis hin zu basisdialektal geprägten Regionalismen (vgl. Kleiber 2000, 412) zu entdecken. Die wachsende Genauigkeit der Güterbeschreibungen hat die systematische Einbindung zahlreicher Personen- und Flurnamen nach sich gezogen: Das Tennenbacher Urbar (1341) enthält z. B. ca. 5000 Anthroponyme und ca. 4000 Mikrotoponyme (vgl. ebd., 415). 2.2.3.
Stadtbücher
Obwohl das Interesse an der Erforschung von Stadtbüchern bereits mit Karl Weinhold (1867) einsetzt, fehlen über viele Jahrzehnte hinweg systematische onomastische Untersuchungen. Basierend auf Arbeiten von Freund (1972), Koß (1982) und eigenen Forschungen (vgl. Debus 1978), stellt Debus 1996 die Weichen für ein systematisches Herangehen (vgl. Debus 1996, 367f.; 2000, 14f.). Der Tagungsband Stadtbücher als namenkundliche Quelle (Debus 2000), liefert eine kohärente, landschaftlich gestaffelte Abfolge von 34 Beiträgen in Nord-Süd-Ausrichtung, wobei auch Österreich und die Schweiz vertreten sind. Die einzelnen Bearbeitungsareale reichen von historischen Sprachräumen über Städte bis hin zum einzelnen Rittergut. Die genannten und exemplarisch vorgeführten Auswertungspotenziale sind äußerst vielfältig (vgl. Debus 2001; Windberger-Heidenkummer 2005) und können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Als viel versprechend gilt u. a. die Kontras-
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II. Gebiete und Phänomene
tierung von ländlicher und städtischer Namengebung (vgl. Neuß 2000, 137; Kohlheim / Kohlheim 2000, 317). Quellendeskription wie Bibliographie erfordern eine Auseinandersetzung mit der Definition von Stadtbuch , das von manchen als Amtsbuch , dem teilweise konkurrierenden archivalischen Begriff (vgl. Krämer-Neubert 2000; Schuh 2000; Reichardt 2000; Müller 2000), bezeichnet wird. Die traditionelle Typisierung von Stadtbüchern nach den pragmatisch verstandenen Domänen Rat, Gericht und Finanz wird auch von Kluge (vgl. 2000, 40) mit Vorbehalten vertreten. Gegen eine solche Zersplitterung, zusätzlich verkompliziert durch die historische Benennungsvielfalt und unscharfe Klassenbildung (vgl. Geuernich 2000, 21), wendet sich der textlinguistische und soziopragmatische Ansatz: Stadtbücher sind »funktionale Ganzheiten« (Meier / Ziegler 2001, 221). Sie werden als Textallianzen mit einem begrenzt variierten makrostrukturellen Gliederungsprinzip (vgl. Meier / Ziegler 2001, 228) begriffen. Stadtbücher enthalten auf textueller Ebene drei makrostrukturelle Prototypen: einen narrativen, einen registrativen und einen protokollierenden (vgl. Meier / Ziegler 2001, 229). Ob und wie sich solche typusbezogenen Unterschiede auf Umfang und Form des darin enthaltenen Namenmaterials auswirken, wäre erst eingehend zu untersuchen. Im registrativen Typus kann zwar eine hohe Dichte von Eigennamen vermutet werden, kaum jedoch bei dominant quantifizierenden Abgabenlisten, sondern eher in Listen mit namentlich genannten Personen. Erst mit dem Ausbau einer Textlinguistik der Eigennamen (vgl. Koß 2000b, 312; Krüger 2004; Windberger-Heidenkummer 2008), die Subtypen und Mikrostrukturen detailliert beschreibt, wäre an ein gewiss existentes »diskursives kanzleisprachliches Textmusterwissen« (Meier / Ziegler 2001, 236) anzuschließen. Die Aussagekraft von Stadtbüchern für die Beurteilung der Entwicklung der Zweinamigkeit, die aus dem Registrierungs- und Identifizierungsbedürfnis der Stadtschreiber resultiert (vgl. Geuenich 2000, 28f.), ist jedenfalls unbestritten. Einzelne Forschungsarbeiten knüpfen an die Pilotstudie von Debus (2000) und bereits vorher erarbeitete Grundlagen an (vgl. z. B. Hellfritzsch 2007; Kohlheim / Kohlheim 2001; Krüger 1999; 2002; Luther 2000b; 2001; Luther / Föllner 2004; Protze 2008). Darüber hinaus weitet sich der Kreis durch Einzelbeiträge, die im Gefolge von Editionen und sprachhistorischen Bearbeitungen von Stadtbüchern entstanden sind (vgl. dazu z. B. Spáþilová 1998; 2004; Papsonová 2004; 2007).
3.
Fragestellungen, Auswertungen und Ergebnisse
3.1.
Anthroponomastik
Im Zentrum der historisch ausgerichteten Anthroponomastik stehen zwei Fragen: Die Diffusion der nichtgermanischen Heiligennamen und das Aufkommen der Familiennamen. Das germanische Rufnameninventar erfährt bis zum 13. Jahrhundert eine drastische Reduktion. Die neu aufkommenden Heiligennamen können dieses Defizit nicht kompensieren. Damit entwickelt sich eine Situation, in der die Faktoren Inventarreduktion, Identifizierungsbedürfnis, Konzentration der Bevölkerung in Städten sowie Selbst-
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verständnis prestigetragender Bevölkerungsteile zu gewichten sind. So muss sich der Blickpunkt auf die Schreiber der Urbare und Rechnungsbücher, der Schreinsbücher und Matrikelverzeichnisse richten, die zur exakten und zweifelsfreien Kennzeichnung der von ihnen erfaßten Personen einer eindeutigen Benennungsweise bedurften«. (Geuenich 1997, 46)
Das Maß an Exaktheit wird jedoch von einem im Normierungsstadium befindlichen kanzleisprachlichen Kommunikationsrahmen gesteuert. Herkunft (typologisch Herkunftsnamen), Beruf (typologisch Berufsnamen), individuelle Merkmale (typologisch Übernamen) oder patrilineare (selten matrilineare) Abstammung (typologisch Vatersnamen und Mutternamen bzw. Patronymika und Metronymika) ergeben, übereinstimmend mit der in der Mündlichkeit erlebten Kommunikationspraxis, geeignete, geradezu unerschöpfliche Motive für die Kodierung von Beinamen. Diese sind zunächst instabile Zusätze bzw. Zunamen und werden erst durch Erblichkeit zu dem, was wir als Familiennamen im Rahmen einer Namensequenz (Gesamtnamen, Namenformular) kennen. 3.1.1. Rufnamen Untersuchungen zu Rufnameninventaren aus kanzleisprachlichem Schrifttum sind sehr zahlreich. Finsterwalder belegt in seiner Auswertung des Tiroler Untertanenverzeichnisses von 1427 diatopisch differenziert (Unterinntal und Zillertal, Oberinntal, Vintschgau sowie Burggrafenamt und unteres Etschtal) Tendenzen beim Wechsel von germanischen zu christlichen Rufnamen (vgl. Finsterwalder 1939, 27). Die Praxis germanischer Namengebung, soweit nicht im Einklang mit der Kirchensphäre, geht im 15. Jahrhundert bei der ländlichen Bevölkerung Tirols nachweisbar zurück. Arealtypische Realisierungsformen, z. B. Flürein für Florinus im Vintschgau, sowie Substratwirkungen und kontaktsprachliche Einflüsse, vgl. Jenott, westladinisch zu Jeann, Johannes (vgl. ebd., 31), sind gut belegbar. Jüngere Untersuchungen bieten hingegen nicht nur absolute Werte und Prozentsätze, sondern stellen auch Vergleiche an. Rosa Kohlheims Auswertung der Rufnamen von 1540 männlichen Personen aus dem Zwettler Urbar (vgl. Schneider 2002), von anno 1457 und weiterer 875 Personen aus den Korrekturen von anno 1496–1498 zeigt im arealen Vergleich, dass sich nichtgermanische Rufnamen schneller in Niederösterreich als in Bayern und Franken durchgesetzt haben (vgl. Kohlheim R. 2006, 64). Im vorwiegend städtischen Bereich lässt sich die areale und diostratische Diffusion des Selektionsprinzips nach Heiligennamen vom 14. bis zum 15. Jahrhundert sehr deutlich dokumentieren und vergleichen (vgl. Kohlheim V. 2000, 326ff.; Kohlheim / Kohlheim 2002, 89; Kohlheim V. 2003, 255f.). Die Akzeptanz der Benennung nach Heiligennamen wird bei Männern durch die ungefähr zur selben Zeit erfolgte Vererbung der Beinamen erhöht, da diese nun eine »ehemalige Teilfunktion des Rufnamens« (Kohlheim / Kohlheim 2002, 94) übernehmen. Bei Frauen ist die Namengebung offenbar überall fortschrittlicher geprägt. Eine kompakte Studie liegt zu den Tauf- und Familiennamen bernischer Ausburger im 15. Jahrhundert vor. Rudolf Ramseyer (1971) beleuchtet das Register im bernischen Udelbuch (1466), vgl. ahd. uodil ›Habe, Gut, Besitz, Landbesitz‹, hier zinspflichtiger
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II. Gebiete und Phänomene
Anteil an einer Feuerstätte innerhalb der Berner Stadtmauern. In diesem Verzeichnis sind stadtbernische Gebäude und ihre Besitzer / Mitbesitzer, insgesamt 1114, meist auswärts wohnende Personen erfasst (vgl. Ramseyer 1971, 26). Entstehung und Anlage offenbaren, dass 1466 nicht nur aus dem Udelbuch von 1389, sondern auch aus der älteren Ausburger-Rodel von 1442–1469 Namen kopiert wurden. Variabilität zeigt sich nicht nur graphematisch, sondern ist oft Reinterpretation, vgl. C7no Hergots – CĤno Hertzog (vgl. Ramseyer 1971, 28). Manchmal ist sie durch mangelnde Lokalkenntnis und Dialektkompetenz des Kopisten erklärbar, vgl. Hensli von Schufelbul (Ausburger-Rodel) zu Hennszli von Schuppfenbul (vgl. Ramseyer 1971, 28). Ramseyer (vgl. ebd., 29) registriert auch zeitgenössische Aussagen über das unübersichtlich empfundene interne Dokument, zumal die nur nach dem ersten (!) Buchstaben alphabetisierte Ordnung nach Taufnamen e im Udelbuch 708 Registrierungen von Hensli, 287 von Hans, 254 von Vlli und 108 von Heini nach sich zog. Zu den nie abgekürzten Taufnamen (mündliche Relevanz) treten erbliche Zunamen, d. h. Familiennamen, denn »die Zweitnamen wechseln nicht mehr« (Ramseyer 1971, 30), und zusätzlich fast immer eine Herkunfts- oder Wohnortsbezeichnung, entweder die Kirchengemeinde oder der Einzelhof. Auch unter den Berner Ausburgern dominieren im 15. Jahrhundert die fremden Rufnamen vor den deutschen im Verhältnis 1:2 (vgl. ebd., 32). Die ursprüngliche Vielfalt germanischer Rufnamen ist auch hier nur aus Patronymika erschließbar. Einen hohen Prozentsatz latinisierter Rufnamenformen weist Kropaþ (1997) bei Personenbezeichnungen aus Wiener Ratsbürgerkatalogen des 14. Jahrhunderts gegenüber solchen aus Regensburger Quellen nach. Der Rufnamenbestand germanischer Herkunft sinkt bei ratsbürgerlichen Familien Wiens von 75 % im ersten Quartal des 14. Jahrhunderts auf 15 % im zweiten Quartal des 15. Jahrhunderts (vgl. Kropaþ 1997, 287). Die für die elektronische Kodierung von insgesamt 15.241 Personennennungen entwickelte »Kategorisierung des Gesamtbeschreibungsmusters einer Person« (ebd., 289) umfasst 20 mögliche Ausprägungen (vgl. ebd., 289f.). Vom vorhandenen oder nicht vorhandenen Vornamen (Rufnamen) ausgehend werden jeweils neun Beschreibungspositionen (mit zunehmender syntaktischer Expansion) angesetzt. Diese Beschreibungen sind semantisch klassifiziert, allerdings inhomogen, nach Verwandtschaft, Funktion, Beiname, Beruf, Spitzname, Ort, allgemeinen Attributen und Sonstigem (vgl. ebd., 290). Das riesige Inventar wird so in Teilmustern auswertbar und statistisch beschreibbar. Die Korrelation zwischen Teilmuster und Textsorte unterstützt die von der Kanzleisprachenforschung vertretene Annahme eines Textmusterwissens, denn »je höher die Anzahl der Teilmuster, desto eher kommen sie in Urkunden vor«, folgert Kropaþ (ebd., 291). Dem in allen Inventaren nur begrenzt vorhandenen, damit statistisch meist insignifikanten, aber innovationsoffeneren Namenbestand weiblicher Rufnamen (vgl. Hellfritzsch 1998, 8) wird zunehmend Beachtung geschenkt. An Arbeiten seien hier nur exemplarisch Luther (2000b), Papsonová (2007), U. Schwob (1997) und VaĖková (1999) genannt. Frauen werden, sofern sie überhaupt in der öffentlichen Rechtssphäre registriert sind, im Allgemeinen nach dem Vater oder Ehemann gekennzeichnet, vgl. Fraw Vrsula Liborius Schreibers nachgelassene tochter 1497 (vgl. Hellfritzsch 2007, 343). Nur Frauen aus sehr angesehenen Familien tragen auch nach der Heirat den Familiennamen ihres Vaters weiter. Mündlicher Sprachgebrauch und Textsortenspezifik beeinflussen die
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Nameneinträge, so dass etwa im Zwickauer Landsteuerregister von 1496 der movierte Typ wie die Güntherin besonders stark in Erscheinung tritt (vgl. ebd., 348). Der Typ mit moviertem Ruf- oder Zunamen des Gatten ist im oberdeutschen Raum stark verbreitet und teilweise noch in den rezenten Varietäten in Gebrauch. 3.1.2. Bei- und Familiennamen Untersuchungen über die Entwicklung der Beinamen (Zunamen) zu erblichen Familiennamen konzentrieren sich auf textuell repräsentierte Verwandtschaftsverhältnisse. Kriterien dafür sind, dass Eltern und Kinder denselben Beinamen tragen, Geschwister denselben Beinamen tragen oder der Berufs(bei)name im Gegensatz zum tatsächlichen Beruf steht. Beinamen als solche sind vor allem in Urkunden bereits seit Beginn des 12. Jahrhunderts überliefert. Diese Form der Zweinamigkeit ist um 1350 in Städten üblich. Interessant sind deskriptiv-analytische Aussagen von Zeitzeugen, so etwa die 1581 formulierten Namengesetze des Kölner Chronisten Hermann Weinsberg (vgl. Hoffmann 2000, 51f.). Aufkommen und Erblichkeit der Beinamen sind für den obersächsischen Raum ausführlich (vgl. Hellfritzsch 2007, 330) dokumentiert. Mittelalterliche Beinameninventare werden meist nach fünf Motivationsgruppen (Motivationstypen, Bildungsmodelle) geordnet, vgl. u.a. Bickel (1978), Debus (1978, 47ff.), Fleischer (1961, 45ff.), Grünert (1958), Hellfritzsch (2007, 507ff.), Kewitz (1999), R. Kohlheim (2000, 360ff.), Kohlheim / Kohlheim (2002, 104ff.), Kunze (2004, 63), Naumann (2003, 16), Papsonová (2004, 35ff.), Wenners (1988, 73ff.). Das sind Beinamen aus Rufnamen bzw. (nach den Referenzpersonen Vater und Mutter) Patronymika und Metronymika, Beinamen nach der Herkunft, meist Siedlungsnamen, Beinamen nach der Wohnstätte, oft Flur-, Haus- und Straßennamen, aber auch appellativische Stellenbezeichnungen, Beinamen aus Berufs-, Amts- und Standesbezeichnungen sowie Beinamen aus Übernamen. Eine sichere Zuordnung zu einer Motivationsgruppe ist im Einzelfall nicht immer möglich. Die im kanzleisprachlichen Schrifttum repräsentierten Typen von Personenbezeichnungen sind morphosyntaktisch sehr differenziert klassifiziert worden, zuweilen gekoppelt mit Motivationsgruppen (vgl. Kunze 2004, 68). Šrámek spricht in Bezug auf die Rechnungsbücher der Stadt Brünn (1343–1365) aus namenpragmatischer Sicht von Benennungsmodellen und unterteilt in eingliedrige Namentypen, das sind N = VN (Vorname vom Standpunkt heutiger Namengebung) oder N = Beiname (proprialisierte Berufsbezeichnung, Herkunftsname, Spitzname), sowie mehrgliedrige, das sind die Typen N = VN + Berufsbezeichnung, N = VN + dictus + X sowie N = Bei- oder Übername ohne dictus (vgl. Šrámek 2000, 250ff.). Ernst (vgl. 2000, 514ff.) trifft auf Basis der Wiener Stadtbücher (1395–1430) eine Einteilung nach sechs Typen: isolierter RN (Rufname), isolierter BN (Beiname), RN + isolierter BN, RN + Beiname in syntaktischer Fügung, z. B. mit Jacoben dem Flaschner (Ernst 2000, 515), RN + BN + Zusatz und schließlich »Beinamenklammer« (Ernst 2000, 515), vgl. Thoman, Lewpolts seligen sun des ZingieZZer. Die langsame Auflösung der Beinamenklammer ist als Indiz für die Stabilität und Erblichkeit der Beinamen zu werten (vgl. Ernst 1997, 175f.). Sozioonomastisch kann auch eine schichtspezifische Ausprägung eines Namensyntagmas beobachtet werden: Besitz- und Vermögenslose, Dienstleute, Lehrlinge und Ge-
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sellen werden entweder in ihrer Funktion oder sekundär über Bürger und Lehrherren bezeichnet und so nur unzureichend identifiziert. Oft dürften Namen der unteren Schichten und der Randgruppen nicht gerade schmeichelhaft ausgefallen sein, wie der Kölner Chronist Weinsberg (1518–1597) dokumentiert: »Zum 16. jst es bei etlichen hendeln vnd jn sonderheit bei den Schiffluden jn Coln breuchlich, daß sie jren knechten vnd jongen frembde gecksnamen geben, alß Hardedrunk, Pechleffel, Stumparß, Speinsetzer« (Hoffmann 2000, 52). Die gesellschaftliche Randgruppe der Juden wird in der Regel besonders gekennzeichnet. Sie werden z. B. im Olmützer Stadtbuch explizit als Juden ausgewiesen, vgl. 1392 Liczko Judeus (Spáþilová 2004, 301). Anhand von Herkunftsnamen lässt sich der Zuzug (Binnenwanderung) in die städtischen Zentren des Mittelalters nachvollziehen und kartieren (vgl. Grünert 1958, 542f., Hellfritzsch 2007, 536ff.). So zeigt sich aus den Quellen des 14. Jahrhunderts, dass sich in Zwickau rund 80 % der Namen auf Siedlungen von maximal 50 km Entfernung beziehen, während Herkunftsnamen aus dem 15. Jahrhundert bereits auf eine Distanz von 100 km schließen lassen (vgl. Hellfritzsch 2007, 532f.). Auf diese Weise werden bereits früh vertretene methodisch-theoretische Zugänge historischer Anthroponomastik kombiniert, nämlich Namengeographie, Namensoziologie, Namentypologie und Namenstatistik (vgl. Grünert 1958, 10). 3.2.
Toponomastik
Historische Orts- und Flurnamenbücher nutzen die Fülle kanzleisprachlichen Schrifttums (vgl. Kapitel 2.1.), ohne jedoch die herangezogenen archivalischen und gedruckten Quellen hinsichtlich ihrer institutionellen und kommunikativen Rahmenbedingungen eigens zu gewichten. Das methodische Ziel der klassischen historisch-toponomastischen Forschung ist die Namendeutung, und auf dem Weg dorthin muss alles in Betracht gezogen werden, was diesem Ziel nützt. Es ist hier nicht der Raum, Orts- und Flurnamenbücher des gesamten deutschen Sprachraums einzeln anzuführen und zu besprechen, deshalb sei an dieser Stelle als exemplarischer Vertreter das umfangreiche Südhessische Flurnamenbuch (Ramge 2002) genannt. Der von Anreiter (2004a-c; 2005; 2006a-b; 2008) vertretene methodische Ansatz, die handschriftlichen Quellen als Forschungsgrundlagen an prominentere Stelle zu rücken, drückt insgesamt ein stärkeres Bewusstsein von der Abhängigkeit der Qualität toponomastischer Forschung vom (Vor-)Korpus aus. Umfangreiche Belegreihen ermöglichen generell präzisere toponomastische Deskriptionen. Nicht immer zeigt der Erstbeleg den ältesten erfassbaren Sprachstand: Eine signifi kant hohe Anzahl an etymologisch aussagekräftigen, aber abweichenden Folgebelegen (vgl. Anreiter / Ender 2006, 16ff.) lässt vermuten, dass es sich beim Erstbeleg um eine für die Namenetymologie irreführende Verschreibung handelt. Die Orientierungsfunktion der Toponyme zeigt sich auch im kanzleisprachlichen Textsortengeflecht. So weist Papsonová (2004, 30) darauf hin, dass die Lage der im ältesten Stadtbuch von Pressburg (1402–1506) genannten Weinberge, die vererbt, verkauft oder verpfändet werden, »durch mindestens eine weitere Angabe, meist aber durch mehrere Zusätze präzisiert« wird. Liegenschaften werden demnach in ihrem lokalen to-
20. Onomastik
301
ponymischen Kontext (in ihrer Nachbarschaft) situiert und so ausreichend abgegrenzt (individualisiert) und identifiziert, vgl. »[ein Weingarten] geleg(e)n Im Pfaff 5 / 3, an der fuchsleytten 8, auff der Strass 21« (ebd.). Zu Beginn des 15. Jahrhunderts werden Weinberge durch Eigennamen differenziert, vgl. »der fvmft weing(arten) heyst der weyntegl, zenest eberharts des wynndeks weing(arten); der Sechst heyst der Mulslag, zenest Hanns Pertolds wein(garten)« (ebd., 31). Belege wie Schondorffer gassen, Sluter gassen oder Messer gessel (vgl. ebd.) zeigen, dass auch die historische Straßennamenforschung aus Stadtbüchern einiges zu schöpfen hätte. Das ausgefeilte Lokalisierungsverfahren gehört zum Textmusterwissen und durchzieht als logische und effiziente Strategie die historische Rechtsdokumentation. Auch Kaufrechtsbriefe, die den untertänigen Bauern Nutzungs-, Bewirtschaftungs- und Vererbungsrechte von Seiten der klösterlichen Grundherrschaft bestätigen (vgl. Windberger-Heidenkummer 2008), werden über Jahrhunderte hinweg in dieser bewährten Methode fortgeschrieben. Auf die detaillierte und formalisierte Beschreibung von Liegenschaften nach dem Anstößerprinzip (vgl. Richter 1979, 138) macht Kleiber (2000, 413f.) bei den Urbaren aufmerksam. Neben Angaben zur Größe und Nutzungsart ist auch die Angabe der Lage in einer Art »Rundumbeschreibung« (Kleiber 2000, 414) üblich. Kanzleischrifttum, das die ländliche Bevölkerung erfasst, ist toponomastisch oft ergiebiger. Das bestätigen indirekt die noch in geringerem Ausmaß vorhandenen Versuche, Stadtbücher in dieser Hinsicht auszuwerten. Das Forschungsinteresse an Personennamen dominiert bisher in onomastischen Beiträgen zu Stadtbüchern. Kanzleisprachliche Textkorpora werden von der Anthroponomastik stärker herangezogen als von der Toponomastik, die darüber hinaus auch andere Quellentypen wie historische Karten und Kataster, topographisch-landeskundliche und naturwissenschaftliche Untersuchungen bis hin zur Reiseliteratur einbeziehen kann. Toponomastische Daten sind kaum je so praktikabel verfügbar wie Personennamen in Bürgerlisten, noch birgt das kanzleisprachliche Spektrum in diesem Ausmaß Einsichten in systemischen Wandel. Man kann einen bestimmten Ortsnamen (als Zugriff auf ein bestimmtes räumliches Referenzobjekt) über einen langen Zeitraum hinweg sehr häufig oder auch gar nicht belegt finden. In Bezug auf eine vollständige Auswertung kanzleisprachlicher Textsortenspektra gibt es deshalb auch Vorbehalte hinsichtlich der Relevanz einer lückenlosen Durchsicht (Hug / Weibel 1991, 16). Zudem ergibt sich in der Mikrotoponomastik noch ein weiteres Problem: Hat man es mit einer Klassenbezeichnung oder einer Individualbezeichnung zu tun? Anthroponomastik und Toponomastik trennt auch nicht zuletzt die Verschiedenheit ihrer Referenzobjekte.
4.
Zusammenfassung
Im gesamten Verwaltungsschriftgut sind Eigennamen textkonstitutive lexikalische Einheiten (vgl. Krüger 2004, 128), d. h. sie sind für den Textaufbau nahezu unverzichtbar. Als Vorkorpus betrachtet, treten kanzleisprachliche Texte eher in den Hintergrund namenkundlicher Auswertungen. Die Verbindung zwischen Text, Name und wissenschaftlichem Kommentar wird selten thematisiert. Doch ohne kanzleisprachliche Textsorten
302
II. Gebiete und Phänomene
gäbe es wohl keine verfügbaren Basisdaten über historische Personennameninventare und keine Einblicke in die Entwicklung von Benennungsmodellen. Die Komplementärmenge historischer Datenträger (z. B. Inschriften, literarische Werke) wäre dafür zu wenig aussagekräftig. Auch die historische Toponomastik hätte ein erhebliches Defizit zu beklagen, denn ohne historische Belege aus kanzleisprachlichen Korpora wäre Namendeutung vielfach unwissenschaftliche Spekulation. Ein sorgsamer, kritischer Umgang mit handschriftlichen Quellen und ihren Editionen ist in der Onomastik daher zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Fülle namenkundlicher Arbeiten auf Basis kanzleisprachlicher Textkorpora kann in einem Einzelbeitrag weder in dem für die Onomastik relevanten, weiter gefassten Begriffsumfang von Kanzleisprache vollständig erfasst, noch umfassend beschrieben werden. Vom dehnbaren Begriff Kanzleisprache ausgehend lässt sich ein nur vereinzeltes Vorkommen dieses Begriffs in onomastischer Literatur feststellen. Dennoch können einige Konvergenzen und wenige Divergenzen zwischen Kanzleisprachenforschung und Onomastik aufgezeigt werden. Die Korpusfrage und Textsortenklassifikation ist auf beiden Gebieten ein Thema. Das onomastische Auswertungspotential von Urkunden, Urbaren und Stadtbüchern ist überaus hoch und wird als solches bewusst wahrgenommen. Zur Textkompetenz bzw. zum Textmusterwissen, das Schreiber in historischen Kanzleien brauchten, gehörte mit Sicherheit auch ein bestimmtes Maß an reflektiertem Wissen vom Funktionieren der Namen, vom Individualisieren, Identifizieren und Lokalisieren.
5.
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II. Gebiete und Phänomene
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Ursula Schulze, Berlin (Deutschland)
21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch / Latein
1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 5. 6. 7.
1.
Einleitung Die Urkunde im Rahmen der Kanzleisprache Die Urkunde als Textsorte Kontrastive Betrachtung deutscher und lateinischer Urkunden Die Urkundentexte als Ganzes Die Formulargestaltung Zur Lexik Zur Syntax Ergebnisse Quellen Literatur
Einleitung
Gegenstand des folgenden Beitrags sind die deutschsprachigen Urkunden des 13. Jahrhunderts (Definition der Textsorte vgl. Kapitel 3), die aus einer jahrhundertealten und weiterhin bestehenden lateinischen Beurkundungstradition hervorgegangen sind. Um die Entstehungsvoraussetzungen der deutschen Schriftstücke, ihre Eigenart sowie ihren Bestimmungs- und Gebrauchszusammenhang zu erfassen, ist es aufschlussreich, deutsche und lateinische Urkunden aus derselben Zeit vergleichend zu betrachten. Als Vergleichsgrundlage bieten sich generell Texte an, die ähnliche Sachverhalte betreffen und speziell solche, die in beiden Sprachen parallel gleiche Vorgänge beurkunden. Diese zweite Gruppe bildet die Hauptgrundlage für die folgenden Ausführungen. Verglichen werden anhand der Parallelurkunden: 1. die Texte als Ganzes im Blick auf den beurkundeten Sachverhalt, 2. die Formulargestaltung, 3. die Lexik, 4. die Syntax. Die im Folgenden dargelegten Befunde und Erklärungen können als Anregung zu einer Ausdifferenzierung auf einer erweiterten Materialbasis dienen. Dem vergleichenden Teil wird eine Erläuterung über die Zuordnung der Urkunden des 13. Jahrhunderts zur Kanzleisprache und über die Urkunden als Textsorte vorangestellt.
2.
Die Urkunde im Rahmen der Kanzleisprache
Die im 13. Jahrhundert aufkommenden deutschsprachigen Urkunden kann man dem Bereich der Kanzleisprache im weiteren Sinne zuordnen, auch wenn sie nicht in institutionalisierten Kanzleien mit einem oder mehreren festen Schreibern und einer Verwaltungshierarchie entstanden sind. Derartige Einrichtungen gab es in der Frühphase für
310
II. Gebiete und Phänomene
den Rechts- und Geschäftsverkehr allenfalls an Fürstenhöfen (vgl. Bumke 1986, Bd. 2, 624ff.). Geht man von einem offenen Kanzleibegriff aus, wie ihn Albrecht Greule für die Forschung vorschlägt (vgl. 2001, 13), so ergibt sich die Möglichkeit, nicht nur die Produktionsbedingungen, sondern auch den Charakter der Schriftstücke, die Textsorte, als ein Kriterium für die Zuordnung zur Kanzleisprache zu werten, ähnlich wie Rudolf Bentzinger (vgl. 2000, 1665) verfährt. Das betrifft Urkunden, die von einem unbekannten, nicht weiter einzuordnenden Schreiber im Auftrag des Ausstellers oder Empfängers des Dokuments verfasst und aufgezeichnet worden sind. Es kann ein Geistlicher im Dienst eines kirchlichen Instituts, eines weltlichen oder geistlichen Herrn, auch einer städtischen Behörde gewesen sein, der als Gelegenheitsschreiber nicht einmal ausschließlich mit Schreibaufgaben betraut war. Inhaltlich und im Blick auf den Bestimmungszweck entsprechen die frühen deutschen Urkunden denen, die später unter anderen Produktionsbedingungen entstanden sind. Kanzleisprache ist also auch ein Sammelbegriff für besondere Textsorten.
3.
Die Urkunde als Textsorte
Im Rahmen der Kanzleisprache bezeichnet der Terminus Urkunde rechtsgültige Schriftstücke, die unter Berücksichtigung eines bestimmten Formulars Rechtsetzungen (etwa Friedensordnungen, Stadtrechte, Straf- und Zunftordnungen) sowie Rechts- und Geschäftsvorgänge (Friedensschlüsse, Einigungs-, Bündnis-, Kauf-, Schenkungsverträge u. a.) festhalten (vgl. Schulze 2003, 736ff.). Verschiedene Beglaubigungsmittel (Zeugennamen, Unterschriften, Siegel) verleihen den Aufzeichnungen Rechtsgültigkeit und Beweiskraft in der Rechtsprechung und im Rechtsstreit. urkünde, vor allem in der Wendung ze urkünde geben, bezeichnet im Mittelhochdeutschen den Zeugniswert, während das Schriftstück selbst in der Regel brief und auch handfeste genannt wird (siehe unten). Zum Urkundenformular gehört im Schlussteil die Datumsangabe, die es ermöglicht, die Entstehung der Schriftstücke als sprachgeschichtliche Dokumente zeitlich genau zu bestimmen. Nicht immer ist eine Ortsangabe zur Lokalisierung des Textes vorhanden; diese muss dann durch Indizien erfolgen, insbesondere aufgrund der in den Urkunden genannten Personen, Institutionen und Fakten. Für die schreibsprachliche Erscheinungsform ist in der Frühphase deutscher Beurkundung im Wesentlichen der einzelne Schreiber verantwortlich. Die formale Gestaltung der deutschen Urkunde folgt in freier Adaptation den in lateinischen Papst-, Kaiser- und Königsurkunden entwickelten und von verschiedensten Ausstellern übernommenen Formularen. Sie bestehen aus obligatorischen und nicht obligatorischen Teilen. Die Eröffnung mit einer Invocatio (Anrufung Gottes oder der Trinität) und einer Arenga (Topische Begründung des Beurkundungsvorgangs) ist nicht verbindlich. Unbedingt erforderlich ist die Publikatio oder Promulgatio (Veröffentlichungsbekundung des Urkundenausstellers mit der Nennung seines Namens). Darauf folgt – eventuell mit besonderer Begründung – die Dispositio (der materielle Rechtsinhalt) als frei gestalteter Hauptteil der Urkunde. Die Corroboratio (Bekräftigung) nennt dann die Beglaubigungsmittel: Zeugen und / oder Siegelsteller bzw. Siegel. Sie bildet
21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch/Latein
311
zusammen mit dem Actum und Datum (Orts- und Datumsangabe) den obligatorischen Schlussteil des Formulars, das Eschatokoll. Die formularische Ausgestaltung variiert im Lateinischen wie im Deutschen je nach den sozialen und sachlichen Gegebenheiten. Differenzen kommen auch bei parallelen Ausfertigungen vor (siehe unten). In Anlehnung an die lateinische, an Königs- und Fürstenhöfen aus der Spätantike übernommene Urkundenpraxis beginnen deutsche Urkundenausfertigungen mit dem Mainzer Reichslandfrieden Kaisers Friedrichs II. aus dem Jahr 1235. Er ist in lateinischen und deutschen Fassungen überliefert und wird als Initialzündung für die weitere deutsche Praxis betrachtet, obwohl die Entfaltung der deutschen Beurkundung als Akt volkssprachlicher Schriftlichkeit in komplexe Bedingungen der zunehmenden Literarisierung des ausgehenden 12. und 13. Jahrhunderts eingebettet ist. Verantwortlich für die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, besonders im letzten Jahrzehnt stark wachsende Zahl deutscher Urkunden sind Städte, adlige Herren und Klöster. Fürsten haben im 13. Jahrhundert vergleichsweise seltener deutsche Urkunden ausgestellt, vielleicht weil sie bereits über Kanzleien mit einer lateinischen Tradition verfügten. Dort wandte man sich langsamer dem Gebrauch der deutschen Sprache zu als in Einzelerfordernissen ohne Traditionsbindung. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Erneuerungen des Friderizianischen Landfriedens durch König Rudolf von Habsburg 1281, König Adolf von Nassau 1287 / 1291 und König Albrecht I. 1298 allein in deutscher Sprache erfolgten. Im Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300 (1932–1986) sind mit rund 4400 Exemplaren die volkssprachigen Urkunden (kaum Abschriften) annähernd vollständig erfasst. Auch in dieser Zeit und darüber hinaus überwiegen im deutschen Sprachgebiet noch die lateinischen Urkunden. Das Corpus enthält 32 Schriftstücke, die sowohl in lateinischer wie in deutscher Fassung vorliegen, so genannte Parallelurkunden. Sie bieten sich für eine vergleichende Betrachtung in besonderer Weise an (vgl. Schulze 1975).
4.
Kontrastive Betrachtung deutscher und lateinischer Urkunden
Die Anwendung der Kontrastiven Linguistik als sprachwissenschaftliche Beschreibungs- und Analysemethode (vgl. Rein 1983), die in der Gegenwart vor allem in der Sprachdidaktik genutzt wird (vgl. Kienpointner 1992), erscheint für die Betrachtung der deutschen und lateinischen Urkundentexte des 13. Jahrhunderts aus mehreren Gründen sinnvoll. Die Textformulierung beruht auf einer in dieser Zeit praktizierten Zweisprachigkeit. Allerdings wurde das Lateinische primär zur schriftlichen Aufzeichnung, das Deutsche überwiegend zur mündlichen Kommunikation benutzt. Die synchronen Urkundentexte beider Sprachen beziehen sich auf ähnliche oder gleiche Regelungen und Vorgänge, und daraufhin ergibt sich die Frage, welche Übereinstimmungen und Unterschiede in der sprachlichen Einkleidung und Bewältigung der entsprechenden Sachverhalte zu beobachten sind, und zwar im Blick auf verschiedene Referenzebenen: das Urkundenformular, die Lexik und die Syntax. Der kontrastierende Vergleich kann verschiedene Ziele verfolgen: eine Feststellung von Regularitäten der deutschen Urkunden-
312
II. Gebiete und Phänomene
sprache auf der lateinischen Kontrastfolie; die Wahrnehmung unterschiedlicher Fokussierungen als Hinweise auf Interessen der verantwortlichen Aussteller und Adressaten; eine Klärung der Voraussetzungen beider Textversionen in Bezug auf schriftliche und / oder mündliche Vorgaben. Es geht also nicht einfach um Differenzstatistiken. Diese sind zwar auch als solche interessant, aber sie sollten weiterführend zu Einsichten in die kommunikative Funktion der Urkunden in der Rechts- und Geschäftspraxis ausgewertet werden. Selbstverständlich können im Rahmen dieses Beitrags nur Beispiele und Tendenzen für die anvisierten Erkenntnisse vorgeführt werden. 4.1.
Die Urkundentexte als Ganzes
Von den rund 4400 Urkunden des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300 (1932–1986) gibt es 32, die in lateinischer und deutscher Fassung vorliegen, das sind weniger als 1 %. Diese Relation macht deutlich, dass die zweisprachigen Parallelurkunden keine Etappe auf dem Wege zur deutschen Beurkundung darstellen, die Unsicherheit überbrücken soll. Nachdem die Möglichkeit deutscher Beurkundung entdeckt war, befriedigten zunehmend rein volkssprachige Dokumente das Bedürfnis nach schriftlicher Rechtssicherung der lateinunkundigen Beteiligten. Die Rechtskraft der deutschen Urkunden wurde offenbar als vollgültig anerkannt. Die Gründe für die Herstellung zweisprachiger Fassungen dürften unterschiedlich gewesen sein, in den Einzelfällen lassen sie sich nicht genau bestimmen. Auch die verschiedenen beurkundeten Inhalte (Rechtsvorschriften, Verkäufe, Übereignungen, Beilegungen von Streitigkeiten und Ähnliches) geben keine klaren Hinweise. Bei dem rechtsetzenden Mainzer Reichslandfrieden (Corpus 1932–1986, 4 F, 4 Dor, 4 P, 4 D, 4 W) ging eine ältere lateinische Landrechtsordnung voraus, auf die sich die aktualisierende Neufassung stützte. Die Entscheidung zur Herstellung einer deutschen Übertragung war ein programmatischer Akt, um das Verständnis für Lateinunkundige ohne weitere vermittelnde Übersetzung zu ermöglichen. Eine Notiz der Kölner Königschronik zum Jahr 1235 bezeugt das Exzeptionelle des Verfahrens (ubi fere omnibus principibus regni Teutonici convenientibus, pax iuratur, […] et Teutonico sermone in membrana scripta omnibus publicantur (Chronica 1880, 267)). Zur Übereinkunft der Fürsten war die deutsche Fassung dienlich, für den Kaiser selbst dürfte wegen begrenzter Deutschkenntnisse der lateinische Text unerlässlich gewesen sein. Doch nicht den zweisprachigen Fassungen, sondern den Landfriedenserneuerungen in der Volkssprache gehörte die Zukunft. Der lateinische und der deutsche Landfriedenstext stimmen hinsichtlich der Rechtsvorschriften überein. Das Bemühen um die Berücksichtigung der deutschen gewohnheitsrechtlichen Verhältnisse kommt durch die Aufnahme deutscher Termini in den lateinischen Text zum Ausdruck (siehe unten). Syntaktisch sind typisch lateinische Konstruktionen souverän in deutsche Fügungsusualitäten umgesetzt (vgl. Kapitel 4.4.). Womit die vom Lateinischen abweichende Anordnung der Vorschriften im Deutschen zu erklären ist, bleibt unsicher, ebenso welches die originale Reihenfolge war, da der lateinische und der deutsche Text nur in Abschriften erhalten sind. Die lateinische Disposition besitzt die höhere Rechtssystematik, vielleicht sollten die Vorschriften gegen
21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch/Latein
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den aufsässigen Sohn am Anfang der deutschen Version aktualisierend eine Analogie zu dem Aufstand Heinrichs (VII.) gegen Friedrich II. ins Bewusstsein bringen. Inhaltliche Äquivalenz ohne Latinismen im volkssprachigen Text ist das dominierende Ergebnis der vergleichenden Gegenüberstellung der Landfriedensfassungen. Zu den rechtsetzenden Urkunden gehört auch der so genannte Geschworenenbrief der Stadt Luzern von 1252 (Corpus 1932–1986, 26), der in einer lateinischen und zwei wörtlich übereinstimmenden deutschen Ausfertigungen überliefert ist. Schriftlich fixiert werden darin Stadtrechtsbestimmungen, deren Einhaltung für den Rat der Stadt und die Bürger relevant waren. Wahrscheinlich ging ein älterer lateinischer Text voran, aber die Adressaten forderten zeitgemäß eine volkssprachige Fassung. Die Übertragung lehnt sich eng an die lateinische Vorlage an, doch ohne Verfremdung des Deutschen. Als Prinzip ist durchgängig zu beobachten: Während im Lateinischen größere Teile – auch des Formulars – miteinander verknüpft sind, werden im Deutschen kleinere Gefügeeinheiten gebildet. Als Inhaltstyp einer Rechtsordnung ist die Kulmer Handfeste (ebd., 22) dem Mainzer Reichslandfrieden und dem Luzerner Geschworenenbrief verwandt. Es handelt sich um eine Erneuerung des Rechts für die Städte Kulm und Thorn sowie darüber hinaus für das Deutschordensland. Die Grundlage bildet ein lateinisch gefasstes Rechtsdokument aus der Zeit Hermanns von Salza (1233). Dieses wurde im Jahr 1251 von dem Hochmeister Eberhard von Sayn zweisprachig erneuert. Die Relation des lateinischen und deutschen Textes entspricht nicht ohne weiteres den Mainzer Landfriedensfassungen, sie weist vielmehr eine erstaunliche Spannung zwischen eng an das Lateinische angeschlossenen Übertragungsteilen einerseits und stärkeren Umgestaltungen andererseits auf. Man hat diese unterschiedlichen Tendenzen im Blick auf die Datierung des deutschen Textes kontrovers diskutiert (vgl. Schulze 1975, 109f.). Eine spätere Übersetzung des deutschen Textes mit Aufnahme des Datums aus dem Lateinischen scheint möglich. Wichtig ist die Feststellung, dass durchaus Spielräume in der sprachlichen Gestaltung der Rechtsordnungen bestanden. Sie weisen auf die Kompetenz und unterschiedliche Verfahrensweise der für Urkundentexte Verantwortlichen hin. Die Formulierung zeugt – auf die Textsorte bezogen – von kanzleisprachlicher Gewandtheit. Bestimmte Strukturen wiederholen sich in den Rechtsordnungen. Der Haupttext enthält in der Regel eine Aufreihung von Verboten und Geboten. Sie schließen sich in Form einer selbständigen Aufforderung oder als Bestimmung in Form eines Objektsatzes an eine legislative Formel an: – lat. dt.
statuimus, ut […]; wir han gesetzet, daz […]
Mit diesem Kern sind positive oder negative Bedingungen verbunden: – lat. si […] oder nisi […]; dt. Konditionalsatz mit oder ohne Konjunktion, Exzeptivsatz oder verallgemeinernder Relativsatz. (1)
Statuimus igitur, ut nullus, in quacunque re ei fuerit dampnum uel grauamen illatum, se ipǕum uindicet, niǕi prius querelam Ǖuam coram iudice propoǕitam
314
II. Gebiete und Phänomene
Ǖecundum ius uǕque ad diffinitiuam Ǖentenciam proǕequatur. (Corpus 1932– 1986, 4 Dor, 10, 13–15) (2)
Wir Ǖezcin v? gebiten, Ǖwas Ǖchadin ymande an keiner Ǖlachte dinge geǕche, das hes ݕelbe nicht reche, he en clage alreǕt deme richtere v? volge Ǖiner clage zu ende. (ebd., 4 W, 15, 29–32)
Da die Konditionen und Konsequenzen jeweils unterschiedliche Fakten betreffen, entsteht in beiden Sprachen keine stereotype Aufreihung. Insbesondere bei der Platzierung der Erläuterungen verfährt der deutsche Verfasser sehr selbständig. Trotz anderer Gliedfolgen im Deutschen entspricht die logische Struktur dem Lateinischen. Geschäftsurkunden im weitesten Sinn machen einen großen Teil der zweisprachigen wie der rein volkssprachigen Beurkundungen des 13. Jahrhunderts überhaupt aus. Sie verschriftlichen rechtsgültig die Verleihung von Gütern, Einnahmen und Ämtern, Verkaufsvorgänge, Schenkungen und Seelgerätsstiftungen, Zahlungsforderungen und -bestätigungen. In diesen Urkunden zeichnet sich ein dominierendes Strukturmuster in beiden Sprachen ab. An die Publikationsformel, in der sich der Aussteller nennt, wird der zentrale Geschäftsvorgang in Form eines Objektsatzes mit quod bzw. daz angeschlossen: – lat. dt.
Nos […] notum volumus esse […], quod nos […] vendidimus; Wir […] tuon kunt […], daz wir verkoufet haben […].
Der Verkaufsfeststellung sind die notwendigen Objekte zugeordnet: der Gegenstand des Verkaufs (Akkusativobjekt), der Käufer oder Empfänger (Dativobjekt), der Kaufpreis (Präpositionalobjekt mit pro bzw. umbe) sowie weitere fakultative wechselnde Erläuterungen in Form von nominalen Bestimmungsgliedern und Gliedsätzen. Der einfache Kernsatz, der das Rechtsfaktum (A verkauft oder verleiht an B) bezeichnet, kann durch diese Zusätze stark erweitert und bis zur Unübersichtlichkeit zerdehnt werden, und zwar im Lateinischen wie im Deutschen. Allerdings sind in den volkssprachigen Versionen kontrastierend zu dem lateinischen Text öfter einzelne Bestimmungen als selbständige Aussagen formuliert und aus dem zentralen Gefüge ausgegliedert. Darin zeichnet sich ein Bemühen um Überschaubarkeit ab, das wohl dem Verständnis des Textes beim Verlesen der Urkunde dienen sollte. Die Relation zwischen den lateinischen und deutschen Versionen sieht bei den Geschäftsurkunden in einer Reihe von Fällen erstaunlich unterschiedlich aus. Die Differenz betrifft nicht nur die sprachliche Gestaltung, sondern auch die rechtlichen Erklärungen und genaueren Ausführungen zu den Verleihungs- und Verkaufsobjekten. Im Lateinischen explizierte Verzichtserklärungen fehlen bisweilen im Deutschen, wie z. B. in einer alemannischen Lehensübereignung von 1269 (Corpus 1932–1986, 121 a dt., 121 b lat.). Die rechtsgültig gesiegelte deutsche Urkunde – sie ist also kein Konzept – enthält in sieben Druckzeilen knapp das Faktum. Der lateinische Text umfasst 18 Druckzeilen mit Arenga und Zeugenliste und formuliert die Transaktion in einem prätentiösen Urkundenstil. Im Gegensatz dazu kann auch die deutsche Version die lateinische im Umfang übertreffen. Über einen 1295 erfolgten Güterverkauf einer Rheinfeldener Bürgerstochter an
21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch/Latein
315
einen Basler Bürger existieren eine deutsche vom Rat von Rheinfelden und eine lateinische vom Rat von Basel ausgestellte Urkunde (ebd., 2099). Der volkssprachige Text enthält unter dem Vorspruch: V@ iBt diB daz g*t v@ lit alBe hie nach Btat geBchriben (ebd., 2099, 304, 42) eine genaue Beschreibung der Güter. Dieser umfangreichste Teil (44 Druckzeilen) hat in der lateinischen Urkunde keine Entsprechung. Außerdem fehlen dort auch die sechs namentlich genannten Zeugen. Im Lateinischen sind stattdessen ausführliche Verzichtsformeln aufgenommen. Die Differenzen – eine genaue Bestimmung des Verkaufsobjekts und juristische Sicherungskautelen des Geschäfts – weisen auf unterschiedliche Interessen hin. Diese können durch die Verkäuferin (bzw. deren Rechtsvertreter) und den Käufer bestimmt, aber auch durch verschiedene juristische Orientierungsgrundsätze der beiden städtischen Behörden (Rat von Rheinfelden und Basel) oder deren Kanzleien gesteuert sein. Ähnliche Erklärungen sind auch für die Divergenzen in anderen zweisprachigen Fassungen der Geschäftsurkunden zu erwägen. Das Spektrum vorhandener Abweichungen ist noch größer. Bei der Beurkundung eines Güterverkaufs des Salzburger Hochstifts an das Kloster Ranshofen aus dem Jahr 1299 (ebd., 3422 A lat., B dt.) fehlt dem deutschen Text die Angabe des Kaufpreises und die Begründung des Verkaufs (nämlich die entfernte Lage der Güter und die damit verbundene schwierige Ertragseintreibung). Inwieweit diese Differenz beabsichtigt ist, muss offen bleiben. Beide Ausfertigungen sind in die Hände der Empfänger gelangt und im Kloster archiviert worden, so dass es nicht darum gehen kann, in einem Fall Informationen vorzuenthalten. Da das Formular der lateinischen Urkunde umfangreicher gestaltet ist und eine lange Zeugenliste enthält, wirkt sie offizieller. Vielleicht sollte der deutsche Text als Verständnishilfe dienen, allerdings sind beide Urkunden besiegelt. Deutlich ist, dass es sich bei dem Inhaltstyp Geschäftsurkunde in den meisten Fällen um selbständige Formulierungen des Rechtsgeschäfts in der einen oder anderen Sprache handelt, also nicht um Übersetzungen. Aufschlussreich für die kontrastive Betrachtung der Gesamttexte ist außerdem die zweisprachige Aufzeichnung eines Prozessverlaufs: eine exzeptionelle Protokollurkunde. Ihr fehlt zwar das übliche Anfangsformular, aber die Siegel unter der lateinischen und deutschen Version machen sie zu einem rechtsgültigen Dokument. Die beiden Texte sind zweispaltig nebeneinander geschrieben. Protokolliert wird eine Verhandlung zwischen Bischof Berthold von Passau und der Ehefrau Ludwigs von Zelkingen über die Wiederbelehnung nach dem Tod des ersten Ehemannes. Das Dokument war offenbar für die Appellation an das Reichshofgericht gedacht: (3)
a qua Aentencia d?a per advocatum eius ad audienciam imperialis culminis appellauit. (ebd., 23, 43, 36ff.)
(4)
Der vrteil dinget der frauwen vorApreche anz Riche (ebd., 23, 43, 24f.)
Die selbständigen Formulierungen zur selben Sache, die sowohl die Gliederung der Mitteilungen wie unterschiedliche syntaktische Konstruktionen betreffen, wurden offenbar als adäquate Entsprechung verstanden, und die Zweisprachigkeit berücksichtigt die unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten sowie die besondere Würde der bischöflichen Partei.
316
II. Gebiete und Phänomene
Der Vergleich der zweisprachigen Texte als Ganzes hat in verschiedener Hinsicht gezeigt, dass es keine schematisierten Verfahren lateinisch-deutscher Parallelurkunden gibt. Genauere Übersetzung, freiere Übertragung und eigenständige Formulierungen der deutschen Fassungen kommen vor. Die Toleranz von Abweichungen selbst auf der inhaltlichen Ebene ist hoch, wohl ohne Furcht, dass die Äquivalenz der Aussagen verloren geht. Auf diese Weise kommt ein Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der deutschen Schriftlichkeit im Rechts- und Geschäftsbereich zum Ausdruck. 4.2.
Die Formulargestaltung
Die Urkunde als Textsorte ist durch das aus lateinischen Vorlagen übernommene Formular geprägt. Übernahme bedeutet nicht Wort-für-Wort-Umsetzung, sondern Adaptation an deutschsprachige Kommunikationsverhältnisse im Rechts- und Geschäftsbereich. Das zeigt sich vor allem an der Formulierung der obligatorischen Publikatio. Zum Vergleich für diesen Formularteil bieten sich 26 Parallelurkunden an, die sich auf verschiedene Mundartgebiete verteilen. Mit wenigen Ausnahmen ergibt sich ein markanter Kontrast des lateinischen gegenüber dem deutschen Formular. Die Information über das Rechtsgeschäft richtet sich im Lateinischen an alle, die das Dokument sehen (inspectores) oder die überhaupt anwesend sind (presentes), zum Beispiel: (5)
Eapropter ego […] profiteor et notum facio VniuerAis preAentes litteras inApecturis, quod […] (ebd., 1104A)
Demgegenüber wendet sich der Aussteller im deutschen Text an alle, die die vorliegende Urkunde (den brief) sehen und / oder hören. Letzteres bedeutet in der Regel – wie überwiegend präzisiert wird – vorlesen hören: (6)
Da von ich […] vergih vnd tvn chvnt allen den, di diAen brief Aehen vnd hren, daz […] (ebd., 1104B)
Dieser konstante Gegensatz wird im Einzelnen in zahlreiche variierende Formulierungen gekleidet: Die Adressaten erscheinen im Deutschen fast immer als Dativobjekt mit anschließendem Relativsatz. Die Teile des zweigliedrigen Prädikats im Relativsatz sehen unde hoeren stehen auch in umgekehrter Reihenfolge: hoeren unde sehen. (7)
allen den, di in [diAen brief] hrent oder Aehent (ebd., 1603 B)
sehen wird bisweilen durch lesen ersetzt: (8)
allen den […] die diAen brief leAent Vnd hrent (ebd., 1087 A / B)
und hoeren wird zu hoeren lesen ergänzt: (9)
allen den, die diAen gegenwrtigen brief Aehent v? hrent leAen (ebd., 145 B)
Bei den Varianten ist nicht in jedem Einzelfall sicher zu bestimmen, ob sehen meint, die Urkunde als materielles Schriftstück der Abmachung wahrzunehmen, oder ob es
21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch/Latein
317
synonym für lesen steht. Die synonyme Bedeutung stützen Belege, in denen statt sehen an erster Stelle lesen verwendet ist, z. B.: (10) allen den, die dizen brief leAint oder h!rent leAin (ebd., 970 B) Ein dreigliedriges Prädikat zeigt, dass aber durchaus auch zwischen dem Betrachten bzw. der Demonstration des Schriftstücks, dem stillen Lesen und dem Vorlesen unterschieden werden konnte: (11)
Allen den, die diAen prief Aehent oder leAent oder horent leAen (ebd., 2418 B)
Das Signalwort hoeren, zu dem in lateinischen Parallelurkunden nur ganz selten die Entsprechung audire zu finden ist, weist auf das Verlesen der Urkunden als einen wichtigen Vorgang in der deutschen Verfahrenspraxis. Die volkssprachige Beurkundung ist in die Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eingebettet. Ihr geht eine mündliche Verhandlung der Beteiligten voran. Deren Ergebnis wird durch schriftliche Fixierung Dauer verliehen, und es wird durch Verlesen überprüfbar und rekapitulierbar für die Rechts- und Geschäftspartner, unabhängig von ihren Lesefähigkeiten. Das Verlesen von Urkunden ergibt sich nicht allein aus dem Formular, historische Berichte bezeugen derartige Vorgänge (vgl. Bumke 1986, Bd. 2, 637). Auch bei der Anfangsformulierung der Publikatio gibt es Varianten, doch ohne markanten Kontrast zwischen den beiden Sprachen. Die Bekanntmachungsformel lautet im Lateinischen überwiegend: notum facimus auch notum volumus esse (notum esse cupio), profitemur und promittimus. Daneben begegnet öfter die Aufforderung an die Adressaten noverint ohne Einbeziehung des Ausstellers. Alle diese Varianten sind im Deutschen übernommen: wir tuon kunt (verjehen, kunden); Wir verjehen und tuon kunt begegnen überwiegend, während das unpersönliche Wizzen alle, die […] selten vorkommt. Auch im Schlussteil des Urkundenformulars, in der Corroboratio, variieren die Formulierungen erheblich, und zwar in beiden Sprachen ohne markanten Kontrast. Betont werden der Zeugniswert des Schriftstücks mit den synonymen Signalwörtern testimonium bzw. urkünde und die beständige Erinnerung des Vereinbarten mit memoria bzw. gehügede. Um diese Essentials zu sichern, werden die Siegel angehängt. Ein vorangestellter Finalsatz, der im Lateinischen keine Entsprechung besitzt, taucht in vielen rein deutschen Urkunden als typische Einleitung der Corroboratio auf: (12) Jn huius rei teAtimonium et perpetuam firmitatem sigilla noAtra […] preAentibus Aunt appenAa (Corpus 1932–1986, N 327 C) (13) Daz diz war Aie v? Atete blibe, dar vmbe Aint vnAeriv jngeAigel […] an diAen bryef gehenket zeime vrkunde (ebd., N 327 B) Die Formulierungsabweichungen verschieben den Inhalt der Formularpartie nicht wesentlich. Vielleicht kann man einen kontrastierenden Akzent in der Einleitung des Datierungspassus sehen. Während im Lateinischen actum et datum als Signalwörter erscheinen, lautet die deutsche Umsetzung fast durchgehend: diz geschah, oder diz ist beschehen:
318
II. Gebiete und Phänomene
(14) Datum et actum BaAilee Anno d?i […] (ebd., 2099) (15) Diz geAchach ze Rinuelden, do man zalte von gotteA gebúrte […] (ebd., 2099) Die lateinische Formulierung bezieht sich auf das ausgefertigte Schriftstück, die deutsche auf den beurkundeten Vorgang. Auffällig ist insgesamt die Variationsfreiheit der Formulare, die über das kleine Vergleichskorpus hinaus in den rein volkssprachigen Urkunden ebenfalls zu finden ist. Allerdings zeichnen sich an Orten, wo im 13. Jahrhundert eine Reihe von Urkunden entstanden ist, bestimmte Präferenzen ab, jedoch ohne dass uniforme Formulare entstehen. 4.3.
Zur Lexik
Der Wortschatz der volkssprachigen Urkunden ist aus dem Reservoir der mündlichen Kommunikation über Rechts- und Geschäftsvorgänge gespeist und schließt gegebenenfalls die deutschen Bezeichnungen von kirchlichen und städtischen Institutionen, Ämtern und Amtsinhabern ein. Man kann davon ausgehen, dass es sich im 13. Jahrhundert um geläufige, in der Praxis gebrauchte Lexeme handelt. Demgegenüber wird im schriftlichen Medium der lateinischen Sprache ein Wortschatz benutzt, der auf der Grundlage der lateinischen Literatur traditionelle Wörter und Wendungen aufnimmt, um mittelalterliche deutsche Institutionen sowie Rechts- und Geschäftsvorgänge zu erfassen. Allerdings ist dieses Verfahren, als die deutsche Beurkundung beginnt, bereits ein jahrhundertelang währender Prozess mit festen Standards. Der Vergleich der Parallelurkunden zeigt einerseits konventionalisierte bilinguale Lexemverwendungen mit einem bestimmten semantischen Spektrum. Zum Beispiel steht das lateinische ecclesia dem deutschen goteshus / gothus gegenüber mit der Bedeutung ›kirchliche Körperschaft, Domkapitel, Kloster‹; selten ist das Kirchengebäude gemeint. Zum Teil werden klassische Wörter für mittelalterliche deutsche Gegebenheiten verwendet: consules bezeichnet den rât einer Stadt, advocatus in der Regel den voget, im Einzelfall auch den vorspreche (ebd., 23); minister steht als Äquivalent für amman (ebd., 26A / B); arbiter für Ǖchidman (ebd., 1197A / B). Außerdem gibt es lateinische Neubildungen, die zu ständigen Äquivalenten deutscher Lexeme werden: scultetus für Ǖchultheize (ebd., 2099), magister civium für burgermeister (ebd., 150 A / B). Eine auffällige Gepflogenheit taucht des Öfteren im Nebeneinander von zweisprachig überlieferten Urkunden, aber auch in rein lateinischen Diplomen auf: Für bestimmte Rechtstermini ist im lateinischen Text ein deutsches Wort oder eine Wortgruppe eingesetzt, offenbar im Bewusstsein, dass eine bilinguale Äquivalenz schwierig wäre und dass es in bestimmten Fällen, z. B. bei Strafordnungen, auf die genaue Identifizierbarkeit der Strafe ebenso ankommt wie in Vereinbarungen auf ein spezielles gewohnheitsrechtliches Signalwort. Die deutschen Termini werden glossierend in den lateinischen Text mit einem Relativsatz eingefügt: quod vulgo (vulgariter) dicitur (nuncupatur oder appellatur); quod lingua materna sonat oder mit der Wendung iuxta vulgare. Zusätzlich zu der deutschen Glosse kann noch eine lateinische Explikation erfolgen. Der für die Beurkundungsgeschichte wichtige Mainzer Reichslandfriede enthält eine Reihe derartiger deutscher Glossen. Viermal kommt die Formel êlos unde rehtlos sîn für
21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch/Latein
319
die Strafe des Ausschlusses aus der Rechtsgemeinschaft vor. Die syntaktische Einbindung in den lateinischen Text sieht unterschiedlich aus. Die Formel wird als Subjektsprädikativ verwendet: violator conuictus perpetuo Bit erenlos et rechlos (ebd., 4 F, 6, 33). An anderer Stelle ist ein glossierender Relativsatz eingefügt: Bupradicte pene, que wlgo dicitur erenlos et rethlos (ebd., 4 F, 7, 47f.). Auch die Verbindung mit einer lateinischen Explikation kommt im Mainzer Reichslandfrieden vor: Supradicto modo omni iure omnique actu perpetuo legitimo Bit ipBo iure priuatus, quod wlgo dicitur erenlos et rethlos (ebd., 4 F, 7, 41f.). In ähnlicher Weise werden in demselben Rechtstext die Termini geBamint vrteil (9, 7), verderpnuBBe (7, 35), wette (7, 52) und widerBage (6, 48) eingesetzt. In Verkaufsurkunden sind ehafte (ebd., 1859 A), gewer (ebd., 3422 A, 1143 A), Ǖcherm (ebd., 1143 A) und beBuchz oder vnbeBuchz (ebd., 1859 A) glossierend verwendet. Abgesehen von der Reflexion über die Bedeutungsäquivalenz der beiden Sprachen zeigt der Vergleich, dass die Texte aufeinander abgestimmt wurden und in direkter Relation zueinander standen. Bei einer Reihe von Wörtern kann die gegenüberstellende Betrachtung der zweisprachigen Urkundentexte zur genauen semantischen Bestimmung der mittelhochdeutschen Wörter herangezogen werden. Während zwischen den etymologisch zusammengehörigen Lexemen im Mittelhochdeutschen und Neuhochdeutschen Bedeutungswandlungen erfolgt sind, stehen die lateinischen und deutschen Korrelate synchron im gleichen historischen Zusammenhang und interpretieren sich gegenseitig. Beispielhaft ist das an dem für die Textsorte relevanten Wort Urkunde zu erkennen. Mittelhochdeutsch urkünde, urkunde entspricht dem lateinischen testimonium und bedeutet wie dieses ›Zeugnis, Beweis‹. In diesem Sinne sind die Lexeme in der Corroboratio verwendet: (16) Dantes Auper eo in euidens teAtimonium has noAtras litteras (ebd., 1197 A) (17) vnd haben dar vber gegeben zv einem vrchunde diAen Brief (ebd., 1197 B) Zugleich ist hier ersichtlich, dass litterae bzw. brief für den heutigen Begriff ›Urkunde‹ stehen. Die mittelhochdeutsche Bezeichnung brief meint also nicht im heutigen Sinne die Übermittlung von Nachrichten. Das wird mit dem Ersatz von brief durch hantveǕte (ebd., 1087 B) und dem in rein deutschen Urkunden öfter vorkommenden synonymen Doppelausdruck brief unde hantveste zusätzlich belegt. Im Lateinischen gibt es unter den Bezeichnungsvarianten für den Begriff ›Urkunde‹ neben litterae, pagina kein Analogon zu dem Wort hantveste, das weniger die Schriftlichkeit fokussiert als vielmehr den tangiblen, körperbezogenen Demonstrationswert. (Im Urkundenwortschatz des 13. Jahrhunderts gibt es über 650 Belege für hantveste). Dieser Aspekt korrespondiert mit der oben gegebenen Interpretation von sehen neben hoeren in der Publikationsformel im Sinne der Wahrnehmung eines demonstrierten Beweisstücks. Insgesamt ist festzuhalten, dass die kontrastive Betrachtung der Lexeme aus den Parallelurkunden in verschiedener Hinsicht wichtige Erkenntnisse vermittelt.
320 4.4.
II. Gebiete und Phänomene
Zur Syntax
Seit ihrem frühesten Auftreten sind die deutschen Urkunden gegenüber den lateinischen Vergleichstexten syntaktisch relativ eigenständig gestaltet. Ohne besondere Kommentierung haben das bereits unter den vorangehenden Gesichtspunkten einige kontrastierte Beispiele belegt. Latinismen (Verstöße gegen sonst erkennbare deutsche Gepflogenheiten) gibt es kaum. Das zeigt sich vor allem bei der gegenüberstellenden Betrachtung typisch lateinischer Konstruktionen in den parallelen Texten. Anstelle von Verbalsubstantiven und Partizipialkonstruktionen findet man im Deutschen häufig Relativsätze, z. B. (18) Receptores vero teloneorum tam interris quam inaquis […] teneri volumus (ebd., 4 F, 7, 4f.) (19) alle, die zolle nement vf wazzer oder vf lande, die Auln […] (ebd., 4 P, 13, 38) Die Entsprechung für universis litteras inspectoribus (oder Ähnliches) in der Publikationsformel allen den, die disen brief sehent oder hoerent belegt das ebenfalls. Den lateinischen Partizipialkonstruktionen (Ablativi absoluti und Participia conjuncta) stehen im Deutschen finite Verbformen in einem eigenen Satz gegenüber, der je nach Kontext subordiniert oder koordiniert ist. (20) hic Aingulis diebus iuditio preAideat […] ius reddens omnibus querelantibus […] (ebd., 4 F, 8, 43f.) (21) der Aal alle tage zcu gerichte Aiczen […] v? Aal allen l(ten richten, di im clagen […] (ebd., 4 W, 17, 9f.) (22) Acta Aunt hec augie […] preAentibuǕ viriA diAcretiA videlicet B[vrcart] de SalunAtain […] (ebd., 145 A, 180, 14ff.) (23) Dierre k!f vnde diz gedinge […] beAchach ze Ԁwe […] v? waren da ze gegene Bvrcart von SalvnAtain […] (ebd., 145 B, 180, 32ff.) Auch eine präpositionale Eingliederung des deutschen Pendants zu der lateinischen Partizipialkonstruktion kommt vor. Die verbale Komponente selbst bleibt dabei ohne Entsprechung: (24) talibus condicionibus intercluAis, quod […] (ebd., 1104 A, 399, 9f.) (25) mit Aogetaner beAcheidenheit, […] daz […] (ebd., 1104 B, 399, 4ff.) Verwendet werden im Deutschen nachgestellte Partizipien z. B. mit geheizen, genant, genemet mit ligende oder gelegen u. Ä.: (26) Frater Eberhardus dictus de Seyne […] (ebd., 22, 35, 40) (27) Bruder Ewerhart geheizen von Aeine […] (ebd., 22, 35, 29)
21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch/Latein
321
In der Corroboratio wird häufig – auch in rein deutschen Urkunden – die Nennung der Siegel oder Siegler mit besigelet, bestætet, gevestenet u. ä. partizipial angeschlossen. (28) dar vmbe gibe ich […] diAen offen brief beAigelt mit dem wachAzaichen mines jnAigel (ebd., 520, 456,2ff.). Im Einzelnen gibt es hier verschiedene Varianten hinsichtlich der Stellung des Partizips und der damit verbundenen weiteren Satzglieder. Wahrscheinlich durch lateinische Vorbilder angeregt, sind diese Konstruktionen zu einem usuellen Element der deutschen Urkunden geworden. Der A.c.I. gilt als typische lateinische Konstruktion, die nur dann im Deutschen nachbildbar ist, wenn man den Akkusativ als Objekt zu dem übergeordneten Prädikat verstehen kann. Das ist bei bestimmten Verben, wie z. B. sehen, kiesen, hoeren, bitten der Fall. Sonst steht dem lateinischen A.c.I. ein deutsches Subjekt mit finiter Verbform in einem mit daz eingeleiteten Satz gegenüber: (29) quia eandem civitatem capitalem esse volumus ac digniorem inter alias iam constructas (ebd., 22, 37, 29f.) (30) v? wir wellen, daz die Aelbe Aie ein howetAtat v? werdeger vnder anderen Ateten (ebd., 22, 37, 4f.) Dass auch dort, wo Infinitivkonstruktionen im Deutschen möglich wären, Objektsätze bevorzugt werden, erweist sich als ein Kennzeichen der deutschen Satzbauweise. Im Lateinischen sind oft mehrere Aussagen durch infinite Verbformen in einen Satz integriert. Die Bevorzugung von Nebensätzen im Deutschen statt infiniter Konstruktionen entspricht der insgesamt für die mittelhochdeutsche Urkundensprache zu beobachtenden Tendenz, die Relation zwischen Agens und Patiens sowie die Handlung, den Vorgang oder Zustand deutlich herauszustellen. Diese Tendenz bestätigt sich nachdrücklich in dem kontrastiven Gebrauch aktiver Konstruktionen gegenüber dem Passiv im Lateinischen. In mehreren zitierten Textstellen ist das bereits belegt, zum Beispiel: (31) uiolator proAcribatur (ebd., 4 F, 6, 29) (32) der rihter Aol ienen ze aht t0n, der den fride gebrochen hat (ebd., 4 P, 13, 10f.) Die Bestrafung mit einem agierenden Richter und dem betroffenen Rechtsverletzer wird explizit formuliert. Dieser Kontrast könnte zu einer semantischen Bewertung der Genera verbi anregen und zur Klärung der Frage, ob es sich hier lediglich um ein Phänomen der Kanzleisprache oder um unterschiedliche Denkstrukturen zwischen dem Lateinischen und Deutschen handelt. Ein Vergleich der Wort- und Satzstellung in den bilingualen Texten gibt Hinweise auf die Eigenständigkeit der deutschen Verfahrensweise und damit auf relativ gefestigte Gepflogenheiten des deutschen Schreibstils in der urkundlichen Kanzleisprache. Relativsätze, die lateinischen Partizipien oder Verbalnomina entsprechen, werden im
322
II. Gebiete und Phänomene
Deutschen nicht eingeschachtelt, sondern an die voll ausgeführte Prädikatgruppe angeschlossen: der rihter Ǖol ienen ze aht t1n, der den fride gebrochen hat. Ebenso stehen Entsprechungen zu lateinischen eingeschachtelten Modalsätzen im Deutschen nach dem vollständigen Hauptsatz: (33) nos requiAiti iudicem, ut iustum eAt, eundem puniemus (ebd., 4 F, 8, 12) (34) daz Aol der keiAer rihten vber in, alA da reht iAt (ebd., 4 P, 13, 26) Wo im Deutschen Relativsätze unmittelbar an das zu erläuternde Bezugswort angegliedert sind, wird danach die Prädikatgruppe derart erweitert, dass eine vollständige Aussage entsteht, z. T. mit Wiederholung der einleitenden Konjunktion: (35) Wir Aezcen v? gebiten, das alle zcolle, di von vnAes vater gezciten keiAer heinriches Aint geAezcet uf waAAere oder uf lande, das di abe Ain (ebd., 4 W, 15, 55f.) Außerdem zeichnet sich in den deutschen Urkunden eine Neigung zu Satzaufreihungen ab. Auf diese Weise entstehen längere Satzgefüge, die in ihrer andersartigen Anordnung dem Umfang der lateinischen Perioden nahe kommen können. Vermieden wird im Deutschen das Auseinanderrücken einzelner Teile von Konstruktionsverbindungen, um die Abhängigkeitsrelationen deutlich zu halten. Im Lateinischen sind dagegen durch die größere Differenzierung der Flexionsmorpheme auch bei entfernter Stellung der Satzteile Signale für die Funktion und Zusammengehörigkeit vorhanden. Bei den deutschen Satzverknüpfungen sind die logischen Relationen weniger ausdifferenziert als im Lateinischen. Es dominieren Nebensatztypen (Relativsätze und dazSätze), bei denen ein Pronomen oder eine Konjunktion die Angliederung vollziehen, ohne semantische Signale zu geben. Der Mangel an logischer Explizität wird zum Teil durch den weiteren Kontext ausgeglichen. Obwohl die Kernsätze in der Regel nicht umfangreich sind, werden in den deutschen Urkunden öfter Satzgefüge durch verweisende Konjunktionen, Adverbien und Pronomina mit dem vorangehenden Text zu größeren Sinneinheiten verbunden. Dadurch ergibt sich ein bestimmter Schreibstil der Urkunden, der zwar nicht der mündlichen Rede entspricht, aber beim Verlesen durch seine Gliederung in der Regel verständlich bleibt.
5.
Ergebnisse
Die kontrastive Betrachtung der deutschen und lateinischen Urkunden hat deutlich gemacht: Auch wenn das Konzept einer lateinischen Textsorte im Deutschen aufgenommen wird, handelt es sich von Anfang an um Adaptationen an die Bedingungen, die durch die Mündlichkeit in der Rechts- und Geschäftspraxis und durch die deutschen sprachimmanenten Strukturen vorgegeben sind. Die deutschen Entsprechungen zu den lateinischen Parallelurkunden stellen keine Übersetzungen im Sinne genauer Orientierung der volkssprachigen Version an der lateinischen Vorlage dar. Sie gestalten die Sachverhalte frei nach den eigensprachlichen Usualitäten, und zwar auch dort, wo die
21. Kontrastive Kanzleisprachenforschung – Deutsch/Latein
323
Priorität einer lateinischen Vorlage sicher ist, wie bei der Rechtsordnung des Mainzer Reichslandfriedens. Im Zuge der Umsetzung von Formularvorgaben der Textsorte und bei der Beschreibung von Rechts- und Geschäftsvorgängen etablieren sich im Deutschen bestimmte Gepflogenheiten, die die Textsorte prägen und die bei der Urkundenproduktion in institutionalisierten Kanzleien fortbestehen. Wie ebenfalls gezeigt wurde, lassen die etablierten Formen Spielräume für Varianten verschiedener Art.
6.
Quellen
Chronica Regia Coloniensis, Georg Waitz (Hrsg.) (1880), (MGH. SS XVIII), Hannover. Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, Friedrich Wilhelm u. a. (Hrsg.) (1932–1986), 5 Bde., Lahr.
7.
Literatur
Bentzinger, Rudolf (2000), »Die Kanzleisprachen«, in: Werner Besch u. a. (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl., 2. Teilbd., Berlin / New York, 1665–1673. Bumke, Joachim (1986), Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde., München. Greule, Albrecht (2001), »Deutsche Kanzleisprachen. Aufgaben der Forschung«, in: Albrecht Greule (Hrsg.), Deutsche Kanzleisprachen im europäischen Kontext, (Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 1), Wien, 13–16. Kienpointner, Manfred (1992), »Kontrastive Grammatik«, in: Der altsprachliche Unterricht, 4 / 1992, 71–86. Reiffenstein, Ingo (1986), »Zur Begründung der Schriftlichkeit in deutschen Urkunden des 13. Jahrhunderts«, in: Karl Hauck u. a. (Hrsg.), Sprache und Recht. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Berlin / New York, 659–669. Rein, Kurt (1983), Einführung in die Kontrastive Linguistik, Darmstadt. Schulze, Ursula (1975), Lateinisch-deutsche Parallelurkunden des 13. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Syntax der mittelhochdeutschen Urkundensprache, (Medium Aevum 30), München. Schulze, Ursula (2003), »Urkunde«, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin / New York, 736–737. Sommer, Ferdinand (1959), Vergleichende Syntax der Schulsprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Lateinisch) mit besonderer Berücksichtigung des Deutschen, 4. Aufl., Stuttgart.
III. KANZLEIEN DES NIEDERDEUTSCHEN
Robert Peters, Münster (Deutschland)
22. Die Kanzleisprache Münsters
1. 2. 2.1. 2.2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
1.
Vorbemerkungen Lateinische Schriftlichkeit (800–1300) Lateinische Schriftlichkeit und altwestfälische Mündlichkeit (800 bis ca. 1150) Lateinische Schriftlichkeit und mittelwestfälische Mündlichkeit (ca. 1150 bis ins 14. Jahrhundert) Ausbildung einer lokalen niederdeutschen Schreibsprache (1300–1375) Niederdeutscher Sprachausbau (1375–1530) Der Schreibsprachenwechsel vom Mittelniederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen Hochdeutsche Schriftsprache im 16. und 17. Jahrhundert Quellen Literatur
Vorbemerkungen
Die Überlieferungslage Münsters ist durch starke Verluste gekennzeichnet. Der Stadtbrand von 1121 vernichtete das vorhandene lateinischsprachige Urkundenmaterial. Die Täufer zerstörten im Jahr 1534 die städtischen Archivbestände. Daher kann der Schreibgebrauch der Ratskanzlei nur bruchstückhaft rekonstruiert werden. Die Kanzleisprachgeschichte Münsters ist bestimmt durch das Neben- und Gegeneinander der Sprachen Latein, westfälisches Niederdeutsch und Hochdeutsch. Zweimal fand ein durch externe Faktoren bedingter Schreibsprachenwechsel statt: vom Lateinischen zum Mittelniederdeutschen im 14. und vom Mittelniederdeutschen zum Hochdeutschen im 16. / 17. Jahrhundert. In den Stadien zwischen einer alten und einer neuen Sprachsituation entsteht Mehrsprachigkeit (vgl. Peters 2008, 11). Der erste Abschnitt der Sprachgeschichte reicht vom Einsetzen der lateinischen Schriftlichkeit gegen 800 bis zum Ende der Alleinherrschaft des Lateinischen nach 1300. In der zweiten Phase (1300– 1375) tritt eine lokale volkssprachige Varietät neben das Lateinische und drängt dieses zurück. In der dritten Phase (1375–1530) gilt die nordwestfälische Schreibsprache in fast allen Domänen. Im vierten Abschnitt (1530–1610) wird die regionale niederdeutsche Schreibsprache vom (Früh)Neuhochdeutschen verdrängt. Nach dem Wechsel herrscht in Phase fünf bis ins 19. Jahrhundert eine mediale Diglossie mit hochdeutscher Schrift- und niederdeutscher Sprechsprache.
328
III. Kanzleien des Niederdeutschen
2.
Lateinische Schriftlichkeit (800–1300)
2.1.
Lateinische Schriftlichkeit und altwestfälische Mündlichkeit (800 bis ca. 1150)
Das Aufkommen der Schriftlichkeit in Westfalen ist eine Folge der Sachsenkriege (772–804). Sachsen – und damit auch Westfalen – wurde in das fränkische Reich eingegliedert, die Bevölkerung wurde christianisiert. Im Jahr 793 kam Liudger ins Münsterland, 799 wurde Münster als Bischofssitz bestimmt. Die Siedlung Mimigernaford lag in sächsischer Zeit auf dem westlichen Aa-Ufer. Auf dem Horsteberg entstand die karolingische civitas Mimigernaford. Tiefenbach erklärt das Wort Mimigerna als Rufnamen Mimigern, der, mit -a-Flexiv im Genitiv Plural, als Personengruppenname anzusehen ist. Der Ortsname Mimigernaford ist demnach »als ›Furt der Mimigerne‹ zu deuten. Die Personengruppe ist wohl nach einem Gründer, Besitzer oder Sippenoberhaupt genannt« (Tiefenbach 1984, 19). Dieser Typ wurde in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts von Mimigardeford abgelöst. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, erstmals 1068 belegt, tritt der Name Monasterium (›Kloster‹) auf. Die Stadt ist also nach ihrem kirchlichen Zentrum benannt. Hieraus wurde die volkssprachige Bezeichnung Mönster abgeleitet; der früheste Beleg, Monestre, stammt aus dem Jahr 1106. Die Gründung eines Bischofssitzes bedeutet den Eintritt in die lateinische Schriftkultur. Die Organisation des kirchlichen Lebens ließ an den Bischofssitzen und in Klöstern eine Schreibkultur entstehen, die die lateinische Sprache und das lateinische Schriftsystem übernahm. Pflegestätten des Lateinischen in Münster sind die Domschule und das bischöfliche Skriptorium, die Kanzlei. Im 11. Jahrhundert entstehen weitere Schreibstätten: das adlige Damenstift Liebfrauen-Überwasser, geweiht 1040, und noch vor 1100 das Kanonikerstift St. Mauritz vor den Toren der Stadt. Die Kenntnis des Lateinischen und die Beherrschung der Schrift sind ein Privileg der Geistlichkeit. Die erste im vollen Wortlaut erhaltene Urkunde eines Bischofs von Münster ist die Bischof Siegfrieds aus den Jahren 1022 bis 1032 (WUB 1, Nr. 103). Aus dem Jahr 1085 datiert die Urkunde Bischof Erphos für Freckenhorst (WUB 1, Nr. 164). Vom Ende des 11. Jahrhunderts stammt das älteste Einkünfteverzeichnis des Überwasserstifts; wohl im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts wurde das älteste Heberegister des Stifts St. Mauritz abgefasst. Die Missionssituation machte es notwendig, auch die Volkssprache, das Altwestfälische, zu verschriftlichen. Aus Münster ist kein altwestfälisches Sprachdenkmal überliefert, doch aus dem ostmünsterländischen Frauenstift Freckenhorst ist das Heberegister erhalten, ein Zeugnis altwestfälischer Geschäftsprosa, dessen Handschrift M um 1100 datiert wird (vgl. Hellgardt 1999). Die Abfassung in der Volkssprache erklärt sich dadurch, dass Heberegister aufgrund der Aussagen der Landbevölkerung aufgezeichnet wurden und die Volkssprache in diesem Fall beibehalten wurde (vgl. Hartig 1972, 98). Das Freckenhorster Heberegister überliefert typisch nordwestfälische Formen wie tharp ›Dorf‹, karn ›Korn‹, haneg ›Honig‹ (vgl. Foerste 1957, 1753). Die altwestfälische Schriftlichkeit endet um 1100. In der lateinischen Überlieferung (Urkunden, Güterverzeichnisse) finden sich außer Personen- und Ortsnamen vereinzelt auch Einzelwörter in der Volkssprache. Die erwähnte Urkunde von 1022 bis 1032 enthält
22. Die Kanzleisprache Münsters
329
das Wort ledscipi ›Bauerschaft‹, »das in mittelwestfälischen Texten noch einige Male auftaucht, jedoch spätestens im 16. Jahrhundert durch burscap vollständig verdrängt wurde« (Müller 1989, 59; vgl. auch Müller 1971). 2.2. Lateinische Schriftlichkeit und mittelwestfälische Mündlichkeit (ca. 1150 bis ins 14. Jahrhundert) Die Schriftlichkeit ist im 12. und 13. Jahrhundert noch auf die Geistlichkeit beschränkt. Um 1200 hat sich, mit der Errichtung der Pfarrkirchen, Stifte und Klöster, die Zahl der Schreibstätten beträchtlich erhöht. Neben den Pfarrkirchen sind das Kollegiatstift Alter Dom, die Stifte an St. Ludgeri und St. Martini und das Benediktinerinnenkloster St. Aegidii zu nennen. Im 13. Jahrhundert nimmt die lateinische Schriftlichkeit zu. Der Bischof ist der wichtigste Aussteller von Urkunden. Neben die geistliche Schriftlichkeit tritt – mit dem Ausbau der kommunalen Verwaltung und damit der Ratskanzlei – nach 1200 die des Rates. Das Stadtrecht dürfte zwischen 1209 und 1214 aufgezeichnet worden sein. In der Mitte des 13. Jahrhunderts schließt Münster mit anderen westfälischen Städten Bündnisse ab: Von 1246 datiert der Ladbergener Bund, von 1253 der Werner Bund. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vollzog sich der interne Sprachwandel vom Alt- zum Mittelwestfälischen (Abschwächung der unbetonten Mittel- und Endsilbenvokale zu einem durch wiedergegebenen Indifferenzlaut, altwestfälisch /ia/ > /e:/, /ÿ/ > /dh/ > /d/). Nach 1200 kann die Sprechsprache Münsters mittelniederdeutsch bzw. mittelwestfälisch genannt werden. Das Mittelwestfälische ist Teil des Mittelniederdeutschen. Sein Zeitraum umfasst das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit, das 13. bis 17. Jahrhundert. Volkssprachiges findet sich zwischen der Mitte des 12. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts in der lateinischen Überlieferung in Form von Personen- und Ortsnamen und von Einzelwörtern. Beispiele für letztere sind: Juri ciuili quod Wicbilethe dicitur (Bischof Hermann 1178); a civili collecta, quam schot vocant (Bischof Hermann 1184).
3.
Ausbildung einer lokalen niederdeutschen Schreibsprache (1300–1375)
Im 13. Jahrhundert führten die Differenzierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens sowie der Aufbau einer staatlichen und städtischen Verwaltung zu einem Verschriftlichungsprozess in Verwaltung, Rechtsprechung und Handel. Dieser Prozess bewirkte den Schreibsprachenwechsel vom Lateinischen zur Volkssprache – aus den Schreibbedürfnissen der Schichten heraus, die nicht über ausreichende Lateinkenntnisse verfügten: niederer Adel, Kaufleute, Handwerker. Doch maß man im 13. Jahrhundert mündlichen Abmachungen noch größere Bedeutung bei als schriftlichen Verträgen. Vox viva plus valet quam scriptura, heißt es in einer westfälischen Urkunde von 1269 (WUB 3, Nr. 834). In Territorium (Fürstbistum) und Stadt Münster wurde eine schriftlich arbeitende Verwaltung aufgebaut. Zentren der Verwaltungsorganisation sind die Kanzlei des Bischofs und Landesherrn und die des Rates. Der Übergang zur volkssprachigen Urkun-
330
III. Kanzleien des Niederdeutschen
de – und damit die erneute Verschriftlichung des Niederdeutschen – erfolgte in Westfalen später als in den benachbarten Schreibsprachlandschaften. Das zweite Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts kann als zögernder Anfang der kontinuierlichen Überlieferung volkssprachiger Texte betrachtet werden (vgl. Goossens 1983, 73). Zu dieser Zeit kommt auch die bischöfliche Kanzlei Münster mit volkssprachiger Schriftlichkeit in Kontakt. Im Verkehr mit bereits volkssprachig urkundenden Personen bzw. Institutionen kommt die bischöfliche Kanzlei als Empfängerin mit volkssprachiger Schriftlichkeit in Berührung und beginnt, Urkunden in niederdeutscher Sprache auszustellen. (Peters 2000, 102)
Im Zeichen des sich verstärkenden Territorialisierungsprozesses unter Bischof Ludwig (II.) von Hessen beginnt das Niederdeutsche in der Schriftlichkeit Fuß zu fassen. Dieser Prozess »setzt zeitnah zu Ludwigs Regierungsantritt im Jahr 1311 ein« (Nagel 2008b, 55). Bischof Ludwig stammt aus Hessen und ist mit hochdeutscher und lateinischer Schriftlichkeit und Mündlichkeit vertraut. Er ist »gleich zu Anfang seiner Regierungszeit an der Ausstellung volkssprachiger Urkunden, aber wohl nicht an der jeweiligen Wahl der Schreibsprache, beteiligt« (Nagel / Peters 2008, 110). Am 14. April 1311 beurkundet der Adlige Peter van der Lecke, dass das Haus Werth Eigentum des Stifts Münster sei; am 9. Juni 1311 überträgt er sein Haus Werth Bischof Ludwig von Münster. Am selben Tag belehnt Bischof Ludwig Peter van der Lecke mit Haus Werth (vgl. WUB 8, Nr. 631, 651, 652). In der nur abschriftlich erhaltenen Urkunde des Bischofs wird – so die Überlieferungslage – zum ersten Mal von einem münsterischen Aussteller eine volkssprachige Varietät gebraucht. Da alle drei Urkunden in einer niederrheinischen Schreibsprachvarietät gehalten sind, scheint der Adlige van der Lecke auf einen lokalen Schreiber zurückgegriffen zu haben (vgl. Nagel / Peters 2008, 110). Der neue Bischof hatte noch Verpflichtungen in seiner Heimat. Am 17. Oktober 1311 stellte er für die Stadt Marburg ein hochdeutsches Privileg aus (vgl. WUB 8, Nr. 676). Im Jahr 1313 stellt dann der Bischof, nach Lage der Überlieferung, erstmals eine Urkunde in nordwestfälischer Schreibsprache aus. Kennformen sind holpe ›Hilfe‹, vrent ›Freund, Verwandter‹, sal ›soll‹, solen ›sollen‹, and(e) ›und‹, efte ›oder‹. Im Zeichen des inneren Landesausbaus geht Ludwig von Hessen am 20. Dezember 1313 ein Bündnis mit den benachbarten Großen ein (vgl. Nagel / Peters 2008, 111). Am 30. März 1314 erfolgt in Lüdinghausen die Aussöhnung zwischen der Familie des Hermann von Lüdinghausen auf der einen und der Familie des Wolf von Lüdinghausen auf der anderen Seite (vgl. WUB 8, Nr. 871). Es kommt außerdem zu einem Ausgleich zwischen den Brüdern Wolf von Lüdinghausen und dem Bischof von Münster (vgl. WUB 8, Nr. 873). Bischof Ludwig schließt mit Hermann dem Alten von Lüdinghausen ein Bündnis (vgl. WUB 8, Nr. 874). »Die Urkunden weisen bemerkenswerterweise überwiegend spätmittelhochdeutsche Anteile auf« (Nagel / Peters 2008, 111): (1)
Wier Herman de olde von Ludinghusen unde her Herman die jĤnge, desselben hern Hermannes sone, ridtere, dĤn kunt allen den, die diessen bref sien oder horen lesen, daz wier en trĤwen globet han eydes stad in dismen gegenwordigen brive unsen erwortigen heren unde vader bischoph Lodewich van Munstere, daz wier em in allen sinen noden sullen helfen unde beholfen sin wider alle diejene, die levent. (WUB 8, Nr. 874)
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Im Jahr 1316 kaufte der Bischof von Münster die Herrschaft Lohn (Stadtlohn) von den Edelherren von Ahaus. Die Urkunde vom 3. April 1316 ist in westfälischer Schreibsprache abgefasst (vgl. WUB 8, Nr. 1030). Die Schreibsprache kann als Nordwestfälisch bzw. westliches Zentralmünsterländisch bezeichnet werden. Am 28. März 1319 schließen Bischof Ludwig von Münster, Graf Engelbert von der Mark, Graf Robert von Virneburg, Marschall von Westfalen, Graf Gottfried von Sayn und Graf Otto von Tecklenburg auf einem Treffen zwischen Hamm und Ahlen, das heißt an der Grenze zwischen dem Fürstbistum Münster und der Grafschaft Mark, ein Friedensbündnis (vgl. WUB 8, Nr. 1320). Die Schreibsprache der Urkunde stellt eine Mischung aus nord- und südwestfälischen Anteilen dar. Mit der Schuldverschreibung vom 5. Februar 1320 für Ahlen, Beckum, Bocholt, Borken, Coesfeld und Warendorf sowie mit derjenigen vom 3. April 1320 für Dülmen befreit der Fürstbischof die Landesstädte bis zur Tilgung der Schuld von der Landessteuer und bestätigt ihre hergebrachten Privilegien. Diese Dokumente sind in nordwestfälischem Mittelniederdeutsch abgefasst. Fremder Einfluss zeigt sich in den formelhaften Eingängen der Urkunden: Wi Lodewich, van der ghenade Godes biscop to Monster, don kundich allen denghenen, de dessen bref sien unde horen lesen, [...] (WUB 8, Nr. 1394 vom 5. Februar 1320). Auffällig ist hier die Form sien ›sehen‹ (3. Pers. Pl.) statt erwartbarem *seet sowie der Plural auf -en im Indikativ Präsens der Verben (don, sien, horen) an Stelle der einheimischen Pluralendung -et. Die Texte bilden eine erste Zäsur im Entstehungsprozess des Frühmittelniederdeutschen im Münsterland, bevor in den folgenden drei Jahrzehnten vereinzelt adlige Aussteller, geistliche Institutionen sowie Städte den [...] Schreibsprachenwechsel zur Volkssprache langsam einleiten.(Nagel / Peters 2008, 109)
Städtische Schriftlichkeit in münsterischer Schreibsprache setzt 1322 mit dem Heiratsvertrag zwischen Johann Sinnige und Christine Bischopink ein (vgl. WUB 8, Nr. 1620 vom 24. Dezember 1322). Die angeführten Dokumente zeigen, dass der Part des Bischofs von Münster und seiner Kanzlei bei der Herausbildung mittelniederdeutscher Schriftlichkeit als eher reaktiv gekennzeichnet werden kann (vgl. Nagel / Peters 2008, 109). Der Landesherr mit seiner Kanzlei und Verwaltung entwickelte keine Initiative zur Volkssprachigkeit. Die stärkere Involvierung lateinunkundiger Kreise (der niedere Adel sowie die städtischen Eliten) in landespolitische Belange mag einer der Gründe für den nun auch im Münsterland einsetzenden Schreibsprachenwechsel sein. (Nagel / Peters 2008, 112)
Die lateinische Überlieferung bleibt bis weit nach 1350 dominant. Der Umschlag von mehrheitlich lateinischen zu mehrheitlich mittelniederdeutschen Urkunden fällt in Münster in die Zeit zwischen 1370 und 1375. In dieser Zeit erfolgt auch der Sprachenwechsel von Latein zu Mittelniederdeutsch bei den münsterischen Stadtrichtern. Bernd Cleyhorst, Richter des Bischofs von Münster, stellt am 20. Januar 1373 und am 29. Juli 1374 niederdeutsche Urkunden aus (vgl. Münsterisches UB Nr. 215, 218).
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4.
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Niederdeutscher Sprachausbau (1375–1530)
In der dritten Phase konkurrieren lateinische und mittelniederdeutsche Schriftlichkeit. Die Wahl der Sprache hängt von der Schreibinstitution und vom Funktionsbereich ab. Der Umfang der Überlieferung steigt im 15. Jahrhundert sprunghaft an. In diesem Jahrhundert wird in der Mehrzahl der schreibsprachlichen Domänen – Verwaltung, Rechtsprechung, Chronistik – ganz überwiegend niederdeutsch geschrieben. In und um Münster gibt es im Spätmittelalter drei Kanzleien: die bischöflich-landesherrliche in Wolbeck, die des Domkapitels und die Ratskanzlei. Die Kanzlei des Bischofs und Landesherrn richtet sich in ihrer Sprachwahl nach dem Empfänger. An geistliche Institutionen wird lateinisch, an den Rat der Stadt und an einzelne Bürger wird zunehmend niederdeutsch geschrieben. Auch die bis 1370 reichende, nach 1371 entstandene Bischofschronik ist lateinisch. Bischof Florenz von Wevelinghoven (ab 1364) veranlasste die Abfassung und schrieb die Vorrede. Auch das Lehnbuch dieses Bischofs ist lateinisch (vgl. Kemkes / Theuerkauf / Wolf 1995). Schriftsprache des Domkapitels ist fast ausschließlich Latein, da kirchliche Angelegenheiten in dieser Sprache beurkundet wurden. In einem Einkünfteverzeichnis des 14. / 15. Jahrhunderts kommt es stellenweise zu einer lateinisch-niederdeutschen Mischsprache: (2)
Hec sunt nomina officiorum: 1 dapifer, 6 coci, 4 pincerne, 2 broygere, 5 drygere, 2 weschere, 1 magister braxatorum, 1 glasworte, 1 magister pistorum, 1 minutor, 4 subpistores, 1 camerarius. (Darpe 1886, 196)
Das städtische Verwaltungsschrifttum ist ganz überwiegend in niederdeutscher Sprache geschrieben. An der Spitze der Ratskanzlei steht der scryver oder secretarius. In den Kämmereirechnungen der Stadt begegnen Conradus unss schryver (Conrad Poelman, 1447) und Johan scryver (1458). In der Mitte des 15. Jahrhunderts hielt sich der Schreiber einen Unterschreiber: Item den schryver syn loen vorbetert 10m. Item den selven eyn underschryver to holden 11m.3 (Jappe Alberts 1960, 51). In Notfällen wurden Hilfsschreiber beschäftigt: Item den scryveren de scryver hulpen wanner des noit was [...] 10s.2d. (ebd., 78). In dieser Rechnung wird auch der richte scryver ›Gerichtsschreiber‹ erwähnt. Auch die Kosten für den Kanzleibedarf sind in den Kämmereirechnungen verzeichnet. 1448: Item den schryver vor pergament vnd papyr 2 m. Item den selven vor wass 1 m. 1458: Item den scryveren dessen wynter vor kersen 4 s. Item dem scryver vor pergament und papyr Summa 4 m. 6 d. Item dossen solven vor was 16 s. 2 d. Die städtische Verwaltung wurde in zunehmendem Maße differenziert. Es kann zwischen der kanzleiinternen Überlieferung und Texten für den externen Gebrauch unterschieden werden. Texte für den inneren Kanzleibetrieb sind Stadtbücher (verschollen), Bürgerbuch (verschollen), Ratsprotokolle und Rechnungen (Kämmereirechnungen von 1447 bis 1449 und von 1458, Grutamtsrechnungen von 1480 und 1533). Texte für den externen Gebrauch sind Urkunden sowie für die Bürgerschaft bestimmte Verordnungen. Korrespondenz wird mit einheimischen (Bischof, einzelne Bürger) wie mit auswärtigen Empfängern (Hansestädte) geführt. Im 13. Jahrhundert begannen die Ratsherren, die mit der Führung der städtischen Haushalte betraut waren, ihre Einnahmen und Ausgaben schriftlich festzuhalten. »Die
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verantwortliche Kassenführung lag in den Händen von Mitgliedern des Rates, zwei Kämmerern und zwei Grutherren, die in einem festgelegten Turnus wechselten« (Eberhardt 2002, 13.) Erhalten sind vier Kämmereirechnungen aus dem 15. Jahrhundert: 1. die Kämmereirechnung vom 26. Februar 1447 bis zum 30. November 1447 (Computacio Nicolai Kerkerinck et Gerardi Kerkerinck camerariorum civitatis Monasteriensis; 2. die Kämmereirechnung vom 11. Februar 1448 bis zum 25. November 1448 (Computacio Nicolai Kerkerinck et Gerardi Kerkerinck [...]); 3. die Kämmereirechnung vom 25. November 1448 bis zum 2. März 1449 (Computacio Nicolai Kerkerinck et Gerardi Kerkerinck [...]); 4. ein Bruchstück der Kämmereirechnung des Jahres 1458. Aus Münster sind darüber hinaus aus den Jahren 1480 und 1533 Grutamtsrechnungen erhalten. Das Grutamt verwaltete die Einkünfte aus der Bierbesteuerung. Die grut war eine Kräuterund Gewürzmischung für die Zubereitung von Bier. Das geistliche Gericht, das Offizialat, schreibt überwiegend lateinisch. Die Schreiber am weltlichen Gericht urkunden in niederdeutscher Sprache. Die geistlichen Institutionen, die Stifte und Klöster, verwenden auch in den amtlichen Textsorten überwiegend die lateinische Sprache. Der liber rubeus, das Kopiar des St. Mauritz-Stifts, um 1492 vom Scholaster Bernhard Tegeder zusammengestellt, ist lateinisch, doch hat Tegeder seinem Ärger über Amtsleute und Schulten nicht nur in lateinischen, sondern auch in niederdeutschen Randbemerkungen Luft gemacht: Och, du schalk! – Soe hundsvotte weren se. – Ah, gy vulen meynedigen ezele! – Och du arme kerke, wo heft men di fobbet! (Darpe 1888, 133ff.). Niederdeutsch ist dagegen das Rentenverzeichnis der Martinikirche vom Jahr 1369. Auch die Schriftsprache der Hospitäler und Armenhäuser wird niederdeutsch. Das Lagerbuch des Leprosenhauses zu Kinderhaus von 1365 ist lateinisch, das Rentregister von 1435 niederdeutsch. Im Armenhaus St. Elisabeth zur Aa wurde bei der Gründung 1354 ein lateinisches Rentregister angelegt, dieses wurde später in niederdeutscher Sprache erneuert. Auch die Chronistik wechselte zur niederdeutschen Sprache. Die Florenz-Chronik wurde ins Niederdeutsche übersetzt und bis 1424 fortgeführt, wobei die Kette von Einzelviten beibehalten wurde. Ein Leben des Bischofs Otto von Hoya (1393–1424) enthält selbstständige Zusätze. Die Chronik des Arnd Bevergern gibt für die Jahre 772–1424 die niederdeutsche Florenz-Chronik wieder und bietet dann für die Jahre 1424–1466 eine selbstständige Erzählung (vgl. Plessow 2006, 230f.) »Sie ist deshalb von besonderem Interesse, weil in ihre Berichtszeit mit der Münsterischen Stiftsfehde der Jahre 1450–1457 ein Bistum und Stadt bis in die Grundfesten erschütternder Vorgang fiel« (Honemann / Roolfs 2008, 32). Der Gildeführer Arnd Bevergern kann – aus chronologischen Gründen – nicht mehr als Autor angesehen werden (vgl. Plessow 2006, 440f.). Im Zuge des Schreibsprachenwechsels vom Lateinischen zum Mittelniederdeutschen war in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in den Kanzleien der Stadt Münster eine Schreibsprache entstanden, die für das Fürstbistum Münster bzw. das nördliche Westfalen bestimmend wurde. Folgende Variantenkombination ist für die münsterische Schreibsprache charakteristisch: sal ›soll‹; brengen ›bringen‹; döը t ›tun‹ 3. Pers. Sg. Präsens; vrend (14. Jahrhundert), vründ (15. Jahrhundert) ›Freund, Verwandter‹; mensche
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
›Mensch‹; derde ›dritte‹; desse (14. Jahrhundert), düsse (desse, dösse) (15. Jahrhundert) › diese(r) ›; selve, sölve (2. Hälfte 15. Jahrhundert) ›der-, die-, dasselbe‹; nîn ›kein‹; jewelik, jüwelik, malk, 15. Jahrhundert itlik ›jeder‹; wâr ›wo‹; wô, 2. Hälfte 15. Jahrhundert wô / wû ›wie‹; vake > vaken (2. Hälfte 15. Jahrhundert) ›oft‹; wol> wal (2. Hälfte 15. Jahrhundert) ›wohl‹; up ›auf‹; wente, hent, bes ›bis‹; tegen ›gegen‹; sunder ›ohne‹; vormyds ›(ver)mittels‹; tüsschen ›zwischen‹; ande / unde (1. Hälfte 14. Jahrhundert) > unde ›und‹; men / mer ›aber, sondern‹; off(t) ›oder‹; want(e) ›denn, weil‹; offt ›falls‹; dan (kompar.) ›als‹. Der Genitiv von stad ›Stadt‹ lautet der, des stades (vgl. Peters 2006, 150ff.; 2008, 17). Von diesen Merkmalen gelten nîn und hent nur im Nordwestfälischen; gesamtwestfälische Kennzeichen sind vrend, jüwelik und der, des stades. In vielen Fällen gelten die Varianten auch im Mittelniederländischen und / oder Kölnischen: sal, döը t, brengen, mensche, derde, selve, wal, tegen, sunder, tüsschen, mer, dan, want. Der zeitliche Faktor spielt in der münsterischen Schreibsprache nur eine geringe Rolle: Für ›und‹ sind vor 1350 ande und unde, nach 1350 nur unde belegt. Entwicklungen vom 14. zum 15. Jahrhundert sind vrend zu vründ, jewelik, jüwelik, malk zu itlik, der, des stades zu der stad. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verdrängt düsse, von Osten kommend, die Variante desse. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind mehrere Entwicklungen zu beobachten: Nach tonlangem Vokal wird oft Doppelkonsonanz geschrieben: weten, komen zu wetten, kommen. Die -et-Endung im Plural Präsens der Verben wird von -en abgelöst (wi, gi, se hebbet > wi, gi, se hebben). Das Suffix -schap wird durch -schop verdrängt; selve wird zu sölve gerundet; zu wô ›wie‹ tritt wû hinzu; vake wird durch vaken, wol durch wal ersetzt. Die nordwestfälische Schreibsprache Münsters wurde nur in geringem Maße von anderen Varietäten beeinflusst. Die ältere Forschung nahm an, die lübische Schreibsprache, die so genannte Hansesprache, habe sich im gesamten niederdeutschen Sprachraum ausgebreitet (vgl. Peters 1995a). Wohl sind interne westfälische Ausgleichsprozesse zu beobachten. Die Sonderstellung des westfälischen Schreibsprachenraums gegenüber dem Nordniederdeutschen und dem Ostfälischen bleibt auch im 15. Jahrhundert erhalten. Deutlicher ist in Münster ein südwestlicher Einfluss zu erkennen. Während des gesamten Mittelalters unterlag Westfalen einem kulturellen Einfluss aus dem Rheinland, besonders seiner Metropole Köln. Geistliche, Studenten und Kaufleute zogen hierher und erwarben auch ripuarische Sprachkenntnisse. In der Mitte des 15. Jahrhunderts weist die münsterische Urkundensprache eine leichte Orientierung nach Südwesten (Köln) auf. Diese zeigt sich in der Längenbezeichnung durch nachgeschriebenes : jair ›Jahr‹, raid ›Rat‹, oick ›auch‹. In der amtlichen Schreibsprache können zwei Schreiblagen unterschieden werden: zum einen die Urkundensprache, zum anderen eine innerörtliche Schreiblage in den zur kanzleiinternen Schriftlichkeit gehörenden Kämmereirechnungen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. In ihnen finden sich sprechsprachnahe Formen: -et-Pluralendung im Präsens der Verben neben -en (hebt / hebben ›haben‹); dosse neben desse ›diese(r)‹, de solve ›derselbe‹. Auch die zahlreichen Kontraktionen sind ein Zeichen von Sprechsprachnähe: 1447 ton Hamme, uppen huyss, vamme Hamme (statt to deme, up deme, van deme); 1448 uppen huyss, uppen wegh, upper Geest (statt up deme, up der), to syr behoff
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(statt syner); 1458 upt hus, van eyr reyse (statt up dat, eyner). Auch die Assimilation von nd zu nn wird gesprochen und eigentlich nicht geschrieben: 1458 den ghesynne (5), ghesynde (1) (die Zahlen in Klammern zeigen die Häufigkeit des Vorkommens an). Präfixlose Partizipien sind schenket ›geschenkt‹ und vanghen ›gefangen‹ (vgl. Peters 2008b, 116). In den Kämmereirechnungen von 1447, 1448 und 1448 / 49 macht sich mit den Formen hem ›ihm‹, dese ›diese(r)‹, ende ›und‹ ein niederländischer Einfluss bemerkbar: 1447 em (2), hem (1) ›ihm‹; und (35), unde (1), ende (15) ›und‹. 1448 dese (1), desse (1) ›diese(r)‹; und (37), unde (2), ende (44) ›und‹; 1448 / 49 dese (5), desse (1) ›diese(r)‹. Die Rechnungen wurden nicht vom Stadtschreiber, sondern von zwei Ratsherren geführt. Neben der nordwestfälischen amtlichen Schreibsprache existiert in Münster in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein weiterer Schreibsprachentyp: In Handschriften und Urkunden aus dem Fraterhaus wird eine nach Westen, zum Niederländischen, hin orientierte Varietät geschrieben (vgl. Peters 2006, 195). Im westfälischen Sprachraum ist die Kluft zwischen geschriebenem und gesprochenem Niederdeutsch relativ groß. Die westfälischen Brechungsdiphthonge wurden nicht geschrieben. Sprechsprache: biëke, üewel, vuegel, iätten, hüöwe, buowen; Schreibsprache: beke, ouel, vogel, eten, houe, bouen (›Bach, übel, Vogel, essen, Höfe, oben‹). Auch die Ergebnisse der Diphthongierungsprozesse im Bereich des Langvokalismus wurden nicht bzw. nur selten verschriftlicht: Man sprach keise, baum und schrieb kese, bo(e)m ›Käse‹, ›Baum‹. Das Personalpronomen ›uns‹ heißt bis heute us, geschrieben wurde uns. In der gesprochenen Sprache blieb die verbale Pluralendung auf -et erhalten.
5.
Der Schreibsprachenwechsel vom Mittelniederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen
Im 16. Jahrhundert wurde das Nordwestfälische, wie auch die anderen niederdeutschen Schreibsprachen, vom Hochdeutschen verdrängt. Auf die Gründe und den Ablauf des Schreibsprachenwechsels wird in dem Beitrag 9 Die Rolle der Kanzleien beim Wechsel vom Niederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen eingegangen. Es sei aber auf die Rolle der gelehrten Juristen hingewiesen. Während ihres Studiums hatten sie eine hochdeutsche Sprachkompetenz erworben. Wir finden sie in Münster im Dienst des Fürstbischofs wie an der Spitze der städtischen Verwaltung. Vom Juni 1529 liegen zwei von Bürgermeistern und Rat der Stadt Münster ausgestellte Urkunden vor, die ersten münsterischen Texte in hochdeutscher Sprache. Sie sind an den Vorsitzenden Richter des Reichskammergerichts in Speyer, Graf Adam von Beichlingen, adressiert (vgl. Nagel 2006, 52; 2008). Im Vertrag von Münster vom 14. Februar 1533 musste Bischof Franz von Waldeck die evangelische Gemeinde in Münster anerkennen. Der Druck des Vertrages, der Vorentwurf des münsterischen Syndikus Dr. Johann van der Wyck von der Hand seines Privatschreibers und ein reinschriftliches Konzept von der Haupthand III aus der bischöflich-münsterischen Kanzlei sind in hochdeutscher Sprache gefertigt (vgl. Nagel 2006, 88). Die Sprache weist, bei einem hochdeutschen Grundcharakter, niederdeutsche und ripuarische Elemente auf. Die hochdeutsche Sprachwahl des Druckes ist aussteller-
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bedingt. Vermittler und Aussteller des Vertrages sind Landgraf Philipp von Hessen und seine Räte. Der Vertrag ist der erste in Münster gedruckte hochdeutsche Text. Von der im Anschluss an den Vertrag von Münster geleisteten Urfehde des vormaligen münsterischen Stadtrichters Arnd Belholt vom 16. Februar 1533 sind drei Fassungen erhalten: ein hochdeutsches Konzept aus der Kanzlei des Landgrafen, die hochdeutsche OriginalAusfertigung mit der niederdeutschen Unterschrift Belholts und eine gleichzeitige hochdeutsche Abschrift von der Haupthand III der bischöflich-münsterischen Kanzlei (vgl. Nagel 2006, 86). Mit den Urkunden von 1529, dem Vertrag von 1533 und der Urfehde von 1533 liegen Texte vor, die die Anfänge des Schreib- und Druckersprachenwechsels vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen zeigen. Es wird deutlich, dass die westfälische Schreibsprache als Kommunikationsmittel im Verkehr mit dem Reichskammergericht sowie in Sprachsituationen, an denen zunehmend Nichtniederdeutsche beteiligt sind, nicht ausreicht. Das Beispiel des Syndikus van der Wyck zeigt, dass für einen Politiker bzw. Diplomaten der Stadt hochdeutsche Schreib- und Sprechkompetenz notwendig geworden war. Von seiner Hand sind niederdeutsche, hochdeutsche und lateinische Schriftstücke überliefert, er wählte seinen Schreibsprachgebrauch bewusst. Auch sein Privatsekretär wählte je nach Bedarf seine Schreibsprache aus. Auf den Reisen in den Süden des Reichs waren für beide hochdeutsche Sprechsprachkenntnisse unerlässlich (vgl. Peters 1995, 154; Nagel 2002; 2008). Als zu Beginn der 30er-Jahre des 16. Jahrhunderts die reformatorische Bewegung in Münster einsetzte, waren das Niederdeutsche und – in geringem Maße – das Lateinische die Schreibsprachen der Stadt. Die reformatorische Diskussion wurde in niederdeutscher Sprache geführt: Der schwäbische Laienprediger Melchior Hoffman, ein früher Vertreter des Täufertums, war im Mai 1533 in Straßburg verhaftet worden. Martin Bucer schrieb nach dem Straßburger Religionsgespräch eine Widerlegung der Hoffman’schen Thesen. Die münsterische Stadtobrigkeit wollte Bucers Schrift zur Kenntnis nehmen, hatte aber wohl Schwierigkeiten mit dem Straßburger Hochdeutsch, daher ließ sie den Text noch 1533 in das münsterische Niederdeutsch übertragen. Der evangelische Prediger Brictius thon Noirde hat den Bucer-Text, wie er im Vorwort sagt, vth den auerlendeschen vp vnse sprake verdusschet (Besch 1995). Die Tatsache, dass der Bucer-Text in Münster ins Niederdeutsche übersetzt werden musste, zeigt, dass in der politischen Führungsschicht der Stadt 1533 noch keine ausreichende Verstehenskompetenz, geschweige denn eine ausreichende Sprechkompetenz im Hochdeutschen vorhanden war (vgl. Peters 2008c, 153). So ist auch die vom evangelischen Rat 1533 erlassene ›Zuchtordnung‹ – Tuchtordeninge der Stadt Munster tho vnderholdene christlike tucht vnde eerbaricheyt / van eynen eerbaren Rayde oick Olderluden v@ Gildemeysteren / dar suluest in de ghemeyn publicert vnd angenomƝ – in niederdeutscher Sprache gedruckt. Eine spezifisch münsterische Sprachsituation ergab sich aus der Herrschaft der Täufer in den Jahren 1534 / 35. Von der Gemeinde Christi sind nur neun Schreiben überliefert, die hauptsächlich an die Belagerer gerichtet sind. Die Texte sind in einem späten Mittelniederdeutsch auf westfälischer Grundlage geschrieben (vgl. Mens 2004, 89). Im Bereich der Schriftlichkeit wurde die schreibsprachliche Tradition aus der Zeit vor der Täuferherrschaft fortgesetzt. Dies ist erstaunlich, da ja ein Teil der täuferischen Führungsschicht aus den Niederlanden zugewandert war. Die Täuferzeit kann als retardie-
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rendes Moment beim Sprachenwechsel zum Hochdeutschen gewertet werden. Nach der Eroberung der Stadt durch das Heer des Bischofs (1535) erfolgte dann der Schreibsprachenwechsel zum Hochdeutschen in den münsterischen Kanzleien. Der Schreibsprachenwechsel breitete sich von Südosten nach Nordwesten über den niederdeutschen Sprachraum aus. Auf der Karte von Gabrielsson (1983, 148) bildet Westfalen zusammen mit den nordniedersächsischen Städten die Zone III, in der der Wechsel zuletzt erfolgte. Innerhalb dieser Zone geht Westfalen dem nordniedersächsischen Gebiet voraus. In den Kanzleien der Stadt Münster vollzieht sich der Wechsel früher als in den übrigen westfälischen Städten, und zwar zwischen 1529 und 1571. Sieht man die Chronologie des Übergangs in den westfälischen Städten in Verbindung mit der Orientierung Westfalens auf Köln, erscheint die frühe Aufnahme des Hochdeutschen in Münster als Übernahme der Kölner Neuerung, als Nachahmung des Kölner Vorbilds. (Peters 1995, 156)
Die Stadt Münster bildet »eine Zeitlang eine Insel, auf der die Übernahme des Hochdeutschen bereits erfolgt, bis dann die Neuerung von der Umgebung, den anderen westfälischen Städten, aufgenommen wird« (Peters 1994, XIV). Sprachliche Neuerungen verbreiten sich zum großen Teil im Rahmen eines Städtenetzwerks, wobei kleinere Städte übersprungen werden (vgl. Goossens 1992, 29ff.). Für den gesamten niederdeutschen Sprachraum gilt das sog. Sickermodell (vgl. Gabrielsson 1932 / 33, 6). Die Kanzleien der Landesherren übernahmen das Hochdeutsche früher als die städtischen. Zuerst erfolgte der Wechsel im auswärtigen Schriftverkehr, zeitverschoben dann im kanzleiinternen Schriftwesen. Schließlich gehen auch der klientennahe innerstädtische Schriftverkehr sowie die niedere Gerichtsbarkeit zum Hochdeutschen über. Zuletzt wird das private Schriftwesen vom Wechsel erfasst. Bischof Franz von Waldeck, mitteldeutscher Herkunft, schrieb ein westmitteldeutsch gefärbtes Hochdeutsch. Vor und während der Täuferzeit stieg der Schriftverkehr mit hochdeutschsprachigen Kanzleien stark an; schon in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts übertraf er den Verkehr mit niederdeutsch schreibenden Kanzleien bei weitem (vgl. Brox 1994, 7). Der Übergang erfolgt in der fürstbischöflichen Kanzlei zwischen 1533 und 1570. Zuerst, 1562, ist der Wechsel im auswärtigen Schriftverkehr abgeschlossen, im Schriftverkehr innerhalb der Landschaft 1566. Im inneren Betrieb bleibt man noch bis etwa 1570 beim Niederdeutschen. 1571 gab Bischof Johann von Hoya fünf neue Ordnungen in Druck: Vier – die Hofgerichtsordnung, die Landgerichtsordnung, Der freien und heimlichen Gerichten Reformation und die Gemeine Landordnung – sind in hochdeutscher Sprache, die Offizialatsgerichtsordnung ist in lateinischer Sprache gedruckt. Eine Kanzlei des Landesherrn wird zum ersten Mal in der Hofordnung des Bischofs Franz von Waldeck vom Jahre 1536 amtlich bezeugt. »Sie ist hier schon eine feste, wohleingerichtete Landesbehörde, an deren Spitze der Kanzler steht, neben dem die Geschäftsführung vor allem in den Händen von zwei Sekretären liegt; diesen sind wieder die Schreiber oder Kanzleiknechte unterstellt« (Brox 1994, 11). In der Hofordnung von 1547 findet sich die Bemerkung, neben den Sekretären seien »geschickte, fromme, munsterisch geborene kanzleigesellen und schriver« anzustellen (ebd.).
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
In der Kanzlei des Landesherrn geht der Anstoß zum Wechsel vom Kanzler und von den Räten des Fürstbischofs aus, von den gelehrten Hofbeamten also. Diese Gruppe hat während des Studiums hochdeutsche Sprachkenntnisse erworben. Für den Fortgang des Wechsels sind die Kanzleisekretäre von großer Bedeutung. »Sie diktierten oder verfaßten selbst die Mehrzahl der Konzepte, die von den Kanzleischreibern dann in Reinschrift ausgefertigt wurden« (ebd., 13). Aus dem Jahr 1542 ist ein hochdeutsches Konzept mit dem Adressenvermerk desselben Schreibers erhalten: Dusser breve dre to schrieven, eyn an Rom. Kon. Majestat, de ander an Key. Commissarien, de derde an de stende des rychs, mut. mut. (ebd., 17). Für seine eigene Aufzeichnung verwendet der Schreiber also das Niederdeutsche; das Hochdeutsche des Textes ist dem Diktierenden zu verdanken. Auf dem Konzept eines Schreibens aus der fürstbischöflichen Kanzlei an den Herzog von Kleve vom Jahre 1556 findet sich die Bemerkung: Dit conzept up westfelisch tho ingrosseren (ebd., 18). Der Schreiber sollte also bei der Ausfertigung des Originals die Schreibsprache wechseln. »In der Phase des Wechsels ist jeweils zu entscheiden, welche Sprache gewählt werden soll. Die Sprachwahl erfolgt adressatenabhängig: hochdeutsch an den Kaiser, westfälisch an den Herzog von Kleve« (Peters 2000a, 170). Der Schriftverkehr des Domkapitels hat nur einen geringen Umfang. Für die Beurkundung kirchlicher Angelegenheiten wurde fast ausschließlich lateinisch geschrieben. In nichtlateinischen Urkunden herrscht nach 1570 das Hochdeutsche. Später als in der fürstbischöflichen Kanzlei setzt der Schreibsprachenwechsel in der Ratskanzlei ein – sieht man von den beiden Schriftstücken ab, die 1529 an das Reichskammergericht gesandt wurden. Erst nach 1543 setzt – nach der Täuferepisode – Schriftverkehr wieder lebhafter ein, und aus diesem Jahr stammt auch das erste hochdeutsche Schreiben des Rates; es ist an Köln gerichtet, d. h. an eine bereits hochdeutsch schreibende Stadt. Ratssekretär ist zu dieser Zeit (bis 1565) Franziskus Werne. Ihm folgt Hermann tor Floeth (1565–1572); von 1572 bis 1600 hat Johann Pagenstecher das Amt des Sekretärs inne. 1545 geht ein hochdeutsches Schreiben an den Landesherrn, ein weiteres an Philipp von Hessen. Aus dem Jahr 1549 sind vier hochdeutsche Schreiben überliefert; nach 1551 wird nur noch hochdeutsch geschrieben. Die Ratskanzlei benötigt für den Wechsel in der auswärtigen Korrespondenz nur wenige Jahre, von 1543 bis 1551. Die Schnelligkeit des Übergangs erklärt sich aus der Tatsache, dass das Schreibwesen der Stadt in der Hand nur eines Sekretärs lag (Franziskus Werne). Länger – bis 1571 – findet das Niederdeutsche im inneren Kanzleibetrieb Anwendung, in den Stadtbüchern und Ratsprotokollen sowie in der städtischen Gerichtspraxis. Aus den Jahren 1564 bis 1567 sind Ratsprotokolle erhalten, diese sind vom Sekretär Hermann tor Floeth in niederdeutscher Sprache geführt. 1574 setzt dann die Überlieferung in hochdeutscher Sprache wieder ein. Zu den protokollartigen Denkmälern aus der Ratskanzlei gehört auch der ›Liber tutorum et procuratorum‹, ein Verzeichnis über die vor dem Stadtrate erfolgten Verpflichtungen in Vormundschaftsangelegenheiten. Das Büchlein, vom Jahre 1548 an geführt, zeigt zuerst niederdeutsche Sprache [...]. Regelrechtes Missingsch erscheint in der Zeit von 1560–1563, in der Franz Werne als Schreiber zu erkennen ist. Nach ihm führt Hermann tor Floeth auch hier wie in den Ratsprotokollen das Niederdeutsche wieder ein, bis 1572, unter Pagenstecher, das Hochdeutsche [...] endgültig seinen Einzug hält. (Brox 1994, 52)
22. Die Kanzleisprache Münsters
339
Am weltlichen Gericht hat sich um 1570 das Hochdeutsche durchgesetzt. Am Ende des 16. Jahrhunderts ist in den münsterischen Kanzleien die Übernahme der hochdeutschen Schriftsprache im Großen und Ganzen abgeschlossen. In der Zeit zwischen 1580 und etwa 1610 erfolgt die zweite Phase des Schreibsprachenwechsels. Sie umfasst die Schriftlichkeit in den Domänen, in denen nach dem Wechsel in den Kanzleien zunächst noch niederdeutsch geschrieben wird: die niedere Gerichtsbarkeit, die Schriftlichkeit der Gilden, Schule, Kirche und Buchdruck sowie das private Schrifttum. Der Gerichtsschreiber Bernd Timmerscheidt fertigt bis 1606 Urkunden in niederdeutscher Sprache aus. Die Schriftlichkeit der Gilden ist in den für den eigenen Gebrauch bestimmten Gilderollen lange niederdeutsch, so das Schobuch oder Rote Buch der Gilden (vgl. Nagel 2008) von 1565 und die Ordnungen der einzelnen Gilden der Jahre 1552 bis 1581. In den protokollarischen Aufzeichnungen der Gilden hält sich das Niederdeutsche noch länger. Die Schohausprotokolle sind ab 1569 erhalten, ihre Schreiber wechseln ständig. Die Protokolle sind bis 1581 auf Niederdeutsch geführt; in der Folge wechseln Niederdeutsch, Hochdeutsch und Missingsch, von 1601 an herrscht das Hochdeutsche (vgl. Peters / Ribbat 1993, 636). Aus dem 16. Jahrhundert sind Testamente überliefert, die ohne Beisein eines Notars aufgesetzt wurden: Drei von 29 (von 1570, 1585 und 1587) sind missingsch, die anderen niederdeutsch, das letzte 1592. Fünf niederdeutsche Testamente aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts (von 1602, 1605, 1609 und zwei von 1620) haben sämtlich weibliche Verfasser. Vom Stift Überwasser werden noch 1595, 1598 und 1602 Urkunden in niederdeutscher Sprache ausgestellt. Auch hier sind wohl Schreiberinnen anzunehmen. In den Bereichen Schule, Kirche und Buchdruck vollzog sich der Schreibsprachenwechsel um die Wende zum 17. Jahrhundert. Im Jahr 1588 kamen Jesuiten nach Münster, übernahmen die Domschule und betrieben die Rekatholisierung der Stadt. Zur Verbreitung der neuen Schriftsprache im privaten Schriftwesen der Bürger war der Schreibunterricht in den Schulen von entscheidender Bedeutung. Die Umstellung der Unterrichtssprache – soweit diese nicht lateinisch war – erfolgte in den Ober- und Mittelklassen um die Wende zum 17. Jahrhundert, in den unteren Klassen etwas später. Für das niedere Schulwesen wurden noch bis weit ins 17. Jahrhundert niederdeutsche Katechismen gedruckt (vgl. Denkler 2008, 49ff.). Der letzte bekannte mittelniederdeutsche Druck aus Münster ist ein Lektionar aus dem Jahr 1706 (vgl. Denkler 2008a, 166f.). Betrachtet man den Übergang zur hochdeutschen Schriftsprache in seiner Gesamtheit, wird deutlich, dass die Kanzleien die Institutionen sind, in denen die neue Schriftsprache zuerst Fuß fasst und in denen sie sich zuerst durchsetzt. Der Übergang in den Kanzleien bildet die erste Phase des Schreibsprachenwechsels. Der Ablösungsprozess verläuft nach Gabrielsson in drei Phasen (vgl. Gabrielsson 1983, 126ff.): Die erste Phase bewahrt den niederdeutschen Grundcharakter der Sprache, weist aber eine Reihe von einzelnen hochdeutschen Varianten auf. Als Beispiel für die kanzleiinterne niederdeutsche Amtssprache sei das Ratsprotokoll vom 20. März 1567 (Schreiber: Hermann tor Floeth) angeführt:
340 (3)
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Ist denen Gerichtz Bodden, umb eynen Idern In syner Leisschup uth bevell des Raitz antoseggen, Im sittenden Rade uperlacht, dat die Jenige, so van Gott mit der beklefflicher unnd schuwelicher suckede der pestilentzien begavet, vor eren Hueseren Strokrensse hangen, sich Sess ganztze Wecken Inheimisch halden unnd nicht uthgaen, oick dat keyner, uth den Sterffhueser geyne kleider ader anders koepenn noch to sich nemmen ader holen und dat eyn Ider Krancke, wan er not halven uthgaen moett, eynen witten stock dragen solde. (Dethlefs 1989, Nr. 9a)
Hochdeutsche Elemente in der Sprache des Protokolls sind holen, ist, er, keyner, sich, ader ›oder‹ und das Suffix -lich. Die zweite Phase, die eigentliche Übergangszeit, zeigt das Bemühen westfälisch sprechender Personen, niederdeutsche Sprachformen nach bereits bekannten Gleichungen ins Hochdeutsche umzusetzen. In dieser Phase, in der intendiert ist, hochdeutsch zu schreiben, kommt es zu mischsprachigen Texten (Missingsch). Eine solche Mischsprache ist nichts Ungewöhnliches. So schreibt der Domscholaster Heinrich von Plettenberg 1549 unter seinen Anstellungsvertrag: Bekenne ich, Henrich von Plettenberch, Doemscholaster, mit meiner eigener Handtschrift, das alle articulen, wie baven geschreven, so verhandelt, und sollen vullentogen werden, daer ich vorstaen will (Gabrielsson 1983, 54). Der Drucker Dietrich Tzwyvel der Jüngere schreibt 1577 in einer Rechnung: (4)
Ich Diderich Zweiffel aus empfangenen bevele am 8. Febr. a° [15]77 eyne beddelmisse, darunter der w[erdige] her siegeler latinam orationem gestalt, 300 exemplar gedruckt, dhafür nach olden gebruck alume verdeinet zwey Reichesdaler. Noch dhaneffen eyne beddelmisse, welcher im Emeßlandt, Cloppenborch, Vechta abgesandt, daranne verdeinet zwey Rechsthaler; zur selvigen Zeith 300 exemplar mandatum der Judden gedruckt und die Mandate alle in die Cantzelei gelevert, dha für drey R.daler, facit in alles 7 thaler, 10½ schill. (Prinz 1968, 92)
In der dritten Phase ist der Grundcharakter der Sprache bereits hochdeutsch, sie weist noch eine Reihe von niederdeutschen Resten auf. In einem Einkünfteverzeichnis der Georgskommende treten noch 1629 niederdeutsche Reste auf: hon ›Huhn‹, honder ›Hühner‹, goess ›Gans‹, plogen ›pflügen‹ (Darpe 1900, 128ff.). Besonders Berufsbezeichnungen bleiben lange innerhalb der sonst hochdeutschen Schreibsprache niederdeutsch. Ein Beispiel hierfür ist die Wappentafel der münsterischen Gilden von 1598. Unter dem Wappen ist jeweils der Name der Gilde aufgeführt: Fleischawer alde Scharne – Fleischawer Nije Scharne – Die Wulner. – Die Becker. – Die Wandtschneider – Die Kramer – Die malers Glaser Sadeler – Die Goltsmedde – Die Steinhawer – Die Sneider – Die Leiddemaker – Die Lorer – Die Smedde – Die Schomaker. – Die Pelsmaker. – Die Boddeker. – Die Kannegeiter (Roolfs 2008, 158). Die deutliche Mehrheit der Handwerkerbezeichnungen ist niederdeutsch.
341
22. Die Kanzleisprache Münsters
6.
Hochdeutsche Schriftsprache im 16. und 17. Jahrhundert
Die Frage nach der Gestalt der neuen Zielvarietät, das Problem, welche Art von Hochdeutsch in Münster übernommen wurde, ist noch nicht hinreichend aufgearbeitet worden. Traditionell wurde davon ausgegangen, der Übernahmeprozess sei als Rezeption des Ostmitteldeutschen erfolgt. Die Orientierung Westfalens nach Südwesten könnte hier auch die Favorisierung oberdeutscher Marker erwarten lassen. Die Frage ist allerdings, ob zur Zeit der Aufnahme des Hochdeutschen in Westfalen, d. h. nach 1540 / 50, der Gegensatz zwischen Ostmitteldeutsch und Ostoberdeutsch überhaupt noch aktuell ist. Und es ist fraglich, ob den zeitgenössischen westfälischen Schreibern der Unterschied zwischen Ostmitteldeutsch und Oberdeutsch bewusst gewesen ist. Die Variablen, die untersucht werden sollen, um diese Fragen zu klären, sollen im Ostmitteldeutschen anders realisiert werden als im Oberdeutschen. Eine Auswertung von hochdeutschen Texten aus den Kanzleien der Stadt Münster zeitigt das folgende Bild (vgl. Peters 2003a, 168f.): Für den mittelhochdeutschen Diphthong /ei/ (oberdeutsch , ostmitteldeutsch ) wird fast ausschließlich die Graphie geschrieben. Als Schreibung des frühneuhochdeutschen /b/ überwiegt im Oberdeutschen
. Die Schreiber der Ratskanzlei, der Kämmerei und des Grutamts bevorzugen . Im Präfix ge- und im Part. Prät. wird e besonders im Oberdeutschen getilgt. In der Ratskanzlei können schreiberspezifisch zwei Phasen unterschieden werden: Johann Pagenstecher (1571–1601) steht mit ge-, gl-, gn- auf hochdeutschem, Heinrich Hollandt (1601–1647) mit ge- / (g-), gl-, gn- eher auf oberdeutschem Standpunkt. Wie Hollandt haben auch die übrigen Texte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts präfixlose Partizipien. Auf eine eher hochdeutsche (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) folgt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine eher oberdeutsche Phase. Das Abstraktsuffix nhd. -nis weist im Oberdeutschen und im Mitteldeutschen auf. Auch in diesem Fall können zwei Phasen unterschieden werden: 1541, 1542 und 1574 ist realisiert, 1573 und dann nach 1590 . Bei der Negationspartikel ›nicht‹ handelt es sich um einen Gegensatz zwischen Ostmitteldeutsch (nicht) und Westmitteldeutsch / Oberdeutsch (nit). Der Ratssekretär Pagenstecher schreibt nit. Beim Stadtschreiber Heinrich Hollandt gibt es ein leichtes Übergewicht der nit-Variante. Dann setzt sich – beim Stadtsekretär Bernard Hollandt (1647–1661) – nicht durch. Im Frühneuhochdeutschen konkurrieren ostoberdeutsch auf und westoberdeutsch-mitteldeutsch uf. In Münster wird das mittelniederdeutsche up von uf abgelöst. Dieses gilt in der Ratskanzlei und in den Kämmereirechnungen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts Die starke Stellung von uf ist bemerkenswert. Uf in Westfalen ist vermutlich kölnischem Einfluss zuzuschreiben. Die Variante auf tritt verstärkt erst um 1620 auf. Münster (vgl. Peters 2003a, 169)
ei
b / (p)
ge-, gl-, gn-, Part. Prät. ge2. H. 16. Jahrhundert > ge- / (g-), gl-, gn-, (ge-) 1. H. 17. Jahrhundert
-nis > -nus (nach 1590)
nit > nicht/nit (um 1600) > nicht
uf > auf (seit etwa 1620)
Tab.1: Spezifika der hochdeutschen Schriftsprache in Münster im 16. und 17. Jahrhundert
342
III. Kanzleien des Niederdeutschen
In Münster sind – ähnlich wie in Köln (Macha 1991), aber mit geringerer Intensität – zwei Phasen auszumachen. Münster wechselt von -nis, nit, uf zu -nus, nicht / nit > nicht, auf. Hinzu treten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Fälle mit Synkope des -e und präfixlose Partizipien. Die oberdeutsche Schreibmode ist in Münster erkennbar, aber sie ist nicht sehr stark ausgeprägt. Der südliche Einfluss gelangt über Köln nach Münster.
7.
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8.
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
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22. Die Kanzleisprache Münsters
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Robert Peters, Münster (Deutschland)
23. Die Kanzleisprache Lübecks
1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 6. 7. 8.
1.
Vorbemerkungen Die Grundlagen niederdeutscher Sprache im Ostseeraum Lateinische Schriftlichkeit (ca. 1150 bis ca. 1270) Ausbildung einer lokalen mittelniederdeutschen Schreibsprache (ca. 1270 bis 1375) Der Schreibsprachenwechsel vom Latein zum Mittelniederdeutschen Kennzeichen der frühen lübischen Schreibsprache Niederdeutscher Sprachausbau (ca. 1370 bis ca. 1530) Die Schriftlichkeit der Kanzlei und der ratsabhängigen Behörden Die Fortsetzung des Schreibsprachenwechsels vom Latein zum Mittelniederdeutschen Die lübische Schreibsprache im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert Hansesprachliche Funktionen des lübischen Mittelniederdeutschen Der Schreibsprachenwechsel vom Mittelniederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen (ca. 1530 bis ca. 1650) Quellen Literatur
Vorbemerkungen
Die Frage nach der Bedeutung Lübecks in der Geschichte des Niederdeutschen ist seit jeher ein zentrales Thema der niederdeutschen Sprachgeschichtsschreibung gewesen. Durch ihre Bedeutung für das Schriftwesen der Hanse steigt die lübische Schreibsprache zu einer übernationalen Handels- und Geschäftssprache auf. Die Kanzleisprachgeschichte Lübecks ist bestimmt durch das Neben- und Gegeneinander der Sprachen Latein, lübisches Niederdeutsch und Hochdeutsch. Zweimal fand ein durch externe Faktoren bedingter Schreibsprachenwechsel statt, vom Latein zum Mittelniederdeutschen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert und vom Mittelniederdeutschen zum Hochdeutschen im 16. und 17. Jahrhundert. Während des Ablaufs der Sprachwechselprozesse besteht Mehrsprachigkeit. Der erste Abschnitt der Sprachgeschichte Lübecks reicht von der Gründung der Stadt in der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum Ende der Alleinherrschaft der lateinischen Schriftsprache im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts. In der zweiten Phase (ca. 1270– 1375) tritt das lübische Mittelniederdeutsch neben das Lateinische und beginnt, dieses zurückzudrängen. In der dritten Phase (1375–1530) herrscht die lübische Schreibsprache in fast allen Domänen des städtischen Schriftwesens, sie steigt zur überregionalen Verkehrssprache im Ostseeraum auf. Im vierten Abschnitt (1530–1650) wird die lübische Schreibsprache durch das (Früh-)Neuhochdeutsche ersetzt.
348
2.
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Die Grundlagen niederdeutscher Sprache im Ostseeraum
Die Entstehung des mittelniederdeutschen Sprachraums und die des hansischen Wirtschaftsraumes sind aufs Engste miteinander verknüpft (vgl. Peters 2000, 1496). Die politischen und ökonomischen Voraussetzungen niederdeutscher Sprache im Ostseeraum wurden in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts geschaffen. Im Frühmittelalter waren die Slawen bis zu einer Linie Kiel-Lauenburg-Elbe vorgedrungen. Im heutigen Ostholstein und in Mecklenburg, im Gebiet der Wagrier und Obotriten, wurde ostseeslawisch gesprochen. Im Zuge der einsetzenden Ostkolonisation wanderten seit der Mitte des 12. Jahrhunderts Siedler in das slawische Wagrien ein. Wahrscheinlich kamen die Einwanderer in der Anfangszeit aus der näheren Umgebung, der westlichen Nachbarschaft, d. h. aus dem Gebiet der Holsten und Stormarner (vgl. Bischoff 1985, 1271). Dann wurden Siedler aus dem fernen Westen, aus Holland, Friesland und vor allem aus Westfalen, ins Land gerufen. Die Entwicklung des Städtewesens an der Ostsee setzte mit der Gründung Lübecks ein. Graf Adolf II. von Schauenburg und Holstein legte 1143 zwischen Wakenitz und Trave, in der Nähe des altslawischen Handelsplatzes Liubice, eine Kaufleute- und Handwerkersiedlung an. Unter Heinrich dem Löwen als Stadtherrn wurde Lübeck 1159 neu errichtet. Die Bewohner waren zunächst weitgehend die Einwohner des schauenburgischen Lübecks. Die ersten Neusiedler kamen aus Bardowick, dem Handelsplatz Heinrichs des Löwen. Sie sind ebenso wie die Siedler aus der westlichen Nachbarschaft Lübecks, die Holsten und Stormarner, nordniedersächsischer Herkunft. Bedeutend scheint der Zuzug aus Westfalen gewesen zu sein. Das lässt eine Untersuchung der Herkunftsnamen Lübecker Bürger zu Anfang des 14. Jahrhunderts vermuten. Fast ein Viertel der Herkunftsnamen entfällt auf westfälisches, ein Zehntel auf ostfälisches Gebiet (vgl. Reimpell 1929). Lübeck verkörpert den Typus der Fernhandelsstadt. Aufgrund der verkehrsgeographischen Lage erfüllte die Stadt zwei Funktionen: Sie war der Dreh- und Angelpunkt des Handels zwischen Ostsee- und Nordseeraum und der Umschlagplatz für die Waren des Ostseehandels, die aus dem Binnenland des Reiches kamen oder dorthin gebracht wurden (vgl. Gläser / Hammel / Scheftel 1998, 248). Unter maßgeblicher Beteiligung Lübecker Familien entstand an der Südküste der Ostsee ein Kranz neuer Handelsstädte. Die Fernhandelskaufleute der norddeutschen Städte des Alt- und des Neulandes schlossen sich zu einem lockeren Bund, der Hanse, zusammen. Der hansische Handelsraum wird durch die vier Außenkontore in London, Brügge, Bergen und Nowgorod abgesteckt.
3.
Lateinische Schriftlichkeit (ca. 1150 bis ca. 1270)
Da die Einwohner Lübecks aus verschiedenen Gegenden des niederdeutschen Altlandes und der Niederlande kamen, sprachen sie verschiedene niederdeutsche Dialekte, vor allem nordniedersächsisch und westfälisch, auch ostfälisch, daneben rheinisch und niederländisch und wohl auch ostseeslawisch. Das Zusammenleben in der Stadt führte im Verlauf des 13. Jahrhunderts zu einem innerstädtischen Sprachausgleich. Entgegen älterer Ansicht (vgl. Bischoff 1962) wird die
23. Die Kanzleisprache Lübecks
349
frühe Lübecker Stadtmundart – zumindest die der Oberschichten – nach Ausweis der frühesten schriftlichen Überlieferung hauptsächlich nordniederdeutsch geprägt gewesen sein. Der westfälische Anteil an dieser Stadtmundart war gering, obwohl der Anteil der Westfalen an der Besiedlung Lübecks recht hoch veranschlagt wird. Wie erwähnt, sprach der erste Schub niederdeutscher Siedler aus Bardowick und der westlichen Nachbarschaft Lübecks nordniedersächsische Mundarten. Die Sprache der ältesten niederdeutschen Bevölkerungsschicht wird die lübische Stadtsprache entscheidend geprägt haben. Die nachfolgenden westf. Siedler fanden schon eine Stadtmundart nnsächs. Prägung vor und paßten sie dieser an. (Peters 2000, 1498)
Im 13. Jahrhundert führten die Differenzierung der sozialen und wirtschaftlichen Lebensweise sowie der Aufbau einer staatlichen und städtischen Verwaltung zu einem Verschriftlichungsprozess in Rechtsprechung, Verwaltung und Handel. In Lübeck ist seit der Mitte des 12. Jahrhunderts eine Kommunalbehörde anzunehmen: Der Rat wird 1201 zum ersten Mal erwähnt. Das Bürgermeisteramt wird 1225 genannt. 1227 begegnen Kämmerer und Stadtschreiber, »und der Erwerb der Reichsstandschaft 1226 und der Gerichtsbarkeit bis 1247 schließen die erste Periode ab« (Pitz 1959, 440). Bei wachsendem Umfang der Geschäfte bestellte der Rat für bestimmte Bereiche Ratsherren: zwei Kämmerer (1227), zwei Weddeherren (erst 1298 bezeugt), zwei Gerichtsherren (1243 bezeugt), zwei Weinherren (1298), zwei Marstallherren (1298). Diese Ämter fasste man später als die Großen Offizien zusammen. Am Ende des 13. Jahrhunderts ist die Entstehungszeit der Ratsverfassung abgeschlossen. »Ratswahl und Ämterverteilung, das Bürgermeisteramt, die fünf Großen Offizien, das Gerichtswesen und das Stadtbuchwesen erhielten damals ihre endgültige Gestalt« (Pitz 1959, 448). Die Aufzeichnung von Stadtrechten nahm ihren Ausgang von stadtherrlichen und kaiserlichen Privilegien (vgl. Theuerkauf 1998, 498), beispielsweise vom BarbarossaPrivileg von 1188 und vom Privileg Kaiser Friedrichs II. von 1226. Die lateinische Überlieferung umspannt die Zeit von etwa 1224 (mit dem sog. Lüb. Fragment) bis 1263 (Danziger Kodex) (vgl. Korlén 1951, 33). Die Kanzlei (schryverie, centzlie) untersteht direkt der Aufsicht des Rates. Die Einrichtung eines Stadtbuches gemischten Inhalts, des liber civitatis, im Jahr 1227 setzt die Existenz eines hauptamtlich tätigen Schreibers (scryver, secretarius) voraus (vgl. Pitz 1959, 428). Die älteste erhaltene Urkunde stammt aus dem Jahr 1226. Der erste namentlich bekannte Stadtschreiber ist Heinrich von Braunschweig, der von 1242 bis 1259 dieses Amt bekleidete. Den Titel Protonotar für den obersten Schreiber führte zuerst Johann Ruffus (1307–1349). Die unteren Kanzleibeamten erlangten im 14. Jahrhundert den Titel Sekretär. Im 14. Jahrhundert war das Schreiben nicht mehr ausschließlich eine Domäne der Kleriker: Schon in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts begegnet in den Testamenten ein bürgerlicher Schreiber mit eigenem Hausstand. Die Nachkommen dieses Schreibers blieben dem Beruf treu, bis schließlich einer von ihnen zu Beginn des 15. Jahrhunderts in das Amt des Stadtschreibers aufstieg. (Noodt 2000, 141)
350
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Es handelt sich um Gerhard Oldenborch, dessen Nachfahre Paul Oldenborch seit 1408 Stadtschreiber war. Das Schriftwesen der Stadt entspringt einer doppelten Wurzel: der Kanzleischriftlichkeit mit dem Stadtbuch und der der Kämmerei. Aus dem Kämmereibuch sind im 14. Jahrhundert Sonderbücher hervorgegangen, die sich auf Kämmerei und Wedde verteilt haben: Die Großen Offizien haben sich für die laufenden Geschäfte nicht der Stadtschreiber bedient. Die Kämmerer erledigten gelegentlich ihre Amtsgeschäfte in ihren Privathäusern [...]; nur Auszüge ließen sie als Reinschriften von der Kanzlei anfertigen. Nicht anders werden es die Weddeherren gemacht haben. (Pitz 1959, 439)
In der Kanzlei wurden noch im 13. Jahrhundert Listen mit den Namen der Ratsmitglieder angelegt. »Von der ältesten hat sich nur ein Fragment erhalten, ein Pergamentblatt, das in zwei Kolumnen die Namen von Ratsherren von c. 1287 bis 1350 wenigstens in der ungefähren Reihenfolge ihres Ablebens aufführt« (ebd., 306). Neben der nekrologischen Auflistung führte man Verzeichnisse der Ratsmitglieder, deren erstes erhaltenes von 1318 bis 1366 reicht. Eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Lübecker Stadtbücher gibt Graßmann (2006, 73ff.). Nach der Einrichtung des liber civitatis (1227) hatten im Verlauf des nächsten halben Jahrhunderts die Großen Offizien ein eigenes Schriftwesen herausgebildet. So »gab der liber civitatis seine die Verwaltung betreffenden Aufgaben an diese ab und behielt nur die der freiwilligen Gerichtsbarkeit« (Pitz 1959, 405). 1277 wurde eine Trennung durchgeführt: Aus dem liber hereditatum, dem Grundbuch, ging die bis 1815 reichende Reihe der Oberstadtbücher hervor. Der Name Oberstadtbuch kam im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts in Gebrauch; das Buch wurde im oberen Geschoss des Rathauses aufbewahrt. Das erste erhaltene Grundbuch beginnt 1284 und reicht bis 1309. Bevor eine Sache ins Oberstadtbuch eingetragen wurde, musste sie vor dem Rat verhandelt werden. »Die betreffenden Ratsbeschlüsse wurden während der Ratssitzung vom Protokollführer auf losen Zetteln [...] notiert und hernach dem Buchführenden Stadtschreiber zugestellt« (ebd., 410). Das Oberstadtbuch ist also eine nach Konzepten hergestellte Reinschrift. Mit der Führung des Oberstadtbuchs war der Protonotar beauftragt. Aus dem liber in quo debita conscribuntur, dem Schuldbuch, entwickelte sich die Reihe der Niederstadtbücher. Das Niederstadtbuch wurde in der im Erdgeschoss gelegenen Kanzlei aufbewahrt. Für die Führung des Niederstadtbuchs war der zweite Ratsschreiber zuständig. In der Mitte des 14. Jahrhunderts erweiterte sich der Kreis der eingetragenen Sachen. Es enthielt nun alle Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die nicht Grundstücksund Rentengeschäfte betrafen. Das älteste überlieferte Niederstadtbuch setzt 1325 ein. Die älteste Aufzeichnung aus der Kämmerei ist die littera de censu civitatis. Der erste erhaltene liber camerariorum reicht von 1316 bis 1338. Das sog. Älteste Wettebuch (ab 1321), heute verschollen, »weist Notizen über Straffälle und über Verordnungen des Rates auf, die Handel und Gewerbe betreffen« (Graßmann 1998, 489). Die Wette trat »in Funktionen der Kämmerei ein, deren älteste Bücher um die Wende zum 14. Jahrhundert dann abbrechen und eben in die genannten Wettebücher einmünden« (Graßmann 2006, 76). 1370 beginnen die Wedderentenbücher, die das Einnahmeregister des Kämmereibuches fortsetzen.
23. Die Kanzleisprache Lübecks
351
Der Schoss ist in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zur ständigen Steuer geworden. »Nach den Merkzetteln oder Schoßtafeln wurde alljährlich zu Martini, dem Beginn der Schoßzeit, das Schoßregister ausgefertigt. Dies geschah durch einen Schreiber der Ratskanzlei und einen Gerichtsschreiber« (Pitz 1959, 397). Vorschriften und Ordnungen wurden den Stadtbewohnern bekannt gegeben, indem viermal im Jahr die Bursprake verlesen wurde. »Ursprünglich vom Bürgermeister frei vorgetragen, wurden sie bald, vermutlich vom Protonotar, verlesen« (ebd., 314). Im Zuge der Verschriftlichung wurde noch im 13. Jahrhundert im Handelsgeschäft die Buchführung eingeführt. Aus dem wandernden Fernhändler wurde der sesshafte Kaufmann. Die Kaufmannshanse wandelte sich in den Jahrzehnten um 1300 zur Städtehanse, zur Gemeinschaft der stede van der dudeschen hense. Unter den Städten des Bundes erlangte Lübeck die wirtschaftliche und politische Führung. Der sesshaft gewordene Kaufmann führte nun, unterstützt von einem Schreiber und einigen Handlungsgehilfen, den Handel von seiner scrivekamere aus. Als Formen kaufmännischer Schriftlichkeit entstanden Kaufleutekorrespondenzen (vgl. Stieda 1921) und Handlungsbücher (vgl. Tophinke 1999). Fernhandelskaufleute sind auch in städtischen Angelegenheiten als Briefschreiber schon im 13. Jahrhundert nachweisbar und bedienten sich bereits privater Schreiber (vgl. Pitz 1959, 437). Weitere Schreibstätten sind das Domkapitel, die Kirchen, Klöster und Schulen der Stadt. Am Ende der 20er-Jahre des 13. Jahrhunderts war die Einteilung Lübecks in fünf Kirchspiele vollendet (St. Nikolai oder Domkirchspiel, St. Aegidien, St. Petri, St. Marien und St. Jakobi). An Klöstern gab es das Johanniskloster, St. Katharinen der Franziskaner und das Burgkloster der Dominikaner. Weitere Schreibstätte ist das Heiligen-GeistHospital. Städtisch getragene Lateinschulen entstanden 1252 und 1262. Schriftsprache zwischen 1150 und 1270 ist das Lateinische. Dies gilt auch für die Hanseschriftlichkeit. »In lat. Sprache sind die mit den ausländischen Handelspartnern abgeschlossenen Verträge sowie die von den engl., dän. und norw. Königen und den flandrischen Grafen verliehenen Privilegien abgefaßt« (Peters 2000, 1498). Mit der verschriftlichten Verwaltung und dem Recht, den Kontoren der Fernhandelskaufleute, den geistlichen Institutionen und Schulen bildete Lübeck ein Zentrum der Schriftlichkeit im norddeutschen Raum.
4.
Ausbildung einer lokalen mittelniederdeutschen Schreibsprache (ca. 1270 bis 1375)
4.1.
Der Schreibsprachenwechsel vom Latein zum Mittelniederdeutschen
Noch im 13. Jahrhundert beginnt in Norddeutschland der Übergang von der lateinischen zur mittelniederdeutschen Schriftlichkeit. Er verläuft in den einzelnen Textsorten zeitlich differenziert. In Lübeck setzt in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts schriftliche Überlieferung in niederdeutscher Sprache ein. Zwischen 1263 und 1267 ist das Lübecker Stadtrecht zum ersten Mal auf Niederdeutsch geschrieben worden, dies war wohl der älteste mittelniederdeutsche Text der Stadt; dass spätestens um 1267 eine niederdeutsche
352
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Ausfertigung vorlag, ist durch eine Lübecker Rechtsmitteilung an Rostock erwiesen (vgl. Korlén 1951, 156f.). Die ältesten erhaltenen Handschriften sind: a. der Elbinger Kodex von ca. 1275 b. der Revaler Kodex von 1282 c. der Kieler Kodex, der sich in der Lübecker Ratskanzlei befand, aus der Zeit zwischen ca. 1282 und ca. 1350 (Edition Korlén 1951). Hand 1 (Art. 1–169), Hand 2 (Art. 170–239), Ende 13. Jahrhundert. Hand 9, Ende 13. Jahrhundert, schrieb die Ratswahlordnung, Hand 10, Ende 13. Jahrhundert, die Brotgewichtsordnung; d. der Bardewiksche Kodex aus dem Jahr 1294, den der Kanzler Albrecht von Bardewik im Auftrage des Rats to dher stades behuf schreiben ließ; e. der Kopenhagener, ehemals Kieler Kodex (1294 / 95) f. der Kolberger Kodex vom Jahre 1297 (Faksimile und Übersetzung Jancke 2005) g. der Tidemann-Güstrowsche Kodex von 1348. Bl. 12r: Leet desse b ke scriuen her Thideman Gustrowe de Borghermester. to des stades behof to Lubike. Vnde de heft ghescreuen Helmicus thymmonis. een vicarius in der kerken to deme Dome. Gustav Korlén, der die Sprache der ältesten Fassungen des Lübecker Stadtrechts untersucht hat, gelangt zu der Auffassung, Hand 1 der Handschrift Ki zeichne sich »durch eine bemerkenswert einheitliche und sauber ausgeglichene Sprachform aus« (Korlén 1951, 75). Diese älteste Schicht habe sich von westfälisch-westlichen Einschlägen »so gut wie gänzlich« freigehalten (ebd., 76). Korlén denkt an den Einfluss einer älteren schriftsprachlichen Tradition. Ostfälische Spuren in der ältesten Fassung lassen es als möglich erscheinen, dass die frühe ostfälische Rechtssprache (Sachsenspiegel, Ottonianum) auf Ki Hand 1 eingewirkt hat. Korlén möchte diese Hypothese mit dem Lübecker Ratsnotar Henricus de Brunswic in Verbindung bringen, der seit 1242 in Lübeck tätig war und zuletzt 1259 nachweisbar ist. Eine von ihm geschaffene Tradition könne auch in den folgenden Jahren nachgewirkt haben (vgl. ebd., 78). Die jüngere Artikelreihe 170–239 vom Ende des 13. Jahrhunderts ist sprachlich weniger einheitlich. Es begegnen westliche Spuren verschiedener Art, so besonders vrint ›Freund‹ und jof ›oder‹. Auch der Bardewiksche Kodex besitzt einen sprachlich uneinheitlichen Charakter. Erst mit dem liber primus des Tidemannschen Kodex vom Jahre 1348 [...] begegnet uns wieder eine Rechtshandschrift, die zielbewusst eine einheitlich geregelte Orthographie und Sprachform anstrebt. Es ist dabei nicht zu verkennen, dass in zahlreichen Punkten eine Annäherung an die alte Tradition der A-Fassung stattfindet. (Korlén 1951, 79)
Weitere frühe niederdeutsche Rechtstexte sind die Lübecker Rechtsmitteilungen an Rostock (vgl. Korlén 1945, 156ff.). Der älteste in Lübecker Schreibsprache überlieferte Text ist die Rechtsmitteilung aus dem Jahr 1267; eine weitere folgte am Ende des 13 Jahrhunderts. Die Ratswahlordnung liegt in den Stadtrechtskodizes Ki (Hand 9) und Ba vom Ende des 13. Jahrhunderts und im Tidemannschen Kodex von 1348 vor. Der Ratswahlordnung ist in Ba ein Ratseid angehängt. Hand 10 in Ki hat am Ende des 13. Jahrhunderts eine Brotgewichtsordnung geschrieben. Das lübische Schiffsrecht, das auf eine Hamburger Vorlage zurückgeht und am
23. Die Kanzleisprache Lübecks
353
8. März 1299 erlassen wurde, steht im Copiarius Albrechts von Bardewik. Ob die Eintragung bereits 1299 oder erst später erfolgte, ist ungewiss (vgl. ebd., 161). Bei den Rechtskodifizierungen (Stadtrecht, Schiffsrecht) herrscht also früh das Niederdeutsche vor. Dies ist in der Funktion der Texte begründet: Ihre Zielgruppe liegt außerhalb der Kanzlei, bei den lateinunkundigen Bürgern oder Seefahrern (vgl. Behrmann 2001, 160). Ein weiterer früher Text ist die Chronik Albrechts von Bardewik, die sich im Copiarius Albrechts befindet und Ereignisse der Jahre 1297 und 1298 behandelt. Sprachlich gehört der Text in die Zeit nach 1300 (Fehlen von dh, y für i, drüdde). Korlén (1945, 165) stellt zwei Sprachschichten fest, eine westliche und eine nordniedersächsische, worin sich wohl das Verhältnis Vorlage : Abschrift widerspiegelt. Später als in der Rechtsprosa findet der Schreibsprachenwechsel im Urkundenwesen statt. Højberg Christensen (1918) hat die niederdeutsche Überlieferung der Lübecker Ratskanzlei nach Schreiberhänden geordnet. Hand 1 hat in Ba die Ratswahlordnung und den Ratseid geschrieben, Hand 2 die Chronik Albrechts von Bardewik, Hand 3 die Aufzeichnungen eines Unbekannten vom Jahre 1320. Hand 4, Johannes Ruffus, schrieb die Urkunde vom 10. April 1328. Hand 5 schreibt von 1334 bis 1339, Hand 6 von 1334 bis 1349. Hand 7, Johannes Dannenberg, schreibt von 1338 bis 1371. Erst nach 1340 werden Urkunden in der Volkssprache häufiger, und auch noch nach 1350 überwiegen die lateinischsprachigen Urkunden. Erst um 1370–80 setzt sich das Niederdeutsche als Urkundensprache durch. Die Hansestädte haben sich nur schwer vom Lateinischen gelöst. Das gotländische Drittel der Hanse schreibt bereits 1352 niederdeutsch an Lübeck; Lübecker Schreiben an Reval sind dagegen noch 1379, an Riga noch 1383 und an Stralsund noch 1387 lateinisch abgefasst (vgl. Peters 1987, 72). Als sich dann – nach dem Frieden von Stralsund (1370) – schließlich in der Lübecker Ratskanzlei das Niederdeutsche durchgesetzt hat, wird auch die in dieser Kanzlei ausgefertigte hansische Korrespondenz in niederdeutscher Sprache geführt. Leitungs- und Beschlussorgan der Hanse ist der Hansetag. Gefasste Beschlüsse wurden als Rezesse verschriftlicht, aufbewahrt bzw. an andere Städte gesandt. Im Januar 1358 fand eine Versammlung hansischer Städte in Lübeck statt. Das Ergebnis der Beratungen wurde in einem Dokument festgehalten, das in der Volkssprache abgefasst ist, dies »in einem Kanzleiumfeld, in dem das Lateinische noch klar dominiert« (Behrmann 2002, 457). Die Rezesse sind aber bis 1369 überwiegend lateinisch, ab 1370 fast ohne Ausnahme niederdeutsch ausgestellt. 4.2.
Kennzeichen der frühen lübischen Schreibsprache
Charakteristischer als ein möglicher ostfälischer Einschlag in der ältesten Rechtssprachtradition ist, wie die Untersuchung einiger Kennformen der ältesten Überlieferung Lübecks ergibt, die vorwiegend nordniedersächsische Prägung der frühen lübischen Schreibsprache. Meist bilden ihre Varianten eine Fortsetzung der nordniedersächsischen Schreibsprachformen (vgl. Peters 1988). Für das frühe Lübische kann die folgende Variantenkombination aufgestellt werden (vgl. Peters 2000, 1499f.): Ki Hand 1 schwankt zwischen und für die Pluralendung im Präs. Ind.; in der Lübecker Kanzlei
354
III. Kanzleien des Niederdeutschen
stehen und anfänglich nebeneinander; scal, scolen ›soll, sollen‹; bringen. – vrünt ›Freund, Verwandter‹, Hand 2 von Ki hat neben vrünt auch vrint. – Für das Zahlwort ›dritte‹ sind dridde (in der Stadtrechtsüberlieferung) und drüdde (Chronik Albrechts von Bardewik, Schiffsrecht) belegt. – mi ›mir, mich‹, di ›dir, dich‹, ju ›euch‹. – Für ›uns‹ ist uns Haupt-, us Nebenvariante. – In den frühen Texten ist der Übergang von dese zu desse zu beobachten: dese Hand 1, 3; Hand 2 überwiegend dese, daneben desse, Hand 4 1328 desse (2), dese (1); die Hände 6, 7, 8 und 9 desse. – silve / sülve ›der-, die-, dasselbe‹, de ghene ›derjenige‹. Für ›kein‹ überwiegt nên, nîn ist Minderheitsvariante; jewelik ›jeder‹. – swâr / wôr ›wo‹; wô ›wie‹; dicke ›oft‹; wol ›wohl‹. – up(pe) ›auf‹; want(e) / went(e) ›bis‹; dör ›durch‹; gegen / tegen ›gegen‹; für ›ohne‹ überwiegt sünder gegenüber âne; twisschen und tüsschen ›zwischen‹ stehen nebeneinander. – mer ›aber, sondern‹; oder, ofte, jof(te), eder ›oder‹; wante / wente ›denn, weil‹. Zwar hat die älteste Stadtrechtsüberlieferung vornehmlich dan, doch setzen sich wan und wen für das komparativische ›als‹ durch. Der entweder vom Westfälischen (mi, di, ik, sik, ju, desse, mer) oder vom Ostfälischen (/sk/-Anlaut beim Verb ›sollen‹, vrünt, dridde, silve / sülve, nên, wol) gestützte nordniedersächsische Schreibusus setzt sich in Lübeck durch oder bildet die Mehrheitsvariante: nên / (nîn), sünder / (âne), twisschen / (tüsschen). Für ›jeder‹ setzt sich das nordniedersächsische jewelik durch. Die frühe Urkundensprache Lübecks ist stärker als das Nordniedersächsische durch Variantenvielfalt gekennzeichnet: / -Pluralendung der Verben, us / uns, dese / desse, silve / sülve, nên / nîn, sünder / âne, twisschen / tüsschen, oder / ofte / jof(te) / eder ›oder‹. Für die frühe lübische Schreibsprache ist zweierlei charakteristisch: 1. eine weitgehende Übereinstimmung mit den nordniedersächsischen Kennformen und 2. die gegenüber dem Nordniedersächsischen etwas höhere Zahl an Doppelformen, die durch die Siedlungsgeschichte bedingt ist (vgl. Peters 1988, 162). Aus der gesprochenen Sprache erklärt es sich wohl, dass in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts westlich-westfälische Spuren in Lübeck nicht selten sind.
5.
Niederdeutscher Sprachausbau (ca. 1370 bis ca. 1530)
5.1.
Die Schriftlichkeit der Kanzlei und der ratsabhängigen Behörden
Mit dem Ausbau und der Spezialisierung der Verwaltung wuchs die Bedeutung des akademisch gebildeten Personals in der Stadtherrschaft und -administration. In den Rat gelangten seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch graduierte Protonotare und Syndici, die nicht dem Kreis der Ratsfamilien entstammten. Die frühesten Fälle sind Magister Johann Hertze, von 1436 bis 1454 Protonotar, der 1460 in den Rat gewählt wurde, und Dr. Matthäus Pakebusch, von 1495 bis 1522 Syndikus, der 1522 in den Rat gelangte. Das Bedürfnis an juristischer Fachberatung führte dazu, dass das Amt eines Syndikus geschaffen wurde. Der rechtsgelehrte Syndikus hatte die Aufgabe, die Stadt in internen und externen Rechtsfällen zu beraten und zu vertreten und Gesandtschaften zu
23. Die Kanzleisprache Lübecks
355
übernehmen. Waren die Inhaber des Amtes niederdeutscher Herkunft, hatten sie zumeist in Erfurt studiert. Es wurden aber auch Rechtsgelehrte hochdeutscher Herkunft berufen. Für den Dienstherrn, die Stadt Lübeck, war es schon im 15. Jahrhundert notwendig, studierte Juristen mit hochdeutschen Sprachkenntnissen in Wort und Schrift zu beschäftigen. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Arnoldus Sommernat doctor, auch Arnold van Bremen genannt, hat in Erfurt studiert; von 1443 bis 1456 war er Syndikus. 1452 reiste er nach Nürnberg; 1453 weilte er als Vertreter Lübecks am kaiserlichen Hof, ebenso von Ende 1456 bis Anfang 1457 (vgl. Bruns 1938, 95). Symon Batz de Homborch oder Simon van Homborch, beider Rechte Doktor, stammte aus Homburg im Bistum Metz, dem heutigen Hombourg-Haut, bei St. Avold. Als Vizerektor der Universität Erfurt wurde er 1457 zum Syndikus berufen. Er musste mindestens einmal pro Jahr zum Kaiserhof in Wien, Wiener-Neustadt und Graz reisen. Batz’ Nachfolger war wieder ein Erfurter Universitätslehrer, der aus Erfurt gebürtige Dr. Johannes Osthusen. Er wurde 1465 angestellt, noch 1493 war er im Amt. Im 15. Jahrhundert waren also über 50 Jahre lang Erfurter Juristen, teils niederdeutscher, teils hochdeutscher Herkunft, in Lübeck als Syndici tätig. In der Kanzlei entstand im 15. Jahrhundert eine feste Rangordnung zwischen dem Kanzleileiter, Protonotar genannt, den etwa drei Sekretären und den Kopisten. Der von auswärts gekommene Jacob Cynnendorp, Stadtschreiber von 1365 bis 1376, führte in der Kanzlei ein Briefbuch ein, in das Abschriften der ausgehenden Schreiben eingetragen werden sollten. Diese Neuerung hat sich nach Cynnendorps Ausscheiden nicht durchgesetzt (vgl. Højberg Christensen 1914). Neben der Ratskanzlei verfügten auch die ratsabhängigen städtischen Behörden und die Gerichte über eine größere Zahl von Schreibern. Die Schossherren führten seit 1428 ein Buch, in dem sie notierten, was sie von den Einnehmern erhielten und was sie an die Kämmerer abführten. Nach 1370 sind keine Kämmereirechnungen erhalten, denn das Einziehen der Grund- und Renteneinnahmen war der Wedde übertragen worden, die seit 1370 Wedderentenbücher anlegte (vgl. Pitz 1959, 350). Für die Jahresabrechnung der Kämmereiherren wurden kurze Listen zusammengestellt, aus denen sich die Kämmereirollen entwickelten, deren älteste von 1408 stammt und die von 1433 bis 1580 erhalten sind (vgl. ebd., 355). Die Schreibarbeiten wurden von den Kämmereiherren erledigt. Wie in anderen Hansestädten wurde auch in Lübeck seit 1368 von allen Waren ein Wertzoll erhoben. Zur Abrechnung wurde seit 1368 das Lübecker Pfundzollbuch geführt. Lübeck war Oberhof, d. h. Appellationsinstanz für die nach lübischem Recht lebenden Städte. Die vom Rat gesprochenen Oberhofurteile wurden im codex ordaliorum gesammelt. In Lübeck hat die Spezialisierung des Aktenwesens so weit geführt, dass es gar keine allgemeinen Ratsakten mehr gab: Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit gingen in die Stadtbücher ein, andere Gerichtssachen in das Buch des Nieder-(Vogt-)gerichts und den codex ordaliorum, Strafsachen in Verstößen gegen Ratsverordnungen in das Weddebuch, Finanzsachen in das Kämmereibuch, Dinge der allgemeinen Verwaltung in das Memorialbuch. (ebd., 309)
Seit die Bursprake verlesen wurde, wurde sie aufgezeichnet. Die älteste erhaltene Aufzeichnung stammt aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts (vor 1421).
356 5.2.
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Die Fortsetzung des Schreibsprachenwechsels vom Latein zum Mittelniederdeutschen
Der Übergang vom Latein zum Niederdeutschen (vgl. Kapitel 4.1.) setzt sich im 15. Jahrhundert fort. Noch im 14. Jahrhundert setzen in der Volkssprache abgefasste Testamente zögernd ein; das erste ist von 1339, das zweite von 1354, das dritte von 1355 (vgl. Nagel 1999, 220). Der Wechsel von mehrheitlich lateinischen zu mehrheitlich niederdeutschen Testamenten erfolgt 1402 / 1403 (vgl. ebd., 210). Jahr
Testamente
lateinisch
niederdeutsch
1401
15
11
4
1402
21
11
10
1403
24
10
14
1404
15
0
15
Tab.1: Der Übergang vom Lateinischen zum Niederdeutschen am Anfang des 15. Jahrhunderts
Ernst Pitz (1959, 296) machte auf eine Verlautbarung des Rates im Rahmen des 1406 schwelenden Konflikts mit der Gemeinde aufmerksam: (1)
Ok will de rat alle de boke, de tho den officien horen, laten vorklaren unde ummeschriven in Dudesch, up dat en islik, de dar hir negest tho gevoget wert, de bet sick dar uth entrichten moge tho vromen unde nutticheid dusser stad.
Die Gemeinde hat demnach niederdeutsche Schriftlichkeit in der Verwaltung angemahnt. Der Rat sagte der Gemeinde zu, die Bücher der Verwaltung auf Niederdeutsch führen zu wollen. Die Stadtbücher wurden aber zunächst auf Latein weitergeführt. Niederdeutsche Einträge gibt es im Niederstadtbuch seit 1418. Das Oberstadtbuch dagegen ist bis 1455 auf Latein geführt worden; die Umstellung erfolgte erst auf Anweisung des Rates. Die Inskription im Oberstadtbuch vom 1. August 1455 lautet: (2)
Witlyk sy, dat de rat to Lubeke uppe den Mitweken vor Vincula Petri anno etc. LV geslaten unde deme werdigen magistro Arnoldo van Bremen, doctori in beiden rechten, ereme sindico, bevalen hebben, dat he der stat rentheboke nu vort in tokamenden tiden uppe Dudesch unde nicht uppe Latin scriven scolde, deme de genante doctor also gerne gedan hefft na bevelinge des rades vorscreven in mathen, formen unde wise, so hirna volghet. (LUB IX, Nr. 254)
»Zweifellos ist ›rentheboke‹ versehentlich für ›erveboke‹ gesetzt worden, und in der Tat ist seither im Grundbuch die niederdeutsche Sprache verwandt« (Pitz 1959, 407). Ebenfalls im Jahr 1455 wurde ein Kopialbuch angelegt, wobei lateinische Urkunden ins Niederdeutsche übersetzt wurden: (3)
Hyr umme hebben de vorscreven heren de rad to Lubeke in dessem jeghenwardighen jare MCCCCLV alle privilegien der vorscreven stad [...] laten hyr
23. Die Kanzleisprache Lübecks
357
na in dessem boke registreren unde etlike setten van worden to worden in dat dudesch. (nach Pitz 1959, 419) Der Prozess des Schreibsprachenwechsels umfasst die Zeit von ca. 1265 bis 1455, also fast 200 Jahre. Zwischen den Übergängen in den einzelnen Textsorten bestehen lange Pausen: ca. 1265 Stadtrecht, um 1370 Rezesse, 1370–80 Urkunden, 1402 / 03 Testamente, 1418 Niederstadtbuch, 1455 Oberstadtbuch und Kopialbuch. 5.3.
Die lübische Schreibsprache im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert
Wie im gesamten mittelniederdeutschen Sprachraum entsteht auch in Lübeck, infolge des Abbaus und der Ersetzung frühmittelniederdeutscher Varianten, ein innerörtlicher Schreibusus, der traditionell als lübische Norm bezeichnet wird. Die Grundlage dieser Norm ist eindeutig nordniederdeutsch. In der Zeit um 1400 ist ein Variantenabbau festzustellen: Im 14. Jahrhundert wechseln für die Vorsilbe ›ent-‹ und , im 15. Jahrhundert gilt . Als verbale Pluralendung im Präs. Ind. überwiegt in der Lübecker Kanzlei seit der Mitte des 14. Jahrhunderts , seit etwa 1400 gilt dort fast ohne Ausnahme. Die nordniederdeutschen schal, vründ setzen sich gegenüber den westlichen Formen sal und vrend / vrind durch. Von den genannten Doppelformen setzen sich uns, desse, sülve, nên, sünder, twisschen, edder und men durch. Beispiele für eine Variantenersetzung sind ses -> sos ›sechs‹, seven -> söven ›sieben‹, dicke -> vaken ›oft‹. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts gilt in der Kanzleisprache Lübecks die folgende Variantenkombination (vgl. Højberg Christensen 1918, 418ff.; Peters 2000, 1500): Kürzung tonlanger Vokale in wedder, nedder, hemmel, eddel, leddich, aber weten. für ô1, für ê4. – statt , statt . – Pluralendung der Verben im Präs. Ind. auf . – schal, scholen ›soll, sollen‹, konen ›können‹, scholde ›sollte‹, konde ›konnte‹, dorfte ›durfte‹, bringen, willen. – vrund ›Freund, Verwandter‹, minsche ›Mensch‹, hulpe ›Hilfe‹. – sunte ›sanctus‹. – drudde ›dritte‹, druttich ›dreißig‹, vefteyn ›fünfzehn‹, sos ›sechs‹, soven ›sieben‹. – ik ›ich‹, mi ›mir, mich‹, wi ›wir‹, vns ›uns‹, ju ›euch‹. – desse ›dieser‹, de sulve ›derselbe‹, de ghene -> ghenne -> yenne ›derjenige‹, sulk ›solch‹, nên ›kein‹, jewelik / islik ›jeder‹. – wor ›wo‹, wo ›wie‹, vaken ›oft‹, wol ›wohl‹. – up(pe) ›auf‹, wente / bet ›bis‹, dorch ›durch‹, jeghen ›gegen‹, sunder ›ohne‹, vermidde(l)st ›vermittels‹, twisschen ›zwischen‹. – men ›aber, sondern‹, edder ›oder‹, wente ›denn, weil‹, eft ›wenn, falls‹, dan / wen komparativisches ›als‹. In der Mitte und in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kommt es erneut zu schreibsprachlichen Veränderungen (vgl. Peters 2000, 1500): dridde / drüdde werden durch derde / dorde, twisschen wird durch tusschen ersetzt. Die Mehrheitsvariante wechselt von wente / (bet) zu bet / (wente). Ein Ausbau erfolgt von nen zu nin / (nen) und von jegen zu tegen / (jegen). Für das tonlange /ǀ/ kommt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Schreibung auf (apen ›offen‹). Die Mehrzahl der neuen Varianten (derde, nin, tegen, tusschen) gilt als westfälisch bzw. westlich. »Sie können aus den Ostseestädten nach Lübeck gelangt und auch durch den Stadtschreiber Johannes Bracht
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
gestützt sein, der aus Münster stammte und von 1451 bis 1481 Lübecker Stadtschreiber war« (ebd., 1500). In der Einwandererstadt Lübeck sind auch Schreiber fremder Herkunft tätig. Genannt seien Jacob Cynnendorp (1365–1376) aus der Uckermark, Johannes Bracht (1451– 1481) aus Münster, Johann Wunstorp (Protonotar 1455) aus Wunstorf bei Hannover. Die sprachlichen Spuren dieser Schreiber werden von der bisherigen Forschung (vgl. Højberg Christensen 1918; Lasch 1921) gering geschätzt. In der Lübecker Ratskanzlei sind fremde Kanzleispuren »auf ganz vereinzelte Formen beschränkt« (Lasch 1921, 36). Häufig passen sich die Schreiber fremder Herkunft während ihrer Tätigkeit an die Kanzleitradition an. »Vi konstaterede her meget ofte, at Skriverne under deres Virksomhed opgav de fra Lybækker-Dialekten afvigende Former« (Højberg Christensen 1918, 420). Fremde Formen sind aber in der Ratskanzlei durchaus vorhanden. Cynnendorp schreibt teilweise ye, ie für ê4, Bracht sporadisch wal für wol, solk für sulk, brengen. Johann Wunstorp schreibt 1471 in seinem Testament die ostfälischen Formen goddes ›Gottes‹, or(e) ›ihr(e)‹, wur ›wo‹, wu ›wie‹ (statt godes, er(e), wor, wo). Durch die schreibsprachlichen Veränderungen zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und durch die Formen fremder Schreiber entsteht eine teilweise bunte Variantenvielfalt. Der Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete (im Druck) zeitigt für den Ortspunkt Lübeck interessante Ergebnisse. Für das Personalpronomen ›uns‹ variieren bis 1390 us und uns, dann herrscht uns. Der innerstädtische Usus bildet sich, verglichen mit anderen Städten, spät heraus. – Für das Adverb ›oft‹ variieren in Lübeck in der Mitte des 15. Jahrhunderts die Hauptvariante vakene (ca. zwei Drittel der Belege) und die Nebenvarianten vake, vaken, im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts die Hauptvariante vaken und die Nebenvarianten vake und vakene. Eine innerstädtische Norm wird nicht erreicht. – Für das Zahlwort ›dritte‹ hat sich fast überall im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts eine innerstädtische Norm herausgebildet. In Lübeck dagegen konkurrieren 1380 bis 1390 derde und dörde, 1390 bis 1400 derde, dörde und drüdde, 1446 bis 1455 derde und drüdde, 1491 bis 1500 derde, dörde und drüdde. Die drei Fälle zeigen, dass sich ein innerstädtischer Usus erst spät (›uns‹) oder überhaupt nicht (›oft‹, ›dritte‹) herausgebildet hat (vgl. Fischer / Peters 2004, 413ff.). 5.4.
Hansesprachliche Funktionen des lübischen Mittelniederdeutschen
Um 1370 war das Schriftwesen der Hanse zum lübischen Mittelniederdeutsch übergegangen. Lübeck, auch im 15. Jahrhundert die politisch wie ökonomisch führende Stadt des Hansebundes, hatte seine Leitung zwischen den Hansetagen inne. Daher wurde ein Großteil des hansischen Schriftverkehrs – Verträge, Städtekorrespondenz, Rezesse – von den Schreibern der Lübecker Ratskanzlei geführt und infolgedessen in lübischem Mittelniederdeutsch abgefasst. Zu den sogenannten Vorakten der Rezesse gehören Einladungsschreiben und Antworten, Beschwerden und Instruktionen von Seiten einer Stadt an die Sendboten (vgl. Winge 1991, 149). In den Sitzungen der Hansetage protokollierten die Lübecker Ratssekretäre. Am Ende der Verhandlungen wurden Beschlüsse gefasst,
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die für alle Städte und Kaufleute verbindlich waren. Auf der Grundlage der Verhandlungsprotokolle wurden in der Lübecker Kanzlei die Rezesse ausgefertigt. Von Lübeck wurden Abschriften an die einzelnen Städte gesandt. Die Entwicklung führt vom einzelnen, lateinisch beschriebenen, allein überlieferten Pergamentblatt in der Mitte des 14. Jahrhunderts zum umfangreichen, deutschsprachigen, in vielfacher Parallelüberlieferung erhaltenen Papierheft ein Jahrhundert später. (Behrmann 2002, 435)
6.
Der Schreibsprachenwechsel vom Mittelniederdeutschen zum (Früh-)Neuhochdeutschen (ca. 1530 bis ca. 1650)
Um 1530 setzte erneut ein Schreibsprachenwechsel ein. Das Niederdeutsche wurde in seinen schriftlichen Funktionen durch das Hochdeutsche ersetzt. Zu den Ursachen und dem Ablauf des Ersetzungsprozesses in Norddeutschland und zur Rolle der Kanzleien in diesem Prozess vgl. den Beitrag Die Rolle der Kanzleien beim Wechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen. Der Schreibsprachenwechsel breitete sich von Südosten nach Nordwesten über den niederdeutschen Sprachraum aus. In Lübeck wie in den Hansestädten an der Nordsee erfolgte der Wechsel spät. In der Ratskanzlei Lübeck vollzog er sich zwischen 1530 und 1650 (vgl. Gabrielsson 1983, 149). Den Ablauf des Ersetzungsprozesses in Lübeck beschreibt Wilhelm Heinsohn (1933). In der Zeit des Sprachenwechsels waren in der Ratskanzlei in der Regel zwei Syndici tätig. Die Zahl der Sekretäre betrug drei, selten vier. Im 15. Jahrhundert hatten sich die Syndici hochdeutscher Herkunft dem Niederdeutschen angepasst. Diese Haltung ändert sich im 16. Jahrhundert. Die Juristen Johann Rüdel aus Frankfurt, Syndicus seit 1539, Hermann von Vechelde aus Braunschweig, 1558 bestallt, und Calixtus Schein aus Meißen, Syndicus seit 1565, schreiben hochdeutsch. Hermann Warmböcke, Sohn eines Lübecker Ratsherrn, schreibt hoch- und niederdeutsch. Zuerst setzt sich das Hochdeutsche bei den Syndicis der Stadt durch. »Die Sekretäre sind die Träger des Neuen« (Heinsohn 1933, 185). Sie sind überwiegend aus Lübeck gebürtig, haben aber ihre Ausbildung an hochdeutschen Universitäten erhalten. Sie und die Sekretäre hochdeutscher Herkunft machen den Übergang im Bereich der Amtssprache möglich. Sebastian Ersam (1537–1569) war aus Neustadt bei Coburg gebürtig. Er führt das Niederstadtbuch-Konzept 1544 bis 1566, wie auch das Oberstadtbuch, auf Niederdeutsch. Briefe an niederdeutsche und hochdeutsche Empfänger sind bereits hochdeutsch. Nikolaus Wolff (1550–1557) ist ein Lübecker, der noch niederdeutsch und schon hochdeutsch schreibt. An das Reichskammergericht schreibt er hochdeutsch, im Niederstadtbuch niederdeutsch. Christophorus Messerschmidt (1558– 1573) stammte aus dem schlesischen Steinau an der Oder. Er »gebraucht seine Sprache in den Zweigen der Kanzlei, in denen er an keine Vorbilder und Tradition gebunden ist. Doch muß er der alten niederdeutschen Sprache noch mächtig sein, weil gewisse Gebiete ihre Anwendung erfordern« (ebd., 80). Der Lübecker Johannes Engelstede (1563–1578) führt das Niederstadtbuch-Protokoll anfangs auf Hochdeutsch, das offizielle Konzept auf Niederdeutsch. In der Sprache der Protokolle ist eine Entwicklung zu einer niederdeutsch-hochdeutschen Mischsprache
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
und dann zum Niederdeutschen festzustellen. Der Lübecker Nicolaus Pöpping führt seit 1569 das Nieder- und das Oberstadtbuch in niederdeutscher Sprache; die Protokolle für das Niederstadtbuch beginnen in einem niederdeutsch-hochdeutschen Sprachgemisch, seit 1570 setzt sich das Niederdeutsche durch. Der Lübecker Thomas Rehbein (seit 1573) schreibt die Protokolle in hochdeutscher, in den Stadtbüchern in niederdeutscher Sprache. Um 1580 herrscht das Niederdeutsche im internen Kanzleibetrieb noch vor, so dass die Sekretäre auch ihre inoffiziellen Protokolle vorwiegend in niederdeutscher Sprache führen (vgl. ebd., 82). Der 1539 in Lübeck geborene Franciscus Knöckert führt sowohl die Protokolle als auch das Niederstadtbuch in niederdeutscher Sprache. In der auswärtigen Korrespondenz dagegen schreibt er hochdeutsch. Johannes Brambach aus Andreasberg führt das Niederstadtbuch und die Protokolle seit 1590 / 91 in hochdeutscher Sprache. Seine Nachfolger behalten das Hochdeutsche bei. Im 16. Jahrhundert hat der Lübecker Rat bewusst geborene Lübecker zu seinen Sekretären bestallt, und diese starke Betonung des Lübecker Elements in der Kanzlei darf wohl auch mit der nd. Sprache in Zusammenhang gebracht werden, gegen deren Verwilderung und Verdrängung in den offiziellen Büchern der Rat auf diese Weise anzugehen versuchte. (ebd., 88)
Das früheste hochdeutsche Zeugnis stammt schon aus dem Jahre 1498, die Bestallung des Dr. Johann Rehlinger zum Prokurator am Reichskammergericht, also kurz nach der Gründung dieses Gerichts. Seit 1524 gibt es dann vorwiegend hochdeutsche Briefe an die Prokuratoren. Als Übergangszeit vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen benennt Heinsohn das Jahr 1530 (vgl. ebd., 180). Die Prozessakten erscheinen zum ersten Mal 1550 auf Hochdeutsch (ebd., 181). Es folgt der Wechsel in der auswärtigen Korrespondenz: Hochdeutsche Briefe gehen 1531 an Frankfurt a. M., 1533 an Nürnberg, 1548 an Braunschweig und Goslar, 1552 an Hamburg und Stralsund. Der Wechsel zum Hochdeutschen erfolgt in der auswärtigen Korrespondenz zwischen 1531 und 1558, an hochdeutsche Empfänger eher als an niederdeutsche. Die Wahl des Hochdeutschen beginnt mit der Tätigkeit des Sekretärs Ersam, der sämtliche Briefkonzepte in der Zeit des Übergangs verfasst (vgl. ebd., 40). Die erste hochdeutsche Urkunde findet sich 1569. Nach einigen Jahren des Übergangs herrscht seit etwa 1583 das Hochdeutsche vor (vgl. ebd., 181). Im inneren Kanzleibetrieb wird das Niederdeutsche verhältnismäßig lange beibehalten. Vom Niederstadtbuch sind Protokolle der vor dem Rat geführten Verhandlungen, Konzepte und Reinschriften erhalten. Die Sprache der für den persönlichen Gebrauch geführten Protokolle ist seit 1563 häufig hochdeutsch, während die offiziellen Konzepte weiter auf Niederdeutsch geführt werden (vgl. ebd., 33). Die Protokollsprache Engelstedes geht von Hochdeutsch (1563) zu einer niederdeutsch-hochdeutschen Mischsprache (1564ff.) über. Dass die Sentenz des Rates auch in den hochdeutschen Protokollen auf Niederdeutsch wiedergegeben wird, zeigt den Einfluss der gesprochenen niederdeutschen Ratsherrensprache. Mit der Tätigkeit des Sekretärs Brambach findet 1590 / 91 der Übergang zum Hochdeutschen in den Niederstadtbuchkonzepten statt. Letzte niederdeutsche Eintragungen halten sich bis ins 17. Jahrhundert durch die Tätigkeit der älteren Sekretäre (vgl. ebd., 182).
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Den Eintragungen im Oberstadtbuch ging eine Verhandlung vor dem Rat voraus (vgl. Rehme 1895, 185). Die seit 1569 erhaltenen Protokolle sind in der Übergangszeit (1570–1614) in hochdeutscher (Engelstede, Rehbein) oder in niederdeutscher Sprache (Pöpping, Knöckert) geschrieben. Das Oberstadtbuch wurde bis zum Jahr 1809 in mittelniederdeutscher Sprache geführt. Bei Aufzeichnungen mehr privaten Charakters ist der Schreiber nicht gebunden; dies zeigen die Niederstadtbuch- und die Oberstadtbuchprotokolle (vgl. Heinsohn 1933, 184). Der Schreiber des Niederstadtbuchs ist wohl durch die niederdeutsche Überlieferung in seiner Entwicklung gehemmt. Im Oberstadtbuch und in den Kämmereirechnungen kehrt dasselbe Schema immer wieder, so dass sich der Schreibende nur schwer oder gar nicht von der Sprache des Vorgängers freimachen kann (vgl. ebd., 184). So kommt es, dass die Sprache des gleichen Schreibers in Protokoll und Stadtbuch voneinander abweicht (vgl. ebd.). Erheblich später, endgültig 1630 bis 1640, gehen die Ratsherren in den von ihnen geführten Büchern zum Hochdeutschen über (vgl. Gabrielsson 1983, 141). Als Übergangszeit für die Protokolle des Marstalls ist 1593 bis 1630 anzusetzen. Es zeigt sich der Einfluss der niederdeutschen Verhandlungssprache. Das Hauptbuch der Kämmerei, das die jährliche Eintragung über Einnahmen und Ausgaben von der Hand des Ratsherrn enthält, wechselt 1590 / 91 zum Hochdeutschen. Die Ratsherren nehmen die neue Bildung und Schreibsprache nicht als erste, sondern erst als zweite Gruppe, nach den Beamten, auf (vgl. Heinsohn 1933, 149). 1586 wurde das Revidierte Stadtrecht gedruckt, und es wurde aus alter Sechsischer Sprach in Hochteudsch gebracht (nach Teske 1931, 72). Um 1600 stellt sich die schreibsprachliche Situation in Lübeck wie folgt dar: In der Ratskanzlei ist das Hochdeutsche durchgeführt. Die Oberschicht aus der einheimischen Bevölkerung, die Ratsherren, bedienen sich noch teilweise der niederdeutschen Schriftsprache, und zwar die in den 60er Jahren geborene Generation, während die Generation aus den 70er Jahren die hd. Sprache anwendet. (Heinsohn 1933, 170).
Die Kanzlei ist die Institution, in der das Hochdeutsche zuerst Fuß fasst und in der es sich zuerst durchsetzt. Der Übergang in der Kanzlei bildet die erste Phase des Schreibsprachenwechsels. Nach 1590 erfolgt die zweite Phase des Schreibsprachenwechsels. Sie umfasst die klientennahen Bereiche des Kanzleiwesens, Gilden, Schule und Kirche, den Buchdruck sowie das private Schrifttum. Die – mündlich verkündeten – Burspraken sind bis 1631 niederdeutsch, 1634 zum ersten Mal hochdeutsch. Bei den Testamenten tritt der Wechsel um 1600 ein. Niederdeutsch kommt vereinzelt bis 1617 vor (vgl. ebd., 52). Die Kirche geht um 1600 zum Hochdeutschen über. Die Umstellung im Lateinunterricht beginnt 1609; in den Deutschen Schulen wird das Hochdeutsche im dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts eingeführt. Im Gegensatz zu Gabrielsson (1983, 126ff.), der für die Beschreibung des Sprachenwechsels das sog. Dreiphasenmodell vorgestellt hat, unterscheidet Heinsohn vier Phasen: a. Niederdeutsch mit hochdeutschen Einflüssen (vgl. Heinsohn 1933, 185) b. Niederdeutsch-(hochdeutsch), eine niederdeutsch-hochdeutsche Mischsprache mit größeren niederdeutschen Anteilen
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
c. (Niederdeutsch)-hochdeutsch, eine niederdeutsch-hochdeutsche Mischsprache mit größeren hochdeutschen Anteilen (vgl. ebd., 143f. und öfter) d. Hochdeutsch mit niederdeutschen Relikten (vgl. ebd., 186) Ein Beispiel für die Phase 3 gibt Gabrielsson (1932 / 33, 13): Die Schulmeister Lübecks beklagen sich 1589 in einem Bericht an den Rat über die Missachtung eines Unterrichtsverbots seitens der Winkelschulmeister. Thomas Jesse hat das Verbot (4)
gar nichtes geachtet […] sundern sich mit worten gastrich gemacht auch schmebriue ann de verordenten Schulmeister gesannt. Vnnd holdt noch Schule nach wie vorhenn. – Der Koster zu Sannct Pether gaff denn boschet, do ehr jm antzeigte daß bredt abzunemmende, he were nicht gestendig sinn bredt abzunemmen lassenn. – Hinrich Preys (nedden bi der danckwers grouen) seinne Frauwe gaff yn seinem abwesende den Boscheit, Wann ihre man neyne kynder lernenn, was ehr denn thun solte. (ebd.)
Die Frage nach der Gestalt der neuen Zielvarietät, das Problem, welche Art von Hochdeutsch in Lübeck übernommen wurde, das Ostmitteldeutsche oder das Gemeine Deutsch des Südens, ist noch nicht aufgearbeitet worden. Traditionell wurde davon ausgegangen, der Übernahmeprozess sei als Rezeption des Ostmitteldeutschen erfolgt. Dies trifft für das protestantisch gewordene Lübeck vermutlich zu (vgl. Peters 2003).
7.
Quellen
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8.
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364
III. Kanzleien des Niederdeutschen
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365
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Anke Jarling, Münster (Deutschland)
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
1. 2. 3. 4. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.3.1. 5.3.1.1. 5.3.2. 5.3.2.1. 5.3.3. 5.3.3.1. 5.3.3.2. 5.3.3.3. 5.3.4. 5.3.4.1. 5.3.4.2. 5.3.4.3. 5.3.4.4. 5.3.5. 5.3.5.1. 5.3.5.2. 6. 7. 8.
1.
Einleitung Zur Entstehung der wîkbelde in Braunschweig Die Zentralverwaltung der Stadt – Bildung des Gemeinen Rates Die Anfänge der Kanzleien in Braunschweig – das Stadtschreiberamt Die Sprache der Kanzleien Die Stadtbücher und deren Überlieferung Das Untersuchungskorpus Variablenlinguistische Untersuchung Phonologie und Orthographie Die 1. und 3. Pers. Sg. Ind. Präs. von ›sollen‹ Morphologie Das schwache Verb ›haben‹ Einzelne Lexeme Das Adjektiv ›sanctus‹ Die Ordinalzahl ›dritte‹ Die Kardinalzahl ›sechs‹ Pronomina Das Personalpronomen ›uns‹ Das Personalpronomen ›ihr-‹ Das Demonstrativpronomen ›dieser, diese‹ Das Demonstrativpronomen ›der-, die-, dasselbe‹ Präpositionen ›ohne‹ ›zwischen‹ Auswertung Quellen Literatur
Einleitung
Für die Untersuchung der Kanzleisprache Braunschweigs ist zu beachten: Braunschweig erwuchs an der Oker aus mehreren Ansiedlungen rund um die Burg »Dankwarderode« (vgl. Wex 1992, 52). Aus diesen Ansiedlungen bildeten sich mit der Zeit die fünf Weichbilde, jedes eine »Stadt« für sich – mit je eigenem Rat und eigenem Markt (vgl. Moderhack 1997, 13; Dürre 1861, 671). Auf Grund der Forschungslage des Mittelniederdeutschen ergeben sich für die Stadt Braunschweig folgende Überlegungen: Die Schreibsprachen der frühen Zeit (13. / 14. Jahrhundert) sind lokal bzw. regional bestimmt und durch eine sprechsprachnahe Orthographie und durch Variantenreichtum gekennzeichnet. Es gilt zu untersuchen,
368
III. Kanzleien des Niederdeutschen
ob es in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts wie in anderen Städten zu einem Abbau sprachlicher Varianz kam. Weiterhin kann untersucht werden, ob nordniederdeutsche oder westfälische Einflüsse deutlich werden und ob regionale ostfälische Normierungstendenzen erkennbar sind. Die besondere Struktur der Stadt Braunschweig im Mittelalter ergibt in Bezug auf den Faktor Raum folgende Fragestellungen: Sind zwischen den verschiedenen innerstädtischen Kanzleien Unterschiede feststellbar? Bildet sich in einem der Weichbilde ein Schreibusus heraus, der für die anderen Stadtteile Vorbildfunktion erlangt?
2.
Zur Entstehung der wîkbelde in Braunschweig
Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts kann man Braunschweig als Stadt bezeichnen, die zunächst aus den beiden Weichbilden Altstadt und Hagen bestand (vgl. Moderhack 1985, 14; Dürre 1861, 62). Die älteste Stadtansiedlung ist die Altstadt, die vermutlich nach 1117 das Stadtrecht durch Lothar III. erhielt (vgl. Moderhack 1997, 24). Sie ist der Kern der Stadt Braunschweig, da von ihr die städtische Verwaltung und das Stadtrecht auf die anderen Weichbilde übergegangen sind (vgl. Varges 1890, 3). Die Gründung des Weichbildes Hagen geht auf Heinrich den Löwen zurück (vgl. Moderhack 1997, 38; Dürre 1861, 717; UB Braunschweig 1 / 1975, 1f. [Abdruck der Urkunde]: »Die Jura et libertates Indaginis (die Rechte und Freiheiten des Hagens) erwähnen ausdrücklich Heinrich den Löwen als Gründer dieses Weichbilds« (Moderhack 1985, 13). Stadtrechtlich sind das Ottonianum (vgl. Garzmann 1976, 35–40) für die Altstadt und die Jura et libertates Indaginis (vgl. ebd., 47–63) für den Hagen bedeutend (vgl. Moderhack 1997, 36; Jericho 1992, 218). Herzog Otto das Kind, der Enkel Heinrichs des Löwen, bestätigt um 1227 in den Stadtrechtsurkunden diesen beiden Weichbilden ihre Rechte (vgl. Moderhack 1985, 12; 1997, 36). Unter dem Schutz der Burg Dankwarderode erwuchs auf der Westseite der Oker die Neustadt, die 1231 erstmals urkundlich erwähnt wurde (nova civitate) (vgl. Moderhack 1997, 31; Jericho 1992a, 166). Die Altewiek erhielt 1031 eine eigene Pfarrkirche St. Magnus und erscheint urkundlich um 1196 (vgl. Moderhack 1997, 44f.; Jericho 1992b, 13f.; Dürre 1861, 729). Sie blieb lange als unbedeutendes Dorf neben der Stadt bestehen, erhielt erst um 1200 Mauern und Graben und 1245 Stadtrecht.1 Das jüngste der städtischen Weichbilde – der Sack – entstand erst im 13. Jahrhundert; auf einem Raum, der bis dahin zur Burg gehörte (vgl. Moderhack 1997, 45; Dürre 1861, 704f.). Im Jahre 1282 wird dieses Weichbild (sacco) erstmalig urkundlich erwähnt (vgl. Angel 1992, 199; Moderhack 1985, 16f.).
1
Vgl. Varges (1890, 25): »Otto das Kind verleiht ihr [Altewiek] 1245 das Recht der Altstadt« (UB Braunschweig 1 / 1975, 15, Einleitung).
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
3.
369
Die Zentralverwaltung der Stadt – Bildung des Gemeinen Rates
Der Rat der Altstadt bildete sich vermutlich um 1200, »so dass angesehene Bürgervertreter mit Zustimmung des Stadtherrn, des welfischen Herzogs, künftig selbständig Verwaltungsakte vornehmen« (Pingel 1992, 187) konnten. Die ersten urkundlichen Nennungen eines Rates in Braunschweig stammen: im Weichbild Hagen von 1227, in der Altstadt von 1231,2 in der Neustadt von 1257, in der Altewiek von 1295 und im Weichbild Sack von 1299 (vgl. Pingel 1992, 187; Moderhack 1997, 42f.; Garzmann 1976, 100ff.). Im Jahre 1269 bildeten die Weichbildräte der Altstadt, des Hagens und der Neustadt den Gemeinen Rat, »der die Belange der gesamten Stadt vertreten sollte und zur Erledigung der laufenden Geschäfte aus sich den Engen Rat wählte« (Moderhack 1977, 155). Vermutlich hatten die drei wîkbelde dasselbe Weichbildrecht, aber eine gesonderte Finanzverwaltung (vgl. Moderhack 1997, 43f.; Dürre 1861, 107). Der Gemeine Rat bestand bei seiner Gründung aus zehn Ratsherren der Altstadt, sechs des Hagens und vier der Neustadt. Auf Grund der Tatsache, dass der Gemeine Rat zunächst in der Küche der Münzschmiede tagte, entstand die Bezeichnung Küchenrat. Erst 1325 besteht der Gemeine Rat aus allen fünf Weichbilden (vgl. Moderhack 1985, 16; 1997, 44). Die Rathäuser waren, »als Sitz und Symbol der städtischen Selbstverwaltung« (Moderhack 1997, 40) und damit als möglicher Ort einer Schreibstube, in der Altstadt um 1240 bis 1250, in der Neustadt vor 1299 und im Weichbild Sack 1350 vorhanden. Ein Neubau des Rathauses im Hagen erfolgte um 1400, und in der Altewiek wurde 1395 ein Rathaus erwähnt (vgl. Moderhack 1985, 14f.; 1997, 42). In seiner Untersuchung über das Braunschweiger Altstadtrathaus stellt Ohm (2002) zusammen: Mit dem Inkrafttreten des Ordinars, einer Privatarbeit von 1408,3 wurde die Verwaltung der Gemeinen Stadt im Neustadtrathaus untergebracht (vgl. Ohm 2002, 50). Die große dorntze4 des Altstadtrathauses und die 1436 gewölbte Kämmerei dienten in der Altstadt als Archiv. Die Kämmerei war aber auch der Ort der »altstädtischen Kanzlei, wo der Schreiber die Verwaltungsgeschäfte seines Weichbildes führte« (ebd.).
2 3
4
Zur ersten namentlichen Erwähnung von Ratsherren in der Altstadt: UB Braunschweig 1 / 1975, 8: »Innungsbrief der Goldschmiede in der Altstadt« (lat.). Das Original ist verschollen. Im StA Braunschweig befindet sich eine Kopie aus der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. In der königlichen Bibliothek zu Hannover befinden sich zwei weitere jüngere Aufzeichnungen mit beträchtlichen Abweichungen (vgl. UB Braunschweig 1 / 1975, 145–184). Als Verfasser kommt für Werner Spieß nur der Bürgermeister Hermann van Vechelde oder der Kämmerer Hans Porner bzw. eine diesen beiden nahestehende Persönlichkeit in Frage (vgl. Spieß 1954, 114, Anm. 3). Ein vollständiger Abdruck findet sich im UB Braunschweig 1 / 1975, 145–184), ein Teildruck sowie eine Beschreibung bei Spieß (1949). Vgl. Jahn (1992, 62): Dem westslawischen dornica ›heizbarer Raum‹ entlehnt, bedeutet es in mittelniederdeutscher Zeit vor allem ›mit einem Ofen beheiztes großes Gemach, meist für offizielle oder festliche Zwecke‹. Im Altstadtrathaus befanden sich drei dieser Räume: die Schotteldornse (mnd. schot ›Steuer‹), die Fastelabendsdornse sowie die Große Dornse (1345 dorntze).
370
4.
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Die Anfänge der Kanzleien in Braunschweig – das Stadtschreiberamt
Eine moderne lokale Gesamtdarstellung des Stadtschreiberamtes in Braunschweig fehlt bis heute. Stattdessen bieten vereinzelte Untersuchungen kurze Übersichten oder beiläufige Bemerkungen (vgl. Mack 1970, 56; Fahlbusch 1913, 343f.; Spieß 1954, 105–114; Hellfaier 1989, 11–23). Eine Untersuchung über den Braunschweiger Stadtschreiber Gerwin von Hameln liegt von Anette Haucap-Naß (1995) vor. Auch sie betont die fehlende Gesamtdarstellung des Stadtschreiberamtes, beschreibt aber innerhalb ihrer Untersuchung exemplarisch am Braunschweiger Stadtschreiber die lokalen Besonderheiten der Institution sowie das Berufsfeld (vgl. Haucap-Naß 1995, 20f.). Kintzinger untersucht in mehreren Arbeiten das Bildungswesen der Stadt Braunschweig (Kintzinger 1990; 1995, 183–203). Er stellt heraus, dass »Bürger und Ratsherren der Stadt Braunschweig bei Rechtshandlungen in Kontakt traten zu ›notarii‹ oder ›scriptores‹« (Kintzinger 1990, 468). Hierbei handelte es sich gewöhnlich um geistliche Notare oder Schreiber der herzoglichen oder bischöflichen Kanzleien. In der Braunschweiger Überlieferung wird deutlich, dass im 15. Jahrhundert unter Stadtschreiber ganz allgemein der städtische Verwaltungsschreiber verstanden wird (vgl. Haucap-Naß 1995, 20). Hellfaier betont in seiner Edition des 1. Gedenkbuches: Über die Stadtschreiber in den einzelnen Weichbilden und über ihre Tätigkeit für den Gemeinen Rat liegen bisher keine gesicherten Erkenntnisse vor. Bis auf wenige Ausnahmen bleiben Namen, Herkunft, Stand, Bildung und vor allem die Zuweisung zu einzelnen Handschriften innerhalb des städtischen Schriftgutes bis zum Ende des 14. Jahrhunderts bisher weitgehend im Dunkeln. (Hellfaier 1989, 16)
Die Entstehung städtischer Schreiberämter ist Ausdruck der zunehmenden Schriftlichkeit in der kommunalen Verwaltung (vgl. Kintzinger 1990, 470). Ab 1339 sind die ersten notarii publici der Stadt Braunschweig nachweisbar.5 Skrzypczak (1956) stellt in seiner Untersuchung zu Stadt und Schriftlichkeit im deutschen Mittelalter einige der in der Braunschweiger Überlieferung (Urkundenbuch Braunschweig, Hanserezesse, Chroniken der deutschen Städte) genannten Schreiber für das 14. und 15. Jahrhundert zusammen (vgl. ebd., 303): 1. Heinrich 2. 3. 4. 5.
Kilenberg, Dietrich Göttingen, Hermann v. Eckeling Kubbeling, Herwig
6. Fritze, Dietrich
5
1328, der ›notarius civitatis‹ ist wahrscheinlich identisch mit dem schon 1324 erwähnten verheirateten ›Scriptor de Brunswik‹ gleichen Namens (A III 174, 261, 92, 135) 1339, clericus (A III 483, 459) 1343, clericus (A IV 110, 105) 1343, clericus (A IV 101, 213) 1380 vertritt er d. Stadt auf dem Hansetag. Obwohl in den Prozessakten nur als ›capellander van Brunswik‹ geführt, dürfte er auch Kanzlist gewesen sein. 1381 wird nämlich der spätere Notar Fritze als sein ›junge‹ (= Schüler) und als Ingrossator eines Ratsschreibers erwähnt (B I: 2, S. 264; Chroniken VI, S. 70) 1381, zuerst Schüler des vorigen; notarius publicus; clericus; verheiratet (Chroniken VI, S. 70, 253f. und A. 1; Chroniken XVI, S. 16
Vgl. Kintzinger (1990, 472, Anm. 105) sowie UB Braunschweig 3 / 1975, Nr. 582, S. 459; Nr. 584, S. 461; Nr. 592, S. 471; Nr. 600, S. 475 [1339]).
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
7. Hollege, Hans 8. Dickhaupt, Hermann 9. Bannenborg, Dietrich
371
A. 9, 347); nach Fahlbusch ist er im Dienst der gemeinen Stadt und der Neustadt sowie seit 1403 in den Rechnungen als reitender Schreiber nachweisbar (vgl. Fahlbusch 1913, 38) 1397, verheiratet (Chroniken VI, S. 251 A. 1), nach Fahlbusch ist er Schreiber der Altstadt (vgl. ebd.) vor 1402 amtierend, Domherr (Chroniken XVI, S. 35 A. 3) 1417, notarius publicus, clericus (Chroniken VI, S. 254 A. 7) (vgl. Skrzypczak 1956, 303)
Bereits 1227 beauftragte die Braunschweiger Kommunalbehörde einen Notar mit der Niederschrift des Stadtrechts (vgl. ebd., 106). Hänselmann schrieb dem Kanonikus Lutbert die Niederlegung des ältesten Stadtrechts zu. 1231 wird Lutbertus scriptor als erster Stadtschreiber Braunschweigs und als letzter Zeuge unter dem Innungsbrief der Goldschmiede (vgl. UB Braunschweig 1 / 1975, 8) verzeichnet (vgl. Skrzypczak 1956, 241, Anm. 573). 1236 wird unter den Kanonikern von St. Blasius6 ein Johannes als scriptor erwähnt.7 Fahlbusch nennt in seiner Untersuchung zur Finanzverwaltung der Stadt Braunschweig von 1374 bis 1425 Hans Hollege als Schreiber der Altstadt und Tiderik als Schreiber der gemeinen Stadt sowie der Neustadt. Zwei weitere Schreiber des Jahres 1400 sind Hinrik Visbeken und Borchard. Dietrich Fritze ist in den Rechnungen der Stadt seit 1403 als reitender Schreiber belegt (vgl. Fahlbusch 1913, 38). In den Rechnungen des Gemeinen Rates,8 die seit 1400 erhalten sind, findet sich für jeden Jahrgang eine Vielzahl an regelmäßig wie auch an aktuell anfallenden Aufgaben des Schreiberpersonals, für die nach bestimmten Verrechnungssätzen Entgelt gezahlt wurde, häufig neben den fälligen Geldbeträgen zugleich in Form von Kleidung oder Brennmaterial. (Kintzinger 1990, 483)
Auf Grund dieser Rechnungen ermittelt Fahlbusch in seiner Untersuchung zur Finanzverwaltung der Stadt Braunschweig einen Schreiber vor 1354, der für den Gemeinen Rat tätig war (vgl. Fahlbusch 1913, 56). Haucap-Naß verzeichnet beim Amtsantritt Gerwins von Hameln 1438 bereits neun Schreiber (vgl. Haucap-Naß 1995, 21). Bis Martini 1445 schwankt diese Anzahl zwischen sieben und neun. Konstant bleibt die Zahl erst zwischen Pfingsten 1446 und 1479 mit sechs Schreibern und einem Gehilfen (vgl. ebd., Anm. 120). Um Aushilfskräfte handelt es sich vermutlich bei den Schreibern zwischen 1438 bis 1445 und 1479, die zusätzlich in den Lohnlisten erscheinen. »Mit sechs Schreibern war die städtische Kanzlei genauso besetzt, wie es der Ordinarius von 1408 vorgeschrieben hatte« (ebd., 21). In der Ratsverfassung von 1386 erfuhr das städtische Schreiberwesen eine erste grundsätzliche Regelung (vgl. Kintzinger 1990, 476). Überliefert wird diese Regelung im »Ordinarius«:9
6 7 8 9
Vgl. die Hauptabteilung Handschriften des Niedersächsischen Staatsarchivs Wolfenbüttel, Abt. VII B, Band 128–244, St. Blasius. Vgl. zur Liste der Kanoniker von St. Blasius und St. Cyriacus: Döll (1967, 301ff.). Vgl. das Rechnungsbuch der Gemeinen Stadt zu 1464, Soldliste der städtischen Schreiber in B II 1: 37, f. 19v. Vgl. Anm. 3.
372 (1)
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Dyt is de ordinarius des rades to Brunswik, den leyt de ghemeyne rad scryuen na Cristi vnses heren gebort verteynhundert iar, darna im achteden iare to paschen, vnde hir is inne ghescreuen de handelinghe des rades, alse wat de rad van tyden to tyden to donde heft: alse den rad to settende, re ammechte to settende, ghesynde to holdende, vnde wat eyn iowelk van synes ammechtes vnde denstes weghen to donde hebbe, vnde wat de rad don schulle in sunderliken tyden dat iar ouer, alse dat nu begrepen is. Dyt bok schal me antworden dem borghermester in der Oldenstad, vp dat he seen m ghe, wat he to reden by dem rade bringhen schulle, vp dat des rades handelinghe vnverborghen vnde vnvorgeten blyue wat ne gheb re to donde, vnde deste beteren vortgangk hebbe. (UB Braunschweig 1 / 1975), 145)
In den §§ 77ff. werden die wichtigsten Verwaltungsbeamten aufgeführt und deren Amtsbezeichnungen sowie Funktionen ausführlich geschildert: (2)
lxxvij Van den scryueren Vortmer holt de ghemeyne rad dre scryuere, eynen in der Oldenstad, vnde eynen in der Nigenstad, vnde eynen imme Haghen. De scryuer in der Oldenstad schal vorwaren dat scryuent in des rades boke in der Oldenstad vnde imme Sacke, vnde vorwaren den rad vnde vnse borghere in den scrifften alse he best konde. Ok scholde he scryuen vnde registreren de breue de de rad in den Oldenstad vnde imme Sacke bysunderen beseghelen laten wolden. [...] Ok scholde he scryuen to dem schote in der Oldenstad vnde imme Sacke. [...] Vortmer de scryuer in der Nigenstad scholde scryuen des ghemeynen rades breue, se weren open edder sendebreue, vnde alle opene breue de de rad geue registreren edder registreren laten, vnde vorwaren den rad in alle oren breuen alse he best konde. Ok scholde he vorwaren alle de breue dar ane to donde were de dem rade ghesant worden. [...] Ok scholde he scryuen in des rades bok vnde to dem schote in der Nigenstad. [...] Vortmer de scryuer imme Haghen scholde scryuen in des rades bok vnde to dem schote imme Haghen, vnde vort scryuen, weruen vnde don wat ome de rad imme Haghen hete.
In § 78 werden die Funktionen des reitenden Schreibers beschrieben: (3)
lxxviij Van dem rydende scryuer Vortmer holt de ghemeyne rad eynen rydende scryuer, de schal ryden des rades werff buten der stad, vnde weruen des rades werff bynnen der stad vnde buten der stad alse he truwelikest vnde best kan. Vnde wan he rede buten der stad in werue dat vnser borghere welk besynderen anr rde, de scholden ome denne teringhe pleghen. Wan he auer der stad vnde des rades werff rede, so scholde ome de rad de teringhe don. Vortmer wen de rad wur to daghe rede, dar scholde he myt dem rade ryden, offt ome de rad dat hete, vnde scryuen wu men van dem daghe ghescheyden were, vnde scholde des rades terghelt v ren ok bewaren, vnde re teringhe vorstan dewyle se buten werden, by synen eyden. Ok scholde he scryuen in des rades bok vnde to dem schote in der Oldenwyk. [...]
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
373
Die Funktionen des Syndikus werden in § 79 mitgeteilt. Er ist der an der Spitze stehende sowie höchst bezahlte Beamte (vgl. Spieß 1954, 106): (4)
lxxix Van der stad syndico Vortmer holt de rad eynen syndicum, de schal den rad vnde de stad vorantworden in gheystliken richten bynnen effte buten, offt ome des wat anlicghende were, vnde der stad vnde der borghere beste weten vnde weruen wur he kan vnde mach. [...]
Die Aufgaben des Zollschreibers werden in § 80 dargelegt: (5)
lxxx Van dem tollenscryuer Vortmer holt de ghemeyne rad in der tollenbode eynen tollenscryuer. De schal wesen den dach ouer alle daghe in der tollenbode vnde davor, vnde warden der zise, tollens, mettenpenninghes vnde gheldes vor allerhande steyn alse ome de rad dat bevelde, vnde holden dat vort alse syn eyd vtwyset.
Es wird ersichtlich, dass alle wichtigen Verwaltungsfunktionen am Ende des 14. Jahrhunderts in den Händen des Gemeinen Rates lagen (vgl. Spieß 1954a, 42). Der Gemeine Rat beschäftigte demnach sechs hauptamtliche Schreiber: »je einen in der Altstadt, im Hagen und in der Neustadt sowie einen reitenden Schreiber« (Hellfaier 1989, 16). Hinzu kam der Syndikus, der dem Gemeinen Rat mit seinen juristischen Kenntnissen beistand, die Stadt vor dem geistlichen Gericht vertrat und Notariatsinstrumente anfertigte. Seit 1463 war der Syndikus fast durchweg ein promovierter Jurist (vgl. Haucap-Naß 1995, 22). Außerdem gab es den Zollschreiber, der das anfallende Schriftgut in der Zollbude verwaltete. Auch wenn der Ordinarius von 1408 »Anweisungen und Gewohnheiten, die die Schreiber des Gemeinen Rates betreffen« (Hellfaier 1989, 16), gibt, bleibt unklar, »wie weit die dort getroffenen Bestimmungen rückschreibbar sind« (ebd.). Neben den Funktionen, die die Schreiber für den Gemeinen Rat hatten, gingen sie in den Weichbilden weiteren Tätigkeiten nach: Der Schreiber in der Altstadt verwaltete zugleich das Schreiberamt im Sack, fertigte die Urkunden dieser Weichbilde an, nahm an den Ratssitzungen der Altstadt sowie des Gemeinen Rates teil und verlas das Echteding. Dem »reitenden Schreiber« oblag die Führung der Stadtbücher in der Altewiek, er begleitete den Gemeinen Rat zu Verhandlungen außerhalb der Stadt und hielt schriftlich die Ergebnisse fest. Außerdem nahm er an Gesandtschaften teil und vertrat die Stadt außenpolitisch. Der Schreiber der Neustadt war nicht nur für die Schreibtätigkeiten in diesem Weichbild zuständig, sondern führte das Gedenkbuch des Gemeinen Rates, fertigte auch Urkunden und Briefe desselben an, übertrug diese in die Kopialbücher und führte die Kämmereibücher (vgl. ebd., 17). Im Hagen gab es einen Schreiber, der für die Schreibtätigkeiten zuständig war. Es bleibt offen, ob »das kleinste Weichbild, der Sack, ursprünglich einmal ein eigenes Schreiberamt gehabt hat, das dann später mit dem der Altstadt vereinigt wurde, oder ob der Sack seine Kanzleigeschäfte von jeher von dem Stadtschreiber der Altstadt erledigen ließ« (Spieß 1954, 107). Sicher ist, dass die Dienstobliegenheiten in den Weichbilden älter sind als ihre Funktionen im Gemeinen Rat. Denn die Funktionen innerhalb des Gemeinen Rates ergeben sich frühestens ab 1269 durch den Zusammenschluss der
374
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Weichbildräte von Altstadt, Hagen und Neustadt bzw. spätestens ab 1386 durch die Verwaltungsreform. Erst im 14. Jahrhundert traten Altewiek und Sack dem Gemeinen Rat bei. Die Verwaltung Braunschweigs war Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts im Rathaus der Neustadt untergebracht. Somit fiel das gesamte Registraturwesen der Stadt in den Aufgabenbereich des Neustadtschreibers (vgl. Haucap-Naß 1995, 21). Der Hagenschreiber war nach 1469 noch Schreiber des Untergerichts. Belegt wird dies 1469 durch einen Vermerk Gerwins von Hameln, der den Amtsantritt seines Schwagers Gerwin Balhorn vermerkt und hinzufügt, dass »dieser hagen- und richtescriver geworden sei« (ebd., 22). Unterschiedlich, aber klar definiert sind die Aufgaben der sechs Schreiber in Braunschweig innerhalb der städtischen Verwaltung. Das Kanzleiwesen nimmt innerhalb der Stadtverwaltung somit eine zentrale Rolle ein (vgl. Stein 1895, 55f.). Problematisch wird die Zuordnung der namentlich genannten Schreiber zu den einzelnen Ämtern. Wie schon Haucap-Naß feststellt, ist der Syndikus wegen seines beigefügten Magister- oder Doktortitels und eines wesentlich höheren Lohns nicht schwer von seinen Amtskollegen zu unterscheiden (vgl. Haucap-Naß 1995, 24). In den Lohnlisten wird aber der Hagenschreiber nur mit seiner Amtsbezeichnung, nicht aber mit seinem Personennamen aufgeführt. Wegen seines konstanten Lohns von 3 1/2 Mark und der Bezeichnung tollner kann der Zollschreiber identifiziert werden (vgl. ebd.). Die Identifizierungsmerkmale für Altstadt-, Neustadt- und reitenden Schreiber fehlen bisher.
5.
Die Sprache der Kanzleien
5.1.
Die Stadtbücher und deren Überlieferung
Als Stadtbücher bezeichnet man die bei den städtischen Behörden geführten Amtsbücher, die der Behörde bei der Führung ihrer Geschäfte dienten (vgl. Geuenich 2000, 17–29). In größeren Städten begann man seit dem 12. Jahrhundert,10 verbreiteter dann seit dem 13. Jahrhundert »über rechtsverbindliche Akte des Rates und der Bürger Aufzeichnungen anlegen zu lassen« (Kintzinger 1997, Sp. 12). In Braunschweig gibt es 662 mittelalterliche Stadtbücher (vgl. StadtA Braunschweig B I: 1, Einleitung), deren Überlieferung im Jahre »1268 mit den ältesten Degedingbüchern der Altstadt und des Hagens einsetzt« (Hellfaier 1989, 12) und bis weit ins 17. Jahrhundert hineinreicht. Neben den Degedingbüchern werden in Braunschweig u. a. Gedenkbücher, Briefbücher, Ratsprotokollbücher, Neubürgerbücher, Finanzbücher, Leibgedingbücher, Schleppbücher, Rechts- und Gerichtsbücher, Handelbücher und Testamentbücher geführt. Diese Vielzahl und auch Vielfalt der städtischen Amtsbücher verdeutlicht die rasche Entwicklung der Bürgergemeinde als »Rechts-, Finanz- und Wirtschaftsgemeinde vom 13. Jahrhundert an« (ebd.).
10
Z. B. im Kölner Schreinsbuch um 1130.
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
375
Tabelle 1 (S. 385) zeigt die ältesten überlieferten Stadtbücher, sortiert nach Weichbilden, von Beginn der Aufzeichnungen bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Die Stadtbücher waren zunächst gemischten Inhalts und wurden zur Beweissicherung geführt. Später, ab dem 14. Jahrhundert, entwickelten sich verschiedene Stadtbucharten »für Rechtsakte des Rates sowie für Rechtsgeschäfte zw. Rat und Bürgern und der Bürger untereinander, einschließl. der freiwilligen Gerichtsbarkeit« (Kintzinger 1997, Sp. 13). 5.2.
Das Untersuchungskorpus
Das Untersuchungskorpus muss sowohl in diatopischer als auch in diachroner Hinsicht zwei Bedingungen erfüllen: Die möglichst im Original überlieferten Texte müssen zum einen lokalisierbar, d. h. den entsprechenden Weichbilden bzw. dem Gesamtrat zuzuordnen sein. Zum anderen müssen die Texte genau datierbar sein. Der Untersuchungszeitraum endet im Jahre 1400 und umfasst damit die frühmittelniederdeutsche Periode in Braunschweig. Das Korpus setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Einen Teil des Untersuchungskorpus bildet der Ortspunkt Braunschweig11 des »Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete (ASnA)«12. Der zweite Teil ergibt sich aus einem Abgleich vorliegender Editionen.13 Das Korpus (siehe Tab. 2: Übersicht der Texte, S. 385) besteht aus insgesamt 541 Texten. Für die Untersuchung werden die Texte in Abschnitte von jeweils zehn Jahren unterteilt. Dies ermöglicht eine genaue und übersichtliche Auswertung. Enthalten sind Texte des Verwaltungsschrifttums (amtliche Texte), d. h. öffentliche Verträge und Erbverfügungen sowie juristische Texte, hier sind verschiedene Fassungen des Stadtrechts und Urkunden sowie Testamente gemeint. 5.3.
Variablenlinguistische Untersuchung
Für eine Untersuchung des Mnd. in Braunschweig empfiehlt es sich, die variablenlinguistische Methode anzuwenden. Robert Peters unterscheidet in seinem Katalog (vgl. Peters 1987, 1988, 1990) zur variablenlinguistischen Erforschung des Mittelniederdeutschen die Bereiche: 1. Phonologie und Orthographie, 2. Morphologie, 3. Syntax und 4. Lexikologie. Im Folgenden werden exemplarisch Variablen aus diesen Kategorien untersucht.
11 12 13
Zur Verfügung gestellt durch Robert Peters. Vgl. zum ASnA: Peters 1994, 42ff.; Peters 1997, 45ff; Fischer / Peters 2004, 406ff.; Peters / Fischer 2007, 23ff. Hänselmann 1932; Lasch 1987; Korlén 1945; Hellfaier 1989.
376
III. Kanzleien des Niederdeutschen
5.3.1. Phonologie und Orthographie Die Periode des Frühmittelniederdeutschen ist durch Variantenreichtum und sprechsprachnahe Orthographie gekennzeichnet (vgl. Bischoff 1981, 7ff.). Beispiele für Kontraktionen finden sich vor allem in den Texten des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts. In der Altstadt sind Schreibungen wie upme ›auf dem‹ (4 Belege), upper ›auf der‹ (5 Belege), uteme ›aus dem‹ (7 Belege), mitteme ›mit dem‹ (1 Beleg), sveme ›der dem‹ (2 Belege) und het ›er es‹ (2 Belege) belegt. Die häufigste Variable uteme ist mit 10 Belegen ebenfalls in den Texten des Weichbildes Sack nachweisbar. Während in Hagen und Neustadt keine Belege für diese Varianten vorhanden sind, gibt es für diesen Zeitraum keine Texte aus der Altewiek und für den Gemeinen Rat. Im ausgehenden 14. Jahrhundert finden sich nur selten sprechsprachliche Formen. Eine Stichprobe ergab, dass sich in der letzten Dekade (1391–1400) keine der oben genannten Variablen finden. 5.3.1.1. Die 1. und 3. Pers. Sg. Ind. Präs. von ›sollen‹ Bereits in frühmittelniederdeutscher Zeit setzt die schreibsprachliche Entwicklung von sk zu š ein (vgl. Peters 1987, 74 u. 80; Peters 2004, 32f.; Lasch 1974, § 334; Fedders 1993, 220f.; Weber 2003, 173f.). Im Westfälischen bleibt diese Entwicklung aus: Kennzeichnend ist hier die anlautende s-, z-Schreibung. In den mittelniederdeutschen Schreibsprachen variieren im Anlaut überwiegend sc und sch, wobei »meist sc- die ältere und schdie jüngere Variante ist« (Peters 2004, 32). In Ostwestfalen schwankt die Schreibung zwischen s und sc; »Formen mit s finden sich in der ältesten Zeit im ganzen Sprachraum [...]« (Peters 1987, 80). Die 1. und 3. Pers. Sg. Ind. Präs. des Verbs ›sollen‹ zeigt sich in den Varianten scal, schal und sal (siehe Tab. 3, S. 386).14 Die für das Westfälische charakteristische anlautende s-Schreibung (sal) ist nur insgesamt dreimal in Altstadt und Hagen belegt – in der Zeit zwischen 1331 bis 1350 (vgl. Peters 2004, 32f.). In den Texten der Altstadt vor 1300 erscheinen ausnahmslos schal-Belege. Ab 1301 wird neben schal auch die Variante scal gebraucht. Der Gebrauch beider Formen nimmt parallel bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts zu, dann lässt er bei schal bis 1380 nach, um dann wieder zum Ende des 14. Jahrhunderts zuzunehmen. Hingegen ist eine Zunahme von scal bis 1370 zu beobachten und ab dann ein stetes Zurücktreten bis 1390. In den Weichbilden Hagen und Neustadt zeigt sich ein ähnliches Bild: Die Anzahl der scal- und schal-Belege nimmt bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts parallel zu, geht bei scal bis 1370 / 80 zurück und steigt dann bis 1400 wieder an. Die Anzahl der schalFormen reduziert sich bis 1400. In den Texten der Weichbilde Sack und Altewiek sowie in denen des Gemeinen Rates schwankt der Gebrauch von scal und schal ebenso wie in Altstadt, Hagen und Neustadt.
14
Vgl. Karte Nr. 3 bei Peters (2004, 33); ASnA, Karte Nr. 54 (unveröffentlicht).
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
377
Dennoch ist eine Tendenz erkennbar: Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts überwiegt scal, danach nimmt der Gebrauch von schal bis 1400 zu. Eine Zusammenfassung dieses Ergebnisses bedeutet auf diachroner Ebene: Im Frühmittelniederdeutschen werden in Braunschweig die anlautenden sc- und sch-Schreibungen parallel in allen Weichbilden und den Texten des Gemeinen Rates gebraucht. Aus diatopischer Sicht ergibt sich folgendes Resultat: In Altstadt, Sack und Gemeinem Rat überwiegt der Gebrauch von scal, in Hagen, Neustadt und Altewiek hingegen der von schal. 5.3.2.
Morphologie
5.3.2.1. Das schwache Verb ›haben‹ Im Bereich der Morphologie werden exemplarisch an dem schwachen Verb hebben ›haben‹ die Varianten der 3. Pers. Sg. Ind. Präs. untersucht (vgl. Peters 1987, 78; Lasch 1974, §§ 217, 439.1; Fedders 1993, 234; Weber 2003, 185f.). Bereits in frühmittelniederdeutscher Zeit wird die 3. Pers. Sg. Ind. Präs. hevet des Verbs hebben von der synkopierten Form heft abgelöst (vgl. Peters 1987, 78; Lasch 1974, § 439.1; Fedders 1993, 234; Weber 2003, 185f.). Die Form heeft tritt ausnahmslos am Westrand des mittelniederdeutschen Sprachareals auf (vgl. ASnA, Karte Nr. 53 – unveröffentlicht; Peters 1987, 78; Fedders 1993, 234). Im Südmärkischen und Elbostfälischen sowie gelegentlich im Ostfälischen begegnet het (vgl. Lasch 1974, §439.1; Peters 1987, 78; Peters 1991, 300f.). Für die Stadt Braunschweig zeigt sich eine interessante Entwicklung (vgl. Tab. 4, S. 387): In den Texten der Altstadt und der Altewiek finden sich zahlreiche hevet-Belege, während in den Texten der anderen Weichbilde und des Gemeinen Rates fast ausschließlich heft-Formen vorkommen. So hält sich hevet in der Altstadt bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und in der Altewiek bis 1400. Im Hagen ist mit Beginn der mittelniederdeutschen Überlieferung ausschließlich heft belegt, in Neustadt, Sack und Gemeinem Rat ist die Anzahl der hevet-Formen gegenüber heft sehr gering. Ab 1361 erscheint im Hagen, in der Neustadt und im Sack die Form het, die auf elbostfälischen Einfluss schließen lässt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in allen Weichbilden – mit Ausnahme von Altewiek – und dem Gemeinen Rat heft dominiert. 5.3.3.
Einzelne Lexeme
5.3.3.1. Das Adjektiv ›sanctus‹ »Nachdem das lat. Lehnwort sanctus, -a, -um das interkonsonantische k verloren hatte« (Weber 2003, 232), ist im ältesten Mittelniederdeutschen das Adjektiv heilig (vgl. ASnA, Karte Nr. 96 – unveröffentlicht) vor Heiligennamen durch die Form sante belegt (vgl. Peters 1988, 89; Lasch 1974, §§ 52, 139, 229; Fedders 1993, 282f.). Aus der häufig gebrauchten Genitivform sancti (lat.) entwickelt sich die umgelautete Variante sente (vgl. Peters 1988, 89; Fedders 1993, 282f.; Weber 2003, 232). Während des 14. Jahrhun-
378
III. Kanzleien des Niederdeutschen
derts wird sente vor allem im Ostfälischen und Elbostfälischen, aber auch am Westrand des Mittelniederdeutschen gebraucht (vgl. ASnA, Karte Nr. 96 – unveröffentlich). Die gerundete Form sönte ist nur sehr selten im Mittelniederdeutschen belegt. Schon relativ früh erscheint sinte, das durch Hebung von e zu i vor gedecktem Nasal zu erklären ist (vgl. Peters 1988, 89). Im 14. Jahrhundert ist sinte häufig in der Grenzzone zwischen Westfälischen und Ostfälischen in Hameln, Einbeck, Göttingen und Höxter belegt.15 Die gerundete Form sünte hat überregionalen Charakter und ist im gesamten mnd. Sprachraum belegt. Zum 15. Jahrhundert hin wird sie sich in Ostfalen als häufigste Variante durchsetzen. Die Verteilung der Varianten sante, sente, sinte und sünte im Untersuchungszeitraum von 1281 bis 1400, verteilt auf die jeweiligen Weichbilde in Braunschweig, kann wie folgt beschrieben werden (vgl. Tab. 5, S. 388): In allen Weichbilden und den Texten des Gemeinen Rates sind sante, sente, sinte und sünte vorhanden. Die Variantenvielfalt der Variable ›sanctus‹ während des 13. und 14. Jahrhunderts in Braunschweig wird deutlich. Betrachtet man die Entwicklung bis 1400, wird deutlich, dass Hagen und Sack als Weichbilde konform gehen, da hier sinte um 1400 die häufigste Variante ist. Ebenso kann man eine parallele Entwicklung in Neustadt, Altewiek und dem Gemeinen Rat erkennen: Zum Ende des Untersuchungszeitraumes ist sante die gebräuchlichste Form. In der Altstadt scheint sich schon zum Ende des 14. Jahrhunderts sünte durchzusetzen. 5.3.3.2. Die Ordinalzahl ›dritte‹ Im Mittelniederdeutschen weist die Ordinalzahl dritte (vgl. ASnA, Karte Nr. 106 – unveröffentlicht) zahlreiche Varianten auf, von denen die meisten diatopischen Charakter besitzen: Im Ostfälischen ist dridde vorherrschend, im Nordniederdeutschen das aus dridde hervorgegangene drudde und im Westfälischen das durch r-Metathese entstandene derde (vgl. Peters 1988, 92; Peters 1991, 300f.; Lasch 1974, § 399; Fedders 1993, 287f.; Weber 2003, 239). Am Westrand des Westfälischen kommen dann noch dorde und darde hinzu sowie im Südosten des Ostfälischen vereinzelt dredde. In Lübeck dominiert in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts dorde. In allen Texten der Weichbilde und des Gemeinen Rates ist in dem Untersuchungszeitraum bis 1400 dridde die vorherrschende Variante (vgl. Tab. 6, S. 389). Während es sich bei dride vermutlich um eine Verschreibung handelt, lässt der einmalige Beleg dredde eventuell auf elbostfälischen Einfluss schließen. Zwischen 1341 und 1350 ist dredde in Quedlinburg vorherrschend (vgl. ASnA, Karte Nr. 106 – unveröffentlicht).
15
Vgl. zu den Schreibsprachen im Weserraum: Peters (2004).
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
379
5.3.3.3. Die Kardinalzahl ›sechs‹ Im Mittelniederdeutschen erscheint neben dem Zahlwort ses die gedehnte Variante sees, seis und das gerundete sös (vgl. Peters 1988, 90; Peters 1991, 300f.; Lasch 1974, §§ 41, 175, 397; Fedders 1993, 284; Weber 2003, 233f.). Die häufigste Form im Ostfälischen ist ses, daneben vereinzelt in Hannover, Hildesheim und Braunschweig sees. Im Nordniederdeutschen kommt zum Ende des 14. Jahrhunderts sös hinzu, welches ausschließlich für das Nordniederdeutsche belegt ist und im 15. Jahrhundert in Lübeck und Hamburg dominiert (vgl. ASnA, Karte Nr. 97 – unveröffentlicht). In Braunschweig ist unabhängig von Zeit und Raum ausnahmslos ses belegt. 5.3.4.
Pronomina
5.3.4.1. Das Personalpronomen ›uns‹ Die Differenz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache im Mittelniederdeutschen lässt sich gut am Beispiel der Variablen ›uns‹16 nachzeichnen: Seit dem 13. Jahrhundert gilt in den westfälischen Schreibsprachen uns, obwohl in den Mundarten us gesprochen wurde (vgl. Peters 2004, 29; Peters 1988, 93; Lasch 1974, §§ 14, 403, Anm. 6, 7; Fedders 1993, 294ff.; Weber 2003, 240; Bischoff 1962, 55–72). Das Personalpronomen ›uns‹ […] wird im Mittelniederdeutschen auf der Grundlage des Dativs oder der des Akkusativs gebildet. Es gibt dativische Formen ohne und mit Nasal: ûs, uns. Akkusativische Formen sind ûsek, öը sek > ös ohne und unsek mit Nasal. […] Das nördliche Ostfalen (Hannover, Hildesheim, Braunschweig) bildet ein üsch-, das südliche Ostfalen (Hameln, Einbeck, Göttingen, Goslar) ein ösch-Areal. Akkusativische Formen mit k-Endung sind in den Schreibsprachen nur früh und äußerst selten belegt […]. (Peters 2004, 29)
Das Nordniederdeutsche ist von Beginn der mittelniederdeutschen Überlieferung an ein us-Gebiet. Im 14. Jahrhundert überwiegt in Ostfalen os. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts werden us und os zunehmend von uns verdrängt. Die Variante uns gilt in Westfalen und in Elbostfalen von Beginn der mittelniederdeutschen Überlieferung an. Noch im 14. Jahrhundert breitet sich diese Variante von Westfalen nach Norden und Osten sowie von Elbostfalen nach Westen hin aus (vgl. ebd.). Am Westrand des mittelniederdeutschen Sprachraums erscheint unter Einfluss des Niederländischen ons (vgl. Lasch 1974, § 182; Peters 1988, 93; Fedders 1993, 294ff.; Weber 2003, 240). Die Variable ›uns‹ ist in Braunschweig durch die Varianten os, us, uns belegt (vgl. Tab. 7, S. 390). Diatopisch betrachtet dominieren in Altstadt, Hagen, Neustadt und Sack os und us, in den Texten des Gemeinen Rates hingegen us und uns. Zum Ende des 14. Jahrhunderts gehen Hagen, Neustadt und Gemeiner Rat konform, da hier uns überwiegt. Demgegenüber steht der Gebrauch der vorherrschenden Formen us und os in Altstadt und Sack.
16
Vgl. Karte Nr. 1 bei Peters (2004, 28) sowie Karte Nr. 111 (unveröffentlicht) im ASnA.
380
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Konservativ zeigt sich die diachrone Entwicklung in der Altstadt: Die Überlieferung beginnt mit os und us, erst in der letzten Dekade des 14. Jahrhunderts tritt uns hinzu. Fortschrittlich hingegen präsentiert sich die Variable ›uns‹ im Hagen: Parallel setzt die Überlieferung mit os, us und uns ein, der Gebrauch der Varianten os und us nimmt gegenüber uns ab. In der Neustadt wechseln sich die Varianten ab: Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts dominiert us, bis 1370 os, dann wieder us und in der letzten Dekade uns. Wie in der Altstadt ist auch im Hagen die Form uns gegenüber os und us selten. In den Texten des Gemeinen Rates zeigt sich ein anderes Bild: os ist selten und nimmt bis 1400 stetig ab, bis 1380 dominiert us und bis 1400 ist uns vorherrschend. 5.3.4.2. Das Personalpronomen ›ihr-‹ Im Mittelniederdeutschen lautet die Form für die 3. Pers. Sg. fem. Gen. und Dat., die 3. Pers. Pl. Gen. des Personal- sowie des gleichlautenden Possessivpronomens ere- (vgl. ASnA, Karte Nr. 118 – unveröffentlicht). Im Frühmittelniederdeutschen begegnen nicht selten ire-Formen. Daneben sind Schreibungen mit Doppelkonsonanz erre- möglich. Im Ostfälischen begegnet häufig die gerundete Variante öre (vgl. Lasch 1974, §§ 63, 403, Anm. 12, 404, 405 Anm. 1; Peters 1988, 95; Peters 1991, 300f.; Fedders 1993, 298f.; Weber 2003, 242ff.). In allen Texten der Weichbilde und des Gemeinen Rates zeigt sich ein einheitliches Bild (vgl. Tab. 8, S. 391): ere ist in der Mitte des 14. Jahrhunderts vorherrschend und wird dann von öre bis 1400 abgelöst. Im 15. Jahrhundert wird öre dann die dominante Variante sein (vgl. ASnA, Karte Nr. 118 – unveröffentlicht). Die älteste Form ire begegnet zum Ende des 13. Jahrhunderts nur in der Altstadt. Die Schreibung mit Doppelkonsonanz erre erscheint ausschließlich in Altstadt und Hagen. 5.3.4.3. Das Demonstrativpronomen ›dieser, diese‹ Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts begegnet in Braunschweig die älteste Form des Demonstrativpronomens17 mit tonlangem Vokal und einfachem s: dese. Die Formen mit ss gehen vermutlich auf »den Einfluss der synkopierten Dativformen desme, desre [zurück], aus denen der Stamm dess- abgeleitet wurde« (Peters 2004, 40). Neben desse und disse begegnen die gerundeten Formen dösse und düsse (vgl. Peters 1988, 96; Lasch 1974, §§ 12, 173, 227, 407; Peters 1991, 300f.; Fedders 1993, 302ff.; Weber 2003, 246ff.). Im 14. Jahrhundert dominiert im nordniederdeutschen Raum desse, in Ostwestfalen (Lemgo, Hameln) dösse, in Elbostfalen und im nördlichen Ostfalen disse, im südlichen Ostfalen sowie südlichen Ostwestfalen düsse. Im Laufe des 14. Jahrhunderts wird im Norden Ostfalens disse von desse verdrängt. Die Verdrängung der disse-Schreibung ist auf nordniederdeutsche und westliche (aus dem Weserraum: Herford, Lemgo, Minden)
17
Vgl. dazu Karte bei Peters (2007, 30f.) sowie Karte Nr. 8 bei Peters (2004, 41) und Karte Nr. 119 im ASnA (unveröffentlicht).
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
381
Einflüsse zurückzuführen. Ende des 14. Jahrhunderts treffen im nördlichen Ostfalen düsse und desse aufeinander. Gestützt durch die Verbreitung im südlichen Ostfalen wird sich zum 15. Jahrhundert hin düsse durchsetzen (vgl. ASnA, Karte Nr. 119 – unveröffentlicht). Die älteste Form des Demonstrativpronomens, d(h)ese, begegnet in Altstadt und Hagen (vgl. Tab. 9, S. 392): in der Altstadt bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts und im Hagen im Jahre 1372. In allen Weichbilden und dem Gemeinen Rat zeigt sich ein ähnliches Bild: In der Mitte des 14. Jahrhunderts sind desse und disse die vorherrschenden Varianten, düsse tritt zu diesem Zeitpunkt schon vereinzelt in Erscheinung, wobei der Gebrauch von düsse erst um 1400 zunimmt. Ende des 14. Jahrhunderts taucht dösse mit wenigen Belegen in Altstadt, Hagen und den Texten des Gemeinen Rates auf. Parallelen sind zwischen den Weichbilden Altstadt, Hagen und Sack erkennbar: Hier dominiert Ende des 14. Jahrhunderts desse. Dem entgegen stehen Neustadt, Altewiek und Gemeiner Rat, da hier düsse um 1400 dominiert. 5.3.4.4. Das Demonstrativpronomen ›der-, die-, dasselbe‹ Für das Demonstrativpronomen ›der-, die-, dasselbe‹18 gibt es im Mittelniederdeutschen die Varianten selve, silve, sölve und sülve (vgl. Peters 1988, 97f.; Lasch 1974, §§ 106, 137, 169d, 408; Peters 2004, 39f.; Fedders 1993, 308ff.; Weber 2003, 250f.). »Wohl vom Nordniederdeutschen ausgehend, konnte das zweite e in deselve vor l-Verbindungen zu i gehoben werden; e konnte zu ö, i zu ü gerundet werden: desölve, desülve« (Fedders 1993, 308). Frühe Texte haben im Ostfälischen vor allem selve und vereinzelt silve (vgl. Peters 1988, 97). Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts werden diese Varianten durch sülve im Ostfälischen verdrängt. Sülve gilt überwiegend im nordniederdeutschen Gebiet und zusätzlich in einem schmalen Streifen an Weser und Leine (Hannover, Hameln, Einbeck und Göttingen). Westlich dieser Städte, also in Ostwestfalen, sowie östlich davon, also im nördlichen Ostfalen, stehen sülve und selve nebeneinander. Noch im 14. Jahrhundert breitet sich sülve in beide Mischgebiete nach Osten und Westen hin aus. Im Nordniederdeutschen gilt überwiegend sülve und in den Niederlanden, dem Rheinland und Kernwestfalen selve (vgl. Peters 2004, 39f.). In der Mitte des 14. Jahrhunderts zeigt sich in Braunschweig ein differenziertes Bild (vgl. Tab. 10, S. 393): In Altstadt und Sack werden selve, silve und sülve geschrieben, in Hagen und Neustadt silve und sülve, im Gemeinen Rat selve und sülve. Diese Variabilität wird bis 1400 abgebaut: sülve ist die vorherrschende Variante in allen Texten Braunschweigs.
18
Vgl. dazu Karte Nr. 7 bei Peters (2004, 39) sowie Karte Nr. 121 im ASnA (unveröffentlicht).
382 5.3.5.
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Präpositionen
5.3.5.1. ›ohne‹ Für die Präposition ohne19 erscheinen im Mittelniederdeutschen zwei Varianten: sunder und âne. Ihre Verteilung im gesamten mittelniederdeutschen Raum zeigt diatopische und diachrone Unterschiede: In Westfalen erscheint vorrangig sunder, im Nordniederdeutschen erscheinen sunder und âne, im Ostfälischen mehrheitlich âne. Bereits im 14. Jahrhundert wechselt das Nordniederdeutsche von meist gebrauchtem âne zu sunder (vgl. Lasch 1974, §§ 106, 137, 169d, 408; Peters 1988, 97f.; Peters 1991, 301; Peters 2004, 39f.; Fedders 1993, 308ff.; Weber 2003, 250f.). Zu Beginn und in der Mitte des 14. Jahrhunderts erscheinen in Altstadt und Hagen sunder und âne nebeneinander, wobei âne häufiger ist (vgl. Tab. 11, S. 394). In Neustadt, Sack, Altewiek und Gemeinem Rat ist die Anzahl der sunder-Belege geringer – hier überwiegt ganz deutlich âne. In der letzten Dekade des Untersuchungszeitraumes, 1391 bis 1400, dominiert âne in der gesamten Braunschweigischen Überlieferung. 5.3.5.2. ›zwischen‹ Innerhalb des Mittelniederdeutschen ermittelt Bischoff als schärfste Wortgrenze für die Präposition zwischen (vgl. ASnA, Karte Nr. 151 – unveröffentlicht) die Weser (vgl. Fedders 1993, 337; Bischoff 1961). Man unterscheidet zwischen dem westfälischen tuschen und dem ostfälischen twischen (vgl. Lasch 1974, §172; Ahlsson 1967, 76; Peters 1991, 301; Fedders 1993, 337f.; Weber 2003, 277f.). Im Nordniederdeutschen sind beide Varianten bekannt, wobei im 14. Jahrhundert twischen überwiegt. Mit Ausnahme von drei tuschen-Belegen erscheinen in Braunschweig ausschließlich twischen und twisschen (vgl. Tab. 12, S. 395). Tendenziell zeigt sich, dass mit Ende des Untersuchungszeitraumes twisschen bevorzugt gebraucht wird.
6.
Auswertung
Die eingangs gestellten Fragen bezüglich der Forschungslage des Mittelniederdeutschen in Braunschweig können mit den vorliegenden Ergebnissen wie folgt beantwortet werden: – Ein grundsätzlicher Variantenabbau ab der Mitte des 14. Jahrhunderts konnte nicht bei allen Variablen ermittelt werden. Allerdings zeigten sich bei der Mehrzahl der Beispiele Tendenzen zu einem Abbau sprachlicher Varianz zugunsten einer Form, wie z. B. bei heft, uns, öre und sülve. Außerdem belegen die Befunde, dass Variantenabbau noch nicht erkennbar ist (scal / schal, sante / sente / sinte / sünte, desse / disse / düsse, sunder / âne) oder es keine Varianten gibt (dridde, ses, twischen).
19
Vgl. dazu Karte Nr. 5 bei Peters (2004, 36) sowie Karte Nr. 149 im ASnA (unveröffentlicht).
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
383
– Überregionale niederdeutsche und / oder westliche Einflüsse und / oder regionale ostfälische Normierungen konnten ermittelt werden: Regionale ostfälische Normierungstendenzen wurden bei öre, sülve, âne und düsse deutlich. Bei der Variante düsse ist der ostfälische Normierungsansatz jedoch zunächst nur in der Neustadt, in der Altewiek und im Gemeinen Rat erkennbar. Nordniederdeutscher (heft) und elbostfälischer (het) Einfluss zeigte sich bei den Varianten hevet / hef(f)t / het. Bei der Variablen ›sanctus‹ wird sich das westfälisch-nordniederdeutsche sünte am Ende des 15. Jahrhunderts auch in Ostfalen durchsetzen: Diese Entwicklung ist nur in der Altstadt erkennbar. Westfälischer und elbostfälischer Einfluss wird bei der Variablen ›uns‹ deutlich. – Die Frage, ob es Unterschiede zwischen den einzelnen Kanzleien gibt, kann klar bejaht werden. Parallelen und Differenzen in der schreibsprachlichen Entwicklung können in folgenden Variationen zusammengefasst werden: a. Alle Kanzleien sowie der Gemeine Rat zeigen eine konforme Entwicklung, a.1. weil sie keine Varianten vorweisen: dridde, ses, twischen. a.2. weil sie sich zugunsten einer Variante entscheiden: ere / öre und sunder / âne. b. Die Kanzleien und der Gemeine Rat gehen nicht zusammen, sondern zeigen unterschiedliche schreibsprachliche Entwicklungen. Hierbei werden Gruppierungen und Verhalten (konservativ oder progressiv) deutlich: Scal / schal: Die Weichbilde Altstadt, Sack und Altewiek sowie der Gemeine Rat können in einer Gruppe zusammengefasst werden; im Laufe des 14. Jahrhunderts gehen sie zur jüngeren Variante schal über. Konservativ und ebenfalls einer Gruppe zugehörig verhalten sich Hagen und Neustadt, die um 1400 noch scal als dominante Form gebrauchen. Hevet / hef(f)t: Altstadt und Gemeiner Rat sind gleichzusetzen und zeigen fortschrittliches Verhalten, da sie ab der Mitte des 14. Jahrhunderts von der älteren Form hevet zur jüngeren hef(f)t wechseln. Neustadt und Sack können ebenfalls zusammengefasst werden: Sie weisen alle drei Varianten (hevet / hef(f)t / het) auf, wobei auch hier eine progressive Entwicklung deutlich wird, da um 1400 hef(f)t dominiert. Die Weichbilde Hagen (keine hevet-Form und ab 1371 zunehmender Gebrauch von het) und Altewiek (ausschließlich hevet-Belege bis 1400) stehen für sich. Beide wîkbelde zeigen tendenziell eine konservative Entwicklung. Sante / sente / sinte / sünte: Bei diesen Varianten sind kaum gemeinsame Entwicklungen erkennbar. In der Mitte des 14. Jahrhunderts dominiert sente in der Altstadt und im Gemeinen Rat sowie sünte in Hagen, Neustadt und Sack. Um 1400 sind dann jedoch sünte in der Altstadt, sinte in Hagen und Sack sowie sante in der Neustadt, in der Altewiek und im Gemeinen Rat vorherrschend. Demnach zeigen Hagen, Neustadt, Sack, Altewiek und Gemeiner Rat ein konservatives Verhalten. Progressiv ist die Entwicklung in der Altstadt zu bewerten: Um 1400 dominiert sünte. Os / us / uns: Mit Sicherheit kann man Hagen, Neustadt und Gemeinen Rat in einer progressiven Gruppe zusammenfassen: Nach dem parallelen Gebrauch von os und us bis zur 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts wird sich um 1400 uns als stärkste Form durchsetzen. Die Weichbilde Altstadt, Sack und Altewiek stehen dagegen
384
III. Kanzleien des Niederdeutschen
wegen ihrer unterschiedlichen Entwicklung für sich, wobei der geringe Gebrauch der Varianten uns als tendenziell konservatives Verhalten zu werten ist. D(h)ese / desse / disse / dösse / düsse: Bei diesen Varianten werden zwei Richtungen deutlich: Die Weichbilde Altstadt, Hagen und Sack zeigen Parallelen in ihrer eher konservativen schreibsprachlichen Entwicklung. Neustadt, Altewiek und Gemeiner Rat verhalten sich progressiv, da hier bereits die sich im 15. Jahrhundert durchsetzende Variante düsse um 1400 dominiert. Selve / sölve / silve / sülve: Alle Weichbilde und der Gemeine Rat gebrauchen um 1400 sülve als häufigste Form – eine progressive Entwicklung wird deutlich. Allerdings zeigt sich im Laufe des 14. Jahrhunderts ein unterschiedliches Bild in den Kanzleien: In der Altstadt, im Sack und im Gemeinen Rat dominieren selve und sülve, in Hagen und Neustadt hingegen silve und in der Altewiek ist nur sülve belegt. Mittels dieser Ergebnisse kann resümiert werden, dass in den Weichbilden Altstadt und Neustadt sowie im Gemeinen Rat das progressive Verhalten im Gebrauch der Varianten überwiegt. Im Weichbild Hagen ist eher eine konservative Tendenz erkennbar. Sack und Altewiek verhalten sich zu gleichen Teilen konservativ und fortschrittlich. Ein differenziertes Bild schreibsprachlicher Entwicklungen, in dem die innerstädtische Variantenvielfalt mit ihren zeitlichen, räumlichen, textsorten- und schreiberspezifischen Dimensionen deutlich wird, kann mithilfe der variablenlinguistischen Methode nachgezeichnet werden. Die hier demonstrierten Beispiele konnten die zeitlichen und räumlichen Entwicklungen, die auf verschiedene Schreiber zurückzuführen sind, exemplarisch verdeutlichen.
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
Tab. 1: Anzahl der überlieferten Stadtbücher bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts
Tab. 2: Anzahl der Texte für das Untersuchungskorpus
385
Tab. 3: Anzahl der Belege der 1. und 3. Pers. Sg. Ind. Präs. von ›sollen‹
386 III. Kanzleien des Niederdeutschen
Tab. 4: Anzahl der Belege der 3. Pers. Sg. Ind. Präs. des Verbs ›haben‹
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
387
Tab. 5: Anzahl der Belege zu ›sanctus‹
388 III. Kanzleien des Niederdeutschen
389
Tab. 6: Anzahl der Belege zu ›dritte‹
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Tab. 7: Anzahl der Belege zu ›uns‹
390
391
Tab. 8: Anzahl der Belege zu ›ihr-‹
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
Tab. 9: Anzahl der Belege zu ›dieser, diese‹
392 III. Kanzleien des Niederdeutschen
Tab. 10: Anzahl der Belege zu ›der-, die-, dasselbe‹
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
393
394
Tab. 11: Anzahl der Belege zu ›ohne‹
III. Kanzleien des Niederdeutschen
395
Tab. 12: Anzahl der Belege zu ›zwischen‹
24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
396
7.
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Quellen
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8.
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24. Die Kanzleisprache von Braunschweig
397
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
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Dzintra Lele-RozentƗle, Riga (Lettland)
25. Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
1.
Die Rigaer Ratskanzlei und ihr Archiv Zum Forschungsstand der Rigaer Kanzleisprache Multilingualer Hintergrund und mehrsprachige Kanzleipraxis Anfänge des Mittelniederdeutschen an der Rigaer Ratskanzlei Schreiber und Sprachformen Zum niederdeutsch-hochdeutschen Ablösungsprozess Zur Rolle der Übersetzung Forschungsdesiderate und -möglichkeiten Literatur
Die Rigaer Ratskanzlei und ihr Archiv
Riga war die größte Stadt der livländischen Konföderation, die infolge der Kreuzzugsund Siedlungsbewegungen nach Osten auf dem historischen Territorium Livlands (heutiges Estland und Lettland) entstanden war. Die Verwaltung der Stadt lag in den Händen des Stadtrats, um die Oberherrschaft über die Stadt aber kämpften mit wechselnden Erfolgen der Erzbischof und der livländische Zweig des Deutschen Ordens. Die größten Archive Livlands waren das Archiv der Rigaer Ratskanzlei, das Archiv der Rigaer Bischöfe, seit 1251 der Erzbischöfe und des Domkapitels sowie auch das Archiv des Schwertbrüderordens, seit 1237 des livländischen Zweiges des Deutschen Ordens. Die Kanzleien des Erzbischofs und des Ordensmeisters fertigten ihre Urkunden und Briefe oft nicht in Riga, sondern auf den Schlössern des Landes aus, sie standen aber im regen Briefwechsel mit dem Rigaer Stadtrat. Zwischen allen drei Kanzleien bestand eine enge Zusammenarbeit. Oft zogen sie voneinander Sekretäre zu gelegentlichen Arbeiten hinzu, wenn z. B. besondere Sach- oder Sprachkenntnis der Schreiber erforderlich war (vgl. Schmidt 1938, 14). Das Archiv des Rigaer Stadtrats war seinerzeit das bedeutendste unter den livländischen Stadtarchiven. Von seinen Anfängen ist wenig bekannt, das Gleiche betrifft auch den Stadtrat, dessen Entstehung noch vor 1225 veranschlagt wird (vgl. Zeids 1992, 47ff.). Das Archiv der Ratskanzlei wird heute vorwiegend im Historischen Staatsarchiv Lettlands aufbewahrt, einzelne Archivalien, vor allem Abschriften, sind auch in den Beständen der Abteilung für seltene Bücher und Handschriften in der Akademischen Bibliothek Riga zu finden. Im Historischen Staatsarchiv befinden sich die Manuskripte der Ratskanzlei vor allem in zwei umfangreichen Beständen. Das so genannte Innere Ratsarchiv (Historisches Staatsarchiv Lettlands, Bestand 8), das seine Bezeichnung vom Aufbewahrungsort er-
400
III. Kanzleien des Niederdeutschen
halten hat, enthält hauptsächlich Privilegien, Verträge, Urkunden über Immobilien, die ältesten Stadtbücher, die so genannten Umgearbeiteten Rigischen Statuten, das Schuldbuch (1286–1352), die Einnahmenbücher der Stadt (1334–1574), das alte Schragen- und Rentenbuch, die Kämmereirechnungen (1348–1556), die Rechnungen der Landvogtei (1383–1578) u. a. Überliefert sind auch etwa 250 Urkunden in russischer Sprache, deren Datierung mit 1229 anfängt (vgl. Zeids 1992, 47). Aus dem so genannten Äußeren Ratsarchiv (Historisches Staatsarchiv Lettlands, Bestand 673), das in den Arbeitsräumen der Ratskanzlei lag, sind infolge des großen Brandes von 1674 zahlreiche Archivalien verloren gegangen. Die Handschriften, darunter viele Abschriften, befinden sich außerdem verstreut in einzelnen Beständen des Historischen Staatsarchivs, von denen vor allem die Sammlung der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen zu erwähnen ist (Historisches Staatsarchiv Lettlands, Bestand 4038). Eine ausführliche Darstellung der Herausbildung des Rigaer Stadtarchivs mit aktuellen Bestandsangaben ist im Aufsatz von Ɩrija Zeida zu finden (vgl. 1974, 61ff.).
2.
Zum Forschungsstand der Rigaer Kanzleisprache
Die Rigaer Kanzleisprache ist erst seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand linguistischer Untersuchungen geworden. Als Schwerpunkte galten zunächst die Feststellung der normierten mittelniederdeutschen Schriftsprache im Verhältnis zu den eventuellen Dialektzügen (vgl. Goetsch 1934) sowie auch der Ablösungsprozess des Mittelniederdeutschen durch die hochdeutsche Schriftsprache (vgl. Schmidt 1938). Der Aufsatz von Charles Goetsch ist der Phonologie des Mittelniederdeutschen anhand der Eintragungen im ersten Erbebuch (1384–1482) der Stadt Riga gewidmet. Untersucht werden die diakritischen Zeichen, Vokale und Konsonanten. Auf Grund der Analyseergebnisse stellt Goetsch die Frage nach dem Charakter des Mittelniederdeutschen. Die Eintragungen, die in der untersuchten Quelle von verschiedenen Schreibern stammen, seien reines Mittelniederdeutsch (»purely Low German«) und weisen »a striking uniformity in the spellings of all the scribes and a suprising conformity to the North-Saxon norm of Middle Low German« auf (Goetsch 1938, 58). Die wenigen Abweichungen, die auf westfälische Reflexe hinweisen, sind vor allem Personennamen, die die ältere westfälische Form bewahrt haben, vgl. z. B. Aldenborg mit dem westfälischen -ald- und Oldenborgeschen mit dem späteren -old- (vgl. Goetsch 1934, 19; Peters 1987, 63f.). Der Titel der vier Jahre später erschienenen Veröffentlichung von Gertrud Schmidt, Das Eindringen der hochdeutschen Schriftsprache in der Rigaschen Ratskanzlei (1938), ist eigentlich enger gefasst als das von der Verfasserin formulierte Ziel: Voraussetzungen herauszuarbeiten und die niederdeutsche Sprache der rigaschen Ratskanzlei, ihre Entstehung, ihre Prägung zur ›Schriftsprache‹ und endlich ihren Verfall als Ausdruck und Folge der politischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung Rigas darzustellen. (Schmidt 1938, III)
Die Untersuchung stellt somit »einen ersten Versuch dar, die Geschichte der niederdeutschen Sprache bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts in einer Stadt der östlichsten deutschen Kolonie des Mittelalters, dem alten ›Livland‹, zu behandeln« (ebd., III).
25. Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga
401
Die 88 Seiten zählende Untersuchung enthält eine Reihe von sozio- und kontaktlinguistischen Beobachtungen über die äußere Sprachgeschichte an der Ratskanzlei und in der Stadt. Sie betreffen den Übergang vom Lateinischen zum Niederdeutschen und den des Letzteren zum Hochdeutschen. Mehrere Aspekte, die der mittelniederdeutschen Rigaer Kanzleisprache ein individuelles Gepräge verleihen, verdienen laut Schmidt (vgl. 1938, 25) besonders hervorgehoben zu werden. Dazu gehören das Vorbild der benachbarten Kanzleien und die Schreibvorlagen sowie auch der Heimatdialekt der Schreiber. Genauso wie im Aufsatz von Goetsch wird auch von Schmidt nach der Zuordnung des Rigaer Mittelniederdeutschen gesucht. Sie stellt fest, dass »bereits im 14. Jahrhundert eine Kanzleitradition deutlich zu verfolgen [ist], die als westfälisch-nordniedersächsische Mischsprache zu bezeichnen wäre und die sich [...] bewußt an die normierte Sprache der Umgearbeiteten Rigischen Statuten anlehnt« (ebd., 26). Die unter der Betreuung von Conrad Borchling ausgearbeitete Dissertation enthält zahlreiche Beobachtungen zum Sprachgebrauch an der Rigaer Ratskanzlei und dessen politischen und kulturellen Hintergrund. Einen wertvollen Teil stellen die Tabellen zum Übergang zur hochdeutschen Sprache in den Briefen und Urkunden, die Übersicht über die Rigaer Stadtschreiber bis zum Ende des 16. Jahrhunderts und die Handschriftenproben der Rigaer Stadtschreiber dar. Die weiteren Untersuchungen zur Rigaer Kanzleisprache sind erst nach einer mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Unterbrechung wieder aufgenommen. In der Publikationsreihe des Internationalen Arbeitskreises Kanzleisprachenforschung Beiträge zur Kanzleisprachenforschung sind mehrere Aufsätze erschienen, die als Schwerpunkt u. a. die Textsorten, z. B. die Bursprake (vgl. Lele-RozentƗle 2003a) und die Anfänge der mittelniederdeutschen Kanzleitradition in Riga anhand des städtischen Erbebuchs (1384–1482) haben (vgl. Lele-RozentƗle 2008). Eine auf systematische Untersuchungen der Quellen beruhende Geschichte der Rigaer Kanzleisprache ist noch immer ein Desideratum.
3.
Multilingualer Hintergrund und mehrsprachige Kanzleipraxis
Schon im Mittelalter zeichnete sich Riga durch Mehrsprachigkeit aus. Während als gesprochene Sprachen vor allem Mittelniederdeutsch, Lettisch und Livisch (etwa bis zum 15. Jahrhundert) gebraucht wurden, dominierten auf der schriftsprachlichen Ebene Latein, Mittelniederdeutsch und seit dem 16. Jahrhundert Hochdeutsch. Die einheimischen Sprachen Lettisch und das später im Lettischen aufgegangene Livisch übten auf die Rigaer Kanzleisprache keinen Einfluss aus, wenn man als solchen nicht die lettischen und livischen Orts- und Personennamen betrachtet, die in das Schrifttum der Kanzlei Eingang fanden. Die einheimische Bevölkerung scheint in jener Zeit im Einflussbereich des Mittelniederdeutschen als Verwaltungssprache gestanden zu haben, wovon u. a. zahlreiche mittelniederdeutsche Transferenzen in einer späteren Übersetzung der hochdeutschen Statuten (des Schragens) der Leineweber von 1625 ins Lettische zeugen wie z. B. lett. ammats (im hochdeutschen Text erscheinen ambt, ampt, handwerck) < mnd. ammet ›Handwerk; Handwerkszunft‹; lett. bysitters (hd. beisitzer) < mnd. bîsitter ›Beisitzer‹ u. Ä.
402
III. Kanzleien des Niederdeutschen
Riga hatte sich zum hanseatischen Hauptumschlagsplatz für den Russlandhandel entwickelt und somit war Russisch an der Ratskanzlei eine bedeutende Sprache. Die Stadt unterhielt im Rahmen des hanseatischen Handels intensive Beziehungen zunächst zu Nowgorod, dann zu Polozk, Smolensk und Witebsk. Aus Witebsk und Smolensk hat die Stadt Briefe in russischer Sprache erhalten, aus Polozk lateinisch und russisch verfasste. Die Rigaer Ratskanzlei hat sich lange an die lateinische Sprache gehalten. Der Übergang vom Lateinischen zum Niederdeutschen vollzog sich erst seit 1366. 1384 scheint die lateinische Sprache den Rigaer Ratsherren große Schwierigkeiten bereitet zu haben, so dass der Rat sich gezwungen sah, um die Übersetzung einer ihm verlesenen lateinischen Schrift in vulgari zu bitten, weil sie sonst unverständlich sei. In den Briefen erscheint das Niederdeutsche konsequent erst nach 1388 (vgl. Schmidt 1938, 21f.). Latein gewinnt an der Ratskanzlei erneut an Bedeutung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Erklärung dafür findet sich in dem neuen Abhängigkeitsverhältnis der Stadt. 1581 gerät sie unter die polnische Oberherrschaft, und die in dieser Zeit entstandenen Urkunden haben einen lateinisch verfassten einleitenden und abschließenden Teil als Bestätigung seitens des polnischen Königs (vgl. Lele 1995, 131).
4.
Anfänge des Mittelniederdeutschen an der Rigaer Ratskanzlei
Das Eindringen des Niederdeutschen in das Schrifttum der Ratskanzlei vollzog sich einerseits, ohne dass eine lateinische Vorlage heute feststellbar ist und dadurch hypothetisch eine eigenständige Entwicklung vermutet werden kann, andererseits aber geschah dies durch die Zunahme von niederdeutschen Transferenzen in den lateinischen Texten oder in Form von Übersetzungen aus dem Lateinischen. Die Anfänge des Mittelniederdeutschen in der schriftlichen Form der Verwaltung können noch vor dem niederdeutschen Sprachgebrauch an der Ratskanzlei veranschlagt werden. In erster Linie sind hier die Umgearbeiteten Rigischen Statuten zu erwähnen, die für die Stadtverwaltung maßgeblich waren. Dieses Stadtrecht, das etwa seit dem Ende des 13. bis zu den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts (vgl. Napiersky 1876 / 1976, LIII; Zeids 1992, 69) über das rechtliche Leben der Stadt und entsprechend auch über die Entstehung und Einhaltung der untergeordneten Rechtstexte bestimmte, war im Unterschied zu den vorangehenden lateinischen Statuten niederdeutsch. Laut Schmidt ist der Einfluss, den das Stadtrecht für die Rechtssprache hinsichtlich des Übergangs vom Lateinischen zum Niederdeutschen gespielt hat, »unverkennbar« (Schmidt 1938, 17). Die Umgearbeiteten Statuten, die man oft mit 1300 datiert (vgl. Hyldgaard-Jensen 1964, 72) haben als wichtigste Quellen das Hamburgisch-Rigische Recht (ca. 1295, vgl. Korlén 1950, 21), das eine Redaktion des Hamburger Rechts von 1270 für Riga darstellt, Nowgoroder Schra und das Lübecker Recht. Ein Vergleich des Hamburgisch-Rigischen Rechts (HRR) mit den Rigischen Umgearbeiteten Statuten (RUS) lässt erkennen, dass in Riga in jener Zeit schon eine eigene rechtssprachliche Tradition bestanden haben soll. Davon zeugt eine Reihe von den dabei vorgenommenen Abänderungen wie z. B. enen vervesteden man (HRR VIII, 2) – enen vredelosen man (RUS IX, 13); de hant afslan (HRR VII, 2) – de hant afhowen (RUS IX, 14); mit bosen worden (HRR VII, 2) – quade
25. Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga
403
wort (RUS IX, 16), mit echge wapene (HRR VII, 2) – mit egghachtighen wapene (RUS IX, 14). Die Form eggewâpen (dazu gehört auch echge wapen) erscheint z. B. nur in den nordalbingischen Texten, die Form egghacht gilt aber als westfälische, und ihre Verbreitung verlief in nordöstlicher Richtung (vgl. Hyldgaard-Jensen 1964, 90). Die Wahl des westfälischen Terminus, der auch in Lübeck verwendet wurde, zeugt von bewusster Anpassung an die Rigaer Tradition. Wie bekannt, hatte das Rigaer Mittelniederdeutsch infolge der Siedlungsgeschichte westfälische Züge. Eine andere durch den Stadtrat entstandene Textsorte, die das rechtliche Leben in der Stadt bestimmte, ist die so genannte Bursprake, wie die vom Rat jährlich zu St. Michaelis von der Rathauslaube verkündeten Verordnungen hießen. Aus der ältesten Zeit sind die lateinischen Bezeichnungen plebiloquium und civiloquium überliefert, später wurde die mittelniederdeutsche Form bursprake verwendet, aus der nach dem Übergang zum Hochdeutschen Bauersprache oder Baursprache entstand. Bekannt sind auch synonymische Bezeichnungen der Textsorte, z. B. Statuta eines Erbaren Radtts diesser Stadtt Riga ... genomett werdenn de Bursprake (Mitte des 16. Jahrhunderts), Der Stadt wilkührliche Gesetze vnd Rechte (Mitte des 17. Jahrhunderts) (vgl. Lele-RozentƗle 2003a, 119ff.). Die älteste erhaltene Rigaer Bursprake ist in mittelniederdeutscher Sprache verfasst und erst mit 1376 datiert. Vor 1376 findet man ihre Erwähnung in lateinischen Quellen, wie etwa in einem Brief des Rigaer Rats, vermutlich von 1346: Sic etenim nos de nostro plebiloquio, quod vulgariter proprie buersprake dicitur ... (vgl. Napiersky 1876 / 1976, LXXXVIII). In den Stadtbüchern erfolgt der Übergang zum Niederdeutschen allmählich. Im ältesten Erbebuch der Stadt Riga (1384–1482) z. B. erscheinen zuerst vor allem die niederdeutschen Bezeichnungen verschiedener städtischer Lokalitäten, unter denen die Straßennamen, Namen für verschiedene Bauten und für Gewässer einen wichtigen Platz einnehmen. Die in den Erbebüchern enthaltenen Inskriptionen sind schriftlich fi xierte Formen der Übertragung von Immobilienrechten, und aus diesem Grunde spielt die Identifikation des Ortes, der Person und der Immobilie eine wichtige Rolle. Das chronologisch geführte Stadtbuch ermöglicht die Diachronie zu verfolgen, wie dies z. B. anhand einer durch Geschäfte mit Immobilien im Erbebuch häufig erwähnten Straßenbezeichnung zu beobachten ist, vgl. in platea mercatorum (1385), in platea koopstrate (1404), in platea dicta kopstrate (1406), in platea mercatorum vulgariter coopstrate nuncupata (1412), in platea mercatorum vulgariter copstrate dicta (1412), in platea, que copstrate dicitur (1413) u. a. Dieser Vielfalt der lateinischen und niederdeutschen Wiedergabe der Straßenbezeichnung in lateinischen Eintragungen folgt ab 1417 eine vor allem nur graphetisch variierende Bezeichnung im Niederdeutschen, z. B. in der copstraten, kopstraten, coepstraten, koppstraten, koeppstraten, koeppstrate, copstrate, kopstrate (vgl. LeleRozentƗle 2008, 111). Vor dem endgültigen Übergang zum Niederdeutschen haben sich die Schreiber mit Hilfe von expliziten Hinweisen wie dicta, dicitur um die im Text erforderliche Genauigkeit bemüht. Diese und andere Formen des expliziten Hinweises auf die von den schriftsprachlichen lateinischen unterschiedlichen sprechsprachlichen niederdeutschen Benennungen häufen sich kurz vor der endgültigen Ablösung des Lateinischen durch das Mittelniederdeutsche.
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
Das Eindringen der niederdeutschen Benennungen in den lateinischen Texten vollzog sich mit zunehmender Intensität. So stehen z. B. 1416 in den lateinischen Inskriptionen gegenüber der einzigen ausschließlich lateinischen Straßenbenennung (in platea institorum) sechs verschiedene niederdeutsche Benennungen mit Hinweis auf die gesprochene niederdeutsche Bezeichnung, alle nach dem gleichen Muster angeführt, vgl. platea, que dicitur de ... (niederdeutscher Straßenname). Die Tendenz zur Zunahme des niederdeutschen Einflusses wird somit auch durch die Vereinheitlichung des verwendeten Musters begleitet (vgl. Lele-RozentƗle 2008, 112). Der Übergang zum Niederdeutschen in anderen Stadtbüchern verlief ähnlich. Laut Schmidt (1938, 23) beginnt das Niederdeutsche z. B. im ersten Band der Kämmereiregister (1348–1361) allmählich »[...] in Form von Worterklärungen den lateinischen Text durchzusetzen«, nach 1405 vollzieht sich im zweiten Band der Übergang zur niederdeutschen Geschäftssprache und auch das Landvogteibuch ist seit 1407 ausschließlich niederdeutsch.
5.
Schreiber und Sprachformen
Die Funktionen der Schreiber und der Ratskanzlei in Riga scheinen mit denen in den deutschen Städten, wie sie von Eberhard Isenmann beschrieben sind, übereinzustimmen (vgl. Isenmann 1988, 143f.). Ein notarius civitatis wird das erste Mal urkundlich 1330 erwähnt, und es ist anzunehmen, dass er auch die Tätigkeit des Stadtschreibers ausübte, wie dies in den deutschen Städten des Spätmittelalters die Tradition war. In der Mitte des 14. Jahrhunderts erscheinen in den Stadtbüchern die Bezeichnungen boda notarii, notaria, casa scriptorum, die mit der späteren scriuerie des Rats identisch sein könnten. Die Eintragungen im Rigischen Schuldbuch von dem ersten namentlich bekannten Notar Andreas, einem Kleriker, stammen aus den Jahren 1314–1332. Schmidt vermutet für die Zeit vor 1347 das Vorhandensein einer Neuordnung des gesamten Kanzleiwesens an der Rigaer Ratskanzlei, in deren Folge die meisten bis heute überlieferten Stadtbücher angelegt wurden, und zwar: 1347 das Missivbuch, 1348 die Kämmereiregister der Stadt, 1349 die zweite Redaktion der Libri redituum, ca. 1360 das Erbebuch und 1382 das Buch der Landvögte. Gleichzeitig mit der Tätigkeit des ersten akademisch gebildeten und aus Riga stammenden Stadtschreibers Johann Stadis (1404–1411) scheint sich die Situation an der Ratskanzlei geändert zu haben. Vom Wachstum des Arbeitsumfangs an der Rigaer Ratskanzlei zeugt Anfang des 15. Jahrhunderts die Tatsache, dass man zugleich bis zu vier Handschriften feststellen kann: die des Obersekretärs, des Untersekretärs, der dem Vogteigericht beigeordnet war und die Handschriften von zwei Substituten. Diese Anzahl soll ihre Gültigkeit bis ins 16. Jahrhundert gehalten und den Grundbestand bei der neuen Kanzleiordnung von 1598 gebildet haben (vgl. Schmidt 1938, 8ff.). Von 1314, als der erste namentlich bekannte Stadtschreiber Notar Andreas seine Tätigkeit aufnahm, bis 1561 sind 21 Namen der Schreiber bekannt, die Gesamtzahl der Handschriften ist aber viel größer. Nicht von allen namentlich bekannten Schreibern aus dieser Zeit ist deren Herkunfts- und Ausbildungsort festzustellen, was für die Untersuchung der Entwicklung der Rigaer Kanzleisprache aber von großer Bedeutung wäre.
25. Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga
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Die bis jetzt bekannten unterschiedlichen Herkunftsorte haben ohne Zweifel zur Vielfalt der sprachlichen Charakteristika in den Kanzleitexten beigetragen. So sind z. B. im 14. Jahrhundert als Herkunftsorte der Stadtschreiber die ermländische Diözese, Lübeck und die Brandenburger Diözese bekannt, im 15. Jahrhundert waren Münder (Hannover, Kreis Springe), Riga, Seehausen im Bezirk Magdeburg und Lübeck Herkunftsorte der Schreiber, im 16. Jahrhundert bis zur Auflösung des Ordensstaates 1561 Riga, Lüneburg, Parchim in Mecklenburg, Danzig, Göttingen und Allendorp an der Werra. Von den Universitäten, die auch an der Sprache der Schreiber mitgewirkt haben dürften, sind für das 15. Jahrhundert Heidelberg und Rostock, für das 16. Jahrhundert mehrfach Rostock, außerdem Köln, Krakau und Göttingen bekannt. Die Anzahl der gebürtigen Rigenser unter den Schreibern an der Rigaer Ratskanzlei ist auffallend gering. Im 15. Jahrhundert waren es zwei: der schon erwähnte Johann Stadis (1404–1411) und Hermann Helewegh (1454–1481), im 16. Jahrhundert wieder nur zwei: Wennemar (Wilmar, Wolmar) Mey (1502–1506) und der hochdeutsch schreibende David Hilchen (1585–1589). Von den namentlich bekannten Substituten stammte aus Riga nur einer: Joachim Schmiedt (1558–1564). Die anderen bekannten Herkunftsorte von den Substituten waren Danzig und Hamm in Westfalen (vgl. Schmidt 1938, 85f.). Die metasprachlichen Äußerungen zur Spezifik des baltischen Mittelniederdeutsch, die in der Fachliteratur anzutreffen sind, können durch die Stichwörter Sprachkontakt einschließlich Diglossie, und sozialstrukturelle Aspekte zusammengefasst werden (vgl. Lele 1995, 123f.). Schmidt hebt die ursprüngliche Präsenz des Westfälischen in der Stadt hervor und setzt für die gesprochene Sprache in Riga im 13. und 14. Jahrhundert westfälische Umgangssprache voraus. Für das 14. Jahrhundert lässt sich ihrer Meinung nach eine Kanzleitradition verfolgen, die als »westfälisch-nordniedersächsische Mischsprache« bezeichnet werden kann und die sich im 15. Jahrhundert an das Ostelbisch-Lübische anlehnt. Der letzte Unterschreiber, der noch westliche Formen verwendete, war an der Kanzlei 1410–11 tätig. Die Untersuchungsergebnisse der Rigaer Kanzleitexte lassen keine ostfälischen und niederländischen Spuren erkennen, was laut Schmidt auch zu erwarten war, »da hierfür auch die Voraussetzungen fehlen« (Schmidt 1938, 26ff.). In den Rechtsquellen selbst gibt es einen Hinweis auf das Westfälische in der Einleitung zur hochdeutschen Übersetzung (1613) des mittelniederdeutsch verfassten Schragens der Großen Gilde der Kaufleute in Riga von 1354. Dieser mittelniederdeutsche Schragen wurde immer wieder durch neue Artikel ergänzt, bis 1613 die Übersetzung ins Hochdeutsche erfolgte. In der Einleitung, die drei Jahre nach der letzten niederdeutschen Ergänzung des Schragens von Antonius Frölich, Ältermann der Großen Gilde, für die hochdeutsche Übersetzung verfasst wurde, weist ihr Verfasser und Übersetzer auf die Notwendigkeit der Übersetzung hin: (1)
[…] und soll fur erst der Gildestuben Schragen inn diesz Buch insz Reine geseczet und ausz dem westphälischen Teutschen inn unsere jiztge Sprache transferiret und übergeseczet werden, damit es jederman deutlich verstentlich lesen und verstehen müge. (vgl. Lele-RozentƗle 2003b, 71)
Die Antwort auf die Frage, warum Antonius Frölich die Sprache des Schragens als westfälisches Deutsch bezeichnet, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die geringe Zahl der
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
westfälischen Merkmale sowie das Vorhandensein von Doppelformen wie z. B. olderlude und alderlüde erlauben aus der heutigen Sicht nicht, den Text des Schragens als westfälisch zu betrachten. Anhand des 1599 angelegten Quartalschossbuchs lässt sich deutlich die vorwiegend lübische Herkunft der Rigaer Kaufleute feststellen (vgl. Schmidt 1938, 3). Man kann nicht ausschließen, dass hier das historische Gedächtnis der Rigenser bezüglich der westfälischen Anwesenheit in der Vergangenheit zum Ausdruck kommt. Dazu könnte auch der ältere Teil der Artikel des Schragens beigetragen haben, der in Formulierungen sowie auch in Formen stark von der Tradition des 16. bzw. von Anfang des 17. Jahrhunderts abweicht (vgl. Lele-RozentƗle 2001, 31).
6.
Zum niederdeutsch-hochdeutschen Ablösungsprozess
Der Übergang zum Hochdeutschen vollzog sich an der Rigaer Ratskanzlei ähnlich wie im norddeutschen Raum. Das Mittelniederdeutsche blieb gewöhnlich im Innendienst der Kanzlei länger im Gebrauch als im Außendienst (vgl. Bischoff 1983, 114). Als Ursachen des Niedergangs der mittelniederdeutschen Schriftsprache werden meist das Erstarken der europäischen Nationalstaaten, die Konkurrenz seitens der süddeutschen Städte, divergierende Interessen der Hansestädte und kultureller Niedergang erwähnt (vgl. Gabrielsson 1983, 120ff.). Die drei von Artur Gabrielsson angeführten Phasen des Übergangsprozesses (ebd., 126ff.) treffen auch für Riga zu. Dieser Prozess verlief von der Verhochdeutschung einzelner Formen und Übernahme der Titel, Anredeformen, Kanzlei- und Rechtswörter sowie kanzleisprachlicher formelhafter Wendungen über die hyperkorrekten Formen und nicht selten das so genannte Missingsch zum hochdeutschen Grundcharakter der Texte mit niederdeutschen Sprachresten, unter denen insbesondere die Kanzleiausdrücke und formelhafte Wendungen der Urkundensprache hervortreten. Typisch ist laut Gabrielsson die Situation, in der die Ratsprotokolle und die Eintragungen in die Stadtbücher, die Abfassung von Verordnungen sowie das Kopieren von Briefen als Tätigkeiten aufgefasst wurden, für die die Sprache nicht so wichtig war. So konnte dies den Sekretären und ihren Substituten überlassen werden, die oft niemals aus ihrer Heimatstadt herausgekommen sind und denen die Anwendung der hd. Sprache deshalb große Schwierigkeiten bereitet. Die Ratsrentebriefe, Zunfturkunden und Verordnungen des Rats müssen sogar noch längere Zeit nd. bleiben, weil sie sonst von den meisten Menschen gar nicht verstanden würden. (Ebd., 132)
Den Anfang des Hochdeutschen an der Rigaer Ratskanzlei leitete ein hochdeutsch verfasster Brief ein, der von dem aus Danzig stammenden Ratssekretär Johann Lohmüller am 2. November 1520 an den Hochmeister des Deutschen Ordens gerichtet wurde. Briefe aus den Kanzleien des Erzbischofs und des Ordenmeisters an den Rat aber sind erst nach 1540 vorwiegend hochdeutsch geschrieben. Bei der Rezeption der hochdeutschen Sprache an der Rigaer Ratskanzlei sollen die Reformation und die damit verbundene Verlagerung der politischen Interessen sowie auch die engen Verbindungen mit Preußen mitgewirkt haben. Der Ratssekretär Johann Lohmüller war z. B. dank seiner Kenntnis
25. Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga
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des Hochdeutschen für den regen, hochdeutsch geführten Briefwechsel mit Königsberg zuständig. Nach Lohmüller (1532) sind nur solche Stadtschreiber in den Dienst genommen, die auch des Hochdeutschen mächtig waren (vgl. Schmidt 1938, 54f.). Die niederdeutsche Sprache in den Urkunden ist länger erhalten geblieben. Die letzte niederdeutsche Originalurkunde ist mit 1553 datiert, die letzte niederdeutsche Urkundeneintragung im Denkelbuch des Rigaer Rats mit 1568. Die erste hochdeutsche Originalurkunde erscheint im Zeitraum von 1540–1545, die ersten vier hochdeutschen Urkunden-Eintragungen im Denkelbuch von 1550–1555 (vgl. ebd., 84). Der Übergang zum Hochdeutschen geht mit einem Stilwandel der an der Ratskanzlei verfassten Texte einher. So hat sich z. B. beim gleichbleibenden Grundmuster im zweitältesten Erbebuch (1493–1579) in den 60er- und 70er-Jahren des 16. Jahrhunderts fast vollständig ein Austausch von Titulaturen des Stadtrats vollzogen. So ist z. B. die Ende des 15. / Anfang des 16. Jahrhunderts verbreitete Form vor deme Ersame sittende Rade in den 60er- und 70er-Jahren des 16. Jahrhunderts fast in allen Inskriptionen des Erbebuchs durch vor eynem Erbaren Rade ausgetauscht. Zu beobachten ist auch eine verstärkte Tendenz zum Gebrauch von formelhaften kanzlei- und rechtssprachlichen Wendungen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erscheint eine Reihe neuer idiomatisierter Formulierungen wie z. B. erflich vnd eigenthumblich, mit consent vnd bewilligung u. a. Sporadisch erscheinen in den stark formalisierten Eintragungen Reflexe der gesprochenen Sprache, oft in der Form von Diminutiva. So erscheinen z. B. in einer Inskription von 1574 drei Formen des Substantivs ›Haus‹ (nd. huße, halb verhochdeutschte Form heuseken und hd. heußlein), von denen zwei Diminutiva sind, vgl. ... ein heuseken belegen negst ahn vorgemeltem seinem großem huße und tuschen seligen heren Melcher Kirchhofs verlehnten heußlein. Der Übergang zum Hochdeutschen erfolgte vor allem auf der schriftsprachlichen Ebene, das Niederdeutsche war aber noch bis in das 18. Jahrhundert hinein als mündliches Kommunikationsmittel in Gebrauch.
7.
Zur Rolle der Übersetzung
Die meist anonym gebliebene Übersetzertätigkeit sorgte für die langfristige Sicherung der notwendigen Kontinuität in allen Lebensbereichen der Sprachgemeinschaft, und ihre Folge war die Übernahme sowohl von lexikalischen Einheiten als auch von Textmustern. Die älteste Erwähnung von Ausgangs- und Zielsprache der Übersetzung findet sich im Schragen der Gilde des heiligen Kreuzes und der Dreifaltigkeit, einer mit dem 18. November 1252 datierten Pergamenthandschrift, die höchstwahrscheinlich an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert niedergeschrieben wurde. Sie geht auf ein lateinisches Original oder eine lateinische Vorlage zurück, worauf in der Einleitung zu den Artikeln auch explizit hingewiesen ist: de schra der gilde vnde broderschop des hilligen / geistes de to latine gescreven was vnde in dutsch gebracht wart (vgl. dazu Schmidt 1938, 16; Lele-RozentƗle 2003b, 69f.). Die Übersetzungs- und Dolmetschtätigkeit war eine der Aufgaben der Stadtkanzlei, auch wenn dies bis zur Einführung der neuen Kanzleiordnung 1598 kaum explizit be-
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
legt ist. Es hat danach Schreiber mit deutscher, lateinischer, polnischer und russischer Sprachkompetenz gegeben. Das waren die für das Lateinische und Deutsche zuständigen Kanzleiverwandten oder Conzipisten und der ihnen etwa gleichgeordnete Schreiber für russische und polnische Sachen, zu dessen Aufgaben auch das Amt des Übersetzers beim Gericht gehörte (vgl. Schmidt 1938, 78f.; Zeida 1974, 66). Die Erwähnung der übersetzerischen und Dolmetschtätigkeit findet sich in den Eintragungen der Ausgabenregister der Kämmerei und auch z. B. in einem in Kokenhusen (Koknese) am 15. Mai 1510 ausgestellten Brief, in dem der Erzbischof von Riga den Rat um seinen russischen Dolmetscher bittet, da er mit einigen Russen, die bereits beim Ordensmeister gewesen seien, zu verhandeln habe: Szo hebben wy up ditmael nenen Ruschen tolcken by uns, begeren vruntlik, gy uns jwen Ruschen tolcken (vgl. Lele 1995, 130). Eine für die Übersetzungsgeschichte im Bereich der Verwaltung wertvolle, bis jetzt aber nicht ausführlicher analysierte Quelle stellen die mittelniederdeutsch verfassten Umgearbeiteten Rigischen Statuten dar. Es ist bekannt, dass sich die hochdeutschen Versionen des Codex schon im 16. Jahrhundert sowie auch später im Besitz der Ratsherren befanden. Die Übersetzung der mittelniederdeutsch verfassten Statuten ins Hochdeutsche erfolgte offensichtlich schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Auf einem der hochdeutschen Exemplare mit dem Titel Dat Rigische beschreuen Recht, 1538 findet sich die Notiz: Die Version in die hochteuttsche Sprach ist des Herrn Doct. Wachmanns (vgl. Napiersky 1876 / 1976, LXIII-LXIV; Lele 1995, 131). Als Ergebnis niederdeutsch-hochdeutscher Übersetzungstätigkeit sind außer den Statuten und Schragen auch die Burspraken bekannt. Ihre Heranziehung für vergleichende historische Übersetzungsstudien ist eine zukünftige Aufgabe. Zur Sprachform und zum Inhalt dieser Texte kann zunächst aber bemerkt werden, dass sie sich trotz ihrer jeweiligen aktuellen Bedeutung durch einen konservativen Charakter auszeichneten. Ein Vergleich der Artikel in ihrer diachronischen Abfolge ermöglicht den Sprachwandel zu verfolgen. Zur Illustration dafür sollen Beispiele aus vier Burspraken dienen, von denen die erste aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (mnd.) stammt (2), als zweite deren spätere, nicht datierte Übersetzung ins Hochdeutsche (3), als dritte eine vermutlich verbesserte Variante dieser Übersetzung (4) und als vierte die Bursprake aus der Mitte des 17. Jahrhunderts (5). (2)
Ock gebudt ein Erbar Radt, datt nemandt perde kopen sall vth den schepen, so vth der Sehe kahmen, ehr datt de stallherren darby gewesen sin, by vorborung der perde.
(3)
Auch gebeutt E.E.R. d(a)s niemandt / pferde kauffen … soll auß den Schiffen, so aus / der see kommen, ehe d(a)s die Stalheren / dabey gewesen seien, bey verborung/ der pferde.
(4)
Auch gebeut ein Erb. Rath, d(a)ß niemandt pferde kauffen / soll, aus den schiffen so aus der See kommen, ehe der / Stallherr dabei gewesen ist, bei verlust der pferd.
25. Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga
(5)
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Item es gebeuth E. Erb. Rath, das Niemandt Pferde kauffen soll aus den Schiffen, so auß der See kommen, ehe der Stalherr dabey gewesen ist, bey verlust der Pferde.
Die älteste hochdeutsche Variante der Bursprake, die so genannte Baursprache (3) ist noch stark an die mittelniederdeutsche Vorlage gebunden, wovon u. a. folgende Übereinstimmungen zeugen wie z. B. … ehr datt de …(2) und … ehe d(a)s … (3); … by vorborung der perde (2) und … bey verborung der pferde (3). Die späteren Verbesserungen der sprachlichen Ausdrucksform betreffen sowohl die syntaktische (Verlust von das) als auch die lexikalische Ebene (Austausch von verborung durch verlust). Der Austausch von Auch durch Item kann als weitere sprachliche Bearbeitung des Textes aufgefasst werden. Aus einem derartigen Vergleich der Texte, die nicht nur in geschriebener Form als kanzleiinterne Texte gebraucht, sondern auch vorgelesen wurden und somit eine Wirkung auf die Bürger der Stadt ausübten, geht deutlich hervor, dass die in der Forschung wenig beachteten Übersetzungen als wichtiger und unvermeidbarer Bestandteil des Sprachwandelprozesses aufgefasst werden können (vgl. Lele-RozentƗle 2003b, 75).
8.
Forschungsdesiderate und -möglichkeiten
Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen zur Sprache der Rigaer Ratskanzlei gestatten einige Schlüsse in Bezug auf die Desiderate und gleichzeitig weitere Forschungsmöglichkeiten zu formulieren. Noch immer kann als aktuelle Aufgabe die systematische Untersuchung von Einzelquellen, vor allem von Stadtbüchern genannt werden, die für die Aufdeckung des Sprachwandels unumgänglich sind. Um die Heterogenität, die durch die unterschiedlichen Herkunftsregionen der Schreiber entstanden ist, auszuwerten und die Frage nach der Kanzleitradition in Riga stellen zu dürfen, kann als Defizit auch die systematische Analyse derjenigen Texte betrachtet werden, die von namentlich bekannten Schreibern stammen. Das breite Spektrum der Sprachkontaktauswirkungen stellt ein weiteres Desideratum dar. Nicht nur die lateinisch-mittelniederdeutschen und niederdeutsch-hochdeutschen Ablösungsprozesse mit den sie begleitenden Sprachkontaktauswirkungen gehören zu den Forschungsaufgaben, sondern auch die Auswirkung der Kanzleisprache auf das außerhalb der Kanzlei entstandene Schrifttum. Dieser Aspekt verdient besondere Aufmerksamkeit, wenn man in Betracht zieht, dass die Befreiung vom so genannten Urkundenstil ein allmählicher Prozess gewesen ist. Die Untersuchung der Ausstrahlung der Kanzleisprache auf kanzleiexterne Texte wie z. B. Briefe oder verschiedene Aufzeichnungen, die in der Anfangsphase in Bezug auf ihren Stil und ihre Struktur deutlich einen Mischcharakter aufweisen, ist bis jetzt nur ansatzweise erfolgt. Eng verbunden mit der Notwendigkeit der Fortsetzung und Erweiterung kontaktlinguistisch ausgerichteter Forschungen ist der Bedarf an Übersetzungsanalysen. Zahlreiche Übersetzungen, die die Rechtskontinuität in der Stadt gewährleisteten, haben auch zur Entwicklung sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten und -formen beigetragen. Die im Historischen Staatsarchiv aufbewahrten Archivalien ermöglichen eine umfangreiche Forschungstätigkeit im zweisprachigen Textvergleich. Die Rigaer kanzleisprachlichen
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III. Kanzleien des Niederdeutschen
Texte sind in Anlehnung an die in den deutschen Hansestädten bekannten Muster entstanden, gleichzeitig galt die Rigaer Ratskanzlei als bedeutendes Zentrum der Schriftlichkeit in Livland. Bis jetzt fehlt es an vergleichenden Studien ausgewählter Textsorten aus Riga und anderen livländischen oder auch anderen hanseatischen Quellen. Aus diesem Grunde wäre auch der Kontakt zu anderen livländischen Kanzleien, soweit dies die Quellenlage erlaubt, ein kontaktlinguistisch wichtiges Forschungsgebiet.
9.
Literatur
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25. Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga
411
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IV. KANZLEIEN AUF HOCHDEUTSCHEM SPRACHGEBIET
Peter Wiesinger, Wien (Österreich)
26. Bairisch-österreichisch – Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 6. 6.1. 6.2. 6.3. 7.
1.
Einleitung Die Habsburger als neue österreichische Herrscher Das städtische Urkundenwesen Das Aufkommen des städtischen Urkundenwesens Latein und Deutsch im städtischen Urkundenwesen Die urkundlichen Tätigkeiten des Stadtrates Der Stadtschreiber und die Entwicklung einer Stadtkanzlei Das habsburgische Urkundenwesen Die Anfänge der herzoglichen Kanzlei Die Umstrukturierung der herzoglichen Kanzlei von 1349 Die verschiedenen habsburgischen Kanzleien 1298–1406 Latein und Deutsch im habsburgischen Urkundenwesen Lateinische und deutsche Formularsammlungen Das Kanzleiwesen unter den Kaisern Friedrich III. und Maximilian I. 1439–1519 Die spätmittelalterlichen schreibsprachlichen Verhältnisse in Wien Die soziale Zusammensetzung der Stadtbevölkerung und die gesprochene Sprache Die schreibsoziologische Differenzierung der frühneuhochdeutschen Schreibsprache Wiens Usuelle bairisch-frühneuhochdeutsche schreibsprachliche Erscheinungen Neutrale und dialektale bairisch-frühneuhochdeutsche schreibsprachliche Erscheinungen Die Wiener Kanzleien und ihr schreibsprachliches Verhalten Die Stadtkanzlei Die herzogliche Kanzlei Die Kanzleien der Kaiser Friedrichs III. und Maximilians I. 1439–1519 Literatur
Einleitung
Ein deutschsprachiges Kanzleiwesen entwickelte sich in Wien erst seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, nachdem die Habsburger die österreichische Herrschaft angetreten hatten. Dabei gab es einerseits die dem Stadtrat unterstehende Stadtkanzlei und andererseits die landesfürstliche Kanzlei des Herzogs, doch kam es angesichts von Herrschaftsteilungen unter Brüdern und Vettern zeitweilig auch zu mehreren, nebeneinander bestehenden herzoglichen Kanzleien. Mit Kaiser Friedrich III. (1440 / 52–93) trat die Reichskanzlei hinzu, die aber nur zeitweilig selbständig und meist mit der erbländischen Hofkanzlei verbunden war. Bestand nur eine landesfürstliche Kanzlei, so war ihr fester Sitz gleich der späteren Reichskanzlei Wien. Bei vorübergehenden Herrschaftsteilungen befanden sich zugehörige Länderkanzleien zeitweilig auch in Innsbruck und Graz. Das Kanzleipersonal begleitete den Herrscher besonders als König bzw. Kaiser stets auf seinen Reisen, um jeweils vor Ort die anstehenden Rechtsangelegenheiten auszuführen. Zwar
416
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
urkundeten auch die zahlreichen Wiener Klöster und führten Verwaltungsbücher bzw. sie erhielten Urkunden bezüglich Besitzwidmungen und Seelgerätschaften von Bürgern, die damit meistens einen der zahlreichen Berufsschreiber befassten. Das betraf vor allem das 1155 gegründete Schottenstift, dessen Mönche bis 1418 fremde Iroschotten waren, ehe sie von einheimischen Benediktinern abgelöst wurden. Diese von Mönchen oder Berufsschreibern ausgeführten Tätigkeiten brachten jedoch keine der Stadt und dem Landesfürsten vergleichbare Kanzleieinrichtungen mit sich. Die folgende Darstellung behandelt daher nur das städtische und das landesfürstliche Kanzleiwesen sowie die spätere Reichskanzlei. Dabei ist einzuräumen, dass seitens der historischen Diplomatik alle Kanzleiwesen nur teilweise aufgearbeitet sind, so dass für den anstehenden spätmittelalterlichen Zeitraum von 240 Jahren von den Anfängen um 1280 bis zum Tod Kaiser Maximilians I. 1519 große Lücken bestehen. Nicht viel anders verhält es sich mit der germanistischen Sprachwissenschaft. Hier wurde das kanzlistische Frühneuhochdeutsche ebenfalls bloß für bestimmte Zeitabschnitte und das nur graphematisch untersucht. Dadurch besteht auch auf diesem Gebiet Lückenhaftigkeit und es müssen Morphologie, Syntax, Lexik und textlinguistische Fragen mit Formelhaftigkeit und Stil überhaupt erst zukünftig erforscht werden. Hingegen waren die Urkunden des Schottenstiftes ebenso Gegenstand graphematischer Untersuchungen, wie auch einzelne geistliche Texte der so genannten theologischen Wiener Schule aus der Zeit von rund 1380–1410 linguistisch behandelt wurden. Für den frühen Abschnitt wurde auch das Verhältnis von lateinischen und deutschen Urkunden ermittelt.
2.
Die Habsburger als neue österreichische Herrscher
Nachdem 1246 Herzog Friedrich II. der Streitbare gefallen und mit ihm die männlichen Babenberger ausgestorben waren, begann in Österreich parallel zum zehn Jahre später einsetzenden Interregnum des Reiches eine herrscherlose Zeit, während der sich der ehrgeizige König Przemysl Ottokar II. von Böhmen des Herzogtums Österreich mit Ober- und Niederösterreich und bis 1260 König Bela IV. von Ungarn des Herzogtums Steiermark bemächtigte, ehe König Ottokar auch dort die Herrschaft übernahm und sie bis Kärnten und Krain nach Süden ausdehnte. Der neue deutsche König Rudolf I. (1273– 91) aus dem Hause Habsburg besiegte schließlich 1278 in der Schlacht von Dürnkrut auf dem Marchfeld nordöstlich von Wien König Ottokar, der fiel. Nach Befriedigung noch erbrechtlicher Ansprüche weiblicher Babenberger Nachkommen ernannte König Rudolf 1281 seinen tatkräftigen ältesten Sohn, den späteren deutschen König Albrecht I. (1298–1308), zum Landesverweser von Österreich und der Steiermark mit Krain und der Windischen Mark und belehnte 1282 ihn und kurzfristig auch seinen Bruder Rudolf II. mit beiden Herzogtümern, womit die über 630-jährige Herrschaft der Habsburger begann. Die Habsburger ließen sich in der schon babenbergischen Hauptstadt Wien nieder und bezogen die bereits von den Babenbergern begonnene und König Ottokar fortgeführte Hofburg. Zwar hatte schon König Rudolf I. 1278 zur Gewinnung der Bürgerschaft für den neuen landesfremden Herrscher der Stadt die Reichsfreiheit gewährt, aber das Misstrauen schlug bald in Widerstand und Ablehnung um, als das neue Herzogspaar ein
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
417
alemannisches Gefolge aus der Schweiz, dem Oberelsass, aus Südbaden und Schwaben nach sich zog. Herzog Albrecht versuchte dadurch gegenzusteuern, dass er der Stadt 1296 die Privilegien nahm und ihr ein neues Stadtrecht mit der Stärkung der Position des Landesfürsten aufzwang. Erst unter seinem ältesten Sohn und Nachfolger, Friedrich I. dem Schönen (1308–30), der wie sein jüngerer Bruder Leopold I. einen traditionellen, landesgewohnten Babenberger-Namen erhalten hatte und von 1314–25 auch Gegenkönig zu Ludwig dem Bayern war, legten sich die Widerstände, wenn es auch später immer wieder Spannungen zwischen der Stadt und dem Landesfürsten gab.
3.
Das städtische Urkundenwesen
Für sämtliche die Stadt betreffenden Urkunden von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert im Wiener Stadtarchiv und in auswärtigen Archiven steht in den Quellen zur Geschichte der Stadt Wien die Erschließung durch Regesten zur Verfügung. Diplomatische Untersuchungen des Kanzleiwesens erfolgten jedoch bloß für die ersten 150 Jahre von den Anfängen um 1280 bis 1430 (vgl. Luntz 1917a, b; Winkler 1940), so dass im Folgenden nur dieser Zeitraum behandelt wird. 3.1.
Das Aufkommen des städtischen Urkundenwesens
Der Aufstieg der Stadt Wien hatte bereits in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts unter den letzten Babenberger Herzögen begonnen, nachdem Leopold VI. der Stadt 1221 ein sie förderndes neues Stadtrecht verliehen hatte, das dann Friedrich II. der Streitbare 1244 erneuerte und ausweitete. In beiden Fassungen wurden die Rechtsangelegenheiten so geregelt, dass die Rechtskraft noch durch Zeugenbeweis zustande kam. Das bedeutet, dass es unter den letzten Babenbergern noch kein geregeltes städtisches Urkundenwesen gab. So besaß die Stadt 1221 auch kein Siegel, das die Voraussetzung für die Beglaubigung und damit die Rechtskraft von Urkunden bildet. Über ein solches verfügte 1227 nur das Schottenstift und als erste Amtsperson ab 1233 sein Abt. Ab etwa dieser Zeit ist auch ein Stadtsiegel nachgewiesen. Seit der Jahrhundertmitte siegelten auch einzelne Großbürger und adelige Damen sowie ab 1258 auch die Pfarre St. Stephan, während Bürgerswitwen erst ab 1288 ein Siegel verwendeten. Das zeigt, dass die Ausstellung von Urkunden gegenüber dem älteren Zeugenbeweis erst im Lauf der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts an Boden gewann, wenn neben dem Siegel auch der nun schriftliche Zeugenbeweis zusätzlich erhalten blieb. Daher blieben bis 1321 Stadturkunden mit Zeugenreihen gegenüber solchen ohne diese noch in der Mehrzahl. Erst im 3. Jahrzehnt gingen sie rasch zurück und waren ab 1333 nur mehr seltene Ausnahmen. Zugleich aber nahmen die Urkunden ab 1330 überhaupt ständig zu. 3.2.
Latein und Deutsch im städtischen Urkundenwesen
Einer Popularisierung des Urkundenwesens stand zunächst die lateinische Sprache entgegen, deren Kenntnis vornehmlich auf die Geistlichkeit und die geschulten Schreiber
418
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
beschränkt war. Die den Bürgern verständliche deutsche Urkundensprache brachten erst die Habsburger aus dem Südwesten des deutschen Sprachraumes mit, wo sie zum Zeitpunkt ihres österreichischen Herrschaftsantrittes bereits eingebürgert war. Stellte Herzog Albrecht I. bereits 1281 der Stadt ein deutschsprachiges Privileg aus, so stammt die erste deutschsprachige Ausstellerurkunde des Stadtrates erst von 1287. Anfänglich gegenüber lateinisch abgefassten Urkunden noch in der Minderzahl, nahm das Deutsche ständig zu und setzte sich in der Stadtkanzlei bereits ab 1293 mehrheitlich durch und das auch in für Klöster bestimmten Urkunden. Während Ratsurkunden in fremder Sache, wo der Rat für Bürger als Rechtsträger fungierte und siegelte, bereits seit 1289 deutsch abgefasst wurden, behielten Ratsurkunden in ehafter Not (propter necessitatem) – hier entschied der Rat die Notwendigkeit von Verkäufen in Erbangelegenheiten von Verwitweten und Unverheirateten – bis 1302 ausschließlich das Lateinische bei, um dann erst dem Deutschen zu weichen. Ab 1305 urkundete der Stadtrat nur mehr für kirchliche Körperschaften und teilweise für Klöster lateinisch. In solchen Fällen erfolgten zum Teil aber auch doppelte lateinische und deutsche Ausfertigungen. Ab 1310 gebrauchten selbst geistliche Aussteller für geistliche Empfänger bereits mehrheitlich das Deutsche. Nach Luntz (1917a, 26) ergibt sich für die beiden Jahrzehnte 1288–1307 insgesamt folgende Sprachenverteilung in den Ratsurkunden: Jahr
lateinisch
deutsch
Jahr
lateinisch
deutsch
1288
5
1289
4
2
1298
2
5
4
1299
2
2
1290
3
2
1300
2
6
1291
5
2
1301
–
12
1292
4
2
1302
6
8
1293
2
9
1303
2
11
1294
–
1
1304
2
12
1295
–
5
1305
–
15
1296
–
4
1306
–
10
1297
3
2
1307
–
12
Tab. 1: Sprachenverteilung in Ratsurkunden (1288–1307) nach Luntz (1917a, 26)
3.3.
Die urkundlichen Tätigkeiten des Stadtrates
Da ab Beginn des 14. Jahrhunderts Bürger zunehmend über ein eigenes Siegel verfügten, nahmen nicht nur durchwegs deutsche Privaturkunden ständig zu, sondern es gingen im selben Maß die Ratsurkunden in fremder Sache zurück, um ab 1320 rasch auszulaufen. Hingegen entschied der Rat bis in die 1340er-Jahre weiterhin die Fälle ehafter Not, die zuletzt 1348 belegt sind. Neue Aufgaben im Urkundenwesen aber kamen dem Stadtrat insofern zu, als der tatkräftige Herzog Rudolf IV. der Stifter (1358–65) durch
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
419
Verordnung bestimmte, dass einerseits Immobiliengeschäfte vor diesem abzuführen sind, wodurch der Stadt das Verwaltungsrecht über den Grundbesitz eingeräumt wird, und dass andererseits Testamente nur dann Rechtskraft erlangen, wenn sie entweder vor zwei Zeugen oder eidesstattlich vor dem Stadtrichter erklärt und in das Stadtbuch eingetragen werden. Ersteres hatte zur Folge, dass die neue Form der Grundsiegelurkunde aufkam – benannt nach dem sigillum fundi civitatis – und, da Testamente meist die Übertragung von Grundbesitz betrafen, für beides Geschäftsbücher angelegt werden mussten. Insgesamt betraf die urkundliche Tätigkeit des Stadtrates verschiedene Verwaltungsangelegenheiten, gerichtliche Entscheidungen und privatrechtliche Regelungen der Stadtgemeinde, wozu auch die Verwaltung des Bürgerspitals gehörte. Neben zahlreichen Urkunden sind an Verwaltungsschriften der Stadt aus der Zeit 1370–1430 erhalten: die Satzbücher A1 (1373–88), A2 (1390–1418) und B (1420–30); das Kaufbuch C (1373–88), die Gewerbücher B2 (1373–1419, 1420–30), das Verbotbuch (1373–99), die Geschäftsoder Stadtbücher (1395–1430), das Gültebuch (1418), die Stadtrechnungen (1424, 1436) und die Stadtrechtbücher (1435). Die verschiedenen Verordnungen des Stadtrates sowie die die Stadt und ihre gesellschaftlichen Einrichtungen betreffenden Erlässe und Privilegien des Landesfürsten wurden von 1320 bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts in das nach seinem Einband benannte Eisenbuch als Stadtrechtsbuch eingetragen und gesammelt, wobei neben den dort festgehaltenen Abschriften oft auch die Originale erhalten sind (vgl. Oppl 2010). 3.4.
Der Stadtschreiber und die Entwicklung einer Stadtkanzlei
Als erster namentlich nachweisbarer Wiener Stadtschreiber tritt 1276 ein gewisser Fridericus auf, dem eine Reihe nur zum Teil namentlich bekannter Stadtschreiber folgte. Ihre zeitliche Tätigkeit ist weniger durch namentliche Nennungen in Urkunden als vielmehr durch Schriftvergleiche mit von ihnen angefertigten und datierten Urkunden bestimmbar. Auf solche Weise kann sowohl ihre Wirkungszeit als auch die von zeitweilig herangezogenen Hilfsschreibern ermittelt werden. Der Titel des Stadtschreibers lautete lat. notarius civium oder civitatis / dt. statschreiber, während die verschiedene Schreibtätigkeiten ausübenden Personen lat. scriptor / dt. schreiber bezeichnet wurden. Bis um die Mitte des 14. Jahrhunderts hatte der Stadtschreiber die Urkunden des Rates zu verfassen und zu schreiben und ab ca. 1320 auch die Eintragungen ins Eisenbuch zu besorgen, die Stadtrechnungen zu führen und die Korrespondenz zu erledigen. Er nahm an den Sitzungen des Rates teil, verlas dort Schriftstücke, verzeichnete die Beschlüsse und erstattete Bericht über seine Tätigkeiten. Beim Schreiben von Urkunden wurde er gelegentlich von Hilfsschreibern unterstützt. Erst die mit den Verordnungen von Herzog Rudolf IV. ab 1360 auf den Stadtrat zugekommenen vermehrten Aufgaben führten zur Entstehung einer Stadtkanzlei im eigentlichen Sinn, indem die Schreibaufgaben nun von einzelnen Schreibern besorgt wurden, während der Stadtschreiber selber bloß die Aufgaben verteilte und überwachte, dafür aber für den Rat die verschiedenen Verhandlungen mit Bürgern, Ämtern und Delegationen führte, wie er auch im Auftrag des Rates Reisen in auswärtigen Angelegenheiten unternahm. Zwar sind die Schreiber anhand ihrer Schrift ermittelbar, aber namentlich nur teilweise
420
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
bekannt. In der Zeit von 1381 bis 1430 lassen sich 29 verschiedene Schreiberhände feststellen, aber nur sieben Schreiber über einen längeren Zeitraum verfolgen. So war z. B. S19 1385–1405, S26 1399–1414 und S33 1419–29 tätig. Trotzdem waren sie keine festen Angestellten, sondern wurden bloß für ihre jeweilige Tätigkeit entlohnt. Bezüglich ihrer Herkunft waren die Stadtschreiber Wiener Bürger und wohl kaum Zugewanderte. Alle Stadtschreiber beherrschten Latein, das sie wohl in der Stephansschule gelernt haben dürften, verfügten aber bis über die Mitte des 14. Jahrhunderts über keine höhere Ausbildung, zumal erst Herzog Rudolf IV. 1365 die Universität gründete. Ihre Angehörigen erfüllten dann diverse Schreibaufgaben, und ihre Absolventen, besonders jene der juridischen Fakultät, übernahmen fortan höhere Verwaltungsämter. Die Stadtschreiber genossen in der Bevölkerung hohes Ansehen und wurden gerne zu Mitsieglern von Privaturkunden gebeten. Teilweise wurden sie auch als Mitglieder in den Stadtrat aufgenommen, was jedoch erst im 15. Jahrhundert allgemeiner Brauch wurde. Da sie ein regelmäßiges gutes Gehalt bezogen, erwarben sie sich Wohlstand, was ihnen den Besitz oft mehrerer Häuser in der Stadt und von Weingärten in den Vorstädten und Vororten ermöglichte. Gegenüber dem Amt des Stadtschreibers gab es in Wien auch zahlreiche Berufsschreiber, die besonders für Bürger und Klöster tätig waren und neben Buchtexten vor allem seit 1320 die vom Rat losgelösten Privaturkunden verfassten. Sie wurden teilweise noch als lat. notarius – so z. B. im Gültebuch des Schottenstiftes von 1314, mehrheitlich aber als lat. scriptor / dt. schreiber bezeichnet. Als Urkundenschreiber nannten sie sich teilweise auch hantfestschreiber. Zu ihnen gehörten seit 1360 auch die Hilfsschreiber der Stadtkanzlei. Die Zahl dieser Schreiber dürfte stets verhältnismäßig groß gewesen sein, denn schon 1304 ist eine eigene Schreiberzeche nachgewiesen.
4.
Das habsburgische Urkundenwesen
Da die systematische Erarbeitung von Regesten der habsburgischen Urkunden in den Anfängen stecken blieb, gibt es solche zunächst nur für die Zeit Albrechts I. von 1281–88 (vgl. Steinacker 1934) und die Königszeit und Spätzeit Friedrichs des Schönen von 1314– 1330 (vgl. Groß 1924). Erst 2007 wurde die Regestenarbeit mit der Zeit Albrechts III. ab 1365 wieder aufgenommen (vgl. Lackner 2007, 2010). Das umfängliche Urkundenmaterial Kaiser Friedrichs III. (1440–93) ist als Regesten in 22 Heften aufgearbeitet (vgl. Koller / Heinig / Niederstätter 1982–2007). Leider ist das habsburgische Kanzleiwesen des 13. und 14. Jahrhunderts nur für die Zeit Albrechts I. zunächst als Verwalter der Erbbesitzungen von 1273–90 und dann als österreichischer Herzog von 1281–98 (vgl. Luntz 1917) sowie für die Zeit der Herzöge Albrecht III. (1365–95), Albrecht IV. (1395–1404) und Wilhelm (1386–1406) diplomatisch untersucht worden (vgl. Lackner 2002), während für die dazwischen liegende Zeit nur ein Überblick vorliegt (vgl. Stelzer 1984). Erst für die Zeit der Kaiser Friedrich III. und Maximilian I. gibt es wieder Untersuchungen. Wir beschränken uns im Folgenden daher nur auf die erforschten Zeiträume.
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
4.1.
421
Die Anfänge der herzoglichen Kanzlei
Als die Habsburger 1278 nach Wien kamen und 1281 / 82 die Regentschaft über die Herzogtümer Österreich und Steiermark antraten, waren sie zugleich Herren über ihren zerstreuten Erbbesitz in der Schweiz, im Oberelsass, in Südbaden und in Schwaben. Im Gegensatz zum Wiener Stadtrat, der mit seinem Stadtschreiber und seit rund 1360 mit der Stadtkanzlei nur die Rechtsgeschäfte des Stadtgebietes und seiner Bürger zu verwalten hatte, oblag den Habsburgern die ungleich größere Verwaltung noch dazu räumlich getrennter Herrschaftsgebiete im Osten und im Westen, die dann später vom neuen Herrschaftssitz Wien aus die Bezeichnung Vorlande erhielten. Das führte nicht nur zeitweilig zu getrennten Verwaltungen unter Brüdern und Vettern und wurde bezüglich der Vorlande mit der Erwerbung Tirols 1363 zur Regel, wie es auch mit der vorübergehenden Aufspaltung in eine österreichisch-albertinische und eine steirisch-leopoldinische Linie von 1379 bis 1463 und zeitweilig noch in eine tirolische Linie 1406–90 zu Herrschafts- und Verwaltungsteilungen kam, sondern erforderte auch die zeitweilige Errichtung mehrerer Kanzleien. Zur Entwicklung der habsburgischen Kanzlei in Wien stellte König Rudolf I. seinem Sohn Herzog Albrecht I. Personal aus der Reichskanzlei mit dem Protonotar Benzo aus der mittelrheinischen Diözese Worms zur Verfügung. Bis über die Mitte des 14. Jahrhunderts stand der Kanzlei der zumeist geistliche Protonotar (lat. protonotarius / dt. obrister schreiber) vor, dem mehrere Notare als Schreiber (lat. notarius oder scriptor / dt. schreiber) zur Hand gingen. Unter diesem Kanzleipersonal fungierte ein Notar als Stellvertreter des Protonotars, der als dessen socius bezeichnet wurde und oftmals ebenfalls Geistlicher war. Obwohl der Protonotar der Vorstand der Kanzlei war, übte er wie der Stadtschreiber zunehmend eine politische Verhandlungs- und Gesandtschaftstätigkeit aus. Seine administrative Funktion bestand in erster Linie darin, die von den Notaren erarbeiteten Urkundenkonzepte zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, ehe jene nach Billigung die Reinschrift ausführten, oder dies Hilfsschreibern übertrugen. Wahrscheinlich war es der Stellvertreter des Protonotars, der als bereits länger dienender und erfahrener Notar die Kanzleigeschäfte unmittelbar leitete und überwachte. Gleich dem Protonotar genoss auch sein Stellvertreter hohes Ansehen, so dass beide als Geistliche Pfründen und nach längerer Kanzleileitung meist auch höhere kirchliche Ämter erhielten. Ja selbst gewöhnliche Notare wurden, soweit sie Geistliche waren, auf solche Weise befördert. Bereits der dritte Protonotar Herzog Albrechts I. ab 1295 war Österreicher, und im 15. Jahrhundert folgten den Geistlichen teilweise auch weltliche Kanzleileiter. 4.2.
Die Umstrukturierung der herzoglichen Kanzlei von 1349
Da sich die Tätigkeit des Protonotars zunehmend auf das politische Gebiet verlagert hatte und die Kanzleiführung fast gänzlich an den stellvertretenden Notar übergegangen war, kam es gegen die Mitte des 14. Jahrhunderts auch zu einer entsprechenden Umstrukturierung der Kanzlei und der Ämter. So avancierten 1349 unter Herzog Albrecht II. (1330–58) der Protonotar zum Kanzler und der stellvertretende Notar zum Protonotar. Je nach seiner Persönlichkeit und seinem Einfluss war der Kanzler der unmittelbare Ge-
422
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
schäftsführer des Herzogs und hatte als solcher auch einen festen Platz im Rat. Mit der Kanzlei war er nur mehr indirekt verbunden, indem er grundlegende Verträge aushandelte, die dann beurkundet wurden, und Erlässe formulierte. Die eigentliche Kanzleiführung oblag dem Protonotar, der auch mit Petenten am Hof verhandelte und kleinere Missionen unternahm. Zugleich vergrößerte sich je nach Anforderung das Kanzleipersonal, was zu rangmäßigen Abstufungen führte. So gab es zeitweilig nicht nur mehrere Protonotare und Notare, sondern in den 1390er-Jahren regelmäßig auch fünf gleichzeitige Schreiber. Obwohl Schreiber durchaus aufrücken konnten, betätigten sie sich einige jahrelang bloß als Ingrossatoren, was offenbar auf ihre Abhängigkeit vom Protonotar zurückging. Solche Schreiber wirkten neben der Kanzleitätigkeit wegen ihres Ansehens bei der Bürgerschaft auch als öffentliche Notare. Namentlich und biographisch sind in der Zeit von 1349 bis 1406 nicht nur die Kanzler und Protonotare bekannt, sondern auch 21 Schreiber, die sowohl aus dem Donauraum Österreichs und Bayerns und aus Tirol als auch aus der Schweiz stammten, was, da sie aus dem bairischen und alemannischen Dialektraum kamen, auch für ihre Schreibsprache von Bedeutung ist. Obwohl es seit 1350 auch einige Sekretäre gab, die als lat. secretarius / dt. haimlicher bezeichnet wurden, bestand kein notwendiger Zusammenhang mit der Kanzlei, wenn einige dieser auch angehörten. Sie waren vielmehr Ratgeber und besondere Vertrauensmänner des Herzogs, als welche sie auch die Bezeichnung lat. consilarius / dt. rat erhielten. 4.3.
Die verschiedenen habsburgischen Kanzleien 1298–1406
Als Herzog Albrecht I. 1298 zum König des Reiches gewählt worden war, übertrug er seinem ältesten Sohn Rudolf III. (1298–1307) die Führung des Herzogtums und gab ihm den Schweizer Berthold von Kyburg als Protonotar der Kanzlei, der wie auch weitere Protonotare an der Universität Bologna zum Juristen ausgebildet worden war. Berthold setzte seine Tätigkeit bis 1314 fort, nachdem Rudolf III. 1306 für ein Jahr König von Böhmen geworden war und starb, so dass der zweitälteste Sohn Friedrich I. der Schöne die Herrschaft antrat und sie nach dem Tod des Vaters König Albrechts I. ab 1308 mit seinem jüngeren Bruder Leopold I. gemeinsam führte. Obwohl Friedrich die Unteilbarkeit der habsburgischen Länder erklärt hatte, was Leopold erst 1313 anerkannte, überließ er ihm jedoch bis zu dessen Tod 1326 die Führung der Vorlande. Dazu richtete Leopold eine eigene Kanzlei ein, die der Schweizer Burkhard von Fricke, ein Schreiber König Albrechts I., als Protonotar leitete, der wohl auch Schreiber aus den alemannischen Vorlanden beschäftigte. Burkhard legte dort auch das große habsburgische Urbar und die Lehensverzeichnisse der Vorlande an. Mit der Wahl Friedrichs 1314 zum Gegenkönig gegen Ludwig den Bayern übernahm seine Wiener herzogliche Kanzlei auch die königlichen Reichsgeschäfte, wobei Konrad von Meinwang 1317–19 und der Straßburger Bischof Johann von Zürich 1320–26 als Protonotare wirkten und aus den Vorlanden auch alemannische Schreiber nach Wien mitbrachten. Als Friedrich 1322 nach der verlorenen Schlacht von Mühldorf von König Ludwig gefangen gesetzt wurde, ergab sich die Notwendigkeit der Weiterführung der österreichischen Regentschaft, die nun von Friedrichs jüngeren Brüdern Albrecht II., Otto dem Fröhlichen und dem wenig bedeutsamen Heinrich († 1327) gemeinsam übernommen wurde. Da Friedrich 1324 freigekommen
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
423
und Herzog Leopold I. 1326 gestorben war, gab es bis zu Friedrichs Tod 1330 zunächst von 1322–26 drei und dann zwei Kanzleien. Letztere bestanden unter der gemeinsamen Regentschaft Albrechts und Ottos von 1330 bis zum Tod Ottos 1339 fort, ehe schließlich Albrecht II. bis zu seinem Tod 1358 Alleinregent war. Er führte nicht nur 1349 die schon genannte Umstrukturierung der Kanzlei durch, sondern ließ auch verschiedene Register und ein Lehenbuch anlegen. Unter ihm kamen auch die Kanzleivermerke auf. Hatten die habsburgischen Kanzleien je nach Anlass seit den Anfängen dreierlei Arten von Urkunden als einfache, gehobene und feierliche ausgestellt, die auf Grund von Konzepten nach dem üblichen Aufbauschema zur Gänze die Schreiber anfertigten, so erfolgten unter dem neuerungsfreudigen Herzog Rudolf IV. dem Stifter (1358–65) wesentliche Veränderungen. Nicht nur dass der Herzog das Kanzleipersonal seines Vaters zur Gänze entließ und von seinem Kanzler, dem Schweizer Johann Ribi von Platzheim bzw. Lenzburg das Kanzleiwesen neu ordnen ließ, führte er auch die prunkvolle Urkunde ein, die er selbst je nach Art und Bedeutung in dreifach abgestufter Weise eigenhändig unterfertigte. Zudem stellte er einen Großteil der Urkunden und Diplome an Tagen aus, an denen zahlreiche namhafte geistliche und weltliche Persönlichkeiten am Hof weilten und als Zeugen genannt werden konnten, um dadurch die Gewichtigkeit der Dokumente noch zusätzlich zu erhöhen. Neu ist auch die vom Kanzler auf Urkunden eingeführte Rekognitionsformel. Ferner sind viele Urkunden mit Kanzleivermerken versehen, die bereits der Vater Albrecht II. eingeführt hatte (vgl. Kürschner 1872). Schließlich wollte Rudolf die äußere Bedeutung seiner Kanzlei noch dadurch hervorkehren, dass er nach böhmischem und kurfürstlich-geistlichem Vorbild beabsichtigte, den Propst des von ihm am Stephansdom eingerichteten Allerheiligenkapitels mit der Würde eines Erzkanzlers auszustatten und den amtierenden Kanzler zum Hofkanzler zu befördern. Dazu aber kam es durch den Tod des Herzogs 1365 nicht mehr, und die ihm nachfolgenden jüngeren Brüder Albrecht III. und Leopold III. kehrten gänzlich zum Kanzleiwesen des verstorbenen Vaters Albrechts II. zurück, obwohl Johann Ribi bis zu seinem Tod 1374 weiterhin als Kanzler verblieb. Für die folgende Zeit von 1365 bis 1406 hat Lackner (2002) das komplizierte Kanzleiwesen genau untersucht, die Zuordnung der Urkunden an nicht weniger als 75 Schreiberhände ermittelt und auch sprachliche Hinweise zu einzelnen Schreibern gegeben. Unter Herzog Albrecht III. (1365–95) lassen sich drei Kanzleiphasen beobachten. Zunächst erfolgte bis 1372 die gemeinsame Regierung mit dem Bruder Leopold III., der bereits seit der Abwehr des bayerischen Einflusses auf Tirol ab 1368 eigene Urkunden für die Vorlande ausstellte und 1373 eine eigene Kanzlei einrichtete, wo er hauptsächlich Tiroler Schreiber beschäftigte. Nach der Länderteilung der Brüder 1379 im Vertrag von Neuberg übernahm 1380 der einflussreiche Bischof von Freising, Berthold von Wehingen, das albertinische Kanzleramt. Er erwirkte 1384 für die Wiener Universität vom Papst die Errichtung der theologischen Fakultät und damit den Ausbau zur Volluniversität und gewann für sie Professoren aus Paris, darunter Heinrich von Langenstein, was unter Förderung des Herzogs zur so genannten Wiener Schule mit deutscher Übersetzungsliteratur laienkatechetischen und historischen Schrifttums führte (vgl. Wolf 2006). In der Kanzlei ließ Berthold vor allem das Lehenbuch Albrechts III. anlegen, das dann von mehreren Schreibern bis 1395 fortgeführt wurde. Mit dem Tod Leopolds 1386 in der
424
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Schlacht von Sempach verfiel dessen Kanzlei, und Albrecht vereinigte nicht nur wieder die habsburgischen Länder, sondern vergrößerte dazu auch die Kanzlei und ihr Personal, ehe Leopolds III. Sohn Leopold IV. (1386–1411) 1392 für die Vorlande wieder eine eigene Kanzlei erhielt. In Albrechts Kanzlei wurden nun u. a. die beiden Kopialbücher mit den Kanzleiabschriften der Urkunden von 1369 bis 1384 und 1384 bis 1393 sowie für die Jahre 1392–94 ein Rechnungsbuch (vgl. Lackner 1996) angelegt. Nachdem 1395 Albrecht III. gestorben war, beanspruchte Herzog Wilhelm (1386– 1406), der älteste Sohn Leopolds III., als Senior des Hauses die Herrschaft gegenüber Albrecht IV. (1395–1404), dem Sohn Albrechts III., was zwar zur gemeinsamen Regierung, aber mit getrennten Kanzleien führte. Schließlich beschlossen 1396 Wilhelm und sein jüngerer Bruder Leopold IV. die Teilung des väterlichen Erbes, indem Leopold weiterhin Tirol und die Vorlande behielt, während Wilhelm die Steiermark, Kärnten, Krain und die friaulischen Besitzungen übernahm und Albrecht IV. Österreich behielt, wofür er sofort sein Lehenbuch anlegen ließ. Diese Teilungen hatten drei Kanzleien zur Folge. Nach dem Tod Albrechts IV. 1404 übernahm Wilhelm, ehe er 1406 selber starb, die Herrschaft über den minderjährigen Albrecht V. und löste alle Kanzleien zugunsten seiner eigenen auf. Ihm folgte bis zu seinem eigenen Tod 1411 in Österreich, Kärnten und Krain Leopold IV. mit seiner eigenen Kanzlei, während Ernst der Eiserne die Steiermark und Friedrich IV. mit der leeren Tasche (1406–1439) Tirol und die Vorlande und nach Ernsts Tod ab 1424 auch die Steiermark übernahm und sich ein jeder seine eigene Kanzlei einrichtete. 4.4.
Latein und Deutsch im habsburgischen Urkundenwesen
Zu den Verteilungen von lateinischen und deutschen Urkunden gibt es nur Teiluntersuchungen für die Königszeit Friedrichs des Schönen (1314–30) und aus dem Beginn für seinen Bruder Leopold I. (vgl. Wiesinger 1977, 560ff.). Für Friedrich, Leopold und die gemeinsamen Beurkundungen seien das Anfangsjahr vom Oktober 1314 bis Ende 1315 sowie für Friedrich allein noch die Jahre 1319 und 1327 ausgewählt. Jahr
Friedrich
Leopold
Friedrich + Leopold
lateinisch
deutsch
lateinisch
deutsch
lateinisch
deutsch
1314/15
100=91%
10=9%
9=12%
65=88%
6=43%
8=57%
1319
13=46%
15=54%
1327
6=22%
21=78%
Tab. 2: Verteilung von lateinischen und deutschen Urkunden
Das fast umgekehrte Verteilungsverhältnis für Friedrich und Leopold am Beginn erklärt sich dadurch, dass Friedrichs Königsurkunden überregional waren und weitgehend Reichsangelegenheiten betrafen. Er bevorzugte die Internationalität des Lateinischen für Personen in Mittel- und Norddeutschland, wo vom oberdeutschen abweichende Dialekt- und Schreibverhältnisse herrschten, für Kirchen und Klöster, für die Erneuerung älterer, lateinisch abgefasster Privilegien sowie für Personen aus fremdsprachigen Ge-
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
425
bieten. Dagegen urkundete Leopold in erster Linie für die Vorlande der Nordschweiz, des Oberelsass und Südbadens, wo die Verwendung des Deutschen zu dieser Zeit bereits selbstverständlich war. Leopolds lateinische Urkunden ergingen an kirchliche Institutionen sowie an Personen außerhalb seines Territoriums, die wie Reichsangelegenheiten behandelt wurden. Im Jahr 1319 entfallen von den ausschließlich landesfürstlich-österreichischen Urkunden Friedrichs 13 lateinische auf 12 Männerklöster und eine als Erneuerung eines lateinischen Privilegs auf die Stadt Enns. Von den 15 deutschen Urkunden sind bestimmt drei für Frauenklöster, wo Latein wenig beherrscht wurde, sieben für einzelne Personen, drei als neue Privilegien für Städte sowie zwei für kirchliche Institutionen. Hingegen betreffen 1327 von 21 deutschen Urkunden sechs Männer- und drei Frauenklöster, acht österreichische Städte und Institutionen und fünf einzelne Personen, während von den sechs lateinischen Urkunden zwei an Männer- und eine an ein Frauenkloster, zwei an kirchliche Institutionen und eine an eine ausländische Persönlichkeit gerichtet sind. Während Friedrichs Regierungszeit schränkte sich also der Gebrauch des Lateinischen zunehmend auf ausländische Persönlichkeiten, Männerklöster und kirchliche Institutionen ein, doch nahm auch für letztere die Verwendung von Deutsch zu. Dieses Verhalten setzte sich in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts seit Albrecht III. fort, indem lateinische Urkunden fremdsprachige Städte, Regenten und Persönlichkeiten, höhere Geistliche, Gelehrte der Universität sowie Städte im Fall von Erneuerungen älterer lateinisch abgefasster Privilegien erhielten (vgl. Lackner 2002, 240). Latein fungierte also als internationale Koine und als Sprache der Universität und der Kirche in inneren Angelegenheiten. Aber als Herzog Rudolf IV. 1365 die Wiener Universität stiftete, ließ er die Gründungsurkunde sowohl lateinisch als auch deutsch abfassen. 4.5.
Lateinische und deutsche Formularsammlungen
In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass in den habsburgischen Kanzleien Formularsammlungen als Vorbilder für die Abfassung von Urkunden und Briefen sowohl in lateinischer als auch in deutscher Sprache entstanden. Es ist zunächst eine unter dem Namen Wiener Briefsammlung von Magister Gotfrid, dem zweiten Protonotar Herzog Albrechts I., von 1287 bis 1295 angelegte Sammlung von 323 lateinischen Beispielen hauptsächlich der Jahre 1273 bis 1278 (vgl. Redlich 1894). Ein Formularbuch im Gießener Kodex 632 mit 105 deutschen Urkunden geht auf die Zeit Albrechts III. um 1380 zurück und könnte vielleicht von Rüdiger von Hainburg zusammengestellt worden sein (vgl. Seelbach 2004). Ein weiteres Formularbuch enthält 155 lateinische und deutsche Urkunden und Briefe – die erste deutsche Urkunde von 1387 – aus der Zeit Albrechts III. und IV. von 1361 bis 1396 und wurde von zwei Schreibern angelegt, doch wegen sieben nachgetragener Urkunden von 1417 bis 1420 erst unter Herzog Albrecht V. zusammengebunden (vgl. Peters 1956).
426
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
4.6.
Das Kanzleiwesen unter den Kaisern Friedrich III. und Maximilian I. 1439–1519
Das habsburgische Kanzleiwesen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts wurde nur teilweise untersucht. Für die lange Regierungszeit Friedrichs, der als österreichischer Herzog (1439) die Zahl V und als deutscher König (1440) und Kaiser (1452–93) die Zahl III trägt, hat Heinig (1997) das Kanzleiwesen mit Organisation und Personal erarbeitet. Weiters enthält der Teildruck der verschollenen Dissertation von Genzsch (1930) ein nützliches Verzeichnis der an der Anfertigung der Urkunden beteiligten Kanzlisten. Für das Kanzleiwesen von Friedrichs III. Sohn Maximilian I., der ab 1486 deutscher König und 1508–19 Kaiser war, gibt Janþar (1897) einen Überblick unter Einbeziehung der Einzelfragen gewidmeten Studien von Adler (1886) und Seeliger (1889). Eine neuere Zusammenschau unter Berücksichtigung einzelner neuerer Detailuntersuchungen bietet Moser (1977). Das letzte Regierungsjahrzehnt Maximilians untersucht Hollegger (1983). Die lange Regierung Friedrichs III. war sowohl nach innen als österreichischer Herrscher als auch nach außen als deutscher König und Kaiser eine Zeit großer Wirren, Auseinandersetzungen, Bedrängnisse und Kriege. Nach dem Tod des österreichischen Herzogs Albrechts V. 1439, der seit 1411 selbständig regiert hatte und 1437 nach dem Tod seines Schwiegervaters König bzw. Kaiser Sigmunds Böhmen und Ungarn übernommen hatte und 1438 als Albrecht II. zum deutschen König gewählt worden war, übernahm Friedrich für dessen nachgeborenen Sohn Ladislaus die Vormundschaft und damit die Herrschaft über die Donauländer, die er mit seinen innerösterreichischen Ländern vereinigen konnte. Als aber Ladislaus 1457 starb, musste Friedrich sofort auf Böhmen und bald danach zugunsten von Matthias Hunyadi Corvinus auf Ungarn verzichten, während ihm sein jüngerer Bruder Herzog Albrecht VI. das Land ob der Enns (Oberösterreich) abzwang. Als aber jener 1463 plötzlich gestorben war, gelang Friedrich endgültig die Vereinigung der östlichen Erbländer. Hingegen hatten die Tiroler Stände schon 1446 die unabhängige Regentschaft des nun volljährigen Herzogs Sigmund, des Sohnes Herzog Friedrichs IV. mit der leeren Tasche (1406–39) erzwungen, so dass Tirol und die Vorlande eigene Wege gehen konnten. Hinsichtlich des Kanzleiwesens führte der letzte Luxemburger, König Sigmund (1410– 37, Kaiser 1433) in Prag einerseits eine Reichskanzlei und andererseits, da er auch König von Ungarn war, aber dieses nicht zum Reich gehörte, eine eigene ungarische Kanzlei. Beide Kanzleien und ihr Personal übernahm 1437 Herzog Albrecht V. / König Albrecht II. und schloss sie seiner erbländischen österreichischen Kanzlei an. Als Friedrich III. 1439 für Ladislaus Postumus die Regentschaft antrat, setzte er das vorhandene Kanzleiwesen fort und fügte ihm seine innerösterreichische Kanzlei hinzu, so dass sich nun drei Kanzleien ergaben: die speziell der donauländischen Verwaltung dienende österreichische Kanzlei, die für erbländische Angelegenheiten zuständige Hofkanzlei und die Reichskanzlei, die zwar das vorhandene Personal Sigmunds und Albrechts behielt, aber um die Zeit der Krönungsreise nach Aachen 1442 neu organisiert wurde. Gemeinsamer Sitz aller Kanzleien war das Kanzleihaus der donauländischen Kanzlei in Wien, von wo aus ein Teil des Personals der Hof- und Reichskanzlei den Herrscher zur Erledigung der Rechtsgeschäfte auf seinen Reisen begleitete. Nach der Krönungsreise gelang es Friedrich, mit Hilfe seines neuen Reichskanzlers, des Egerländers Kaspar Schlick, den kurfürstlich-mainzischen
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
427
Druck auf die Reichskanzlei zurückzudrängen und 1445 mit der Ernennung von Bischof Sylvester von Chiemsee zum österreichischen Kanzler die ständischen Einflussnahmen auf die Hofkanzlei auszuschalten. Fortan wurde im zeitgenössischen Brauch die Reichskanzlei als römische Kanzlei und die für die Erbländer zuständige Hofkanzlei österreichische Kanzlei genannt. Schon seit 1442 wurde in beide Kanzleien neues, besonders österreichisches Personal aufgenommen, das jedoch nicht immer die benannte Funktion ausübte. So war z. B. Enea Silvio Piccolomini 1442 zwar als Notar bedienstet worden, wirkte aber bald als einflussreicher königlicher Ratgeber. Die große Zahl von Kanzlern, Protonotaren, Sekretären und Notaren / Schreibern beider Kanzleien wird namentlich aufgelistet und mit ihren Biographien behandelt von Heinig (1997, Bd. 1, 576ff. und 633ff.). Sie stammten in der österreichischen Kanzlei mehrheitlich aus den Erbländern, während die römische Kanzlei von Anfang an ein großes Einzugsfeld aus dem Reich hatte. Für letztere gelang es bereits Genzsch (1930) durch Schriftvergleiche der Urkunden 66 Notare / Schreiber festzustellen und davon 52 namentlich zu identifizieren. Während das eigentliche Regierungsinstrument Friedrichs stets die österreichische Kanzlei war, verpachtete er 1458–64 die römische Kanzlei, wobei die Gründe dafür nicht recht klar sind, und es übernahm sie 1471–75 der Mainzer Erzbischof Adolf von Nassau als Reichskanzler. Das bedeutete trotz der weiterhin engen Verbindung des Herrschers mit der mit ihm reisenden Kanzlei insgesamt eine Verminderung seines Einflusses auf die Reichsangelegenheiten, und umgekehrt erlangte die Kanzlei je nach der Stellung ihres Kanzlers und seines Einflussbereiches durch die ihm nahe stehende Klientel größere Selbständigkeit. Diese Abtretungen mit jeweils selbständiger Wahl des Kanzleipersonals hatten auch die Beschäftigung von Schreibern besonders aus dem alemannischen, bairischen und rheinfränkisch-mainzischen, aber auch hessischen und niederdeutschen Sprachraum zur Folge. Nachdem sich der alternde Kaiser ab etwa 1480 allmählich zurückzog und 1486 sein Sohn Maximilian I. zum deutschen König gewählt worden war, behielt Friedrich weiterhin seine beiden Kanzleien und Maximilian richtete sich eine eigene königliche Kanzlei ein, wobei sich die schon länger bestehende Zusammenarbeit des Personals fortsetzte. Aber mit der Übernahme von Tirol und den Vorlanden nach der Resignation von Herzog Sigmund 1490 und damit der nunmehrigen Alleinherrschaft Maximilians über alle Erbländer änderte sich auch das Kanzleiwesen, das Maximilian nun völlig neu ordnete. Dabei knüpfte er an die in Innsbruck bestehenden Tiroler Verhältnisse an und setzte wegen seiner häufigen Abwesenheiten besonders im Zusammenhang mit der 1477 erworbenen burgundischen Herrschaft ein relativ selbständig agierendes Regiment ein. Es wurde von einem Kanzler geleitet und war mit Ausnahme der verselbständigten Finanzbehörde für die allgemeine Verwaltung, das Lehens- und das Gerichtswesen in den so genannten oberösterreichischen Ländern Tirol und den Vorlanden zuständig. Es lieferte das Vorbild für das nach Friedrichs III. Tod von Tiroler Beamten 1493 / 94 eingerichtete so genannte niederösterreichische Regiment für die Donauländer, die Steiermark, Kärnten, Krain, Friaul und Istrien. Nach der Neuordnung von 1501 umfasste letzteres sechs getrennte Kollegialbehörden mit dem Regiment in Linz, dem Hofgericht in Wiener Neustadt sowie der Hofkammer, der Rechenkammer, der Hauskammer und dem Hofrat in Wien, wobei 1502 an die Stelle des leitenden Hofrates der österreichische Kanzler trat.
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Nach dem Tod Kaiser Friedrichs III. 1493 ging zwar dessen Hofkanzlei an Maximilian über, aber bezüglich der Reichskanzlei hatte Maximilian 1486 die Zustimmung des Mainzer Kurfürsten und Erzbischofes Berthold von Henneberg zur Königswahl mit dem Zugeständnis der Reaktivierung des Erzkanzleramtes und einer unter dessen Leitung stehenden selbständigen Reichskanzlei erkauft, wo alle das Reich betreffenden Urkunden und Erlässe auch im Namen des Erzkanzlers gezeichnet werden sollten. Berthold drängte nun auf die Verwirklichung. Das hatte zur Folge, dass neben der fortbestehenden Hofkanzlei, die in erster Linie das Organ für die erbländischen Regierungsangelegenheiten war und die aber auch als königliche Privat- und Kabinettskanzlei fungierte, nun wieder eine selbständige Reichskanzlei für die Reichsangelegenheiten trat, von der sich der Erzkanzler Einflussnahme auf die königlichen Geschäfte und deren Kontrolle erhoffte. So wurde das bisher mehr oder minder gemeinsam arbeitende Kanzleipersonal nun strenger zugeteilt und Mainzer Beamte kamen zu der weiterhin in Wien verbleibenden Reichskanzlei hinzu. Trotz der von ihm erlassenen Kanzleiordnung konnte daher Berthold von Mainz aus nicht in den Geschäftsgang eingreifen, was es Maximilian ermöglichte, die Reichsangelegenheiten zunehmend unter Umgehung Bertholds in seiner Hofkanzlei zu erledigen. So erließ Maximilian 1498 eine neue Hofordnung, wonach die Hofkanzlei sowohl für Angelegenheiten der Erbländer als auch des Reiches zuständig ist. Berthold aber trachtete seine Rechte dadurch zu wahren, dass er die Reichskanzlei vom Hof in Wien löste, indem er sie zu einem Instrument des Reichsregiments machte und nach Nürnberg verlegte. In diesen Auseinandersetzungen blieb schließlich der König siegreich, indem er 1502 die Wirksamkeit des Reichsregiments aufhob und damit auch der vom Erzkanzler geleiteten Reichskanzlei ein Ende setzte. Damit gab es fortan neben den Länderkanzleien nur mehr die sowohl für das Reich als auch die Erbländer zuständige Hofkanzlei. Der führende Protonotar und eigentliche Kanzler Maximilians war seit 1496 der Südtiroler Cyprian Northeim, genannt Sernteiner aus der Tiroler Kanzlei, obwohl er erst 1508 den Titel des Hofkanzlers erhielt. Er führte die Geschäfte bis zum Tod des Kaisers 1519 und stand dann noch bis zu seinem eigenen Ableben 1524 im Dienst Ferdinands I. Durch ihn kamen auch Tiroler in die Hofkanzlei.
5.
Die spätmittelalterlichen schreibsprachlichen Verhältnisse in Wien
Wie schon eingangs erwähnt, gibt es nur wenige Untersuchungen und steht dabei die Graphematik im Vordergrund, so dass sich die folgenden Ausführungen hauptsächlich auf diese beziehen. 5.1.
Die soziale Zusammensetzung der Stadtbevölkerung und die gesprochene Sprache
Bezüglich der Untersuchung der frühneuhochdeutschen kanzleisprachlichen Verhältnisse Wiens im Spätmittelalter seit 1280 ist vorauszuschicken, dass für deren Verständnis zunächst die soziale Zusammensetzung der Stadtbevölkerung von Bedeutung ist. Schon die ältere Forschung hat bezüglich des Wiener Stadtdialekts im Verhältnis zum ländlichbäuerlichen Dialekt der niederösterreichischen Umgebung bei gemeinsamer mittelbairi-
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
429
scher Grundlage erkannt, dass die einzelnen charakteristischen Unterschiede auf soziologische Verschiedenheit der Bevölkerung zurückgehen. Die Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Land lebendigen Bezeichnungen des eigenen Dialekts als »bäurisch« und des Stadtdialekts bzw. seiner auffälligen Eigenheiten als »herrisch« (Nagl 1895 / 1983) haben die Forschung veranlasst, die Sprache der städtischen Oberschicht als »Herrensprache« zu bezeichnen (Pfalz 1925 / 1983). Die im 13. Jahrhundert auf ca. 10–12.000 Einwohner geschätzte Stadtbevölkerung umfasste, wie es auch in anderen deutschen Großstädten der Fall war, drei bürgerliche, nach Stand, Besitz und Rechten gestaffelte Gruppen als Ober-, Mittel- und Unterschicht. Was Wien jedoch von jenen besonders abhob, war, seit es 1156 zum Herzogssitz und damit zur Hauptstadt des Landes geworden war, der Hof des hochadeligen Herzogshauses der Babenberger und seit 1282 der Habsburger mit ihrem jeweils großen Gefolge. Das Herrscherhaus war nicht nur mit dem Adel des Landes eng verbunden, sondern seine politischen und verwandtschaftlichen Beziehungen reichten weit darüber hinaus und erstreckten sich bereits unter Markgraf Leopold III. (1095–1136) bis zum salischen Kaiserhaus. Diese besondere Oberschicht des Adels, der Herren, aber nahm durch ihre westlichen Beziehungen auch gebietsfremde sprachliche Erscheinungen auf, die dann von der Stadtbevölkerung aufgegriffen wurden und bald zum sprachlichen Stadt-LandGegensatz gegenüber der ländlich-bäuerlichen Bevölkerung führten. So wurde ab etwa 1120 die von den Saliern ausgehende Aussprache Ϲ für mhd. ei aufgenommen, das mit mhd. ae zusammenfiel und die dann beide später zum charakteristischen, als herrisch geltenden wienerischen Ɨ gesenkt wurden (vgl. Wiesinger 2001), während das Land den später zu Іщ führenden Diphthong aƳ bzw. Іi behielt. Auch das städtische kumen ›kommen‹ statt ländlich-bäuerlichem kemen gehört dazu. Städtisch waren auch Ј für mhd. ô und uщ für mhd. uo, während ländlich die Diphthonge ІƳ und ui galten, die wohl auf bereits ältere oberschichtige Umformungen ursprünglicher Palatovelardiphthonge zurückgehen (vgl. Wiesinger 1980). Ein Teil der stadtsprachlichen Neuerungen wurde im Lauf der Zeit im Rahmen der Land-Stadt-Kommunikation von der ländlichen Bevölkerung der niederösterreichischen Umgebung immer wieder aufgegriffen, so dass die Dialektgeographie Niederösterreichs von der Abdrängung der ursprünglichen Verhältnisse an die Peripherien gekennzeichnet ist (vgl. Wiesinger 2004). 5.2.
Die schreibsoziologische Differenzierung der frühneuhochdeutschen Schreibsprache Wiens
Hinsichtlich der fühneuhochdeutschen Schreibsprache Wiens wurden zwei schreibsoziologische Schichten festgestellt: eine bairisch-neutrale höhere und eine bairisch-dialektale niederere Schreibschicht. Wie ihre Benennungen besagen, sind beide Schichten durch allgemein geltende bairische Merkmale als Grapheme gekennzeichnet. Während die dialektale Schicht aber spezielle Eigenheiten des mittelbairischen Dialekts als graphonemische Varianten wiedergibt, meidet diese die neutrale Schicht. Über den graphemischen Schreibusus hinaus herrschen in beiden Schichten zulässige individuelle Schreibvarianten als Allographe und können vor allem in der dialektalen Schicht auch einzelne phonetische Direktanzeigen und Hyperkorrektismen auftreten (vgl. Wiesinger 1971).
430
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Es fragt sich, ob es sich dabei um die Wiedergabe zweier Schichten der gesprochenen Stadtsprache handelt, indem aus den nie konsequent, sondern bloß als Varianten auftretenden dialektalen Eigenheiten auf die gesprochene Sprache der Unter- und Mittelschicht und bei fehlender Varianz auf die Sprechsprache der bürgerlichen Oberschicht geschlossen werden kann, wie dies bei Gleichsetzung von Graphem und Phonem, allerdings bei Einräumung teilweise abweichender phonischer Realisierungen von den Schreibungen, versucht wird (vgl. Ernst 1996). Vielmehr wird es sich dabei meistens um den schriftlichen Ausdruck unterschiedlicher Schreibschulung bzw. -beherrschung und städtische oder ländliche Herkunft der Schreiber handeln. Nach den Beinamen der Wiener Stadtbevölkerung des 14. und 15. Jahrhunderts als Herkunftsnamen erfolgte nämlich der Zuzug aus dem Donauraum Nieder- und Oberösterreichs und Niederbayerns mit abnehmender Anzahl bei zunehmender Entfernung von der Stadt, so dass der Zuzug aus der niederösterreichischen Umgebung am stärksten war (vgl. Linsberger 2010). Da es in der Stadt nur die Latein unterrichtende Stephansschule gab, scheint die Erlernung des Deutschschreibens in den höheren Bürgerkreisen durch private Lehrer erfolgt zu sein. Als solche werden die aus der Stadt stammenden Schreiber fungiert haben, die den Bildungsansprüchen ihrer Dienstherren mit einem gepflegten, möglichst regulären Schreibusus entsprachen und in Fortsetzung der älteren Schreibtradition dialektale Erscheinungen unterdrückten. Dagegen war die Schreibschulung der vom Land zugewanderten Schreiber geringer, so dass sie ihre Tätigkeiten teilweise nach dem Gehör ausübten und damit Dialektales einfließen ließen. So sind die Urkunden des Schottenstiftes ebenso dialektal beeinflusst (vgl. Pinsker 1933) wie die um rund 1380–1410 geschriebenen katechetischen Texte von Einheimischen etwa des niederösterreichischen Universitätsstudenten Johannes von Leubs (Langenlois) (vgl. Sima 1973) und zeigt das Reimverhalten bairischer, zum Teil in Wien wirkender Dichter wie des Teichners im 14. / 15. Jahrhundert durchaus dialektale Aussprachen (vgl. Wiesinger 1996, 48ff.). Dagegen schreiben namentlich bekannte Universitätsstudenten aus der Ferne wie der Schwabe Johannes Höchstetter von Nördlingen und der Osthesse Johann Albrand von Sontra katechetische Texte völlig bairisch-neutral, wenn auch wenige Eigenheiten auf ihre aus der Heimat mitgebrachte andere Schreibschulung zurückgehen (vgl. Wiesinger 2011). Bezüglich fremder Herkunft von Schreibern ist aber auch, wie schon aus der Beschreibung des habsburgischen Kanzleiwesens ersichtlich war, darauf hinzuweisen, dass es in Wien seit dem Beginn 1282 auch landesfürstliche Schreiber alemannischer Herkunft gab und dass dann in der Reichskanzlei Kaiser Friedrichs III. ab 1440 immer wieder Schreiber auch noch weiterer räumlicher Herkunft wirkten und dies aus den westmitteldeutschen Sprachräumen und vereinzelt sogar aus dem niederdeutschen Gebiet. Mit Kaiser Maximilian I. traten dann in der Hofkanzlei vermehrt tirolische Schreiber auf. Es ist also in den habsburgischen Kanzleien über die bairische Schreibsprache und ihre soziologische Differenzierung hinaus auch mit gebietsfremden Schreibern und entsprechenden Einflüssen zu rechnen.
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
5.3.
431
Usuelle bairisch-frühneuhochdeutsche schreibsprachliche Erscheinungen
Wesentliche usuelle bairisch-frühneuhochdeutsche schreibsprachliche Erscheinungen als Grapheme und Allographe sind im 14. und 15. Jahrhundert im Vokalismus: – die Nichtbezeichnung der Dehnung kurzer Vokale in offener Silbe und in Einsilbern zumindest nach Einfachkonsonanz, z. B. inisigil ›Siegel‹, lesen, geboten, vater, tag, stat ›Stadt‹; – die Wiedergabe von mhd. i – u außer vor r als (y) – (v), z. B. wizzen ›wissen‹, geschriben, mynner ›weniger‹, gunst, padstuben ›Badstuben‹, vnser; – die gemeinsame Wiedergabe von mhd. e, ë und ê als , doch letzteres auch als (ee) besonders im Auslaut, z. B. setzen, recht, geben, sel ›Seele‹, eehaft ›gesetzlich‹, steet ›steht‹; – die Wiedergabe von mhd. ô und von mhd. o in allen Positionen als , z. B. tod, hoch – offenbar, wol, dorf, gewonhait; – die Unterscheidung von mhd. î und ei als (ey) : (ay), z. B. zeit, sey : purgermaister ›Bürgermeister‹, zway entsprechend dem dialektalen Verhalten; – die gemeinsame Wiedergabe von mhd. û und ou als (aw), z. B. haus, chaufman ›Kaufmann‹, fraw ›Frau‹; – die digraphische Wiedergabe von mhd. ie – uo als (‡á, ï, ï, ÿ) – (), ü, ve, 0, 5) und damit Unterscheidung von gedehntem mhd. i – u außer vor r, was der dialektalen Realisierung als Diphthonge und Monophthonge entspricht, z. B. prief / pr‡áf / prïf ›Brief‹, yemant / ïmant / ÿmant ›jemand‹, nie / nï / nÿ ›nie‹, tuen / t)n / tün ›tun‹, zue / zve / z) / zü / z0 / z5 ›zu‹. Zur Variante (Ĥ) für mhd. uo siehe Abschnitt 6.2. – Mhd. üe wird seltener als (üe) wiedergegeben und häufiger gleich mhd. uo als (), ü, 0, 5), so dass mhd. uo und üe mehrheitlich nicht unterschieden werden, z. B. prueder / pr)der / prüder ›Bruder‹ und ›Brüder‹. Ebenso wird der Umlaut mhd. ü bei dessen Bezeichnung als (ü, 0, 5) geschrieben, so dass vielfach Schreibidentität mit mhd. uo und üe besteht, z. B. m)gen / mügen ›(ver)mögen‹, 0ber / 5ber ›über‹. Ab etwa 1380 werden in allen Fällen die Schreibungen ), ü (0, 5) allmählich zum Graphem; – da sich nach mhd. i – u – ü vor r dialektal ein Gleitlaut gebildet hat, der zu fallenden, sich mhd. ie – uo – üe anschließenden Diphthongen führt, werden dafür vielfach die entsprechenden digraphischen Schreibungen gebraucht, doch erfolgt graphisch insofern häufig eine Unterscheidung, als hier neben Nichtbezeichnung die Varianten (i, ï) – (), ü) vorherrschen, z. B. wár / wïr, antw)rt / antwürt ›Antwort‹. Bei mhd. ü können (), ü) entweder Umlaut- oder Gleitlautbezeichnung sein, z. B. f)rst. Im Konsonantismus sind im 14. und 15. Jahrhundert wesentliche usuelle bairisch-frühneuhochdeutsche Erscheinungen als Grapheme und Allographe: – die Beibehaltung der inlautenden Frikativgeminaten mhd. zz und ff auch nach Langvokalen und Diphthongen, die dialektal Vokalkürzung bewirken, z. B. stozzen ›stoßen‹, strazz ›Straße‹, dreizzich ›dreißig‹, chauffen ›kaufen‹. Dagegen gilt im ursprünglichen Auslaut bei dialektaler Bewahrung der Länge des Vokals bzw. Diphthongs Einfachkonsonanz, z. B. stoz ›Stoß‹, auz ›aus‹, chauf ›Kauf‹;
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
– die Wiedergabe von anlautendem mhd. b mit Ausnahme des Präfixes be- weitgehend als p, z. B. prief, volpringen; – die Wiedergabe von mhd. v im Anlaut vor den Vokalen mhd. u, ü, ue / üe, eu / ew und vor r, l meist als und sonst meist als , z. B. gefunden, fürst, f)eren / füeren ›führen‹, fewer ›Feuer‹, frey, fleiz, ver-, vater, vor; – die Wiedergabe der labialen Affrikata mhd. pf als , z. B. phunt ›Pfund‹, aphel ›Apfel‹; – die weitgehende Beibehaltung der anlautenden Affrikata mhd. k als und von in- und auslautendem mhd. ck als , z. B. chint ›Kind‹, chauf ›Kauf‹, fleischhakcher ›Fleischhacker‹, stukch ›Stück‹, doch wird im Anlaut seit etwa 1320 zunehmend auch geschrieben; – die Beibehaltung von bair.-mhd. kk , z. B. prukken ›Brücken‹; – die Beibehaltung der anlautenden Lautverbindungen mhd. sl, sm, sn, sw, z. B. abgeslagen, smyd ›Schmied‹, sneider, swager; – die Austauschbarkeit von mhd. z und s im Auslaut und mhd. zz und ss im Inlaut ab etwa 1320, z. B. daz / das, des / dez, pezzer / pesser, mess / mezz ›Messe‹; – die Wiedergabe der anlautenden Affrikata mhd. z neben auch als , das sich aus der in- und auslautenden Schreibung tz herleitet und auch dort zusätzlich noch als auftritt, z. B. zeit / czeit; setzen / seczen / setczen, platz / placz / platcz. Aus der Morphologie sind als bairische Eigenheiten zu nennen: – das Abstraktsuffix ›-nis‹ als -nus oder -nüs, z. B. gedähtnus, gedähtnüs; – das präsentische Partizip I als -und, z. B. anhangund ›anhängend‹; – das regelmäßige Suffix der Superlative und Ordinalien als -ist, z. B. obrist, in dem zwainzigisten jar; – während mhd. -lîch bis etwa 1330 noch als gekürztes gegenüber überwiegt, herrscht jenes danach vor, z. B. g tlich : g tleich. Dagegen gelten in Personennamen mit mhd. -rîch, -wîg, -wîn digraphisches , , mehrheitlich schon ab etwa 1300, z. B. Hainreich, Ludweich / Ludweig, Leutwein. 5.4.
Neutrale und dialektale bairisch-frühneuhochdeutsche schreibsprachliche Erscheinungen
Gegenüber den usuellen Schreibungen und ihren Varianten als Grapheme und Allographe gibt es im Vokalismus und Konsonantismus einige schreibsprachliche Erscheinungen, die auf dem gesprochenen mittelbairischen Dialekt beruhen und in unterschiedlicher Häufigkeit als graphonemische Varianten die dialektale Schreibform bestimmen. Dagegen meidet sie die neutrale Schreibform und setzt damit die mittelhochdeutsche Schreibtradition fort, wenn gelegentlich auch hier einzelne dialektale Schreibungen, phonetische Direktanzeigen und Hyperkorrektionen einfließen. Im Vokalismus treten hier folgende Unterschiede auf: – Mhd. â und a werden neutral stets als wiedergegeben, hingegen dialektal auch als , was ihren dialektalen Realisierungen heute als gemeinsames offenes [Ј, І]
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und älter von mhd. â als geschlossenes [ǀ] entspricht, so dass mhd. â davon häufiger betroffen ist als mhd. a, z. B. graf : grof, nach : noch, mit verdachtem : verdochtem muet ›mit besonnener Absicht‹, warhait : worhait, weingarten : weingorten; Mhd. ô und mhd. o vor h, r, n, m werden neutral weiterhin geschrieben, dialektal aber auch , weil sie im Dialekt in aus der Oberschicht stammendes offenes [Ј] zusammenfallen, z. B. tod : tad ›Tod‹, tochter : tachter, morgengab : margengab, von : van, gewonhait : gebanhait, genomen : genamen; Die Umlaute werden neutral weitestgehend bezeichnet, dialektal aber auffällig oft nicht und zwar mhd. ä und ae als <, ä, ê, g, e> : , wobei Graphem und Allographe je nach Schreiber wechseln und im Fall von (e) kein Unterschied gegenüber dem Primärumlaut mhd. e besteht, z. B. den almchtigen : almachtigen got, jartg : jartag ›Jahrestage‹, beswren : beswaren; mhd. ü als (ü, 0, 5) : (v), z. B. ch)nftich : chunftich ›zukünfig‹, 0ber : vber; mhd. ö als < > (ö) : , z. B. g tleich : gotleich; mhd. oe als < > (ö) : oder , z. B. n tten : notten, natten ›nötigen‹; mhd. Ή als eu (eü, ew, e8, u, ü, äu, äü, w, 8, äw, ä8) : au (aw), z. B. heuser : hauser ›Häuser‹, chreutz : chrautz ›Kreuz‹. Dialektale Umlautentrundung als phonetische Direktanzeige und Hyperkorrektion nicht gerundeter Palatalvokale sind in beiden Schreibformen seltene Ausnahmen, so dass die Schreibsprache gegen den Dialekt die mittelhochdeutsche Schreibtradition uneingeschränkt fortsetzt. Die dialektale Nichtbezeichnung geht seit etwa 1420 stark zurück. Der bair.-mhd. Diphthong iu verhält sich insofern wie mhd. Ή, als er in beiden Schreibformen weitestgehend als (ev, ew) wiedergegeben wird, z. B. haimsteur, haimstewer ›Aussteuer, Mitgift‹. Dialektal kommt aber entsprechend der dialektalen Differenzierung als [aƳ] : [oi] teilweise auch schriftliche Unterscheidung als <u> (ü, äu, äü) : (ev, ew) vor, z. B. lut ›Leute‹ : deup ›Dieb‹. Während die neutrale Schreibform die dialektal gesprochenen Svarabhakti (Sprossvokale) in den Lautfolgen r, l + b, g, ch, m meidet, gibt sie die dialektale Schreibform wieder, z. B. erben : eriwen, Jörg : Jörig ›Georg‹, chirch : chirich ›Kirche‹, Gilg : Gilig ›Gilg = Ägidius‹, enpholchen : enpholichen ›empfohlen‹.
Im Konsonantismus unterscheiden sich die beiden Schreibformen nur gering. Zu nennen sind: – mhd. w im Anlaut und im Inlaut nach Konsonant neutral weiterhin als , doch dialektal wie einst in der gesprochenen Sprache auch , z. B. warhait : borhait, alweg : albeg ›immer‹, gewesen : gebesen, gewonhait : gebanhait, zway : tsbay; – intersonores mhd. b neutral weiterhin als , aber dialektal gemäß der Aussprache [w] auch als , z. B. geschriben : geschriwen, lebent : lewent ›sie leben‹, erben : eriwen; – das Präfix mhd. be- teilweise pe-, doch häufig neutral be- und dialektal we-, z. B. beschaidenleich : weschaidenleich ›gebührlich‹, behalten : wehalten; – die inlautenden Zweitglieder -berg und -burg in Ortsnamen neutral mit , aber dialektal mit und gelegentlich mit Svarabhakti, z. B. Herzogenburch : Herzogenwurch, Praunsberch : Prawnswerch. Im Personennamen ›Bernhard‹ wechseln neutrales Pernhart und Bernhard mit dialektalem Wernhard.
434
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
6.
Die Wiener Kanzleien und ihr schreibsprachliches Verhalten
6.1.
Die Stadtkanzlei
In der Wiener Stadtkanzlei (vgl. Ernst 1994, 1995), deren älteste deutsche Ausstellerurkunde von 1287 stammt, wird anfänglich noch die mittelhochdeutsche Schreibtradition fortgeführt. So werden bis 1292 für mhd. î – û – Ή noch die Monographe – (v) – (iw) geschrieben, doch dann daneben für die in der gesprochenen Sprache geltenden und bereits seit 1130 vereinzelt belegten Diphthonge die Digraphe – (ǂ, ow) – (ev, ew), die sich seit 1293 bald mehrheitlich durchsetzen. und treten vereinzelt noch bis 1310 auf. Während anfänglich für mhd. ei geschrieben wird, weicht es zur Unterscheidung rasch . Dagegen weisen mhd. û und ou bis um 1300 das gemeinsame Graphem (ǂ, ow) auf, um dann erst neuem (av, aw) zu weichen. Ikonisch verbleibt in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts und teilweise auch noch in der zweiten frow ›Frau‹, frowen und hausfrowen, wobei die Casus obliqui gelegentlich zu fron verkürzt werden. Schon ab etwa ab 1310 festigt sich der bairisch-neutrale Schreibusus, wenn gelegentlich auch einzelne dialektale Erscheinungen begegnen. Das zeigen auch die Abschriften von originalen Urkunden und Erlässen im Eisenbuch, indem, abgesehen von individueller Allographie, Abweichungen der Vorlagen dem Schreibusus angepasst werden (vgl. Egert 1974; Wollinger 1975; Greylinger 1975). Ebenso zeigt sich das bairisch-neutrale Schreibverhalten der Stadtkanzlei am Ende der Periode um 1510 im Vergleich einer Ratsurkunde mit dem zeitgleichen Wiener Druck eines vom Wiener Arzt und Universitätsprofessor Martin Stainpeiß verfassten medizinischen Traktats in bairisch-dialektaler Schreibsprache (vgl. Wiesinger 2003). 6.2.
Die herzogliche Kanzlei
Gegenüber der Stadtkanzlei ist das schreibsprachliche Verhalten der habsburgischen herzoglichen Kanzlei in der untersuchten Zeit von 1282 bis 1380 uneinheitlich. Das geht von Anfang an darauf zurück, dass die Kanzlei sowohl für die geerbten alemannischen Vorlande als auch die neu erworbenen österreichischen Herzogtümer zuständig war und die Vorlande bloß vorübergehend durch Herrschaftsteilungen selbständig verwaltet wurden. Dadurch wirkte in Wien immer auch alemannisches Kanzleipersonal aus den Vorlanden, das auch Urkunden in österreichischen Angelegenheiten schrieb. In der Kanzlei Albrechts I. (1282–1308) lassen sich sprachlich mehr bairisch und weniger alemannisch bestimmte Urkunden feststellen. Da jedoch bis nach 1300 in beiden Formationen die mittelhochdeutsche Schreibtradition weiter wirkt, die stärker dem Alemannischen als dem Bairischen verpflichtet ist, kommt es gegenüber eindeutigen Ausprägungen mehrheitlich zu gemischtsprachigem Verhalten (vgl. Pratscher 1982). Erst in der Zeit Friedrichs des Schönen (1308–30) nehmen eindeutig bairische Urkunden neben rein alemannischen und gemischtsprachigen zu. Alemannische Urkunden stellt dann besonders Leopold I. aus, als er selbständig die Vorlande übernimmt und dort sichtlich einheimische Schreiber beschäftigt. Methodisch ist es daher notwendig, die Urkunden stets einzeln zu untersuchen (vgl. Wiesinger 1977). Das ist leider in den für die Folgezeit noch
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
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zu nennenden Untersuchungen nicht geschehen, die in traditioneller Weise summarisch verfahren. Unter Herzog Albrecht II. (1330–58), der bis 1339 meistens mit seinem Bruder Otto dem Fröhlichen gemeinsam urkundet, finden sich zwar noch einzelne alemannische Urkunden besonders für die Vorlande, doch ist der Großteil bairisch, wenn auch einzelne alemannische Einflüsse fortdauern (vgl. Franz 1972). Eine untersuchte Auswahl der Urkunden Albrechts III., zum Teil gemeinsam mit seinem Bruder Leopold III., aus den Jahren 1365–80 erweist sich als bairisch, doch finden sich ebenfalls noch alemannische Einflüsse (vgl. Kommer 1975). Auf Grund der Feststellungen von Lackner (2002) wären nun gerade hier neue Untersuchungen nach einzelnen Schreibern möglich. Im Vokalismus zeigen schon unter Albrecht I. bairische Urkunden ab 1295 für mhd. î – û – Ή die Digraphe – – , doch bleiben abnehmend über die Zeit Friedrichs des Schönen bis in die Jahre Albrechts II. als alemannische Einflüsse einzelne Monographe – bestehen. Für mhd. û / iu gelten bis in die Zeit Friedrichs alemannisches (iw), z. B. geziug ›Zeuge‹, lút ›Leute‹, getriwer ›getreuer‹. Während mhd. ei schon teilweise unter Albrecht I. ab 1290 als bairisches gegenüber älterem und alemannischem wiedergegeben wird, und unter Friedrich dann vorherrscht, tritt für mhd. û und ou bis ins die Zeit Albrechts III. der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts häufig gemeinsames alemannisches und ikonisches bowen ›bauen‹, frowen, frow auf. Das Verhältnis von : beläuft sich in der Zeit Albrechts II. auf ca. 83 : 17 %. Erst unter Albrecht III. geht ab 1370 deutlich zurück, doch verbleibt bis zuletzt häufiges, geradezu ikonisches ouch. Neben den bairischen Digraphen – für mhd. ie – uo wirkt sich in der gesamten Periode für mhd. uo der alemannische Einfluss mit der Graphie aus, wobei dann unter Albrecht II. verbliebenes zugunsten von zurücktritt. Letzteres gilt nun, sofern der Umlaut mhd. üe von mhd. uo nicht weiterhin als oder unterschieden wird, sowohl für dieses als auch für mhd. ü. Das war unter Friedrich noch nicht der Fall, denn dort stehen sich die beiden Umlaute noch in alemannischer Weise als : gegenüber. Eine ähnliche Unterscheidung erfolgt dann mit : häufig wieder unter Albrecht III. Neu ist unter Albrecht II., dass bei (ü) für mhd. uo auffällig oft das Diakritikum weggelassen wird, was auf mhd. ie übertragen wird, obwohl es dafür nicht die Schreibung gibt, so dass die stets gesprochenen Diphthonge die mit mhd. i – u gemeinsamen Schreibungen – aufweisen. Das Verhältnis von : : : für mhd. uo lautet 56 : 23 : 7 : 14 %. Obwohl im Konsonantismus für anlautendes mhd. b und k mehrheitlich die bairischen Schreibungen
und gelten, machen sich von Anfang an die alemannischen Schreibungen und bemerkbar. Besonders häufig sind brief und brueder. Erst unter Albrecht III. in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts überwiegt , was jedoch auf den Affrikatenverlust in der zeitgenössischen Aussprache zurückgeht, während
weiterhin vorherrscht. Echt bairisch-dialektale Merkmale sind auch in der herzoglichen Kanzlei selten. Auffällig ist jedoch das vereinzelt schon unter Friedrich und dann öfters unter Albrecht II. für mhd. o vor r und für mhd. ô wie für mhd. ö und oe auftretende < >, z. B. v r, d rf – t d, chl ster, tr n. Solche Schreibungen kommen in den niederösterreichischen Stiftsurkunden der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts häufiger vor als in jenen des Wiener Schottenstiftes, so dass sie Pinsker (1933) als Wiedergaben des älteren ländlichdialektalen Diphthongs [ІƳ] deutet.
436 6.3.
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Die Kanzleien der Kaiser Friedrichs III. und Maximilians I. 1439–1519
Bereits 1925 hat Noordijk, soweit ihm damals gedruckte Materialien zur Verfügung standen, die Schreibsprache der Reichskanzlei unter dem letzten Luxemburger Kaiser Sigmund (1410–37), dem ihm bis 1439 folgenden Habsburger König Albrecht II. und schließlich aus den Anfangsjahren König Friedrichs III. (1439 / 40–93) unter Berücksichtigung namentlich bekannten Personals untersucht und heterogene Schreibverhältnisse festgestellt. Da heute durch die Forschungen von Genzsch (1930) und Heinig (1997) die Kanzleiverhältnisse und die Kanzler, Protonotare und Notare / Schreiber großteils auch namentlich bekannt sind und außerdem die Masse an Urkunden durch Regesten ermittelt und erschlossen ist (vgl. Koller u. a. 1982–2007), wäre es möglich, die Schreibverhältnisse sowohl der Hof- als auch der Reichskanzlei genauer zu erforschen. Die Kanzleisprache Kaiser Maximilians I. (1486–1519) wurde in zwei Phasen untersucht von Moser (1977, 1978) anhand ausgewählter Korpora für die Hofkanzlei der Jahre 1490–93, die nach der Neuordnung des Kanzleiwesens für die Erblande, das Reich und private Angelegenheiten zuständig war, sowie für die Endzeit 1515–18 der seit 1502 wieder dieselben Tätigkeiten ausübenden einzigen Hofkanzlei. Dazu kommen Vergleichskorpora, darunter für die vorübergehend vom Mainzer Erzkanzler Berthold von Henneberg 1493–1502 geführte und sprachlich teilweise abweichende Reichskanzlei. In beiden Hofkanzleien herrscht der traditionelle bairisch-neutrale Schreibusus, doch zeigen sich in der ersten Phase auf Grund der Übernahme von Personal aus den Kanzleien Friedrichs III. mitteldeutsche Einflüsse. So ist im Vokalismus die Opposition von : für mhd. î : ei und von : für mhd. u : uo durch häufiges und für jeweils letzteres aufgeweicht. Zwar gilt sowohl für mhd. uo als auch für mhd. üe die Variante (ú), doch ist sie Graphem für mhd. ü und wird mhd. üe häufig auch als davon unterschieden. Die Umlaute mhd. ö und oe werden mit gemeinsamem bezeichnet. Für mhd. ä und ae variieren weiterhin und unbezeichnetes . Im Konsonantismus wird festgehalten an den Konsonantenfolgen und der Affrikatenschreibung , während im Anlaut
schwanken, doch das Präfix fest ist. So gut wie aufgegeben ist die Affrikatenschreibung des Velars, so dass im Anlaut und im In- und Auslaut gelten. Dieses Schreibverhalten ändert sich jedoch in der Folgezeit durch die Tätigkeit nur mehr einheimischer Schreiber, von denen mehrere aus Tirol stammen. Dadurch treten einige Veränderungen ein, die sich in der Endphase deutlich abzeichnen. So wird die Unterscheidung von mhd. î : ei als : und von mhd. u : uo als : wieder gefestigt. Die Schreibvarianz für mhd. ä und ae reduziert sich zu vorherrschendem und unbezeichnetem (a), wie überhaupt der Rückgang der Diakritika auch zu nun mehrheitlich nicht bezeichneten Umlauten , , für mhd. ü, ö + oe, üe führt. Im Konsonantismus tritt die Schreibung der Labialaffrikata zugunsten von zurück, während nun die Velaraffrikata nach südbairisch-tirolischer Gewohnheit wieder mehrheitlich als im An- und als im In- und Auslaut bezeichnet wird. Diese Schreibform der Hofkanzlei Kaiser Maximilians I. seit 1502 ist es, die später von Luther und anderen als vorbildlich beurteilt wird. Sie bildet auch die Grundlage der gegenreformatorischen katholischen oberdeutschen Schriftsprache, die bis 1750 in Gebrauch stand (vgl. Wiesinger 2000 / 2008).
26. Bairisch-österreichisch: Die Wiener Stadtkanzlei und die habsburgischen Kanzleien
7.
437
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
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Susanne Näßl, Leipzig (Deutschland)
27. Bairisch: Regensburg
1. 1.1. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1.
Kanzleisprachliche Texte und Schreibstätten in Regensburg Kanzleisprachliche Texte: Urkunden und weiteres Schriftgut Schreibstätten in Regensburg Geistliche Kanzleien Die städtische Kanzlei Die Verwaltung des St. Katharinenspitals Stand der sprachgeschichtlichen Forschung Editorische Erschließung der Quellen Sprachgeschichtliche Forschung Zur Schreibsprache in Regensburg Stand der frnhd. Diphthongierung und Monophthongierung in den Urkunden des 13. Jahrhunderts 3.2. Stand der frnhd. Diphthongierung und Monophthongierung Ende des 14. Jahrhunderts. / Anfang des 15. Jahrhunderts 3.3. Die Schreibsprache im 15. Jahrhundert 3.3.1. Diachrone Tendenzen 3.3.2. Textsortenspezifische Unterschiede 3.3.3. Schreibstättenspezifische Merkmale 4. Literatur
1.
Kanzleisprachliche Texte und Schreibstätten in Regensburg
1.1.
Kanzleisprachliche Texte: Urkunden und weiteres Schriftgut
Eine deutsche Kanzleisprache wird in Regensburg erstmals – in Form von Urkundensprache – in der städtischen Tuchmacherordnung von 1259 (Corp. Nr. 46) nachweisbar. Nach Uminsky (1975, 13ff.) sind bis 1300 aus Regensburg 67 deutsche Originalurkunden aus verschiedenen Schreibstätten überliefert. Aus einer Übersicht von Bürgisser (1988, 30ff.) über den Beginn und Umfang der deutschsprachigen Beurkundung in Altbayern, in Augsburg, Nürnberg und in Österreich geht hervor, dass sie in Regensburg vergleichsweise früh einsetzt und in größerem Umfang bezeugt ist als in den anderen Gebieten. In Regensburg sind neben der städtischen Kanzlei mit sechs deutschen Originalurkunden von 1259 bis 1290 folgende Institutionen vertreten, in denen vor 1300 deutsch geurkundet wird (detaillierte Zusammenstellungen mit Angabe von Zeit und Edition vgl. Uminsky 1975, 158ff.; Bürgisser 1988, 31f.): Hochstift St. Emmeram (1277–1299: 17 Urkunden), St. Katharinenspital (1280–1299: 14 Urkunden), Deutschordenskommende (1280–1299: sieben Urkunden), Damenstift Niedermünster (1281–1299: sechs Urkunden), Kloster Hl. Kreuz (1296–1299: vier Urkunden); Stift Alte Kapelle (1296 u. 1299: zwei Urkunden), Kloster St. Paul (1288 u. 1298: zwei Urkunden), Damenstift
442
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Obermünster (1287, eine Urkunde). Dabei sind bis vor 1280 nur drei städtische und eine Urkunde aus dem Hochstift überliefert, aus den Achtzigerjahren insgesamt acht Urkunden aus der Stadt und aus den Kanzleien des Katharinenspitals, der Ordenskommende, des Nieder- und des Obermünsters. Die Hauptmenge der deutschen Urkunden gehört den Neunzigerjahren des 13. Jahrhunderts an. Für die Zeit nach 1300 finden sich für Regensburg in der Literatur keine Angaben mehr über die Anzahl deutschsprachiger Urkunden bzw. über ihren Anteil am Gesamturkundenbestand. Festzuhalten bleibt, dass Urkunden aus weiteren geistlichen Schreibstätten hinzukommen (zu den Institutionen vgl. Mai 2007, 65ff.) und nach 1300 die Zahl der Urkunden insgesamt sehr rasch stark ansteigt. Als Beispiel seien die Zahlen für die Urkunden der Stadt und des St. Katharinenspitals genannt. Nach Wild (2007, 50) sind 788 reichsstädtische Urkunden von 1301 bis 1350 erhalten, 3205 von 1351 bis 1400, ca. 6000 von 1401 bis 1450 und ca. 5800 von 1451 bis 1500, gesamt also um 15800 Urkunden. Für das Archiv des St. Katharinenspitals verzeichnet Dirmeier (2007, 112) 311 Urkunden für 1301–1350, 404 für 1351–1400, ca. 600 für 1401–1450 und ca. 550 für 1451–1500; gesamt ca. 1.865 Urkunden. Ein Überblick über die Urkundenbestände im Bischöflichen Zentralarchiv in Regensburg (BZAR), nicht aber über die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München befindlichen Bestände des Hochstifts Regensburg und der Klöster St. Emmeram, Ober- und Niedermünster, findet sich bei Acht (2007, 85ff.). Im 14. Jahrhundert setzt auch die Überlieferung von weiterem Kanzleischriftgut wie Salbüchern, Urbaren, Rechnungsbüchern, für die städtische Kanzlei auch von Stadt- und Gerichtsbüchern ein (zu den archivalischen Quellen der Stadt vgl. Hable 1970, 202ff.; zu den Beständen an Rechnungen, Registern und Urbaren im BZAR vgl. Gruber 2007, 75ff.), wobei die Überlieferungsmenge für diese Quellen im 15. Jahrhundert ebenfalls noch einmal deutlich steigt. Für die Urkunden ist anzunehmen, dass bei ihnen wie bei dem anderen Schriftgut der deutsche Anteil stark zunimmt. 1.2.
Schreibstätten in Regensburg
1.2.1. Geistliche Kanzleien Geschichte und Strukturen der Verwaltungseinrichtungen und damit auch der Schreibstätten der einzelnen kirchlichen Institutionen sind noch kaum wissenschaftlich aufgearbeitet. Untersucht ist das bischöfliche Urkundenwesen und die Kanzlei vom 10. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (vgl. Acht 1990), in dem noch lateinisch geurkundet wird.1 Die folgenden Bemerkungen greifen zwar auf die Zeit vor dem Einsetzen der deutschen Urkundensprache zurück, deuten aber die Sphäre Regensburgs als Schreibort an. Ein Blick auf die bischöfliche Kanzlei ist auch insofern angebracht, als die städtische Verwaltung aus Ämtern hervorgeht, die ursprünglich unter der Herrschaft der Stadtherren, u. a. des Bischofs, standen (zu den komplizierten Herrschaftsverhältnis-
1
Nach Ried 1816, Bd. 1, 494 ist die erste deutsche Urkunde von 1267 (Nr. DXXI); das Corp. enthält nur Urkunden aus den Neunzigerjahren.
27. Bairisch: Regensburg
443
sen vgl. Ambronn 1968; Schmid 2000). Mit dem Notar Eberhard unter den Bischöfen Konrad IV. (1204–1226) und Siegfried (1227–1246) erscheint ein neuer Urkundentyp, die bischöfliche Siegelurkunde mit voll ausgebildetem Formular. Die auffällig hohe Zahl der ausgestellten Urkunden unter Bischof Konrad IV. hängt vielleicht mit dessen Amt als Reichskanzler (1205–1208) König Philipps zusammen (vgl. Acht 1990, 370). Bischof Siegfried setzt 1230 als Reichskanzler Kaiser Friedrichs diese Beziehungen zur Reichskanzlei fort. Engere Verbindungen der bischöflichen Kanzlei zu dem Kollegiatstift der Alten Kapelle in Regensburg ergeben sich über den Notar Eberhard, der als Kanonikus und Scolasticus diesem Stift angehört und dort wohl auch ausgebildet wurde (vgl. Acht 2000, 51f.). Dass sein Nachfolger in der bischöflichen Kanzlei, Konrad, ebenfalls Kanoniker des Stifts ist und später mit Heinrich ein weiterer Kanoniker der »bedeutendste Notar des Herzogs Otto II. von Bayern (1231–1253)« (Acht 2000, 52) wird, erweist die Bedeutung dieser Institution als Ausbildungsort. 1.2.2. Die städtische Kanzlei Eine umfassende Kanzleigeschichte der Stadt steht noch aus (überblicksweise zur Stadtverwaltung vgl. Schmid 1995, 128ff.), daher ist der Ausdruck städtische Kanzlei als behelfsmäßiger Oberbegriff zu verstehen, ohne dass damit etwas über die Organisation der städtischen Schreiber (zentral organisiert oder verschiedenen, von einander unabhängigen (?) Ämtern zugeordnet?), ausgesagt werden soll. Auf die Ursprünge der städtischen Verwaltung aus stadtherrschaftlich-ministerialen Verwaltungsämtern wurde schon hingewiesen (vgl. Kapitel 1.2.1.). Die Anfänge einer eigenen Stadtkanzlei datiert Ambronn um 1242 mit der Amtszeit des ersten wirklichen Stadtschreibers Äzilin (1242–1254), der mit elf lateinischen Urkunden nachzuweisen ist (vgl. Ambronn 1968, 51ff.). Mit ihr ist eine Ausweitung des Kanzleipersonals, zu dem fünf Schreiber und Amtsboten gehören, und die Einrichtung eines eigenen domus civium verbunden, vermutlich der feste Ort der Kanzlei (vgl. Ambronn 1968, 51ff.). Mit Fridericus scriba, dem die eingangs erwähnte Tuchmacherordnung (1259) als erste deutschsprachige Urkunde in Regensburg zugeschrieben wird, und Ulrich Saller, von dem neben drei lateinischen noch fünf der insgesamt sechs deutschen städtischen Urkunden bis 1300 stammen, sind die beiden Nachfolger Äzilins im Amt des Kanzleivorstands namentlich bekannt. Ihre Urkunden, v. a. die Sallers, prägen das Bild der städtischen Kanzleisprache vor 1300 (vgl. Kapitel 3.1.). Das Vorbild für die lateinischen und später die deutschen Urkundenformulare der Stadt und der anderen Schreibstätten bilden Urkundenformulare aus St. Emmeram (vgl. Ambronn 1968, 52; Uminsky 1975, 77f.). Für das 14. und 15. Jahrhundert sind von einer Reihe städtischer Schreiber ebenfalls die Namen bekannt, zum Teil auch biographische Daten wie ihre Herkunft und die Ausübung verschiedener Schreiberämter. Mit einer Zuweisung von Händen wird unterschiedlich umgegangen; so lehnt Engelke (1995, 43ff.) für das Gelbe Stadtbuch (1370–1419) die Identifizierung einzelner Hände ab und unterscheidet nur zeitlich differenzierte Schreibergruppen, denen er die Namen entsprechend belegter Schreiber zuordnet. Dagegen versucht Braun (1988) ausgehend vom Merkzettel (1455–1479) und unter Einbezug weiterer Quellen die Identifizierung und Zuordnung verschiedener Hände zu einzelnen Schreibern.
444
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Für das 14. Jahrhundert ist noch eine zentralistisch ausgerichtete Verwaltung mit dem Rat als Behörde im Mittelpunkt anzunehmen, während, sich bereits um die Jahrhundertwende abzeichnend, im 15. Jahrhundert eine weitgehende Dezentralisation und Umorganisation der Verwaltung stattfindet. Sie zeigt sich in der Anlage spezieller Amtsbücher wie den Rechnungsbüchern (ab 1393), dem Bürgeraufnahmebuch (ab 1419) und in der Amtsführung des Stadtschreibers Lienhart, der für die Umstellung von zeitlicher zu sachlicher Ordnung im Gelben Stadtbuch verantwortlich ist (vgl. Engelke 1995, 20f., 94). Aus Umfang und Art der Ausgabenposten bzw. aus fehlenden Posten des ältesten erhaltenen Ausgabenbuchs (Cam. 3) schließt Altweger (1989), dass es um die Wende des 14. / 15. Jahrhunderts in Regensburg keine Zentralkasse, sondern Ämter mit eigenen Kassen und Zahlungskompetenzen gab. Dem wichtigsten, dem Ungeldamt, schreibt Altweger Cam. 3 und alle weiteren erhaltenen Ausgabenbücher zu. Für die Ratskanzlei nimmt Braun (1988, 82) um 1455 größere Umorganisationen mit einer Kompetenzaufteilung zwischen dem Schreiber Hans Wallach einerseits und dem Stadtschreiber Hans Wolfpach und seinem Nachfolger Konrad Platerberger andererseits an. Auch der starke Rückgang von Urfehde- und Bürgeraufnahmeurkunden im Jahr 1460 und die Anlage eines eigenen Urfehdebuches bzw. die verstärkte Nutzung des Bürgeraufnahmebuchs von 1419 sind Hinweise auf die Umstrukturierungen in der städtischen Kanzlei (vgl. Wernicke 2000, 381). 1.2.3. Die Verwaltung des St. Katharinenspitals Einen – erfreulichen – Sonderfall dürfte das St. Katharinenspital darstellen, dessen Kanzlei- und Verwaltungsgeschichte aufgrund der besonderen Quellenlage gut dokumentiert ist: Stiftung und Spitalarchiv blicken auf eine ungebrochene Tradition vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart, d. h. die Archivalien blieben im Wesentlichen vor Ort versammelt und vor größeren Katastrophen bewahrt (vgl. Dirmeier 2007).2 Das um 1220 aus zwei Spitälern entstandene St. Katharinenspital zeigt eine klar geregelte Verwaltungsstruktur, nicht zuletzt deswegen, weil Stadt und Bistum gemeinsam die Aufsicht über das Spital hatten und so Kompetenzstreitigkeiten vermieden wurden. Das Spital hat den Spitalpflegern (je vier Vertreter der Stadt und des Domkapitels) gegenüber eine Rechenschaftspflicht, die sich in der in den Rechnungsbüchern festgehaltenen Entlastung des Spitalmeisters, dem Leiter der Verwaltung, am Ende eines Rechnungsjahrs manifestiert. Dieser wird durch zwei Bereiter (Pröbste) und einen Hausschreiber unterstützt, dem die gesamte Rechnungsführung und alle Schreibarbeiten obliegen. Verwaltungsschrifttum des St. Katharinenspitals ist seit Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisbar. Der Spitalmeister wird in den Rechnungsbüchern als der für die Ausgaben Verantwortliche bzw. in den Urkunden gemeinsam mit dem Konvent als Aussteller genannt; die eigentliche Niederschrift wird in der Regel der Schreiber des Spitals besorgt haben. Auch in der Verwaltung des Katharinenspitals kommt es im 15. Jahrhundert zu Modernisierungen,
2
Dort auch zur Überlieferung weiterer Spitäler und Stiftungen in Regensburg; zum Katharinenspital vgl. auch Dirmeier (1988).
27. Bairisch: Regensburg
445
wie die Anlage eines neuen Briefbuchs und vierer Salbücher zwischen 1412 und 1423 durch den Spitalschreiber und späteren Spitalmeister Ulrich Obser zeigt (vgl. Dirmeier 2007, 116ff.).
2.
Stand der sprachgeschichtlichen Forschung
2.1.
Editorische Erschließung der Quellen
Die Quelleneditionen zur Geschichte der Stadt, die bei entsprechender Anlage auch der sprachgeschichtlichen Forschung den zeitintensiven Weg über die Archive ersparen, müssen, vor allem was das Spätmittelalter angeht, als noch spärlich bezeichnet werden (vgl. Schmid 2007, 16, mit kritischer Kurzübersicht zu den Editionen; Oberste 2007, 43). Vergleichsweise gut erschlossen sind die ältesten Urkunden und Traditionen. Die zeitliche Grenze der Quellenaufnahme liegt meist bei Mitte / Ende des 14. Jahrhunderts, so dass häufig nur die Anfänge der deutschen Urkunden- und Kanzleisprache berührt werden, zum Teil auch noch keine deutschen Texte enthalten sind. Die folgenden Editionen sind ohne Rücksicht auf die Sprache angeführt. Neben dem Corp. als Quelle für deutsche Regensburger Urkunden verschiedener Schreibstätten sind für die geistlichen Institutionen an älteren Editionen zu nennen: Ried (1816) – Regensburger Bischofsurkunden, Widemann (1943) – Traditionen des Hochstifts Regensburg und des Klosters St. Emmeram, Wittmann (1856) – Schenkungsbücher des Klosters St. Emmeram und des Stiftes Obermünster, Schratz (1885) – Urkunden des St. Nikolausspitals und (1887) – Urkunden und Regesten des Klosters Hl. Kreuz. Neuere Editionen bieten Popp (1972) – Handbuch der Kanzlei des Bischofs Nikolaus von Ybbs, Thiel (1975) und (1996) – Urkunden bzw. Urbare des Kollegiatstifts St. Johann, Geier (1986) – Traditionen, Urkunden und Urbare des Klosters St. Paul, Schwarz (1991) – Traditionen des Klosters Prüfening. Nur Regesten liegen vor für die Urkunden des Kollegiatstifts der Alten Kapelle (vgl. Schmid 1911 / 1912), des Schottenklosters St. Jakob und des Priorates Weich St. Peter (vgl. Renz 1895–1897). Ältere urkundliche Editionen für die Stadt sind: von Freyberg (1836) – die ältesten Statuten der Stadt und Widemann (1912 / 1956) – Regensburger Urkundenbuch. Neuere Editionen erschließen andere Quellenarten wie Bürger- und Stadtbücher:3 Engelke (1995) – Gelbes Stadtbuch, Kropaþ (1997) – ältestes Bürgeraufnahmebuch und (1999) – zweites Bürgeraufnahmebuch sowie (2000) Schwarzes Stadtbuch, Kurschel (2000) – ältestes Stadtrechtsbuch. Für das St. Katharinenspital liegen jüngere Editionen zu den älteren Urkunden (vgl. König 2003) und den Statutensammlungen (vgl. Dirmeier 1988, 841ff.) vor. Einen Einblick in die Rechnungsführung und die Geschäftssprache von Privatleuten bietet die Edition des Runtingerbuchs (vgl. Bastian 1935 / 1944).4
3 4
Überblicksweise vgl. dazu Löhnig (2007, 189ff.). Datiert für das späte 14. Jahrhundert mit Einträgen von 18 Händen.
446
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Der Aufbau von online-Editionen ist in Gang, z. B. bei den Urkunden des St. Katharinenspitals (vgl. Schmid 2007, 17, Anm. 18) und den Fontes civitatis Ratisponensis, einem Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Graz und Regensburg mit dem Stadtarchiv Regensburg.5 2.2. Sprachgeschichtliche Forschung Auf der Editionsgrundlage des Corp. (mit Einbeziehung der Originale) sind die frühen deutschsprachigen Urkunden des 13. Jahrhunderts mehrfach Gegenstand sprachwissenschaftlicher Untersuchungen: Dazu gehört die Darstellung Uminskys, die auf der Basis von 67 Urkunden die Regensburger Urkundensprache in Bezug auf das (vokalische) Graphiesystem beschreibt. Nach Uminsky (1975, 161) kann sie als eine geschlossene Einheit mit weitgehenden Übereinstimmungen betrachtet werden. Für die einzelnen Graphien werden absolute Zahlen und Durchschnittswerte angegeben,6 an denen sich der Stand der Regensburger Schreibsprache im Übergang vom Mhd. zum Frnhd. ablesen, bzw. im Vergleich zu anderen Schreiborten einordnen lässt. Zu einem anderen Ergebnis, nämlich dass keine geschlossene Einheit, sondern Sprachschichten in der Regensburger Schreibsprache feststellbar sind, kommt Reiffenstein anhand von Urkunden des St. Katharinenspitals, die er dem städtischen Schreibgebrauch gegenüberstellt: Aufgrund der variantenreicheren, mehr bairische Kennzeichen und sprachliche Neuerungen aufweisenden Urkunden des St. Katharinenspitals könne man versuchsweise sagen, daß die Kanzleisprache des Katharinenspitals auf den privatrechtlichen Bereich innerhalb einer begrenzten Region [...] zielt, etwa im Gegensatz zu der gehobenen, konservativen Sprache der Bürgermeisterurkunden, die für die Öffentlichkeit bestimmt ist. (Reiffenstein 1980, 222)
Dass die Urkunden Sallers, die letztlich das Bild der städtischen Kanzlei prägen, konservativer als die aus anderen Regensburger Schreibstätten sind, ist auch das Ergebnis von Harnischs Untersuchung (2002); darüber hinaus erweisen sie sich in den meisten Bereichen als konservativer als die anderen altbayerischen Schreibstuben und die beiden bayerischen Herzogskanzleien (vgl. Harnisch 2002, 183f.). Außer in den genannten Arbeiten finden Regensburger Urkunden (neben drei bischöflichen wiederum die Urkunden Sallers) Eingang in die Arbeit Kliemanns über die frnhd. Diphthongierung in bayerischen und österreichischen Urkunden des 13. Jahrhunderts, der zu ähnlichen Ergebnissen wie Harnisch kommt (vgl. Kliemann 1958, 210ff.). Der Blick auf die Regensburger Urkundensprache des 13. Jahrhunderts wird von Skála (1968) auf die Schreibsprache Regensburgs des 14. Jahrhunderts ausgeweitet. Seine Untersuchung stützt sich auf verschiedene unedierte Quellen der Stadt und des St. Katharinenspitals und ist, abgesehen von einer lexikographischen Auswertung edierter Quellen von Matzel / Riecke / Zipp (1989) und Reiffensteins Arbeit zum Runtingerbuch (vgl. Reiffenstein 2002), die einzige, die sich bisher mit kanzleisprachlichen Quellen des
5 6
Eine Übersicht über den Bearbeitungsstand der überwiegend städtischen Quellen findet sich unter der Adresse http://www.fcr-online.com (Stand: 28.03.2006). Für eine Übersicht vgl. Uminsky (1975, 278ff.).
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14. Jahrhunderts aus Regensburg befasst. Seine Einschätzung, dass bereits im 13. Jahrhundert, also besonders früh, der Ausleseprozeß [...] aus oberdeutschen und mitteldeutschen Elementen [...] weitgehend durchgeführt ist, daß auch ausgesprochen ›mitteldeutsche‹ Elemente zur Struktur dieser Schriftsprache gehören und daß die heimische Mundart in sehr geringem Maße zur Geltung kommt (Skála 1968, 92f.),
wurde inzwischen durch die oben genannten Arbeiten relativiert. Für das Runtingerbuch konstatiert Reiffenstein, dass »die Interferenzen aus gesprochener Sprache« deutlicher seien »als in literarischen Handschriften, aber [...] im Rahmen vergleichbarer Gebrauchstexte« blieben (Reiffenstein 2002, 220), ferner dass das Runtingerbuch als ein normaler Vertreter der bairischen Schreibsprache um 1400 anzusehen sei und in ihm »eine deutlich eigengeprägte Regensburger Schreibsprache [...] nicht fassbar« (ebd.) werde. Die Beiträge von Skála und Reiffenstein sind allgemein beschreibend angelegt und verwenden keine statistischen Angaben, die zu Vergleichen herangezogen werden könnten. Für das 15. Jahrhundert liegt eine auf der Basis eines nach Textsorten (Urkunden, Rechnungsbücher, berichtende Quellen), Schreibstätten (städtische Kanzlei, Katharinenspital, Obermünster) und Zeitschnitten gegliederten Corpus graphematisch ausgerichtete Arbeit von Näßl (2004) vor. Auch im 15. Jahrhundert schreibt das St. Katharinenspital bairischer als die städtische Kanzlei (das Obermünster nimmt eine Mittelstellung ein). Sprachschichten zeigen sich insofern, als für Texte mit einem geringeren Öffentlichkeitsgrad (Rechnungsbücher) eine eher homogen bairische, aber deutlich schreibsprachlich geprägte Schreibform charakteristisch ist, für Texte mit einem hohen Öffentlichkeitsgrad wie Urkunden dagegen die Meidung dialektnäherer Schreibungen und eine gewisse Heterogenität (z. B. bewahrende neben neuernden Schreibformen). Zusammenfassend ist für die bisherige sprachwissenschaftliche Forschung zur Regensburger Kanzleisprache festzuhalten, dass sie sich im Wesentlichen auf den lautlich-graphischen Bereich konzentriert, dass andere Aspekte eher selten und am Rande thematisiert werden. So gehen Uminsky (1975) und Reiffenstein (1980) auf Teile der Urkundenformulare ein, um die Zuordnung von Urkunden zu Regensburg bzw. zu einer bestimmten Schreibstätte in der Stadt zu prüfen. Reiffenstein zieht außerdem syntaktische Kriterien heran, um die Fähigkeiten des Schreibers und so das Kanzleiniveau zu bewerten. Editionen sind, abgesehen vom Corp., bisher noch kaum als Grundlage für sprachwissenschaftliche Forschungen herangezogen worden.
3.
Zur Schreibsprache in Regensburg
Vorweg: Eine eigene Regensburger Schreibsprache wird nicht fassbar. Sie ist eine typische Vertreterin der sich im 14. Jahrhundert herausbildenden und im ostoberdeutschen Raum herrschenden bairischen Schreibsprache.7 Auch nordbairische Elemente, die nach
7
Zur bairischen Schreibsprache einführend vgl. Wiesinger (1971); im Einzelnen vgl. Reiffenstein (2002a, 2908ff.) zum 12.–14. Jahrhundert sowie (2919ff.) zum 14.–16. Jahrhundert.
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
der geographischen Lage der Stadt zu erwarten wären, treten nur in Spuren in Erscheinung. Zumindest auf der Ebene der Schriftlichkeit bestätigt sich so die mehrfache Einschätzung Regensburgs als mittelbairische Enklave im nordbairischen Dialektgebiet. Als mögliche Eigenheiten Regensburger Schreibsprache seien zwei noch nicht ausreichend geklärte Auffälligkeiten genannt: in Urkunden des 13. Jahrhunderts für mhd. /î/ (vgl. Uminsky 1975, 258, 260f.; Harnisch 2002, 173) und im 14. / 15. Jahrhundert für -chs- (z. B. dewschel ›Deichsel‹), bei dem möglicherweise eine besondere, enger an die Stadt und ihr Umland gebundene dialektale Lauterscheinung vorliegt (vgl. Reiffenstein 2002, 218). 3.1.
Stand der frnhd. Diphthongierung und Monophthongierung in den Urkunden des 13. Jahrhunderts
Harnisch (2002) bietet anhand seiner für Saller und der von Kliemann (1958), Uminsky (1975) jeweils für Regensburg ermittelten Werte eine Übersicht über den Stand der frnhd. Diphthongierung in Regensburger Urkunden, einschließlich der mhd. Diphthonge, die in der Standardsprache mit den neuen Diphthongen zusammenfallen. Vergleichend einbezogen sind Ober- und Niederbayern (vgl. Lindgren 1961), bzw. die beiden bayerischen Herzogskanzleien (vgl. Bürgisser 1988), für das Folgende ergänzt und leicht verändert. Die genannten Graphien und Werte schließen graphische Varianten mit ein ( also auch , usw.), abweichende dialektale Schreibungen werden nicht berücksichtigt. Mhd. /î/ : Saller 87 %, Regensburg ca. 56 % (Hauptton) bzw. 75 % (alle Positionen) (Kliemann) bzw. 74 % (Uminsky), Oberbayern 66 %, oberbayerische Herzogskanzlei (= oHk) 66 %, Niederbayern 60 %, niederbayerische Herzogskanzlei (= nHk) 70 %. – Saller 13 %, Regensburg 44 % (Hauptton, Kliemann) bzw. ca. 25 % (alle Positionen) (Kliemann) bzw. 24 % (Uminsky), Oberbayern 34 %, oHk 33 %, Niederbayern 40 %, nHk 30 %. Mhd. /ei/ : Saller 93 %, Regensburg 72 % (Kliemann) bzw. 59 % (Uminsky), oHk 42 %, nHk 63 %. – Saller 7 %, Regensburg 28 % (Kliemann) bzw. 35 % (Uminsky), oHk 58 %, nHk 37 %. Mhd. /û/ : Saller 64 %, Regensburg 30 % (Kliemann) bzw. 16 % (Uminsky), Oberbayern 16 %, oHK 0 %, Niederbayern 6 %, nHk 1 %. – Saller 4 %, Regensburg 1,5 % (Kliemann) bzw. 3,5 % (Uminsky), oHk 2,9 %, nHk 18 %. – Saller 11 %, Regensburg 12 % (Kliemann, Uminsky), oHk 1,4 %, nHk 0 %. – Saller 21 %, Regensburg 56 % (Kliemann) bzw. 66 % (Uminsky), oHk 96 %, nHk 81 %. – Digraphe insgesamt: Saller 32 %, Regensburg 68 % (Kliemann) bzw. 78 % (Uminsky), Oberbayern 84 %, oHk 97 %, Niederbayern 94 %, nHk 81 %. Mhd. /ou/ : Saller 65 %, Regensburg 48 % (Kliemann) bzw. 21 % (Uminsky), oHk 4 %, nHk 21 %. – Regensburg 3,9 % (Uminsky). – Saller 35 %, Regensburg 52 % (Kliemann) bzw. 72 % (Uminsky), oHk 96 %, nHk 79 %. Mhd. /iu/, Gesamtwerte ohne Unterscheidung, ob /iu/, Umlaut /iü/ oder Umlaut /ԅ/ zu mhd. /û/ vorliegt (getrennte Werte bei Harnisch 2002, Uminsky 1975, Bürgisser 1988. Danach treten und bei Saller, in Regensburg (Uminsky) und in den Herzogskanzleien deutlich häufiger für /iu/ als für die Umlaute auf, kommt bei Saller
27. Bairisch: Regensburg
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überwiegend, in den Herzogskanzleien ausschließlich bei den Umlauten vor): Saller 52 %, Regensburg 54 % (Kliemann) bzw. 44 % (Uminsky), Oberbayern 46 %, oHk 46 %, Niederbayern 30 %, nHk 41 %. – Saller 23 %, Regensburg 30 % (Uminsky), oHk 12 %, nHk 47 %. – Saller 20 %, Regensburg 14 % (Uminsky), oHk 41 %, nHk 11 %. Neue Graphien gesamt: Saller 43 %, Regensburg 46 % (Kliemann) bzw. 44 % (Uminsky), Oberbayern 54 %, oHk 53 %, Niederbayern 70 %, nHk 58 %. Für mhd. /öu/ liegen keine verwertbaren Zahlen vor. Für den Stand der Monophthongierung können nur Harnisch (2002, dort auch die Vergleichszahlen für mhd. /ie/ und /uo/) für Saller, Uminsky (1975) für Regensburg gesamt und Bürgisser (1988) für die beiden Herzogskanzleien herangezogen werden: Mhd. /ie/ : Saller 95 %, Regensburg 53 %, oHk 92 %, nHk 71 %. – Saller 0 %, Regensburg 1,4 %, oHk 6,8 %, nHk 19 %. – Saller 5 %, Regensburg 45 %, oHk 1 %, nHk 10 %. Mhd. /uo/ : Saller 43 %, Regensburg 32 %, oHk 39 %, nHk 73 %. – Saller 57 %, Regensburg 67 %, oHk 61 %, nHk 27 %. – 0,4 % Regensburg. Mhd. /üe/ : Saller 100 %, Regensburg 79 % (einschließlich der Variante ), oHk 95 %, nHk 92 % (einschließlich ). – Regensburg 16 %, oHk 5 %, nHk 7 %. Harnisch zufolge »fügt sich« der das Bild der städtischen Kanzlei prägende Saller »in den Schreibusus altbayerischer Kanzleien des späten 13. Jahrhunderts insofern ein, als er im i-Bereich [...] konservativer schreibt als im u- (und ü-) Bereich« (Harnisch 2002, 194). Darüber hinaus ist sein Schreibusus insgesamt der konservativste: Der Anteil an modernen Graphien ist in allen Fällen geringer als bei den anderen Schreibern. Die Stadt als Gesamtes ist in den meisten Bereichen ebenfalls konservativer als die Vergleichsorte. Ihr Schreibusus ist am ehesten vergleichbar mit dem der niederbayerischen Herzogskanzlei, die als die konservativere von beiden Kanzleien gilt (vgl. Bürgisser 1988, 151). 3.2.
Stand der frnhd. Diphthongierung und Monophthongierung Ende des 14. Jahrhunderts / Anfang des 15. Jahrhunderts
Die Entwicklung der Regensburger Schreibsprache im 14. Jahrhundert kann aufgrund fehlender Detailuntersuchungen nicht verfolgt werden. Skála (1968, 89) konstatiert allgemein eine Zunahme der Diphthongierung und Monophthongierung, wobei es um 1400 noch unbezeichnete Fälle gebe. Die Feststellung Reiffensteins zu den südostoberdeutschen Schreibsprachen, es gebe im 14. Jahrhundert »in der sprachlichen Entwicklung [...] keine Zäsur« (Reiffenstein 2002a, 2924) wird wohl auch für Regensburg gelten. In Bezug auf die frnhd. Diphthongierung und Monophthongierung lässt sich an Urkunden und Rechnungsbüchern der Stadt, des Katharinenspitals und des Obermünsters um 1400 (vgl. Näßl 2004, Anh. 38) feststellen, dass sich bei mhd. /î/ die neue Graphie so gut wie vollständig durchgesetzt hat. Nur noch als Ausnahme kommt altes (3 % Urkunden Obermünster) oder der Digraph (2 % im Rechnungsbuch des St. Katharinenspitals) vor. Für mhd. /ei/ (vgl. Näßl 2004, Anh. 79) überwiegt die moderne Graphie ebenfalls deutlich, aber altes ist in den meisten Quellen noch mit zwischen 3 % (Urkunden Obermünster) und 16 % (Urkunden Stadt) vertreten. Auffällig ist das Rechnungsbuch des St. Katharinenspitals mit 60 % -Schreibungen.
450
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Für mhd. /û/ ist nicht mehr und die ältere Form des Digraphen , sondern wie für mhd. /ou/ nur noch belegt. Auch für mhd. /iu/ (vgl. Näßl 2004, Anh. 49f.) kommen die mhd. Graphie und die ältere Form der neuen Digraphe nicht mehr vor, für letztere tritt ein. Die häufigste Schreibung (ohne Unterscheidung der etymologischen Herkunft) ist (zwischen 93 % Urkunden Stadt und 64 % Urkunden Obermünster), in den Rechnungsbüchern liegt der Wert zugunsten der -Schreibungen tendenziell niedriger (zwischen 88 % und 75 % Rechnungsbuch Obermünster bzw. St. Katharinenspital). Zu mhd. /öu/ vgl. oben. Bei den Kandidaten für die frnhd. Monophthongierung ergibt sich nur für mhd. /ie/ ein relativ einheitliches Bild (vgl. Näßl 2004, Anh. 55). Es wird in den Urkunden in der Regel durch fortgesetzt. erscheint nur vereinzelt (2 % Urkunden Stadt, 6 % Urkunden Katharinenspital). In den Rechnungsbüchern liegt der Wert für deutlich höher: 25 % Rechnungsbuch Stadt und St. Katharinenspital, 53 % Rechnungsbuch Obermünster. Bei mhd. /uo/, /üe/ lassen sich weder für Schreibstätten noch für Textsorten klare Tendenzen ausmachen. Beide Phoneme werden mit einiger Häufigkeit durch , in einzelnen Texten durch (Rechnungsbuch Stadt, Urkunden Katharinenspital) wiedergegeben, daneben kommt für mhd. /uo/ , für mhd. /üe/ und (Rechnungsbuch Stadt) vor. 3.3.
Die Schreibsprache im 15. Jahrhundert
3.3.1. Diachrone Tendenzen In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts herrscht im Wesentlichen eine Tendenz (vgl. Näßl 2004, 326f.): Die Aufgabe älterer Graphien und v. a. bei den Konsonanten das beginnende bzw. zunehmende Auftreten von Graphien, die im Gesamtfrühneuhochdeutschen verbreitet sind. Um 1400 sind ältere und traditionelle bairische Schreibungen und Formen noch deutlich stärker vertreten als im folgenden Zeitraum bis 1450 (vgl. z. B. für -u-, , ; -leich für mhd. -lîch; -är, -ar für mhd. -ære, für k-; , für mhd. /s(s)/ und /z(z)/; die Flexionsendung -ew (Nom. Sg. f., Nom. / Akk. Pl. n.). In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigen sich unterschiedliche Tendenzen, die um 1500 jeweils stärker ausgeprägt sind als in dem Zeitraum davor (vgl. Näßl 2004, 327f.): a) Die Aufgabe älterer Graphien setzt sich fort, sie sind ab 1450 merklich seltener bzw. nur noch vereinzelt belegt. Modernere Graphien nehmen deutlich zu, neue ( für s-Laute,
für b- in Urkunden seltener als in Rechnungsbüchern (v. a. bei kanzleisprachlichen Lexemen wie Bürger, Brief steht überwiegend ). Frühes für mhd. /i/ in bestimmten Lexemen (dieser, siegel, geschrieben) und Monographen für mhd. /iu/ ( frundt) sind vereinzelte Übernahmen von überregionalen kanzleisprachlichen Formen; d) neben bewahrenden Zügen (s. o.) auch früheres Auftreten neuer Schreibungen als in Rechnungsbüchern (, ;
für b-) bis zum Ende des 15. Jahrhunderts konsequent beibehalten. Der Digraph für mhd. /uo/, /üe/ ist in den Texten des St. Katharinenspitals deutlich stärker vertreten. Mit der Stadt teilt das St. Katharinenspital folgende, jedoch jeweils weniger stark ausgeprägte Züge: Konservatives: für pf in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, längere Bewahrung von ›des‹ und der Flexionsform -ew, ferner die Negation en- (in Urkunden); vereinzelte mitteldeutsche Einflüsse: Rundungsschreibungen () für ei (mhd. /î/), Monographe für au (mhd. /û/). Eine auffällige gemeinsame graphische Variante in Urkunden ist , die in den Quellen des Obermünsters fehlt. Das Obermünster hat gegenüber Stadt und St. Katharinenspital eine Mittelstellung. Seine Quellen weisen mehr dialektal-sprechsprachliche Kennzeichen auf als die der Stadt, aber weniger als die des St. Katharinenspitals. Es teilt mit der Stadt bestimmte, wiederum weniger stark ausgeprägte konservative Züge (um 1400 -är, -ar für mhd. -ære; längere Bewahrung von -ent (3. Pl. Präs.)). Von Stadt und St. Katharinenspital hebt sich das Obermünster durch folgende modernere Züge ab: In seinen Quellen tritt am frühesten die frnhd. Regelgraphie für -k-,
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-ck- auf; dez ›des‹ und die Flexionsendung -ew werden früher aufgegeben, die Negation en- ist bis auf eine Ausnahme nicht belegt. Eine auffällige überregionale Schreibung ist aus der böhmischen Kanzlei stammendes grosch ›Groschen‹ (um 1475, 1500; in den anderen Quellen noch gross (mit Varianten)). Gegen Ende des 15. Jahrhunderts jedoch tendiert das Obermünster wie das St. Katharinenspital – und anders als die Stadt – zur stärkeren Bewahrung einer bairischen Schreibform.
4.
Literatur
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454
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
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27. Bairisch: Regensburg
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Rainer Hünecke, Dresden (Deutschland)
28. Kanzleisprache der Stadt Dresden
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
1.
Einleitung Theoretische Überlegungen Die geographische und sprachräumliche Einordnung Dresdens Die Herausbildung der städtischen Organisationen bis 1500 Die städtischen Organisationen nach 1500 Zur Sprache der Dresdner Stadtkanzlei vor 1500 Zur Sprache der Dresdner Stadtkanzlei nach 1500 Fazit Quellen Literatur
Einleitung
Studien zur historischen Kanzleisprachenforschung zeigen ein anhaltendes und sich entwickelndes Forschungsinteresse an der Sprache von Institutionen des lokalen Raumes. Die Stadt mit ihren schriftproduzierenden Kanzleien steht im Zentrum des wissenschaftlichen Diskurses. Gleichzeitig aber wird es paradoxerweise auf der einen Seite auch immer schwieriger, innovative Ideen und konzeptionelle Entwürfe in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen, und andererseits werden Forschungsdesiderate sowohl hinsichtlich der an bestimmte Sprachräume gebundenen Kanzleisprachen als auch der Untersuchungsgegenstände offensichtlich. Unübersehbar ist eine Konzentration der Erforschung von kanzleisprachlichen Traditionen im niederdeutschen sowie im oberdeutschen Sprachraum. Geht es im ersten Fall um den schriftsprachlichen Wechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen, stehen im zweiten Fall Fragen der sprachlichen Leistungs- und Innovationsfähigkeit und -bereitschaft hinsichtlich der Etablierung und Favorisierung von Normtrends im Mittelpunkt. Während die kanzleisprachliche Forschung lange Zeit besonders Probleme von Graphem und Graphemvariation zum Gegenstand hatte, ist in jüngster Zeit eine Hinwendung zu syntaktischen Phänomenen zu beobachten. Im Kontext der Diskussion um die Bedeutung von Sprachlandschaften im Prozess der Herausbildung des Neuhochdeutschen rückte das Ostmitteldeutsche in das Zentrum der Diskussion. Verbunden war dies allerdings mit einer gewollten oder ungewollten Fokussierung auf das druckschriftliche Zeitalter vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein. Wenngleich gerade auch in diesem Kontext wichtige Studien zu ostmitteldeutschen Kanzleisprachen entstanden, gerieten mit der Konzentration auf das 16. Jahrhundert die Anfänge muttersprachlichen Handelns aus dem Blickfeld. Zu verweisen sei hier nur auf die Arbeiten von Fleischer (1970) zu Dresden,
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Kettmann (1969) zu Wittenberg und Otto (1970) zu Zeitz. Eine Ausnahme bildet die Studie von Suchsland (1968) zu den Jenaer Ratsurkunden, die den Zeitraum von 1317 bis 1525 umfasst. Das kanzleisprachliche Handeln der kommunalen Rechtsstadt Dresden wird in einem lokalen Raum beschrieben, der für die Zeit des späten Mittelalters und der beginnenden Neuzeit aufgrund der Verkehrslage als auch der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leistungsfähigkeit eher als randständig zu charakterisieren ist und mit der sprachgeschichtlichen Bedeutung solcher lokaler Räume wie Köln, Nürnberg oder Wien zunächst wenig vergleichbar erscheint. Dennoch bietet sich gerade hier die Möglichkeit, sprachgeschichtliche Trends – wenn auch möglicherweise zeitlich verzögert – in einem überschaubaren Raum in Erscheinung treten zu lassen. Die Aussagen zum kanzleisprachlichen Handeln in Dresden basieren auf den Studien von Hünecke (2007; 2008) und Hünecke / Jakob (2010) zum 14. und 15. Jahrhundert und von Fleischer (1970) zum 16. Jahrhundert. In diesem Sinne haben die nachfolgenden Aussagen den Charakter einer Pilotstudie und werden auf Forschungsdesiderata verweisen müssen. Damit sollen aber auch Probleme zur Diskussion gestellt werden sowie an bestehende Konzeptionen angeknüpft und diese gleichzeitig weiterentwickelt werden.
2.
Theoretische Überlegungen
Jede Gesellschaft verfügt auf jeder ihrer Entwicklungsstufen über eine Anzahl von Organisationen. Diese können u. a. gesellschaftliche Werte hervorbringen, Werte verwalten, Werte bewahren. Die kommunale Stadt des späten Mittelalters verfügte zumindest über solche Organisationen, wie sie in Abbildung 1 dargestellt werden. Der Umfang und der Ausprägungsgrad dieser Organisationen können dabei von Stadt zu Stadt variieren. Kommunale Stadt Rat
Gericht
Zünfte Kirche
Kloster
Landesherr
Gesundheitswesen
Bildungswesen
Ständeversammlung christliche Bürger
jüdische Bürger
Abb. 1: Institutionen / Organisationen der spätmittelalterlichen kommunalen Stadt
28. Kanzleisprache der Stadt Dresden
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Die Kanzleien der kommunalen Rechtsstädte des späten Mittealters sind solche Organisationen, bestehend »aus einer Anzahl von Personen, die formal miteinander verbunden und gewöhnlich spezifischen Funktionen zugeordnet sind, damit ein bestimmtes Ziel erreicht werden kann« (Acham 1992, 36). Das sprachliche Handeln in ihnen ist »weitgehend in repititiven Abläufen organisiert« (Ehlich / Rehbein 1980, 338). Es handelt sich dabei um wiederkehrende Diskurse (vgl. Hünecke 2010). Das sprachliche Handeln der interagierenden Personen und Personengruppen wird sowohl durch die Leistungsanforderungen der Organisation als auch durch die agierenden soziofunktionalen Gruppen als Leistungsträger geprägt. Das sprachliche Handeln in der städtischen Kanzlei der kommunalen Rechtsstadt Dresden wird im Zeitraum von 1300 bis um 1600 vorgestellt. Der Beginn des Untersuchungszeitraumes ergibt sich aus der Überlieferungslage. Die deutschsprachige Überlieferung beginnt in Dresden kurz nach 1300. Eine Zäsur in diesem Zeitraum ergibt sich institutionsgeschichtlich mit der Neuorganisation des städtischen Verwaltungswesens zu Beginn des 16. Jahrhunderts und dem Beginn des Druckwesens in Dresden 1524. Das Ende des Zeitraumes ist durch den beginnenden Ausbau der kommunalen Rechtsstadt zur barocken Residenzstadt charakterisiert.
3.
Die geographische und sprachräumliche Einordnung Dresdens
Der Ortspunkt Dresden befindet sich im Zentrum der Elbtalweitung an der Einmündung der Weißeritz in die Elbe. Die Elbtalweitung wird im Nordwesten durch das Meißner Hügelland, im Süden durch die Ausläufer des Osterzgebirges und im Nordosten durch die Westlausitzer Platte begrenzt. Sprachgeographisch befindet sich Dresden im Zentrum des Ostmeißnischen. Bereits seit vor- und frühgeschichtlicher Zeit gehört diese Elbtalweitung zu den so genannten Offenlandschaften. Die frühesten archäologischen Funde verweisen auf die mittlere Altsteinzeit, die Besiedelung des Raumes beginnt in der frühen Jungsteinzeit (Frühneolithikum ca. 5500 v. Chr. – vgl. Jacob 2005, 29ff.). Eine dichter werdende Besiedlung der Elbtalweitung ist in der Bronzezeit durch die so genannte Lausitzer Kultur nachweisbar, die seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. durch eindringende (elb)germanische Gruppen überlagert wurde. Mit dem Beginn des 7. Jahrhunderts n. Chr. ließen sich im Gebiet der Elbtalweitung aus dem Süden eindringende slawische Bevölkerungsgruppen nieder. Weniger archäologische als vielmehr Befunde der Ortsnamenforschung (vgl. u. a. Fleischer 1961) haben diesen Kulturraum chronologisch und topographisch erschlossen (vgl. die Erklärung des Ortsnamens Dresden aus altsorb. *drezd’any ›Waldbewohner‹). Im Zusammenhang mit der Sicherung des deutschen Reiches gegen einfallende magyarische Reiter geriet in den ersten Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts unter Heinrich I. die Elbtalweitung in den Machtbereich des deutschen Königreiches der Ottonen. Gleichzeitig wird damit der dieses Gebiet bezeichnende Name Nisan urkundlich fassbar als regio in der Urkunde aus dem Jahre 970 (vgl. CDS I 1, 251). Das Elbtalgebiet behielt seine Eigenständigkeit, wurde jedoch mit einem Netz militärischer Stützpunkte überzogen, den so genannten Burgwarden. Das Burgwardsystem lässt auch die strategisch günstige Lage
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
der Elbtalniederung für das Verkehrswegenetz erkennen: der Flusslauf für den Nahverkehrsweg, die Fernverbindung im Verlauf des Flusses und über den Erzgebirgspass nach Böhmen sowie die Möglichkeit der Flussquerung. Im heutigen Stadtgebiet ist u. a. der Burgward Bresnice archäologisch und urkundlich bezeugt. Mit der Ausweitung des Siedlungsraumes im Verlauf des 12. Jahrhunderts erweiterte sich durch die Kolonisationsbewegung der Anteil der deutschen Bevölkerung im Gebiet der Elbtalweitung. Das bereits erwähnte Verkehrsnetz wurde ausgebaut, der Fernhandel wuchs an. Es kam zu neuen Städtegründungen. Das Gebiet des heutigen Stadtkerns von Dresden wurde zu diesem Zeitpunkt nicht von slawischen Siedlern bewohnt, war jedoch in vorgeschichtlicher Zeit bereits ein Siedlungsort. Es handelt sich dabei um eine linkselbische plateauartige Geländeerhöhung im Bereich der heutigen Frauenkirche, des Taschenberges und des Altmarktes. Ein Fährübergang verband das linkselbische mit dem rechtselbischen Gebiet an dieser Stelle. Der hochwasserfreie Ort sowie die Möglichkeit der Elbquerung waren günstige Bedingungen zur Entstehung von Marktsiedlungen mit Kirchenbauten. Mit den Silbererzfunden im Erzgebirge nach 1168 wuchs die Bedeutung dieser Verkehrszone und führte zum »Bau einer Brücke und eines städtischen Anwesens« (Jacob 2005, 59). Man geht davon aus, dass mit einer planmäßigen Bebauung des Stadtkerns um 1175 / 1180 begonnen wurde und der Bau der Brücke um 1220 abgeschlossen war (vgl. Jacob 2005). Die Existenz einer landesherrlichen Wehranlage wird für die Zeit nach 1230 angenommen.
4.
Die Herausbildung der städtischen Organisationen bis 1500
Die Anfänge der städtischen Organisationen in Dresden liegen noch weitgehend im Dunklen. Das sprachliche Handeln in den bereits etablierten Organisationen ist in zwei voneinander abgrenzbaren zeitlichen Abschnitten erfassbar. Das betrifft zum einen den Zeitraum von 1300 bis um 1500. Die erste urkundliche Erwähnung der Stadt Dresden geht auf das Jahr 1206 zurück und erste textuelle Überlieferungen in lateinischer Sprache stammen aus dem Jahre 1260. In beiden Fällen handelt es sich allerdings nicht um städtebürgerliche Schriftlichkeit im eigentlichen Sinne, sondern im ersten Fall um eine landesherrliche Rechtshandlung und im zweiten Fall um landesherrliche Privilegien. Deutschsprachige Texte sind seit kurz nach 1300 überliefert. Der zweite Zeitraum resultiert institutionsgeschichtlich aus der Neuorganisation des städtischen Verwaltungswesens zu Beginn des 16. Jahrhunderts und dem Beginn des Druckwesens in Dresden 1524. Das Ende dieses Abschnittes ist um 1600 mit dem Übergang der kommunalen Rechtsstadt zur landesherrlichen Residenzstadt und den damit verbundenen Veränderungen im Verwaltungswesen der Stadt anzusetzen. Die erste urkundliche Überlieferung Dresdens stammt aus dem Jahre 1206. 1215 erhielt Dresden die Rechte einer Stadt. Am Ende des 14. Jahrhunderts war Dresden eine kleine Bürgerstadt mit ca. 3.700 Einwohnern und gar nur 2.600 Einwohnern zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Im Vergleich dazu lebten in Freiberg im 15. Jahrhundert 5.000 Einwohner und in Görlitz ca. 8.300 Einwohner. Dennoch kann am Beispiel von Dresden der für diesen Zeitraum typische Prozess des Übergangs von einer Kaufmannssiedlung
28. Kanzleisprache der Stadt Dresden
461
zu einer kommunalen Rechtsstadt exemplarisch beobachtet werden. Dazu gehört der Auf- und Ausbau eines den modernen städtischen Belangen entsprechenden Gefüges von Organisationen. Dieser Übergang von dem auf die Einzelperson bezogenen Kaufmannsrecht über das Marktrecht hin zum Stadtrecht vollzog sich in Dresden im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts (vgl. Blaschke 2005, 152). Im Ergebnis dieses Prozesses entstand eine bürgerliche Selbstverwaltung, die von der unmittelbaren persönlichen Herrschaftsausübung losgelöst war und von diesem Zeitpunkt an für ewig existierte. Seinen Ausdruck fand das in der Konstituierung des städtischen Rates, bestehend aus dem Ratskollegium und dem Stadtschreiber. Aussagen über die Stadtkanzlei vor 1500 finden sich bei Richter (1885), Ermisch (1889), Fleischer (1961, 1970), Boer (1963), L. E. Schmitt (1966), Blaschke (2005) und Oberste (2007). Dem Rat oblagen die finanziellen Angelegenheiten der Stadt sowie die Polizeibefugnisse und die diplomatischen Beziehungen zum Landesherren und zu anderen Institutionen / Organisationen. Im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts wurde diese Verwaltungsorganisation den Bedürfnissen der kommunalen Rechtsstadt entsprechend weiter ausgebaut. Neben dem Ratskollegium entstanden verschiedene Ämter: das Brauamt, das Bauamt, das Brückenmeisteramt, das Hospitalamt sowie das Amt des Röhrmeisters, der für die Wasser- und Abwasserversorgung zuständig war. Anhand der Herkunftsnamen der Ratsfamilien konnte Fleischer (1961) zeigen, dass zwei Drittel dieser Familien aus einem Umkreis von ca. 30 km stammten. Die anderen Familien kamen aus dem Westmitteldeutschen, nicht jedoch aus dem Oberdeutschen und Niederdeutschen. Die erste Nennung eines Bürgermeisters für Dresden stammt aus dem Jahre 1292. Ein eigenständiger Stadtschreiber für Dresden wurde erstmalig 1377 genannt. Der erste namentlich bekannte Stadtschreiber ist Peter Bernher von 1380 bis 1395. 1396 wurde er Bürgermeister. Sein Nachfolger im Stadtschreiberamt war Thomas der Stadtschreiber von 1396 bis 1412. Ab 1413 war jener dann ebenfalls Bürgermeister bis 1432. Von 1413 bis 1437 war Nikolaus Thirmann Stadtschreiber in Dresden, danach war er von 1424 bis 1437 als Bürgermeister tätig. Nikolaus Thirmann stammte aus Meißen, studierte in Prag und war vor seinem Stadtschreiberdienst in Dresden Notar des Dekans am Domkapitel in Meißen. Von 1424 bis 1428 war Hans Radeberg Stadtschreiber in Dresden. Er wurde 1428 Ratsherr und war von 1431 bis 1448 Bürgermeister. Erst 1435 ist ein weiterer Stadtschreiber belegt: Johannes Wißhenze, der dieses Stadtschreiberamt bis 1450 betreute. Ihm folgte von 1451 bis 1464 Johannes Franck im Amt des Stadtschreibers, der danach von 1465 bis 1483 Bürgermeister war. Von 1464 bis 1485 war Nikolaus Syfridt Stadtschreiber. Ihm folgten von 1486 bis 1488 Matthias Fitzstrohe und Lorenz Busch von 1488 bis 1512. Neben dem Ratskollegium konstituierte sich das Gerichtsamt, bestehend aus dem Schultheiß / Richter und dem Schöffenkollegium. Seit 1412 oblag diesem die Niedergerichtsbarkeit und ab 1484 die Obergerichtsbarkeit. Vom Gerichtsamt aus gab es diskursive Beziehungen zum Schöppenstuhl nach Leipzig. Das gewerbliche Leben der Stadt bestimmte der Marktbetrieb mit Wochen- und Jahrmarkt sowie ab 1295 mit einem städtischen Kaufhaus. Die Handwerker waren in Zünften organisiert. In Dresden waren es die Zünfte der Gewandschneider und der Tuchmacher für den überregionalen Markt und die der Fleischer, Schuhmacher, Schmiede, Bäcker, Kürschner und Böttcher für den regionalen Markt.
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Der religiöse Diskurs bzw. die Diskurse wurden durch die städtischen und bischöflichen Kirchen (Kreuzkirche und Frauenkirche) sowie durch die beiden Klöster, das Franziskanerkloster (seit 1265) und das Augustiner-Eremiten-Kloster (seit 1405) bestimmt. Neben der internen klösterlichen Kommunikation hatten die Klöster in Dresden externe Kommunikationsaufgaben in deutscher Sprache in der Predigt, der Beichte und bei Begräbnissen. Ein Beginen-Haus ist seit dem 13. Jahrhundert bezeugt. Der Frauenkirche war daneben die geistliche Gerichtsbarkeit übertragen. Für die Geschichte der Stadt gewann im Untersuchungszeitraum die Beziehung Stadt – Landesherr zunehmend an Bedeutung. Seit der erstmaligen Nennung der Stadt ist die Anwesenheit des Landesherren, der auf seiner Burg Rechtshandlungen ausführte, in Dresden mehrfach bezeugt. Ab 1485 erfolgte der Ausbau der Burg zur Residenz. Die häufige Anwesenheit des Landesherren führte wohl auch dazu, dass mehrere Landtage in Dresden abgehalten wurden. Ab 1631 wurde der Landtag dann ausschließlich in Dresden abgehalten. Eine Schule, die Kreuzschule, ist seit 1300 durch ihre Schulordnung nachweisbar. Das Gesundheitswesen bzw. dessen Herausbildung wird sichtbar durch die Anwesenheit von Stadtphysici, Apothekern, Wundärzten, Hebammen und Badern.
5.
Die städtischen Organisationen nach 1500
Die Zäsur um 1500 resultiert aus einem sich wandelnden Status der Stadt im Verlauf des 16. Jahrhunderts. Die Bevölkerungszahl stieg bis zum Ende des Jahrhunderts auf ca. 11.500 Bewohner (vgl. Richter 1885, 194) an, die Stadt wurde unter den Kurfürsten Moritz und August schrittweise, aber nachhaltig zur Residenz ausgebaut. Der Ausbau der städtischen Kanzlei war eine notwendige Folge. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts war nur ein Stadtschreiber nachweisbar. In der Mitte des Jahrhunderts lassen sich dann ein Oberstadtschreiber und zwei Unterstadtschreiber nachweisen. Am Ende des Jahrhunderts findet sich neben diesen ein gesonderter Gerichtsschreiber. Namentlich handelt es sich in der Jahrhundertmitte um folgende Personen: den Oberstadtschreiber Michael Weiße sowie die Unterstadtschreiber Jacob Lincke und Andreas Ludwig. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Zeitraum der Unterschreiber Jacob Lincke gleichzeitig oder zumindest zeitweise die Funktion des Gerichtsschreibers innehatte. Für das Jahr 1592 gehen aus den Unterlagen zur Besoldung der Ratspersonen (A XV 30 d, 59a) folgende Personen hervor: der Oberstadtschreiber Burckhardt Reiche, die Unterstadtschreiber Jonas Möstel und Andreas Ludowig sowie der Gerichtsschreiber Thobias Hanemann. Aus dem Ämterbuch von 1549 lassen sich neben den städtischen Schreibern und Bürgermeistern weitere soziofunktionale Gruppen ableiten, deren Tätigkeit unmittelbar mit und an schriftliche Sprachhandlungen geknüpft sind: der Richter, die Schöppen und der Cämmerer. Außerdem werden auf spezifische kommunale Belange ausgerichtete Ämter beschrieben, deren Funktionsinhaber über entsprechende schriftsprachliche Kompetenz verfügen mussten: das Salzherrenamt, das Bierherrenamt, das Pfannenherrenamt, das Brückenherrenamt und der Spitalsverwalter (vgl. Ämterbuch 1549).
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463
Neben diesen unmittelbar mit der städtischen Kanzlei verbundenen Schreibern lassen sich am Ende des 16. Jahrhunderts weitere Schreiber in anderen kommunalen Organisationen nachweisen (vgl. auch die Ausführungen bei Fleischer 1970, 17ff.): 1592 Nicolaus Druss als Cammerschreiber, 1587 Georg Winckelmann als Schreiber der Schuhmacherinnung. Als öffentlicher Notar tritt 1553 Caspar der Stuhlschreiber in Erscheinung. Mit dem Ausbau der landesherrlichen Kanzlei waren in dieser Organisation ab der Jahrhundertmitte die Schreiber nachweisbar: 1555 Veit Clement als Zeugschreiber, 1592 Hans Korbener als Amtsschreiber, 1595 Johann Pirner als kürfürstlicher Rentschreiber. Für die soziale Stellung der städtischen Schreiber ist auch für das 16. Jahrhundert signifikant, dass das Schreiberamt in das Bürgermeisteramt mündet oder umgekehrt. So wurde Wenzeslaus Naumann im Jahre 1525 Bürgermeister, obwohl dieser noch bis 1526 auch als Stadtschreiber tätig war. Nach seiner Amtszeit als Bürgermeister war er dann wieder Stadtschreiber (vgl. Fleischer 1970, 20). Von der Mitte des Jahrhunderts an sind alle Oberstadtschreiber gleichzeitig auch Ratsmitglieder (vgl. Richter 1885, 131). Die regionale Herkunft der städtischen Schreiber veränderte sich im 16. Jahrhundert. Stammten die Schreiber vor 1500 noch vorwiegend aus dem Nahbereich der Stadt, so erweiterte sich der Herkunftsbereich der Schreiber nach 1500. Fleischer (1970) hat für einige Oberstadtschreiber die Herkunft ermitteln können: Lorenz Busch, Stadtschreiber von 1486 bis 1512, stammte wahrscheinlich aus Eibelstadt in Unterfranken, studierte in Leipzig und war bereits in Altendresden als Stadtschreiber und Schulmeister tätig. Wenzeslaus Naumann, Stadtschreiber von 1518 bis 1526, stammte wahrscheinlich aus Dresden, studierte in Leipzig und wurde 1530 zum Doktor beider Rechte promoviert. Nach seiner Tätigkeit als Ratsschreiber ist er als Kanzler Herzog Heinrichs nachweisbar. Michael Weiße, Oberstadtschreiber von 1549 bis 1566, kam aus dem niederschlesischen Sagen (heute Zagan), studierte 1525 bis 1528 in Leipzig, war in Leipzig bereits Gerichtsschreiber und Notar. Burgkhardt Reich, Oberstadtschreiber von 1568 bis 1603, stammte wahrscheinlich aus Meißen, war vor seiner Tätigkeit als Oberstadtschreiber als kurfürstlicher Geheimer Sekretär tätig. Der Umfang der überlieferten schriftlichen Quellen nahm im Verlauf des 16. Jahrhunderts enorm zu, so dass eine übersichtsartige Darstellung nicht mehr möglich ist. Die Tradierung des gemischten Stadtbuches, in dem neben städtischen Verwaltungsangelegenheiten und Abschriften landesherrlicher Erlässe zunehmend Gegenstände der freiwilligen Gerichtsbarkeit Eingang fanden, endete in Dresden in den 20er-Jahren des 16. Jahrhunderts. Es entstanden zum einen für den jeweiligen Geschäftsgang spezialisierte Bücher (Testamentsbuch, Vormundschafts-Bestätigungs-Buch, Arrestbuch) und zum anderen für einen bestimmten Vorgang angelegte Aktenstücke. Neben diesen werden die bereits vor 1500 nachweisbaren Rechnungen weiter fortgeführt, jedoch jetzt in einem weitaus differenzierterem Ausmaß, das sich aus dem im Verlauf des 16. Jahrhunderts entwickelnden differenzierten Ämtersystem ergibt.
464
6.
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Zur Sprache der Dresdner Stadtkanzlei vor 1500
Das sprachliche Handeln in der Dresdner Stadtkanzlei vor 1500 wurde exemplarisch am ersten Stadtbuch beschrieben. Stadtbücher sind »Ausdruck erster Formen einer organisierten Verwaltung bei der Bewältigung der politischen, rechtlichen und ökonomischen Probleme der Stadt« (Beck / Henning 1994, 89). Sie entstehen zeitversetzt neben den Urkunden, aber parallel zu laufendem Geschäftsverkehr. Es handelt sich dabei um Niederschriften, die nicht an räumlich getrennte Empfänger gerichtet waren, sondern der sich herausbildenden Verwaltung als Arbeitsmittel dienten, die das kommunale Gedächtnis bildeten. Diese zunächst buchähnlich auf einzelnen Lagen niedergeschriebenen und nachträglich in Buchform gebundenen Schriftstücke werden allgemein als Amtsbücher bezeichnet. Von besonderem Interesse sind die ersten überlieferten Stadtbücher. Sie dokumentieren den Übergang von vormals mündlichen zu schriftlich fixierten Sprachhandlungen. Das erste Dresdner Stadtbuch ist gemischten Inhalts und umfasst den Zeitraum von 1404 bis 1436. Nach Auskunft der ersten Verfasser wurde das Stadtbuch mit folgender Intention angelegt: (1)
Sindmal der mensche von rechtir nature crank ist und mit der cziit vorgeht, so ist eine lere das wisin, was vor dem rate gehandilt wirt, da not an ist, das man das mit schriftlichir kuntschaft durch nucz der luthe in gedechtnis behalde. (Boer 1963, Art. 10, fol. 1r)
Die aufgezeichneten Artikel betreffen private Rechtsgeschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Dazu gehören Schuldanerkenntnisse, Verpfändungen, Erbschaftsregelungen, Stiftungen und Testamente. Es wurde dabei nicht die Vollziehung des Rechtsgeschäftes verschriftlicht, sondern das Bekenntnis der Handlungspartner vor dem Stadtrat zum Stand der Rechtsausführung. Vom Stadtschreiber wurde dieser angegebene Rechtsstand protokollarisch festgehalten. Im Zeitraum von 1404 bis 1436 waren an der Niederschrift des Stadtbuches die Stadtschreiber Thomas der alte Stadtschreiber (1404 bis 1412), Nikolaus Thirmann (1413 bis 1424), Hans Radeberg (1424 bis 1428), Paul Koppel (1428 bis 1435) und Johannes Wißhenze (ab 1435) beteiligt. Mit Sicherheit können jedoch nur für Thomas, Nikolaus Thirmann und Johannes Wißhenze die Textpassagen zugeordnet werden. Hans Radeberg und Paul Koppel lassen sich keinem Text eindeutig zuordnen. In diesem Zeitraum von 1424 bis 1435 sind vier Schreiberhände nachzuweisen, die über einen größeren Zeitraum tätig waren: Schreiber A (1423 bis 1424), Schreiber B (1424 bis 1431), Schreiber C (1432 bis 1433) sowie Schreiber D (1433 bis 1434). Die Tätigkeiten dieser Schreiber fallen nicht mit denen der Schreiber Hans Radeberg und Paul Koppel zusammen. Es ist weiterhin zu beobachten, dass neben diesen weitere Schreiber tätig waren, die allerdings nur durch wenige Einträge präsent sind. So ist um 1405 ein Schreiber mit sieben Texten neben Thomas, zwischen 1413 und 1420 ein Schreiber mit vier Texten neben Nikolaus Thirmann und zwischen 1425 und 1435 ein weiterer Schreiber mit vier Texten nachzuweisen. Bei dem Dresdner Stadtbuch von 1404 bis 1436 handelt es sich um einen Artikelkatalog, der aus 699 Artikeln besteht, die auf Pergament niedergeschrieben wurden. Im Durchschnitt bestand jeder Artikel aus ca. 2,5 Sätzen. Lediglich der Schreiber neben
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Thomas und der Schreiber C weichen davon etwas mehr ab. Insgesamt also ist im Untersuchungszeitraum keine Zunahme im Umfang der Artikel zu beobachten. Die 673 von mir untersuchten Artikel enthielten insgesamt 1.737 satzwertige Einheiten. Diese setzten sich aus 705 Einfachsätzen (40,58 %) und 1.032 Satzgefügen (59,41 %) zusammen. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts konnte ein noch annähernd gleichwertiger Gebrauch hypotaktischer und parataktischer Konstruktionen beobachtet werden, bei dem parataktische Mittel sogar noch leicht überwogen (51,28 %). Bis zur Mitte der 30er Jahre des 15. Jahrhunderts sank der Gebrauch parataktischer Konstruktionen auf weniger als ein Drittel ab (28,57 %). Beachtenswert in diesem Zusammenhang sind insbesondere die deutlichen Zäsuren im sprachlichen Handeln der Schreiber neben Nikolaus Thirmann und neben den Schreibern A, B, C, D sowie auch neben Thomas. Besonders bei den Schreibern neben Thirmann und neben den Schreibern A, B, C, D sank der Gebrauch parataktischer Konstruktionen erheblich: neben Thirmann auf 24,69 % und neben A, B, C, D sogar auf 17,33 %. Nicht so deutlich ist das im sprachlichen Handeln des Schreibers neben Thomas zu erkennen. Bei diesem Schreiber sank zwar auch der Gebrauch parataktischer Konstruktionen, aber die Distribution im Gebrauch der hypotaktischen Konstruktionen ist viel interessanter. Im Vergleich zu Thomas zeigte sich bei diesem Schreiber ein bedeutend geringerer Gebrauch des abperlenden Satzgefüges (19,04 %), aber ein im Vergleich deutlich höherer Gebrauch des zentrierten (9,52 %) und geschlossenen Satzgefüges (9,52 %) als bei Thomas. Signifikant andere Präferenzen im sprachlichen Handeln sind aber bei den genannten Schreibern neben Thirmann und neben A, B, C, D zu erkennen. Bei diesen ist nicht nur eine deutliche Bevorzugung der Hypotaxe zu beobachten, sondern auch eine im Vergleich zu den anderen Schreibern beobachtbare Bevorzugung bestimmter hypotaktischer Konstruktionen. Beide Schreiber bevorzugen in ihrem sprachlichen Handeln das geschlossene Satzgefüge vor allen anderen syntaktischen Konstruktionen: der Schreiber neben Thirmann mit 53,08 % und der Schreiber neben A, B, C, D mit 38,66 %. Nach Aussage der Fachliteratur war das so möglicherweise zu erwarten. Denn bei Admoni (1990) heißt es diesbezüglich: Trotz der großen Rolle, die die Parataxe in manchen Textgattungen (z. B. in den Reisebeschreibungen und Chroniken) spielt, ist doch die erste Etappe des Frühneuhochdeutschen [1350 bis 1500 – Zeitraum nach Admoni – R. H.] durch einen außerordentlichen Aufschwung des Satzgefüges gekennzeichnet. Es setzt sich der massenhafte Gebrauch der Satzgefüge in den Urkunden fort, und sie werden zuweilen zu überaus mehrgliedrigen und langen Gebilden. (Admoni 1990, 150)
Dem ist am Beispiel des vorliegenden Untersuchungsbefundes zuzustimmen, wenngleich von einem massenhaften Gebrauch der Hypotaxe wohl noch nicht gesprochen werden kann – auch nicht bei den genannten Ausnahmen (neben Thirmann und neben A, B, C, D). Eine andere Aussage von Admoni (1990) ist in diesem Zusammenhang jedoch noch viel interessanter: Für die Zementierung des Satzgefüges als einer syntaktischen Einheit sind besonders die geschlossenen und gestreckten Strukturen günstig, da sie eben die unmittelbare oder mittelbare Bezogenheit der Nebensätze auf den Hauptsatz topologisch unzweideutig bekunden. (ebd., 153)
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Diese Aussage trifft genau das beobachtete Sprachhandeln der Schreiber neben Thirmann und neben A, B, C, D. Genau bei diesen Schreibern ist der Anteil des geschlossenen Satzgefüges sehr hoch. Hinsichtlich der Verwendung des gestreckten Satzgefüges sind allerdings Einschränkungen zu machen. Zwar ist der Anteil der Verwendung des gestreckten Satzgefüges bei dem Schreiber neben Thirmann ebenfalls hoch, bei dem Schreiber neben A, B, C, D jedoch überhaupt nicht. Für alle anderen Schreiber trifft die Aussage von Admoni (1990) nicht zu. Der Ausbau des Satzgefüges verlief über das abperlende Satzgefüge. Von den drei abweichenden Schreibern wurden für dieses Stadtbuch untypische Texte niedergeschrieben. Es handelt sich dabei um Abschriften von Urkunden, Ordnungen und einen Brief, der an die Stadt Dresden gerichtet war. Überaus deutlich ist in den Urkunden eine Bevorzugung der Hypotaxe zu erkennen. Der Gebrauch der Hypotaxe ist stabil seit Beginn des Jahrhunderts. Bereits die ersten Urkunden aus dem Jahre 1403 weisen einen dominierenden Gebrauch der Hypotaxe auf. Eine Bevorzugung bestimmter Satzgefügetypen kann allerdings aus diesem Untersuchungsbefund nicht deutlich abgelesen werden. Lediglich der Schreiber neben Thirmann bevorzugte das geschlossene Satzgefüge, wie es von Admoni (1990) dargestellt wurde. Aber der Schreiber neben Thomas und der Schreiber neben A, B, C, D bevorzugten das abperlende Satzgefüge. Auch bei den Ordnungen war eine deutliche Bevorzugung hypotaktischer Konstruktionen zu beobachten. Im Vergleich zu den Urkunden konnte bei den Ordnungen eine Veränderung in der Frequenz der Nutzung hypotaktischer Konstruktionen im Untersuchungszeitraum beobachtet werden. Der Gebrauch der Hypotaxe stieg in dieser Textsorte kontinuierlich von 60 % bei Thirmann auf 87,28 % bei dem Schreiber neben A, B, C, D. Die von Admoni (1990) betonte Präferenz des gestreckten und geschlossenen Satzgefüges kann mit dem vorliegenden Untersuchungsbefund verifiziert werden. In den Ordnungen dominieren bei den hypotaktischen Konstruktionen das gestreckte und das geschlossene Satzgefüge. Für den Brief war ebenfalls eine deutliche Bevorzugung der Hypotaxe im Sprachhandeln des Schreibers neben Thirmann zu beobachten. Im Vergleich zu seinem Sprachhandeln in der Textsorte Ordnung liegt der Gebrauch der Hypotaxe im Brief höher und ist vergleichbar mit dem Wert der zeitgleichen Urkunden. Die einzelnen Stadtschreiber treten deutlich sprachlich profiliert auf. Bestätigt wird dabei ein Wandel im Sprachhandeln, der seinen Ausdruck in einer Verschiebung von einer überwiegend parataktisch organisierten Syntax zu einer dominierend hypotaktisch organisierten Syntax findet. Es ist dabei keine sprunghafte Veränderung, sondern ein allmählicher Wandel von Thomas dem alten Stadtschreiber, dessen Sprachhandeln überwiegend parataktisch aufgebaut war, über Nikolaus Thirmann, dessen Sprachhandeln nun allmählich hypotaktisch organisiert war, bis hin zu den Schreibern A bis D und schließlich Johannes Wißhenze, dessen Sprachhandeln im ersten Dresdner Stadtbuch eindeutig hypotaktisch geprägt war. Der Ausbau der Hypotaxe verlief jedoch nicht, wie es bei Admoni (1990) dargestellt wurde, über den Ausbau des gestreckten und / oder geschlossenen Satzgefüges, sondern über den Ausbau des abperlenden Satzgefüges. Der Vergleich eines Artikels von Thomas aus dem Jahre 1405 mit dem Artikel von Johannes Wißhenze aus dem Jahre 1436 soll das verdeutlichen. In beiden Fällen handelt es sich um ein Schuldanerkenntnis. Es handelt sich dabei um eine (freiwillige) Erklärung
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eines Schuldners, der damit das Bestehen eines Schuldverhältnisses anerkennt. Der Artikel von Thomas besteht überwiegend aus Einfachsätzen (ES), die durch Wortgruppen (WG) unterbrochen sind. Die Einfachsätze werden durch zwei abperlende Satzgefüge (SGab) flankiert. Für diese Satzgefüge ist typisch, dass die Nebensätze (NS) sehr kurz sind und attributive Funktion haben. Der Artikel von Johannes Wißhenze besteht nur aus Satzgefügen. Neben den abperlenden Satzgefügen findet sich ein zentriertes Satzgefüge (SGzentr). Die Satzgefüge verfügen über einen Hauptsatz (HS) und mehr als nur einen Nebensatz. Thomas der alte Schreiber (1405): (2)
Hanns Buling der ist Heinrich sinem brudir schuldig 24 schog 35 gr [ES] sinre swestir Katherin ist er schuldig 24 sex 35 gr [ES] sinre swestir Gerdrut ist er ouch alz vil schuldig [ES] Summa 74 sex minus 15 gr [WG] Ouch ist her Heinrich schuldig 1 sex 26 gr und Gerdrut und Katherin iglichir alz vil von dem wingartin [HS] den Schonerst hat [NS] [Sgab] Summa 4 sex 18 gr [WG] Ouch hat Heinrich mit Hansen ein pferd [HS] das zcu dem hergewete gehorit [NS] [Sgab] Das achten se an zcehen schog [ES] Ouch sal Hanns der gutir gnisen und die unvorkummirt und ane schulde haldin [ES] (Boer 1963, Art. 15, fol. 1r)
Johannes Wißhenze (1436): (3)
Peter Bucho Jocof Fredeberg und Kuncz Slechtinger meteborgere zu Dreßden mit gesammelter hand vor sich ire erben und erbnemen selbschuldig haben bekant Johanse Skolen 32 schog guter schildechter groschen und ym globet [HS] die zu beczaln mit gesammelter hand, nemlich 4 schog uf die quatertemper zu pfingsten erstkunfftig und darnach uf iczliche quatertemper 4 ß [NS] biß das 24 ß beczalt werden und denn uf die neste quatertemper darnach 8 schog miteynander [NS] [Sgab] und uf welche tagecziit sie sümig würden [NS] so sal man zu in helffin umbe die vortagete summe inmassen [HS] als ab Johannes die mit rechte irlanget bette [NS] [Sgzentr] Des haben sie sich vorwillet [HS] daz also zu halden [NS] [Sgab] Gescheen am mitwochen sente Niclas abende anno ut supra [WG] Davor hat Bucho Fredeberge und Slechtinger sin huß zu pfande williglichen ufgelassin [HS] inmassen als is Johannes Skolen vormals zu pfande gestanden had [NS] [Sgab] (Boer 1963, Art. 666, fol. 50v)
Betrachtet man, auf welche Weise von beiden Schreibern das jeweilige Schuldanerkenntnis verschriftlicht wurde, so wird deutlich erkennbar, dass von Thomas sukzessive der Sachverhalt ergebnisorientiert niedergeschrieben wurde. Von Johannes Wißhenze hingegen wurde das Verfahren des Schuldanerkennens mit all seinen Rahmenbedingungen verschriftlicht. Im ersten Fall handelt es sich um die Verschriftlichung des Sachverhaltes, im zweiten Fall um die des Verfahrens. Es hat sich die Praxis der Verschriftlichung gewandelt und damit auch die der Formulierung. Im ersten Fall genügte die reihende (parataktische) Formulierungsweise, im zweiten Fall war eine differenziertere (hypotaktische) Formulierungsweise angebracht und notwendig. Die Schreiber neben Nikolaus Thirmann und neben den Schreibern A, B, C, D sowie auch bedingt neben Thomas haben Texte fremder Herkunft in das Stadtbuch eingetra-
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gen. Diese Texte stammen einerseits von außerhalb der Kommune (Urkunden und Briefe) und andererseits aus der Kommune (Ordnungen), jedoch aus einem anderen Diskurs. Es handelt sich in beiden Fällen um andere Textsorten, die andere Funktionen als die eigentlichen Artikel des Stadtbuches erfüllten. Sie haben weisende (appellative) Funktion, während die anderen Artikel des Stadtbuches eine darstellende Funktion haben. Die Verfasser dieser Texte sind nicht identisch mit den Schreibern des Stadtbuches. Im Gegensatz zu den Artikeln des Stadtbuches stehen diese fremden Artikel in einer anderen Tradition. Die Urkunden charakterisiert ein fortwährender – nicht nur muttersprachlicher – Gebrauch. In den vorliegenden Fällen verfügten die Texte über relativ stabile sprachliche Ausgestaltungen. Die Ordnungen hingegen zeigten Schwankungen in der sprachlichen Ausgestaltung, was auf die noch junge Tradition dieser Textsorte zurückzuführen sein könnte. Admoni (1990) betont für den Zeitraum des Spätmittelalters ein Anwachsen im Umfang des Satzgefüges, was er einerseits durch das »Anwachsen des Satzgefüges in den Urkunden verursacht« (Admoni 1990, 155) sieht, andererseits durch »die Anhäufung von vielen gleichartigen synonymen Wortformen, Wortgruppen, Nebensätzen und beigeordneten Sätzen« (ebd.) in wortkünstlerischen Texten. Im ersten Stadtbuch von Dresden werden allgemein ein bis zwei, maximal drei Nebensätze gebraucht. Seltener werden vier oder fünf Nebensätze gebraucht. Die Verwendung von sechs oder sieben Nebensätzen ist selten. Mehr als sieben Nebensätze wurden in den Artikeln des ersten Stadtbuches nicht verwendet. Insgesamt kann man keine Zuoder Abnahme im Umfang des Satzgefüges – bezogen auf die Anzahl der untergeordneten Nebensätze – feststellen. Die etwas stärker ausgeprägte Tiefenstaffelung des Satzgefüges bei Nikolaus Thirmann oder bei dem Schreiber B sind eher Ausnahmen, die nicht die Regel darstellen. Festzuhalten ist aber, dass Satzgefüge mit einem Umfang von fünf oder sechs Nebensätzen bereits zu Beginn der Stadtbuchtradition möglich waren und auch zur Anwendung gebracht wurden. Die in das Stadtbuch aufgenommenen Urkunden lassen ein ähnliches Bild erkennen. Obwohl auch hier Satzgefüge mit einem Umfang von einem bis drei Nebensätzen üblich und fünf und sechs Nebensätze selten sind, konnten aber auch Satzgefüge mit einem Umfang von acht oder neun Nebensätzen beobachtet werden. Satzgefüge mit neun Nebensätzen waren sogar zu Beginn der Stadtbuchtradition möglich. Bei den im Stadtbuch aufgenommenen Ordnungen und dem eingearbeiteten Brief zeigte sich ein etwas modifiziertes Bild. Abgesehen davon, dass die Anzahl der Nebensätze allgemein anstieg, waren in der Regel ein bis zwei Nebensätze pro Satzgefüge in der Textsorte Ordnung üblich. Eher selten waren drei bis vier Nebensätze zu beobachten und fünf oder sechs Nebensätze waren die Ausnahme. Der in das Stadtbuch eingearbeitete Brief war vergleichbar aufgebaut. Damit kann die Aussage von Admoni (1990) zunächst bestätigt werden. Satzgefüge größeren Umfangs sind im Zeitraum des späten Mittelalters besonders in Urkunden zu beobachten, wenngleich auch hier einschränkend angemerkt werden muss, dass deren Umfang im vorliegenden Untersuchungskorpus nicht so umfangreich war, wie es beispielsweise von Admoni (1980) beschrieben wurde. Satzgefüge mit 39 Nebensätzen (vgl. Admoni 1980, 44ff.) wurden im ersten Dresdner Stadtbuch nicht ansatzweise produziert.
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Die eigentlichen Stadtbuchartikel wie auch die Ordnungen und der eingearbeitete zeitgenössische Brief zeigen einen eher gemäßigten Gebrauch des Satzgefüges mit durchschnittlich ein bis drei Nebensätzen pro Satzgefüge. Es kann also an dieser Stelle die oben gemachte Aussage bestätigt werden, dass es Textsortentraditionen bzw. -konventionen gibt, die die Wahl der Formulierungsmuster bestimmen. Bei der Formulierung eines Urkundentextes war der spätmittelalterliche Schreiber an andere Konventionen gebunden als bei der Formulierung des Stadtbuchartikels oder einer Ordnung, die städtische Belange betraf. Inwieweit die Person des Schreibers selbst Einfluss auf diese Konvention nehmen konnte, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden. Hier ist das vorliegende Untersuchungskorpus zu wenig aussagekräftig. Allerdings kann am Beispiel der Stadtschreiber Thomas, Nikolaus Thirmann oder des Schreibers B gezeigt werden, dass diese durchaus in der Lage waren, umfangreiche Satzgefüge zu formulieren: (4)
Meistir Gocze und Leffeler habin vor uns bracht eynen qwytbrieff, nach desin nachgeschrebin worten, vorsigilt mit Niclos Peschens ingesigel: Ich, Hans und Nickil, gebrudere genand von der Peschen, wir bekennen [vor uns] und vor ander unser ruder, vor Geruse und Ambrosiuse, die nicht in deme lande synt, offentlichin in desim briefe und allen den, die en sehen, horin adir lesen, das meistir Gocze und Henrich Mundil mir, Hanse von der Peschen, hundirt und sebin gulden beczalt haben von des gutis wegen zcu Aldendresden, das ich und myne bruder yn ansproche hatten, und sagin der beczalunge und ansproche des gutis, das sie gehat haben, qwyd, ledig und los mit crafft desin briefis und habe myns vatirs ingesigel uf desin brief gedruckt, das ich und myne bruder iczunt gebruchen, der da gegebin ist nach gotis gebort virczenhundirt jar dornach in deme sechzcenden jare am montage an sente Bartholomeustage des heiligen zcwelfboten. (Boer 1963, Art. 148, fol. 12r)
Solche umfangreichen Satzgefüge wurden besonders dann formuliert, wie das Beispiel einer Quittung zeigt, die vom Stadtschreiber Nikolaus Thirmann am 24. August 1416 ausgestellt wurde, wenn eine umfangreiche Rechtshandlung sprachlich formuliert werden musste und diese, wie im vorliegenden Fall, bereits durch eine Urkunde schriftlich vorgeprägt war. Aber auch bei sprachlichen Handlungen, die nicht durch schriftliche Handlungen vorgeprägt waren, zeigten die Stadtschreiber ihre Fähigkeit, umfangreiche Satzgefüge zu formulieren, wie es der nachfolgende Artikel aus dem Jahre 1410 zeigt: (5)
Nota. Conrad Snider und sin wip sin kommen mit ern Johansen Kempnicz, iris agkirs ein lehinhern, vor unser geheite bang und habin gesaczt yrin agkir, der da liit an dem wege, alz man gehit kegin Stresen und stosit an die weße, di man nennit Kaczbachs weße, Heinrich Gerharden vor eine gewere von des haffis wegin, da er iczund ynnesiczt, vor einen uslendisschin, daz Heinrich sins haffis sal gewerit werdin nach rechtis, alz recht ist. (Boer 1963, Art. 81, fol. 7r)
Der Umfang des Ganzsatzes in den Stadtbuchartikeln war von Stadtschreiber zu Stadtschreiber (1404 bis 1436) steigend. Der Umfang der im Stadtbuch enthaltenen Urkunden war nach der Anzahl der syntaktischen Wortformen im Untersuchungszeitraum fallend. Bei den eingearbeiteten Ordnungen konnte ein Anstieg im Satzumfang beobachtet wer-
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den. Der Satzumfang des eingefügten Briefes war vergleichbar mit den Daten der zeitgenössischen Ordnungen. Die Anzahl der Nebensätze hat natürlich großen Einfluss auf den Umfang des Ganzsatzes. Der enorme Satzumfang in den Urkunden des Stadtschreibers Thomas resultiert aus dem Umfang der verwendeten Satzgefüge. Ein Vergleich mit den Daten von Admoni (1990), der in den Chroniken von 21,92 bis 82,0 Wortformen, in Reisebeschreibungen von 23,84 bis 55,54, in Fachbüchern von 27,7 bis 35,4 Wortformen sowie in den Schöffensprüchen zwischen 55,31 und 60,75 Wortformen ermittelt hat, zeigt deutlich, dass die eigentlichen Artikel des ersten Dresdner Stadtbuches zunächst an der unteren Grenze der oben genannten Werte lag, sich jedoch allmählich in das Mittelfeld dieser Werte bewegte. Bei den Urkunden, die Admoni (1990) mit 62,42 Wortformen angibt, liegt der Durchschnitt der im Stadtbuch vorhandenen Urkunden deutlich niedriger, sank allerdings von durchschnittlich 102,5 auf 39,21 Wortformen. Von einer ausgeprägten hochkomplexen kanzelarischen Syntax kann im ersten Stadtbuch von Dresden keine Rede sein. Deutlich erkennbar sind in diesem Korpus verschiedene (Rechts-)Diskurse vertreten, die neben eigenen Textsorten auch spezifische Formulierungshandlungen erkennen lassen, die wiederum auf entsprechende Traditionen der Verschriftlichung zurückzuführen sind. Während im Fall der Urkunden, des Briefes und bedingt auch der Ordnungen tradierte Texte vorliegen, unterlagen die eigentlichen Stadtbuchartikel eher weniger diesen Textsortentraditionen. Die tradierten Texte weisen stabile (konventionalisierte) syntaktische Formulierungen auf, während in den Stadtbuchartikeln eher variierende und innovative Formulierungen beobachtbar waren. Die Verschriftlichung privater Rechtsgeschäfte der kommunalen Bevölkerung war für das 14. / 15. Jahrhundert innovativ, während die Verschriftlichung von Rechtshandlungen in Form von Urkunden eine lange (nicht nur muttersprachliche) Tradition aufweisen konnte.
7.
Zur Sprache der Dresdner Stadtkanzlei nach 1500
Für den Zeitraum von 1500 bis 1600 steht für die Stadtkanzlei von Dresden die Studie von Fleischer (1979) zur Verfügung. Diese Studie zur Graphematik und Flexion basiert auf einem breit angelegten Quellenmaterial. Die graphemische Realisierung der Stammsilbenvokale und der Konsonanten zeigt bei allen untersuchten Schreibern gemeinsame Züge, die unter Beibehaltung der zeitgenössisch typischen Variation insbesondere bei der graphischen Realisierung der Diphthonge (au, aw; eu, ew; ei, ey) in Richtung auf die neuhochdeutsche Schreibung verweisen. Alle Schreiber stimmen überein im »Gebrauch des sog. ›Dehnungs-h‹, dessen Setzung allerdings auch noch von anderen Faktoren als nur der Vokallänge abhängig war und das bei den einzelnen Schreibern in unterschiedlicher Häufigkeit auftritt« (Fleischer 1970, 448). Verstärkt ist die Nutzung dieser Graphie besonders ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zu beobachten. Allerdings ist bis zum Ende des 16. Jahrhunderts dabei eine bevorzugte Bindung an bestimmte Lexeme zu beobachten. Schwankungen bestehen bei Jahr, wohl, begehren u. a., wie sie auch in den Lutherdrucken zu beobachten sind (vgl. Franke I, 65). Die Verwendung der h-Graphie zur
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Homonymdifferenzierung (u. a. dehnen – denen) ist im Ansatz greifbar, jedoch bei den einzelnen Schreibern unterschiedlich ausgeprägt. Auffällige Graphemkombinationen ( und ) finden sich besonders bei dem Stadtschreiber Lincke. Von allen Schreibern werden regionale mitteldeutsche Besonderheiten (Senkung /i/ > /e/, Entrundung oder die omd. Monophthonge /e/ aus /ei/ und /o/ aus /ou/) weitgehend gemieden. Allerdings finden sich daneben lexikalisch gebundene mitteldeutsche Eigenheiten, wie u. a. naw, nau für neu, vff neben auf. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts sind dabei Veränderungen zu beobachten. Die Stadtschreiber zu Beginn des 16. Jahrhunderts »sind noch stark der mitteldeutschen Kanzleitradition des 15. Jh. verhaftet« (Fleischer 1970, 455): So ist der Stadtschreiber Lorenz Busch mit der Verwendung von u. a. sal, brengen, wider (›weder‹), ab (›ob‹), sunst, sunder, ane neben one, -lein neben -gen und (i)chen noch in die »meißnisch-thüringische Kanzleitradition« (ebd., 450) des 15. Jahrhunderts einzuordnen, während der Stadtschreiber Peter Eyssenberg diese mitteldeutschen Züge bereits nicht mehr erkennen lässt. Allerdings ist für Eyssenberg eine gewisse Anbindung an nördliche Schreibtraditionen zu verzeichnen, die mit seiner Herkunft aus Halle in Verbindung gebracht werden können. Für den Stadtschreiber Wenzeslaus Naumann ist eine verstärkte Bevorzugung ostmitteldeutsch-schlesischer graphematischer Elemente typisch: sal, ehm (›ihm‹), ab (›ob‹), ader (›oder‹), sunst, sunder, ane (›ohne‹), Konkurrenz ir- vs. er-, -nis vs. -nus, -gen vs. -lein. Ab der Jahrhundertmitte ist mit dem Stadtschreiber Michael Weiße »eine gewisse Stetigkeit in der Graphie, eine geringe Zahl fakultativer Varianten zugunsten wortgebundener Festlegungen« (Fleischer 1970, 452) zu beobachten. Allerdings ist bei ihm mit sall, brengen, widder (›weder‹), ab (›ob‹), ader (›oder‹), gleuben, -lein und -nus auch noch eine deutliche »Verhaftung in der mitteldeutschen Tradition […] unverkennbar« (ebd.). Eng regional an das Schlesische gebundene Formen (Weiße stammte aus Schlesien) des Typs schriefft bilden die Ausnahme. Jacob Lincke (1550 als Unterstadtschreiber angestellt) hebt sich in seiner Schreibung deutlich von Weiße ab. Lincke »ist offensichtlich nicht in der mitteldeutschen Schreibtradition heimisch, sondern versucht sich ihr anzupassen« (ebd., 453): Zehn Belege mit vhor- stehen 23 Belegen mit fur- gegenüber, die möglicherweise auf eine Anpassung des Unterstadtschreibers Lincke an die Schreibweise des Oberstadtschreibers Weiße schließen lassen kann (vgl. ebd., 69). Andreas Ludwig zeigt von allen Stadtschreibern der Jahrhundertmitte mit u. a. sall vs. soll, brengen vs. bringen, weder vs. wider, ab vs. ob, sonst vs. sunst, ane vs. o(h)ne, den(n) vs. dan(n), wen(n) vs. wan(n), vor- vs. ver- die größte graphematische Variationsbreite. Ludwig steht wohl auf ostmitteldeutscher Grundlage, benutzt aber auch vielfach oberdeutsche Formen […] und spiegelt damit auch die Veränderungen wider, die sich in der ersten Hälfte des 16. Jh. innerhalb der ostmitteldeutschen höheren Schreibtradition vollzogen haben (ebd., 454),
die bei ihm in deutlichen Unsicherheiten münden. Das Ende des 16. Jahrhunderts wurde repräsentiert durch die Stadtschreiber Burghardt Reich und Jonas Möstel. Mit den Formen soll, bringen, sonst, dann, wann, ob und ohne ist die Konkurrenz ostmitteldeutscher vs. oberdeutscher Formen weitgehend beseitigt. Bei Möstel ist u. a. mit der Bevorzugung der -Schreibung eine stärkere
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oberdeutsche Prägung zu beobachten, die nach Fleischer (1970) durch seine regionale Herkunft aus Plauen zu begründen sei. Die Beseitigung regionaler ostmitteldeutscher Graphien erfolgte nicht als eine »chronologische Abfolge« (Fleischer 1970, 455), sondern mit unterschiedlicher Intensität durch die Schreiber und zumeist lexemgebunden. Fleischer sieht die Gründe dafür in der Ausbildungsstätte und dem Tätigkeitsort der jeweiligen Schreiber und seiner Einbindung in Schreibtraditionen: »[J]e fester er in der überlokalen Schreibtradition zu Hause ist, desto weniger finden sich bei ihm (eng regionale) Erscheinungen« (ebd., 456).
8.
Fazit
Das sprachliche Handeln in der kommunalen Rechtsstadt Dresden wird in der Zeit des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit durch die städtische Kanzlei geprägt. Seinen Ausdruck findet das in einer allmählichen Entfaltung eines städtischen Schriftwesens, der Verdrängung des Lateins durch die deutsche Muttersprache sowie schließlich im Übergang von regionalen Schreibtraditionen zu einem überregionalen Schreibusus. Die Herausbildung einer städtischen Schriftlichkeit ist für Dresden im Verlauf des 14. Jahrhunderts anzusetzen. Der genaue Entfaltungsprozess kann gegenwärtig überlieferungsbedingt noch nicht genau nachvollzogen werden. Mit dem beginnenden 14. Jahrhundert ordnet sich die städtische Kanzlei in Dresden mit dem fortlaufenden Gebrauch von städtischen Geschäftsbüchern und der dabei gleichzeitig schrittweise einsetzenden Differenzierung dieser Geschäftsbücher in den allgemeinen Trend ein. Damit verbunden ist ebenfalls der Übergang zum muttersprachlichen Schreibhandeln, der in Dresden zu Beginn des 14. Jahrhunderts vollzogen ist. Der Prozess der Beseitigung regionaler Schreibtraditionen ist für Dresden in die Zeit des 16. Jahrhunderts anzusetzen. Dieser Prozess steht in einem engen Zusammenhang mit der Anstellung von Schreibern, die nicht aus dem Nahbereich der Stadt stammten.
9.
Quellen
Ämterbuch 1549 – Stadtarchiv Dresden A II 1a. Boer, Elisabeth (1963), Das älteste Stadtbuch von Dresden. 1404–1436, Dresden. CDS = Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae, hrsg. v. Ernst Gotthelf Gersdorf. Leipzig 1864ff.
10.
Literatur
Acham, Karl (1992), »Struktur, Funktion und Genese von Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht«, in: Gert Melville (Hrsg.), Institutionen und Geschichte, Köln / Weimar / Wien, 25–71. Blaschke, Karlheinz (Hrsg.) (2005), Geschichte der Stadt Dresden, Stuttgart. Ermisch, Hubert (1889), »Die sächsischen Stadtbücher des Mittelalters«, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde, 10 / 83 / 1889, 177–215. Fleischer, Wolfgang (1961), »Die Namen der Dresdner Ratsmitglieder bis 1500«, in: Beiträge zur Namenforschung, 12 / 44 / 1961, 293–307.
28. Kanzleisprache der Stadt Dresden
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Rudolf Steffens, Mainz (Deutschland)
29. Mittelrheinische Kanzleisprache
1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 4.2.5. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 4.3.4. 4.3.5. 4.4. 4.4.1. 4.4.1.1. 4.4.1.2. 4.4.2. 4.4.2.1. 4.4.2.2. 4.4.2.3. 4.4.2.4. 4.5. 5.
1.
Geographische Eingrenzung Raum Koblenz Ingelheim am Rhein Mainz Vorbemerkungen Vokalismus Dehnung in offener Tonsilbe Digraphien im a-Bereich Neuhochdeutsche Diphthongierung Vokalentrundung Umlaut vor Suffix Konsonantismus wgerm. p wgerm. p – wgerm. f wgerm. s – wgerm. t Auslautverhärtung Konsonantenepenthese Morphologie Verbalmorphologie Irregularisierungen Partizip II von sein Nominalmorphologie Aufbau einer Pluralkategorie Ausscheidung von Kasus-Umlauten Morphologischer Plural-Umlaut e-Apokope bei Kasus und Numerus Verschmelzungen Literatur
Geographische Eingrenzung
Im engeren Sinne bezeichnet Mittelrhein das Stromgebiet des Rheins und die Tallandschaften / Weinberge beiderseits des Durchbruchs des Rheins durch das Rheinische Schiefergebirge in Höhe der Nahemündung in den Rhein (Bingen) bis zur Mündung der Mosel in den Rhein (Koblenz). In einem weiteren Sinne reicht das Gebiet des Mittelrheins über die eben angeführte Tallandschaft hinaus von Worms / Speyer im Süden bis auf die Höhe von Bonn. In diesem Beitrag sollen mittelrheinische Kanzleisprachen aus dem Raum Koblenz, aus Ingelheim am Rhein und aus Mainz betrachtet werden. Das Mainzer Sprachmaterial
476
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
ist zum Teil feinstatistisch in einer relationalen Datenbank erfasst. Daher können Befunde aus der Mainzer Kanzleisprache hier umfassender und genauer dargestellt werden. Der Raum Koblenz gehört zum moselfränkischen, die Städte Ingelheim und Mainz zum rheinfränkischen Sprachraum.
2.
Raum Koblenz
Die folgenden Ausführungen beruhen auf der im Jahre 1974 in zweiter Auflage erschienenen Mainzer Dissertation (masch. 1954) Rudolf Schützeichels. Schützeichel hat die Sprache von Kanzleien im Großraum Koblenz untersucht (Koblenz, Moseltal, Rheintal, Lahntal, Eifel, Westerwald):
Abb. 1: Netz der Belegorte (Auswahl) für Schützeichels Urkundenstudien im Raum Koblenz (Schützeichel 1974, Abb. 3)
29. Mittelrheinische Kanzleisprache
477
Quellengrundlage sind deutschsprachige Originalurkunden aus der Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Früheste volkssprachige Quelle ist eine Urkunde des Erzbischofs von Trier, betreffend die Eroberung der Burg Thurandt an der Mosel aus dem Jahre 1248. Schützeichel kann in einer Reihe von Fällen aufzeigen, wie seit dem ersten Auftreten der deutschen Sprache im 13. Jahrhundert »in aufeinanderfolgenden Wellen südliche sprachliche Eigentümlichkeiten« vordringen und »in einem jahrhundertelangen Prozeß eine gänzliche Umgestaltung der Urkundensprache des Gebietes« bewirken (Schützeichel 1974, 294). Dies sind Prozesse ausschließlich auf schreibsprachlicher Ebene. Ein Beispiel sei näher betrachtet (vgl. ebd., 42ff.): Bis auf den Raum um Oberwesel (vgl. Abb. 1) liegt der Hauptteil des Untersuchungsgebietes nördlich der dat / das-Linie. Für den Großteil der Belegorte ist somit in spätmittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Zeit mundartliches dat anzusetzen. Entsprechend sind die Graphien in den frühen Urkunden. Aber bereits vor dem Jahre 1300 ist ein erstes südliches das nördlich der mundartlichen dat / das-Grenze bezeugt.
Abb. 2: Von Süden nach Norden verlaufendes Vordringen von das und Ablösung von dat in der Urkundensprache des Koblenzer Raumes (Schützeichel 1974, Karte 6)
478
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Im 14. Jahrhundert häufen sich die das / daz-Formen. »Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verschiebt sich auch innerhalb der einzelnen Kanzleien das Verhältnis von dat und das mehr und mehr zugunsten der südlichen Form« (Schützeichel 1974, 46). Altes dat erscheint aber bis ins 15. Jahrhundert, in wenigen Fällen sogar noch nach dem Jahre 1500. Im 16. Jahrhundert haben sich die sprachlichen Ebenen Mundart und Urkundensprache weitgehend voneinander gelöst. In der Urkundensprache gilt der Südimport das, in den gesprochenen Bezugsvarietäten (bis heute) dat. Ganz ähnlich erfolgt die Verdrängung von na durch südliches nach: Im Moselfränkischen hat nach eine -ch-lose Variante. In der Urkundensprache verdrängt südliches nach das heimische na. korf / korb: Im Moselfränkischen wird b im Auslaut als labiodentaler Reibelaut realisiert. Südliche b-Formen (daselb, halb, lebtage) ersetzen bodenständige f-Formen (daselffs, erfflich, half). lev / lieb: dem mittelhochdeutschen Vokalphonem ie entspricht moselfrk. ê. In der Urkundensprache des Koblenzer Raumes wird ie durch e abgelöst. dochter / tochter: Im Westmitteldeutschen gilt (mundartlich bis heute) anlautend d (wgerm. d) in Wörtern wie nhd. Tal, Tochter. Obd. t dringt vor und löst d ab. Schützeichel führt an insgesamt 25 Süd / Nord-Gegensatzpaaren (weitere sind z. B. broder / bruder, dut / dot, van / von) vor, wie die südlichen Formen nach Norden vordringen und meist im 16. Jahrhundert die bodenständigen Varianten ablösen.
3.
Ingelheim am Rhein
Das Ingelheimer Ortsgericht war im späten Mittelalter eine Instanz der niederen und freiwilligen Gerichtsbarkeit. Es war auch Gericht für das Ingelheimer Reich (benachbarte Dörfer). Zudem fungierte es als Oberhof, als Gerichtsinstanz, bei dem die umliegenden kleinen Ortsgerichte (Schöffenstühle) Rechtsauskünfte einholen konnten. Über die Gerichtssitzungen wurde Protokoll geführt, wobei für die Oberhof-Verhandlungen frembte urtheil bücher benutzt und die vom Ortsgericht behandelten Fälle in die Haderbücher eingetragen wurden (vgl. Schwitzgebel 1958, 7; Blattmann 2008, 51f.). Von den Oberhof-Protokollen existiert heute noch der so genannte Londoner Kodex für die Jahre 1398–1430 (Britisches Museum, Teiledition: vgl. Erler 1952–1963). Die Protokolle der Jahre 1437–1464 (Staatsarchiv Darmstadt, nach Luftangriff 1944 verbrannt) sind (nicht vollständig) von Loersch (1885) ediert worden. Das Haderbuch der Jahre 1476–1485 liegt im Druck vor (Marzi 2011). Erhalten (Gemeindearchiv Ingelheim) sind heute 18 Haderbücher und sechs Fragmente aus der Zeit von 1387–1534 (vgl. Blattmann 2008, 57ff.). Die edierten Oberhof-Protokolle, die unedierten Haderbücher sowie ein ebenfalls unediertes Ingelheimer Kirchenrechnungsbuch aus dem Zeitraum 1483–1503 sind von Helmut Schwitzgebel (1958) in seiner Mainzer Dissertation sprachlich ausgewertet worden. Die Schreiber sind namentlich bekannt, zum Teil liegen biographische Informationen vor (vgl. ebd., 13ff.). Er untersucht – ähnlich wie Rudolf Schützeichel – Konkurrenzformen wie suster / schwester, gân / gên, tuschen / zuschen / zwischen und kann ebenfalls aufzeigen, dass die südlichen Formen nach Norden vordringen. Der Hauptteil der Untersuchungen befasst sich mit dem Vokalismus und Konsonantismus der Ingelheimer Protokollbücher (und des Kirchenrechnungsbuches). Pauschal
29. Mittelrheinische Kanzleisprache
479
kann gesagt werden: Die Ingelheimer Überlieferung, und hier insbesondere das Kirchenrechnungsbuch, zeigt starke sprechsprachliche Einflüsse. Dies muss wohl mit der Kommunikationssituation bei den Gerichtssitzungen erklärt werden, hier wurde mündlich verhandelt. Die Schreiber machten sich Notizen und trugen diese dann meist später in die Haderbücher ein (vgl. Blattmann 2008, 69ff.). Hierbei ist einfach viel gesprochene Sprache verarbeitet und verschriftet worden. Die Eintragungen ins Kirchenrechnungsbuch wurden von Ingelheimer Bürgern getätigt, die zum Teil als Handwerker zu identifizieren sind und die keine Schreibausbildung hatten. Die Vokalentrundung ist im Kirchenrechnungsbuch sehr viel häufiger bezeugt als in den Gerichtsbüchern (hier seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts): 1489 korreckellyn ›Chorröcklein‹ (mhd. ö), 1491 den schredern ›den Schrötern‹ (mhd. œ), 1485 crycz ›Kreuz‹ (mhd. iu), 1496 frymesser (mhd. üe, mhd. vrüemesser ›der Geistliche, der die Frühmesse liest‹) (vgl. Schwitzgebel 1958, 32ff.). Die Monophthongierung von mhd. ei ist in den Haderbüchern gelegentlich vorhanden: 1389 flezses ›Fleisches‹, 1481 kirchenmesteren ›Kirchenmeistern‹. Im Kirchenrechnungsbuch ist sie fast die Regel: 1501 schulmester ›Schulmeister‹ (vgl. ebd., 36ff.). Die Verdumpfung von mhd. â > ô ist in den Haderbüchern gut bezeugt: 1341 hon ›ich habe‹, 1387 wor ›wahr‹, 1388 strosze ›Straße‹, 1425 darnoch ›danach‹ (vgl. ebd., 46ff.). Für die neuhochdeutsche Diphthongierung sind seit dem Jahre 1389 vereinzelte Frühbelege fassbar (zu solchen Frühbelegen im Rheinfränkischen vgl. Ramge 1992; Steffens 2005, 219ff. u. Abb. 5), z.B. 1389 sweyn ›Schweine‹. Als der ehemalige Mainzer Notar Volkmar Kellner im Jahre 1503 Gerichtsschreiber wird, treten in großer Zahl die neuen Diphthonge auf. Er kannte sie aus Mainz und ›brachte‹ sie nach Ingelheim mit (vgl. ebd., 50ff.). Im Bereich des Konsonantismus wird z. B. dem Lautwert von -b- (vereinzelte Spirans-Schreibungen: 1482 kerffen ›Kerbe‹) und dem von g in allen Positionen nachgespürt. g erscheint nur mit Verschlusslaut-Graphien (vgl. ebd., 57ff.). Die heute auf das Ripuarische beschränkte Velarisierung von -nd / -nt > -ng (Wing ›Wein‹) hatte im Spätmittelalter ganz offenbar noch ein sehr viel größeres Geltungsareal. In der Ingelheimer Gerichtsüberlieferung sind zwei Fälle belegt: 1387 konnigunge ›Kunigunde‹, 1388 gestangen ›gestanden‹ (vgl. ebd., 104ff.).
4.
Mainz
4.1.
Vorbemerkungen
Hier seien einige Arbeiten erwähnt, auf die nicht näher eingegangen werden kann. Karoline Arens untersucht in ihrer Marburger Dissertation (1917) die Sprache der deutschen Drucke aus der Werkstatt des Mainzers Johann Schöffer (erste Hälfte 16. Jahrhundert). Für seine Studien zur Kurmainzer Kanzleisprache (ca. 1400–1550) legt Karl Demeter (1919) einerseits die in der älteren Reihe der Deutschen Reichstagsakten publizierten Urkunden zugrunde, andererseits auch handschriftliches Material. Erstere können aber nur begrenzt für eine Mainzer Stadtsprachgeschichte verwertet werden. Hinzuweisen ist auf die Dissertation von Hans Froeßl (1950).
480
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Rudolf Steffens hat in seiner Dissertation aus dem Jahre 1988 die frühneuhochdeutsche Schreibsprache von 56 Mainzer Güterverzeichnissen / Urbaren (60 Schreiberhände) aus der Zeit von 1315 bis 1564 unter graphematisch-phonologischen Aspekten untersucht. Inzwischen hat der Verfasser knapp 300 deutschsprachige Mainzer Texte aus der Zeit von 1285 bis 1437 nach graphematisch-phonologischen und flexionsmorphologischen Kriterien in einer relationalen Datenbank erfasst (vgl. Steffens 2004). Es handelt sich überwiegend um Urkunden aus dem Mainzer Stadtarchiv (Urkunden der Mainzer Klöster und Stifte, des Heiliggeist-Spitals, der Stadt, des Weltlichen Gerichts), um die Friedgebote der Jahre 1300, 1335 und 1437 (vgl. Steffens 2003; 2005a; 2008). Erneut erfasst wurden auch einige Urbare. Auf dem Datenbankmaterial fußt Steffens (2004, 2005b und 2006). Wenn nachfolgend feinstatistisches Material aus der Zeit von 1285 bis 1437 (in absoluten Zahlen, in %) geboten wird, so ist dies der Datenbank entnommen (Erfassungsstand: Oktober 2008). Sprachbelege jenseits des Jahres 1437 stammen aus Steffens (1988). 4.2.
Vokalismus
4.2.1. Dehnung in offener Tonsilbe Rheinische Digraphien sind seit dem 12. Jahrhundert in Köln bezeugt: Kraenboim ›Krähenbaum‹ u. a. Ältestes literarisches Denkmal mit Bezeichnung der Dehnung in offener Tonsilbe (vgl. Moser 1929, § 49; Reichmann / Wegera 1993, § L 34; Paul 2007, § L 20f.) und vor bestimmten Konsonantenverbindungen (durch Akut und Zirkumflex) ist die Mittelfränkische Reimbibel (Handschrift A), wohl zweite Hälfte 12. Jahrhundert (vgl. Klein 1995, 57f.; Mihm 2001, 592ff.). Ansonsten werden in Kölner Quellen des 13. Jahrhunderts Digraphien mit den Deuterographen e und i (auch y) verwendet, um die Quantität alter Langvokale und die Quantität aus Monophthongierungen entstandener neuer Langvokale zu kennzeichnen. Schließlich werden auch gedehnte ehemalige Kurzvokale entsprechend verschriftet: geschreiven (mhd. geschriben). Jüngst ist die These geäußert worden, dass Schreibungen wie oe in groete ›große‹ (offene Silbe) und oi in groit ›groß‹ (geschlossene Silbe) in rheinmaasländischen Schreiborten wohl eher Diphthongoide einer oberschichtig gesprochenen Bezugsvarietät bezeichnen als einfache Langvokale (vgl. Mihm 1999; Elmentaler 2000; Mihm 2001). Die Verteilung von oe und oi ist komplementär nach Folgekontext, was für ihre lautreferenzielle Funktion spricht. Zudem treten unterschiedliche Digraphientypen (je nach Folgekonsonanz) auch für alte Kürzen auf. Dies wird als phonische Rückbindung der graphematischen Variation gewertet. Digraphien dienen hier offenbar der Kennzeichnung qualitativer und nicht quantitativer Lautunterschiede (vgl. Elmentaler 2003; Weber 2003; Mihm 2005). Mainzer Datenbank: mhd. i in offener Tonsilbe. Der Typus diBer repräsentiert monographische Schreibungen wie i, y, i, w, ǔ und e (Senkung: geBchreben), dieBer repräsentiert digraphische Schreibungen wie ie, ye, ij und ey (Senkung: Freydeb(er)g (Hausname) < mhd. vride). Es liegen 2400 Belege in der Datenbank vor:
481
29. Mittelrheinische Kanzleisprache
Zeitraum
diBer
1285–1329
69%
31%
1330–1359
67%
33%
dieBer
1360–1389
68%
32%
1390–1437
48%
52%
Tab. 1: Die Verteilung von diBer und dieBer (1285–1437) in der Mainzer Datenbank
Pauschal lässt sich formulieren, dass seit Anfang des 15. Jahrhunderts im Mainzer Frühneuhochdeutschen digraphische Repräsentanten von mhd. i in offener Silbe in der Mehrzahl sind. Allerdings gibt es schreiberindividuelle Sonderbefunde, wie sich anhand des Urbars des Heiliggeist-Spitals aus dem Jahre 1401 zeigen lässt (292 Belege): Urbar 1401
diBer
dieBer
Hand A
80%
20%
Hand B
17%
83%
Tab. 2: Die Verteilung von diBer und dieBer im Urbar des Heiliggeist-Spitals aus dem Jahre 1401
4.2.2. Digraphien im a-Bereich Als Entsprechung von mhd. a werden ae, ai und ay verwendet, wobei der Erstbeleg ins Jahr 1315 datiert. ae und ay sind überaus selten. Die Mehrzahl der Belege entfällt auf kontrahiertes beBait (< mhd. besaget). Ansonsten sind betroffen Kontraktionsfälle wie 1401 mait (< mhd. maget), die geschlossene Silbe 1372 diffentail (Kloster Tiefenthal / Rheingau), 1412 Jn der Nuwen Btaitd (Quartier in Mainz), die Position vor -hs 1401 off dem FlaiBzmargte (Platz in Mainz) und ganz selten die offene Tonsilbe 1345 Dailen (Kloster Dalen in Mainz). Für mhd. â sind die Digraphien ae, ai und ay vorhanden, wobei wiederum ai klar am häufigsten ist. Erstbeleg (Neufund) dürfte 1335 ain allerleige wiederBprache (< mhd. âne ›ohne‹) sein. Die Schreibung steht in geschlossener Silbe (1437 Rait) etwa fünfmal häufiger als in offener (1437 Jm Raide). Der Schreiber der Redaktion des Friedgebotes aus dem Jahre 1335 verwendet in einigen Fällen den Zirkumflex in geschlossener und in offener Tonsilbe: Rât, des Râdes. Etwa ab dem Jahre 1514 nimmt die Frequenz der Digraphien rapide ab, seit den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts werden sie nicht mehr verwendet (vgl. Steffens 2001, Tab. 2). (Digraphien im o-Bereich sind oe und oi. oe ist ganz selten; oi tritt etwas häufiger auf, aber weitgehend beschränkt auf das 15. Jahrhundert.) 4.2.3. Neuhochdeutsche Diphthongierung Die zeitlichen und räumlichen Dimensionen der Ausbreitung der neuen Diphthonge auf der Schreibebene sind weitgehend bekannt (vgl. Moser 1929, § 77; Reichmann / Wegera 1993, § L 31). In Mainz treten die neuen ei, eu und au seit dem Jahre 1490 in großer Zahl
482
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
auf. Mindestens bis in die Zeit um 1560 sind noch hin und wieder Altgraphe vorhanden. Vereinzelte Frühbelege sind z. B. 1392 ElBe Deuffel, 1439 kuntz weyßgerber, 1478 Frantz Schreiber eyBenkremer (jeweils Personennamen) (vgl. Steffens 1988, 216ff.; Steffens 1993, 210ff.). In der Datenbank ist für das Jahr 1339 verleihen (Infinitiv) gebucht. Unsicher ist der Status von 1315 naun, NaĤn (< mhd. niun ›neun‹). Das Neutrum driu des mhd. Zahlwortes drî ist vor allem md. als drû vorhanden. Ob folgende Mainzer Fälle als frühe Belege für die Diphthongierung im Auslaut betrachtet werden können, sei zur Diskussion gestellt: 1300 drau hundir iar, 1315 (mehrfach) Drau, drau, 1339 draĤ hĤndert iar, 1343 Jn dem draĤ vnd virzigBten iare, 1346 drau hu(n) d(er)t iar. 4.2.4. Vokalentrundung Die Vokalentrundung ist nur selten fassbar, z. B. 1461 Scheenhen (Personenname, mhd. sch$ne), 1525 Kyffer Gassen (Straßenname Mainz, mhd. küefer). Im Jahre 1332 ist eine Person mit dem Namen CriBtan [!] Bevmechen belegt (›Bäumchen‹, wohl ein Übername). Im Jahre 1379 wird obiger CriBtan als tot erwähnt. Es ist von Zinsen aus Häusern die Rede, dye etBwanne CriBtian Beymichins waren. Das ist ein sicherer Entrundungsfall äu > ei. 4.2.5. Umlaut vor Suffix Vor dem Suffix ahd. -âri, mhd. -æere / -er, frühnhd. -er tritt in Mainz nahezu ausnahmslos Umlaut auf. Dies betrifft bereits die spätmittelhochdeutsche Zeit: 1300 heller ›Münze‹, 1305 infra birgeBted(er) wege (Ortsname Bierstadt, heute zu Wiesbaden gehörend), 1315 an dem nordenBtedir wege (Ortsname Nordenstadt, heute zu Wiesbaden gehörend), 1315 Folpreht winBeger ›Weinsager‹ (Personenname), 1335 Scheffener (mhd. schaffenære), 1335 perr(er) (mhd. pharrære), 1339 gerten(er) (mhd. gartenære). Der Aussage: »Die Suffixe -nisse und -æere (ahd. -âri; nhd. -er) bewirken mhd. nur selten Umlaut« (Paul 2007, § L 16, Anm. 6), kann nicht zugestimmt werden. Umlautlosigkeit scheint nur für den oberdeutschen Geltungsbereich des Mittelhochdeutschen anzunehmen zu sein. Mitteldeutsch ist hingegen Umlaut die Regel (vgl. Steffens 2010). 4.3.
Konsonantismus
4.3.1. wgerm. p Im Zuge der schreibsprachlichen Überschichtung der westmitteldeutschen Schreiborte im Spätmittelalter dringen oberdeutsche Formen mit Zweiter Lautverschiebung in die Kanzleien ein: pund wird durch pfund, kopp durch kopf usw. abgelöst. Abb. 3 visualisiert den Vorgang für den Schreibort Mainz. Sie beruht auf Steffens (1988). Das 14. Jahrhundert ist pf-frei. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts treten pf- und -pf- auf. Um 1550 haben die pf-Formen mit fast 90 % klar die Oberhand gegenüber p- bzw. -pp- gewonnen.
29. Mittelrheinische Kanzleisprache
483
Abb. 3: Das Eindringen von obd. pf- in die Mainzer Schreibsprache
4.3.2. wgerm. p – wgerm. f Hier sei nur die intervokalische Position betrachtet (vgl. Moser 1951, 135ff.; Reichmann / Wegera 1993, § L 51). Als graphische Entsprechung von wgerm. p (521 Belege) nach Kurzvokal gilt fast ausschließlich ff: 1300 Bchaffin (Infinitiv ›schaffen‹), 1424 begriffen (Partizip Präteritum). Auch nach Langvokal ist ff klar in der Überzahl: 1335 leuffet (3. Person Singular Indikativ Präsens ›läuft‹), 1400 vndirkeuffer (mhd. underkoufer, -köufer m. ›Zwischenhändler‹). f wird vor allem zu Beginn des 14. Jahrhunderts gebraucht: 1300 anegrifin (Infinitiv ›angreifen‹). Das Zeichen u wird nur in mhd. bischof (< lat. episcopus) verwendet: 1300 bieBchoues (Genitiv Singular), 1377 des heylgin biBchoues (Genitiv Singular). Die Tabelle enthält prozentuale Zahlenangaben für den Zeitraum 1300–1437: wgerm. p
wgerm. f
ff
84,1
f
f
13,2 ff
u
2,7
46,4 26,5
u
23,8
v
2,1
b
0,6
w
0,6
Tab. 3: Prozentuale Zahlenangaben der Verteilung von wgerm. p und wgerm. f (1300–1437)
484
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Als Entsprechungen von wgerm. f in der intervokalischen Position (594 Fälle) werden die Zeichen f (46,4 %), ff (26,5 %), u (23,8 %), v (2,1 %), b (0,6 %) und w (0,6 %) verwendet. f und ff treten gleichermaßen nach Langvokal und nach gedehnter Kürze auf: 1339 briefe (Dativ Singular), 1341 brieffe (Dativ Singular), 1340 Hofe (Dativ Singular), 1354 hoffeman. Die Verwendung von u ist seit der Mitte des 14. Jahrhunderts rückläufig. Die Zeichen b und w stehen vereinzelt in mhd. hof, hoves (vgl. Moser 1951, 139): 1346 zu(m) Langenhobe, 1366 Jn deme kappelhowe (jeweils Mainzer Hausnamen). In den Zeichen u und v, welche nur als Entsprechungen von wgerm. f gesetzt werden (Ausnahme: u in bischof), zeigen sich Relikte der althochdeutschen Spirantenschwächung. In Lexemen wie 1300 vrevil ›Frevel‹ oder 1315 ziegelouen (wgerm. f) dürfte für das Spätmittelhochdeutsche und zum Teil für das Frühneuhochdeutsche ein Lenisfrikativ anzusetzen sein, während f und ff wohl für Fortisfrikativ stehen (vgl. Paul 2007, § L 100). Die beiden Laute fallen später als Fortisfrikative zusammen. 4.3.3. wgerm. s – wgerm. t Hier sei nur die intervokalische Position nach dem Datenbankmaterial betrachtet (vgl. Moser 1951, 208ff.; Schulze 1967; Stopp 1976, 34ff. und 58ff.; Reichmann / Wegera 1993, § L 52f. und L 59, Abb. 7). Als Entsprechungen von wgerm. s liegen 1854 Belege vor. Die Schreibung B (von dem huBe) hat fast ausschließliche Geltung. Für wgerm. t gibt es 873 Belege. Im normalisierten Mittelhochdeutschen wird wgerm. s als s (wise ›Wiese‹) und wgerm. t nach Kurzvokal als zz (wazzer ›Wasser‹), nach Langvokal als z (lâzen ›lassen‹) verschriftet. Im Mainzer Material ist wgerm. t bislang ausschließlich [!] nach Langvokal vorhanden. Die häufigste graphische Entsprechung ist Bz (heiBzen). Im 14. Jahrhundert dominiert zwar insgesamt die Opposition B : Bz / zz, wobei aber zu Beginn des 14. Jahrhunderts (anno 1300 Friedgebot, anno 1315 Urbare des HeiliggeistSpitals und des Klosters Reichklara) für wgerm. t fast ausschließlich z vorhanden ist: 97 %): 1315 an dem Bcholtheizen. Bz tritt zuerst im Jahre 1332 auf: mĤBzent (3. Person Plural Indikativ Präsens ›müssen‹). Von 1400 bis 1437 ist zz kaum mehr belegt. Jetzt stehen sich B (< wgerm. s) und Bz (< wgerm. t) gegenüber. Im Neuhochdeutschen entspricht dem die graphematische Opposition s : ß / ss in reisen : reißen / gerissen. Die Tabelle enthält prozentuale Zahlenangaben für den Zeitraum 1300–1437: wgerm. s wgerm. t B 91,0 Bz 55,9 BB 4,2 zz 20,8 Bz 3,7 z 11,0 BBz 1,1 B 7,9 zB 1,8 B 1,3 BBz 1,2 Bch 0,1 Tab. 4: Prozentuale Zahlenangaben für die Verteilung der Graphe für ngerm. s und wgerm. t.
29. Mittelrheinische Kanzleisprache
485
Die Schreibungen für die Geminate von wgerm. s scheinen sich in weiten Teilen des Frühneuhochdeutschen den Schreibungen für das intervokalische wgerm. t anzuschließen. In Mainz ist dies offenbar nicht sehr ausgeprägt der Fall. In 64 % der Belege steht BB, das als Entsprechung von wgerm. t ansonsten nicht vorkommt: 1300 miBBetad. 30 % entfallen auf Bz, der Rest auf zz. 4.3.4. Auslautverhärtung Stimmlose Verschlusslaute werden im Wortauslaut im klassischen Mittelhochdeutschen stimmlos. In Editionen, Wörterbüchern und Grammatiken wurde / wird daher konsequent geschrieben: stoubes – stoup ›Staub ›, kleides – kleit ›Kleid‹, tages – tac ›Tag ›. Nur wenige mittelhochdeutsche Originalhandschriften kennen eine konsequente graphische Durchführung der Auslautverhärtung. Für auslautendes b haben mittelhochdeutsche Handschriften beispielsweise fast ausschließlich Lenis-Graphien. Verhärtende Stichwortansätze haben letztlich ihren Ursprung in der Editionsphilologie des 19. Jahrhunderts. Die neueste Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik macht ausdrücklich auf die Korrekturbedürftigkeit früherer Festlegungen aufmerksam, dass nämlich die Auslautverhärtung im klassischen Mittelhochdeutschen mehr oder weniger uneingeschränkte Gültigkeit gehabt habe (vgl. Paul 2007, § L72; Mihm 2004; Ruge 2004). In authentischen Texten, z. B. den volkssprachlichen Urkunden des 13. Jahrhunderts, scheint die Auslautverhärtung ein eher peripheres Phänomen zu sein. Eine kursorische Durchsicht des Wörterbuchs der mittelhochdeutschen Urkundensprache zeigt beispielsweise, dass in folgenden Wörtern Lenis-Graphien überwiegen: ahtehalp ›achteinhalb‹, anderhalp ›eineinhalb‹, aschtac ›Aschermittwoch‹, berc ›Berg‹, berhtac ›Dreikönigstag‹, dinc ›Ding‹, drîzendehalp ›zwölfeinhalb‹, ertac ›Dienstag‹, grap ›Grab‹, innewendic ›innerhalb‹, junc ›jung‹, kriec ›Krieg‹, mântac ›Montag‹, obewendic ›oberhalb‹, tac ›Tag‹ . Für wgerm. b postvokalisch sind in der Mainzer Datenbank 245 Fälle erfasst. -b dominiert mit 88 %: wib ›Weib‹. Selten ist -p, einmal -pp. Seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts tritt -p nicht mehr auf. Entsprechung der neuhochdeutschen Standardsprache (Graphie) ist immer -b: Grab. Für erste Kompositionsglieder liegen 46 Belege vor. -b steht in 67 % der Fälle: lebtage. Spiransgraphe (gaff ›gab‹), wie sie in ripuarischen Schreiborten anzutreffen sind, können für Mainz bislang nur in zwei Fällen belegt werden: 1457 gaff, 1512 her affwerts. In der Verbindung -lb (Datenbank 330 Fälle) steht die Lenis-Graphie -b in 87 % der Belege: halb, ansonsten gilt -p. Später (15. Jahrhundert) sind vereinzelte -bp bezeugt. Die 130 Belege für -mb zeigen ausnahmslos Lenis-Graphie: dar vmb. Die Gruppe -rb ist nur in drei Fällen belegbar. Postvokalisch und postkonsonantisch enthält die Datenbank 124 Belege als Entsprechung von wgerm. þ. -t dominiert mit 71 % (felt ›Feld‹) gegenüber -d mit 25 % (feld) und seltenem -td (Bmitd ›Schmied‹). Standardsprachliche Entsprechung ist -d. Wgerm. d wird im Zuge der Zweiten Lautverschiebung im Oberdeutschen zu t, wobei graphisches t in frühneuhochdeutschen Schreibsprachen nach Norden expandiert. In der neuhochdeutschen Standardsprache sind die graphischen Entsprechungen postvokalisch -t, -d, -dt und -tt: gut, Konrad, Stadt, statt, wobei -t die Regel ist: Zeit. Für die Position
486
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
nach Vokal liegen in der Datenbank 697 Belege vor. Hier lässt sich die Auslautverhärtung gut fassen. -t steht in mehr als der Hälfte der Fälle: Btat (58,3 %), Btad (34,4 %), Statt (4,5 %) Btaitd (1,6 %), radt (1,1 %). -tt, -td, -dt sind (bislang) Graphien der Zeit nach dem Jahre 1400. In Konsonantenverbindungen wird aus wgerm. d entstandenes t im oberdeutschen Bereich lenisiert. Die Fortis-Graphie -t erreicht in Mainz in der Gruppe -ld Werte von fast 100 % (62 Belege): gelt. Gleiches gilt für -ld im Auslaut erster Kompositionsglieder: zu(m) Kleyne(n) gelthuBe (Hausname). Neuhochdeutsche Entsprechungen sind -d und -t: Geld, Gewalt. Standardsprachliche Entsprechung der Lautgruppe wgerm. -nd ist in der Regel -d: Pfund, sind. 2800 Belege sind erfasst. d-Schreibungen machen 75,67 % der Fälle aus, tSchreibungen 24,16 %. Bei der Auszählung ergeben sich lexemgebundene Unterschiede. In und ist t überhaupt nicht vorhanden (Konservierung der Altgraphie nach Apokope aus unde?), während die Fortis-Graphie in Pfund und Hand deutlich in der Überzahl ist (Zahlen in Prozent): und
Pfund
Unterpfand
Hand
d
t
d
t
d
t
d
t
100
0
23
77
46,7
53,3
12,2
87,8
Tab. 5: Auszählung lexemgebundener Unterschiede in der Auslautverhärtung
In der Verbalflexion wird der Dentalplural des Präsens fast ausnahmslos mit -t verschriftet: Bollint ›sollen‹. Ganz selten sind gebiedind ›gebieten‹. Im Auslaut erster Kompositionsglieder (gruntzinBz) ist -t mit 81 % deutlich frequenter als -d. Schwach belegt (103 Fälle) ist die Position -rd: hart, wingard. -t erreicht Werte von etwas über 80 %. Ganz selten und spät (16. Jahrhundert) sind Formen wie wingartt. Im Auslaut erster Kompositionsglieder steht ausschließlich -t: an deme orthuBe ›Eckhaus‹. Entsprechungen von wgerm. g postvokalisch werden in 96,9 % der Fälle (insgesamt 1119 Belege) als -g verschriftet: dotBlag ›Totschlag‹. Der Rest entfällt auf -gh, -gk , -c, -k, -ck und -ch. Auslautend vor konsonantisch anlautendem Ableitungssuffix stehen hingegen vorwiegend -c (58,1 %) und -k (31,7 %): eweclichen, ledeklich, gefolgt von seltenen -g und -ck. Spirans-Graphien, wie sie aus dem Ripuarischen bekannt sind, begegnen überaus selten: 1457 Jnwendich, 1512 gehorich. In der Lautgruppe -rg ist einmal -ch vorhanden: ze Silbirberch (Hausname). Ansonsten steht konsequent etymologisches -g: berg. Für die Alternanz des Typus dem huBe – hus (Datenbank: 3900 Belege) gilt: Der Spirant im Inlaut wird verschriftet als B (92,1 %), Bz (4,1 %) und BB (3,6 %), im Auslaut als s (69,7 %), z (27,2 %), dann folgen seltene Bz, B und Bs. Die Beseitigung der Auslautalternanzen bei b-p, d-t und g-k zugunsten etymologischer Schreibungen erfolgt laut- und kontextbezogen mit erheblichen Unterschieden. So sind postvokalisch Gutturalalternanzen am stärksten abgebaut (g = 96,9 %, Ausnahme: vor Ableitungssuffix), es folgt der Labial- (b = 88 %) und dann erst der Dentalbereich (d < wgerm. þ = 25 %).
29. Mittelrheinische Kanzleisprache
4.3.5.
487
Konsonantenepenthese
Im Wortauslaut können dentale Konsonanten antreten: 1335 irgend (mhd. iergen), 1358 eygentlichen (mhd. eigenlîche), 1395 offintlichen (mhd. offenlîche), 1407 da BelbiBt (mhd. dâ selbes), 1421 dechand (mhd. techan), 1422 nwmant (mhd. nieman), 1424 nyrgent (mhd. niergen), 1428 want (mhd. wanne). Interkonsonantischer Labialeinschub liegt vor in 1361 alle Bampt, 1366 kĤmpt ›kommt‹, 1392 Bemptlichen (mhd. samentlîche), 1437 vorkumpt ›vorkommt‹. Im Hiatus treten g, h und w auf: 1339 in Beǔg(er)n ›Bayern‹, 1412 zu Bant Michahelis dag, 1305 vf dem bruwel (mhd. brüel ›Brühl‹, Flurname in Wiesbaden-Nordenstadt). g ist bis tief ins 16. Jahrhundert hinein bezeugt: 1545 im Briegel (›Brühl‹, Flurname Bodenheim bei Mainz), 1545 Junffragen ›Jungfrauen‹. Während die anfänglich angeführten Konsonantenzusätze (irgend) jüngst im Zusammenhang mit der Entwicklung des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache gesehen werden, scheinen hiattilgende Konsonantenepenthesen (Briegel) eher silbenverbessernde und somit silbensprachliche Phänomene zu sein (vgl. Szczepaniak 2007). 4.4.
Morphologie
4.4.1.
Verbalmorphologie
4.4.1.1. Irregularisierungen In jüngster Zeit ist in kritischer Auseinandersetzung mit der morphologischen Natürlichkeitstheorie mehrfach die frequenzbedingte (Gebrauchsfrequenz) Entstehung und Verfestigung von verbalmorphologischen Irregularitäten – über das Deutsche hinaus – vorgeführt worden (vgl. z. B. Nübling 2000; 2004). Dieser Untersuchungsansatz lässt sich auf historische Textcorpora anwenden. Hier nur ein Beispiel. Der Schwund von b im geben-Paradigma (dialektal-umgangssprachlich weit verbreitet) scheint im Mainzer Material nicht einfach durch die lautlichen Kontextbedingungen (-ibe-, -ebe-) verursacht zu sein (vgl. Paul 2007, § L 76ff.). Vielmehr dürften frequenzielle Aspekte anzusetzen sein (vgl. Fertig 2000, 149ff.: Frequenzliste der im Nürnberger Frühnhd. auftretenden Verben). Abb. 4 beruht auf über 1100 Belegen. Sie zeigt, dass in der frequentesten Kategorie (Präsens, Singular, 3. Person) die Kontraktionsfälle am häufigsten sind, während sie in niederfrequenten Kategorien überhaupt nicht auftreten. Andere weniger frequente Wörter im Mainzer Material zeigen keinen Schwund von b, z. B. ufheben, vorgeBchreben (Partizip Präteritum), geleben (Infinitiv), erlebet (Partizip Präteritum) (= Lautgruppe -ebe-), vorgeBchriben (Partizip Präteritum) (Lautgruppe -ibe-).1 Die irreguläre Anlautkomprimierung in kommen (< ahd. queman) (vgl. Nübling 2000, 271ff. und Tabelle 96) ist nach dem Datenbankmaterial im Präsens vollständig durchgeführt. Erhaltene qu-, q7-, qv- und kw- sind ausschließlich im Präteritum und im Konjunktiv bezeugt.
1
Zur Geographie von b-Schwund in geben im Frühneuhochdeutschen vgl. HSS, Karten 141, 142, 143. Zur Rolle der Frequenz vgl. MaĔczak (1979); van Loon (2005, 12ff.); Bybee (2007).
488
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Abb. 4: Frequenzgesteuerter Schwund / Erhalt von b in geben im Mainzer Frühneuhochdeutschen
4.4.1.2. Partizip II von sein Das Mittelhochdeutsche kennt hier die Varianten gewesen (allgemein), gesîn (alemannisch) und gewest (mitteldeutsch seit dem späten 13. Jahrhundert (vgl. Paul 2007, § M 107, Anm. 3)). Das heute standardsprachliche gewesen ist bislang in sechs Fällen vorhanden. In der Datenbank dominiert geweBt (50 Einträge). Im Friedgebot des Jahres 1437 ist einmal geBin belegt. Der in Abb. 5 für Mainz gelieferte Befund kann nicht bestätigt werden. 4.4.2. Nominalmorphologie Nachfolgend soll an vier Beispielen Evidenz für Entwicklungstendenzen der Numerusprofilierung und der Kasusnivellierung (vgl. Kürschner 2008; Nübling 2008, 58ff.) im Deutschen demonstriert werden. 4.4.2.1. Aufbau einer Pluralkategorie Die ehemaligen starken neutralen a-Stämme wie jâr oder wort haben im Althochdeutschen / Mittelhochdeutschen im Nominativ / Akkusativ Plural kein Numerusflexiv: daz jâr (Singular) – diu jâr (Plural). Der Aufbau der Pluralkategorie in jâr kann im Mainzer Material gut verfolgt werden: zunächst ist das Lexem ohne Pluralmarkierung. Abb. 6 beruht auf 505 Belegen. Im Jahre 1340 treten erste -e auf.
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489
Abb. 5: Partizip II von sein nach Handschriften des 15. Jahrhunderts (Otto von Passau: Die 24 Alten) (Besch 2003, Abb. 8.)
Das nächste -e stammt aus dem Jahre 1358. Seit dem Jahre 1372 wird dann ein Plural-e in mehr als der Hälfte der Fälle verwendet (1381ff.: bislang kein Material erfasst). In den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts ist das neue Pluralisierungsverfahren weitgehend etabliert.
490
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Abb. 6: Aufbau der Pluralkategorie in mhd. jâr im Mainzer Frühneuhochdeutschen
4.4.2.2. Ausscheidung von Kasus-Umlauten Die starken Feminina der i-Deklination haben im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen wegen i-haltiger Flexive im Dativ / Genitiv Singular Stammvokal-Umlaut: kraft (Nominativ), krefte (Genitiv), krefte (Dativ), kraft (Akkusativ). Das Plural-Paradigma hat durchgehend Umlaut (vgl. van Loon 1995, 126f.). Die Angaben in der Literatur darüber, wann diese Kasus-Umlaute zugunsten von a im Singular ausgestoßen wurden, sind sehr pauschal und ungenau: Bei einer Reihe von Fem. vom Typ kraft kann im Gen. / Dat. Sg. -e mit Umlaut des Stammvokals vorkommen (ahd. kraft – mhd. krefte), doch dominieren im Mhd. bereits jüngere, endungslose und umlautlose Formen (Gen. / Dat. Sg. kraft, geburt); die endungslosen Formen überwiegen ab der 1. Hälfte des 13. Jh.s. (Paul 2007, § M 5, 3)
Für Mainz kann dies so nicht bestätigt werden. Bis zum Jahre 1437 liegen 486 Belege vor. Materialreduzierung auf Lexeme mit a als Stammvokal ergibt noch 366 Fälle. Während die Umlautausstoßung im Genitiv nahezu abgeschlossen ist (nur noch fünf Umlaut-Belege), hat sie im Dativ noch gar nicht recht begonnen (Zahlen in Prozent). Die Apokope des flexivischen -e korreliert immer mit Umlautausstoßung. Formen wie *krafte gibt es nicht (vgl. Steffens 2010, 313ff.):
krefte kraft
Gen. Sg. 87,5 13,4
Dat. Sg. 3,2 96,9
Tab. 6: Umlautausstoßungen in Genitiv und Dativ
29. Mittelrheinische Kanzleisprache
491
4.4.2.3. Morphologischer Plural-Umlaut Der nicht durch lautliche Kontexte indizierte morphologische Plural-Umlaut (vgl. Molz 1902, 218ff.; Wegera 1987, § 77ff.) ist in Lexemen mit a als Stammvokal seit dem Jahre 1300 vorhanden. Immer in bâbest stM. ›Papst‹, bach stF. ›Bach‹, ban stM. ›Bann‹, mânt stM. ›Monat‹, stal stM. ›Stall‹, stam stM. ›Stamm‹, stap ›Stab‹, want stF. ›Wand‹, meist in krâm stM. ›Krambude‹, acker stM. ›Acker‹, mehrfach in hant stF. ›Hand‹. In der schwachen Flexion ist (bislang) kein Umlaut zu beobachten: 1315 Jn den grabin (Dativ Plural), 1372 of dren garten (Dativ Plural), 1401 DieBBe [...] wingarten (Nominativ Plural), 1366 den SalzkaBtin (Dativ Plural). Die Numerus-Kategorie wird durch das neue Ausdrucksverfahren gestärkt (vgl. van Loon 1995, 128f.). 4.4.2.4. e-Apokope bei Kasus und Numerus Apokope des Dativ-e: Nicht berücksichtigt sind Zweisilber auf -el, -en, -er, die schon früh ihr Dativ-e aufgaben. In fünf Fällen ist hier -e erhalten, z. B. 1368 als Bie zĤ hiemele foir ›zu Himmel fuhr‹. Alles beruht auf knapp 2000 Belegen. Bei den Maskulina macht die Zahl der Apokope-Fälle 11 % aus, bei den Neutra 17 %. Apokope des Numerus-e: Die Apokope ist im Datenbank-Zeitraum bis zum Jahre 1437 kaum fassbar. In drei Fällen heißt es ben ›Bänne‹ statte benne. Sogar zweisilbiges mhd. bütel ›Gerichtsbote‹ hat regelmäßiges Plural-e (78 Fälle). Die Numerus-Kategorie leistet der e-Apokope deutlich mehr Widerstand als die Kasus-Kategorie. 4.5.
Verschmelzungen
In wenigen Fällen sind Klitisierungen (vgl. Nübling 1992) zu beobachten. Der DativArtikel dem verbindet sich mit an, auf, bei, in, von und zu (wenngleich die Einzelsegmente zum Teil noch durch Spatien getrennt sind): 1366 amme Bteynb(er)ge (Flurname Hochheim am Main), 1356 ofme ditmarkite, 1335 bi me Ditmarkite (jeweils Örtlichkeit in Mainz), 1366 in me Sande (Flurname Hochheim am Main), 1332 von me Rate, 1315 zume SchiebirBteine (Mainzer Hausname). Das Pronomen ez verschmilzt unter Verlust des Vokals mit der voranstehenden Basis: 1332 ob mans en nit irlaBzen wolte, 1357 weme Ers gipt, 1363 werz Bache. Verschmelzung von in + dem > im ist bislang nicht belegbar.
5.
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Steffens, Rudolf (2001), »Volkssprachige Schriftlichkeit in Mainz im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert«, in: Kurt Gärtner / Günter Holtus / Andrea Rapp / Harald Völker (Hrsg.), Skripta, Schreiblandschaften und Standardisierungstendenzen. Urkundensprachen im Grenzbereich von Germania und Romania im 13. und 14. Jahrhundert. Beiträge zum Kolloquium vom 16. bis 18. September 1998 in Trier, (Trierer historische Forschungen 47), Trier, 497–547. Steffens, Rudolf (2003), »Das ›Mainzer Friedgebot‹ vom Jahre 1300. Neuedition«, in: Mainzer Zeitschrift, 98 / 2003, 1–10. Steffens, Rudolf (2004), »Eine relationale Datenbank zum Frühneuhochdeutschen in Mainz«, in: Václav Bok / Ulla Williams / Werner Williams Krapp (Hrsg.), Studien zur deutschen Sprache und Literatur. Festschrift für Konrad Kunze zum 65. Geburtstag, (Studien zur Germanistik 10), Hamburg, 297–316. Steffens, Rudolf (2005a), »Das ›Mainzer Friedgebot‹ in der Redaktion von 1335 (1352). Neuedition«, in: Mainzer Zeitschrift, 100 / 2005, 17–37. Steffens, Rudolf (2005b), »Sprachwandel und Sprachvariation im Mainzer Schreibdialekt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (mit Berücksichtigung des ›Friedgebots‹ vom Jahre 1300)«, in: Kurt Gärtner / Günter Holtus (Hrsg.), Überlieferungs- und Aneignungsprozesse im 13. und 14. Jahrhundert auf dem Gebiet der westmitteldeutschen und ostfranzösischen Urkunden- und Literatursprachen. Beiträge zum Kolloquium vom 20. bis 22. Juni 2001 in Trier, (Trierer historische Forschungen 59), Trier, 195–243. Steffens, Rudolf (2006), »Das Präterito-Präsens sollen im Mainzer Frühneuhochdeutschen«, in: Hana Andrášová / Peter Ernst / Libuše Spáþilová (Hrsg.), Germanistik genießen. Gedenkschrift für Doc. Dr. phil. Hildegard Boková, (Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft 15), Wien, 411–438. Steffens, Rudolf (2008), »Das ›Mainzer Friedgebot‹ vom Jahre 1437. Neuedition«, in: Mainzer Zeitschrift, 103 / 2008, 29–59. Steffens, Rudolf (2010), »Beobachtungen zum Umlaut in der Mainzer Stadtsprache«, in: Claudine Moulin / Fausto Ravida / Nikolaus Ruge (Hrsg.), Sprache in der Stadt. Akten der 25. Tagung des Internationalen Arbeitskreises Historische Stadtsprachenforschung. Luxemburg, 11.–13. Oktober 2007, (Germanistische Bibliothek 36), Heidelberg, 297–329. Szczepaniak, Renata (2007), Der phonologisch-typologische Wandel des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache, (Studia Linguistica Germanica 85), Berlin / New York. van Loon, Jozef (2005), Principles of Historical Morphology, Heidelberg. Weber, Hildegard (2003), Venlo – Essen – Duisburg. Untersuchungen zu den historischen Stadtsprachen im 14. Jahrhundert, (Arbeiten aus dem Duisburger Graphematikprojekt, 1. Germanische Bibliothek 14), Heidelberg. Wegera, Klaus-Peter (1987), Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Beiträge zur Laut- und Formenlehre hrsg. von Hugo Moser, Hugo Stopp (†) und Werner Besch, Bd. III: Flexion der Substantive, (Germanische Bibliothek. Erste Reihe: Sprachwissenschaftliche Lehr- und Elementarbücher), Heidelberg.
Robert Möller, Lüttich (Belgien)
30. Die Kanzleisprache der Stadt Köln
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Zur Rolle der Kölner Kanzleisprache Schreibstätten und Schreiber Die Anfänge der Kölner Kanzleisprache Merkmale und Entwicklung Empfängerorientierung im 15. Jahrhundert und Schreibsprachenwechsel im 16. Jahrhundert Literatur
Zur Rolle der Kölner Kanzleisprache
Aus einer teleologischen, auf die Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache konzentrierten Perspektive gesehen steht die kölnische Kanzleisprache abseits; an den überregionalen Ausgleichsprozessen der frühneuhochdeutschen Zeit hatte sie praktisch keinen Anteil. Dies erklärt sich vor allem aus dem sprachlichen Abstand. Die Stadt Köln, im 13.–15. Jahrhundert die größte deutsche Stadt, stand im Hinblick auf die überregionalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen alles andere als abseits. Der ripuarische Dialekt und die darauf basierende kölnische Schreibsprache weisen jedoch – trotz des im Wesentlichen hochdeutschen Lautverschiebungsstands im Bereich der Tenues – erhebliche Unterschiede zu den südlicheren hochdeutschen Varietäten auf und umgekehrt deutliche Affinitäten zum Niederländischen und Niederdeutschen. Die Überdachung durch die neuhochdeutsche Schriftsprache hat diese nordwestlichen Bindungen des Dialekts (vor allem im Wortschatz) in jüngerer Zeit etwas geschwächt; in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sicht wurde das Kölnische (inklusive der Kanzleiund der Druckersprache) indessen noch nicht zum Hochdeutschen gerechnet (vgl. Besch 2003, 13; Möller 1998, 278f.). Ein Einfluss der Kölner Kanzleisprache auf andere Kanzleien ist vor allem in der näheren Umgebung Kölns wahrscheinlich, wenngleich angesichts gleicher dialektaler Grundlagen nicht immer klar nachzuweisen (zu den Urkunden von Jülich und Berg vgl. Scheben 1923; Scheurmann 1923; zu Siegburg und Aachen vgl. Möller 2000, 71ff.). Eine mehr oder weniger starke Ausstrahlung über das ripuarische Dialektgebiet hinaus ist nur in nördlicher / nordöstlicher und (nord)westlicher Richtung, in Kanzleien rheinmaasländischer und westfälischer Städte und Fürsten, festgestellt worden (vgl. Mihm u. a. 2000; Elmentaler 2000, 87ff.; 2003, 65; Peters 2000, 112f.; Möller 2000b, 51ff.). Vielfach werden dabei allerdings nicht spezifisch kölnische Merkmale übernommen, sondern allgemein-hochdeutsche; ein Bezug zum Ripuarischen zeigt sich jedoch in deren Auswahl (vgl. Mihm 2000, 149f.). Die Einflüsse sind nicht gleichmäßig verteilt: Nach Elmentaler (2000, 89f.) sind in Duisburger Quellen nur teilweise und in schwankendem
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Ausmaß ripuarische Elemente anzutreffen, während die Städte südlich der Uerdinger Linie schon im späten 14. Jahrhundert zur ripuarischen Schreibsprache übergingen (vgl. Elmentaler 2003, 65). Fischer (1998) hat jedoch auch in der Soester Kanzleisprache deutliche Ansätze zu einer Ripuarisierung gefunden: »Wenn es in der Kölner Stadtsprache keinen Wechsel zum Hochdeutschen gegeben hätte, dann wäre die niederdeutsche Soester Stadtsprache vermutlich durch eine mehr oder weniger ripuarische Varietät abgelöst worden« (ebd., 201). In südlicher Richtung ist dagegen keine Ausstrahlung der Kölner Kanzleisprache feststellbar, im Gegenteil: Schützeichel (1974) hat gezeigt, dass in Urkunden des Koblenzer Raums aus dem 14. / 15. Jahrhundert die alten mittelfränkischen Gemeinsamkeiten zunehmend zugunsten der südlichen Varianten zurücktreten. Im südwärts gerichteten Schriftverkehr der Stadt Köln selbst ist schon im 15. Jahrhundert in hohem Umfang eine Abkehr von den ripuarisch-nordwestlichen Merkmalen zu verzeichnen (vgl. Kapitel 5), daneben (in erheblich geringerem Maße) auch Anpassungsversuche an das Niederdeutsche und Niederländische im nordwärts gerichteten Briefwechsel. Ein Bewusstsein des kleinen Geltungsraums der eigenen Varietät und eine latente Ausrichtung auf das südlichere Hochdeutsch scheint demnach bei den Kölner Schreibern schon zur Blütezeit der Kölner Kanzleisprache vorhanden gewesen zu sein. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts fand dann im Verlauf weniger Jahrzehnte ein Schreibsprachenwechsel statt, der den gleichzeitigen Vorgängen in den niederdeutschen Kanzleien entspricht.
2.
Schreibstätten und Schreiber
Die Haupt-Schreibstätte der Stadt Köln war die Kanzlei des städtischen Rates. Der Rat hatte mit der zunehmenden Emanzipation der städtischen Selbstverwaltung von der erzbischöflichen Herrschaft schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine wichtige Position gewonnen und setzte sich nach der endgültigen Unabhängigkeit der Stadt (1288) im frühen 14. Jahrhundert vollständig als oberste politische Instanz der freien Reichsstadt durch. Die Ratskanzlei bestand zunächst offenbar nur aus einem einzelnen Stadtschreiber (seit 1228 bezeugt), der ab dem 14. Jahrhundert dann zunehmend durch weitere – regelmäßig oder gelegentlich tätige – Schreiber unterstützt wurde (vgl. Groten 2001; Huiskes 1990, XXVIII; Pitz 1959, 122, 116). Die Ratsschreiber übernahmen auch Schreibtätigkeiten über die Belange des Rates hinaus (z. B. die Führung der Schreinsbücher (Grundbücher), die Sache der Sondergemeinden war), und es kam allgemein zu einer Zentralisierung des städtischen Schreibwesens unter Führung der Ratskanzlei (vgl. Pitz 1959, 64, 143ff.). In der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts gehörten dann außer dem Obersten Schreiber (Protonotar) noch zwei Sekretäre, zwei Gehilfen des Protonotars und ein Kopist zu deren festem Personal. Soweit Informationen über die Personen der Protonotare und Sekretäre vorliegen (vgl. Stein 1893, CXVIII–CLXXIX; Huiskes 1990), waren diese vorwiegend, aber nicht ausschließlich Kleriker, und die meisten von ihnen waren keine gebürtigen Kölner, sondern erst für ein juristisches Studium nach Köln gekommen. Ihre Namen weisen teilweise über das ripuarische Gebiet hinaus, vor allem nach Norden (Hermann Rose von Warendorf, Dietrich Hoyke von Nienburg, Hein-
30. Kanzleisprache der Stadt Köln
497
rich Ysbolt von Xanten, Albert Potgieter von Essen, aber auch: Georg Goldberg von Breslau). In der durchgehend ripuarischen Kanzleisprache ist die heterogene Herkunft der Schreiber jedoch von Anfang an fast nicht zu bemerken (vgl. Habscheid 1997, 15, 70; Möller 1998, 184ff.), und umgekehrt war gerade in der Zeit von 1523 bis 1543, in der die Ablösung der Kölner Kanzleisprache stattfand, der Leiter der Ratskanzlei ein gebürtiger Kölner (vgl. Groten 1989, XXIII). Neben der Ratskanzlei ist die zweite wichtige Kanzlei, die die Kölner Kanzleisprache verwendete, die kurkölnische Kanzlei. Diese war allerdings insofern keine Kölner Kanzlei im engeren Sinne, als sie zunächst mit dem Erzbischof mitreiste und dieser seine Residenzen nach dem Bruch von 1288 dann außerhalb der Stadt wählte. Laut Kanzleiordnung von 1469 wurde die Kanzlei im 15. Jahrhundert in Brühl ortsfest (vgl. Janssen 1984, 160, 168). Sie umfasste Mitte des Jahrhunderts einen Kanzler, einen zweiten Schreiber mit Unterschreiber und vier weitere Schreiber (vgl. Janssen 2005, 129). Ein sprachlicher Unterschied zwischen stadtkölnischen und kurkölnischen Quellen scheint grundsätzlich nicht zu bestehen. Allerdings weisen die früher auftretenden südlichen Einflüsse in kurkölnischen Texten (vgl. Kapitel 4) darauf hin, dass der Faktor Ortsloyalität im Rahmen der kurkölnischen Verwaltung, die Erzbischöfen nichtkölnischer Herkunft unterstand und deren Gebiet nach Norden und Süden auch über den ripuarischen Dialektraum hinausreichte, weniger relevant war als im städtischen Schriftwesen.
3.
Die Anfänge der Kölner Kanzleisprache
Nach allerersten Experimenten mit teilweise deutschsprachigen Einträgen in Kölner Schreinskarten des 12. Jahrhunderts (vgl. Gärtner 1994; Mihm 1999) begann nach der Mitte des 13. Jahrhunderts die erste frühe Phase der kölnisch-ripuarischen Kanzleisprache. Gärtner (1995) hat hervorgehoben, dass Köln in der Anfangszeit der deutschen Urkundensprache (etwa 1250–65) eine führende Rolle spielt: Nach neueren Untersuchungen können gut 60 Urkunden aus dieser Zeit »dem Zentrum Köln und dort tätigen Schreibern zugewiesen werden« (Gärtner / Holtus 1995, 13; vgl. auch Bohn / Rapp 1995a), 23 davon dem Stadtschreiber Gottfried Hagen, der auch als Verfasser einer Kölner Reimchronik hervorgetreten ist (vgl. Bohn / Rapp 1995a, 49f.; Habscheid 1997). Nach dieser Phase wurde eine Zeitlang wieder nur lateinisch geurkundet. Der endgültige Übergang zum Deutschen, d. h. Kölnischen, fand dann im Wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts statt (zum genaueren Ablauf vgl. Hoffmann 1980; Mattheier 1982; Hoffmann / Mattheier 2003, 2323). Im Bestand des Kölner Stadtarchivs ändert sich das Verhältnis von deutschen und lateinischen Urkunden, das bis 1350 konstant bei ca. 1:9 liegt, schon im darauf folgenden Jahrzehnt deutlich und kehrt sich bis zum Ende des Jahrhunderts um. Die in der erzbischöflichen Kanzlei ausgestellten Urkunden zeigen eine kontinuierlichere Verschiebung der Anteile, die aber insgesamt ähnlich verläuft (vgl. Hoffmann / Mattheier 2003, 2323f.). Etwa zeitgleich mit dem politischen Einschnitt von 1396 – Ablösung des reinen Patrizier-Rats durch einen von den Zünften gewählten Rat – war das gesamte städtische Geschäftsschrifttum zur kölnischen Schreibsprache übergegangen, in der auch die neue Verfassung von 1396, der
498
IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Verbundbrief, abgefasst ist. Ein ursächlicher Zusammenhang kann zwar nicht bestehen, da der sprachliche Wechsel dem politischen (mehr oder weniger knapp) vorausgeht. Es kann aber wohl eine grundsätzliche Beziehung zwischen der politischen und der sprachlichen Demokratisierung (d. h. der leichten Ausweitung der gesellschaftlichen Gruppen, die Zugang zu politischen Entscheidungen bzw. zur Schriftlichkeit hatten) gesehen werden. Der Wechsel vom Lateinischen zum Deutschen geht dabei mit der Zunahme der Schriftlichkeit im Verwaltungsalltag allgemein einher. Die neuen Aktentypen werden zumeist von Anfang an in der Volkssprache geführt (vgl. Hoffmann 1980, 135), so die ab 1321 überlieferten Eidbücher, in denen die grundlegenden Gesetze / Statuten gesammelt sind, und die Ratsmemorialbücher (ab 1324 erwähnt, ab 1396 überliefert), in denen die Beschlüsse des Rates protokolliert wurden. Für Abschriften der ausgehenden Schreiben des Rates wurden Missivbücher (Briefbücher) angelegt, die ab 1367 erhalten sind – hiernach wurden auch die Briefe spätestens ab dieser Zeit fast nur in Deutsch abgefasst. Da die politischen und wirtschaftlichen Kontakte und die Verwaltung der großen Stadt eine immer ausgedehntere Schreibproduktion mit sich brachten und die Überlieferungslage für Köln zudem sehr günstig ist, steht für sprachhistorische Untersuchungen der Kölner Kanzleisprache insgesamt eine große Fülle von Quellen zur Verfügung, vor allem aus dem 15. Jahrhundert.
4.
Sprachliche Merkmale und Entwicklung
In ihren sprachlichen Merkmalen nimmt die Kölner Kanzleisprache bzw. allgemeiner die ripuarische Schreibsprache eine Mittelstellung zwischen hochdeutschen und niederdeutschen bzw. niederfränkisch-niederländischen Kanzleisprachen ein. Dies liegt insbesondere an den dialektalen Grundzügen, die sich in der regionalen Schreibsprache wiederfinden, in erster Linie an dem spezifisch ripuarischen Lautverschiebungsstand, der zwar im Prinzip als hochdeutsch eingestuft wird, aber eine Reihe zum Teil hochfrequenter Ausnahmen von der Lautverschiebung umfasst. So ist wgerm. p nicht nur wie im gesamten Westmitteldeutschen im Anlaut und in der Gemination, sondern auch nach Konsonant unverschoben geblieben (perd, zappen, helpen – aber offen) und erscheint darüber hinaus auch in der ripuarischen Sonderform up ›auf‹ (aus uppe) regelmäßig als
; hinzu kommen die mittelfränkischen Lautverschiebungs-Ausnahmen bei wgerm. t insbesondere in einigen hochfrequenten Kleinwörtern (dat, wat, it bzw. unter lat. Einfluss id, dit, allet / allit, tuschen ›zwischen‹) und weiteren Einzelwörtern und -formen (toll ›Zoll‹, gesat ›gesetzt‹). Obwohl es sich nur um einzelne lexikalische Ausnahmen handelt, tragen diese Kleinwörter durch ihr häufiges Vorkommen sehr zum unhochdeutschen Charakter der Kölner Texte bei, auch wenn wgerm. [t] ansonsten regelmäßig verschoben erscheint (zijt, laissen, us). Eine lexemspezifische Lautverschiebungs-Ausnahme ist auch k in (ver)soeken. Zu den unverschobenen Tenues kommen das mfrk. im Inlaut frikativ gebliebene wgerm. I und das allgemein-westmitteldeutsche unverschobene wgerm. d hinzu – beides in der Kanzleisprache durchgehend entsprechend verschriftet (geven bzw. geuen, aff; doin ›tun‹, bode, bidden). Das ebenfalls frikative wgerm. K erscheint im Auslaut zumeist als (dach ›Tag‹), im An- und Inlaut seltener als . Gelegentlich findet sich auch der Wandel ft > cht (sticht, hacht).
30. Kanzleisprache der Stadt Köln
499
Auch im Bereich der Vokalgraphien hat die Kölner Kanzleisprache deutliche Gemeinsamkeiten mit niederdeutschen und niederfränkisch-niederländischen Schreibsprachen (wobei hier weder die dialektale Grundlage noch die schreibsprachlichen Konventionen so stabil bzw. invariabel waren wie im Konsonantismus, s. u.). Diese Gemeinsamkeiten liegen nicht nur darin, dass – dem ripuarischen Dialekt entsprechend – die neuhochdeutschen Diphthonge nicht vorkommen, sondern beruhen besonders auch auf der Wiedergabe dialektaler Senkungserscheinungen. So erscheint mhd. i, ü, u in offener Tonsilbe als (geschreven, over), mhd. uo, üe zunächst als oder , dann aber regelmäßig als (broder / broider, boisse ›Buße‹, groesse ›Grüße‹). Auch mhd. ie wird dementsprechend teilweise geschrieben (bref, breif), häufiger steht hier aber . Die dialektale Monophthongierung von mhd. ei, öu, ou – die allerdings im rezenten Dialekt nicht im Stadtkölnischen gilt – schlägt sich nur gelegentlich und v. a. vor dem 15. Jahrhundert in der Kanzleisprache nieder, Schreibungen wie oich ›auch‹ sind die Ausnahme, normalerweise steht (außer vor : frauwe). Charakteristisch ist außerdem statt in van, sall, wail. Auffällig ist besonders das häufige, fast regelmäßige Auftreten der Digraphien , , / etc. sowie in Wörtern wie rait oder groiss, also in Positionen, wo – nach der Lautetymologie und dem rezenten Dialekt zu urteilen – keine Diphthonge zu erwarten sind. Auch dies ist in erster Linie ein nordwestliches Merkmal (mit südlichen Ausläufern bis Mainz), wobei die kölnische Ausprägung sich durch Dominanz der iKombinationen gegenüber den e-Kombinationen auszeichnet. Umstritten ist immer noch, ob es sich hierbei um Versuche handelt, tatsächlich diphthongische Laute oder jedenfalls spezifische Lautqualitäten zu verschriften, oder ob die Digraphien lediglich Langvokale markieren sollen (zur Diskussion vgl. Klein 1995; 2000, 19f.; Mihm 1999; 2005). Elmentaler (2003) hat für Duisburg gezeigt, dass für das Verständnis der Funktion der Digraphien eine genaue schreiberspezifische Analyse unerlässlich ist, da zwischen den individuellen Systemen große Unterschiede bestehen können, die eine Gesamtanalyse nivelliert. Für die Kölner Kanzleisprache steht eine solche Feinanalyse größtenteils noch aus. Nur für die Urkunden Gottfried Hagens aus dem 13. Jahrhundert hat Mihm (2005) die Verteilung der Digraphien , und genauer untersucht. Er stellt eine »lautetymologisch und kontextuell bedingte Verteilung« dieser Digraphien fest, die er – wie Elmentaler die Duisburger Befunde – damit erklärt, dass »die Schreiber sich nach den Lautkontrasten richteten, die in der damaligen Mündlichkeit hörbar waren« (ebd., 463). Eine entsprechende Tendenz, in Umlautpositionen bzw. statt / bzw. / zu setzen, findet sich auch in den Kölner Akten des 15. Jahrhunderts, daneben scheinen aber auch graphische Aspekte eine Rolle zu spielen (z. B. wenn gegenüber bevorzugt wird). Ein kohärentes, überindividuelles System der Digraphien-Verwendung wird jedenfalls auch in der Kölner Kanzleisprache insgesamt nicht greifbar (vgl. Möller 1998, 163ff.; 2000a, 59f.). Selbst die zeitweise deutlich erkennbare Beschränkung der Digraphien auf die geschlossene Silbe, die phonetisch (vgl. Mihm 2005, 466) oder – vor dem Hintergrund der Tondehnung – schreibökonomisch interpretiert werden kann, wird von der Ratskanzlei im 15. Jahrhundert aufgegeben. Im Flexionssystem zeigen sich bestimmte Gemeinsamkeiten mit dem Mittelniederländischen (vgl. Habscheid 1997). Dazu gehört die Einheitsdeklination der fem. Subs-
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
tantive der ô-Stämme mit Endung auf -e und die der n-Stämme, das Flexiv -e neben -0 im Nom. Sg. mask. der Adjektive (eyn nuwe rait) und durchgehend -er im Gen. und Dat. Sg. fem. und Gen. Pl. (bynnen der alder muyren). Beim Verb fällt die Endung -en in der 1. Pers. Sg. Ind. Präs. als Besonderheit auf (Ich N. bidden unse heren...). Im Ind. Präs. der 3. Pers. Pl. kommen noch -en und -ent nebeneinander vor. Im Bereich der Pronomina reflektiert die Kölner Kanzleisprache ebenfalls die Mittelstellung des Ripuarischen: Das Personalpronomen der 3. Pers. hat im Nom. Sg. mask. den h-Anlaut (he, hie), nicht jedoch im Nom. Sg. neutr. (et, id) sowie im Dat. und Akk. Sg. mask. und Dat. Sg. fem. und Pl. (yem, yn, ir – auch als Poss.pron.). Der hochdeutsche r-Auslaut fehlt (außer in he auch in unse und im Demonstrativ- oder Relativpronomen Nom. Sg. mask. de, die), steht jedoch in wir, ir und im Artikel der. Dativ- und Akkusativform der Personalpronomina werden (außer in der 1. und 2. Pers. Pl.) durchgehend klar unterschieden. Untersuchungen zur Syntax fehlen bislang; ein auffälliges Detail ist die Tatsache, dass die zweiteilige Negation auch gegen Ende des 15. Jahrhunderts noch häufig ist (»[...] ind so wer des nyet en deit, die gilt die boisse, as vurs[creven] is, also ducke dat geschege« 1486, nach Stein 1893, Bd. 2, 611). Allein erscheint die Negationspartikel en regelmäßig in der festen Wendung id en sij / were dan dat ›es sei denn, dass‹, aber auch darüber hinaus noch in exzipierenden Nebensätzen wie »Item sall man geyn korn yemantz verborgen noch volgen laissen, he en have id yrst wale betzailt« (1462, nach Stein 1893, Bd. 2, 390). Auch im Bereich der Derivationsaffixe gibt es ripuarische Besonderheiten, die gerade in der Kanzleisprache hervortreten, wie Bildungen mit dem Abstraktsuffix -de (< ahd. -ida), z. B. gewoende ›Gewohnheit‹, oder das Abstraktsuffix -schaf(f) ohne finales -t (rechenschaff, geselschaff). Das Präfix ent- erscheint zumeist in der Form unt-. Im Wortschatz wird die Distanz der Kölner Kanzleisprache zu den übrigen hochdeutschen Kanzleisprachen schließlich besonders sichtbar, wobei wieder eine enge Beziehung zum Niederländischen und (westlichen) Niederdeutschen zu erkennen ist. So heißen die Wochentage Samstag und Mittwoch (anders als im rezenten Dialekt) noch saterdach und gudesdach, in Datumsangaben tritt außerdem paschen ›Ostern‹ auf und häufig das Partizipialadjektiv geleden / verleden ›vergangen‹ (etwa Micheils dach nyest verleden). Weitere häufige nordwestliche Wörter sind z. B. momber ›Vertreter, Anwalt‹, velich ›sicher‹, overmitz ›vermittels‹, umbtrynt ›ungefähr‹, das Pronomen mallich ›jeder‹ oder die Konjunktionen off ›oder; wenn‹ und mer ›aber‹. Als Beispiel eines typischen Textes der Kölner Kanzeisprache kann der Eid des Protonotars Johann Frunt zitiert werden: (1)
Juramentum magistri Johannis Vrunt (1442) 1. In dat yerste sall he unsen heren vanme raede hoult ind getruwe sijn, yre beste werven ind yre ergste warnen na alle synre macht, synen dienst truwelichen zo verwaren sonder argelist ind haill zo halden, dat hailber is. 2. Item dat signete, dat yem bevoilen is, truwelich zo bewaren, geynichen brieff zo signeren, id en sij mit urloeve unser heren off derghenre, die des van yren weigen macht haven. 3. Item van eyme beslossenen brieve, die unsen burgeren off ingesessenen geurloift wirt, vier schillinge ind van eyme offenen brieve zweylff schillinge ind nyet me zo heisschen.
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4. Item dat he geynichen offenen brieff van der steide weigen gesant uyss der kameren laisse, he en have off behalde is copie, van worde zo worde ain vertzoch in dat register zo setzen. 5. Item sall man ouch alre brieve copije behalden, die der steide sachen angaent ind uyssgesant werden, da macht an lijgt. 6. Ouch sall he geyns heren rait noch man sijn off werden ind geyns heren cleyder noch pert neymen, he en sall ouch geyns heren burge werden noch geselschaff halden mit denghenen, die den heren borgent. [...] (2. Eidbuch des 15. Jahrhunderts, nach Stein 1893, Bd. 1, 310) Dass die Kanzleisprache sich vom spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Kölner Sprachgebrauch in anderen soziopragmatischen Kontexten unterscheidet, ist selbstverständlich, wenn auch aufgrund der Quellenlage schwierig zu belegen (vgl. Heinrichs 1961; Hoffmann 1983). Die meisten der genannten charakteristischen Merkmale (bzw. Merkmalskombinationen) der Kölner Kanzleisprache basieren gleichwohl auf dem Dialekt des ripuarischen Gebiets und prägen ebenso Texte der privaten Schriftlichkeit (vgl. Mattheier 1981 / 82; Hoffmann 1983 / 84) wie auch literarische Texte (vgl. Klein 2000; Beckers 1980; 1983). Schon die frühen Zeugnisse aus dem 13. Jahrhundert weisen diese Charakteristika auf (vgl. Klein 2000; Schellenberger 1974; Habscheid 1997), und auch der Kölner Buchdruck behält sie in zahlreichen ripuarischen Drucken noch bis ca. 1530 bei (vgl. Hoffmann 2003). In variableren Bereichen des Usus lassen sich jedoch Entwicklungen beobachten, die vor dem Hintergrund des professionellen und institutionell organisierten Schreibens zu sehen sind. Die bisher vorliegenden Forschungsarbeiten konzentrieren sich dabei auf graphonematische und – ansatzweise – lexikalische Aspekte. Schon in der ersten Phase volkssprachiger Urkundenabfassung in Köln erkennt Mihm (2005) einen Umbruch, den er mit dem Übergang von einem hochmittelalterlichen strengen Orthographiestil hin zu einem frühneuzeitlichen reichen Stil identifiziert. Den Buchstabenreichtum des letzteren erklärt er dabei mit einer fein differenzierenden Lautwiedergabe (vgl. den Abschnitt zu den Digraphien), den Variantenreichtum mit einer Intention zur Hervorhebung phonischer Auffälligkeiten. Die Durchsetzung dieses exemplarisch durch Gottfried Hagen repräsentierten reichen Stils wird auf eine grundsätzlich positive Bewertung auch der Variation selbst zurückgeführt, für die soziopragmatische Hintergründe angenommen werden. Im Kölner Kanzlei-Usus markieren die variantenreichen Schreibungen Gottfried Hagens allerdings nicht den Beginn einer entsprechenden Tendenz, die sich in gerader Linie bis zu den Konsonantenverdopplungen und -verdreifachungen des 16. Jahrhunderts fortsetzt, sondern im 14. und v. a. im 15. Jahrhundert ist im Gegenteil (jedenfalls bei schreiberübergreifender Betrachtung) eine zunehmende Reduktion der Variation zu verzeichnen. Dabei ist auch eine Verfestigung einiger lexemspezifischer Sondertraditionen zu erkennen, also keine Durchsetzung phonetischer Verschriftungsprinzipien (gut mit statt mit wie für mhd. uo sonst, nyet ›nicht‹ fast immer mit statt des ansonsten üblicheren ). Schon für das 13. Jahrhundert stellen Bohn / Rapp (1995b, 283) fest, dass »neue« oder »moderne« Formen »in den Kölner Urkunden immer wortgebunden, nie lautgebunden« vorkommen. Der Abbau der Variation im 15. Jahrhundert führt teilweise weg von regional- oder lokalspezifischen Formen, teilweise aber gerade auch hin zu solchen – gemeinsam ist den
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
Einzelentwicklungen nur, dass sich im 15. Jahrhundert oft eine der vorher konkurrierenden Varianten durchsetzt und die Kanzleisprache damit homogener wird, ohne dass dabei geographische Präferenzen erkennbar wären (vgl. Hoffmann / Mattheier 1985, 1849f.; Möller 2000a, 67ff.). Im Laufe des 15. Jahrhunderts kommen allerdings einige Abweichungen vom hergebrachten regionalen Gebrauch auf, die sich teilweise auch vom rezenten Dialekt unterscheiden. Das betrifft vor allem die weniger frequenten Ausnahmen von der Lautverschiebung und beschränkt sich zunächst auf wenige, seltene oder eher unauffällige Merkmale (vgl. Möller 1998, 186; 2000a, 66). Die Verwendungsweise übernommener lexikalischer Varianten wie oder, ader (kölnisch off) lässt dabei überdies erkennen, dass es hier um Entlehnung geht und noch nicht um Sprachwechsel: Das Alternieren der neu übernommenen mit den hergebrachten kölnischen Wörtern zeigt, dass mit ihnen in erster Linie das Reservoir an stilistisch nutzbaren lexikalischen Variationsmöglichkeiten erweitert wurde (vgl. dazu die Listen synonymer Wörter in zeitgenössischen Kanzleibüchern). Das gilt auch für spezifisch kanzleisprachliche Wörter. So werden zunächst nur einheimische Querverweisausdrücke verwendet (vurscreven, vurgenoempt, vurgeroirt); im späten 15. Jahrhundert treten dann neue Varianten auf, die hochdeutsch-oberdeutsche Lautmerkmale haben (obgemelt, obgnant). Diese verdrängen jedoch die angestammten Ausdrücke noch nicht, sondern wechseln mit diesen ab: (2)
[...] mit sulchen vurwerden haint onse heren v[anme] r[aide] van stunden an die obgemelte puntten avegestalt ind dat oevermitz yre geschickde raitzfrunde in bijwesen der vurs[crevener] geschickder heren offenbierlichen van der lenen in wijse eynre morgenspraichen offenbeirlichen doin verkundigen ind uysssprechen, dat sulche vurg[enoempde / -genante /-geroirte] puntte myt der vurwerden vurgeroirt gantz avegestalt synt. (1481, nach Stein 1893 Bd. 1, 469, Hervorhebungen R. M.)
Eine durchgreifende Neuerung bedeuten solche einzelnen Entlehnungen noch nicht; in den wesentlichen regionalen Merkmalen bleibt die Sprache der Kölner Ratskanzlei – jedenfalls im regionalen Gebrauch – bis zum frühen 16. Jahrhundert unverändert ripuarisch (vgl. Tab. 1). In Briefen der erzbischöflichen Kanzlei – auch an die Stadt Köln – treten demgegenüber schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, unter Ruprecht von der Pfalz und Hermann von Hessen, in erheblichem Umfang südliche Formen auf (das, er, tag, haben etc.). Daneben stehen allerdings weiterhin die ripuarischen (vgl. Möller 1998, 287f.), und dieses Nebeneinander mit insgesamt zumeist überwiegendem ripuarischen Anteil charakterisiert auch noch die kurkölnischen Urkunden des frühen 16. Jahrhunderts (vgl. Scheel 1893, 18ff.).
30. Kanzleisprache der Stadt Köln
5.
503
Empfängerorientierung im 15. Jahrhundert und Schreibsprachenwechsel im 16. Jahrhundert
Wenn die Entwicklung der Kanzleisprache der Stadt Köln im 14. / 15. Jahrhundert als vorwiegend autozentrische Konsolidierung erscheint, so wird dieses Bild allerdings modifiziert, wenn man nicht nur die Quellen mit städtischer oder regionaler Bestimmung einbezieht. So ist in der überregionalen Korrespondenz ein auffälliges Phänomen festzustellen: Wie die Untersuchung der Missivbücher ergibt, blieb die Ratskanzlei hier nicht bei ihrem sonstigen Usus, sondern passte sich – vor allem bei Empfängern im oberdeutschen Raum – den wesentlichen Merkmalen, insbesondere dem Lautverschiebungsstand, der Empfängervarietäten an:
Tab. 1: Regionale vs. überregionale Korrespondenz der Ratskanzlei 1367–1500 – Prozentzahlen gerundet (nach Möller 1998, 178, 286)
Bei mitteldeutschen Empfängern hatte die Anpassung einen etwas geringeren Umfang, und gegenüber niederdeutschen und niederländischen Empfängern wurde nur gelegentlich vom einheimischen Gebrauch abgewichen. Dass es sich bei der Empfängerorientierung nicht um ein allgemein verbreitetes, in symmetrischer Weise gehandhabtes Verfahren handelte, zeigen die an Köln gerichteten Schreiben dieser Korrespondenzpartner, die keine Anzeichen einer Anpassung an die Kölner Schreibsprache aufweisen. Hinter der Praxis der Kölner Kanzlei stehen wohl weniger Fragen der Verständigung als solche der Bewertung: Die eigene, bodenständige Kanzleisprache wurde zwar »für die Belange der inneren Verwaltung Kölns offenbar für ausreichend, aber wohl auch für geeignet und wert gehalten« (Hoffmann 1980, 135), auch für den Schriftwechsel mit Adressaten innerhalb desselben Dialektraums – aber nicht über diesen hinaus, jedenfalls nicht im Kontakt mit mittel- und v. a. oberdeutschen Adressaten. Im Kölner Bewertungssystem zumindest des späteren 14. und des 15. Jahrhunderts wurden die oberländischen Varietäten gegenüber der eigenen (und auch gegenüber den niederdeutschen und niederländischen Varietäten) anscheinend schon als höherwertig eingestuft. Die Aufgabe des Kölnischen zugunsten einer hochdeutsch-oberdeutsch geprägten Schreibsprache im 16. Jahrhundert war demnach eine Entwicklung, die im regionalen und stadtinternen Gebrauch zwar relativ unvermittelt eintrat, andererseits aber in einer solchen latenten Heterozentrierung doch einen langen Vorlauf hatte. Dass die Regionalmaxime (»Wähle die Variante c, weil sie einheimisch ist«, Haas 1994, 205) im 16. Jahrhundert dann auch im regionalen Rahmen aufgegeben wurde, ist wohl mit einer zunehmenden Verdichtung der überregionalen Beziehungen aufgrund politischer, juristischer, wirtschaftlicher, religiöser und kultureller Veränderungen zu erklären (vgl. dieselbe Erscheinung in den niederdeutschen Kanzleien). Mattheier (2003, 2723) nimmt darüber hinaus »grundle-
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
gende Wandlungen in der Identitätsmodellierung« der Bildungsschichten an, die zu einer Verlagerung des »Identitätspunkts« von der Heimatstadt auf das Deutsche Reich führen. Der eigentliche Umbruch in der Varietätenwahl und damit das Ende der Kölner Kanzleisprache beginnt um 1520. In der erzbischöflichen Kanzlei werden zwar schon früher südliche Formen verwendet (s. o. nach Scheel 1893, 17ff., 30, in den Urkunden ab 1500), aber auch hier gewinnen die hochdeutsch-oberdeutschen Varianten in Konsonantismus und Vokalismus (inkl. neuhochdeutsche Diphthonge und für mhd. ou) erstmalig in den 1520er-Jahren die Oberhand (vgl. ebd., 21). In den Missivbüchern der Ratskanzlei treten vor 1520 nur gelegentlich nichtripuarische Konsonantenschreibungen auf (von den oben genannten Vorläufern abgesehen), 1523 erfolgt dann ein regelrechter Umschwung, bei dem die traditionellen Schreibungen zwar noch nicht unmittelbar verschwunden sind, aber sofort eindeutig in der Minderzahl stehen. Varianten
Belege 1501–1520
Belege 1521–1540
up / uff dat / das / he / er ind / und
104 : 15 (= 13% uff) 180 : 9 (= 5% das) 488 : 14 (= 3% ) 84 : 2 (= 2% er) 1 : 641 (= 100% und)*
3 : 25 (= 89% uff) 14 : 31 (= 69% das) 80 : 122 (= 60% ) 3 : 13 (= 81% er) 1 : 271 (= 100% und)
* Bei ind / und findet ein schlagartiger Wechsel schon zwischen 1497 und 1498 statt. Tab. 2: Der Schreibsprachenwechsel in der regionalen Korrespondenz der Ratskanzlei (Missivbücher: Briefe an Aachen) – Prozentzahlen gerundet (nach Möller 1998, 178, 287)
Schon um die Jahrhundertmitte hat sich die neue Schreibsprache dann weitgehend durchgesetzt (im Ablauf leicht nach Textsorten gestaffelt, vgl. Scheel 1893, 30; Mattheier 1982, 245f.; Hoffmann / Mattheier 2003, 2330f.), es bleiben aber noch ripuarische Interferenzen, die nach Scheel (1893) in den Ratsprotokollen erst um 1650 aufhören. Eine bestimmte Abfolge der Merkmale wird dabei nicht recht deutlich, abgesehen davon, dass frühe Vorläufer eher lexemspezifische und dann konsonantische Merkmale betreffen und insbesondere die nhd. Diphthonge relativ spät erscheinen. Vor dem Hintergrund grundsätzlicher soziolinguistischer Überlegungen hat Mattheier (1981) aus dem Auftreten von Merkmalen mit speziell ostoberdeutscher Provenienz (wie
für anlautendes mhd. b) den Schluss gezogen, dass bei diesem Schreibsprachenwechsel eine ostoberdeutsche Prestigevarietät, das Gemeine Deutsch, angestrebt wurde. Allerdings bezog sich die Vorstellung der Schreiber offenbar doch nicht klar auf eine spezifische oberdeutsche Zielvarietät, sondern allgemeiner auf das – im Ausgleichsprozess auch schon vorangeschrittene – Oberländische (= Hochdeutsche südlich des Mittelfränkischen) und dabei in erster Linie auf die Merkmale, bezüglich derer sich die oberländischen Schreibsprachen insgesamt von der kölnischen Schreibsprache unterschieden (vgl. Macha 1991; Möller 1998, 266ff.; Hoffmann 2000, 143f.). Eine Signalwirkung bestimmter oberdeutscher Varianten wird nach Macha (1998) in Kölner Quellen dann im 17. Jahrhundert vor dem Hintergrund einer verstärkten Konfessionalisierung greifbar; zu dieser Zeit ist die kölnische Kanzleisprache jedoch schon gänzlich abgelöst.
30. Kanzleisprache der Stadt Köln
6.
505
Quellen
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30. Kanzleisprache der Stadt Köln
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IV. Kanzleien auf hochdeutschem Sprachgebiet
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V. KANZLEIEN AM RANDE UND AUSSERHALB DES GESCHLOSSENEN DEUTSCHEN SPRACHGEBIETS
Lenka VaĖková, Ostrava (Tschechien)
31. Tschechien
1. 2. 3. 3.1. 3.2. 4. 5. 6.
1.
Die deutsche Besiedlung Böhmens und Mährens Materialbasis der Kanzleisprachenforschung Der Forschungsstand Deutsche Kanzleien in Böhmen Deutsche Kanzleien in Mähren Forschungsergebnisse nach Beschreibungsebenen Quellen Literatur
Die deutsche Besiedlung Böhmens und Mährens
Die heutige Tschechische Republik war jahrhundertelang ein zweisprachiges Territorium. Die Anfänge dieser Zweisprachigkeit reichen bis in das 10. Jahrhundert. Die PĜemysliden, das herrschende Geschlecht in Böhmen, waren den westlichen Einflüssen und der deutschen Sprache gegenüber sehr aufgeschlossen. Die Zustände am PĜemyslidenhofe lockten schon in der frühesten Epoche des tschechischen Staates deutsche Einwanderer an. Es waren zuerst Kaufleute und Handwerker, die sich überwiegend in den Städten ansiedelten (vgl. Skála 1968, 7). Zu einem bedeutenden Anstieg des deutschen Bevölkerungsanteils kam es erst im 13. Jahrhundert. In Böhmen besiedelten die Deutschen vor allem die Grenzgebiete, was dadurch erklärt wird, dass die Gebirge, von denen Böhmen umschlossen ist, das Vordringen der deutschen Siedler in das Innere des Landes gebremst haben. An der Kolonisation beteiligten sich Einwanderer (vor allem Bauern) aus verschiedenen Teilen Deutschlands. Die Mehrheit von ihnen kam aus der unmittelbaren Nachbarschaft (wobei sie sich nicht immer in der nächsten Umgebung ihres Herkunftsgebietes niedergelassen haben), es gab aber auch Siedler aus weiter entfernten Gebieten wie aus Rheinland oder Flandern (vgl. Schwarz 1934). Südböhmen wurde von Kolonisten aus Ober- und Niederösterreich besiedelt, sodass im 13. Jh. alle Städte Südböhmens sprachlich gemischt waren (vgl. Boková 1998a). Im Egerland (Westböhmen), das erst 1322 an Böhmen fiel, siedelten sich vor allem Nordbayern und Ostfranken an. In Nordwestböhmen mit den Zentren Saaz, Kaaden, Komotau und Brüx beteiligten sich auch wesentlich Einwanderer aus dem mitteldeutschen Gebiet an der Besiedlung. In Nordböhmen mit den Mittelpunkten Leitmeritz, Böhmisch Kamnitz, Böhmisch Leipa stellten Kolonisten aus dem mitteldeutschen Sprachraum die Mehrheit dar. Der westliche Teil Ostböhmens (Friedland, Reichenberg) wurde vorwiegend von Deutschen kolonisiert, die aus dem Raum der Elbe aufwärts, von der Oberlausitz kamen, die Gegend südlich vom Riesengebirge (Trautenau) wurde von
512
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Kolonisten aus Schlesien besiedelt. Erst im 14. Jh. schlossen sich ihnen Ostfranken aus Obermain an, die über das tschechischsprachige inländische Territorium in die Gegend eingedrungen waren. Die Kolonisation in Mähren verlief anders als in Böhmen. Die deutschen Kolonisten setzten sich bis ins Innere des Landes fest, so dass hier zahlreiche deutsche Sprachinseln (bzw. Halbinseln) entstanden sind. In Südmähren erschienen deutsche Einwanderer schon in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Es waren vor allem Kolonisten aus Österreich, die nach Südmähren auf Einladung der hiesigen Adelsgeschlechter kamen, mit dem Ziel, den Weinbau zu entwickeln. Sie wurden in der Umgebung von Znaim und Nikolsburg sesshaft, später drangen sie aber weiter nach Norden vor. Die Frage, wie weit der bairische Strom reichte, ist noch nicht endgültig gelöst (vgl. Weinelt 1939; Schwarz 1939; MasaĜík 1966; 1985). Auf jeden Fall hatten die Kolonisten aus dem Süden das Übergewicht in Brünn und auch um Wischau und Ungarisch Hradisch. Das Gebiet Mittelmährens (um Iglau) wurde seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts von Kolonisten aus der Oberpfalz besiedelt, vor allem von Bergleuten. Die Mundart der Iglauer Sprachinsel war nordbairisch-obersächsisch; im Süden kamen noch mittelbairische Einflüsse dazu. Im benachbarten Schönhengst (HĜebeþsko) überwogen Kolonisten vom Obermain aus Ostfranken. Später kamen Bayern dazu, im Nordosten dagegen noch Schlesier (vgl. Schwarz 1934). Nordmähren wurde von Kolonisten aus Hessen und Thüringen besiedelt, die schon im 12. Jahrhundert in Schlesien sesshaft wurden. Einen intensiven Zustrom von Kolonisten erlebte Nordmähren in der Periode nach dem Mongolenzug. Die Verwüstung des Landes durch die Mongolen, die 1241 durch Schlesien und Mähren nach Ungarn zogen, zeigte dem böhmischen König PĜemysl Otakar II., wie notwendig es war, die Verteidigungskraft Mährens zu verstärken. Mit dieser Aufgabe wurde sein Stellvertreter in Mähren, der Olmützer Bischof Bruno von Schaumburg (Schauenburg), beauftragt. Auf seine Initiative wurden in den Jahren 1260–1280 in Nordmähren zahlreiche Burgen und Hunderte deutsche Siedlungen angelegt. Die spezifische historische Situation Mährens in Beziehung zu Böhmen zeigte sich besonders deutlich in der Zeit der Hussitenkriege. Die Hussitenbewegung bedeutete in Böhmen eine wichtige Verschiebung zugunsten des Tschechischen. Das deutsche Patriziat wurde in den Städten von tschechischen Stadträten abgelöst, so dass die Tradition der deutschen Kanzleisprache in vielen Städten abgebrochen wurde. In Mähren dagegen wirkten sich die Folgen des Hussitismus weniger stark aus. Josef Válka (1991, 118) sieht die Ursache darin, dass die mährischen Städte, die vom deutschen Patriziat regiert wurden, in der Person des Königs Sigmund und in Albrecht von Habsburg, seinem Stellvertreter in Mähren, den Schutz vor den mährischen Adeligen sahen. Diese nahmen meistens die hussitische Lehre an und verbanden den religiösen Kampf mit dem Kampf um die Hegemonie im Lande. Einen neuen Zustrom von Deutschen erlebte das Land im 16. Jh., als die aufblühende Wirtschaft und religiöse Toleranz viele Protestanten aus Deutschland anlockten. Der Eintritt der Habsburger auf den böhmischen Thron (1526) und die Rekatholisierung des Landes nach der Schlacht auf dem Weißen Berg (1620) führten zur Dominanz des Deutschen in bestimmten Kommunikationsbereichen, samt der Verwaltung.
31. Tschechien
2.
513
Materialbasis der Kanzleisprachenforschung
Aufgrund der historischen Gegebenheiten findet man in Böhmen und Mähren eine reichhaltige Materialgrundlage für die Erforschung der deutschen Kanzleisprachen. Auch wenn die Überlieferungen von Kanzleitexten in Böhmen erst 1300 (in Mähren im Jahre 1282) – also viel später als auf dem bodenständigen deutschen Gebiet – einsetzen (vgl. Skála 1985, 1774), sind aus dem 14. Jahrhundert zahlreiche deutsche Urkunden und Eintragungen in Stadtbüchern erhalten. Ihre Anzahl wächst im 15. und besonders im 16. Jahrhundert an, wo die Vergrößerung des Umfangs von schriftlichen Dokumenten zu ihrer Differenzierung und Spezialisierung auf bestimmte Kommunikationsbereiche führt: Neben Urkunden und Stadtbüchern heterogenen Inhalts erscheinen Kauf-, Verkaufs- und Eheverträge, Testamente, Gerichtsbücher u. a. Diese Entwicklung betraf nicht nur große Zentren wie Prag, Brünn oder Olmütz, sondern ist auch in kleineren Städten nachzuweisen.1 Schon im 19. Jahrhundert wurden einige der wichtigsten deutschen Dokumente erschlossen und in Form von Editionen herausgegeben. Auf Deutsch geschriebene Urkunden sind z. B. in dem im Jahre 1895 veröffentlichten II. Band des Codex iuris municipalis (III. Bd.: 1948; IV. Bd.: 1954) enthalten sowie im Codex diplomaticus et epistolaris Moraviae (Bde. VI–XV), der 1854–1903 in Brünn erschien. Beide genannten Editionsreihen sind heute in digitaler Form per Internet zugänglich (vgl. cz.wikipedia.org; der Codex diplomaticus et epistolaris Moraviae ist einsehbar unter: Czech Medieval Sources on-line). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt auch die vom Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen angelegte Reihe Städte- und Urkundenbücher aus Böhmen (1876–1941) ein, in deren Rahmen Editionen von Urkunden und Stadtbucheintragungen einiger böhmischer Städte – Brüx, Saaz, Aussig, Budweis, Krumau, Teplitz-Schönau, Dux – herausgegeben wurden. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde die Reihe edierter deutscher Kanzleitexte durch weitere Publikationen von Urkundensammlungen bereichert, z. B. Adamus (1929), Müller (1929) sowie von Stadtbüchern, wie Das älteste Böhmisch Kamnitzer Stadtbuch 1380–1416 (1915). Kleinere Editionen deutscher Kanzleitexte sind in Zeitschriften (manchmal lokalen Charakters) zerstreut. Die meisten älteren Editionen wurden von Historikern für Historiker vorbereitet. Da in diesen Fällen vor allem die Erfassung des Inhalts wichtig war, wurde die Graphie der Vereinfachung halber nicht getreu wiedergegeben. Durch die durchgeführten Normalisierungen verschwanden oft viele sprachliche Merkmale der Texte, sodass die Editionen nur in beschränktem Maße für philologische Untersuchungen angewendet werden können. Auf dieses Problem hat schon Bernt (1930) im Rahmen seiner Arbeit zur sprachund kulturgeschichtlichen Bedeutung deutschböhmischer Stadturkunden hingewiesen.
1
So sind z. B. in der nordmährischen Stadt Fulnek aus dem 16. Jahrhundert neun Stadtbücher erhalten geblieben, darunter Grundbücher, ein Rechnungsbuch, ein Ehevertragsbuch, ein Spitalbuch und ein Gerichtsbuch (vgl. VaĖková 1999, 22ff.).
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Eines der Ziele des geplanten Sudetendeutschen Archivs war die Aufstellung von Richtlinien, »durch die der wortgetreue Abdruck aller zeitgeschichtlichen Dokumente auch die Untersuchung der Sprachgeschichte, Rechtsgeschichte und der Kulturgeschichte überhaupt ermöglichen sollte« (Bernt 1930, 8). MasaĜík (1966, 27ff.) führt konkrete Unzulänglichkeiten an, die er durch den Vergleich der Edition der Brünner Stadtrechte (vgl. Rössler 1852) mit dem Original feststellen konnte. Er hat sowohl sachliche Fehler als auch Abweichungen in der Wiedergabe bestimmter Grapheme entdeckt. Deshalb wird empfohlen bei der Arbeit mit älteren Editionen auch den Originaltext zum Vergleich heranzuziehen. In den neueren Editionen der letzten Jahre wird jedoch schon meistens proklamiert, dass hier eine möglichst getreue Transliteration angestrebt wird, um auch den Linguisten eine zuverlässige Quelle zur Verfügung zu stellen (vgl. die Reihe Libri civitatis). Als Beispiel der Edition, die sowohl den historischen als auch sprachwissenschaftlichen Anforderungen entgegenkommt, kann Das Olmützer Gedenkbuch (Spáþilová / Spáþil 2004) genannt werden. Es sei noch bemerkt, dass viele der vorliegenden linguistischen Untersuchungen der Kanzleitexte von handschriftlichen Materialen ausgegangen sind und dass in böhmischen und mährischen Archiven und Bibliotheken zahlreiche wertvolle Dokumente aufbewahrt werden, deren Edition zu begrüßen wäre. Eine Liste solcher Dokumente fehlt immer noch und ist als Desideratum der folgenden Phase der Untersuchung der deutschen Kanzleisprache in Böhmen und Mähren zu betrachten.
3.
Der Forschungsstand
3.1.
Deutsche Kanzleien in Böhmen
Die Untersuchung der deutschen Kanzleisprache in Böhmen und Mähren weist eine mehr als hundertjährige Tradition auf. Das Interesse der Forscher konzentrierte sich zuerst auf die Sprache der Prager Kanzlei,2 aber schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erschienen Arbeiten, die sich mit schriftlichen Denkmälern anderer Gebiete auseinander setzten. Zuerst haben nord- und nordwestböhmische Kanzleien die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Edition des ältesten Böhmisch Kamnitzer Stadtbuches hat Bernt (1915, 158ff.) eine Studie beigefügt, die eine ausführliche Analyse des Vokalismus und Konsonantismus der Stadtbucheintragungen enthält. Auf deren Grundlage wird die Sprache dem ostmitteldeutschen (meißnisch-lausitischen und schlesischen) Raum zugewiesen. Bernt macht darauf aufmerksam, dass die Sprache des Kamnitzer Stadtbuches – trotz des häufigen Schreiberwechsels – einen einheitlichen Charakter trägt. Seine Studie liefert auch Bemerkungen zur Deklination und Konjugation sowie eine kurze Behandlung des Stils der Eintragungen und der darin vorkommenden Familiennamen. Bernt (1930) hat auch Testamente aus den nordwestböhmischen Städten Ko-
2
Vgl. ausführlich zur Prager Kanzlei Beitrag 32 von Spáþilová.
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motau (1473–1500) und Kaaden (1465–1483), das Komotauer Grundbuch (1468–1620) sowie Zunftordnungen des Komotauer Bezirkes (1460–1637) der Analyse unterzogen. Seine Untersuchungen der Testamente zeigen, dass in den untersuchten Eintragungen sowohl mitteldeutsche als auch bairische Formen zu belegen sind, wobei die ersten deutlich überwiegen. Es wird festgestellt, dass die Eintragungen die Mundart von Kaaden und Komotau in älterer Zeit nicht widerspiegeln, sondern dass sie einen ausgesprochenen Kanzleicharakter haben. Diese Tatsache wird darauf zurückgeführt, dass stärkere mundartliche Ausdrücke und Kennzeichen von den Schreibern gemieden wurden. Was an mundartlichen Besonderheiten aufgefunden wurde, sind nur vereinzelte Erscheinungen, die eher als Entgleisungen gewertet werden sollten (vgl. Bernt 1930, 10). Das beweist, welche Kraft die schriftsprachliche Tradition bei den Schreibern einer Landschaft gegenüber mundartlichen Einflüssen hatte (vgl. ebd., 11). Die Erforschung von nord- und nordwestböhmischen Kanzleien setzte sich nach einer langen Pause erst Anfang des 21. Jahrhunderts fort. Die aufgrund eines Projekts der Grandagentur (Science Foundation) der Tschechischen Republik herausgegebene Reihe Libri civitatis, die bisher die Editionen der ältesten Stadtbücher von Böhmisch Leipa (2005) und Leitmeritz (2006) sowie das Rechnungsbuch zum Bau der Dekanatskirche in Brüx (2006) umfasst, beinhaltet auch eine knappe sprachliche Charakteristik der einzelnen Dokumente. Während das Stadtbuch von Leitmeritz nur fünf deutsche Eintragungen enthält, wurden die anderen zwei Dokumente fast ausschließlich auf Deutsch geführt und stellen somit ein wichtiges Zeugnis über den Stand des Deutschen im betreffenden Raum- und Zeitabschnitt dar. In Westböhmen nimmt Eger eine besondere Stellung ein. Dies ist dadurch gegeben, dass aus der Egerer Kanzlei kontinuierliche Überlieferungen seit 1310 lückenlos erhalten sind. Eine umfangreiche Untersuchung der Egerer Kanzlei hat Emil Skála (1962a; 1962b; 1964; 1967) vorgenommen. Aufgrund einer systematischen Laut- und Formenanalyse stellte Skála in der Egerer Kanzleisprache ein erstaunliches Maß an Erscheinungen fest, durch die der Weg zum Nhd. gekennzeichnet ist. Skála wies darauf hin, dass die Egerer Kanzleisprache nicht nur von der Prager Kanzlei der Luxemburger schon in ihren ersten Schriftstücken von 1310, sondern auch von der Luthersprache unabhängig ist. Das führt ihn zu der Überzeugung, dass die von den Ortsmundarten zum großen Teil unabhängige Schreibtradition nicht nur von den fürstlichen Großkanzleien getragen wurde, sondern auch von zahlreichen städtischen Zentren, die zugleich Zentren des gesellschaftlichen und sprachlichen Fortschritts waren. In ihnen kristallisierten sich auch überregionale Graphien und bildeten sich Schreibtraditionen heraus, denen sich auch Schreiber, die anderer Herkunft waren, beifügten (vgl. Skála 1991, 120). Mannigfaltige und ausgiebige Quellen für die Kanzleisprachenforschung sind in Südböhmen zu finden. Die urkundliche Überlieferung setzt hier mit dem Jahre 1300 ein. Aus diesem Jahre stammen zwei Urkunden. Über die Anfänge der Urkundensprache Südböhmens informierte Rudolf (1962), der auch eine Analyse südböhmischer Texte verschiedener Gattungen aus dem 15. Jh. vorgelegt hat (vgl. Rudolf 1973). Die Kanzleisprache Südböhmens wurde zum zentralen Thema von Hildegard Boková. In zahlreichen Studien und Artikeln hat sie sich der Kanzleisprache der Rosenberger, einer der mächtigsten Adelsfamilien Südböhmens, gewidmet (vgl. Boková 1975; 1983;
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1984; 1991; 1993; 1998b). Eine zusammenfassende Darstellung liefert sie in ihrer Arbeit (1998a) Der Schreibstand der deutschsprachigen Urkunden und Stadtbucheintragungen Südböhmens aus vorhussitischer Zeit (1300–1419). In ihrem Rahmen wurden 112 Texte (Urkunden des Hochadels, des Kleinadels, der Klöster und der Städte sowie Stadtbucheintragungen aus Budweis, Krumau, Prachatitz) im Hinblick auf ihren Schreibstand analysiert. Die Analyse umfasst den Schreibstand ausgewählter mhd. Laute, Lautgruppen und Affixe. Die Präsentation des Schreibstandes in drei verschiedenen Etappen (1300–1340, 1341–1379, 1380–1419) und nach Ausstellergruppen ermöglichte, sowohl zeitlich als auch soziolinguistisch bedingte Tendenzen aufzuzeigen. Dialektal-mittelbairische Formen treten besonders häufig in Texten des Kleinadels und der Klöster auf, während Hochadel und Städte eher zu neutral-bairischen Schreibungen neigen. Mitteldeutsche Züge treten selten auf, vor allem sind sie in Urkunden des Hochadels zu belegen. Die Tradition der südböhmischen Kanzleien bricht im 15. Jh. infolge des Hussitismus ab. Ost- und Mittelböhmen stellen Gebiete dar, die bisher am Rande des Interesses von Sprachhistorikern standen. Die Ursache liegt vor allem darin, dass aus diesem Raum nur wenige deutsche Überlieferungen aus dem 14.–16. Jh. vorliegen. Eines der wertvollsten Dokumente stellt das Braunauer Stadtbuch dar, dessen Edition als Bestandteil der Dissertation von Webersinke (1933) vorgelegt wurde. Diese Edition ist heute lediglich in nicht-gedruckter Form vorhanden. Historische Quellen, besonders das vorhandene Material von Personen-, Orts- und Flurnamen hat in der Zwischenkriegszeit der aus Böhmen stammende deutsche Germanist Ernst Schwarz zur Analyse herangezogen und im Rahmen seiner Darstellung der Siedlungsgeschichte der Sudetenländer und der Nationalitätenverhältnisse in Böhmen und Mähren angewendet. Unter seiner Betreuung ist an der Prager Universität eine Reihe von Dissertationen entstanden, von denen aus der Sicht der Kanzleisprachenforschung vor allem diejenigen von Interesse sind, welche die Personennamen anhand mittelalterlicher Stadtbücher untersuchen. Zu diesem Bereich gehören die Arbeiten von Hajny (1944), Heyder (1944), Ermann (1944) und Meixner (1945). 3.2.
Deutsche Kanzleien in Mähren
Während in Böhmen die älteste deutsche Besiedlung hauptsächlich Grenzgebiete betroffen hat und deshalb auch die ältesten deutschen Stadtkanzleien vorwiegend in diesem Raum (außer Prag) zu suchen sind, waren in Mähren deutsche Kanzleien im Spätmittelalter über das ganze Gebiet – vom Süden bis zum Norden – zerstreut. Dem entspricht auch die Fülle des Materials, das seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit von Sprachhistorikern angezogen hat. Eine Analyse der mittelalterlichen deutschen Kanzleisprache im Schönhengst wurde von Korkisch (1939) vorgelegt. In den Aufzeichnungen im ältesten Stadtbuch von Mährisch Trübau (1373–1554) und im ältesten Zwittauer Stadtbuch (1515–1549 / 1565) wurden Merkmale des Ostfränkischen verzeichnet, in niedrigerem Maße auch Merkmale des Schlesischen und des Mittelbairischen. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten weisen die untersuchten Stadtbücher in der Vertretung der einzelnen Elemente einige Unter-
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schiede auf: Im Zwittauer Stadtbuch ist ein höherer Anteil der bairischen Merkmale zu belegen. Nach Korkisch sind in die kleinstädtischen Kanzleisprachen sowohl Elemente der Dorfmundarten als auch Elemente der Sprache der städtischen Bürgerschicht eingegangen, die grob Mundartliches mied und dadurch eine gemäßigte, gehobene städtische Halbmundart schuf (vgl. Korkisch 1939, 219). Einen Vergleich der mundartlichen Elemente im Stadtbuch von Mährisch Trübau (1373–1554) mit den gegenwärtigen Mundarterhebungen aus Mährisch Trübau und Umgebung ist bei Muzikant (2005) zu finden. Er kommt jedoch zum Schluss, dass die Kanzleisprache von Mährisch Trübau in bestimmtem Maße von der Verkehrssprache (d. h. der Stadtsprache) beeinflusst wurde, auf keinen Fall aber von dem Basisdialekt. Auf zahlreiche – sowohl edierte (vgl. Lechner 1904; Mendl 1935; Rössler 1852; Saliger 1882) als auch handschriftliche Quellen – stützte sich Schwarz (1939) bei der Erforschung der Sprach- und Siedlungsgeschichte in Mittelmähren. Er ist der Frage nachgegangen, wie weit nach Norden sich bairische Elemente in der Kanzleisprache verfolgen lassen und umgekehrt, in welchen Kanzleien Südmährens mitteldeutsche Einflüsse zu belegen sind. Das Waisenbuch aus Nebotein, einem Dorf in der Nähe von Olmütz, das überwiegend bairisch geprägt ist, wird als Beweis herangezogen dafür, dass die Baiern um 1250 auch in die Olmützer Gegend gelangt sind. Dies sollen auch die Eintragungen im ältesten Olmützer Stadtbuch bestätigen. Nach Schwarz (1939, 69) ist der bairische Strom nördlich und östlich von Olmütz mit den von Norden kommenden Schlesiern und den von Westen herbeigerufenen Ostfranken zusammengestoßen. Als Relikte der bairischen Siedlerwelle werden in der Olmützer Sprachinsel neben Nebotein auch Mährisch Trübau und Deutsch Brodek betrachtet. Mitteldeutsche Einflüsse sind bis Wischau und Brünn gelangt. Das Mitteldeutsche in der Brünner Kanzlei führt Schwarz auf die Kolonisationsinitiativen von Bruno von Schaumburg zurück und datiert sie schon mit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (oder sogar früher). Die Problematik der mitteldeutsch-bairischen Überschichtung erscheint auch bei Herbert Weinelt (1939), nach dem die historischen Belege andeuten, dass die oberdeutschen Einflüsse weiter im Norden im südschlesischen Raum einst viel stärker gewesen waren. Die Ausführungen von Schwarz wurden in einiger Hinsicht von MasaĜík (1966) ergänzt und korrigiert. MasaĜík untersuchte handschriftliches sowie gedrucktes Material der mittel-und südmährischen Kanzleien (Znaim, Brünn, Iglau, Mödritz, Ungarisch Hradisch, Mährisch Trübau, Littau / Litovel u. a.) unter dem Gesichtspunkt der Vertretung der mittelbairischen und mitteldeutschen Merkmale. Seiner Meinung nach erscheinen mitteldeutsche Merkmale in dem Brünner Kanzleimaterial erst deutlicher seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und sind in Zusammenhang mit den neuen Einsiedlern zu bringen, die in dem betreffenden Zeitabschnitt in das durch die Pest entvölkerte Brünn kamen. In der Arbeit Die frühneuhochdeutsche Geschäftssprache in Mähren (1985) ergänzte MasaĜík seine bisherigen Ausführungen und bereicherte sie um die Analyse der ältesten nordmährischen Kanzleien. MasaĜík teilt das mährische Gebiet in drei Hauptzonen ein, in denen sich die bairisch-mitteldeutschen Dialektmerkmale in unterschiedlichem Maße durchgesetzt haben. Den ersten – südlichen – Komplex, in dem das Mittelbairi-
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sche überwiegt, stellt das Gebiet mit den Kanzleien wie Nikolsburg, Znaim, Lundenburg usw. dar. Als eigentliche Zone des gemischten bairisch-mitteldeutschen Typs wird das Territorium von Brünn bis Iglau betrachtet. Das Gebiet Nordmährens bildet den dritten, jedoch ziemlich uneinheitlichen Komplex, dessen Grundstruktur mitteldeutsch ist und in dem sich auch bairische Züge sowie ostfränkische Merkmale behaupteten. Die Frequenz dieser Züge nimmt besonders in nördlicher Richtung ab. Neben der graphematischen Ebene wird auch die Syntax ausführlich betrachtet (vgl. MasaĜík 1985, 113ff.). Die Olmützer Stadtkanzleisprache wurde zuerst unter dem graphematischen, teilweise auch unter dem morphologischen und syntaktischen Aspekt behandelt. Eine Analyse ausgewählter Urkunden und Einträge in verschiedenen Stadtbüchern ist bei MasaĜík (1977) zu finden, der die Olmützer Kanzleisprache als mitteldeutsch-mittelbairischen Typ charakterisiert. Die Analyse des Lautstandes der Olmützer Rechtsbücher stellt in seiner ungedruckten Dissertation František Schwarz (1971) vor (vgl. auch Schwarz 1994). Spáþilová (2000) weist auf die Unterschiede im Schreibstand zwischen den Olmützer Urkunden und Stadtbucheintragungen hin. Die Urkunden liefern viel seltener Belege für regionale Sonderformen, was als Bestätigung der These von MasaĜík angesehen wird, nach der Urkunden offizielle Lautung und Stadtbücher Mittelschicht präsentieren. Das Hauptaugenmerk von Spáþilová konzentriert sich jedoch auf die Beschreibung der Olmützer Kanzleisprache unter sozialem und funktionalem Aspekt. Im Vordergrund ihrer Arbeit (2000a) steht die Analyse ausgewählter frühneuhochdeutscher Texttypen und Textsorten, wobei diese sowohl nach textinternen als auch textexternen Kriterien ausgewertet werden. Als Quellenbasis dienten 23 deutsche Urkunden sowie Einträge in drei Stadtbüchern aus der Zeitspanne 1412–1548. Die Analyse hat gezeigt, dass das Verfassen einzelner Textexemplare einer bestimmten Textsorte von mehreren Faktoren beeinflusst wurde, unter denen die Persönlichkeit des Schreibers sowie die Verwendung der Formularbücher eine wichtige Rolle spielten. Ausführliche Behandlungen der einzelnen Textsorten sind in Arbeiten von Spáþilová (2000b; 2003a; 2003b; 2005) zu finden. Die historischen Quellen der Iglauer Sprachinsel hat Ernst Schwarz (1935 / 1962) bei der Rekonstruktion der Siedlungsgeschichte dieses Gebietes herangezogen. Auch Stolle (1969) stützt sich bei der Beschreibung des Vokalismus der Iglauer Mundart, die er bei den Vertriebenen durchgeführt hat, auf zur Verfügung stehende Urkunden aus dieser Region mit dem Ziel, die geschichtliche Entwicklung jedes einzelnen Lautes aufzuzeigen. Auf Grund der Verschiedenheiten im Vokalismus lassen sich in der Sprache der Iglauer Sprachinsel insgesamt vier Mundartentypen (die Verkehrssprache und drei unterschiedliche Bauernmundarten) unterscheiden. Nach MasaĜík (1966; 1980), der eine Analyse der montanen Niederschriften (Bergrechte) sowie der Eintragungen in Iglauer Stadtbüchern durchgeführt hat, stellt die Iglauer Kanzlei einen gemischten bairisch-mitteldeutschen Typ dar. Dabei sind die Stadtbucheintragungen stärker bairisch gefärbt als die Bergrechte, die ein breites Publikum ansprechen sollten und deshalb lokale Mundartenmerkmale gemieden haben. Martinák (2006), die eine phonographematische Analyse von elf Iglauer Urkunden aus der Zeitperiode 1480–1550 vorgelegt hat, zeigt, dass die Iglauer Urkundensprache »mehr durch die ostoberdeutsch-bairischen als ostmitteldeutschen Züge geprägt ist« (Martinák 2006, 328).
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Von Martinák (2008) stammt auch eine umfassende Darstellung der Entwicklung der Textsorte Testament in der Iglauer Kanzlei. Das aus 324 Testamenten bestehende Korpus ermöglicht der Autorin zuverlässige Aussagen angesichts der Formulierungsverfahren innerhalb von fast hundert Jahren (1544–1624). Zur Kanzleisprache Nordmähren-Schlesiens liegen einige Einzelstudien vor. Angaben zu einigen Kanzleien der nordmährischen Städte, die in der Vergangenheit Schlesien zugeordnet waren, sind in Jungandreas (1937 / 87) zu finden. Zeman (1972; 1999) konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Troppau. Seine Untersuchung (1972) von mehr als vierzig Urkunden aus der Zeitperiode 1325–1588 soll als Beitrag zur Diskussion über die Rolle von kleineren Kanzleien im Rahmen der Ausgleichsprozesse verstanden werden. Zeman weist darauf hin, dass die gesprochene Mundart des Schreibortes keinen Eingang in die Schreibsprache gefunden hat, und hebt den überregionalen Charakter der Urkundensprache sowie die Rolle des Schreibers hervor. Die Urkundensprache Nordmährens / Schlesiens wurde auch zum Objekt der Untersuchungen von Muzikant (1978). Das Untersuchungskorpus bilden die in verschiedenen Orten Nordmährens / Schlesiens (Neiß, Jägerndorf, Fulnek, Teschen) ausgestellten Urkunden sowie Eintragungen in Jägerndorfer Hinterbüchern aus dem 15. Jahrhundert. Es wird die Frage gestellt, ob in diesem Gebiet, das als Sphäre des Md. gilt, auch obd. Elemente zu finden sind. Diese Frage wird positiv beantwortet, es wird jedoch darauf hingewiesen, dass die Herkunft der Schreiber eine bestimmte Rolle gespielt haben dürfte. Das Kuhländchen im Osten Nordmährens wurde zum Objekt der Untersuchungen von VaĖková (1999), die die ältesten Stadtbücher des sog. Kuhländchens (Neu Titschein, Fulnek, Wagstadt und Odrau) untersucht hat.
4.
Forschungsergebnisse nach Beschreibungsebenen
Die Erforschung der mittelalterlichen deutschen Kanzleisprache in Böhmen und Mähren hing am Anfang eng mit der Erforschung der deutschen Besiedlung dieser Gebiete zusammen. Auch wenn die Untersuchungen von Ernst Schwarz sowie die unter seiner Betreuung geschriebenen Dissertationen sich in erster Linie auf die synchrone dialektale Problematik konzentriert haben, haben sie sich oft auch auf historische, kanzleisprachige Texte gestützt, weil die darin vorkommenden Personen-, Orts- und Flurnamen sich für die Skizzierung der Siedlungsgeschichte als sehr aufschlussreich erwiesen. Daneben erschienen schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts Arbeiten, die auf die graphematische Analyse ausgerichtet waren. Ihr Ziel war es, die relevanten dialektalen Merkmale zu ermitteln, wobei als Bezugssystem das Mhd. galt (vgl. MasaĜík 2006, 307). Auch diese Analysen halfen die Fragen der Herkunft und Überschichtung der in den einzelnen Gebieten Böhmens und Mährens lebenden deutschen Bevölkerung zu erhellen. Eine besonders rege Diskussion wurde zur Problematik der mittelbairischen Einflüsse in Mittel- und Nordmähren geführt. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass die These, dass diese Einflüsse im Allgemeinen vor Olmütz aufgehört haben (vgl. Ernst Schwarz), nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. In Nordmähren hat VaĖková die mittelbai-
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Abb. 1: Deutsche Mundartinseln und die deutschen Kanzleien3
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31. Tschechien 3 Legende: [A] Aussig / Ústí nad Labem [B] Brünn / Brno [Bx] Brüx / Most [BK] Böhmisch Kamnitz / ýeská Kamenice [BL] Böhmisch Leipa / ýeská Lípa [Br] Braunau / Broumov [Bw] Budweis / ýeské BudČjovice [DB] Deutsch Brodek / Brodek u Konice [DP] Deutsch Pruß / NČmecké Prusy [Dx] Dux / Duchcov [Eg] Eger / Cheb [Eib] Eibenschütz / Ivanþice [Fr] Friedland / Frýdlant [F] Fulnek [GB Groß Bitesch / Velká Bíteš [Igl] Iglau / Jihlava [Jd] Jägerndorf / Krnov [Ka] Kaaden / KadaĖ [Ko] Komotau / Chomutov [Kr] Krumau / ýeský Krumlov [Li] Littau / Litovel [Lei] Leitmeritz / LitomČĜice [Lu] Lundenburg / BĜeclav [MTr] Mährisch Trübau / Moravská TĜebová [Mschb] [Md] [N] [Nb] [NT] [Od] [Ol]
Mährisch Schönberg / Šumperk Mödritz / ModĜice Nikolsburg / Mikulov Nebotein / HnČvotín Neu Titschein / Nový Jiþín Odrau / Odry Olmütz / Olomouc
[O] [P]
Ostrau / Ostrava Prachatitz / Prachatice Prosnitz / Prosenice Reichenberg / Liberec Saaz / Žatec Teplitz / Teplice Trautenau / Trutnov Teschen / TČšín Troppau / Opava Ungarisch Hradisch / Uherské HradištČ Wischau / Vyškov Wagstadt / Bílovec Zugmantel / Zlaté Hory Znaim / Znojmo Zwittau / Svitavy
[R] [S] [T] [Tn] [Te] [Tr] [UHr] [W] [Wa] [Z] [Zn] [Zw]
(MasaĜík 1961; 1966; 1985) (Hasilová 2006) (Bernt 1915) (Hasilová 2005; 2007) (Webersinke 1933; Heyder 1944) (Boková 1984; 1993; 1998) (Meixner 1945) (MasaĜík 1985) (Hajny 1944) (Skála 1962; 1964; 1967) (MasaĜík 1985; Muzikant 2001) (Muzikant 1978; VaĖková 1995; 1997; 1999a, b, c) (MasaĜík 1985) (Ermann 1944; MasaĜík 1966; Martinák 2006; 2008) (MasaĜík 1985; Muzikant 1978; 1987) (Bernt 1930) (Bernt 1930) (Boková 1998) (Zeman 1967; MasaĜík 1966; 1985) (Hasilová 2006) (Korkisch 1939; MasaĜík 1966; 1985; Muzikant 2005) (MasaĜík 1969; 1985) (MasaĜík 1966; 1985; Muzikant 2006) (MasaĜík 1966; 1985) (Schwarz 1939; MasaĜík 1985; 1998) (VaĖková 1995; 1997; 1999a, b, c) (VaĖková 1995; 1997; 1999a, b, c) (MasaĜík 1966; 1977; 1985; Schwarz 1969; 1994; Spáþilová 1997a, b; 1998a, b; 2000a, b; 2002; 2003a, b, c, d; 2004a, b, c, d; 2005; 2006) (VaĖková 1998; 2001) (Boková 1998) (MasaĜík 1985)
(Muzikant 1978) (Zeman 1972; MasaĜík 1985) (MasaĜík 1966; 1985) (VaĖková 1995; 1997; 1999a, b, c) (MasaĜík 1985) (MasaĜík 1965; 1966; 1985) (Korkisch 1939; MasaĜík 1985)
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rischen Einflüsse im Kuhländchen festgestellt und Zeman registriert einige Spuren in den Troppauer Urkunden (vgl. MasaĜík 2006, 306). Im Rahmen der graphematischen Untersuchungen wurde auch gezeigt, wie vorhandenes Material aus böhmischen (vgl. Boková 1998a; Skála 1967) und mährischen Kanzleien (vgl. Zeman 1972; MasaĜík 1985b; Spáþilová 1997b; VaĖková 1999) die Ausgleichstendenzen widerspiegelt. Eines der Probleme, auf die die Aufmerksamkeit gelenkt wurde, war das Verhältnis der Kanzleisprache zur Ortsmundart. Es wurde bewiesen, dass primäre Dialektmerkmale selten Eingang in die Schreibung finden (vgl. Bernt 1930; Skála 1985). Auf die Diskrepanz zwischen der geschriebenen und gesprochenen Form der Sprache hat VaĖková (1999a) anhand des Vergleichs der schriftlichen Quellen des Kuhländchens mit der gesprochenen Mundart in der Volksliedsammlung von Meinert hingewiesen. MasaĜík (1985a) hebt hervor, dass man zwischen den einzelnen Ebenen des schriftlichen Verkehrs differenzieren sollte. Vor allem in Textsorten, die zur niedrigsten Ebene gehören (z. B. Verhörprotokolle), können Merkmale der Ortsmundarten in höherem Maße verzeichnet werden. Was die morphologischen Erscheinungen betrifft, wird in den meisten Arbeiten (vgl. Bernt 1915; MasaĜík 1966; 1985a; Skála 1967; VaĖková 1999a) nur auf die wichtigsten Entwicklungstendenzen eingegangen. Die Syntax wurde besonders in den letzten Jahrzehnten systematisch behandelt (vgl. MasaĜík 1985a; 1989b; Spáþilová 2000; VaĖková 1997; 1999a). Aus dem Bereich der Lexikologie gibt es Untersuchungen zur Wortgeographie (vgl. MasaĜík 1966; 1967; 1985a; Skála 1967) sowie zu speziellen Fragen des Wortschatzes (vgl. Bernt 1930; Skála 1967; Spáþilová 2004b), zur Problematik der Fremdwörter (vgl. Spáþilová 1997a; 2002; 2004c; 2006) und Phraseologismen (vgl. Spáþilová 1998b; 2003c; 2004a; VaĖková 1996). Nach wie vor werden onomastische Untersuchungen durchgeführt (vgl. Hajny 1944; Heyder 1944; Meixner 1945; VaĖková 1999b; Spáþilová 1998a; 2004d; 2004e). In der letzten Zeit rückt immer stärker auch die Betrachtung der Texte unter soziolinguistischen und textlinguistischen Aspekten in den Vordergrund (vgl. Spáþilová 2000a; 2000b; 2003a; 2003b; 2005; Martinák 2008).
5.
Quellen
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6.
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
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Libuše Spáþilová, Olomouc (Tschechien)
32. Die Prager Kanzlei
1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2. 5. 6.
1.
Der Prager Hof Karls IV. − Die Zeit zwischen Mittelalter und Renaissance Die Prager Hofkanzlei Der Einfluss der Prager Kanzlei auf die Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache Die deutsche Urkundensprache in der Prager Hofkanzlei Struktur und Stil der deutschen Urkunden Graphematik und Phonologie der deutschen Urkundensprache Fazit und Ausblick Literatur
Der Prager Hof Karls IV. − Die Zeit zwischen Mittelalter und Renaissance
Nach der Krönung Karls IV. zum böhmischen König im Jahre 1347 erlebte Prag als Residenzstadt einen mächtigen Aufschwung, und Ende der 50er Jahre gehörte es mit 30.000–40.000 Einwohnern zu den größten Städten nördlich der Alpen. Der Prager Hof war ein bedeutendes Zentrum, wenngleich seine Institutionen im Vergleich zu denen des Königs von England oder Frankreich nur bescheiden entwickelt waren. Das Wirken des Prager Hofes verlagerte sich allerdings vom Territorium weg zum Reich hin (vgl. Moraw 1978, 288). Karls Aufstieg in Prag wurde mit großem Interesse von zwei bedeutenden italienischen Humanisten, Cola di Rienzo und Francesco Petrarca, beobachtet. Beide sahen in Karl einen möglichen Einiger des zersplitterten Italien und Erneuerer des römischen Imperiums (vgl. Šmahel 2002, 89). Cola di Rienzo, der von der päpstlichen Inquisition verfolgt wurde, reiste im Sommer 1350 nach Prag, um Karl für seine Ideen zu gewinnen und ihm den Zug nach Rom ans Herz zu legen. Doch auf massiven Druck des Papstes Klemens VI. musste der Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz Cola in Haft nehmen (vgl. SpČváþek 1978, 94). Während der zweijährigen Gefangenschaft in Böhmen stand Cola di Rienzo nicht nur mit dem Herrscher, sondern auch mit dessen Kanzler Johann von Neumarkt und Ernst von Pardubitz in Briefwechsel. Petrarca begegnete Karl IV. bereits im Jahre 1346 in Avignon (vgl. Kavka 1998, 183). Zehn Jahre später folgte der Humanist einer Einladung des böhmischen Königs nach Prag, der sich aber nicht zu einer Intervention in Italien überreden ließ (vgl. Šmahel 2002, 89). Petrarca pflegte auch mit Karls Kanzler Johann von Neumarkt freundschaftliche Beziehungen, was durch ihren Briefwechsel belegt ist (vgl. Rupprich 1970, 388). Der Einfluss der beiden Italiener war zweifelsohne von Bedeutung für die Kultur des Prager Hofes. Doch diese erste Phase der Berührung mit dem italienischen Frühhumanismus endete mit den Hussitenaufständen ab 1419 und dem Übergang der Kaiserkrone an die Habsburger (vgl. Rupprich 1970, 390).
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2.
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Die Prager Hofkanzlei
Die kaiserliche Kanzlei stellte eine sehr wichtige Hofinstitution dar, die bis Karls Zeitalter ausschließlich eine Domäne der Geistlichen war. Als Vorbild beim Aufbau der Kanzlei dürfte dem Luxemburger die staufische Kaiserkanzlei Friedrichs II. und die Kaiserkanzlei Ludwigs des Bayern gedient haben, und Karl IV. verstand es offenbar bei der Etablierung seiner Kanzlei alle Möglichkeiten seiner Zeit auszuschöpfen (vgl. Moraw 1985, 14). Neuerungen im Zeitalter Karls IV. kamen vor allem in der Hofkanzlei zum Ausdruck, die zur wichtigsten zentralen Institution des böhmischen und deutschen Königs und des römischen Kaisers wurde; ihre Reichweite war groß – sie erledigte die Korrespondenz sowohl in den Reichs- als auch in den Territorialangelegenheiten. Das Kanzleipersonal gliederte sich in oberste Schreiber (Protonotare), Schreiber (Notare) und Unterschreiber (Subnotare); nach ihren speziellen Aufgaben nannte man sie Registratoren, die den Rang öffentlicher Notare hatten und zu Notaren befördert werden konnten (vgl. Lindner 1882, 18), und Sigillatoren. Einige der leitenden Kanzleibeamten führten den Titel Rat oder secretarius. Diese Bezeichnung diente ursprünglich für den Vertrauensmann oder Ratgeber des Herrschers in den Angelegenheiten der diskreten schriftlichen Kommunikation, später auch für ein gewöhnliches Mitglied der Kanzlei (vgl. Hlaváþek 1963, 29). Zu den führenden Kanzleibeamten gehörten die wichtigsten Hofjuristen, die ein Rechtsstudium absolviert hatten (vgl. Moraw 1978, 290). Belegt sind insgesamt 138 Kanzleimitglieder, davon 11 Italiener, drei Franzosen, 51 aus dem Königreich Böhmen und 73 aus dem übrigen deutschsprachigen Reichsgebiet. Nur vorübergehend und aushilfsweise tätig waren 23 böhmische Beamte. Die Schreiber gehörten Ludwig Erich Schmitt zufolge bis auf wenige aus Nord- und Süddeutschland zwei großen und einer kleinen mitteldeutschen Gruppe an − der rheinischen (Mainz, Trier), der mainischen (Würzburg, Bamberg, Nürnberg) und einer kleinen Gruppe aus dem Erzbistum Magdeburg. Der Schreibdialekt der Kanzlei entspricht der Zusammensetzung der Kanzleimitglieder. In einen mitteldeutschen Kern sind schwächere oberdeutsche Bestandteile eingedrungen; die oberdeutschen Merkmale weisen nach dem Nürnbergischen (vgl. Schmitt 1936a, 200f.). An der Spitze der Kanzlei und an führender Stelle im Rat stand der Hofkanzler (aulae regiae cancellarius), meist nur cancellarius genannt, der sich in einer spezifischen Stellung zwischen Herrscher und Kanzlei befand. Der bedeutendste Prager Kanzler war Johann von Neumarkt, der dieses Amt zunächst vom Dezember 1353 bis Februar 1364 innehatte, dann von 1365 an wieder die Kanzlei leitete, bis er, wahrscheinlich aus gesundheitlichen Gründen, im Jahre 1374 endgültig ausschied. Johanns Tätigkeit in der Hofkanzlei wurde von Cola di Rienzo und Francesco Petrarca, mit denen Johann von Neumarkt in brieflichem Kontakt stand, beeinflusst. Für die Humanisten war die empathische Hinwendung zur Rhetorik, zum schönen und geschliffenen Stil, zur Eleganz des Schreibens und Sprechens charakteristisch. Colas römische Eloquenz stellte für Johann ein Vorbild für die Stilisierung sowohl privater Briefe als auch offizieller Schriftstücke dar (vgl. Šmahel 2002, 89). Verwendete Urkunden- und Briefentwürfe fasste er in der Summa cancellariae (auch Cancellaria Caroli IV. genannt) zusammen, die als Vorlage und Muster für Beamte diente. Eine ähnliche Sammlung mit dem Titel Cancellaria
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Joannis Noviforensis verfasste er auch für das Olmützer Bistum, wo er im Jahre 1364 das Bischofsamt übernahm. Mit diesen Formularbüchern sollte dem administrativen Schriftverkehr eine neue Form gegeben und eine feste und einheitliche Grundlage für den Schriftwechsel der Kanzleien gebildet werden. So wurde ein einheitlicher Kanzleistil geschaffen (vgl. Rupprich 1970, 386), der ohne Zweifel dadurch beeinflusst wurde, dass Johann von Neumarkt zwölf Jahre hindurch Briefe von Petrarca empfing und die neue Stilkunst des Italieners direkt werten konnte. Der Kanzler wurde oft als Repräsentant des Humanismus bezeichnet (vgl. Tadra 1892, 26), doch in der neueren Forschung wird er eher dem Prähumanismus zugeordnet (vgl. Hlobil / PetrĤ 1992, 19). Mit seinen Kollegen gründete er die Kongregation sodalitas (vgl. Šmahel 2002, 89), deren Mitglieder zwischen Scholastik und Humanismus anzusiedeln sind (vgl. ebd., 294). Der Prähumanismus am Prager Hof entbehrte der Leichtigkeit und Weltlichkeit des italienischen Vorbilds (vgl. ebd., 89). Der sprachgewandte Kanzler Johann von Neumarkt erwies sich als Hauptvertreter eines neuen Übergangsstils (vgl. Rupprich 1970, 388), er blieb aber dem Mittelalter mehr verbunden als seine humanistischen Vorbilder. Zwar zeigte er Verständnis für die rhetorische Kunst Cola di Rienzos, aber die politischen Ziele des Italieners blieben ihm fremd. Humanistisch war jedoch sein Interesse an neuen Manuskripten. Johann erwarb z. B. die Werke von Horatius, die Postilla von Nikolaus Gorran oder Schriften des Alan ab Insulis (vgl. Vidmanová 1980, 227). Im Jahre 1363, noch zu Lebzeiten Karls IV., wurde sein Sohn Wenzel zum böhmischen König gewählt. Während der Jugendjahre benutzte Wenzel die Kanzlei seines Vaters (vgl. Hlaváþek 1970, 35). Ein entscheidender Wendepunkt war das Jahr 1376, als Wenzel infolge der Bemühungen seines Vaters den römischen Thron bestieg (vgl. Hlaváþek 1963, 10). Unter Karl IV. wurden ca. 220 Urkunden pro Jahr angefertigt, unter Wenzel sank diese Zahl auf etwa 80, und Wenzels Nachfolger Sigismund ließ ca. 460 Urkunden pro Jahr verfassen. Während der Regierung der böhmischen Luxemburger kam es zu einer engen Verbindung der Reichsinstitutionen mit den territorialen Ämtern, und die Herrscher verbanden die böhmische Königskanzlei mit der deutschen (vgl. Hlaváþek 1970, 35). In der Forschung zur Entstehung der humanistischen Gelehrsamkeit in Deutschland ist das Vorspiel am Prager Hof Karls IV. oft überschätzt worden. Bei diesem kulturellen Aufblühen handelte es sich jedoch nur um eine vorübergehende Förderung der kunstvollen lateinischen Stilistik und Rhetorik mit gewissen Auswirkungen auf den deutschen Urkundenstil und die deutsche Dichtung (Johann von Tepl). Der Beginn des deutschen Frühhumanismus ist im Wien des ausgehenden 14. Jahrhunderts zu sehen (vgl. Polenz 2000, 212).
3.
Der Einfluss der Prager Kanzlei auf die Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache
Diese Problematik wurde seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts mehrmals behandelt, die ersten Untersuchungen verbanden die Prager Kanzleisprache mit den Anfängen der neuhochdeutschen Schriftsprache. Der Theorie Karl Müllenhoffs von der Kontinuität
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der Schriftsprache seit althochdeutscher Zeit zufolge wurde die Gemeinsprache bis zum Beginn der Neuzeit von Kaiserhaus zu Kaiserhaus tradiert, und der kaiserliche Hof und die kaiserliche Kanzlei waren tragende Elemente in diesem Prozess. Karl Müllenhoff verband die Anfänge der neuhochdeutschen Schriftsprache mit der deutschen Urkundensprache am Hofe der Luxemburger. Infolge des Zusammentreffens der mitteldeutschen und oberdeutschen Mundarten auf dem Territorium Böhmens seit dem 13. Jahrhundert entstanden nach Müllenhoff in Böhmen, das eine Mitte zwischen dem Meißnischen und dem Bairischen hält, günstige Bedingungen für die Entwicklung einer Sprache, in der die mitteldeutschen Monophthonge und die oberdeutschen Diphthonge vorkamen. Der Typus des Neuhochdeutschen erscheint Müllenhoff zufolge zuerst in den deutschen Urkunden der böhmischen Kanzlei unter Johann, Karl IV., Wenzel und Siegmund (vgl. Müllenhoff 1864, XXV). Müllenhoffs Theorie wurde von Konrad Burdach weiter vertieft. Zwei Faktoren spielen nach Burdach eine wichtige Rolle − der Frühhumanismus und die kaiserliche Kanzlei in enger Wechselwirkung. Burdach betonte, wie sehr die an Karls Hof geschaffene Kultur nach Schlesien, Meißen und Thüringen ausstrahlte: Hier in Böhmen findet zuerst der italienische Humanismus, die gleichzeitige französische und italienische Kunst und Wissenschaft freundliche Aufnahme und lebhafte Nachahmung, [...] hier wird der Grund gelegt für den ostmitteldeutschen Charakter der neuhochdeutschen Schriftsprache [...]. (Burdach 1893, 28)
Burdach führte den bedeutenden Einfluss der Prager Kanzlei auf die Rolle Prags als Zentrum des Frühhumanismus zurück und sah einen engen Zusammenhang zwischen der Sprache und der Geistesgeschichte (vgl. Moser 1951, 63). Die Sprachgeschichte ist für ihn eine Bildungsgeschichte auf der Grundlage der allgemeinen kulturellen Ereignisse und Entwicklungen (vgl. Große 1978, 264). Er überschätzte die Ausstrahlungskraft des Prager Kreises, dessen relative Insellage im böhmischen Gebiet eine Wirkung zwar nicht ausschloss, der aber die hussitischen Wirren nicht überlebte. Die Untersuchungen Müllenhoffs, Burdachs und seiner Mitarbeiter wurden von der späteren Forschung kritisch betrachtet. Dabei wurde vor allem bemängelt, dass die untersuchten Quellen in Form von älteren Editionen studiert worden waren, dass die Beweise für die Herkunft der Prager Schreibgewohnheiten und deren Zusammenhänge mit verschiedenen Schreibsprachen im Altland unzulänglich waren und dass prosopographische Informationen über die Schreiber in Karls Kanzlei fehlten (vgl. Wiesinger 1978, 850). Deshalb berücksichtigte Ludwig Erich Schmitt in seiner Untersuchung der Prager Kanzleisprache Herkunft, Bildung und die professionelle Laufbahn des Kanzleipersonals. Neben den kaiserlichen Kanzleiurkunden (Schriftzeichen, Formenbestand, Stil der Urkundensprache − z. B. Syntax, rhythmischer Satzschluss, Wortschatz, Wortbildung) untersuchte er auch die städtischen Urkunden Nürnbergs und die fürstlichen Urkunden der Wettiner. Er wollte die deutsche Urkundensprache in Karls Kanzlei ausführlich darstellen und ihr Verhältnis zur neuhochdeutschen Schriftsprache klären; seine Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass die meißnischen Kanzleien der Wettiner und die Nürnberger Stadtkanzlei mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als die Prager Kanzleisprache, in der verschiedene Schreibtraditionen zusammenflossen.
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Ludwig E. Schmitt konnte nachweisen, dass die deutsche Sprache der Kanzlei Karls keinen einheitlichen Zeichenbestand aufweist, wie Burdach behauptet hatte, der ihn als Basis der neuhochdeutschen Schriftsprache angesehen hatte. Vielmehr beinhaltete das Deutsche der Prager Kanzlei neben bestimmten Merkmalen der neuhochdeutschen Schriftsprache viele landschaftliche Besonderheiten (vgl. Schmitt 1936b, 57). In den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts richtete sich ebenfalls der Blick auf die Prager Kanzleisprache. Werner Besch zufolge ist es »nicht möglich, Prag zum Entstehungsort der nhd. Schriftsprache zu machen« (Besch 1967, 358). Einige für die neuhochdeutsche Schriftsprache wichtige Erscheinungen wurden auch in der Kanzleisprache Nürnbergs und Regensburgs und in der Stadt Eger im Kolonialgebiet um 1430 trotz bairischen Gepräges festgestellt (vgl. Skála 1967, 297ff.). Am Prozess der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache beteiligten sich Kanzleien und Schreibstuben im gesamten deutschen Sprachraum, wobei auch dem nord-oberdeutschen / bairischostfränkischen Sprachraum und hier besonders Regensburg, Nürnberg, ja auch Eger (vgl. Skála 1970, 110) eine große Bedeutung zukommt. Diese Forschungsergebnisse sind auch für die Betrachtung der Schreibsprache am Hof Karls IV. von Bedeutung. Die an die neuhochdeutsche Schriftsprache erinnernden Merkmale der Prager Kanzleisprache sind nicht Elemente eines in der Kanzlei selbständig verlaufenden Ausgleichsprozesses. Die Forschungen von Emil Skála zeigten, dass die Prager Kanzleisprache in einer von den Kanzleien in Nürnberg, Eger und Regensburg gebildeten Traditionslinie steht. Prag unter den Luxemburgern war als Mittelpunkt des Reiches nicht nur politisch, sondern auch kulturell eng mit Nürnberg verbunden. Die sprachliche Entwicklung am Prager Hof stellte aber nur ein Zwischenspiel dar, das für die kaiserliche Kanzlei mit dem Übergang der Kaiserkrone an die Dynastie der Habsburger endete (vgl. Wiesinger 1978, 860). Nach dem Tode des Kaisers Sigismund (1437) übernahmen die Habsburger die Führung der Reichskanzlei, deren Sitz nach Wien verlegt wurde.
4.
Die deutsche Urkundensprache in der Prager Hofkanzlei
Die Hofkanzlei Karls IV. erwies sich als Erbin der Kanzlei Ludwigs des Bayern (1314– 1347), unter dessen Regierung der Gebrauch der deutschen Sprache als Kanzleisprache neben dem Lateinischen in offizieller Korrespondenz geregelt wurde (vgl. Vancsa 1895, 60ff.; Bürgisser 1988, 50). Als geläufige Kanzleisprache setzte sie sich jedoch weitgehend erst unter den luxemburgischen Königen durch (vgl. Klauser / Meyer 1966, 259f.); das Verhältnis zwischen lateinischen und deutschen Schriftstücken in Karls Kanzlei war 1:1, in der Zeit Wenzels überwogen aber die deutschen Schriftstücke erheblich (vgl. Hlaváþek 1970, 88). Emil A. Gutjahr zufolge ließ sich die Kanzlei Karls stark vom Formular der deutschen Urkunden Ludwigs des Bayern beeinflussen (vgl. Gutjahr 1906, 290), dessen deutsche Schriftstücke wohl nach lateinischem Vorbild verfasst wurden. Es stellt sich die Frage, wie stark sich lateinische Muster an der Gestaltung der deutschen Urkunde in Karls Kanzlei beteiligten.
534 4.1.
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Struktur und Stil der deutschen Urkunden
Das ideale Formulierungsmuster der Urkunde, das die Ars dictandi den Schreibern vorgab, umfasste drei Äußerungsteile (Protokoll, Text, Eschatokoll) mit insgesamt zwölf Elementen (Invocatio, Intitulatio, Inscriptio mit Salutatio, Arenga, Promulgatio, Narratio, Dispositio, Sanctio, Corroboratio, Subscriptio, Datierung und Apprecatio (vgl. Klauser / Meyer 1966, 257f.). Ähnlich wie in Ludwigs Schriftstücken sind in den meisten Urkunden der Prager Hofkanzlei die Elemente Intitulatio (Angabe von Namen und Titel des Ausstellers), Promulgatio (Bekanntgabe des Willens des Ausstellers), Inscriptio (Angabe von Namen und Titel des Empfängers), Narratio (Umstände, die der Rechtshandlung vorausgingen), Dispositio (Darlegung des beurkundeten Rechtsgeschäfts), Corroboratio (Angabe der Beglaubigungsmittel) und Datierung besetzt. Auf die Invocatio (Anrufung des göttlichen Namens), Arenga (einleitende Formel literarischen Charakters), in den meisten Fällen auf die Sanctio (formelhafte Anordnung weltlicher oder geistlicher Strafen für den Fall einer Verletzung des Rechtsgeschäfts) und Apprecatio (formelhaftes Schlussgebet, oft nur Amen) wurde verzichtet (vgl. Gutjahr 1906, 290). Die deutsche Invocatio ist wahrscheinlich nur in einer Urkunde zu finden, die in Karls Kanzlei angefertigt wurde – in der Goldbulle für Friedberg vom 15. Juni 1376 (In dem namen der heiligen und unteillichen dreyvaldickeit geliclichen amen; vgl. Lindner 1882, 77). Die Invocatio fehlt auch in deutschen Urkunden von Karls Sohn Wenzel (vgl. Hlaváþek 1970, 94). Die deutschen Urkunden beginnen meistens mit der in Form des pluralis majestatis verfassten Intitulatio, in der neben dem Pronomen wir der Name und Titel des Ausstellers angegeben sind. Dem königlichen und kaiserlichen Titel ist die Devotionsformel, der formelhafte Ausdruck der Abhängigkeit der weltlichen Machtstellung des Urkundenausstellers von der Gnade Gottes, hinzugefügt. Karls Aufstieg – er wurde im Jahre 1346 böhmischer und römischer König und von 1355 an Kaiser – spiegelt sich in der Formulierung der Intitulatio wider. Die Titel Karls sind immer einheitlich angegeben: der Titel des Königs Wir, Karl von gots gnaden Römischer Kunig ze allen zeiten Merer des Reichs vnd Kunig ze Beheim, und der Titel des Kaisers Wir, Karl von gots gnaden Römischer Keiser, ze allen zeiten Merer des Reichs und Kunig ze Beheim. Das Pronomen fehlt in 62 Urkunden, nur vereinzelt wurde eine atypische Intitulatio benutzt (Von uns, dem Kaiser, 1365; Karl der vierde, 1356; Wir, Karl der vierde, 1370). In den Urkunden, die Karl mit seinem Sohn Wenzel ausstellte, sind die Titel beider Aussteller angeführt, und in den Urkunden, die Wenzel selbst oder zusammen mit seinem Vater ausstellte, schwankt der Titel des Sohns: Wir, Wenczla von gottes genaden kunig zu Behaim, Marggraff zu Brandenburg vnd zu Lusicz vnd herczog in Slezien vnd zu Luczemburg (1365); Wir, Wenczlaw von gottes genaden kunig zu Beheim, Marggraff zu Brandenburg vnd zu Lusicz, herczog zu Luczelnburg vnd zu Slesien vnnd graff zu Sulczbach (1366); wir, Wenczlaw von denselben gnaden Kunig zu Beheim Margraf zu Brandemburg vnd Herzog zu Slezien, desselben vnsers herren des Keisers Son (1375). Die Schwankung in der Formulierung der Intitulatio ist umso interessanter, als die Urkunden in Karls Kanzlei ausgestellt wurden. Dies könnte vermuten lassen, dass die Schriftstücke Wenzels als zweitrangige Kanzleiangelegenheiten betrachtet wurden (vgl. Hlaváþek 1970, 96).
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Die Promulgatio ist in den Urkunden vorgezogen und bildet mit der Intitulatio und Inscriptio das Protokoll. Nach Gutjahrs Untersuchungen erscheinen in Karls Urkunden insgesamt 27 Varianten der Promulgatio (vgl. Gutjahr 1906, 301ff.). Es handelt sich oft nur um geringe lexikalische Nuancen, nicht selten um Variationen auf der graphematischen Ebene, z. B. bekennen und tun kunt offenlich mit disem briefe; bekennen offenlich und tun kunt mit disem briue; bekennen und tun kunt offinbar mit diesem briefe u. a. (vgl. ebd., 303ff.). Die Inscriptio – meistens inscriptio generalis – wendet sich an eine breite Öffentlichkeit: allen (den), (die) in (= den Brief) sehen oder horen lesen oder allen leuten, die diesen brief sehent, horent (lesen). Neben diesen Formulierungen gibt es noch acht weitere Varianten; nur in zwei Urkunden fehlt sie (vgl. ebd., passim). Der mittlere Teil der Urkunden, der sog. Text, variiert je nach der Textsorte. Formelhaft gestaltet ist der Schlussteil, das Eschatokoll, das von der Corroboratio und der Datierung gebildet ist. Die deutsche Corroboratio besteht aus der Beurkundung und der Besiegelung. Die Beurkundung ist in 42 % der von Gutjahr untersuchten Urkunden Karls einheitlich formuliert – Mit vrchund dizz briefes. Gutjahr führt daneben noch weitere 16 Varianten an (vgl. ebd., 341f.). Es folgt die Information über die Besiegelung (versigelt mit vnserm kunglichen Insigel), in den jüngeren Urkunden Karls aus den Jahren 1358–1378 wird auf die Kaiserherrschaft des Ausstellers hingewiesen (Mit Vrkunt dicz briues versigelt mit vnsir keiserlicher maiestat Ingesigel). Dieses Element wurde sehr unterschiedlich gestaltet, Gutjahr verweist auf 39 Varianten in den kaiserlichen Urkunden Karls (vgl. ebd., 342ff.). Noch mehr Varianten bieten die Urkunden Wenzels. Man kann deshalb voraussetzen, dass in Karls bzw. Wenzels Kanzlei kein festes Formular für die Verfassung der Corroboratio benutzt wurde (vgl. Hlaváþek 1970, 120). Die Datierung ist entweder im Attributsatz Der (ge)geben ist... oder in der Partizipialkonstruktion Geben / Gegeben... formuliert und entspricht dem lateinischen Datum. Dieser lateinische Ausdruck wurde nach Gutjahr nur in zwei deutschen kaiserlichen Urkunden aus dem Jahre 1365 verwendet (vgl. Gutjahr 1906, 356). Zur Datierung gehört weiter die Angabe des Ausstellungsortes und das Datum, das mit der Formel nach Christi geburt beginnt und aus der Angabe des Jahres und Wochentags, aus der Tagesangabe nach dem Festkalender und der Angabe des Regierungsjahres besteht, wobei Königsund Kaiserherrschaft unterschieden werden. Ein Vergleich der ausgewählten deutschen Urkunden in der Kanzlei Karls IV. und Wenzels IV. mit dem traditionellen lateinischen Formular zeigt, dass die Struktur im Sinne der Ars dictandi vereinfacht wurde; die reduzierte Struktur wurde wahrscheinlich von der Kanzlei Ludwigs des Bayern übernommen. Die meisten Elemente der Urkunden sind relativ einheitlich formuliert; diese Feststellung führt zu dem Schluss, dass den Diktatoren präzise verfasste Formulare zur Verfügung standen. Kleinere Nuancen sind auf einzelne Diktatoren oder Schreiber zurückzuführen. Mehrere Variationen zeigt nur die Intitulatio in den analysierten Urkunden Wenzels und die Besiegelung sowohl in Karls als auch in Wenzels Schriftstücken. Dies führt zu der Annahme, dass den Schriftstücken Wenzels in Karls Kanzlei nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet wurde und dass es mehrere Formulare für die Gestaltung des Strukturelements Besiegelung in der Kanzlei gab.
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Ein typisches Merkmal der spätmittelalterlichen Urkunden war die zwei- und mehrgliedrige Ausdrucksweise, die als Stilmittel zuerst von der päpstlichen Kanzlei verwendet und später in der Reichskanzlei übernommen wurde. L. E. Schmitt zufolge stellt sie einen reicheren Formelschatz in Karls deutschen Urkunden als in den Urkunden der Wettiner dar (vgl. Schmitt 1936b, 92). Schmitt vermutet, dass die Verwendung von Formeln von der Herkunft des Kanzleipersonals in der Kanzlei abhing. Allerdings sollte auch der sich ausbildende Stil in der Hofkanzlei berücksichtigt werden. Aus semantischer Sicht kommen in den Urkunden der Hofkanzlei synonyme, antithetische und differenzierte Paarformeln vor; die synonymen Formeln können nach formalen Kriterien als alliterierende und reimlose Koppelungen klassifiziert werden. Alliterierende synonyme Paarformeln kommen in den Urkunden selten vor, z. B. ganz und gar mit den Modifikationen genczlich vnd gar oder gar vnd genczlich; recht und redlich (als Vorbild diente die lateinische Paarformel iuste / rite et legitime / rationabiliter); ledig vnd loz (lateinisches Vorbild liber et absolutus) oder schutz und schirm (lat. protectio et tutela). Im Unterschied zur Alliteration ließen sich synonyme reimlose zwei- oder mehrgliedrige Formeln in den Urkunden häufiger nachweisen (an gunst vnd willen; vff alle ansprache vnd vorderunge; sune vnd fruntschaft als Modifikation der Formel vride und suon; erben vnd nachkommen oder eltern vnd vorfaren). An der Spitze dieser Gruppe stehen gekoppelte Verben, die eine Verstärkung der Aussage in der Rechtspraxis ermöglichen. Relativ alt ist z. B. die Formel bestetigen vnd verstenen (lat. conservare et corroborare). Viele Koppelungen in dieser Gruppe, die einmalig auftreten, wurden okkasionell gebildet, da die Schreiber bzw. Verfasser der Urkunden den lateinischen rhetorischen Stil nachahmen wollten; solche Paarungen bilden einen festen Bestandteil der Urkundensprache. Während antonymische Paarformeln in den Urkunden der Prager Hofkanzlei eher selten sind (besucht vnd vnbesucht; gearen vnd vngearen; ynwendig oder usswendig; mit habe varender und ligender; mit briefen oder sust mit dem munde), sind differenzierte Formeln, deren Komponenten füreinander weder synonyme noch antonyme Bedeutung haben, sehr häufig vertreten (z. B. burge vnd stette, lat. castrum et civitas). Zahlreiche Beispiele ließen sich anführen, doch sollen hier zwei Rechtsformeln als Beispiele genügen: eyne vermachunge, ordenunge vnd vereynunge (1366) und in allen meinungen, puncten, worten, sinnen vnd behaltnuzzen (1360), die in vielen Modifikationen in den Urkunden benutzt werden. Neben Substantiven und Adjektiven (getrewe, gehorsam vnd vntertenik) werden öfter Verben gekoppelt – vorkauffen, vorwechseln, vorsezzen, vorweysen, bescheyden, vorgeben (1378); machen, sezzen, orden vnd geben (1371); machen, seczen vnd ordenen (1371). Mehrgliedrige Formeln wurden bereits in älteren Urkunden der Hofkanzlei verwendet, doch ihre Verwendung kulminiert in Karls Kanzlei in den 70er Jahren; infolgedessen wirken seine Urkunden sehr formelhaft. Beim Verleihen von Lehen wurde in den Urkunden die sog. Pertinenzformel hinzugefügt, die aus mehreren Komponenten besteht und zu den mehrgliedrigen Wendungen gehört. Auf diese Weise zählt sie alle Bestandteile der Lehen auf. Die Länge der Pertinenzformeln war von der Menge der genannten Güter, Objekte oder Personen abhängig. In den ältesten Urkunden sind die Formeln kürzer, die Aufzählungen werden immer
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durch Nebensätze (was darczu gehört, 1348; wie man die nennen mag, 1365) oder Partizipialkonstruktionen (nichts ausgenomen, 1365) abgeschlossen. In den Urkunden aus den 60er und 70er Jahren wurden die Formeln aus langen Wortketten gebildet, in denen Aufzählungen mit antonymischen Paarungen kombiniert sind. Der erste Teil einer Formel aus dem Jahre 1371 umfasst sogar mehr als 50 Elemente: mit Stetten, Landen, Weichpilden, Merkten, dorfern, Clostern, Probesteyen, Herschefften, Krewczhouen, Mannen, Rittern, Knechten, Burgern, Gebawern, Ackerluten, czinshaften luten vnd darczu mit Burgen, Vesten, vorwerken, Eckern, gearen vnd vngearen, Bergen, Grunden, Slichten, Welden, Puschen, Holczen, Baumen, Weyden, Wisen, Jegden, Vogelweiden, Teichen, Vischereyen, Vischern, Weyngarten vnd iren sczehenden, Wassern, Wasserleuffen, Mulen, Berkwerken, Goldes, Silbers, Czines, Bleyes, Eysens vnd allerley erczes vnd mit gerichten herschefften, Bernen ... mit gulden czinsen, Stewern, Bussen, Besserungen mit lauter vnd vermengeter macht, kirchlehen, beide der pfarren Tunchereyen vnd anderer gotsgaben vnd by namen mit den lehen der Tumerien und pfrunden zu Olomucz vnd zu Brunne, mit dem Lantgerichte vnd Poprawen, Camer Ampten vnd den Czuden vnd aller andrer ampte, die zu des Landes rechte gehoren, mit anefellen vnd mit allen rechten, eren Wirdikeyten, nuczzen, gewonheiten und allem irem anhange vnd allen iren zugehorungen, wie man dieselben sunderlichen mag vnd pfliget zu nennen, zu haben, zu halten, zubesiczzen vnd zu nuczzen ewiclichen mit allen rechten, herscheffte vnd freyheitten... Das Vorbild der Pertinenzformeln ist im Lateinischen zu suchen; beim Formulieren der Urkunden in Karls Hofkanzlei wurde diesen Formeln große Aufmerksamkeit geschenkt − sie sind Belege der Präzisierung des Kanzleistils par excellence. 4.2.
Graphematik und Phonologie der deutschen Urkunden
Es herrschte immer noch Variabilität in der Distribution der Grapheme (iar, veriehen, Juden, verjehen, geyagt; Ingesiegel, jnsigel, bij, yn, ijn, wylle, fry) und (houe, hantuesten, verkaufen, vreitag, marggraven, gewalt; jung, vnd, fvmfvndsybenczigsten, nw, lwt). Die Distribution von war stellungsbedingt – steht meist im Wort- oder Silbenanlaut, in- und anlautend. Die Schreiber markierten – allerdings durchgängig – die Vokallänge: Sie gebrauchten nur vereinzelt das verdoppelte Graphem (geen, ee, meer, steet), nachgestelltes nach und (vbeltait, rait = ›Rat‹, noitdorfft) oder nachgestelltes nach , oder (aen = ›ohne‹, hoep = ›Hof‹). Das übergesetzte erscheint sowohl bei kurzem (Bischoff) als auch bei langem Vokal (ziten). Eine andere Variante, das Dehnungs-h, wurde in den Lexemen gewohnheit (1357) und nehmen (1360) benutzt. In Karls Urkunden kommen auch verschiedene Varianten der Umlautbezeichnung vor (tæt, irlich, almehtig; dörffern, hœren, fr lich, künig, kúnig, fuer, f)rste, 0ber, m0gen, 5ber), aber auch der unbezeichnete Umlaut ist immer noch geläufig (iarlich, zugehorungen, fursten, vber). Die graphische Wiedergabe des mittelhochdeutschen Diphthongs /ae/ ist (beiderseit, Keysirn, raichen, Kaiser), der mittelhochdeutsche Diphthong /ie/ wird graphisch als wiedergegeben, wie die Belege brief, bryef, yemand, brwf zeigen; /uo/ wird als markiert (br*der), /üe/ tritt graphisch als auf (rueren, f)ren), und der Diphthong /ou/ als , z. B. erlouben, housfrovn, frowen.
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Die Konsonantenverdoppelung ist im In- und Auslaut ganz geläufig (Abbt, ymmer, vnnd, krafft, gelidden, preggen, sterkken, heilligen, herren, bottescheft), im Anlaut wurde keine Doppelung gefunden. Die Konsonantenhäufung ist bei Affrikaten /pf/ (pfaffe, pffenden, kupffer, scheppfen, scheppher), /z/ (czalte, schacz, nuzzen, besitzen, setztzen, nutzzen, nuczzen, seczczen), /tsch/ (D)tschen) und beim Zischlaut /sch/ (schier, sculdik, hersscheft) weiterhin üblich. Die Konsonantenhäufung betrifft die Konsonanten /d, t, g, k/ + in den Lexemen geburth, keisirthums, abeghe, auftraghung, vrkhund, dhemutige. Immer öfter, wenngleich noch inkonsequent setzt sich die Großschreibung im Wortanlaut durch, die zur Betonung der Wichtigkeit oder der Einzigartigkeit dient: bei Personennamen und bei Namen von Städten, Dörfern und Ländern (Heinrich von Newnhause; czu Beheim), bei politischen Gebilden (des Romischen Reichs; Canczler des Kunigrichs czu Behem), bei den Wochen- und Festtagen (des nehsten Mittwochen, vor vnser frawen tage Lichtmesse), bei Berufsbezeichnungen, bei Titeln, Posten und Institutionen (vnsirr Richter, vnser keiserlicher Cantzler, vf dem Rathuse zu Prage), bei Verwandtschaftsbeziehungen (Gebruder von Rosenberg, des Keisers Son, vnserm lieben Brudir) und bei Nomina sacra (an Sand Valentin tag, den Heiligen gotes Evangelien), selten werden auch einige Appellativa groß geschrieben, die im Mittelpunkt eines Rechtsgeschäfts standen (dasselbe Leipgedinge, mit Burgen, Vesten, Eckern, gearen vnd vngearen), Pronomen (fur Vns), Adjektive (der Erwirdige Johanns Bisschoff zu Olomuncz) und Numeralien (Dreizzik Mark von den Sechzik mark, Nevnhundert schok). Bei der Interpunktion ist das häufigste Zeichen die Virgel, daneben werden Punkt, Doppelpunkt und Großbuchstabe am Satzanfang benutzt; der senkrechte Doppelpunkt ist seltener. Als Abkürzungszeichen dienen der -er-Haken (vnsT = ›unser‹, odT= ›oder‹) und der Nasalstrich (befelhƝ = ›befehlen‹); der waagrechte längere Strich deutet auch größere Kürzungen an (obgƝ@ = ›oben genannt‹). Auf der phonologischen Ebene sind für die Prager Hofkanzlei die Diphthongierung der mittelhochdeutschen Langvokale und die Monophthongierung der mittelhochdeutschen Diphthonge von großer Bedeutung. Die graphische Wiedergabe der neuen frühneuhochdeutschen Diphthonge ist in Karls Urkunden unterschiedlich – neben den Wörtern mit den neuen Diphthongen /ae/ (czeiten, frey, Raiche), /ao/ (aufheben, laut) und /oe/ (amptleut, vernewen, le*t, ne)n, he6tigen), sind auch noch Belege für die mittelhochdeutschen Langvokale /i:/ (rich, ziten, yngeben), /u:/ (1ff, 0f, vznemen, vf dem Rathuse, usswendig) und /ü:/ (hiutigen, dutsch, frunt, l)te, getr)we, iwer) zu finden. Die graphische Wiedergabe der Monophthongierung ist in Karls Urkunden auch mannigfaltig – neben Lexemen mit den neuen Langvokalen /i:/ (brif, bryf, friheit, brif, brwf, lwp), /u:/ (buch, tun, tvn) und /ü:/ (anruren, genugen), die als Produkte der Monophthongierung von /ie/, /uo/ und /üe/ entstanden sind, kommen in den Urkunden Wörter mit traditioneller Schreibweise vor (brief, br*der, z1, rueren). Der mittelhochdeutsche Diphthong /ou/ machte eine qualitative Veränderung durch, und in Karls Urkunden kommt er in beiden Formen /ou/ und /au/ vor, graphisch durch und wiedergegeben (ouch, housfrovn, Juncfrown; auch, frawen). Die Dehnung mittelhochdeutscher Kurzvokale ist nur vereinzelt graphisch markiert (nehmen, gewohnheit), noch seltener kann man Belege für die Vokalkürzung (mutter)
32. Die Prager Kanzlei
539
finden. Die Rundung und Entrundung sind nur vereinzelt vertreten (Beheum, w llen; derfer, geheren, verbintnisse), häufiger kommen die Synkope und Apokope vor (beczaln, sulln, globen, gmute, gmeine, gesessn, vrkund, gult), fast nebeneinander stehen auch volle Formen (geloben). In Karls Urkunden sind auch regionale Merkmale zu finden. Zu den charakteristischen regionalen Zügen im vokalischen Bereich gehört die Entwicklung des mhd. /o/ > /a/ vor Konsonanten m, n, r, seltener vor hs, ht, ch (wart, zuvorsargen, Ramfart), des mhd. /i/ > /ie/ (dier, mier, wier, sien = ›Sinn‹, ien = ›ihnen‹), Belege für die Diphthongierung des mittelhochdeutschsen Suffixes -lîch > -leich (kunichleich, offenleich, keiserleich, geistleich), daneben auch genediglich, kaiserlichen, und -in > -ein (pilgrein, wirtein); häufiger kommt die ostoberdeutsche Variante des Suffixes -nisse > -nus vor (Pluralformen hindernusse, geczeugnusse, bekantnusse). Außer diesen ostoberdeutschen Merkmalen bieten die Urkunden viele Informationen über die (ost-)mitteldeutschen dialektalen Züge: die Entwicklung des mhd. /o/ > /a/ in den ausgewählten Lexemen (ader, nach, sal), die Hebung des mhd. /o, o:/ > /u, u:/ (hulcz, vft, mitwuchen, gelubt), die Senkung des mhd. /u, u:, ü/ > /o, o:, ö/ (somer, aber auch sumer, Sontag neben Suntag), die Entwicklung des mhd. /i/ > /e/ (geschrebin, hemmelischen, nemande, sebenzig, scherm), die Monophthongierung des mittelhochdeutschen Diphthongs /ae/ > /e/ (Behem, bedirseite, egen, enander, ohem, freheit, ohem), /ae/ > /i/ (hilig), /e/ > /i/ (iz, is, mirklich, wir willen), brengen als Variante des Verbs bringen, das Adjektiv sankt als sant, sand und die Entwicklung des mhd. /e/ > /i/ in unbetonten Silben (odir, vndir, vnsir, widir, Insigil, abint). Sowohl in ostoberdeutschen als auch in ostmitteldeutschen Dialekten kommt der Lautwandel des mhd. /a:/ > /o:/ vor, der auch in Karls Urkunden zu finden ist (bedocht, geton, herbrocht, nom = ›Name‹, Obent). Nach den wichtigsten Erscheinungen im Bereich des Vokalismus seien nun jene im Bereich des Konsonantismus genannt. Die Entwicklung des mhd. /s/ > /sch/ vor l, m, n und w hat sich noch nicht konsequent durchgesetzt, Belege sind sporadisch (schlozzen, abschlahen, geschwornen, schwester), daneben aber häufiger die älteren Formen (slossen, geslechte, swager, sweren, swert). Nebeneinander steht auch unverschobenes /t/ vor /w/ (twingen, getwange) und die Affrikate /z/ (zwingen). Inkonsequent durchgeführt ist die Assimilation /mb/ > /m/, /mm/ (darumme, kummer, aber auch verkumbern, vmb, darumb, amptman). Allmählich wird die Bezeichnung der Auslautverhärtung überwunden, und die etymologische Schreibweise der Konsonanten /b/, /d/, /g/ beginnt sich durchzusetzen (kunig, tag, Burg), die alte Schreibweise ist immer seltener zu finden (kunck = ›König‹, kunklich, halp, liep). Inkonsequent ist auch die t-Epithese durchgeführt (nieman, yemant, yemand). Von den ostoberdeutschen dialektalen Merkmalen ist die Entwicklung des mhd. /b/ > /w/ (Brawant, herwerge, offenwarn, sunderwar), des mhd. /w/ > /b/ (burden = ›wurden‹, gebinnen, mittbochen, inbendig), weiter die Veränderung des mhd. /k/ > /kh/, /kch/, /ch/ (bechennen, chrig, chunich, chunt, vrchund) und des mhd. /b/ > /p/ häufig zu finden (pest, prant, purger, gepurt). Obwohl die letzte Veränderung auch in den nördlichen Gebieten des deutschsprachigen Territoriums vorkommt, wird sie in der Forschungsliteratur zu den typisch ostoberdeutschen – bairischen – Merkmalen gezählt.
540
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Ein mitteldeutsches Merkmal könnte auch das unverschobene /p/ oder die unverschobene inlautende Geminate /pp/ sein (palczgraven, Pingesttag, kloppen). Auch die Lenisierung des mhd. /t/ > /d/ im An- und Auslaut wurde vor allem in mitteldeutschen Dialekten realisiert, obwohl Belege dafür auch im (nördlichen) oberdeutschen Sprachraum zu finden sind. In den Urkunden der Hofkanzlei Karls erscheinen die Lexeme dag, daten, dot, d*n. Lehnwörter aus dem Lateinischen oder Griechischen, die in der neuhochdeutschen Schriftsprache mit
geschrieben werden, kommen im ostmitteldeutschen Sprachraum oft mit vor. Diese Tatsache gilt auch für Karls Kanzlei (bobst, bredigern, brister). Die Urkundensprache der Prager Hofkanzlei unter Karl IV. zeigt einerseits die Tendenzen zum Sprachausgleich (Diphthongierung, Monophthongierung, Verschiebung des initialen /t/ vor /v/ zur Affrikata /z/, Verschiebung des mhd. /s/ vor Konsonanten zum Palatoalveolar /sch/, Assimilation /mb/ > /mm/, t-Epithese), andererseits weist sie viele regionale Merkmale auf, die auch die Herkunft der Schreiber widerspiegeln.
5.
Fazit und Ausblick
Den lateinischen Einfluss auf die Verfassung der deutschen Urkunden in der Prager Hofkanzlei darf man nicht überschätzen. Die Kontakte zu den italienischen Humanisten führten zur Entfaltung eines eigenen Kanzleistils, der auffallende Merkmale der Rhetorik aufwies. Dieser Stil spiegelte sich zwar kaum in der Struktur der in der Kanzlei formulierten Urkunden wider, seinen Einfluss kann man aber vor allem in den benutzten Formeln verfolgen, die direkte Äquivalente im Lateinischen aufweisen. Infolge der verwendeten zwei- und mehrgliedrigen Formeln wurden die Aussagen präziser, und die Urkunden, die vor allem in den 70er- und 80er-Jahren des 14. Jahrhunderts ausgestellt wurden, wirken dadurch auf uns sehr formelhaft. Die Struktur der deutschen Urkunden wurde im Vergleich zum klassischen lateinischen Muster reduziert, und es entwickelte sich die Verwendung von Formularen. Manche Strukturelemente der Urkunden Karls IV. sind im Unterschied zu den analysierten Urkunden Wenzels viel einheitlicher formuliert, was mit einer geringen Bedeutung der Urkunden Wenzels in der Kanzlei Karls IV. zusammenhängen könnte. Die phono-graphematische Analyse der deutschen Urkundensprache belegt zwar einen beginnenden Sprachausgleich, regionale Merkmale sind jedoch immer noch stark vertreten. Zu den Desiderata auf diesem Forschungsgebiet gehören eine ausführliche Analyse zur Syntax der Urkundensprache der Prager Hofkanzlei und eine konfrontative Untersuchung zur Syntax und Stilistik der Prager Kanzleisprache und der Kanzleisprache Ludwigs des Bayern. Bisher fehlt auch eine Klassifizierung und Analyse der in der Hofkanzlei angefertigten Textsorten.
32. Die Prager Kanzlei
6.
541
Literatur
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
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Claudia Greul, Graz (Österreich)
33. Deutsche Kanzleisprache in Ungarn
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Einleitung Deutsche Besiedlung im Mittelalter und der frühen Neuzeit Ursprünge des deutschen Schrifttums und Kanzleiwesens in Ungarn Merkmale der deutschen Kanzleisprachen in Ungarn Zusammenfassung und Desiderata Literatur
Einleitung
Die verlorene Schlacht von Mohács 1526, die eine 150 Jahre andauernde osmanische Herrschaft in Mittelungarn nach sich zog und der Vertrag von Trianon 1920, der das Königreich Ungarn auf die heutigen Grenzen festlegte, sind zwei historische Ereignisse, die die ungarische Kanzleisprachenforschung wesentlich beeinflussen. Zum einen in dem Sinne, dass in den anderthalb Jahrhunderten nach 1526 in Mittelungarn so gut wie das gesamte Schriftgut,1 das bis dahin in den Städten entstanden ist, verloren ging und / oder zerstört wurde und zum anderen bedeuteten die Konsequenzen des Vertrags von Trianon den Verlust der noch erhaltenen deutschsprachigen Schriftgüter an Nachfolge- und Nachbarstaaten des Königreich Ungarn. Somit ist die ungarische Kanzleisprachenforschung damit konfrontiert, sich auf jene Bestände zu konzentrieren, die der osmanischen Herrschaft nicht zum Opfer gefallen sind, was im Vergleich zur Zeit vor dem Vertrag von Trianon, verschwindend wenige sind, berücksichtigt man lediglich das ungarische Staatsgebiet in den gegenwärtigen Grenzen. Die Texte, die jedoch erhalten sind, sind zumeist sehr gut erfasst und ediert. Durch ihre Nähe zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet sind es vor allem die westungarischen Städte, die umfängliche deutschsprachige Schriftgüter ansammeln konnten, die in Teilen auch bis heute erhalten sind, allen voran die kanzleisprachigen Bestände von Ödenburg. Wendet man sich den deutschen Kanzleisprachen aus ungarischer Sicht zu, kann zunächst nicht von einem sprachräumlich homogenen Gebiet ausgegangen werden. Durch die verschiedenen Siedlungsströme, die vor 1526 nach Ungarn kamen – von denen nach 1689 gar nicht erst zu reden – ist und war das deutsche Sprachgebiet in Ungarn ein Konglomerat von Sprechergruppen verschiedener Dialekte, die auch in den kanzleisprachlichen Texten reflektiert werden. Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob man aufgrund
1
Aus Ofen / Buda ist aus der vortürkischen Zeit nur das Stadtrecht erhalten geblieben, weil es der Ofener Notar bei der Flucht vor den Türken mit nach Pressburg / Bratislava nahm.
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
der einstigen Zusammengehörigkeit im Königreich Ungarn auch von einer sprachlichen Verbindung und Beeinflussung der verschiedenen Städte mit dominant deutschsprachiger Bevölkerung ausgehen kann und darf und ob somit nicht eine Behandlung der ungarischen Kanzleisprache unter Berücksichtigung aller ehemaligen deutschsprachigen Städte des mittelalterlichen Ungarns vonnöten ist. Dies kann und will der vorliegende Beitrag nicht leisten, sondern wählt für die Darstellung in diesem Handbuch bewusst einen anderen Weg, indem lediglich jene ungarischen Städte betrachtet werden, die auf dem Gebiet des gegenwärtigen Staates Ungarn liegen. Dies nicht zuletzt, um zwangsläufige Redundanzen mit den Beiträgen zu Kanzleisprachen in Rumänien und der Slowakei zu vermeiden.
2.
Deutsche Besiedlung im Mittelalter und der frühen Neuzeit
Die deutsche Besiedlung Ungarns kann auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurück blicken, die mit der Heirat des ersten Ungarnkönigs Stephan I. dem Heiligen mit der bayrischen Königstochter Gisela beginnt. Der Schwester von Kaiser Heinrich II. folgten Geistliche, Adlige samt Gefolge, Kaufleute, Beamte und Handwerker in den Jahren nach 996 nach Ungarn, die teilweise zum königlichen Gefolge gehörten und teilweise militärisches und wirtschaftliches Wissen nach westlich-feudalem Beispiel in das neu errichtete Königreich Ungarn brachten (vgl. Hutterer 1975, 12). Bereits im 12. Jahrhundert kam es zu den ersten planmäßigen Ansiedelungen unter König Geisa II., der vor allem die Einwanderung von deutschen Handwerkern, Bergleuten und Bauern forcierte, die aus dem bairisch-österreichischen, alemannischen, mittelfränkischen, nordfränkischen, nordsächsischen Sprachraum kamen und sich in Westungarn, Nordungarn (z.T. die heutige Slowakei), Siebenbürgen (heute Rumänien) 2 sowie in Binnenungarn ansiedelten. Die Siedler aus den deutschen Landen wurden je nach ihrer Herkunft als Flandrenses (Flamen), Teutonici (Baiern und Süddeutsche) und Saxones (Mitteldeutsche, Sachsen) bezeichnet (vgl. ebd.), aber generell als Gäste, als hospites, gesehen, die zur Entfaltung der Städte und zum wirtschaftlichen Aufschwung beitragen sollten. So kam es im 13. Jahrhundert während der Herrschaft von Béla IV. zu einer deutschen Besiedlung von Ofen und Pest (1217) und nach dem Tatareneinfall 1241 / 1242 auch in den Städten Stuhlweißenburg / Székesfehérvar, Gran / Esztergom und Raab / GyĘr (vgl. Mollay / Bassola 2004, 3219; Hutterer 1975, 14). Zu dieser Zeit wurden auch dem von Deutschen besiedelten Ödenburg / Sopron das Stadtrecht (1277) und damit die Handelsrechte verliehen.
2
Das mittelalterliche Ungarn umfasste im Norden den Westen und Süden der heutigen Slowakei und einen Teil der heutigen Ukraine (Ruthenien), im Osten Siebenbürgen im heutigen Rumänien, im Süden Teile Serbiens (Batschka und Banat) und Kroatiens und im Westen Teile des heutigen Österreichs (Burgenland). Zu deutschen Besiedlungen kam es, abgesehen von Österreich, in allen Teilen. In der Kanzleisprachenforschung bisher intensiv erforschte Gebiete sind aber vor allem die Gebiete in der heutigen Slowakei und im heutigen Rumänien. An dieser Stelle sei daher auf die Beiträge 35 von Dogaru und 34 von Papsonová verwiesen.
33. Deutsche Kanzleisprache in Ungarn
545
Im 13. Jahrhundert kam es zu letzten gezielten Ansiedelungen in Ungarn in der »vortürkischen Zeit«(Bassola 2001, 190; vgl. Hutterer 1975,14f.), die mit der Schlacht von Mohács 1526 endet und 150 Jahre osmanische Herrschaft in Mittelungarn einleitet und die in der Folge die Verwüstung und Entvölkerung der (unter anderem auch) deutschen Siedlungen mit sich brachte. Mit der Rückeroberung Ofens / Budas 1687 und der daraufhin folgenden Befreiung der restlichen osmanisch besetzten Gebiete bis 1689, kam es dann zur zweiten großen Etappe der deutschen Besiedelung in Ungarn, bei der die vormals türkisch besetzten Gebiete von deutschen Siedlern aus Süd- und Mitteldeutschland, die gezielt von Grundherrn zum Wiederaufbau der brachliegenden Besitztümer angeworben wurden, kolonisiert werden sollten.
3.
Ursprünge des deutschsprachigen Schrifttums und Kanzleiwesens in Ungarn
Das Kanzleiwesen nimmt im mittelalterlichen Ungarn mit Stephan I. seinen Anfang, der Notare von den Erzkanzlern Ottos III. und Heinrichs II. anstellt, die für ihn in den Jahren 1001 und 1009 Gründungsprivilegien – auf lateinisch – verfassen. Doch erst unter Béla III. wird 1193 eine geregelte Kanzlei eingerichtet und erst um 1200 kommt es zu einer Trennung von der Hofkapelle – und somit auch zu einer Trennung vom klerikalen Bereich – und die Kanzlei wird eine eigenständige Einrichtung (vgl. Meier / Ziegler 2008, 12). Bis dahin ist das königliche Kanzleiwesen fest in klerikaler Hand und »Sprungbrett« für höhere geistliche Ämter gewesen. So ist mehrfach nachweisbar, dass ein Hofkapellenvorsteher nach Verlassen der Kapelle die bischöfliche Würde angenommen hat. Üblicherweise wollten daher stets die einflussreichsten und angesehensten Familien das geistliche Amt besetzen (vgl. Kubinyi 1977, 308). Aus diesem Amt, dem comes capellae, heraus, entsteht in der später weltlich geführten Organisation Kanzlei das Amt des Kanzlers, des Kanzleivorstehers. Zuvor ist der Kanzler die Person gewesen, die für die Besiegelung verantwortlich und zumeist – es gibt Urkundenbelege, in denen der Notar eine Urkunde besiegelte – der Vorgesetzte des Notars war, dessen Hauptaufgabe – vermutlich das Verfassen oder Schreiben von Urkunden – aber aus den Quellen nicht eindeutig hervorgeht (vgl. Kubinyi 1977, 303ff.). Generell ist aber sehr wenig über die Kanzleiordnung im spätmittelalterlichen Ungarn bekannt. Lediglich einige Quellen liefern hierzu Informationen, etwa zu Statuten aus Kapiteln in Zagreb (Kroatien) 1334 und Várad (Rumänien) oder Visitationsberichte des Kapitels von Gran / Esztergom. Hinzu kommen vereinzelte Daten aus verschiedenen Urkunden (vgl. Eckhart 1915, 463). Die ersten deutschsprachigen Urkunden erscheinen – zeitlich ganz dem europäischen Trend entsprechend3 – Mitte des 14. Jahrhunderts in Ödenburg / Sopron (1352) und set-
3
Meier/Ziegler (2008, 18) setzten als groben Rahmen für die Anfänge deutschsprachiger Kanzleien und Kanzleisprachen das 13. bis 15. Jahrhundert, wobei die geographische Verortung hinsichtlich einer Datierung von Bedeutung ist.
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
zen somit den Grundstein für ein deutschsprachiges Schrifttum in Ungarn,4 das sich in den nächsten 100 Jahren, von Westungarn ausgehend, Richtung Osten ausbreitet. Dieser ersten städtischen Urkunde folgt 1397 die erste deutschsprachige königliche Urkunde aus der Kanzlei Sigismund I., die mit den zahlreichen danach erscheinenden Urkunden zu Sigismunds Regierungszeit von Elemér Mályusz und später auch zusammen mit István Borsa in Urkundenregistern aufgelistet und beschrieben wurden – allerdings auf Ungarisch (vgl. Mollay / Bassola 2004, 3220). Die umfangreichste deutschsprachige Schriftensammlung städtischer Urkunden des Spätmittelalters existiert im Ungarn in seinen gegenwärtigen Staatsgrenzen für die Stadt Ödenburg / Sopron. Weitere große Bestände an deutschsprachigem Schrifttum finden sich im Landesarchiv Budapest, im städtischen Archiv Budapest sowie in den Archiven von Güns / KĘszeg und Gran / Esztergom (vgl. ebd., 3221). Die umfänglichen Bestände sind z.T. schon vollständig (Ödenburg), bzw. werden momentan (Güns und Gran) in Registerbüchern erfasst und ediert (vgl. Bassola 2001, 192). Neben den Urkunden entstehen innerhalb der städtischen Amtsschriftlichkeit auch deutschsprachige Rechtsbücher und Stadtbücher, wobei erstere eine Kodifizierung des »bis dahin mündlichen Rechtsgebrauch[s] nach deutschen Mustern« (Bassola 1995d, 223) darstellen und letztere eine große Palette verschiedener Inhalte präsentieren, die sich aber allesamt mit dem Geschehen rund um rechtsverbindliche Entscheidungen des Rates sowie mit verschiedenen juridischen Belangen der Bürgerschaft befassen. Das Führen von Stadtbüchern setzt in Ungarn Ende des 14. Jahrhunderts ein und wird nachweislich von den deutschen Siedlern in das städtische Verwaltungssystem eingeführt (vgl. Meier / Ziegler 2008, 20). Das erste deutschsprachige Stadtbuch wird in Ödenburg aufgelegt und von 1390–1517 geführt. Weitere folgen, die schließlich im 20. Jahrhundert fast vollständig vom Ödenburger Archivar JenĘ Házi ediert worden sind. Im Laufe des 15. Jahrhunderts werden in verschiedenen ungarischen Städten Stadtbücher – nicht alle auf Deutsch – geführt, wie in Ofen / Buda oder Szeged, die jedoch seit der Türkenbelagerung verschollen sind, aber deren einstige Existenz durch Urkunden – etwa im Falle von Szeged – belegt ist (vgl. Blazovich 2005, 21). Auch in den ostungarischen Städten Debrecen und Miskolc werden zu dieser Zeit Stadtprotokolle und Stadtbücher geführt, allerdings auf Latein (Debrecen) und auf Ungarisch (Miskolc), die aber dessen ungeachtet eine wesentliche Bedeutung für die Geschichte der ungarischen Rechts- und Städteentwicklung haben (vgl. ebd.). Gemessen an der Anzahl deutschsprachiger Schriftgüter anderer ungarischer Städte, nimmt Ödenburg – wie erwähnt – eine Sonderstellung ein, da hier eine kontinuierliche Überlieferung deutschen Schrifttums vollständig erhalten ist. Diese Tatsache hat einerseits mit der geographischen Lage Ödenburgs zu tun und andererseits mit den deutschsprachigen Bewohnern, die vor allem im Mittelalter den Großteil der Bevölkerung ausmachten und größtenteils aus Siedlern aus dem (nieder- und ober)österreichischen sowie bayrischen Raum bestand (vgl. Mollay 1979, 9). Daneben kamen auch größere Siedler-
4
Mollay bezeichnet den Zeitraum zwischen 1342 und 1686 als die Phase der »Ausbildung des ungarländischen deutschen Schrifttum« (vgl. Bassola 2001, 189).
33. Deutsche Kanzleisprache in Ungarn
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gruppen aus Böhmen. Dieser Siedlungsstrom setzte bereits ein, nachdem Ödenburg im Jahre 1277 die Stadtrechte erhielt und setzte sich lange Zeit fort. Parallel mit dem Wachstum der Bevölkerung der städtischen Gemeinschaft entwickelt sich auch das Verwaltungswesen. So wird dem bisher die Stadt allein regierenden Stadtrichter das Amt des Bürgermeisters zur Seite gestellt, der fortan für die Vertretung der deutschen Bevölkerung verantwortlich ist. Ebenfalls wird ein zwölfköpfiger Stadtrat etabliert, der von der städtischen und außerstädtischen Bevölkerung gewählt wurde (vgl. Szalai 1979, 10). An der Außengrenze des geschlossenen deutschen Sprachraums liegend, entkam Ödenburg der Besetzung durch fremde Eroberer und konnte seine von deutscher Rechtsprechung und deutschem Wirtschaftswissen geprägte Stadtentwicklung ungestört entfalten. Außerdem wurde Ödenburg Mitte des 15. Jahrhunderts zur königlichen Freistadt erhoben und sie war somit den landesherrlichen Einflüssen entzogen worden und nur noch dem König unterstellt. Mit diesem Status fielen der Stadt bestimmte Privilegien zu, wie z.B. die freie Wahl des Stadtrichters, oder auch das Recht zur Selbstverwaltung in Bezug auf die inneren städtischen Angelegenheiten. Dieses nunmehr komplexe städtische Sozial- und Rechtssystem forcierte selbstverständlich auch den Ausbau des Kanzleiwesens und erforderte eine zunehmend professionalisierte Schriftlichkeit zur Regelung der juridischen Angelegenheiten der Stadt. Dank der umfangreichen Arbeit von JenĘ Házi verfügt das Ödenburger Archiv über 13 Bände in Form von Regestenbüchern, die die deutschen Urkunden erfassen. Darüber hinaus edierte Karl Mollay das erste Grundbuch (1480–1553), ein Geschäftsbuch und ein Hausarzneibüchlein. Das Gerichtsbuch von 1427–1531 wurde von Házi in Zusammenarbeit mit Janós Németh im Jahr 2005 und das Gedenkbuch von 1492–1543 im Jahr 2006 zusammen mit Karl Goda herausgegeben. Des Weiteren liegen im Ödenburger Archiv noch ein Bürger- und Ächtbuch (1476–1548), ein Priesterbuch (1494–1571), Ratsprotokolle bis 1686 (insgesamt 130 Bände), 284 Bände von Kammeramtsrechnungen, 49 Bände Gerichtsakten und Gerichtsbücher sowie 20 Bände gemischter Schriften, die zwar erfasst, aber bisher nicht ediert wurden (vgl. Mollay 1986, 114; Bassola 2008, 86). Dem ersten Ödenburger Stadtbuch Ende des 14. Jahrhunderts folgen innerhalb kurzer Zeit weitere, die parallel geführt werden und deren Zahl Anfang des 15. Jahrhunderts weiter ansteigt. Erst um 1530 werden die einzelnen Rechtsbereiche voneinander getrennt. Bis zu diesem Zeitpunkt unterlagen die Aufzeichnungen einzelner Rechtsfälle keiner Systematik und wurden mehr oder weniger willkürlich in eines der Stadtbücher eingetragen (vgl. Blazovich 2005, 22). So ist es auch nachvollziehbar, dass es zwischen diesen einzelnen Büchern immer wieder zu thematischen Überlappungen kommt. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der offensichtlichen Fülle von Quellen in Ödenburg wird jenen inhaltlich inhomogenen Stadtbüchern kaum Beachtung geschenkt, sie finden nicht einmal Erwähnung bei Mollay / Bassola (2004), obgleich sie gerade wegen ihres gemischten Inhaltes wertvolle Informationen über das städtische Leben und die städtische Gemeinschaft liefern. Die Schreiber und Notare der Stadt Ödenburg sind teilweise namentlich bekannt und kamen vorwiegend aus Österreich oder Bayern und hatten oftmals in Wien studiert (vgl. Bassola 2001, 191). So kennen wir aus dem Ödenburger Gerichtsbuch fast alle Schreiber
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namentlich und nur wenige Schreiberhände sind nicht zuzuordnen. Die Notare Konrad Ernst (1419–1450) und sein Nachfolger Johann Ziegler (1450–1475) sind die am längsten in der Ödenburger Kanzlei tätigen und somit auch die produktivsten Schreiber. Neben den bereits erwähnten Archiven finden sich im Spätmittelalter auch in Güns / KĘszeg, Raab / GyĘr und Ungarisch-Altenburg / Magyaróvár umfangreichere deutschsprachige Bestände. Aus Güns ist allerdings aus dem 15. Jahrhundert nur eine einzige deutschsprachige Urkunde des Stadtrichters (1437) erhalten. Auf den Rest des deutschsprachigen Schrifttums kann nur über die Urkundensammlung von Ödenburg indirekt geschlossen werden. Beide Städte pflegten im Mittelalter eine enge rechtliche Beziehung (vgl. Bariske 1986, 123). Zur KĘszeger Kanzlei ist anzumerken, dass KĘszeg 1491 als Pfandgut an Niederösterreich gekommen ist und somit einerseits der Aufsicht der maximilianischen5 Landesregierungsbehörde und andererseits auch – durch Einführung der Ständesteuern – den niederösterreichischen Behörden unterstellt gewesen ist. Im Unterschied zur königlichen Kanzlei und Kammer, die kein Recht auf Aufsicht über die städtische Gerichtsbarkeit hatte, unterlag KĘszeg damit gänzlich der landesfürstlichen Aufsicht, was den inneren Aufbau und die Entwicklung ihrer städtischen Administration beschleunigte, aber vor auch allem den Sprachgebrauch in der Kanzlei nachhaltig beeinflusste (vgl. Bariske, 125f.). Doch erst im 16. Jahrhundert finden sich die geeigneten Fachleute in KĘszeg ein, um die erneuerte Administration auch zu festigen und zu etablieren. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Stadtnotare Wolfgang Traskovitz aus Mähren (1528), Prangraz Swankler aus Augsburg (1527–1551), die beide in Wien studierten, und Paul Daucher aus dem niederösterreichischen Kirchschlag (1559–1593) genannt (vgl. ebd.). Letzterer forcierte auch die Archivbasis in KĘszeg, indem er ein Formularbuch anlegt, Gerichtsprotokolle für Prozessführungen und das Grundbuch einführt, bürgerliche Testamente und Inventare niederschreiben lässt und Amtsabrechnungen vornimmt (vgl. ebd). Eine andere Art von Schriftdenkmal ist das Ofener Stadtrecht, das nach Vorbild des Magdeburger Rechts eine Kodifizierung des bisher mündlich geltenden Rechts in deutscher Sprache darstellt (vgl. Mollay / Bassola 2004, 3221). Das Ofener Rechtsbuch ist die »wichtigste und umfangreichste Quelle für das mittelalterliche und auch für das neuzeitliche Rechtsleben […] der Städte in Ungarn schlechthin« (Mollay 1959, 7). Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Pressburg der sogenannte Lyzeal-Kodex6 entdeckt, der ab diesem Zeitpunkt als Originalhandschrift und Vorlage der bis dahin einzig bekannten Cromer Handschrift7 des Ofener Stadtrechts (1541–1559) gilt. 1845 erschien die erste Edition des Ofener Rechtsbuch, die von Andreas Michnay und Paul Lichner herausgegeben wurde. Wie in späteren Untersuchungen gezeigt werden konnte, wies diese frühe Edition aber
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Die kaiserliche Kanzlei Maximilians I. gilt als Musterbeispiel für Administration und Kanzleiführung; vgl. dazu den Beitrag 26 von Wiesinger. Der Lyzeal-Kodex (Lyc) umfasst Eintragungen aus den Jahren 1430–1440 und vom Anfang des 16. Jahrhunderts und befindet sich im Besitz der evangelischen Kirchengemeinde von Pressburg. Diese Handschrift des Ofner Stadtrechts befindet sich in der Budapester Universitätsbibliothek (B/31) und umfasst Eintragungen aus den Jahren 1541–1559; sie war einst im Besitz des Kaschauer (heutige Slowakei) Stadtschreibers Leonhard Cromer.
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erhebliche Mängel und Fehler auf (vgl. Mollay 1959, 20). Unter Berücksichtigung der Fakten, die die Entdeckung einer dritten Handschrift des Ofener Stadtrechts im Jahr 1938 – der sogenannten Budapester Handschrift8 – ergaben, summierte Mollay 1959 den bisherigen Stand der Forschung (ebd.) und stellte dabei fest, dass alle drei Handschriften von einer gemeinsamen Vorlage abgeschrieben wurden, aber keine dieser drei Handschriften die Vorlage selbst war. Er bemängelt, dass der Bedeutung der Handschriften, als Rechts- und Sprachdenkmal zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und fordert daher eine intensive Untersuchung der sprach- und rechtsgeschichtlichen Auswirkungen des Ofener Stadtrechts. Des Weiteren postuliert er u.a. eine kritische Edition des Stadtrechtes unter Einbeziehung aller drei vorhandenen Handschriften, eine Erörterung der Verfasserfrage und der Entstehungsgeschichte. Und obwohl diese Forderungen bereits in den 50er Jahren formuliert wurden, ist es der Sprachgeschichtsforschung bis heute nicht gelungen, sie zu erfüllen. Einzig bzgl. der Verfasserfrage des Ofener Stadtrechtsbuches bietet Mollay eine erste Erklärung an, indem er als Autor einen gewissen Johannes Siebenlinder vermutet, der beste Kenntnisse von Ratsbeschlüssen und den Rechtsgewohnheiten der Stadt besaß. Ausgangspunkt für diese Vermutung ist u.a. die Tatsache, dass sich ein Johannes in der Handschrift selbst nennt: Vindest aber ichtz nutzes darIn, so lob den, der do gelobet wil sein aus der aussprechenden Iungling mund, als der psalterr sagt, Vnd pit got fur mich sunder, sprechende diese wart: Dw solt gedächtig sein des Johannes Zu ewigen zeitenn (Mollay 1959, 22) Auch das Ofener Stadtrecht bietet neben den rechts- und sprachhistorischen Aspekten wertvolle Informationen für die Stadt- und Siedlungsgeschichte. So ist beispielsweise im Stadtrecht abzulesen, dass dem wachsenden Zustrom deutscher Siedler auch rechtlich entsprochen wird, indem dieser Siedlergruppe immer mehr Rechte und Privilegien eingeräumt werden. Ganz abgesehen davon, dass die Kanzlei in Ofen deutsch geführt wird, wird im Ofener Stadtrecht z.B. festgelegt, dass der Stadtrichter »von deutscherr art sey von allem seinem geschlächt« (vgl. Mollay 1959, 67). Dies galt ebenso für den Stadtschreiber und den Geldrichter und im Rat sollte die Verteilung zwischen deutschen und ungarischen Ratsmitgliedern 10:2 betragen: »von alten rechten süllen dy deütschn zehen man Vnd dy Vngeren zwen zu dem Rat erkiesen« (vgl. Mollay 1959, 69). Die ersten deutschsprachigen Drucke stammen aus Westungarn aus dem Jahre 1539 (vgl. Mollay 1986, 113). Weitere deutschsprachige Textsorten der spätmittelalterlichen Kanzleien sind Briefe, die von der öffentlichen Korrespondenz zwischen den Städten zeugen und gleich den Urkunden eine Kommunikationsform zwischen einem Auftraggeber, einem Verfasser und einem Empfänger darstellen (vgl. Ziegler 2003, 266ff.). Des Weiteren finden sich auch einige Zunftbücher, die auf Deutsch geschrieben wurden. Abschließend sollen noch – obwohl nicht dem kanzleisprachlichen Schrifttum im engeren Sinne zuzuordnen – die Denkwürdigkeiten der Helene Kottanerin Erwähnung
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1939 aus dem Nachlass des Gymnasiallehrers Béla Bozsernyik aufgekauft, die er selbst in Siebenbürgen erstanden hatte. Die Budapester Handschrift ist heute in der Budapester Stadtbibliothek aufbewahrt (B 0910/60) und enthält Eintragungen vom Anfang des 16. Jahrhunderts.
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finden, die als die ältesten deutschsprachigen Memoiren gelten, die von einer Frau verfasst wurden. Sie werden einer »den Chroniken9 sehr nahestehenden Erzählprosa« (Bassola 1995a, 12) zugeordnet, die um 1450 entstanden sein dürfte und die Entführung der ungarischen Königskrone aus der Plintenburg / Visegrád im Jahre 1439 zum Inhalt hat. Die Verfasserin, Helene Kottaner, ist eine gebürtige Ödenburgerin, die durch ihre zweite Heirat an den habsburgischen Hof nach Wien kam und somit auch in die Dienste von Elisabeth, Frau von Albrecht IV. und Tochter von Sigismund von Ungarn. Zu den Denkwürdigkeiten gibt es bisher zwei kleinere Untersuchungen (vgl. Bassola 1995a; 1995b) und eine umfangreichere Arbeit (vgl. Ágel 1988), wobei letztere ein Verbvalenzlexikon zu den Denkwürdigkeiten beinhaltet. Der 25 Seiten umfassende Text der Helene Kottanerin, der österreichisch-bairische Dialektmerkmale trägt, wurde 1971 von Karl Mollay ediert und herausgegeben.
4.
Merkmale der deutschen Kanzleisprache in Ungarn
Die einzigen größeren Untersuchungen zur deutschen Kanzleisprache in Ungarn in den gegenwärtigen Grenzen liegen zu den Städten Ödenburg und Ofen – zu letztgenannter Stadt allerdings vorwiegend auf der Grundlage einer Quelle, dem Ofener Stadtrechtsbuch (vgl. Mollay 1959) – vor.10 In Ödenburg entwickelte sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zwischen 1352 und 1450 eine eigenständige städtische Kanzlei und löste die Geistlichen als Schreiber11 ab. Deutsch wurde zur vorherrschenden Sprache. Zu dieser Zeit waren die Stadtschreiber jedoch noch keine gebürtigen Ödenburger, sondern zumeist aus dem österreichischen Sprachraum stammend, wie der erwähnte Johann Ziegler, der 25 Jahre als Stadtschreiber fungiert hat. Es ist ebenfalls nachgewiesen, dass Stadtschreiber ihren Dienstort häufig wechselten, was eine Erklärung für verschiedene sprachliche »Neuerscheinungen« in Quellen darstellen kann. So ist der schon zuvor erwähnte Günser Stadtnotar aus dem Jahre 1528, Wolfgang Traskovitz / Treskovitz, mit dem Ödenburger Stadtnotar Wolfgang Treskwitz (1515–1518) wahrscheinlich identisch. Sprachlich unterscheiden sich unbekannte Schreiberhände in Ödenburger Quellen von den Schriftstücken Zieglers nur gering, was auf eine ähnliche Herkunft, Bildung oder auch auf Schüler Zieglers hinweisen könnte (vgl. Szalai 1979, 12f.). So sind die punktuellen Untersuchungen zur Schreibsprache der Ödenburger Kanzlei ganz im Zeichen der Frage nach den Schreibern, deren Herkunft und Bildung gehalten. Szalais Untersuchung an 63 Urkunden zwischen 1460–1470 hat ergeben, dass die mhd. langen Monophthonge
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Da chronikales Schrifttum vielfach dem Kanzleischrifttum zuzuordnen ist, findet dieser Text an dieser Stelle zumindest Berücksichtigung. Daneben können lediglich Briefe der Stadt, die in anderen städtischen Archiven erhalten geblieben sind, Auskunft bzgl. der Merkmale einer städtischen Kanzleisprache von Ofen bieten. Es ist bekannt, dass seit 1366 die Stadt Ödenburg einen eigenen Stadtschreiber beschäftigte und dieses Amt nicht mehr der Schulmeister, der zugleich auch der Stadtpfarrer war, innehatte (vgl. Szalai 1979, 11f.).
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/i/, /u/ und /iu/ zu /ei/, /au/ und /eu/ diphthongiert wurden, die mhd. Diphthonge /ie/, /uo/ und /üe/ aber geblieben sind, so dass der neu entstandene Diphthong /au/ mit mhd. /ou/ zusammengefallen ist. Des Weiteren kommt es zu einer Unterscheidung von mhd. langem /i/ und /ei/, die als /ei/ und /ai/ fortgeführt werden (vgl. Szalai 1979, 265). Insgesamt lassen die Merkmale somit auf das Bairische, bzw. das südliche Ostoberdeutschen schließen (vgl. Ebert / Reichmann / Wegera 1993, 101f.). Auch Németh hat Ähnlichkeiten zur Kanzlei in Wien festgestellt. Als Beispiel sei hier die Schreibung im Anlaut von , und für nhd. /k/ genannt (vgl. Németh 2005, 51). Hinsichtlich des Konsonantismus sind ansonsten keine größeren Veränderungen zu beobachten. Auch bei der Analyse von Németh zum Ödenburger Gerichtsbuch fällt auf, dass einzelne sprachliche und graphematische Erscheinungen immer mit einzelnen Schreiberhänden einhergehen. Dies lässt den Schluss zu, dass die Kanzleisprache zu einer gegebenen Zeit immer vom jeweiligen Stadtschreiber geprägt und in weiterer Folge von seinen Schülern fortgeführt worden ist. Aufgrund der umfangreich erhaltenen Aufzeichnungen aus Ödenburg ist die Prosopographie der namentlich bekannten Stadtschreiber relativ gut konstruierbar. Die sich hier ergebenden Fakten stimmen dabei ebenfalls mit Ergebnissen sprachhistorischer Analysen überein, die zu dem Schluss kommen, dass hauptsächlich Schreiber aus dem bairischen Sprachraum in Ödenburg gearbeitet haben. Ödenburg kann insgesamt wohl als prototypisches Beispiel für das mittelalterliche Kanzleiwesen in Ungarn genommen werden. Wesentliche sprachliche Unterschiede lassen sich in den westungarischen Kanzleitexten nämlich nicht feststellen. Das Ofener Stadtrecht weist allerdings auch mitteldeutsche Merkmale auf. Bis heute herrscht allerdings keine Einigkeit, wem oder welchem Einfluss diese dialektalen Merkmale geschuldet sind bzw. sein könnten. Erste Vermutungen nahmen einen Einfluss der Prager Kanzlei an, eine Schlussfolgerung die aber nicht haltbar scheint, da in diesem Falle von einer gemeindeutschen Reglung ausgegangen werden müsste, die so nicht nachweisbar ist. Mollay schloss daraus, dass die mitteldeutschen Elemente, die nicht als gemeindeutsch betrachtet werden können, auf eine bodenständige Mundart hinweisen und in weiterer Folge die These einer unbekannten mitteldeutschen Vorlage für das Ofener Stadtrecht untermauern (vgl. Mollay 1959, 16f.). Auf syntaktischer Ebene liefern die bisherigen Untersuchungen keine auffälligen Abweichungen zu den allgemeinen Entwicklungen in der frühneuhochdeutschen Syntax. So finden sich z.B. in den vorliegenden Texten – wie grundsätzlich im Frühneuhochdeutschen – nicht realisierte Verbalklammern, formelhafte Wendungen, keine klare Unterscheidung zwischen Hauptsatz- und Gliedsatz usw.12
12
Zur Syntax der Kanzleisprachen und ihrer Abgrenzung zur frnhd. Syntax vgl. den Beitrag 16 von Schmid / Ziegler.
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5.
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Zusammenfassung und Desiderata
Im vergangenen Jahrhundert gab es ein reges Forschungsinteresse im Rahmen der ungarischen Kanzleisprachenforschung – allen voran sei hier Karl Mollay genannt, der mit der Edition des Ofener Stadtrechts einen Anfang setzte und mit dem Projekt rund um das Wörterbuch des Frühneuhochdeutschen in Ungarn der ungarischen Kanzleisprache besondere Bedeutung beimessen wollte. Es kam aber bisher nicht zur Fertigstellung dieses bereits weit gediehenen Projektes. Vorwiegend waren finanzielle und personelle Gründe für den Abbruch Mitte der 1980er Jahre ausschlaggebend. Eines der großen Desiderata ist daher die Wiederaufnahme und der Abschluss dieses Projektes, dessen Grundlage mit 60.000 Karteikarten bereits geschaffen ist. Es wäre vorstellbar – da Mollay, wie so viele andere der ungarischen Sprachhistoriker, unter Ungarn stets das Ungarn in seinen Grenzen vor 1920 versteht –, dieses Projekt in Kooperation mit Rumänien und der Slowakei fortzusetzen, da der Großteil der Einträge aus Quellen dortiger Kanzleien stammen, und z.B. das Projekt als »Wörterbuch des Frühneuhochdeutschen in Mittelosteuropa« zu führen. In diesem Zusammenhang wäre es auch denkbar, das Frühneuhochdeutsche im gesamten südosteuropäischen Raum zu erfassen und so die vielzitierte historische Sprachkontaktforschung im Zusammenhang mit den ehemaligen deutschen Sprachinseln weiterzuverfolgen. Die deutsch-ungarische Sprachkontaktgeschichte im Sinne der Beschreibung der deutschen Wortentlehnungen im Ungarischen wurde mittlerweile fast erschöpfend aufgearbeitet, wobei allerdings viele Monographien bisher unveröffentlicht geblieben sind (vgl. Maitz 2003, 52f.; Mollay / Bassola 2004, 3222ff.). Abgesehen von diesem länderübergreifenden Projektvorschlag liegt in den gut erschlossenen ungarischen Archiven von Budapest, Ödenburg und KĘszeg noch viel unediertes Material, das auf seine Bearbeitung immer noch wartet. Allein in Ödenburg liegt noch umfängliches kanzleisprachiges Quellenmaterial, das nicht ediert und / oder sprachlich bearbeitet ist und noch für wenigstens eine Forschergeneration ausreichend Arbeit bieten könnte. Ebenso ist, wie zuvor bereits angedeutet, eine kritische Edition des Ofener Stadtrechts unter Einbeziehung aller drei Handschriften ein bisher ausstehendes Desiderat. Mit der gänzlichen Erschließung aller ungarischer Archive, der genauen Erfassung der deutschsprachigen Urkunden, Protokolle, Stadtbücher, Inventare, Testamente usw. ist ein weiteres rezentes Desideratum genannt, dessen Erfüllung einen wesentlichen Beitrag der ungarischen Sprachgeschichtsforschung zur Kanzleisprachenforschung insgesamt leisten kann. Mit der elektronischen Erfassung der mittelalterlichen Urkundensammlung hat das Ungarische Staatsarchiv schon einen ersten Schritt getan. Unter der Webpräsenz http://mol.arcanum.hu/ ist der Link zur Datenbank der Archivquellen des mittelalterlichen Ungarns zu finden, die auch auf Deutsch und Englisch zu benutzen ist. Zur Suche sei allerdings angemerkt, dass – um fündig zu werden – die Signaturen der Quellen bekannt sein müssen und es einer gewissen Einarbeitungszeit bedarf, um sich mit der Handhabung der Datenbank vertraut zu machen. Für weitere Forschungsvorhaben der Kanzleisprachenforschung wäre darüber hinaus eine Bibliographie der bisher erschienenen Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen in Ungarn wünschenswert.
33. Deutsche Kanzleisprache in Ungarn
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Die bisher bearbeiteten Texte wurden hauptsächlich auf graphematischer und phonologischer Ebene untersucht, allein Bassola (1985,1995a, 1995b, 1995c, 1995d, 2003, 2008) und Ágel (1988) haben syntaktische und valenztheoretische Untersuchungen durchgeführt; seltener noch kam es zu morphologischen (vgl. Verbényi 1962) bzw. kaum zu onomastischen Untersuchungen, die sich auf die Kanzleisprache in den Grenzen des heutigen Ungarn beziehen und es mangelt so gut wie gänzlich an pragmalinguistischen sowie soziolinguistischen Studien.
6.
Literatur
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Mária Papsonová, Košice (Slowakei)
34. Die deutsche Kanzleisprache in der Slowakei
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
1.
Einleitung Siedlungsgeschichtlicher Überblick Deutschsprachiges Schrifttum in der Slowakei Zur Erfassung des Quellenmaterials Zur Erforschung der Kanzleisprache Dialektgeographische Charakteristika der deutschen Kanzleisprache in der Slowakei Literatur
Einleitung
Verlässliche Quellen, die sich auf das Gebiet der heutigen Slowakei bzw. auf die slawischen Vorfahren der späteren Slowaken beziehen, stammen aus dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts und sind – wie in weiten Teilen des damaligen Europas üblich – lateinisch abgefasst. Als offizielle Amtssprache gilt das universale Latein auf dem Gebiet, das nach dem Zerfall des Großmährischen Reiches (907) bis zum Ausgang des 11. Jahrhunderts nach und nach dem Königreich Ungarn angeschlossen wurde, bis weit in die Neuzeit. Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts setzt sich daneben das Deutsche als Verschriftlichungssprache durch, das bald die Oberhand gewinnt und auch in den Drucken des 16. bis 19. Jahrhunderts stark vertreten ist. Der allmähliche slowakisierende Prozess ist im schriftlichen Verkehr der Städte mit überwiegend slowakischer Bevölkerung im 15.–16. Jahrhundert, in den Gebieten mit zusammenhängender deutscher Besiedlung erst im 18. Jahrhundert zu verzeichnen. Die Sprache der herrschenden Ethnie wird im multinationalen Ungarn vor allem im Zuge der verstärkten Madjarisierung um 1840 zur einzigen offiziellen Staatssprache.
2.
Siedlungsgeschichtlicher Überblick
Bis zum Zerfall der Donaumonarchie blieb das Gebiet, für das sich die Benennungen ungarisches Oberland bzw. Ober-Ungarn (Provincia superior) eingebürgert haben, die jedoch keineswegs der historisch-administrativen Zuordnung entsprechen (vgl. Papsonová 2003, 15, Anm. 1), Bestandteil Ungarns, in den Jahren 1918 bis 1992 gehörte die Slowakei – mit Ausnahme der fragwürdigen Selbständigkeit von 1939 bis 1945 – zu den verschiedenen Staatsformen der Tschechoslowakischen Republik, als ein souveräner Staat besteht die Slowakische Republik erst seit dem 1. Januar 1993.
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Neben der alteingesessenen (Slowaken) bzw. später hinzugekommenen slawischen Bevölkerung (Walachen-Ruthenen) und der herrschenden madjarischen Ethnie haben die wirtschaftliche wie kulturelle Entwicklung dieser Region vor allem die Siedler aus verschiedenen Teilen des geschlossenen deutschen Sprachgebietes entscheidend geprägt. Die ersten Adeligen, Ritter, Beamten, zum Teil auch Soldaten, Bürger und Handwerker kamen schon unter König Stephan I. (997–1038) im Gefolge seiner bairischen Gemahlin Gisela ins Land; die Zuwanderung von Rittern, einzelnen Adeligen, vor allem aber Priestern dauerte auch unter seinen Nachfolgern an. Die ersten planmäßig angelegten Kolonisationen wurden unter König Geisa II. (1141–1162) vorgenommen, der vor allem die Einwanderung deutscher Handwerker und Bauern förderte. Aus diesem Zug, der hauptsächlich von Angehörigen mitteldeutscher Stämme bestimmt wurde und von Norden den süddeutsch-bairischen Siedlern entgegenkam, bezogen die Ober- und Unterzips sowie die niederungarischen (mittelslowakischen) Bergstädte ihre ersten Siedler. Der Hauptstrom der Hospites aus schlesischen und bairisch-österreichischen Gebieten setzte nach dem verheerenden Mongolensturm (1241 / 42) ein, nach dem König Adalbert (Béla) IV. (1235–1270) genötigt war, das verwüstete Land nachzusiedeln und neu zu organisieren. Unter seiner Herrschaft nimmt im 13. Jahrhundert auch eine durchdachte Städtegründung ihren Anfang (vgl. Hutterer 1991, 127ff.). Gegen Ende des 14. Jahrhunderts hörte die deutsche Einwanderung allmählich auf, kleinere Gruppen von Siedlern aus verschiedenen Teilen des Mutterlandes, aber auch aus Mähren und Böhmen sind jedoch bis zum 19. Jahrhundert zu verzeichnen. Die von ungarischen Herrschern durch umfangreiche Freiheiten ausgestatteten deutschen Gäste haben bald nach ihrer Niederlassung wichtige gesellschaftliche Positionen erworben und die ursprüngliche Bevölkerung aus den wichtigsten Sphären (Handel, Handwerk, Bergbau, Verwaltung, Rechtssprechung) auf mehrere Jahrhunderte verdrängt. Auf dem Gebiet der heutigen Slowakei wurden drei Regionen kompakt besiedelt: die an das geschlossene deutsche Sprachgebiet Niederösterreichs angrenzende Südwestslowakei (Zentrum: Pressburg / Bratislava), das westkarpatische Bergbaugebiet, dessen Sprache auch Pergstädterisch genannt wird (die niederungarischen Bergstädte, Zentren: Schemnitz / Banská Štiavnica, Kremnitz / Kremnica) und die Zips, wo im Zuge eines komplizierten, langwierigen Kolonisierungsprozesses drei Ansiedlungsgebiete entstanden: die Oberzips (Leutschau / Levoþa, Kesmark / Kežmarok), die Unterzips bzw. Zipser Gründe (Dobschau / Dobšiná, Göllnitz / Gelnica, Schmöllnitz / Smolník) und die nördliche Zips (Altlublau / Stará ďubovĖa, Pudlein / Podolínec). Eine führende Rolle in der mittelalterlichen Slowakei spielte von Anbeginn die in sich abgeschlossene Kommunität der Oberzipser Sachsen, die bereits im Jahre 1243 von König Béla IV. gemeinsame, für das ganze Gebiet und für alle verbindliche Privilegien erhielten, die zur Grundlage der späteren umfangreichen Rechte Stefans V. (1271) wurden. Aus dieser Urkunde geht hervor, dass die Neusiedler sämtlich frei waren und alle demselben (Grafen)gericht unterstanden. Die Provinz (Communitas Saxonum de Scepus), später auch als Bund der XXIV Zipser Städte bekannt, war von Anfang an selbständig und hatte ihren eigenen Sitz – civitas provinciae capitatis (Leutschau). Im Raum von Pressburg, das in großmährischer Zeit Grenzfestung und ein wichtiges Kirchenzentrum war und bereits 907 das erste Mal urkundlich erwähnt wird (Brezalaus-
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purc), erfolgte die Einwanderung von Deutschen unmerklich in der Folge der Kolonisation Niederösterreichs. Wie in der Zips ist auch hier in erster Linie von einer bäuerlichen und bergbäuerlichen Besiedlung auszugehen, mit der wirtschaftlichen Expansion der neugegründeten Städte setzt sich jedoch immer stärker das bürgerliche Element durch, das in der Folgezeit einen dominanten Einfluss in Wirtschaft, Kultur und Sozialstruktur der städtischen Gemeinschaft ausübt. Die Entfaltung der niederungarischen Bergstädte haben vor allem der Bergbau und die daran anschließenden Produktionszweige entscheidend geprägt. Schemnitz ist als Bergstadt bereits 1217 nachgewiesen, die ersten Vermerke über die Neusiedler stammen aus der Zeit kurz nach der Erteilung der Privilegien (Schemnitz 1237 / 38, vgl. Vozár 2001, 15; Kremnitz 1328, vgl. ýelko 2004, 7), mit denen den Sesshaften sowie den deutschen Gästen dieselben Stadt- und Rechtsfreiheiten zuerkannt werden wie denen in böhmischen Bergstädten (Iglau / Jihlava, Kuttenberg / Kutná Hora). Die aus Kuttenberg eingewanderten deutschen Siedler haben maßgebend zur Errichtung der Kremnitzer Prägestätte beigetragen, die schon kurz nach 1328 Silber- und Goldmünzen prägte und bis heute als die älteste ununterbrochen produzierende Einrichtung dieser Art in Europa gilt. Mit der Erschließung der reichen Bodenschätze in den Karpaten ist auch die Geschichte der oberungarischen (ostslowakischen) Bergstädte in der Unterzips eng verbunden, die durch königliche Privilegien (Göllnitz 1264, Dobschau 1326, vgl. Protze 2002, 15) in den Rang freier Bergstädte erhoben wurden. Im Zuge der spätmittelalterlichen Siedlerbewegung verwandelte sich das ursprünglich reine Agrargebiet in ein wirtschaftlich hochentwickeltes Land mit blühendem Handel und Bergbau, fortschrittlicher handwerklicher und landwirtschaftlicher Produktion und mit einer reichen städtischen Kultur. Um ein Gegengewicht zu den immer stärkeren Feudalherren zu schaffen, hat Sigismund in seinem 1405 erlassenen Dekret bestimmten Städten den so genannten Reichsstatus zuerkannt und sie damit zum Landesstand erhoben. Aufgrund dieses königlichen Erlasses schlossen sich die Städte zu territorialen Verbänden zusammen: Bereits 1405 wird der Bund von sechs mittelslowakischen Bergstädten erwähnt (Kremnitz, Schemnitz, Neusohl / Banská Bystrica, Libethen / ďubietová, Pukanz / Pukanec, Königsberg / Nová BaĖa, seit 1466 auch Diln / Banská Belá), etwa gleichzeitig entsteht der Bund von fünf ostslowakischen Städten, die so genannte Pentapolis (Kaschau / Košice, Leutschau / Levoþa , Bartfeld / Bardejov, Eperjes / Prešov, Sabinov / Zeben) sowie der Verband der sieben oberungarischen Bergstädte (Göllnitz / Gelnica, Schmöllnitz, Rosenau / RožĖava, Zipser Neudorf / Spišská Nová Ves, Joos / Jasov, Rudabánya, Telkibánya, die beiden letztgenannten heute in Ungarn). Nicht zu diesem Bund gehörte Dobschau, das als privilegierte Bergstadt ihre Freiheiten immer wieder gegenüber den Grundherren verteidigen musste. Keinen territorialen Bund bildeten dagegen die so genannten Tavernikalstädte (Ofen / Buda, Kaschau / Košice, Pressburg / Bratislava, Tyrnau / Trnava, Ödenburg / Sopron, Bartfeld / Bardejor, Pest), die sich seit den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts enger zusammenschlossen, ihren eigenen Oberhof (Ofen) hatten und im politischen Leben des ungarischen Königreiches eine immer größere Rolle spielten. Es handelte sich vielmehr um die bedeutendsten, zumeist im Grenzgebiet des Reiches gelegenen Zentren des Transit- und Außenhandels, die neben dem Stapelrecht über weitere wichtige Freiheiten verfügten (vgl. Papsonová 2004).
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Seit 1405 wurden alle Städte, die den Reichsstatus erhielten, zu den Landtagen eingeladen und ihre Bürger zählten nicht als Leibeigene. In den auf dem Gebiet der Slowakei gegründeten Städten (im 13. Jahrhundert etwa 30 Gründungen) konnten allerdings bis 1608 nur die Deutschen zu Ringbürgern werden, d. h. das Zunft- und Bürgerecht erwerben. Nachdem die Türken in der Schlacht bei Mohács (1526) das ungarische Heer vernichtet und anschließend weite Teile des Landes besetzt hatten, wurde das Oberland zum wichtigsten Teil Ungarns und Pressburg zur Haupt- und Krönungsstadt. Erst die aus den besetzten Teilen hierher geflüchteten Adeligen erzwangen 1608 einen Landtagsbeschluss, dem zufolge die oberungarischen Städte auch Nichtdeutschen das Bürgerrecht gewähren und Sitze im Rat einräumen mussten.
3.
Deutschsprachiges Schrifttum in der Slowakei
Mit der Entfaltung der Städte entwickelt sich auf dem Gebiet der Slowakei ein eigenes Kanzleiwesen. Während man anfangs auf die Dienste der Gelegenheitsschreiber zurückgriff und die von ihnen angefertigten Urkunden mit dem jeweiligen Stadtsiegel bestätigen ließ, wurden im Verlauf des 14. Jahrhunderts Kanzleien mit dem eigenen Schreiber (scriptor) gegründet. In Kremnitz ist das Amt des Stadtschreibers bereits 1342 belegt, in Pressburg seit dem Jahre 1364, in Kesmark 1368 bzw. 1399, in Leutschau erst 1447 (vgl. Ziegler 1999a, 13; Žifþák 2008, 71). Die Skriptoren, über deren Herkunft und Ausbildung wenig bekannt ist, gehörten zu angesehenen, vermögenden Bürgern und übten zumeist auch die Funktion des Notars (notarius) aus, in Pressburg waren sie über mehrere Jahrhunderte hinweg Stadtkämmerer (vgl. Piirainen 1995, 76). Die im ausgehenden 13. Jahrhundert stark zunehmende Beurkundung lässt die Vermutung zu, dass die deutschen Siedler nicht nur ihr Recht, neue Arbeitsweisen und -techniken, die ausgereifte Organisation des Bergbaus, Handels und der Zünfte, der städtischen Verwaltung etc. aus ihrem Mutterland mitgebracht haben, sondern auch den Brauch, die für ihr Leben in der neuen Heimat wichtigen Vorgänge von rechtserheblicher Natur schriftlich festhalten zu lassen. So bestätigt die älteste Urkunde aus dem Jahre 1209, die sich auf das Gebiet der Zips bezieht, die Übertragung der Ländereien unter dem Schneegebirge (der Hohen Tatra), deren Grundherr bis zu diesem Jahr der Bamberger Bischof Eckbert von Andechs war, auf den Zipser Probst Adolf und dessen Schwester (Marsina 1971, Nr. 154). Im ältesten Schriftstück aus dem Jahre 1251, das auf die Anwesenheit der deutschen (und madjarischen) Kolonisten in der Oberzips hinweist, geht es um die Schenkung der sächsischen Gemeinde an der Kirche der heiligen Elisabeth (villam Saxorum apud ecclesiam sancte Elisabeth) in dem Marktflecken, der 1269 bereits unter dem deutschen Namen Kasmark erscheint (vgl. Varsik 1974, 16ff.). Ebenso beziehen sich weitere Urkunden, in denen andere Oberzipser Orte und Gemeinden erstmalig erwähnt sind, sowohl auf die alteingesessene Bevölkerung in verschiedensten Zusammenhängen, als auch auf die Neusiedler (saxones de...; vgl. BeĖko 1985, 141ff.). Für das älteste deutschsprachige Schriftstück der Slowakei wird die im Stadtarchiv von Kaschau aufbewahrte Pergamenturkunde der Kürschner gehalten, die als überhaupt erster Beleg der Zunftorganisation nicht nur im Oberland, sondern im gesamten Großun-
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garn gilt, in einer Abschrift aus dem Jahre 1448 überliefert ist (vgl. Skála 1983, 70) und als einziger deutschsprachiger Text in den ersten Band des slowakischen Regestariums aufgenommen wurde (vgl. Sedlák 1980, 224f.). Die eingehende linguistische Analyse der Urkunde hat jedoch die Annahme der Historiker bestätigt und erwiesen, dass der mit der (ursprünglichen) lateinischen Datierung 1307 versehene (im Regestarium abgedruckte) Textteil erst bei der Erweiterung der Satzungen im Jahre 1448 nach der lateinischen Vorlage ins Deutsche übersetzt wurde (vgl. Papsonová 1987b). Die erste eindeutig datierte und in Pressburg ausgefertigte deutschsprachige Urkunde stammt aus dem Jahre 1346 (vgl. Ziegler 1999a, 14), das älteste überlieferte deutschsprachige Schriftstück der abgeschlossenen Oberzipser Kommunität erst aus dem Jahre 1385. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nehmen die deutschen Urkunden in den städtischen Kanzleien sprunghaft zu, im 15. Jahrhundert wird das Deutsche noch neben dem Lateinischen benutzt (allein für die Zeit bis 1500 sind im Stadtarchiv von Pressburg 2 224 deutschsprachige Briefe und Urkunden inventarisiert, vgl. Ziegler 1999a, 13f.), um im 16. Jahrhundert zur dominanten Kanzleisprache zu werden. Besonders zahlreich sind in den Archivbeständen der Slowakei handgeschriebene Bücher vertreten: Die erhaltenen Rechnungs-, Steuer-, Testamenten-, Berg-, Kammerbücher, Ratsprotokolle, Rechts-, Gerichts- und Stadtbücher ermöglichen wichtige Einblicke in alle Lebensbereiche der spätmittelalterlichen Gemeinschaft. In den Stadtbüchern wurden Ratssitzungen protokolliert, Erbangelegenheiten und Schuldverschreibungen der Familien verzeichnet, Grundbucheintragungen vorgenommen und die wichtigsten Ereignisse der Stadt (kriegerische Auseinandersetzungen, Pestepidemien, Unwetter, Brände, Verbrechen, ...) festgehalten. Neben den Abschriften königlicher Urkunden, Zunftsatzungen und anderer wichtiger Dokumente sind in den Stadtbüchern oft ganze Rechtssammlungen zu finden. So enthält das älteste, im westslowakischen Sillein / Žilina zwischen 1378 und 1561 entstandene Stadtbuch (vgl. Piirainen 1972) neben Einzeleintragungen des Silleiner Rates die älteste auf dem Gebiet der Slowakei komplett überlieferte deutschsprachige Kodifizierung: Für die 1378 angefertigte umfangreiche Kompilation aus mehreren Quellen des schlesischen Rechtskreises, deren Herkunft nicht eindeutig zu bestimmen ist, hat sich in der Fachliteratur die Benennung Magdeburger Recht eingebürgert. Der landrechtliche Teil der deutschsprachigen Vorlage wurde fast ein Jahrhundert später, im Jahre 1473, in die geographisch und genealogisch nächstliegende Sprache, ins Tschechische mit dialektalen Einflüssen des Slowakischen übertragen. Das dreisprachige Silleiner Rechtsbuch (Latein, Deutsch, Tschechisch) stellt somit nicht nur eines der frühesten Zeugnisse der Verschriftlichung in der landeseigenen Volkssprache dar, sondern es ist gleichzeitig ein einmaliges Zeugnis der hohen Bildung der Schreiber sowie des kulturellen, wirtschaftlichen wie sprachlichen Zusammenlebens verschiedener Ethnien im städtischen Milieu des Spätmittelalters im mitteleuropäischen Raum (vgl. Papsonová 2003). Wie der Silleiner Kodex weist auch die andere bedeutende Gesetzsammlung, das bei weitem nicht so umfangreiche, sprachlich viel einfachere und verständlichere Landrecht der abgeschlossenen Zipser Stadt-Land-Siedlung auf das Jahr 1370 zurück. Dieses autonome, ebenfalls auf dem Magdeburger Recht basierende Rechtbüchlein, seit dem 16. Jahrhundert Willkür genannt, das in zahlreichen Abschriften (15. bis 18. Jahrhundert,
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
mit zwei Ausnahmen in verschiedenen Stadt- und Protokollbüchern) überliefert ist, bildete für Jahrhunderte die Grundlage einer besonderen politisch-wirtschaftlichen Einheit der Zipser Kommunität und wurde nicht nur von der deutschen, sondern von der gesamten Bevölkerung der Oberzips, 1299–1460 auch von den bedeutendsten Städten (Eperjes / Prešov, Sabinov / Zeben, Groß-Scharosch / VeĐký Šariš) im benachbarten Komitat Scharosch benutzt (vgl. Piirainen / Papsonová 1992; Papsonová 1997). In zehn Abschriften ist das Schemnitzer Stadt- und Bergrecht erhalten, dessen bergrechtlicher Teil für die überhaupt älteste Bergrechtskodifizierung auf slowakischem Gebiet gehalten wird; der älteste überlieferte Text aus dem Jahre 1466 ist im 1432 angelegten Stadtbuch enthalten (vgl. Piirainen 1986, 15). Ebenso sind die stadt- und bergrechtlichen Bestimmungen der Kremnitzer Kodifizierung – mit dem Jahr 1492 anfangend – an mehreren Stellen des zwischen 1426 und 1700 geführten Stadtbuches verzeichnet worden (vgl. ýelko 2004, 14). Die Eintragungen des Stadtbuches von Zipser Neudorf, das eine Abschrift der Zipser Willkür enthält, beginnen bereits 1383 (vgl. Weinelt 1940), des überwiegend auf Latein verfassten ältesten Stadtbuchs von Kaschau 1393. Im Kaschauer Stadtarchiv befindet sich auch eine umfangreiche Abschrift des Schwabenspiegels aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (vgl. Meier / Piirainen 2000). Als »absolute Rarität [...] – auch für den geschlossenen deutschen Sprachraum« (Ziegler 1999a, 15) ist die Tatsache zu werten, dass im Stadtarchiv von Pressburg in der Sammlung Actionale Protocollum 221 umfangreiche, seit 1402 bis zum Jahr 1938 kontinuierlich in deutscher Sprache aufgezeichnete Bände inventarisiert sind und dass die Sammlung der so genannten Kammerbücher, die detaillierte Angaben über Ausgaben und Einnahmen der Stadt enthalten, 466 handgeschriebene Bücher zählt (vgl. Piirainen 1993). Wertvolle Stadtbücher, die in erster Linie die Tätigkeit des Stadtrates dokumentieren und über den Alltag sowie über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Bürger Auskunft geben, werden jedoch in den Archiven der meisten slowakischen Städte aufbewahrt. Unter den chronikalischen Werken, die ebenfalls eine wichtige Quelle zur besseren Erkenntnis der spätmittelalterlichen slowakischen Geschichte darstellen, nehmen die in der Zips niedergeschriebenen Chroniken einen besonderen Platz ein. So berichtet die nach dem Fund- und Aufbewahrungsort so benannte Georgenberger Chronik (Georgenberg / Spišská Sobota), die um die Mitte des 15. Jahrhunderts von einem unbekannten Schreiber verfasst wurde und ursprünglich mit der ältesten überlieferten Handschrift des Zipser Landrechts einen gemeinsamen Kodex bildete, über mehrere Ereignisse der Zipser Geschichte (so über die Niederlassung der Saxen, Gründung des Stadt Leutschau und andere Vorkommnisse), die andere zeitgenössische Chroniken nicht kennen (vgl. Sopko 1995, 21). Die wohl aus einer älteren (heute nicht überlieferten) Quelle stammenden, für die Zeitspanne 1400–1457 auf eigener Erfahrung des Verfassers basierenden Angaben wurden auch in spätere Chroniken übernommen, die vermuten lassen, dass der in Georgenberg entdeckte Text in mehreren Fassungen vorlag. So wie die Georgenberger Handschrift beziehen sich die viel umfangreicheren, im 16. und 17. Jahrhundert von angesehenen Bürgern und Amtspersonen (Richter, Ratsherr, Stadtschreiber, Schulrektor, Pfarrer) der Zips niedergeschiebenen chronikalischen Werke (Konrad Sperfogel, Daniel Türck, Georg Moller, Kaspar Hain, Joachim und Israel Leibitzer, Georg Buchholtz)
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nicht nur auf die Zips, sondern sie verzeichnen oft auch die wichtigen politischen und militärischen Ereignisse von gesamtungarischer Bedeutung. Hinsichtlich der Vielfalt der Textsorten (vgl. Meier 1999; Piirainen 1994; 1995; Ziegler 1999b) sowie der Zahl der spätmittelalterlichen Handschriften lässt sich die Situation in den meisten slowakischen Städten mit der im geschlossenen deutschen Sprachgebiet vergleichen. Auch wenn die Deutschen auf dem Gebiet der Slowakei immer eine Minderheit bildeten und ihre Zahl auch in der Hochzeit der Besiedlung nicht höher als auf 200 000 bis 250 000 geschätzt wird (etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung, vgl. Grothe 1943, 25), stellt die Slowakei in Bezug auf die Geschlossenheit und Relevanz ihrer deutschsprachigen Überlieferung eine der reichsten Regionen Ost- und Mitteleuropas mit einer betont übernationalen Bedeutung dar (vgl. Skála 1983, 69).
4.
Zur Erfassung des Quellenmaterials
Abgesehen von der Tatsache, dass viele in den Urkundenbüchern des 19. Jahrhunderts verzeichneten Quellen in den Wirren der beiden Weltkriege verloren gegangen sind oder auch noch nach 1945 vernichtet wurden, befindet sich ein beträchtlicher Teil der auf dem Gebiet der Slowakei entstandenen Handschriften außerhalb des Landes. Da es bis 1918 keine selbständige Verwaltungseinheit bildete, gelangten bei verschiedenen Zentralisierungs- und Reorganisierungsmaßnahmen oft ganze Kodexsammlungen in andere Institutionen des damaligen Großungarns bzw. der Doppelmonarchie. So wird die aus der Pfarrkirche in Leutschau stammende Kodexsammlung in Rumänien (Alba Iulia, Bátthyanéum) aufbewahrt, die Sammlung der bis jetzt identifizierten Handschriften der Zipser Kartäuser von der Universitätsbibliothek in Budapest verwaltet, während die slowakische Nationalbibliothek in Martin eine einzige mittelalterliche Handschrift (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts) aus diesem Kloster (Rotes Kloster / ýervený Kláštor) besitzt, in dem gelehrte Pater des Kamaldulenserordens zwischen 1756 und 1759 die erste vollständige Übertragung der Heiligen Schrift ins Slowakische angefertigt haben. Ein ähnliches Schicksal traf nicht nur die meisten ursprünglich in den Pfarrkirchen und -häusern aufbewahrten Sammmlungen, sondern auch den Großteil der schriftlichen Produktion der niederungarischen (mittelslowakischen) Bergstädte. Über die tatsächlichen Bestände der slowakischen Archive gab es lange keinen Überblick, die vorhandenen älteren Kataloge, die zumeist nur den Interessen der Historiker entgegenkamen, ließen oftmals die Sprache der aufgelisteten Quellen nicht erkennen. Da an ihrer Erfassung, Aufbewahrung und Erschließung nach 1945 in der Slowakei kaum Interesse bestand, werden die Bestände erst in den letzten Jahrzehnten unter Heranziehung älterer Findbücher und Verzeichnisse neu bearbeitet und somit der Forschung zugänglich gemacht. Einen umfassenden Überblick über die deutschsprachigen Handschriften-Bestände des Mittelalters und der frühen Neuzeit bietet vor allem die Publikation Deutschsprachige Handschriften in slowakischen Archiven. Von den Anfängen bis zur Frühen Neuzeit (vgl. Meier / Piirainen / Wegera 2009). Im Ergebnis des großangelegten, an der Universität Bochum realisierten Projektes werden unter intensiver Mitwirkung der besten slowakischen Archivare annotierte Verzeichnisse der in
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
den wichtigsten Archivbeständen des Landes aufbewahrten Urkunden dargeboten. Die nach den historischen Siedlungsgebieten (West-, Mittel- und Ostslowakei) gegliederten drei Teilbände erleichtern somit nicht nur die Arbeit der Forscher wesentlich, sondern machen erneut auch auf das reichhaltige Quellenmaterial aufmerksam, das die slowakischen Archive bergen.
5.
Zur Erforschung der Kanzleisprache
Mit Bezug auf die 1000 Jahre dauernde administrative und politische Unselbständigkeit des Landes sind es bis zum Zerfall der k.u.k. Monarchie vor allem ungarische und deutsche Forscher, die sich der Erschließung der aus der heutigen Slowakei stammenden Schriftdenkmäler annehmen. So stellt das zwischen 1829 und 1844 von György Fejér herausgegebene 43-bändige Urkunden- und Regestenbuch Codex diplomaticus Hungariae ecclesiasticus ac civilis die größte und meist gebrauchte Edition der mittelaterlichen Kanzleisprache dar, das gleiche gilt für die vierbändigen Analecta Scepusii sacri et profani (1774, 1778) von Karl Wagner, die bis heute nicht übertroffene Quellenedition zur Geschichte der Zips. Im 19. Jahrhundert entstehen auch die ersten Arbeiten, die sich mit der Geschichte der überwiegend von Deutschen bewohnten Regionen der heutigen Slowakei befassen (Johann Kachelmann, Samuel Weber) bzw. Abdrucke der hier überlieferten deutschsprachigen Handschriften vorlegen (Béla Iványi, Johannes Bárdossy, Kalman Demkó, Gustav Wenzel) (vgl. Papsonová 1987a; Piirainen 1995; Bassola 2001; Ziegler 2003). Das nach 1918 verstärkt einsetzende Interesse an Geschichte, Kultur und Sprache der Deutschen in der Slowakei hängt mit der Entdeckung dieser beinahe vergessenenen Minderheit im Rahmen der neu entstandenen Tschechoslowakei zusammen, ist größtenteils deutsch-böhmisch initiiert und von den an der Prager deutschen Universität wirkenden Professoren (Ernst Schwarz, Erich Gierach) angeregt. Die in diesem Umfeld entstandenen Arbeiten sind nicht frei von Tendenzen, die Ergebnisse historischer und philologischer Untersuchungen für die Idee eines kulturbringenden Deutschtums zu interpretieren und die Rolle der deutschen Besiedlung beim Aufbau einer bodenständigen Kultur zu überbewerten. Dies gilt auch für die 1938 erschienene Monographie Herbert Weinelts Die mittelalterliche deutsche Kanzleisprache in der Slowakei, die trotz der berechtigten Einwände bis heute den einzigen Versuch einer Gesamtdarstellung über die Entwicklung der Schreibsprache in diesem historischen Gebiet darstellt. Auch in seiner zweiten Arbeit (1940) weist Weinelt mit Nachdruck auf die Notwendigkeit der linguistischen Untersuchung der slowakischen Quellen hin, die sich mit denen aus dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet, aus Böhmen, Mähren und Schlesien vergleichen lassen. Nach 1945 erschienen im deutschsprachigen Ausland vorerst populärwissenschaftliche Darstellungen von dem bis zum Kriegsende an der Pressburger Universität wirkenden Gerhard Eis und seiner Schule (P. Rainer Rudolf, Eduard Ulreich, Fritz Zimmermann, vgl. Papsonová 1987a, 203f.). In der Slowakei selbst staubten die von den Ereignissen des Krieges verschonten, oft nicht katalogisierten und ungeeignet gelagerten Handschriftensammlungen erst lange vor sich hin – im Zeichen des Aufrufes »Weg mit
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dem Alten!« ließ man Zeugnisse materieller und geistiger Kultur verfallen und die Slowakei als ein in der Vergangenheit rückständiges Gebiet erscheinen, dessen Entfaltung frühestens 1945 beginne. An der Aufarbeitung der Geschichte und jener Kapitel in der Entwicklung des Landes, in denen es zuweilen eine europäische Bedeutung hatte, bestand von Seiten offizieller Stellen kein Interesse, zumal man dabei den Anteil anderer Völker, darunter auch (und besonders) der Deutschen, schwer hätte umgehen können. Erst das Tauwetter der 1960er-Jahre bringt die Neuanfänge der Beschäftigung mit den auf dem Gebiet der Slowakei entstandenen Schriftquellen. Die slowakische Historiographie ist bemüht, diese in den ausländischen Archivbeständen und Sammlungen zu identifizieren und den Anteil aller Ethnien an der Entfaltung des Landes zu erforschen, wobei tendenziös-nationalistische Positionen früherer Untersuchungen kritisch hinterfragt werden. In diese Zeit fallen auch die eher zaghaften Ansätze philologischer Beschäftigung mit deutschsprachigen Handschriften (und den deutschen Reliktmundarten) – die wenigen in den 1980er-Jahren vorgelegten Dissertationen zur Kanzleisprachenforschung (ďudmila Kretterová, Mária Papsonová, Irena Vaverková) hat die slowakische Germanistik vor allem der Autorität, wissenschaftlichen Betreuung und Unterstützung des an der Comenius-Universität Bratislava wirkenden Professors Viliam Schwanzer zu verdanken. Seit den 1960er-Jahren werden auch von ungarischen Germanisten (Karl Mollay, Sándor Gárdonyi, Claus Jürgen Hutterer) die größtenteils in Budapest aufbewahrten Denkmäler der mittelslowakischen Bergstädte linguistisch aufgearbeitet und unter sprachgeographischem Aspekt beschrieben (zu den Arbeiten der hier sowie unten Genannten vgl. Papsonová 1987a und besonders Meier / Ziegler 2002). Unter der Leitung von K. Mollay wurde das Projekt eines Wörterbuchs des Frühneuhochdeutschen in Ungarn in Angriff genommen, das das ganze ehemalige ungarische Königreich im Zeitraum 1350 bis 1686 erfassen sollte, aus finanziellen Gründen jedoch unterbrochen wurde (vgl. Bassola 2001, 196). Seit seinem ersten, 1969 realisierten Studienaufenthalt forscht der bis 2006 an den Universitäten Bochum und Münster tätige Ilpo Tapani Piirainen (bis 1993 im Rahmen des Kulturabkommens zwischen Finnland und der Tschechoslowakei) jährlich in slowakischen Archiven. Als Ergebnisse dieser Aufenthalte sind – zum Teil in Zusammenarbeit mit anderen Sprachgeschichtsforschern (Meier, Papsonová, Skála, Ziegler) – buchstabengetreue Abdrucke mehrerer wichtiger Stadt- und Rechtsbücher der Slowakei vorgelegt und zahlreiche Beiträge zum Frühneuhochdeutschen in diesem historischen Gebiet veröffentlicht worden (vgl. Meier / Ziegler 2002). Die Qualifikations- sowie weitere relevante Arbeiten von Piirainens Schülern Jörg Meier und Arne Ziegler gehen bereits weit über den Rahmen der traditionellen sprachgeographischen, textsortenspezifischen Untersuchungen hinaus und konzentrieren sich verstärkt auf soziopragmatische und soziolinguistische Aspekte der frühneuhochdeutschen Sprachperiode in der Slowakei, die mit ihren Denkmälern der deutschen Sprache als ein integrativer Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte erscheint (vgl. Ziegler 2003, 64). Die gesellschaftspolitischen Veränderungen der 1990er-Jahre haben neue Möglichkeiten einer solchen interdisziplinär und kulturhistorisch orientierten Sprachgeschichtsforschung nicht nur für ausländische, sondern auch für slowakische Germanisten eröff-
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net. Die Tatsache, dass der Anteil der Letztgenannten an der Erforschung der deutschen Kanzleisprache in der Slowakei auch nach dem Wegfall nationalpolitischer und ideologischer Tabuisierungen eher bescheiden bleibt (vgl. Hrašna, Kretterová, Papsonová in Meier / Ziegler 2002), hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen, u. a. mit dem immer noch sehr widersprüchlichen Verhältnis der Slowaken zu ihrer eigenen Geschichte. Nicht selten konnte man bis vor Kurzem der Behauptung begegnen, dass sie eigentlich keine bzw. nur eine plebejische, von Maurern, die Wien und Budapest miterbaut haben, geschriebene Geschichte ohne eigene Könige hätten. Die Zeit ab dem Zerfall des Großmährischen Reiches bis zur Auflösung der Donaumonarchie wurde mit der Bezeichnung tausendjährige Fremdherrschaft abgetan und nicht unbedingt auch als slowakische Geschichte aufgefasst. Zu dieser Einstellung hat unbestritten auch die traditionelle ungarische Historiographie beigetragen, deren Interpretation der Vergangenheit mit der Idee der ungarischen und madjarischen Staatlichkeit fest verbunden war und die dieses undifferenzierte Herangehen lange auch den ausländischen Fachkreisen wirkungsvoll zu präsentieren wusste. Erst im Zuge der Wende verlauten aus slowakischen Fachkreisen immer nachdrücklicher Stimmen, dass an der kulturellen und wirtschaftlichen Entfaltung des Königreichs Ungarn auch die Angehörigen der nicht-dominanten Ethnien einen nicht unbedeutenden Anteil hatten und auch dazu beitrugen, dass sich moderne europäische Nationen entwickelten. Im Zusammenhang mit der Entstehung der Slowakischen Republik (1. Januar 1993) und der Suche nach der neuen historischen Identität wird für die Zeit der administrativpolitischen Unselbständigkeit des Landes von der Forschung die Bezeichnung ungarische Etappe der slowakischen Geschichte (uhorské obdobie slovenských dejín) geprägt. Mit diesem Wandel geht das gesteigerte Interesse an überlieferten mittelalterlichen Quellen einher, die auf dem Gebiet der Slowakei entstanden sind, sich in irgendeiner Weise auf dieses Gebiet beziehen, die hier erfolgten historischen Ereignisse schildern, die von hier stammenden Persönlichkeiten erwähnen und Ähnliches. Um in der ungarischen Vielvölker-Geschichte Schritt für Schritt die slowakische zu finden, müssen also auch die deutschsprachigen Dokumente, die den Großteil der schriftlichen Produktion des Landes ausmachen, herangezogen, unvoreingenommen ausgewertet und der Öffentlichkeit präsentiert werden. Es zeigt sich jedoch, dass die vorliegenden, mit informationsreichen Begleittexten versehenen Editionen auf einen kleinen Kreis der sachkundigen Benutzer beschränkt bleiben, denn die inhaltliche Interpretation der historischen Texte setzt eine gute Kenntnis der entsprechenden Entwicklungsstufe der jeweiligen Sprache (des Frühneuhochdeutschen mit all seinen Spezifika) voraus. Nicht so sehr durch offizielle Institutionen veranlasst oder gefördert, als vielmehr auf Initiative interessierter Einzelpersonen (Historiker, Verleger, Philologen-Übersetzer) erscheinen deswegen seit 1990 neben lateinischen auch ausgewählte deutschsprachige Kodizes in slowakischer Übertragung (vgl. Sopko 1995; Vozár 2001; ýelko 2004; DvoĜáková / Papsonová 2008; Papsonová / Šmahel / DvoĜáková 2009). Somit wird wenigstens ein Bruchteil der Quellen, die relevante, bislang zumeist unbekannte Informationen aus der slowakischen Vergangenheit enthalten, nicht nur der Fachwelt, sondern auch breiteren Interessentenkreisen zugänglich gemacht.
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Dialektgeographische Charakteristika der deutschen Kanzleisprache in der Slowakei
Abgesehen von den Ergebnissen der älteren Forschung, die in vielen Fällen nicht mehr verifizierbar sind, da ein beachtlicher Teil der analysierten Kodizes heute als verschollen gilt, sind die seit den 1960er-Jahren in der Slowakei selbst realisierten diachronen Untersuchungen zur deutschen Kanzleisprache in der Slowakei nur zum Teil und zumeist im deutschsprachigen Ausland (Tagungs-, Sammelbände, Jahrbücher und Ähnliches) veröffentlicht worden. Die wenigen Dissertationen und zahlreichen Magisterarbeiten mit oft sehr eingehenden und verlässlichen linguistischen Analysen liegen als Maschinenschriften in verschiedenen Universitäts- bzw. Institutsbibliotheken verstreut. Knappe, in erster Linie auf die Beeinflussung durch einzelne Zentrallandschaften ausgerichtete Analysen mit kurzen Glossaren sind darüber hinaus den meisten in den letzten Jahrzehnten erschienenen Abdrucken beigefügt worden. In Bezug auf die Fülle des überlieferten Quellenmaterials sowie der linguistisch nur lückenhaft aufgearbeiteten Textsorten machen es die bisherigen Untersuchungen immer noch nicht möglich, eine erschöpfende Gesamtdarstellung über die deutsche Kanzleisprache und deren Entwicklungstendenzen auf dem Gebiet der Slowakei zu erstellen. Sie scheinen jedoch die Schlussfolgerung Weinelts zu bestätigen, dass hier – auch in den kompakt besiedelten Regionen – keine eigenen Kanzleisprachen (vgl. Greule 2001, 13) in dem Sinne herausgebildet wurden, dass sie sich durch irgendwelche lokalen Spezifika voneinander grundsätzlich abgehoben hätten. Da sich die geschriebene Sprache der Außensiedlungen (Sprachinseln) nur in beschränktem Maße auf die gesprochene stützen kann, bediente man sich auf dem Gebiet, in dem der schlesische und bairische Kulturkreis aufeinanderstoßen und sich die Einflüsse dieser beiden Sprachlandschaften überschneiden, der Vorbilder dieser Zentral- bzw. Nachbargebiete. So sind in der Schreibsprache des mit Wien durch vielfältige Kontakte verknüpften Pressburg die Einflüsse des bairisch-österreichischen Raumes, in der Zips die der ostmitteldeutsch-schlesischen Schreibtradition vorherrschend, während die Handschriftenanalysen der mittelslowakischen Bergstädte auf eine Mischung bairischer und ostmitteldeutscher Dialektmerkmale hinweisen (vgl. Piirainen 1995, 81ff.). Daneben lässt sich jedoch eine starke Tendenz beobachten, eine außer- und überlandschaftliche bzw. die in den zentralen Gebieten bevorzugte Sprachform zu verwenden. Dies hat auch die eingehende Analyse der überlieferten Fassungen der Zipser Willkür erwiesen, die die Entwicklung der Schreibsprache in der Zips innerhalb von drei Jahrhunderten verfolgen lassen (vgl. Papsonová 1996): Spätestens seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts werden die mitteldeutsch-schlesischen Eigenheiten zugunsten der späteren schriftsprachlichen Formen gemieden und im 17. Jahrhundert immer mehr zu Relikterscheinungen; die Texte des 18. Jahrhunderts erreichen weitgehend den neuhochdeutschen Stand.
568
7.
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Literatur
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34. Die deutsche Kanzleisprache in der Slowakei
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Dana Janetta Dogaru, Sibiu (Rumänien)
35. Deutsche Kanzleisprache in Siebenbürgen
1. 1.1. 1.2. 1.3. 2. 3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.2. 3.3. 3.4. 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.1.1. 4.1.1.2. 4.1.1.3. 4.1.1.4. 4.1.2. 4.1.2.1. 4.1.2.2 4.1.2.3. 4.1.2.4. 4.1.2.5 4.1.2.6. 4.1.3. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 5. 6. 7.
Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen und Herausbildung ihrer Administration Ansiedlung und erste territoriale und rechtliche Organisation Zweite territoriale und rechtliche Organisation: Herausbildung der Stühle und Distrikte Herausbildung der Sächsischen und der Geistlichen Nationsuniversität Herausbildung einer deutschen Kanzleisprache Forschungsstand Hermannstädter Kanzlei Inventarisierung Editionen Kronstädter Kanzlei Bistritzer Kanzlei Sammelausgaben Sprachwissenschaftliche Untersuchungen Textsorten Textsorten des Hermannstädter Magistrats Protokollbücher Teilungsbücher und Akten der Teilungsämter Akten des Judikats Konsularrechnungen Textsorten der Sächsischen Nationsuniversität Protokollbücher Urteilsschriften an die Zünfte Zunftordnungen Landtagsakten Das Eigen-Landrecht Die Kirchenordnung aller Deutschen in Sybembürgen Textsorten der Kapitel und Dekanate Ansätze sprachlicher Kennzeichnung Zum Verbalkomplex Zum Gliedsatz Ganzsätze Desiderata Quellen Literatur
1.
Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen und Herausbildung ihrer Administration
1.1.
Ansiedlung und erste territoriale und rechtliche Organisation
Die Siebenbürger Sachsen kamen als deutschsprachige hospites regni auf Einladung des ungarischen Königs Geysa / Géza II. (1141–1162) ab dem 12. Jahrhundert im Verlauf von
572
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
mehr als zwei Jahrhunderten in mehreren Gruppen aus dem moselfränkischen Raum und den Gegenden des Mittelrheins in das Siebenbürgen oder Transsylvanien genannte Gebiet des Karpatenbogens im heutigen mittleren Rumänien. Die Ansiedlung erfolgte in geografisch voneinander getrennten Gebieten, rechtlich zumeist auf dem König unmittelbar unterstehendem Territorium, dem sog. Königsboden (vgl. Nägler 1992, 81ff., 141ff.). Im von König Andreas II. 1224 ausgestellten Goldenen Freibrief, dem sog. Andreanum , (vgl. lateinische Abschrift in Urkundenbuch 1, Nr. 43, in Übersetzung bei Teutsch 1925, 31ff.; Quellen 1981, 15 ff.; Nägler 1992, 159ff.; Gündisch 1998, 40ff.) sprach dieser den Kolonisten auf dem von ihnen zusammenhängend besiedelten Gebietsstreifen in Südsiebenbürgen zwischen Broos (rum. Orăútie, ung. Szászváros) und Draas (rum. Drăuúeni, ung. Homoróddaróc) das Recht zu, die Einzelgrafschaften zu einem einzigen geschlossenen Rechtskörper, der Hermannstädter Provinz, unter eigener politischer und administrativer Verwaltung zusammenzuschließen. Sie erhielten das Recht, aus eigenen Reihen Richter zu wählen, nach eigenem Gewohnheitsrecht zu richten, über den ihnen zugeteilten Boden zu verfügen sowie das Recht auf Siegelführung und auf freie Pfarrerwahl (vgl. Gündisch 1998, 40ff.; Gündisch 1979, 38ff.). Die anderen Bezirke (Komitate) mit siebenbürgisch-sächsischer Bevölkerung, d. h. die Mediascher (rum. Mediaú, ung. Medgyes / Megyes), Burzenländer (rum. ğara Bârsei, ung. Barcaság) und die Nösner Grafschaft (heute rum. BistriĠa-Năsăud, ung. Beszterce), standen zunächst unter der Hoheit des Szeklergrafen, der meist in Personalunion auch Woiwode von Siebenbürgen war, die Nösner Grafschaft bis 1366, die Erstgenannten bis Anfang des 15. Jahrhunderts. Ein kleinerer Teil der Sachsen siedelte auf ungarischem Adelsboden und hatte keinen Anteil an den zugestandenen Freiheiten. – Die Szekler als ungarischsprachige eigene Volksgruppe und der ungarische Adel waren zusammen mit den Siebenbürger Sachsen die privilegierten Bevölkerungsgruppen in Siebenbürgen, die universitas valachorum als Vertreterin der vom rumänischen Adel regierten Bevölkerungsanteile dieses Raums verlor nach 1366 alle Privilegien. 1.2.
Zweite territoriale und rechtliche Organisation: Herausbildung der Stühle und Distrikte
Die Grafschaften wurden nach der Verwaltungsreform 1325–1329 durch »Stühle« und »Distrikte« als die »für das mittelalterliche Königreich Ungarn typische[n] Gerichtsund Verwaltungsgebiete autonomer Bevölkerungsgruppen« abgelöst (Gündisch 1998a, 64f.). Aus der Hermannstädter Provinz entstand das Gebiet der »Sieben Stühle«, Broos, Mühlbach (rum. Sebeú, ung. Szászsebes), Reußmarkt (rum. Miercurea Sibiului, ung. Szerdahely), Leschkirch (rum. Nocrich, ung. Újegyház), Großschenk (rum. Cincu, ung. Nagysink), Schäßburg (rum. Sighiúoara, ung. Segesvár) und Reps (rum. Rupea, ung. KĘhalom), mit dem achten Hauptstuhl Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben). An seiner Spitze stand ein aus den Reihen der Sachsen ernannter Königsrichter. Aus der Mediascher Grafschaft wurden die »Zwei Stühle« Mediasch und Schelk (rum. ùeica, ung. Selyk) gebildet. Die Burzenländer und die Nösner Grafschaft wurden in Distrikte umorganisiert, welche enger als die Stühle dem jeweiligen Vorort untergeordnet waren. Angeführt wurden sie von den Stadtrichtern in Kronstadt (rum. Braúov, ung. Brassó),
35. Die deutsche Kanzleisprache in Siebenbürgen
573
bzw. in Bistritz (rum. BistriĠa, ung. Beszterce) (vgl. Gündisch 1998, 50). Hauptkennzeichen der Stühle war »die verwaltungsrechtliche Vereinigung von je einer Stadt oder von je einem Markt als Vorort […] mit je einer größeren oder geringeren Anzahl von den in der Umgebung dieser Vororte gelegenen freien Landgemeinden« (Müller 1985, 179). 1.3.
Herausbildung der Sächsischen und der Geistlichen Nationsuniversität
Unter Rückgriff auf die Vorgabe des Andreanums, unus sit populus et sub uno iudice censeantur (Urkundenbuch 1, Nr. 43, Z. 21f.), ‘einig sei die Gemeinschaft und von einem Richter geschützt’ (Übers. d. Verf.), gelang es der städtischen Führungsschicht in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, alle freien (territorial nicht zusammenhängenden) deutschen Gebietskörperschaften zu einer politischen, administrativen und gerichtlichen Entität, der Sächsischen Nationsuniversität, zusammenzuschließen, welche auf Standeszugehörigkeit gründete und die Verteidigung von rechtlichen Freiheiten und Privilegien zum Ziel hatte; sie wurde am 6. Februar 1486 durch die Bestätigung des Königs Matthias Corvinus rechtskräftig (vgl. Teutsch 1925, 189f.; Müller 1928, 227ff.; Gündisch 1990; 1998, 70f.; Moldt 1999; Vlaicu 2000). Als oberste Instanz mit repräsentativer Funktion vertrat sie die freien Sachsen als die dritte ständische Nation – neben den freien Szeklern und dem ungarischen Adel – im siebenbürgischen Landtag, der nicht (wie sonst in Europa) als Repräsentation der drei Stände Adel, Klerus und Bürgertum galt, sondern in den Vertreter der drei privilegierten Nationen vom König berufen wurden. Die amtliche Geschäftsführung der Sächsischen Nationsuniversität war bis zur Josephinischen Verfassungsänderung 1784 verfassungsgemäß mit der des Hermannstädter Magistrats verbunden. In Hinsicht auf Amtsführung und Sprachgebrauch ist somit Kontinuität und Einheitlichkeit gegeben. Ihr Vorsitzender war der Bürgermeister Hermannstadts, der seit dem 16. Jahrhundert den Titel eines Sachsengrafen (comes Saxonum) führte. – Die Selbstverwaltungskompetenz der Sächsischen Nationsuniversität wurde erst 1876 im Zuge der Verwaltungsreform nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 aufgehoben. Die Sächsische Nationsuniversität stand als die weltliche Universität der geistlichen Universität, dem Zusammenschluss der sächsischen Geistlichkeit, gegenüber, welche standesübergreifend wirkte, also sowohl die freien als auch die unfreien Sachsen zusammenschloss (vgl. Gündisch 1998, 71). Das Recht gemäß dem Andreanum, den eigenen Pfarrer zu wählen und frei über das Kirchenvermögen zu verfügen, ermöglichte kirchliche Selbstverwaltung, die durch die sog. Dekanate und Kapitel ausgeübt wurde (vgl. Binder 1990, 46ff.).
2.
Herausbildung einer deutschen Kanzleisprache
Die Herausbildung einer deutschen Kanzleisprache in Siebenbürgen geht mit der Annahme der Reformation Luthers durch die Siebenbürger Sachsen 1543 / 1547 (vgl. Überblick bei Dogaru 2006, 16ff.) einher. In den ersten drei Jahrhunderten ihres Bestehens benutzten die siebenbürgisch-sächsischen Verwaltungskörperschaften Latein als alleinige
574
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Amtssprache. Die ganz wenigen deutschen Texte aus dieser Zeit in den Archiven haben weniger amtlichen als privaten Charakter (Briefe von Bürgern, die Zünfte Betreffendes usw.). Seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kommen aus der Hermannstädter Kanzlei vereinzelt deutsche Niederschriften, zunächst solche mit breitem Adressatenkreis, wie z. B. Zunftordnungen, deren älteste von 1539 stammt. Der Durchbruch des Deutschen im amtlichen Gebrauch erfolgte mit dem Jahr 1556: Nicht nur die Sitzungsprotokolle des Magistrats wurden vermehrt deutsch notiert (vgl. Dogaru 2007, 510), sondern auch in den Protokollen der Sächsischen Nationsuniversität trat das Deutsche immer häufiger auf (vgl. Dogaru 2009b). Es ist davon auszugehen, dass das Deutsche und das Lateinische seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger gleichberechtigt als Amtssprachen verwendet wurden, die je nach Adressat zur Geltung kamen. Die Zeugenaussagen in Gerichtsverhandlungen z. B. sind allein deutsch festgehalten, das Lateinische findet sich in den ab 1600 erhaltenen Zeugenaussagen- und Verhörbänden des Judikats nicht (vgl. Gericht Hermannstadt). Der Anteil der lateinischen Texte im Archiv der Stadt Bistritz liegt bis 1550 bei mehr als 90 %, im Zeitraum 1561–1570 fällt er auf 69 %. Der Anteil deutscher Texte wächst in diesem Jahrzehnt von 10 % auf 22 % (Wagner 1986, XXIf.). Es handelt sich dabei um Texte unterschiedlicher Schreiber, von Fürsten umliegender Länder bis hin zu Privatpersonen.1 Latein blieb in der Kirchenverwaltung sowie im Landtag bis ins 18. Jahrhundert die Hauptsprache. Deutschsprachige kirchliche Schriftstücke sind hauptsächlich Reformationsartikel und Visitationsartikel, die sich nicht nur an den engen, des Lateins kundigen Kreis der Geistlichen richteten. Viele liegen allerdings allein in späteren Abschriften vor. Die Synodalverhandlungen der Kapitel verliefen laut den erhaltenen Protokollen auf Latein (vgl. SynodProt. 1545–1867, 1655–1769; Supplementum Actorum; Teutsch 1883). Dass im Landtag zunächst das Lateinische die lingua franca war, ist durch die Zusammensetzung des Landtages – Ungarisch- und Deutschsprachige – zu erklären. Die ungarischsprachige Mehrheit führte dann dazu, dass im 17. und im 18. Jahrhundert, als den Nationalsprachen allmählich immer mehr Rollen zu Ungunsten des Lateins zuwuchsen, das Ungarische in den Landtagsakten vorherrschte (vgl. Landtag).
3.
Forschungsstand
Das kanzleisprachliche deutsche Quellenmaterial aus Siebenbürgen ist sehr umfangreich, allerdings verursacht die bruchstückhafte und oftmals unzureichende Aufbereitung für Forschungszwecke nicht geringe Probleme. Viele Schriftstücke liegen nur hand-
1
Im Übrigen wächst zur gleichen Zeit auch der Anteil ungarischsprachiger Urkunden, wobei es sich in der Regel um Privatbriefe ungarischer Adliger handelt. In den offiziellen Dokumenten des Hofes und der Adelskomitate blieb Latein als Urkundensprache erhalten (vgl. Wagner 1986, XXII).
35. Die deutsche Kanzleisprache in Siebenbürgen
575
schriftlich vor, oder die ursprünglichen Schriften sind verschollen, und es sind lediglich Abschriften erhalten. Die vorhandenen Editionen sind in historiographischer Hinsicht von großem Wert, für sprachkritische Forschungszwecke jedoch oft unzulänglich. Die folgende (unvollständige) Übersicht vermittelt einen Eindruck vom Stand der Erschließung des Materials und seiner Nutzbarkeit für linguistische Fragestellungen. 3.1.
Hermannstädter Kanzlei
3.1.1. Inventarisierung Ein von Franz Zimmermann zusammengestellter Archivführer von 1901 gibt noch immer einen guten Einblick in den gesamten Bestand des Hermannstädter Archivs (vgl. Zimmermann 1901). Eine Aktualisierung der Signaturen der Protokollbücher des Hermannstädter Magistrats und der Sächsischen Nationsuniversität sowie die Transkription des alphabetischen Indexes zu den Protokollbänden findet sich bei Hientz / Heigl / ùindilariu (2007, 16). Die zugehörige DVD mit den digitalisierten Protokollbüchern ist wegen des gewählten Formats leider nur umständlich zu nutzen. 3.1.2. Editionen In Transkription liegen Konsularrechnungen vor (Rechnungen Hermannstadt), die sprachhistorisch für lexikalische Untersuchungen ausgewertet werden können. Es ist im Abgleich mit den Originalrechnungsbüchern noch zu prüfen, ob die Verfahrensweise der Edition auch graphematisch-phonematische Schlüsse zulässt. Einen Zugang zu den deutschsprachigen Urteilsschriften an die Zünfte und zu den Zunftordnungen ermöglicht eine neuere weitestgehend buchstabengetreue Edition (Vlaicu 2003). Die zusammenhängenden Texte ermöglichen Untersuchungen auf allen sprachlichen Beschreibungsebenen. 3.2.
Kronstädter Kanzlei
Vom kanzleisprachlichen Material Kronstadts wurden bislang Stadtrechnungen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Auswahl (Rechnungen Kronstadt), Schriftstücke der Kirche (Annales ecclesiastici und Acta capituli Barcensis) und Zunfturkunden (Zunfturkunden Kronstadt) ediert. Die Tauglichkeit für sprachliche Untersuchungen kann noch nicht abgeschätzt werden. 3.3.
Bistritzer Kanzlei
Zahlreiche Archivalien aus dem Archiv Bistritz sind infolge der territorialen Neuordnung nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich und der politischen Wechselzüge des Ersten und Zweiten Weltkrieges verschollen oder durch unsachgerechte Aufbewahrung zerstört und unbrauchbar geworden. Der erhaltene Bestand liegt im Staatsarchiv Klausenburg (rum. Cluj-Napoca) (vgl. Wagner 1986, IX–XII). Die Urkundensammlung
576
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
lässt sich mithilfe von Urkundenregesten für die Zeit 1203–1585 erschließen (vgl. Berger 1986; Wagner 1996); Regesten für spätere Jahre fehlen. 3.4.
Sammelausgaben
In den Urkundenbüchern 1–7 befinden sich die historisch wertvollsten Editionen von Archivalien mit siebenbürgischem Bezug bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, nicht nur aus den Archiven Siebenbürgens, sondern auch aus Wien, Budapest, dem Vatikan u. a. Die Urkunden im weiten Sinne des Begriffs, d. h. auch Briefe, statutarische Bestimmungen und Zunftartikel, sind entweder vollständig transkribiert, allerdings »frei von allen paläographischen und orthographischen Eigenthümlichkeiten« (Einleitung zu Urkundenbuch 1, XXV), oder sie erscheinen als ausführlicher Regest. Sie sind archivalisch mit Angabe eventueller Drucke und Literatur beschrieben. Transkribierte deutsche Urkunden finden sich – neben den in erster Linie lateinischen – vereinzelt für die Zeit 1474–1486 (Urkundenbücher 1, XVI); meist sind es jedoch Zunftsatzungen oder Schreiben privater Personen. Ein bisher unter germanistischem Blickwinkel weitgehend unbeachtet gebliebenes Corpus von außergewöhnlichem Wert sind die Regesten zu Urkunden walachischer und (seltener) moldauischer Woiwoden und Beamten (mit Angaben zu Druck und Literatur), also von Schriften, die außerhalb Siebenbürgens und des Siedlungsgebiets der deutschsprachigen Bevölkerung angefertigt worden sind: Sie sind nahezu alle deutsch verfasst. Mehr oder weniger buchstabengetreue Ausgaben kanzleisprachlichen Materials finden sich gestreut in Zeitschriften und Buchveröffentlichungen (vgl. Teutsch 1883; Müller 1986; Wagner 1981), wobei nur gelegentlich explizite Angaben zur Transkriptionstechnik gemacht werden (vgl. Klaster-Ungureanu 1986, 268).
4.
Sprachwissenschaftliche Untersuchungen
Die für linguistische Zwecke unzureichende Aufbereitung des kanzleisprachlichen Materials ist sicherlich eine Hauptursache für das nahezu gänzliche Fehlen von sprachwissenschaftlichen Untersuchungen. Erste Ansätze liegen erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts anhand von Kanzleiakten aus Hermannstadt vor (vgl. Dogaru 2007; 2009a; 2009b; 2010; 2011a). Sie beziehen sich vor allem auf die textlinguistische und die syntaktische Qualität; bezüglich der Lexik gibt es eine Studie zum juristischen und zünftischen Fachwortschatz (Dogaru 2011b). Untersuchungen zur Graphematik fehlen ganz. Im Folgenden sind zunächst die wichtigsten Textsorten der Hermannstädter Belege dargestellt, anschließend werden bereits erarbeitete Erkenntnisse zu ihren syntaktischen Strukturen skizziert.
35. Die deutsche Kanzleisprache in Siebenbürgen
4.1.
577
Textsorten
4.1.1. Textsorten des Hermannstädter Magistrats Die Akten des Hermannstädter Magistrats zeichnen sich entsprechend seiner vielseitigen Befugnis durch ein breites Spektrum an Textsorten aus: Protokollbücher, Teilungsbücher und Akten der Teilungsämter, Akten des Judikats und Konsularrechnungen. 4.1.1.1. Protokollbücher Die Sitzungsprotokolle zählen zu den für die Sprachbeschreibung im 16. und im 17. Jahrhundert wichtigsten Akten aus der Kanzlei des Hermannstädter Stadt- und StuhlMagistrats. Das älteste, zugleich Provinzialprotokoll ist unter dem Titel »Prothocollon Prouinciae Saxon Necnon Ciuitatis Cibinie Sub Anno Dommini 1522 feliciter ceptum et congestum« (MagProt. 1522–1565) erhalten. Die Protokolle der Anfangszeit 1521–1555 sind auf Latein verfasst, deutsche Aufschriften kommen lediglich sporadisch vor, oft in die lateinischen eingefügt. Die Niederschriften danach bis zum Ende der Protokollzeit des Bandes 1565 sind nahezu ausschließlich auf Deutsch. Am Ende des Protokollbandes finden sich auf leer gebliebenen Seiten eine kurze Aufzeichnung von 1601 auf Latein und eine von 1607 auf Deutsch (vgl. Dogaru 2007). Im Fortsetzungsband Magprot. 1566–1637 bleibt Deutsch vorherrschend. Während auch der dritte Band die Tätigkeit des Hermannstädter Rats über knapp sechzig Jahre dokumentiert, decken die Bände ab 1690 zunehmend eine immer kürzere Zeit ab; in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind in der Regel drei, zuweilen auch vier Bände in einem Jahr entstanden.2 Die Anzahl der Protokolle, die in einem Jahr angefertigt wurden, variiert stark von lediglich zwei, drei bis zu 18 im Jahr 1570 oder auch 24 1581, wobei ihr Umfang meist eine zu drei Vierteln eng beschriebene Seite einnimmt, mitunter aber bis zu drei Seiten groß sein kann. Protokolliert werden Übertragungen (Erbschaften und Schenkungen) und Kaufgeschäfte von Immobilien (von Häusern und Höfen), stets mit der Einwilligung des Hermannstädter Magistrats. Grund dafür war vermutlich die Befürchtung einer Übergabe an Fremde, d. h. an solche, die nicht Siebenbürger Sachsen waren, des Erbbetrugs von Minderjährigen, wodurch sie ohne Schutz und Versorgung blieben, oder der Benachteiligung der Eltern (zum Inhalt der Protokolle vgl. DirecĠia Generală a Arhivelor Statului 1958). 4.1.1.2. Teilungsbücher und Akten der Teilungsämter Die Teilungsbücher geben über die Nachlassverhandlungen und das von den Verstorbenen hinterlassene bewegliche und unbewegliche Vermögen Auskunft. Das älteste
2
Eine Aufstellung derselben bis zum Jahr 1847 findet sich bei Zimmermann (1901, 75ff.) sowie bei Hientz / Heigl / ùindilariu (2007, 16) eine Aufstellung der Protokollbücher 1521–1705 mit den aktuellen Signaturen.
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
beginnt mit dem Jahr 1573 auf Stadtebene, mit einer Lücke bis 1590, das älteste StuhlTeilungsbuch mit dem Jahr 1739. Ab 1627 scheiden sich die Reinschriften der Stadt-Teilungsbücher in solche, die nur die Oberstadt betreffen, und solche nur für die Unterstadt, wobei die Konzepte der Bücher die ganze Stadt betreffen. Ergänzend kommen Akten der Teilungsämter, die Auskunft über die Erbrechte (Eheverträge, Abkommen, Kostenlisten), über die Teilung des Vermögens bei Scheidungen und der Briefwechsel zwischen den Teilungsämtern (vgl. Zimmermann 1901, 81ff.) hinzu. Schon der älteste Band von 1590 ist in deutscher Sprache verfasst. Die Teilungsbücher und Akten der Teilungsämter weisen aufgrund der Textsorte einen geringen Umfang des Fließtextes auf; mit der Aufstellung des Nachlasses sind sie vor allem für lexikalische Untersuchungen wertvoll. 4.1.1.3. Akten des Judikats Die Gerichtsverhandlungen sind für die Zeit 1600–1852 dokumentiert. Für die Zeit bis 1792 sind allein die Sitzungsprotokolle erhalten, für die darauf folgende Zeit auch die Einreichungsregister mit einem Index der Angeklagten, zuweilen mit Angabe der Gerichtssache ergänzt (Gericht Hermannstadt). Die Sitzungsprotokolle des Judikats geben nicht nur ein wirklichkeitsnahes Bild vom siebenbürgisch-sächsischen Alltag, sondern die anzunehmende Unmittelbarkeit der Aufzeichnungen bezeugt vermutlich auch den Sprachgebrauch der Beteiligten. 4.1.1.4. Konsularrechnungen Die Konsularrechnungen umfassen die Rechnungsbücher der Stadt und des Stuhles Hermannstadt, die Rechnungen der Sieben Stühle und die Universitätsrechnungen für die Zeit 1504 bis 1758. Sie sind zum Teil in einem Band zusammen eingetragen, zum Teil gesondert in einzelnen Bänden oder Heften verzeichnet. Sie enthalten Steuerleistungen, Einkünfte, Gehalts- und Lohnbezüge der Beamten und Diener von Hermannstadt, der Sieben Stühle und der Sächsischen Nationsuniversität, Entlohnungen für Botengänge, Gehaltsbezüge der Hermannstädter Lehrer und Geistlichen (vgl. Zimmermann 1901, 109ff.). Die Konsularrechnungen bieten für die syntaktische und morphologische Sprachbeschreibung wenig Aufschluss, sie können für lexikalische und graphematisch-phonematische Untersuchungen ergiebig sein. 4.1.2. Textsorten der Sächsischen Nationsuniversität Die Geschäftsführung der Sächsischen Nationsuniversität oblag bis 1784 der Hermannstädter Stadt- und Stuhlkanzlei, so dass sich besondere Akte erst ab 1790 mit der Einrichtung einer eigenen Kanzlei des Königsrichters und Comes der sächsischen Nation finden. Die hinterlassenen Schriften sind u. a. Protokollbücher, Urteilsschriften an die Zünfte, Zunftordnungen, Landtagsakten, das Eigen-Landrecht und die Kirchenordnung aller Deutschen in Sybembürgen.
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Für die Beschreibung deutscher Kanzleisprache in Siebenbürgen sind die ersten drei aufgeführten Gattungen von sprachlicher Relevanz (vgl. Dogaru 2009b). Die Landtagsakten sind nur vereinzelt in deutscher Sprache erstellt, das Lateinische galt bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts im Landtag und Gubernium als Amtssprache (Wagner 1986, XXI), wobei ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch das Ungarische zum Tragen kommt. Beim Eigen-Landrecht und der Kirchenordnung handelt es sich um Übersetzungen der lateinischen Originale. 4.1.2.1.
Protokollbücher
Die Protokollbücher beginnen mit dem Jahr 1544. Der erste erhaltene Band geht bis 1563 (vgl. Dogaru 2009b), der zweite von 1615 bis 1644 und von 1665 bis 1671, der dritte von 1650 bis 1657, der vierte von 1664 bis 1693 und der letzte von 1694 bis 1703.3 Die Sächsische Nationsuniversität traf Regelungen über Fragen, die für die gesamte Kommunität von Bedeutung waren: Sie entschied über die Aufteilung der Steuer- und Kriegslasten auf die einzelnen Stühle und Distrikte, legte die Preise und die gemeinsamen Maß- und Gewichtseinheiten fest, erließ Zunftordnungen und traf politische Entscheidungen. Sie war zudem als oberste Gerichtsbehörde des Königsbodens zweite Berufungsinstanz und urteilte in Rechtsfällen betreffs der Grenzziehung zwischen den Gemeinden auf Königsboden und den Gemeinden auf Adelsboden sowie in Rechtsfällen gegen Distriktskörperschaften (vgl. Vlaicu 2000, 10ff.; Nussbächer 1994). 4.1.2.2.
Urteilsschriften an die Zünfte
Die Urteilsschriften an die Zünfte (teilweise in Vlaicu 2003 ediert) zeichnen sich durch einen textsortenspezifischen Aufbau auf. Sie beginnen mit der Aufzählung der beteiligten Amtspersonen, es folgt perlokutiv die Angabe, dass die Verhandlung für alle rechtskräftig sei, und des Rahmens, in dem sie stattfindet, danach die Nennung der im Rechtsstreit begriffenen Parteien. Die Verhandlung wird ausführlich dargelegt: Erhebung der Klage, Antwort der Angeklagten, Befragung der Zeugen und Vorzeigen von Beweisakten. Das Urteil besteht aus Urteilsbegründung und Urteilsspruch. Die Schlussformel (Anmerkung über die Rechtsgültigkeit des Urteils und Ort, Anlass und Datum der Zusammenkunft) wird fast in allen Urteilsschriften gebraucht (vgl. Dogaru 2009b). 4.1.2.3. Zunftordnungen Die Zunftordnungen (teilweise in Vlaicu 2003 ediert), ebenfalls mit einheitlicher Textstruktur, beginnen mit der Auflistung der Mitglieder der Nationsuniversität. Es folgt eine Würdigung der Satzung als zum allgemeinen Nutzen des ganzen Landes beschlossen, die ungeeignete Bestimmungen vorausgehender Satzungen außer Kraft setzt, die guten aber übernimmt und sie damit für die jeweilige Zunft bestätigt. Daran schließen
3
Für die Zeit über das Jahr 1705 hinaus bis 1848 vgl. Zimmermann (1901, 148ff.).
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sich die fortlaufend nummerierten Artikel an, wobei ein einzelner auch mehrere Bestimmungen enthalten kann. Der stereotype Schluss bekräftigt die Rechtsgültigkeit der Zunftordnung und nennt die Strafe im Falle von Nichteinhaltung (vgl. Dogaru 2009b). 4.1.2.4. Landtagsakten In Aktendeckel eingelegt oder in Bände eingebunden finden sich Landtagsartikel, -protokolle und -akten (Articuli diaetales, Acta diaetalia oder Acta comitialia), bei denen es sich allerdings für die Jahre 1540–1568 meist um Abschriften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder aber um gleichzeitige Abschriften handelt. Der größere Teil der Landtagsakten aus dem 16. und 17. Jahrhundert wurde von Szilágyi (1876ff.) gedruckt (vgl. Zimmermann 1901, 87ff.). 4.1.2.5. Das Eigen-Landrecht Das Statutargesetzbuch von 1583, genannt Statuta Iurium Municipalium Saxonum in Transylvania, in Übersetzung laut Titelblatt der deutschen Ausgabe Der SachǕǕen jnn Siebenb)rgen: STATVTA: Oder eygen Landtrecht, gilt als die älteste statutarrechtliche Grundlage der Nationsuniversität. Mit deren Abfassung wurde der Kronstädter Ratsgeschworene Markus Fronius (1537–1606) beauftragt, der es nach der Struktur der deutschen Stadt- und Landrechte der frühen Neuzeit anlegte (vgl. Laufs 1973; Teutsch 1925, 294). Das Eigen-Landrecht blieb dreihundert Jahre in Kraft bis zur Einführung des Österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuches 1853 (vgl. Gündisch 1998, 88). Es löste den sog. Codex Altemberger ab, der Überlieferungsrecht sowie Bestimmungen aus dem Schwabenspiegel und den Stadtrechten aus dem Magdeburger Rechtskreis festhielt. Das EigenLandrecht besteht aus vier Büchern, welche mehrere in einzelne Paragraphen eingeteilte Titel umfassen. Nach einer Vorrede, in der der Autor sein Vorhaben begründet, und der Bestätigung durch Stephan Báthory werden im ersten Buch die Erwählung der Amtleute und das gerichtliche Verfahren behandelt. Das zweite Buch ist dem Ehe- und dem Erbrecht gewidmet, im dritten Buch sind statutarisch das Schuldwesen und das Sachenrecht geregelt, und das vierte Buch gilt dem Strafrecht (vgl. Laufs 1973; Dogaru 2009b). 4.1.2.6. Die Kirchenordnung aller Deutschen in Sybembürgen Die Sächsische Nationsuniversität spielte als die das Statutarrecht ausübende Oberinstanz eine entscheidende Rolle bei der Durchführung der Reformation in Siebenbürgen. 1547 gab sie an Theologen aus ganz Siebenbürgen die Erstellung einer Kirchenordnung in Auftrag, die für alle von Siebenbürger Sachsen bewohnten Gebiete Gültigkeit haben sollte. Das Ergebnis, die Reformatio Ecclesiarvm Saxonicarvm in Transylvania, wurde von der Hand des siebenbürgisch-sächsischen Reformators Johannes Honterus übersetzt und erschien noch im selben Jahr unter dem Titel Kirchenordnung aller Deutschen in Sybembürgen (vgl. Dogaru 2008, 25ff.; Wittstock 1970, 299ff.; Roth 1954, 71ff.). Die Kirchenordnung ist nicht unmittelbar ein Produkt aus der Kanzlei der Nationsuniversität, gründet aber auf deren Beschlüssen über die Riten in lutherischen protestantischen Kirchen und wurde von ihr 1550
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»zum Gesetz für das Sachsenland« erhoben (Teutsch 1921, 247). Sie behielt ihre Rechtskraft bis 1653, als sie durch die Hermannstädter Agenda Sacra abgelöst wurde. 4.1.3. Textsorten der Kapitel und Dekanate Zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstücken der kirchlichen Kanzleien gehören die Visitationsberichte. Problematisch für sprachliche Untersuchungen ist, dass die Originale oft nicht mehr vorzufinden sind und nur in den Kapitelsbüchern in Abschrift vorliegen. 4.2.
Ansätze sprachlicher Kennzeichnung
Umfassende Aussagen über die sprachliche Ausbildung einer deutschen Kanzleisprache in Siebenbürgen in der frühen Neuzeit lassen sich zurzeit nicht machen. Es liegen lediglich Ergebnisse für die Sitzungsprotokolle des Hermannstädter Magistrats (Magprot. 1522– 1565, 1566–1637) aus der Anfangszeit der Niederschrift auf Deutsch (1556–1562) zu drei syntaktischen Aspekten, dem Verbalkomplex, den Gliedsätzen und dem Ganzsatz, und für die von 1590–1598 zur Ganzsatzstruktur vor (vgl. Dogaru 2011a). 4.2.1. Zum Verbalkomplex Der Verbalkomplex kann aus zwei bis vier Verbformen bestehen, wobei viergliedrige Kombinationen vereinzelt realisiert werden. Bei den zweigliedrigen dominieren (erwartungsgemäß) die Komplexe der Vollzugsstufe und die Modalverbkomplexe (vor allem mit sollen). Das Vorgangspassiv als Zeichen der Handlungsorientiertheit und die Konstruktion haben + Infinitiv mit zu als Ersatz des modalen Vorgangspassivs kommen relativ häufig vor. Die Stellung des Finitums in den Gliedsätzen schwankt – anders als im Binnendeutschen – sehr stark (vgl. Dogaru 2007, 510ff., 514f.). Dreigliedrige Verbalkomplexe kommen in sechs Kombinationen vor: a) als Vollzugsstufe der Passivkomplexe. Sie sind im Corpus besonders gut vertreten: (1) Darbey ir keiner nit geuesen, Noch darzu gerupfen wer worden (Magprot. 1522– 1565, 401); b) als Vollzugsstufe der Kausativkomplexe. Sie kommen mit überdurchschnittlich hoher Frequenz vor (wobei die Formel, die das Eintragen der Verhandlung ins Register explizit benennt, einen erheblichen Teil ausmacht): (2) Vnd das Recht, so die Richter zwischen Jnnen gesprochen, darbey han lassen bleyben (Magprot. 1522–1565, 377) c) als Vollzugsstufe der Modalverbkomplexe. Sie sind selten und nur bei den Modalverben können, sollen und wollen zu verzeichnen: (3) Vnd herr Thomas keinen Pryepf noch zeugen, allein die von hören sagen zeugeten, hett kennen fürstellen vnd erfur bringen (Magprot. 1522–1565, 376) d) als modale Kennzeichnung der Passivkomplexe. Die Verbkombination kommt häufig vor, in erster Linie zum Ausdruck von Aufforderungen mit sollen (wie auch bei den zweigliedrigen Verbalkomplexen):
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(4) ßo ßoll er von dem hans Zymmerman den schlissel bittlich begehren, vnd ßoll im Bitt wegen gegeben werden (Magprot. 1522–1565, 389) e) als modale Kennzeichnung der Kausativkomplexe. Die Verbkombination begegnet ebenfalls häufig in auffordernder Semantik mit sollen: (5) das der Peter Bydner einen starcken frieden der die höpf beyder, seinen vnd des Herr Michels, von einander teylt, sol machen lassen (Magprot. 1522–1565, 366) f) als Futur der Konstruktion haben / sein + Infinitiv mit zu. Die Kombination lässt sich zwar nur vereinzelt nachweisen, bekräftigt aber die Entwicklung von werden + Infinitiv zur Futurform: (6) wenn er den Rohr aupf das Rech zyhen will, oder wenn er sonst ethwas da zuschapfen wird han (Magprot. 1522–1565, 381), (7) Nach solchem fürbringen vnd anczeigen haben sie hierüber von einem Ersamen weysen Ratth, was Jnnen hierin zuthun wirdt sein, einen Reypflichen vnterricht begert (Magprot. 1522–1565, 378) (vgl. Dogaru 2007, 512f.). Bezüglich der Stellung der verbalen Elemente zueinander fällt die häufige Stellung des finiten Hilfsverbs zwischen den Nominalformen auf. Dies kann auf einem gewissen sprachlichen Konservatismus beruhen. (In binnendeutschen Kanzleitexten sind die Stellungsverhältnisse in der Untersuchungszeit relativ uneinheitlich und von der Sprachgeographie und der Textsorte beeinflusst.) Die infiniten Verbformen zeigen zum Teil Stellungstendenzen des Neuhochdeutschen: Während das Perfektpartizip der übergeordneten Verbform vorausgeht, erfolgt die Anordnung der Infinitive gemäß der Dependenzbeziehungen (vgl. Dogaru 2007, 512ff.). Der Entwicklungsstand des Verbalkomplexes erscheint somit bezogen auf die Urkundensprache der Zeit als rückständig, nähert sich aber dem, der in der Literatursprache gefunden werden kann (vgl. Dogaru 2007, 518f.). 4.2.2.
Zum Gliedsatz
Die Ausbildung der Gliedsätze nach Form und Funktion ist zum einen durch die häufige Verwendung der Konjunktionalsätze (ca. 60 % der Gliedsätze), sowohl Adverbialsätze als auch Objektsätze, zum anderen durch die hohe Anzahl der relativen Attributsätze (ca. 52 % der Attributsätze), die das Corpus dem Textsortenstil des Amtsdeutschen zuordnet, gekennzeichnet. Die Initialelemente sind solche, die in binnendeutschen Amts- und Rechtstexten und in der gepflegten Bildungssprache ihren festen Platz haben: Die kanzleistilistische Relativpartikel so ist häufige Einleitung der Attributsätze; das ausgesprochen bildungssprachliche Relativpronomen welch hält sich die Waage mit dem neutralen der. Außerdem ist die gehobene literatursprachliche Konstruktion welch + Substantiv, die in zeitgenössischen Texten generell selten ist, im Corpus gut vertreten. Die volkstümlichen Pronominaladverbien werden relativ selten genutzt. Die Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen sind quantitativ nennenswerte Mittel der Satzformung und weisen je nach Satzfunktion sogar bevorzugte Verwendung auf.
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Aus funktionaler Sicht überwiegen, der Textsorte entsprechend, eindeutig die Inhaltssätze nach den Verba dicendi. Einen markanten Anteil haben auch erläuternde oder präzisierende Attributsätze. Die Temporal- und Kausalsätze kommen musterhaft bei der Urteilssprechung vor (vgl. Dogaru 2009a). 4.2.3. Ganzsätze Die Durchschnittslänge der Elementarsätze variiert mit ihrer Funktion im Text zwischen 60 Wörtern, wenn Angaben zu den beteiligten Personen gemacht werden, und zehn Wörtern bei der Schilderung von Geschehenseinzelheiten (vgl. zum Folgenden Dogaru 2010, Dogaru 2011a). Die Ganzsätze werden hauptsächlich als Satzgefüge realisiert, wobei gelegentlich zwei Satzgefüge gereiht stehen können. Ein Satzgefüge kann in einem Einzelfall aus bis zu 17 Elementarsätzen bestehen, nahezu ein Fünftel hat mehr als sieben Elementarsätze. Die Tiefenstaffelung geht zwar nur bis zum sechsten Abhängigkeitsgrad, die Vorkommenshäufigkeit der Gliedsätze vierten Grades kann aber verglichen z. B. mit ihrer Frequenz in zeitgleichen Predigten (vgl. Dogaru 2006, 301) als überdurchschnittlich groß bewertet werden. Neben der hypotaktischen Verknüpfung stellt die Anknüpfung von grammatisch und funktional gleichen Gliedsätzen, mit und ohne Aussparung gemeinsamer Elemente, eine wichtige Verknüpfungstechnik dar. Mit Bezug auf die Kompositionstypen der Satzgefüge lassen sich neben der geradlinigen abhängigkeitskonformen Abfolge der Gliedsätze – die fallenden und steigendfallenden Satzgefüge überwiegen – besonders häufig die Neststrukturen nachweisen, die bei syntaktischem Bruch inhaltlich Zusammengehörendes auch zeitlich nebeneinander darbringen. Bei Neststrukturen zuweilen, häufiger aber bei den abhängigkeitswidrigen Diskontinuitäten verursachen mangelnde Merkmale der Unterordnung oder der Zu(sammen)gehörigkeit Unklarheiten. Die Gestaltung der Satzgefüge in den Hermannstädter Ratsprotokollen entspricht hinsichtlich der Strukturkomplexität, nicht aber der Realisierung von nachvollziehbaren und eindeutigen Zuordnungsbeziehungen, der Gestaltung der Satzgefüge in kanzleisprachlichen Texten aus dem binnendeutschen Sprachraum. Die Satzgefüge machen im Laufe von fünfzig Jahren nach Einführung des Deutschen als Amtssprache keine wesentlichen Veränderungen durch; lediglich in kompositioneller Hinsicht ist eine strukturelle Vereinfachung festzustellen. Die unterschiedlichen Ausprägungen sind dem Schreiber bzw. der Textsorte ‚geschuldet‘ (vgl. Dogaru 2011a, 42).
5.
Desiderata
Gemäß der Darstellung des Forschungsstandes zur Kanzleisprache in Siebenbürgen sind folgende Desiderata offensichtlich: Zunächst muss die systematische Suche, Sichtung und deskriptorische Erfassung des vorhandenen deutschsprachigen Kanzleimaterials, das durch die politischen Umstände seit den 1940er-Jahren in nur sehr beschränktem Umfang betrieben worden ist, nach Möglichkeit ausgeweitet werden.
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Als weiterer Schritt wäre dann die Edition des Materials in Angriff zu nehmen, wobei dem linguistischen Interesse an detailgetreue Wiedergabe des Belegmaterials in gleichem Maße Rechung zu tragen ist wie dem historischen Interesse an inhaltsgetreuer Präsentation. Schließlich sind die eigentlichen systematischen linguistischen Untersuchungen auf den unterschiedlichen Beschreibungsebenen durchzuführen. Die sprachwissenschaftliche Auswertung hängt von der Textsorte des Quellenmaterials ab. Graphematisch-phonematische und lexikalische Analysen sind auch an Schriftstücken möglich, die in erster Linie Aufstellungen verschiedener Art (Rechnungsbücher, Teilungsbücher) enthalten, während morphologische und syntaktische Studien an Fließtexte gebunden sind. Dabei spielen neben der Textsorte die Entstehungszeit und der Textumfang eine entscheidende Rolle. Ein wichtiger Parameter ist zudem die Funktion der Schriftstücke, da sie mit dem verwendeten Sprachstil – Schriftsprachlichkeit vs. Sprechsprachlichkeit – einhergeht. Der Nutzen solcher Untersuchungen für die deutsche Sprachgeschichte allgemein und für die regionale Sprachgeschichte des geographisch abseits gelegenen Gebiets deutscher Sprache in Siebenbürgen ist evident: Zusammen mit Ergebnissen der Dialektologie könnten wesentliche Erkenntnisse über den Wandelprozess im Sprachgebrauch des Deutschen gewonnen werden.
6.
Quellen
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SynodProt. 1545–1867 = Procese verbale ale sinoadelor capitlului Transilvania 1545–1867, [Synodalprotokolle des Kapitels Siebenbürgen 1545–1867], [Kreisdirektion der Nationalen Archive Hermannstadt / Sibiu; Signatur: Biserica Evanghelică. Procese verbale ale sinoadelor capitlului Transilvania 1545–1867, nr. 9 / 344] SynodProt. 1655–1769 = Procese verbale ale sinoadelor capitlului Transilvania 1655–1769, [Synodalprotokolle des Kapitels Siebenbürgen 1655–1769] [Kreisdirektion der Nationalen Archive Hermannstadt / Sibiu; Signatur: Biserica Evanghelică. Procese verbale ale sinoadelor capitlului Transilvania 1655–1769, nr. 9 / 345] Rechnungen Hermannstadt = Quellen zur Geschichte Siebenbürgens aus sächsischen Archiven, Bd. 1 / 1880: Rechnungen aus dem Archiv der Stadt Hermannstadt und der sächsischen Nation, Hermannstadt. Rechnungen Kronstadt = Quellen zur Geschichte der Stadt Kronstadt. Rechnungen aus dem Archiv der Stadt Hermannstadt, Bd. 1 / 1886: Rechnungen aus 1503–1526, Kronstadt; Bd. 2 / 1889: Rechnungen aus 1526-1540, Kronstadt; Bd. 3 / 1896: aus Rechnungen (1475) 1541–1550, Kronstadt. »REFORMATIO ECCLESIARVM SAXONICARVM IN TRANSYLVANIA. CORONAE M. D. XLVII. Kirchenordnung aller Deutschen in Sybembürgen. M. D. Xlvij«, in: Oskar Netoliczka (Hrsg.) (1898), Johannes Honterus’ ausgewählte Schriften, hrsg. v. Oskar Netoliczka im Auftrage des Ausschusses zur Errichtung des Honterusdenkmals in Kronstadt / Wien / Hermannstadt, 55–125. Statuta Iurium Municipalium Saxonum in Transylvania: Opera Matthiæ Fronii revis locupletata & edita. (Corona), [Originaldruck in der Bibliothek des Brukenthalmuseums zu Hermannstadt; Signatur: Tr XVI / 123.], in Übers.: Das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen. Unveränderte Wiedergabe des Erstdrucks von 1583, hrsg. v. Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde mit einer Einführung von Adolf Laufs und Worterläuterungen von Wolfgang Bührer, München. Supplementum Actorum = SUPPLEMENTUM ACTORUM CAPITULARIUM DECANATUS ANTESYLVANI: AB ANNO MDLX: Ex literis ac Epistolis antiqvis hinc inde missis et collectis in ORDINEM DIGESTORUM ANNO MDCLXXXXVII opera et studio ANDREA GUNNESCH Pastoris Kelnecensis et hoc temp. Decani, Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien, (Best. 209 / 25), Hermannstadt / Sibiu. Teutsch, Georg Daniel (1883), Die Synodalverhandlungen der evang. Landeskirche A. B. in Siebenbürgen im Reformationsjahrhundert. Zur Feier des vierhundertjährigen Geburtstages von D. Martin Luther hrsg. v. Landesconsistorium der genannten Kirche, Hermannstadt. Teutsch, Friedrich (1881), »Aus dem ältesten Bistritzer Ratsprotokoll«, in: Archiv des Vereines für siebenbürgische Landeskunde 16, 274–277. Urkundenbuch 1-n = Urkundenbuch zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen, Bd. 1 / 1892: 1191–1342, von Franz Zimmermann und Carl Werner, Hermannstadt; Bd. 2 / 1897: 1342- 1390, von Franz Zimmermann, Carl Werner u. Georg Müller, Hermannstadt; Bd. 3 / 1902: 1391–1415, von Franz Zimmermann, Carl Werner u. Georg Müller, Hermannstadt; Bd. 4 / 1937: 1416–1437, bearb. v. Gustav Gündisch, Hermannstadt; Bd. 5 / 1975: 1438–1457, bearb. v. Gustav Gündisch, Köln, Wien; Bd. 6 / 1981: 1458–1473, hrsg. v. Gustav Gündisch unter. Mitarb. v. Herta Gündisch, Gernot Nussbächer und Konrad G. Gündisch, Bukarest; Bd. 7 / 1991: 1474–1486, hrsg. v. Gustav Gündisch, † Herta Gündisch, Konrad G. Gündisch und Gernot Nussbächer, Bukarest. Wagner, Ernst (1996), Urkunden-Regesten aus dem Archiv der Stadt Bistitz in Siebenbürgen, Bd. 3: 1571–1585, (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 11 / 3), Köln / Weimar. Vlaicu, Monica (2003), Handel und Gewerbe in Hermannstadt und in den Sieben Stühlen. 1224– 1579, unter Mitarbeit von Radu Constantinescu, Adriana Ghibu, Costin Feneúan, Cristina Halichias und Liliana Popa, (Quellen zur Geschichte der Stadt Hermannstadt 2), Sibiu. Zunfturkunden Kronstadt = Quellen zur Geschichte der Stadt Kronstadt, Bd. 9 / 1998: Kronstädter Zunfturkunden 1420–1580, Kronstadt.
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35. Die deutsche Kanzleisprache in Siebenbürgen
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Klaster-Ungureanu, Grete (1986), »Nachwort«, in: Müller, Friedrich, Deutsche Sprachdenkmäler aus Siebenbürgen. Aus schriftlichen Quellen des zwölften bis sechzehnten Jahrhunderts, Nachdruck von 1864, Bukarest, 267–271. Kramer, Friedrich (1887), »Bistritz um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Auf Grund eines Rechnungsbuches für die Jahre 1547 bis 1553«, in: Archiv des Vereines für siebenbürgische Landeskunde 21, Hermannstadt, 28–86. Laufs, Adolf (1973), »Einführung«, in: Das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen. Unveränderte Wiedergabe des Erstdrucks von 1583, hrsg. v. Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde mit einer Einführung von Adolf Laufs und Worterläuterungen von Wolfgang Bührer, München, V–XX. Moldt, Dirk (1999), »›Unus sit populus et sub uno judice […]‹ Bemerkungen zum ›Goldenen Freibrief‹ der Siebenbürger Sachsen«, in: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde, 22 / 1999, 197–216. Müller, Georg Eduard (1985), Stühle und Distrikte als Unterteilungen der Siebenbürgisch-Deutschen Nationsuniversität 1141–1876, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Hermannstadt 194, mit einer Einführung und einem Ortsnamenregister von Konrad G. Gündisch, (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 10), Köln / Wien. Müller, Georg Eduard (1928), »Die sächsische Nationsuniversität in Siebenbürgen. Ihre verfassungsund verwaltungsrechtliche Entwicklung. 1224–1876«, in: Archiv des Vereines für siebenbürgische Landeskunde 44, Hermannstadt, 227–424. Nägler, Thomas (1992), Die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen, 2. Aufl., Bukarest. Nussbächer, Gernot (1994), Aus Urkunden und Chroniken. Beiträge zur siebenbürgischen Heimatkunde, Bd. 4, Kronstadt. Roth, Erich (1954), Die Geschichte des Gottesdienstes der Siebenbürger Sachsen, (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 3), Göttingen. Teutsch, Georg Daniel (1925), Geschichte der Siebenbürger Sachsen für das sächsische Volk. Bd. 1: Von den ältesten Zeiten bis 1699, 4. Aufl., unveränderter Nachdruck mit einer Einführung von Andreas Möckel 1984, (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 9 / 1), Hermannstadt / Köln / Wien. Vlaicu, Monica (2000), Universitas Saxonum, (ConvergenĠe transilvane 8), Hermannstadt. Wagner, Ernst (1986), »Einführung«, in: Wagner, Ernst / Berger, Albert (Hrsg.), Urkunden-Regesten aus dem Archiv der Stadt Bistritz in Siebenbürgen 1203–1570, 2 Bde., (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens Bd.11 / 1–2), Köln / Weimar, VII–XXXV. Wittstock, Oskar (1970), Johannes Honterus. Der Siebenbürger Humanist und Reformator. Der Mann, das Werk, die Zeit, (Kirche im Osten. Monographienreihe 10), Göttingen. Zimmermann, Friedrich (1901), Das Archiv der Stadt Hermannstadt und der sächsischen Nation. Ein Führer durch dasselbe, 2. Aufl., Hermannstadt.
Marija Javor Briški, Ljubljana (Slowenien)
36. Slowenien
1. 2. 3. 4.
Das slowenische ethnische Gebiet und die Sprachproblematik – Ein historischer Abriss Die Krainer deutsche Verkehrssprache Deutschsprachige Quellen in Slowenien und deren Publikation Philologische Untersuchungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher deutschsprachiger Quellen Sloweniens 5. Resümee und Ausblick 6. Quellen 7. Literatur in Auswahl
1.
Das slowenische ethnische Gebiet und die Sprachproblematik – Ein historischer Abriss
Das Vorkommen deutschsprachiger Quellen auf slowenischem Boden ist eng verbunden mit den historischen Gegebenheiten. Die Siedlungsgebiete der Slowenen im Ostalpenraum, im Alpenvorland und in Istrien, die die Alpenslawen von der Mitte des 6. bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts in zwei Wellen – von Norden aus dem Gebiet des heutigen Mähren und von Südosten in Verbindung mit den Awaren vordringend – besiedelten, sind eng verflochten mit der über 1000 Jahre währenden Einbindung der Slowenen und ihrer Vorfahren in den deutschen Machtbereich. Schon Mitte des 8. Jahrhunderts gerieten sie in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Bayern, als der Karantanenfürst Borut den bayrischen Herzog Odilo um Schutz gegen die Awaren bat. Mit der Absetzung des letzten bayrischen Stammesfürsten Tassilo III. durch Karl den Großen im Jahre 788 fielen auch die Karantanen unter die Herrschaft der Franken, die sich durch ihre Expansion immer weiter nach Südosten ausbreiteten und schließlich auch Istrien, Friaul, Carniola – neben Karantanien das zweite Stammesfürstentum im slawischen Siedlungsgebiet des Ostalpenraumes – und Pannonien regierten. Im slowenischen ethnischen Gebiet, das durch verwaltungsmäßige und kirchliche Organisation immer mehr in das Deutsche Reich integriert wurde und bis zum Ende der Habsburger Monarchie im Jahre 1918 unter deutscher Herrschaft blieb, formierten sich das Herzogtum Kärnten und in den Grenzgebieten im Südosten des Reiches die verschiedenen Marken, woraus im späten Mittelalter durch Vereinigung der Besitzungen oder durch Verschiebung der Grenzen die innerösterreichischen Länder Steiermark, Kärnten, Krain und die Grafschaft Görz entstanden. Im Zuge der Feudalisierung der in fränkischer Zeit hinzugewonnenen Gebiete ließen sich hochadlige Geschlechter deutscher Abstammung in den Grundherrschaften, mit denen sie belehnt wurden, nieder und bildeten, zum Teil mit heimischem Hochadel verschmolzen, die führende Gesellschaftsschicht. Für eine expansive Bewirtschaftung ihrer
590
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Ländereien bedurften die weltlichen und geistlichen Grundherren, die meist in Burgen, den administrativen, militärischen und politischen Zentren, residierten, neben der slowenischen Bevölkerung, die häufig nicht in genügender Anzahl vorhanden war, auch Kolonisten, die sie in der Regel aus ihren alten Besitzungen rekrutierten. Seit dem frühen Mittelalter, vor allem aber im 12., 13. und 14. Jahrhundert wanderten deutschsprachige Siedler in den Ostalpenraum, der infolgedessen von deutschen Siedlungen durchsetzt wurde. Davon zeugen u. a. viele Ortsnamen, die sich als deutsche Entlehnungen oder Bildungen erweisen. Die wirtschaftlich bedingte Migration der Agrarbevölkerung hatte eine Germanisierung der zuvor überwiegend mit slowenischer Bevölkerung besiedelten Gebiete zur Folge. Durch Assimilierungsprozesse bildete sich im Laufe der Zeit eine Sprachgrenze heraus, indem die jeweiligen ethnischen Minderheiten von den quantitativ überwiegenden Ethnien gewissermaßen absorbiert wurden. Seit dem Ende des Mittelalters bis zum 19. Jahrhundert verlief sie über die Gailtaler Alpen bis zum Dobratsch (Villacher Alpe), an Villach vorbei über die Ossiacher Tauern, nördlich von Maria Saal über den Magdalensberg zur Saualpe und Koralpe und schließlich am nördlichen Fuß der Windischen Bühel entlang bis nach Radkersburg. (Štih 2008, 63)
In entlegenen, von der ethnischen Mehrheit isolierten Gegenden blieben einzelne Sprachinseln sogar länger bestehen. So konnte sich die aus mehreren Dörfern bestehende Zarzer Sprachinsel in den Julischen Alpen, die um 1200 von der aus dem Pustertal oder Osttirol kommenden Bauernbevölkerung gegründet wurde, bis ins 19. Jahrhundert behaupten. Die Gottscheer Sprachinsel wurde indes laut Abkommen zwischen den Besatzungsmächten Italien und dem Deutschen Reich durch Umsiedlung in die slowenische Untersteiermark 1941 aufgelöst. Bei der Bestimmung des Gottscheerischen ist sich die Forschung nicht einig. Während Kranzmayer (1956, 5) auf einer kärntnerisch-tirolischen Grundlage insistiert, gehen andere Forscher, wie Tschinkel (1908, 8f.) und Janko (1978, 89ff.; 1991, 85), von einer Mischmundart aus, die auf der verschiedenen Herkunft der Gottscheer gründen soll. Die Landbevölkerung südlich der deutsch-slowenischen Sprachgrenze war überwiegend slowenischsprachig, der Adel auf slowenischem Boden hingegen mehr oder weniger zweisprachig, doch herrschte in der mündlichen und vor allem in der schriftlichen Kommunikation das Deutsche vor. Wie in anderen Teilen des Reiches wurden viele Städte auch im slowenischen Raum im 13. Jahrhundert gegründet. Die mittelalterliche Stadtbevölkerung war sehr heterogen, was auf die doppelte Migration – einerseits auf die Ansiedlung niederer, meist slowenischer Schichten aus dem ländlichen Bereich und andererseits auf die Niederlassung von vornehmlich deutsch- und italienischsprachigen Händlern und Gewerbetreibenden aus urbaner Umgebung – zurückzuführen ist. In den Binnenstädten war neben dem Slowenischen vornehmlich das Deutsche, in den Küstenstädten dagegen das Italienische präsent. Während in den kleineren Städten Krains und zur Zeit der Reformation sogar in der Landeshauptstadt Laibach / Ljubljana die slowenische Bevölkerung zahlenmäßig dominierte, war in den untersteirischen Städten, vor allem in Cilli / Celje, Pettau / Ptuj und Marburg / Maribor, das Deutsche unter der
36. Slowenien
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Bevölkerung stärker vertreten. Ungeachtet dieser Zahlenverhältnisse war die schriftliche Verkehrssprache, je nachdem, ob es sich um Binnen- oder Küstenstädte handelte, entweder das Deutsche oder das Italienische bzw. Lateinische. Bis zur Zeit der Reformation war das Slowenische abgesehen von wenigen schriftlichen Zeugnissen auf die mündliche Kommunikation beschränkt. Im Jahre 1550 begründete Primus Truber / Primož Trubar mit seinen beiden ersten Büchern die slowenische Schriftsprache, die man allmählich über den kirchlichen Bereich hinaus gebrauchte. Trubar schaffte u. a. in seiner Kirchenordnung die Basis für das Grundschulwesen in slowenischer Sprache. Ende des 16. Jahrhunderts wurden sogar die ersten amtlichen juristischen Texte auf Slowenisch verfasst. Dennoch dauerte es über drei Jahrhunderte bis sich die slowenische Schriftsprache voll entfalten und in allen Bereichen, also auch als Amts- und Unterrichtssprache, gänzlich durchsetzen konnte. In der Zeit des engen Sprachkontaktes kam es vornehmlich zur Beeinflussung des Slowenischen durch das Deutsche sowohl bei den Mundarten als auch bei der Schriftsprache, die sich aber immer mehr, vor allem im Zusammenhang mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Nationalbewegung, dem Einfluss des Deutschen entzog. Eine Reihe von Wörtern stammt, dem Lautstand nach zu urteilen, schon aus althochdeutscher Zeit, die meisten wurden allerdings im 12., 13. und 14. Jahrhundert übernommen. Neben den Entlehnungen, wie sie in Trubars Werken in Fülle vorkommen und die in einigen Mundarten, insbesondere im Kärntner Slowenisch, in den Dialekten der Untersteiermark und Krains, vor allem in der Vergangenheit recht häufig waren, sind Einflüsse des Deutschen u. a. auch in der Syntax sowie in der Laut- und Formenlehre zu beobachten (vgl. Tschinkel 1908; Lessiak / Kranzmayer 1944; Kranzmayer 1956; Striedter-Temps 1963; Janko 1978; 1986a; 1986b; 1991; 1999; Jazbec 2007; Štih / Simoniti / Vodopivec 2008).
2.
Die Krainer deutsche Verkehrssprache
Da im Mittelalter der Adel und die Patrizier in den Städten die tragende Gesellschaftschicht darstellten, wurde an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert im Binnenland das Deutsche zur offiziellen Landessprache (vgl. Kos 1994, 44). Bis zum Jahr 1300 konnten im slowenischen Raum schon Ausstellungsorte deutscher Urkunden nachgewiesen werden. Frühe Schreibzentren waren u. a. Bleiburg, St. Veit und Friesach in Kärnten, Marburg / Maribor, Pettau / Ptuj und Unterdrauburg / Dravograd in der Untersteiermark sowie Krainburg / Kranj, Stein / Kamnik, Veldes / Bled, Bischoflack / Škofja Loka, Landstrass / Kostanjevica und vor allem Laibach / Ljubljana in Krain (vgl. Skála 1985, 1774; Kos 1994, 188ff.). Die überregionale Geschäftssprache, die gewöhnlich als Krainer deutsche Verkehrssprache oder als deutschkrainerische Gemeinsprache bezeichnet wird, weist südbairische Merkmale auf. Primus Lessiak untersuchte die in einem Urbar von Laak aus dem Jahre 1291 und einigen anderen späteren Quellen vorkommenden deutschen Ortsnamen, indem er den normalisierten mittelhochdeutschen bzw. slowenischen Lautstand mit dem krainerdeutschen verglich, wobei er allerdings keine konsequente Unterscheidung zwischen Phonemen und Graphemen durchführte, und kam im Wesentlichen zu folgendem Ergebnis (vgl. Lessiak / Kranzmayer 1944, 29ff.):
592
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Mhd. und slow. /a:/, /a/ erscheinen als (Graueneck, In dem Lak < Mlaka). Der Umlaut des langen Vokals wird in der Regel bezeichnet als (Chraeznitz < Hrastnica), eine Ausnahme bildet u. a. die vorherrschende Unterbleibung des Umlauts in der Endung -aere (Tratarn). Aus den Varianten Saifniz und Saefniz (< Žabnica), die sich zu Safnitz entwickelten, schließt er auf den Zusammenfall von /ai/ und /ε/ in hellem [a] schon in der damaligen deutschen Verkehrssprache Krains und weist auf die parallele Entwicklung der Aussprache von /ei/ als helles [a] in der späteren deutschkrainerischen Gemeinsprache und den Städtemundarten der östlichen Alpenländer. Der Vokal /e/ wird fast ausnahmslos als geschrieben. Das kurze /i/ bleibt erhalten und das lange erscheint als Diphthong (Nemeile < Nemilje). Da jüngere Entlehnungen von der Diphthongierung nicht mehr betroffen werden, auch wenn das /i/ im Slow. akzentuiert ist (Ledina < Ledína), war die Diphthongierung des /i:/ im 13. Jahrhundert schon abgeschlossen. Das akzentuierte /o/ bleibt unverändert (chogel), auch vor (Mitterdorf). Die Bezeichnung des Umlautes wird nicht konsequent durchgeführt (Choetze < *Hostja, Polan vs. Poelan in späteren Quellen). Das schwachtonige /o/ wird als (Zagradum < Za Gradom) bzw. (Capaznitz < Kopáþnica) wiedergegeben oder bleibt erhalten (Podgor < Podgôra). Der Langvokal /u:/ wird zu /ou/, /au/ diphthongiert (Zouche < Suha). Kurzes /u/ bleibt erhalten (Lufnik < Lubnik), außer im Schwachton, wo es als erscheint. Aus wird meist (MĤrawe < Murave). Das /y/ erscheint in der Graphie als oder ohne Umlautbezeichnung als (Weinz)rl vs. Mulperg). Der Diphthong /uo/ erscheint als (ErngrĤb) und dessen Umlaut als (H)blein). wird zu , wie in der Regel auch das slow. (Jelautz < Jelovica). /œu/ entwickelt sich vorwiegend zu (Vondeul < Bodovlje), (Zaeuritz, Zaevritz, vgl. dagegen Zourica in einer Quelle von 973) oder (In der Liezgaewe < Leskóvica). Der slowenische Diphthong wird zu (In der Raunich, vgl. slow. Ravne). Aus /iu/ entsteht bzw. (In der Leubs, vgl. slow. Luša < *Ljubša). /y/ wird zu (Auf dem Chraevtzberge). Der Diphthong /ei/ wird, wie im Bairischen allgemein üblich, zu /ai/ (Aich). Kennzeichnend im Bereich des Konsonantismus ist der / -Wechsel im Anlaut (Tobratsch < Dobraþeva). Im In- und Auslaut bleibt der stimmhafte labiodentale Verschlusslaut /d/ erhalten (Ledinitz < Ledínica). Anlautendes /st/ verändert sich zu /d/ (Drasich, vgl. Strasista in einer Quelle von 1002, slow. Stražišþe). Im An- und Inlaut bleibt /g/ erhalten (Gaberch < Gaberk, Podgor < Podgôra), im Auslaut wird es teils zur velaren Affrikate, die in der Graphie als (Hinterburch) wiedergegeben wird, teils zu (Mulperg). Die bairische velare Affrikate wird ebenfalls durch bezeichnet (Chaltenueld). Der slowenische stimmlose Explosivlaut /k/ erscheint als (Wizzoch < Visoko), (Lak < Mlaka) oder (Capaznitz < Kopáþnica). Anlautendes slow. /k/ wird auch durch das Graphem wiedergegeben (In Goritich, slow. Korito). Der / -Wechsel zur Wiedergabe des slow. /k/ »deutet auf ein Fehlen des anlautenden unaspirierten k im Deutschen in alter Zeit« (Lessiak / Kranzmayer 1944, 32). Germ. erscheint als , (Graueneck, Pogsrukke).
36. Slowenien
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Für slow. /b/ gebraucht man bei den alten Verdeutschungen oder (Lufnik < Lubnîk, Veznitz < Bésnica). In den jüngeren Quellen dagegen wechseln die Grapheme (Lauzkiberde < Lovsko Brdo) und (Wazabize < Bezovnica), was auf die Annäherung der Laute /b/ und /w/ im Bairischen hindeutet (vgl. Tauber 1993, 133). Dt. /b/ im Anlaut wird zu
(in dem Pach) oder (Burchstal). Dem slow. /p/ entspricht die Schreibung
(Praschach < Praše). Das slow. /v/ wird meist mit dem Graphem (Wizzoch < Visoko) oder (Bukkebitz < Búkovica) bezeichnet. Der mittelhochdeutsche dentale doppelte Reibelaut /CC/ erscheint als (Niusaezze). Slow. /s/ wird als (Goztech < Gosteþe) wiedergegeben. Im Anlaut steht dafür meist das Graphem (In Ztariwazi, slow. Stara vas), das der dentalen Affrikate entspricht, manchmal allerdings auch (Selzach, slow. Selce). Der Wechsel von und deutet auf die slowenische Angleichung der /s/-Laute. Die slowenische stimmhafte Spirans /z/ erscheint in der Graphie als oder (Zwalie, in einer Quelle von 1682 dagegen Sauallie). Slow. entspricht die Graphie (Ledinitz < Ledinica). Die dt. Affrikate /tz/ erscheint als (In dem Holtze). Slow. // wird als (Laschke < Laško) geschrieben, mhd. /s/ als (Haslach) und slow. desgleichen als (Drasigos < Dražgoše). Für slow. steht in der Regel (Tobratsch < Dobraþeva), manchmal auch , (Wolts < Volþe, Capaznitz < Kopáþnica). Slow. /h/ im Inlaut und in der Endung -ach wird als geschrieben und entspricht dem velaren Reibelaut, im Anlaut steht zwar auch die Graphie , die aber in dieser Position die velare Affrikate wiedergibt (Chraeznitz < Hrástnica). Das slowenische /m/ schwindet vor /l/ im Anlaut (In dem Lak < Mlaka).
3.
Deutschsprachige Quellen in Slowenien und deren Publikation
Neben einigen literarischen Manuskripten des späten Mittelalters, die vornehmlich in der Handschriftenabteilung der National- und Universitätsbibliothek aufbewahrt werden (vgl. Kos / Stele 1931), bergen die slowenischen Archive eine Fülle von Gebrauchstexten in deutscher Sprache. Bestände mit frühneuhochdeutschen Quellen findet man vor allem im Archiv der Republik Slowenien, daneben u. a. auch im Regionalarchiv Maribor und in den Historischen Archiven Ptuj und Celje. Auf Initiative von Historikern wurden in der Vergangenheit schon etliche Quellen publiziert, jedoch sind die älteren Editionen aufgrund der normalisierenden Transkription für sprachliche Erforschungen weniger geeignet, darüber hinaus sind etliche Ausgaben für eine breitere Öffentlichkeit nur schwer zugänglich. Erst die neueren, nach modernen Prinzipien erstellten Editionen historischer Quellen dienen auch sprachwissenschaftlichen Analysen (vgl. Javor Briški 2009b).
594
4.
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Philologische Untersuchungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher deutschsprachiger Quellen Sloweniens
Bislang gibt es nur wenige philologische Untersuchungen zu kanzleisprachlichen Texten aus Slowenien. Unter dem Gesichtspunkt einer Kanzleisprachenforschung, die neben dem Geschäftsschrifttum auch literarisch-fiktionale Texte mit einschließt (vgl. Greule 2001, 16), ist zunächst J. Stanoniks (1957) Abhandlung anzuführen. Nach der kommentierten Auflistung der mittelalterlichen Bestände deutschsprachiger literarischer Texte in Krain, bei denen es sich hauptsächlich um Abschriften älterer, aus anderen Gebieten des deutschen Sprachraums stammender Handschriften handelt, die zum Teil verschollen sind, zum Teil auch außerhalb des Landes aufbewahrt werden, folgt eine detailliertere Analyse der Quellen. Behandelt werden die Fragmente von Wolframs von Eschenbach Parzival, die Krainer Marienklage, Totentanztexte aus dem Gebetbuch Herzog Wilhelms von Bayern (Signatur der National- und Universitätsbibliothek Ljubljana: NUKLj Ms 140), Gute Meinung von dem Sünder, Cisiojanus sowie die als Zauber- bzw. Segensprüche bezeichneten Texte des Gebetbuches NUKLj Ms 224. Die Texte sind entweder vollständig oder auszugsweise ediert und weisen nach der Bestimmung des Lautstandes im Großen und Ganzen eine (süd-)bairische Schreibsprache auf. Zum Schluss verweist der Autor auf einige Texte, zumeist aus dem Gebetbuch Herzog Wilhelms von Bayern, die im Hauptteil nicht berücksichtigt wurden. Das Gebetbuch NUKLj Ms 224 war auch Gegenstand weiterer literatur- und sprachwissenschaftlicher Untersuchungen (vgl. Javor Briški 1995; 1998a; 1998b). Es liegt nun eine Edition des Gesamttextes vor, der geistesgeschichtlich eingeordnet und einer genaueren kodikologischen, phonematisch-graphematischen, lexikalischen und literarhistorischen Analyse unterzogen wurde. Der Codex, der Gebete, apotropäische Formen, Anweisungen und eine Glaubenslehre enthält, wurde Ende des 15. bzw. Anfang des 16. Jahrhunderts von – der Händescheidung nach zu urteilen – drei Schreibern aufgezeichnet. Die Schreibsprache ist südbairisch. Das Gebetbuch Ms 224 ist in einem Beitrag von A. Greule (2009) Gegenstand der Textlinguistik. Das textgrammatische Beschreibungsmodell wird zum ersten Mal auf diese Textsammlung oder Textallianz angewendet, die eine korpus-interne Hierarchie aufweist. Am Beispiel eines Kleintextes, dessen textgrammatische Struktur aufgezeigt wird, geht es vor allem um die Frage nach der Versprachlichung der zwischen den Texten bestehenden Relationen auf der Ebene der sogenannten Paratexte. Eine Untersuchung von J. Stanonik (1973) thematisiert die althochdeutschen Glossen in Ljubljanaer Handschriften. Die ersten lateinisch-althochdeutschen Glossen, die im Archiv des Slowenischen Nationalmuseums aufbewahrt werden, stammen aus dem 12. Jahrhundert und enthalten Abschnitte der Epitome Liber glossarum und Abavus maior. In der Handschrift NUKLj Ms 46 findet man ein kurzes Glossar unter dem Titel Nomina quaedam herbarum. Das dritte Glossar, das zum ersten Mal ediert ist, steht am Ende der Handschrift Summa Reymundi de Peniafort, die sich im Archiv des Erzbistums Laibach / Ljubljana befindet. Das Glossar ist eine Abschrift der althochdeutschen Glossen Heinrici Summarium. Die deutschen Wörter weisen auf südbairische Schreibsprache vom Beginn des 14. Jahrhunderts hin, allerdings findet man auch noch einige Spuren althochdeutscher Lautformen.
36. Slowenien
595
D. Ludvik (1974) behandelt in seinem Aufsatz anhand der von J. Zahn (1893) publizierten Urkunden die mittelhochdeutsche Laut- und Wortgeschichte der Steiermark. Er geht von der Prämisse aus, dass lateinische Laut- und Wortformen eines bestimmten Gebietes eine chronologische Grundlage haben, was die Datierung der Veränderungen ermöglicht, die in der seiner Ansicht nach häufig dialektal gefärbten Urkundensprache gewöhnlich früher erkennbar seien als in literarischen Texten. Jedoch bleiben infolge der Traditionsgebundenheit die alten Formen noch über Jahrzehnte neben den neuen mundartlichen weiter bestehen. Er untersucht die dialektalen Veränderungen des mhd. abbât > abt und des Genitivs -tes ( = palatales //) > -tes ( = /s/) > ts > c. Aus der bairischen Form mit Betonung auf der ersten Silbe áppât entsteht die slowenische mundartliche und seltene Form ápat (Apaþe albn), wobei es sich allerdings auch um ein jüngeres, analoges, bis dahin noch nicht registriertes schwaches Femininum im Nominativ Singular handeln könnte. Die assimilierte Form albm / albn existierte in der Steiermark entgegen der bisherigen Forschungsergebnisse schon im 14. Jahrhundert. Das mhd. b- / poum entwickelt sich nach verschiedenen Vokalveränderungen im späten 13. Jahrhundert zu bair. pƗm. Noch von der mittelhochdeutschen Form boumgart stammen die slowenischen Varianten der Ortsnamen Pungart u. a. Die jüngere Form pušpan wird hergeleitet von bair. *puhšpam. Ahd. b- / píscof ( = palatales //) ergibt regulär mhd. b- / píschof. Die zweite, in den steiermärkischen Urkunden häufigste Form ist piscolf, pischolf mit Varianten. Die althochdeutsche Form biscóf mit Betonung auf der zweiten Silbe ergibt slow. škof. Als letzter Punkt werden noch die Gegenwörter für magnus und parvus untersucht, wofür im klassischen Mittelhochdeutsch die Gegensatzpaare grôz und klein in der heutigen Bedeutung noch nicht vorkommen. In den steiermärkischen Urkunden werden zur Differenzierung von Nachbarorten mit demselben Grundwort einige bislang nicht beobachtete Gegenwörter gebraucht, wie michel : wenig (nicht lützel oder klein). Eine Variante mit Diminutivendung für ›klein‹ ist -el, -elîn. In einem Beitrag von A. Janko (1982) werden erstmals zwei Wigalois-Framente NUKLj Ms 1079) aus Ljubljana, die aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammen, ediert. Die lautliche Analyse weist auf bairische Schreibsprache, wie z. B. die Diphthongierung von > , die velare Affrikate im Anlaut als und das Trigraphem (< germ. ) in der Gemination hin. Neben einer Graphemanalyse von Vokalen und Konsonanten sind auch die Abbildungen der Fragmente abgedruckt. In einer pragmatisch orientierten Text- und Stiluntersuchung (vgl. Javor Briški 2009a) werden die Protokolle der Liegenschaftskäufe, die im ältesten Gerichtsbuch von Krainburg / Kranj aus den Jahren 1517–1520 enthalten sind, analysiert. Makrostrukturell sind sie in drei Teile gegliedert, auf syntaktischer Ebene dominieren komplexe Sätze. Kennzeichnend sind elliptische Infinitiv- oder Partizipialkonstruktionen und die Kontaktstellung der finiten und infiniten Verbform im Hauptsatz, eine knappe sachliche Ausdrucksweise mit einer Tendenz zum Nominalstil. Die vergleichende syntaktische Analyse der Instruktion Kaiser Maximilians I. vom 7. August 1515 an die Krainer Landstände und ihres Antwortschreibens fokussiert die
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Typen der Nebensätze, die satzäquivalenten Infinitivkonstruktionen, die Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen, die Arten der Ellipsen und die Inkongruenz des Numerus zwischen Subjekt und Prädikatsverb (vgl. Javor Briški 2010).
5.
Resümee und Ausblick
Die deutsche Schreibsprache der im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit im slowenischen ethnischen Gebiet entstandenen Quellen ist überwiegend südbairisch geprägt. Bislang wurde die Erforschung der deutschen Kanzleisprache(n) des Schrifttums slowenischer Archive und Bibliotheken nur vereinzelt durchgeführt und konzentrierte sich in den Anfängen vornehmlich auf die phonematisch-graphematische Analyse. Erst in neuerer Zeit gibt es auch Ansätze im Bereich der Syntax, der Pragmalinguistik und der Textgrammatik. Ein wichtiger Impuls für eine gezielte Untersuchung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texte wäre die Erfassung der in Slowenien befindlichen deutschsprachigen Handschriftenbestände des relevanten Zeitraums in einem umfassenden systematischen Überblick (vgl. Meier / Piirainen / Wegera 2009) und die vermehrte Erstellung handschriftengetreuer Editionen, um die Quellen einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen. Zukünftige Aufgaben wären neben weiteren phonematisch-graphematischen, morphologischen, syntaktischen und stilistischen Analysen auf dia- und synchroner Ebene u. a. die Untersuchung von Einflüssen anderer Kanzleisprachen auf die im slowenischen Raum verfassten Texte und von Interferenzen aufgrund der vorherrschenden Diglossie der Schreiber sowie textgrammatische und pragmalinguistische Analysen.
6.
Quellen
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7.
597
Literatur
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
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Józef Wiktorowicz, Warschau (Polen)
37. Die deutsche Kanzleisprache in Polen
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Die deutsche Ansiedlung in Polen Sprachliche Merkmale Lexikalische Entlehnungen Textsorten Untersuchungen zur Kanzleisprache im heutigen polnischen Raum Literatur
Die deutsche Ansiedlung in Polen
Die deutsche Ansiedlung in Polen begann Ende des 12. Jahrhunderts zuerst in Schlesien, dann auch im nördlichen Teil des heutigen polnischen Raums. Als Beginn dieses Prozesses nimmt man das Jahr 1175 an, in dem der schlesische Fürst Boleslaus dem deutschen Kloster in Leubus / LubiąĪ gestattete, deutsche Bauern anzusiedeln. Die tatsächliche Ansiedlung der deutschen Bauern in Leubus erfolgte aber erst 1202. Als Beginn der deutschrechtlichen Städtegründungen betrachtet man das Jahr 1211, in dem die Stadt Goldberg / Złota Góra das deutschrechtliche Gründungsprivileg erhalten hatte. Die deutschrechtlichen Städtegründungen in Schlesien wurden durch zwei Faktoren begünstigt: a). durch die Flucht vieler deutscher Bürger nach Osten auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen; b) durch die verheerenden Verluste unter der Bevölkerung in Schlesien und Kleinpolen nach dem Mongoleneinfall im Jahre 1241. Die schlesischen Fürsten brauchten neue Arbeitskräfte nach der Verwüstung der südlichen polnischen Gebiete durch die Mongolen; daher wurde stellenweise sogar urkundlich festgelegt, dass kein Pole in den Städten angesiedelt werden durfte. In Schlesien bekam Breslau 1149 das deutsche Recht, Neiße / Nysa noch vor 1223, Trebnitz / Trzebnica 1224, Glogau / Głogów 1248, Brieg / Brzeg 1250, Bunzlau / Bolesławiec 1251, Liegnitz / Legnica 1252, Oppeln / Opole vor 1258, Schweidnitz / Swidnica 1267. In Kleinpolen bekam Krakau 1257 das deutsche Recht: Die meisten Städtegründungen gab es ab der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Im schlesischen Raum wurden mehr als 120 deutschrechtliche Städte gegründet, während es nur 52 deutschrechtliche Städtegründungen im großpolnischen Raum gab. Im südlichen, d. h. kleinpolnischen Raum, gab es ebenfalls nicht so viele deutschrechtliche Städtegründungen. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts gab es so gut wie keine neuen deutschrechtlichen Städtegründungen im polnischen Raum, weil eine große Pestwelle in Deutschland den Siedlerstrom unterbrochen hatte. Die deutschen Siedler im südlichen Teil Polens kamen meist aus Sachsen und Thüringen, darüber hinaus aus Hessen und Bayern. Der Einfluss des Bairischen zeigt sich im südlichen Teil des schlesischen Raums, während der mittlere und nördliche Teil
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Schlesiens ostmitteldeutsche Merkmale aufweist. Auch in Kleinpolen sind oberdeutsche Merkmale in der deutschen Kanzleisprache kaum nachzuweisen. Die deutsche Ansiedlung im nördlichen Teil des heutigen polnischen Raumes, d. h. in Pommern und Pommerellen, wurde vom Herzog von Pommern-Stettin und vom Markgrafen von Brandenburg vorangetrieben. Später beteiligte sich auch der Deutsche Orden an der unteren Weichsel an der deutschrechtlichen Besiedlung, in Großpolen wurde sie durch die polnischen Teilfürsten und Bischöfe von Gnesen unterstützt. In diesen Raum kamen vorwiegend Siedler aus Schlesien und aus Brandenburg. Im Norden überwogen die Siedler aus dem niederdeutschen Raum, in Dirschau / Tczew an der unteren Weichsel gab es niedersächsische Siedler, ähnlich war es auch in den Städten an der Ostseeküste. Nach Kolberg / Kołobrzeg (gegründet 1255) kamen Bürger aus Lübeck und Greifswald, in Köslin / Koszalin (gegründet 1266) gab es ebenfalls niedersächsische Bürger. Elbing / Elbląg bekommt 1246 lübisches Recht. Die deutschen Siedler kamen in ein Gebiet, in dem vorwiegend slawische Bevölkerung ansässig war. Im Süden wurde polnisch und tschechisch gesprochen, in der Mitte polnisch und im Norden wurde kaschubisch und altpreußisch gesprochen, im westlichen Norden wurden noch andere westslawische Dialekte verwendet. In diesem bilingualen (manchmal trilingualen) Raum kam es gelegentlich zu Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen bis es zum Prozess der Unilingualisierung kam, d. h. zum Übergang zur ausschließlichen Verwendung des Deutschen. Der Prozess der Unilingualisierung verlief am schnellsten im Norden des heutigen polnischen Raumes, weil dort diese Veränderung durch verschiedene Verwaltungsmaßnahmen beschleunigt wurde, z. B. durch das Verbot, slawische Handwerker zu den Zünften zuzulassen (Kolberg / Kołobrzeg im 16. Jahrhundert). Der bilinguale Charakter dieser Gebiete hat sprachliche Spuren in den lexikalischen Entlehnungen in den kanzleisprachlichen Texten hinterlassen, die unter diesem Aspekt noch nicht genügend erforscht wurden.
2.
Sprachliche Merkmale
Im Hinblick auf die sprachlichen Merkmale trägt die Kanzleisprache im südlichen Teil Polens, d. h. im schlesischen Raum, deutliche Züge der ostmitteldeutschen Verkehrssprache. In allen Texten der schlesischen Stadtbücher von Neiße, Brieg, Leobschütz, Sprottau, Breslau sowie in den Stadtbüchern von Krakau und im Schöffenbuch der Gemeinde Krzemienica treten die Monophthonge /i:, y:, u:/ für die alten mittelhochdeutschen Diphthonge /ie, ye, uo/ auf. Auch in den Stadtbüchern von Posen sowie in den Stadtbüchern der Städte, die schon im Ordensland lagen, die aber die ostmitteldeutsche Kanzleisprache verwendeten, findet man ebenfalls Monophthonge. Die Stadtschreiber der Städte Elbing, Kulm und Thorn verwendeten in ihren Texten die neuen Monophthonge. Für die neuen Monophthonge findet man fast konsequent die Schreibungen . Für mhd. /ie/ findet man unter anderem die Belege kysen, liben, biten, für mhd. /üe/ bussen, huten, ubende, mussen, vuren, für mhd. /uo/ gute, hute, thun, tuch, busse. Für das monophthongierte /y:/ gibt es im 14. Jahrhundert im gesamten Gebiet von Neiße und Breslau bis Krakau und Krzemienica keine Beispiele für die Entrundung.
37. Die deutsche Kanzleisprache in Polen
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Schwarz hat angenommen, dass dieser Prozess im Schlesischen eine relativ späte Erscheinung war. Im Schlesischen findet man erste Anzeichen für die Entrundung erst Ende des 14. Jahrhunderts; in Krakau gibt es in der Stadtkanzlei für diese mundartliche Erscheinung keine Belege, nur in der Krakauer Vogtkanzlei, in der weniger geübte Schreiber tätig waren, lassen sich relativ viele Beispiele für die Entrundung im 15. und 16. Jahrhundert finden, z. B. iber, steck ›Stück‹, schesseln ›Schüsseln‹. Ein anderes charakteristisches Merkmal der Kanzleisprachen im schlesischen Raum, in Krakau, in Südpolen und Großpolen (Posen) ist die Diphthongierung der hohen langen mittelhochdeutschen Vokale /i:, y:, u:/. Allerdings gibt es in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch monophthongierte Schreibungen (min, syn, hus, geczugnis und andere), erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts setzt sich die Diphthongierung im gesamten schlesischen Raum durch. Auch in Krakau, wo die meisten Bürger aus dem schlesischen Raum stammten, erscheinen die diphthongischen Schreibungen seit 1367 (seyn, weise, huse, muern). Daneben verwendet aber der Krakauer Stadtschreiber noch die monophthongischen Schreibungen (syn, gelichen). Seit dem 15. Jahrhundert gibt es in der Krakauer Kanzleisprache konsequent Schreibungen mit . Auch in den städtischen Kanzleien in Schlesien gibt es die neuen Diphthonge in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Nach Jungandreas (1937) beginnt die Diphthongierung in Schlesien in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts; Wiesinger (1962) dagegen nimmt an, dass es schon im 13. Jahrhundert Diphthonge im Auslaut und vor Vokal gab. Nur für den Diphthong vor Konsonanten nimmt Wiesinger einen etwas späteren Zeitpunkt an, und zwar in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In Krakau, das weiter östlich liegt, ist die Diphthongierung etwas später eingetreten. Noch später ist die Diphthongierung im nördlichen Teil des heutigen polnischen Raums, d. h. in den Städten des Ordenslandes, eingetreten. Grabarek verzeichnet für die Kanzleisprache in Thorn die ersten Schreibungen für die neuen Diphthonge erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts. Noch Anfang des 15. Jahrhunderts findet man jedoch im Schöffenbuch der Alten Stadt Thorn ein Nebeneinander von Einzelgraphemen und Doppelgraphemen (hus, haus, min, mein). Die Diphthonge gibt es auch in den Stadtbüchern von Posen und im Schöffenbuch der Dorfgemeinde Krzemienica in Südostpolen (südlich von Rzeszów). Wenn man die geographische Verbreitung der neuen diphthongischen Schreibungen betrachtet, kann man beobachten, dass sich die Diphthongierung von Süden nach Norden des schlesischen Raums verbreitet hat. Die diphthongischen Schreibungen erscheinen früher und in größerer Zahl in den Stadtkanzleien des südlichen schlesischen Raums als im nördlichen Teil. Noch später hat die Diphthongierung die Stadtkanzleien innerhalb des Ordenslandes erfasst, d. h. in Thorn, Kulmsee und Elbing. Eine andere phonetische Erscheinung, die für das gesamte schlesische Gebiet, für die Sprachinseln Krakau und Krzemienica, für die Stadtbücher von Posen sowie für die Kanzleisprache innerhalb des Ordenslandes (Thorn, Elbing) charakteristisch ist, ist die Hebung und Rundung des langen mhd. /a:/ zu /o:/, die relativ konsequent mit dem Graphem bezeichnet wird (mole, rothe, molers, sprochin). Daneben gibt es im gesamten Raum auch die Schreibungen mit (rate, maler, sprachin). Man kann annehmen, dass die Rundung und Hebung des langen mhd. /a:/ zu /o:/ sich schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Für Krakau muss man einen etwas späteren
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Zeitpunkt für die Hebung und Rundung annehmen, weil sich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch keine Schreibungen mit nachweisen lassen. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Der Krakauer Stadtschreiber Rüdiger, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts tätig ist, verwendete schon gelegentlich Schreibungen mit (obent, voren (wâren), montage). Die Hebung und Rundung des mittelhochdeutschen langen /a:/ ist eine Erscheinung, die nicht nur im Schlesischen verbreitet war. Dieser phonetische Wandel trat fast im gesamten oberdeutschen und mitteldeutschen Raum auf. Eine andere phonetische Erscheinung, die in den schlesischen Kanzleisprachen auftrat, aber nicht konsequent bezeichnet wurde, ist die Senkung der mittelhochdeutschen hohen kurzen Vokale /i, y, υ/ zu /e, ø, o/. Dieser phonetische Wandel zeigt sich auf der graphischen Ebene meist erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die Senkung der mittelhochdeutschen hohen kurzen Vokale wird auf der graphischen Ebene nicht konsequent bezeichnet, weil die Stadtschreiber oft diese mundartliche Erscheinung meiden. Es lassen sich mehr Beispiele für die Senkung von /y, υ/ finden, z. B. ortel ›Urteil‹ wilkor, gebort ›gebührt‹, könig, mönch. Beispiele aus Krakau: moncze (1398), noremberg (1397), vochsin (1392); vromen, gewonnen, Borkgassin, forcht, dorch. In der Krakauer Kanzleisprache überwiegen die Schreibungen mit , aber in Texten der Krakauer Vogtkanzlei, in der weniger geübte Schreiber tätig waren, findet man mehr Belege für die Senkung der mittelhochdeutschen hohen kurzen Vokale, z. B. engber (Ingwer), czenen kanne, gortel ›gürtel‹, schosseln ›Schüsseln‹, coper ›Kupfer‹, genoczt ›genutzt‹, scholcz ›schulz‹. Das Gleiche kann man auch in der Kanzleisprache der Dorfgemeinde Krzemienica beobachten, in der mehr mundartliche Erscheinungen Eingang in die geschriebene Sprache gefunden haben (vgl. Doubek 1932, 63ff.). Die gesenkten Vokale wurden im 15. / 16. Jahrhundert aus der schlesischen Kanzleisprache unter dem Einfluss der Schriftsprache verdrängt (vgl. Schwarz 1927 / 1928, 105ff.). Auch die Stadtbücher von Posen, Breslau und die Beispiele bei Jungandreas zeigen deutlich, dass sich die gesenkten Vokale auf eine kleine Gruppe von Wörtern beschränken. Die Senkung von mhd. /I/ zu /e/ wird nur in offener Silbe bezeichnet, was ein Indiz dafür ist, dass der gesenkte Vokal gedehnt wurde und damit mit dem langen /e/ zusammengefallen ist. Eine andere mundartliche Erscheinung findet selten Eingang in die schlesischen Kanzleisprachen; es handelt sich um die Senkung des mittelhochdeutschen kurzen offenen Vokals /E/, der in der gesprochenen Mundart zu /a/ geworden ist. In den Stadtbüchern von Neiße, Namslau, Sprottau und Krakau findet man kaum Belege für diese mundartliche Senkung. Lediglich im Schöffenbuch der Dorfgemeinde Krzemienica findet man mehr Belege für die Senkung von mhd. /ε/ zu /a/ (vgl. Doubek 1932, 58: swaster, dam, salber, gewast, gesassen). Wenn man die Belege aus Krakau betrachtet, so findet man in der Krakauer Stadtkanzlei Beispiele ohne Senkung (gewest, swester, gegeben), während zum gleichen Zeitpunkt in der Vogtkanzlei gesenkte Formen vorhanden sind (gegabin, taller, vortratin, 2 gale hauben). In der Stadtkanzlei findet man gelegentlich lose Blätter, auf denen ein Testamentsentwurf festgehalten wird. Auf einem losen Blatt wird die gesenkte Form ich gabe, ich befale verzeichnet, während die Reinschrift im Stadtbuch die korrigierte Form ohne Senkung aufweist: ich gebe, ich befele. Solche Korrekturen von Wortformen sind ein Hinweis darauf, dass die Senkung von mhd. /ε/
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zu /a/ in der gesprochenen Sprache vorhanden war, während sie in der Kanzleisprache gemieden wurde. Auch in den Stadtbüchern der anderen Städte erscheinen die Wortformen mit der Senkung von /ε/ zu /a/ nur sporadisch (vgl. Arndt 1897 für Breslau, Anders 1939 für Posen). Im konsonantischen Bereich ist der Zusammenfall des mittelhochdeutschen Phonems /s/ (auf der graphischen Ebene durch bezeichnet) und des neuen /s/ (auf der graphischen Ebene durch bezeichnet) charakteristisch. Die beiden Konsonanten waren im Mittelhochdeutschen stimmlose Spiranten, wobei /s/ auf das germanische /s/ zurückgeht und das neue /s/ infolge der 2. Lautverschiebung entstanden ist. In der schlesischen Kanzleisprache werden die gleichen graphischen Zeichen für die beiden mittelhochdeutschen Konsonanten verwendet. Für mhd. /s/ finden wir die Schreibungen sterbin, gaste, wes; für mhd. /s/ gibt es folgende Schreibungen: mose, moze, fleyze, buse, bussen, fuze. Der Zusammenfall der beiden mittelhochdeutschen Konsonanten erfolgt schon im 13. Jahrhundert, daher ist diese Erscheinung für das gesamte hochdeutsche Gebiet charakteristisch. Der Übergang von /s/ zu /S/ vor den Konsonanten /l, m, n, v, p, t/ ist dagegen im 14. und 15. Jahrhundert im gesamten schlesischen Raum noch nicht eingetreten, weil in solchen Positionen fast konsequent das Schriftzeichen verwendet wird: in Breslau gesworn, swerte, slafend, stocke, sloß, spricht; in Krakau dem smyde, swester, sneiden, stifsone. Im Sachsenspiegel aus Breslau findet man gelegentlich schon das Schriftzeichen vor /l/ (geschlagen, totschlag). Erst im 16. Jahrhundert findet man im schlesischen Raum fast konsequent die Schreibungen mit vor /l, m, n, v/; in Namslau (schneider, schmal, Schlussel); in Brieg (Schlesien , geschworne); in Leobschütz (schneyden, anschlagen). Nur vor /p, t/ wird ohne Ausnahme das Schriftzeichen verwendet: stets, Badstuben, straffe, sprechin. Im gesamten ostmitteldeutschen Raum beobachtet man den Schwund des intervokalischen mittelhochdeutschen Konsonanten /h/. Auch in den schlesischen Kanzleisprachen, in der Kanzleisprache von Krakau sowie im Schöffenbuch aus Krzemienica wird dieser mittelhochdeutsche Konsonant in der intervokalischen Position nicht mehr bezeichnet, z. B. geschen (mhd. geschehen), durchczien (mhd. ziehen), swer (mhd. sweher), czen (mhd. zehen). Die nieder- und oberschlesischen Kanzleisprachen sowie die Sprachinseln Krakau und Krzemienica und die Stadtbücher von Posen gehören auf Grund ihrer sprachlichen Merkmale zum ostmitteldeutschen Sprachraum. Dennoch sind im südlichen Teil des schlesischen Raums bairische Einflüsse zu beobachten. Als ein eindeutiges bairisches Merkmal muss man das Auftreten des Suffixes -nus in den oberschlesischen Stadtbüchern von Namslau, Leobschütz und Brieg betrachten, während im nördlichen Teil des Schlesischen, in Krakau und Krzemienica nur das Suffix -nis belegt ist. Beispiele aus Namslau: erkentnus, erlaubnus; Brieg: erkhandtnus, verhencknus. Allerdings findet man in Neiße auch bekenthniß statt des zu erwartenden bekantnus. Im übrigen Raum gibt es nur gefenknis, bekentnis, erlaubnis. Das Präfix vor-, das als ostmitteldeutsches Merkmal gilt, erscheint im gesamten schlesischen Raum mit Ausnahme der südlichen Gebiete, in denen neben dem Präfix vor- auch die Variante ver- auftritt, z. B. gibt es in Namslau im oberschlesischen Raum
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vor-: vorstorben; in Leobschütz dagegen findet man die beiden Formen versprochen, vermugen neben voreinigett, vormehrung. Auch in den Brieger Briefen gibt es ein Nebeneinander von vor- und ver-: verstundt, vorhalten. Ein anderes oberdeutsches Merkmal, das im südlichen Teil des schlesischen Raumes auftritt, ist die Apokope des auslautenden -e. Allerdings ist das Verbreitungsgebiet der Apokopierung viel kleiner als von Jungandreas angenommen. Entgegen der Behauptung von Jungandreas liegt Krakau außerhalb des Apokopierungsraumes. Krakauer Belege: gnode, saczczunge, hawse, leute, gerne usw. Die Apokope findet man häufiger in den Stadtbüchern der oberschlesischen Städte Leobschütz, Namslau, Brieg; z. B. in Leobschütz straff mehrmals neben straffe, Gesell (daneben auch Geselle), ohne Apokope aber in Leobschütz eine kanne, versamlunge, in Brieg u. a. vorkauffung.
3.
Lexikalische Entlehnungen
Die nieder- und oberschlesischen Kanzleisprachen haben sich im bilingualen Raum entwickelt, in dem neben dem Deutschen auch das Polnische und im südlichen Teil des schlesischen Raums auch das Tschechische gesprochen wurde. Daher wäre es interessant zu untersuchen, wie stark das Polnische bzw. das Tschechische die schlesischen Kanzleisprachen im lexikalischen Bereich beeinflusst haben. Dieser Aspekt der gegenseitigen Beeinflussung bleibt in der Forschung weitgehend unberücksichtigt. Lediglich für die Sprachinsel Krakau gibt es einige Hinweise auf das Vorhandensein polnischer lexikalischer Entlehnungen in der Krakauer Kanzleisprache. Die lexikalischen Entlehnungen betreffen hauptsächlich Bezeichnungen von Kleidungsstücken und Stoffbezeichnungen (vgl. Wiktorowicz 1995, 233). So findet man z. B. in den Krakauer Stadtbüchern mehrfach kaftan, ein Wort, das in die slawischen Sprachen aus dem Türkischen übernommen wurde, oder kitajka ›glänzender Seidenstoff‹, ein Wort, das aus dem Russischen ins Polnische übernommen wurde und dann oft von den Stadtschreibern in den Hinterlassenschaftsverzeichnissen gebraucht wurde. Direkte Entlehnungen aus dem Polnischen in der Krakauer Kanzleisprache sind u. a. wloczka ›Wolle‹: eyn Colner von wloczka, obojczyk ›eine Halsbinde‹: eyn oboyczyk von aldem sammet. Nicht nur in der Sprachinsel Krakau, sondern auch im oberschlesischen Raum findet man gelegentlich polnische Lehnwörter, z. B. eine Soldatenmalpe, eine Malpe (Schimpfwort: ›Affe‹) (vgl. Piirainen 2002).
4.
Textsorten
Die Kanzleisprache, die uns jetzt in verschiedenen Stadtbüchern zur Verfügung steht, ist aus der Notwendigkeit entstanden, das Leben der Stadtgemeinschaft zu regulieren. Der Stadtrat beschäftigte einen oder mehrere Stadtschreiber, deren Aufgabe es war, Ratsbestimmungen, Gerichtsurteile, Testamente, Schenkungsurkunden, Schlichtungsentscheide, Privilegien und verschiedene Zunftordnungen in den Stadtbüchern schriftlich festzuhalten. In den Texten wurde fixiert, welche Regelungen von den Ratsgremien oder
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605
von den einzelnen Bürgern beschlossen wurden, die für das soziale Leben innerhalb der Stadtgemeinschaft relevant waren. Die Stadtbücher fungierten daher als Kommunikationsform, in der verschiedene Textsorten realisiert wurden. Allerdings finden sich in den Stadtbüchern nur solche Textsorten, die das Zusammenleben der Stadtgemeinschaft regulierten. Daher überwiegen in den Stadtbüchern Texte und Textsorten normativen Charakters. Den meisten Texten in den Stadtbüchern kann die legislative Textfunktion zugeordnet werden. Die Größe und Organisation der Stadtkanzlei war von der Größe der Stadt und von den Bedürfnissen der betreffenden Stadtgemeinschaft abhängig. Die Stadtbücher werden meist als Ratsbücher, Schöffenbücher oder Zunftbücher im Hinblick auf die Gremien bezeichnet, die juristische Entscheidungen trafen, oder im Hinblick auf den Inhalt des betreffenden Stadtbuchs. Daher gibt es fast in jeder schlesischen Stadt Schöffenbücher oder Ratsbücher. In der Regel werden in verschiedenen Handschriften auch Stadtordnungen festgehalten, die – je nach Stadt – Feuerordnung, Brauordnung und verschiedene Zunftordnungen enthalten. Aber trotz der gleichen deutschrechtlichen Organisation in den schlesischen, in groß- und kleinpolnischen Städten traten nicht immer die gleichen Textsorten auf, weil die sozialen Bedürfnisse der Stadtgemeinschaft und eine andere Organisation des handwerklichen und kaufmännischen Zusammenlebens zur Folge hat, dass es in den einzelnen Städten zum Teil andere Textsorten gibt. Eine Schiffsordnung findet man beispielsweise nur in den Kanzleisprachen an der Ostseeküste (z. B. Danzig).
5.
Untersuchungen zur Kanzleisprache im heutigen polnischen Raum
Die Untersuchungen zur Kanzleisprache im heutigen polnischen Raum konzentrierten sich und konzentrieren sich immer noch auf die Analyse der graphematisch-phonologischen Merkmale. In den älteren Arbeiten werden die phonetischen Besonderheiten des Schlesischen charakterisiert (vgl. Rückert; Arndt 1897; Jungandreas 1937), für den groß- und kleinpolnischen Raum gibt es phonetische Analysen von Anders (1939, Posen) und Doubek (1932, Krzemienica). Nach dem Zweiten Weltkrieg war es lange Zeit aus politischen Gründen nicht möglich, sich mit der deutschen Kanzleisprache im polnischen Raum zu beschäftigen. Erst 1971 ist eine Dissertation von Wiktorowicz über die phonologische Analyse der deutschen Kanzleisprache in Krakau im 14. Jahrhundert entstanden, ihm folgte Grabarek, der sich der phonologisch-morphologischen Analyse der Kanzleisprache in Thorn zuwandte. Über die Kanzleisprache in Oppeln im 16. Jahrhundert ist eine Dissertation von Lasatowicz entstanden. Dann folgten die Arbeiten zur Kanzleisprache in Krakau (Duda 1976; Waligóra 1996; Kaleta-Wojtasik 2004). Anfang des 21. Jahrhunderts beschäftigten sich mit der graphematisch-phonologischen Analyse der Kanzleisprache im schlesischen Raum Bogacki (2004, Neiße, Namslau, Brieg, Leobschütz) und Biszczanik (2004, Sprottau). Einige Beiträge zu ausgewählten Stadtbüchern in Schlesien veröffentlichte auch Piirainen. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg ist eine Dissertation von Barth über die mitteldeutsche Kanzleisprache in Danzig entstanden. Zurzeit werden zwei weitere Dissertationen über die mitteldeutsche Kanzleisprache in Elbing / Elbląg und Kulmsee / ChełmĪa vor-
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
bereitet. Abgesehen von der niederdeutschen Kanzleisprache in Danzig gibt es keine Untersuchungen zu anderen niederdeutschen Kanzleisprachen im heutigen polnischen Raum.
6.
Literatur
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37. Die deutsche Kanzleisprache in Polen
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Dzintra Lele-RozentƗle, Riga (Lettland)
38. Baltikum
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Baltikum – Begriffsbestimmung und Abgrenzung Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Kanzleisprachen im Baltikum Livland als Vielvölkerstaat Archive und Kanzleien Zum Forschungsstand Vom Latein zum Mittelniederdeutsch Die Herkunft der niederdeutschen Sprachträger und die westliche Prägung des Mittelniederdeutschen 8. Literatur
1.
Baltikum – Begriffsbestimmung und Abgrenzung
Heute versteht man unter dem Namen Baltikum drei baltische Staaten: Estland, Lettland und Litauen. Von außen meist als einheitliche Region aufgefasst, ist das Baltikum historisch und auch kulturell ein heterogenes Gebilde. Sowohl die Geschichte des Namens und seiner Ableitungen Balten und baltisch als auch deren gegenwärtiger Gebrauch zeugen vom Bezug auf verschiedene Referenten. Baltikum, baltisch und Balten gelten als ›Kunstwörter‹. Der Name Baltikum geht auf die lateinische Bezeichnung Mare Balticum zurück, die mit unterschiedlicher geographischer Zuordnung mehrfach in den historischen Quellen erscheint, z. B. in der Hamburgischen Kirchengeschichte Adams von Bremen (11. Jahrhundert) als Bezeichnung für die gesamte Ostsee und für die Beltsee. Nach dem Untergang der Livländischen Konföderation im Jahre 1561, an deren Stelle in Folge der Kriege um die Herrschaft an der Ostsee die drei Ostseeprovinzen des Russischen Reiches Liv-, Est- und Kurland entstanden, war auch der Bedarf nach einem gemeinsamen Namen für das historische Livland (das heutige Estland und Lettland) entstanden. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Gebrauch des Namens Baltikum schon stark zugenommen, besonders in Deutschland, und heute dient er in erweiterter Bedeutung als Hyperonym für die geographisch und politisch zusammengehörende Region. Eine Bedeutungserweiterung hat auch das Substantiv Balten aufzuweisen. Seit den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts erscheint es als Bezeichnung für die deutschen Bewohner der drei Ostseeprovinzen. In der Zeit zwischen den Weltkriegen und insbesondere danach wurde der Name Balten aber als Gesamtname auf alle Bewohner der baltischen Staaten, d. h. auch auf die Letten, Esten und Litauer übertragen. Als maßgebend für diesen Bedeutungswandel gilt der englische Einfluss. In der dritten Bedeutung erscheint das Nomen Balten als Gesamtbezeichnung für die zur baltischen Sprachgruppe der indoeuropäischen Sprachfamilie gehörenden Stämme und Völker wie z. B. Letten, Litauer,
610
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Prußen und Kuren. Baltisch als adjektivische Form dazu wurde zur Bezeichnung für die lettische, litauische, prußische, kurische u. a. (Stammes)sprachen 1845 von G. H. F. Nesselmann vorgeschlagen, und seitdem hat sich dieses Adjektiv in der Sprachwissenschaft eingebürgert (eingehender über die Wortgeschichte vgl. Laur 1972). Somit sind in den zwei baltischen Staaten Lettland und Litauen die baltischen Sprachen Lettisch und Litauisch in Gebrauch, in Estland dagegen das ostseefinnische Estnisch. In der hier vorgestellten Periode (13.–16. Jahrhundert) wurde das Territorium des gegenwärtigen Lettlands auch von den ostseefinnischen Liven bewohnt, von denen das infolge der Kreuzzugs-, Missionierungs- und Siedlungsbewegung eroberte Territorium den Namen Livland, lat. Livonia erhielt. Es ist zu unterscheiden vom gleichnamigen Livland, der späteren Ostseeprovinz des russischen Reiches, dessen nördlicher Teil von Esten und der südliche von Letten besiedelt war. Die in der Historiographie auch als Alt-Livland bezeichnete livländische Konföderation umfasste das gesamte Territorium der heutigen Staaten Estland und Lettland, nicht aber Litauen. Im Vergleich zu Livland verlief die geschichtliche Entwicklung des Staates Litauen unter ganz anderen Rahmenbedingungen. Schon im 13. Jahrhundert waren die einzelnen Stämme zu einer Art Konföderation geeinigt, und das Land bestand in der Folgezeit gegen die Angriffe des Deutschen Ordens. Nach dem Niedergang der Kiewer Rus und unter dem Einfluss des Einbruchs der Tataren hatten sich auch die westrussischen und südwestrussischen Territorien an Litauen angelehnt, was eine Verschiebung der Grenzen nach Osten und Süden bedeutete. Im Vertrag von Krewo (1385) wurde die Personalunion von Polen und Litauen festgelegt, die im 16. Jahrhundert zu einer Realunion (die Union von Lublin 1569) vertieft wurde. Dies hatte Folgen auch für die Sprachentwicklung. Als offizielle Sprache der Verwaltung fungierte die westrussische Kanzleisprache, die in der Fachliteratur je nach dem Forschungsansatz auch als Altweißrussisch oder Altukrainisch bezeichnet wird. Unter der litauischen Oberschicht verstärkten sich, bedingt durch politische Verhältnisse, die Polonisierungstendenzen. Litauisch stieg nicht zur Kanzleisprache auf, es fing erst im 16. Jahrhundert an, etwa zur gleichen Zeit wie auch Estnisch und Lettisch, sich als Schriftsprache zu entwickeln. Die Stadtarchive hatten neben den Kanzleiakten in der dominierenden westrussischen Kanzleisprache auch Schriften in lateinischer, deutscher und später auch polnischer Sprache, die heute verstreut über die Archive Litauens, Polens, Weißrusslands, Russlands und der Ukraine verwahrt werden (über die Sprachen im Großfürstentum Litauen vgl. Zinkeviþius 1987, 99–146; zur historischen Entwicklung vgl. Niendorf 2006). Im Weiteren werden ausführlicher die deutschsprachigen Kanzleien des Baltikums im engeren Sinne des Wortes (d. h. nur die livländischen) behandelt.
2.
Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Kanzleisprachen im Baltikum
In Livland, das aus fünf geistlichen Territorien bestand (dem Bistum / Erzbistum Riga, den Bistümern Dorpat, Ösel-Wiek, Kurland und dem Land des Deutschen Ordens), entwickelte sich eine von der Hanse und dem livländischen Zweig des Deutschen Ordens stark geprägte politische und wirtschaftliche Kultur. Die Herrschaftsverhältnisse waren
38. Baltikum
611
kompliziert und wechselhaft. So kämpften z. B. um die Oberherrschaft in Riga der Erzbischof und der Deutsche Orden. Der Stadtrat, der sich aus der Großkaufmannschaft rekrutierte, hatte mit den Kanzleien beider Herrscher regen Schriftverkehr, so dass man sogar von einem Ineinandergreifen der drei Kanzleien reden kann (vgl. Schmidt 1938, 14). Zwölf der livländischen Städte gehörten dem Städtebund der Hanse an, die bedeutendsten unter ihnen waren Riga, Reval (heute Tallinn) und Dorpat (heute Tartu). Die verkehrsgünstige Lage förderte die Entwicklung der livländischen Städte zu Transithandelszentren auf dem Wege zwischen dem Westen und Russland und Weißrussland. Die geistliche Oberherrschaft und die Zugehörigkeit zur Hanse bestimmten den Schriftverkehr und das Schrifttum an den Kanzleien, das sehr viele Parallelen zu den Gepflogenheiten in anderen Hansestädten aufwies. Der Livländische Krieg (1558–1562) führte zum Zerfall Alt-Livlands: Die daraus entstandenen Gebiete Estland und dann auch Livland (im engeren Sinne) wurden zu schwedischen Provinzen und Kurland, vorübergehend auch Livland, gerieten in verschiedenen Formen an das Jagellonenreich der polnisch-litauischen Union.
3.
Livland als Vielvölkerstaat
Das mittelalterliche und frühneuzeitliche Livland war in sprachlicher Hinsicht ein multilinguales Land, dessen einheimische Bevölkerung im Norden estnisch, im Süden lettisch und livisch sprach, und dessen Verwaltung von den deutschen Einwohnern des Landes lateinisch und / oder mittelniederdeutsch realisiert wurde. Neben den Deutschen, Esten, Letten und Liven gab es weitere Einwohnergruppen, die aus den nachbarlichen Ländern eingewandert waren, insbesondere in den Städten. So konnte z. B. für Reval auf Grund der Schossliste von 1538 Aufschluss über die Zusammensetzung der Bevölkerung in nationaler Hinsicht gewonnen werden, die sich anhand der sprachlichen Form der Vornamen, Familiennamen sowie der beruflichen Zugehörigkeit und sprachlichen Form der Berufsbezeichnung bestimmen ließ. Unter den schosspflichtigen Einwohnern Revals können demzufolge etwa 320 Deutsche (40 %), 150 Schweden (19 %) und 330 Esten (41 %) gezählt werden, wobei unter den Schweden und Esten auch Finnen vermutet werden können. Bei der nationalen Aufteilung der drei sozialen Schichten ist eine Asymmetrie bemerkbar. So bilden z. B. die Deutschen 100 % der Oberschicht, 59 % der Mittelschicht und 2 % der Unterschicht. 23 % der Mittelschicht sind Schweden und 18 % Esten, 25 % der Unterschicht ist schwedisch und 73 % estnisch (vgl. Johansen / von zur Mühlen 1973, 123f.). Auch die Einwohnerschaft Rigas war multinational. So finden sich in den Stadtbüchern zwischen dem Ende des 13. und des 15. Jahrhunderts unter den Grundbesitzern neben den Deutschen auch Liven, Letten, Esten, Litauer und Russen. Die Berechnungen auf Grund einer Eintragung in das Ältermännerbuch der Großen Gilde aus dem Jahre 1558 erlauben, für Riga für jene Zeit etwa 37,5 % nichtdeutsche Bewohner und 62,5 % Deutsche anzunehmen (vgl. Benninghoven 1961, 99f.). Diese Vielfalt, die in der städtischen Kommunikation als mündliche Mehrsprachigkeit angesetzt werden kann, ist in den schriftlichen Quellen, abgesehen von den Namen,
612
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
die auf die nationale Zugehörigkeit schließen lassen, kaum als dieselbe Mehrsprachigkeit feststellbar. Die livländischen Kanzleisprachen waren Latein und Mittelniederdeutsch, im 16. Jahrhundert Hochdeutsch. Nur im Verkehr nach außen wurden die Sprachen der (Handels)partner, wie z. B. Russisch, gewählt. Das livländische oder baltische Mittelniederdeutsch war Bestandteil des so genannten Ostniederdeutschen, worunter derjenige Teil des historischen deutschen Sprachraums verstanden wird, der durch Eroberungs- und Siedlungsbewegungen im Mittelalter entstanden war. Diatopisch gesehen können zum Ostniederdeutschen die Dialektgruppen Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Märkisch-Brandenburgisch, Ostpommersch (Hinterpommersch) und Niederpreußisch sowie das in den baltischen Gebieten bis zum Schreib- und Sprechsprachwechsel anzutreffende Niederdeutsch gezählt werden. Für seine Entwicklung waren solche Faktoren ausschlaggebend wie der Charakter der Besiedlung, einschließlich Christianisierung und des Aufbaus der Kirchenorganisation, die regionale und soziale Herkunft der bäuerlichen Siedler und Städtebürger, die Art des Zusammenlebens von einheimischer Bevölkerung und Siedlern. (Rösler 2003, 2699ff.)
Da aber im Baltikum eine niederdeutschsprachige bäuerliche Bevölkerung fehlte, hat das Mittelniederdeutsche als gesprochene und geschriebene Sprache des Bürgertums sowie des Landadels die einheimischen Sprachen wie z. B. das Kurische, Lettische, Livische und Estnische überdacht (vgl. Peters 2000c, 1416, 1419).
4.
Archive und Kanzleien
Zum Kanzleiwesen in Livland fehlen bis jetzt vergleichende Untersuchungen, die Forschungslandschaft setzt sich vor allem aus separaten Berichten zu den livländischen Stadtarchiven zusammen. Die Zugehörigkeit der meisten livländischen Städte zum Hansebund, die Landtage, an denen Erzbischof, Ordensmeister, Bischöfe, Ritterschaftsvertreter und Vertreter der drei größten Städte Riga, Reval und Dorpat teilnahmen, sorgten dafür, dass eine gewisse Gleichförmigkeit infolge der engen Kontakte auf der Verwaltungsebene entstand, die durch die Übernahme einander nahe stehender Stadtrechte noch weiter gefördert wurde. Jede Kanzlei hatte ihr Archiv, und die größten darunter waren das Archiv der Rigaer Bischöfe (seit 1251 der Erzbischöfe), des Domkapitels, des Schwertbrüderordens, des livländischen Zweiges des Deutschen Ordens und des Rigaer Stadtrats. Das Archiv der Bischöfe, Erzbischöfe und des Domkapitels gehörte zu den ersten Archiven in Livland. Die älteste Urkunde stammt aus dem Jahre 1209. Nur ein Teil des Archivs ist überliefert worden, die Urkunden nach 1438 sind verloren gegangen, zum Teil vermutlich schon 1556 durch den Brand in Kokenhusen (Koknese). Erhalten haben sich 233 Pergamenthandschriften aus dem Zeitraum zwischen 1209 und 1438, die nach mehrfachem Wechsel des Aufbewahrungsortes heute in polnischen und russischen Archiven verwahrt werden. Das Schicksal des Archivs des Schwertbrüderordens und seiner Nachfolgeeinrichtung, des Archivs des livländischen Zweiges des Deutschen Ordens, ist ebenso wechselhaft gewesen, und heute wird ein Teil davon im Reichsarchiv Stockholm aufbewahrt. Auch vom Kurländischen Bistumsarchiv befindet sich ein Teil
38. Baltikum
613
außerhalb des ehemaligen Livlands, im Reichsarchiv Kopenhagen. Die Dorpater und Revaler Bistumsarchive haben sich, abgesehen von einigen Ausnahmen, nicht erhalten, das Archiv des Bistums Ösel-Wiek dagegen gilt als das am besten erhaltene. Aufbewahrt wird es im Reichsarchiv Kopenhagen und auch in Stockholm. Von den livländischen Klosterarchiven hat sich kaum etwas erhalten, vor allem einige Abschriften. Erhalten haben sich einige Archive der livländischen Ritterschaft, das älteste von denen, das Archiv Harrien und Wierland, wird im Historischen Archiv in Tartu (historisch Dorpat) aufbewahrt. Auf verschiedene Archive sind schon seit dem 19. Jahrhundert die Briefladen, wie die Archive für Güterurkunden hießen, verstreut. Die meisten Dokumente aber hat das Revaler Stadtarchiv verwahrt, das als das am besten erhaltene Archiv Livlands gilt. Im Unterschied zum Rigaer Ratsarchiv hat es nicht unter Bränden gelitten. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Bestände des Archivs ausgelagert und erst 1991 nach Tallinn zurückgebracht. Dieser Tatsache verdankt man zahlreiche Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum über das mittelalterliche und frühneuzeitliche Reval, die auf den ausgelagerten Archivalien beruhen. Die Bestände des Revaler Stadtarchivs sind 1896 vom Stadtarchivar Gotthard von Hansen katalogisiert und publiziert und in der zweiten, umgearbeiteten Auflage 1924–1926 von Otto Greiffenhagen herausgegeben worden (vgl. Greiffenhagen 1924–1926). Von den Dorpater ältesten Beständen hat sich nur ein Band der Ratsprotokolle (1547–1555) erhalten. Die anderen livländischen Städte haben im unterschiedlichen Umfang Dokumente aus dem behandelten Zeitraum aufbewahrt. Zu erwähnen sind die Überlieferungen aus den Archiven in Narva (vom Ende des 13. Jahrhunderts), Pernau (Pärnu; ab 1451), Fellin (Viljandi; ab 1481) in Estland und Windau (Ventspils; ab 1569), Hasenpoth (Aizpute; ab dem 16. Jahrhundert), Goldingen (KuldƯga; ab 1361) in Lettland (vgl. Zeids 1992, 45ff.; Wörster 1998).
5.
Zum Forschungsstand
Die livländischen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kanzleisprachen sind unterschiedlich intensiv untersucht worden. Das Interesse der Sprachforscher galt bis jetzt den Archivalien der beiden größten Stadtarchive in Riga und Reval. So hat z. B. Ingolf Wachler (1936) die Aufmerksamkeit auf die niederdeutschen Rechtstexte und die Ablösungsprozesse an beiden Ratskanzleien gelenkt. Sein kurz gefasster Aufsatz über die niederdeutsche Zeit in Riga und Reval enthält eine Reihe von Fakten und Beobachtungen zur äußeren Sprachgeschichte und dem lateinisch-niederdeutschen sowie niederdeutschhochdeutschen Ablösungsprozess an den Kanzleien beider Städte. Die Untersuchungen zur Rigaer Ratskanzlei fingen in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Untersuchung zur Phonologie des Mittelniederdeutschen anhand des ältesten Erbebuchs der Stadt an.1 Einen Überblick über die Sprachentwicklung an der Kanzlei mit den Schwerpunkten a) Beitrag der Stadtschreiber zur Herausbildung der
1
Vgl. Goetsch 1934 sowie den Beitrag zur niederdeutschen Kanzleisprache von Riga in diesem Band.
614
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
mittelniederdeutschen Schreibtradition an der Rigaer Ratskanzlei und b) niederdeutschhochdeutscher Ablösungsprozess bietet die 1938 veröffentlichte Untersuchung von Gertrud Schmidt (1938). Inzwischen liegen auch Veröffentlichungen zu einzelnen Quellen (z. B. Burspraken) und zum Eindringen des Mittelniederdeutschen im ältesten Erbebuch der Stadt vor.2 Die bisherige Untersuchung der Revaler, zum Teil auch der Rigaer Kanzleisprache ist unter dem Einfluss der von Agathe Lasch formulierten »Strömungen« verlaufen: Bis über die mitte des 14. jhs. hinaus lässt sich ein kampf verschiedener strömungen beobachten. Ältere orthographiesysteme sind zu überwinden .. , die kolonien entfernen sich von dem mutterlande, nicht nur durch trennung und versetzung in eine andere umgebung, sondern auch dadurch, dass die kolonisten überall, bald mehr, bald weniger, gruppen verschiedener herkunft umschlossen. (Lasch 1914, 10)
Für die livländischen Texte kam insbesondere die westliche Strömung in Frage, die in der Besiedlung ihre Begründung findet. Der Revaler Kanzleisprache ist eine als Manuskript (122 Seiten) im Bestand der Dissertationen der Universitätsbibliothek Tartu aufbewahrte Untersuchung von Ralph Lesthal aus dem Jahre 1931 gewidmet. Verfasst unter dem Titel Die Revaler Kanzleisprache im XIV. Jahrhundert stellt sie den ersten Versuch dar, die Revaler Kanzleisprache anhand von Vokalismus und Konsonantismus zu charakterisieren. Lesthal stützt sich auf die Erbebücher der Stadt Reval (1360–1383 bzw. 1383–1458), die ältesten Kämmereibücher (1363–1374), das Revaler Geleitsbuch (1365–1458) und das Revaler Pergament Rentenbuch (1382–1518), die im Zeitraum von 1890 bis 1930 veröffentlicht wurden. Aus diesen Büchern sind zahlreiche Belege zu den mittelniederdeutschen Vokalen und Konsonanten, versehen mit Quellenangaben, angeordnet und anschließend analysiert. Bei der Interpretation der Ergebnisse orientiert sich Lesthal vorwiegend an der Mittelniederdeutschen Grammatik von Agathe Lasch (1914). Zu seiner Sekundärliteratur gehören die Publikation von Sven Lide Das Lautsystem der niederdeutschen Kanzleisprache Hamburgs im XIV. Jahrhundert. Mit einer Einleitung über das hamburgische Kanzleiwesen (1922), Niederdeutsche Studien von Hermann Tümpel (1898), Mittelniederdeutsches Wörterbuch I–VI von Karl Schiller und August Lübben (1875–81) sowie einige Grammatiken und Wörterbücher der gotischen, altsächsischen und indogermanischen Sprachen. Das in akribischer Arbeit gesammelte Material ist durch handschriftliche Kommentare des Gutachters ergänzt, die vor allem auf eventuelle Fehlentscheidungen bei der Belegsammlung fokussiert sind. Die Beschäftigung Lesthals mit dem Vokalismus und Konsonantismus der Kanzleisprache ist im Rahmen der Frage nach den kontaktlinguistischen Spezifika der Sprache zu sehen, d. h. es geht hier um den Anteil der einzelnen mittelniederdeutschen Dialektgebiete und ihre Reflexe in der Revaler Kanzleisprache. Dazu dient auch der Anhang, der dem Partizip Präsens mit und ohne ge- und der Genitivform stades ›der Stadt‹ gewidmet ist, die in der Kanzleisprache Revals im Unterschied zu Hamburg, wo sie im 14. Jahrhundert eher selten vorkommt, durchaus verbreitet ist, vgl. z. B. For-
2
Zur Übersicht mit Literaturhinweisen vgl. den Beitrag 25 zur niederdeutschen Kanzleisprache von Riga.
38. Baltikum
615
men wie der stad, der stades, des stades, stades (vgl. Lesthal 1931, 120). Der Gen. Sg. des Substantivs ›Stadt‹ auf -es (der stades, des stades) gilt als eines der Merkmale des Westfälischen (vgl. Lasch 1914, 10, 19; Peters 1987, 82f.). Diese westfälischen Formen sind auch in Rigaer Quellen verbreitet gewesen (vgl. Schmidt 1938, 28). Einen weiteren Versuch, die Spezifik der Revaler Kanzleisprache zu bestimmen, unternimmt Sven Sjöberg (1960–1962). Er stützt sich auf den in der Fachliteratur mehrfach erwähnten westlichen Anteil an der Kolonisierung des Ostseeraumes, der auf die von Agathe Lasch geprägte These von der westfälischen Strömung zurückgeht (vgl. ebd., 108). In Übereinstimmung mit der Überzeugung Erik Roths von der entscheidenden Rolle des Schreibers bei der Untersuchung des westfälischen Anteils im baltischen Mittelniederdeutsch wählt Sjöberg für seine Untersuchung das Schrifttum und das Leben eines dieser Schreiber aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts, um damit auch zur Untersuchung der Revaler Kanzleisprache beizutragen. Die Sprache des Revaler Sekretärs Johannes Blomendal, der 20 Jahre in Reval tätig war (1406–1426), soll laut Roth westfälischen Einschlag aufweisen. Überprüft wird von Sjöberg die eventuelle westfälische Herkunft des Schreibers anhand von Eintragungen und Konzepten, die von der Hand Blomendals stammen sollen, indem auf Orthographisches (Diakritika, nachgeschriebene Vokale) sowie die Laut- und Formenlehre geachtet wird: -et : -en in der 3. Pers. Pl. Präs. Ind.; a vor ld, lt; vrent : vrönt : vrünt; brengen : bringen; mensche : minsche; die langen ê-Laute; die Formen des Verbs tun mit dem Vokal -o-; wû : wâr; des stades; Formen der Personalpronomina; sal : schal; Formen der Präpositionen bis, zwischen, zu, mit; Präfixvariante der- = er- und Suffixabstrakta. Sjöberg widerlegt die Annahme des Historikers Leonid Arbusov bezüglich der Danziger Herkunft Blomendals und weist mit Hilfe von sprachlichen Indizien die südwestfälische Provenienz des Schreibers nach. Als zusätzliches Indiz wird auch der Name Blomendal aufgefasst, der auf einen alten westfälischen Ortsnamen Blomendal bei Werl im Kreise Soest zurückgeführt werden kann, insbesondere, da dieser Name in Werl im 14. und 15. Jahrhundert auch wirklich nachweisbar ist (vgl. Sjöberg 1960–62, 129). Der mittelniederdeutschen Schreibsprache Revals ist 1996 auf Grund des Katalogs sprachlicher Merkmale zur variablenlinguistischen Erforschung des Mittelniederdeutschen (vgl. Peters 1987; 1988; 1990) von Sabine Jordan nachgegangen worden (vgl. Jordan 1996). Sie hebt den heterogenen Charakter der Einwohnerschaft Revals im Vergleich zur Situation im niederdeutschen Altland hervor und stellt die Frage nach der Entwicklung des Niederdeutschen, dem eventuellen Ausgleich sowie der Richtigkeit der Hypothese von der so genannten lübischen Norm. Zu erwarten wäre ein Abbau der ursprünglichen Variantenvielfalt mit starkem westfälischem Anteil zugunsten der lübischen Formen (vgl. ebd., 49f.). Projiziert wird dies auf drei mögliche Entwicklungswege: Variantenersetzung (z. B. die nordniedersächsisch-ostfälische Form sulve ›derselbe‹ an Stelle des älteren westfälischen selve), Variantenausbau (z. B. nordniedersächsischostfälisches twi(s)schen ›zwischen‹ nach 1470 neben der älteren Variante tu(s)schen, wobei eine Ersetzung nicht ausgeschlossen ist) und Variantenabbau.3 Auf Grund dieser
3
Z. B. zwei Varianten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts dusse und desse ›dieser‹ gegenüber den vier Varianten im 14. Jahrhundert: desse, dusse, disse, dese.
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
drei Arten von Belegen schlussfolgert Jordan, »daß von einer konsequenten Übernahme der sog.›lübischen Norm‹ .. in Reval nicht die Rede sein kann« (ebd., 51). Die variablenlinguistische Erforschung der Revaler und Rigaer Quellen mit dem Ziel, die Ergebnisse in Bezug auf die Verbreitung der lübischen Norm auszuwerten, ist noch immer eine aktuelle Aufgabe der niederdeutschen Sprachforschung.
6.
Vom Latein zum Mittelniederdeutsch
Der Übergang von der lateinischen zur niederdeutschen Schriftlichkeit, der in Norddeutschland im 13. Jahrhundert angefangen hatte, »verlief in den einzelnen Textsorten zeitlich differenziert« (Peters 2000b, 1499). Eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Kanzleisprache der Hansestädte haben die Stadtrechte gespielt, die zu den ältesten niederdeutschen Texten der Stadtverwaltung gehörten. Im Bereich der Stadtrechte erfolgte die Ablösung des Lateinischen früher als in anderen Textsorten. Die livländischen Städte gehörten zum lübischen und zum Hamburger Rechtskreis. Das lübische Recht galt in Reval sowie auch in Narva und Wesenberg (Rakvere). Reval erhielt zwar den ersten Kodex im Jahre 1257, aber schon 1248 soll in einer nicht erhaltenen Urkunde des dänischen Königs Erik Plovpenning (1241–1250) das lübische Recht im Zusammenhang mit Reval erwähnt worden sein. Im Stadtarchiv Revals haben sich fünf handschriftliche Kodizes des lübischen Rechts vom 13. bis zum 16. Jahrhundert erhalten, von denen drei ins 13. Jahrhundert gehören. Eine dieser Handschriften, der Kodex von 1282, wurde der Stadt Reval vom dänischen König Erik Glipping und seiner Mutter Margarete verliehen, und sie gilt als eine der frühesten mittelniederdeutschen Handschriften des lübischen Rechts. Aus der Einleitung geht hervor, dass der Kodex für Reval bestimmt war, obwohl die Artikel manchmal direkten Bezug zur Topographie Lübecks enthalten, d. h. sie sind unverändert in die Revaler Handschrift übernommen worden. Es wird angenommen, dass der Rechtstext für Reval sowohl 1257 als auch 1282 in Lübeck aufgezeichnet worden ist. Der Revaler Kodex von 1257 war lateinisch verfasst, und seine Übersetzung ins Mittelniederdeutsche erfolgte erst Mitte des 14. Jahrhunderts. Der zweitälteste von den im Revaler Stadtarchiv aufbewahrten Kodizes, der 1282 verfasste Kodex, ist schon mittelniederdeutsch, die Mitteilungsurkunde aber, die den Artikeln vorangestellt ist und im Großen und Ganzen mit der von 1257 übereinstimmt, ist lateinisch. Die städtischen Statuten haben sich auch auf andere Rechtstexte ausgewirkt, wovon die Übernahme ihrer Artikel in die Vorschriften der so genannten Burspraken zeugt, für die mündliche Rezeption vorgesehene Texte, die Bestimmungen zur Einhaltung der allgemeinen Ordnung in der Stadt enthielten und einmal jährlich den Bürgern der Stadt verlesen wurden (über den Revaler Kodex, seine Transkription und Übersetzung vgl. Kala 1998a; 1998b). Zu den ältesten überlieferten Rechtstexten Rigas gehört ein lateinisch verfasstes, für Reval aufgezeichnetes Rigisches Stadtrecht (zwischen 1227 und 1238), das auf der Grundlage des Wisbyschen Rechts für Riga entstanden ist. Mittelniederdeutsch übersetzt ist ein für Hapsal (Haapsalu) um 1279 verfasster und als Abschrift des 16. Jahrhunderts überlieferter Rechtstext, der auf den Text für Reval zurückgeht (vgl. Napiers-
38. Baltikum
617
ky 1876 / 1976, XI–XXXI; Zeids 1992, 69). Nachdem Riga Hansestadt geworden war, wurde ein neues Stadtrecht aus Hamburg übernommen, nicht aber aus Lübeck wie z. B. im Falle Revals. Durch die Übernahme des Hamburger Rechts unterscheidet sich Riga von einer Reihe anderer Hansestädte, die zum lübischen Rechtskreis gehörten. Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts treten die so genannten Umgearbeiteten Rigischen Statuten in Kraft. Sie beruhen vorwiegend auf der hamburgisch-rigischen Redaktion des Hamburger Rechts von 1270 sowie auch auf einigen Artikeln aus dem Lübischen Recht und dem Nowgoroder Schra. Die Verbindung mit Hamburg in der Rechtsbelehrung aber scheint nicht aufrechterhalten zu sein, wie dies sonst in Bezug auf die rechterteilenden Städte üblich war. Der Stadtrat, dem die Rechtsautonomie bereits durch Bischof Albert (1199–1229) übertragen worden war, bildete den Oberhof für die livländischen Städte, die mit dem Rigaer Recht bewidmet wurden, und eine Appellation außerhalb der Landesgrenzen war nicht üblich. Die Unabhängigkeit des Rigaer Gerichts wurde nach der Unterwerfung der Stadt durch den Deutschen Orden 1330 wegen der Anwesenheit des Vogtes oder eines Bruders des Ordens bei bestimmten Sachen eingeschränkt und die Rechtssprache seitens des Ordens beeinflusst. Eine geringe Bedeutung für die Stadt hatte dagegen das geistliche Gericht des Erzbischofs (vgl. Schmidt 1938, 16ff.). Die Umgearbeiteten Rigischen Statuten galten im größten Teil Livlands, d. h. sowohl im gegenwärtigen lettischen als auch im estnischen Teil, nur die Städte Dünaburg (Daugavpils) und Jakobstadt (JƝkabpils) gerieten nach der Auflösung der livländischen Konföderation durch polnische Vermittlung in den Magdeburger Rechtskreis. Die Sprache innerhalb der Kanzlei bleibt lange lateinisch. Die ersten niederdeutschen Urkunden, die in der Rigaer Ratskanzlei verwahrt werden, können nicht einwandfrei als niederdeutsche Originalurkunden erwiesen werden. Niederdeutsch scheint sich erst im Schriftverkehr mit dem Orden durchgesetzt zu haben. In der Ratskanzlei vollzieht sich dieser Prozess erst ab 1366. Auch in Reval überwiegen nach 1365 die niederdeutschen Urkunden. Die Eintragungen in den Stadtbüchern, die schon vorher eine allmähliche Zunahme des niederdeutschen Anteils enthalten, werden erst Anfang des 15. Jahrhunderts niederdeutsch (vgl. Wachler 1936, 17; Schmidt 1938, 19ff.).
7.
Die Herkunft der niederdeutschen Sprachträger und die westliche Prägung des Mittelniederdeutschen
Die ersten deutschen Siedler sollen Westfalen, Sachsen und Friesen gewesen sein. Die wichtigsten Herkunftsstädte z. B. für Riga waren Soest, Lübeck und Wisby, die Einwanderer stammten auch aus Münster, Groningen, Dortmund, Bremen, Köln, Goslar, Hildesheim und Braunschweig, außerdem auch aus kleineren Orten aus Niederdeutschland und dem friesischen Gebiet zwischen Vlie und Weser. Als Herkunftsorte der führenden Bürger Rigas aus der Gründungszeit (vor 1250) gelten in erster Linie Soest, Lübeck und Wisby, denen Köln, Münster, Dortmund, Deventer, Lippstadt, Goslar, Bielefeld, Niedermarsberg-Horehusen, Hamburg, Osnabrück, Hildesheim, Höxter und Ahlen folgen (vgl. Benninghoven 1961, 105ff., 165ff.).
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Für die mittelniederdeutsche Sprache in Livland wird für die älteste Zeit (ab dem 13. Jahrhundert) stärkerer westfälischer Einfluss angenommen, der auch an den Texten nachweisbar ist, wie z. B. der Gen. Sg. von stad: der, des stades, der s-Anlaut bei solen, vgl. 3. Pers. Sg. Präs. sal statt oder auch neben schal, brengen statt bringen, mensche statt minsche, desse / dese statt disse / düsse im Südosten, selve, sölve statt sülve u. a. (zur Übersicht über das Westfälische vgl. Peters 2000a, 1480). Aus diesem Grunde wird auch in der Forschung der Schwerpunkt auf die westfälische Frage gesetzt. Obwohl die städtische Bevölkerung in den größten Städten Livlands durchaus fluktuierend war, kann insbesondere für die älteste Zeit eine starke westfälische Einwanderung angenommen werden, wovon u. a. in Riga die Namen der mittelalterlichen Stuben zu Münster und Soest zeugen. Auch in den Namen der Stadtbewohner, vor allem denen der Kaufleute, lassen sich westfälische Einflüsse erkennen. Ihr Vorkommen, z. B. in Riga bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und darüber hinaus, wird als Angabe über direkte Herkunft aufgefasst. Für das ausgehende 14. Jahrhundert wird ein Nachlassen des westfälischen Einwandererstromes zu Gunsten der an der Nord- und Ostsee gelegenen deutschen Hansestädte angenommen. Das 1599 angelegte Quartalschossbuch, das als einziges Stadtbuch auch Auskunft über die Herkunft Rigaer Bürger gibt, enthält Angaben zum dominierenden lübischen Ursprung der Rigaer Kaufleute bis ins 18. Jahrhundert (vgl. Schmidt 1938, 2f.). Auch für Reval werden die deutschen Familiennamen im 13. und 14. Jahrhundert als aussagekräftig für die Herkunft aufgefasst. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Namen der größten Handelszentren, die als Fahrtziel gedient haben, zum Familiennamen des Fernhändlers wurden. Für das 14. Jahrhundert ist die Zahl solcher Namen gering, überliefert sind vor allem Namen von kleineren Städten und Dörfern, die als Herkunftsorte der Revaler Familien aufgefasst werden. So weist im 14. Jahrhundert die Hälfte aller Revaler Bürgernamen, die auf Ortsnamen zurückzuführen sind, auf den rheinisch-westfälischen Raum hin, die andere Hälfte aber auf Niedersachsen, Holstein, Mecklenburg, Pommern und Ostpreußen, in Einzelfällen auch auf die Niederlande und Skandinavien. Für einige dieser Namensträger kann eine Zwischenstation in Lübeck oder Wisby nicht ausgeschlossen werden. Genaue Angaben über die unmittelbare Herkunft der Revaler Bürger stammen aber erst aus dem 17. und 18. Jahrhundert, als in den Revaler Bürgereidbüchern die Herkunft der Neubürger eingetragen wurde. Die Herkunftsorte der Handwerker dagegen sind nur zu 10 % aus Lübeck, die anderen Herkunftsorte sind in Ostpreußen, Schlesien, Sachsen, Thüringen Süddeutschland und auch in Österreich zu finden. Die Handwerker sind im Vergleich zu den Kaufleuten weniger sesshaft gewesen (vgl. Johansen / von zur Mühlen 1973, 95ff.). Das ständige, für das Mittelalter typische Fluktuieren der städtischen Einwohner hat seine Spuren auch im Schrifttum der Kanzleien hinterlassen. So ist z. B. für die Rigaer Ratskanzlei des 14. Jahrhunderts eine westfälisch-nordniedersächsische Mischsprache festgestellt, für die sich eine Anlehnung an die normierte Sprache der Umgearbeiteten Rigischen Statuten beobachten lässt. Die Sprache der Statuten wird trotz verschiedener Quellen, die ihr zu Grunde liegen, als durchaus einheitlich eingeschätzt. Als nordniedersächsische Formen, deren Herkunft im Hamburger Stadtrecht vermutet wird, werden erwähnt: die Schreibung von e für mnd. e / ê (die Schreibung ey erscheint nur in Wörtern, die für das ganze mittelniederdeutsche Gebiet mit ey belegt sind, vgl. beyde, entwey,
38. Baltikum
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geyt, sleyt, steyt); o vor -ld, z. B. (be-)holden, olderen, sakewolde, solt u. a.; Formen wie vrunt, vrunde, vp, vppe; die 1. Pers. Plur. Präs. auf -et (nordniedersächsisch und westfälisch), z. B. hebbet, komet, willet u. a. (vgl. aber bekennen mit -en); bei Part. Prät. Wechsel der Formen mit und ohne ge-, z. B. delet, ghedelet; vunden, ghevunden. Als westfälische Formen erscheinen an der Rigaer Ratskanzlei sal, soln, solden (scal, scoln werden nur vereinzelt geschrieben); der Gen. Sg. von stad als der, des stades; ft > cht in -achtig, z. B. clagachtich, egghachtich, legerachtich (selten sind egaftich, ernestaft); mensche (neben minsche); th, dh > d (in der Orthographie des Nordniedersächsischen bis Mitte des 14. Jahrhunderts erhalten). In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stieg infolge des immer reger werdenden Handelsverkehrs mit Lübeck die Zahl der ostelbischen Einwanderer, und dies fand seinen Ausdruck auch in der Schriftsprache. Der letzte Schreiber, dessen Briefe an den Revaler Rat noch westfälische Formen enthalten, ist ein Unterschreiber, der während der Amtsdauer des Obersekretärs Mag. Johann Stadis aus Riga in den Jahren 1410–1411 tätig gewesen ist. In seinen Texten wechselt z. B. vrunde mit vrende; solden mit schal; lechtmisse mit licht (vgl. Schmidt 1938, 26ff.). Um 1370 war das Schriftwesen der Hanse zum lübischen Mittelniederdeutsch übergegangen, wozu in starkem Maße auch das Prestige der hansischen Verkehrssprache beigetragen hatte. Der als lübische Norm bezeichnete Schreibusus beruht auf nordniederdeutscher Grundlage, und seit etwa 1400 zeichnet sich ein Varietätenabbau ab. Die lübische Schreibsprache als überregionales Kommunikationsmittel im Nord- und Ostseeraum beeinflusste die Kanzleien der Hansestädte (vgl. Peters 2000b, 1500f.). Das Schrifttum der baltischen Kanzleien weist in diesem Kontext noch viele Desiderata auf, wenn man von den Beobachtungen zu den sprachlichen Besonderheiten der Schreiber der Rigaer Ratskanzlei absieht. Dies betrifft auch den niederdeutsch-hochdeutschen Ablösungsprozess, der bis jetzt nur anhand der Rigaer Ratskanzlei untersucht ist (vgl. Schmidt 1938; Beitrag 25: Die niederdeutsche Kanzleisprache von Riga). Für die niederdeutsche Zeit in den livländischen Kanzleien gelten dieselben Forschungsdesiderata wie sie für Riga formuliert sind.4
8.
Literatur
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4
Vgl. den Beitrag 25 zur niederdeutschen Kanzleisprache von Riga.
620
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
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38. Baltikum
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Stefan Mähl, Uppsala (Schweden)
39. Skandinavien
1. 1.1 1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Historischer Hintergrund Die deutsche Einwanderung nach Skandinavien im Mittelalter Der deutsche Einfluss in der Stadtverwaltung Zur sprachlichen Situation im Skandinavien des Spätmittelalters Latein, Volkssprache und Mittelniederdeutsch Der Übergang vom Latein zur Volkssprache Zum Gebrauch des Mittelniederdeutschen in Skandinavien Zu den Kanzleien und Schreibern mittelniederdeutscher Texte Charakterisierung des Mittelniederdeutschen in den in Skandinavien ausgestellten Texten Der Schreibsprachenwechsel Niederdeutsch > Hochdeutsch in Skandinavien Forschungsdesiderate Quellen Literatur
1.
Historischer Hintergrund
1.1.
Die deutsche Einwanderung nach Skandinavien im Mittelalter
Wenn man die Geschichte der mittelalterlichen Städte Skandinaviens im 14. bzw. 15. Jahrhundert genauer verfolgt, wird deutlich, dass es in mehreren Städten eine deutsche Bevölkerungsgruppe gab, die aus Kaufleuten und Handwerkern bestand. Besonders einflussreich und groß war diese Gruppe in den Küstenstädten der Ostsee, wie Åbo / Turku, Kalmar, Söderköping, Stockholm, Viborg, aber auch in Städten wie Aalborg, Köge, Oslo und Tönsberg. Auf dem schwedischen Festland ist Kalmar der erste Ort, in dem sich Deutsche niederließen. Dass der deutsche Einfluss in Kalmar früh umfassend gewesen sein muss, geht aus dem Ende des 14. Jahrhunderts in schwedischer Sprache verfassten Denkelbuch Kalmars hervor, dessen Einleitung folgendermaßen lautet: »Dit is des stades Kalmaren denkebook« (Modéer / Engström 1945–49, 1). Neben den Städten auf dem skandinavischen Festland spielt die Insel Gotland eine wichtige Rolle für die deutsch-dänisch / schwedischen Beziehungen. Die zentrale Lage in der Ostsee machte die Insel zum Mittelpunkt des Ostseehandels. Bereits im 12. Jahrhundert ist eine deutsche Kolonisation in Visby belegt. Ein sicherer Beweis hierfür ist die Kirche St. Maria Teutonicorum, die vermutlich im Jahre 1190 eingeweiht wurde. Sie gehörte zu einer Gilde, die laut Inschrift des Siegels ›Teutonici Gotlandiam frequentantes‹ bezeichnet wird. Der deutsche Einfluss führte zu einem Zusammenschluss zwischen Deutschen und Gotländern und 1280 hatte sich bereits eine deutsch-gotländische Stadtgemeinschaft gebildet.
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
In Norwegen ist vor allem die hansische Niederlassung in Bergen zu erwähnen, die sich in der Zeit vor 1350 gebildet zu haben scheint. Die hansischen Kaufleute haben sich in Bergen nach dem Vorbild der anderen großen Niederlassungen zu einem festen Verband zusammengeschlossen. Bergen war Stapelplatz für die norwegische Westund Nordküste, und die Handelsartikel bestanden fast ausschließlich aus Produkten des Fischfanges (vgl. Brattegard 1963, 7f.). Das spärliche Quellenmaterial gestattet nicht, den Verlauf der deutschen Einwanderung in den verschiedenen Gebieten der skandinavischen Länder näher zu verfolgen. Erst Ende des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert sind deutsche Namen frequenter belegt (vgl. Jexlev 1978; Sundqvist 1957). Es ist aber zu vermuten, dass die Immigration bereits im 12. Jahrhundert angefangen hat. In diesem Zusammenhang ist die dänische Halbinsel Jütland zu erwähnen, wo holsteinische Einwanderer schon früh deutsche Kolonien gebildet haben (vgl. Winge 1989, 106). Wichtige Voraussetzungen für die norddeutsche Expansion in Skandinavien waren die Gründung Lübecks und die Etablierung des Hansebundes. Das wirtschaftliche Potenzial in den skandinavischen Ländern, z. B. der Heringmarkt in Skanör / Schonen, war ein wichtiger Faktor bei der Etablierung deutscher Bevölkerungsgruppen in den Städten. Dies führte zu einer Blüte und Expansion für die skandinavischen Städte. 1.2.
Der deutsche Einfluss in der Stadtverwaltung
In den skandinavischen Städten, wie Bergen, Kopenhagen, Stockholm und Visby, gehörten die deutschen Einwanderer zur Oberschicht der Stadt. Am Beispiel Stockholm soll der deutsche Einfluss in der Stadtverwaltung beschrieben werden. Im Zusammenhang mit der deutschen Einwanderung hat sich eine durchgreifende Entwicklung im schwedischen Städtewesen vollzogen. Eine Folge war, dass der König die Verwaltung der Stadt dem Rat übergab. Mitte des 14. Jahrhunderts erhielt die schwedische Gesellschaft ein einheitliches Rechtssystem. Um 1350 wurde zuerst ein allgemeines Landesgesetz promulgiert und kurz darauf wurde ein Stadtrecht ausgearbeitet (Magnus Erikssons stadslag), das für alle schwedischen Städte vorgesehen war. In dem sog. konungabalken (Recht des Königs) wurde die Verwaltungsform der Stadt reguliert. Im zweiten Paragraphen wird die Anzahl der Mitglieder des Stadtrates festgelegt. Er lautet in deutscher Übersetzung (zit. nach Dahlbäck 1998, 309): Es soll insgesamt sechs Bürgermeister geben, drei schwedische und drei deutsche, und zwei sollen jedes Jahr amtieren. Der Rat soll aus dreißig Mitgliedern bestehen, eine Hälfte sollen Schweden, die andere Deutsche sein. Als schwedischer Bürgermeister oder Ratsherr soll gelten, wer einen schwedischen Vater hat; seine Mutter kann schwedisch oder deutsch sein. Derjenige soll als deutscher Bürgermeister oder Ratsherr gelten, dessen Vater Deutscher ist; seine Mutter kann deutsch oder schwedisch sein. Niemals soll es zwischen Deutschen und Schweden anders verteilt werden. Jedes Jahr sollen zehn Ratsherren, fünf schwedische und fünf deutsche, amtieren. […] Eine Stadt, die keine ausreichende Zahl solcher Männer hat, darf weniger wählen. Ist es so, daß die Deutschen weniger als die Schweden sind, dann kann die Stadt die leeren Plätze mit Schweden füllen. Deutsche können niemals den Platz von Schweden einnehmen, wenn es nicht genügend Schweden gibt. Dann müssen die Zahlen ausgeglichen werden (d. h. die Anzahl der Deutschen darf niemals die Zahl der Schweden übersteigen).
39. Skandinavien
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Das Stadtrecht Magnus Erikssons zeigt, dass die deutsche Bevölkerungsgruppe in den schwedischen Städten so groß und mächtig war, dass sie an der Arbeit der Stadtverwaltung teilnehmen konnte. Gleichzeitig versuchte Magnus Eriksson zu verhindern, dass sich die eingewanderten Deutschen die totale Macht in den schwedischen Städten aneigneten. Aus den Protokollen des Stockholmer Rates geht ferner hervor, dass die Nationalitätsgrenzen im Rat nicht immer eingehalten wurden. Ein gutes Beispiel hierfür ist Lambert Westfal, der 1438 als deutscher Ratsherr und 1444 als schwedischer Bürgermeister auftrat. 1471 wurde der deutsche Einfluss nach der Schlacht am Brunkeberg bei Stockholm vom schwedischen Reichsrat abrupt aufgehoben. Es wurde vorgeschrieben, dass jede Stadt von dieser Zeit an nur von in Schweden geborenen Männern verwaltet und regiert werden sollte. Dadurch war der Einfluss stark reduziert, und die darauf folgende politische und wirtschaftliche Entwicklung im Ostseeraum verhinderte die Fortsetzung der Vorrangstellung der deutschen Bevölkerung in den schwedischen Städten (vgl. Mähl 2008, 24f.). 1.3.
Zur sprachlichen Situation im Skandinavien des Spätmittelalters
Die Sprache der norddeutschen Kolonisatoren, das Mittelniederdeutsche, hat eine wichtige Rolle für die Entwicklung der skandinavischen Sprachen gespielt. Durch den engen Kontakt zwischen Skandinaviern und Deutschen im Verlauf mehrerer Jahrhunderte unterlagen das Altschwedische, das Altdänische und das Altnorwegische einem intensiven – sämtliche Sprachebenen betreffenden – Einfluss durch das Mnd., den Olav Brattegard folgendermaßen beschrieben hat (Brattegard 1963, 10): Wir sind so intensiv beeinflußt worden, daß ein Skandinave [sic] heute wohl kaum einen Satz sagen kann, ohne ein niederdeutsches Wort zu verwenden, natürlich ohne daß das Fremde als »fremd« empfunden wird.
Infolge der deutschen Einwanderung waren die skandinavischen Städte – wie die meisten Ostseestädte im Mittelalter – kulturell und sprachlich sehr heterogen. Die Norddeutschen bildeten eine wirtschaftlich und sozial führende Oberschicht in der Stadt mit engen Beziehungen zu Verwandten und Freunden im ganzen Ostseeraum. Die Grenze zwischen deutsch und skandinavisch trat nicht mehr deutlich hervor. Nach einer Ansässigkeit einige Generationen hindurch muss eine gewisse Naturalisierung eingetreten sein. Viele eingegangene Beziehungen zwischen z. B. Schweden und Deutschen sind in den Stockholmer Denkelbüchern bezeugt. Es ist davon auszugehen, dass die Kinder dieser Familien in einem zweisprachigen (bilingualen) Sprachmilieu aufgewachsen sind. Der enge Kontakt zwischen Schweden und Deutschen führte zu einer sprachlichen Situation, in der sowohl Schwedisch als auch Mnd. gesprochen wurde. Die Mehrsprachigkeit wurde schon früh ein Kennzeichen der mittelalterlichen Stadt. Wie die Skandinavier und Deutschen miteinander kommuniziert haben, hat die Forschung bisher nicht endgültig erhellen können. Die These, dass die mittelalterliche Gesellschaft in Stockholm zweisprachig war, hat der schwedische Sprachhistoriker Elias Wessén aufgestellt (vgl. Wessén 1992, 11). Dass die skandinavischen Sprachen und Mnd. parallel verwendet wurden, ist eine plausible Annahme, wobei das Mnd. mit Sicherheit eine Prestigesprache
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
in der skandinavischen mittelalterlichen Gesellschaft war (vgl. Diercks / Braunmüller 1993, 18f.; Haugen 1984, 401). Es sei insgesamt, so Lena Moberg, davon auszugehen, dass es im Stockholm des 14. und 15. Jahrhunderts drei Gruppen gegeben hat: 1. einsprachige Schweden, 2. einsprachige Deutsche und 3. Zweisprachige, für die die Grenze zwischen Schwedisch und Deutsch unklar bzw. nicht vorhanden war (vgl. Moberg 1989, 29). Das Modell dürfte auf die Mehrheit der skandinavischen Städte im Spätmittelalter übertragbar sein. Die neueste Forschung rechnet vor allem aus kontakttypologischen Überlegungen mit graduell unterschiedlichen Formen von Semikommunikation in der skandinavischen Gesellschaft des Mittelalters (vgl. Braunmüller 1995, 9ff.; 2002; 2005).
2.
Latein, Volkssprache und Mittelniederdeutsch
2.1.
Der Übergang vom Latein zur Volkssprache
Die Sprachpraxis ist seit dem späten Mittelalter nach Walter Hoffmann »von einer zunehmenden schriftsprachlichen Durchdringung der alltäglichen Lebenswelt bestimmt« (Hoffmann 1988, 98). Dieser Prozess wird als »Verschriftlichung des Lebens« charakterisiert und durch ihn wird, so Robert Peters »das Bedürfnis nach schriftlicher Fixierung der administrativen, rechtlichen und wirtschaftlichen Entscheidungen geweckt« (Peters 1995, 329). Urkunden wurden ursprünglich ausschließlich in lateinischer Sprache ausgestellt. Die von dem eben beschriebenen Prozess betroffenen Schichten der Bevölkerung, die keine Lateinkenntnisse hatten, z. B. Handwerker, bedürfen der Ausbildung einer volkssprachigen Schriftlichkeit. Folglich ist der Übergang vom Latein zur Volkssprache neben der mangelnden Lateinbildung der neuen Leser- und Schreiberschichten bedingt von der Ausweitung der Schreibpraxis auf neue Kommunikationssituationen und Textsorten in den Städten (vgl. von Polenz 1991, 123ff.). Im deutschsprachigen Raum treten die volkssprachigen Urkunden zuerst im Südwesten des Sprachgebietes auf, z. B. in Basel, Freiburg, Konstanz, Straßburg und Zürich, wo sie ab etwa 1260 in größerem Umfang zu belegen sind. Die deutsche Beurkundung verbreitet sich ziemlich langsam nach Norden und Nordosten hin. Bekanntlich beginnt in Norddeutschland im 13. Jahrhundert der Übergang vom Latein zur volkssprachigen (nd.) Schriftlichkeit. Dieser Prozess ist aber in den unterschiedlichen Textsorten zeitlich zu differenzieren. In den Stadtrechten setzt sich das Mnd. in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch. Wie Robert Peters mehrmals betont hat, haben die Kanzleien der Hansestädte erstaunlich lange am Latein festgehalten. Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts findet der Übergang vom Latein zur Volkssprache in den Stadtkanzleien statt (vgl. Peters 2000, 1499). Während sich in den städtischen Kanzleien Oberdeutschlands und Flanderns die Volkssprache bereits Ende des 13. Jahrhunderts durchsetzen konnte, geschah dies im Mitteldeutschen und Ostfälischen erst zwischen 1330 und 1350. Die westfälischen Städte folgten erst in den 60er Jahren des 14. Jahrhunderts. Zu erwähnen ist aber, dass die Lübecker Schreiben an Reval 1379, Riga 1383 und an Stralsund 1387 noch in lateinischer Sprache abgefasst wurden. Ferner wurden die Rezesse der Hansetage bis 1369 überwiegend lateinisch ausgestellt. Um 1370 ging das Schriftwesen der Hanse zum Mnd. über. Erst nach 1380
39. Skandinavien
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war der Übergang zum Nd. überall durchgeführt. Schon früher als die norddeutschen Kanzleien haben aber die hansischen Kontore in ihren Statuten bzw. in ihrer Korrespondenz das Latein ersetzt; z. B. sind die Statuten des Gemeinen Kaufmanns in Brügge von 1347 und der Brügger Rezess von 1356 in nd. Sprache abgefasst (vgl. Peters 1987, 71f.; 2000, 1412f.; 2000, 1499). Bis Mitte des 14. Jahrhunderts bedienten sich die skandinavischen Kanzleien in erster Linie des Lateins (vgl. Johnson 1998, 52ff.; 2003, 39ff.; Skautrup 1947, 32). Die erste erhaltene Urkunde in schwedischer Sprache stammt aus dem Jahre 1330 (vgl. Otterbjörk 1965, 123ff.). Vor 1330 sind aber schwedische Lexeme in lateinischen Briefen und Urkunden bezeugt (vgl. Löfkvist 1976). Im 13. Jahrhundert existierte – wie im norddeutschen Raum – eine schwedische Rechtssprache, die in den sog. landskapslagar zum Ausdruck kam. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit Dänemark. Nach dem Latein ist zuerst das Mnd. Urkundensprache in Dänemark, das nicht nur von den eingewanderten Norddeutschen, sondern auch von den Kanzleien und Privatpersonen verwendet wird. Dies hängt zum Teil damit zusammen, dass das dänische Königshaus eine Zeitlang deutschsprachig war. Deswegen wurde in erster Linie Mnd. in der Schlosskanzlei geschrieben (vgl. Carlie 1925, 131). Die erste Urkunde in dänischer Sprache stammt aus dem Jahre 1371. Skautrup stellt fest: »Med Jens dues opladelsesbrev af 1371 blev Danmark således det sidste land, hvor nationalsproget vandt frem som diplomsprog« (Skautrup 1947, 29). Carlie hat aber eine Königsurkunde, von Waldemar Atterdag 1360 in dänischer Sprache ausgestellt, belegt (vgl. Carlie 1925, 20). Nach Mette Kunøe ist die Einführung des Dänischen als Schreibsprache in den Urkunden auf die Tradition in Norwegen und Schweden zurückzuführen (vgl. Kunøe 1984). Den Untersuchungen Inger Larssons zufolge hat der König Magnus Eriksson (1336–1364) die Einführung des Schwedischen als Verwaltungssprache angebahnt, was vor allem aus dem Stadtrecht 1350 hervorgeht (vgl. Larsson 2003, 54). Nach diesem Stadtrecht muss die Verwaltungssprache schwedisch sein. König Magnus Eriksson hat die öffentlichen Schreiben an schwedische Mitbürger in schwedischer Sprache angefertigt, während die Briefe an die kirchliche Sphäre in lateinischer bzw. an norwegische Adressaten in norwegischer Sprache verfasst wurden (vgl. Larsson 2003, 58). König Magnus Eriksson konnte sich einer schwedischen und einer norwegischen Kanzlei bedienen. Da die norwegischen Schreiber die Briefe und Urkunden mit Namen unterzeichneten, sind sie bezeugt, z. B. Ivar Audunsson, Pål Styrkårsson und Arne Aslaksson. Die schwedischen Schreiber sind dagegen nicht bekannt (vgl. Sjödin 1956, 1961). Eine Analyse der von König Albrecht in Stockholm ausgestellten, noch erhaltenen Briefe und Urkunden ergibt, dass im Zeitraum 1364–1389 die Mehrzahl der Briefe und Urkunden in schwedischer oder in lateinischer – ausnahmsweise in mnd. – Sprache verfasst wurde. 2.2. Zum Gebrauch des Mittelniederdeutschen in Skandinavien Es liegt nahe, das Aufkommen des Mnd. in skandinavischen Kanzleien in einem hansestädtischen Kontext zu kommentieren. In Norddeutschland beginnt im 13. Jahrhundert der Übergang vom Latein zur volkssprachigen (mnd.) Schriftlichkeit. Dieser Prozess ist aber in den unterschiedlichen Textsorten zeitlich zu differenzieren. In den Stadtrechten setzt sich das Mnd. in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch. Wie bereits er-
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
wähnt, haben die Kanzleien der Hansestädte erstaunlich lange am Lateinischen festgehalten. Erst nach 1380 ist der Übergang zum Mnd. überall durchgeführt. Schon früher als die norddeutschen Kanzleien haben aber die hansischen Kontore in ihren Statuten bzw. in ihrer Korrespondenz das Latein ersetzt. In Bergen wurde der erste deutsche Brief (an Rostock) im Jahre 1365 ausgestellt (vgl. Brattegard 1945, 38; 1963, 8). In Norwegen konnten sechs weitere Dokumente aus dem 14. Jahrhundert nachgewiesen werden, die alle nach Lübeck gingen (vgl. Schöndorf 1987, 49). In Dänemark dagegen wurden bereits Anfang des 14. Jahrhunderts Urkunden in mnd. Sprache geschrieben, vor allem in den Grenzgebieten gegen Süden hin (vgl. Winge 1989, 111). Die ersten in Schweden ausgestellten Briefe und Urkunden in mnd. Sprache stammen aus dem Jahre 1360 (vgl. Mähl 2004, 105). Die Aussteller sind König Magnus von Schweden und dessen Sohn König Håkon von Norwegen, der Ausstellungsort ist Helsingborg (vgl. Diplomatarium Suecanum 6300–6302). In Visby wurde der erste Brief (Brief an Hansestädte) in mnd. Sprache 1362 abgefasst (vgl. Gabrielsson 1971, 70). Bei der Suche nach Gründen für den Gebrauch des Mnd. in den in Skandinavien ausgestellten Briefen und Urkunden richtet sich das Augenmerk zunächst auf die Adressaten. Dass die Aussteller bei der Abfassung von Briefen, die an norddeutsche Kanzleien gerichtet wurden, unterschiedliche Wege einschlagen konnten, liegt auf der Hand (vgl. Schöndorf 1987, 55). In den skandinavischen Kanzleien wurden bis Ende des 14. Jahrhunderts nicht selten die Schreiben an norddeutsche Städte in lateinischer Sprache abgefasst, so z. B. ein Schreiben von Bürgermeister und Rat der Stadt Kalmar an Lübeck vom 30. März 1371 (vgl. Diplomatarium Suecanum X 39). In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts begannen sich aber die Aussteller des Mnd. zu bedienen. Dem neuen Usus gemäß verwendeten König Magnus und König Håkon das Mnd. in den Verträgen mit dem deutschen Grafen Adolf von Holstein-Plön (vgl. Diplomatarium Suecanum 6300–6302) aus dem Jahre 1360. Das gilt natürlich auch für die ausgehende Korrespondenz an deutsche Empfänger (Adressatenorientierung), so z. B. für die Briefe an Brügge und an Lübeck (vgl. Diplomatarium Suecanum X 28 bzw. X 53). Wenn allerdings das Mnd. in Briefen und Urkunden begegnet, die innenpolitische, innenstädtische und gerichtliche Vorgänge in skandinavischen Städten widerspiegeln, und an stadt- oder landesinterne Adressaten gerichtet sind, stellt sich die Frage, warum die Aussteller der Dokumente darauf verzichteten, sich der einheimischen Volkssprachen zu bedienen. In diesen Fällen spielten sicherlich andere Faktoren eine Rolle, wie z. B. Nationalität des Ausstellers, die soziale Stellung des Adressaten und Sprachprestige. Neben den Briefen und Urkunden wurde das Mnd. auch in anderen administrativen und rechtlichen Textsorten gebraucht. Zunftordnungen in mnd. Sprache sind aus Kopenhagen (Deutsche Kompagnie 1382, Goldschmiede 1429), Odense (Ellende lav 1435) und Simrishamn (Deutsche Kaufleute 1408) erhalten. Ferner existieren Zunftordnungen aus den Herzogtümern Schleswig, Flensburg, Hadersleben, Ribe, Sonderburg und Tondern (vgl. Winge 1989, 111f.). Aus der inneren Verwaltung des Hansekontors in Bergen sind mnd. Handschriften erhalten, u. a. das Gartenrecht, das Gesellenbôk und das Mâschopbôk (vgl. Brattegard 1963, 9). In diesem Zusammenhang sind ferner das gotländische Waterrecht und das Visbyer Stadtrecht zu nennen, die in mnd. Sprache geschrieben wurden.
39. Skandinavien
3.
629
Zu den Kanzleien und Schreibern mittelniederdeutscher Texte
Wann das Kanzleramt in den skandinavischen Ländern eingeführt wurde, kann nicht genau festgestellt werden. In Dänemark scheint das Kanzleramt um die Mitte des 12. Jahrhunderts eingerichtet worden zu sein. In einem Brief vom Jahre 1159 wird ein Radulphus cancellarius erwähnt (vgl. Carlie 1925, 21). In der schwedischen Forschung wird angenommen, dass sich während der Regierungszeit Magnus Erikssons (1336–1364) eine festere Kanzleiorganisation etablierte (vgl. Schück 1963). Im Spätmittelalter wurden die Könige der skandinavischen Länder häufig aus Deutschland geholt. Königshaus, Adel und der gebildete Teil der Stadtbevölkerung waren somit deutschsprachig. Durch die verdienstvolle Arbeit Johan Carlies haben wir ein gutes Bild über die Organisation der dänischen Königskanzlei im Zeitraum 1330–1430. Carlie zeigt, dass in erster Linie deutsche Schreiber in der Königskanzlei tätig waren (vgl. Carlie 1925, 23ff.). Da die urkundlichen Informationen über die in den Kanzleien tätigen Schreiber im Normalfall sehr knapp sind, kann über die Organisation der skandinavischen Stadt- bzw. Schlosskanzleien häufig nur spekuliert werden. Urkundliche Informationen über die Schreiber in der Stockholmer Schlosskanzlei im Spätmittelalter existieren nicht, während dagegen die Stockholmer Stadtschreiber des 15. und 16. Jahrhunderts belegt sind (vgl. Mähl 2008, 50). Dass der schwedische König Albrecht von Mecklenburg (1363–1389) deutsches Kanzleipersonal mit nach Schweden gebracht hat, ist jedoch durchaus denkbar. Das schließt aber nicht aus, dass schwedische Schreiber in seiner Kanzlei tätig waren. Die Verhältnisse dürften in den Kanzleiorganisationen Erichs von Pommern und Kristoffers von Bayern ähnlich gewesen sein. Untersuchungen zu den Stadtkanzleien im mittelalterlichen Skandinavien liegen in beschränktem Umfang vor (vgl. Brattegard 1945; 1946; Gabrielsson 1971; 1972; Mähl 2008). Im Stockholm des 14. und 15. Jahrhunderts muss man mit mindestens zwei unterschiedlichen Kanzleien rechnen, und zwar der Schloss- (königliche Briefe und Urkunden) und der Stadtkanzlei (Briefe und Urkunden von Bürgermeister und Rat bzw. von Privatpersonen). Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass in der kirchlichen Sphäre eine eigene Kanzleiorganisation wirkte. Es muss leider festgestellt werden, dass die schwedischen Kanzleiverhältnisse vor der Zeit Gustav Wasas zum allergrößten Teil unerforscht sind. Es ist aber anzunehmen, dass es bereits im 14. Jahrhundert eine königliche Kanzlei gegeben hat, in der sowohl schwedische als auch ausländische Schreiber tätig gewesen sind. Vibeke Winge hat für Dänemark feststellen können, dass deutsche Schreiber- und Registrantentraditionen in der dänischen Königskanzlei eigentlich erst seit der Regierungszeit Kristoffers von Bayern (1439–1448) vorkommen, obwohl deutsche Schreiber schon vor dieser Zeit tätig waren (vgl. Winge 1982, 145; Carlie 1925). In der Kanzlei des schwedischen Königs Gustav Wasa waren viele deutsche Schreiber tätig, u. a. der Lübecker Erasmus Boddeker und Wulf Gyler (vgl. Mähl 2008, 46f.). Was die Herkunft des Personals der schwedischen Kanzleien betrifft, stellt Rakel Johnson fest, der Schreiber im mittelalterlichen Schweden tycks sålunda vara en lägre prästman, djäkne eller kanik, utbildad vid en katedralskola i någon av de större, medeltida städerna. Han kan ha svenskt ursprung, men, särskilt om han är verksam i en stad, kanske vara av tyskt, norskt eller danskt ursprung« (Johnson 2003, 104f.).
630
4.
V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
Charakterisierung des Mittelniederdeutschen in den in Skandinavien ausgestellten Texten
In der niederdeutschen Philologie wurde lange angenommen, dass das geschriebene Mnd. im Ostseeraum weitgehend nach lübischem Vorbild normiert sei. Dass diese Annahme relativiert werden muss, haben Untersuchungen zu mnd. Schreibsprachen in Skandinavien gezeigt (vgl. Gabrielsson 1971; 1972; Mähl 2008; Rooth 1934). Gleichzeitig haben sie ergeben, dass es Unterschiede, was die mnd. Varietät betrifft, zwischen den skandinavischen Städten gibt. Das Mnd. in Bergen weist die lübisch-nordniederdeutschostelbischen Züge der Lübecker Kanzleisprache auf (vgl. Brattegard 1945, 185; 1963, 10). In Bergen treten u. a. die Varianten desse ›dies-‹, schal ›soll‹, sülve ›-selb‹, vrünt ›Freund‹ auf. Der Grundcharakter der mnd. Varietät Stockholms zeigt nordnd. Prägung (desse, sülve, vrünt). In den Stockholmer mnd. Quellen begegnen aber auch viele westlich-westfälische (westf.) Varianten, wie z. B. efte ›oder‹, sal ›soll‹, tƝgen ›gegen‹ und tüsschen ›zwischen‹ (Mähl 2008, 130f.). Während die nordnd. Varietät des Mnd. eine starke Stellung in Bergen hat, zeigt das Visbyer Mnd. einen westf. Grundcharakter (vgl. Gabrielsson 1972, 64). In Visby ist der westliche Einfluss stärker als in Stockholm. Die Anfertigung mnd. Briefe und Urkunden im zwei- oder mehrsprachigen Milieu in den skandinavischen Städten hat zur Folge gehabt, dass skandinavischer Einfluss in den mnd. Texten belegt werden kann. Der Einfluss ist im Bereich der Orthographie und des Wortschatzes zu verzeichnen. In den Stockholmer mnd. Texten kommen vor allem bestimmte Ausdrücke der schwedischen (Stadt-)Kultur, wie z. B. bunde ›Bauer‹ und tompte(n) / tumpte(n) ›Grundstück‹, vor (Mähl 2008, 132ff.). In den mnd. Schriftstücken aus Bergen hat Brattegard norwegische Lexeme, häufig in mnd. Form, wie kleve (< an. klefi) ›Kammer, kleiner Raum‹, mölje (< norw. mølja) ›Gericht aus gebrochenem, mit Fett übergossenem Fladenbrot‹ und mungat (< an. mungát) ›Bier‹, belegt (Brattegard 1945, 184; 1963, 12).
5.
Der Schreibsprachenwechsel Niederdeutsch > Hochdeutsch in Skandinavien
Im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts wird in Norddeutschland das Niederdeutsche in seinen schriftlichen Funktionen vom Hochdeutschen abgelöst. Die Ursachen des Schreibsprachenwechsels liegen im wirtschaftlichen, politischen, juristischen, kulturellen und religiösen Umbruch der Zeit um und nach 1500 (Peters 2000, 1502f.). In Skandinavien war das Deutsche bis Mitte des 16. Jahrhunderts immer gleichwertig mit dem Nd. Briefe und Urkunden in hd. Sprache wurden gelegentlich ausgestellt, vor allem wenn sich der König im Ausland befand. Ein gutes Beispiel hierfür ist die am 27.6.1370 von Waldemar Atterdag in Kalisch ausgestellte Urkunde (vgl. Carlie 1925, 19). In Bergen wird vorwiegend das Nd. bis zum Jahre 1579 verwendet, wo die ersten hd. Briefe und Urkunden entstehen. Der Übergang zum Hd. wird mit einem Wechsel der Sekretäre zusammenhängen. Reines Nd. wurde aber bis Mitte des 17. Jahrhunderts geschrieben (vgl. Brattegard 1963, 8f.). In Schweden nimmt der Gebrauch des Hd. erst in der Kanzlei
39. Skandinavien
631
des schwedischen Königs Gustav Wasa zu, wo viele deutsche Kanzler und Schreiber, wie Wulf Gyler und Conrad von Pyhy, tätig waren. Wie in Bergen hängt der Übergang zum Hd. in der schwedischen Königskanzlei mit dem Personalwechsel zusammen. Nach 1530 wird das Nd. eher selten in Briefen und Urkunden in Schweden gebraucht. In Dänemark werden amtliche Texte nach 1540 kaum noch in nd. Sprache ausgestellt. In anderen Textsorten, wie Flugschriften, kommt das Nd. bis Ende des 16. Jahrhunderts vor (vgl. Winge 1987, 76ff.).
6.
Forschungsdesiderate
Der vorliegende Überblick zum Gebrauch des Nd. – und später des Hd. – in skandinavischen Kanzleien zeigt, dass die sprachlichen Verhältnisse der skandinavischen Kanzleien im Spätmittelalter mit wenigen Ausnahmen unerforscht sind. Man hat sich in der Forschung in erster Linie auf die Städte Bergen, Kopenhagen, Stockholm und Visby konzentriert, während der Gebrauch des Mnd. in Städten wie Åbo / Turku, Kalmar, Oslo, Raseborg, Tönsberg und Viborg unberücksichtigt blieb. Untersuchungen zu sprachlichen und die Kanzlei betreffenden Verhältnissen der erwähnten Städte, deren Quellenlage ziemlich günstig ist, wären für die deutsche Kanzleisprachenforschung von Belang. Von besonderem Interesse sind die Verhältnisse der Städte Åbo / Turku, Raseborg und Viborg im heutigen Finnland, deren Kontakte zur Stadt Reval / Tallinn im Spätmittelalter intensiv waren. Abgesehen von Vermutungen und Andeutungen ist zu diesem Forschungsfeld wenig bekannt. Mit Hilfe zahlreicher detaillierter Studien zum Mnd. in skandinavischen Städten sollte es ferner möglich sein, eine vergleichende Untersuchung über das Mnd. im nordisch-baltischen Raum zu erstellen. Ein zweites Desiderat stellt ferner der Schreibsprachenwechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen in Skandinavien dar. Abgesehen von den Untersuchungen Brattegards (1946) und Winges (1982; 1987) hat die Forschung den Wechsel kaum thematisiert.
7.
Quellen
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8.
Literatur
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632
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Martina Pitz †, Lyon (Frankreich)
40. Kanzleisprache im germanisch-romanischen Grenzgebiet
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Sprachsituation, Quellenlage und Forschungsstand Sprachkontakt- und Kanzleisprachenforschung Schreibsprachliche Überdachung durch das Deutsche bzw. Französische Rheinfränkische Schreibsprache in französischem Kontext Methodische Konsequenzen und Ausblick Literatur
1.
Sprachsituation, Quellenlage und Forschungsstand
Wie sich die sprachgrenznahen Landschaften am Westrand des deutschen Sprachgebiets im Hinblick auf die so genannte pragmatische Sprachgeschichte verhalten, ist lediglich für das Elsass und die Schweiz in Umrissen bekannt; eine interdisziplinär ausgerichtete, neben den sprachgeschichtlichen auch kulturhistorische, diplomatische und paläographische Aspekte mit integrierende Darstellung der Schreibgewohnheiten in den nördlich anschließenden Grenzräumen Lothringens und Luxemburgs ist dagegen noch ein Desiderat der Forschung. Zwar standen die betreffenden Landschaften in den letzten dreißig Jahren häufig im Fokus einer sich allmählich herausbildenden historischen Sprachkontaktforschung, doch haben sich entsprechende Ansätze bisher vorwiegend auf die sprachliche Genese dieser Räume konzentriert (vgl. Haubrichs 1995; 2003a; Pitz 2005a, 330ff.), auf die Ausbildung und die Stabilität linearer Sprachgrenzen (vgl. Haubrichs 2003a-c; 2004), auf die Sammlung und Interpretation metasprachlicher Daten zu Kommunikationsverhalten und Spracheinstellungen (vgl. Levy 1929; Stroh 1993) sowie auf die Auswirkungen politischer Initiativen, die eine Steuerung dieses Sprachverhaltens im Sinne hatten (vgl. Pitz 2000a; Berschin 2006). Obwohl man in jüngster Zeit durchaus erkannt hat, dass etwa »eine Sprachgeschichte des Luxemburgischen auch eine Geschichte der Sprachen Luxemburgs« (Moulin 2006, 202), also eine Sprachengeschichte sein muss, ist dagegen die aus diesem Grenzsaum erhaltene dokumentarische Schriftlichkeit bisher nur in quantitativ unzureichender (vgl. Rapp 2006, 280ff.; Moulin 2007, 19; Pitz 2007a, 365) und für sprachliche Untersuchungen meist nicht zu verwendender Form publiziert.1 Für Lothringen existiert bislang nicht einmal eine auch nur annähernd vollständige Übersicht darüber, für welche Formen des Geschäftsschrifttums in Archiven und Bibliotheken überhaupt originale Quellen erhal-
1
Ausnahmen: vgl. Levieuge-Colas (1998, 806ff.); Herold / Küper / Maillet (2002); Moulin / Pauly (2007–2009); vgl. auch Bender / Rapp (2001); Rapp (2006).
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V. Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets
ten und in welcher Sprache diese überliefert sind (vgl. Pitz 2007a, 367),2 während sich der Forschungsstand in dieser Hinsicht für Luxemburg inzwischen etwas verbessert hat (vgl. Moulin 2006, 204). Auch die wenigen bereits publizierten Korpora werden freilich in der Regel aus einer ausschließlich einzelsprachlichen Perspektive analysiert, ohne dass die Möglichkeit einer mehrsprachigen Schreibpraxis innerhalb der Kanzleien bzw. der individuellen Mehrsprachigkeit einzelner Schreiber – also genau dessen, was Arend Mihm (2007, 268) die »sprachübergreifende Interdependenz des Geschriebenen« nennt – eine angemessene Berücksichtigung findet (vgl. Pitz 2005b; 2006). Darüber hinaus werden bei Vorliegen mehrsprachiger Textsammlungen aus der Feder bilingualer Individuen (Beispiele etwa bei Kimminich 1990; Herold / Küper / Maillet 2002) bisher nur die deutschsprachigen Passagen einer eingehenden sprachhistorischen Analyse unterzogen (vgl. z. B. Greule / Janich 2002), während die französischsprachigen Texte weitgehend unbeachtet bleiben. Diese unbefriedigende Situation erklärt sich zum Teil durch die Nachwirkung historischer Erklärungsmodelle, die der deutsch-französischen Sprachgrenze die Rolle einer regelrechten Kulturscheide zusprechen wollten.3 Dabei betonte man die Bedeutung politischer und verwaltungstechnischer Maßnahmen, mit deren Hilfe Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Sprachgruppen überbrückt werden konnten; für das Erlernen der Sprache des Nachbarn hätte damit keine zwingende Notwendigkeit bestanden (vgl. Karpf 1987; Herrmann 1995, 160f.; Reichert 1997, 391ff.). Grundsätzlich gilt aber auch, dass sich die Germanistik wie andere Einzelphilologien ihrer möglichen Rolle als Kontaktwissenschaft im Rahmen einer europäischen Sprachgeschichtsschreibung noch stärker bewusst werden muss (vgl. Reichmann 2001).4 Zweifellos blieb nämlich das Französische in den westlichen Grenzlandschaften in Mittelalter und früher Neuzeit ein »Privileg von Teilen der Aristokratie und des Klerus, die in Frankreich studiert haben« (und peu à peu auch der städtischen Oberschichten, die es diesen nachtaten), und natürlich war »seine Funktion eine kulturelle« (Hartweg 2003, 2779); das ändert aber nichts daran, dass Sprachgeschichte immer auch Kultur- und Informationsgeschichte ist (vgl. Giesecke 1998; Meier 2004, 27ff.), und der Zugang zur Kulturtechnik des Schreibens in den betreffenden Zeiträumen per se auf diejenigen sozialen Schichten beschränkt war, denen dieses Privileg des Französischen offenstand. Der Erwerb von Schreib- und Lesefertigkeiten wird sich daher in den wenigsten Fällen auf die Muttersprache beschränkt, sondern den Erwerb weiterer Prestigesprachen (Latein und / oder Französisch) mit eingeschlossen haben. Erste Versuche, die Kanzleitraditionen des Grenzraums aus einer dezidiert kontaktlinguistischen Perspektive zu betrachten, bestätigen denn auch das Bild jüngerer historischer (vgl. Paravicini 2004) und volkskundlicher Arbeiten (vgl. Mechin 1999), nach denen Grenzländer in erster Linie Brückenländer sind und der Sprachgrenze eher
2 3 4
Eine Zusammenstellung der außerhalb des urkundlichen Bereichs in Frage kommenden Textsorten findet sich bei bei Geuenich (1998). So zuletzt bei Berschin (2006, 47). Aus synchroner Perspektive äußert sich Földes (2005).
40. Kanzleisprache im germanisch-romanischen Grenzgebiet
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eine vermittelnde denn eine trennende Rolle zukommt (vgl. Pitz 2000b). Die große Anziehungskraft des Französischen wirkte hier nicht nur kultur-, sondern durchaus auch sprachvermittelnd, was wohl unter anderem zur Folge hatte, dass die literarische Schriftlichkeit in deutscher Sprache in diesen Gegenden in hochmittelalterlicher Zeit weitgehend ausfällt; die germanophonen Oberschichten dieser Landschaften waren augenscheinlich in der Lage, französische Texte in der Originalsprache zu konsumieren, so dass die Notwendigkeit zur Anfertigung von Übersetzungen nicht bestand. Erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts scheint sich diese Situation, möglicherweise als Folge veränderter Sprachattitüden und eines daraus sich ergebenden Normenwandels, recht tiefgreifend geändert zu haben (vgl. Pitz 2011). Im Einzelfall bleibt freilich fast immer unklar, auf welchem Wege diese durch Quellen sicher belegbaren französischen Sprachkenntnisse (vgl. Herrmann 1995, 153; Reichert 1997, 473ff.) konkret erworben wurden. Kinderaustausch, Studienreisen, Fernheiraten und die Anstellung von Sprachmeistern dürften eine Rolle gespielt haben; doch weiß man darüber ebenso wenig wie über eventuell vorhandene institutionelle Formen der Sprachvermittlung, denn die Erforschung der hoch- und spätmittelalterlichen Schreibstätten und Schulen ist für die betreffenden Regionen über erste Ansätze, die sich weitgehend auf einer deskriptiven Ebene bewegen (vgl. Herrmann 1995; Reichert 1997; Rapp 2006, 285ff.), nicht hinausgekommen.
2.
Sprachkontakt- und Kanzleisprachenforschung
Das Problem des Sprachkontakts wurde in der Kanzleisprachenforschung bisher vorwiegend unter dem Aspekt des Kontakts mit dem Lateinischen betrachtet, das als lingua franca allen Berufsschreibern geläufig war. Latein war die zuerst erlernte und für das Gros der schreibenden Individuen auch die am häufigsten verwendete Schreibsprache; es drängt sich deshalb die Frage auf, welche Auswirkungen diese Doppelkompetenz auf die Erstellung volkssprachiger Texte hatte. Ob man dabei als methodische Richtschnur tatsächlich »mit Einflüssen« rechnen muss, »wie sie von einem Superstrat auf ein Substrat ausgehen« (Elmentaler 2003, 47), bleibt freilich noch eingehender zu prüfen. Der Vergleich ist nicht unproblematisch, denn die Annahme einer historischen Superstratsituation (vgl. Munske 1982) setzt die parallele Verwendung zweier verschiedener Varietäten für die mündliche Kommunikation in einem gemeinsamen Kommunikationsraum voraus, von denen eine durch den sukzessiven Sprachwechsel ihrer Sprecher allmählich ihre Funktion verliert und deshalb durch die andere überlagert wird (vgl. Pitz 2007b, 39). Obwohl sich der Sprachkontakt zum Lateinischen vermutlich tatsächlich »bis in die frühe Neuzeit hinein [als] ein Kontakt zwischen [...] in aktiver schriftlicher wie mündlicher Kommunikation sich fortentwickelnden [...] Idiomen« (Henkel 2004, 3172) darstellte, war diese Situation auch am »verborgenen Ort der Klosterschule« (Kintzinger 2003, 63) sicher nicht gegeben. Die unbestreitbaren Schwierigkeiten der Phonem-GraphemZuordnung, die sich aus der Übernahme des lateinischen Zeicheninventars in volkssprachiger Schriftlichkeit ergaben (vgl. Penzl 1982), sind denn auch ein übereinzelsprachliches Problem, für das in erster Linie die kulturhistorischen Rahmenbedingungen der Textproduktion insgesamt verantwortlich gemacht werden müssen und weniger die Fä-
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higkeit des einzelnen Schreibers, in der mündlichen Kommunikation zwischen mehreren Sprachen zu wechseln. Die Untersuchung deutsch-lateinischer Parallelurkunden zeigt denn auch eine relativ große Unabhängigkeit der Schreibtraditionen bei der Satzgliederung und bei der Ausformung rhethorischer Muster (vgl. Schulze 1975, 194); die aus der Sprachkontaktforschung bekannten klassischen Interferenzen, also mehr oder weniger bewusste Veränderungen sprachlicher Strukturen der einen Sprache nach dem Muster der anderen, sind relativ selten. Sprachkontakt in der Schreibsprachentwicklung wird ferner wahrgenommen als Kontakt zwischen benachbarten Schreiblandschaften sowie als Einfluss fremder Schreibtraditionen durch die Präsenz exogener Schreiber in den Kanzleien, wobei der individuelle Schreibusus dieser Fremden durchaus strukturelle Veränderungen der lokalen Kanzleisprache bewirken konnte. Dies gilt insbesondere dann, wenn allochthone Formen als Kennzeichen einer als sozial höherwertig eingestuften Varietät übernommen werden. Phänomene dieser Art werden in den westlichen Grenzlandschaften in besonderer Weise verstärkt durch die Präsenz zahlreicher nicht kanzleigebundener, über die Sprachgrenze hinweg agierender und damit zweifellos mehrsprachiger Lohnschreiber, die wohl im Bedarfsfall herbeigerufen wurden und die erforderlichen Dokumente vor Ort niederschrieben. Solche Schreiber, in einem Raum sozialisiert und ausgebildet, in dem der Sprachwechsel ein fester Bestandteil administrativer und ökonomischer Kommunikationsformen war, dürften in der Lage gewesen sein, entsprechend den jeweils geltenden textimmanenten oder situativen Erfordernissen Schriftstücke in mehreren Sprachen anzufertigen und machten deshalb die Sprachwahl wohl in konsequenter Adressatenorientierung von den äußeren Umständen abhängig. Aufgrund des gesamtgesellschaftlichen Kontexts machte die Produktion mittelhochdeutscher Schriftlichkeit sicher nur einen sehr geringen Anteil an ihrer Gesamttätigkeit aus. Es lässt sich zeigen, dass die in diesem Kontext hergestellten deutschsprachigen Texte sich durch charakteristische, offensichtlich interferenzbedingte Normwidrigkeiten auszeichnen, deren systematische Analyse die gesamte Diskussion um die Ausbildung einer überregionalen sprachlichen Norm am Ausgang des Mittelalters um neue Aspekte bereichern kann (vgl. Pitz 2006, 127ff.). Der tatsächliche Einfluss dieses Schreibertyps auf die im 13. und 14. Jahrhundert zahlreicher werdenden Notariate und Tabellionate, auf die klösterliche Beurkundungspraxis und auf das Schriftgut der größeren und kleineren Adelsgeschlechter lässt sich beim derzeitigen Forschungsstand allerdings noch nicht völlig abschätzen. Die Präferenz der Berufsschreiber für das Französische und ihre Orientierung an den in der bedeutenden Handelsstadt Metz herrschenden Praktiken ist freilich offensichtlich; sie zeigt sich nicht zuletzt auch an der auffallend häufigen Verwendung französischer Namenschreibungen in lateinischen Dokumenten (vgl. Pitz 2000b, 110f.). Diese auffallende Frankophilie ist sogar in solchen Fällen allgegenwärtig, in denen alle beteiligten Parteien aus dem germanophonen Raum stammten und damit die Sprache der mündlichen Kommunikation bzw. bei Rechtsakten die Sprache der mündlichen Verhandlung höchstwahrscheinlich das Deutsche gewesen ist.5 Letzteres ist umso erstaunlicher, als speziell bei
5
Beispiele finden sich bei Rapp (2006, 285).
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rechtsverbindlichen Texten der Schreibakt ja immer wieder auf die dahinter stehenden konkreten Rechtshandlungen mit ihren institutionalisierten, durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Ritualisierung der Sprachverwendung gekennzeichneten Handlungsabläufen rekurrieren musste (vgl. Schubert 1979, 1; Steinbauer 1989, 33). Dabei wurde die äußere Form des Textes mit der obligatorischen Setzung bestimmter sprachlicher Signale im Prinzip zur Grundlage des Beweises; ein Wechsel der Sprache bei der Verschriftlichung verkomplizierte also nicht nur den Rechtsvorgang an sich, sondern barg auch die Gefahr von Missverständnissen – und damit Rechtsnachteilen – in sich. Der Wunsch nach der Prestigesprache war hier also offenbar stark genug, um jedes pragmatische Argument beiseite zu schieben.
3.
Schreibsprachliche Überdachung durch das Deutsche bzw. Französische
In vielen Schreibstätten wurde der Rekurs auf das Französische auf diese Weise über einen Zeitraum von annähernd 100 Jahren – und in einzelnen Herrschaften sogar bis in die Neuzeit hinein – zu einem mehr oder weniger verbindlichen Ritual für die Redaktion rechtlich bindender Vereinbarungen und für die administrative Kommunikation, während das Deutsche als Schreibsprache erst verhältnismäßig spät, nämlich erst nach 1350 zum Durchbruch gelangte. Zu konstatieren ist also eine charakteristische Kombination von sehr frühem Übergang zum Französischen auf der einen Seite und stark verzögerter Einführung des Deutschen auf der anderen Seite als typisches Merkmal dieses germanophonen Grenzraums; schon dies erhebt die betreffenden Gegenden zu einem Modell für die Analyse von Schreibsprachkontakten. Anders als in den östlich anschließenden Landschaften des Rhein- und Moselfränkischen, und anders auch als im südlich anschließenden Elsass, schob sich hier in den oft beschriebenen Prozess des allmählichen Übergangs von der lateinischen zur volkssprachigen, d. h. muttersprachlichen Schriftlichkeit eine relativ lang andauernde französische Phase ein, welche dadurch gekennzeichnet war, dass eine als Sekundärsprache erlernte und von bestimmten sozialen Schichten offensichtlich hinreichend beherrschte Kultur- und Bildungssprache für die schriftliche Kommunikation nicht nur gegenüber der Kleriker- und Gelehrtensprache Latein, sondern auch gegenüber der eigenen Muttersprache bevorzugt wurde. Wenngleich natürlich »alles andere als konzeptuell literal bestimmt« (Reichmann 2001, 36), orientierte sich die Schreibpraxis im Bereich der dokumentarischen Schriftlichkeit damit an soziokulturellen Verhaltensmustern, für die das Prestige der literarischen Schriftkultur des Westens maßgeblich war. Dass diese Beobachtung die in der Forschung seit Jahrzehnten diskutierte Frage nach den möglichen Gründen für das Aufkommen des Deutschen als Kanzleisprache unter Umständen um eine ganz neue Perspektive bereichert, liegt auf der Hand. Zur Beurteilung des komplexen Verhältnisses von sich entwickelnder Schriftsprache und historischer Mündlichkeit müssen in diesem bilingualen Kontaktgebiet ganz neue Interpretationsansätze entwickelt werden. Nicht nur wird das immer wieder vorgebrachte Argument, die Analyse des Geschäftsschrifttums eröffne dem Linguisten den Zugang zu einer alltagsnäheren Form der Sprachverwendung, als dies durch die Beschäftigung mit
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literarischer Schriftlichkeit möglich ist, zumindest teilweise entkräftet, wenn in den betreffenden Textsorten (Urkunden, Urbare, Rechnungen, Testamente, Nachlassinventare, usw.) eine Fremdsprache gegenüber der Muttersprache bevorzugt werden konnte; die beschriebene Triglossiesituation ist darüber hinaus auch im Hinblick auf die Entwicklung der Grundsprache selbst nicht ohne Folgen geblieben. In kleinräumigen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass die Basisdialekte in schreibsprachlich in erster Linie vom Französischen überdachten Territorien bis heute einen höheren Konservatismus aufweisen als dies in Gegenden mit überwiegend deutschsprachiger Schreibtradition der Fall ist (vgl. Pitz 2005a, 329), denn die gesprochenen Varietäten konnten unter diesen Voraussetzungen kaum zu einer Sprache mit Leitvarietät werden. Dies gilt hier durchaus nicht erst für die »nachmittelalterliche Geschichte des Deutschen« (Reichmann 1990). Wenngleich aus sprachgeographischer Sicht oft zum gleichen Dialektraum gehörig, werden die schreibsprachlichen Verhältnisse auch benachbarter Territorien dadurch bis zu einem gewissen Grade unvergleichbar – eine Situation, die man in dieser Form in anderen Teilen des deutschen Sprachgebiets nicht zu erwarten hat. Zweifellos zu wenig beachtet wurde bisher auch, dass die schreibsprachlich weitgehend vom Französischen überdachten Territorien schon allein auf Grund dieses Kanzleiusus sehr viel weniger empfänglich waren für die seit dem 14. Jahrhundert linksrheinisch allenthalben fassbaren südlichen Innovationen, die die benachbarten Herrschaften mit deutscher Schreibtradition früh erfassten (vgl. Pitz 2005a; die Problematik wird noch ausgeklammert bei Kunz / Vollono 2009). Sehr viel leichter als in anderen Regionen lässt sich hier also den historischen Gründen nachspüren, die dazu führten, dass sich diese südlichen Innovationen in der Regel »sprunghaft, nicht in gradliniger Fortpflanzung von einem Kanzleiort zum nächstbenachbarten« ausgebreitet haben (Schützeichel 1974, 46).
4.
Rheinfränkische Schreibsprache in französischem Kontext
Unbestreitbar ist die Beobachtung, dass sowohl die romanophone Handelsstadt Metz als auch die lothringische Herzogskanzlei in Nancy für die Korrespondenz mit ihren germanophonen Nachbarn bzw. zur Verwaltung deutschsprachiger Gebiete im Spätmittelalter immer auch eine kleine Zahl germanophoner Schreiber beschäftigten, die sich durchweg einer rheinfränkischen Schreibsprache bedienten. Für die Herzöge von Lothringen gibt es solche in einem stark westlich geprägten Rheinfränkischen gehaltenen Zeugnisse vereinzelt schon für das ausgehende 13. Jahrhundert (vgl. Gärtner / Holtus / Rapp / Völker 1998, 113ff.). Speziell die für das deutsche Bellistum des Herzogtums Lothringen6 bestimmte Rechnungsführung trägt bemerkenswerterweise sogar dann ausschließlich rheinfränkische Züge, wenn das betreffende Schrifttum eindeutig für im moselfränkischen Dialektgebiet liegende Orte bestimmt ist; schon dieser Umstand verbietet es ausdrücklich, speziell von diesem Quellentyp auf die örtliche Dialektsituation zurückzuschließen, wie dies jüngst noch von Levieuge (1998) für die herzogliche
6
Zum sachlichen Hintergrund vgl. Herrmann (1995, 52).
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Rechnungsführung von Saargemünd versucht worden ist. Auch die deutsche Varietät, welche bestimmte Teile der Metzer Führungsschicht wohl – auf welchem Kompetenzniveau auch immer – als Zweitsprache sprachen, dürfte eine rheinfränkische gewesen sein, wenn man sich an den wenigen erhaltenen deutschsprachigen Urkunden sowie an dem leider nur kopial überlieferten Urbar der Metzer Deutschordenskommende von 1406 (vgl. Heckmann 2000; Haubrichs 2000, 62) orientiert. Bisher fehlen umfassende Untersuchungen zu der Frage, ob sich dieses Phänomen etwa dadurch erklärt, dass sich in den moselfränkischen Regionen Lothringens beim Adel und beim städtischen Patriziat ein rheinfränkisch geprägter Akrolekt ausgebildet haben könnte, welcher sich über die moselfränkischen Basisdialekte legte; der Befund für das nördlich anschließende Luxemburg (vgl. Moulin / Pauly 2007–2009, usw.) scheint eher gegen diese Hypothese zu sprechen, und auch die Entwicklung der Trierer Schreibsprache steht bekanntlich unter Sonderbedingungen (vgl. Rapp 2006, 287). Sehr viel eher dürfte sich der lothringische Befund durch die unterschiedliche Wahrnehmung und, daran gebunden, das unterschiedliche Prestige der verschiedenen germanophonen Varietäten aus der Sicht der Romanophonen erklären: Trotz der bei dieser Quellengattung unvermeidlichen Verwerfungen lässt sich bei Durchsicht der altfranzösischen Literatur (vgl. Heim 1984, 78ff.; Pitz 2008) zeigen, dass für Muttersprachler des Französischen die eigentliche Allemagne und die zugehörige Sprachbezeichnung allemand im Wesentlichen den rheinfränkischen Dialektraum und die oberdeutschen Gebiete umfasste, während die nördlich anschließenden Regionen einschließlich des Moselfränkischen als tiesche terre bzw. ties pays (< afrz. tiedeis, mfrz. tiois < frk. þeudisk bzw. mlat. theodiscus, als Gegenbegriff zu roman wohl ursprünglich für die Varietäten der westlichen Franken, dann ausgedehnt auf die Sprecher nieder- und mittelfränkischer Varietäten diesseits der Sprachgrenze) bezeichnet wurden. Die vorhandene Quellenlage reicht keineswegs aus, um auch nur ungefähr abschätzen zu können, seit wann man mit diesem hohen Prestige rheinfränkischer Varietäten in den romanophonen Gebieten rechnen darf. Es sei aber immerhin angemerkt, dass sich die sprachliche Sonderstellung früher westfränkischer Texte wie der Pariser Gespräche oder des Ludwigslieds unter Umständen durch ganz ähnliche Phänomene erklären könnte.
5.
Methodische Konsequenzen und Ausblick
Methodisch lassen sich die durch den Sprachkontakt, die mögliche Mehrsprachigkeit der Schreiber und den prinzipiell immer möglichen Rückgriff auf unterschiedliche Schreibsprachen (mittellateinisch, mittelhochdeutsch, alt- bzw. mittelfranzösisch) eröffneten neuen Dimensionen der sprachhistorischen Interpretation dokumentarischer Schriftlichkeit nur erschließen, wenn bei der Analyse zusammenhängender Quellenkorpora aus einem bestimmten Schreibort oder einer bestimmten Region die idioskriptalen Gewohnheiten einzelner Schreiberhände hinreichend berücksichtigt und auch von der gleichen Hand stammende Stücke in unterschiedlichen Sprachen im Rahmen einer schreiberseparierenden Quellenauswertung in konsequenter interdisziplinärer Zusammenarbeit von Germanisten, Romanisten und Latinisten zusammengeführt werden. Es scheint daher
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unbedingt notwendig, die traditionelle Methodik einer Zusammenstellung und Analyse gemischter Quellenkorpora nach Schreiborten bzw. Bildungsinstitutionen, wie sie durch die Begriffe Kanzleisprache bzw. Kanzleisprachenforschung abgedeckt wird, um eine idioskriptale Analyse der Schreibgewohnheiten einzelner schreibender Individuen zu ergänzen, womit indirekt auch zugestanden wird, dass die historische Kanzleisprachenforschung, wie die historische Varietätenlinguistik überhaupt, letztlich das Spektrum und die Grenzen individueller Variation im Blick haben muss. Dabei gilt es vor allem, die Beziehung zwischen Schreiber und Kanzlei näher auszuloten: Was gehört zum individuellen Usus des Schreibers, was zur Schreibtradition seiner Kanzlei bzw. seiner Region? Was bringt der Schreiber an muttersprachlicher oder sekundärsprachlicher Sprachkenntnis mit, was kommt durch gezielte Bildungsmaßnahmen hinzu und welche Konsequenzen hat dies für die Grammatikalisierung sprachlicher Neuerungen und die Beurteilung historischen Sprach- und Normenwandels insgesamt? Zur Beantwortung all dieser Fragen bietet sich der mehrsprachige Kontaktraum mit seiner besonderen Offenheit für sprachliche Mehrschichtigkeit in besonderer Weise an, sofern man sich dieser komplexen Realität auch bei der Betrachtung von Schreibsprachentwicklung und Kanzleigewohnheiten über die Schiene einer regelrechten Sprachbewusstseinsgeschichte zu nähern versucht.
6.
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VI. REGISTER
1. Sachregister
A.c.I. 321 Abbreviator 136 Abfassungszeit 292 Ableitungssuffix 486 Ablösungsprozess 409, 613, 614, 619 Abschlussformel 87, 91, 97 Abschlussteil 97 Achtbuch 79, 141 Ächtbuch 547 Adel 572, 573, 590, 591, 629 Adjektivattribut 236 Adressatenbezug 161 Agrarbevölkerung 590 Akrolekt 163, 641 Akte 21, 69, 73, 76, 78, 284 Alemannisch 422, 427, 430, 434, 435 Allgemeinwortschatz 220 Alliteration 536 Allograph 151, 153, 429, 431, 432, 433 Allographie 153 Allomorph 173, 174, 176, 177, 178, 185, 186 Allophonie 157 allophonische Lautveränderung 164 Alltagskultur 31 alltagsnaher Text 31 alltagssprachliches Lexem 219 Alltagssprachlichkeit 97 Alltagswortschatz 219 Alphabetschrift 154 Alphabetschriftsystem 151, 154 Altdänisch 625 Ältermännerbuch 611 Alternanzgebot 158, 160 Ältestes Wettebuch 350 Althochdeutsch 172, 488, 490, 591 Altnorwegisch 625 Altpreußisch 600 Altschwedisch 625 Altukrainisch 610 Altweißrussisch 610 Altwestfälisch 328, 329 altwestfälische Mündlichkeit 328
Ämterhierarchie 80 Ämterordnung 139, 141 Amtsbezeichnung 299 Amtsbuch 21, 69, 76, 78, 133, 296, 374, 444, 464 Amtsdeutsch 582 Amtssprache 591 Amtstext 582 Andreanum 572, 573 Anlautkomprimierung 487 annalistische Chronik 222 Anschlusskommunikation 270 Anschrift 86, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98 Anthroponomastik 296, 300, 301 Anthroponym 295 Apokope 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 181, 182, 183, 185, 190, 199, 200, 201, 212, 486, 490, 491 Apokopierung 176, 178, 184, 186, 188, 604 Apprecatio 534 Arbeitskreis Kanzleisprachenforschung 24 Archicapellanus 5 Archivfolge 132 Archivierung des Schriftgutes 79 areale Diffusion 297 Arenga 272, 310, 314, 534 Artikel 235 Artikelreduktion 241 Assimilierungsprozess 590 Attribuierung 94, 241 Auftraggeber 35 Ausgabenbuch 444 Ausgleichsprozess 102, 234 Ausgleichssprache 110, 113 Ausgleichstendenz 522 Auslaut 478, 482, 486 Auslautalternanz 486 Auslautverhärtung 485, 486 Aussteller 257, 259 Ausstellerurkunde 418, 434 Auswertungspotenzial 289, 294, 295
650 autonomistisches Graphemanalyseverfahren 154 Bairisch 202, 210, 422, 427, 429, 430, 431, 432, 434, 435, 436, 551, 592 bairische Schreibsprache 447 bairisches Merkmal 603 Barbarossa-Privileg 349 Bardewikscher Kodex 352 Basisdialekt 640 basisdialektale Mündlichkeit 163 Bayerischer Landfrieden 16 Beamter 576, 578 Bedeutungsverschiebung 223 Bedeutungsverwandtschaft 226 Beiname 294, 297, 299 Beinameninventar 299 Beinamenklammer 299 Belegreihe 300 Belegsammlung 293 Benennungsakt 289 Benennungsmodell 299, 302 Benennungsmotiv 288 Benennungssystem 287, 290 Berain 295 Bereiter 444 Bergrechtskodifizierung 562 Berufsbezeichnung 112, 299 Berufsname 297 Berufsschreiber 416, 420, 638 Besatzungsmacht 590 Beschreibstoff 70 Beschreibungsposition 298 Besiegelung 535 Bestallungsbrief 78 Beurkundung 535 Beurkundungsgeschäft 122 Bezugsvarietät 478, 480 Bezugszeit 292 Bildungsmodell 299 bilinguale Lexemverwendung 318 Bilingualität 600, 604 Binnenstadt 590, 591 bischöfliche Kanzlei 21, 132, 138, 442 bischöfliche Siegelurkunde 443 Bischofschronik 332 Bischofskanzlei 329, 332 Bischofssitz 328 Bischofsurkunde 445 Bittbrief 112 böhmische Kanzleisprache 22
VI. Register Botenbuch 141 Brief 21, 25, 69, 70, 71, 77, 78, 134, 140, 144, 263, 271, 272, 274, 284, 285, 373, 425, 549, 550, 574, 576, 627, 628, 629, 630 Briefbuch 72, 79, 355, 374, 445 Briefkonzept 360 Brieflade 613 Briefschreiber 351 Briefsteller 84, 271 Buch 76, 77 Buchdruck 70, 78 Bündnisvertrag 310 Burg 590 Bürgeraufnahmebuch 444, 445 Bürgeraufnahmeurkunde 444 Bürgerbuch 332, 445, 547 Bürgermeisteramt 463 Bürgertum 573 Bürgschaft 273 Bursprake 109, 351, 355, 361 Calvinismus 114 Camera secreta 136 Cancellaria 3, 132, 136, 138 Cancellus 3 Captatio benevolentiae 8 christlicher Rufname 297 Chronik 550, 562 chronikales Schrifttum 245, 550 Chronistik 332, 333 Civitas Mimigernaford 328 Codex Altemberger 580 Conclusio 8, 85, 87, 271 Corpus der altdeutschen Originalurkunden 16, 311, 312 Corrector 122 Corroboratio 310, 317, 319, 321, 534, 535 Danziger Kodex 349 Datar 136 Datierung 294, 534, 535 Datumsangabe 98 definite Kennzeichnung 293 Degedingbuch 374 Dehnung 157, 480 Denkelbuch 625 Denkwürdigkeiten der Helene Kottanerin 549, 550 deutsch-lateinische Parallelurkunde 638 deutsche Beurkundung 53, 293 deutsche Glosse 318
651
1. Sachregister deutsche Urkunde 591 deutsche Verkehrssprache 592 Deutschenspiegel 56 deutscher Orden 18 deutscher Ortsname 591 Deutsches Rechtswörterbuch 58 Deutsches Reich 589, 590 deutschkrainerische Gemeinsprache 591, 592 Deutschordenskommende 441, 641 deutschsprachige Urkunde 233, 309 diachroner Wandel 151 Diakritikum 435, 436 Dialekt 543 dialektal-mittelbairische Form 516 Dialektgeographie 429 Dialektologie 30, 584 Digitalisierung 292, 294 Diglossie 327, 405, 596 Digraphie 154, 157, 480, 481, 499, 501 Diktat 122 Diktator 122, 535 Diphthong 479, 481, 592 Diphthongierung 157, 234, 335, 482, 592, 601 Direktanzeige 163 Dispositio 310, 534 distinktive Lautopposition 156 Distribution Distributionsanalyse 152, 154, 156 Doppelform 220 Doppelgraphem 601 Doppelkonsonantengraphie 161 doppelte Migration 590 Dorfordnung 78 Dorsualnotiz 291 Dreifachformel 234 dreigliedriger Verbalkomplex 239 Dresdner Geschäftssprache 44 Dresdner Stadtbuch 240 Druckersprache 10, 25 Echteding 373 Edition 292, 293, 294, 296, 302, 552, 594 Editionstechnik 294 Editionsverfahren 294 Effekt sprachlichen Handelns 49 Eherecht 580 Eid 273 Eidbuch 141, 498 Eigenheit, mitteldeutsch-schlesische 567 Eigenlandrecht 578, 579, 580
Eigenname 91, 287, 288, 289, 290, 292, 293, 296, 301 Einfachsatz 239, 243 Eingangsprotokoll 274 Einigungsvertrag 310 Einzelgraphem 601 Einzelurbar 75 Einzelwort 329 Eisenbuch 419, 434 Ekthlipsis 197, 199, 200 Elbinger Kodex 352 Elbostfälisch 377, 378 Elementarsatz 239, 243 Eloquenz 530 Empfängerorientierung 503 Empfängerurkunde 121 Entrundung 600, 601 Erbebuch 400, 401, 403, 404, 407, 613, 614 Erblichkeit 297, 299 Erbrecht 578, 580 Erfurter Judeneid 16 Ergebenheitsformel 87, 89 Erlass 419, 422, 428, 434 Ersatzkompetenz 269 Erstbeleg 290, 291, 300 Erster Weltkrieg 575 Erzkanzler 5, 423, 428, 436 Eschatokoll 274, 311 Esten 610 Estnisch 610, 612 Ethnie 590 Etymologie 288 exhaustive Analyse 154 Exordium 8, 85, 86, 87, 96, 271 Explosivlaut 592 externe Kommunikationsaufgaben 462 Face-to-face-Kommunikation 252 Fachwortschatz 219 Fälschung 290 Familienname 296, 297, 298, 299 Fehdebriefregister 141 Finanzbuch 374 Findbuch 79 finites Verb 236, 242, 258 Flexionsmorphologie 171, 172, 191, 195 Flurname 56, 112, 294, 295, 299 Folgebeleg 300 formal-grammatische Merkmale 241 Formelbuch 133, 143 Formelsprache 23
652 Formenlehre 591 Formular 7, 8, 9, 109, 137, 310, 311, 313, 315, 316, 317, 533, 535, 540 Formularbuch 7, 8, 9, 84, 271, 425, 531, 548 Formulargestaltung 309 Formularsammlung 425 Formulierungsmuster 240, 469, 534 Fortis-Graphie 486 Fortisfrikativ 484 Französisch 636, 637, 638, 639, 640, 641 Frauenstift Freckenhorst 328 Freckenhorster Heberegister 328 Friedensgruß 86, 89, 91, 94, 95, 96, 97 Friedensordnung 310 Friedgebot 484, 488 Frühe Neuzeit 283 Frühhumanismus 529, 531, 532 Frühmittelalter 294 Frühmittelniederdeutsch 376, 377, 380 Frühneuhochdeutsch 23, 53, 195, 196, 199, 203, 207, 234, 284, 477, 481, 484, 485, 487, 488 frühneuhochdeutsche Diphthongierung 446, 448, 449 Frühneuhochdeutsche Grammatik 235 frühneuhochdeutsche Monophthongierung 448, 449, 450 frühneuhochdeutsche Schreibsprache 480 frühneuhochdeutsche Schriftdialekte 233 frühneuhochdeutsche Syntax 231, 551 Funktionalstil 243 Fürstenbrief 86 Fürstenkanzlei 21, 137 Ganzsatz 238, 242 Gartenrecht 628 Gebrauchstext 593 Gebrauchstextsorte 269 Gedenkbuch 373, 374, 547 geistliche Schriftlichkeit 329 geistlicher Grundherr 590 Geistlichkeit 328, 329 Gelbes Stadtbuch 443, 444, 445, 451, 452 Geleitbuch 285 Geleitregister 141 Geltungsareal 120 Geltungshöhe 120 Gelübde 273 Gemeiner Rat 369, 370, 371, 373, 374, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384 Geminate 485
VI. Register Genitivattribut 236 Genus verbi 321 Georgenberger Chronik 562 Gerichtsakte 284, 547 Gerichtsbehörde 579 Gerichtsbrief 263 Gerichtsbuch 141, 242, 374, 442, 479, 547, 595 Gerichtsherr 349 Gerichtsprotokoll 69, 108 Gerichtsschreiber 462, 463 germanischer Rufname 297 germanisches Rufnameninventar 296, 297 Germanisierung 590 germanophoner Grenzraum 639 germanophoner Schreiber 640 Gesamtbeschreibungsmuster 298 Gesamtname 293, 297 Gesamtrat 375 Gesamturbar 75 Geschäftsbrief 284 Geschäftsbuch 419, 547 Geschäftsschrifttum 21, 283, 594, 635, 639 Geschäftssprache 234, 404, 591 Geschäftsurkunde 314, 315 Geschichtliche Landeskunde 30 Geschichtswissenschaft 30 Geschworenenbrief 313 Gesellschaftsgeschichte 33 Gewerbuch 419 Gewohnheitsrecht 572 Gießener Kodex 425 Gilde 339, 340 Gildebuch 110 Gliederungssignal 89 Gliedsatz 239, 242, 243, 551, 582, 583 Glosse 267 Gottscheer Sprachinsel 590 Grammatik 235, 237 Grammatik des Mittelhochdeutschen 235 Graph 151, 153 Graphem 151, 153, 591 Graphem-Phonem-Verhältnis 292 Graphemanalyse 151, 595 Graphematik 537, 576 graphematisch-phonologisches Merkmal 605 graphematische Basiseinheit 153 graphematische Differenzierung 155 graphematische Klassenanalyse 156 graphematische Klassengliederung 157 graphematische Systemanalyse 163, 164
653
1. Sachregister graphematische Variation 153, 480 graphemische Realisierung 470 Graphemkombination 471 Graphexemplar 153 Graphie 151, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 163, 592 Graphieninventar 155 Graphienpräferenz 155 Graphienvariation 158, 160 Graphienwanderung 155 graphische Worttrennung 159 graphostilistische Variation 160 graphotaktische Präferenzregel 159 graphotaktisches Wohlgeformtheitskriterium 161 Große Offizien 349, 350 Großschreibung 538 Grundbuch 108, 350, 356, 496, 547 Grundschulwesen 591 Grundsiegelurkunde 419 Gültebuch 295, 419, 420 Güterbeschreibung 289, 295 Güterurkunde 613 Gutturalalternanz 486 Haderbuch 478, 479 Hamburgisch-Rigisches Recht 402 Handel 329 Handelbuch 374 Handlungsbuch 144, 351 Handlungsorientierung 47 Hanse 16, 17, 102, 103, 141, 347, 348, 353, 358 Hanseschriftlichkeit 351 Hansesprache 334 Hansetag 353, 358 Hauptsatz 242, 551, 596 Hausname 299 Hebung 601, 602 Heiligenname 296, 297 Herkunftsbezeichnung 189 Herkunftsname 288, 297, 300 Hermannstädter Kanzlei 574 Hermannstädter Magistrat 573, 575, 577, 581 Hermannstädter Ratsprotokolle 583 Herzogskanzlei 102, 103, 421, 422, 434, 435, 446, 448, 449 Herzogsurkunde 137 Hexenverhörprotokoll 218 Hildebrandslied 253, 262 Hilfsschreiber 332, 419, 420, 421 historisch-pragmatische Sprachforschung 251
historische Grammatik 232, 234, 245, 246 historische Graphematik 151, 152, 153, 154 historische Kulturraumforschung 30 historische Laut- und Formenlehre 235 historische Lauterscheinung 152 historische Phonologie 151, 152, 159, 162, 163 historische Pragmalinguistik 252, 253 historische Pragmatik 34, 240 historische Schreibsprachforschung 152 Historische Soziopragmatik 29 historische Sprachgeographie 23 historische Sprachwissenschaft 153, 251 Historische Stadtsprachenforschung 29, 30 historische Syntax 231, 234, 236, 240 historische Textlinguistik 34, 240 historischer Bezugslaut 153 historischer Diskurs 32 historisches Dialektverhältnis 152 historisches Flurnamenbuch 300 historisches Kommunikationsverhältnis 36 historisches Lautverhältnis 151 historisches Ortsnamenbuch 300 historisches Schreibsystem 152, 154, 155, 157 Hochadel 589 Hochdeutsch 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 239, 327, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 400, 401, 403, 405, 406, 407, 408, 409, 612 hochdeutsche Schriftlichkeit 327 Hofhaltungsrechnung 77 Hofjurist 530 Hofkanzlei 6, 73, 74, 135, 415, 426, 427, 428, 430, 436 Hofkanzler 5, 134, 423, 428, 530 Hofkapelle 545 Hofkapellenvorsteher 545 Hofname 295 Hofordnung 73, 78, 139, 428 höherer Beamter 122, 125 Humanismus 102 Humanisten 102, 235 humanistischer Text 245 Hyperkorrektion 163, 432, 433 Hyperkorrektismus 429 Hypotaxe 236, 238, 239, 241, 243, 465, 466 Identifizierungsbedürfnis 296 Identifizierungsstrategie 290 idioskriptale Analyse 642 idioskriptale Gewohnheit 641 Imbreviaturbuch 140
654 Immigration 624 Immobilienrecht 403 Individualbezeichnung 301 individuelles Verschriftungssystem 153 Infinitiv 236 Infinitivkonstruktion 321, 595 Ingelheimer Reich 478 Ingrossator 422 innere Mehrsprachigkeit 34 Inneres Ratsarchiv 399 Innsbrucker Kanzlei 125 Inscriptio 534, 535 Insert 290 Institutionalität 50 Interdisziplinarität 46, 48, 49 Internationalität 50 Interpunktion 538 Intersozialität 50 Intitulatio 274, 275, 534, 535 Intonation 160 Inventar 552 Invocatio 274, 310, 534 Invokationsformel 236 Irregularisierung 487 Isoglosse 45 Italienisch 590, 591 Jenaer Ratsurkunde 217 Josephinische Verfassungsänderung 573 kaiserliche Kanzlei 107, 108, 120, 122, 127, 530, 548 kaiserliche Kanzleisprache 123, 233 Kaiserliches Land- und Lehnrecht 56 Kammeramtsrechnungen 547 Kammerbuch 76, 561, 562 Kämmerei 350, 361 Kämmereibuch 350, 355, 373, 614 Kämmereirechnung 332, 333, 334, 335, 341, 355, 361 Kämmereirechnungsbuch 113 Kämmerer 349, 350, 355 Kamnitzer Stadtbuch 514 Kanzlei 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 77, 78, 80, 271, 273, 276, 399, 401, 406, 410, 441, 442, 443, 445, 449, 453 Kanzlei-Pragmatik 25 Kanzleiakten 610 Kanzleibeamter 121, 122, 123, 124, 125, 530 Kanzleiblüten 234 Kanzleideutsch 234
VI. Register Kanzleilehrbuch 7 Kanzleiordnung 5, 70, 78, 133, 139, 545 Kanzleiorganisation 629 Kanzleiortlokalisation 288 Kanzleipersonal 120, 122, 123, 125, 127, 530, 532, 536, 629 Kanzleischreibe 21, 25 Kanzleischreiber 6, 10, 21, 122, 125, 127, 153, 235, 245, 338 Kanzleischriftlichkeit 350 Kanzleischrifttum 240, 283, 284, 285, 291, 301, 550 Kanzleischule 84 Kanzleisekretär 338 Kanzleisprache 4, 5, 6, 10, 15, 16, 18, 19, 22, 23, 26, 28, 83, 84, 98, 105, 114, 122, 126, 127, 153, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 238, 239, 241, 243, 245, 246, 255, 261, 276, 287, 288, 302, 309, 310, 321, 357, 400, 401, 404, 409, 441, 443, 445, 446, 447, 495, 496, 497, 498, 499, 500, 501, 502, 503, 504, 508, 531, 532, 533, 540, 542, 544, 550, 573, 579, 581, 583, 596, 601, 602, 604, 610, 612, 613, 614, 615, 616, 619, 642 Kanzleisprachenforschung 4, 10, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 122, 124, 125, 126, 128, 153, 164, 263, 264, 276, 457, 594, 637, 642 Kanzleisprachenwechsel 53 Kanzleisprachgeschichte 327 kanzleisprachliche Gewandtheit 313 kanzleisprachliche Syntax 232, 245 kanzleisprachliche Tradition 457 Kanzleistil 6, 7, 10, 70, 98, 121, 233, 235, 275, 531, 537, 540 Kanzleisyntax 232, 234, 235, 236, 241 Kanzleitext 231, 232, 233, 237, 239, 240, 241, 243, 263, 269, 270, 273, 275, 276, 405, 513, 514, 582 Kanzleitextsorte 272, 276 Kanzleitradition 401, 405, 409 Kanzleitradition des Grenzraums 636 Kanzleiurkunde 121 Kanzleiusus 7 Kanzleivermerk 423 Kanzleiwesen 545, 547, 560 Kanzleiwörter 233 Kanzleiwortschatz 226 Kanzler 3, 5, 6, 19, 21, 69, 72, 77, 80, 103, 106, 119, 120, 122, 125, 126, 132, 134, 139, 337, 338, 421, 422, 423, 427, 428, 436, 529, 530, 531, 545
1. Sachregister Kanzleramt 629 Kanzlist 6, 103, 235 kanzlistisches Schrifttum 24 Kärntner Slowenisch 591 karolingische Reichskanzlei 291 Kaschubisch 600 Kasus-Umlaut 490 Kasusnivellierung 172, 488 Kaufbrief 106 Kaufbuch 419 Kaufmannshanse 351 Kaufrechtsbrief 301 Kaufurkunde 284 Kaufvertrag 273, 310 Kernsatz 322 Kerntextsorte 263 Kieler Kodex 352 Kirchenordnung 78, 591 Kirchenrechnungsbuch 478, 479 Klassenbezeichnung 301 Klassifikation von Kanzleitexten 289 Klerus 573 Klitisierung 491 Kloster 328 Klosterarchiv 613 Klosterkanzlei 21, 142 Klosterschreiber 6 Kognition 32 kognitiver Einfluss 32 Koine 425 Kolberger Kodex 352 Kölner Königschronik 312 Kolonisationsbewegung 460 Kolonist 572, 590 Kommunikation Kommunikationsaspekt 255 Kommunikationsbedingung 252 Kommunikationsform 285 Kommunikationsgeschichte 30, 33 Kommunikationspraxis 31, 32, 36, 284 Kommunikationsrahmen 297 Kommunikationssituation 479 Kommunikationsvorgang 252, 253, 255, 257 kommunikativer Handlungszusammenhang 32 Komparation 160 komplexe Satzperioden 235, 236 komplexer Satz 242, 595 komplexes Satzgefüge 241, 242, 243, 244, 245 Kompositionsglied 485, 486 Kompositionstyp 583 Kompositum 226
655 Kongregation sodalitas 531 königliche Kanzlei 548, 629, 631 Königshaus 627, 629 Königsurkunde 134, 137, 424, 546 Konjugationsmuster 195 Konjunktion 236, 241, 242, 243 Konkurrenzform 478 Konsonantenepenthese 487 Konsonantenschwund 603 Konsonantenverbindung 480, 486 Konsonantenzusatz 487 konsonantischer Zusammenfall 603 Konsonantismus 431, 432, 433, 435, 436, 478, 479, 482, 551, 592, 614 Konsularrechnung 575, 577, 578 Kontext 48, 49, 50 Kontextbedingung 32 Kontextfaktor 49 Kontraktion 376 Konversationsmaxime 252 Konzept 103, 107, 108, 133, 135, 139, 145, 263, 285, 291, 292 Konzeptbuch 292 Konzeptregister 76 Kopenhagener Kodex 352 Kopialbuch 21, 133, 137, 142, 143, 356, 357, 373, 424 Kopiar 76, 139 Kopie 290, 292 Kopist 292, 298, 355 Korpus 31, 223, 231, 238, 239, 246, 292, 293, 300, 302 korpusbasierte Analyse 246 Korpusbildung 294 Korrektor 136 Korrektur 602 Korrespondenz 284 Krainer Marienklage 594 Krainerdeutsche Verkehrssprache 591 Krakauer Vogtskanzlei 601, 602 Kulmer Handfeste 313 kulturelle Diversität 50 kulturelle Identität 47 kultureller Einfluss 32 Kulturgeschichte 43, 47, 49, 246 Kulturkontakt 251 Kulturwissenschaft 46, 47, 49 kurfürstlich 21 kurfürstliche Kanzlei 103 Kurisch 612 kursächsische Kanzlei 10
656 Kurzvokal 480 Küstenstadt 590, 591 Ladbergener Bund 329 Lagerbuch 295 Landbevölkerung 590 Landbuch 76 Länderkanzlei 415, 428 landesfürstliche Kanzlei 415 Landesgesetz 624 Landesherr 461, 462 landesherrliche Kanzlei 132 Landessprache 591 ländliche Namengebung 296 Landschreiber 6 Landtagsakte 574, 578, 579, 580 Langvokal 480, 483, 484, 592 Langvokalismus 335 Latein 21, 22, 156, 233, 327, 328, 329, 331, 332, 333, 401, 402, 573, 574, 577, 612, 626, 627, 628 Lateinisch 401, 402, 403, 416, 418, 424, 425, 591 lateinisch-deutsche Parallelurkunde 316 lateinische Lehnsyntax 233 lateinische Schriftkultur 328 lateinische Schriftlichkeit 328, 329, 332 lateinische Überlieferung 328, 329 lateinische Urkunde 293, 331, 425 lateinisches Urkundenmaterial 327 Lateranregister 137 Latinismus 233, 313, 320 lautabstrahierendes System 157 lauthistorisches Referenzsystem 152 Lautkollision 156, 164 Lautlehre 591 lautlicher Kontext 487 Lautposition 156 lautunabhängige Segmentierung 154 Lautverschiebung 498, 502 Lautzuordnungsregel 153 Lehenbuch 76, 137, 142, 143, 423, 424 Lehensregister 76, 139 Lehensübereignung 314 Lehensverzeichnis 422 Leibgedingbuch 374 Leibgedingsregister 141 Leitform 595 Lektionar 339 Lenis-Graphie 485 Lenisfrikativ 484
VI. Register Leser 257 Letten 609, 610 Lettisch 401, 610, 612 Lexembindung 158 lexemgebundene Schreibung 155 Lexik 217, 219, 220, 221, 222, 224, 227, 234, 576 lexikalische Ausdifferenzierung 223 lexikalische Diffusion 163 lexikalische Entlehnung 552, 600, 604 lexikalisches Merkmal 217, 218 Ligatur 159 Litauisch 610 Literalität 44, 49, 50 literarisch-fiktionaler Text 594 Literarizität 49 Literatursprache 233 Livisch 401, 612 livländische Konföderation 399 Lohnschreiber 638 Lokalisierungsstrategie 290 Lokalisierungsverfahren 301 Londoner Kodex 478 lothringische Herzogskanzlei 640 Lübecker Fragment 349 lübische Norm 357 Lutherbrief 84, 91 Lutherdeutsch 234 Luthersprache 83 Luzerner Geschworenenbrief 313 Lyzeal-Kodex 548 Magdeburger Recht 56, 62, 63, 548 Magdeburger Rechtskreis 59, 60, 63, 64 Mainzer Reichslandfriede 16, 311, 312, 313, 318, 319, 323 Makrostruktur 274, 275, 285 makrostruktureller Prototyp 285, 296 Mandat 133, 134, 284 Märkisch-Brandenburgisch 612 Marstallherr 349 Marstallprotokoll 108 Massenmedium 252 Mecklenburgisch 612 mediale Diglossie 115 medizinische Gebrauchsprosa 24 mehrgliedriger Ausdruck 235 mehrsprachige Schreibpraxis 636 Mehrsprachigkeit 327, 347 mehrteiliges Prädikat 241 Memorialbuch 355
1. Sachregister Memoriale 263, 285 Merkzettel 443, 451, 452 Metasystem 156 Methodenstandard 290 Metronymikum 297, 299 Migration 590 Mikrostruktur 274, 275 Mikrotoponomastik 301 Mikrotoponym 295 Minimalpaaranalyse 154 Minimalpaarbildung 152 Missingsch 112, 338, 339, 340, 406 Missivbuch 141, 498, 503, 504 mittelalterliche Stadt 590 Mitteldeutsch 103 Mittelfränkische Reimbibel 480 Mittelhochdeutsch 156, 172, 173, 174, 175, 178, 179, 183, 184, 196, 197, 198, 199, 200, 202, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 482, 484, 485, 488, 490 Mittelhochdeutsche Grammatik 235, 485 mittelhochdeutsche Syntax 231 mittelhochdeutsches Referenzsystem 156 Mittelniederdeutsch 17, 109, 110, 239, 327, 329, 331, 333, 336, 347, 348, 351, 357, 358, 367, 375, 378, 379, 380, 381, 382, 400, 401, 402, 403, 405, 406, 612, 613, 614, 615, 616, 619 mittelniederdeutsche Kanzleisprache 22 mittelniederdeutsche Schreibsprache 101 mittelniederdeutsche Schriftlichkeit 331, 332 mittelniederdeutsche Syntax 231 mittelniederdeutsche Urkunde 331 Mittelpommersch 612 Mittelwestfälisch 329 mittelwestfälische Mündlichkeit 329 Modalsatz 322 Monophthongierung 234, 479, 480, 600 morphemidentifizierendes Prinzip 160 Morphemkonstantschreibung 159 Morphologie 416, 432 morphosyntaktische Untersuchung 290 Moselfränkisch 476, 478 moselfränkischer Basisdialekt 641 Motivationsgruppe 299 Motivationstyp 299 Mühlhäuser Reichsrechtsbuch 16 Mundart 111, 115, 234, 478, 551, 591 mundartlicher Einfluss 515 mundartliches Merkmal 601, 602 Mundierung 291
657 Mündlichkeit 83, 94, 97, 110, 252, 257, 267, 270, 289, 292, 295, 297, 317, 322 münsterische Schreibsprache 334 Musterbuch 271 Muttername 297 Nachlassinventar 640 Nachstellung 239 Namenbeleg 290, 294 Namenbuch 290 Namendeskription 293 Namendeutung 300, 302 Namenetymologie 300 Namenformular 293, 297 Namengebrauch 291, 293 Namengeographie 300 Nameninventar 294 Namenkorpus 293 Namenmotivation 290 Namenschicht 293 Namensequenz 294, 297 Namensoziologie 300 Namenstatistik 300 Namensyntagma 299 Namensystem 293 Namentyp 299 Namentypologie 300 Narratio 8, 85, 87, 89, 90, 96, 271, 272, 534 narrativer Prototyp 285, 296 Nationenbildung 45 Nebenform 595 Nebensatz 242, 243, 321, 465, 467, 468, 470, 596 Nebensatzkonstruktion 241 Negation 235, 241 Neubürgerbuch 141, 374 Neuhochdeutsch 195, 196, 197, 198, 199, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 211, 212 Neuhochdeutsche Diphthongierung 112, 479, 481 neuhochdeutsche Schriftsprache 83, 161, 531, 532, 533, 540, neuhochdeutsche Schriftsprachentstehung 152 neuhochdeutsche Standardsprache 485 neutral-bairische Form 516 Niederdeutsch 101, 102, 103, 104, 106, 107, 108, 109, 111, 112, 113, 114, 115, 239, 327, 329, 330, 332, 333, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 347, 348, 349, 351, 352, 353, 355, 356, 358, 359, 360, 361, 362, 364, 401, 402, 403, 404, 407, 612, 617
658 niederdeutsche Schreibsprache 327, 329, 335 niederdeutsche Sprechsprache 327 niederdeutsche Urkunde 331 niederer Beamter 122 niederes Kanzleipersonal 127 Niederländisch 114, 115, 379 niederösterreichisches Regiment 427 Niederpreußisch 612 Niederstadtbuch 107, 108, 350, 356, 357, 359, 360, 361 Niederstadtbuchprotokoll 361 Nominalgruppe 236, 238, 241, 245 Nominalmorphologie 488 Nominalstil 595 Nordniederdeutsch 334, 349, 357, 378, 379, 381, 382 Nordwestfälisch 327, 328, 331, 334, 335 nordwestfälische Schreibsprache 327, 330, 334 Normalisierung 294 Normativität 605 Normierung 10, 288, 383 Normierungstendenz 368, 383 Notar 3, 4, 5, 6, 7, 21, 70, 76, 80, 109, 119, 132, 133, 134, 136, 138, 139, 140, 143, 284, 421, 422, 427, 436, 461, 463, 545, 547, 548 Nullmorphem 173, 175, 177, 178, 179, 180, 181, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191 Numerusflexiv 488 Numerusprofilierung 172, 178, 488 Oberbayerisches Landrecht 16 Oberdeutsch 195, 196, 197, 198, 200, 202, 204, 209, 210, 341 oberdeutsche Kanzleisprache 22 oberdeutsches Merkmal 604 Oberhof 478 oberschichtige Sprachform 163 Obersekretär 404 Oberstadtbuch 108, 350, 356, 357, 359, 360, 361 Oberstadtbuchprotokoll 361 Oberstadtschreiber 462, 463 oberster Schreiber 69, 140, 349, 496, 530 Objektsgenitiv 235 Ödenburger Gerichtsbuch 551 Ofener Rechtsbuch 548, 549, 552 Ofener Stadtrecht 548, 549, 552 offener Kanzleibegriff 43 Offenlandschaft 459 öffentlicher Notar 530 Offizialat 333
VI. Register Offizin 21 Onomasiologie 225 Ordnung 351, 451 Orientierungsfunktion 300 Original 108, 133, 134, 135, 139, 141, 292, 294, 295, 419 Originalhandschrift 292, 293 Originalurkunde 133, 134, 292 Orthographienorm 123 Orthographiesystem 614 ortographische Kodifizierung 151 Ortsname 56, 112, 290, 293, 294, 301, 328, 329, 433, 590, 595 Ortsnamenforschung 459 Ortsnamenschreibung 288 ortstypischer Wortschatz 218 osmanische Herrschaft 545 österreichisch-ungarischer Ausgleich 573, 575 österreichische Kanzlei 426, 427 Österreichischer Landfrieden 16 Österreichisches Bürgerliches Gesetzbuch 580 Österreichisches Landrecht 16 Ostfälisch 334, 377, 378, 379, 380, 381, 382 Ostmeißnisch 459 Ostmitteldeutsch 22, 195, 196, 210, 224, 341, 457 ostmitteldeutscher Sprachraum 603 Ostniederdeutsch 612 Ostoberdeutsch 341, 551 ostoberdeutsche Schreibsprache 159 Ostpommersch 612 Ostseehandel 623 ottonische Reichskanzlei 291 Paarformel 59, 60, 63, 536 Papier 70, 77, 78 päpstliche Kanzlei 132, 135 Parallelurkunde 233, 309, 311, 312, 316, 317, 318, 319, 322 parataktische Konstruktion 465 Parataxe 238, 239, 243 Parodie 89, 91 partieller Sprachenwechsel 115 Partikel 235, 241 Partikelforschung 252 Partizip 236, 241 Partizip II 488 Partizipialattribut 236 Partizipialkonstruktion 320, 595 Patrizier 591 Patrizierdialekt 121
1. Sachregister Patronymikum 297, 298, 299 Pergamenthandschrift 612 Pergstädterisch 558 Periphrase 236 Personenbezeichnung 298, 299 Personenname 56, 293, 294, 295, 301, 328, 329, 432, 433 Personennamensequenz 293 Personenregister 294 Pertinenzformel 536, 537 Petent 136 Petitio 8, 85, 87, 89, 96, 271 Pfandbuch 137 Pfundzollbuch 355 Philologität 50 Phonem 591 Phonem-Graphem-Zuordnung 637 Phonemopposition 156 Phonemsystem 151, 162 phonetischer Wandel 602 phonetisches Merkmal 605 Phonologie 154, 537 Pluralkategorie 488 Pluralmarkierung 488 Polnisch 600, 604 Polyfunktionalität 49, 50 Postscriptum 87 Prager Deutsch 23 Prager Kanzlei 121, 123, 551 Prager Kanzleisprache 23, 122, 514 Pragmalinguistik 251, 284, 596 Pragmatik 30, 34, 240, 251, 255, 261, 264, 292 pragmatische Schriftlichkeit 69, 79, 132, 263 pragmatische Sprachgeschichtsforschung 252 pragmatische Syntax 232, 240 Präpositionen 233 präpropriale Grundlagen 289 Präteritumschwund 197 Prätext 270, 271 Prestigesprache 625 Priesterbuch 547 Privatbrief 88, 98, 284 Privaturkunde 106, 141, 418, 420 Privilegienbuch 285 Privilegienkopiar 141 Privilegium 284, 285 Probst 444 Produzent 33, 253 Prokurator 136 Promulgatio 275, 310, 534, 535 Propositio 87, 89
659 Prosopographie 551 Protokoll 78, 108, 109, 219, 222, 263, 270, 272, 285, 359, 360, 361, 552, 577 Protokollbuch 141, 284, 575, 577, 578, 579 protokollierender Prototyp 285, 296 Protokollurkunde 315 Protonotar 72, 76, 77, 80, 119, 134, 140, 349, 350, 351, 354, 355, 358, 421, 422, 425, 427, 428, 436 Prototyp 285 prototypisches Muster 32 Provenienzprinzip 132 Provinzialprotokoll 577 prunkvolle Urkunde 423 Publikatio 310, 316, 317 Quelle 289, 290, 291, 292, 293, 295, 298, 300, 302 Quellendeskription 296 Quellengattung 291, 293 Quellenkorpus 641, 642 Quellenkritik 291 Quellenkunde 283 Quellentyp 294, 301, 640 Quittung 25, 263, 285 Rahmen 241 Rahmenpartizip 236 Ratsarchiv 613 Ratsbuch 79, 285 Ratsherr 402, 408 Ratskanzlei 327, 329, 332, 338, 341, 351, 352, 353, 355, 358, 359, 361, 399, 400, 401, 402, 404, 407, 613, 614, 617, 618, 619 Ratsmemorialbuch 498 Ratsprotokoll 112, 140, 242, 332, 338, 547, 613 Ratsprotokollbuch 374 Ratsschreiben 196 Ratssekretär 406 Ratsurkunde 240, 294, 418 raumgebundene Sprachpraxis 45 räumliche Distribution 15 Realisierungsform 293, 294, 297 Rechnung 25, 109, 137, 138, 139, 143, 144, 332, 335, 575, 578, 640 Rechnungsbuch 21, 75, 76, 79, 138, 141, 219, 284, 297, 299, 424, 442, 444, 447, 449, 450, 451, 578, 584 Rechnungsordnung 139 rechtlich-phraseologische Verwendung 60
660 rechtliche Verwendung 59, 61 Rechtsbeweis 255, 257, 259 Rechtsbuch 25, 374, 546 Rechtsgang 61 Rechtsordnung 263, 313, 323 Rechtsprechung 329, 332 Rechtssprache 627 rechtssprachliche Konnotation 220 rechtssprachliches Lexem 219 Rechtsstadt 459 Rechtssystem 624 Rechtstext 285, 582, 613, 616 Rechtswort 58, 59, 60, 62, 63, 64, 219, 220, 222 Rechtswortschatz 54, 58, 63 Rechtung 295 Redactor 122 Referenzobjekt 301 Reformatio Friderici 73 Reformation 102, 590, 591 Regensburger Pfandregister 219 regional gebundenes Lexem 218 regionale Lenisaussprache 160 regionale Sprachgeschichte 29, 30 regionales Merkmal 539, 540 Regionalismus 218 Register 21, 71, 76, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 140, 143, 285, 297, 423, 442, 546 registrativer Prototyp 285, 296 Registrator 122, 530 Registratur 122, 123, 126 Registrierungsbedürfnis 296 Reibelaut 593 Reichsachtbuch 72 Reichsarchiv 612, 613 Reichsfürst 71, 75 Reichskammergericht 102, 103, 107, 108 Reichskanzlei 5, 73, 74, 132, 134, 135, 138, 288, 291, 415, 416, 421, 426, 427, 428, 430, 436 Reichskanzler 426, 427 Reichsordnung 78 Reichsrat 625 Reichsregiment 428 Reichsregimentsordnung 135 Reichsstadt 69, 70, 79 Reimanalyse 163, 164 Reinschrift 122 Rekatholisierung 339 Rekognitionsformel 423 Relativsatz 320, 321, 322
VI. Register Rentenbuch 614 Rentkammer 141 Rentkammerschreiber 140 Residenzstadt 459 Revaler Kodex 352 Rezess 353, 357, 358, 359 Rezipient 33, 35, 253, 257 Rheinfränkisch 476, 479 rheinfränkische Schreibsprache 640 Rhetorik 243, 530, 531, 540 Rhetorikunterricht 84 Rhotazismus 206 Rigaer Bischof 399 Rigaer Ratskanzlei 399, 401, 402, 404, 405, 406, 409, 410 Rigaer Stadtrat 399 Ritualisierung der Sprachverwendung 639 Rodel 142, 295, 298 Rolle der Kanzlei 83 Rollenschema 261 römische Kanzlei 73, 427 Rötel 295 Rotes Stadtbuch 451, 452 Rufname 297, 298, 299 Rundung 601, 602 Runtingerbuch 144, 445, 446, 447 Russisch 402, 612 Sachakte 76 Sachenrecht 580 Sachsenspiegel 16, 56, 62, 63 Sächsische Nationsuniversität 573, 574, 575, 578, 579, 580 Sächsisches Weichbildrecht 56 Salbuch 295, 442, 445 Salutatio 8, 85, 86, 88, 89, 90, 91, 271, 534 Sanctio 534 Satzbauplan 239 Satzbegriff 240 Satzbuch 419 Satzfügung 234 Satzgefüge 242, 243, 245, 322, 465, 466, 467, 468, 467, 469, 470, 583 Satzlehre 233, 235 Satzrahmen 235, 239 Satzstruktur 234 Satzteil Satztopologie 236 Satzverknüpfung 322 satzwertige Einheit 465 Schenkungsbuch 445
1. Sachregister Schenkungsurkunde 284 Schenkungsvertrag 310 schichtspezifisch 299 Schiedsspruch 263 Schleppbuch 374 Schlichtungsprotokoll 263 Schlosskanzlei 629 Schmalkaldischer Bund 103 Schobuch 339 Schöffenbuch 25 Schöffenstuhl 478 Schohausprotokolle 339 Schreibdialekt 161 Schreiber 3, 4, 7, 8, 9, 10, 35, 69, 70, 71, 75, 80, 119, 122, 330, 332, 333, 337, 338, 339, 341, 447, 496, 497, 499, 504, 530, 532, 535, 536, 537, 540, 547, 550, 636, 638, 641, 642 Schreiberamt 370, 463 schreiberseparierende Quellenauswertung 155 Schreibervermerk 5 Schreibkultur 328 Schreiblandschaft 47 Schreibort 9, 172 Schreibpersonal 120, 121, 123, 124, 126, 127, 128 Schreibsprache 10, 153, 154, 155, 156, 157, 160, 162, 163, 165, 367, 375, 376, 378, 379, 446, 447, 448, 449, 451, 550, 594, 595, 596, 637, 639 Schreibsprachentwicklung 638, 642 Schreibsprachenwechsel 101, 102, 104, 105, 106, 107, 109, 110, 112, 114, 115, 153, 327, 329, 331, 333, 335, 337, 338, 339, 347, 351, 353, 356, 357, 359, 361, 496, 504, 612, 630, 631 schreibsprachliche Variation 152, 153 Schreibstätte 21 Schreibstoff 252 Schreibsystem 151, 153, 154, 156, 159, 162, 163 Schreibtradition 614 Schreibusus 172, 235, 240 Schreibzentrum 591 Schreinsbuch 285, 496 Schreinskarte 141 Schriftexpansion 47, 50 schriftliche Verkehrssprache 591 Schriftlichkeit 69, 70, 71, 72, 73, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 83, 91, 94, 97, 101, 109, 110, 132, 134, 137, 141, 142, 145, 257, 267, 289, 292, 295, 311, 316, 317, 319, 348, 351, 354,
661 356, 547 Schriftnorm 44 Schriftorganisation 70 Schriftsprache 22, 23, 24, 25, 26, 27, 515, 591 schriftsprachlich-offizielle Adressierung 91 schriftsprachliche Merkmale 477, 602 Schriftvergleich 419, 427 Schuldanerkenntnis 466, 467 Schuldbrief 273 Schuldbuch 350, 400, 404 Schuldregister 137 Schuldverschreibung 285 Schuldvertrag 106 Schuldwesen 580 Schwabenspiegel 54, 56, 580 Schwarzes Stadtbuch 445 Schweden 624, 625, 626, 627, 628, 629, 630, 631 Schwertbrüderorden 399 segmentalgraphematisch 154 segmentalgraphematische Analyse 155 Sekretär 6, 7, 103, 106, 107, 108, 125, 126, 133, 136, 349, 355, 359, 360, 422, 427 Sekundärsprache 639 Selektionsprinzip 297 Semantik 252 semantische Differenzierung 180 Semasiologie 224 Semikommunikation 626 Senkung 602, 603 Siedlungsname 295, 299 Siegel 417, 418, 431 Siegelurkunde 139, 140, 141 Sigillator 530 Signalwort 317, 318 Signifikanzprüfungsverfahren 155 Silleiner Rechtsbuch 64, 218, 561 slawische Bevölkerung 600 Slowenisch 589, 590, 591, 592, 593, 595, 596 slowenische Schriftsprache 591 slowenische Sprache 591 slowenischer Diphthong 592 slowenisches Archiv 593 soziale Distinktion 47 sozialer Einfluss 32 Sozialgeschichte 33, 34 sozialstruktureller Aspekt 405 Soziolinguistik 30 Soziopragmatik 29, 32, 34 soziopragmatischer Faktor 15 spätmittelalterlicher Schreibdialekt 21
662 Spätmittelhochdeutsch 477, 484 Spirans 593 Spitalmeister 444, 445 Spitalschreiber 445 Sprachausbau 354 Sprachausgleich 9, 10, 24, 44, 233, 348, 451 Sprachbewusstsein 15 Sprachentwicklung 610, 613 sprachexterner Faktor 15, 251, 347 Sprachgebrauch 240, 251, 573, 578, 584 Sprachgebrauchskonvention 252 Sprachgemeinschaft 407 sprachgeografisches Paradigma 44 Sprachgeschichte 30, 31, 32, 33, 34, 233, 234, 235, 236, 243, 245, 246, 251 Sprachgeschichtsforschung 162, 246 Sprachgeschichtsschreibung 43, 44, 45, 46, 47, 49, 235 Sprachgrenze 590 Sprachhandlung 253, 459 Sprachinsel 512, 552, 567, 590 sprachintern 251 Sprachkontakt 405, 552, 637, 638, 641 Sprachkontaktauswirkungen 409 Sprachkontaktforschung 33, 552 Sprachlandschaft 220 sprachlandschaftliche Gliederung 191 sprachliche Normierung 50 sprachliche Routine 240 Sprachloyalität 15 Sprachpolitik 47, 50 Sprachsystem 232, 240, 251 Sprachverwendungsgeschichte 33 Sprachwandelprozess 409 Sprachwechselprozess 111 Sprachwissen 32, 36 Sprachzeichen 251 Sprechakttheorie 252, 273 Sprechkompetenz 111 Sprechsprachenwechsel 111, 612 staatliche Verwaltung 329 Stadtarchiv 610, 612, 613, 616 Stadtbuch 18, 21, 25, 79, 108, 140, 141, 219, 222, 239, 263, 274, 284, 285, 289, 295, 296, 299, 300, 301, 302, 349, 350, 355, 356, 360, 361, 373, 374, 375, 385, 403, 404, 409, 419, 442, 445, 451, 463, 464, 466, 467, 468, 469, 470, 546, 547, 552, 561, 562 Stadtbuchprotokoll 108 städtebürgerliche Schriftlichkeit 460 Städtehanse 351
VI. Register Städtewesen 624 Stadtgründung 599 städtische Kanzlei 21, 132, 140, 141, 441, 442, 443, 444, 446, 447, 449, 452 städtische Kommunikationspraxis 35 städtische Namengebung 296 städtische Organisation 457, 460 städtische Verwaltung 329, 335 Stadtkanzlei 105, 110, 114, 284, 415, 418, 419, 420, 421, 434, 457, 461, 464, 470, 626, 629 Stadtklerk 6 Stadtrat 612, 461, 547, 624 Stadtratsprotokoll 108, 546 Stadtrechnung 141, 419 Stadtrecht 16, 239, 371, 375, 402, 547, 612, 616, 624, 625, 627, 628 Stadtrechtsbuch 419, 445 Stadtschreiber 5, 6, 79, 140, 349, 350, 355, 357, 358, 401, 404, 405, 407, 419, 420, 421, 444, 461, 462, 463, 464, 466, 469, 471, 549, 550, 551, 560, 562, 613 Stadtschreiberamt 370 Stadtsiegel 140 Stadtsprache 29, 30 Stadturkunde 417 Stadtvarietät 30 Standesbezeichnung 91, 299 Ständesteuer 548 Statutargesetzbuch 580 Statutarrecht 580 Statuten 545 Statutenbuch 141 Steuerregister 141 Stiftskanzlei 142 Stil 234, 236, 241 Stilisierung 288 Stilmittel 233 Stilwillen 85 Stockholmer Rat 625 Stoffname 188 Strafordnung 310, 318 Strafrecht 580 Straßenname 112, 299, 403 strukturalistische Phonologie 152, 162 Subjunktion 235, 236 Subordination 236, 245 Subscriptio 534 Substitut 109 Substrat 637 Südbairisch 591, 594, 596
663
1. Sachregister südbairische Schreibsprache 594 Südmärkisch 377 Superstrat 637 Superstratsituation 637 suprasegmentale Perspektive 154 Svarabhakti 433 syllabisches Prinzip 159 synchron-diatopischer Vergleich 157 synchrone Pragmatik 251 syndetische Reihung 241 Syndikus 106, 107, 111, 354, 355, 359, 373, 374 Synkope 196, 197, 199, 200, 211, 212 syntaktische Einheit 232 syntaktische Konstruktion 232 syntaktische Norm 233 syntaktische Struktur 240 syntaktische Variation 240 syntaktischer Parallelismus 241 syntaktischer Stil 234 syntaktisches Muster 233 syntaktisches Schreibprinzip 160 Syntax 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 243, 246, 551, 591, 596 Syntax der Kanzleisprachen 231, 232, 234, 245 Systematisierungstendenz 200 Systembildung 289, 293 systemimmanente Variation 153 Systemlinguistik 251 Tatareneinfall 544 Taufname 297, 298 Teilmuster 298 Teilöffentlichkeit 35 Teilsatz 242 Teilungsbuch 577, 578, 584 Terminierbuch 295 Territorialisierungsprozess 330 Territorialrechnung 138 Territorium 45 Testament 25, 106, 109, 140, 263, 273, 274, 285, 294, 349, 356, 357, 361, 419, 552, 640 Testamentbuch 374 Textallianz 289, 296 Textebene 253 Textfunktion 35, 36 Textgrammatik 596 textgrammatisches Beschreibungsmodell 594 Textklasse 265 Textklassifikation 284
textliches Handeln 36 Textlinguistik 240, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 274, 290, 292, 296, 594 Textmuster 36, 240, 265, 267, 271, 284, 285, 287, 293, 407 Textmusterwissen 84, 85, 296, 298, 301, 302 Textproduktion 32, 34, 35, 36, 43, 254 Textproduzent 4 Textrezeption 32, 34, 35 Textsorte 114, 131, 217, 218, 219, 220, 222, 224, 232, 233, 238, 240, 263, 264, 265, 267, 269, 272, 273, 276, 283, 284, 285, 287, 290, 292, 293, 294, 298, 301, 309, 310, 313, 316, 319, 322, 323, 351, 357, 401, 410, 450, 468, 470, 578, 582, 583, 584, 605, 616, 626, 627, 628, 631, 636, 640 Textsortenallianz 269, 276 Textsortenbeschreibung 283 Textsortendefinition 283 Textsortenexpansion 269, 270 Textsortenklassifikation 265 Textsortenspektrum 19, 289, 301 Textsortenspezifik 298 Textsortenstil 83, 91, 94 Textsortentradition 469, 470 Textspektrum 285 Textstruktur 84, 85, 579 Texttyp 265, 267, 274 Textualitätskriterium 265, 266, 269 Tidemann-Güstrowscher Kodex 352 Titelbuch 86 Titulatur 86, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 98 Titulaturbuch 7 Topologie 245 Toponym 288, 290, 300 toponymische Subklassen 295 toponymischer Kontext 300 Totentanztext 594 Traditionsbuch 142, 291 Traditionsurkunde 294 Transliteration 514 Transsumpt 290 Trennsilbe 159 Trierer Schreibsprache 641 Triglossiesituation 640 Troppauer Urkunde 217 Tschechisch 600, 604 Tuchmacherordnung 441, 443 Übername 297, 299 überregionaler Sprachausgleich 24
664 Überregionalität 49, 50 Übersetzer 235 Udelbuch 297, 298 Umgearbeitete Rigische Statuten 400, 401, 402, 408 Umlaut 482, 490, 491 Umlautausstoßung 490 ungarische Kanzleisprache 544 Ungeldamt 444 Unilingualisierung 600 universitas valachorum 572 Universitätsrechnung 578 Unterfertigung 121, 122 Unterrichtssprache 591 Unterschreiber 332, 497, 530 Unterschrift 87, 89, 90, 97, 98 Untersekretär 404 Unterstadtschreiber 462, 471 Urbar 16, 21, 25, 26, 76, 137, 142, 143, 219, 222, 289, 291, 295, 297, 301, 302, 422, 442, 445, 480, 481, 484, 591, 640, 641 Urfehdebuch 141, 444 Urfehdeurkunde 444 Urkunde 3, 4, 5, 6, 7, 8, 15, 16, 18, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 53, 54, 56, 69, 70, 71, 73, 74, 77, 78, 102, 105, 132, 133, 134, 137, 139, 140, 142, 233, 236, 242, 243, 255, 256, 257, 259, 271, 272, 274, 284, 285, 289, 290, 291, 293, 294, 298, 299, 302, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 328, 329, 330, 331, 332, 335, 336, 338, 339, 349, 353, 356, 357, 360, 373, 375, 416, 417, 418, 419, 420, 423, 424, 425, 426, 427, 428, 430, 434, 435, 436, 441, 442, 443, 444, 445, 446, 447, 448, 449, 450, 451, 452, 477, 545, 546, 548, 549, 550, 552, 574, 576, 595, 626, 627, 628, 629, 630, 631, 640, 641 Urkundenarchiv 131 Urkundenausfertigung 311 Urkundenbuch 290, 294, 295, 445, 572, 573, 576 Urkundenformular 310, 311, 317, 443, 447 Urkundenkanzlei 69 Urkundenkonzept 421 Urkundenregister 546 Urkundensammlung 548, 552 Urkundensprache 71, 72, 220, 221, 222, 223, 234, 235, 334, 441, 442, 446, 478, 485, 492, 497, 532, 533, 536, 540, 574, 582, 595 Urkundentext 469 Urkundentyp 294
VI. Register Urkundenuntersuchung 128 Urkundenvorlage 291 Urteilsschrift 575, 578, 579 utilitas-Argument 87 Valenzgrammatik 258 Variabilität 298 Variante 478, 488 Variantenabbau 357, 382, 383, 615 Variantenausbau 615 Variantenersetzung 615 Variantenreduzierung 47 Variantenspektrum 212 Variantenvielfalt 354, 358, 378, 384 Variatio 90, 98 Variation 152, 153, 155, 156, 157, 158, 160, 161, 232, 239, 501 Variationsbreite 172 Varietät 227, 335 Varietätenabbau 619 Varietätenlinguistik 30 Varietätenspektrum 220 Vatersname 297 Vatikanisches Archiv 135, 136 Velarisierung 479 Verbalflexion 486 Verbalgruppe 245 Verbalklammer 551 Verbalkomplex 236, 238, 239, 581 Verbalmorphologie 487 Verbletztstellung 235 Verbotbuch 419 Verbreitungsgebiet 45 Verbrüderungsbuch 291 Verbstellung 241, 596 Verbvalenzlexikon 550 Verdeutschung 593 Verdumpfung 479 Verfachsprachlichung 223 Vergewichtung 161 Verkaufsurkunde 263, 284, 285, 294 Verkehrssprache 600 Verlassenschaftsinventar 141 Verleihungsurkunde 294 Verordnung 69, 70 Verschlusslaut 485 Verschmelzung 491 verschriftlichte Mündlichkeit 94 verschriftlichte private Mündlichkeit 91 Verschriftlichung 153, 252, 253, 268, 269, 270, 329, 349
665
1. Sachregister Verschriftlichungssprache 55 Versprachlichung 594 Verstehenskompetenz 111 Vertrag 284 Verwaltung 329, 331, 332 Verwaltungsakte 284 Verwaltungskanzlei 6, 69 Verwaltungskörperschaft 573 Verwaltungsschrifttum 375 Verwaltungssprache 243, 401, 627 Verwaltungstext 25 Verwaltungswesen 459, 547 Visitationsbericht 581 Vogteigericht 404 Vokalentrundung 479, 482 Vokalgraphie 154, 155 vokalischer Zusammenfall 602 Vokalismus 155, 431, 432, 435, 436, 478, 480, 614 Volkssprache 131, 233, 328, 329, 331, 353, 356, 626 volkssprachige Schriftlichkeit 330 volkssprachige Urkunde 330, 485 volkssprachige Varietät 327, 330 volkssprachliches Schreibsystem 155, 158, 162 Vorakt 291, 358 Voreinstellung 32, 35 Vorkorpus 292, 293, 301 Vorlande 421, 422, 423, 424, 425, 426, 427, 434, 435 vormoderner Kanzleitext 152 Vorpommersch 612 Wann-Rolle 259 Waterrecht 628 Wedde 350, 355 Weddebuch 355 Weddeherr 349, 350 Wedderentenbuch 350, 355 Wehranlage 460 weiblicher Rufname 298 Weinherr 349 Weistum 25, 54, 56, 218 Weltdeutung 47
weltlicher Grundherr 590 Werkvertrag 273 Werner Bund 329 Westfälisch 338, 340, 376, 378 westfälische Schreibsprache 331 Westgermanisch 156 Westmitteldeutsch 478 westmitteldeutsche Kanzleisprache 220 westoberdeutsche Kanzleisprache 220 westrussische Kanzleisprache 610 westslawischer Dialekt 600 Wettebuch 350 Wiener Briefsammlung 425 Wiener Schule 423 Willkür 561 Wo-Rolle 259 Woiwode 576 Wortbildung 225, 226 Wörterbuch 614 Worterklärung 404 Wortfamilie 225 Wortkonstantschreibung 160 Wortschatz volkssprachiger Urkunden 318 Zeichensystem 253 zeitliche Distribution 15 zeittypischer Wortschatz 218 Zeitung 252 Zentralmünsterländisch 331 Zielvarietät 362 Zinsverzeichnis 219, 222 Zipser Willkür 562, 567 Zollschreiber 373, 374 Zuname 288, 289, 297, 298, 299 Zunftartikel 576 Zunftbuch 110, 549 Zunftordnung 310, 574, 575, 578, 579, 628 Zunfturkunde 575 zweigliedriger Verbalkomplex 239 Zweinamigkeit 296, 299 Zweisprachigkeit 17, 19, 311, 315, 511, 590 Zweite Lautverschiebung 112, 485 Zweiter Weltkrieg 22, 23, 575, 613 Zwillingsformel 59, 234, 275
2. Personenregister
Achilles, Albrecht 78 Acht, Peter 137 Acht, Stephan 442 Adamus, Alois 513 Adelung, Johann Christoph 22 Adler, Sigmund 426 Admoni, Wladimir 233, 239, 242, 465, 466, 468, 470 Adolf II. 348 Ágel, Vilmós 553 Agricola, Erhard 266 Albert, Bischof 617 Albrand, Johann 430 Albrecht I. 311, 416, 417, 418, 420, 421, 422, 425, 434, 435 Albrecht II. 421, 422, 423, 426, 435, 436 Albrecht III. 77, 420, 423, 424, 425, 435 Albrecht IV. 420, 424, 425, 550 Albrecht V. 424, 425, 426 Albrecht VI. 426 Alpenslawen 589 Anders, Heinrich 605 Andreas II. 572 Anreiter, Peter 300 Arlinghaus, Franz-Josef 144 Arndt, Bruno 172, 196, 201 Aslaksson, Arne 627 Audunsson, Ivar 627 Awaren 589 Äzilin 443 Babenberger 416, 417, 429 Bach, Adolf 234 Bach, Heinrich 24, 152 Bader, Karl 58 Balhorn, Gerwin 374 Bannenborg, Dietrich 371 Bansa, Helmut 119, 124 Bardewik, Albrecht von 353, 354 Barth, Hans 605 Bastian, Franz 294 Bassola, Peter 547, 553
Báthory, Stephan 580 Batz de Homborch, Symon 355 Bax, Marcel 253 Baiern 544 Bayer, Ludwig der 71, 72 Bayern, Kristoffer von 629 Bayern, Wilhelm von 594 Beaugrande, Robert de 265 Becker, Lambertus 107 Beck, Friedrich 131 Behaghel, Otto 233, 234, 235, 238 Béla III. 545 Béla IV. 416, 544 Bender, Sabine 635 Benediktiner 142 Benedikt XII. 136 Bentzinger, Rudolf 10, 24, 220, 236, 241, 310 Benzo 421 Bergmann, Rolf 160 Bernher, Peter 461 Bernt, Alois 513, 514, 515, 522 Berschin, Benno 636 Bertelsmeier-Kierst, Christa 270 Besch, Werner 24, 112, 120, 533 Beurhaus, Friedrich 112 Bevergern, Arnd 333 Bickel, Hartmut 299 Bieberstedt, Andreas 274 Biszczanik, Marek 605 Blaschke, Karlheinz 461 Blok, Dirk P. 291 Blomendal, Johannes 615, 620 Boddeker, Erasmus 629 Boesch, Bruno 9, 128, 152 Bogacki, Jarosław 605 Böhmen, Johann von 72 Bohn, Thomas 158, 501 Boková, Hildegard 255, 511, 515, 522 Boleslaus 599 Bonifaz IX. 136, 137 Borchard 371 Borchling, Conrad 401
668 Börner, Wolfgang 156 Borsa, István 546 Borut 589 Bozsernyik, Béla 549 Bracht, Johannes 357, 358 Brambach, Johannes 360 Brandenburg, Marktgraf von 600 Brandt, Ahasver von 283, 284 Brattegard, Olav 625 Braunschweig, Heinrich von 349 Bremen, Adams von 609 Bresslau, Harry 135 Brinker, Klaus 273 Brox, Franz 48 Brunswic, Henricus de 352 Bucer, Martin 110, 111 Burdach, Konrad 22, 44, 532, 533 Bürgisser, Max 10, 127, 448, 449 Busch, Lorenz 461, 463, 471 Carlie, Johan 629 Caspar der Stuhlschreiber 463 Chiemsee, Sylvester von 427 Clemen, Otto 9 Clement, Veit 463 Cleyhorst, Bernd 331 Cramer-Fürtig, Michael 131 Cromer, Leonhard 548 Csendes, Peter 135 Cynnendorp, Jacob 355, 358 Dahl, Eva-Sophie 107, 108, 109 Dannenberg, Johannes 353 Datini, Francesco 144 Daucher, Paul 548 Debus, Friedhelm 292, 295, 296, 299 Demeter, Karl 479 Denkler, Markus 107, 158 Deutsche 611 Dickhaupt, Hermann 371 Diderichsen, Paul 152 Dijk, Teun A. van 266, 274 Dirmeier, Artur 442 Dogaru, Dana Janetta 224, 239, 242, 275, 544, 573, 576, 579 Doubek, Franz 605 Dressler, Wolfgang 265 Druss, Nicolaus 463 Eberhard 443 Ebert, Robert P. 235, 236, 239
VI. Register Eckeling 370 Eggers, Hans 44, 234 Eis, Gerhard 564 Elmentaler, Michael 495, 499 Engelstede, Johannes 359, 360, 361 Erben, Johannes 243 Eriksson, Magnus 624, 625, 627, 629 Ernst der Eiserne 424 Ernst, Konrad 548 Ernst, Peter 34, 240, 257, 299 Ersam, Sebastian 359, 360 Erzherzog von Trier 242 Eschenbach, Wolfram von 594 Esten 609, 611 Ewald, Petra 160 Eyssenberg, Peter 471 Ferdinand I. 74, 135, 428 Finnen 611 Finsterwalder, Karl 297 Fischer, Christian 111, 496 Fischer, Klaus 144 Fishman, Joshua 34, 255 Fitzstrohe, Matthias 461 Fix, Ulla 264, 265 Flamen 544 Fleischer, Wolfgang 156, 158, 172, 196, 299, 457, 458, 459, 461, 463, 470, 471, 472 Fleischmann, Peter 131 Floeth, Hermann tor 338, 339 Földes, Csaba 636 Franck, Johannes 461 Frangk, Fabian 22 Franken 589 Franke, Wilhelm 274 Freund, Folke 295 Freyberg, Maximilian Prokop von 445 Fricke, Burkhard von 422 Fridericus 419 Fridericus scriba 443 Friedrich I. 134, 417, 420, 422, 423, 424, 425, 434, 435, 443 Friedrich II. 16, 70, 71, 72, 135, 311, 313, 349, 416, 417, 530 Friedrich III. 73, 123, 415, 420, 426, 427, 428, 430, 436 Friedrich IV. 424, 426 Fries, Lorenz 133, 139 Frings, Theodor 23, 44 Fritze, Dietrich 370, 371 Froeßl, Hans 479
2. Personenregister Frölich, Antonius 405 Fronius, Markus 580 Frunt, Johann 500 Gabrielsson, Artur 104, 105, 106, 111, 112, 337, 339, 340, 359, 361, 362, 406 Gansel, Christina 266 Gárdonyi, Sándor 565 Gardt, Andreas 47, 48 Gärtner, Kurt 497 Geier, Johann 445 Geisa II. 544 Genzsch, Hans Albrecht 426, 427, 436 Geuenich, Dieter 285, 289, 636 Geysa / Géza II. 571 Gierach, Erich 564 Giesecke, Michael 268 Glaser, Elvira 156 Gleißner, Käthe 152 Goda, Karl 547 Goetsch, Charles 400, 401 Goldberg, Georg 497 Gotfrid 425 Göttingen, Hermann 370 Grabarek, Jozef 601, 605 Graßmann, Antjekathrin 350 Gregor VII. 136 Greiffenhagen, Otto 613 Greul, Claudia 240 Greule, Albrecht 15, 43, 46, 258, 289, 292, 310, 594 Grimm, Brüder 223 Grimm, Jacob 58 Grünert, Horst 299 Grunwald 103 Gündisch, Konrad G. 572, 580 Gürtler, Hans 180 Güthert, Kerstin 159 Gutjahr, Emil 121, 122, 123, 125, 533, 535 Gyler, Wulf 629, 631 Haacke, Dieter 9, 128 Habermann, Mechthild 232, 245 Habsburger 18, 74, 78, 415, 416, 418, 421, 429, 436, 512, 529, 533, 589 Habsburg, Rudolf von 71, 311 Hageneder, Othmar 135 Hagen, Gottfried 497, 499, 501 Haidacher, Christoph 138 Hainburg, Rüdiger von 425 Håkon, König von Norwegen 628
669 Hameln, Gerwin von 370, 371, 374 Hannick, Christian 46 Hansen, Gotthard von 613 Harnisch, Karl-Rüdiger 446, 448, 449 Harweg, Roland 266 Hatz, Erich Rolf Ruediger 160 Haucap-Naß, Anette 370, 371, 373, 374 Hausendorf, Heiko 266 Házi, JenĘ 546, 547 Heberhard 134 Heigl, Bernhard 575 Heinemann, Margot 265, 274 Heinemann, Wolfgang 265, 273, 274 Heinig, Paul-Joachim 420, 426, 427, 436 Heinrich 443 Heinrich der Löwe 137, 348, 368 Heinrich der Sanftmütige 422 Heinrich I. 459 Heinrich II. 544, 545 Heinrich V. 5 Heinrich VI. 134 Heinrich VII. 71, 135, 313 Heinrich, Schreiber und Notar 370 Heinsohn, Wilhelm 107, 109, 112, 359, 360, 361 Helewegh, Hermann 405 Hellfritzsch, Volkmar 288, 299 Henneberg, Berthold von 428, 436 Henne, Helmut 253 Henning, Eckart 131 Henzen, Walter 234 Herborn, Wolfgang 141 Herde, Peter 135 Herold, Jürgen 635 Herrmann, Hans-Walter 640 Hertze, Johann 354 Hessen, Philipp von 336, 338 Heydeck, Johann von 139 Heyden, Sebald 218 Hientz, Käthe 575, 577 Hilchen, David 405 Hirt, Hermann 233 Hochstaden, Konrad von 139 Höchstetter, Johannes 430 Hoffman, Melchior 110 Hoffmann, Walter 497, 626 Hohenzoller 102, 105 Højberg Christensen, Axel 152, 353 Hollandt, Bernard 341 Hollandt, Heinrich 341 Hollege, Hans 371
670 Hollegger, Manfred 426 Holstein-Plön, Adolf von 628 Holzapfel, Julian 46 Honorius III. 136 Hörmann, Julia 138 Hotzenköcherle, Rudolf 183 Hoyke, Dietrich 496 Hünecke, Rainer 240, 458 Hunyadi Corvinus, Matthias 426 Hutterer, Claus Jürgen 565 Innozenz III. 135, 136 Ipsen, Gunther 152 Isenmann, Eberhard 404 Jakob I. 135 Jakob, Karlheinz 458 Janþar, Ferdinand 426 Janko, Anton 590, 591, 595 Javor Briški, Marija 242 Jesse, Thomas 362 Johann 135 Johannes 371 Johann VIII. 136 Johnson, Rakel 629 Jordan, Sabine 615, 616 Jungandreas, Wolfgang 601, 602, 604, 605 Jürgens, Frank 266 Karantanen 589 Karl der Große 143, 589 Karl IV. 16, 72, 121, 122, 123, 135, 172, 174, 176, 180, 182, 217, 222, 529, 530, 531, 532, 533, 534, 535, 536, 537, 538, 539, 540 Karl V. 74 Karolinger 134 Kästner, Hannes 268 Kellner, Volkmar 479 Kesselheim, Wolfgang 266 Kettmann, Gerhard 46, 50, 458 Kewitz, Bernhard 299 Kilenberg, Dietrich 370 Kleiber, Wolfgang 288, 289, 295, 301 Klemens VI. 137, 529 Klesl, Melchior 135 Kliemann, Peter 446, 448 Kluge, Reinhard 289, 296 Knöckert, Franciscus 360, 361 Koch, Peter 267 Kohlheim, Rosa 288, 294, 297, 299 Kohlheim, Volker 288, 299
VI. Register Konrad 443 Konrad IV. 443 Koppel, Paul 464 Korbener, Hans 463 Korlén, Gustav 352, 353 Koß, Gerhard 295 Kottaner, Helene 549, 550 Kranzmayer, Eberhard 590, 591, 592 Kretterová, Ludmilla 238, 239 Kriegesmann, Ulrich 128 Kropaþ, Ingo H. 298 Kropaþ, Susanne 445 Kubbeling, Herwig 370 Kunze, Konrad 299 Küper, Michaela 635 Kuren 610 Kurfürst August 462 Kurfürst Moritz 462 Kurfürst Johann 85 Kurschel, Henriette 445 Kyburg, Berthold von 422 Lackner, Christian 423, 435 Ladislaus 426 Lampert 139 Langenstein, Heinrich von 423 Larsen, Niels-Erik 154 Lasatowicz, Maria Katarzyna 605 Lasch, Agathe 163, 614, 615 Laschinger, Johannes 131 Lass, Roger 158 Lecke, Peter van der 330 Leo IX. 137 Leo XIII. 135 Leopold I. 417, 422, 423, 424, 425, 434 Leopold III. 423, 424, 429, 435 Leopold IV. 424 Leopold VI. 417 Lessiak, Primus 591, 592 Lesthal, Ralph 614, 615 Letten 609, 611 Leubs, Johannes von 430 Levieuge-Colas, Evelyne 635, 640 Lexington, Stephan 142 Lichner, Paul 548 Lide, Sven 614 Lienhart 444 Lincke, Jacob 462, 471 Litauer 609, 611 Liven 610, 611 Lohmüller, Johann 406, 407
671
2. Personenregister Lothar III. 134, 368 Lübben, August 614 Ludvik, Dušan 595 Ludwig, Andreas 462, 471 Ludwig der Bayer 16, 119, 120, 123, 124, 135, 417, 422, 530, 533, 535, 540 Ludwig der Fromme 134 Ludwig II. 330, 331 Ludwig IV. 135 Luntz, Ivo 417, 418 Lutbert 371 Lutherin, Katharina 88, 89, 91 Luther, Martin 10, 22, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 178, 208, 210, 233, 436, 573 Luther, Saskia 298 Luxemburg, Wenzel von 172, 174, 176, 180, 182 Maas, Utz 112 Macha, Jürgen 113, 504 Magnus, König von Schweden 628 Maillet, Christine 635 Mályusz, Elemér 546 Margetts, John 239 MasaĜík, ZdenƟk 23, 172, 196, 200, 201, 202, 206, 239, 243, 512, 514, 517, 518, 519, 522 Mattheier, Klaus J. 112, 497, 503, 504 Matthias Corvinus 573 Matzel, Klaus 446 Maximilian I. 18, 19, 69, 73, 74, 120, 123, 125, 217, 219, 242, 416, 420, 426, 427, 428, 430, 436, 548, 595 Mecklenburg, Albrecht von 629 Medici 144 Meier, Jörg 4, 5, 6, 24, 85, 255, 263, 265, 271, 273, 274, 284, 545, 565 Meinhard II. 138 Meinwang, Konrad von 422 Meisenburg, Trudel 162 Melanchthon, Philipp 92, 95 Mendel, Marquart 144 Menke, Hubertus 288 Mersiowsky, Mark 138 Messerschmidt, Christophorus 359 Michnay, Andreas 548 Mihm, Arend 110, 273, 499, 636 Mollay, Karl 546, 547, 549, 550, 551, 552, 565 Möller, Robert 495, 503, 504 Morris, Charles W. 34 Moser, Hans 24, 50, 120, 125, 289, 426, 436
Moser, Hugo 234 Moser, Peter 119, 120, 124, 125, 126 Moser, Virgil 158, 182, 233 Moulin, Claudine 635 Müllenhoff, Karl 22, 531, 532 Müller, August 513 Müller, Georg Eduard 573 Muzikant, Mojmír 517, 519 Nägler, Thomas 572 Nassau, Adolf von 135, 311, 427 Näßl, Susanne 48, 447 Natalini, Terzo 131 Naumann, Horst 299 Naumann, Wenzeslaus 463, 471 Németh, Janos 547, 551 Nerius, Dieter 160 Neumarkt, Johann von 529, 530, 531, 532 Neuß, Elmar 292 Niederalteich, Hermann von 142, 143 Noordijk, Dirk 122, 123, 436 Northeim, Cyprian 428 Oberste, Jörg 461 Obotriten 348 Obser, Ulrich 445 Odilo 589 Oesterreicher, Wulf 267 Oldenborch, Gerhard 350 Oldenborch, Paul 350 Ono, Mitsuyo 172, 196 Opitz, Martin 22 Oppitz, Ulrich-Dieter 56 Osthusen, Johannes 355 Otto das Kind 368 Otto der Fröhliche 422, 423, 435 Otto, Ernst 10, 224, 458 Otto I. 3, 5, 132, 137 Otto II. von Bayern 443 Otto III. 545 Ottokar II. 75, 416 Ottonen 134, 459 Pagenstecher, Johann 338, 341 Pakebusch, Matthäus 354 Papsonová, Mária 218, 224, 298, 299, 300, 544 Pardubitz, Ernst von 529 Passau, Berthold von 315 Passau, Wolfger von 138 Paul, Hermann 152, 159, 235
672 Paul V. 135 Pauly, Michel 635 Penzl, Herbert 163 Peters, Robert 239, 626 Petrarca, Francesco 529, 530, 531 Pfeiffer, Franz 120 Philipp 443 Philipp August 135 Piccolomini, Enea Silvio 427 Piirainen, Ilpo Tapani 24, 565, 604, 605 Pinsker, Hans Ernst 435 Pippin 134 Pirner, Johann 463 Pitz, Ernst 141, 356 Pius VII. 135 Platerberger, Konrad 444 Polenz, Peter von 45, 47, 48, 162, 236, 264 Pommern, Erich von 629 Pommern-Stettin, Herzog von 600 Pöpping, Nicolaus 360, 361 Popp, Marianne 445 Porner, Hans 369 Potgieter, Albert 497 Prenger-Berninghoff, Maria 112 Prußen 610 Pyhy, Conrad von 631 Rabikauskas, Paulius 135 Radeberg, Hans 461, 464 Rall, Hans 137 Šrámek, Rudolf 299 Ramseyer, Rudolf 297, 298 Rapp, Andrea 158, 501, 635, 638 Raumer, Rudolf von 22 Regensburg, Siegfried von 142 Rehbein, Thomas 360, 361 Rehlinger, Johann 360 Reich, Burgkhardt 463 Reichmann, Oskar 45, 161, 235 Reiffenstein, Ingo 446, 447, 449 Repgow, Eike von 56 Ribi von Platzheim, Johann 423 Riecke, Jörg 446 Ried, Thomas 445 Rienzo, Cola di 529, 530, 531 Rolf, Eckard 273 Rose, Hermann 496 Rosenberger 515 Rössler, Paul 159 Roth, Erik 615 Rüdel, Johann 359
VI. Register Rüdiger 602 Rudolf I. 71, 134, 416, 421 Rudolf II. 416 Rudolf III. 422 Rudolf IV. 418, 419, 420, 423, 425 Ruffus, Johannes 349, 353 Ruge, Nikolaus 160 Rupprecht 72 Ruprecht 135 Russen 611 Sachsen 544, 572, 573 Salier 134, 429 Saller, Ulrich 443, 446, 448, 449 Salza, Hermann von 313 Saussure, Ferdinand de 252 Savigny, Friedrich Carl von 58 Sayn, Eberhard von 313 Scheben, Maria 495 Scheel, Willy 504 Schein, Calixtus 359 Scheurmann, Rudi 495 Schiller, Karl 614 Schirokauer, Arno 234 Schlick, Kaspar 135, 426 Schmid, Hans Ulrich 232, 236 Schmidt, Gertrud 399, 400, 401, 402, 404, 405, 406, 407, 408, 611, 614, 615, 617, 618, 619 Schmidt, Wilhelm 172, 236 Schmiedt, Joachim 405 Schmitt, Ludwig Erich 24, 123, 125, 152, 158, 222, 461, 530, 532, 533, 536 Schöffer, Johann 479 Schottelius, Justus Georg 22 Schratz, Wilhelm 445 Schröder, Ingrid 274 Schulze, Ursula 10, 23, 220, 222, 233, 236, 242 Schürstab, Leupold 144 Schuster, Britt Marie 240 Schützeichel, Rudolf 476, 477, 478, 496 Schütz, Eva 268 Schwarz, Andrea 445 Schwarz, Brigide 135 Schwarzenberg, Gerhard von 139 Schwarz, Ernst 516, 518, 519, 564 Schweden 611 Schwitalla, Johannes 241, 242, 268 Schwitzgebel, Helmut 478 Schwob, Ute Monika 298
673
2. Personenregister Seeliger, Gerhard 426 Siebenbürger Sachsen 571, 572, 573, 577, 580 Siebenlinder, Johannes 549 Siegfried 443 Sigismund 72, 135, 531, 533, 546, 550 Sigmund 426, 427, 436 Simmler, Franz 163 ùindilariu, Thomas 575, 577 Sixtus IV. 136 Sjöberg, Sven 615, 620 Skála, Emil 10, 23, 44, 172, 180, 196, 446, 447, 449, 533 Skrzypczak, Henryk 370, 371 Slowenen 589 Socin, Adolf 233 Solms, Hans-Joachim 172, 177, 181, 190, 196, 199, 207, 235 Sonderegger, Stefan 253, 291 Spáþilová, Libuše 240, 272, 273, 274 Spang-Hansen, Henning 152 Stadis, Johann 404, 405 Stainpeiß, Martin 434 Stanonik, Janez 594 Stark, Ulrich 144 Stephan I. 544, 545 Steffens, Rudolf 479, 480, 481, 482 Steger, Hugo 268 Steinhöwel, Heinrich 234 Stromer, Ulman 144 Styrkårsson, Pål 627 Suchsland, Peter 10, 172, 196, 205, 211, 458 Swankler, Pangraz 548 Syfridt, Nikolaus 461 Szalai, Lajos 550 Székler 572, 573 Tassilo III. 589 Tataren 610 Tegeder, Bernhard 333 Tepl, Johannes von 235, 531 Teutsch, Georg Daniel 572, 574, 581 Thiel, Matthias 445 Thirmann, Nikolaus 461, 464, 465, 466, 467, 468, 469 Thomas der alte Stadtschreiber 464 Tiderik, Stadtschreiber 371 Timmerscheidt, Bernd 339 Topaloviü, Elvira 270 Traskovitz, Wolfgang 548, 550 Trier, Jost 152 Triwunatz, Milosch 178
Truber, Primus / Trubar, Primož 591 Tschinkel, Hans 590, 591 Tümpel, Hermann 614 Uminsky, Rudolf 446, 447, 448, 449 VaĖková, Lenka 298 Vechelde, Hermann von 359, 369 Viehweger, Dieter 273, 274 Visbeken, Hinrik 371 Vlaicu, Monica 575, 579 Voeste, Anja 159 Wachler, Ingolf 613, 617 Wagner, Ernst 574, 579 Wagner, Karl 564 Wagrier 348 Waldeck, Franz von 335, 337 Wallach, Hans 444 Warmböcke, Hermann 359 Warnke, Ingo 49 Wasa, Gustav 629, 631 Webersinke, Rudolf 516 Wegera, Klaus-Peter 172, 177, 181, 190, 196, 199, 207, 235 Wehingen, Berthold von 423 Weinelt, Herbert 564 Weinhold, Karl 295 Weinsberg, Hermann 299, 300 Weiße, Michael 462, 463, 471 Wells, Christopher J. 235 Wennemar 405 Wenners, Peter 299 Wenzel 16, 72, 531, 532, 533, 534, 535, 540 Werne, Franziskus 338 Westfal, Lambert 625 Wettiner 76, 78 Widemann, Josef 294, 445 Wiesinger, Peter 548, 601 Wiktorowicz, Józef 239, 273, 274, 605 Wild, Joachim 131 Wilhelm 420, 424 Wilhelm, Friedrich 220 Winckelmann, Georg 463 Winkelbauer, Thomas 135 Wißhenze, Johannes 461, 464, 466, 467 Wittelsbacher 75, 76, 78, 113, 137 Wittmann, Franz 445 Wolff, Gerhard 45, 47 Wolff, Nikolaus 359 Wolfpach, Hans 444
674 Wunstorp, Johann 358 Wyck, Johann van der 111, 335 Ybbs, Nikolaus von 445 Ysbolt, Heinrich 497 Zahn, Josef 595 Zelkingen, Ludwig von 315 Zeman, Jaromír 519, 522 Ziegler, Arne 4, 5, 24, 49, 231, 232, 237, 238,
VI. Register 240, 241, 242, 244, 245, 254, 265, 271, 272, 273, 274, 284, 545, 565 Ziegler, Johann 548, 550 Ziegler, Niclas 19 Zimmermann, Franz 575 Zimmermann, Friedrich 577, 579 Zipp, Gerhard 446 Zisterzienser 142 Zoller 76, 78 Zürich, Johann von 422
3. Ortsregister
Aalborg 623 Åbo / Turku 623, 631 Ahlen 617 Aldersbach 143 Allendorp 405 Alpenvorland 589 Alte Kapelle 441, 443, 445 Altenburg 141 Altewiek 368, 369, 373, 374, 376, 377, 378, 381, 382, 383, 384 Altstadt 368, 369, 371, 373, 374, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384 Amorbach 143 Andernach 141 Aragon 135 Augsburg 8, 10, 140, 141, 142, 441, 548 Avia 141 Avignon 136, 137, 529 Baltikum 238, 609, 612 Bamberg 10, 139, 530 Banat 544 Bar 138 Bardowick 348, 349 Basel 23, 140, 315, 626 Batschka 544 Bayern 71, 75, 76, 77, 78, 132, 133, 137, 138, 142, 143, 242, 297, 422, 430, 441, 448, 449, 547, 589, 599 Beaulieu 143 Beltsee 609 Bentheim 114 Bergen 17, 105, 348, 624, 628, 630, 631 Berlin 105 Bern 297, 298 Biburg 143 Bielefeld 617 Binnenungarn 544 Bischoflack / Škofja Loka 591 Bistritz / BistriĠa / Beszterce 573, 575 Bleiburg 591 Böhmen 23, 72, 77, 79, 135, 422, 426, 460,
511, 512, 513, 514, 516, 519, 547 Bologna 422 Brabant 138 Brandenburg 102, 103, 105, 138, 600 Braunschweig 16, 113, 137, 140, 359, 360, 367, 368, 369, 370, 371, 372, 374, 375, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 617 Bremen 103, 105, 617 Breslau 79, 172, 174, 175, 176, 177, 179, 181, 185, 189, 196, 197, 198, 200, 201, 204, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 599, 600, 602, 603 Bresnice 460 Brieg 599, 600, 603, 604, 605 Broos / Orăútie / Szászváros 572 Bruchsal 140 Brügge 142, 348 Brünn /Brno 23, 299 Budapest 546, 549, 552, 576 Burgenland 544 Burzenland / ğara Bârsei / Barcaság 572 Canterbury 143 Carniola 589 Cilli / Celje 590, 593 Dallau 218 Dänemark 627, 628, 629, 631 Danzig 105, 405, 406 Debrecen 546 Deutschordensland 313 Deventer 617 Dirschau / Tczew 600 Dobratsch 590 Dordrecht 142 Dorpat / Tartu 17, 610, 611, 612, 613, 614 Dortmund 112, 141, 617 Draas / Drăuúeni / Homoróddaróc 572 Dresden 172, 173, 174, 175, 176, 178, 179, 180, 181, 182, 184, 185, 186, 188, 190, 196, 197, 198, 199, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 217, 240, 457, 458,
676 459, 460, 461, 462, 463, 466, 468, 470, 472 Duisburg 142, 273, 495, 499, 507 Eger / Cheb 10, 23, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 217, 226, 515 Eichstätt 139 Eifel 476 Einbeck 378, 379, 381 Eisleben 93, 95, 97, 98 Elbing 600, 601, 605 Elbostfalen 379, 380 Elsass 635, 639 Emden 109, 110 England 135 Enns 425, 426 Ensdorf 143 Erfurt 10, 355 Estland 399, 609, 610, 611, 613 Europa 25, 238 Fellin 613 Finnland 631 Flandern 155, 626 Flensburg 628 Florenz 141 Franken 76, 78, 297 Frankfurt 79, 141, 359, 360 Frankreich 135, 140, 141, 155 Süd- 140 Freiberg 460 Freiburg im Breisgau 16, 23, 626 Freising 133, 139, 142 Friaul 427, 589 Friesach 591 Gailtaler Alpen 590 Geldern 138 Gent 142 Genua 140, 141 Gera 172, 176, 183 Gloucestershire 143 Goldberg / Złota Góra 599 Goldingen 613 Görlitz 460 Görz 589 Goslar 105, 360, 379, 617 Gotland 623 Göttingen 102, 108, 378, 379, 381, 405
VI. Register Gran / Esztergom 544, 545, 546 Graz 355, 415, 446 Groningen 114, 617 Großpolen 600, 601 Groß-Schenk / Cincu / Nagysink 572 Güns / KĘszeg 18, 546, 548, 552 Haapsalu 616 Hadersleben 628 Hagen 368, 369, 373, 374, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384 Hamburg 105, 108, 109, 352, 360, 379, 614, 617, 619 Hameln 378, 379, 380, 381 Hannover 358, 369, 379, 381, 405 Hapsal 616 Harrien 613 Hasenpoth 613 Heidelberg 405 Heilsbronn 143 Helsingborg 628 Hennegau 138 Herford 381 Hermannstadt / Sibiu / Nagyszeben 242, 572, 573, 574, 575, 576, 577, 578, 581 Hessen 599 Hildesheim 141, 617 Hl. Kreuz 441, 445 Höxter 617 Iglau 512, 518, 519 Ingelheim am Rhein 475, 478, 479 Innsbruck 415, 427 Istrien 427, 589 Italien 140, 141, 590 Jena 10, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212 Jütland 624 Julische Alpen 590 Kaisheim 143 Kalmar 17, 623, 628, 631 Karantanien 589 Kärnten 138, 416, 424, 427, 589, 591 Kaschau / Košice 548 Kernwestfalen 381 Kiel 141
677
3. Ortsregister Kirchschlag 548 Klausenburg / Cluj-Napoca 575 Kleve 108 Koblenz 142, 475, 476, 477, 478 Köge 623 Kokenhusen 612 Köln 3, 16, 79, 105, 112, 113, 138, 139, 140, 141, 142, 299, 300, 334, 337, 338, 342, 405, 458, 480, 495, 496, 497, 498, 499, 500, 501, 502, 503, 504, 617 Königsboden 572, 579 Konstanz 23, 626 Kopenhagen 17, 613, 624, 628, 631 Koralpe 590 Krain 416, 424, 427, 589, 590, 591, 592, 594 Krainburg / Kranj 242, 591, 595 Krakau 218, 239, 405, 599, 600, 601, 602, 603, 604, 605 Krewo 610 Kroatien 544, 545 Kronstadt / Braúov / Brassó 572, 575 Krzemienica 600, 601, 602, 603 Kulm 313 Kulmsee 601, 605 Kurland 609, 610, 611, 612 Lahntal 476 Laibach / Ljubljana 590, 591, 594, 595 Landstrass / Kostanjevica 591 Leipzig 10, 23, 105, 113, 141, 461, 463 Leitmeritz 511, 515, 521 Lemgo 113, 380, 381 Leobschütz 600, 603, 604, 605 Leschkirch / Nocrich / Újegyház 572 Lettland 399, 400, 609, 610, 613 Leubus / LubiąĪ 599 Leutschau / Levoþa 284 Lingen 114 Linz 427 Lippstadt 617 Litauen 609, 610 Livland 399, 609, 610, 611, 612, 613, 617, 618 London 348 Lothringen 635, 640, 641 Lübeck 16, 103, 105, 107, 108, 109, 140, 141, 144, 347, 348, 349, 350, 351, 352, 353, 354, 355, 357, 358, 359, 360, 361, 362, 364, 378, 379, 403, 405, 616, 617, 618, 619, 626, 628, 629, 630 Lüdinghausen 330
Lüneburg 108, 405 Luxemburg 135, 635, 636, 641 Luzern 313 Magdalensberg 590 Magdeburg 54, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 63, 103, 105, 530 Mähren 23, 79, 172, 174, 175, 176, 177, 179, 180, 181, 183, 184, 185, 189, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 205, 206, 208, 209, 210, 211, 212, 217, 511, 512, 513, 514, 516, 517, 519, 526, 548, 589 Mainz 138, 139, 475, 476, 478, 479, 480, 481, 482, 484, 485, 486, 487, 488, 490, 491, 530 Marburg / Maribor 330, 590, 591, 593 Maria Saal 590 Mecklenburg 102, 103, 348 Mediasch / Mediaú / Medgyes / Megyes 572 Meißen 105, 132, 359, 461, 463, 532 Metz 141, 355, 638, 640, 641 Millau 141 Mimigernaford 328 Miskolc 546 Mitteldeutschland 545 Mittelmähren 217, 517 Mittelrhein 475 Mittelungarn 543 Mohács 543, 545 Moseltal 476 Mühlbach / Sebeú / Szászsebes 572 München 138, 142, 242 Münder 405 Münster 24, 103, 105, 107, 108, 110, 111, 112, 113, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 335, 336, 337, 339, 340, 341, 342, 358, 617, 618, 620 Namslau 602, 603, 604, 605 Nancy 640 Narva 613, 616 Neiße 599, 600, 602, 603, 605 Neustadt 359, 368, 369, 371, 373, 374, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384 Neustift 143 Niederalteich 143 Niederlande 113, 114, 381 Niedermarsberg-Horehusen 617 Niedermünster 441, 442 Norddeutschland 626, 627, 630 Nordmähren 518, 519 Nordungarn 544
678 Norwegen 624, 627, 628 Nösner Grafschaft / BistriĠa-Năsăud / Beszterce 572 Nowgorod 348, 402 Nürnberg 5, 10, 79, 103, 107, 133, 141, 142, 144, 218, 355, 360, 428, 441, 458, 487, 530, 532, 533 Oberalteich 143 Oberelsass 417, 421, 425 Oberlausitz 22 Obermünster 143, 441, 442, 445, 447, 449, 450, 452, 453 Oberwesel 477 Ödenburg / Sopron 18, 543, 544, 545, 546, 547, 548, 550, 551, 552 Ofen / Buda 543, 544, 545, 546, 549, 550 Oldenburg 110 Olmütz 512, 514, 517, 518 Ösel 610, 613 Oslo 17, 623, 631 Osnabrück 112, 113, 142, 617 Ossiacher Tauern 590 Ostalpenraum 589, 590 Österreich 78, 138, 290, 295, 297, 416, 421, 422, 424, 426, 428, 429, 430, 435, 441, 544, 547, 548 Nieder- 416, Ober- 416, 430 Ostfalen 379, 380, 381, 383 Ostholstein 348 Ostsee 609, 618, 623 Ostseeraum 625, 630 Osttirol 590 Ostwestfalen 376, 380, 381 Pannonien 589 Parchim 405 Paris 137 Passau 139, 143 Pernau 613 Pest 544 Pettau / Ptuj 590, 591, 593 Piacenca 141 Plauen 172, 176, 183 Plintenburg / Visegrád 550 Poitiers 141 Polen 599, 601, 610 Polozk 402 Pommern 600 Posen 600, 601, 602, 603
VI. Register Prag 5, 10, 17, 72, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 196, 197, 200, 201, 202, 203, 204, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 217, 426, 461, 514, 515, 516, 529, 530, 531, 532, 533, 534, 536, 538, 540, 542, 551 Prager Kanzlei 16 Pressburg / Bratislava 18, 239, 240, 284, 300, 543, 548 Prüfening 445 Pustertal 590 Raab / GyĘr 544, 548 Radkersburg 590 Ranshofen 315 Regensburg 5, 10, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 219, 441, 442, 443, 444, 445, 446, 447, 448, 449, 451, 533 Reps / Rupea / KĘhalom 572 Reußmarkt / Miercurea Sibiului / Szerdahely 572 Reval / Tallin 17, 353, 611, 612, 613, 614, 615, 616, 617, 618, 619, 631 Rheinfelden 315 Rheinland 334, 381 Rheintal 476 Ribe 628 Riga 17, 353, 399, 400, 401, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 408, 409, 410, 610, 611, 612, 613, 614, 615, 616, 617, 618, 619 Rom 137, 529 Rostock 103, 108, 109, 110, 141, 352, 405 Rumänien 544, 545, 552, 572 Russland 610, 611 Ruthenien 544 Saargemünd 641 Sachsen 137, 217, 328, 599 Sack 368, 369, 373, 376, 377, 378, 379, 381, 382, 383, 384 Sagen 463 Saint-Maurice d’Agaune 143 Salzburg 138, 139 Saualpe 590 Sayn 331 Schäßburg / Sighiúoara / Segesvár 572 Schelk / ùeica / Selyk 572 Scheyern 143 Schlesien 135, 599, 600, 601, 602, 603, 604, 605 Schleswig 628 Schluchtern 218
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3. Ortsregister Schönhengst 512, 516 Schwaben 417, 421 Schwäbisch Hall 140 Schwedler / Švedlár 218 Schweiz 295, 417, 421, 422, 423, 635 Nord- 425 Seehausen 405 Serbien 544 Siebenbürgen 239, 544, 572, 573, 574, 576, 579, 580, 581, 583, 584 Süd- 572 Sieben Stühle 572, 578 Siena 141 Sillein 63, 64, 65, 561, 568 Simrishamn 628 Sizilien 70, 71, 135 Skandinavien 623, 624, 628, 629, 630, 631 Slowakei 24, 218, 224, 239, 284, 544, 548, 552, 557, 558, 560, 561, 563, 564, 565, 566, 567 Slowenien 593, 596 Smolensk 402 Söderköping 623 Soest 111, 112, 113, 141, 615, 617, 618 Sonderburg 628 Speyer 103, 107, 108, 138 Sprottau 600, 602, 605 St. Blasius 371 Steiermark 240, 416, 421, 424, 427, 589, 590, 595 Steinau an der Oder 359 Stein / Kamnik 591 St. Emmeram 143, 441, 442, 443, 445 St. Jakob 445 St. Johann 143, 445 St. Katharinenspital 441, 442, 444, 445, 446, 447, 449, 450, 452, 453 St. Mauritz 328, 333, 342 St. Nikola 143 St. Nikolausspital 445 Stockholm 17, 612, 613, 623, 624, 625, 626, 627, 629, 630, 631 St. Paul 441, 445 St. Peter 445 Stralsund 109, 141, 353, 360 Straßburg 8, 16, 23, 110, 111, 140, 141, 626 Straubing 138 Stuhlweißenburg / Székesfehérvar 544 St. Veit 591 Südbaden 417, 421, 425 Südböhmen 217, 255, 256, 511, 515, 516,
517, 524 Süddeutschland 545 Südtirol 290 Szeged 546 Tecklenburg 331 Thorn 313, 600, 601, 605 Thüringen 132, 599 Tirol 75, 138, 297, 421, 422, 423, 424, 426, 427, 428, 436 Tondern 628 Tönsberg 623, 631 Transsylvanien 572 Trianon 543F Trier 3, 16, 138, 477, 530 Tschechien 23 Überwasser 328, 339 Ukraine 544, 610 Ulm 8 Ungarn 79, 239, 426, 543, 544, 545, 546, 548, 551, 552, 553, 572 Ungarisch-Altenburg / Magyaróvár 548 Unterdrauburg / Dravograd 591 Untersteiermark 591 Ussel 141 Várad 545 Vatikan 576 Veldes / Bled 591 Viborg 623, 631 Villach 590 Villacher Alpe 590 Virneburg 331 Visby 623, 624, 628, 630, 631 Weida 172, 176, 183 Weißrussland 610, 611 Westböhmen 511, 515 Westerwald 476 Westfalen 141, 328, 330, 331, 333, 334, 337, 341, 379, 382 Westminster 143 Westungarn 544, 546, 549 Wiek 610, 613 Wien 140, 141, 240, 298, 299, 355, 415, 416, 417, 419, 420, 421, 422, 423, 425, 426, 427, 428, 429, 430, 434, 435, 458, 531, 533, 547, 548, 550, 551, 576 Wiener Neustadt 355, 427 Wierland 613
680 Windau 613 Winterthur 16, 140 Wisby 17, 617, 618 Wismar 109 Witebsk 402 Wittenberg 10, 105, 113 Wolbeck 332 Worms 103, 421 Württemberg 76, 77 Würzburg 133, 138, 139, 530
VI. Register Ypern 141 Zagan 463 Zagreb 545 Zarz 590 Zeitz 10, 218 Zips 63, 64, 65, 558, 559, 560, 561, 562, 563, 564, 567 Zürich 23, 140, 141, 626 Zwickau 300