Notfallseelsorge: Ein Handbuch 340212940X, 9783402129401

Die Bedeutung Notfallseelsorge wird zunehmend erkannt. Inzwischen gehört der Bereich zu den meist spezialisierten Gebiet

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German Pages 326 [365] Year 2012

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Table of contents :
Title
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Ulrich Slatosch: Notfallseelsorge Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft
Theologie
Franz-Heinrich Beyer: Tod im häuslichen Bereich: Verabschiedung, rituelle Hilfen
Franz-Heinrich Beyer: Notfallseelsorge: Seelsorgerlicheund liturgische Begleitung von Betroffenen
Stefan Böntert: Rituale, Zeichen und Gebet im Dienst der Notfallseelsorge
Christof Breitsameter: Der Patientenwille zwischen Autonomie und Fürsorge
Christof Breitsameter: Freiheit und Schuldfähigkeit
Christof Breitsameter: Organtransplantation
Judith Han: Kirchenrechtliche Anmerkungen zu Seelsorge und Sakramentenspendung im Notfall
Susanne Hegger: Warum lässt Gott das zu? Fragen der Theodizee
Traugott Jähnichen: Von Gott reden angesichts von Leiden und Tod. Die Theodizee in der Notfallseelsorge
Franz-Josef Nocke: Tod eines Kindes
Petra Freudenberger-Lötz: Kind und Tod
Mirjam Schambeck: Zum Umgang mit Tod und Sterben bei Jugendlichen
Jura
Klaus Bernsmann: Notfallseelsorge durch ‚Geistliche’ aus strafrechtlicher Sicht
Udo Branahl: Der Sensation entfliehen. Rechtliche Grundlagen des Umgangs mit den Medien in Krisensituationen
Thomas Feltes: Gewalt in der Schule. Ergebnisse der Bochumer Studie
Medizin und Psychologie
Monika Bormann: Sexueller Missbrauch an Kindern. Wie kann das geschehen und was ist zu tun?
Frank Lasogga: Kinder in Notfällen
Werner Meyer-Deters: Sexuelle Übergriffe von Kindern und Jugendlichen. Zwischen Dramatisierung und Bagatellisierung
Georg Juckel: Suizidales Verhalten: Hintergrundwissen und Möglichkeiten für ein strukturiertes Vorgehen
Franciska Illes: Amok und erweiterter Suizid
Rebecca Bondü / Axel Schölmerich: Gewalthaltige Computer- und Videospiele und ihre Effekte
Theo Payk: Psychiatrische Notfälle
Michael Zenz: Medizinethische Überlegungen zur Notfallmedizin
Christian Bellebaum: Lernen und Gedächtnis - Grundlagen und Einflussfaktoren
Philologie
Harro Müller-Michaels: Katastrophen in der Literatur
Harro Müller-Michaels: Schmerz und Tod in der Literatur
Jan Boelmann: Gewaltübertragung durch Ego-Shooter: Computerspiele mit gewalthaltigem Inhalt und ihre Auswirkungen auf Jugendliche
Jan Boelmann: Neonazis online. Rechtsextremismus im weltweiten Netz
Autorenverzeichnis
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Notfallseelsorge: Ein Handbuch
 340212940X, 9783402129401

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ein handbuch

Christof Breitsameter (Hg.)

Die Bedeutung der Notfallseelsorge wird zunehmend erkannt. Inzwischen gehört der Bereich zu den am meisten spezialisierten Gebieten der Pastoral. Dem will das völlig neu konzipierte, kompakte Handbuch entsprechen. In fast 30 Beiträgen gibt es Auskunft zu unterschiedlichsten Aspekten der seelsorglichen Krisenbegleitung. Die Autoren des Bandes stammen fachübergreifend aus den Bereichen Theologie, Jura, Medizin, Psychologie und Philologie. In seiner thematischen Breite bietet der Band allen, die ehrenund hauptamtlich mit Notfallsituationen konfrontiert werden oder hier begleitend engagiert sind, eine Fülle an hilfreicher und solider Handreichung.

Notfallseelsorge

Christof Breitsameter (Hg.)

ISBN: 978-3-402-12940-1

Notfall seelsorge ein handbuch

Christof Breitsameter (Hg.) Notfallseelsorge

Christof Breitsameter (Hg.)

Notfallseelsorge Ein Handbuch

11111: Aschendorff

I!==!I. Verlag

Inhalt

Vorwort

Christof Breitsameter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 Einleitung

Notfallseelsorge: Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft Ulrich Slatosch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11

Theologie Franz-Heinrich Beyer

Tod im häuslichen Bereich: Verabschiedung, rituelle Hilfen  . . . .  26 Franz-Heinrich Beyer

Notfallseelsorge: Seelsorgerliche und liturgische Begleitung von Betroffenen  . . . . . . . . . . . . . . . . . .  34 Stefan Böntert

Rituale, Zeichen und Gebet im Dienst der Notfallseelsorge  . . . . .  42  Christof Breitsameter

Der Patientenwille zwischen Autonomie und Fürsorge  . . . . . . . .  56  Christof Breitsameter

Freiheit und Schuldfähigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   74 Christof Breitsameter

Organtransplantation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  86  Judith Hahn

Kirchenrechtliche Anmerkungen zu Seelsorge und Sakramentenspendung im Notfall  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  

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Susanne Hegger

Warum lässt Gott das zu? Fragen der Theodizee  . . . . . . . . . . . . .  116  Traugott Jähnichen

Von Gott reden angesichts von Leiden und Tod Die Theodizee in der Notfallseelsorge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  127  Franz-Josef Nocke

Tod eines Kindes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  140 

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Inhalt

Petra Freudenberger-Lötz

Kind und Tod  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  156 Mirjam Schambeck sf

Zum Umgang mit Tod und Sterben  bei Jugendlichen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  166 

Jura Klaus Bernsmann

Notfallseelsorge durch ‚Geistliche’ aus strafrechtlicher Sicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  175  Udo Branahl

Der Sensation entfliehen. Rechtliche Grundlagen des Umgangs mit den Medien in Krisensituationen  . . . . . . . . . .  188  Thomas Feltes

Gewalt in der Schule Ergebnisse der Bochumer Studie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  192 

Medizin / Psychologie Monika Bormann

Sexueller Missbrauch an Kindern Wie kann das geschehen und was ist zu tun?  . . . . . . . . . . . . . . . .  204  Frank Lasogga

Kinder in Notfällen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   213  Werner Meyer-Deters

Sexuelle Übergriffe von Kindern und Jugendlichen: Zwischen Dramatisierung und Bagatellisierung  . . . . . . . . . . . . . .  226  Georg Juckel

Suizidales Verhalten: Hintergrundwissen und Möglichkeiten für ein strukturiertes Vorgehen  . . . . . . . . . .  238 Franciska Illes

Amok und erweiterter Suizid  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  254  Rebecca Bondü & Axel Schölmerich

Gewalthaltige Computer- und Videospiele und ihre Effekte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  264 

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Inhalt

Theo Payk

Psychiatrische Notfälle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  273  Michael Zenz

Medizinethische Überlegungen zur Notfallmedizin . . . . . . . . . . . .  284  Christian Bellebaum

Lernen und Gedächtnis: Grundlagen und Einflussfaktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   291 

Philologie Harro Müller-Michaels

Kathastrophen in der Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   301 Harro Müller-Michaels

Schmerz und Tod in der Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   315  Jan Boelmann

Gewaltübertragung durch Ego-Shooter: Computerspiele mit gewalthaltigem Inhalt und ihre Auswirkungen auf Jugendliche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   335  Jan Boelmann

Neonazis online Rechtsextremismus im weltweiten Netz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  346 

Autorenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  

357 

Register  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  

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Vorwort Vielerorts sind mittlerweile zahlreiche Initiativen der Notfallseelsorge entstanden. Damit stellt sich die Frage nach Qualifizierungsmöglichkeiten, die neben der praktischen-seelsorgerlichen Arbeit auch die theoretisch-wissenschaftliche Reflexion des Alltags von Notfallseelsorgenden berücksichtigen. An diesem Punkt setzt die Veranstaltung Notfallseelsorge und Krisenintervention an, die seit fast zehn Jahren an der Katholisch-Theologischen der Ruhr-Universität Bochum in Kooperation mit der Konferenz der Beauftragten für Notfallseelsorge und Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdiensten in den Bistümern und Landeskirchen in NordrheinWestfalen durchgeführt wird. Sie versteht sich als wissenschaftliche Fortbildung für Notfallseelsorgende, Fachberatende der Feuerwehr und PSU-Teams und setzt sich grundlegend mit wichtigen Facetten der praktischen Arbeit Notfallseelsorgender auseinander, indem sie ein Forum des Austauschs zwischen Mitarbeitenden aus der Praxis und Lehrenden verschiedener Fakultäten an der Ruhr-Universität Bochum bietet. Die Initiative zur Fortbildungsreihe Notfallseelsorge und Krisenintervention ergriff im Jahre 2002 Prof. Dr. Heinrich J. F. Reinhardt, der sich die Frage nach der nebenberuflichen Qualifizierung und Fortbildung Notfallseelsorgender stellte und an den beiden theologischen Fakultäten der Ruhr-Universität Bochum die Aufgaben der interdisziplinären Koordination und Integration von Veranstaltungen verankerte. So sollte, wie Prof. Reinhardt formuliert hat, „die Theologie aus den Sträuchern kommen“. Zusammen mit Herrn Diakon Ulrich Slatosch, der die Veranstaltung seitens des Bistums Essen bis heute mit außerordentlichem Engagement begleitet, sowie dem damaligen Lehrstuhlinhaber für Moraltheologie, Prof. Dr. Udo Zelinka, organisierte Prof Reinhardt mit tatkräftiger Unterstützung durch Frau Karin Kuhl für den 5. November 2003 die erste Veranstaltung zur Notfallseelsorge und Krisenintervention. Sie alle haben maßgeblich zum Entstehen und zur Etablierung der Reihe beigetragen. Zwischen 2006 und 2010 wurde die Fortbildung durch Herrn Prof. Dr. Christian Frevel unterstützt. Seit 2010 wird die Initiative Notfallseelsorge und Krisenintervention durch

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Vorwort

den Lehrstuhl für Moraltheologie in konzeptioneller Zusammenarbeit mit Herrn Prof. Dr. Stefan Böntert betreut. Mit der vorliegenden Publikation, die den Titel Notfallseelsorge  – Ein Handbuch trägt, sollen nun erstmals ausgewählte Beiträge der Veranstaltungsreihe einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Damit möchten wir dem über die Jahre stetig gewachsenen Interesse an den Veranstaltungen der Reihe Notfallseelsorge und Krisenintervention und vor allem der Nachfrage nach der Veröffentlichung der Beiträge Rechnung tragen. Der Band folgt in seinem Aufbau einem Grundsatz der Fortbildungsreihe, insofern er ein möglichst breites Themenspektrum, insbesondere die Disziplinen der Theologie, der Rechtswissenschaften, der Medizin, der Psychologie und der Philologie berücksichtigt. Besonders freut uns, dass wir auch Referenten der ersten Stunde für die Publikation haben gewinnen können; sie sind der Fortbildungsreihe nun schon über Jahre verbunden und haben mit großem Engagement zum Gelingen und Werden der Veranstaltung beigetragen. Ihnen sowie allen Autorinnen und Autoren des Handbuchs sei an dieser Stelle für das Verfassen der Texte und die gute Zusammenarbeit aufrichtig gedankt. Sehr herzlich danke ich Frau Monika Konik, Frau Simone Horstmann, Herrn Christian Berkenkopf, Herrn Kai Kämper sowie Herrn Lukas Brand für die Mitarbeit bei der Publikation des vorliegenden Bandes. Für die umsichtige Betreuung der Drucklegung danke ich Herrn Dr. Bernward Kröger. Ein besonderer Dank gilt auch Herrn Dr. Thomas Roddey (Deutsche Bischofskonferenz) und Herrn Dr. HansWerner Thönnes (Bistum Essen) für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Bochum im Juni 2012 Christof Breitsameter

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01. Einleitung Notfallseelsorge Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft 1. Definition und Kontext

„Notfallseelsorge ist ein seelsorgliches Angebot für Menschen, die in Momenten schwersten Leids und existentiellen Krisen mit dem nahen und plötzlichen Tod konfrontiert sind.“ (Die Akademie Bruderhilfe et al. 2009, 21) Wir sprechen an dieser Stelle auch gerne von ‚Lebenswenden‘ und ‚Schnittstellen‘, an denen sich der Weg eines Menschen so einschneidend verändert, dass von einem Moment auf den anderen nichts mehr so ist, wie es vorher einmal war. „Die Kirche der Zukunft ist eine Kirche an den Lebenswegen der Menschen“ schreiben Bischof Dr. Wolfgang Huber und Erzbischof Dr. Robert Zollitsch in einem Geleitwort einer Handreichung der Akademie Bruderhilfe (ebd. 2009, 3). Sie beziehen diese Aussage auch auf Notfälle und Krisensituationen. In solchen Momenten ist die Notfallseelsorge als „Erste Hilfe für die Seele“ mit verlässlicher Präsenz und Begleitung bei den betroffenen Menschen und deren Angehörigen. Notfallseelsorgende sind da, um nach Wegen zu suchen, Gefühlen Ausdruck zu geben, zuzuhören, zu beten und zu bezeugen, Riten des Abschieds und der Trauer anzubieten oder auch manchmal ‚nur‘ still für die Menschen da zu sein. Für Bischof Huber und Erzbischof Zollitsch ist Notfallseelsorge als organisierter Bereitschaftsdienst der Kirchen in ökumenischer Verbundenheit zur Selbstverständlichkeit geworden. Notfallseelsorge ist keine neue Erfindung unserer Zeit. Es gibt die Sorge um die Seele des Menschen sicherlich schon so lange, wie es Menschen gibt. 2.  Unheilssituationen im Alten Testament

In Gen 4,1–24 erschlägt Kain seinen Bruder Abel. Gott greift ein, verflucht ihn und verbannt ihn vom Ackerboden (Vers 11). Kain erkennt seine Lage: „Zu groß ist meine Strafe (Schuld?, Anm. d. Verf.), als dass

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Einleitung

ich sie tragen könnte. Siehe du treibst mich heute vom Ackerboden weg, und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen. Ich muss mich verbergen. Ich muss unstet und flüchtig auf Erden sein, und jeder, der mich findet, wird mich töten.“ (Vers 13f). Gott rechtfertigt den Mörder nicht, sondern hört ihm zu, unterbricht die Spirale der Gewalt und spricht das Gesetz gegen den Mord aus – womit ein kultureller Entwicklungsstart der Menschheit beginnt. In Gen 6,1–7 wird eine Katastrophe beschrieben. Mensch und Tier sollen vom Erdboden vertilgt werden (Vers 7). In Vers 8 heißt es aber: „Noah hatte in den Augen Jahwes Gnade gefunden.“ Er wird von Gott gesegnet und mit ihm und seiner Familie beginnt ein neuer Start, ein Bündnis zwischen Gott und den Menschen (vgl. Guballa 2004). 3.  Neutestamentliche Beispiele ‚notfallseelsorglicher‘ Tätigkeit

Der ‚Barmherzige Samariter‘ (Lk 10,25–37) steht an erster Stelle für die Veranschaulichung der notfallseelsorglichen Tätigkeit. „Ein Samariter aber, der des Weges zog, kam in die Nähe, sah ihn und wurde von Mitleid bewegt. Er trat hinzu, verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf. Dann setzte er ihn auf sein Lasttier, brachte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn.“ (Vers 33–35). Dieses Beispiel für Hilfe an einem Menschen, der überfallen worden ist, zeigt uns sehr schön den Weg der Handlung in der Notfallseelsorge auf. Der helfende Samariter a) hält an, b) schaut hin, c) lässt sich berühren von der Situation, d) hört zu, was gebraucht wird und e) veranlasst das ‚Not-wendigste‘. Er ist zugleich jemand, der nicht dem religiösen Establishment angehört, sondern ein Fremder, der zu einem Fremden geht. – Weil Gott uns liebt. Dieses Gleichnis endet so mit der Aufforderung Jesu an die damaligen Zuhörer, aber auch an uns Christen heute „Geh hin, und tu desgleichen.“ (Vers 37) Die Heilungsgeschichten Jesu dienen als Ermutigung für uns, ebenfalls für die von Notfällen betroffenen Menschen tätig zu werden und ‚heil-sam‘ zu wirken. Diese Geschichten von Jesu Tätigkeit haben schließlich einen konkreten Hintergrund. Sie sollen uns und damit auch den Betroffenen aufzeigen, dass Leiden nach Gottes Willen nicht sein soll. Die Beispiele helfen uns auch, eine mögliche Antwort auf die immer wieder gestellte Theodizee-Frage zu finden: Warum kann Gott das zulassen? Hervorzuheben ist schließlich auch das Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31–36). Die dort erwähnten ‚Werke der Barmherzigkeit‘: Hungernde zu speisen, Durstigen zu trinken zu geben, Nackte zu kleiden,

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Notfallseelsorge: Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft

Fremde aufzunehmen, Gefangene und Kranke zu besuchen, werden in Tob1,16f durch: die Bestattung der Toten und den Besuch der Trauernden (Sir 7, 34) ergänzt. Die ‚geistlichen Werke der Barmherzigkeit‘: zu belehren, raten, trösten, ermutigen, vergeben und Unrecht geduldig zu ertragen, finden sich zusätzlich im Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 2447)(Vgl. Zippert 2006, 33). Im Laufe der letzten Jahrhunderte haben sich Christen immer wieder besonders in der Begleitung von Kranken und Sterbenden engagiert. Neben dem Gebet und Ritualen (z. B. Berührung und Segen) ist auch das Sakrament der Krankensalbung in der Katholischen Kirche zu erwähnen, dass dem Kranken zur Stärkung und zur Linderung der Schmerzen gespendet wird. Bis heute ist das Sakrament der ‚Kranken‘ (nicht der Verstorbenen)Salbung in der Bevölkerung als ‚letzte Ölung‘ im Bewusstsein der Betroffenen, wenn ein Angehöriger plötzlich verstorben ist, und wird immer wieder mit der Tätigkeit der Notfallseelsorge gleichgesetzt. Hier bedarf es der entsprechenden Erklärung und Aufklärung, welches breite und differenzierte Angebot des Beistands Notfallseelsorge auf die jeweilige Situation hin leisten kann (vgl. zu biblischen Wurzeln auch Waterstraat 2006). 4.  Notfallseelsorge seit Ende der 1980er Jahre

Die Notfallseelsorge – wie wir sie heute kennen – ist Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in einer organisierten Form in Deutschland an verschiedenen Orten durch Einzelinitiativen entstanden. Einige dieser Initiativen verstanden ihre Arbeit als ‚grundpastorale Aufgabe der Gemeindeseelsorge‘, wohingegen andere sie klar als ‚Kategorialseelsorge‘ etablieren wollten. Beide Sichtweisen bestehen bis heute. Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten: Notfallseelsorge wird durch Einsatzkräfte des Krankentransportes, Rettungsdienstes, der Feuerwehr oder Polizei über eine Leitstelle angefordert. Im Laufe der Jahre hat sich der Notfalldienst mit seinem Blickwinkel der medizinisch-technischen Versorgung oder Rettung auch dem Angehörigen oder ‚unverletzten‘ Unfallbeteiligten zugewandt, der menschliches Leid und plötzlichen Tod persönlich und direkt erlebt hat. In diesen Situationen wird das Angebot einer ‚Seel-Sorge‘ gemacht, die speziell auf den Ablauf eines Einsatzes ausgerichtet ist, als eigenverantwortliche Tätigkeit von den Einsatzkräften vorgeschlagen und von den Betroffenen oder deren Angehörigen

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Einleitung

gewünscht wird. Notfallseelsorge wird in ökumenischer Verantwortung wahrgenommen und durch Beauftragungen der Bistümer und Landeskirchen an vielen Orten in Deutschland abgesichert. (An einigen Orten heißen Systeme in nicht kirchlicher Trägerschaft beispielsweise ‚Notfallbegleitung‘ oder ‚Krisenintervention‘ und werden von Kommunen oder Hilfsorganisationen getragen.) 5.  Stabilität und Mobilität der Kirchen

Kirche hat in Zeiten großer Mobilität der Menschen neben der Stabilität im Bereich der Gemeinden und Pfarreien, auch auf die Mobilität der Menschen zu reagieren. Wenn Menschen nicht mehr unsere Orte der Verkündigung aufsuchen, müssen wir die Orte aufsuchen, an denen Menschen sich befinden (Heming 2002, 201). In der akuten Krise der Menschen kommt Kirche mit der Notfallseelsorge an den Ort des Geschehens, und zwar ohne lange nach Gründen für die Bitte zu fragen oder Terminen zu suchen, sondern hic et nunc. Getreu dem Namen Gottes ‚Ich-bin-da für dich‘ (vgl. Ex 3,13–15) reichen die Notfallseelsorgenden dem Menschen in seiner Krise, seinem Notfall, die Hand, begleiten ihn eine begrenzte Zeit und schaffen Raum für das ‚Not-wendigste‘. An diesen ‚Schnittstellen‘ lassen die Menschen ahnen, dass im Letzten nicht alles von uns und durch uns zu planen ist, dass wir moderne Menschen nicht alles im Griff haben oder regeln können. „An diesen ‚Schnittstellen‘ menschlicher Lebensläufe sind Beistand und Zuspruch, Orientierung und Deutung, nicht zuletzt Sinngebung gefragt. Das alles wird nicht mehr selbstverständlich vom christlichen Glauben erwartet oder bei den Kirchen gesucht. Dennoch wird gerade in diesen Lebensfragen den Kirchen immer noch und wieder mehr hohe Kompetenz zuerkannt. Dies trifft auch auf Menschen zu, die keine Beziehung mehr zur Kirche haben.“ (Heming 2001, 202f). Es zeigt die Erfahrung der letzten Jahre die Chance, dass diese ‚Schnittstellen‘ möglicherweise auch Ausgangspunkte für den persönlichen Neubeginn mit Gott, mit Glaube und mit Kirche sind oder ein Grund, nicht aus der Kirche auszutreten. 6.  Fünf Prinzipien der Notfallseelsorge

Damit Notfallseelsorge auch wirklich nach den Anforderungen in einem modernen System des ‚Notfallmanagements‘ funktionieren kann, sind fünf Prinzipien der NFS im Rahmen der Pastoraltheologie eine wichtige Orientierung (vgl. Zippert 2006, 68ff).

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Notfallseelsorge: Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft

Notfallseelsorge muss jeweils in kirchlichen Strukturen und in den Strukturen der Feuerwehr und des Rettungsdienstes eingebunden sein. Nur dann, wenn beide an einem Tisch sitzen, abfragen was der Wunsch der einen Seite und die Möglichkeit der anderen Seite ist, kann vor Ort, i. e. in einer Stadt, einer Region, ein realistisches Angebot und eine erfolgreiche Notfallseelsorge gelingen. Auch die Kooperation mit anderen Diensten (Caritas, Diakonie, Sozialer Dienst der Kommune, …) ist zwingend erforderlich. Es darf nicht nebeneinander gearbeitet werden, sondern alle Beteiligten müssen miteinander an einem Strang ziehen und für den Menschen da sein. 6.1 Das Prinzip der Kooperation 

Seelsorgende können nicht immer erreichbar sein. Trotzdem heißt es zu überlegen, wie es möglich sein kann, dass an einem Ort, in einer Region, immer ein Seelsorgender zu erreichen ist. Hier ist ein Kreis gefordert zu überlegen, wie Erreichbarkeiten organisiert und gewährleistet werden.

6.2  Kollegialität und Regionalität zur Sicherstellung der Erreichbarkeit 

6.3 Das Prinzip der Gemeindebezogenheit und Ökumene  Notfallseelsorge soll Gemeindeseelsorge nicht ersetzen, sondern von ihr ausgehen und wieder in sie münden. Je nach Alarmierungsweg in einem NFS-System wird als Erstes versucht, den Gemeindeseelsorgenden zu erreichen. Sollte diese  /  / r nicht anzutreffen sein, macht sich der Notfallseelsorgende auf den Weg. Nach dem akuten Einsatz ist immer die schnellstmögliche Rückmeldung an den Gemeindeseelsorgenden angesagt. Sie ist auch deshalb wichtig, weil eine weitere Begleitung der Betroffenen, z. B. durch Trauergruppen u. a. erforderlich sein kann. Die Zusammenarbeit geschieht in ökumenischer Offenheit und beinhaltet, dass erst einmal die Kontaktkette nach dem Rettungsdiensteinsatz nicht unterbrochen wird. Sollte dann z. B. die Vertreterin  /  der Vertreter einer bestimmten Konfession gefordert sein, so wird dem Wunsch des betroffenen Menschen gerne nachgegangen.

Seelsorge in Notfällen ist eigentlich Teil des ‚normalen‘ Seelsorgeauftrages der Kirchen. Es ist allerdings nicht jedem Menschen gegeben, sich von jetzt auf gleich in außergewöhnliche Situationen zu begeben und das noch zu jeder Tages- und Nachtzeit. Um trotzdem an möglichst vielen Orten die Dienste anzubieten ist es nötig, unterschiedliche Fähigkeiten zu erkennen und evtl., in Zeiten von Rufbereitschaften, sich gegenseitig zu unterstützen. Wer sich 6.4 Das Prinzip der Freiwilligkeit 

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Einleitung

mit einer konkreten seelsorgerlichen Aufgabe überfordert fühlt, soll wissen, wen er um Hilfe bitten kann. Die Teilnahme sollte unbedingt freiwillig sein, denn Aufgaben, die von ‚oben‘ verordnet werden zeigen eine andere Qualität als eine, von der ich überzeugt bin und die ich gerne vollziehe. Notfallseelsorge erfordert bei Mitarbeit in einem bestimmten System immer eine Aus- und Fortbildung. Wie in anderen Bereichen (z. B. Krankenhaus-  /  Telefonseelsorge) zeigt es sich als sehr hilfreich, auf bestimmte Situationen vorbereitet zu werden oder Hintergründe eines Einsatzgeschehens bei Feuerwehr und Rettungsdienst und Polizei zu kennen. Dies dient einerseits dazu, mich gelassener in eine Situation zu begeben, der ich mich gewachsen fühle, andererseits dient es auch der Qualität meines Seelsorgeangebotes. Im Einsatz erscheinen die Notfallseelsorgenden nicht als ‚unbeholfene‘ Fremdkörper, sondern als geschätzte Fachkraft mit speziellen Fähigkeiten.

6.5 Das Prinzip der Professionalität 

7. Indikationen für einen Einsatz

Neben den Prinzipien der NFS benötigen Alarmierungssysteme auch einen Indikationskatalog für den Einsatz der Notfallseelsorge. Unklare Definitionen des Tätigkeitsfeldes und des dahinter stehenden Angebotes zeigten bei den ersten Initiativen die Problematik auf, dass Rettungskräfte sich nicht sicher waren, ob sie für diese Situation die seelsorgliche Unterstützung anfordern können. Die Seelsorgenden wiederum fühlten sich durch fehlende Aus- und Fortbildung nicht immer kompetent für den angefragten außergewöhnlichen Einsatz. Eine der klassischen und häufigsten Anfragen wird im Zusammenhang mit der ‚natürlichen Todesursache im häuslichen Bereich‘ gestellt. In dieser Situation des plötzlichen Todes erfahren Angehörige, dass die Rettungsdienstkräfte sie nicht allein mit den Verstorbenen zurücklassen, sondern dass jemand kommt, ihnen ‚bei-steht‘ und sich Zeit nimmt für die Bedürfnisse der Menschen. „Durch die Notfallseelsorge ist die Kirche diakonisch präsent als Trost für Trauernde.“ (Müller-Cyran 2009, 238). Sie bezieht sich in diesen Momenten auf die Erkenntnisse der Psychotraumatologie, wobei die seelsorgliche Identität nach außen überall dort sichtbar wird, wo die Seelsorgenden im Notfall Menschen begegnen, die christlich-religiöse Bedürfnisse äußern. Falls die Anwesenden es wünschen, wird gemeinsam gebetet und der Segen gespendet. Die Orientierung an den Bedürf-

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Notfallseelsorge: Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft

nissen der Menschen zeigt aber auch bei denjenigen, die eher selten oder gar nicht christlich-religiös orientiert sind, dass dort eine spezifische seelsorgliche Identität nicht immer direkt sichtbar ist. In der Veröffentlichung der deutschen Bischöfe zur Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht unter dem Titel ‚Tote begraben und Trauernde trösten‘ (2005) steht unter dem Kapitel ‚Pastorales Verhalten bei plötzlichen Todesfällen‘: „An der Schnittstelle von Leben und oft ‚unzeitigem‘ Tod drängen häufig die Fragen von Sinn, Schuld und Vergebung an die Oberfläche, droht der Verlust an Lebenskraft und Glaubenszuversicht, stehen die Würde des Menschen und zuweilen auch das Selbstverständnis der Seelsorger auf dem Prüfstand und muss sich in der Auferstehungshoffnung bewähren.“ (41) Die deutschen Bischöfe weisen in diesem Zusammenhang auf ein differenziertes pastorales Handeln hin. Die Situation und psychische Verfassung erfordert ein flexibles pastorales Handeln. Das Angebot der Notfallseelsorge ist aus ihrer Sicht ein fachkundiger, achtsamer und bewährter Beistand. Aufgabe ist in diesen Momenten primär: Menschen zu stabilisieren, zu beruhigen; das Chaos durch Informationen zu strukturieren; den Bezug zur Realität und deren Wahrnehmung möglich zu machen (vgl. Kast 1982, Trauerphase 1: Realisierung des Todes); Worte für das Erlebte zu finden und der Emotionalität Raum zu geben (vgl. ebd., Trauerphase 2: Aufbrechen der Gefühle); Abschied zu nehmen und wenn gewünscht, da zu sein mit Gebet und Segen. Dabei heißt es, das soziale Umfeld mit ein zu beziehen und bei Bedarf auf weiterführende Einrichtungen (auf kirchlicher und kommunaler Ebene) hinzuweisen (vgl. Die deutschen Bischöfe 2005, 41f). Zu einem Einsatz ‚ungeklärter Todesursache im häuslichen Bereich‘ gehören alle Situationen, in denen der Arzt vor Ort die Todesursache nicht direkt feststellen kann, der Suizid und auch der Verdacht auf einen ‚Plötzlichen Säuglingstod‘. In diesen Momenten des Verlustes kommt neben den Kräften des Rettungsdienstes zusätzlich die Polizei mit ihrem Ermittlungsdienst ins Haus, um herauszufinden, woran der oder die Tote verstorben ist. Während dieser Rechtsakt abläuft, haben die Angehörigen keine Möglichkeit, in das Zimmer zu gehen und Abschied zu nehmen. Zusätzlich stehen sie unter potentiellem Verdacht, für die Tat verantwortlich zu sein. In dieser ‚spannungsgeladenen‘ Situation ist den Seelsorgenden eine zweifache Aufgabe gestellt: a) zu helfen, den Verlust zu realisieren und b) zu erläutern, was gerade zu welchem Zweck ermittelt wird. An dieser

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Einleitung

Stelle ist deutlich erkennbar, dass die Tätigkeit in der Notfallseelsorge unbedingt entsprechender Kenntnisse einer solchen Einsatzlage bedarf, um qualifiziert den Dienst zu tun. Auch bei der Einsatzindikation: Verdacht auf den ‚Plötzlichen Säuglingstod‘ ist die Ermittlung durch Polizei und Staatsanwaltschaft in den meisten Städten grundsätzlich vorgesehen. Eltern können sich oft nicht von ihrem Säugling vor Ort verabschieden und müssen bis nach einer Obduktion und Freigabe durch den Staatsanwalt warten. Diese seelsorgliche Herausforderung ist in der Regel nicht nach 2–4 Stunden beendet, sondern beinhaltet weitere Kontakte und Weitervermittlung, beispielsweise an die ‚Gemeinsame Elterninitiative Plötzlicher Säuglingstod‘ (GEPS). Die Organisation ist ein Zusammenschluss von betroffenen Eltern, die sich um die Erforschung der Ursachen und die Begleitung von Eltern engagieren. Sie haben enge Kontakte zu Seelsorgenden und sind eine wertvolle Unterstützung in der Notfallseelsorge. Im außerhäuslichen Bereich sind es häufig Einsätze im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, in denen es um die Betreuung von Menschen geht, die keine medizinisch-technische Hilfe benötigen, aber beispielsweise mit in einem Fahrzeug gesessen haben oder Augenzeugen eines schweren Unfalls waren. Eindrücke, die Betroffene oft schildern, sprechen davon, dass alles wie in einem Traum oder Film erlebt wurde. Sie stehen nicht selten ‚neben sich‘ und brauchen jemanden, der ihnen zur Seite steht und zuhört, was jetzt gebraucht wird. Der Bei-Stand gilt in dieser Situation allen Beteiligten des Unfalls, sowohl den Opfern, als auch den Verursachern. Die Frage der Schuld lastet schwer auf den Schultern der Menschen, und auch sie haben, wie Opfer und Augenzeugen, es nötig, unterstützt zu werden. Notfallseelsorge hat nicht die Aufgabe der Verurteilung, sondern den Menschen in Not im Blick zu haben, unabhängig von Religion, Geschlecht oder Herkunft. Menschen, die beispielsweise durch einen Wohnhausbrand oder eine Explosion ihr Hab und Gut verloren haben, werden sicherlich vorläufig durch das Ordnungsamt eine Unterkunft erhalten. Aber wer begleitet diese Menschen, die all ihre Dinge verloren haben, die ihnen persönlich etwas bedeutet haben und die sich nicht materiell ersetzen lassen? Wir Christen haben die Möglichkeit, die in Mt 25,31–46 beschriebene Szene des Jüngsten Gerichtes auf diese Einsatzindikation zu übertragen und als einen Auftrag zum Handeln zu sehen. Schließlich gehört die Überbringung einer Todesnachricht in Zusammenarbeit mit der Polizei in den Indikationskatalog. Es ist originäre

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Notfallseelsorge: Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft

Aufgabe der Polizei, eine Todesnachricht zu überbringen. Zur Unterstützung des anschließenden persönlichen Gespräches kann die Aufgabe an einen Seelsorgenden übertragen werden. Hintergrund ist, dass derjenige, der eine negative Nachricht überbracht hat, in der Regel aufgrund der situativen Dynamik ohne persönlichen Anteil anschließend nicht die Ebene des persönlichen Kontaktes treffen kann und spontan eher abgelehnt wird, obwohl ein Gespräch, ein Beistand, Abschiednahme oder Weitervermittlung unbedingt nötig wären. Theologisch ist für die Notfallseelsorge damit ein Aspekt im Raum, der in der Eucharistiefeier mit der Akklamation verbunden ist, die der Diakon oder Priester spricht: ‚Geheimnis des Glaubens‘, worauf die Gemeinde antwortet: ‚Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir ...‘ Wer um den Prozess der Trauer Hinterbliebener weiß, der kann sich vorstellen, was es heißt, wenn der Tod nicht verkündet wurde, nicht realisiert wurde, dass ein Angehöriger ‚end-gültig‘ nicht mehr – deutlicher gesagt: nie wieder – nach Hause kommt. Sie stellt eine unverzichtbare, dialektische Komponente des Preisens von Auferstehung dar. Nur dort, wo Tod verkündet wurde, kann das spätere Preisen der Auferstehung erfolgen. Übergeht man den Schritt der Verkündigung des Todes, bleibt das Preisen der Auferstehung psychisch wie liturgisch in der Luft hängen, weil seine Voraussetzung fehlt. Seelsorge im Notfall des Todes bringt seine Verkündigung zur konkreten Darstellung (vgl. Müller-Cyran 2009, 241f). Katastrophen oder Großschadensereignisse in Ramstein, Eschede, Winnenden oder Duisburg haben über die oben genannten Beispiele hinaus noch einmal eine besondere Stellung. Sie zeigen während und nach dem Geschehen die besondere Bedeutung der Notfallseelsorge in der gesamten Geschehensbearbeitung auf. Ohne die Unterstützung der Einsatzkräfte von Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei durch die NFS würde sicherlich ein nicht unerheblicher Teil der Versorgung der betroffenen Menschen fehlen. Das gilt auch umgekehrt. Der Einsatz im Großschadensereignis bedarf einer zusätzlichen Vorbereitung (Aus- und Fortbildung) und ist auch für die Seelsorgenden nicht ohne erhöhtes Risiko einer eigenen Betroffenheit. Ebenfalls ist die Dauer der Begleitung eines solchen Trauerprozesses zu beachten, der durchaus über die akute Phase hinaus organisiert und evtl. durchgeführt werden muss.

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Einleitung

8. Essentials

Die Konferenz der Evangelischen Notfallseelsorge verabschiedete am 12. September 2007 die Hamburger Thesen als Aktualisierung der über die ersten Jahre geltenden Kasseler Thesen von 1997. Das Selbstverständnis wird neu beschrieben und die NFS als ein Grundbestandteil des Seelsorgeauftrages der Kirchen bezeichnet mit ökumenischer Ausrichtung. Handlungsraum und Anlässe werden aufgeführt sowie besondere Arbeitsfelder beschrieben. Hier finden die Großschadenslagen  /  Katastrophen Erwähnung, ebenso wie der Hinweis auf die seelsorgliche Begleitung von Einsatzkräften, die als eigenes seelsorgliches Angebot der Kirchen mit zusätzlicher Qualifikation, Ressourcen und Beauftragungen geschaffen werden soll. In den Anfangsjahren wurden diese Bereiche nicht differenziert, so dass Notfallseelsorgende leicht mit dem Wunsch der Begleitung einer traumatisierten Einsatzkraft überfordert sein konnten. Auch die Rahmenbedingungen zeigen in diesem Papier auf, welche Anbindung an Einsatzstrukturen zu erfolgen hat und wie die Beauftragungen auf unterschiedlichen kirchlichen Ebenen durchgeführt werden sollen. Auf Bundesebene ist für entstandene ‚Konferenz der Landeskirchlich Beauftragten für die Notfallseelsorge‘ erwähnt, die analog zur ‚Konferenz der Diözesanbeauftragten der (Erz-)Bistümer‘ besteht. Neu ist weiter, dass neben hauptamtlichen Seelsorgenden auch Ehrenamtliche ‚Mitarbeitende in der Notfall- und Feuerwehrseelsorge’ werden können. Ferner soll ein enger Austausch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen durchgeführt werden (vgl. Die Akademie Bruderhilfe et al. 2009, 25f). Zwei Jahre später erschien das ‚Proprium Notfallseelsorge‘ als Ergebnis zweier Studientagungen der Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge in den deutschen (Erz-)Bistümern. Theologische Begründung und Darstellung des pastoralen Arbeitsfeldes und Orientierung der Mitarbeitenden stehen im Vordergrund. Dadurch soll außerhalb des katholischkirchlichen Rahmens das Selbstverständnis der NFS für Kooperationspartner im Bereich der psychosozialen Unterstützungssysteme erkennbar und verlässlich gemacht werden (vgl. Die Akademie Bruderhilfe et al. 2009, 21). Auch in diesem Papier wird auf die Beauftragungen hingewiesen, die konfessionelle Zusammenarbeit als bewährt hervorgehoben und die Vernetzung mit den Strukturen der Gefahrenabwehr im Kontext der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) angeregt. Ebenso ist die Rolle der

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NFS bei Großschadenslagen  /  Katastrophen beschrieben sowie die Differenzierung der Betreuung von Betroffenen im Vergleich zur Begleitung von Einsatzkräften, die als (kategoriale) Fachseelsorge gesehen wird. 9.  Neue Herausforderungen

In der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich um die Jahrtausendwende das Erfordernis des strukturellen Ausbaus und die wissenschaftliche Unterfütterung des Arbeitsfeldes. Standardisierung, Strukturierung und Qualitätssicherung stehen dabei im Vordergrund. „Ein Team um Prof. Dr. Irmtraud Berlage (FH Magdeburg-Stendal) arbeitete an der ‚Entwicklung von Standards, Empfehlungen und Umsetzungsplänen für ein Netzwerk zur bundesweiten Strukturierung und Organisation psychosozialer Notfallversorgung‘ sowie zu ‚Organisationsprofilen, Gesundheit und Engagement im Einsatzwesen‘, während Prof. Dr. Willi Butollo (Ludwig-Maximilians-Universität München) mit seinen Mitarbeitern zur ‚Primären und sekundären Prävention im Einsatzwesen‘ geforscht hat.“ (Blank-Gorki 2011, 22). In einem Konsensus-Prozess von 2007 bis 2010 wurden gemeinsame Leitlinien und Standards für die PSNV geschaffen. Sechs Themenfelder standen dabei im Blickfeld der Bearbeitung: 1) Informationsmanagement, 2) Psychosoziales Krisenmanagement und strukturelle Regelungen, 3) Einbindung der PSNV in den Einsatzalltag, 4) Zuständigkeiten, Schnittstellen und Vernetzung, 5) Aus- und Fortbildung, 6) PSNV auf der Ebene der Bundesländer. Die Ergebnisse sind von Personen verschiedener Organisationen und Institutionen unterzeichnet worden, die damit die freiwillige Selbstverpflichtung zur Einhaltung und Umsetzung der Leitlinien und Empfehlungen zusicherten. Die Konferenz der Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge in den (Erz-)Bistümern sowie die Konferenz der Landeskirchlich Beauftragten für die Notfallseelsorge gehören neben den Hilfsorganisationen, der AG der Leiter der Berufsfeuerwehren, dem Deutschen Feuerwehrverband, der Bundesärztekammer, der Bundespsychotherapeutenkammer u.  a. dazu (Blank-Gorki 2011, 23). 10.  Notfallseelsorge heute

Im Bundesland NRW gibt es beispielsweise eine einheitliche Ausbildungsvereinbarung, die die ökumenische Konferenz der Bistums- und Landeskirchlichen Beauftragten für die NFS gemeinsam erarbeitet ha-

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ben und die regelmäßig auf Aktualität und wissenschaftliche Weiterentwicklung hin überarbeitet wird. Damit wird versucht, die o. g. Standards zu erfüllen und zur Qualitätssicherung beizutragen. Mit der wissenschaftlichen Fortbildung an der Ruhr-Universität Bochum wird seit dem Wintersemester 2003  /  2004 eine Veranstaltung (zuerst nur für Notfallseelsorgende, später für Fachberater Seelsorge der Feuerwehr und Mitglieder von Teams der psychosozialen Unterstützung erweitert) durchgeführt, die sich ebenfalls zum Ziel gesetzt hat, eine wissenschaftliche Unterfütterung, aber auch eine Anregung zur Forschung in verschiedenen Bereichen zu geben. Die Themen für die Vorträge werden aus der Gruppe der Praktizierenden und dem Vorbereitungsteam (Vertretern der Universität Bochum und der ökumenischen Konferenz NRW) vorgeschlagen. Das Team versucht die kompetenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Fakultäten der Universität für den Vortrag über das gewünschte Thema zu gewinnen und stellt so ein Programm von Tagesveranstaltungen mit jeweils zwei Themenblöcken zusammen. Das Besondere ist neben dem wissenschaftlichen Input die anschließende Diskussion  /  das Gespräch, in dem beide Seiten sich gegenseitig über die jeweiligen Themen und Tätigkeiten informieren  /  aus- und fortbilden lassen. Aufgrund der Nachfrage von Einsatzkräften zur Unterstützung der Betreuung von Muslimen in Notfällen hat die Christlich-Islamische Gesellschaft 2008 eine Fachtagung in Köln durchgeführt zum Thema: Notfallseelsorge für und mit Muslimen. Daraus entwickelte sich ein Ausbildungsmodell (orientiert an der Vereinbarung der Bistümer und Landeskirchen in NRW), nach dem seit 2009 Musliminnen und Muslime zu ehrenamtlichen Notfallbegleitenden ausgebildet werden. (Der Begriff ‚Notfallbegleitung‘ wird in diesem Zusammenhang bewusst gewählt, weil der Begriff ‚Notfallseelsorge‘ an das christliche Verständnis der Seelsorge gebunden ist, vgl. Lemmen  /  Yardim  /  Müller-Lange 2011, 7). Die Resonanz auf die Möglichkeit zur Ausbildung ist so groß, dass bereits zwei Jahre später ca. 100 Frauen und Männer den Kurs belegt haben. Sie werden über die örtlichen Notfallseelsorgesysteme und deren Leitstellen  /  Einsatzzentralen nach entsprechend festgelegter Indikation eingesetzt. Die wissenschaftliche Fortbildung an der Bochumer Universität steht auch dieser Personengruppe zur Aus- und Fortbildung zur Verfügung und bietet sowohl Teilnehmenden als auch Referierenden ein Podium für interreligiösen Dialog und Zusammenarbeit.

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11. Perspektiven

Bei der Notfallseelsorge handelt es sich um einen schwerpunktmäßig ‚diakonischen‘ und im Akt des ‚Hingehens‘ und ‚Daseins‘ missionarischen Dienst (vgl. Dittscheidt 2009, 278). In den Wandlungsprozessen unserer Kirchen ist dieser Dienst von steigender Bedeutung in unserer Gesellschaft. Die Fragen nach dem Grundauftrag der Kirche sind gestellt und es soll dort ‚wo Seelsorge draufsteht, auch Seelsorge geleistet werden‘. Wir stellen allerdings fest, dass in Zukunft durch Zusammenlegungen von Gemeinden und Diensten immer weniger hauptamtlich Seelsorgende in der Lage sind, diese Unterstützung zu leisten. Hier heißt es heraus zu finden, welche Kompetenz (G. Dittscheidt schreibt: spezifische Charismen) von Ehrenamtlichen bei kirchlich engagierten und eingebundenen psychosozial ausgebildeten Menschen es gibt, die an dieser Stelle eingesetzt werden können. Aber Vorsicht, wenn es darum geht das Schwergewicht zu verlagern. Ehrenamt braucht hauptamtliche Begleitung. Wenn wir in den letzten Jahren an den Standards gearbeitet haben und unsere Qualifikation heute anerkannt und geschätzt wird, dann muss das auch perspektivisch unsere Auswahl und unser Handeln bestimmen. Gerhard Dittscheidt spricht von der ‚Aktie‘ Notfallseelsorge und äußert in diesem Zusammenhang eine ‚Gewinnwarnung‘ – und meint damit: Es handelt sich um einen tief greifenden Verlust, wenn wir als Kirchen uns möglicherweise aus diesem Aufgabenfeld des Beistandes von Menschen in Not verabschieden. Für die Wissenschaftliche Fortbildung an der Bochumer Universität wünsche ich mir deshalb, dass aus der Veranstaltung vielleicht einmal ein Lehrstuhl erwächst, der diese Bedürfnisse der Menschen nach Begleitung und Unterstützung in Notfällen und Krisen aus verschiedenen Fakultäten aufgreift und sowohl junge als auch berufserfahrene Menschen qualifiziert. Abschließend möchte ich nach der ‚Gewinnwarnung‘ auf den ‚Gewinn‘ des Engagements in der Notfallseelsorge hinweisen. Ein Pfarrer beschrieb ihn auf einer Veranstaltung: Mein Einsatz der Begleitung einer jungen Familie, deren Vater plötzlich verstorben ist, hält mir in diesen schwierigen Zeiten vor Augen, warum ich Priester geworden bin – nicht aber die Bearbeitung von Formularen und die Vorbereitung der nächsten Kirchenvorstandssitzung. Kirche braucht beides: Stabilität und Mobilität. Wie heißt es noch im Evangelium (Lk 10,25–37)? „… Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, mit all deiner Kraft und

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deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten sollst du lieben, wie dich selbst. ...Was meinst du: Wer von diesen dreien hat den Mann, der von den Räubern überfallen wurde, wie seinen Nächsten behandelt? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig war und ihm geholfen hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh hin und handle genauso.“ Ulrich Slatosch Literatur Die Akademie Bruderhilfe-Pax-Familienfürsorge/Konferenz Evangelische Notfallseelsorge in der EKD/Zusammenkunft der Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge (Hrsg.),

Notfallseelsorge. Von der Initiative zur Institution, Unna 2009. Verena Blank-Gorki, Psychosoziale Notfallversorgung, in: Rettungsdienst 34 (2011), 22–25. Gerhard Dittscheidt, Ist eine „Gewinnwarnung“ für die Notfallseelsorge abwendbar? Ein Plädoyer gegen pragmatische Resignation in der Seelsorge, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück 9 (2009), 278–284. Werner Guballa, Das Angebot kirchlicher Begleitung für Menschen in unheilen Situationen. Vortrag auf dem 7. Bundeskongress Notfallseelsorge und Krisenintervention in Frankfurt 2004. Online verfügbar unter http://www.notfallseelsorge-wetterau.de/fileadmin/user_upload/Guballa_2004_05_14.pdf; verifiziert am 25.03. 2011. Heinrich Heming, Neue Seelsorge – Inhalte und Schwerpunkte, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück 7 (2002), 200–208. Jochen M.Heinecke, Klagen statt bewältigen. Aufgaben von Notfallseelsorge gegen den Trend der Welt. Vortrag auf dem Bundeskongress für Notfallseelsorge und Krisenintervention, Halle/S. am 20.Mai 2005. Online verfügbar unter http:// www.fachverband-nkm.de/img/050520_Klage.pdf; verifiziert am 25.03. 2011. Jochen M.Heinecke, Notfallseelsorge – ständige Vergewisserung der Barmherzigkeit Gottes, in: Doris Hiller/Christine Kress (Hrsg.), Dass Gott eine große Barmherzigkeit habe, Leipzig 2001, 211–222. Verena Kast, Trauern: Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, Freiburg 1982. Marion Krüsmann/Andreas Müller-Cyran, Trauma und frühe Interventionen. Möglichkeiten und Grenzen von Kriseninterventionen und Notfallpsychologie, Stuttgart 2005. Thomas Lemmen/Nigar Yardim/Joachim Müller-Lange (Hrsg.), Notfallbegleitung für Muslime und mit Muslimen. Ein Kursbuch zur Ausbildung Ehrenamtlicher, Gütersloh 2011. Andreas Müller-Cyran, Spiritual Care angesichts des plötzlichen Todes, in: Eckhard Frick/Traugott Roser (Hrsg.), Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen, Stuttgart 2009, 237–243.

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Joachim Müller-Lange (Hrsg.), Handbuch Notfallseelsorge, Edewecht 2006. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Tote begraben und Trauernde trösten, Die deutschen Bischöfe 81, 2005. Ulrich Slatosch,

Einsatz – Mosaiksteine eines Notfallseelsorgers, in: Günther Nuth (Hrsg.), Blaulicht im Feuer. Was uns bleibt, sind die Bilder! Vechta 2010, 163– 176. Barbara S. Tarnow/Katharina M. Gladisch, Seele in Not. Notfall-Seelsorge als Hilfe in Grenzsituationen, Gütersloh 2007. Frank Waterstraat, Wenn plötzlich alles anders ist: Notfallseelsorge im Einsatz. Ein Leitfaden für die Praxis, Hannover 2008. Thomas Zippert, Notfallseelsorge. Grundlegungen Orientierungen Erfahrungen, Heidelberg 2006.

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02. Theologie Tod im häuslichen Bereich: Verabschiedung, rituelle Hilfen 1.  Tod im häuslichen Bereich

Die Konstellationen, in denen Sterben geschieht und in denen Sterben wahrgenommen wird haben sich verändert. Die Entstehung und Entwicklung des modernen Krankenhauses sowie von Einrichtungen zur Pflege und Betreuung alter Menschen hat dazu geführt, dass lediglich 20–25 % der Sterbefälle in der häuslichen Umgebung geschehen. War in prämodernen Gesellschaften Tod und Trauer ein Ereignis, was in der umgebenden Gruppe der Nachbarn etc. seine soziale Abstützung in der Öffentlichkeit fand, so bleibt es heute eine Angelegenheit der engsten Bezugspersonen. Hinzu kommt, „dass aufgrund der höheren Lebenserwartung, begründet im medizinischen Fortschritt und der Verbesserung der Lebensqualität, der Tod im engeren familiären Umfeld nur noch alle 15 bis 20 Jahre erlebt wird“ (Kirsch 2005, 223). Tradierte Rituale und Verhaltensweisen werden prekär. Sie verstehen sich nicht mehr von selbst; sie sind weitgehend unbekannt. Der häusliche Tod hat seinen Ort in einem Raumkontext, der nicht primär funktional bestimmt ist. Das unterscheidet etwa das Schlaf­ zimmer oder das Wohnzimmer der häuslichen Wohnung von einem Krankenhauszimmer. Im Krankenhauszimmer stehen die Funktion – Ermöglichung umfassender medizinischer Betreuung – und ent­ sprechend die Funktionalität im Vordergrund. Anders ist es mit einem Zimmer der vertrauten Wohnung. 2.  Sterben und Abschied-Nehmen in einem Raum, der biographisch besetzt ist

In der jüngeren Literatur zur Sterbebegleitung wird die bewusste Gestaltung des Sterbezimmers als eine neu ergriffene Aufgabe gesehen und es werden manche Hinweise zur Veränderung der Atmosphäre im Raum gegeben. Nicht die Hilfsmittel zur Versorgung des sterbenden Menschen, sondern vielmehr Kerzen, Blumen und Bilder sollen den

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Eindruck des Zimmers prägen. Diese Hinweise beziehen sich v.a. auf die Situation des Krankenhauses. Bei dem Sterben im häuslichen Bereich gibt es eine andere Kon­ stellation. Der Raum, vielleicht das Schlaf- oder das Wohnzimmer, stellt die vertraute räumliche Umgebung für den sterbenden Menschen dar. Räumlichkeit kann philosophisch als Grundbefindlichkeit menschli­ chen Daseins beschrieben werden. Die Rede ist hier von der Leiblichkeit. Das Leben des Menschen ist nicht nur durch das körperliche Dasein, also die physiologischen Funktionen des Organismus, bestimmt. Das menschliche Dasein ist ebenso mit der Leiblichkeit des Menschen verbunden. Der Leib als dreidimensionaler Raum ist in einem drei­ dimensionalen Raum, z. B. in einem Zimmer. Es gilt also: ‚Der Raum, der ich bin‘, und: ‚Der Raum, in dem ich bin‘. Der Mensch ‚bewohnt‘ seinen Leib und in gleicher Weise auch den ihn umgebenden Raum. Der den Menschen umgebende Raum ist für diesen nicht eigen­ schaftslos und gleichgültig. Die Rede von den vier Wänden, die jeder Mensch braucht, kann verdeutlichen, was der Begriff Raum bezeichnet: Einen abgegrenzten bzw. eingegrenzten, überschaubaren Bereich. Ent­ scheidend ist zunächst, dass durch die Abgrenzung unterschieden werden kann zwischen einem besonderen – ‚unserm Raum‘ – und dem allgemeinen, sich unendlich erstreckenden Raum außerhalb. Damit ist zugleich der Gegensatz zwischen drinnen und draußen angesprochen. ‚Draußen‘ empfindet sich der Mensch unbehaust, erlebt sich verloren in einem unübersehbaren Raum. Im Folgenden geht es allein um den umgrenzten, Raum, um das ‚Drinnen-Sein‘, um ‚unsern Raum‘. Jedes Raumerlebnis ist stets abhängig sowohl von der objektiven Beschaffenheit des Raumes als auch von den Voraussetzungen auf Seiten des Individuums. Raumwahrnehmung ist nie voraussetzungslos. Sie ist mit Bedeutungszuweisungen verbunden, die nur bedingt verall­ gemeinbar sind. Solche Bedeutungen entstehen in dem Subjekt in einem Prozess der Enkulturation, d.h. sie beruhen auf Erfahrungen. Dem erlebten Raum, dem durchlebten Raum werden Bedeutungen zu­ geschrieben, die aus persönlich bedeutsamen Erlebnissen resultieren. Aus dem allen ergibt sich: Der den konkreten Menschen umgebende Raum ist ein ‚gestimmter Raum‘. Der Mensch kann sich in diesem Raum „verloren oder geborgen, in der Einheit mit ihm oder im Gefühl der Fremdheit zu ihm finden“ (Bollnow 2004, 220). Ein Zusammenstimmen von Raumwirkung und von subjektiver Intention lässt ein Gefühl der Sicherheit und des Sich-Wohlfühlens

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entstehen. Dabei ist ein Wiedererkennungseffekt nicht ohne Bedeutung. Raumerleben kann somit auch eine tröstende Wirkung haben: Im Raumerleben, durch die Beziehung zum umgebenden Raum werden Gefühlsqualitäten wachgerufen, die tröstlich empfunden werden (Vgl. Schneider-Harpprecht 1989, 258ff.; Eulenberger 2007, 15ff.). Für einen Menschen in der letzten Lebensphase kann das Sich-Wissen in einem solchen gestimmten Raum Geborgenheitsqualitäten freisetzen. Das Haus, die Wohnung, ein bestimmtes Zimmer darin können als erweiterter Leib betrachtet werden, mit dem wir unmittelbar identifiziert sind. Dieser Raum gehört zu uns, zu unserer Existenz unmittelbar dazu. Der umgebende, „gestimmte Raum“ ist gleichsam ein Stück des Men­ schen. Und das gilt dann umso mehr, wenn dieser Raum nicht mehr selb­ständig und aus eigenem Antrieb verlassen werden kann. 3. 

Sterben  /  Abschied-Nehmen und Körperkontakt

Die Körpererfahrung ist für menschliches Bewusstsein grundlegend (Vgl. Schneider-Harpprecht 1989, 240ff.; Eulenberger 2007, 146ff.) Der Leib des Menschen ist das Medium, durch welches das Individuum in der Welt verankert ist. Körpererfahrung kann das Individuum sich nicht selbst verschaffen. Dazu bedarf es der Impulse von jenseits des eigenen Körpers. Die menschliche Haut ist ein lebenswichtiges Sinnesorgan und es ist zugleich das größte Sinnesorgan. Die Haut ist gleichsam die Brücke zwischen Innen und außen. Die Haut ist ebenfalls das wichtigste Organ des Hörens. Das, was die Haut durchdringt und durch-klingt (per-sonare) berührt uns als Person. Und das geschieht auch da, wo sprachliche Verständigung und intellektuelle Ansprache nicht oder nicht mehr möglich sind. Der Wunsch und insbesondere die Fähigkeit zu fühlen und zu hören sind die Sinne des Menschen, die als letzte erlöschen. Der Tastsinn ist aber auch in der menschlichen Entwicklung der erste Sinn, der sich entwickelt. Zwischenmenschlicher Körperkontakt geschieht meist durch Berüh­ ren mit den Fingerspitzen. Die Hände des Menschen sind, so wie auch die Lippen, der wichtigste Bereich taktiler Sensibilität im menschlichen Körper. Kinder erfuhren und erfahren hoffentlich die Hand der er­ wachse­nen Bezugsperson als beruhigend, beschützend, bergend. Solche Erfahrungen werden bewahrt und sie werden als Leibgedächtnis ge­ speichert. So ist im Menschen das ganze Leben hindurch bei der Empfindung des Berührt-Werdens die Hand immer wieder als schützende und tröstende Hand des Erwachsenen im kind­ lichen

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Leben präsent. Das gilt auch und erst recht in der letzten Lebens­phase. Taktile Reize berühren so tief, weil sie als Orte des Leib­gedächtnisses an ursprüngliche elementare Erfahrungen von Ange­nommen-Sein oder Ablehnung, von Wärme oder Kälte erinnern. Insofern können dem oder der Sterbenden nahestehende Menschen dazu ermutigt werden körperlichen Beistand zu leisten. Die Hand kann gehalten werden, der Arm oder auch der Kopf kann mit der Hand berührt werden. Der Mensch in seiner letzten Lebensphase und ebenso der gestorbene Mensch ist leiblich da; der Körper ist im Raum anwesend. Eine taktile Berührung kann dazu beitragen, die Endgültigkeit des Abschieds all­ mählich zu verinnerlichen und zu akzeptieren. 4.  Texte (Worte) und Musik (Töne) – Hilfen für Sterbende und Beistehende

Klangerleben induziert das Gefühl von Heimat, und zwar vor aller begrifflichen Botschaft. Mit dem Schall, den ein Mensch aus sich heraus lässt hebt er die Grenze zwischen sich und der Umwelt auf. Indem der Mensch einen Laut äußert nimmt er Kontakt zu der Umwelt auf und bewirkt eine Reaktion, etwa das besorgte oder das erleichterte Aufmerksam-Werden und Hinzutreten einer Pflegeperson. Das Ohr liefert dem Menschen Erlebnisse des Einbezogen-Seins; das Auge dagegen vermittelt Distanzwahrnehmungen. Klänge bewegen Menschen und verwandeln die Seele in unterschiedliche Richtung. Klänge wirken erhebend oder bedrückend, sie wirken heilsam oder zerstörerisch. Im emotional positiven Sinne werden Klänge für Menschen unterschiedlich bedeutungsvoll im Sinne der symbolischen Assoziation an frühere Lusterlebnisse wie vertraute Rhythmen (Herzschlag der Mutter) oder Geborgenheitserfahrungen (bestimmte Liedmelodien in konkreten Situationen). Bedeutsam ist hier also die regressive Wirkung des Klangerlebens, auch wenn es scheinbar unbewusst verläuft (Vgl. Schneider-Harpprecht 1989, 264ff.; Eulenberger 2007, 101ff.) Solcher klangbezogenen Interaktion eignen daher besondere Mög­ lichkeiten. Auf diese Weise kann mit Menschen sinnlich vermittelter Kontakt auch dann erreicht werden, wenn die verbalsprachliche Kom­mu­ nikation sie nicht mehr erreicht. Die Fähigkeit zu fühlen und ebenso die Fähigkeit zu hören sind die Sinne des Menschen, die als letzte erlöschen. Die liturgischen Angebote der Kirchen zur Begleitung Sterbender und andere veröffentlichte Handreichungen verweisen zu Recht auf zahlreiche Möglichkeiten der Ingebrauchnahme von Musik (gesungen

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oder abgespielt) oder vorgelesenen Texten. So weist die Lutherische Agende auf die Möglichkeit der fortlaufenden Lesung hin. Als geeig­ nete Texte werden ausgewählte Psalmen, die Passionsgeschichte, die Abschiedsreden im Johannesevangelium und Stücke aus den Pau­ lus­briefen aufgeführt. Der Hinweis auf eine fortlaufende Lesung ist insbesondere auf die Situation der Sterbebegleiter ausgerichtet. „Die geistliche Lesung geschieht auch zum Schutze der Wachenden.“ (Agende III[4] 1994, 114) Die fortlaufende Lesung bindet bzw. kana­lisiert Emo­ tionen. Und der Inhalt der Lesungen schafft eine innere Verbindung zu dem Ergehen des sterbenden bzw. bereits gestorbenen Menschen. Eine Lesung, ein Singen von Liedern oder ein Abspielen von Musik kann durchaus weit über den Moment des Todes hinausreichen. Darin mag für die Beistehenden etwas fühlbar sein von der bleibenden geistigen und geistlichen Verbundenheit mit dem Menschen, der verstorben ist, eine Verbundenheit, die eben nicht mit dem Moment des Todes enden muss. 5.  Sterben und Abschied-Nehmen

– ein Beziehungsgeschehen

Sterben im Familienkreis ist auch in der Vergangenheit sicher nicht immer die Regel gewesen. Aber richtig ist, dass ein sterbender Mensch nach Möglichkeit nicht ohne Begleitung bleiben sollte. Und ebenso richtig ist es, dass die beim Sterben anwesenden Familienmitglieder selbst ihre Gegenwart als hilfreich empfinden können. Für die Anwesenden geht es hier um ein diakonisches, um ein mitmenschliches Handeln. Die Beziehung zwischen zwei Menschen wird mit dem Eintritt des Todes nicht einfach beendet; so etwas ist unmöglich. Wohl aber kann eine solche Beziehung durch die Begleitung in dem Sterbeprozess verändert werden. Trotzdem bleibt die Spontanreaktion angesichts des eingetretenen Todes, das Nicht-Wahrhaben-Können eine nur zu verständliche Reaktion. Und gerade daraufhin, dass das Ereignis des Todes auf der Beziehungsebene nicht den entscheidenden Moment darstellt, gerade auch daraufhin sind die liturgisch geprägten rituellen Formen in ihrer Bedeutung und in ihrer Wirkung zu sehen. 6. Liturgisch geprägte Formen in der Sterbebegleitung

6.1  Beten / Gebete 

In der Situation des Sterbens wird ein geprägtes Gebet einem freien Gebet vorzuziehen sein (Vgl. Friedrichs 2007). Psalmen, aber auch Liedverse können hier als Gebete ihren Ort haben. Die Agende verweist auf die besondere Bedeutung des Vaterunsers: „Es er-

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reicht als letztes verbliebenes Glaubensgut auch ganz vom Glauben Entfremdete. Wir sprechen es langsam oder rufen es [...] Bitte für Bitte ins Ohr.“ (Agende III[4] 1994, 113). 6.2 Die Abendmahlsfeier 

Das Abendmahl ist nach evangelischem Verständnis kein Sterbesakrament; es besiegelt nicht das Sterben. Allgemein verstanden ist das Abendmahl Weghilfe und Stärkung in jeder konkreten Situation des Lebens. In dem neuen evangelischen Pastorale wird dazu ausgeführt: „Kranke oder sterbende Menschen verlangen heute selten von sich aus das Abendmahl. [...] Manche Kranke begrüßen das Abendmahl als Stärkung und Ermutigung. Anderen wird es Anlass, ihren Tod zu bedenken. Es kann die Auseinandersetzung mit Lebenskonflikten provozieren. Und schließlich ist es für manche zu fremd, oder – als Zeichen des nahenden Todes – zu anstrengend. [...] Das Abendmahl ist Zeichen der stärkenden und heilenden Gegenwart Christi. [...] Als Zeichen der Vergebung gibt das Abendmahl den Kranken und ihren Angehörigen Gelegenheit darüber zu sprechen, was das Leben und Sterben belastet. Als Hinweis auf das eschatologische Mahl besiegelt es die Verbundenheit mit Gott und die Verbundenheit der Menschen untereinander. Diese Gemeinschaft kann bedeutsam sein für Menschen, die an einem Krankenbett – vielleicht zum letzten Mal – zusammenkommen.“ (Neues Pastorale 2005, 146) Die Feier des Abendmahls setzt eine ansatzweise Vertrautheit damit voraus. Sie kann nur in Absprache mit den Betroffenen angeboten oder auf deren Wunsch hin praktiziert werden.

Die Salbung von Menschen in Notsituation, insbesondere von Kranken durch Öl ist eine seit apostolischer Zeit bezeugte Praxis in den christlichen Gemeinden. Im Mittelalter wurde sie nur noch als „Salbung in den letzten Augenblicken des Lebens“ verstanden und mit dem Begriff „letzte Ölung“ belegt. Seit dem Vaticanum II wird wieder der ursprüngliche Begriff „Krankensalbung“ für das Sakrament gebraucht. Es wird „jenen gespendet, deren Gesundheitszustand bedrohlich angegriffen ist, indem man sie auf der Stirn und auf den Händen mit ordnungsgemäß geweihtem Olivenöl […] salbt und dabei einmal folgende Worte spricht: Durch dieses heilige Sakrament helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreite rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.“ (Kaczynski 1976, 2922). Das Sakrament kann wiederholt werden.

6.3 Die Krankensalbung 

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Im evangelischen Bereich wird die Salbung von Kranken in enger Verbindung mit der Krankensegnung gesehen. Der Segen kann durch eine Salbung mit Öl ergänzt werden. Nach der Handauflegung und unter den Worten: „N. N., du wirst gesegnet [und gesalbt] im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Er richte dich auf durch die heilende Macht seiner Liebe“ wird dem kranken Menschen mit Öl ein Kreuzzeichen auf Stirn und Hände gezeichnet (Agende III[4], 108). Die ausdrückliche Segnung eines sterbenden Menschen hat im Christentum eine lange Geschichte. Die alten überkommenen und noch immer sprechenden Segensformulare machen deutlich, dass es hier um mehr geht als um Situationsadäquatheit. Es handelt sich um tradiertes Lebenswissen, das seine Evidenz selbst ausdrücklich macht. Die anwesenden Verwandten sind häufig durch eine Fremdheit religiösen Ritualen gegenüber geprägt. Erfahrungen zeigen aber, dass gerade die Anwesenden in ihrer durch Hilflosigkeit gekennzeichneten Situation für die geprägte Form der Segnung aufgeschlossen und dankbar sind. Die Segnung ist eine religiös leibliche Handlung; sie umfasst Wort und Berührung. Das neue evangelische Pastorale bietet dieses Formular: Biblisches Votum – Litanei der Gegenwart Gottes –, dabei Entzünden einer Kerze; Gebetsverse; Psalm; Gebet; Vaterunser; Sterbesegen – wobei je ein Kreuzzeichen auf Stirn und Hände gegeben wird – oder aber der aaronitische Segen mit der Bezeichnung des Kreuzes. (Neues Pastorale 2005, 164ff.) Die Zeichnung des Sterbenden mit dem Kreuzzeichen auf die Stirn bedeutet eine große Geste der Übergabe. Das Ritual der Segnung ist immer kurz und dicht. Jedes Wort zu viel stört hier. Die Segnung kann von jedem getauften Christen vollzogen werden (Vgl. Lammer 2005). 6.4 Die Segnung des sterbenden Menschen 

6.5 Die Aussegnung 

Der Zeitpunkt für das Ritual der Aussegnung kann gegebenenfalls kurz nach dem letzten Atemzug und dem Schließen der Augen sein, insbesondere dann, wenn keine Segnung des Verstorbenen voranging. Die Aussegnung kann aber auch später erfolgen, dann, wenn der Verstorbene aus der Wohnung gebracht werden soll. Die Grundstruktur der Aussegnung kann je nach Situation erweitert werden. Die Grundstruktur wird im neuen evangelischen Pastorale so dargelegt: Friedensgruß und Eröffnung; biblisches Votum; Psalm; evtl. Lied; Lesung eines Textes; evtl. Kurzansprache; Abschiedssegen bzw.

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Sterbesegen: hier kann dem Toten die Hand aufgelegt werden oder er / sie mit dem Kreuzeszeichen versehen werden; Gebet; Vaterunser; Segen über die Anwesenden. „Die gebundene Form der Andacht und die Worte der Tradition sind hilfreich. Sie können dem Unfassbaren Ausdruck geben. […] Das Ritual soll Raum lassen für Reaktionen der Trauernden, für das, was sie noch sagen oder tun möchten, ehe die Tote bzw. der Tote nicht mehr unter ihnen ist.“ (Neues Pastorale 2005, 169) Bei der Form der Aussegnung wird die dreifache Grundstruktur, die jedem Passage-Ritual eignet sehr deutlich. Phase 1: Trennung von der vertrauten Gruppe, Gemeinschaft; Abschied. Phase 2: Phase des Übergangs. Phase 3: Angliederung bzw. Darstellung der veränderten Konstellation bei den Hinterbliebenen. Alle drei Momente können in dem Ritual der Aussegnung wieder­ gefunden werden: Der Weg von der Erfahrung des Daseins mit dem jetzt verstorbenen Menschen hin zu dem Leben ohne die Gegenwart dieses Menschen wird im Ablauf der Aussegnung anschaubar, und darum möglicherweise beschreibbar, darum nachvollziehbar. Franz-Heinrich Beyer Literatur Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (Hrsg.),

Agende für Evangelisch-Lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. III, Teil 4: Dienst an Kranken, Hannover 1994. Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, 10. Aufl. Stuttgart 2004. Klaus Eulenberger/Lutz Friedrichs/Ulrike Wagner-Rau (Hrsg.),

Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum neuen evangelischen Pastorale, Gütersloh 2007. Lutz Friedrichs, Beten, in: Klaus Eulenberger u.a., a.a.O., 185–192. Reiner Kaczynski (Hrsg.),

Enchiridion documentorum instaurationis liturgicae, Bd. 1, 1976; zitiert nach: Reiner Kaczynski, Krankensalbung, I. Katholizismus, in: RGG 4.Aufl., Bd. 4 2001, 1725f. Josef Kirsch, Sterben begleiten, in: Klaus Eulenberger u.a., a.a.O., 222–229. Kerstin Lammer, Segnen, in:

Klaus Eulenberger u.a., a.a.O., 229–236.

Ida Lamp/Karolin Küpper-Popp (Hrsg.),

Abschied nehmen am Totenbett. Hilfen und Rituale für die Praxis, Gütersloh 2006. Liturgische Konferenz (Hrsg.), Neues evangelisches Pastorale. Texte Gebete und kleine liturgische Formen für die Seelsorge, 2. Aufl. Gütersloh 2005. Christoph Schneider-Harpprecht, Trost in der Seelsorge, Stuttgart 1989.

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03. Theologie Notfallseelsorge: Seelsorgerliche und liturgische Begleitung von Betroffenen Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte sich eine ökumenische Initiative zum Aufbau eines deutschlandweiten Netzes von Notfallseelsorgern gebildet. Inzwischen ist Notfallseelsorge als ein Praxisfeld von Seelsorge weitgehend installiert und flächendeckend realisiert. Dabei gibt es in der Praxis eine enge ökumenische Kooperation. Inzwischen ist auch die Frage einer interreligiösen Notfallseelsorge als Herausforderung erkannt und bedacht worden (Müller-Lange 2010). In der Literatur gibt es für das Praxisfeld Notfallseelsorge eigenständige Veröffentlichungen sowohl als Handbuch (Müller-Lange 2006) wie auch in Form von Monographien (Waterstraat 2004; Zippert 2006). Auch in der wissenschaftlichen Literatur, etwa in den Standardwerken zur Seelsorge gehören Ausführungen zur Notfallseelsorge inzwischen selbstverständlich dazu (Ziemer 2008; Roessler 2007; Klessmann 2008; Morgenthaler 2009). 1.  Notfallseelsorge

„Nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters (Lk 10) und als Werk der Barmherzigkeit (Mt 25) immer schon christliche Aufgabe, formierte sich Notfallseelsorge in den 90iger Jahren des 20. Jh. neu als verläßlich organisierter Seeelsorge-Bereitschaftsdienst meist von Pfarrerinnen und Pfarrern […] Sie wendet sich ohne Ansehen der Person an Betroffene und Angehörige.“(Zippert 2003, 397f.) Notfallseelsorge bedeutet für die damit befassten Pfarrerinnen und Pfarrer eine unmittelbare Konfrontation mit Menschen in oder nach existenziellen Extremsituationen. Sie sind dem Leben, der Existenz der Betroffenen in einer Weise nahe, wie es in den sonstigen alltäglichen Amtsverrichtungen kaum oder gar nicht erlebt wird. Notfallseelsorger werden durch Einsatzkräfte von Polizei oder Feuerwehr angefordert. Dahinter steht ein strukturiertes Vorgehen gemäß der Organisationsstruktur; dahinter steht aber auch eine Erwartung, die die Einsatzkräfte an den/die gerufene Notfallseelsorger/in ha-

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ben, wie konkret oder verschwommen diese Erwartung auch sein mag. Eine solche Erwartung kann unterschiedlich motiviert sein: • Etwa arbeitsteilig; aus der Sicht der Einsatzkräfte könnte das bedeuten: Wir sind für die äußere Situation und für das tätige Handeln zuständig, für das Retten und für das Bergen betroffener Menschen. Auf den verunglückten Menschen in seiner seelischen Befindlichkeit (oder auf andere Beteiligte) einzugehen, dazu fehlt die Zeit, aber auch die Befähigung. • Etwa existenziell verunsichert. Der verunglückte Mensch ist nicht ansprechbar. Die routinierte Kommunikationspraxis ist an ihre Grenzen gelangt. Und doch bleibt das Bedürfnis danach, dass dem verunglückten Menschen Beistand und Begleitung zu teil werden möge. • Durch das Bewusstsein der Endlichkeit. Der verunglückte Mensch ist tot. Die Teile, die als Folge des Unfallgeschehens da sind müssen weggeräumt werden. Wie aber verhält man sich dem oder den geborgenen toten Menschen gegenüber? Ritualisierte Verhaltens- oder Ausdrucksweisen, die ein solches anderes Verhalten zum Ausdruck bringen, sichtbar und erfahrbar machen sind nicht vertraut oder können aus Mangel an Zeit nicht praktiziert werden. Aus diesem Spektrum von Motivationen ergeben sich, möglicherweise nie­mals verbal artikulierte Erwartungen, die an die Pfarrerinnen und Pfarrer als Notfallseelsorger gerichtet sind. Hier werden Erwartungen sichtbar, die sich natürlich an die Professionalität des Seelsorgers/der Seelsorgerin richten. Aber es schwingen wohl auch immer Erwartungen mit, die an den Pfarrer/ die Pfarrerin als ‚religiöses Symbol‘ gerichtet sind. 2.  Pfarrer/Pfarrerin – ‚religiöses Symbol‘ – Notfallseelsorger/in

Der Pfarrer/die Pfarrerin existiert im Übergangsfeld zwischen Leben und Tod; er/sie ist hier an dieser Grenze – anders als andere Betroffene  – nicht zum Schweigen verurteilt, sondern zum Reden beauftragt und bevollmächtigt. So hat der evangelische praktische Theologe Manfred Josuttis in einem vor drei Jahrzehnten erschienenen Buch die Besonderheit des Pfarrers/der Pfarrerin beschrieben. Wenigstens der Pfarrer „soll die Sterbenden […] bis an die Grenze des Lebens begleiten. […] Und er soll die Hinterbliebenen mit den kollektiven Symbolen, die die biblische Tradition für die Hoffnung über den Tod hinaus bereitstellt, in ihrem Willen zum Weiterleben bestärken“(Josuttis 1982, 124). Die Voraussetzungen dafür liegen in der Person des Pfarrers selbst, der „ahnt,

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dass er den sterbenden und trauernden Menschen in seiner Umgebung nur zu helfen vermag, wenn er sich mit seiner ganzen Person gegenüber der Macht des Todes bewährt hat, an dessen Grenze er seinen Beruf versieht.“(125) Josuttis kennzeichnet den Pfarrer als Bürgen für die Wahrheit und für die Relevanz von Religion. Faktisch sei er mit seiner Person zu einem „religiösen Symbol“ geworden. 3. Die Situation der Betroffenen und der Umgang mit ihnen

Es legt sich nahe, aus Gründen der Übersichtlichkeit zwischen den Betroffenen, den Opfern eines Unglücksfalles zu differenzieren und zu unterscheiden zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiäropfern. Diese Unterscheidung geschieht aus methodischen Gründen; in der Realität überschneiden sich die jeweiligen Gruppen. 3.1 Primäropfer Hier

sind die Menschen im Blick, die unmittelbar leiblich von einem Unfall oder einer Katastrophe betroffen sind. Bei Verletzten stehen zunächst die Bergung sowie die notfallmedizinische Versorgung im Vordergrund. Die Aufgabe der Notfallseelsorge besteht hier zunächst in der Begleitung der Verletzten während der Rettung und in Wartezeiten. Die Situation des betroffenen Menschen ist bestimmt möglicherweise durch Schmerzen, insbesondere durch Angst angesichts der noch nicht einzuordnenden Verletzungen und deren Konsequenzen, oft auch durch ein Gefühl der Desorientierung (Wo bin ich? Was ist geschehen? Was ist mit mir?). Bereits die personale Präsenz des/der Seelsorgenden kann dem betroffenen Menschen hier ein Stück Vertrauen und Sicherheit vermitteln. Wird der Begleitende durch den Betroffenen als Seelsorger erkannt, in seiner symbolischen Rolle wahrgenommen, so liegt darin die Möglichkeit der Erfahrung, nicht im Stich gelassen zu sein, nicht von den Menschen, auch nicht von Gott. In dieser Situation kann durch den/die Seelsorgende vorsichtig leichter Körperkontakt angeboten werden (Hand halten, Schulter berühren). Schmerzen und Angst können durch Berührung leichter ertragen werden. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass Berührungen zwischen Mann und Frau in islamischer Sicht Würde und Integrität verletzen könnten; im Buddhismus wird das Berühren des Kopfes als Tabu empfunden. Inwieweit auch rituelle Elemente angemessen sind und angeboten werden können, wird der/die Seelsorgende angesichts der konkreten Situation (Schwere der Verletzung und Ansprechbarkeit) des betroffenen Menschen sowie der Konstellation am Unfallort entscheiden.

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Auch bewusstlose Menschen bzw. nicht ansprechbare Verletzte sind Adressaten der Notfallseelsorge. Die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass Menschen auch aufnehmen können, was um sie herum und mit ihnen geschieht, wenn sie nicht ansprechbar scheinen. „Deshalb ist es wichtig, mit Bewusstlosen und für Tote zu beten und sie zu segnen.“ (Morgenthaler, 2009, 345) Der/die Seelsorgende wird für sich zu entscheiden haben, inwieweit er/sie diese rituellen Formen verwenden will, in einer Situation, in der er/sie von dem betroffenen Menschen, insbesondere hinsichtlich seiner religiösen bzw. weltanschaulichen Orientierung nichts weiß. Angesichts eines schwerverletzten oder toten Menschen wird ein Gebet für diesen Menschen immer eine angemessene Geste durch den/die Seelsorgende/n sein. Hinsichtlich der Erteilung des Segens ist eine noch intensivere Abwägung angebracht. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund der Situation, dass in unserer Gesellschaft die von einem Unfall oder einer Katastrophe betroffenen Menschen nicht mehr selbstverständlich Christen, schon gar nicht evangelischer Konfession sind. Es kann sich genauso um Angehörige einer anderen Religion oder auch um nichtreligiöse Menschen handeln. Für die Tätigkeit des/der in der Notfallseelsorge Tätigen ist das ohne Bedeutung. Es ist aber bedeutsam für die Praxis, in der Notfallseelsorge geschieht. Das Verhalten der Notfallseelsorge gegenüber verstorbenen Menschen an einem Unfallort verlangt eigene Überlegungen. Zum einen daran festzuhalten, dass auch der am Unfallort verstorbene Mensch nach theologischem Verständnis „Bild Gottes“ ist, dem gegenüber gleichermaßen würdevolles Verhalten und angemessene Zuwendung entgegengebracht werden. Dabei ist es verständlich, wenn bei den technischen und medizinischen Einsatzkräften dagegen die Versorgung der Verletzten sowie die Sicherung und Räumung der Unfallstelle vorrangig im Blick sind. Die Religionsgeschichte und die Geschichte der christlichen Liturgien machen deutlich, dass Menschen schon immer um die Bedeutung von Zeichen wussten, gerade auch von solchen Zeichen, die durch Körpersprache, durch Gebärden ihren Ausdruck finden. Bei den Gebärden wird zwischen Ausdrucks- und Handlungsgebärden unterschieden. Die Ausdrucksgebärde steht gleichsam für sich; sie bringt eine eigenständige Aussage zum Ausdruck, allein durch eine bestimmte Haltung bzw. Bewegung des Körpers. Eine Handlungsgebärde dagegen ist auf eine bzw. mehrere Personen oder auf Gegenstände hin bezogen (Sequeira

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1990, 30f.). Das Segnen eines Menschen wäre eine solche Handlungsgebärde. Angesichts der oben beschriebenen Situation kommt aber der Ausdrucksgebärde hier eine vielleicht noch wichtigere Bedeutung zu. Eine solche Ausdrucksgebärde kann das Knien mit gefalteten Händen sein. Hierbei handelt es sich um eine allgemeinmenschliche Gebärde, die für sich spricht. Mit dem Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Erinnerungsmal an die Opfer des Aufstands im Warschauer Getto ist die die Symbolkraft dieser Ausdrucksgebärde öffentlich erfahrbar geworden. Eine solche Ausdrucksgebärde, praktiziert in der Nähe zu einem tödlich verunglückten Menschen vermag auch für andere hilfreich zu sein, weil sie etwas zum Ausdruck bringt: • dass die bedrängende Konstellation Erschütterung sowie Betroffenheit auslöst und die normalen Verhaltensmuster und Handlungsabfolgen unterbrechen lässt. • Dass die bedrängende Konstellation zwar sprachlos, aber nicht handlungsunfähig macht. Die Ausdrucksgebärde des Kniens kann von den Anwesenden als stellvertretendes, repräsentatives Handeln wahrgenommen werden, möglicherweise auch als Ermutigung, eine solche Ausdrucksgebärde selbst zu praktizieren. Die Situation der primär oder sekundär Betroffenen zum Zeitpunkt des Geschehens ist bestimmt von Erfahrungen, die für sie im Augenblick unfassbar sind. Solche traumatische Erfahrungen werden zu Wendepunkten in der Biographie. Nichts ist mehr, wie es war. Der bisherige Lebensentwurf zerbricht möglicherweise von einem Augenblick auf den anderen. Durch einen Unfall gerät die haltgebende vertraute Welt förmlich aus den Fugen. Ohne Übergang ist etwas geschehen, was vorher undenkbar schien. Der betroffene Mensch, der durch das traumatische Erlebnis aus seiner normalen Lebenswelt herausgerissen worden ist, er ist jetzt dazu gezwungen, das bisher Undenkbare zu denken. Entsetzen, Sprachlosigkeit können Reaktionen sein auf solche Erlebnisse, die die Erfahrung emotional überfordern. Wenn es gut geht, findet im Verlauf der Krise eine Bewegung statt, die aus dem ÜberwältigtWerden zum aktiven Bewältigen führt. Aber im Augenblick bestimmen Fassungslosigkeit und umfassende Hilflosigkeit das Empfinden. In dieser Konstellation kann der/die Seelsorgende in verschiedener Hinsicht hilfreich sein:

3.2  Traumatisierte, aber ansprechbare Primär- bzw. Sekundäropfer 

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Die Begleitung des Betroffenen weg von dem Ereignisort hin zu einem für ihn sicheren Ort. Das bedeutet eine räumliche Distanz zu dem Unglücksort und zu der mit den Bergungs- und Aufräumungsarbeiten verbundenen Hektik; das bewirkt aber auch eine psychische Distanz des Betroffenen zu dem Bereich der Erinnerung an das Geschehene. Die Ausgestaltung eines sicheren Ortes und die Präsenz des/der Seelsorgenden ermöglichen dem Betroffenen ein Stück Normalität erfahrbar werden zu lassen. Ganz elementare diakonische Handreichungen sind hier sehr wichtig: Das Herrichten eines geschützten Platzes, der Schutz sowohl gegen Witterung als auch vor Zuschauern bietet, ist ganz entscheidend. Das Stützen oder Begleiten der betroffenen Person bei der Ortsveränderung ist hilfreich. Die wahrgenommene persönliche Präsenz des/ der Seelsorgenden, aber auch die Wahrnehmung ihrer symbolischen Rolle können Vertrauen ermöglichen. Für den betroffenen Menschen in seiner traumatisierten Situation wirkt eine wahrnehmbare Strukturierung stabilisierend. „Sagen Sie, dass sie da sind, wer sie sind und was geschieht. Ruhiges und sicheres Auftreten hilft gegen Angst, Verlangsamung tut gut gegen Überregung.“ (Klessmann 2008, 296) Bei sekundär Betroffenen ist deren Aktivierung wichtig, da sie sich häufig unfähig fühlen, die ganz elementaren Verhaltensweisen zu praktizieren. Es geht darum, ihnen Essen und Trinken zu reichen, sie zu ermutigen eigene Schritte zu machen, es ihnen zu ermöglichen, von sich aus Kontakt zu Bekannten oder Bezugspersonen herzustellen. Auch hier ist die Begleitung durch den/die Seelsorgende/n unverzichtbar. Seelsorgende eröffnen sowohl in ihrer personalen Präsenz als auch in ihrer symbolischen Rolle einen Zufluchtsort für die Seele des betroffenen Menschen. Das traumatisierende Geschehen, das Widerfahrene kann oft noch gar nicht artikuliert und schon gar nicht verarbeitet werden. Für den betroffenen Menschen stehen oft Fragen im Vordergrund, auf die es in dieser Situation keine Antwort gibt: Die Frage nach dem Sinn, vielleicht nach eigener Verantwortung und Schuld, für manche auch die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. „Der Seelsorgende wird zum Zuhörenden, der für sichere Grenzen sorgt. Er gibt Raum für das, was ungeordnet und chaotisch sein darf. Der Seelsorger erklärt nichts und deutet nichts, aber er gibt Halt.“ (Roessler 2007, 362)

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Bei den Betroffenen „besteht ein hoher Grad an Heilungsbedürftigkeit, um Angst und Grauen zu bannen. Rituale, in denen eine vertraute und zugleich mächtige Sprache gesprochen wird (liturgische Formen, Gebete, Psalmen) ermöglichen eine Gegenwelt und sichern, vielleicht in magisch aufgeladener Weise, einen überlebensnotwendigen Schutzraum.“ (Roessler 2007, 368). „Gebete und Bibelworte können vor allem dann hilfreich sein, wenn sie auswendig gesprochen werden und selbstverständlich zur Verfügung stehen.“ (Neues Pastorale 2005, 187) Bibelworte und Gebete in geprägter Sprache sind, wenn sie vom Seelsorgenden gesprochen werden, zunächst stets Ausdruck von dessen eigenem Glauben und bedeuten keine Vereinnahmung. Der Gebrauch überlieferter, geprägter Texte und Sprachformen ermöglicht es dem betroffenen Menschen, sich in den Worten aufgehoben zu finden oder sich ihnen gegenüber abzugrenzen. Dort, wo es gewünscht oder das Einverständnis dazu erklärt wird, dort kann der/die Seelsorgende liturgische Elemente praktizieren, etwa eine individuelle Segnung, ein persönlicher geistlicher Zuspruch oder eine biblische Textlesung. Die entsprechenden Praxisbücher stellen hierfür hilfreiche Materialien zur Verfügung (MüllerLange 2006, 394ff.; Neues Pastorale 2005). Franz-Heinrich Beyer Literatur

Manfred Josuttis,

Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie, 1982. Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen 2008, 417ff. Christoph Morgenthaler, Seelsorge (Lehrbuch Praktische Theologie, Bd. 3), Gütersloh 2009, 343ff. Joachim Müller-Lange (Hrsg.), Handbuch Notfallseelsorge, 2. Aufl. Edewecht 2006. Joachim Müller-Lange,

Notfallbegleitung von Muslimen für Muslime. Erfahrungen in der Notfallseelsorge, in: Helmut Weiß (Hrsg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge, Neukirchen 2010, 309ff. Liturgische Konferenz (Hrsg.), Neues evangelisches Pastorale.Texte Gebete und kleine liturgische Formen für die Seelsorge, 2. Aufl. Gütersloh 2005. Ingeborg Roessler, Krise, Trauma und Konflikt als Ausgangspunkte der Seelsorge, in: Wilfried Engemann, Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 2007, 354–376.

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seelsorgliche und liturgische Begleitung von betroffenen

A. Ronald Sequeira,

Gottesdienst als menschliche Ausdruckshandlung, in: Hans Bernhard Meyer u.a. (Hrsg.), Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft Teil 3, 2. Aufl. Regensburg 1990, 7–39. Frank Waterstraat, Einsatz: Notfallseelsorge. Grundlagen, Inhalte, Arbeitsformen, Hannover 2004. Jürgen Ziemer, Seelsorgelehre, 3. Aufl. Göttingen 2008, 337f. Thomas Zippert, Notfallseelsorge, in:

RGG., Bd. 6, 4. Aufl. 2003, 397f.

Thomas Zippert,

Notfallseelsorge. Grundlegungen, Orientierungen, Erfahrungen, Heidelberg 2006.

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04. Theologie Rituale, Zeichen und Gebet im Dienst der Notfallseelsorge 1.  Säulen der Notfallseelsorge: Hilfe, Trost und Zeugnis für Gott

Einem Menschen beizustehen, der in Not geraten ist, gehört nicht nur zu den Kernbereichen der Seelsorge, sondern ist auch ein wesentlicher Grundvollzug des christlichen Glaubens. Dem Tun und der Weisung Jesu folgend haben Christen und insbesondere die Verantwortlichen ihren Platz an der Seite der Notleidenden. Dabei sind die Aufgaben, die die Helfenden wahrnehmen, um diesen Auftrag zu erfüllen, alles andere als schmal bemessen. Denn die verschiedenen Arbeitsfelder umfassen Anforderungen, die theoretisch benennbar sind, im Einzelnen aber nicht verallgemeinert werden können. Bei jedem Einsatz gilt, dass ein Betroffener in seinem Erleben und seinen Bedürfnissen einzigartig ist. Wenn ein Mensch Sicherheiten verliert und seine „Seele mit Leid gesättigt ist“, stellt dies immer einen ‚Sonderfall‘ dar. Notfallseelsorge ist notwendigerweise Individualseelsorge und verlangt eine situationsabhängige Form der Unterstützung. Wer fragt, welche Kompetenzen ein Notfallseelsorger oder eine Notfallseelsorgerin mitbringen muss, wird deshalb viele Antworten bekommen. Im Einsatz kommt es darauf an, dass das Opfer im Helfer einen Menschen findet, der zumindest ein Stück mitgeht, verlässlich ist, und − so gut wie möglich − Angst, Verlassenheit, Schmerz, Wut, aber auch Zuversicht teilt. Weil ein von Not Betroffener existenzielle Fragen stellt, muss sich ein Seelsorger auf die seelischen Erschütterungen einlassen und das Unsagbare behutsam in Worte kleiden. Wo dies gelingt, bekommt der Schrecken eine Sprache und verliert das Schweigen seine Macht. Insofern gleicht die Seelsorge einem Gefäß, in dem Leid und Ohnmacht Beheimatung und im besten Fall Linderung finden können. Dass ein Begleiter in traumatischer Situation die eigene Wut und Ohnmacht zugeben darf, ja gelegentlich sogar muss, gehört selbstverständlich dazu, wenn man realitätsnah und authentisch bleiben will.

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Rituale, Zeichen und Gebet im Dienst der Notfallseelsorge

Ein unerwarteter Todesfall, ein Gewaltverbrechen oder ein schweres Unglück ergreifen den ganzen Menschen und stürzen ihn in eine Krise, die alle Dimensionen seines Lebens berührt: körperlich, seelisch und sozial. Entsprechend breit müssen die Formen der Begleitung und Betreuung ausfallen. Doch noch vor allen Rezepten muss sie sich Rechenschaft darüber geben, aus welchen Quellen sie schöpft. Dies ist umso mehr zu betonen, als dem Leid Sinn abzugewinnen und neue Hoffnung zu wagen, weit mehr als eine psychologische Strategie darstellt, die nur professionell genug angewandt werden muss. Selbstverständlich wird die Arbeit im Einsatz darauf zurückgreifen, aber sie erschöpft sich nicht darin. Das wichtigste Moment christlicher Notfallseelsorge ist, dass sie sich auf die Mitte des Glaubens stützt. Der entscheidende Anstoß, den Irrsinn des Leids bestehen zu können, liegt nicht auf Seiten der Begleitenden, sondern auf Seiten Gottes. Weil er sich in der Schöpfung, in der Geschichte seines Volkes und schließlich in Jesus Christus als rettend und heilschaffend erwiesen hat, besteht überhaupt Anlass zur Hoffnung. In der Offenbarung des Johannes ist diese Hoffnungsperspektive auf den Punkt gebracht: „Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offb 21,4). Diese und viele andere Bibeltexte stehen stellvertretend für das Fundament, auf dem eine aus dem Glauben arbeitende Seelsorge ruht. Gott selbst war liebend in Jesu Leiden und Sterben wirksam; er blieb kein unbeteiligter Zuschauer, der sich das Leid vom Leibe hält. Er erduldet den Schmerz, um ihn zu überwinden und erweist sich auf diese Weise als ein Gott, der mitleidet und Mit-Leid empfindet. Im gekreuzigten Jesus begibt er sich in die dem Tod ausgesetzte Welt, um sie umzuformen in neue, unverbrüchliche Liebe. Hier tritt eine Wirklichkeit entgegen, die von Menschen weder zu bewerkstelligen noch zu organisieren ist. Sie ist und bleibt ein Geschenk, das allen Methoden und Strategien im Einsatz vorausliegt. Gott hat eine Basis geschaffen, die selbst im erdrückenden Leid Bestand hat. Dass Seelsorge grundsätzlich dem Prinzip der Ganzheitlichkeit folgen muss, darüber dürfte Einigkeit bestehen. Dasselbe gilt, wenn Helfer am Einsatzort oder in der anschließenden Begleitung Zeugnis für die Nähe Gottes ablegen. Dies ist allein schon daran ablesbar, dass die Spannung von Krise und Hoffnung in der Geschichte der Kirche immer auch eine gottesdienstliche, also eine umfassend erfahrbare Dimension besaß und bis heute besitzt (z. B. Kreuzweggebet, Krankensalbung und -kommunion). Es sind die sinnlichen Eindrücke, die sich auf ein

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Innewerden der Nähe Gottes und eine Bereitschaft zum Vertrauen befruchtend auswirken. Aus diesem Grund ist es erforderlich, dass Einsatzkräfte die Hoffnungsperspektive des Glaubens nicht nur im Wort zusprechen, sondern auch anschaulich und im wahrsten Sinne des Wortes be-greifbar machen. Dabei übernehmen Rituale und Zeichen eine Schlüsselrolle. Man muss kein Experte sein, um zu wissen, dass Zeichen oder Gesten eine starke Ausdruckskraft besitzen. Oftmals sind es die dinglichen, greifbaren Erlebnisse, die nahegehen, nicht selten viel stärker und überzeugender, als es das bloße Wort vermag. Sie erreichen jene Tiefenschichten des Lebens, die Worte, mögen sie noch so wohlgesetzt sein, in vielen Fällen nur streifen, aber nicht erschöpfend ausfüllen. So kann etwa eine Berührung weit mehr ausdrücken als ein gesprochenes Wort. Über alle Erfahrungen des Lebens, nicht zuletzt das Leid, wird wesentlich über Rituale und Zeichen kommuniziert. Das Besondere liegt darin, dass sie einfach zu handhaben sind, aber trotzdem wirken und zugleich eine Vielzahl von Sinneseindrücken umfassen. Ritualisierte Abläufe zielen auf Objektivität und bringen Wirklichkeiten ins Spiel, hinter die die Akteure zurücktreten können. Diese Eigenschaften machen sie für die Notfallseelsorge wertvoll. Werden sie richtig eingesetzt, können sie in der Begleitung eines Opfers persönlicher Not besonders sinnenfällig Ausdruck verleihen und zugleich Wege innerer Zuversicht weisen. In der Notfallseelsorge kommt Ritualen und Zeichen sowohl für die Begleitung Betroffener als auch für die Einsatzkräfte selbst große Bedeutung zu. Sie wird umso größer, wenn Worte die Trauer oder Ohnmacht nicht mehr auffangen können. An erster Stelle ist hier das Gebet zu nennen, aber auch Gesten wie etwa eine Segnung, die von einer Handauflegung begleitet ist. Wertvolle Dienste kann die Überreichung eines Gegenstandes, beispielsweise eines Kreuzes, einer Kerze oder eines Bibelwortes im Scheckkartenformat, leisten. So unterschiedlich diese Beispiele sind, sie vereint, dass sie einerseits Leiden kanalisieren. Andererseits bieten sie Raum, das Leid aus der Kraft des Glaubens anzunehmen und ihm einen Sinn abzugewinnen. Natürlich darf ein Verantwortlicher die Notsituation eines Hinterbliebenen oder eines Unfallopfers nicht dazu missbrauchen, ihm bestimmte Zeichenhandlungen oder gar die eigene Glaubensüberzeugung aufzudrängen. Es wäre jedoch ebenso falsch, sie aus Angst vor Vereinnahmung von vornherein auszuschließen. Eine solche Scheu ist verständlich. Allerdings ist zu bedenken, dass Betroffene den Helfer nicht allein als menschlichen Begleiter, sondern durchaus

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auch als Glaubenden und Hoffenden suchen. Ihr Bedürfnis nach Trost in der Erschütterung überschreitet in den meisten Fällen Menschenmögliches und greift auf die großen Themen des Menschseins aus. Über die Motive kann man spekulieren. Diesen Wunsch zu erkennen und ihm schließlich in Gestalt von Ritualen begegnen können, ist eine ebenso zentrale wie herausfordernde Aufgabe. Dies setzt einerseits eine hohe Ritualkompetenz voraus, d. h. die Einsatzkräfte müssen wissen, welche praktischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Andererseits ist es erforderlich, dass sie „nicht nur mit innerpsychischen und interpersonalen Faktoren, sondern auch und vor allem mit der Macht des Heiligen rechnen“ (M. Josuttis). Damit ist ein weiteres und für den Zusammenhang wichtiges Stichwort gefallen. Gebet oder Segnung in die Notfallseelsorge einzubeziehen, setzt voraus, sie nicht gegen die psychologischen Bedürfnisse von Notfallopfern auszuspielen. In welchem Verhältnis beide Seiten zueinander stehen (müssen), ist eine immer wieder kontrovers geführte Debatte. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass zwischen therapeutischer Hilfe und den sinnenfälligen Zeichenhandlungen des Glaubens viele Verbindungen existieren, die fruchtbar gemacht werden können. Werden sie richtig eingesetzt, entfalten Rituale eine beachtliche Kraft, die auch in psychologischer Hinsicht wirkt. Sie dienen der Bearbeitung von Ängsten, brechen Erstarrungen auf und helfen, chaotische Gefühle in geordnete Bahnen zu lenken. Auf diese Weise wirken sie zutiefst therapeutisch und können gemeinsam mit den Gesten der menschlichen Zuwendung wertvolle Dienste leisten. Im Licht des Glaubens besteht die Bedeutung von Gebet und Zeichen darin, mitten in Angst und Ohnmacht dem Notleidenden deutlich zu machen, dass er auch in Augenblicken größter Erschütterung von Gott angenommen und in seiner Hand geborgen ist. Wird diese Zusage angenommen, kann sie helfen, die eigene Situation zu begreifen und nicht mehr an ihr zu verzweifeln, sondern sie anzunehmen und zu bestehen. Abgesehen davon, welche Formen im Einzelfall angebracht sind, ist es entscheidend, auf den rechten Zeitpunkt zu achten. Die Frage, ob und wann ein Gebet oder eine Zeichenhandlung sinnvoll ist, lässt sich nicht einfach mit dem Hinweis auf den Zustand des Betroffenen beantworten. Entscheidend ist vielmehr, dass sie in einer Situation zum Einsatz kommen, in der das Notfallopfer tatsächlich einer Hilfe bedarf, die sachliche Unterstützung und menschliche Zuwendung übersteigt. Dies kann unmittelbar nach einem einschneidenden Erlebnis, etwa am Unfallort,

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der Fall sein, aber auch nach der Überbringung einer Todesnachricht in den eigenen vier Wänden. Als Maßstab für Auswahl und Verwendung sollte die subjektiv erlebte Situation gelten. Gebet und Zeichenhandlung sollten aus den konkreten Umständen erwachsen und nicht als isolierter, mechanischer Akt vollzogen werden, bei dem ein Unbekannter zu einem Unbekannten kommt und einen Ritus abspult. Sollen Gebet und Zeichen wirklich Gottes Zuwendung erfahren lassen, so setzt dies menschliche Zuwendung voraus. Wenn die menschliche Ebene fehlt, steht das beste Gebet bzw. Zeichen auf instabilem Boden. In einem solchen Fall bleibt das Zeugnis für Gottes Wirken ein leeres Versprechen oder löst sogar Abwehr und Ärgernis aus. Unter welchen Anspruch sind Rituale und Zeichen zu stellen, wo liegen die Grenzen des Vertretbaren? Die Praxis steht vor der Aufgabe, einerseits Wege zu beschreiten, die den Betroffenen in ihrer ganz persönlichen Situation Hilfe schenken, andererseits aber auch Gottes heil- und machtvolles Wirken erkennen lassen. Christliche Rituale sind grundsätzlich nicht beliebig, denn ihr Wesen besteht immer in der biblisch motivierten Hoffnung sowie in der Vergewisserung der Nähe Gottes. Dieser Spagat zwischen Bedürfnis und Anspruch kann zu einer großen Herausforderung werden, zumal der Markt der Rituale in Krisensituationen blüht und die zahlreichen Angebote alles andere als spannungsfrei sind. Christliche Rituale sind nicht allgemein spirituell, sondern partizipieren an der Hoffnungsbotschaft von Kreuz und Auferstehung Jesu. Hier wird man sich abgrenzen müssen, denn viele der freien Formen haben die Grenze zu Esoterik und Magie längst hinter sich gelassen. Abzulehnen sind außerdem alle Ausdrucksformen, die allein Emotionen artikulieren wollen, aber keinerlei Schritte auf dem Hoffnungsweg ermöglichen. Ebenso wird man sich abgrenzen müssen von Akteuren, die zwar für den Moment Anziehendes bieten, bei näherem Hinsehen allerdings über eine kurzfristige Vertröstung nicht hinauskommen. 2.  Beispiele für die Praxis

Die folgende Übersicht dient einer Sensibilisierung und möchte den in der Notfallseelsorge Tätigen eine Orientierung an die Hand geben, die zeigt, welche Möglichkeiten in der Praxis bestehen. 2.1  Gebet  In der Begegnung mit einem traumatisierten Menschen kann aus dem Gespräch das gemeinsame oder das fürbittende Gebet erwachsen. Wie bereits erwähnt, werden dabei vom Helfer Behutsam-

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keit und Einfühlungsvermögen erwartet, vor allem aber Glaubwürdigkeit und geistliche Tiefe. Ein gemeinsam gesprochenes Gebet hat seinen Platz dort, wo das Notfallopfer ausdrücklich darum bittet oder selbst ein Gebet anstimmt. In den meisten Fällen wird der Helfer die Initiative ergreifen und sich stellvertretend im fürbittenden Gebet an Gott wenden. Festzuhalten bleibt, dass ein Gebet keineswegs die Ergebenheit des Leidenden hervorrufen soll, sondern seinen Protest gegen das Leid im Vertrauen auf Gottes Nähe zum Ausdruck bringt. Im Gebet kann der Seelsorger mit dem Betroffenen nach Auswegen und Antworten tasten. Natürlich kann und muss die Frage gestellt werden, inwieweit angesichts des Leids glaubwürdig von einem heilschaffenden Gott gesprochen werden kann. Damit keine falschen Erwartungen entstehen, darf nicht unter den Tisch fallen, dass die Spannung von Gott und Leid ein Stachel im Fleisch des Glaubens ist. Seelsorger stehen vor der Aufgabe, diese Spannung auszuhalten und ihr im Gebet, vor allem in Form des Klagens, Ausdruck zu verleihen. Wo die Klage Teil des Betens ist, wird sichtbar, dass christliches Beten immer im Angesicht des Kreuzes geschieht. Letztlich können Leidender wie Seelsorger nicht anders, als sich mit der Antwort zu vereinen, die Jesus am Kreuz auf das Todesleiden gegeben hat: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Auf dem Buchmarkt gibt es eine Fülle von Gebetshilfen für die Begleitung von Menschen in belastenden oder extremen Situationen. Dass ein passendes Gebet nicht leicht zu finden ist, muss nicht eigens betont werden. In der Regel ist der Seelsorger selbst gefragt und wird aus dem Moment heraus ein Gebet sagen. Wie ein solches Gebet aussieht und welche Gesichtspunkte es aufgreift, ist nicht für jeden Einzelfall gleich zu beantworten. Die Frage nach dem ‚richtigen‘ Gebet ist eine Ermessensfrage, die allein aus der Wahrnehmung der Situation zu beantworten ist. Ein treffendes Gebet wird sich ausdrücken in Formulierungen, die dem Moment zu entsprechen suchen und von Nähe zum Betroffenen geprägt sind. Wenn es also so stark auf den Seelsorger ankommt, bedeutet dies nicht eine Überforderung? Ohne Zweifel ist die Fähigkeit zum freien Beten nicht jedem ohne weiteres gegeben. Aber man kann sie einüben: Durch einen vertrauten Umgang mit der Heiligen Schrift, mittels der Einweisung durch Vorbilder oder durch regelmäßige Zeiten der Stille und des persönlichen Gebetes. Ein lebendiges persönliches Gebetsleben auch jenseits eines Einsatzes ist die beste Schule für Situationen, in denen es auf das freie Gebet ankommt.

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Im Einsatz empfiehlt es sich besonders, auf die Psalmen zurückzugreifen. Sie bestechen nicht nur durch ihre biblische Verwurzelung, sondern auch durch ihre Sprache, die nicht abstrakt oder lehrhaft, sondern ebenso konkret wie erfahrungsbezogen ist. In ihnen sprechen sich Leben und Glauben in ihrer ganzen Dramatik und Vielgestaltigkeit aus. Sie erzählen vom Leben als Geschenk Gottes, rufen ihn als Begleiter dieses Lebens an und protestieren gegen Leid und Tod, die dieses Leben gefährden. Aufgrund dessen eignen sich die Psalmen besonders gut für die Notfallseelsorge. Weil sie verdichtetes Leben sind, können sich Notfallopfer in ihnen wiederfinden. Es ist deshalb hilfreich, zumindest einige Psalmen auswendig zu beherrschen, um sie im Bedarfsfall beten zu können. Davon unberührt bleibt das Vaterunser, das nach wie vor sogar bei kirchlich distanzierten Menschen noch tief verwurzelt ist. Ein gemeinsam gebetetes Vaterunser lässt die Gotteswahrheit aufscheinen und erfahren und verleiht der Überzeugung Ausdruck, dass alles Heilwerden bei ihm seinen Anfang nimmt. 2.2 Segnung 

Jeder Mensch braucht in seinem Leben Zuspruch und Bestärkung seiner Zuversicht, denn selbst wenn er sich als selbständiges Wesen erfährt, weiß er doch auch darum, dass er Grenzen und Unzulänglichkeiten hat. Bereits der Schöpfungsbericht der Bibel sieht den Menschen als ein Mängelwesen, das auf Zuspruch und Zuwendung angewiesen ist. Nirgendwo trifft diese Wahrheit so zu wie in der Situation einer akuten Krise. Jenseits aller psychologischen Soforthilfe ist deshalb nach der Möglichkeit eines rituellen Zuspruchs zu fragen, der ausdrücklich Gottes Stimme in die Krise hineinsprechen lässt. Über die Grenzen der Konfessionen hinweg kommt in diesem Zusammenhang dem Segen große Bedeutung zu. Er ist ein von Gottes Gegenwart begleitetes Tun, eine Begegnung mit ihm und seinem Wirken. Zugleich eignet ihm Autorität, weil seine Kräfte aus Quellen fließen, die vom Segnenden unabhängig sind. Um einen Segen auszusprechen, muss ein Notfallseelsorger keine besondere Beauftragung haben. Die Befugnis zum Segnen ist nicht zwingend an ein Amt oder an eine Weihe gebunden, denn die Gabe des Segnens fließt allein schon aus der Taufe. Gleichwohl ist auch hier die schon erwähnte Glaubwürdigkeit von wesentlichem Belang. Die Wahl der Segensform ist von mehreren Gesichtspunkten abhängig, vor allem dann, wenn die Reaktion auf Seiten des Opfers neue Zuversicht sein soll. Nicht jede Weise passt für jeden Betroffenen, gleich in welchem Zustand er sich momentan befindet. Als Segenswort kommt

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Rituale, Zeichen und Gebet im Dienst der Notfallseelsorge

der aaronitische Segen aus Num 6,24−26 in Frage, aber auch kurze, freie Formen (etwa „N., Gott, der alles Leiden in seiner Liebe birgt, segne dich.“) sind denkbar. Hat ein Seelsorger eine geeignete Formulierung gefunden, sollte er entscheiden, ob das Segenswort durch eine körperliche Geste ergänzt werden kann (z. B. Handauflegung). Hier ist zu überprüfen, welche Nähe das Gegenüber wünscht bzw. zulässt und ob er selbst zu diesem hohen Grad an Kontakt zu dessen Befinden imstande ist. In der Praxis der Notfallseelsorge wird es günstig sein, wenn der Ablauf von Ritualen und Zeichenhandlungen sowohl ‚offene‘ als auch ‚geschlossene‘ Teile enthält, d. h. formalisierte und auf den Einzelfall zugeschnittene Bausteine. Ob das Gewicht stärker auf Formalisierung oder auf Spontaneität liegt, wird vom Einzelfall abhängen. Wo starke Emotionen im Spiel sind, sind feste Ordnungen nützlich, weil sie Handlungssicherheit bieten und Strukturen schaffen, die bei der Orientierung helfen. Ein Kreuz, eine Kerze oder ein tröstendes Bild zu überreichen, kann ein starkes Signal setzen. Stehen Betroffene unter lähmendem Schock, liegt der Einsatz von Zeichenhandlungen nahe, die stärker individuellem Zuschnitt folgen. Hier lassen sich kaum verallgemeinerbare Wege festlegen. Anforderungen und Erwartungen unterliegen so sehr dem Einzelfall, dass jeweils neu entschieden werden muss. Wichtig sind dabei nicht zuletzt ästhetische Aspekte. So kann beispielsweise eine sorgfältige Gestaltung eines Raumes nach dem Überbringen einer Todesnachricht eine Unterstützung der Trauerarbeit bieten. Fotos oder persönliche Gegenstände eignen sich besonders dafür, den Weg des Abschieds in den Blick zu nehmen und erste Schritte gemeinsam zu gehen. In vielen Fällen stellt sich die Frage, wie die soziale Einbindung Betroffener gefestigt bzw. wiederhergestellt werden kann. Helfende müssen bei Zeichenhandlungen, die eine Intensivierung der Kommunikation anzielen, nicht immer anwesend sein, aber ihre Hilfe zu praktischen Maßnahmen ist unverzichtbar. Passgenaue Zeichen zu entwickeln und Betroffene zum selbständigen Vollzug anzuleiten, dieser Aufgabe kommt erhebliche Bedeutung zu. Wird sie angenommen, leisten Rituale einen nachhaltigen Beitrag der Unterstützung mitten in einem Umfeld, das in weiten Teilen von der Auflösung sozialer Bindungen gekennzeichnet ist. Nimmt man die Beispiele zusammen, dann liegt die entscheidende Herausforderung in der Verbindung von festen Gebeten und Zeichenhandlungen und offenen, maßgeschneiderten Ausdrucksformen. Beide Seiten konkurrieren nicht miteinander, sondern befruchten sich gegenseitig.

2.3  Weitere Zeichenhandlungen 

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3. Anforderungen an den Nofallseelsorger / die Notfallseelsorgerin

Oftmals erfahren Seelsorgende eine tiefe Kluft zwischen dem hohen Maß an Erwartungen, die ihnen entgegenkommen und den eigenen physischen, psychischen und geistlichen Reserven. So schmerzlich diese Erfahrung ist, so sehr verbindet sie die Helfenden mit den Opfern. Wenn Katastrophen oder Unfälle Fragen aufwerfen, dann betreffen sie beide Seiten − zwar unter verschiedenen Vorzeichen, aber dennoch in vergleichbarer Weise. Beide werden mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit konfrontiert, beide prallen an die Grenzen ihres Handelns. Wer in belastenden Situationen hilft, kann selbst zum Betroffenen werden. Diese Tatsache unterstreicht einerseits die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen und Diensten in der Betreuung. Selbst die beste Ausbildung entbindet nicht davon, eigene Unzulänglichkeiten anzuerkennen und die Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen. Andererseits ruft es die Mitte des Glaubens in Erinnerung, dass Gott mit den Menschen auf dem Wege ist und er allein eine Krise aufzufangen vermag. Ob Notfallseelsorger die Spannungen und Belastungen bestehen, hängt nicht zuletzt daran, ob sie den Glauben an den mitgehenden Gott in ihrem persönlichen Leben verinnerlicht haben. Das Vertrauen auf Gott, der sich als der ‚Ich-bin-da‘ (Ex 3,14) offenbart, kann in Augenblicken des Zweifels und der Klage nur dann wirklich tragen, wenn er auch außerhalb des Dienstes gepflegt wird. Das bedeutet konkret, dass Verantwortliche selbst aus der Kraft der Rituale und Zeichen leben müssen, wenn sie sie den Opfern glaubwürdig bezeugen wollen. Zwei Gesichtspunkte spielen hier eine Rolle. Ein lebendiges Gebetsleben ist die wichtigste Säule, dicht gefolgt von einem vertrauten Umgang mit den Gesten und Zeichen der christlichen Tradition. Nur als einer, der aufrichtig und vertraut zugleich aus diesen Quellen schöpft, wird ein Seelsorger die oft bedrückenden Erlebnisse für sich persönlich bewältigen können. Erst dann sind die Voraussetzungen gegeben, Versagensängste zu mindern und Kraft für den Dienst zu schöpfen. Eine Reihe von Handbüchern schlägt ganz konkrete Schritte der Vor- und Nachbereitung eines Einsatzes vor. Einige besonders nützliche Beispiele seien hier herausgegriffen. Hilfreich kann es sein, vor der Begegnung mit Opfern ein Gebet zu sprechen oder ein kleines Kreuz einzustecken. Ein besonders anschauliches Zeichen ist beispielsweise, sich mit Weihwasser zu benetzen. Eine solche Geste erinnert an die Taufe und bringt die intensive Verbindung zum Ausdruck, die Gott gestiftet hat und durchträgt. Nach dem Einsatz kann es helfen, eine Kerze anzu-

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Rituale, Zeichen und Gebet im Dienst der Notfallseelsorge

zünden und die Opfer Gottes Fürsorge zu empfehlen. Eine gute geistliche Inspiration, die Orientierung bietet, sind ferner die Psalmen. Mit ihrer lebensnahen und zugleich vertrauensgesättigten Sprache können sie Helfern ebenso inneren Halt schenken wie den Betreuten. Wer einen Zugang zur Kunst hat, findet möglicherweise bei einer Bildbetrachtung eine ansprechende Hilfe, um Abstand zu den niederdrückenden Erfahrungen am Einsatzort zu gewinnen. Ohne Zweifel erfordern diese Beispiele einen hohen Zeitaufwand. Doch sollten Zeitgründe nicht den letzten Ausschlag geben, wenn es darum geht, sich vor Überforderung zu schützen und reichlich aus der geistlichen Quelle des Dienstes zu trinken. In besonders schweren Fällen kommt es vor, dass den Einsatzkräften das Erlebte derart nahe geht, dass sie in den Fundamenten ihres Glaubens angefragt sind. Dann sollte die Nachbereitung zusätzlich durch ein vertrauensvolles Gespräch und/oder den gemeinsamen Vollzug von Zeichen und Gebeten im Kollegenkreis ergänzt werden. Hier bieten sich unterschiedliche Wege an. Weil Notfallseelsorge oft Teil kirchengemeindlichen Wirkens ist, wäre etwa zu überlegen, wie die Schnittmengen zwischen den Handlungsfeldern fruchtbar gemacht werden können. Je stärker Helfende in das Gebetsleben einer Gemeinde eingebettet sind, desto größer wird die gegenseitige Unterstützung. Hier gäbe es manche Strukturen zu schaffen. Unterhalb der Schwelle einer organisierten Begleitung kann es schon helfen, dass die Einsatzkräfte einander bewusst wahrnehmen und sich gegenseitig im Glauben stärken. Es ist ein Zeichen gegenseitiger Ermutigung, wenn etwa einer dem anderen Segenswünsche mit auf den Weg gibt oder das begleitende Gebet verspricht. Man mag diesen Beispielen nur eine Ventilfunktion zuschreiben oder sie schlicht als Maßnahme verstehen, mit der Stress und Belastung abgebaut werden sollen. Diese Einschätzung hat ihr gutes Recht, trifft jedoch nur die halbe Wahrheit. Im Tiefsten geht es darum, das eigene Wirken leiblich und seelisch zurückzubinden an das Wirken Gottes. In den Zeichen und Gebeten ist sein Handeln angesprochen, in dem alle Situationen menschlichen Leidens und Trauerns angenommen, mitgetragen und bereits verwandelt sind. Gerade weil Gott seine Nähe schenkt, können Hilfskräfte einen Trost bezeugen, der sich nicht im Dickicht der Vertröstung verfängt, sondern aufschließt für seine Wirklichkeit. Für diese Zusammenhänge sollten alle in der Seelsorge Tätigen laufend sensibilisiert werden. Wer meint, allein die Verwendung von Gebeten und Zeichen garantiere Trost und Hoffnung bei den Opfern, irrt. Sche-

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matisch vollzogene Zeichen, Floskeln und Routinen kann ein Betroffener nur als Vertröstung und als Verharmlosung seiner Leidenssituation empfinden. Deshalb kommt dem Glauben der Hilfskräfte eine Schlüsselrolle zu, die gar nicht genug hervorgehoben werden kann. Ob die Opfer die Quellen des Glaubens finden können, hängt zu großen Teilen an der Glaubwürdigkeit der Helfer. Ein Mensch kann nur für andere da sein und ein authentisches Glaubenszeugnis ablegen, wenn er selbst aus dem Glauben Hoffnung und Trost schöpft. Um als Seelsorger Menschen mit der heilenden Macht Gottes in Kontakt bringen zu können, ist das Wissen um diese Macht ebenso notwendig wie die eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet. Darum werden Menschen, die den Seelsorgedienst versehen, betende Menschen sein und das Gebet, in welcher Form auch immer, regelmäßig praktizieren. Ebenso vertraut werden sie mit Zeichen und Ritualen umgehen, die rasch wie leere Hülsen wirken, wenn sie ohne innere Beteiligung ablaufen. Dass dies in Aus- und Fortbildung Konsequenzen haben muss, liegt auf der Hand. Die in der Notfallseelsorge Tätigen müssen regelmäßig Gelegenheit zur geistlichen Weiterbildung haben, damit die persönliche Spiritualität reifen und die Ritualkompetenz erweitert werden kann. Für die Zukunft wird die Bedeutung solcher Maßnahmen weiter wachsen, weil die Zahl der Orte abnimmt, an denen Menschen sich gegenseitig im Glauben stärken. 4. Herausforderungen in pluralistischer Gesellschaft

In jüngerer Zeit wird die Notfallseelsorge zunehmend mit der Frage konfrontiert, wie sie auf die Herausforderung des religiösen Pluralismus reagieren soll. Die sich wandelnde Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft, die wachsende Zahl der Kirchendistanzierten sowie das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Religionsgemeinschaften stellen vor die Aufgabe, die Hilfe und Begleitung breiter anzugehen, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Noch existieren hierfür keine Vorbilder, was allerdings nicht dazu führen darf, die rituelle Seite auf ein Minimum zu beschränken oder gar vollständig aufzugeben. Angesichts der gesellschaftlichen und religiösen Verschiebungen wird es darauf ankommen, dass die unterschiedlichen Perspektiven ernstgenommen, aber nicht als Hemmnis für ein authentisches Glaubenszeugnis gedeutet werden. Die Orientierung in pluralistischer Gesellschaft ist eine Frage, die an erster Stelle Lernbereitschaft und an zweiter Stelle aufrichtige Hochachtung verlangt. Ohne den Willen, sich in der Kennt-

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nis anderer Religionen, ihrer Spiritualität und Traditionen fortzubilden, kann eine verantwortete Notfallseelsorge nicht gewährleistet werden. Sie ist deshalb zuerst aufgefordert, aus der Haltung des Respekts sich mit Haltungen und Gebräuchen vertraut zu machen, die in anderen Gemeinschaften und Kulturkreisen im Fall von Krankheit, Unfall oder Tod gepflegt werden. Jedoch darf sich ein christlicher Seelsorger nicht dazu verleiten lassen, solche ihm nicht vertrauten Gebräuche eigenständig zu vollziehen. Vor Anbiederungen muss man sich ebenso hüten wie vor der Vereinnahmung von Zeichen und Gesten, die nicht die eigenen sind. Wichtig ist auch hier, die eigenen Grenzen zu erkennen und rasch eine Verbindung zu Geistlichen oder Mitgliedern der anderen Religion herstellen zu können. Dazu ist schon im Vorfeld ein reger Kontakt und entsprechender Austausch erforderlich. Immer öfter wird an Verantwortliche der Wunsch herangetragen, nach größeren Unfällen oder Katastrophenereignissen religionsübergreifende Feiern zu veranstalten. Oft ist die Bitte begleitet von der Behauptung, alle Religionen beteten den gleichen Gott an und mit der Erwartung verknüpft, die Mitfeiernden in ihrem Schmerz möglichst eng mit einander in Kontakt zu bringen. Dies ist solange möglich, wie die Artikulation von Trauer und Hoffnung nicht in ein gemeinsam vollzogenes Gebet mündet. Die in den Religionen herrschenden Gotteserfahrungen und Vorstellungen weisen erhebliche Differenzen auf, die es zu achten gilt und die dem Willen nach Gemeinschaft nicht zum Opfer fallen dürfen. Wenn Christen beten, werden sie niemals von ihrem Zugang zu Gott über Jesus Christus und den Heiligen Geist absehen können. Für sie hat Gott immer das Antlitz Jesu, eine Sichtweise, die anderen Gemeinschaften als zutiefst problematisch gilt und deshalb abgelehnt wird. Dies muss in aller Deutlichkeit gesehen werden. Gerade wer sich um ein Miteinander verschiedener Denominationen bemüht, sollte jede einzelne in ihren Auffassungen achten. Ein Gebet, immerhin einer der Kernvollzüge des Glaubens und Kristallisationspunkte des Gottesbildes, darf kein Vehikel werden, mit dem man Gemeinschaft stiften will. In diesem Fall ist Eindeutigkeit nicht Abgrenzung, sondern zeigt das erforderliche Maß an Respekt für die Fundamente, auf denen die Religionsgemeinschaften ruhen. Trotz der gebotenen Zurückhaltung bestehen viele Möglichkeiten, wie Angehörige unterschiedlicher Religionen oder Religionslose in einer gemeinschaftlichen Feier einander stärken und gemeinsam Hoffnung schöpfen können. Hierzu gibt es nützliche Handreichungen der

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Deutschen Bischofskonferenz und einiger evangelischer Landeskirchen, die aus den genannten Gründen ein gemeinsames Gebet ausschließen, aber auf der Ebene der Zeichen wertvolle Beispiele bereithalten. Sie seien hier nur aufgezählt: Überreichung von Blumen, Kerzen, Bilder, Rezitation von Texten aus den jeweiligen heiligen Schriften, Vorstellung von persönlichen Erinnerungsgegenständen. 5. Geistliche und rituelle Kompetenzen stärken

Es liegt in der Natur der Notfallseelsorge, dass man leicht von ihren Anforderungen überwältigt werden könnte. Die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben, ist und bleibt das entscheidende Moment. Alle Bemühungen um eine Professionalisierung bleiben unvollständig, wenn nicht auch die geistliche sowie die rituelle Kompetenz der Verantwortlichen angemessene Berücksichtigung finden. Bisher kann man nicht davon sprechen, dass diesem Bereich besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt würde. Optimistisch stimmt, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger in jüngerer Zeit vermehrt darauf hinweisen und Möglichkeiten erbitten, dem Geflecht von Ritual, Zeichen und Glaubenszeugnis näherzutreten. Viel wäre schon gewonnen, wenn die Kirchen durch geeignete Aus- und Fortbildungsmaßnahmen ihren Teil dazu beitragen, dass die christliche Identität der Seelsorge gefördert wird und die Hilfe für Notleidende sowohl in menschlicher als auch in geistlicher Hinsicht an Profil gewinnt. Natürlich kann weder die geistliche noch die rituelle Kompetenz von oben vorgegeben werden. Sie lebt davon, dass die Einsatzkräfte selbst dazu bereit sind, die heilvolle Nähe Gottes zeichenhaftsinnlich zur Darstellung zu bringen. Eine Seelsorge, die keinen Platz für diese Quelle aller Hoffnung hat, ist auf Dauer ein ungedeckter Scheck und wird im Gestrüpp der Vertröstungen stecken bleiben. Stefan Böntert Literatur Stefan Böntert, Orientierung im Chaos und Aufbruch in die Hoffnung. Liturgiewis-

senschaftliche Aspekte zu Ritualen in der Notfallseelsorge, in: ders. (Hrsg.), Objektive Feier und subjektiver Glaube? Beiträge zum Verhältnis von Liturgie und Spiritualität (Studien zur Pastoralliturgie 32), Regensburg 2011, 223−251. Katharina M. Gladisch, Rituale in der Notfallseelsorge, in: Barbara S. Tarnow/Katharina M. Gladisch, Seele in Not. Notfall-Seelsorge als Hilfe in Grenzsituationen, Gütersloh 2007, 143–147.

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Rituale, Zeichen und Gebet im Dienst der Notfallseelsorge

Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont

des christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 2008, bes. 446–468. Notfallseelsorge, Wien 2001, 331−352.

Joachim Müller-Lange, Handbuch Frank Waterstraat,

Dem Chaos gestaltend begegnen. Aspekte christlicher Rituale in der Notfallseelsorge, in: Berliner Theologische Zeitschrift 26 (2009), 16–30. Frank Waterstraat, Einsatz: Notfallseelsorge. Grundlagen – Inhalte – Arbeitsformen, Hannover 2004. Thomas Zippert, Notfallseelsorge. Grundlegungen – Orientierungen – Erfahrungen (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts 25), Heidelberg 2006. Kirchliche Dokumente zum Thema der religionsübergreifenden Feiern Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen (Hrsg.), Christen und Muslime. Eine Ori-

entierungshilfe für die evangelischen Gemeinden in Westfalen, Bielefeld 2008. (im Internet zum Download unter www.ekvw.de) Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland. Eine Handreichung des Rates der EKD, Hannover 2006. (im Internet zum Download unter www.ekd.de) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe, 2., überarb. und aktualis. Aufl. (=Arbeitshilfen 170) Bonn 2008, (im Internet zum Download unter www.dbk.de)

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05. Theologie Der Patientenwille zwischen Autonomie und Fürsorge Der medizinische Entscheidungsprozess befindet sich gegenwärtig im Wandel: Es entscheidet nicht mehr allein der Arzt, die Patienten werden zunehmend in diesen Prozess einbe­zogen. Natürlich kann eine autonome Entscheidung nicht ohne die Mitwirkung des Arztes, der über das entsprechende Fachwissen verfügt, gefällt werden. Häufig wird deshalb gefordert, dass die Entscheidung über Diagnose bzw. Therapie auf der Basis einer Interaktion zwischen Arzt und Patient gefällt werden soll. Wird diese Entscheidun­g in enger Abstimmung zwischen Arzt und Patient getroffen, wird von „shared decision making“ gesprochen. Dieser Begriff wirft allerdings die Frage auf, was der Arzt und was der Patient zu einer gemeinsam getroffenen Entscheidung beitra­gen soll. Grundsätzlicher formuliert: Welchen Stellenwert hat die Patientenautonomie im Angesicht ärztlicher Fürsorge? Das klassische Modell der Beziehung zwischen Arzt und Patient ist dadurch gekenn­zeichnet, dass der Arzt aufgrund seines Expertenwissens dem Patienten bei Diagnose bzw. Therapie eine passive Rolle zuschreibt. Dahinter steht die Haltung, der Arzt wisse aufgrund seiner fachlichen Qualifikation am besten, was für den Patienten richtig ist. Und er habe den Patienten geradezu zu schützen, indem er ihm Informationen, die ihn beunruhigen oder überfordern könnten, vorenthalte und wichtige Entscheidungen stellvertretend für ihn treffe. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist in diesem Modell asymmetrisch gestaltet, das Moment der Fürsorge gegenüber dem Moment der Selbstbestimmung deutlicher ausgeprägt. Die extremste Ausformung des ärztlichen Paternalismus besteht darin, dass über Diagnose bzw. Therapie ohne Wissen des Patienten entschieden wird. Nicht selten führten beispielsweise Ärzte in den USA routinemäßig PSA-Screenings durch, ohne das Einverständnis der Betroffenen eingeholt zu haben (vgl. Federman/Goyal/Kamina/Peduzzi/

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Der Patientenwille zwischen Autonomie und Fürsorge

Concato 1999, 152–157). Eine mildere Form der paternalistischen ArztPatient-Beziehung liegt vor, wenn der Patient einer gestellten Diagnose zustimmen oder nicht zustimmen bzw. in eine vorgeschlagene Therapie einwilligen oder nicht einwilligen kann. Hier ist allerdings das Moment der Wahlfreiheit unvollständig ausgeprägt, weil dem Patienten keine alternativen Behandlungsoptionen vorgeschlagen werden. Diese Art der Fürsorge wird als informierte Einwilligung oder informierte Zustimmung (informed consent) bezeichnet. Aus ethischer und rechtlicher Perspektive bildet die informierte Einwilligung das Minimum an Patientenautonomie. Ohne diese Zustimmung wird jeder ärztliche Eingriff zur (strafbaren) Körperverletzung. Viel spricht allerdings dafür, sich an einem Modell zu orientieren, dass der Autonomie des Patienten einen höheren Rang einräumt. Das bereits erwähnte Modell des „shared decision making“ bedeutet, dass Arzt und Patient unterschiedliche Kenntnisse in die Entscheidung einbringen: Der Arzt weiß über diagnostische Methoden und Möglichkeiten der Therapie Bescheid, während der Patient seine Ziele und Wertvorstellungen kennt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Patienten über die Vor- und Nachteile einer Behandlung und deren Alternativen informiert werden (und eben nicht nur in den Behandlungsvorschlag des Arztes einwilligen oder nicht einwilligen) und dann auf der Grundlage dieser Informationen darüber entscheiden, welche Behandlung sie vornehmen lassen oder ob sie auf eine Behandlung verzichten wollen. Natürlich kann und soll daraus in der Praxis keine strikte Trennung der Art entstehen, dass der Arzt nur Informationen liefert und der Patient ausschließlich seine Wertvorstellungen artikuliert. Der Arzt kann durchaus Empfehlungen geben. Er muss dies aber einerseits dem Patienten gegenüber kenntlich machen und andererseits zuvor Einblick in die persönlichen Wertvorstellungen des Patienten gewonnen haben. Im Idealfall entscheiden beide gemeinsam, der Arzt in Kenntnis der Wertvorstellungen des Patienten, der Patient in Kenntnis der vom Arzt erhaltenen Informationen. Setzen wir aber noch einmal grundsätzlich an: Was spricht für diese Arbeitsteilung, in der der Arzt über die Mittel, der Patient über die Ziele des medizinisch Gebotenen verfügt? Allgemein gesprochen kann ein Patient der Ansicht sein, der potenzielle Nutzen einer Behandlung sei deren Nachteile wert, er kann aber auch die Nachteile für zu groß und den Nutzen für zu gering erachten, so dass ihm der Aufwand ungerechtfertigt erscheint. Er hat ja in seine Entscheidung nicht nur die erwarteten Folgen, sondern auch die mögli-

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chen Nebenfolgen mit einzubeziehen. Dazu kommt, dass das Eintreten der Folgen (wie auch der Nebenfolgen) nur prognostiziert werden kann, also mit Unsicherheit belastet ist (vgl. Breitsameter 2010, 349–352). Die Möglichkeiten einer medizinischen Behandlung müssen also bewertet werden, und zwar von der betroffenen Person selbst. Denn diese Bewertung kann sich von Person zu Person unterscheiden, sich zudem bei jeder Person (etwa im Verlauf einer Krankheit) verändern. Die Frage nach der richtigen Diagnose bzw. Therapie hat daher eine soziale und eine zeitliche Dimension: Verschiedene Personen kommen zu verschiedenen Zeitpunkten zu unterschiedlichen Urteilen über das für sie Zuträgliche. Sachlich gesehen können wir in Fragen der medizinischen Entscheidungsfindung von einem Zielkonsens zwischen Arzt und Patient deshalb nicht sprechen, weil Diagnoseergebnisse oft nicht eindeutig und Therapieerfolge unsicher oder mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden sind. Was aber bedeutet dies für den Fall, dass für einen Patienten stellvertretend entschieden werden muss? 1.  Was ist Paternalismus?

Gewöhnlich unterstellen wir Personen die Fähigkeit, vernünftig und in diesem Sinne selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln. In medizinischen Kontexten tritt jedoch dem Prinzip der Autonomie – wenigstens prima facie – das Prinzip der Fürsorge gegenüber. Der Arzt kann etwas für vernünftig und geboten halten, was der Patient für unvernünftig hält und deshalb ablehnt (oder umgekehrt). Welche Empfehlung sollte in einem solchen Fall den Ausschlag geben? Darf der Arzt gegen den Willen (voluntas aegroti) des Patienten entscheiden und handeln, um sein (vermeintliches) Wohl (salus aegroti) zu fördern? Existiert ein prinzipieller Gegensatz zwischen Autonomie und Fürsorge in medizinischen Fragen? Oder können Autonomie und Fürsorge als komplementäre Prinzipien konzeptualisiert werden? Beginnen wir die Frage, ob und inwieweit der Arzt in die Entscheidung oder Handlung eines Patienten eingreifen darf, mit einer Definition. Für den Akt stellvertretenden Entscheidens und Handelns (nicht nur in medizinischen Kontexten) hat sich der Begriff des Paternalismus eingebürgert. Weil die Ansichten darüber, was unter Paternalismus verstanden werden soll, zum Teil erheblich voneinander abweichen, ist es unumgänglich, eine Begriffsbestimmung vorzunehmen, die im Folgenden nur auf das medizinische Entscheiden und Handeln bezogen wird. Unter medizinischem Paternalismus soll jede Entscheidung oder Hand-

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Der Patientenwille zwischen Autonomie und Fürsorge

lung verstanden werden, die einen Eingriff in die aktuale oder durch eine Patientenverfügung dokumentierte kompetente Entscheidung eines Patienten darstellt, und zwar mit dem Ziel, das Wohl dieses Patienten zu fördern oder Schaden von ihm abzuwenden (vgl. Dworkin 1972, 65). Mit dieser Definition werden vier Einschränkungen verbunden: 1.1 

Es soll im Folgenden der Einfachheit halber bei einer Maßnahme von Seiten des Arztes nur noch von Handeln, nicht mehr von Entscheiden gesprochen werden, weil eine medizinische Entscheidung unser ethisches Urteil in dem Moment herausfordert, in dem sie zur Handlung werden soll und Folgen für den Patienten zeitigt.

1.2 

Außerdem soll unter einer medizinischen Handlung nicht nur ein Tun, sondern auch ein Unterlassen verstanden werden.

1.3  Auf der Seite des Patienten ist nicht nur ein Eingriff in seine Handlung (oder genauer: seine Handlungsfreiheit), sondern auch in seine Entscheidung (also seine Willensfreiheit) gemeint, weil jede (freie) Handlung in einer Entscheidung wurzelt und ein Eingriff schon hier einsetzen kann.

Schließlich sind nur Fälle zu bedenken, in denen sich ein Patient selbst Schaden zuzufügen droht, nicht aber Fälle, in denen Dritte Schaden zu erleiden drohen.

1.4 

Wichtig ist nun die Klärung der Frage, was unter der Kompetenz eines Patienten verstanden werden soll. Als kompetent soll eine Person dann bezeichnet werden, wenn sie die Folgen und Nebenfolgen einer medizinischen Handlung wie ihrer Alternativen (einschließlich der Möglichkeit, auf eine medizinische Intervention zu verzichten) verstehen und beurteilen kann. Es sind also für eine kompetente Entscheidung sowohl kognitive (bzw. emotionale) als auch wertende Fähigkeiten erforderlich. Um die Diskussion des Begriffs „Paternalismus“ zu vereinfachen, sollen diejenigen Fälle, die aus ethischer Perspektive strittig sind, unterschieden werden von jenen, die unstrittig sind: • Strittig ist der Fall, in dem eine Person die Folgen und Nebenfolgen einer medizinischen Maßnahme sowie deren Unterlassung (einschließlich der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens bzw. Nichteintretens) erfassen und beurteilen kann und dies entweder durch eine ak-

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tuale Willensäußerung oder durch eine Patientenverfügung kundtut, der Arzt aber für eine davon abweichende Option votiert. Hier ist ein paternalistischer Eingriff eigens zu rechtfertigen. • Unstrittig ist der Fall, bei dem diese Voraussetzungen komplett entfallen, also bei einer Person, die ihren Willen aktual nicht äußern kann (bzw. deren Wille nicht durch eine Patientenverfügung dokumentiert ist). Hier ist ein Eingriff aus ethischer Sicht unzweifelhaft gerechtfertigt (bei medizinischen Interventionen, die Kinder betreffen, ist zu fragen, ob bei einer unterschiedlichen Beurteilung des Falls die Entscheidung des Arztes, die Entscheidung der Eltern oder die Entscheidung einer neutralen Partei den Ausschlag geben sollte). In der Literatur wird in dieser Hinsicht häufig zwischen hartem und weichem (oder starkem und schwachem) Paternalismus unterschieden. • Von hartem Paternalismus ist die Rede, wenn in die Entscheidungskompetenz voll selbstbestimmungsfähiger Personen eingegriffen wird. • Von weichem Paternalismus hingegen wird gesprochen, wenn in die Entscheidungslagen von Personen eingegriffen wird, deren Fähigkeit zur Selbstbestimmung (vorübergehend) nicht gegeben ist. Damit wird durch den weichen Paternalismus ein formaler Begriff dessen, was in einer bestimmten Situation als vernünftig gelten kann, vorausgesetzt. Der harte Paternalismus würde eine Entscheidung hingegen als material unvernünftig charakterisieren, also auch dann kritisieren, wenn sie fehlerlos zustande gebracht wurde. So plausibel die häufig vertretene Ablehnung des harten Paternalismus klingt, ist sie doch einem Einwand ausgesetzt. Zwar unterstellen wir in der Regel, dass ein Mensch voll selbstbestimmungsfähig ist. Kann es aber auch Gründe geben, diese Annahme zu bezweifeln, und welcher Art können diese Gründe sein? 2. Unbeabsichtigte bzw. nicht gewusste Folgen

Diskutieren wir zunächst den Fall, dass ein Patient einen Schaden zu erleiden droht, den er zwar durch eine Entscheidung oder Handlung selbst verursacht, der von ihm aber weder beabsichtigt noch vorhergesehen wurde, sodass das paternalistische Eingreifen des Arztes gerechtfertigt werden könnte. Eine Person kann sich dabei in einem Irrtum bezüglich der Folgen ihres Handelns befinden. Ich unterscheide drei Formen eines solchen Irrtums:

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Der Patientenwille zwischen Autonomie und Fürsorge

Wir können von einem instrumentellen Irrtum sprechen: Eine Person kann sich hinsichtlich der geeigneten Mittel zur Erreichung eines bestimmten Ziels in einem Irrtum befinden. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn ihr falsche Informationen vorliegen, die entweder Tatsachen oder Wahrscheinlichkeiten betreffen; und dies ist zum anderen dann der Fall, wenn ihr zwar korrekte Informationen vorliegen, diese aber nicht richtig verstanden werden. Hier ist es die Aufgabe des Arztes, aufzuklären. Wenn der Arzt den Patienten entsprechend informiert, handelt es sich um keinen erst zu rechtfertigenden Eingriff, sondern um eine Einflussnahme. Klärt der Arzt einen Patienten über eine Diagnose oder Therapie auf, so hat er also nicht nur auf die erwünschten Folgen, sondern auch auf die unerwünschten Nebenfolgen einer medizinischen Maßnahme wie auch ihrer Alternativen (einschließlich der Option, auf die Behandlung zu verzichten) hinzuweisen, und zwar immer mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit des Eintretens. Klar ist freilich auch, dass der Arzt, der den Patienten gegen seinen erklärten Willen, das heißt gegen seine kompetente Entscheidung aufklärt, auf ungerechtfertigte Weise die Autonomie des Patienten beeinflusst. Für den Fall, dass eine Aufklärung nicht möglich ist, weil der Patient nicht ansprechbar ist, jedoch eine Patientenverfügung vorliegt, durch die deutlich wird, dass sich der Patient in einem instrumentellen Irrtum befindet, wäre ein paternalistischer Eingriff gerechtfertigt. Vom paternalistischen Eingriff soll also, so könnte man zusammenfassen, jede Form der Einflussnahme, die der Bildung eines kompetenten Urteils dient, unterschieden werden, vor allem was das Geben und Vorenthalten von Informationen wie auch die Art und Weise der Kommunikation von Informationen betrifft. Es gehört deshalb zur Aufklärung, den Informationsstand des Patienten zu beeinflussen, nicht aber, ihn durch das Umgehen seiner kognitiven Fähigkeiten zu manipulieren, um ihn zu einer Entscheidung zu bewegen, die er nicht gefällt hätte, wäre er auf diese Art der Einflussnahme aufmerksam geworden. Wichtig ist der Hinweis, dass die Entscheidung eines Patienten durch die Art der Aufklärung beeinflusst werden kann, so dass nicht nur in Frage steht, ob, sondern auch, wie der Arzt aufklären soll. In der Literatur werden hier insbesondere folgende Effekte diskutiert: • Framing- oder Wording-Effekt: Werden bezüglich einer medizinischen Maßnahme die relevanten Alternativen etwa durch die Wortwahl auf unterschiedliche Weise dargestellt, führt das zu unterschiedlichen Entscheidungen bei den Patienten (vgl. Kahneman/ Tversky 2008, 209–223). 2.1 

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Issue-Framing-Effekt: Durch die Betonung bestimmter Aspekte wird das Augenmerk auf bestimmte Risiken bzw. Folgen gelenkt. Referenzpunkt/Status Quo bias: Risiken können durch den Arzt abgewertet werden, indem er den Fokus des Gesprächs auf die Tatsache lenkt, dass die Erkrankung unbedingt der Behandlung bedarf. Anchoring-Effekt: Menschen verarbeiten und gewichten die ihnen vermittelten Daten abhängig davon, welche Informationen sie zuerst erlangt haben. Insbesondere die zeitliche Reihenfolge der Informationsgewinnung kann ein Entscheidungsverhalten beeinflussen, aber auch das Anbieten einer zusätzlichen schlechteren Entscheidungsalternative, da diese die getroffene Wahl noch bestärkt. Over Confidentiality Bias: Eigene Risiken werden unterschätzt und Kontrollmöglichkeiten überbewertet. Sicherheitseffekt: Menschen neigen dazu, zahlenmäßig benannte geringere Wahrscheinlichkeiten in irrationaler Weise einzuschätzen und sie systematisch zu vernachlässigen. Dies ist relevant für die Darstellung der Wahrscheinlichkeit unerwünschter Gefahren und Nebenfolgen bei der Aufklärung von Risiken. Ambiguitätsaversion: Menschen sind dann besonders risikoavers, wenn ihnen Wahrscheinlichkeiten nicht genau benannt werden.

Um diese Effekte zu verhindern oder wenigstens zu mildern, können Regeln geschaffen werden, die den Ärzten empfehlen, ihre Aufklärung durch die Wahl der Worte und die Art der Darstellung, beispielsweise was die Reihenfolge oder Betonung von Informationen betrifft, so zu gestalten, dass die Patienten in ihrer Entscheidung im oben beschriebenen Sinn beeinflusst werden, ohne dass dabei in ihre Entscheidung eingegriffen wird. Dies könnte z. B. durch eine gesteuerte, nach Bedarf betonte oder abgeschwächte Darstellung von Eingriffsrisiken erfolgen. Es ist sicher eine unzulässige Form des Paternalismus, den Patienten in der Art aufzuklären, dass er die für ihn sicherste Maßnahme wählt oder in einen vom Arzt als „notwendig“ betrachteten Eingriff einwilligt. Allerdings darf auch die Verarbeitung von Informationen und Daten nicht überschätzt werden, weil oft viel eher aus Bauchentscheidungen heraus der richtige Weg gefunden wird (vgl. Berg/Gigerenzer 2007, 337–359). Außerdem bedeutet die Tatsache, dass eine Patientenentscheidung kontextabhängig ist, nicht, dass sie nicht mit den Wertvorstellungen des Patienten übereinstimmen kann.

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2.2 

Die zweite Form kann als Irrtum prudentieller Art bezeichnet werden: Hier stehen nicht die Mittel in Bezug auf bestimmte Ziele zur Disposition, sondern eben diese Ziele im Hinblick auf andere – entweder gleichzeitig oder in der Zukunft bzw. sogar in der Vergangenheit – erstrebte Ziele. Fehler können immer dann entstehen, wenn Ziele gewählt werden, die mit der Realisierung anderer erstrebter Ziele nicht vereinbar sind, entweder weil entscheidungsrelevante Ziele nicht in den Blick kommen oder nicht richtig aufeinander bezogen werden. So könnten zum Beispiel weit in der Zukunft liegende Risiken unter- oder in naher Zukunft zu erwartende Beeinträchtigungen überschätzt werden (vgl. Brock/Wartmann 1990, 1595–1599). Hier ist in der Tat zu fragen, ob eine entsprechende Aufklärung als Einflussnahme oder als (zu rechtfertigender) Eingriff zu werten ist. Entscheidend ist hier, ob die vom Arzt vorgenommene Aufklärung sich nur auf Ziele bezieht, die Mittel für andere, weiterreichende Ziele sind, oder ob der Arzt auf die Wahl der Ziele selbst Einfluss nimmt. Dahinter verbirgt sich folgendes Problem: Kann eine Person, die nicht eindeutig definierte, (auf gleichzeitig erstrebte Ziele bezogen) inkonsistente bzw. (auf in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegende Ziele bezogen) inkohärente Ziele verfolgt, als rational bezeichnet werden? Ansätze der Theorie über „bounded rationality“ besagen, dass auch bei unklaren, inkonsistenten und inkohärenten Zielvorstellungen von Rationalität gesprochen werden kann. Dieser Begriff von Rationalität wird nicht als defizitär gegenüber einem Begriff vollständiger Rationalität verstanden, sondern als Rationalität eigener Art. Um unterscheiden zu können, ob Unklarheiten in der Definition der erstrebten Ziele bzw. Inkonsistenzen und Inkohärenzen als beschränkt rational oder als defizitär rational zu betrachten sind, sollte der Arzt, wenn Wünsche aktual geäußert werden, über die fragliche Sachlage informieren und damit die Basis für eine mögliche Revision der augenblicklichen Zielvorstellungen legen. Der Arzt sollte also den Patienten auf die (in seinen Augen) bestehenden Defizite hinweisen, allerdings nur in Form einer hypothetischen Empfehlung, das heißt bezogen auf die Wertvorstellungen des Patienten. Um Autonomiedefizite dieser Art zu beseitigen, ist daher die Etablierung von Beratungsverfahren zu erwägen.

2.3 

Eine dritte Form könnte als werthafter Irrtum bezeichnet werden: Hier würde unterstellt werden, dass sich eine Person in der Wahl ihrer Ziele irrt, selbst wenn diese sich mit anderen – gleichzeitig oder in der Zukunft bzw. auch in der Vergangenheit – erstrebten Zielen vereinba-

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ren lassen. Unklar ist hier, warum bei einer urteilsfähigen Person von einem Irrtum gesprochen werden sollte. Stattdessens spricht viel dafür, dass es sich, wenn die Ziele einer Person mit den Zielen des Arztes nicht übereinstimmen und weder ein instrumenteller noch ein prudentieller Irrtum vorliegen, um einen ungerechtfertigten Eingriff dann handelt, wenn nicht nach den (aktual geäußerten oder in einer Verfügung dokumentierten) Zielen des Patienten, sondern nach den Zielen des Arztes verfahren wird bzw. wenn der Arzt versuchen würde, die Urteilsfähigkeit eines Patienten in einer Weise zu manipulieren, die von diesem, wenn er sich dessen bewusst wäre, nicht akzeptiert werden würde. Die dritte Form muss sich deshalb mit dem Hinweis auseinandersetzen, dass die Autonomie der betreffenden Person missachtet wird, wenngleich auch mit dem Ziel, einen (vermeintlichen) Schaden von ihr abzuwenden. Gerechtfertigt ist, so könnte man zusammenfassen, ein Eingriff in eine Maßnahme oder deren Unterlassung dann, wenn sich eine Person durch deren nicht gewusste bzw. nicht beabsichtigte Folgen selbst schädigt. Dies gilt auch, wenn ein bewusstes Entscheiden oder Handeln nicht vorliegt, wir also nur von einem Verhalten sprechen. Für diese Fälle kann plausibel gemacht werden, dass man die Ursache dieses Verhaltens oder dieser Entscheidung bzw. Handlung nicht als zur betreffenden Person gehörig betrachten sollte. Vielmehr sollten die verursachenden mentalen Faktoren als externe Faktoren angesehen werden. Dies gilt bei psychischen Störungen ebenso wie für falsche Überzeugungen bezüglich des Zusammenhangs von Ursachen und Folgen. Ereignisse, die unter diese Beschreibung fallen, können wie Naturereignisse behandelt und mit dem Harm-to-Others-Principle erfasst werden (so als müsse man einen Menschen vor den schädlichen Auswirkungen eines Naturereignisses schützen). Sie stellen deshalb keinen Fall paternalistischen Handelns dar (vgl. Quante 2002, 313). Nicht eigens betont zu werden braucht, dass es häufig kontinuierliche Übergänge zwischen einem paternalistischen Eingriff und einer nicht-paternalistischen Einflussnahmen gibt. Damit können wir folgendes Zwischenergebnis formulieren: • Eingriffe in voll bewusste bzw. beabsichtigte Handlungen sind aus ethischer Sicht nicht gerechtfertigt. Weil diese Fälle unstrittig sind, können sie in der Paternalismus-Diskussion vernachlässigt werden. • Eingriffe in nicht bewusste bzw. beabsichtigte Handlungen sind aus ethischer Sicht gerechtfertigt, werden aber nicht unter der Kategorie „Paternalismus“, sondern unter der Kategorie „Harm-to-Others“ behandelt.

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Eingriffe in vermindert bewusste bzw. beabsichtigte Handlungen sind aus ethischer Sicht rechtfertigungsbedürftig.

Die in der Literatur übliche Unterscheidung zwischen „hartem“ und „weichem Paternalismus“ wird deshalb aufgegeben, weil Fälle von hartem Paternalismus ethisch unstrittig sind, Fälle von weichem Paternalismus aber unterteilt werden können in „nicht bewusste bzw. beabsichtigte“ und „vermindert bewusste bzw. beabsichtigte“ Handlungen. Die erste Teilkategorie wird dem „Harm-to-Others“-Prinzip zugewiesen und ebenfalls als ethisch unstrittig behandelt. Damit wird die Frage, ob ein paternalistischer Eingriff in eine vermindert kompetente Handlung gerechtfertigt werden kann, in den Mittelpunkt der Diskussion geschoben. Allein diese Fälle sind ethisch rechtfertigungsbedürftig. Der Vorteil gegenüber der Kennzeichnung „weich paternalistisch“ und damit „ethisch unbestritten gerechtfertigt“ besteht darin, dass einer Handlung zunächst einmal Autonomie (und sei es nur in minimaler Form) unterstellt wird. Jede Einschränkung der Fähigkeit, autonom zu entscheiden, muss deshalb eigens ausgewiesen und jeder Eingriff eigens begründet werden. 3.  Beabsichtigte und gewusste Folgen

Wir sahen, dass Autonomie und Fürsorge in Konflikt geraten können, nämlich dann, wenn der Arzt eine Maßnahme für geboten hält, die der Patient ablehnt. In vielen Fällen gilt es allerdings, den Patienten auf der Grundlage ärztlicher Fürsorge überhaupt in den Stand zu versetzen, eine autonome Entscheidung treffen zu können und ihn in dieser Hinsicht zu einem wohlinformierten Urteil zu verhelfen. Ist dies sichergestellt, erhebt sich allerdings noch die Frage, ob wir es mit dem authentischen Urteil eines Patienten zu tun haben oder nicht. Als authentisch soll im Folgenden ein Urteil angesehen werden, das als wohlüberlegt (und nicht nur als wohlinformiert) bezeichnet werden kann. Greifen wir zunächst die von Harry Frankfurt und Gerald Dworkin entwickelte Unterscheidung von Volitionen erster und zweiter Ordnung auf (vgl. Frankfurt 1971; Dworkin 1993, 210 ff.). Als Volitionen erster Ordnung werden unreflektierte Wünsche bezeichnet. Volitionen zweiter Ordnung hingegen sind Wünsche, zu denen sich ein Akteur wertend verhält, indem er sich mit ihnen identifiziert oder nicht identifiziert, oder anders gesagt: die er als zu sich selbst und seinen Wertvorstellungen gehörig oder eben nicht gehörig empfindet. Eine Person, die sich wertend zu sich selbst verhält, entwickelt Volitionen zweiter Ordnung. Indem

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sich also ein Akteur auf diese Weise zu seinen Wünschen verhält, entwickelt er ein evaluatives Selbstverhältnis zu sich selbst. Wünsche erster Stufe können als mit den Wertvorstellungen einer Person mehr oder weniger übereinstimmend angesehen werden. Quelle dieser Einschätzung ist natürlich primär die betreffende Person selbst, erst sekundär kann diese Person dann auch auf die Frage hin beobachtet werden, ob ein aktual geäußerter oder durch eine Verfügung belegter Wunsch ihrer Persönlichkeit mehr oder weniger entspricht. Problematisch an der Verknüpfung des Autonomiebegriffs mit einer Theorie der hierarchischen Motivation ist sowohl ihr deskriptiver als auch ihr präskriptiver Charakter. Wie soll beschrieben werden können, wann ein Wunsch erster oder zweiter Ordnung vorliegt? Ein Problem besteht ja darin, dass erst dann, wenn eine Entscheidung ihrem Inhalt nach bereits feststeht, überprüft werden kann, ob eine authentische Äußerung der betreffenden Person vorliegt oder nicht, während die bereits erwähnten Bedingungen für autonomes Entscheiden, nämlich die Fähigkeit, Sachverhalte zu verstehen und zu beurteilen, schon vor einer solchen Entscheidung überprüft werden können. Ein Modell, das nur authentische Entscheidungen als autonom qualifiziert, könnte dazu führen, dass Entscheidungen, die für den Arzt ungewöhnlich erscheinen, von vorneherein als nicht-authentisch zurückgewiesen und gewöhnlich erscheinende Entscheidungen als authentisch implementiert werden (vgl. Schöne-Seifert 1996, 570). Und was soll in präskriptiver Hinsicht aus einer solchen Beschreibung folgen? Sind unreflektierte Wünsche weniger rational als reflektierte? Es könnte ja gefordert werden, dass Entscheidungen nur nach ausführlicher kritischer Reflexion befolgt, also nur authentische, das heißt wohlüberlegte Wünsche implementiert werden. Was soll dann mit spontanen Wünschen geschehen? Sollen diese durch die Entscheidung des Arztes überstimmt werden? Und ist ein Patient nicht überfordert, wenn von ihm abverlangt wird, sich jederzeit kritisch zu allen seinen Wünschen zu verhalten? Außerdem können auch Wünsche zweiter Ordnung in Konflikt miteinander geraten, und es wäre wiederum eine Überforderung zu verlangen, dass eine Person alle Wünsche zweiter Ordnung in eine konsistente und kohärente Ordnung zu bringen hat. Zudem finden sich bei jedem Menschen sowohl reflexive wie nicht reflexive Formen, sich mit den eigenen Wünschen zu identifizieren. Daher stellt sich die Frage, warum nicht reflexive Formen, die sich in der Lebensführung einer Person ausdrücken können, nicht etwas über das Selbstverständnis eines Menschen aussa-

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gen sollen. Schließlich können Wünsche zweiter Ordnung unreflektiert sein, wenn sie beispielsweise durch subtile Manipulation erzeugt wurden. Dieser Mangel kann auch durch das Einführen einer dritten Ebene nicht geheilt werden, weil so ein Regress droht. Um diesem Regress zu entgehen, führt Frankfurt den Begriff des „wholehearted commitment“ ein. Allerdings ist das Merkmal einer charakterlichen Verfestigung im Fall der Manipulation nicht relevant. Denn solange einer Person nicht bewusst ist, dass sie in ihrem Urteil beeinflusst ist, wird sie auch nicht den Wunsch entwickeln, etwas an ihrer Lage zu ändern. Sinn macht die Unterstellung eines reflektierten Wunsches nur, wenn man die genannten Einwände zum Anlass nimmt, um das Konzept der hierarchischen Motivation zu modifizieren, und zwar indem nicht die aktuale Identifikation einer Person mit ihren Wünschen, sondern die allgemeine Fähigkeit, eine evaluative Einstellung einzunehmen, zu fordern ist. Solange keine Irritationen dahingehend auftreten, was das Erfordernis der Konsistenz bzw. Kohärenz anbelangt, kann man von einer autonomen Person sprechen, wenn dieser gleichzeitig unterstellt wird, dass sie sich, sollte ein Konflikt auftreten, in ein kritisches Verhältnis eben dazu setzen kann (vgl. Quante 2002, 197 ff.). Sinn macht das Modell der hierarchischen Motivation auch, wenn es in die Empfehlung mündet, Rahmenbedingungen etwa durch ärztliche Aufklärung so zu gestalten, dass eine wohlüberlegte Entscheidung ermöglicht wird. Das könnte beispielsweise bedeuten, dass ein Arzt, der den Eindruck gewinnt, der Wunsch eines Patienten sei nicht authentisch, zu einer kritischen Reflexion der in Frage stehenden Entscheidung einlädt, die anschließend – egal ob der Patient dieser Einladung folgt oder nicht bzw. seine Entscheidung revidiert oder auf ihr beharrt – durch den Arzt umgesetzt wird. Auch auf diese Weise kann das Argument entkräftet werden, beim Modell der hierarchischen Motivation handle es sich um eine Überforderung der Akteure, deren Zeit, Informationen und Kapazitäten für Reflexionsprozesse ja immer endlich seien. Hier ist auch der Ort, um über Strategien zu sprechen, Autonomie in die Zukunft hinein zu verlängern, also für Situationen vorzusorgen, in denen die Fähigkeit, selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln, verloren gegangen ist – vorübergehend oder irreversibel. Vor allem Patientenverfügungen ermöglichen es einer Person, steuernd auf Situationen einzuwirken, in denen sie zur Ausübung ihrer Autonomie nicht mehr in der Lage ist. Gleichzeitig wird dadurch derjenige Personenkreis entlastet, der in die medizinische Entscheidungslage eingebunden ist.

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Dennoch darf nicht übersehen werden, dass auch eine Verfügung, die die Wünsche einer Person detailliert wiedergibt, durch die an der Ausführung des Patientenwillens Beteiligten (Angehörige, Ärzte oder Gerichte) interpretiert werden muss. Dies ist vor allem aus zweierlei Gründen erforderlich: Zum einen können Menschen ihre Wertvorstellungen im Lauf der Zeit ändern, so dass grundsätzlich zu fragen ist, ob die damals getroffene Entscheidung auch Ausdruck des gegenwärtigen Willens ist. Zum anderen kann die in einer Patientenverfügung vorgenommene detaillierte Schilderung des medizinisch Erwünschten nie alle Eventualitäten einfangen, so dass auch hier die Frage nach der Verbindlichkeit einer solchen Entscheidung zu stellen ist (vgl. Duttge 2011, 34–59). Auch wenn die Patientenverfügung in der gegenwärtigen medizin­ ethischen Debatte einen hohen Stellenwert einnimmt, stellt sie doch nicht das einzige Instrument dar, um zukünftige Entscheidungssituationen kontrollieren zu können. Eine Person kann Entscheidungen für einzelne Handlungen oder Entscheidungen bezüglich bestimmter Lebensbereiche auch an andere Personen delegieren. Die Bestimmung eines Stellvertreterentscheiders mag in einem entsprechenden sozialen Umfeld sogar die geeignetere Wahl sein, und zwar entweder als Alternative oder als Ergänzung zur Patientenverfügung. Im letzteren Fall hat die Stellvertreterentscheidung den Sinn, die Bestimmungen der Verfügung situationsgerecht zu präzisieren, sie darf aber die Grundausrichtung einer solchen Verfügung nicht missachten. Die Interpretationsbedürftigkeit einer Verfügung weist zwar auf Probleme bei der Umsetzung des Patientenwillens hin, diese stellen aber die ethische Legitimität einer Verfügung nicht grundsätzlich in Frage, auch wenn sie dazu angetan sein mögen, ihre Verbindlichkeit juristisch zu graduieren, um, etwa bei Alzheimerund anderen Demenzerkrankungen, Raum für Abwägungsentscheidungen zu schaffen (vgl. Quante 2002, 284). Das Wissen um diese Probleme kann freilich als Anlass dafür genommen werden, die eigenen Wünsche möglichst detailliert zu beschreiben und am besten auch zu dokumentieren. Ist dies erfolgt, gibt es gute Gründe dafür, die in der Vergangenheit niedergelegten „critical interests“ eines Patienten auch gegen die in der Gegenwart beobachtbaren „experiental interests“ zu implementieren. Bei einer Stellvertreterentscheidung müssten für den gegenteiligen Fall überzeugende Hinweise dafür geliefert werden, dass eine entsprechende medizinische Entscheidung dem Willen des Patienten entspricht. Viel spricht deshalb dafür, dass wir Personen, die normal sozialisiert wurden, zunächst einmal die Fähigkeit unterstellen, selbstbestimmt zu

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entscheiden und zu handeln, also nicht vom Ideal vollständiger Rationalität ausgehen, das vorsieht, dass sich eine Person jederzeit kritisch zu all ihren Wünschen verhält. Das schließt nicht aus, dass wir das Urteil in der Frage, ob eine Person autonom entscheiden bzw. handeln kann oder nicht, an Fähigkeiten binden, und das Vorhandensein dieser Fähigkeiten anhand empirisch darstellbarer Kriterien überprüfen. Klar ist aber, dass sich der Begriff der Autonomie darin nicht erschöpft. Würden wir den Begriff der Autonomie eng an das Vorliegen bestimmter Fähigkeiten binden, hätte das zur Folge, dass alle Personen, die über diese Fähigkeiten nicht verfügen, als nicht autonom angesehen werden würden. Das kann sinnvoll sein, setzt aber die Zustimmung derer voraus, die sich dieser Regel unterwerfen. Der Begriff der Autonomie sollte deshalb jeder Person die Möglichkeit einräumen, an der Definition entsprechender Kriterien mitzuwirken und eine solche Einschränkung als Akt der Selbstbindung zu betrachten. Die Prozesse, innerhalb derer wir uns in unserer Gesellschaft gegenseitig als autonome Wesen anerkennen (oder – weniger im Regel- als vielmehr im Ausnahmefall – nicht anerkennen), müssen daher jederzeit kritisierbar sein. So wie die Unterscheidung von Volitionen erster und zweiter Ordnung für ein „internes“ Konzept von Autonomie sinnvoll ist, ist die Unterscheidung von Regeln, denen wir folgen, und Regeln, zu denen wir uns kritisch verhalten (und die konsequenterweise die Manipulation einer Person ausschließen), für ein „externes“ Konzept von Autonomie angemessen. 4.  Autonomiekonzepte

Aus ethischer Sicht erscheint mir nach dem bisher Gesagten ein Schwellen-Konzept von Autonomie geeignet. Wird eine bestimmte Schwelle überschritten, wird eine Person als autonom angesehen, das heißt, ihre Entscheidungen bzw. Handlungen werden als rational beurteilt, selbst wenn sie in den Augen anderer irrational zu sein scheinen. Wird die Schwelle hingegen unterschritten, ist ein Eingriff in die Entscheidungen der betreffenden Person legitim. Der Vorteil dieses Schwellenkonzeptes besteht darin, dass dem Menschen grundsätzlich Autonomie unterstellt und die Rationalität seiner Entscheidungen und Handlungen, sofern sie nur ihn selbst betreffen, weitgehend respektiert wird. Der Nachteil besteht darin, dass die Willkürlichkeit der Schwellensetzung besonders deutlich hervortritt. Werden nämlich die Anforderungen zu tief angesetzt, ist zu befürchten, dass dadurch Entscheidungen entstehen, bei denen fraglich ist, ob sie wirklich autonom getroffen wurden. Werden

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die Anforderungen hingegen zu hoch angesetzt, entsteht die Gefahr, dass Entscheidungen getroffen werden, bei denen fraglich ist, ob sie wirklich nicht-autonom zustande kamen. Dieser Nachteil kann durch die Definition von Autonomiegraden in rechtlicher Hinsicht bearbeitet werden, eine Bestimmung, die notorisch umstritten bleiben muss (ein solches Konzept verfolgen Faden/Beauchamp 1986, 235 ff.). Ein gradueller Begriff von Autonomie hat den Vorteil, dass die Eingriffstiefe in die Entscheidungen einer Person feiner reguliert werden kann. Dem steht aber der Nachteil gegenüber, dass im Grunde die Rationalität jeder Entscheidung angezweifelt werden kann, womit Eingriffe in viel größerer Breite legitimiert werden können. Im ersten Fall wird also der Raum für paternalistische Maßnahmen bei gleicher Eingriffstiefe eng gehalten, im zweiten Fall ist dieser Raum bei gestufter Eingriffstiefe weit gezogen. Sinnvoll ist deshalb eine Mischform dergestalt, dass unterhalb einer bestimmten Schwelle zusätzlich Grade dessen, was wir als vernünftig und in diesem Sinne als frei ansehen, eingeführt werden. Ist ein solches Graduierungskonzept innerhalb des Rechtsdiskurses etabliert, können dort, wo die Autonomie einer Entscheidung erfahrungsgemäß in Frage steht, Abstufungen festgelegt werden. Eine solche Strategie der Abstufung kann mit einer „Sliding-Scale Strategy“ (vgl. Buchanan/Brock 1989, 51–70) verknüpft werden, nach der desto strengere Kriterien anzulegen sind, je gravierender eine Maßnahme für das Wohl eines Patienten auszufallen droht. Die Frage, ob sich Personen einem Kompetenztest unterziehen müssen und was aus der Tatsache, dass eine Person sich einem solchen Test verweigert, folgen soll, kann ebenfalls nur innerhalb eines Rechtsdiskurses beantwortet werden, aus ethischer Sicht ist zu fragen, auf welche Begründung sich eine solche Norm stützen könnte. Jedenfalls müsste die Entscheidung für eine solche Rechtsnorm, einen Test der Entscheidungskompetenz eines Patienten auch gegen seinen Willen durchzuführen, ethischer Natur sein, das heißt, sich auf die autonome Entscheidung des Betroffenen stützen können. Wenn es aktual aber nicht möglich ist, sich für oder gegen eine entsprechende Maßnahme auszusprechen, müsste es sich um eine Entscheidung für eine entsprechende Regel handeln. Wer diese Regel nicht akzeptiert, muss dann auch die Möglichkeit haben zu bestimmen, nicht Opfer eines Eingriffs zu werden, wenn er sich dazu nicht äußern kann. Wird einerseits Krankheit als Anlass für die Möglichkeit einer umfassenden Aufklärung angeführt, so wird andererseits auch argumentiert, dass gerade eine umfassende Aufklärung den Prozess der Heilung

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behindern könnte. Für den Arzt entsteht so das Problem, ob er den Patienten aufklären soll, um dadurch die Basis für eine autonome Entscheidung zu schaffen, oder ob er damit gerade die Fähigkeit des Patienten zu einer autonomen Entscheidung untergräbt. Die Frage ist allerdings, wie man wissen kann, ob eine Information für den Patienten so belastend ist, dass der Prozess der Heilung genau dadurch beeinträchtigt wird. Zweifelhaft ist jedenfalls, ob die Vorspiegelung einer gemessen an den Tatsachen günstigeren Prognose wirklich eine Beruhigung nach sich zieht (vgl. Bok 1978, 232 ff.). Auch das Verschweigen einer relevanten Information kann belastend sein, vor allem dann, wenn der Patient seinen wahren Zustand ahnt und das Ausbleiben entsprechender Informationen als beunruhigend erfährt. Auf jeden Fall müsste das Zurückhalten von Informationen durch eine Vereinbarung, die im Gespräch zwischen Arzt und Patient getroffen wurde, legitimiert sein. Es wird zwar die Meinung vertreten, der Behandelnde müsse abwägen, welche Strategie voraussichtlich größere Schäden verursache. Eine solche Abwägung ist für den Arzt jedoch nahezu unmöglich, da es sich hierbei nicht um eine klinische Beurteilung handelt, sondern um die Frage, welchen Wert die Information für einen konkreten Patienten hat, das heißt in welcher Weise sich eine Diagnose oder Therapie (oder ihre Unterlassung) auf sein zukünftiges Leben auswirkt. Das Argument, der Arzt, der für das Urteil, Informationen zurückzuhalten, nicht kompetent sei, sei auch nicht kompetent für das Urteil, rückhaltlos aufzuklären, erscheint dabei nicht plausibel. Ein Urteil über Vor- und Nachteile der Aufklärung kann nur auf dem Hintergrund der individuellen Wertvorstellungen des Patienten gefällt werden. Das bedeutet, dass allein der Patient das Urteil fällen kann, auf Informationen ganz zu verzichten oder nur bestimmte Informationen zur Kenntnis zu nehmen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich empiehlt, mit einem Autonomiekonzept zu arbeiten, das zwar Graduierungen zulässt, aber auch minimalautonome Willensäußerungen in die Bestimmung des für einen Patienten Zuträglichen einbezieht. Der Begriff der Autonomie fungiert in einem zweifachen Sinn als Norm: Einmal gebietet er dem Arzt, Entscheidung und Handlung eines Patienten zu respektieren. Gilt der Patient im oben dargestellten Sinn nicht als kompetent und deshalb nicht als autonom, hat der Arzt dieses Defizit zu beheben, jedenfalls soweit das möglich ist. Zum anderen stellt der Begriff der Autonomie auch für den Patienten eine Norm dar: Er soll möglichst dem Ideal des vernünftig überlegenden Patienten entsprechen, was Anforderungen an

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seine Bereitschaft, die für eine rationale Wahl notwendigen Informationen aufzunehmen, stellt. Neben dem präskriptiven birgt der Begriff der Autonomie zudem einen deskriptiven Sinn: Es sind empirisch überprüfbare Kriterien dafür zu entwickeln, wann der Patient als autonom anzusehen ist und wann nicht. Christof Breitsameter Literatur Nathan Berg/Gerd Gigerenzer, Psychology implies paternalism? Bounded rationality

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06. Theologie Freiheit und Schuldfähigkeit Die Debatte darüber, ob wir Menschen wirklich frei sind, ist längst nicht mehr nur ein Problem akademischer Theologie und philosophischer Fachdiskurse. Sie ist seit einigen Jahren auch in der Öffentlichkeit präsent: Wofür können Menschen – etwa Straftäter – verantwortlich gemacht werden und wofür nicht? Hervorgerufen wurde dieses neue Interesse am Thema Freiheit vor allem durch experimentelle Ergebnisse der Hirnforschung. Diese Experimente haben die in unserer alltäglichen Praxis gewöhnlich stillschweigend vorausgesetzte Auffassung, unser Entscheiden und Handeln sei frei, in Frage gestellt. Das durch die Hirnforschung aufgeworfene Freiheitsproblem soll im Folgenden zunächst aus philosophischer Sicht diskutiert werden. Unterscheiden wir zunächst zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit: Willensfreiheit soll verstanden werden als Fähigkeit, seinen Willen zu bilden, also von innen zu formen, eine Formulierung, die nicht nur spontane Willensäußerungen, sondern auch (und vielleicht sogar primär) Momente der Überlegung und Prozesse der Willensbildung mit einbezieht, in denen etwa mit Hilfe vernünftiger Kriterien entschieden wird, was mit spontanen Regungen geschehen soll. Handlungsfreiheit bedeutet hingegen, tun oder lassen zu können, was man will, das heißt, nicht durch äußere Faktoren daran gehindert zu sein, eine Absicht auch in die Tat umzusetzen. Willensfreiheit kann auch dort vorliegen, wo äußere Zwänge herrschen. Das bedeutet freilich nicht, dass die Fähigkeit, seinen Willen zu bestimmen, gänzlich unabhängig ist von beschränkenden Bedingungen. Man kann sich in einer bestimmten Situation zu etwas entschließen, was man unter anderen Bedingungen nicht tun würde, weil es im einen Fall vernünftig, im anderen aber unvernünftig erschiene (etwa einem Bankräuber Geld auszuhändigen), ohne dass damit schon die Fähigkeit, seinen Willen zu bestimmen, in Frage gestellt wäre. Faktoren allerdings, die es einem Akteur unmöglich machen, seinen Willen zu bilden, berühren die Frage nach der Willensfreiheit

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auf grundsätzliche Weise. Relevant sind in den folgenden Überlegungen also zum einen Faktoren, die die Willensfreiheit prinzipiell in Frage stellen, zum anderen Faktoren, welche die Fähigkeit, den Willen zu bestimmen, mindern oder ganz ausschließen. Insgesamt wird man eine Person für eine Handlung nur dann zur Verantwortung ziehen, wenn man bei ihr nicht nur Handlungsfreiheit, sondern auch Willensfreiheit annehmen kann. 1. Determination und Willensfreiheit

Für die philosophische Bearbeitung des Problems, inwiefern wir angesichts der experimentellen Ergebnisse der Hirnforschung von Freiheit und damit von Schuldfähigkeit sprechen können, ist die Frage zentral, was wir unter dem Begriff der Determination verstehen. Unterscheiden wir im Folgenden zwei Formen von Determination: Eine universale und eine besondere Determination. Mit dem Begriff der universalen Determination ist die Leugnung des Prinzips alternativer Möglichkeiten gemeint. Die Rede von einer besonderen Determination zielt auf bestimmbare (wenn auch häufig unbewusst wirkende) Faktoren, die unsere Entscheidungen beeinflussen (vgl. Walde 2006). Werfen wir anhand dieser Unterscheidung die Frage auf, ob man Grade der Freiheit, der Zurechenbarkeit, der Verantwortlichkeit und damit der Schuld annehmen sollte. Aus juridischer Perspektive ist zunächst festzustellen, dass das deutsche Strafrecht hinsichtlich des Schuldbegriffs Graduierungen zulässt. Es kennt fehlende Fähigkeiten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, und nimmt entsprechend Schuldausschluss an; und es kennt verminderte Fähigkeiten und spricht dann von einer Schuldminderung. Aus philosophischer Sicht ist es interessant zu fragen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um von einer Minderung oder gar von einem Ausschluss von Schuld sprechen zu können. Greifen wir als Beispiel die in der Debatte um die Willensfreiheit häufig diskutierte Frage auf, inwiefern wir von Freiheit und Schuldfähigkeit sprechen sollten, wenn eine psychische Prädisposition für ein bestimmtes Fehlverhalten vorliegt, und zwar der Art, dass hirnorganische Korrelate dafür identifiziert werden können (vgl. Pauen 2001, 85–107). Hier ist es hilfreich, zwischen Korrelaten und Ursachen zu unterscheiden. Wir können sagen, dass psychische Prozesse mit physischen korrelieren: Korrelate wirken dann synchron. Wir können aber auch sagen, dass psychische Prozesse von physischen verursacht werden: Ursachen wirken in diesem Fall diachron. Wenn wir nun behaupten, dass Hirnstrukturen unsere Ent-

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scheidungen determinieren, müssen wir ausweisen, was wir damit meinen. Wenn wir den Begriff der Determination auf hirnorganische Korrelate beziehen, kommt der Begriff der universalen Determination ins Spiel, und wir müssen uns entscheiden, ob dadurch die Fähigkeit, den Willen zu bilden, gefährdet ist oder nicht. Sehen wir aber Hirnstrukturen als Ursachen für ein bestimmtes Verhalten an, stellt sich hinsichtlich des Freiheitsproblems die Frage, warum wir genau diese Richtung der Determination bevorzugen. Wir könnten ja genauso gut argumentieren, dass unsere Hirnstrukturen durch mentale (und auf diesem Weg auch durch soziale) Einflüsse verändert werden können. Gleichwohl ist, wenn man anstatt stabiler Korrelationen (wie und wann auch immer verursachte) kontingente Veränderungen benennt, – nehmen wir als Beispiel eine Läsion des Frontalhirns, die mit einer Verhaltens- oder Persönlichkeitsänderung einhergeht – das Kausalurteil plausibel und Anlass dafür, über eine Minderung oder gar einen Ausschluss von Schuld nachzudenken (vgl. Keil 2007, 159–161). Hier ist dann allerdings der Begriff der besonderen Determination von Belang. Nehmen wir jetzt die auf empirischen Untersuchungen beruhende Aussage der Hirnforschung mit hinzu, dass sich beispielsweise Menschen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung durch die Androhung von Sanktionen nicht zur Befolgung gesellschaftlich anerkannter und etablierter Regeln bewegen lassen. So argumentiert etwa Gerhard Roth, dass ein Mensch dem Drang zur Straftat nur dann hätte widerstehen können, wenn ein noch stärkeres Motiv, etwa die Furcht vor Strafe, vorhanden gewesen wäre. Wenn er aber nichts dafür kann, dass ein solches Motiv nicht oder nicht ausreichend stark vorhanden war, weil entsprechende psychologische Bedingungen nicht gegeben waren, stellt sich die Frage nach seiner Verantwortlichkeit und damit nach seiner Schuldfähigkeit (vgl. Roth 2009, 201). Die Frage ist, welche Schlussfolgerungen wir aus dieser Beobachtung ziehen können. Folgt daraus unmittelbar, dass wir von einer Minderung oder gar von einem Ausschluss der Fähigkeit zur Impulskontrolle zu sprechen haben? Hier nimmt die Empirie zweifellos einen wichtigen Stellenwert ein, denn man kann statistisch feststellen, in welcher Streubreite bei dem betreffenden Befund Verhaltensalternativen beobachtet werden können. Aus juridischer Sicht können daraus – wie bereits erwähnt – Schwellen für Einschränkungen der Fähigkeit zur Selbstbestimmung definiert werden. Die philosophische Sicht bringt allerdings eine andere Problemstellung ins Spiel: Wie kann die Unfähigkeit, sanktionsbewehrten Regeln zu folgen, vom Unwillen,

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dies zu tun, unterschieden werden? Man wird ja nicht einfach schließen können, dass immer dort, wo der Wille zum Gehorsam gegenüber etablierten Regeln oder die Furcht vor der angedrohten Strafe nicht ausgereicht haben, auch Unfähigkeit vorliegt. Man kann auch argumentieren, dass in diesem Fall die angedrohte Strafe nicht drastisch genug war, um den Gehorsam gegenüber dem bestehenden Recht auszulösen. Unter Todes- oder Folterdrohung käme vielleicht ein anderes Ergebnis zutage. Es ist also denkbar, dass der Wille zur Selbstkontrolle, der bislang zum Unterlassen von Straftaten ausgereicht hat, nach einer Verletzung des Frontalhirns nicht mehr ausreicht und deshalb größere Anstrengungen erforderlich sind als zuvor, die Fähigkeit, den Willen zu bestimmen, aber gleichwohl erhalten geblieben ist. Es kann natürlich auch sein, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle nicht vermindert, sondern ganz verloren gegangen ist. Ob Minderung oder Verlust der Willensfreiheit durch diachrone Verursachung vorliegt, kann nur durch empirische Erkenntnisse entschieden werden. Aus juridischer Perspektive erscheint folgendes Fazit plausibel: Pathologische Fälle verlangen eine eigene Behandlung. Für nichtpathologische Fälle gilt, dass es einigen Menschen schwerer als anderen fällt, sich normgerecht zu verhalten. Das Ausmaß der erwartbaren und damit zumutbaren Anstrengungen kann natürlich mit der Größe des auf dem Spiel stehenden Rechtsguts variieren. Wenn es um das Unterlassen eines Gewaltverbrechens geht, sind größere Anstrengungen erwartbar als bei Bagatelldelikten. Für das Freiheitsproblem als solches hingegen – ich spreche also nicht von einer rechtlichen Betrachtung, die sich auf beispielsweise psychiatrische Gutachten stützt, sondern von einer philosophischen Perspektive, die zwischen einer universalen und einer besonderen Determination unterscheidet – ist dieser Unterschied ohne Belang. Denn man kann folgenden Einwand formulieren: Wem eine gebotene Handlung oder Unterlassung aufgrund seiner angeborenen (eine Möglichkeit, die wir jetzt hinzunehmen müssen) oder erworbenen Fähigkeiten schwerer fällt als anderen, muss gegebenenfalls trainieren, kompensatorische Gewohnheiten ausbilden, entsprechende Anreize setzen oder lernen, sich von bestimmten Situationen einfach fernzuhalten. Für die Frage der Schuldfähigkeit sind, so sollte damit auch deutlich werden, nicht nur psychische, sondern ebenso soziale Bedingungen entscheidend wichtig (vgl. Keil 2007, 159–164). Die Frage, ob die Gesellschaft einfach ein Recht darauf hat, Strategien der Selbsterziehung bzw. Selbstbindung von ihren Mitgliedern zu verlangen bzw. ob diesem Recht auch

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eine Pflicht von Seiten der Gesellschaft gegenübersteht, ihre Mitglieder in diesem Bemühen zu unterstützen, soll an anderer Stelle noch einmal aufgegriffen werden. Die Perspektive des Rechts und die Perspektive der Philosophie stehen in meinen Augen im Verhältnis wechselseitiger Kritik: Aus philosophischer Sicht wird die Unterscheidung von pathologischen und nichtpathologischen Fällen als soziale Konstruktion ausgewiesen, aus rechtlicher Perspektive wird darauf verwiesen, dass sich eine Gesellschaft schon aus pragmatischen Gründen heraus nicht durch die Androhung von Folter- oder Todesdrohung befrieden lässt (abgesehen von der Frage, welches Selbstverständnis mit einer solchen Haltung verbunden wäre). 2. Das Libet-Experiment

Nun sollte nach der Unterscheidung von Korrelaten und Ursachen ein berühmt gewordener Einwand gegen die Willensfreiheit nicht einfach übergangen werden, der sich auf die Experimente des Hirnforschers Benjamin Libet stützt (vgl. Libet 2005). Anders als die Erforschung neuronaler Korrelate des Bewusstseins scheint die Annahme einer mentalen Verursachung physischer Prozesse für das Freiheitsproblem in der Tat relevant zu sein. Denn hier ist tatsächlich von zeitlicher Abfolge, nicht von gleichzeitiger Realisierung die Rede, so dass der eben vorgebrachte Vorwurf einer Verwechslung von synchroner und diachroner Determination, die zur Identifikation des physiologischen Korrelats eines mentalen Ereignisses mit dessen Ursache führt, nicht mehr zieht. Libet führte folgendes Experiment durch: Versuchspersonen wurden aufgefordert, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne einen Finger zu krümmen und jeweils den Zeitpunkt ihrer Entscheidung anzugeben, indem sie sich den Zeigerstand einer schnell laufenden Uhr merkten. Dabei wurden die Probanden angewiesen, die Bewegung nicht im Voraus zu planen, sondern sie „spontan“ auszuführen. Dabei zeichnete Libet die Gehirn- und Muskelströme der Probanden auf. Es zeigte sich, dass ca. 550 Millisekunden vor der Muskelaktivierung und ca. 350 Millisekunden vor dem durch die Probanden datierten Willensakt eine Aktivität im motorischen Kortex anlief. Libet verwendete für die Bezeichnung dieser Aktivität den Begriff des Bereitschaftspotenzials. Das Experiment zeigte, dass der Aufbau des Bereitschaftspotentials vor dem Zeitpunkt, den die Versuchspersonen als Zeitpunkt ihrer willentlichen Entscheidung angaben, lag. Der bewusste Wille, eine Handlung auszuführen, scheint also der neuronalen Initiierung dieser Handlung durch

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unbewusste Prozesse zeitlich nachgeordnet zu sein, woraus Libet den Schluss zog, dass es nicht die bewussten Entscheidungen des Probanden sind, die die kausalen Antezedentien für die Handlung bilden, sondern dass dafür unbewusste Prozesse ursächlich verantwortlich seien. Wolfgang Prinz hat diese Schlussfolgerungen in dem prägnanten Satz zusammengefasst: „Wir tun nicht, was wir wollen; wir wollen, was wir tun“ (Prinz 1996, 98ff.). Libet selbst zog aus dem Experiment nicht den Schluss, die Willensfreiheit sei damit widerlegt. Er nahm nämlich eine „Veto-Fähigkeit“ des bewussten Willens an. Experimentell stützte sich diese Annahme auf die Aufforderung, die Probanden sollten eine bereits eingeleitete Bewegung spontan unterbrechen. In einem Zeitfenster von ca. 100 Millisekunden vor dem Beginn der Körperbewegung könne die Bewegung, so schloss Libet aus den Ergebnissen dieser Experimente, noch aufgehalten werden. Dieses Veto könne nicht seinerseits durch unbewusste Prozesse verursacht sein, weil dafür nicht genug Zeit vorhanden sei. Allerdings wurde gegen diese Interpretation eingewandt, es sei unklar, wie die Spontaneität des geforderten Entschlusses sicher gestellt werden könne, da die Versuchspersonen schon bei der Einleitung ihrer Handlung wussten, dass sie diese zu einem festgelegten Zeitpunkt unterbrechen würden (vgl. Mele 2006, 34f./Roth 2009, 194f.). Im Folgenden soll nicht die Versuchanordnung selbst der Kritik unterzogen werden, beispielsweise durch den Hinweis, beim Libet-Experiment handle es sich nicht um eine echte Wahl (dieser Einwand wurde bekanntlich von Patrick Haggard und Martin Eimer dadurch entkräftet, dass sie das Libet-Experiment unter veränderten Bedingungen wiederholten und die Probanden vor die Wahlsituation stellten, eine von zwei Tasten zu drücken, wobei Libets Ergebnisse freilich im Wesentlichen bestätigt wurden) oder auch durch den Hinweis, die Aufforderung, die Probanden sollten sich spontan dazu entschließen, den Finger zu krümmen, sei paradox (vgl. Haggard/Eimar 1999, 128–133). Unter den möglichen Einwänden zur Interpretation Libets soll nur der folgende erwähnt werden: Der Aufbau des Bereitschaftspotentials wird bei Libet durchgängig in seiner verursachenden Rolle diskutiert, es wird aber nicht gefragt, ob bzw. wodurch das Bereitschaftspotential selbst verursacht ist. Die Kausalkette, die zur Handlung führt, beginne unbewusst, wird häufig argumentiert. Doch warum, so ist zu fragen, sollte sie überhaupt beginnen? Unter der Annahme, dass jedes Ereignis eine Ursache hat, beginnen Kausalketten nicht im Vorfeld einer Handlung, und sie enden auch nicht, wenn die Handlung abgeschlossen ist. Deshalb wird eine Beschreibung

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dessen, was während des Libet-Experiments geschieht, nicht beim Aufbau des Bereitschaftspotentials beginnen können. Der Aufbau des Bereitschaftspotentials ist keineswegs der kausale Ursprung der Handlung, sondern eben nur ein Glied in einer Kausalkette, die man mindestens bis zur Instruktion durch den Versuchsleiter zurückverfolgen muss, denn diese muss das Bewusstsein der Versuchsperson erreichen, damit das Experiment überhaupt durchgeführt werden kann (vgl. Keller/Heckhausen 1990, 352). Die Instruktion muss etwa zur Kenntnis genommen und verstanden werden, die Versuchsperson muss sich zur Kooperation entschließen, später muss sie die Zeigerstellung der Uhr wahrnehmen und sich merken. Ferner muss ihr die zu Beginn gebildete Absicht, irgendwann den Finger zu krümmen oder den fraglichen Impuls geschehen zu lassen, während des Experiments im Gedächtnis bleiben, sonst wird sich der Finger nicht krümmen. In einem bestimmten Sinn geht mithin die Absicht sehr wohl dem Aufbau des Bereitschaftspotentials voraus. Es handelt sich um eine zukunftsgerichtete Absicht, die aber im Bewusstsein der Person präsent bleiben muss. Mit diesen wenigen Andeutungen soll nur darauf hingewiesen werden, dass unklar ist, ob es einen zeitlich genau bestimmbaren Punkt der Entscheidung gibt, oder ob Entscheidungen nicht eher als Prozesse verstanden werden müssen, so dass der Aufbau eines Bereitschaftspotentials von bewussten Vorentscheidungen abhängt, die vor den von Libet vorgenommenen Messungen zu datieren sind (Gomes 1999). Wendete man ein, dass es zu den zeitlich früheren bewussten Entscheidungen jeweils wiederum zeitlich vorgeordnete und kausal verantwortliche unbewusste Prozesse gibt, ist die Willensfreiheit nur dann in Gefahr, wenn gezeigt werden kann, dass bewusste mentale Zustände prinzipiell keine kausale Relevanz haben (vgl. Beckermann 2006, 303), was uns auf die Kategorie der synchronen Korrelation verweisen würde. Andernfalls wäre zu fragen, inwiefern die unbewusste Initiierung bewusster mentaler Zustände als Widerlegung der Willensfreiheit gelten sollte, wenn doch diese Zustände zu irgendeinem Zeitpunkt, der der in Frage stehenden Handlung voraus liegt, ins Bewusstsein treten. 3. Handlungsfreiheit und Schuldfrage

Mit den nun folgenden und zugegebenermaßen sehr knappen Überlegungen soll ein bereits begonnener Gedanke noch einmal aufgegriffen werden, und zwar nicht mit dem Begriff der Willens-, sondern mit dem der Handlungsfreiheit. Die Freiheit, einen Entschluss auch in die Tat umsetzen zu können, ist – entsprechend dem schon angedeuteten Mo-

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dell einer Begründung von Sanktionen durch gegenseitig zugestandene Rechte – ein postkonstitutionelles Phänomen. Implizit oder explizit geltende Regeln eröffnen nämlich erst die Spielräume, innerhalb derer sich Handlungen dann entfalten können. Die Freiheit, zu tun, was man will, kommt erst durch sozial konzedierte Räume zustande. Weil Handlungsräume aber kollektiv konstituiert werden, ist die Gestalt dieser Räume unmittelbar nur der Gesellschaft und erst mittelbar dem Individuum, insofern es Subjekt der Gesellschaft und Autor der in ihr geltenden Regeln ist, zuzurechnen. Das hat auch Auswirkungen auf die Schuldfrage. Wenn vorhin etwas leichtfertig formuliert wurde, dass die Gesellschaft das Recht hat, vom Einzelnen zu erwarten, dass er sich selbst erzieht bzw. an individuelle Restriktionen bindet, um sozial unerwünschten Neigungen nicht nachzugeben, so ist auch klar, dass die Gesellschaft ihrerseits die Pflicht hat, die entsprechenden Rahmenbedingungen, also soziale Restriktionen, bereit zu stellen. Erst wenn das sicher gestellt ist, kann auf den Einzelnen, zuvor muss auf die Gesellschaft zugerechnet werden. Das bedeutet konkret, dass die Gesellschaft entsprechende Hilfestellungen wie beispielsweise psychologische Beratung oder Behandlung vorsehen muss. Entsprechend ist auch die Frage der Schuld zunächst auf die Handlungsbedingungen und erst dann auf die Handlungen selbst zu beziehen. Wo die Rahmenbedingungen individueller Restriktionen unzureichend sind, ist kollektiv zuzurechnen, nur wenn ausreichende soziale Restriktionen vom Einzelnen missachtet werden, individuell. Wo diese Rahmenbedingungen sich dem Einfluss des Einzelnen oder der Gesellschaft entziehen, sollte man von tragischen Situationen, wo sie im Einflussbereich des Einzelnen oder der Gesellschaft liegt, dagegen von Dilemmasituationen sprechen (Unglücksfälle, die individuell oder kollektiv hätten verhindert werden können, sind demnach nicht als tragisch zu bezeichnen). Aufgabe der Ethik ist es, darüber zu reflektieren, in welcher Situation und auf wen sinnvoller Weise moralisch zugerechnet werden kann. Situationen, die grundsätzlich nicht beeinflussbar und in diesem Sinne tragisch sind, eignen sich nicht für die ethische Diskussion. Von daher kann eine moderne Theorie der Schuldzumessung und damit auch der Legitimation von Strafe begründet werden, wobei ein solches Modell natürlich nicht unabhängig von Annahmen über die Freiheit des Willens entwickelt werden kann (Jakobs 1991, 484f.). Die Androhung und Durchführung von Sanktionen wäre am besten mit der reziproken Einschränkung von Freiheitsrechten zum Vorteil aller zu begründen. Was die Begrenzung von Strafe betrifft, so verbauten wir uns,

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würden wir Strafe nur als Sühne für ein Vergehen ansehen, dabei aber den präventiven Sinn von Sanktionen außer Acht lassen, eine auch für den gesetzestreuen Teil der Gesellschaft produktive Sicht, die versucht, den Straftäter in die Gesellschaft zurückzuholen. 4.  Theologische Anmerkungen zum Begriff der Schuld

Zwei abschließende Gedanken eignen sich für eine kurze theologische Anmerkung. Die theologische Ethik spricht nicht nur von Schuld, sondern auch von Sünde. Worin ist der Unterschied zu sehen, und wie kann die Unterscheidung begründet werden? In den meisten Fällen kann aus theologischer Sicht ein und derselbe Tatbestand, den wir als Schuld bezeichnen, auch als Sünde benannt werden, wenn damit nämlich zum Ausdruck kommen soll, dass immer dort, wo ein Mensch einem anderen Menschen oder sich selbst gegenüber schuldig wird, gleichzeitig der Wille Gottes verletzt wird. Interessant wäre es, der Frage nachzugehen, ob wir uns Handlungen denken können, für die wir den Begriff der Schuld, nicht aber den der Sünde verwenden. Fruchtbarer dürfte aber die umgekehrte Fragestellung sein: Gibt es Tatbestände, die wir als Sünde in einem religiösen Sinn bezeichnen, ohne dass gleichzeitig von Schuld in einem säkularen Sinn gesprochen werden kann? Ich sprach davon, dass erst die Existenz von geeigneten Rahmenbedingungen dazu berechtigt, individuell zuzurechnen. Dabei werden Regeln über demokratische Regelsetzungsverfahren legitimiert. Theologisch gesehen ist Sünde ein Zustand, der sich nicht in dem erschöpft, was der säkulare Staat gegenüber dem, was er als Recht gesetzt hat, als Schuld ausweisen kann. Denn schon das Nachdenken darüber, was als moralisch gut anzusehen ist, kann von dem, was als Recht bezeichnet wird, abweichen. In diesem Fall handelt derjenige, der das Recht befolgt, moralisch schlecht. Unter diesen Legitimationsvorbehalt wird auch der Begriff der Schuld gestellt. Der Mehrwert einer theologischen Rede von Sünde könnte dann in folgendem Gedanken bestehen: Ungerechte Verhältnisse können zur Normalität gerinnen, so dass ihr defizitärer Charakter nicht nur in kognitiver, sondern auch in motivationaler Hinsicht nicht mehr wahrgenommen wird. Wo aber nicht nur die Einsicht in das Bessere, sondern sogar der Wille dazu fehlt, hält die Religion möglicherweise Ressourcen der Humanität bereit, die überall sonst in der Gesellschaft verschüttet sind. Mit dem Begriff der Sünde kann eine Sensibilität für verfehltes Leben wie für gesellschaftliche Pathologien lebendig bleiben, die von der säkularen Rationalität nicht mehr gesehen wird. Nicht alles, was wir als Unrecht wahrnehmen, löst sich in

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eine säkular vollständig bearbeitbare Schuld auf. Der Sinn des Sündenbegriffs entfaltet sich zudem im Gedanken der Wiedergutmachung, dem Wunsch mithin, anderen Menschen zugefügtes Leid ungeschehen zu machen. Es ist die Hoffnung auf eine Verzeihung, die von anderswoher kommt als die nur von Menschen erwirkte Vergebung. Wo wir von Sünde sprechen, wissen wir, dass wir auf Vergebung angewiesen sind und unsere Hoffnung auf eine transzendente Macht setzen müssen, welche die durch menschliche Schuld verletzte Ordnung wiederherstellen kann (Habermas 2005, 21f.). Der Gedanke einer jenseitigen Vergebung könnte als Heuristik für den Versuch einer diesseitigen Versöhnung, also der Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft, wo immer dies möglich und sinnvoll erscheint, dienen. Wo eine Wiedereingliederung nicht gelingt, weil eine echte Minderung oder ein Ausfall der Fähigkeit, sich frei zu entscheiden, konstatiert worden bzw. anzunehmen ist, stellt der theologische Gedanke der Versöhnung auf eine humane Behandlung der betreffenden Personen ab. 5.  Versuch eines Fazits

Der Hirnforschung ist es zu verdanken, dass die Freiheitsdebatte wieder aufgeflammt ist und durch empirische Erkenntnisse neue Nahrung erhalten hat. Philosophie und Theologie können nicht so tun, als sei Freiheit eine Eigenschaft, die von empirischen Bedingtheiten einfach unabhängig ist. Durch die Ergebnisse der Hirnforschung sind wir gezwungen, den Begriffsapparat, der das Phänomen der Willensfreiheit zu beschreiben versucht, erheblich zu differenzieren – mit Folgen für benachbarte Begriffe wie Zurechnung, Verantwortung und Schuld. Das Problem der Willensfreiheit erweist sich dabei als äußerst vielschichtig. Die erwähnte Unterscheidung von universaler und besonderer Determination wird von Protagonisten der neurowissenschaftlich motivierten Freiheitskritik nicht immer beachtet. So schreibt Wolf Singer: „Keiner kann anders, als er ist. Diese Einsicht könnte zu einer humaneren, weniger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen führen, die das Pech hatten, mit einem Organ volljährig geworden zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepasstes Verhalten erlaubt“ (Singer 2004, 63). Ohne begriffliche Unterscheidungen können wir nicht sinnvoll über Freiheit sprechen. In dieser Hinsicht ist das Freiheitsproblem ein philosophisches Problem. Generell formuliert: Aufgabe der Philosophie ist es, Begriffe zu klären und theoretische Vorannahmen zu thematisieren. So müsste über die Unterscheidung von Korrelaten und

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Ursachen hinaus noch die schwierige Frage geklärt werden, was wir beispielsweise unter den Begriffen „Geist“ und „Körper“ verstehen und welche Deutung des Zusammenhangs der damit bezeichneten Phänomene wir präferieren, eine dualistische oder eine nichtdualistische. Außerdem wäre zu klären, was wir unter Kausalität bzw. mentaler Verursachung verstehen. Empirische Befunde wie die experimentellen Ergebnisse der Hirnforschung sind nur insofern von Belang, als sie dazu angetan sind, bestimmte theoretische Lösungen auszuschließen. Was Philosophen über das Phänomen der Freiheit sagen, darf experimentellen Ergebnissen der empirischen Forschung nicht widersprechen. Das macht es auch erforderlich, philosophische Aussagen so zu formulieren, dass sie empirisch widerlegbar sind. Christof Breitsameter Literatur Ansgar Beckermann, Neuronale

Determiniertheit und Freiheit, in: Christian Köchy/ Dirk Stederoth (Hrsg.), Willensfreiheit als interdisziplinäres Phänomen, Freiburg/München 2006, 289–304. Gilberto Gome, Volition and the readiness potential, in: Journal of Consciousness Studies 6 (1999), 59–66. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2005. Patrick Haggard/Martin Eimer, On the Relation Between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements, in: Experimental Brain Research 126 (1999), 128–133. Günther Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlegung der Zurechnungslehre, Berlin 1991. Geert Keil, Willensfreiheit, Berlin/New York 2007. Ingo Keller/Heinz Heckhausen,

Readiness Potentials Preceding Spontaneous Motor Acts: Voluntary vs. Involuntary Control, in: Electroencephalography and Clinical Neurophysiology 76 (1990), 351–361. Benjamin Libet, Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Frankfurt am Main 2005. Alfred R. Mele, Free Will and Luck, Oxford 2006. Michael Pauen,

Grundprobleme der Philosophie des Geistes und die Neurowissenschaften, in: Michael Pauen/Gerhard Roth (Hrsg.), Neurowissenschaften und Philosophie, Paderborn 2001, 83–122. Wolfgang Prinz, Freiheit oder Wissenschaft, in: Mario von Cranach/Klaus Foppa (Hrsg.), Freiheit des Entscheidens und Handelns. Ein Problem der nomologischen Psychologie, Heidelberg 1996, 86–103.

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Wolf Singer,

Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Christian Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2004, 30–65. Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main 2009. Bettina Walde, Willensfreiheit

und Hirnforschung. Das Freiheitsmodell des epistemischen Libertarismus, Paderborn 2006, 38–40.

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07. Theologie Organtransplantation Die Möglichkeit der Organverpflanzung hat durch die Fortschritte der Unterdrückung der Immunabwehr des Körpers in den letzten Jahrzehnten einen so hohen medizinischen Stellenwert erlangt, dass sie in bestimmten Fällen bereits als Standardbehandlung anerkannt ist, zu der es keine ernsthafte Alternative gibt. Während die Übertragung von Herz, Lunge, Leber und Bauchspeicheldrüse vielen Patienten noch keine dauerhafte Heilungschance bietet, haben Kranke, die an einem irreversiblen Nierenversagen leiden, gute Chancen auf eine beachtliche Lebensverlängerung, sofern ihnen rechtzeitig ein geeignetes Spenderorgan implantiert werden kann. Allerdings besteht für die Empfänger des Transplantats nur dann die Aussicht auf eine weitgehende gesundheitliche Rehabilitation, die häufig auch eine Wiedereingliederung in das Berufsleben ermöglicht, wenn es auch gelingt, die Immunreaktion und andere individuelle Risikofaktoren nach der Operation in den Griff zu bekommen. 1. Die postmortale Organspende

Bei vielen Menschen existieren Vorbehalte gegenüber dieser Möglichkeit der modernen Medizintechnik, insbesondere gegenüber der postmortalen Organspende: Sie befürchten, dass Ärzte Patienten vorschnell für tot erklären und noch im Prozess des Sterbens als Ersatzteillager für Organspenden missbrauchen. Deshalb gibt es zwar eine hohe theoretische Zustimmung zur Organtransplantation in unserer Gesellschaft. Praktisch resultiert aber aus der Sorge, unfreiwillig zum Organspender zu werden, eine geringe Bereitschaft, selbst als Organspender zur Verfügung zu stehen. Das führt dazu, dass mehr Organe benötigt werden, als zur Verfügung stehen. Von den daraus entstehenden ethischen bzw. rechtlichen Problemen sollen im Folgenden vor allem die für Notfallseelsorger relevanten vorgestellt werden.

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1.1  Todesfeststellung: Wann ist der Mensch tot? 

Die weit verbreitete Angst, bei vorliegendem Organbedarf von den Ärzten zu schnell für tot erklärt zu werden, wird vor allem durch das Hirntodkriterium genährt. Der Hirntod wird definiert als vollständiger und irreversibler Ausfall der integrativen Funktionen des Gehirns einschließlich des Hirnstamms bei noch aufrechterhaltenen Kreislauffunktionen im übrigen Körper (die davon unterschiedenen Konzepte des Teilhirntodes, der beim Ausfall des Neocortex vorliegt, bzw. des Hirnstammtodes sollen hier nur erwähnt, nicht aber eingehender diskutiert werden). Das traditionelle Kriterium der Todesfeststellung war der Herz-Kreislauftod, genauer gesagt: das Ende von Atmung und Herztätigkeit bzw. Kreislauf. Unter normalen Umständen führt der Herz-Kreislauftod zum Hirntod und umgekehrt. Weil die Herztätigkeit jedoch autonom gesteuert ist, kann sie nach dem Erlöschen der Hirnfunktionen fortbestehen, wenn eine künstliche Beatmung vorgenommen wird. Man spricht in diesem Fall von einem dissoziierten Hirntod. Die Möglichkeit, das Ende der Hirnfunktionen und das Ende der Herztätigkeit zu entkoppeln, ist eine Folge der medizinischen Hochtechnologie. Die Entnahme lebenswichtiger Organe ist aus rechtlicher Sicht, jedenfalls was das deutsche Recht betrifft, erst nach Eintritt und Feststellung des Hirntodes legitim. Sie erfolgt an einem Menschen, der aufgrund des Ausfalls seiner integrativen Gehirnleistung als tot angesehen wird, obwohl partielle Körperfunktionen noch intakt sind und der Gesamtkreislauf des Organismus bis zur Organentnahme durch eine Herz-LungenMaschine aufrechterhalten bleibt. Die Regeln über die postmortale Entnahme von Organen sind in Deutschland im Transplantationsgesetz festgelegt, das im Jahr 1997 in Kraft trat und im Jahr 2007 neu gefasst wurde. Eine Organentnahme bei Verstorbenen ist demnach nur zulässig, wenn der Tod des Organspenders festgestellt ist und der Eingriff durch einen Arzt vorgenommen wird. Weiterhin muss der Hirntod des Organspenders nach Regeln festgestellt werden, die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen. Der Eintritt des Hirntodes muss von zwei erfahrenen Ärzten unabhängig vom Transplantationsteam festgestellt und dokumentiert werden. Damit soll ein Missbrauch im schon erwähnten Sinn verhindert werden. Wird diese Dokumentationspflicht von jungen Assistenzärzten erfüllt, die vom Leiter des Transplantationsteams hierarchisch abhängig sind, stellt dies eine klare Umgehung dieser Missbrauchsvorkehrung dar. Wenn der Ausfall der zentralen Steuerungsvorgänge im Gehirn mit genügender methodischer Gewissheit feststeht,

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wertet die moderne Intensivmedizin dies als den Tod der menschlichen Person. Sie geht von diesem Zeitpunkt an davon aus, es nicht mehr mit einem sterbenden Patienten, sondern mit einem Toten zu tun zu haben. Die Technik der Organtransplantation bildet freilich den Anlass für die ethisch relevante Frage, ob der Hirntod bereits den Tod des (ganzen) Menschen bedeutet oder ob Hirntote nicht vielmehr sterbende Menschen darstellen (vgl. Shewmon 2001, 457–478). Hier ist es wichtig, zwischen der Ebene der Definition, der Ebene des Kriteriums und der Ebene von Testverfahren zu unterscheiden (vgl. Bernat/Culver/Gert 1981). Die Ebene der Definition signalisiert, dass es nur einen Todesbegriff gibt, so dass die gebräuchliche Rede vom „Ganz- oder Teilhirntod“ bzw. vom „Herz-Kreislauftod“ im Grunde irreführend ist. Mit diesen Begriffen werden vielmehr unterschiedliche Kriterien benannt, anhand derer der Tod eines Menschen festgestellt werden kann. Dies geschieht, hat man sich auf Kriterium geeinigt, mittels geeigneter Testverfahren, deren Bestimmung Sache der Medizin ist. Die in ethischer Hinsicht entscheidende Frage ist, nach welchem der diskutierten Kriterien vom Tod des Menschen die Rede sein kann. Man kann zunächst darauf verweisen, dass bei höheren Lebewesen das Gehirn als Ganzes (und nicht einfach eines seiner Teile) jenes Organ ist, das die Integration des Organismus zu einem Funktionsganzen gewährleistet, so dass der Hirntod das Ende dieser Integration und somit das Ende des Organismus im Sinne eines Funktionsganzen darstellt (Quante 2002, 132). Daraus folgt nicht automatisch, dass die Gesellschaft beliebig über den hirntoten Organismus verfügen darf. Wenn wir dem Menschen das Verfügungsrecht über seine körperliche Integrität über den Tod hinaus zugestehen, müssen wir die postmortale Entnahme von Organen grundsätzlich an die zu Lebzeiten geäußerte Zustimmung des betreffenden Menschen binden. Bei der verbindlichen Festlegung des Todeszeitpunktes, von dem ab die ärztliche Behandlungspflicht aufhört und die Organentnahme gestattet wird, ergeben sich in dieser Lage nur zwei Alternativen. Entweder sieht man den Eintritt des Todes erst mit dem Erlöschen der letzten biologischen Körperprozesse im Organismus als gegeben an, oder man bewertet den irreversiblen Ausfall der integrativen Funktionen des Gehirns als hinreichend sicheren Zeitpunkt, ab dem vom Tod der menschlichen Person gesprochen werden kann. Weitgehend anerkannt in unserer Gesellschaft und der ausgeführten Argumentation zufolge auch ethisch rechtfertigbar ist, dass die Entnahme von lebenswichtigen Organen erst nach Eintritt und Feststellung des Hirntodes als legitim

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angesehen werden kann. Sie erfolgt an einem Menschen, der als tot gilt, obwohl partielle Körperfunktionen noch intakt sind und der Gesamtkreislauf des Organismus bis zur Organentnahme durch eine Herz-Lungen-Maschine aufrechterhalten bleibt. Die Kritik am Hirntodkriterium beruft sich insbesondere auf folgende zwei Argumente: Zum einen erfolge die Formulierung der heute allgemein anerkannten Kriterien zur Feststellung des Todeszeitpunkts aus pragmatischen Rücksichten, um für die Transplantationsmedizin genügend Organe zur Verfügung zu stellen (Jonas 1985, 219–239). Zum anderen – so lautet das zweite Argument – ziehe die Differenzierung zwischen dem Hirntod und dem biologischen Organtod einen dualistische Sicht des Menschen, eine Trennung von Leib und Geist nach sich. Dem ersten Kritikpunkt lässt sich entgegenhalten, dass die Definition des Hirntodes gerade dem Versuch dient, ärztliches Handeln auch an der Grenze zwischen Leben und Tod an begründbare und überprüfbare Kriterien zu binden, so dass eine Instrumentalisierung der menschlichen Person gerade ausgeschlossen werden soll. Studien etwa, die mittels funktioneller Bildgebung an bewusstseinsgestörten Patienten durchgeführt wurden und den Schluss nahelegten, die neuronalen Reaktionen dieser Patienten seien ununterscheidbar von denen gesunder Probanden (Owen et al. 2006), konnten als methodisch unsauber und daher als nicht aussagekräftig zurückgewiesen werden (Greenberg 2007, Nachev/ Husain 2007). Dem zweiten Kritikpunkt lässt sich entgegenhalten, dass man das Argument, das Hirntodkriterium impliziere ein dualistisches Verständnis des Menschen, leicht umkehren kann: gerade weil wir an der Einheit von Leib und Geist festhalten, ist mit dem unwiderruflichen Erlöschen des Bewusstseins der leiblich existierende Mensch tot. Was wir von diesen Überlegungen her festhalten können, ist erstens, dass wir nicht von verschiedenen Toden des Menschen sprechen, sondern von dem einen Tod, für den unterschiedliche Kriterien angelegt werden können, in unserem Fall: Herztod oder Hirntod. Zweitens: Auch wenn wir den Hirntod als hinreichende Bedingung für den Tod des Menschen als leiblicher Existenz ansehen können, folgt daraus kein Verfügungsrecht der Gesellschaft über den Körper des Toten (Larmont 1998, 198–212). 1.2 Autonomie: Was heißt hier Freiwilligkeit? 

Unsere bisherige Argumentation führt uns direkt zu einem zweiten ethischen Problemkreis, nämlich zur Freiwilligkeit der postmortalen Organspende. Wie können wir sicherstellen, dass eine Organspende freiwillig geschieht? Welche rechtlichen

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Regeln brauchen wir? Im Wesentlichen werden im ethisch-rechtlichen Diskurs drei Modelle verhandelt: (1) Das erste Modell wird als Zustimmungslösung bezeichnet. Es sieht vor, dass einem Toten Organe nur dann entnommen werden dürfen, wenn der Verstorbene dem zu Lebzeiten zugestimmt hat. Diese Zustimmung ist an den mündlichen oder schriftlich dokumentierten Willen des Verstorbenen gebunden. Eine Erweiterung dieser Zustimmungslösung sieht vor, dass, wenn keine Kenntnis über den Willen des Verstorbenen besteht, auch die Angehörigen nach ihren Vorstellungen entscheiden können. Diese derzeit bei uns geltende Regelung wird aus zwei Gründen vielfach als unzureichend empfunden. Die Hoffnungen, einen Großteil der Bevölkerung durch intensive Aufklärungsarbeit zur Unterzeichnung eines Organspenderausweises bewegen zu können, haben sich bislang nicht erfüllt. Außerdem gilt die Befragung der Angehörigen aus psychologischen Gründen als problematisch, weil ihnen unter dem Eindruck der Todesnachricht auch noch die Anfrage zugemutet wird, ob sie der Organentnahme zustimmen. Um einerseits die Angehörigen zu schonen und andererseits die Zahl der Spenderorgane zu erhöhen, wird deshalb in der ethischen und juristischen Diskussion immer wieder die so genannte Widerspruchslösung (oder ihre Abwandlung zu einer Informationslösung) in Betracht gezogen, die es in anderen Ländern (z. B. in Österreich, wo ein zentrales Register existiert, das den Widerspruch, der jederzeit zurückgenommen werden kann, dokumentiert und die Beachtung des Einwands sicherstellt) bereits gibt. Widerspruchslösung meint, dass einem Toten Organe nur dann entnommen werden dürfen, wenn der Verstorbene dem zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat. Auch hier gibt es das Modell einer Erweiterung der Widerspruchslösung dadurch, dass Angehörige widersprechen können, auch wenn eine Willensäußerung des betreffenden Patienten nicht vorliegt. Die Autonomie des Einzelnen bleibt in der Widerspruchslösung – und damit ist ihr wesentlicher Schwachpunkt benannt – nur erhalten, wenn auch sicher gestellt werden kann, dass die betreffenden Personen über dieses Recht aufgeklärt sind. Es darf keinesfalls Ziel der Widerspruchslösung sein, die Trägheit oder Ahnungslosigkeit der Betroffenen auszunutzen. Deshalb ist im Fall der Geltung der Widerspruchslösung dafür Sorge zu tragen, dass nach Möglichkeit jeder Erwachsene über ein Grundwissen zu diesem Thema verfügt und weiß, dass ihm gegebenenfalls postmortal Organe entnommen werden dürfen, sofern er dem nicht widersprochen hat. Die Vorteile der Widerspruchslösung bestehen neben der zu vermutenden

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Erhöhung der Spenderorgane zum einen in der Entlastung der Angehörigen, zum anderen sichert die Tatsache, dass, solange kein Widerspruch vorliegt, die Zustimmung des Betroffenen unterstellt werden kann, gerade zu, dass der Wille des Verstorbenen nicht durch Angehörige verzerrt wird, wie das bei der erweiterten Zustimmungslösung der Fall sein kann. Deshalb ist auch eine Variante der Widerspruchslösung, die so genannte Informationslösung, fragwürdig, die vorsieht, dass, wenn kein Widerspruch seitens des Patienten vorliegt, die Angehörigen informiert werden müssen, mit der Möglichkeit, ein Veto einzulegen. Eine dritte Lösung, die gegenwärtig diskutiert wird, ist die Entscheidungslösung: Jeder Bürger muss – z. B. mit Erreichen des 18. Lebensjahrs – entscheiden, ob er Organspender sein will oder nicht. Die Schwäche dieser Lösung liegt darin, dass ihre Missachtung sanktioniert werden können müsste. Wer das vermeiden will, landet wieder bei der Zustimmungslösung, wer eine Sanktion der Art vorsehen will, dass, wer sich nicht entscheidet, wie ein Zustimmender behandelt werden soll, landet bei der Widerspruchslösung. Man kann natürlich auch Geld- oder Freiheitsstrafen verhängen, das wäre wohl aber eher kontraproduktiv und würde die Zahl der Organspenden vermutlich nicht erhöhen. 1.3 Die Frage der Allokation: Wie werden Organe gerecht verteilt? 

Wir gingen bisher der Frage nach, wie die Freiwilligkeit der postmortalen Organspende sichergestellt werden kann. Dabei flossen bereits Überlegungen ein, welche Strategie geeignet ist, den Mangel an Organen wenn nicht zu beheben, so doch zu mildern. Die Frage, der wir uns nun noch zuwenden müssen, lautet, wie knappe Organe gerecht verteilt werden können. Auch hier kann und soll die Frage, wie die Organknappheit vermindert werden kann, wieder mit einbezogen werden. Zunächst ist zwischen Konzepten und Kriterien einer gerechten Verteilung von Organen zu unterscheiden. Eines der interessantesten Konzepte stellt die von John Rawls entwickelte „Theorie der Gerechtigkeit dar“ (vgl. Rawls 1993). Rawls arbeitet hier mit einem Gedankenexperiment, das den Menschen in einer Art Naturzustand (original position), in dem alle Parteien einander gleichgestellt sind, zeigt. Dazu gehört, dass keine der Parteien ihre Stellung in der Gesellschaft kennt (veil of ignorance), was Vermögen oder Status, aber auch die natürliche Ausstattung wie Intelligenz oder Körperkraft betrifft. Die Frage ist, auf welche Grundsätze sich die Menschen in diesem Urzustand einigen. Wer beispielsweise über seine finanziellen Möglichkeiten in der Situation, in der er ein Organ benö-

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tigt, nicht Bescheid weiß, wird kaum einem Grundsatz zustimmen, der die Verteilung von Organen nach dem Kriterium der Zahlungsfähigkeit bemisst. Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls bildet in dieser Hinsicht ein Prüfinstrument für die Etablierung von Kriterien der gerechten Verteilung knapper Organe, denen wir uns nun zuwenden. Konzentrieren wir uns dazu auf die Kriterien der Dringlichkeit und der Erfolgsaussicht. Das Kriterium der Dringlichkeit ist wie folgt zu definieren: Wenn Patient A höchstwahrscheinlich versterben wird, wenn er jetzt nicht das passende Organ bekommt, während bei B, der ebenfalls durch das Organ gerettet werden könnte, eine begründete Aussicht besteht, dass für ihn noch ein weiteres passendes Organ verfügbar sein wird, dann sollte A das Organ erhalten. Diesem Grundsatz können wir in der von Rawls eröffneten Gerechtigkeitskonzeption vernünftigerweise zustimmen. Das Kriterium der Erfolgsaussicht ist wie folgt zu beschreiben: Wenn A und B nur durch eine Organtransplantation überleben können, es aber bei A unwahrscheinlich ist, dass er die Operation überhaupt überleben kann, während bei B gute Erfolgsaussichten bestehen, dann sollte B das Organ haben. Auch diesem Grundsatz können wir vernünftigerweise zustimmen. Relevant ist dabei allerdings unter Umständen nicht nur, ob eine Operation unmittelbar erfolgreich sein kann, sondern auch, welchen Erfolg die Transplantation voraussichtlich mittel- und langfristig haben wird. Wenn das Leben von A beispielsweise durch die Transplantation voraussichtlich nur wenige Wochen verlängert wird, während B eine gute Chance hat, einige Jahre ein relativ normales Leben zu führen: sollte dann die Transplantation bei A unterbleiben und bei B durchgeführt werden? Wenn wir uns erneut hinter den „Schleier des Nichtwissens“ begeben, können wir einer solchen Regel kaum zustimmen wollen. Interessant ist nun noch die Überlegung, ob wir jenen Kriterien, auf die wir uns gemeinsam verständigen können, einen weiteren Grundsatz vorausschalten sollen, der vorsieht, dass vorzugsweise derjenige als Empfänger eines Organs in Frage kommt, der sich zu einem Zeitpunkt, an dem er nicht voraussehen kann, dass er ein Organ benötigt, selbst zur Spende bereit erklärt hat (vgl. Kliemt 1993, 269). Dieser Vorschlag hat folgenden Hintergrund: Es gibt verschiedene Gründe, warum Menschen es ablehnen, einen Spenderausweis aufzufüllen. Häufig genannt wird die Sorge, zu schnell von Ärzten für hirntot erklärt zu werden, die ihnen dann Organe entnehmen wollen. Allerdings scheinen viele Menschen großzügig ihre Sorge zu vergessen, wenn andere betroffen sind und sie selbst ein

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Organ benötigen. Von daher stellt sich die moralische Aufgabe, diese egoistische Haltung zu überwinden, um mehr Spender zu gewinnen. Das vorgeschlagene Modell der reziproken Organspende sieht vor, unmittelbar an das Selbstinteresse des Menschen zu appellieren, nämlich durch die Belohnung der Spender in dem Augenblick, in dem sie selbst zu Empfängern von Organen werden. Wenn wir von „technischen“ Umsetzungsproblemen etwa der Art, wie ein solcher Zeitpunkt genau bestimmt werden soll, einmal absehen, müssen doch folgende ethisch relevante Einwände (vgl. Ach 1997, 40 f.) bedacht werden: (1) Zunächst ist zu fragen, ob mit einem solchen System der Gegenseitigkeit nicht altruistische Motive der Organspende untergraben werden, wie es eine bekannte Studie über die Kommerzialisierung des Blutspendesystems in England und den USA nahelegt (Titmuss 1971). Diese Studie konnte zeigen, dass die intrinsische altruistische Motivation zur Blutspende durch extrinsische, also monetäre Anreize erodierte: Das hatte zur Folge, dass die Qualität des gespendeten Blutes sank, da nun sozial schwache und häufig weniger gesunde Gruppen Blut spendeten. Vergleichbares wird im Fall der Organspende befürchtet. Was ist auf dieses Argument zu entgegnen? Abgesehen davon, dass ein System der Gegenseitigkeit nicht einfach als kommerziell bezeichnet werden darf (was ja über das Medium Geld den Tausch von Organen gegen beliebige Güter vorsehen würde: hier würden nur Organe gegen Organe getauscht, wobei der Fall der Einlösung jeweils an das unwahrscheinliche Auftreten eines Organversagens gebunden wäre), wäre das Prinzip der Reziprozität jedenfalls dann nicht empfehlenswert, wenn sich dadurch die Situation der Organspende verschlechtern würde. Das herauszufinden, ist freilich Feld der Empirie. (2) Umgekehrt könnte man dem System, das die Möglichkeit, Organempfänger zu werden, nicht an die Bereitschaft, Organspender zu sein, knüpft, vorwerfen, egoistische Motive zu belohnen und ein Schmarotzertum zu fördern. Menschen werden dadurch geradezu ermuntert, sich rein eigeninteressiert zu verhalten. Diesen Vorwurf kann man allerdings auch unserem Reziprozitätsmodell machen: Mit diesem System werde nämlich ebenfalls ein egoistisches Kalkül bedient. Ein egoistisches Motiv aber ist vormoralisch, es kann nicht Basis einer moralischen Begründung sein. Muss also die Gesellschaft wirklich einspringen, wenn eine Person der Gemeinschaft wechselseitiger Hilfe bewusst und aus freien Stücken nicht beigetreten ist? Man könnte diesen Vorwurf mit dem Hinweis entkräften, man verzichte dann eben auch auf jeden Anspruch, Organe zu erhalten – wäre dann aber faktisch wieder beim dem zu diskutierenden Modell der Reziprozität.

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Kant klärt die zuletzt genannte Situation folgendermaßen: Würde man sich die zuletzt genannte Gleichgültigkeit bzw. Teilnahmslosigkeit gegenüber anderen zur Maxime machen, so verzichtete man auch auf die Möglichkeit, die eigene Glückseligkeit dadurch zu befördern, dass man sich die Glückseligkeit anderer Menschen zum Zweck setzt. Umgekehrt müsste man natürlich auch akzeptieren, dass kein anderer sich die Glückseligkeit von einem selbst zum Zweck setzte oder alle in Teilnahmslosigkeit verharrten. Da aber jeder ganz ohne Zweifel die eigene Glückseligkeit erstrebt, kann es niemand wollen, dass ihm eine Möglichkeit des Glücks genommen wird und im Fall einer Notlage die mögliche Linderung dieses Unglücks durch andere ausbleibt. Seine Maxime würde, sofern sie die Möglichkeiten eines solchen Falls nicht ausschließen kann, partiell das eigene Unglück wollen. Dies aber wäre eine Maxime, die dem eigenen Glücksstreben widerspräche. Der Grund dieses Widerspruchs liegt also darin, dass die Maxime der Teilnahmslosigkeit, die schließlich auch der Beförderung der eigenen Glückseligkeit dienen soll, nicht als ein allgemeines Gesetz gedacht werden kann, da in ihr zugleich die Maxime negiert wird, die eigene Glückseligkeit zu befördern. Kant begründet die Gegenseitigkeit des Wohlwollens unabhängig von einem allgemeinen subjektiven Bedürfnis allein im Rekurs auf den Kategorischen Imperativ, das heißt, seine Argumentation bezieht sich nicht auf das wechselseitige materiale Kalkül, dass man nicht sicher sein könne, ob man nicht selbst in eine Situation gerate, in der man dann Hilfe wünsche. Die formale Perspektive der Verallgemeinerbarkeit allein sichert die Wechselseitigkeit des Gebotes zu helfen und schließt eine egoistische Vereinnahmung durch unser „liebes Selbst“, wie Kant sagt, aus. Die größte Schwierigkeit tut sich in dem Augenblick auf, da es gilt, die Gegenseitigkeit der Organspende, für die wir ethische Gründe finden können, auch gesetzlich festzuschreiben. Wenn man Menschen nicht zur Organspende nötigen möchte, und viel spricht dafür, ihre Freiheit in dieser Frage zu achten, und wenn man sich weder mit den partikularen Interessen derer, die sich zu einem „Club der Egoisten“ einfinden, noch mit der ebenfalls egoistischen Haltung des „Trittbrettfahrens“ zufrieden geben möchte, könnte eine Lösung darin bestehen, dass wir das Modell der Reziprozität dann und nur dann einführen, wenn auch diejenigen davon profitieren, die sich nicht zur Spende entschließen. Dies ist der Fall, wenn die Erhöhung der Zahl der zur Verfügung stehenden Organe auch die Position der nicht spendenbereiten Akteure verbessert. Konkret: Ein solches Modell ist rechtfertigbar, wenn die Spendenbereitschaft allgemein

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so erhöht wird, dass sogar Nicht-Spender besser gestellt werden. Dies kann wie folgt motiviert werden: Personen, die sich nicht bereit erklärt haben, ein Organ zu spenden, werden wie Personen behandelt, die dies getan haben, sofern ihr Leben auf dem Spiel steht. Geht es dagegen um die Verbesserung der Lebensqualität (wenn etwa eine Nierentransplantation die Dialyse ersetzen soll), sind potentielle Organspender denjenigen, die sich zu einer Spende nicht bereit erklärt haben, vorzuziehen. Jedenfalls kann die Wirkung einer solchen Regelung empirisch überprüft werden – und Kant verwehrte sich ja auch nicht dagegen, die Geltung von Gesetzen von empirischen Erkenntnissen abhängig zu machen. Die Gesellschaft hat also immer dann einzuspringen, wenn das Lebensnotwendige einer Person in Gefahr steht, gleich ob dieser Zustand verschuldet oder unverschuldet eintritt. Selbstverschuldete Ungleichheiten jenseits des Existenznotwendigen hat die Gesellschaft allerdings nicht auszugleichen (Anderson 2000, 117–171). Hier spricht vieles dafür, nicht absolute, sondern relative Maßstäbe zur Bestimmung von Lebensqualität einzuführen. Auch wenn egoistische (wie übrigens auch altruistische) Motive als vormoralisch gelten müssen, kann ihre Einhegung durch Regeln, die allgemein zustimmungsfähig sind, als ethisch legitim gelten. Dies ist in dem vorgeschlagenen Modell dann der Fall, wenn die Zahl der Organspender ansteigt, was empirisch überprüft werden kann. Sind die genannten Kriterien ausgeschöpft, ist die Verteilung der dann noch zu verteilenden Organe durch formale Verfahren (etwa über Wartelisten) zu organisieren. Für Deutschland, Österreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande wird dies durch die 1967 gegründete „Eurotransplant International Foundation“ in Leiden übernommen. Dabei müssen allerdings Aufnahmekriterien etabliert werden, die aus gerechtigkeitstheoretischen Erwägungen heraus mögliche diskriminierende Faktoren (wie z. B. unterschiedliche medizinische Versorgung etc.) abzumildern in der Lage sind. 2. Die Lebendspende

Der Vollständigkeit halber soll zuletzt auch die Möglichkeit der Lebendspende thematisiert werden (Rittner/Paul 2005). In der Regel handelt es sich dabei um die Nieren- und die Teilleber-Lebendspende. Bei der Lebendspende stellt sich zunächst nicht das Problem, ob der Hirntod schon der Tod des ganzen Menschen ist oder ob wir es beim Hirntoten mit einem erst Sterbenden zu tun haben. Wie bei der postmortalen Organspende muss jedoch die Freiwilligkeit der Lebendspende sichergestellt werden. In Deutschland ist die Lebendspende nur unter Beachtung

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relativ strenger Auflagen rechtlich erlaubt. So müssen nach dem Transplantationsgesetz von 1997 beispielsweise die Spender volljährig und mit dem Empfänger entweder im ersten oder zweiten Grad verwandt sein, als Lebenspartner zusammenleben oder erkennbar zueinander im Verhältnis einer besonderen persönlichen Verbundenheit stehen. Durch diese Bestimmung soll verhindert werden, dass Menschen ihre Organe (anonym) gegen Geld abgeben. Allerdings wird dadurch die ethisch bedeutsame Frage aufgeworfen, ob sich der Spender durch die persönliche Beziehung besonders verpflichtet weiß und deshalb nicht aus freien Stücken handelt bzw. ob der Empfänger befürchten muss, dem Spender ein Leben lang verpflichtet zu bleiben (Fox/Swazey 1992). Außerdem darf eine Transplantation von Organen oder Organteilen Lebender nur dann stattfinden, wenn kein geeignetes postmortales Spenderorgan zur Verfügung steht. Angesichts der Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken ist aber auch bei verwandtschaftlicher oder freundschaftlicher Bindung die Freiwilligkeit der Organspende institutionell auf jeden Fall zu sichern. Das heißt, es darf weder offen noch verdeckt Druck auf einen Menschen ausgeübt werden, als Organspender für einen ihm nahe stehenden Menschen zur Verfügung zu stehen. Vielmehr muss die Möglichkeit bestehen, diese Option ohne Gesichtverlust zurückzuweisen. Auch wenn der Streit um das Kriterium des Hirntods dazu beigetragen hat, dass die Bereitschaft zur postmortalen Organspende auf einem relativ niedrigen Niveau verweilt, scheint es in Anbetracht der Morbiditäts- bzw. Mortalitätsrisiken aus ethischer Sicht unangemessen, statt der postmortalen Organspende die Lebendorganspende fördern und bestehende restriktive Regelungen zur Lebendorganspende lockern zu wollen. Die bessere Transplantatfunktionsrate stellt hier keine ausreichende Rechtfertigung dar, denn die Vorteile für den Empfänger können nicht – sozusagen von einer neutralen Instanz aus  – einfach mit den möglichen Nachteilen für den Spender verrechnet werden. Aus medizinischer Sicht stellen heute – so könnte man zusammenfassen – nicht mehr Transplantationstechnik und Immununterdrückung, sondern der Mangel an Spenderorganen und die bestmögliche Zuteilung der wenigen Transplantate an die geeigneten Empfänger das eigentliche Problem dar. Als Alternative zu einem kommerziell betriebenen Organhandel und um bei der schwierigen Auswahl ein Höchstmaß an Gleichheit und Fairness zu gewährleisten, erfolgt die Zuteilung in den europäischen Ländern durch eine zentrale Steuerungsinstanz in Brüssel entsprechend

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der medizinischen Prognose und dem besonderen Krankheitsbild des Empfängers. Die übliche Wartezeit eines Patienten beträgt derzeit im Durchschnitt zwei Jahre, wobei in Großbritannien Patienten über 65 Jahre generell von der Zuteilung ausgeschlossen sind. 3. Xenotransplantation

Die Entwicklung der Transplantationsmedizin hat eine Reihe von Problemen hervorgerufen, insbesondere das Problem des Zeitpunktes und der Methode der Transplantation, der Zustimmung bei der Organentnahme und der Verfügbarkeit der entsprechenden Organe. Eine andere Option, die vor allem im Hinblick auf die Verfügbarkeit der Organe und die Verringerung der ethischen Komplexität der Organentnahme von Interesse ist, stellt die so genannte Xenotransplantation dar. Bei dieser Methode wird durch entsprechend präparierte Tierorgane die Artgrenze zwischen Mensch und Tier überschritten. Die Hoffnungen, die mit dem Vorantreiben der Xenotransplantation verbunden sind, werden vor allem mit folgenden Fortschritten begründet. Übertragungen von Tierorganen auf den Menschen führen zwar nach bisheriger Kenntnis zu tödlichen Abwehrreaktionen. Ein Weg, diese Reaktionen herabzusetzen oder gar zu überwinden, ist aber die humane Genifizierung von Tieren. Durch den Transfer von Genen des menschlichen Immunsystems auf Tiere können diese transgen möglicherweise so weit manipuliert werden, dass die Übertragung von Organen in ihren Folgen kontrollierbar wird. Wenn man transgene Tiere mit entsprechenden Eigenschaften klonen kann, lassen sich solche Ressourcen soweit standardisieren, dass Organe in ausreichendem Maß Menschen zur Verfügung stehen. Allerdings ist folgendes Risiko zu bedenken: Wenn auf der einen Seite um des therapeutischen Erfolgs der Transplantation willen die Immunschranke von beiden Seiten – Mensch und Tier – her nivelliert werden soll, dann wird auf der anderen Seite die Übertragbarkeit von Infektionsmöglichkeiten, z. B. durch arteigen neutralisierte, aber bei Überschreitungen der Artgrenze virulent werdende Viren gefördert. So bedarf es einer ganzen Reihe von Forschungsentwicklungen, um an die Schwelle klinischer Versuche mit ethischer Verträglichkeit zu gelangen – und ethisch heißt hier: mit verantwortbarem Risiko. Schließlich ist die Frage zu stellen, ob mit dieser Technik, die die Artgrenze zwischen Mensch und Tier überschreitet, die Identität des Menschen tangiert wird, wenn ja, in welchem Maße dies geschieht und ob dies ethisch verantwortet werden kann (vgl. Wiesemann/Biller-Andorno 2003, 289).

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4. Abschließende Bemerkungen

Die theologische bzw. kirchliche Bewertung der freiwilligen Organspende hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Die katholische Moraltheologie und die lehramtliche Verkündigung der Kirche hielten bis in die 50er Jahre an einem naturrechtlich begründeten Verstümmelungsverbot fest, das jeden Eingriff in die Integrität des menschlichen Körpers untersagte, sofern er nicht dem Wohl des ganzen Organismus dient. Ein Ausweg aus der Sackgasse der naturrechtlichen Argumentation zeigte sich, als man in den 60er Jahren dazu überging, die Legitimität der Organspende vom Liebesgebot Jesu her zu begründen. Der Glaube vermag im Nächsten nämlich nicht nur einen fremden physischen Organismus, sondern das alter ego zu sehen, mit dem ich in Jesus Christus verbunden bin. Seitdem stimmen die beiden großen Kirchen in der Bejahung der Organspende überein. Sie sehen in der Bereitschaft zur Organspende heute ein Zeichen der Nächstenliebe, gegen das es aus christlicher Sicht keine grundsätzlichen Bedenken gibt. Dem steht auch der Glaube an die Auferstehung des Leibes nicht im Wege, denn dieser meint nach christlichem Verständnis nicht die stoffliche Fortsetzung unserer irdischen Körperlichkeit, sondern die Verwandlung des ganzen Menschen in eine neue Realität (anders als z. B. das orthodoxen Judentum oder der Islam, nach deren Glauben die Integrität des Leichnams konstitutive Bedeutung für die Auferstehung der Toten hat). Christof Breitsameter Literatur Johann S. Ach,

„Von Natur aus knapp“ – Gerechtigkeitstheoretische Überlegungen zur Verteilung knapper Spendeorgane in der Transplantationsmedizin, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 43 (1997), 31–49. Elizabeth Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, in: Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt am Main 2000, 117–171. James L. Bernat/Charles M. Culver/Bernard Gert, On the definition and criterion of death, in: Annals Internal Medicine 94 (1981), 389–394. Renee C. Fox/Judith P. Swazey, Spare Parts: Organ Replacement in American Society, NewYork 1992. Daniel L. Greenberg, Comment on „Detecting awareness in the vegetative state“, in: Science 315 (5816) (2007), 1221. Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt am Main 1985.

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Hartmut Kliemt,

Gerechtigkeitskriterien in der Transplantationsmedizin – Eine ordoliberale Perspektive, in: Eckhard Nagel/Christian Fuchs (Hrsg.), Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Ökonomische, ethische, rechtliche Fragen am Beispiel der Transplantationsmedizin, Berlin u. a. 1993, 262–276. Julian Larmont, A solution to the puzzle of when death harms ist victims, in: Australasian J Philosophy 76 (1998), 198–212. Parashkev Nachev/Masud Husain, Comment on „Detecting awareness in the vegetative state“, in: Science 315 (5816) (2007), 1221. Adrian M. Owen/Martin R. Coleman/Melanie Boly/Matthew H. Davis/Steven Laureys/John D. Pickard, Detecting awareness in the vegetative state, in: Science 313 (5792)

(2006), 1402. Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979.

John Rawls, Eine

Christian Rittner/Norbert W. Paul (Hrsg.), Ethik

der Lebendorganspende, Basel 2005.

D. Alan Shewmon,

The brain and somatic integration: insights into the standard biological rationale for equating „Brain Death“ with death, in: J Medicine Philosophy 26 (2001), 457–478. Klaus Steigleder, Hirntod, in: Stefan Schulz/Klaus Steigleder/Heiner Fangerau/Norbert Paul (Hrsg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2006, 435–445. Richard Morris Titmuss, The Gift Relationship: From Human Blood to Social Policy, New York 1971. Claudia Wiesemann/Nikola Biller-Andorno, Ethik der Transplantationsmedizin, in: Marcus Düwell/Klaus Steigleder (Hrsg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2003, 284–290.

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08. Theologie Kirchenrechtliche Anmerkungen zu Seelsorge und Sakramentenspendung im Notfall Recht und Gesetz sind kein Selbstzweck. Sie dienen den Menschen und der menschlichen Gemeinschaft. Das verdeutlicht Jesus, wenn er in Bezug auf das Gebot, den Sabbat zu halten, Stellung bezieht: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Mk 2,27). Man missverstünde diese Aussage, fasste man sie als Appell für Gesetzeslosigkeit oder für gesetzeswidriges Handeln auf. Vielmehr spricht Jesus den einer gesetzlichen Regelung zugrundeliegenden Wert an. Wozu dient ein Gesetz, welchen Zweck erfüllt es? Danach gilt es zu fragen. Das Gebot, am Sabbat zu ruhen, dient der Ehre Gottes und der Heiligung des Menschen. Dies sind die Ziele, die es zu verfolgen gilt; ob menschliches Verhalten dem Sabbatgebot entspricht, bemisst sich daran, ob es diesen Zwecken gerecht wird. Nichts anderes gilt für religiöses Recht heute. So besteht das Recht der Kirche nicht um seiner selbst willen, sondern soll die Verehrung Gottes sichern und auf die Heiligung der Menschen zielen. Im Gesetzbuch der lateinischen Kirche, dem Codex Iuris Canonici , ist dies in der letzten Norm – an prominenter Stelle – festgehalten: Wer sich mit dem Recht der Kirche befasst, habe „das Heil der Seelen vor Augen, das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss“ (c. 1752). Das betrifft Anwenderinnen und Anwender des Rechts, wenn sie nach dem Sinn und Zweck einer Norm fragen. Das gilt – auf einer Ebene zuvor – für den Gesetzgeber, der verpflichtet ist, bei der Schaffung von Recht und Gesetz danach zu fragen, ob eine bestimmte Regelung dem Heil der Menschen nutzt. Es ist daher folgerichtig, dass der kirchliche Gesetzgeber bestrebt ist, neben den Vorgaben, die den kirchlichen Alltag regeln, die Momente und Augenblicke, in denen sich die menschliche Heilsbedürftigkeit besonders deutlich zeigt, aufzugreifen und ihnen mit einer „heilsamen“ rechtlichen Regelung zu begegnen. In Situationen, in denen Menschen Unheil widerfährt oder sie sich in Not befinden, soll Recht ihrem Heil nicht im Weg stehen, sondern

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Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Notfallseelsorge

Seelsorgerinnen und Seelsorgern Optionen und Möglichkeiten eröffnen, mit der herausfordernden Realität nicht nur mitmenschlich und seelsorgerlich, sondern auch in rechtlicher Hinsicht adäquat umzugehen. Daher hat der Gesetzgeber den rechtlich relevanten Notfall (casus necessitatis) sowie die Ausnahmesituation der Todesgefahr (periculum mortis) in das Recht der Kirche eingeführt. Während nicht definiert ist, was unter einem Notfall zu verstehen ist und daher in einer Notsituation abgewogen werden muss, ob ihr ein rechtlich beschriebener Notfall entspricht, versteht der kirchliche Gesetzgeber die Todesgefahr als eine Situation, „in der mit dem bevorstehenden Ableben des Menschen ernsthaft gerechnet werden muss“ (Lüdicke, in: MK, Kommentar zu 1068, 1). Im Notfall bzw. in Todesgefahr werden rechtliche Möglichkeiten eröffnet, die in anderen Situationen nicht bestehen. Von diesem Versuch, auf die besonderen Erfordernisse dieser Situationen und die Bedürfnisse der sich in ihnen befindenden Menschen einzugehen, zeugen vor allem Beispiele aus dem Sakramentenrecht der Kirche. So finden sich explizit in Bezug auf die Sakramente der Taufe, Firmung, Eucharistie, Buße und Krankensalbung Notfallregelungen, die der Bedeutung der Sakramente für das menschliche Heil Rechnung tragen. Nach kirchlichem Verständnis ist die Kirche heilsnotwendig. Zu ihren Mitgliedern werden Christinnen und Christen durch den Empfang der Taufe. Sie verbinden sich in den weiteren Initiationssakramenten der Firmung und Eucharistie, in denen sich die Taufgnade vollendet, fester mit der Kirche und gliedern sich durch die Feier der Sakramente in das kirchliche Leben ein. So werden sie geheiligt und gewinnen an der göttlichen Wirklichkeit bereits im hier und jetzt Anteil (vgl. Konzil von Trient, Decretum de sacramentis, Canones de sacramentis in genere, c. 4; II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium über die Kirche, Art. 14; Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1129). Im Bußsakrament und in der Feier der Krankensalbung geschieht Versöhnung mit Gott und den Menschen. Gerade diese Sakramente haben für Kranke und Sterbende daher häufig zentrale Bedeutung. Dass auch in Bezug auf das Sakrament der Ehe, die nicht heilsnotwendig ist, Notfallregelungen bestehen, drückt den Wert aus, der der Ehe in der menschlichen Biographie, aber auch theologisch im Rahmen der Sakramente als Sinnbild für den Bund Christi mit seiner Kirche zugewiesen wird (vgl. Eph 5,32). Einzig bei dem Sakrament der Weihe ist keine Notfallregelung vorgesehen, handelt es sich doch bei ihm nicht um ein Sakrament, das dem Heil des Einzelnen dient, sondern diesen zu einer besonderen Form des Dienstes an den anderen Gläubigen befähigt.

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Welchen Stellenwert es im kirchlichen Recht einnimmt, dass die Gläubigen, die sich in einer existentiellen Notlage befinden, Zugang zu heilsbringenden sakramentalen Zeichen erhalten, wird überdies daran deutlich, dass der kirchliche Gesetzgeber in solchen Situationen seinen Anspruch, straffällig gewordene Sakramentenspenderinnen und -spender bzw. -empfängerinnen und -empfänger durch das Verbot, die Sakramente zu spenden bzw. zu empfangen, zu strafen, aussetzt. Ein Priester, dem es aufgrund einer kirchlichen Strafe verboten ist, Sakramente oder Sakramentalien zu spenden, darf dies tun, wenn es für das Heil von Gläubigen in Todesgefahr notwendig ist (vgl. c. 1335). Gleichermaßen gilt, dass eine Katholikin oder ein Katholik, der bzw. dem der Empfang von Sakramenten oder Sakramentalien aufgrund einer Strafe nicht gestattet ist, diese erlaubt empfangen kann, wenn sie oder er sich in Todesgefahr befindet (vgl. c. 1352). 1. Taufspendung in Notfall und Todesgefahr

1.1  Vorbereitung der Taufspendung  Der kirchliche Gesetzgeber legt viel Wert darauf, dass ausreichende Vorbereitung des Täuflings bzw. – bei der Kindertaufe – der Erziehungsberechtigten stattfindet, damit sichergestellt ist, dass eine Neugetaufte bzw. ein Neugetaufter die Voraussetzungen erhält, um in ihren bzw. seinen Glauben hineinzuwachsen und ihn zu leben. Eine Ausnahme wird bei Todesgefahr bei der so genannten Nottaufe gemacht: Muss eine Erwachsene oder ein Erwachsener, um die Taufe zu empfangen, in der Regel über die Glaubenswahrheiten und über die christlichen Pflichten hinreichend unterrichtet und durch ein Katechumenat in der christlichen Lebensführung erprobt sein (vgl. c. 865 § 1) – also sowohl über ein Grundwissen über den Glauben und christliche Moralvorstellungen als auch bereits über Erfahrung mit der christlichen Lebenspraxis verfügen –, wird in Todesgefahr auf das Erfordernis umfänglicher Kenntnis von Glaube und kirchlichem Leben verzichtet. So darf sie oder er in Todesgefahr bereits dann getauft werden, wenn sie oder er bei einer gewissen Kenntnis der grundlegenden Glaubenswahrheiten auf irgendeine Weise den Willen zum Empfang der Taufe bekundet und verspricht, sich an die Gebote des Glaubens zu halten (vgl. c. 865 § 2). Bei einem Kind sind in der Regel die Eltern sicherzustellen verantwortlich, dass ein Kind im christlichen Glauben erzogen wird. Erlaubt ist die Taufe eines Kindes daher, wenn begründete Hoffnung besteht, dass die Eltern das Kind im katholischen Glauben

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Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Notfallseelsorge

erziehen (c. 868 § 1 n. 2). Hingegen ist bei Todesgefahr ein Kind unverzüglich zu taufen (vgl. c. 867 § 2); ob gewährleistet ist, dass die Eltern eine katholische Erziehung sicherstellen, ist nebensächlich. Vielmehr kennt das Recht den Sachverhalt, dass Eltern die Taufe ihres Kindes ablehnen, und hält fest, dass in Todesgefahr ein Kind katholischer und sogar auch nichtkatholischer Eltern auch gegen den Willen der Eltern erlaubt getauft werden könne (vgl. 868 § 2). Wie sinnvoll eine solche Praxis ist, kann man berechtigt anfragen, ist doch nicht zu erwarten, dass ein gegen den Willen der Eltern katholisch getauftes Kind ohne deren Unterstützung die Möglichkeit erhält, eine eigene Glaubenspraxis zu entwickeln; gerade darauf wird aber, wie dargelegt, in den anderen Zusammenhängen großer Wert gelegt. Auch ein frühgeborenes Kind soll möglich rasch getauft werden, soweit dies möglich ist (vgl. c. 871). In der Praxis wird dies in der Regel allerdings nicht durchführbar sein, vor allem dann, wenn ein Frühgeborenes umfassender medizinischer Betreuung bedarf. Die Spendung der Taufe ist eine Aufgabe, die in besonderer Weise dem Pfarrer obliegt (vgl. c. 530 n. 1). Ordentliche Spender der Taufe sind jeder Bischof, Priester oder Diakon (vgl. c. 861 § 1). Daneben gibt es außerordentliche Spenderinnen und Spender, die taufen, wenn ein ordentlicher Spender nicht zur Verfügung steht; konkret sind dies Katechistinnen und Katechisten sowie vom Ortsordinarius – in der Regel dem Diözesanbischof oder seinem Generalvikar – bestimmte Personen (vgl. c. 861 § 2). Darüber hinaus kennt das Recht im Notfall – also nicht ausschließlich in Todesgefahr, sondern auch in anderen Notlagen – die Taufspendung durch einen von einer rechten Absicht geleiteten Menschen. In einem solchen Fall kommt also auch eine Nichtchristin oder ein Nichtchrist als Spenderin bzw. Spender der Taufe in Frage, wenn sie oder er bei der Taufe beabsichtigt, zu tun, was die Kirche mit der Taufe verbindet; dies schließt die Möglichkeit ein, dass die Spenderin oder der Spender selbst keine Kenntnis davon hat, welche Bedeutung der Taufe nach kirchlichem Selbstverständnis zukommt, sie oder er aber ihr Tun mit dem Absicht verbindet, den Willen der Kirche zu tun.

1.2  Spenderinnen und Spender der Taufe 

Im Notfall sind für eine gültige Taufspendung nur Mindestanforderungen zu beachten (vgl. c. 850). Das sind das Untertauchen, Übergießen oder Besprengen des Täuflings

1.3  Mindestanforderungen an die Taufspendung 

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mit Wasser – das im Notfall auch nicht gesegnet sein muss (vgl. c. 853) – und das Sprechen der Spendeformel „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ 1.4  Taufe in fremdem Gebiet  In der Regel bemessen sich Zuständigkeiten für die Taufspendung auf der Ebene der (Erz)Diözesen gemäß kirchlichem Recht nach dem Territorialprinzip. Zuständig sind die Taufspenderinnen und -spender daher zunächst für die Taufspendung in dem jeweiligen Bistumsgebiet. In einem fremden Gebiet ist ordentlichen und außerordentlichen Spenderinnen und Spendern ohne ausdrückliche Erlaubnis der in dem Gebiet zuständigen kirchlichen Autorität die Spendung der Taufe verboten, außer es liegt ein Notfall vor (vgl. c. 862). So durchbricht der Notfall die Regelung des Normalfalls.

Mit der Taufe geschieht die Aufnahme eines Menschen in die Kirche. Das drückt sich symbolisch darin aus, dass sie in der Regel in einer Kirche oder Kapelle gefeiert wird, also an einem Ort, an dem die Gläubigen zur gemeinsamen Feier zusammenkommen. Im Notfall kann jeder Ort der Taufspendung dienen (vgl. c. 857 § 1, c. 860). Während man im Regelfall für eine Taufe in Privathäusern eine Erlaubnis des Ortsordinarius – des zuständigen Diözesanbischofs oder Generalvikars – benötigt, ist sie im Notfall dort ohne weiteres möglich (vgl. c. 860 § 1). In Krankenhäusern darf nur im Notfall oder aus einem anderen zwingenden seelsorglichen Grund die Taufe gefeiert werden, außer der Diözesanbischof hat etwas anderes bestimmt (vgl. c. 860 § 2).

1.5 Ort der Taufspendung 

2.  Firmspendung im Angesicht von Tod und anderem schwerwiegenden Grund

Wie bei der Taufe ist auch in Bezug auf die Firmung festgehalten, dass vorab zur Feier des Sakraments eine umfassende Vorbereitung der Firmlinge stattfindet (vgl. c. 889 § 2). Sie ist gewichtig, insoweit die Firmung – wie Taufe und Priesterweihe – nach kirchlichem Selbstverständnis ein unauslöschliches Prägemal verleiht und damit unwiderruflich und unwiederholbar ist. Auf die gründliche Unterweisung kann nur in Todesgefahr verzichtet werden. Während im Normalfall die Firmung an Heranwachsende gespendet wird, die bereits über eine gewisse Reife verfügen, können in Todesgefahr oder aus einem schwerwiegenden Grund auch jüngere Katholikinnen und Katholiken die Firmung empfangen (c. 891).

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Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Notfallseelsorge

Ordentlicher Spender der Firmung ist der Bischof (c. 882). Ist er verhindert, kann er Priestern die Befugnis zur Firmspendung verleihen. Darüber hinaus ist im Recht festgehalten, dass ein Priester, der berechtigt ist, eine Erwachsenentaufe vorzunehmen, den Täufling im Anschluss an die Taufspendung auch zu firmen vermag (vgl. 883 n. 2). In Todesgefahr verfügt hingegen jeder Priester über die Vollmacht, die Firmung zu spenden (c. 833 n. 3). Dies wird sogar als eine den Pfarrern und den Priestern, die auf Dauer für die Seelsorge für eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen abgestellt sind (so genannte „cappellani“), besonders obliegende Aufgabe festgehalten (vgl. cc. 530 n. 2 und 566 § 1). 3.  Notfallregelungen hinsichtlich des Sakraments der Eucharistie

Die Eucharistie bildet den Mittelpunkt kirchlichen Lebens. Sie ist das Sakrament, das auf besondere Weise die Gegenwart Gottes in seiner Kirche verdeutlicht. Dem entspricht, dass die Empfängerinnen und Empfänger aufgefordert sind, die Eucharistie mit großer Ehrfurcht zu empfangen. Um dem eucharistischen Geschehen angemessen zu begegnen, ist eine entsprechende Vorbereitung und Kenntnis erforderlich. Daher wird im Recht der Kirche festgehalten, dass vorab zum ersten Empfang der Eucharistie („Erstkommunion“) bei Kindern eine sorgfältige Vorbereitung stattfinden soll. Es ist sicherzustellen, dass die Kinder ihrem Alter entsprechend in der Lage sind, das Geschehen zu begreifen und den Leib Christi gläubig und andächtig zu empfangen (vgl. c. 913 § 1). Aufgrund der zentralen Heilsbedeutung der Eucharistie können diese Anforderungen unterschritten werden, wenn Kinder sich in Todesgefahr befinden (vgl. c. 913 § 2). In diesem Fall ist ausreichend, dass sie den Leib Christi von gewöhnlicher Speise unterscheiden können und ihm ehrfürchtig begegnen. Die Ehrfurcht vor der Eucharistie wird auch dadurch bezeugt, dass man als Kommunizierende bzw. Kommunizierender in einem Zeitraum von mindestens einer Stunde vor Empfang der Kommunion nichts isst und trinkt (vgl. c. 919 § 1). Als Ausnahmen wird die Einnahme von Wasser und Arznei genannt, so dass Kranke nicht auf medizinische Versorgung verzichten müssen. Ältere und kranke Menschen sowie die Personen, die sie pflegen, dürfen auch dann die Kommunion empfangen, wenn sie das Nüchternheitsgebot von einer Stunde nicht einhalten konnten (c. 919 § 3). Verhindern Alter und Krankheit, dass Gläubige an der Eucharistiefeier teilnehmen und in ihrem Rahmen die Kommunion empfangen, besteht die Möglichkeit, dass ihnen zu Hause die Kommunion gereicht wird („Krankenkommunion“).

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3.1 Die Eucharistie als Wegzehrung 

In Todesgefahr, also bei Todkranken, Sterbenden oder Personen, bei denen aus einem anderen Grund mit dem bald eintretendem Tod zu rechnen ist, sieht das Recht der Kirche die Spendung der Eucharistie als Wegzehrung (viaticum) vor (vgl. c. 921 § 1). Die Reichung der Wegzehrung soll auch geschehen, wenn die Person in Todesnähe bereits an dem betreffenden Tag die Kommunion empfangen hat, bevor sich der Zustand der Todesgefahr einstellte (vgl. c. 921 § 2). Hält die Todesnähe an, kann die Wehzehrung mehrfach gespendet werden und zwar in diesem Fall einmal an jedem Tag (vgl. c. 921 § 3). Explizit ist im kirchlichen Gesetzbuch festgehalten, nicht zu lange mit der Darreichung der Wegzehrung zu warten, damit Todkranke und Sterbende dies noch bei Bewusstsein erleben (vgl. c. 922). Bei todkranken Gläubigen ist es Pflicht und Recht der Pfarrer, Pfarrvikare (im deutschen Sprachgebrauch „Kapläne“ genannt), der Seelsorger für bestimmte Personengruppen („cappellani“, z. B. Seelsorger für Gläubige anderer Muttersprachen) sowie der Oberen klerikaler Ordensinstitute oder Gesellschaften des apostolischen Lebens für die Personen in ihrem Ordenshaus und der Rektoren von Priesterseminaren für die Personen im Seminar, diese zu besuchen und ihnen die Eucharistie als Wegzehrung zu spenden (vgl. cc. 530 n. 3; 566 § 1; 911 § 1; 921; 262). Liegt ein Notfall vor, dürfen alle Priester und Kommunionspenderinnen und -spender (Diakone, Akolythen, Kommunionhelferinnen und -helfer oder eine für einen Einzelfall vom Pfarrer beauftragte Gläubige bzw. ein Gläubiger) den Kranken die Wegzehrung reichen, wenn sie davon ausgehen können, dass der zuständige Pfarrer, Seelsorger oder Ordensobere damit einverstanden wäre (vgl. c. 911 § 2). Sie müssen den genannten zuständigen Geistlichen im Nachhinein über die Spendung der Wegzehrung in Kenntnis setzen. 3.2 Die eucharistischen Gestalten 

Im Recht der Kirche ist vorgesehen, dass die heilige Kommunion entweder allein unter der Gestalt des Brotes zu reichen ist oder auch unter beiderlei Gestalt, also als Brot und als Wein. Im Notfall kann auf das Brot verzichtet werden und den Gläubigen die Kommunion ausschließlich unter der Gestalt des Weines gereicht werden (vgl. c. 925). Niemals ist es erlaubt, eine der eucharistischen Gestalten – Brot und Wein – alleine, also ohne die andere, oder außerhalb einer Eucharistiefeier zu konsekrieren (vgl. c. 927). Daran ändert auch ein Notfall nichts, wie im Kirchenrecht eigens betont wird.

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Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Notfallseelsorge

3.3  Ökumenische Sakramentengemeinschaft im Notfall 

Grundsätzlich gilt als sakramentenrechtliche Vorgabe im Regelfall: katholische Spenderinnen und Spender spenden die Sakramente erlaubterweise katholischen Empfängerinnen und Empfängern; umgekehrt ist es katholischen Empfängerinnen und Empfängern regulär nur erlaubt, die Sakramente von katholischen Spenderinnen und Spendern zu empfangen (vgl. c. 844 § 1). Die besondere Heilsbedeutung der Eucharistie als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens (II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium über die Kirche, Art. 11) wird rechtlich daran verdeutlicht, dass in besonderen Fällen eine Spendung der Eucharistie an Nichtkatholikinnen und -katholiken zugelassen wird; ebenso ein Empfang der Eucharistie von nichtkatholischen Spendern („communicatio in sacris“). Der Empfang der Eucharistie von nichtkatholischen Spendern – in Frage kommen nur Spender von Kirchen, in denen die Eucharistie gültig gefeiert wird – das ist in den orthodoxen Kirchen der Fall – ist Katholikinnen und Katholiken unter anderem dann erlaubt, wenn eine nicht näher inhaltlich bestimmte Notwendigkeit es erfordert (c. 844 § 2). Dabei ist unbedingt sicherzustellen, dass diese Praxis nicht zu Beliebigkeit oder einem Irrtum darüber führt, dass grundsätzlich der Eucharistieempfang in den Raum der katholischen Gemeinschaft gehört. Die Spendung der Eucharistie an orthodoxe Christinnen und Christen ist erlaubt, wenn diese von sich aus darum bitten und in rechter Weise innerlich auf den Empfang des Sakraments vorbereitet sind (vgl. c. 844 § 3). Die Spendung der Eucharistie an andere Nichtkatholikinnen und -katholiken, die kein mit der katholischen Kirche übereinstimmendes Eucharistieverständnis haben, ist grundsätzlich unzulässig; wenn allerdings Todesgefahr oder nach Beurteilung des Diözesanbischofs bzw. der Bischofskonferenz eine schwere Notlage besteht, ist eine Spendung erlaubt, wenn die genannten Christinnen und Christen keinen Spender oder Spenderin ihrer Kirche aufsuchen können, von sich aus um den Empfang der Eucharistie bitten, innerlich entsprechend vorbereitet sind und ein Sakramentenverständnis bekunden, das katholischer Glaubensüberzeugung entspricht (vgl. c. 844 § 4). Was vorliegend in Bezug auf die Regelung in c. 844 zur Eucharistie und die mit ihr verbundenen Notfallregelungen einer ökumenischen Sakramentengemeinschaft gesagt wurde, gilt gleichermaßen für die Sakramente der Buße und der Krankensalbung, insoweit diesen eine besondere Bedeutung in Bezug auf die Versöhnung mit Gott und mit

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den Menschen zukommt und sie deshalb gerade im Notfall, im Fall von Krankheit oder in Todesgefahr in den Blick kommen. 4. Der rechtlich relevante Notfall in Bezug auf das Bußsakrament

4.1  Beichtbefugnis in Todesgefahr  Nach kirchlichem Selbstverständnis wird mit dem Sakrament der Buße den Gläubigen das Angebot gemacht, sich mit Gott und der Kirche zu versöhnen. Gespendet wird das Bußsakrament ausschließlich von Priestern (vgl. c. 965), die mit einer Beichtbefugnis ausgestattet sein müssen (vgl. c. 966). Befindet sich eine Person, die beichten möchte, in Todesgefahr, kann jeder Priester, auch einer, der keine Beichtbefugnis besitzt, sie von ihren Sünden lossprechen (vgl. c. 976). Dazu hat er nicht nur das Recht, sondern explizit die Pflicht (vgl. c. 986 § 2). Nicht gültig loszusprechen vermag ein Priester in der Regel eine Beichtende oder einen Beichtenden, die oder der eine mit dem Beichtvater begangene sexuelle Verfehlung bekennt. Auch hier führt die Todesgefahr der oder des Bußwilligen zu einer Ausnahme (vgl. c. 977). Neben der Absolutierung von Sünden vermag ein einer sich in Todesgefahr befindenden Person die Beichte abnehmender Priester diese von Kirchenstrafen – konkret kirchlichen Beugestrafen, das sind Exkommunikation, Interdikt und Suspension, – zu befreien. Bei letzterem ist der Beichtvater verpflichtet, der oder dem Beichtenden für den Fall, dass sie oder er die gefährliche Situation überlebt, aufzuerlegen, sich binnen eines Monats an die kirchlichen Autoritäten zu wenden, die im Regelfall für die Lösung von Kirchenstrafen zuständig sind (vgl. c. 1357 § 2), damit die Strafe auch für den öffentlichen Bereich gelöst wird – andernfalls wüssten ja nur Beichtvater und Beichtende bzw. Beichtender, dass eine Kirchenstrafe aufgehoben wurde. Ein Priester, dem es aufgrund einer kirchlichen Strafe verboten ist, das Bußsakrament zu spenden, vermag eine Gläubige bzw. einen Gläubigen von seinen Sünden in Todesgefahr loszusprechen, wenn es für dessen Heil notwendig ist (vgl. c. 1335). Das gilt sogar für suspendierte und laisierte Priester, die verheiratet sind, obwohl diese, so der Päpstliche Rat für die Interpretation von Gesetzestexten , in allen anderen Situationen als völlig ungeeignet zu betrachten seien, Gläubigen die Priestern zur Spendung vorbehaltenen Sakramente zu spenden (vgl. Erklärung des Rats vom 19. Mai 1997). Die zentrale Bedeutung der im Bußsakrament vermittelten Sündenvergebung wird als punktuell wesentlicher angesehen als der mit dem strafweisen Verbot angezielte Zweck.

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Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Notfallseelsorge

Kirchenrechtlich zentral, damit eine Absolution erteilt werden kann, ist das persönliche Bekenntnis der Sünderinnen und Sündern, in dem sie ihre Schuld umfassend gegenüber dem Beichtvater eingestehen (vgl. c. 960). Im Recht der Kirche ist hiervon eine Ausnahme benannt, wenn es Personen, die um das Bußsakrament bitten – sei es aufgrund physischer, sei es aufgrund moralischer bzw. psychischer Gründe – nicht möglich ist, ein Bekenntnis abzulegen (vgl. c. 960). Eine physische Unmöglichkeit liegt unter anderem vor, wenn eine Person, die um das Bußsakrament bittet, aufgrund kognitiver Einschränkungen nicht in der Lage ist, ihr Gewissen zu erforschen und sich die begangenen Sünden zu vergegenwärtigen. Eine psychische Unmöglichkeit bezieht sich zum einen auf eine ähnliche Unfähigkeit zur Gewissensprüfung aufgrund psychischer Ursachen. Ebenfalls wird darunter der Sachverhalt verstanden, dass für die Beichte einer oder eines Gläubigen nur ein Priester zur Verfügung steht, der als Beichtvater aus moralischen Gründen nicht in Frage kommt, zum Beispiel weil beide miteinander verwandt sind. Auch in diesen Fällen, in denen kein Bekenntnis möglich oder zumutbar ist, will die Kirche reuigen Sünderinnen und Sündern einen Zugang zum Schatz der Versöhnung mit Gott und der Kirche gewähren. Eine Absolution ist daher auch ohne vorangehendes Bekenntnis möglich. Für eine Gruppe von Gläubigen sind in ähnlichem Fall die Vorgaben zur Generalabsolution einschlägig. Denen zufolge kann mehreren Beichtwilligen ohne vorangegangenes persönliches Bekenntnis gleichzeitig die Absolution erteilt werden, wenn Todesgefahr besteht und für den oder die die Beichte hörenden Priester nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um die Bekenntnisse der einzelnen Beichtenden zu hören (vgl. c. 961 § 1 n. 1) – Rechtspraktikerinnen und -praktiker nennen als Beispiele den Fall eines militärischen Angriffs, Katastrophen oder Terrorangriffe. Die Beichtwilligen müssen, um ohne persönliches Bekenntnis gültig das Bußsakrament zu empfangen, recht disponiert sein, das heißt sie müssen hinsichtlich der begangenen Sünden Reue empfinden, den Vorsatz haben, diese Sünden nicht mehr zu begehen, und bereit sein, soweit möglich, Wiedergutmachung für den entstandenen Schaden zu leisten; ferner müssen sie sich vornehmen, ihre schweren Sünden, die aufgrund der Zeitnot nicht einzeln bekannt werden können, für den Fall, dass sie lebend die Todesgefahr überstehen, zu gegebener Zeit im Rahmen einer regulären Einzelbeichte zu beichten (vgl. c. 962 §§ 1 und 2).

4.2  Verzicht auf Bekenntnis in Todesgefahr 

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Was in Todesgefahr für die Generalabsolution gilt, sieht das Gesetzbuch der lateinischen Kirche auch für eine schwere Notlage vor (vgl. c. 961 § 1 n. 2), bei der die personellen und zeitlichen Möglichkeiten eingeschränkt sind und nicht verantwortet werden kann, dass Gläubige auf die Gnade des Bußsakraments verzichten oder sie lange entbehren müssten. Welche Situation als Notlage zu beurteilen ist, obliegt dem Ermessen des jeweils zuständigen Diözesanbischofs für das Gebiet seiner Diözese (c. 961 § 2). Die deutschen Bischöfe sehen zurzeit für die Bundesrepublik Deutschland keine solche Situation als gegeben an. Befindet sich eine Katholikin bzw. ein Katholik in einer Notlage und verspürt das Bedürfnis, das Bußsakrament zu empfangen, stellt sich gegebenenfalls die Frage, ob dies fernmündlich – also per Telefon – oder auch via E-Mail oder auf dem Weg einer anderen elektronischen Vermittlung möglich sei. Eine abschließende Beantwortung der Frage durch den Heiligen Stuhl liegt bisher nicht vor. Allerdings hat sich die Kongregation für die Glaubenslehre zu Frage der Telefonbeichte geäußert. In einer Note der Glaubenskongregation zur Gültigkeit und Erlaubtheit der Spendung des Bußsakramentes über Telefon vom 25. November 1989 (in: AKathKR 158 (1989), 484) wird festgehalten, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass auch via Telefon ein gültiger Empfang des Sakraments geschehen könne. Dies sei dennoch – außer in extremem Notfall – nicht erlaubt. Zwar ließen sich die im Rahmen der Beichte geäußerten Worte elektronisch übertragen, die rituellen symbolhaften Zeichen, die im Beichtgeschehen ihren Platz haben, aber nicht. So erfolgt die Lossprechung durch den Beichtvater unter Auflegung bzw. Ausstreckung der Hände, eine symbolhafte Handlung, die sich elektronischer Vermittlung entzieht. Auch gehe durch die Telefonbeichte eine Privatisierung der Sakramentenspendung einher, so dass die Gefahr bestünde, dass den Gläubigen das Bewusstsein verloren gehe, dass Sakramente Teil des kirchlichen Lebens seien und daher in der Mitte der kirchlichen Gemeinde zu verorten seien. Nichtsdestoweniger wird im Text der extreme Notfall genannt, in dem eine Telefonbeichte nicht als unerlaubt beschrieben wird. Gleichzeitig verweist aber die Kongregation auf die kirchliche Lehre, dass in einem äußersten Notfall eine Gläubige bzw. eine Gläubiger auch außerhalb des Bußsakraments Versöhnung mit Gott und der Kirche erlangen könne, wenn sie oder er im Willen, das Bußsakrament zu empfangen, vollkommene Reue empfindet.

4.3  Beichte über Telefon oder Internet? 

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Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Notfallseelsorge

5.  Notfall und Krankensalbung

Spender der Krankensalbung ist der Priester (vgl. c. 1003 § 1). Explizit wird im kirchlichen Gesetzbuch erwähnt, dass es jedem Priester erlaubt sei, gesegnetes Öl mit sich zu führen, um im Notfall das Sakrament der Krankensalbung zu spenden (vgl. c. 1003 § 3). Die zur Krankensalbung verwendeten Öle werden vom Diözesanbischof oder einem ihm Gleichgestellten gesegnet; liegt ein Notfall vor, darf jeder Priester das Öl segnen, und zwar im Rahmen der Feier des Sakraments der Krankensalbung selber (vgl. c. 999 n. 2). Die Krankensalbung erfolgt in der Regel gemäß den Vorgaben der liturgischen Bücher. Im Notfall kann sie sich auf die Salbung der bzw. des Kranken auf der Stirn oder einem anderen Körperteil beschränken. Dabei spricht der Priester, der die Krankensalbung vornimmt, die Formel: „Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes. Der Herr, der dich von den Sünden befreit hat, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.“ (vgl. c. 1000 § 1). Der Spender der Krankensalbung nutzt seine Hand, um die Salbung vorzunehmen, aus schwerwiegendem Grund darf er auf ein Instrument zurückgreifen (vgl. c. 1000 § 2). Ein solcher Grund kann gegeben sein, wenn es aus medizinischen Gründen zum Schutz der oder des Kranken oder zum Schutz des Sakramentenspenders nicht angeraten ist, eine oder einen Kranken mit der Hand zu berühren. 6. Die Bedeutung des Notfalls in Bezug auf das Sakrament der Ehe

6.1  Ehevorbereitung und Aufgebot 

Bevor ein Paar eine Ehe eingeht, soll sichergestellt werden, dass seiner Eheschließung nichts im Wege steht, so dass die Ehe erlaubt zustande kommt und gültig ist (vgl. c. 1066). Zu diesem Zweck werden im Rahmen von Brautgespräch und Brautexamen mögliche Hinderungsgründe geklärt und ausgeschlossen. Das Aufgebot, das die Brautleute bestellen, stellt die öffentliche Bekanntgabe der geplanten Eheschließung dar, der eine Zeitspanne folgt, in der Dritte gegebenenfalls ihnen bekannte Ehehindernisse vorbringen können (vgl. c. 1067). In Todesgefahr kann unter bestimmten Umständen von diesen vorbereitenden Schritten abgesehen werden. Es reicht aus, dass das Brautpaar – sofern nicht Anhaltspunkte oder Beweise für einen Hinderungsgrund vorliegen – eidlich versichert, dass es getauft ist und keine Ehehindernisse vorliegen (vgl. c. 1068). Die Einschränkung auf Paare, bei denen beide Partner getauft sind, erklärt sich vor dem Hintergrund, dass im genannten

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Fall davon auszugehen sein muss, dass keine Ehehindernisse vorhanden sind: ist einer der Partner nicht getauft, besteht in jedem Fall nach kirchlichem Selbstverständnis mindestens ein Ehehindernis, nämlich das der Religionsverschiedenheit der zukünftigen Eheleute (vgl. c. 1086). 6.2 Dispens von Ehehindernissen 

Ist ein Teil der Brautleute nicht getauft und liegt somit das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit vor, kann auch in Todesgefahr nicht davon abgesehen werden, für eine gültige Ehe zunächst eine Dispens vom Ehehindernis – das ist eine für den Einzelfall gewährte Befreiung von der Geltung des gesetzlich angeordneten Nichtigkeitsgrunds (vgl. c. 85) – zu erwirken. Sollte Religionsverschiedenheit oder ein anderes Ehehindernis bestehen, kann in Todesgefahr der Ortsordinarius– der Diözesanbischof oder der zuständige Generalvikar – Brautleute, die zu seiner Diözese gehören oder sich zurzeit in seiner Diözese aufhalten, von allen öffentlichen und geheimen Ehehindernissen des kirchlichen Rechts befreien, ausgenommen vom Hindernis, das aus der Priesterweihe entstanden ist (vgl. c. 1079 § 1); letzteres ist dem Apostolischen Stuhl zur Dispens vorbehalten. Beschränkt ist der Ortsordinarius auf Hindernisse des kirchlichen Rechts; Hinderungsgründe des göttlichen Rechts – dazu zählt zum Beispiel die enge Blutsverwandtschaft zwischen Eltern oder Geschwistern – können nach kirchlichem Selbstverständnis nicht von Menschen aufgehoben werden. Ist kein Ortsordinarius erreichbar – das ist nach rechtlichem Verständnis bereits der Fall, wenn er nur telegraphisch oder telefonisch zu sprechen ist (vgl. c. 1079 § 4) –, haben die Vollmacht, von Ehehindernissen kirchlichen Rechts zu dispensieren, auch ein Pfarrer sowie alle Priester oder Diakone (vgl. 1079 § 2). In Todesgefahr kann auch ein Beichtvater im Rahmen der Beichte oder einer nichtöffentlichen Gesprächssituation von geheimen Hindernissen des kirchlichen Rechts dispensieren (c. 1079 § 3). Von der die Ehe verungültigenden Wirkung eines öffentlich bekannten Hindernisses kann er nicht befreien, diese bedürfen einer öffentlichen Dispens, die nachprüfbar ist, so dass nachträglich belegt werden kann, dass eine Dispens von einem Hindernis zum Zeitpunkt der Eheschließung tatsächlich vorlag und eine Ehe somit gültig zustande kam.

6.3 Noteheschließung Der

kirchliche Gesetzgeber hat eine Eheschließungsform festgelegt, die Katholikinnen und Katholiken im Regelfall einhalten müssen, um eine gültige Ehe einzugehen (c. 1117). Die Form sieht einen für die Assistenz zur Eheschließung berechtigten Priester

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Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Notfallseelsorge

oder Diakon vor, der den Ehewillen des Brautpaars erfragt und ihr Jawort im Namen der Kirche entgegennimmt; es müssen zwei Zeugen anwesend sein, die den Vorgang bezeugen können und ihn somit rechtlich nachweisbar machen (vgl. c. 1008). Grundsätzlich zur Eheassistenz berechtigt sind in ihrem Gebiet Ortsordinarien und Ortspfarrer. Beide können einen anderen Priester oder Diakon zur Eheassistenz beauftragen. Nicht immer wird es in drängender Notlage möglich sein, einen zur Assistenz berechtigten Geistlichen zu finden. Daher ist im Recht der Kirche festgehalten, dass Brautleute – wenn kein Ehehindernis vorliegt – in Todesgefahr eine Ehe ohne Assistierenden allein vor zwei Zeugen eingehen können, sofern niemand gefunden werden kann, der der Eheschließung assistiert (vgl. c. 1116 § 1). Gleiches gilt, wenn keine Todesgefahr besteht, aber voraussichtlich im Zeitraum von einem Monat kein Assistenzberechtigter zu erreichen sein wird. Eine solche Eheschließung, bei der Braut und Bräutigam sich vor zwei Zeugen ohne Anwesenheit eines trauberechtigten Geistlichen das Jawort geben, wird auch Noteheschließung genannt. 6.4 Dispens von der Formpflicht  Der Ortsordinarius – der Diözesanbischof oder der zuständige Generalvikar – kann überdies seine Untergebenen sowie alle Personen im Gebiet seiner Diözese in Todesgefahr von der Einhaltung der Eheschließungsform dispensieren (vgl. c. 1079 § 1), so dass die festgelegte Eheschließungsform nicht eingehalten werden muss, um eine gültige Ehe zu begründen. Ist kein Ortsordinarius erreichbar, haben diese Kompetenz auch ein Pfarrer, Priester oder Diakon (vgl. 1079 § 2). Es kann in einem solch drängenden Notfall also leicht ermöglicht werden, dass Katholikinnen und Katholiken eine kirchliche gültige Ehe eingehen, obwohl sie keinen Zugang zu einem assistenzberechtigten Priester oder Diakon sowie zwei Zeugen haben. So kann eine rein standesamtliche Eheschließung eine kirchlich gültige Ehe begründen, ebenso eine religiöse nichtkatholische Eheschließungszeremonie.

Im Recht ist festgehalten, dass es Gründe gibt, bei denen vorab zur Eheassistenz explizit die Erlaubnis des Ortsordinarius‘ eingeholt werden muss. Das ist der Fall bei der Eheschließung von Wohnsitzlosen, bei einer Eheschließung, die nach staatlichem Recht nicht erlaubt ist oder staatlichen Vorschriften zuwiderläuft, bei Personen, die Unterhaltspflichten gegenüber Ex-Partnerinnen oder -Partnern und bzw. oder gemeinsamen Kindern haben, bei Menschen, die offenkundig vom katholischen Glauben abgefallen

6.5 Ausnahmen von der Erteilung der Trauerlaubnis 

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sind – das ist gemäß zurzeit in Deutschland herrschender Rechtsauffassung den aus der Kirche ausgetretenen Katholikinnen und Katholiken zu unterstellen – oder bei Personen, die der Kirchenstrafe der Exkommunikation, Interdikt oder Suspension unterstehen, bei der Eheschließung von Minderjährigen, die ohne Wissen oder gegen den Willen der Eltern stattfindet, bei einer Eheschließung, die die Brautleute nicht persönlich anwesend, sondern durch Stellvertreterin bzw. Stellvertreter eingehen (vgl. c. 1071 § 1). Liegt ein Notfall vor, muss – auch wenn die genannten Gründe vorliegen – keine Erlaubnis des Ortsordinarius‘ eingeholt werden. Die Eheschließung ist ohne Erlaubniserteilung gestattet. 7.  Sakramente: Feier der Gegenwart Gottes in Not und Unglück

In ihrem Dokument „Tote begraben und Trauernde trösten“ halten die deutschen Bischöfe fest: „Christen glauben, dass Gott auch in Unglück und in Lebensnot nicht fern ist, sondern dieses mit den Menschen teilt, so wie er sich in Jesus Christus Leid, Angst, Sterben und Tod ausgesetzt hat. Diese Hoffnung sollen Christen bezeugen. Dies geschieht in Extremsituationen häufig am besten dadurch, dass Menschen nicht allein gelassen werden und jemand für sie da ist.“ (Deutsche Bischofskonferenz, Tote begraben und Trauernde trösten. Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht (Die deutschen Bischöfe 81), Bonn 2005, 41). Gott ist in Not und Unglück präsent, seine Gegenwart verdeutlicht sich in der Präsenz anderer Menschen, die für Notleidende und Sterbende da sind. Dieses Dasein für andere erfordert von Seelsorgerinnen und Seelsorgern ein differenziertes, den Umständen angemessenes pastorales Handeln. Unterschiedliche Situationen sind einzelfallbezogen zu bewerten. Nicht für alle denkbaren Szenarien bestehende adäquate rechtliche Vorgaben. Einige Situationen und einen gebührenden Umgang mit ihnen wird man überhaupt nicht mit dem Instrumentarium des Rechts beschreiben können; in vielen Fällen wird sich die Frage nach dem Kirchenrecht nicht stellen. Das Dasein für andere wird auf vielfältige Weisen praktisch, die keiner rechtlichen Regulierung zugänglich sind. Und doch versucht der Gesetzgeber den Normadressatinnen und -adressaten für den Fall von Not und Todesgefahr Sicherheit zu geben und Optionen zu eröffnen. Mit den aufgeführten Regelungen, die sich vor allem im Sakramentenrecht der Kirche finden, eröffnet der Gesetzgeber Seelsorgerinnen und Seelsorgern einen Spielraum, um jenseits des pastoralen Regelfalls in Not und Unglück die Gegenwart Christi in den Sakramenten zu feiern. Judith Hahn 114

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Notfallseelsorge

Literatur Reinhild Ahlers,

Notfallseelsorge als eine Form der Sonderseelsorge und ihre kirchenrechtliche Implikationen, in: Rüdiger Althaus/Klaus Lüdicke/Matthias Pulte (Hrsg.), Kirchenrecht und Theologie im Leben der Kirche. Festschrift für Heinrich J. F. Reinhardt (Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici 50), Essen 2007, 21–30. Klaus Lüdicke (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Loseblattsammlung, Essen 1984ff. Kirchliche Dokumente

Codex des kanonischen Rechts, hg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz, der Erzbischöfe von Luxemburg und Straßburg sowie der Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich und Metz, lt.-dt. Ausgabe, 6. Aufl., Kevelaer 2009. Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche. Teil II: In besonderen Situationen. Manuskriptausgabe zur Erprobung, hrsg. von den Liturgischen Instituten Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz, Trier 2008 (darin u. a.: Die Feier der Eingliederung in die Kirche für Menschen in Lebensgefahr, 7–28). Die Feier der Kindertaufe in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Zweite authentische Ausgabe auf der Grundlage der Editio typica altera 1973, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2007 (darin u. a. Tauffeier für ein Kind in Lebensgefahr 107–119 sowie Einführung in die Kirche für ein Kind, das die Nottaufe empfangen hat 121–138). Die Feier der Buße nach dem neuen Rituale Romanum. Studienausgabe, hrsg. von den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier und Luzern, Trier 2008. Kommunionspendung und Eucharistieverehrung außerhalb der Messe. Studienausgabe, hrsg. von den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier und Zürich, Freiburg im Breisgau 1976 (online-Ausgabe Trier 2003). Die Feier der Krankensakramente. Die Krankensalbung und die Ordnung der Krankenpastoral in den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebiets, hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, 2. Aufl., Solothurn u. a. 1995. Päpstlicher Rat für die Interpretation von Gesetzestexten, Erklärung über die Feier der Sakramente durch Priester, die eine Eheschließung versucht haben, vom 19. Mai 1997, einsehbar unter http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/ intrptxt/documents/rc_pc_intrptxt_doc_22091998_declaration_ it.html. Kongregation für die Glaubenslehre, Note zur Gültigkeit und Erlaubtheit der Spendung des Bußsakramentes über Telefon vom 25. November 1989, in: AKathKR 158 (1989), 484. Tote begraben und Trauernde trösten. Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht (Die deutschen Bischöfe 81), hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2005. Codex Iuris Canonici,

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09. Theologie Warum lässt Gott das zu? Fragen der Theodizee Der Terminus Theodizee bedeutet wörtlich übersetzt Rechtfertigung Gottes oder auch Freispruch Gottes. Gemeint ist damit der Versuch, Gott vor der menschlichen Vernunft von der Verantwortung für das Leiden in der Welt freizusprechen. Bei dem Begriff handelt es sich um ein Kunstwort, das im 17. Jahrhundert von Gottfried Wilhelm Leibniz geprägt wurde. Hinter dieser Wortschöpfung steht allerdings die Auseinandersetzung mit einem Problem, das alles andere als ‚künstlich‘ ist. Es geht nämlich um die schwerwiegende Frage, wie die vielfältigen, oft unsäglichen Leiden dieser Welt mit dem christlichen Gottesglauben vereinbar sind. Macht sich der jüdisch-christliche Glaube mit seinem Bekenntnis zu einem der Welt in Liebe zugewandten Gott nicht völliger Realitätsblindheit schuldig? Wie ist es möglich – ist es überhaupt möglich – angesichts der Kriegs- und Terrormeldungen, die uns tagtäglich erreichen, an einen geschichtsmächtigen Gott zu glauben? Muss man angesichts der unzähligen Formen unschuldigen Leidens nicht auch als ChristIn an seinem Gott zweifeln, wenn nicht gar verzweifeln? Kurzum: Jede Aussage über Gott und sein heilsgeschichtliches Handeln steht notwendig unter dem Vorbehalt faktischer Unheilserfahrungen. Von einem reifen Glauben wird nur da die Rede sein können, wo diese Verfasstheit erkannt und bewusst angenommen wird. Theologie wusste und weiß sich deshalb von ihren frühesten Anfängen bis in die Gegenwart in der Verantwortung, sich den Fragen, die an der Realität des Leidens aufbrechen, zu stellen. Die konkreten Ansätze zur Auseinandersetzung mit diesem Problem stehen dabei, je nach geistesgeschichtlichem respektive theologischem Denkhorizont unter ganz unterschiedlichen, z.  T. auch gegenläufigen Vorzeichen. Das Spektrum reicht von Versuchen, eine Vereinbarkeit von Gott und Leid rational nachzuweisen (1.) über Bemühungen, das Theodizeeproblem durch den Gedanken des Mit-Leidens Gottes mit seiner Schöpfung zumindest zu entschärfen (2.),

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Warum lässt Gott das zu? – Fragen der Theodizee

bis zu Entwürfen, die der Theologie die Möglichkeit, eine abschließende Antwort zu finden, grundsätzlich absprechen. Diese erkennen ihre Aufgabe vielmehr darin, die Theodizeefrage als solche anzunehmen und offen zu halten (3.) um sie in Form der Klage vor Gott selbst zu tragen (4.). 1.  Versuche theoretischer Theodizee

Die Geschichte christlich-theologischer Antwortversuche auf die Frage, warum es Leiden gibt, ist in ihren Anfängen wesentlich durch das Bemühen gekennzeichnet, eine Vereinbarkeit des Glaubens an den allmächtigen und gütigen Gott mit der Leidensgeschichte der Welt nachzuweisen. Von theologiegeschichtlich größter Bedeutung, weil prägend für die gesamte abendländische Tradition bis in die Gegenwart, ist der Versuch, den Augustinus von Hippo im 5. Jahrhundert unternahm, Gott von aller Verantwortung für das Leid freizusprechen. Ausgangspunkt war dabei die philosophische Annahme, der Kosmos als ganzer unterliege einer umfassenden, rationalen Ordnung. Auch Übeln und Leiden kam darin eine spezifische Bedeutung zu: Sie konnten Strafe sein, erzieherische Funktion haben, zu persönlicher Reifung beitragen usw. Diese Weltsicht verband Augustinus nun mit der theologischen Grundüberzeugung, dass Gottes Schöpfung in sich gut ist. Alles, was ist, existiert, weil Gott es geschaffen hat, und eben darum ist es gut. Dem Schlechten kann also kein Sein zukommen. Es ist vielmehr als ein Mangel an Gutem zu begreifen, so die Schlussfolgerung. Das Böse „hat keine eigene Substanz, ist nur die durch Gutes im Dasein gehaltene Nichtigkeit. Und je schlechter und böser es wird, desto mehr wird es selber zum Nichts. Demnach wäre das Malum nicht nur etwas, das nicht sein soll, sondern etwas, das wesenhaft nicht ist“ (Kessler 2000, 31). Nun wusste aber auch Augustinus, dass es das Böse sehr wohl gibt. Blieb also zu erklären, woher es schlussendlich kam. Dazu griff der Theologe die altkirchliche Auslegung der Genesis auf, nach der die Schöpfung ursprünglich ohne jedes Leid war. Erst durch die Ursünde Adams verlor die Welt demnach ihren paradiesischen Zustand. Augustinus erweiterte diese Lehre nun um seine eigene Idee von der Weitergabe der Schuld durch Zeugung und Vererbung. Alles Böse geht diesem Verständnis nach einzig und allein vom Menschen aus; Gott hingegen kommt keinerlei Verantwortung zu. Wenngleich die augustinische Grundkonzeption auch Eingang in die kirchliche Lehre fand und über lange Zeit für unbestreitbar galt, so warf sie doch eine schwerwiegende neue Frage auf, die zu einer diffe-

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renzierten Antwort drängte: Wenn Gott den Menschen mit der Freiheit zum Guten wie zum Bösen geschaffen hat, hat er dann das Übel ebenso gewollt wie das Gute? Zur Lösung dieses Dilemmas fand die scholastische Theologie unter maßgeblichem Einfluss des Thomas von Aquin schließlich zu der Unterscheidung zwischen der Bewirkung des Bösen durch den Menschen und seiner bloßen Zulassung durch Gott. Dieser will demnach das Übel nicht, aber weil er die menschliche Freiheit respektiert, lässt er es zu. Im Ergebnis bleibt es dabei: Die Faktizität weltlichen Leidens ist Gott nicht anzulasten. Diesen Gedanken noch einmal stark zu machen, das sei zumindest am Rande erwähnt, tritt in jüngerer Zeit der Münchener Fundamentaltheologe Armin Kreiner an. Auch ihm geht es um „die Verteidigung des Glaubens an einen gütigen und allmächtigen Gott aufgrund der Existenz und Werthaftigkeit der Willensfreiheit. Anders formuliert: Der freie Wille soll als der Wert verstanden werden, der die Zulassung von Übel und Leid erklären kann“ (Kreiner 1994, 137). Auf den ersten Blick haben diese theoretischen Ansätze zweifellos etwas Bestechendes. In ihrer systematischen Geschlossenheit scheinen sie zunächst geeignet, eine intellektuell befriedigende Antwort auf die menschliche Grundfrage nach dem Warum des Leids zu geben. Nicht von ungefähr wurden sie in der Vergangenheit auch von philosophischer Seite mitgetragen. Einen letzten großen Entwurf dazu finden wir bei Leibniz, der mit seiner eingangs bereits erwähnten „Theodizee“ eine philosophische Durchdringung des augustinisch-thomanischen Grundgedankens einer in sich harmonischen Weltordnung, in der auch dem Bösen eine spezifische Funktion und Bedeutung zukommt, vorlegte. Bei näherem Hinschauen aber zeigt sich schnell das Ungenügen solch klassischer Versuche der Rechtfertigung Gottes. Zunächst einmal hat die Konzeption der „Entlastung Gottes“ um den Preis der „Belastung des Menschen“ (Kuschel 1996, 237) eine logische Schwachstelle. Dem Menschen wird zwar die alleinige Schuld für den leidvollen Zustand der Welt zugesprochen, gleichzeitig aber wird er als Geschöpf gedacht, das seine Freiheit und damit seine Möglichkeiten zum Guten, aber eben auch zum Bösen, von Gott erhalten hat. Die letzte Verantwortung für die Verfasstheit der Welt fällt also schlussendlich doch auf den Schöpfer zurück. Weil nun theologisch davon auszugehen ist, dass die Schöpfungswirklichkeit ganz und gar dem Schöpfungswillen und -plan Gottes entspricht, tendieren Theodizee-Versuche zudem deutlich zu einer

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Rechtfertigung und damit zur Stabilisierung bestehender Leid- und Unrechtsverhältnisse (vgl. Kessler 2000, 40). Von solchen inhaltlichen Fragen aber einmal abgesehen, wird man noch viel grundsätzlicher sagen müssen, dass die Denkform als solche ihrem Gegenstand schlicht nicht angemessen ist. Kein noch so diffiziles theoretisches Denksystem kann je geeignet sein, die existentielle Frage nach dem Warum erlittenen Elends in ihrer vollen Tiefe ausloten. „Wo der Mensch vom Leid erfaßt wird, da ist er in seiner Personmitte getroffen. (...) Da kann eine Erklärung, woher das Leid ist und warum es ist und wieso es mit Gott vereinbar ist, eben weil eine solche Erklärung notwendig Allgemeinheit beansprucht, die gestellte Frage gar nicht lösen“ (Greshake 1978, 21). Indem jedes abstrakte Denkkonstrukt das eigentliche Wesen leidvoller Erfahrungen also notwendig verfehlen muss, macht es sich unausweichlich der Verharmlosung schuldig und läuft Gefahr, dem Zynismus zu verfallen. Von dieser Einsicht her erklärt sich, dass ab der Mitte des 18. Jahrhunderts Versuche der Theodizee zunehmend an Überzeugungskraft verloren. Das fürchterliche Erdbeben in Lissabon im Jahre 1755, das 30.000 unschuldige Opfer forderte, war das große Schockerlebnis, mit dem ein Umdenken einsetzt. „Durch ein Naturübel kam hier eine Erfahrung ungerechten, maßlosen Leides zum Durchbruch, welche jede Funktionalisierung des Übels für das Gute und für einen übergeordneten Sinn als hohle Phrase erscheinen ließ“ (Kessler 2000, 38). Die Schöpfung wurde von nun an immer weniger als harmonische, gute Ordnung, in der alles, auch das Leid, einen höheren, berechtigten Sinn und Zweck hat, wahrgenommen und begriffen. Versuche der Rechtfertigung Gottes verstummten in der Folgezeit mehr und mehr. Stattdessen verschaffte sich Empörung über Gott und sein Werk in einer um sich greifenden Haltung des Protest-Atheismus Ausdruck. „Das Leiden der unschuldigen Kreatur ist zum moralischen Argument gegen die Existenz Gottes geworden“ (Kessler 2000, 42). So schreibt Stendhal in seinem „Egoisten“: „Die einzige Entschuldigung für Gott besteht darin, daß er nicht existiert“ (zitiert nach Kessler 2000, 42). Mit dem Verlust Gottes aber ist der Mensch ganz auf sich selbst gestellt. An ihm allein liegt es nun, die Ursachen von Not und Elend aufzudecken und zu bekämpfen. „Angesichts des Leids in der Welt wird er selbst zum Angeklagten und zum Ankläger: Rechtfertigung des Menschen, Anthropo-dizee, wird nötig“ (Kessler 2000, 43). Die alte Frage nach dem Warum des Übels kehrt damit unter neuem Vorzeichen wieder: Warum ist der

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Mensch so wie er ist? Warum ist er fähig, so viel Leid anzurichten? Warum andererseits so ohnmächtig im Kampf gegen das Übel? Diese Wendung in der Fragestellung führt nun aber ebenso wenig zu Antworten, wie die ursprüngliche Theodizeefrage. Eher schon führt sie wieder zur Frage nach Gott zurück, dann nämlich, wenn der Mensch in der Erfahrung seiner eigenen Ohnmacht erkennt, dass ihm, als endlichem Wesen, schlechterdings keine Letztverantwortung zukommen kann. Eine völlig neue Dimension hat die Frage nach dem Leiden mit dem wohl größten Greuel der Menschheitsgeschichte angenommen, für das der Name Auschwitz steht. In unüberbietbarer Dringlichkeit stellt sich angesichts dieses Grauens die Frage nach dem Warum, aber auch die Frage nach Gott selbst. Warum hat Gott das zugelassen? Wo war Gott? Kann und darf man angesichts dieses unsagbaren Leidens überhaupt noch von einem guten und allmächtigen Gott sprechen? Im Kern ist dies ist die Frage, mit der die Theologie sich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts konfrontiert sieht und der sie standzuhalten hat. Eine Vielzahl zeitgenössischer TheologInnen sucht seither, z. T. in recht unterschiedlichen Fassungen, aber doch in gemeinsamer Intention, einen neuen Zugang zur Theodizeeproblematik ausgehend von einer Bestimmung des Wesens Gottes als absolute Liebe. 2.  Theologie der Liebe

Das christliche Vertrauen in die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, so der Grundgedanke dieser theologischen Konzeption, macht es unausweichlich, auch von einem Mit-Leiden Gottes mit der Welt zu sprechen. Ausgangspunkt der Argumentation ist hier nicht mehr, wie in traditionell orientierten Theodizee-Versuchen, das Schöpfungswerk, sondern das Kreuzesereignis. Stirbt der Gottessohn aus Liebe zu dieser Welt am Kreuz, dann kann Gott von diesem Leiden nicht unberührt bleiben. Gleichzeitig aber muss dieses Leiden, eben weil es das Leiden Gottes ist, qualitativ völlig von allem geschöpflichen Leiden verschieden sein. Für die VertreterInnen dieses Denkansatzes bedeutet dies vor allem, dass Gott auch als Leidender der unbedingt Freie bleibt. Sein Leid wird ihm weder von außen aufgezwungen, noch ist er ihm wehrlos ausgeliefert. Gerade in seinem Leiden erweist sich vielmehr die absolute Handlungsmacht göttlicher Güte. „Das Kreuz ist das Äußerste, das Gott in seiner sich selbst wegschenkenden Liebe möglich ist; es ist ... die nicht mehr überbietbare Selbstdefinition Gottes“ (Kasper 1982, 242; im Original kursiv).

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Im Kreuzesgeschehen hat sich demnach zuhöchst gezeigt, dass Gott die Liebe ist. Das Leiden des Gottmenschen ist gleichsam Modus göttlicher Liebe, eine Aktion, die im Sein Gottes gründet. Dieses Sein, das Wesen Gottes, wird mit Blick auf die Selbsthingabe Jesu Christi bis in den Tod nun vielfach weiter als innertrinitarische Liebesbewegung ausgedeutet, in der die göttlichen Personen sich wechselseitig aneinander verschenken, ohne darin aber ihre göttliche Selbstmächtigkeit einzubüßen. „Im Gegenteil, es gehört Allmacht dazu, sich ganz hingeben und wegschenken zu können; und es gehört wiederum Allmacht dazu, sich im Schenken zurückzunehmen und die Unabhängigkeit und Freiheit des Empfängers zu wahren. Nur eine allmächtige Liebe kann sich ganz dem anderen ausliefern und eine ohnmächtige Liebe sein“ (Kasper 1982, 242). Diese ohnmächtige Allmacht göttlichen Liebe-Seins es nun, die das (Mit-)Leiden Gottes theologisch als ein wirkungsvolles Leiden begreifbar macht. Würde Gott einfach nur zusätzlich zu seiner Schöpfung leiden, so wäre ja nichts gewonnen. Im Gegenteil, das Leid wäre lediglich verdoppelt. Weil das Leiden Gottes aber aktives Leiden in allmächtiger Liebe ist, vermag es das Leiden der Welt zu verwandeln. „Deshalb und nur deshalb ist die Liebe allmächtig, weil sie – wie Paulus formuliert – alles zu erleiden, alles zu ertragen vermag [1 Kor 13,7 …]. Deshalb ist die Schwäche der Liebe ihre unvergleichliche Stärke“ (Jüngel 1990, 160). Weil das absolute göttliche Sein sich in liebender Selbsthingabe vollzieht, kann Gott in Leiden und Sterben eintreten, und gerade dadurch alle Nichtigkeit, ja selbst den Tod in Leben verwandeln, wie die Botschaft von der Auferstehung Jesu bezeugt. Was ist für die Theodizeefrage mit dieser Sicht eines mitleidenden Gottes gewonnen? Zunächst einmal wird man sicherlich sagen können, dass der Ansatz ein Verständnis göttlicher Allmacht entwickelt, das durch die Faktizität des Bösen nicht zwangsläufig in Frage gestellt wird. Die Vorstellung eines leidenden Gottes ist darüber hinaus durchaus geeignet, trotz des erbarmungswürdigen Zustands der Schöpfung, einen Zugang zu der Rede von der Güte Gottes zu erschließen denn, „ein Gott, der um der Möglichkeit von Liebe ... willen das Leid in der Schöpfung riskiert, ist dann kein Scheusal, wenn er selbst das Leiden auf sich nimmt“ (Kessler 2000, 99). Walter Kasper kommt deshalb zu der geradezu überschwänglichen Einschätzung: „Der »sympathische« Gott, wie er in Jesus Christus offenbar wird, ist die endgültige Antwort auf die Theodizeefrage ... Wenn Gott selbst leidet, ist das Leiden kein Einwand gegen Gott mehr“ (Kasper 182, 244). Nun ist diese Position wohl zu op-

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timistisch, denn selbst wenn man davon ausgeht, dass auch Gott selbst leidet, so ist damit ja immer noch keine Antwort auf die Frage gegeben, warum es überhaupt Leiden geben muss. Aber es macht doch sicherlich einen Unterschied, ob Gott dem Leiden seiner Schöpfung völlig unbeteiligt gegenüber steht, oder ob er sich freiwillig und aus Liebe zur Welt in dieses Leiden hinein gibt. Nur dann nämlich kann der Mensch in seinem Elend überhaupt auf die Nähe und Unterstützung Gottes hoffen. Wenngleich eine Theologie der Liebe also auch keine Erklärung für existentielles Leiden liefern kann, so ist mit ihrem Gottesbild aber doch „der theoretische Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich die persönliche Aufarbeitung des Leidens zu bewegen hat“ (Greshake 1978, 71). Dabei wird es in erster Linie immer darum gehen müssen, im Vertrauen auf den mitleidenden und darin das Leiden besiegenden Gott an der Überwindung des Bösen schon im Hier und Jetzt mitzuarbeiten. Keinesfalls darf die Rede von einem Mit-Leiden Gottes mit seiner Schöpfung zu einer Verharmlosung oder gar Glorifizierung von Leiden führen. „Leiden ist ein negatives Mysterium ... (Es) kennt keine Hoheit; es ist nichts Großes, nichts Erhabenes“ (Metz 1995, 53). Man wird daher in einer intensiveren Beschäftigung mit einzelnen Konzeptionen vom liebenden und leidenden Gott sehr genau zu prüfen haben, ob sie nicht der Gefahr erliegen, beschwichtigend zu wirken und sich so einer „Stillegung der Theodizeefrage“ (Metz 1995, 48 u. ö.) schuldig machen, anstatt die Herausforderungen durch unschuldiges Leid mit der gebührenden theologischen Sensibilität als solche zu erkennen und anzunehmen. 3.  Theodizee-empfindliche Theologie

Für den zeitgenössischen Theologen Johann Baptist Metz ist die Theodizeefrage nicht nur ein theologisches Thema neben anderen, sondern vielmehr Dreh- und Angelpunkt einer verantworteten Theologie. Jede Rede von einem guten Gott steht für ihn per se in Widerstreit mit der Faktizität erlittenen Elends. Dies gilt, darin ist Metz zweifellos zuzustimmen, mit letztem Ernst nach den in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen wider jede Menschlichkeit. Jedweder Versuch der Rechtfertigung Gottes verbietet sich angesichts dieser Greueltaten von selbst. Will man nach Auschwitz überhaupt noch wagen, von Gott zu sprechen, so kann das nach Metz nur noch möglich sein als Rede von der Verheißung einer umfassenden Gerechtigkeit, die auch und gerade vergangenem Leid zuteil werden wird. „Die dieser Gottesrede immanente Frage ist zunächst und in erster Linie die Frage nach der Rettung der

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ungerecht Leidenden“ (Metz 1995, 44). Gott zur Sprache zu bringen bedeutet demnach im Kern, die Frage nach dem Übel wach zu halten und immer wieder neu zu thematisieren. Metz sieht diese Verpflichtung in der christlichen Theologie keineswegs erfüllt. Er diagnostiziert vielmehr eine zunehmend einseitige Konzentration auf die Frage nach der Erlösung der Sünder, womit eine Verdrängung der Frage nach der Erlösung der Leidenden einhergehe. Als typisch für diese Theologie gilt ihm ein Versöhnungstyp der Gottesrede, der sich vor allem durch Vertrauen zu Gott und Zustimmung zu seiner Schöpfung, mithin durch Bereitschaft zur Annahme des faktisch Gegebenen auszeichnet (vgl. Metz 2006, 33) Dieser Haltung setzt Metz nun seinerseits den Krisentyp der Gottesrede entgegen, den er wesentlich als theodizee-empfindlich kennzeichnet. Theodizee-empfindliche Rede ist vom Bewusstsein des Übels in der Welt geprägt und daher vor allem Ausdruck des Vermissen Gottes. Angesichts der vielfältigen Leiden und Bedrohungen des Lebens kann Sprechen von Gott sich schlechterdings nicht als Zustimmung zu dem, was ist und wie es ist ergehen, so Metz. Vielmehr gilt es, eine Hoffnung wach zu halten auf das, was verheißen ist, aber noch aussteht, nämlich umfassende Gerechtigkeit. Für Metz muss „in der heute so umstrittenen Rede von der »Allmacht Gottes« ... dieser Vermissungshorizont unbedingt gewahrt bleiben: Gottes Macht als jene Macht, die auch die Vergangenheit nicht in Ruhe lässt, die ihr Gerechtigkeitsinteresse auch auf die vergangenen Leiden richtet. Alles weist darauf hin, dass um Gott herum noch etwas los ist und los sein muss, dass noch etwas aussteht und dass deshalb Neugierde auf Gott und nicht etwa Resignation alle Rede von ihm durchstimmen und strukturieren müsste“ (Metz 2006, 34). Metz wäre nun aber völlig missverstanden, wollte man das Neugierig-Sein interpretieren als eine Haltung passiven Abwartens auf das, was da so kommen mag. Vielmehr gilt es, in der Nachfolge Jesu Christi eine theodizee-empfindliche Praxis zu leben. Damit ist zunächst einmal gemeint, Sensibilität für das Leiden anderer zu entwickeln. Vor allem aber bedeutet Theodizee-Empfindlichkeit im metzschen Sinne den aktiven, politischen Kampf gegen das Unrecht dieser Welt, um so auf die Erfüllung der göttlichen Heilsverheißung hinzuarbeiten. Wo aber jedes menschliche Engagement an sein Ende kommt, wo der Mensch der Übermacht des Bösen hilflos gegenübersteht, da, so Metz, bricht die Theodizeefrage als einzig angemessene Form der Gottesrede auf. Nicht

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als Frage, die auf eine menschliche Antwort zielt; Metz betont ganz klar, dass alle diese Versuche in Sackgassen führen müssen. Sondern als eschatologisch-apokalytische Rückfrage an Gott: Wie lange noch? Sie ist als Klage und Protest, ja sogar als Anklage vor Gott zu tragen, dem als Schöpfer die Letztverantwortung für den leidvollen Zustand dieser Welt zukommt. An dieser Stelle nun berührt sich die theodizee-empfindliche Theologie mit einer ganzen Reihe anderer zeitgenössischer Entwürfe. Auch jene TheologInnen, die versuchen, die Theodizeefrage über die Rede von einem leidenden Gott zu entschärfen, sind sich zumeist durchaus bewusst, dass die Frage nach dem Warum weltlichen Leidens letztlich nicht zu beantworten ist. Und so münden ihre Überlegungen, vielfach über ganz andere Wege, gemeinsam mit dem metzschen Ansatz, in eine Theologie der Klage. 4.  Theologie der Klage

Metz sieht Klage und Anklage Gottes als das Paradigma der Gottesrede tief in der biblischen Tradition verwurzelt. Sie begegnen „auch und vor allem in den Gebetstraditionen Israels: in den Psalmen, bei Hiob, in den Klageliedern und nicht zuletzt in vielen Passagen der Prophetenbücher. Die Sprache dieser Gottesmystik ist nicht in erster Linie trostreiche Antwort auf das erfahrene Leid, sondern eher leidenschaftliche Rückfrage aus dem Leid, eine Rückfrage an Gott, voll gespannter Erwartung“ (Metz 1995, 55f). Nun wird man freilich sagen müssen, dass Metz mit seiner einseitigen Fokussierung des Elements der Klage die Pluralität biblischer Ansätze zur Deutung von Leiderfahrungen nicht einholt. So bleibt vor allem die erlösende und Heil bringende Bedeutung des Kreuzesleidens Jesu theologisch unterbestimmt. Theologie der Klage ist also nicht etwa die einzig angemessene Form der Auseinandersetzung mit Erfahrungen ungerechten Leids. „Aber sie ist eine gerechtfertigte und theologisch lange Zeit verdrängte Möglichkeit“ (Kuschel 1996, 255). „Das unschuldige Leiden ist nicht theoretisch zu verstehen, wohl aber praktisch zu bestehen. Und eine Form des praktischen Bestehens ist die Klage und Anklage“ (Kuschel 1996, 246). Der Mensch hat das Recht als (An-)Kläger vor Gott zu treten; er darf Protest zum Gegenstand seiner Rede von und zu Gott machen. Die Schrift lehrt uns nämlich, dass die Klage eine sowohl dem Menschen wie auch Gott durchaus angemessene Form des Umgangs mit Fragen der Theodizee ist.

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Sie ist dem Menschen angemessen, „weil (ihm) auf diese Weise ... die Freiheit und Würde bleibt, unter Thematisierung seiner eigenen Schuldgeschichte die Erfahrung des Übels ... Gott ins »Angesicht« zu sagen“ (Kuschel 1996, 252). Es kann und darf also im eigenen Interesse des Menschen in der Klage vor Gott nicht darum gehen, alles, was auf dieser Welt an Unrecht geschieht, Gott anzulasten, ihn gleichsam zum Sündenbock zu machen. Damit würde der Mensch sich selbst der Würde seiner Freiheit und Verantwortlichkeit berauben. „Für das nichtverschuldete Übel aber ... hält die Schrift als Möglichkeit bereit, Gott die Provokation nicht zu ersparen und die Anfechtung direkt mit ihm auszumachen“ (Kuschel 1996, 252). Klage vor Gott ist aber auch eine Gott selbst angemessene Form menschlicher Reaktion auf Leiderfahrungen, denn sie steht notwendig unter der Voraussetzung des Glaubens an Gottes Güte und Gerechtigkeit, wie auch an seine Allmacht. Sicherlich, der Kläger hadert im Moment seiner Anklage mit Gott. Es wäre aber sinnlos, die Frage nach dem Warum in Gottes Angesicht zu schreien, gäbe es keinerlei Hoffnung auf eine letztlich von Gott her ergehende Antwort. Und ebenso widersinnig wäre es, Gott des Übels der Welt anzuklagen, traute man ihm nicht die Macht zu, Gerechtigkeit zu schaffen. Die Anklage Gottes schließt also durchaus die Anerkennung göttlicher Allmacht und Güte ein. „Mit Gott zu kämpfen, bedeutet, ihm höchste Anerkennung zu zollen“ (Kuschel 1996, 255). Gisbert Greshake bedenkt diesen Aspekt noch einmal eigens in seiner möglichen Bedeutung für den unmittelbar von Leid bedrängten Menschen. Vielleicht, so sagt er, liegt im Aussprechen der Klage schon eine erste Antwort. „Indem der Mensch seine Not in der Form des verzweifelten Schreies, der Klage oder der Bitte aus sich entläßt und sie vor Gott stellt, ist ihr tiefster Stachel, ihre Ausweglosigkeit und Dunkelheit bereits gezogen“ (Greshake 1978, 63). Weil und indem die Anklage Gottes immer schon auch eine Hoffnung auf Gott impliziert, kann sie möglicherweise so etwas wie eine erste Trostperspektive eröffnen, so der Gedanke. Damit soll nun keineswegs, gleichsam durch die Hintertür, doch wieder eine Strategie zur theoretischen Bewältigung oder gar Beantwortung der Theodizeefrage eingeführt werden. Solche Überlegungen sind keinesfalls theologisch zu verallgemeinern oder zu systematisieren. Über die Erfahrung von Trost kann nur der vom Leid existentiell Betroffene selbst entscheiden. Theologisch reflektiert werden kann lediglich, ob und in welchem Sinne die anklagende Bezugnahme auf Gott helfen kann, leidvolle Erfahrungen zu bestehen.

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„Warum lässt Gott das zu?“ Eine Antwort auf diese Frage konnte nicht gefunden werden, denn das endgültige Ziel und der letzte Sinn des göttlichen Schöpfungs- und Heilsplans entziehen sich allen kreatürlich-endlichen Erkenntnismöglichkeiten. Vom Menschen her kann es eine Theodizee darum schlechterdings nicht geben. Dennoch verbietet sich jede Form passiver Resignation oder gar der Bagatellisierung von Grauen und Leid angesichts des christlichen Gebots der Nächstenliebe von selbst. Unabdingbare Aufgabe der Theologie ist es darum, die Herausforderung, um nicht zu sagen die Infragestellung des christlichen Glaubens durch die Faktizität weltlichen Elends anzunehmen, indem sie die Theodizeefrage stets neu in ihrem letzten Ernst aufwirft, offen hält und bis in ihre tiefsten Abgründe auslotet. Dabei werden TheologInnen sich immer wieder auch auf die Verwurzelung jeder Rede über Gott in der Rede zu Gott zu besinnen haben. „Nicht nur Gott zu loben, sondern auch Gott zu klagen – was uns an seinem Wirken grauenhaft dunkel bleibt, Gott zu klagen – ist unser Amt“ (Jüngel 1990, 161); dies gilt auch und insbesondere für eine theologisch verantwortete Gottesrede. Susanne Hegger Literatur Michael Böhnke u.  a.,

Leid erfahren – Sinn suchen. Das Problem der Theodizee (Theologische Module Bd. 1), Freiburg i. Br. 2007. Bernd J. Claret (Hrsg.), Theodizee. Das Böse in der Welt, Darmstadt 2007. Gisbert Greshake, Der Preis der Liebe. Besinnung über das Leid, Freiburg i. Br. 1978. Eberhard Jüngel,

Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hand Jonas über den »Gottesbegriff nach Auschwitz«, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens (Theologische Erörterungen III), München 1990, 151–162. Hans Kessler, Gott und das Leid seiner Schöpfung. Nachdenkliches zur Theodizeefrage, Würzburg 2000. Walter Kasper, Der Gott Jesu Christi, Mainz 1982. Armin Kreiner, Gott Karl-Josef Kuschel,

und das Leid, Paderborn 1994.

Ist Gott verantwortlich für das Übel? Überlegungen zu einer Theologie der Anklage, in: Gotthard Fuchs (Hrsg.), Angesichts des Leids an Gott glauben? Zur Theologie der Klage, Frankfurt a. M. 1996, 227–261. Johann Baptist Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2006. Ders., Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt, in: Hubert Irsigler/Godehard Ruppert (Hrsg.), Ein Gott der Leiden schafft? Leidenserfahrungen im 20. Jahrhundert und die Frage nach Gott, Frankfurt a. M. 1995, 43–58.

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10. Theologie Von Gott reden angesichts von Leiden und Tod Die Theodizee in der Notfallseelsorge Von Gott reden in den Grenzsituationen von Leiden und Tod, insbesondere in der Situation des plötzlichen und massiven Einbruchs des Leidens und des Todes von Unschuldigen, wie es Notfallseelsorger immer wieder erleben, ist wohl eine der größten Herausforderungen für Seelsorger und Theologen. Dabei sind Theologen gerade in solchen Momenten besonders gefragt: Menschen, auch diejenigen, die sonst wenig oder keinen Kontakt zur Kirche haben, kommen in diesen Situationen in die Kirchen oder wenden sich an kirchliche Amtspersonen in der Hoffnung, von ihnen Orientierung zu erhalten. Philosophen und Soziologen unterstreichen diese Haltung und erhärten die These, dass es zu den unaufgebbaren Stärken der Religion allgemein und der christlichen Kirchen im Besonderen gehört, in den Situationen von Leiden und Tod präsent zu sein und Möglichkeiten zu eröffnen, mit dem Leiden umzugehen und es zu bewältigen.1 Während popkulturelle Formen der Sinngebung in Krisen versagen und kaum Antworten bereitzustellen vermögen, ist die Funktion der Kontingenzbewältigung ein grundlegendes Kennzeichen gerade der traditionellen Religionen. Das Thema soll im Folgenden in der Weise behandelt werden, dass zunächst an Hand eines konkreten Fallbeispiels, des Amoklaufs gegen die Erfurter Gutenberg-Schule am 26.4.2002, die Handlungs- und Redeformen von Theologinnen und Theologen dargestellt und analysiert werden, bevor in einem zweiten Schritt daran anknüpfend in einer grundsätzlichen Weise nach einem theologisch-systematisch verantworteten Reden von Gott angesichts von Leiden und Tod gefragt wird. 1.  Theologische Handlungs- und Redeweisen im Kontext des Attentats auf die Gutenberg-Schule

Nach den Geiselnahmen und Tötungen von 13 Lehrerinnen und Lehrern, der Sekretärin, einem Schüler, einem Polizisten und der anschlie-

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ßenden Selbsttötung des Attentäters Robert S. waren neben Polizeibeamten und Psychologen insbesondere Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter als Notfallseelsorger im Einsatz. Die Pfarrerin der Stadtteilgemeinde war eine halbe Stunde nach der Tat an der Schule, informierte andere kirchliche Mitarbeitende und lud gemeinsam mit dem ebenfalls sehr schnell am Tatort anwesenden Stadtjugendpfarrer für denselben Abend zu einer Andacht in die zum Stadtteil gehörige Andreaskirche ein. Es kamen so viele erschütterte und aufgeschreckte Menschen, dass die Andacht wiederholt werden musste. An dem darauf folgenden Tag, einem Samstag, versammelten sich knapp fünftausend Menschen im Dom zu einem ökumenischen Gottesdienst. Außerdem blieben in den folgenden Tagen die Kirchen in Erfurt geöffnet und wurden von vielen Menschen als Besinnungs- und Zufluchtsort genutzt. Eine Woche nach der Tat versammelten sich mehr als hunderttausend Menschen auf dem Domplatz zu einer Trauerfeier und einem Gottesdienst. Wie haben die Seelsorger und andere kirchliche Mitarbeitende in dieser Extremsituation gehandelt, wie haben sie versucht, von Gott zu reden? Die Seelsorger, die unmittelbar nach der Tat den Betroffenen beigestanden haben, fühlten sich ohnmächtig und hilflos. Der Stadtjugendpfarrer hat später erzählt, dass „er noch nie in seinem Leben das Gefühl“ gehabt hat, „so mit leeren Händen dazustehen. Er habe keine Antworten gewusst. Es sei um schlichte menschliche Nähe, um Beistand gegangen und darum, die Sprachlosigkeit mit den Menschen auszuhalten.“3 Es ist nicht einfach, den Mut aufzubringen, sich in die Solidarität mit den Betroffenen und damit auch in ihre Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit hineinzubegeben. Der ehemalige Erfurter Probst Heino Falcke hat in seiner theologischen Interpretation dieser Ereignisse von der „Kenosis der leeren Hände“ gesprochen. Die Kenosis, nach dem Vorbild der Selbstentäußerung Christi, wie es der Philipperhymnus (Phil. 2,7f) beschreibt, meint den Verzicht auf jede besondere Rede- und Handlungskompetenz, um mit demjenigen, der sich in einer exzeptionellen Not befindet, solidarisch zu werden und sein Leiden mitzutragen. Diese Haltung erinnert an die drei Freunde Hiobs. Als sie bei ihm eintreffen, trauerten sie mit ihm sieben Tage und Nächte, weinten und waren darüber hinaus stumm. „Sie redeten nichts mit ihm, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.“ (Hiob 2,13). Erst nachdem Hiob selbst sein Schweigen gebrochen hat, haben auch sie versucht zu reden. Diese

1.1 Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit – Die „Kenosis der leeren Hände“ 

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Zurückhaltung, die mit einer unbedingten menschlichen Solidarität im Leiden verknüpft ist, stellt im Sinn der Kenosis die Grundhaltung dar, von der aus überhaupt nur gewagt werden darf und kann, selber zu sprechen, speziell theologisch zu reden. Dieser Grundhaltung haben die Seelsorger in Erfurt Ausdruck verliehen, insbesondere die Pfarrerin Ruth-Elisabeth Schlemmer, die wesentlich die Andachtsgottesdienste am Abend der Tat in der Andreaskirche gestaltet hat. Die Hauptelemente dieser Andacht waren Gebete, die Lesung von Psalm 22, die Fürbitte und Choräle wie „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“. Eine Predigt wurde bewusst nicht gehalten, mit den Gebeten, Psalmen und Chorälen stand vielmehr die direkte Anrede Gottes, die Klage und auch Anklage im Zentrum der Spiritualität dieser Andacht. Beispielhaft hierfür ist das Klagegebet4 von Pfarrerin Schlemmer. In diesem Gebet wird Gott direkt angesprochen, in einer eindringlichen Klage wird Gott das eigene Erleben des Tages und die Fassungslosigkeit über die Ereignisse beschrieben. Die Frage „Wo warst du heute?“ ist nicht nur als Klage, sondern indirekt auch als Anklage zu verstehen. Die Fragen „Wo warst du heute? Wo geht es hin mit dieser verkehrten Welt?“ drücken das Gefühl der Abwesenheit Gottes, den Eindruck seiner Abwendung von dieser Welt aus. Dementsprechend wird von dem Einbruch des „Furchtbaren“ gesprochen. Wie eine Schicksalsgewalt, wie ein Einbruch von außen ist „das Furchtbare“ – interessant ist das Neutrum in der Formulierung – in das Leben der Menschen eingedrungen. Die Bitte „Gott, komm zu uns“ nimmt die eingangs formulierte Klage über den abwesenden Gott auf und fordert ihn dringend auf, sich den ohnmächtigen Fragen der Menschen zu stellen. Das „Warum“ bleibt wie eine offene Wunde, da es hinter diesem „Furchtbaren“ keinen Sinn gibt, in theologischer Perspektive keinen Sinn geben kann.5 Das Gebet schließt mit einem dreifachen Ruf an Gott, in dieser dramatischen und heillosen Situation des Leidens dazusein, die Menschen zu trösten und die Toten aufzunehmen. Die in den Stunden zuvor mit den Betroffenen durchlittene Trauer und die eigene Sprachlosigkeit sind durch dieses Gebet in die Sprache der Klage transformiert worden. Diese Klagen drücken – wie es die Reaktionen und später die Aussagen der Betroffenen belegen – das Empfinden der Menschen unmittelbar aus und sie zielen gleichermaßen in das „Zentrum“6 des christlichen Glaubens. Der Schmerz, die Wut und 1.2 Der Erfurter Klagepsalm 

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die Ratlosigkeit werden artikuliert, sie finden aus dem stummen Entsetzen heraus den Weg in die Sprache und werden vor Gott gebracht. Durch die Klage der Pfarrerin erleben die Menschen, dass und wie man mit Gott reden kann, dass man ihn mit dem Leiden und dem Sinnlosen in der Welt konfrontieren soll, vor allem, dass da jemand ist, an den man die eigenen Fragen und die eigene Ratlosigkeit richten darf. Antworten werden bewusst nicht versucht, die Pfarrerin hält dieses offene „Warum“ mit den Betroffenen aus und artikuliert es in der Klage. Beten in solchen Situationen heißt – so hat es E. Wiesel umschrieben – die „Einsamkeit durchbrechen und die Angst vor der Einsamkeit überwinden“7 im Ringen um die Erfahrung der Gegenwart Gottes in seiner Abwesenheit. Obwohl die Klage den ersten, notwendigen Schritt der Bewältigung einer dramatischen Situation von Leiden und Tod darstellt, würde es problematisch sein, in dieser Situation auf Dauer zu verharren. „Die Klage führt nicht automatisch zurück ins Leben. Sie kann auch das Netz des Bösen sein, in dem sich der Leidende verfängt.“8 Dementsprechend ist die emotionale Antwort der Klage „unter dem Einfluss der Weisheit und der sie bereichernden philosophischen und theologischen Meditation“9 im Sinn der Trauerarbeit zu transformieren. 1.3  Menschliche Abgründigkeit – Zur Predigt des Gedenkgottesdienstes  Am 3. Mai, anlässlich des ökumenischen Gedenkgottesdienstes, hat der damalige Thüringer Landesbischof Christoph Kähler in seiner Predigt versucht, eine christliche Deutung des Geschehens zu entwickeln und damit über die Antwort der Klage hinauszuweisen. Die Predigt beginnt mit der Erinnerung an das Gebot „Du sollst nicht töten!“ Menschliches Leben ist heilig, weil es von Gott gegeben ist und damit unter einem unbedingten Schutz steht. Gott will den Schutz des Lebens. „Aber warum geschieht dann so etwas Schreckliches?“ Mit dieser Frage nimmt Kähler das Entsetzen und die Ratlosigkeit der Menschen auf. Er gibt auf diese Frage keine direkte Antwort, sondern zeigt, dass der bloße Appell an das fünfte Gebot und dass auch der Rechtsstaat als Garant der äußeren Sicherheit den Schutz des Lebens nicht garantieren können. Letztlich beginnt, so leitet Kähler zum Hauptteil der Predigt über und knüpft an die Bergpredigt an, der Mord im Herzen der Menschen, „in meinem und in deinem Herzen“. Kähler will gegen jedes Sündenbockdenken, das allein auf den Täter blickt und die Schuld bei den anderen sucht, die Trauergemeinde mit der „Zumutung“ konfrontieren, die „Abgründe“ in jedem Menschen aufzudecken. Er appel-

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liert eindringlich an die Selbstprüfung jedes einzelnen, weil es „keinen einfachen Trost“ gibt, weil alle es den Opfern schuldig sind, die eigenen Abgründe und die eigenen Verstrickungen in solche Taten zu prüfen. Kähler würdigt die Zeichen der Trauer und gibt ihnen Raum, betont jedoch gleichzeitig die Verantwortlichkeit jedes einzelnen. Es geht darum, den anderen im Blick zu behalten, Zeit für ihn und ggf. für seine Wut zu haben und nicht zuletzt dem anderen zu verzeihen. Kähler formuliert in dieser Passage positiv, es stellt sich aber gleichzeitig die Assoziation ein, dass die Aufmerksamkeit für den anderen, konkret für den Täter Robert S., offensichtlich zu wenig ausgeprägt war. In diesem Sinn verweist er auf das Symbol der auch für den Täter angezündeten Kerze während des Trauergottesdienstes. Kähler schließt seine Predigt mit einem Bittgebet, das – ähnlich wie das Gebet von Pfarrerin Schlemmer – Gott um Halt und Trost anfleht. Dabei spricht er abschließend die Hoffnung auf das den Tod überwindende Handeln Gottes aus, wie es in Jesus sichtbar geworden ist und welches Christen zu einer Hoffnung über den Tod hinaus befreit.10 Die Antwort, die Kähler auf die Frage des „Warum“ des Attentats zu formulieren versucht, ist der Verweis auf die theologische Anthropologie, letztlich auf die Lehre von der „Erbsünde“. „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Grund auf“, dieses nicht explizit genannte Bibelzitat (Gen. 8,21) steht deutlich erkennbar hinter seiner Argumentation. Jeder trägt die Abgründigkeit in sich, jeder ist auf eine bestimmte Weise auch Täter und könnte sogar Täter in dem dramatischen Sinn von Erfurt sein. Die klassischen Fragen der Theodizee11: „Woher das Leid?“, „Woher das Böse?“ werden in dieser Predigt mit der Rückführung des Leidens auf das Böse, das seinen Ort im menschlichen Herzen hat, beantwortet. Es ist im Grundsatz das traditionelle Modell des Augustin, der menschliche Freiheit und Sündhaftigkeit als Verursacher der menschlichen Leidensgeschichte benannt hatte. Diese Antwort legt sich in dem konkreten Erfurter Fall nahe, da es sich um ein unmittelbar durch einen Menschen verursachtes Leiden gehandelt hat. Als generelle Antwortperspektive steht eine solche Aussage – so Johann B. Metz – in der Gefahr, zu einer „theologische(n) Stillegung(en) der Theodizeefrage“12 zu führen. Anknüpfend an dieses Modell erfolgt in der Predigt Kählers eine ethische Zuspitzung13, indem sehr eindrücklich die Verantwortung jedes Menschen für den anderen herausgestellt wird, eine Verantwortung, die auch den Täter umschließt. Theologische Anthropologie und Ethik sind

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die Hauptpfeiler dieser Predigt, demgegenüber fällt der Verweis auf die Christologie und Eschatologie nur kurz aus, indem in der Gebetssprache Gott um die Wahrung der Identität auch der Toten in Erinnerung an sein lebensschaffendes Handeln an Jesus gebeten wird. Über die Wirkung dieser Predigt, insbesondere ob die bewusst formulierte Zumutung der Konfrontation mit der eigenen Abgründigkeit die trauernden Menschen erreicht hat, gibt es kaum Hinweise. Eindrücklich war für viele Besucher des Gedenkgottesdienstes die rituelle Handlung des Anzündens von Kerzen für die Opfer, auch einer Kerze für den Täter, wodurch die christliche Botschaft der Vergebung und der Hoffnung über den Tod hinaus einen symbolischen Ausdruck gefunden hat. 2.  Existentielle Klage und reflektierende Deutung

Die Handlungs- und Redeformen der Theologen in Erfurt dürften paradigmatisch für die Herausforderung des Redens von Gott angesichts von Leiden und Tod sein. Neben begleitenden, symbolischen und rituellen Handlungsformen – nicht zuletzt auch durch die Kirchenräume, die allen offen standen – ist es in erster Linie die Sprache des Gebets, die Artikulation der Klage und die Sprache der Fürbitten, welche die Sprachlosigkeit des Geschehens zu überwinden vermochte. Erst danach ist die Predigt als Auslegung biblischer Texte zu nennen, wobei Topoi der theologischen Anthropologie und der Ethik sowie der Christologie und der Eschatologie einbezogen worden sind. Diese konkrete Form der Bearbeitung der Theodizeefrage soll in den folgenden Ausführungen durch einen Rückbezug auf biblische und systematisch-theologische Traditionen ausgewertet werden. Die Sprache der Psalmen ist bereits in den biblischen Texten der ursprüngliche und wesentliche Modus der Auseinandersetzung mit dem Leiden. Insbesondere in den Klagepsalmen wird dies deutlich, die ähnlich wie der Erfurter Klagepsalm das Schweigen und die Abwesenheit Gottes thematisieren: Gott „ist nicht da – das ist die entsetzliche Erfahrung der Leidenden.“14 Dabei ist in den biblischen Klagepsalmen immer deutlich, dass sich die Klage auf den Gott bezieht, der in den Hymnen gepriesen wird. Es ist der Gott, der rettet und der als Retter immer wieder erfahrbar geworden ist und werden wird, der jetzt nicht da ist. Lob und Klage korrespondieren hier, die Klage ist geradezu eingerahmt vom Lob: Weil 2.1 Die Klagepsalmen und die Rede von der Zulassung des Übels duch Gott  

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gelobt worden ist, kann auch die Klage ihren Ort finden und für die erhoffte Rettung wird wiederum gelobt werden, wie es im Aufbau von Ps. 22 exemplarisch deutlich wird. Da in unserer Gegenwart dieser Zusammenhang nicht allgemein vorausgesetzt werden kann, ist es wichtig, dass Christinnen und Christen in diesem Horizont leben und in Extremsituationen stellvertretend eine Klage formulieren können, die – wenn auch in der konkreten Situation unausgesprochen – im Lob Gottes verankert ist und auf das Lob hinzielt. Nur aus diesem Lebenszusammenhang heraus kann letztlich ein Klagepsalm verfasst und vorgetragen werden, der mehr ist als „ein verzweifelter Schrei“. Damit sich in den je eigenen Klagepsalmen das Leiden artikulieren und somit Sprachlosigkeit überwunden werden können, ist diese Verankerung der Klage grundlegend. Als eine weitere Zuspitzung im biblischen Kontext ist die nicht seltene Benennung Gottes einerseits als Letztverursacher des Leidens und andererseits als Retter hervorzuheben. Prägnant drückt dies Ps. 60, 4 aus: „Gott, der du die Erde erschüttert und zerrissen hast, heile ihre Risse, denn sie wankt.“ Die Leidenden, als einzelne oder als das ganze Volk, erleben, dass die bedrohlichen, in der Schöpfung begrenzten Chaosmächte in das Leben eindringen und Unheil und Leiden verbreiten. Gott, der die Schöpfung aus dem Chaos heraus geschaffen hat und über den Chaoswassern erhält, ist in Ps. 60 zugleich derjenige, der die Erde erschüttert und dabei Risse entstehen lässt, durch die das Chaos in bestimmten Ausmaßen wieder in die Lebenswelt eindringt. Eng verknüpft sind diese Redeformen mit der Vorstellung von dem schicksalshaften Tun-Ergehen-Zusammenhang, so dass – wie etwa Schuldbekenntnisse in den Klagepsalmen belegen – Menschen durch ihre Schuld zwar den Prozess, der zum Leiden ausgeführt hat, angestoßen haben, Gott allerdings als der Letztverursacher angesprochen wird, indem er das Wirken des Tun-Ergehen-Zusammenhangs garantiert (so auch Jes. 45,6f; Am. 3,6 u. a.). In diesem Kontext hat die traditionelle theologische Rede von der göttlichen Zulassung15 des Übels ihren systematischen Ort. Dabei bleibt zu beachten, dass solche Vorstellungen im Kontext der Klage – und nicht als dogmatische Richtigkeiten – ausgedrückt werden. „Die Klage, die Gott als den letzten Urheber des Unheils benennt, gründet ... in der Gewissheit, dass allein er auch das Unheil wenden kann.“16 Nur im Horizont der Hoffnung auf die Heilung der Risse in der Schöpfung ist die Rede von Gott als Letztverursacher möglich und sie muss in dieser Relation verbleiben.

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2.2 Die Antwortperspektive angesichts des Leidens des Unschuldigen im Hiob-Buch 

Dieser Zusammenhang und diese Erfahrung stehen hinter dem Satz des Hiob „Haben wir das Gute von Gott empfangen und sollten das Schlechte nicht von ihm empfangen?“ (Hi. 2,10). Im Unterschied zu den biblischen Klagepsalmen thematisiert das Hiobbuch jedoch die Erfahrung des Leidens des Unschuldigen. Das explizite oder implizite Schuldbekenntnis der Psalmen fehlt hier, es wird sogar leidenschaftlich bestritten. Hiob ist als eine „Idealkonstruktion“17 der Gerechte, der unschuldig leidet und allen Einsprüchen der Freunde gegenüber standhaft bleibt und gerade darin zuletzt von Gott ins Recht gesetzt wird.18 Im Hiobbuch finden sich die dichtesten Überlegungen zur Herausforderung des Leidens Unschuldiger. Verschiedene Antwortversuche lassen sich erkennen, offensichtlich brauchen Menschen in unterschiedlichen Phasen und Entwicklungen des Lebens unterschiedliche Antworten. Nur die eine Antwort zu geben, das „wäre unmenschlich“.19 Der erste Antwortversuch ist den Reden der Freunde zu entnehmen, die „nicht als Karikatur herkömmlicher Frömmigkeit“20 zu verstehen sind, sondern deren Problemlösungspotenzial trotz der am Ende des Hiobbuches formulierten Kritik zu beachten ist. Bereits in der ersten Rede des Eliphas klingt die Perspektive an, dass der Ausgleich zwischen dem unschuldigen Leben und dem Geschick nicht immer sofort zustande kommt. Der Faktor „Zeit“ wird hier eingeführt, der das Vorübergehende des Leidens und die Hoffnung auf eine Wendung des Geschicks zum Ausdruck bringt. Die als „Zwischenzeit“ zu betrachtende Zeit des Leidens kann als ein „Reifeprozess“ interpretiert werden, indem – wie insbesondere der Block der Reden des Elihu (Hi. 32–37) ausführt – das Leiden in Analogie zu den damaligen Erziehungsmethoden als „Zuchtmittel“ verstanden wird. Auch wenn diese Analogie heute höchst problematisch sind, bleibt der Hinweis auf den Zusammenhang von Leiden und die Einsicht in die Grenzen des Menschseins im Sinn eines Reifeprozesses bedenkenswert. Gleichwohl wird von Hiob diese Antwort im Prozess seines Leidens nicht akzeptiert. In gewisser Weise bringt auch die Rahmenerzählung des Hiob-Buches diesen Gedanken zum Ausdruck, indem die Leiden des Hiob in den Kontext einer Prüfung bzw. einer Wette21 gestellt werden und die Restitution als Lösung angesehen wird. Die Beendigung und Aufhebung des Leidens sind das entscheidende Motiv. Jeder Leidende hofft letztlich auf das Ende des Leidens und eine entsprechende Wiederherstellung seiner positiven Lebenssituation, wenngleich dies häufig – anders als im Hiobbuch – nicht möglich ist.

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Seinen Höhepunkt findet das Hiobbuch in den Gottesreden als Antworten Gottes auf die drängenden Fragen des Hiob. Die von Hiob ebenso ersehnte wie gefürchtete Begegnung mit Gott findet statt: Gott antwortet.22 In der ersten Antwortrede geht es um den Ratschluss Gottes, der das gesamte Schöpfungswerk umfasst. Hiob hatte in seinen Reden immer wieder die Pläne Gottes hinterfragt und ihm vorgeworfen, die Welt sei ohne Sinn und Ziel, in ihr herrsche das bloße Chaos. Gegenüber diesem Vorwurf verteidigt Gott seinen Willen und betont sein freies Schöpferhandeln. Dabei macht er deutlich, dass in der Welt eben nicht das Chaos herrscht: Zwar gibt es Chaotisches in der Welt, aber die Welt insgesamt ist kein Chaos. Dies bedeutet auch, dass die Welt nicht zum ausschließlichen Nutzen der Menschen geschaffen wurde. So lässt Gott es in der Wüste regnen, wo es eigentlich „sinnlos“ ist, er gibt auch Tieren weit abseits der menschlichen Lebenswelt – genannt werden u. a. Löwin, Wildstier, Strauß, Falke und Adler (vgl. Hi. 38,39ff) – einen Raum, der nicht zum Nutzen des Menschen geschaffen ist. Gottes Handeln ist frei und ungeschuldet, verschwenderisch und großzügig, wie es die genannten Tierbeispiele zum Ausdruck bringen. Die gesamte Wirklichkeit lässt sich nicht auf das menschliche Zweck-Mittel-Denken reduzieren. Die erste Gottesrede wehrt jede Anthropozentrik ab, der Mensch darf und soll nicht alles von seinem Nutzenkalkül her in den Blick nehmen, weder in der Natur noch in der Geschichte. Hiob akzeptiert diese Antwort, er erkennt seinen begrenzten, d. h. nicht umfassenden Standpunkt und entfernt sich von dem ihn bisher prägenden anthropozentrischen Denken. Die zweite Rede hebt die gerechte Regierung der Welt durch Gott hervor: Gottes Gerechtigkeit, die Hiob zuvor mit dem Verweis auf sein Leiden kategorisch in Frage gestellt hatte, wird verteidigt: „Willst Du wirklich mein Recht zerbrechen, mich schuldig sprechen, damit du Recht behälst?“ (Hi. 40,8) In dieser Frage geht es um den Kern der Antwort. Gott erklärt, dass er durchaus gegen die Stolzen und gegen die Frevler vorgeht, aber nicht mit einem Schlag, sondern im ständigen Widerstehen gegen die Macht des Bösen. Dies wird in dem Bild des Kampfes Gottes gegen den Behemot und den Leviathan ausgedrückt. Beide Tiere sind als Vertreter des Chaos, des Frevels und des Stolzes zu verstehen. Beide sind von Gott geschaffen, gehören zur Schöpfung, wie das Chaos zu ihr gehört, jedoch als das stets von Gott begrenztes Chaos. Gott zeigt in dieser Rede, dass er die Chaostiere unter Kontrolle hat, gegen sie kämpft und damit sein Recht aufrichtet.23 Die Antwort Gottes an

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Hiob lautet, dass es die Gerechtigkeit Gottes ist, die dafür sorgt, dass das Chaos keine Überhand gewinnt. Sinnwidriges und Leiden gehören zur Wirklichkeit, werden aber von Gott bekämpft. Die Antworten der beiden Gottesreden bedeuten somit, dass Gottes die Menschenwelt übersteigendes, großzügiges Handeln die Schöpfung prägt und dass er einen ständigen Kampf gegen das Böse zur Begrenzung des Chaos führt. Hiob erkennt diese Antworten an, weil er unvermutete Aspekte der Wirklichkeit erkennt und er widerruft seine bisherige Meinung über die Welt. Das Schema von Berechnung, Lohn und Vergeltung, die traditionelle sog. moralische Weltanschauung und nicht zuletzt das Zweck-Mittel-Denken werden der Schöpfung und dem Wirken Gottes in ihr nicht gerecht. Hiob betont nach wie vor, dass er unschuldig leidet. Aber er weiß nach den Gottesreden auch, dass Gott gegen das Chaos und das Leiden ankämpft und mit dieser Schöpfung eine heilvolle Absicht verfolgt. Diese Erkenntnis ist steht am Ende eines langen Weges von Trauer, Schweigen, Zorn und Anklage, sie ist Gott abgerungen. Die lange Wegstrecke des Hiob darf nicht außer Acht gelassen werden, wenn man die Antworten des Hiob-Buches heranzieht. Hiob musste radikal seine Anfragen stellen und konnte nur so die Antworten, die ihn letztlich überzeugt haben, erhalten. Die Grund­ gedanken des Hiobbuches werden aufgenommen und zu einer neuen Antwort entwickelt im Geschick Jesu Christi. Die Thematisierung des Leidens und der Hinrichtung eines Unschuldigen, die Frage nach der Macht und dem Einfluss des Bösen in der Welt und die im Geschick Jesu liegende Anfrage an die Gerechtigkeit Gottes sind die sachlich direkte Fortführung der Fragestellungen des Hiob-Buches. Jede Christologie verhält sich implizit oder explizit zu diesen Fragen und ist daher in die Themenstellung einzubeziehen. Jede Rede von Christus bedeutet immer auch eine Rede vom Kreuz und ist daher die Erinnerung an das Leiden eines Unschuldigen. In seinem Geschick ist das Leiden der Unschuldigen exemplarifiziert und gleichzeitig aufgehoben. Zur Christologie gehört daher die Leidensanamnese und eine entsprechende Sprache und Ausdrucksform. In verschiedenen theologischen Entwürfen der jüngeren Zeit ist dieser Aspekt in trinitarischer Perspektive entfaltet worden, indem gegen das Bild eines allmächtigen, unberührbaren Gottes der mitleidende und leidende Gott 2.3 Die Perspektive einer Christologie mit „eschatologischer Unruhe“24 

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herausgestellt wird, wobei das menschliche Leid enin Gott selbst, d. h. in der innertrinitarischen Gottesgeschichte, „aufgehoben“ gesehen wird.25 Johann B. Metz hat gegenüber diesen Entwürfen kritisch eingewandt, dass auf diese Weise in neuer Form die Theodizeefrage „stillgelegt“ werde. Er fragt, ob und inwieweit die „Rede vom leidenden Gott nicht doch nur eine sublime Verdoppelung menschlichen Leidens und menschlicher Ohnmacht“26 ist und dadurch das Leiden verewigt. Metz fordert demgegenüber mit Nachdruck eine Christologie mit „eschatologischer Unruhe“, d. h. eine Christologie, die in all ihren Aussagen den „Verheißungsvermerk“27 deutlich macht. Eine solche Perspektive will den Dualismus von triumphierender Christologie und Kirche einerseits – d. h. das Heil wird als schon realisiert betrachtet, was für das Leiden unempfindlich machen kann – und abstrakter Eschatologie als bloßer Jenseitsvertröstung andererseits überwinden. Die „eschatologische Unruhe“ fragt im Sinn des Hiobbuches danach, wann denn endlich und wie der Plan Gottes mit dieser Welt als Heilsplan offenbar wird, d. h. wann das Chaos, das Übel und der Tod endgültig überwunden werden. Die Christologie versucht darauf zu antworten, ohne triumphalistisch die kritischen Nachfragen still zu stellen. Nach Metz sind alle biblischen Aussagen in diesem Sinn „mit einem Zeitindex versehen“28. „Theodizeeempfindlichkeit und Zeitempfindlichkeit“29 gehören untrennbar zusammen, wie es in den biblischen Klagepsalmen, im Hiobbuch und nicht zuletzt in der Zeitstruktur der Evangelien deutlich wird. Metz verweist diesbezüglich exemplarisch auf den Karsamstag, der die von ihm anvisierte Christologie mit „eschatologischer Unruhe“ als eine „Geschichte der Zeit und des Weges“30 anschaulich machen kann. Der Karsamstag als das „Dazwischen“ zwischen der Leidensanamnese des Karfreitags und der Siegersprache von Ostern weist in die Spannung des „Schon jetzt“ und „noch nicht“ ein. Diese Spannung ist als dynamische Spannung zu erhalten, indem beides, der Triumph von Ostern und das Warten auf das endgültige Heil Gottes, ausgesagt wird. Metz stellt heraus, dass im Rahmen einer solchen Temporalisierung der theologischen Kategorien die Spannung zwischen der Nähe und der Ferne Gottes, zwischen seiner Abwesenheit und seinem Rettungshandeln angemessen ausgesagt werden können. 3 Schluss

Die Beispiele der symbolischen und sprachlichen Zeugnisse der Erfurter Theologen angesichts des furchtbaren Amoklaufs, der Verweis auf die biblischen Zeugnisse sowie die Versuche einer systematischen

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Reflexion haben jeweils unterschiedliche, tastende theologische Handlungs- und Redeformen aufgezeigt. Angesichts der Herausforderung der Theodizeefrage gibt es nicht die eine Antwort, wohl aber verschiedene Perspektiven der Bewältigung und damit unterschiedliche Rede- und Sprachformen. Dabei ist offenkundig der Zeitfaktor ausschlaggebend, d. h. die Sensibilität dafür, wann welche Handlungs- und Redeform angemessen und hilfreich ist. Eine an sich richtige und gute Antwort zur falschen Zeit ist ebenso problematisch wie ein Schweigen, wenn Artikulationsformen und Antwortversuche gefragt sind. Die biblische und die theologische Tradition verfügen über einen reichen Schatz solcher Handlungs- und Redeformen. Theologen können und müssen aus diesem Schatz heraus – in der Regel stellvertretend für die betroffenen Menschen – die Sprachlosigkeit des Leidens überwinden. Dies kann nur in einer Geistes-Gegenwart geschehen, die nicht verfügbar und planbar ist, um die allein zu bitten ist: „Veni spiritus sanctus“. Traugott Jähnichen Anmerkungen 1

In klassischer Weise hat die Funktion der Kontingenzbewältigung Hermann Lübbe thematisiert, vgl. ders., Religion nach der Aufklärung, Graz u. a. 1986, insbes. S. 144ff. 2 Heino Falcke, Erfurter Erfahrungen und Reflexionen nach dem 26. April 2002, in: Gott wahr nehmen. FS für Christian Link, hg. von Magdalene L. Frettlöh und Hans P. Lichtenberger, Neukirchen 2003, S. 331–341, hier: S. 335. 3 H. Falcke, a.a.O., S. 334. 4 Das Klagegebet ist abgedruckt bei H. Falcke, a.a.O., S. 335f. 5 Theologisch reflektiert findet sich diese Haltung bei Ingolf U. Dalferth, Leiden und Böses. Vom schwierigen Umgang mit Widersinnigem, Leipzig 2006, der die theologische Deutung des Bösen als „Sinnloses und Sinnwidriges“ (S. 200 u. a.) betont. 6 H. Falcke, a.a.O., S. 336. 7 Elie Wiesel, Macht Gebete aus meinen Geschichten, Freiburg 1986, S. 34. 8 Rüdiger Lux, Das Böse – warum lässt Gott das zu? Hiobs Fragen an den Gott, der der Allmächtige ist, in: Union evangelischer Kirchen, (Hg.), Leben im Schatten des Bösen, Neukirchen 2004, S. 26–49, hier: S. 40. 9 Paul Ricoeur, Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie, Zürich 2006, S. 54f. 10 Die Predigt Kählers ist dokumentiert in: epd-Dokumentation Nr. 21 vom 21. Mai 2002, S. 42f. 11 Vgl. die klassische Definition von Immanuel Kant: „Unter Theodizee versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene

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erhebt.“ I, Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791), in: ders., Werke (Hg. von W. Weischedel), Bd. 6, Wiesbaden 1970, S. 105. 12 Johann B. Metz, Theodizee-empfindliche Gottesrede, in: ders., (Hg.), Landschaft aus Schreien. Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz 1995, S. 81–102, hier: S. 87. 13 Auf diese Weise wird neben der emotionalen Klage und der reflektierenden Deutung auch die moralische Handlungsverpflichtung angesprochen. Paul Ricoeur hat in diesem Sinn im Rahmen der Bearbeitung des Problems des Bösen eine „Konvergenz zwischen Denken, Handeln (im moralischen und politischen Sinn) und eine spirituelle (d. h. reflektierende, TJ) Veränderung der Gefühle“ (A.a.O., S. 52) eingefordert. 14 Hans-Jürgen Hermisson, Gott und das Leid. Eine alttestamentliche Summe, in: ThLZ 128 Jg. (2003), S. 3–18, hier: S. 3. 15 Der Begriff der „Zulassung“, klassisch „permissio“, ist problematisch. Karl Barth hat im Sinn eines Versuchs einer Präzisierung von dem „Nicht-Wollen“ Gottes als Grund des „Nichtigen“, d. h. des Übels gesprochen. Vgl. Karl Barth, KD III,3, S. 327–425. Kritisch hierzu P. Ricoeur, a.a.O., S. 45–51. 16 H.-J. Hermisson, a.a.O., S. 9. 17 H.-J. Hermisson, a.a.O., S. 11. 18 Vgl. Gustavo Gutierrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid – Ijob, München/Mainz 1988, S. 36ff. 19 H.-J. Hermisson, a.a.O., S. 12. 20 H.-J. Hermisson, a.a.O., S. 11. 21 Das Problem der Wette Gottes mit dem Satan deutet G. Gutierrez, a.a.O., S. 24ff wesentlich als Frage nach der „Uneigennützigkeit, ... Absichtslosigkeit seiner (d. h. Hiobs, TJ) Gottesfurcht.“ (A.a.O., S. 25). 22 Die Interpretation der Gottesreden folgt im wesentlichen Jürgen Ebach, Leviathan und Behemot. Eine biblische Erinnerung wider die Kolonisierung der Lebenswelt durch das Prinzip der Zweckrationalität, Paderborn u. a. 1984, S. 15ff, insbes. S. 29–38. 23 Vgl. J. Ebach, a.a.O., S. 32. 24 J. B. Metz, a.a.O., S. 86. 25 Vgl. exemplarisch für die evangelische Theologie: Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 1972. 26 J. B. Metz, a.a.O., S. 95. 27 J. B. Metz, a.a.O., S. 96. 28 J. B. Metz, a.a.O., S. 97. 29 Ebd. 30 J. B. Metz, a.a.O., S. 85.

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11. Theologie Tod eines Kindes Der Tod des eigenen Kindes gehört wohl zu den schlimmsten Erfahrungen von Leid. Wer in der Notfallseelsorge solchem Schicksal begegnet, wird das als extreme Herausforderung empfinden. Verglichen damit kann der folgende Artikel bestenfalls einige bruchstückhafte Beobachtungen und Gedankensplitter enthalten. Ich bin nicht professionell in der Notfallseelsorge tätig und auch kein Fachmann für Pastoraltheologe. Ich komme von der Systematischen Theologie her. Das allerdings verstehe ich als Auftrag, den überlieferten kirchlichen Glauben mit den je neuen Lebenserfahrungen in ein fruchtbares Wechselspiel zu bringen. Deshalb beginne ich mit dem Blick auf einige Erfahrungen. Dabei werden die Fragen größer sein als die Antworten. 1.  Erfahrungen, Fragen

Während meiner Kaplanszeit geschah es, dass im Ferienurlaub eine junge Mutter mit ihren drei Kindern im Wattenmeer ertrank. Ein großer und drei kleine Särge standen in unserer Kirche. Nur der Vater war übrig geblieben. Viele Hunderte von Menschen kamen, um mit ihm zu trauern. Der Vater bat nach der Beerdigung die Trauergäste in den Pfarrsaal. Dort stand er dann vor einer Leinwand, zeigte Fotos von Ebbe und Flut, erklärte Küstenverläufe, meteorologische Karten, die Angaben der Küstenwacht, nannte immer neue Zahlen ... Quälend lange, mehrere Stunden lang. Mir wurde es unheimlich. Wühlte der Mann in seinen Wunden? War das, was wir erlebten, eine Flucht – weg aus der Trauer, hin auf eine scheinbar rein sachliche Ebene? Viele der Trauergäste hielten den Auftritt des Vaters für unangemessen. Später fragte ich mich aber, ob die scheinbare Sachlichkeit in der Rekonstruktion des Unfallhergangs zunächst einmal den Schmerz betäuben sollte. Und ob nicht im Prozess des Trauerns für solche Betäubung auch Platz sein müsste.

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war ein Kind vieler, fast endloser Bemühungen um einen Nachkommen. Die Eltern freuten sich riesig, als er endlich kam. Deshalb gaben sie ihm den Namen „Vincent“ (Sieger). Sie richteten ein wunderschönes Kinderzimmer für ihn ein, schienen die glücklichsten Menschen der Welt. Aber Vincent starb vor der Geburt. Es war ein schrecklicher Schlag für die Eltern. War alles umsonst gewesen? War ihr eigenes ganzes Leben gescheitert? Den Eltern waren die kirchlichen Riten fremd. Wie sollte man nun eine Trauerfeier gestalten? Wie könnte man die Eltern begleiten? Bärbel (den Namen habe ich geändert) kannte ich gut aus ihrer Studienzeit. Sie galt mit Recht als eine sehr tüchtige, durchsetzungsstarke Frau. Als sie schwanger wurde, erzählte sie gern von dem Kind in ihrem Leib. Am Sonntagabend, als wir im Gottesdienst der Hochschulgemeinde um den Tisch saßen und alle reihum sich vorstellten, sprach sie in der Wir-Form: Sie sprach auch im Namen des noch ungeborenen, aber sehr lebendigen Sohnes und interpretierte dessen Bewegungen als Gesprächsbeiträge. Am Tag darauf aber, bei der routinemäßigen Vorsorge-Untersuchung, eröffnete ihr der Arzt, das Kind sei tot, und das schon seit mehreren Tagen. Mit einem Mal war alle Sicherheit zerstört. Bärbel musste im Kreißsaal das tote Kind zur Welt bringen. Vierundzwanzig Stunden lag sie dort, hörte das Stöhnen und die Freudenschreie der anderen Geburten hinter dem Vorhang, und wartete darauf, den Tod zur Welt zu bringen. So formulierte sie es später: „den Tod zur Welt zu bringen“. Ihr Mann war die ganze Zeit dabei: hilflos, aber präsent. Er konnte sie innerlich nicht erreichen. Sie fühlte sich dabei unendlich einsam: Niemand, mit dem sie hätte teilen können, was sie erlebte. Von dieser schrecklichen Erfahrung kam sie nicht wieder los. Die Beziehung ist daran zerbrochen: Sie trennte sich von ihrem Mann. „Unlogisch“, möchte man sagen. Aber was wäre da „logisch“? Gibt es einen Problemdruck, der so stark ist, dass unter ihm auch eine intensive Liebesbeziehung zerbricht? Indira (Name geändert) war in einem indischen Kinderheim aufgewachsen. Über ihre Herkunft wusste sie wenig, und sie mochte nicht davon sprechen. Sie war acht Jahre alt, als eine Familie in Deutschland sie aufnahm. Jutta und Peter, die älteren Kinder, wurden ganz selbstverständlich ihre Geschwister. Indira wuchs heran zu einer schönen jungen Frau. Viele Freunde mochten sie. Mit dreiundzwanzig Jahren nahm sie sich ein eigenes Appartement. Sie rief gelegentlich zuhause Vincent

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an, sie zeigte gern ihre Dankbarkeit. Aber wie fühlte sie sich in ihrem Inneren? Wie fühlte sich das Leben für sie an? Keiner wusste es zu sagen. Mit 26 Jahren wurde sie in ihrem Zimmer tot aufgefunden. Die Todesursache wurde nie endgültig geklärt. Erschrecken, Bestürzung, Ratlosigkeit bei ihren Pflege-Eltern: Hatten sie etwas Entscheidendes übersehen? Was hatten sie falsch gemacht? War alles falsch, was sie unternommen hatten? Was könnte ihnen in dieser Situation weiterhelfen? Meike liebte den Tanz, das künstlerische Gestalten, war neugierig auf vieles. Nach dem Abitur hatte sie im Rahmen eines Sozialen Jahres im Kosovo gearbeitet. Sie studierte Osteuropawissenschaften und Evangelische Theologie in Leipzig. Dort überfiel sie die Krankheit. Leukämie! Sie kämpfte ums Überleben, machte Chemotherapien und Knochenmarktransplantation durch. In ihr Tagebuch und in Mails an ihre Freunde schrieb sie ihren Lebenswillen: „Ich will wieder Spaß haben an Essen und Trinken und Kochen ... Ich will, will, will L eben “ (Meike Schneider, 163). Ihre Eltern hatten Meike auf diesem Weg intensiv begleitet, zwei Jahre lang mit ihr um das Leben gekämpft – und schließlich den Kampf mit ihr verloren. Mit zweiundzwanzig Jahren starb Meike. Ein Jahr später schrieb ihre Mutter in einem posthumen Brief an Meike: „Meike, ich kann auch heute noch nicht diese Januartage erinnern, ohne dass meine Tränen fließen, ohne dass mein Herz sich verkrampft, ohne dass meine Seele aufschreckt! Mein Kopf sagt mir, dass ‚dieser bösen Tage schwere Last’ ja jetzt vorüber ist. Gott hat deiner aufgeschreckten Seele ja jetzt das Heil gegeben, ‚für das er dich erschaffen hat.’“ Bilder aus Dietrich Bonhoeffers Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ scheinen durch; aber die Mutter fährt fort: „Ich aber kann Gottes Heil für mich in diesen Januartagen nicht erkennen. Es tut so verdammt weh, noch immer und immer wieder neu ...“ (Anne und Nikolaus Schneider, 20 f). In der schrecklichen Panik, die während der Love-Parade 2010 in Duisburg ausbrach, kamen einundzwanzig junge Menschen grausam ums Leben. Seitdem, noch heute, liegt eine Art Lähmung über der Stadt. Vieles kommt hier zusammen: Entsetzen, Trauer, Wut, Suche nach einem Schuldigen ... Das Entsetzen, scheint mir, rührt auch daher, dass der grausame Tod mitten in ein Unternehmen hineinplatzte, das als grandioses Fest gedacht war. „Die Love-Parade wurde zum Totentanz“, sagte Präses Nikolaus Schneider in dem Trauer-Gottesdienst,

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der eine Woche später stattfand. Was in diesem Gottesdienst wohl am meisten zu Herzen ging, war die Ansprache von Hannelore Kraft. Sie sprach zwar als Ministerpräsidentin, aber auch aus persönlicher Erfahrung: Stundenlang hatte sie Angst um ihren Sohn gehabt. Oft kann eher ein überzeugendes Wort sagen, wer die schlimme Situation von innen kennt. 2.  „Ein einziger Satz und meine Welt zerbricht“

Die bislang angedeuteten Erfahrungen kenne ich aus persönlicher Nähe. Vielleicht gerade deshalb rühren mich auch Situationen an, denen ich nur im Lesen begegnet bin. „Wir waren eine unbeschwerte Familie, erfüllt von großer Dankbarkeit über unsere drei Kinder“, schreibt eine Mutter. „Als Jens 14 Jahre alt war, regten wir an, dass er das Segelfliegen erlernt ... Bei einem Fliegerfest im September passierte nachts das Unglück ... Unser Sohn war sofort tot.“ Die Mutter fand später eine Sprache für das, was sie getroffen hatte, und auch für die Bilder, die sie seitdem begleiten: „Ein einziger Satz und meine Welt zerbricht ... Deine Freunde gehen an meinem Fenster vorbei Und du, hinter welchem Baum versteckst du dich und rufst gleich fröhlich Hallo Vorbei Der böse Traum, den der Tag sich ausgedacht, wollte mir weismachen du lebst nicht mehr. Doch die Nacht deckt den Irrtum auf:

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da stehst du in strahlendem Licht und ich tauche ins Glück Darf bloß nicht wieder aufwachen“ (Clasen,11–13). Wechselhafte Bilder, bedrückend. Aber: Die Mutter ist nicht verstummt! Sie schreibt die Bilder auf. Später dann ein tastender Versuch, sogar in der verkehrten Welt einen Sinn zu entdecken: „Die ersten Schritte – an unserer Hand. Wir zeigten dir Wo es langgeht in der Welt. Nun bist du uns vorausgegangen und wir müssen unser Kind fragen wohin der Weg führt“. (Clasen, 34) 3.  „doch mit dem Tod der andern muss man leben.“ Mascha Kaleko muss schon früh geahnt haben, dass der Gedanke an den Tod des Kindes schlimmer sein kann als der Blick auf das eigene Todesschicksal. Im Juli 1968 starb überraschend ihr einziger Sohn. Schon 1944 schrieb sie jenen Vers, der heute als eines der bekanntesten KalékoZitate gilt: „Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muss man leben.“ (Kaleko, 9). Mit dem Tod des eigenen Kindes leben, ist das nicht sinnwidrig? Von den eigenen Eltern wird man sich eines Tages verabschieden müssen. Auch Geschwister, Freunde, etwa gleichaltrige Weggefährten werden wir einmal loslassen müssen, – das ist der Lauf der Welt. Aber der Tod

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des eigenen Kindes zeugt von einer verkehrten Welt: Nicht von der Vergangenheit müssen wir uns trennen, sondern von der Zukunft. Diese spezifische Erfahrung kann in besonderer Weise das Vertrauen in das Dasein erschüttern. Wir werden uns deshalb hüten müssen vor Formulierungen, welche diese extremen Erfahrungen mit jedweder Art von Trauer zusammenbringen. Wendungen wie „wir alle (!) unterliegen dem Sterben und der Notwendigkeit, Abschied zu nehmen,“ täuschen eine Gemeinsamkeit vor, die so nicht stimmt – und werden deshalb nicht so leicht eine Hilfe sein können. 4. Suizid

Und was ist, wenn das eigene Kind selbst den Tod gesucht hat? So traf es Petra Hohn und ihren Mann. Ihr Sohn Carsten war kurz vor seinem 19. Geburtstag in den Tod gegangen: „Als es an diesem Freitagnachmittag an der Haustür klingelte, kam nicht wie erwartet unser Kind nach Hause, sondern zwei Polizisten standen im Schein der Lampe. Im ersten Augenblick dachten wir, unser Sohn hätte einen Verkehrsunfall gehabt. Stattdessen schoss das Wort ‚Freitod’ in mein Ohr, wie spitze Nadeln bohrte es sich in mein Hirn ... In der Hoffnung, es sei alles ein fürchterlicher Irrtum, ignorierte ich die weiteren Ausführungen des Polizeibeamten. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Nein, mein Kind ist nicht tot. Nein. Nein. Nein. Erst blieb ich stumm, danach begann ich zu schreien, Weinkrämpfe raubten mir die Luft. Mein Mann schwieg, er trauerte nach innen“ (Hohn, 18). Über den Verlust des Kindes hinaus bedeutet der Suicid eine schlimme Anfrage an die Eltern: Konnten wir unserm Sohn nicht geben, was er zum Leben brauchte? Die Frage trifft die eigene Existenz: Was kann ich überhaupt geben? Wer bin ich eigentlich? ... Die Verunsicherung spiegelt sich schon in der sprachlichen Benennung: „Freitod“ klingt nach einer Tat höchster Freiheit. Aber erleben wir so etwas tatsächlich? „Selbstmord“ hört sich an wie ein Verbrechen. Beide Wörter bringen wenig die innere Not in den Blick, die wahrscheinlich in den Tod führte. Wir sollten in dieser Situation jede Vokabel vermeiden, die wie ein Vorwurf klingt. Die Diskussion über die ethische Bewertung einer Selbsttötung mag wichtig sein; aber hier ist sie nicht am Platze. Hier geht es um Hilfe für die Trauernden. Wenn jetzt überhaupt Platz ist für christliche Gedanken, dann wäre zu reden von einem Gott, der uns nicht bemisst nach dem, was uns in diesem Leben gelungen ist oder was nicht, der vielmehr unser Arzt sein will

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(vgl. Ex 15,26; Mk 2,17) und dessen heilende Zuwendung mit dem Tod nicht aufhört. Vielleicht sogar von Gottes Mitleiden, das unsere schmerzliche Ohnmacht mit-erfährt, und davon, dass gerade dieser Gott unsere Hoffnung bleibt. 5.  Versuche, mit der Situation umzugehen

Wie gehen wir damit um, wenn wir Eltern zu begleiten haben? Wie gehen die Eltern selbst damit um? Wieder greife ich auf einige eigene Beobachtungen, auf persönliche Gespräche und auf einige – wenige – Zeugnisse in einschlägiger Literatur zurück. Manches erinnert mich an die von Elisabeth Kübler-Ross aufgezeichneten Phasen der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Oft brauchen die betroffenen Eltern nach einer Phase des Nicht-wahr-haben-wollens eine Zeit zum Protest: In lautem Schreien und in immer neuem Erzählen kann vielleicht der Bann des Unfassbaren gebrochen werden. Vielleicht ist von daher zu verstehen, was ich oben von dem Vater berichtet habe, dessen ganze Familie in der Nordsee umgekommen war und der nicht aufhören wollte, den schrecklichen Vorgang scheinbar wissenschaftlich zu erklären. 5.1 Anschauen Manche

erzählen davon, dass sie sich überwunden haben, hinzugehen und das tote Kind anzuschauen, es in die Arme zu nehmen, manchmal auch, dass sie selbst es gewaschen und angezogen haben. Auch eine Form des Verabschiedens: Sie bringt das Leben nicht zurück; aber sie überwindet ein wenig die Kluft zwischen den Lebenden und den Verstorbenen. Angehörige eines durch einen Verkehrsunfall zu Tode Gekommenen gehen hin, die Unfallstelle anzuschauen, gehen vielleicht den Weg noch einmal ab, den der oder die Verstorbene zuletzt gefahren ist ... In diesem Zusammenhang sehe ich auch die kleinen Kreuze und Lichter, die mir immer häufiger am Straßenrand auffallen, offensichtlich von Angehörigen oder Freunden aufgestellt zur Erinnerung an einen dort verunglückten Menschen.

5.2 Anreden Für manche Angehörige kostet es eine Überwindung, auch nur den Namen ihres verstorbenen Kindes auszusprechen. Vielleicht vermeiden auch ihre Bekannten, den Namen zu nennen. Sie wollen die Wunde nicht anrühren. Das Schweigen kann eine Form von ehrfürchtiger Diskretion sein. Ich sehe aber die Gefahr, dass der Tod „totgeschwie-

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gen“ und damit das Todesgeschehen tabuisiert wird. Deshalb wird es doch eine Hilfe sein, wenn gegebenenfalls die, welche die Trauernden begleiten, diskret, aber doch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit den Namen des Kindes aussprechen und auf diese Weise das Kind immer wieder ins Gespräch bringen und es gewissermaßen in das jetzige Leben hereinholen. So sehe ich es bei Anne Schneider , die ihrer verstorbenen Tochter Meike einen Brief schreibt. Und bei Margarete Clasen , die ihren mit vierzehn Jahren verunglückten Sohn Jens mit Versen anspricht. Sie blättert in ihrem Photo-Album und spricht dabei zu Jens: „Der Mut lebt heut Auf großem Fuße. Er lockt mich zum Regal Und legt mir dein Album Auf den Schoß. Photo für Photo gehe ich dein Leben ab, suche nach Vorzeichen für das Unheil. Doch du lachst Mir fröhlich entgegen ...“ (Clasen, 41). Manche werden vielleicht den Verdacht haben, solches Sprechen zum verstorbenen Kind sei pure Flucht aus der Wirklichkeit. Wer aber den christlichen Glauben an eine „Gemeinschaft der Heiligen“ teilt, könnte das anders sehen. Zu diesem Glauben, wie ich ihn verstehe, gehört, dass der Tod, auch wenn wir ihn als schmerzliche Trennung empfinden, dennoch nicht eine absolut unüberbrückbare Grenze schafft. Auf dieser Überzeugung beruht die katholische Praxis, die Heiligen anzurufen. Es gibt aber keinen Grund, die Möglichkeit einer solchen „Anrufung“ auf die kanonisierten Heiligen zu beschränken. „Die Einheit der Erdenpilger mit den Brüdern, die im Frieden Christi entschlafen sind, hört keineswegs auf“, formulierte das Zweite Vatikanische Konzil (Lumen gentium, 49). Mit anderen Worten: Wir dürfen damit rechnen, dass unsere Verstorbenen uns vernehmen, wenn wir zu ihnen sprechen. Zwar werden wir das nicht beweisen können, weder anderen noch uns selbst, und schon gar nicht können wir die Kommunikation erzwingen. Aber wir können sie wagen.

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Ich sehe da eine Ähnlichkeit mit jeder liebenden Beziehung: Ob meine Liebe den anderen Menschen wirklich erreicht, und ob ich wirklich geliebt werde, das kann ich nie ganz sicher wissen. Ich kann den geliebten Menschen nicht ausprobieren und nicht manipulieren – das wäre das Ende der Liebe. So kann ich mich auch auf die Existenz und die Nähe der Verstorbenen nur vertrauend einlassen. Hier dürfte der entscheidende Unterschied zwischen christlichem Glauben und einem Spiritismus liegen, welcher sich mit magischen Praktiken sichern will. Aber das schließt nicht aus, dass christlich Glaubende nach einer Sprache suchen, mit der sie ihre Verstorbenen erreichen. 5.3 Zeichen 

Wenn ich richtig sehe, ist in den letzten Jahrzehnten die Neigung gewachsen, Zeichen zu setzen, welche Verbundenheit zum Ausdruck bringen, ohne den Verlust zu leugnen: Eltern bewahren den Fußabdruck des kleinen Kindes auf, lassen das Zimmer noch eine Weile so, wie es für das Kind eingerichtet war, fügen sein Bild hinzu ... Ein starkes Zeichen der Verbundenheit kann auch darin bestehen, dass die Angehörigen die Beisetzung mitgestalten. Vom Waschen und Anziehen war schon die Rede. Schön ist, wenn Kinder aus der Familie oder der Nachbarschaft etwas auf den Sarg schreiben oder malen („was du uns bedeutest“) oder bestimmte Gegenstände oder Bilder mit hineingeben. Der Vater von Carsten , welcher mit dem Auto in den Tod gefahren war, warf bei der Beerdigung den Autoschlüssel ins Grab: Zeichen eines Verstehens über den Tod hinaus. Ein bewegendes Zeichen könnte auch sein, wenn Angehörige, statt ihr Kind von einem ihnen unbekannten Institut beerdigen zu „lassen“, selbst den Sarg tragen und ihn vielleicht sogar selbst in die Erde geben. Wenn die eigene Überzeugung es erlaubt, könnte es gut tun, sogar am Grab das Kind mit seinem Namen anzureden. Wenn ich hier von „Zeichen“ spreche, dann meine ich damit nicht eine bloße Demonstration nach außen (etwa so, dass die Außenstehenden eine bleibende Verbundenheit erkennen können), ich denke vielmehr an jene Gesten und Gebärden, in denen wir uns selbst realisieren. In der Sakramententheologie sprechen wir von „realisierenden Zeichen“, Zeichen, in denen etwas geschieht: Wie Berührung, Umarmung und Kuss nicht nur Nähe illustrieren, sondern diese Nähe auch herstellen oder verstärken können, so geschieht im Zeichen des Sakraments das Bezeichnete. Wenn ich an dieser Stelle daran erinnere, dann geht es mir nicht vor allem darum, kirchliche Rituale wieder zu Ehren zu bringen, sondern darum, dass uns die Vertrautheit mit Ritualen eine Sprache ermöglichen

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könnte, die wie ein Gegengift gegen die Kälte des Todes wirkt. Anders gesagt: Solche Zeichen könnten Formen eines Verabschiedens sein, die dem erzwungenen Abschied den Stachel des Vergessens nehmen. Auch durch die kirchliche Liturgie vertraut gewordene Zeichen können eine starke Kraft entfalten, zumal wenn sie in die persönliche Sprache der eigenen Gebärden übersetzt werden. In unserer Gemeinde war ein junger Mann plötzlich verstorben: Als seine Freundin ihn zu einer gemeinsamen Reise abholen wollte, fand sie Michael tot in seiner Wohnung. Natürlich war das ein unbeschreiblicher Schock, ganz besonders für die Eltern. Der Vater konnte seitdem nie wieder singen. In die Eucharistiefeier zu Michaels Begräbnis aber brachte die Mutter ein Brot mit. (Sie war früher Verkäuferin in einem Bäckerladen gewesen, und sie hatte mehrere Jahre in unserer Gemeinde Kinder auf die Erstkommunion vorbereitet. Von daher hatte sie ein besonders Verhältnis zum Brot.) Am Ende des Gottesdienstes erzählte sie, was es damit auf sich hatte: Die Eltern von Michaels Freundin hatten dieses Brot gebacken und den jungen Leuten zu Ostern geschenkt. Michael hatte es vor dem Fest seinen Eltern gebracht: Eine Hälfte sei für sie. Die andere Hälfte, hatte er erbeten, möchten sie einfrieren, damit es noch frisch wäre, wenn er mit der Freundin nach den Feiertagen von der Reise zurückkomme. Die Mutter legte nun das Brot auf den Altartisch. Sie brach es in Stücke und lud alle, die es mochten, ein, sich ein Stückchen davon zu nehmen. Da kamen nicht nur die Bekannten aus der Kirchengemeinde; auch die zahlreichen Mitschüler und Mitschülerinnen des Verstorbenen, die zum größten Teil kirchenfern waren und nur aus diesem besonderen Anlass einer Liturgie beiwohnten, kamen in Scharen nach vorn, empfingen aus der Hand der Mutter ein Stück von „Michaels Brot“ und gingen bewegt an ihren Platz zurück. Niemand fragte: Was soll das? Alle verstanden diese Sprache. Bevor der Sarg in die Erde gesenkt wurde, berührte ihn die Mutter noch einmal und machte auf das Holz mit ihrem Finger ein Kreuzzeichen. So hatte sie früher ihren Jungen gesegnet, wenn er aus dem Haus ging. Sie erzählt heute noch von diesen Glaubenszeichen. Sie lebt davon.

5.4  Michaels Brot 

Eltern hatten sein Brot. Sie verteilten es an die Freunde. Meikes Eltern hatten ihre Tagebuch-Aufzeichnungen, die Briefe und die Rundmails an den Freundeskreis aus der Zeit ihrer tödlichen Krankheit. Gefragt nach „zehn Dingen, die ich von meinem 5.5 Das Werk fortsetzen  Michaels

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Leben noch erwarte“, hatte Meike als zweites genannt: „ein Buch schreiben, das veröffentlicht wird ...“ (Rundmail vom 14. November 2003, Meike Schneider, 63). Die Eltern haben das wahr gemacht. Nach Meikes Tod haben sie ihre Aufzeichnungen und Briefe als Buch veröffentlicht. Ich lese darin immer wieder und bin bewegt. Und stelle mir vor, dass das Meike gut tut. Ganz sicher auch ihren Eltern. „Wenn wir heute, sechs Monate nach ihrem Tod, an Meike denken, dann sehen wir eine vor Lebensfreude sprühende junge Frau vor uns, die auf Krankenhausfluren tanzt, die lauthals Schlagertexte mitsingt und die begeistert mit ihrer Kunsttherapeutin ihrer Gefühlswelt in Bildern Ausdruck gibt. So war unsere Zeit mit Meike für uns in diesen zwei Jahren [seit der Erkrankung] ein unerwartetes Gottesgeschenk, an das wir uns gern, wenn auch meist noch unter Tränen erinnern. ... Dafür möchten wir ... ausdrücklich danken“ (ebd., 165). Natürlich ist das ein ganz besonderes Geschenk. Ich denke aber, dass unsere Verstorbenen uns oft etwas hinterlassen, das uns zum kostbaren Geschenk werden kann, wenn wir ehrfürchtig damit umgehen. Bei Michael war es nur ein Brot. Aber was heißt hier „nur“? ...   Manchmal macht man, selbst als professioneller Theologe, in der Bibel überraschende Entdeckungen – je nachdem, was einen gerade beschäftigt. Im Buch Ijob finde ich eine eindrucksvolle Szene, über die ich lange hinweggelesen hatte: „Die drei Freunde Ijobs hörten von all dem Bösen, das über ihn gekommen war. Und sie kamen, jeder aus seiner Heimat .... Als sie von fern aufblickten, erkannten sie ihn nicht; sie schrieen auf und weinten. Jeder zerriss sein Gewand; sie streuten Asche über ihr Haupt gegen den Himmel. Sie saßen bei ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte; keiner sprach ein Wort zu ihm. Denn sie sahen, dass sein Schmerz sehr groß war“ (Ijob2,11–13). Das ist für mich die stärkste Szene: Die Freunde, die kommen, entsetzt, wie sie ihn von weitem erblicken ... und dass sie sich dann zu ihm auf die Erde setzen, ihn ihre Nähe spüren lassen, – aber keiner spricht ein Wort, sieben Tage und sieben Nächte lang. In den folgenden Kapiteln versuchen die Freunde es mit theologischen Erklärungen. Aber das hilft nicht. Sie bringen Ijob damit nur auf: „Leidige Tröster seid ihr alle!“ (16,1), „untaugliche Ärzte“ sind sie für ihn, „Lügentüncher“ (13,4). Am Ende des Buches werden sie von Gott selbst getadelt, dessen Anwälte sie hatten sein wollen: „Ihr habt nicht recht 5.6  Schweigende Nähe

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von mir geredet“ (42,7). Was Ijob schließlich aus seiner Verzweiflung herausreißt, sind nicht die theologischen Erklärungen seiner Freunde, sondern die Begegnung mit Gott. Die aber hatten seine Freunde mit ihren langen, inhaltsreichen Reden nicht herstellen können. Vielleicht geht es uns ähnlich: Vielleicht gelingt es uns noch am ehesten zu trösten, wenn wir auf die böse Nachricht hin aufbrechen, uns schweigend zu den Leidenden setzen, sie unsere Nähe spüren lassen und auf unsere vermeintlich klugen Erklärungen verzichten. 5.7  Fragwürdige Tröstungen  Manche Formulierungen scheinen mir wirklich problematisch. Wenn ich z. B. auf einer Todesanzeige die Formel lese „Es hat Gott dem Allmächtigen gefallen ...“, frage ich mich, welches Gottesbild diese Formel hervorruft. Gott, der Gefallen hat am Tod? Gar am Tod des Kindes? Ähnlich geht es mir mit dem oft missverstandenen Zitat der Vaterunser-Bitte „Dein Wille geschehe“. Steht es kommentarlos auf einer Anzeige, wird leicht der Eindruck erweckt, das Vaterunser (oder gar der christliche Glaube insgesamt) wolle dazu verleiten, jedes konkrete Schicksal mit dem Willen Gottes zu identifizieren und sich stoisch darein zu ergeben. Dann möchte ich das Gegenteil betonen: Das faktisch Vorgefundene ist längst nicht immer das Gottgewollte. Davon zeugen doch die vielen biblischen Heilungserzählungen: Jesus tröstet die Leidenden nicht mit Erklärungen, sondern mit praktischem Handeln. Das sagt er auch seinen Jüngern: „Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“(Mt 10,7) So geschieht der Wille Gottes, so sieht das Reich Gottes aus, um das die Jünger beten sollen! 5.8 Klagen 

Aber wer kann schon das Leben zurückgeben? Wie sollen wir der Erfahrung der Ohnmacht begegnen? Wir können ihr immerhin eine Stimme geben: Wir können mit den ohnmächtig Leidenden trauern. Und klagen! Klagen gilt weitgehend als verpönt. Allgemein gesellschaftlich – und vielleicht besonders im Raum der Kirche. Möglicherweise leiden wir hier noch an den Folgen einer fragwürdigen Jammertal-Spiritualität des 19. Jahrhunderts: Dagegen setzten weltoffene Christen im 20. Jahrhundert ihre (natürlich positiv zu wertende) Weltoffenheit – und entwickelten ein Pathos der Tüchtigkeit, das dann keinen Platz mehr ließ für die Kultur der Klage. Eine solche Kultur gibt es aber in der Bibel. Ein ganzes Buch zeugt davon, das Buch der Klagelieder. Da ist die Rede von den Ruinen der

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zerstörten Stadt, von geschändeten Frauen, von verhungerten Kindern in den Armen der Mütter und vom Spott der Vorbeiziehenden. Die Klagelieder geben der Not eine Sprache. Starke Bilder – man muss sie auf sich wirken lassen: „Am Boden sitzen, verstummt, die Ältesten ... Zu Boden senken den Kopf die Mädchen von Jerusalem. ... Kind und Säugling verschmachten auf den Plätzen der Stadt ... Jungfrau, Tochter Zion, dein Zusammenbruch ist groß wie das Meer, Wer kann dich heilen? ... Alle, die des Weges ziehen, zischeln und schütteln den Kopf über die Tochter Jerusalem: Ist das die Stadt, die man nannte: Entzücken der ganzen Welt, Krone der Schönheit? ... Schrei laut zum Herrn, stöhne, Tochter Zion! Wie einen Bach lass fließen die Tränen Tag und Nacht! Niemals gewähre dir Ruhe, nie lass dein Auge rasten! Steh auf, klage bei Nacht, zu jeder Nachtwache Anfang! Schütte aus wie Wasser dein Herz vor dem Angesicht des Herrn ...“ (Klgl 2,10–19). Schade, dass diese Klagelieder wie auch die Klagepsalmen (und damit auch das Klagen selbst) aus dem christlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden sind. Dabei wird sogar von Jesus selbst das Klagen erzählt: „Konntet ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ Und sogar gegenüber dem Vater: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“(Mt 27,46). 6. Die bleibenden Wunden

Selbst der Osterglaube der Jünger Jesu lässt nicht die Wunden vergessen. Wohl macht er möglich, die Wunden anzuschauen – und dennoch froh zu werden. Ja, im Rückblick werden sogar die Wunden kostbar: „Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen“ (Joh 20,20). „Ach Meike“, schreibt Anne an ihre verstorbene Tochter, „erinnerst du dich an deine letzte irdische Sylvesternacht? Auch wenn es eine blöde Frage ist, ich bete und hoffe, dass solche Nächte Spuren hinterlassen in unserer vergänglichen ... Persönlichkeit. Der Auferstehungsleib trug schließlich auch die Male der Kreuzigung!“(Anne und Nikolaus Schneider, 44).

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7.  Einander annehmen

Das Johannesevangelium erzählt, wie der sterbende Jesus Mutter und Freund einander anvertraut: „Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: 'Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter!' Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Joh 19,26 f). Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Evangelist nicht unbedingt einen historischer Bericht liefern will, sondern eher eine erbauliche Erzählung, ja, gerade dann spricht dieser Text davon, wie Christen und Christinnen mit dem Tod naher Menschen und mit der Trauer umgehen könnten: Betroffene rücken näher zusammen – können beieinander stehen und auf diese Weise das Weiterleben möglich machen. • Die Piétà 

Was aber den Umgang mit dem Tod des Kindes betrifft, so möchte ich an ein eindrucksvolles Motiv der Frömmigkeitsgeschichte erinnern, die „Pietà“. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts finden wir dieses Motiv, in Holz geschnitzt oder in Stein gehauen: Maria, die Mutter, hält auf ihrem Schoß den Leichnam ihres Sohnes. Das Bild entstand vermutlich als Ausmalung des Geschehens zwischen der Kreuzabnahme und der Grablegung Jesu, als Illustration der 13. Station des Kreuzwegs („Jesus wird in den Schoß seiner Mutter gelegt“ ) und erinnert an das Passionsspiel am Karfreitag zwischen 15 Uhr (Erinnerung an den Tod Jesu) und der Vesper um 17 Uhr (daher der Name „Vesperbild“).Manchmal sieht man diesem Vesperbild einen Satz aus den Klageliedern begegeben: „Ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut doch und seht, ob ein Schmerz ist gleich meinem Schmerz“ (vgl. Klgl 1,12). Ich verstehe diesen Text natürlich nicht als Ausdruck eines SchmerzTriumphalismus („Wir sind auch hier die Größten!“), sondern als Einladung an Menschen in ihrem übergroßen Schmerz: Sie sollen sich hier verstanden und solidarisch angenommen fühlen. Ich bin diesem Bild öfters begegnet, meistens hinten in einer Kirche, an einer eher dunklen Stelle, aber immer war es der tagsüber meist aufgesuchte Ort in der Kirche: Vor der Pietà saßen, standen oder knieten Menschen, die offenbar der eigene Schmerz hergeführt hatte – und das Bedürfnis, jemandem zu begegnen, der den Schmerz kennt. Das Bild erinnert auch an das sogenannte „Gnadenstuhl“-Motiv. Hier handelt es sich allerdings um ein Bild von Gott: Der Vater hält in sei-

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nem Schoß den gekreuzigten Jesus. Innerhalb der kunstgeschichtlichen Entwicklung dieses Bildes zeigt sich eine Entwicklung: Ursprünglich (in Messbüchern des 12. und 13. Jahrhunderts) war es der herrscherlichmajestätische Vater, welcher der Menschheit den Gekreuzigten zeigt, später (zum Beispiel bei Tilmann Riemenschneider , um 1500) wurde daraus der bekümmerte Vater, dem der Leib des Sohnes zu entgleiten scheint. Hier könnte man ein Motiv erkennen, das in heutiger Theologie mit dem Wort von Gottes „Mit-Leiden“ angesprochen wird. Ich möchte an dieser Stelle nicht die Argumente für und gegen solche Sprechweise erörtern, aber auf einen grundsätzlichen Wandel im Ungang christlicher Theologie mit der Theodizee-Frage hinweisen. 8.  Wandel im Umgang mit der Theodizee-Frage

Das letzte Jahrhundert mit seinen extremen Erfahrungen von menschlicher Destruktivität, von Naturkatastrophen und von menschlichem Leid hat die alte Theodizee-Frage, das heißt die Frage, wie man angesichts des Leids in der Welt an einen gütigen und mächtigen Gott glauben könne, verschärft. Dabei wandelte sich unser Sprechen von Gott. Mehr als der Erbauer der Welt kommt nun der Retter aus dem Elend in den Blick: Wir setzen stärker beim Exodus-Motiv an als beim Schöpfungsmotiv, und auch in den alttestamentlichen Schöpfungserzählungen erkennen wir stärker das rettende Handeln Gottes: er scheidet das Land vom Tod bringenden Wasser, er grenzt Zeiten des Lichts aus gegenüber dem unheimlichen Dunkel (vgl. Gen 1,3 und 9). Es wandelt sich auch die Rede von Gottes Macht: Statt vom grundsätzlich und überall „Allmächtigen“ sprechen wir eher vom Gott, der Macht hat, in konkreter Situation zu retten. Statt vom unberührten Souverän eher vom Liebenden, dessen Liebe durch nichts aufzuhalten ist, selbst nicht durch den eigenen Schmerz. Auch die Funktion des Glaubens sehen wir nun anders: weniger als Welterklärung denn als Wegweisung und Orientierungshilfe. Statt erklären zu wollen, warum Gott dies und jenes geschehen lässt, legen wir den Ton auf die Frage: Was haben wir an Gott in dieser konkreten Situation? 9.  Was haben wir an Gott?

Die Antwort sei thesenhaft knapp formuliert:Gott bedeutet eine Adresse, vor der ich klagen kann. Der Glaube an den Gott Jesu von Nazareth motiviert zur solidarischen Nähe zu den Leidenden, zum Kampf für das Leben, zur Befreiung von der isolierenden Wirkung des Leids und zu der Hoffnung, dass der Abschied nicht das letzte Wort der Geschichte

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ist. Der Glaube schenkt eine Hoffnung über den Tod hinaus und Verbundenheit mit den Verstorbenen. Der Glaube motiviert, nicht aufzuhören zu lieben. Das kann im Fall der Trauer um ein Kind eine wichtige Handlungskonsequenz haben: Zu der Aufgabe, im Leid einander anzunehmen, gehört auch der Blick auf die überlebenden oder nachfolgenden Kinder. Sie sollen nicht weniger wichtig werden als das verstorbene Kind und auch nicht dessen bloße Ersatz-Figuren sein. Franz-Josef Nocke

Literatur Margarete Clasen,

Trauersplitter. Gedichte nach dem Tod meines Kindes, Wuppertal 2006. Petra Hohn, Plötzlich ohne Kind, Gütersloh 2008. Mascha Kaleko, Memento, in: Verse

für Zeitgenossen, 26. Aufl. Reinbek 2010.

Anne und Nikolaus Schneider,

Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist. Leben und Glauben mit dem Tod eines geliebten Menschen, 3. Aufl. Neukirchen 2010. Meike Schneider, Ich will mein Leben tanzen. Tagebuch einer Theologiestudentin, die den Kampf gegen Krebs verloren hat, 2. Aufl. Neukirchen 2011. Franz-Josef Nocke, Mit-leidender Gott. Zum Wandel christlicher Rede von Gott im Gespräch mit jüdischer Theologie, in: H.-J. Barkenings u.a. (Hrsg.), Tun und Erkennen. Theologisches Fragen und Vermitteln im Kontext des jüdischchristlichen Gesprächs, Duisburg 1994, 290–304. Franz-Josef Nocke, Vom unbewegten Beweger zum mitleidenden Gott. Wandlungen in der Theologie, in: Justus Cobet, Die kleine Form, Essen 2004, 13–22. Franz Josef Nocke, Liebe, Tod und Auferstehung. Die Mitte des christlichen Glaubens, Neuauflage München 2005, bes. 205–213. Franz-Josef Nocke, Loslassen. Zur Theologie des Sterbens, in: Ders., Was können wir hoffen? Zukunftsperspektiven im Wandel, Würzburg 2007, 204–221. Theodor Schneider, Sakramentenlehre, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, 4. Auflage 2009, 188–376. Theodor Schneider, Eschatologie, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, 4. Auflage 2009, 377–478.

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12. Theologie Kind und Tod In einem vierten Schuljahr bekommen die Schüler/innen die Aufgabe, die gerade abgeschlossene Unterrichtseinheit zum Thema „Tod und Leben“ zu bewerten. Wenngleich die Kinder feststellen, dass es sich um ein trauriges Thema handelt, sind sie sich darin einig, dass das Thema mit viel Ermutigung und Nähe zu tun hat. Sie betonen, dass sie gelernt hätten, wie sie mit dem Tod umgehen können, wie die Nähe von Menschen und die Nähe Gottes Trost spende und wie wichtig es sei, trotz großer Traurigkeit und unbeantworteter Fragen nicht den Mut für das eigene Leben zu verlieren. Die Kinder stellen allerdings auch fest, dass dies sicher in der Ernstsituation schwer umzusetzen sei. So hoffen sie auf Menschen, die sie beim Umgang mit Trauer unterstützen.1 Damit formulieren die Kinder zentrale Aufgaben für erwachsene Bezugspersonen: Es geht darum, das Thema nicht zu tabuisieren, sondern mit Kindern, die Fragen stellen oder / und Trauer erleben, in einen offenen Dialog einzutreten. Grundlage gelingender Begleitung ist aber die Kompetenz, kindliche Deutungsperspektiven in der Situation wahrzunehmen und daran anzuknüpfen. 1. Zur Entwicklung der Todesvorstellungen von Kindern2

Betrachtet man entwicklungspsychologische Arbeiten zur Todesvorstellung beim Kind, so ist zunächst einmal interessant, dass die zur Verfügung stehenden Untersuchungen trotz sehr unterschiedlicher methodischer Vorgehensweisen und kultureller Hintergründe zu vergleichbaren Ergebnissen führen.3 Dennoch ist es wichtig zu erkennen, dass sich kindliche Todeskonzepte individuell entwickeln und immer in Abhängigkeit von den Lebenserfahrungen der Kinder verstanden werden müssen. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Kind Erfahrungen mit dem Thema im familiären Umfeld sammelt oder nicht. Ebenfalls ist es für das kindliche Todeskonzept von Bedeutung, wie das Thema im Umfeld eines Kindes bearbeitet wird. Auch wenn durchaus eine allgemeine Ent-

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wicklungslinie erkennbar ist, müssen die individuellen Gegebenheiten im Blick sein, die zu großen Unterschieden in den Todesvorstellungen einzelner Kinder führen können. Wollen wir wahrnehmen, welche Deutungen ein Kind aktuell entwickelt, ist es hilfreich, vier Dimensionen des Todesbegriffes4 zu kennen, die Kinder in ihren Deutungen mehr oder weniger berücksichtigen. Während Erwachsenen diese Dimensionen vertraut sind, erarbeiten sich Kinder diese nach und nach im Laufe ihrer Entwicklung. Es handelt sich um die folgenden Aspekte: • Nonfunktionalität: Der Tod bedeutet völligen Stillstand der Körperfunktionen. • Irreversibilität: Der Tod ist nicht mehr rückgängig zu machen. • Universalität: Alle Lebewesen müssen einmal sterben. • Kausalität: Die Ursachen des Todes sind biologisch. Die im Folgenden formulierten Entwicklungsschritte sind weitgehend an die Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget angelehnt.5 Zwar sind Piagets Erkenntnisse heute in etlichen Punkten weiter geführt worden, dennoch können seine Phaseneinteilungen für eine „Sehhilfe“ hinsichtlich der kindlichen Todeskonzepte genutzt werden. 1.1  Kinder bis 3 Jahre 

Alle Kleinkinder erleben Verluste und trauern darüber. Schon vorübergehende Trennungen werden als große Bedrohung erlebt. Durch das fehlende Zeitverständnis sowie die emotionale Abhängigkeit der Säuglinge und Kleinkinder von ihren Bezugspersonen werden beim Kind Verlustängste geweckt. Wenn Kleinkinder vom Tod eines nahe stehenden Menschen betroffen sind, zeigen sie deutliche Reaktionen (Ess- und Schlafstörungen, Wut, Apathie etc.) – sogar dann, wenn sie den Tod lediglich über das veränderte Verhalten der Mutter oder anderer Bezugspersonen wahrnehmen. In diesem Alter kann zwar noch nicht kognitiv durchdrungen werden, was der Tod bedeutet, aber das emotionale Erleben ist stark ausgeprägt. Die vier Dimensionen des Todes werden in diesem Alter nicht erfasst, Tod bedeutet „nicht da sein“. Durch die Erfahrung von Verlässlichkeit kann umgekehrt Urvertrauen grundgelegt werden, welches prägend auf ein hoffnungsvolles Leben wirkt.

1.2  Kinder zwischen 3 und 5 Jahren  In diesem Alter beginnt die bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod. Da das Kind ganz im Hier und Jetzt lebt, muss es erst einen Begriff der Zeit, der Vergangenheit, der

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Gegenwart und Zukunft, der Endlichkeit und Unendlichkeit entwickeln, um den Tod als wirklich eintretende Trennung erfassen zu können, die jeden Menschen treffen wird. Der Tod wird zumeist als reversibel aufgefasst. Er hat vorübergehenden Status und wird mit „Reise“ oder „Schlaf“ verglichen. Gestorbene besitzen in den Augen der Kinder weiterhin Emotionen, sie leben unter veränderten Bedingungen weiter. So sorgen sich die Kinder etwa darum, ob die Verstorbenen im Grab auch genug zu essen haben und ob es ihnen bequem genug ist. Manchmal wünschen Kinder dieses Alters einem anderen Menschen den Tod. Damit meint es nicht eine endgültiges Ableben, sondern eine (zeitlich begrenzte) Entfernung aus dem eigenen Wahrnehmungsfeld. Das Kind ist in diesem Alter zumeist davon überzeugt, es würde ewig leben und sei unsterblich. Es bezieht den Tod also nicht auf sich. In der Regel ist das Verhältnis zum Tod in diesem Alter wenig angstbesetzt. Manchmal zeigen Kinder, die Beerdigungen erleben, ein sehr heiteres und gelassenes Gemüt und stellen viele Fragen. Dieses Verhalten kann auf die trauernde Gemeinde unpassend und wenig einfühlsam wirken, doch ist die Ursache nicht in einem mangelnden Respekt vor der Trauer der Erwachsenen zu suchen, sondern im kindlichen Todesverständnis. Wo Eltern offen auf die Fragen der Kinder eingehen und dem Kind die eigene Trauer signalisieren, kann das Verständnis für die Situation wachsen. Ängste können dann entstehen, wenn Kinder lediglich knappe Ant­ worten erhalten und durch das wörtliche (Miss-)verstehen von Aus­sagen zusammen mit eigener Phantasietätigkeit Vorstellungen entwickeln, die sie verfolgen. Viele Fragen werden von Kindern scho­nungs­los gestellt und verlangen nach einem einfühlsamen Gespräch: Wo ist der Opa jetzt? Sehe ich ihn wieder? Wann sehe ich ihn wieder? Ist bei Gott so viel Platz, dass es allen gut geht? Kinder erwarten Gesprächs­bereitschaft und ehrliche Antworten – und Erwachsene sind heraus­gefordert, den eigenen Glauben zu hinterfragen und glaubwürdig einzubringen. 1.3  Kinder zwischen 6 und 9 Jahren 

Nach und nach beginnt sich die Einstellung des Kindes zum Tod zu wandeln. Es treten keine völlig neuen Vorstellungen zutage, sondern die vorhandenen Vorstellungen differenzieren sich. Dabei sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen, unter anderem neue Möglichkeiten des Denkens und größere Lebenserfahrungen. Was die Denkentwicklung betrifft, so sind die Kinder nun in der Lage, Reversibilität und Irreversibilität von Ereignissen und Handlungen

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bewusst zu erfassen. Diese Kompetenz können Kinder auf den Tod beziehen. Jetzt unterscheiden Kinder auch zunehmend deutlicher zwischen belebten und unbelebten Objekten. Dadurch entwickeln sie realistische Bilder vom Tod und erkennen die Endlichkeit des irdischen Lebens. Mehr als zuvor entwickeln die Kinder Ängste vor unverstandenen Dingen oder vor dem Tod von Familienangehörigen. Diese Ängste steigern sich, wenn Kinder keine Gesprächspartner/innen finden. In diesem Zusammenhang sind auch personifizierte Vorstellung vom Tod zu erwähnen: Kinder stellen sich den Tod als äußere Gewalt vor, die beispielsweise in Gestalt eines Skelettes oder Sensenmanns plötzlich und überraschend auftauchen können. Bei der Herausbildung solcher Vorstellungen sind sicher mediale Einflüsse mit prägend. Als Ursache des Todes werden Alter, Krankheit und Gewalteinwirkung genannt. Ursache und Wirkung können also deutlicher als zuvor aufeinander bezogen werden. Viele Kinder haben in diesem Alter einerseits ein nüchternes und sachliches Interesse am Tod. Sie sind an Äußerlichkeiten interessiert, so etwa an Gräbern, Särgen, am Friedhof insgesamt. Andererseits interessiert sie verstärkt auch die Frage, was nach dem Tod sein wird. Hier werden meist paradiesische Himmelsvorstellungen entwickelt, und diese werden phantasievoll ausgeschmückt. Oftmals denken Kinder in diesem Alter immer noch, dass sie selbst dem Tod entrinnen können, wenn sie nur gut genug aufpassen. Die Aufgabe einer sensiblen religionspädagogischen Begleitung liegt auf der Hand. 2.  Kinder ab 10 Jahren 

Die Vorstellungen nähern sich immer mehr denen der Erwachsenen an. Kinder ab 10 Jahren wissen, dass der Tod unausweichlich ist und auch sie einmal betreffen wird. Sie durchschauen alle vier Dimensionen des Todes. In der Regel empfinden sich Kinder aber weit weg vom eigenen Tod. Kinder interessieren sich nun verstärkt für den Tod an sich, sie denken nicht in erster Linie an Särge, Gräber, Rituale. Sie fragen auch nach dem Sinn des Lebens und ihre Deutungen hinsichtlich eines Lebens nach dem Tod gehen über die vormals vorwiegend paradiesischen Vorstellungen hinaus. Kinder ab 10 Jahren können Trauer bewusst wahrnehmen und sich in Trauernde hineinversetzen. Dieses Alter ist aufgrund der Sinnsuche und des Übergangs ins Jugendalter ein sensibles Alter für eine religiöse Begleitung. Angebote können dann gewinnbringend bearbeitet werden, wenn sie der Individualität und Selbstbestimmung des Kindes Raum schenken und ihnen dennoch verlässliche Orientierungshilfen aufzeigen.

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2. Die Entwicklung von Hoffnungsperspektiven bei Kindern

Der religionspädagogische Umgang mit der Frage nach dem Tod hängt von individuellen Vorerfahrungen und aktuellen Ereignissen im Leben eines Kindes ab. Es macht einen großen Unterschied, ob Kinder in „ruhigen Zeiten“ nach dem Tod fragen, in Zeiten also, in denen sie nicht persönlich von Trauer betroffen sind, oder ob sie Fragen stellen, wenn sie akut von Trauer betroffen sind. In „ruhigen Zeiten“ ist es wichtig, kontinuierlich grenzüberschreitendes Hoffen anzuregen6, um Deutungsmodelle und Hoffnungsperspektiven zu verinnerlichen, die auch in Zeiten der Trauer tragen. Kinder gehen in der Regel positiv mit religiösen Deutungsangeboten um.7 Sie hören gerne biblische Erzählungen und entwickeln ermutigende Vorstellungen: Sie sehen Gott als Begleiter, Beschützer und guten Freund – auch über den Tod hinaus. Wenn es im Kindesalter gelingt, Fragen der Kinder aufzugreifen und dabei auch schwierige Fragen als Anlass zum gemeinsamen Gespräch und zur gemeinsamen Suche zu begreifen, lernen Kinder, dass nicht auf jede Glaubensfrage sofort eine Antwort gegeben werden kann, dass die eigene Antwort eine persönliche Suchbewegung und Stellungnahme verlangt und die Antwortsuche ein Prozess ist, der die eigene Entwicklung begleitet – auch die Entwicklung Erwachsener. Trotz offener Fragen lernen sie Vertrauen in die Wirklichkeit Gottes zu entwickeln, die ganz anders als alles ist, was wir uns vorstellen können. Aufgrund des konkreten Denkens stellen sich viele Kinder Gott und Gottes Himmel zunächst sehr konkret vor bzw. schmücken die Vorstellungen mit eigener Fantasie aus, sie entwickeln jedoch nach und nach die Kompetenz, symbolische und metaphorische Rede zu verstehen und anzuwenden sowie Vorläufigkeiten hinsichtlich menschlicher Vorstellungen vom Himmel zu formulieren. Die Mehrperspektivität menschlicher Rede von Gott wird ihnen vertraut. Im Kindesalter wird das Fundament der religiösen Entwicklung gelegt. Der Bedeutung dieser Entwicklungsphase sollten sich Erwachsene bewusst sein, welche Kinder religionspädagogisch begleiten. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Das didaktische Leitbild der Kindertheologie sieht in diesem Sinne Kinder als ernst zu nehmende (kleine) Theologen an, deren Gedanken aufgegriffen und weiter geführt werden sollen. Die kindertheologische Forschung hat hilfreiche Gesprächsförderer entwickelt, die Gespräche mit Kindern strukturieren und unterstützen können.8

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3.  Kinder begleiten in Situationen der Trauer

In Situationen akuter Trauer ist alles durcheinander geworfen. Nichts ist wie vorher, auch die Strategien des Umgangs mit dem Tod und die entwickelten Hoffnungsbilder können völlig aus dem Blick geraten sein. Erklärungen helfen in dieser Situation nicht weiter. So vielfältig wie Situationen der Trauer aussehen können, so herausfordernd und individuell ist auch ein möglicher Umgang mit diesen. Leitziel muss es sein, das Kind emotional zu begleiten, dem Kind zu zeigen, dass es nicht alleine ist und dass die Trauer berechtigt und wichtig ist. Zeit für das Kind haben und Nähe sowie Anteilnahme ausdrücken, dies ist bedeutsam. Erwachsene Begleitpersonen sollen Trauerphasen von Kindern kennen und diese im Umgang mit Kindern berücksichtigen. Nach Gertraud Finger9 kann die Trauer eines Kindes in fünf Phasen beschrieben werden, die individuell unterschiedlich durchlebt werden. 1. Zunächst ist da die Phase des Leugnens, des Nicht-Wahrhaben-Wollens bzw. -Könnens. Diese Phase kennen auch Erwachsene. Man kann das Ereignis nicht begreifen, fühlt sich wie in Watte und funktioniert einfach. Kinder sind in dieser Phase auch oft aufgedreht und übermütig. 2. Es folgt eine Zeit der Gefühlsausbrüche. Kinder, die trauern, fühlen sich wie in einer „seelischen Achterbahn“, erleben starke Stimmungsschwankungen und entwickeln Aggressionen, die von außen oft nur schwer verstanden werden können. So berichtet Gertraud Finger von einem fünfjährigen Jungen, dessen Opa stirbt und der nach der Beerdigung mit seiner Mutter einige Tage im Hause der Großmutter verbringt. Als die Großmutter die beiden zum Bahnhof begleitet und der Junge anmerkt, früher habe ihn der Großvater zum Bahnhof gebracht, weinen Mutter und Großmutter. Der Junge wird aggressiv, er tritt und schlägt um sich. Finger erläutert, dass der Junge nicht wisse, wie er mit seiner Trauer umgehen solle und alles aus ihm herausbreche. Oft treffen diese Aggression nahe stehende Personen, denn bei ihnen könne man seine Gefühle ehrlich zeigen.10 Gerade nahe stehenden Personen, die sich um ein Kind kümmern, fällt es jedoch schwer, mit dieser Reaktion umzugehen. Denn sie sind sich sicher, dass sie alles für das Kind getan haben und empfinden dieses Verhalten oft als undankbar. Es ist sehr wichtig, anzuerkennen, dass solche Gefühlsausbrüche zur Trauer dazu gehören. Kinder empfinden in der Zeit der Gefühlausbrüche auch oft Schuldgefühle und haben den Eindruck, zu Lebzeiten nicht genug für den Verstorbenen getan zu haben. Hier ist es wichtig, mit Kindern ins Gespräch einzutre-

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ten und das Kind zu beruhigen und zu stärken. Auch eine Trauergruppe kann Kindern helfen, mit der neuen Situation umgehen zu lernen und den Umgang mit den noch folgenden Trauerphasen zu unterstützen.11 3. Nach der Zeit der Gefühlsausbrüche kommt eine Zeit des bewussten Abschiednehmens. Auch hier herrschen starke Gefühlsschwankungen vor, Kinder sind zudem oft vergesslich oder können sich schlecht konzentrieren. In dieser Zeit möchten die Kinder dem Verstorbenen wieder nahe sein, suchen nach Erinnerungen und träumen von Begegnungen mit dem Verstorbenen. Das können auch Tagträume sein: Kinder meinen, den Verstorbenen gesehen zu haben. Kinder wollen erkennen und festhalten, was sie mit dem Verstorbenen verbindet. Sie müssen lernen, dass sie nicht mehr mit den alten Lebensumständen rechnen können und dass sie ihre Lebensperspektive auf die neuen Umstände umstellen müssen. 4. Weil dieser Prozess viel Kraft kostet, folgt nun eine Phase der Erschöpfung. Kinder können hier innere Leere verspüren, sich zurückziehen, Kontaktaufnahme scheuen und in frühere Entwicklungsphasen zurückfallen. Fertigkeiten, die sie gelernt haben, beherrschen sie plötzlich nicht mehr. Diese Phase dient letztlich dem Sammeln neuer Kräfte. Erwachsene sollten die Kinder nicht zu Unternehmungen nötigen, zu denen ihnen die Freude fehlt, sie sollten den Kindern Ruhe zugestehen, sie jedoch nicht allein lassen, sondern sie zum Zusammensein ermutigen. 5. Schließlich kommt die Zeit des Neubeginns. Erst jetzt wird die Realität des Todes in allen Konsequenzen anerkannt und das Kind kann nach neuen eigenen Lebensperspektiven suchen und diese umsetzen. Die Erfahrung der Trauer lässt Kinder – wenn sie entsprechend begleitet werden – durchaus wachsen. Sie erkennen die Kostbarkeit des Lebens und lernen bewusster zu leben. Sie erfassen alle vier Dimensionen des Todes und denken über Hoffnungsperspektiven nach. Kinder, die mit Trauer konfrontiert waren, sind in ihrer Entwicklung der Vorstellungen deutlich weiter als Kinder, denen diese Erfahrung fehlt. 4. Hinweise für Ersthelfer/innen12

Wichtig ist es zum einen, kindliche Vorstellungen vom Tod zu kennen. Zum anderen müssen die möglichen Trauerreaktionen von Kindern bekannt sein – nur auf dieser Grundlage werden Erwachsene das Verhalten von Kindern deuten und angemessen damit umgehen können. Es hilft Kindern, wenn sie angeregt werden, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen und die Trauer nicht zu verbergen. Gemeinsam gestaltete Rituale schaffen Orientierung und Halt. Hier sind Lieder, Tänze, das Schreiben

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von Briefen, das Anzünden von Kerzen, die Gestaltung eines Kondolenzbuches, einer Gedenk- oder Klagemauer hilfreich. Das Betrachten von Bilderbüchern kann Kindern zeigen, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Trauer. Beim Einsatz von Bilderbüchern ist besonders auf drei Aspekte zu achten: • Werden Vorstellungen von Kindern im Buch aufgegriffen und ernst genommen (oder werden kindliche Vorstellungen belächelt bzw. übergangen)? • Wer sind die Protagonisten? Kommt die Lebenswelt der Kinder im Buch vor? • Bietet das Buch christliche Deutungsperspektiven an? Wenn ja, wie werden diese eingebracht und welche Schwerpunkte werden gesetzt? Wenn das Buch keine christlichen Deutungen anbietet, welchen Deutungsschwerpunkt setzt das Buch und ist es offen für Perspektiven des Glaubens? Je nach Situation kann aus einer breiten Palette geeigneter Bilderbücher eine Auswahl getroffen werden.13 Neben diesen eher ruhigen und gesprächsorientierten Methoden sollte auch der Wut und Aggression der Kinder bei Bedarf Raum und Gestalt gegeben werden durch sportliche und gleichzeitig symbolische Aktionen. Beispielsweise kann mit Schaumstoffbällen oder Schaumstoffklötzen die Wut nach außen gelassen werden: Die Kinder werfen die Bälle/ die Klötze an die Wand oder durch den Raum, sie dürfen dabei auch ihre Wut herausschreien. Ein Signal gibt an, wenn die Gruppe die Wut gegen den Tod beendet. 5. Ausblick

Das Kindesalter ist für die Entwicklung religiöser Identität prägend. Erwachsene Begleitpersonen (Eltern, Erzieher/innen, Religionslehrkräfte) stehen vor Aufgaben mit Herausforderungen und Chancen. Kinder sollen und wollen Hoffnungsbilder entwickeln – dazu brauchen sie sinnvolle Anregungen, die ihrem Entwicklungsstand entsprechen und ihnen helfen, eine eigene tragfähige Religiosität auszubilden. Formulierungen sollten nicht einseitig-dogmatisch festlegen, sondern dazu einladen, eigene Überlegungen anzustellen: „Ich glaube …“, „Ich wünsche mir …“, „Ich hoffe …“ etc. Erwachsene haben Leitbildfunktion: Sie sollten Gesprächsbereitschaft zeigen und schwierigen Fragen nicht ausweichen. 14 Der Umgang mit der Frage nach dem Tod will in den Alltag ohne Scheu vor offenen bleibenden Fragen integriert werden.

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Kinder denken, hoffen und trauern anders als Erwachsene – das hat der vorliegende Beitrag deutlich gemacht. Auch ihre Vorstellungen vom Tod und einem Leben nach dem Tod unterscheiden sich von denen der Erwachsenen. Erwachsene sollen sich einfühlen und hineindenken lernen in diese kindliche Welt. Ganz gewiss profitieren auch die Erwachsenen von diesem Prozess. Die ehrlichen und offenen Fragen der Kinder bringen Erwachsene dazu, die eigene Haltung ebenso ehrlich zu bedenken. Angesichts der Fragen der Kinder können Erwachsene dem Thema nicht ausweichen – jedenfalls dann nicht, wenn sie die Kinder bestmöglich begleiten und unterstützen wollen. Das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern oder Filmen zum Thema, das gemeinsame Aushalten des Schmerzes, die gemeinsame Antwortsuche, das gemeinsame Klagen, all dies schafft Nähe und Gemeinschaft. Schließlich können die Hoffnungsperspektiven der Kinder auch in Erwachsenen neue Perspektiven der Hoffnung eröffnen. So resümiert Tim am Ende der Unterrichtseinheit zu „Tod und Leben“: „Ich fand es gut zu sehen, dass auch Erwachsene Fragen haben. Wir Kinder haben manchmal Ideen gesagt, die unsere Lehrerin zum Nachdenken gebracht haben.“ Petra Freudenberger-Lötz Anmerkungen

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Vgl. Freudenberger-Lötz 2006. Elisabeth Schwarz hat in den letzten Jahren zu diesem Thema wegweisende Beiträge veröffentlicht. Vgl. Schwarz 2003 und Schwarz 2010. Elisabeth Schwarz und ich haben auch einige gemeinsame Fortbildungen gestaltet, sodass viele meiner Ausführungen an diese gemeinsame Arbeit angelehnt sind. 3 Vgl. etwa Stern 1957 und Wittkowski/Schnell 1981. 4 Vgl. Plieth 2011, 36. 5 Vgl. hierzu ausführlich Schwarz 2003. 6 Vgl. Plieth 20011, X. 7 Vgl. Freudenberger-Lötz 2011. 8 Vgl. exemplarisch das Heft 2/2008 der Zeitschrift „Praxis Grundschule“ und das Heft 2/2012 der Zeitschrift „Grundschule“. 9 Vgl. Finger 1998, 13–27. 10 Vgl. Finger 1998, 18f. 11 Vgl. http://www.katholisch.de/25385.html 12 Die Katholische Kirche in Deutschland hat auf ihrer Internetpräsenz umfangreiche und sehr hilfreiche Anregungen zum Umgang mit Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen bereitgestellt. Ausführlich befasst sie sich mit der

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Krisenseelsorge (http://schulpastoral.drs.de/pastoralepraxis/krisenseelsorge. htm) Ergänzend zum vorliegenden Beitrag können diese Internetseiten gewinnbringend genutzt werden. 13 Eine Zusammenstellung, Beschreibung und Bewertung von Bilderbüchern zum Thema findet sich in Plieth 2011, 136–226. Eine Liste mit empfehlenswerten Büchern für Erwachsene und Kinder ist abgedruckt in Itze/Plieth 2011, 190–193. 14 Vgl. Itze 2012, 215. Hilfreiche Tipps zum Gespräch mit Kindern finden sich in Itze/Plieth 2011. Literatur Gertraud Finger, Mit

Kindern trauern. Stuttgart 1998.

Petra Freudenberger-Lötz, „Wenn

man die Geschichte liest, dann kriegt man Mut …“ Über Trauer, Erinnerung und Hoffnung in der Grundschule nachdenken, in: Christoph Bizer u. a., Was ist guter Religionsunterricht? Jahrbuch der Religionspädagogik, Band 22, Neunkirchen-Vluyn 2006, 182–192. Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern und Jugendlichen. Konzeptionelle Grundlegung und empirische Befunde, in: Petra Freudenberger-Lötz/Ulrich Riegel (Hrsg.), „...mir würde das auch gefallen, wenn er mir helfen würde.“ Baustelle Gottesbild im Kindes- und Jugendalter. Jahrbuch für Kindertheologie, Sonderband, Stuttgart 2011, 11–20. Grundschule 2/2012, Kinder fragen nach der Wahrheit (moderiert von Petra Freudenberger-Lötz). Ulriken Itze, Leben und Tod, in: Petra Freudenberger-Lötz (Hrsg.), Spuren lesen. Lehrermaterialien für das 3. /4. Schuljahr, Stuttgart/Braunschweig 2012, 210– 240. Ulrike Itze/Martina Plieth, Tod und Leben. Mit Kindern in der Grundschule Hoffnung Gestalten, Donauwörth 2011. Martina Plieth, Kind und Tod. Zum Umgang mit kindlichen Schreckensvorstellungen und Hoffnungsbildern, Neukirchen-Vluyn 2011. Praxis Grundschule 2/2008, Die Frage nach Gott. Theologie mit Kindern (moderiert von Rainer Oberthür). Elisabeth E. Schwarz, Die Entwicklung des kindlichen Sterblichkeitswissens, in Loccumer Pelikan. Religionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde Nr. 4 (2003), 197–202. Elisabeth E. Schwarz, Der Tod – ureigen und fremd. Sterben, Tod und Trauer, in: entwurf. Umgang mit dem Tod. Heft 2 (2010), 6–9. Erich Stern, Kind, Krankheit und Tod, München 1957. Joachim Wittkowski/Heike Schnell,

Strukturen der Todesvorstellung bei 8–14jährigen, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie. Band XIII, Heft 4 (1981), 304–311. Internetpräsenz von www.katholisch.de mit verschiedenen Unterseiten und Links zum Thema Tod und Trauer.

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13. Theologie Zum Umgang mit Tod und Sterben bei Jugendlichen Wenn Menschen Schlimmes widerfährt, dann scheint die Zeit zu gefrieren und still zu stehen. Wenn jungen Menschen Schlimmes widerfährt, dann wird die Hilflosigkeit noch größer. Was soll ich einem jungen Menschen sagen, dessen bester Freund sich das Leben genommen hat? Wie soll ich einem jungen Menschen begegnen, der durch einen Unfalltod seine Mutter, seinen Vater, seine nächsten Verwandten verloren hat? Gibt es dafür überhaupt eine Sprache? Ist der Tod nicht etwas, das zwar zum Leben gehört, aber nicht zu einem jungen Leben; etwas, das im Leben junger Menschen gar nicht vorkommen darf? Und doch sind immer wieder auch junge Menschen vom Unfalltod oder Suizid nahestehender Menschen betroffen. Wie kann man mit Jugendlichen dann umgehen? Womit ist zu rechnen? Was ist wichtig? In solchen Situationen, die allemal unberechenbar und unplanbar bleiben, ist es hilfreich, zumindest Todesvorstellungen und Jenseitskonzepte Jugendlicher zu kennen und an diese anknüpfen zu können. Es macht eben einen Unterschied – wie im Folgenden gezeigt wird –, ob Jugendliche den Tod als den Schlusspunkt allen Lebens empfinden oder an ein Weiterleben nach dem Tod glauben. 1.  Todesvorstellungen und Jenseitskonzepte Jugendlicher

Erst in der jüngsten Zeit gibt es in der Religionspädagogik wieder einige wenige Studien, die sich mit den Todes- und Jenseitsvorstellungen von Jugendlichen auseinandersetzen (Bescherer 2010; Streib / Klein 2010). Nach einem Boom in den 1980ern und 1990ern ist in der Zwischenzeit so gut wie nichts dazu gearbeitet worden. Eine weitere Schwierigkeit, sich diesem Thema anzunähern, besteht darin, dass die wenigen einschlägigen Studien meistens global von „den Jugendlichen“ sprechen und nicht unterscheiden in jüngere (12–13-Jährige), mittlere (14–15-Jährige) und ältere Jugendliche (16–17-Jährige) und junge Erwachsene (ab

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18 Jahren). Was jedoch die Todes- und Jenseitskonzepte anbelangt, gibt es diesbezüglich aber entscheidende Unterschiede zu verzeichnen. Drittens schließlich werden meist nur die kognitiven Vorstellungen erhoben, im Sinne von „Was denkst Du über den Tod und das Danach?“. Dagegen wird kaum nach den Strategien, also dem praktischen Umgang mit der Erfahrung des Todes, gefragt. Gerade dieser ist aber für die „pragmatische Generation“ (Shell Deutschland Holding (Hg.) 2002) entscheidend (Eine Ausnahme bildet die Studie von Bescherer 2010). 1.1 Trends  Untersucht man die wenigen vorhandenen Befunde im Hinblick auf Entwicklungen bei den Todes- und Jenseitskonzepten Jugendlicher seit den 1980ern bis heute sowie im Hinblick auf Trends (Schambeck 2011a, 240.), so ergibt sich folgendes Bild, nämlich • dass

Jugendliche den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod je älter sie sind, desto weniger teilen (vgl. ähnlich Streib, H. / Klein, C. 2010, 70f.), • dass dies v. a. im Glauben an ein „szientistisches Weltbild“ begründet ist, • dass Mädchen hoffnungsfreudiger sind als Jungen, • dass sich Jugendliche je kirchlicher sie sozialisiert und je aufgeschlossener sie gegenüber Religion sind, desto offener mit Todes- und Jenseitsvorstellungen auseinandersetzen (vgl. ähnlich Streib, H. / Klein, C. 2010, 70f.), • dass Jugendliche mit einem personalen, positiven Gottesbild eher an ein Weiterleben nach dem Tod glauben als Jugendliche, für die über allem ein Ultimatum steht, • dass Jugendliche heute weniger als früher die Auferstehungshoffnung teilen, • dass die Rechtfertigung nach dem Tod für Jugendliche kaum relevant ist. Das heißt, dass bei älteren Jugendlichen (gemeint sind 17-Jährige gegenüber 12-Jährigen) mehr „Schlusspunkthypothetiker“ anzutreffen sind als Jenseitsgläubige, also mehr Jugendliche, für die mit dem Tod alles aus ist, als Jugendliche, die an ein Weiterleben nach dem Tod – in welcher Art auch immer – glauben. Weiterhin zeigt sich, dass dies bei Jungen nochmals mehr zutrifft als bei Mädchen und bei religiös Indifferenten und Desinteressierten nochmals häufiger als bei religiös

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Interessierten und Gläubigen. Am schwierigsten ist es demnach, mit religiös desinteressierten Jungen im Alter von 17 Jahren über den Tod zu reden. Diese Trends sind linear zu verstehen, mit einer Ausnahme. Bei der Proband / innengruppe der 18–29-Jährigen kommt der Religionsmonitor an folgender Stelle zu einem anderen Ergebnis: 41 %, also so viele wie bei keiner anderen Altersgruppe, bejahen den Glauben an Gott und an ein Weiterleben nach dem Tod (Ziebertz 2007, 46.48.). 34 % dieser Kohorte geben an, dass der Auferstehungsglaube für die Sinnhaftigkeit ihres Lebens wichtig sei. Auch wenn der Religionsmonitor damit nicht die Jugendlichen erfasst, sondern die Altersgruppe der jungen Erwachsenen in den Blick nimmt, lässt diese Feststellung doch aufhorchen. Gegenüber den Ergebnissen Thiedes (Thiede 1991, 265.), der ermittelte, dass mit zunehmendem Alter der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod abnimmt, scheint es im späteren Lebenslauf zu einer Umkehrung der Einstellungen zu kommen. Der Auferstehungsglaube wird wieder zu einem wichtigen Moment, um das eigene Leben als sinnvoll zu empfinden. Dieser Befund verstärkt die Notwendigkeit, gerade Jugendliche bei ihren Lebensdeutungen zu begleiten, Desinteressierte nicht zu übergehen und religiös Indifferente nicht außen vor zu lassen. 1.2 Zusammenhänge  Hinter diesen Trends liegen folgende Zusammenhänge: Eine mehr oder minder unreflektierte Übernahme eines szientistischen Weltbildes veranlasst Jugendliche, die Welt mit ausschließlich naturwissenschaftlichen Maßstäben zu bemessen. Das heißt, dass nur das als wirklich anerkannt wird, was gemessen, gewogen, gezählt, gesehen werden kann. Was über das Vorfindliche hinausgeht, und das ist eben auch ein mögliches Weiterleben nach dem Tod, gilt als unwirklich. Zugleich hat die Schlusspunkthypothese ein eher männliches Gesicht. Mädchen können dem Gedanken, dass mit dem Tod alles aus ist, weniger abgewinnen als Jungen. Drittens schließlich korreliert die Einstellung zum Tod und was danach kommt mit der Einstellung zu Religion und näher hin zum Gotteskonzept. Wer der Religion eine positive Rolle für sein Leben beimisst, wer Gott als Helfer und Retter glaubt, der ist auch offener für die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod. Umgekehrt gilt für denjenigen, der sich als religiös desinteressiert oder ablehnend versteht, der evtl. noch ein Ultimates gelten lässt, aber auf keinen Fall von einem persönlichen Gott ausgeht, eher, dass mit dem Tod alles aus ist.

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Viertens schließlich zeigt sich, dass dort, wo Jugendliche ein Weiterleben nach dem Tod annehmen, diese Vorstellungen jenseits des christlichen Auferstehungsglaubens bzw. höchstens mit Versatzstücken aus den christlichen Hoffnungsbildern konstruieren. Dort, wo die Studien zumindest allgemein fragen, wie sich Jugendliche das Weiterleben nach dem Tod vorstellen, zeigt sich, dass die Todesdeutungen und Hoffnungsbilder der Jugendlichen sehr individuell geprägt sind. Man kann sogar sagen, dass die Jugendlichen die Hoffnungsbilder mittels der Erfahrungen entwerfen, die sie im Leben als bedeutend erleben. Das gilt für jüngere Jugendliche genauso wie für ältere, für Jungen wie für Mädchen. Der Himmel ist so gesehen eine Verlängerung des Erlebten, und zwar eine Verlängerung, die Verbesserung bringt bzw. die positiv erlebten Ereignisse nochmals steigert. 1.3 Hoffnungsbilder individuell geprägt und harmonisch 

Auch wenn der Glau­ be nicht von vornherein abgelehnt wird, sondern sich für diejenigen als hilfreich erweist, die glauben, ist das eigene Ich die Instanz, die darüber entscheidet, ob eine Deutung, wie z. B. die christliche Auferstehungshoffnung, als hilfreich empfunden wird oder nicht. Was „passfähig“ für die eigenen Hoffnungsbilder ist, wird integriert, was sich dem entgegenstellt, wird abgelehnt. Kriterium für die Integration und Adaption anderer, z. B. christlicher Hoffnungsbilder, ist dabei nicht vorrangig die logische Widerspruchsfreiheit; denn Reinkarnationsgedanken können problemlos neben dem christlichen Auferstehungsglauben existieren. Ausschlaggebend für Assimilationsprozesse ist vielmehr, die individuell empfundene Passfähigkeit dieser Bilder und Deuteangebote. Ein weiterer charakteristischer Aspekt der Jenseitsvorstellungen Jugendlicher ist deren positive, ja harmonische Ausgestaltung. Wenn Jugendliche das Weiterleben nach dem Tod inhaltlich füllen, dann überwiegen Vorstellungen, die mit Harmonie zu tun haben und am ehesten die Himmelmetapher anspielen (Jakobs 2011, 106.). Schließlich fällt auf, dass der Glaube an eine unsterbliche Seele die am weitesten verbreitete Interpretation des Weiterlebens nach dem Tod zu sein scheint (Kuld, L.  /  Rendle, L.  /  Sauter, L. 2000, 79.; vgl. auch Thiede 1991, 272.). Unsterblichkeit wird hier im wörtlichen Sinn verstanden, also dass es einen Teil im Menschen gibt, der bleibt, der nicht stirbt und damit sozusagen das Weiterleben, die Kontinuität zum gewesenen Menschen garantiert. Dieses aus der griechischen Philosophie stammende und weit verbreitete Interpretament trifft in diesem wortwörtlichen

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Verständnis zwar nicht die christliche Auferstehungshoffnung, kann aber von ihr her interpretiert werden. Obwohl in Umfragen immer wieder darauf hingewiesen wird, dass der Reinkarnationsgedanke für viele Menschen ein wichtiges Bild ist, sich das Weiterleben nach dem Tod vorzustellen, ist der dieser bei heutigen Jugendlichen nur noch in der frühen Adoleszenz attraktiv. Insgesamt zeigt sich, dass die Jugendlichen das Weiterleben nach dem Tod als Ausdruck dafür verstehen, dass das Ich, verstanden als das Unvertretbare des Menschen, seine Einzigartigkeit und Einmaligkeit ebenso wie seine Einzelheit, also sein Subjektsein und sein Personsein, nicht vergeht. Der unermessliche Wert des Menschen bleibt, ja jenseits des Todes ist sogar ein besseres, glücklicheres Leben zu erwarten, eben der Himmel. Die Studien weisen also insgesamt darauf hin, dass v. a. bei jüngeren Jugendlichen und dann wieder bei jungen Erwachsenen durchaus mit Vorstellungen zu rechnen ist, die ein Weiterleben nach dem Tod bejahen, dass diese Vorstellungen inhaltlich aber jenseits der christlichen Auferstehungshoffnung ausgestaltet werden. Dazu kommt, dass die Auferstehung von Jugendlichen als der schwierigste und unzugänglichste Aspekt der Christologie gewertet wird (Ziegler 2006, 513.). Die Auferstehung Jesu bleibt vielen Jugendlichen fremd, so dass sie ihr für ihr eigenes Leben keine Relevanz zuerkennen. 2.  Strategien Jugendlicher im Umgang mit Tod und Sterben

Geht man einen Schritt weiter und versucht, die Strategien Jugendlicher im Umgang mit Tod, Sterben und Jenseits zu beleuchten, dann fällt als wichtiges und entscheidendes Moment auf, wie sehr sich die Jugendlichen bei diesen Fragen auf sich selbst zurückgeworfen erleben. Das drückt sich u. a. darin aus, dass sie alles mit sich alleine auszumachen suchen. Man erwartet keine Hilfe von Erwachsenen oder gar Gott, sondern macht seine Erfahrungen, Trauer und Gefühle mit sich selbst aus. Höchstens enge Freunde werden als Gesprächspartner / innen in Anspruch genommen. Glaube und Kirche werden nur dann als hilfreich bei der Bewältigung von Tod und Sterben erlebt, wenn man sie schon vor der Krisensituation als echt erfahren hat (Bescherer 2010, 116.). Diese Strategie wird unterfüttert von einer pragmatischen Haltung, die für die ‚pragmatische Generation‘ (Shell Deutschland Holding (Hg.) 2002) insgesamt charakteristisch ist und die auch für den Umgang mit Tod und Sterben gilt. Weder religiöse noch nicht-religiöse Jugendliche sehen einen Sinn darin, sich vorrangig oder ständig mit dem Thema Tod

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zu beschäftigen. Als Devise gilt: Nur nicht reinstressen! (Bescherer 2010, 117f.). Auch der Tod ist pragmatisch zu behandeln. Trauersituationen sind möglichst schnell hinter sich zu lassen, um sich dann wieder dem Leben zuwenden zu können (Bescherer 2010, 117f.). Das geschieht nicht nur, um das Leben möglichst scwhnell wieder zu genießen, sondern gründet auch in dem Wunsch, handlungsfähig zu bleiben und sich die nötige psychische Gesundheit zu erhalten, um anderen in Trauer- und Krisensituationen beizustehen. Pragmatisch mit dem Tod umzugehen, heißt für heutige Jugendliche auch, dem Handeln mehr Bedeutung beizumessen als der Spekulation (Bescherer 2010, 104.). „Über Dinge, über die man nichts wissen kann, sollte man besser schweigen!“ Diese Abwandlung des Wittgenstein‘schen Wissenschaftsparadigmas könnte auch die Strategien von Jugendlichen überschreiben, mit dem Tod umzugehen. Dass dieses Verstummen vor dem Tod und dem Danach letztlich wiederum bedeutet, auf sich alleine zurückgeworfen zu sein, dass dieses Nicht-Antasten der letzten Fragen auch bedeuten kann, die sich daraus ergebende Unentschiedenheit als Sinnlosigkeit interpretieren zu müssen, schwingt hier mit (Schambeck 2011 a). Insgesamt zeigt sich, dass sowohl bezüglich der Konstruktion der Todeskonzepte und Jenseitsvorstellungen als auch bezüglich der Strategien im Umgang mit Tod und Streben das Ich die entscheidende Instanz ist. Was gedacht, gefühlt, geglaubt, getan wird, muss mit dem Denken, Glauben, Tun und Verständnis des eigenen Ich übereinstimmen. Von daher verwundert es nicht, dass Authentizität auch im Umgang mit Tod und Sterben bei Jugendlichen eine große Rolle spielt. Dies wird auch von den Helfer / innen erwartet. Für Notfallseelsorger / innen stellt sich damit die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, Jugendliche in Krisensituationen zu begleiten, wenn feststeht, dass die Auseinandersetzung mit Tod, Sterben und dem Jenseits von ihnen möglichst an den Rand gedrängt und pragmatisch „behandelt“ wird, wenn diese Fragen, falls überhaupt, nur im engsten Freundeskreis besprochen werden und zugleich christliche Deutungen und christliche Handlungsangebote wie Rituale, Symbole kaum relevant sind oder auch abgelehnt werden. 3. 

Möglichkeiten für Helfer / innen

Die wohl schwierigste Hürde besteht darin, überhaupt Zugang zu Jugendlichen in Krisensituationen zu finden. Jugendliche, die gewohnt sind, alles mit sich selbst auszumachen, höchstens noch mit Freunden über ihre

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wirklichen Probleme zu reden, tun sich schwer, sich gegenüber Fremden zu öffnen. Stress, Hektik und Schocksituationen tun ein Übriges dazu, dieses Sich-Abschließen zu verstärken. Notfallseelsorger / innen müssten einen Weg finden, um den jungen Menschen einen Raum zu eröffnen, sich zu zeigen und etwas von dem sichtbar werden zu lassen, was für sie selbst auch nur schwer fassbar ist. Nähe, die Zusage mitzugehen, auch versteinertes Schweigen auszuhalten, ein Ohr zu haben, wenn die jungen Menschen etwas sagen wollen, sind wichtige Angebote. Der juvenile pragmatische Umgang mit Tod und Sterben hat einerseits eine lebenszugewandte Seite. Junge Menschen suchen Vitalität und von daher verwundert es nicht, dass sie den Tod und alles, was mit ihm zu tun hat, meiden. Andererseits kann diese Pragmatik auch kippen und sich in eine Flucht vor schwierigen Situationen verkehren. Dann aber verkommt die Suche nach dem Leben zu einem Betrug; denn selbst der Tod als größter Widerpart des Lebens gehört zum Leben und kann nicht ausgeblendet werden. Eine Begleitung Jugendlicher in schwierigen Lebenssituationen kann deshalb ein Angebot sein, die bedrohlichen Erfahrungen und auch destruierenden Gefühle wie Wut, Trauer, Angst nicht einfach wegdrücken zu müssen. Das Vernichtende, das im Tod anderer auch auf das eigene Leben zurückwirkt, braucht nicht verleugnet zu werden, sondern darf in der Begegnung mit Begleiter / innen Raum einnehmen. Begleiter / innen können durch ihre Haltung verdeutlichen, dass sich Jugendliche auch in dieser „Uncoolness“ zumuten dürfen, dass man nicht über ihnen den Stab bricht und sie in ihrer Trauer nicht allein lässt. Rituale haben hier eine wichtige Funktion. Die eigene Wut und Klage aufzuschreiben und an eine „Klagemauer“ zu heften, Aggression und Resignation symbolisch auf einen Stein zu übertragen und diesen weit in einen Fluss zu schleudern, ein Licht anzuzünden, es auf das Grab des verlorenen Freundes zu stellen oder am Schreibtisch brennen zu haben, können Formen sein, Trauer auszudrücken, sinnenhaft erfahrbar zu machen und damit auch über Trauer und Angst, Wut und Verzweiflung sprechen zu können. Damit sind Haltungen bei Begleiter / innen angesprochen, die nicht einfach sind und die aufgrund des professionellen Settings in der Notfallseelsorge auch nicht einfach einzulösen sind. Jugendliche haben ein äußerst feines Empfinden dafür, was echt ist und wer echt ist. Das ist keine geringe Herausforderung für Professionelle. Zugleich kann dieses Gespür für Authentizität Notfallseelsorger / innen ermutigen, ihre eigenen Empfindungen nicht überdecken, ihre Unsicherheiten nicht übertünchen zu

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müssen, sondern nach Wegen zu suchen, diese den Jugendlichen zugänglich zu machen, ohne die Jugendlichen zu erdrücken. Dadurch können Jugendliche selbst bestärkt werden, ihren Empfindungen Raum zu geben. Was Jugendlichen in Krisensituationen hilft, sind Menschen, zu denen sie Vertrauen haben. Vertrauen aber aufzubauen, braucht Zeit. Notfallseelsorger / innen können das aufgrund ihrer Aufgabenbeschreibung kaum leisten. Von daher gilt es nach Wegen Ausschau zu halten, wie der unmittelbare Notfall aufgefangen und wie möglichst schnell Kontakte zu denjenigen geknüpft werden können, denen die betroffenen Jugendlichen vertrauen. Das kann bedeuten, den Freundeskreis zu verständigen und diesen zu stärken und zu ermutigen, bei dem Betroffenen auszuhalten. Sehr hilfreich ist eine länger andauernde Begleitung, die es ermöglicht, in regelmäßigen Abständen Kontakt aufzunehmen, und zwar sowohl zu den betroffenen Jugendlichen als auch zu deren Freundeskreis. Falls diese Begleitung nicht selbst geleistet werden kann, ist es wichtig, entsprechende Kontakte zu anderen professionellen Begleiter / innen herzustellen. Jugendliche, die es gewohnt sind, selbst zu entscheiden, was gilt und was wichtig ist, alles mit sich selbst auszumachen und irgendwie selbst mit allem klarzukommen, auch mit so Schlimmem wie dem Tod, hätten durch die zuteil gewordene Begleitung die Chance zu erfahren, dass sie nicht allein gelassen sind. Die Aussage eines Jugendlichen, der seinen Vater verloren hat: „Irgendwie muss jeder selbst damit klarkommen“, müsste nicht das letzte Wort über den erfahrenen Schmerz bleiben. Das Aushalten, das die Begleiter / innen den Betroffenen zugestehen, könnte auch, ohne dass dies explizit ausgesprochen werden muss, zu einer Ahnung werden, dass so auch Gott ist: Einer der mitgeht, der aushält und aufrichtet. Gerade darin liegen der große Wert des diakonischen Engagements und auch sein Spezifikum. Anderen zu helfen, biblisch formuliert, barmherzig am Anderen zu handeln (Lk 10, 30–36) bedeutet, die Spur Gottes in unserer Welt weiterzuzeichnen, ohne sie dem Anderen aufzudrängen. Es bleibt vielmehr dem Anderen überlassen, wie er diese Spuren für sich deutet, ob er sie überhaupt deutet oder nur dankbar entgegennimmt. Das ist gerade bei der Krisenintervention bei Jugendlichen ein wichtiges Moment. Weil die meisten Jugendlichen keinen direkten Zugang zu Todesund Jenseitskonzepten des Christentums haben, ist es – gerade bei der Begegnung in (akuten) Krisensituationen – notwendig, mit christlichen Vorstellungen und Sprachspielen bedächtig, wenn nicht sogar zurückhaltend umzugehen. Erst muss sich im diakonischen Handeln das Christliche erweisen, bevor es, wenn von den Jugendlichen gewünscht oder falls eine

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Offenheit dafür besteht, explizit werden kann. Aus Trost wird sonst subjektiv empfundene Gängelung oder gar Geschwätz, aus Nähe Bedrängnis und aus vermeintlicher Hilfe letztlich eine Verschlimmerung der Situation. Zu unterstützen, da zu sein und auszuhalten, das schwierige Wechselspiel von Distanz und Nähe, von Zuwendung und Diskretion zu achten, kann Helfer / innen und auch den Geholfenen dagegen immer wieder die Erfahrung eröffnen, dass da mehr ist als das, was wir mit Händen greifen und mit unseren Worten sagen können: ein Du, das trägt und hält.

Mirjam Schambeck sf Literatur Stefanie Bescherer,

„Nur nicht reinstressen!“ Todes- und Jenseitsvorstellungen sowie Bewältigungsstrategien bei Jugendlichen, Münster 2010. Rudolf Englert/Helga Kohler-Spiegel/Norbert Mette u. a. (Hrsg.), Was letztlich zählt – Eschatologie (= JRP 26), Neukirchen-Vluyn 2010. Monika Jakobs, Jüngste Überlegungen zu letzten Fragen, in: KatBl 136 (2011), 104–109. Lothar Kuld/Ludwig Rendle/Ludwig Sauter,

Tod – und was dann? Ergebnisse einer Umfrage unter Schülerinnen und Schülern im Bistum Augsburg, in: RpB 45 (2000), 69–88. Mirjam Schambeck, Auferstehungs-(Nicht-)Glaube von Jugendlichen und christliche Auferstehungsbotschaft? Impulse für ein mögliches Gespräch in religionspädagogischer Absicht, in: Thomas Söding (Hrsg.), Tod und Auferstehung Jesu. Theologische Antworten auf das Buch des Papstes, Freiburg/Basel/Wien 2011a, 237–257. Mirjam Schambeck, Vom „geschlossenen eschatologischen Bureau“ zum „Wetterwinkel in der Theologie“ und wieder zurück. Religionspädagogische Überlegungen, was die letzten Fragen zu lernen geben, in: Christof Breitsameter (Hrsg.), Hoffnung auf Vollendung. Christliche Eschatologie im Kontext der Weltreligionen, Münster 2011b (im Erscheinen). Heinz Streib/Constantin Klein, Todesvorstellungen von Jugendlichen und ihre Entwicklung, in: Was letztlich zählt – Eschatologie (= JRP 26), Neukirchen-Vluyn 2010, 50–75. Werner Thiede, Auferstehung der Toten – Hoffnung ohne Attraktivität? Grundstrukturen christlicher Heilserwartung und ihre verkannte religionspädagogische Relevanz, Göttingen 1991. Hans-Georg Ziebertz, Gibt es einen Tradierungsbruch? Befunde zur Religiosität der jungen Generation, in: Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, 44–53. Tobias Ziegler, Jesus als „unnahbarer Übermensch“ oder „bester Freund“? Elementare Zugänge Jugendlicher zur Christologie als Herausforderung für Religionspädagogik und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006.

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14. Jura Notfallseelsorge durch ‚Geistliche’ aus strafrechtlicher Sicht 1 1. Einführung

Berührungspunkte von Notfallseelsorge durch „Geistliche“ und straf‑ bzw. strafprozessuale Vorschriften dürften sich in der Praxis eher selten ergeben. Gleichwohl sind Situationen nicht auszuschließen, in denen Notfallseelsorger sich bei ihrer Tätigkeit, d.  h. der seelsorgerisch‑psychologischen Betreuung von unmittelbaren und mittelbaren Notfall‑Opfern  zusätzlich mit materiell‑strafrechtlichen bzw. strafprozessualen Fragen konfrontiert sehen: Das ist dann der Fall, wenn Seelsorger am Ort ihres Einsatzes etwas erfahren, das für die Strafverfolgungsbehörden unter repressiven oder/und präventiven Aspekten von Interesse sein könnte. Zur Verdeutlichung ein (hoffentlich praxisfernes) Beispiel: Nach einem (Brand‑, Bomben‑ etc.) Anschlag bittet der schwerverletzte T den zum Ort des Geschehens geeilten, als Notfallseelsorger tätigen evangelischen/katholischen Seelsorger S um Beistand. T erklärt dem S, er – T – sei – was noch niemand bemerkt habe – für den Anschlag verantwortlich. Darüber hinaus gebe es noch einen Komplizen – K. Dieser sei gerade auf dem Weg zu einem weiteren, ähnlich folgenschweren Anschlag. Er – T – müsse dem S die Beweggründe für seine Beteiligung an den beiden Taten erklären, um seelischen Frieden/Vergebung etc. zu finden: Er wolle jedoch weder jetzt noch später als Täter bekannt werden, ebenso wenig dürfe S in irgendeiner Form dafür sorgen, dass K noch aufgehalten oder die Täterschaft des K später bekannt gemacht werde. Ein schrecklicherer Konflikt lässt sich insbesondere in Ansehung des von Seiten des K noch drohenden Anschlages für einen Notfallseelsorger kaum ausdenken. Auf seine Gewissensnot mag er – zumindest theoretisch – eingestellt sein; diese muss er mit sich allein ausmachen. Aber was schuldet er dem Staat, der ihm in Form von materiell‑strafrechtlichen und/oder strafprozessualen Vorschriften gegenübertritt? Genauer: Was darf S in der geschilderten Situation aus strafrechtlicher

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(‑prozessualer) Perspektive tun bzw. umgekehrt, muss er möglicherweise etwas tun? Und wie steht es mit dem Gemeindemitglied G, das S regelmäßig zu seinen Notfalleinsätzen mit heranzieht, weil G über besondere psychologische Fähigkeiten verfügt, auf die S bei seiner seelsorgerischen Tätigkeit vor Ort regelmäßig zurückgreift? Die Antworten sind nur scheinbar einfach: Wenn der Seelsorger „Geistlicher“ i. S. der einschlägigen Vorschriften des StGB (§ 139 Abs. 2 StGB) und der StPO (§  53 StPO) ist, muss er sein Wissen nicht offenbaren, darf dies aber durchaus: Für einen „Geistlichen“ gibt es hinsichtlich dessen, was er in seiner seelsorgerischen Funktion erfahren hat, keine strafbewehrte Pflicht zu schweigen –  in §  203 StGB („Verletzung von Privatgeheimnissen“) ist der „Geistliche“ nicht als grundsätzlich schweigepflichtig genannt. Umgekehrt träfe den „Geistlichen“ im Beispielfall aber von Staats wegen auch nicht die Pflicht, sich an die Polizei/Staatsanwaltschaft zu wenden, um (auch) auf diese Weise zu versuchen, die bevorstehende Tat des Komplizen zu verhindern. Ebenso wenig wäre S in einem etwaigen späteren Verfahren gegen den/die Täter verpflichtet, eine Aussage als Zeuge dazu zu machen, was er von T erfahren hat. Die Privilege, die einen „Geistlichen“ von jedweder Offenbarungspflicht in Bezug auf Informationen, die aus der seelsorgerischen Tätigkeit stammen, freistellen, ergeben sich materiell‑strafrechtlich, d. h. mit Blick auf eine etwaige Pflicht zur Offenbarung bevorstehender schwerer Straftaten aus der Vorschrift des §  139 Abs.  2 StGB, und prozessual, d.  h. in Bezug auf eine etwaige Pflicht, in einem späteren Strafverfahren durch eine Aussage als Zeuge zur Verurteilung der Täter beizutragen, aus § 53 Abs. 1 StPO. Für einen, dem „Geistlichen“ zur Seite stehenden Helfer, wenn man so will „Laienseelsorger“ – im Beispielsfall: G – gelten andere Regeln: Weil (bzw. wenn) er kein „Geistlicher“ ist, und daher von der Ausnahmeregel des § 139 Abs. 2 StGB nicht erfasst wird, müsste er versuchen, das bevorstehende schwere Delikt des Komplizen des T zu verhindern; und zwar entweder durch Mitteilung an die Strafverfolgungsorgane oder –  im Beispiel eher fernliegend  – an die bedrohten Personen. Für den Nicht‑„Geistlichen“ bleibt es insofern bei der allgemeinen, in § 138 StGB normierten Pflicht, schwere und schwerste Straftaten, von deren „Vorhaben“ oder (laufender) „Ausführung“ man erfährt, durch Offenbarung (möglichst) zu verhindern. Was dagegen die von T (und ggf. von K) bereits begangenen Taten angeht, dürfte G nach Maßgabe von § 53a StPO

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eine etwaige, von ihm erwartete Zeugenaussage als sog. „Berufshelfer“ grundsätzlich in gleichem Maße verweigern wie der „Geistliche“, dem er geholfen hat. Allerdings: Wenn der „Geistliche“ entscheidet, dass sein Helfer aussagen soll, muss Letzterer diesem „Wunsch“ Folge leisten. Zumindest denkbar ist daher, dass in Bezug auf die gleichen Umstände der Geistliche keine Zeugenaussage macht, er aber wohl seinen Helfer veranlasst, sein Wissen den Ermittlungsbehörden zu offenbaren. Zur Verdeutlichung: § 138 StGB verlangt, dass jedermann sich um die Verhinderung von bestimmten, nach seiner Kenntnis bevorstehenden schweren Straftaten bemühe: Wer z. B. erfährt, dass ein Raub oder eine Brandstiftung begangen werden soll, muss den Behörden oder – zumindest – dem potentiellen Opfer davon Mitteilung machen. Von dieser Anzeigepflicht sind die „Angehörigen“ des potentiellen Täters2 ausgenommen; ebenso die Träger bestimmter Berufe3, die von der bevorstehenden Tat in Ausübung ihres Berufes erfahren haben. Es muss sich insoweit allerdings um eine „anvertraute“ Information handeln und Straflosigkeit tritt auch hier nur ein, wenn sich der Informationsinhaber ernsthaft um die Verhinderung der Tat bzw. deren Erfolg bemüht hat. Die Ausnahmen von der Offenbarungspflicht gelten allerdings nicht, wenn es um besonders schwere Delikte wie Mord, Totschlag, Völkermord oder erpresserischen Menschenraub oder einen Angriff auf den Luftverkehr durch eine terroristische Vereinigung geht (§  139 Abs.  3 StGB). Dann bleibt es bei der Anzeigepflicht! Kategorial anderes bestimmt § 139 Abs. 2 StGB für den „Geistlichen“. Der „Geistliche“ ist für alles, was er bei Ausübung seelsorgerischer Tätigkeit erfahren hat, von jeder Handlungs‑, hier: Verhinderungspflicht entbunden, mögen die ihm anvertrauten verbrecherischen Projekte auch noch so verheerend sein.4 Dass der Gesetzgeber allerdings davon ausging, dass „Geistliche“ – selbstverständlich – alles in ihrer Macht Stehende unternehmen werden, um ihnen bekannt gewordene drohende Verbrechen ohne Zuhilfenahme staatlicher Instanzen zu verhindern,5 versteht sich von selbst. Die Vorschriften der §§ 138, 139 StGB beziehen sich auf Wissen um bevorstehende schwere und schwerste Straftaten. Notfallseelsorger werden damit wohl eher selten konfrontiert sein. Näher liegt schon, dass sie bei ihrer Tätigkeit von begangenen Straftaten erfahren und dieses Wissen den Ermittlungsbehörden und später ggf. dem Gericht als Zeugen vermitteln könnten.

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Insoweit gibt § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO dem „Geistlichen“ ein Zeugnisverweigerungsrecht: Ein „Geistlicher“ ist nicht verpflichtet, den Ermittlungsbehörden als Zeuge Auskunft über das zu geben, was er in seiner Eigenschaft als Seelsorger erfahren hat. Diesbezüglich hat ein „Geistlicher“ ein umfassendes Schweigerecht.6 Von diesem Schweigerecht kann ihn der Betroffene „befreien“. Wenn ein „Geistlicher“ ein fremdes Geheimnis ohne eine solche Entbindung von der Schweigepflicht offenbart, macht er sich allerdings – unbeschadet etwaiger kirchenrechtlicher Sanktionen  – nicht strafbar.7 Soweit die einigermaßen übersichtliche allgemeine Rechtslage. Die Einzelheiten sind z. T. intrikater: 2 Einzelheiten

Es beginnt mit der zentralen Frage: Wer ist „Geistlicher“ im strafrechtlichen Sinn? Die Frage war lange streitig und mag dies aus wissenschaftlicher Perspektive auch bleiben. Aber nunmehr (bzw. endlich) hat der Bundesgerichtshof (BGH) gesprochen und sowohl der gerichtlichen Praxis als auch den als Notfallseelsorger Tätigen zumindest in Bezug auf den Begriff des „Geistlichen“ in §  53 Abs.  1 Nr.  1 StPO mit begrüßenswerter Klarheit und weltanschaulicher Offenheit Rechtssicherheit verschafft.8 Dem BGH zufolge ist – entgegen der (zumindest früher) herrschenden Meinung9 – der Begriff des „Geistlichen“ in § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO nicht auf anerkannte, öffentlich-rechtlich verfasste Religionsgemeinschaften beschränkt. Weil es dem Schutz der Menschenwürde des Gesprächspartners des Seelsorgers sowie der Glaubens-, Religions- und Berufsfreiheit des potentiellen Zeugen diene, sei der Begriff des „Geistlichen“ vielmehr grundsätzlich bekenntnisneutral.10 In Ansehnung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates komme eine Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wenig in Betracht, wie die Ausgrenzung Andersgläubiger. Dass die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht jeder Religionsgemeinschaft offen stehe, gebiete ebenfalls keine Beschränkung des Begriffs des „Geistlichen“ auf Angehörige solcher Glaubensgemeinschaften.11 Dem ist nichts hinzuzufügen.12 Die Entscheidung passt im Übrigen zu einer früheren, in der der BGH seinen expansiven Begriff des „Geistlichen“ bereits hat vorscheinen lassen.13 Dort ging es darum, ob auch ein Laie, der keine kirchlichen Weihen erhalten hat, wohl aber im Auftrag einer (Staats‑)Kirche hauptamtlich und eigenverantwortlich (auch) seelsorgerische Tätigkeit ausübt, als

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„Geistlicher“ im prozessualen Sinne des § 53 StPO zu behandeln sei. Der BGH bejaht dies: Weil die „Weihe“ nicht in allen Religionsgemeinschaften Voraussetzung für eine „amtliche“, mit der Übertragung einer herausgehobenen Stellung verbunden ist, fügen sich die beiden Entscheidungen vergleichsweise nahtlos ineinander: „Geistlicher“ i. S. von § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist die mit einem Schweigegebot verbundene Tätigkeit, die einer Person als „Amt“ von einer Religionsgemeinschaft anvertraut ist. „Geistliche“ haben allerdings nur dann ein Zeugnisverweigerungsrecht (§ 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO) bzw. dürfen noch so schwere Straftaten für sich behalten (§ 139 Abs. 2 StGB), wenn sie die entsprechenden Kenntnisse in ihrer „Eigenschaft als Seelsorger“ erlangt haben. „Seelsorge“ meint dabei die von religiösen Motiven und Zielsetzungen getragene Zuwendung, die der Fürsorge für das seelische Wohl des Beistandssuchenden, der Hilfe im Leben oder Glauben benötigt, dient.14 Die Vorschriften des § 139 Abs. 2 StGB und § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO sind insoweit nicht völlig deckungsgleich: Während § 139 Abs. 2 StGB – aus naheliegenden Gründen sehr eng – nur das dem „Geistlichen“ Anvertraute15 erfasst, bezieht sich § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO auch auf das ihm lediglich Bekanntgewordene16. Unter welchen Voraussetzungen Informationen in der „Eigenschaft als Seelsorger“ erlangt werden, ist noch nicht abschließend geklärt.17 Ein Beispiel: Ein Pfarrer erhält einen Anruf von einem Unbekannten. Nachdem der Anrufer sich vergewissert hat, dass er tatsächlich mit einem Pfarrer spricht, teilt er mit, dass er und einige Gleichgesinnte einen Sprengsatz an einem öffentlichen Gebäude angebracht hätten, der noch nicht explodiert sei. Der Anrufer bittet den Pfarrer, die Polizei zu informieren, damit der Sprengsatz entfernt und der Schaden abgewendet werde. Der Pfarrer kommt der Bitte nach. In dem folgenden Ermittlungsverfahren weigert sich der Pfarrer unter Berufung auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 StPO Fragen der Polizei bzw. der Staatsanwaltschaft zu beantworten, die zur Identifizierung des Anrufers führen könnten. Ihm wird darauf hin gemäß § 70 Abs. 1 StPO ein Ordnungsgeld mit der Begründung auferlegt, er habe die Informationen nicht in seiner „Eigenschaft als Seelsorger“ erhalten. Der BGH18 differenziert: Auf der einen Seite erstrecke sich das Zeugnisverweigerungsrecht nicht auf Tatsachen, von denen der „Geistliche“ zwar bei Gelegenheit der Ausübung von Seelsorge erfahre, nicht aber in seiner Eigenschaft als Seelsorger. Auf der anderen Seite genüge es, dass dem „Geistlichen“ etwas „bekannt geworden“ sei, er also etwas durch eigene Beob­ach­tung wahrgenommen habe, ohne dass der andere dies

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wissen müsse. Nach Maßgabe dieser Voraussetzungen sei der Inhalt des Telefonanrufs dem Pfarrer nicht in seiner Eigenschaft als Seelsorger bekannt geworden bzw. anvertraut worden. Dem Anrufer sei es darum gegangen, dass der Pfarrer sich mit dem erlangten Wissen an die Polizei wende. Mit einer seelsorgerischen Beziehung habe das aber nichts zu tun.19 Dagegen stehe dem Pfarrer ein Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich der denkbaren weiteren Äußerungen des Anrufers und der sonstigen Umstände zu, die er während des Telefonates möglicherweise wahrgenommen habe – etwa der Klang der Stimme und/oder Mundart des Anrufers. Letzteres sei dem Pfarrer ggf. zumindest auch in seiner Eigenschaft als Seelsorger bekannt geworden.20 Abgesehen von den Differenzierungen zwischen „anvertraut“ sein und „bekannt“ geworden, erkennt der BGH hier (an), dass die Grenzen zwischen seelsorgerischer, fürsorgerischer und karitativer Tätigkeit fließend sind. Daraus zieht der BGH – zu Recht – einen recht mutigen Schluss: Die Frage, ob ein „Geistlicher“ etwas in seiner Eigenschaft als Seelsorger erfahren habe oder nicht, sei zwar im Wesentlichen objektiv zu beurteilen, in Zweifelsfällen müsse aber die Selbsteinschätzung des „Geistlichen“ den Ausschlag geben. Nur er könne erkennen bzw. entscheiden, ob er in Grenzfällen (auch) in seelsorgerischer Funktion tätig geworden sei.21 Ein – allerdings nur begrenztes und unter einigen weiteren Vorbehalten stehendes – Schweigerecht haben auch die Gehilfen des „Geistlichen“. Diese sog. „Berufshelfer“ befinden sich insoweit in einer ambivalenten, für sie im Einzelfall möglicherweise prekären Rolle: Obwohl sie gemäß § 53a Abs. 1 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht in Bezug auf begangene Taten haben, müssen sie – anders als der „Geistliche“, dem sie helfen  – ihnen bekannt werdende drohende Verbrechen uneingeschränkt offenbaren, weil § 139 StGB die Helfer der „Geistlichen“ nicht privilegiert.22 Das kann zu Konflikten führen, wenn ein Helfer von einem drohenden Verbrechen erfährt und nun offenbaren muss, was der „Geistliche“ verschweigen darf, und entsprechend seiner kirchenrechtlichen Pflicht grundsätzlich auch muss. Die ratio des prozessualen Schweigerechts des Helfers nach § 53a StPO liegt auf der Hand: Es soll verhindert werden, dass das Zeugnisverweigerungsrecht des „Geistlichen“ durch Vernehmung seiner Hilfsperson umgangen wird. Dass umgekehrt das Privileg des § 139 Abs. 2 StGB so eng wie möglich gefasst wird, liegt in Ansehung des Opferschutzes, der durch diese Vorschrift tendenziell gravierend unterminiert wird, ebenfalls auf der Hand.

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Wer aber ist nun „Gehilfe“ eines „Geistlichen“ bei der Seelsorge? Das Gesetz (§ 53a StPO) scheint eindeutig: Den „Geistlichen“ in ihrer Eigenschaft als Seelsorger stehen in Bezug auf das Zeugnisverweigerungsrecht ihre Gehilfen gleich. Daraus folgt: Wer selbständig Seelsorge betreibt, kann nicht Gehilfe sein. Ins Praktische gewendet: Ein Seelsorger, der nicht „Geistlicher“ ist, und keinem „Geistlichen“ bei dessen seelsorgerischer Tätigkeit hilft, hat kein Zeugnisverweigerungsrecht. Aber damit bleibt natürlich die Frage, welchen Handlungsspielraum das Gesetz dem nicht-geistlichen Seelsorger lässt. Reicht schon die allgemeine Aufsicht eines „Geistlichen“ aus, um aus einem an sich selbständig arbeitenden (Laien‑)Seelsorger einen „Gehilfen“ zu machen oder geht es – was die diametral entgegengesetzte Position wäre – allein um untergeordnete, gleichsam Handlangerdienste einer Person, die einem „Geistlichen“ bei dessen seelsorgerischen Bemühungen zuarbeitet? Die Antwort fällt nicht leicht: Der sog. „Berufshelfer“ i. S. des § 53a StPO ist nicht nur, wenn es um Gehilfen eines „Geistlichen“ geht, sondern auch in Bezug auf andere Berufsgruppen eine schillernde Figur; d. h. bei Hilfspersonen von Anwälten, Ärzten oder Psychotherapeuten, Apothekern oder Hebammen, um nur einige zeugnisverweigerungsberechtigte Berufsgruppen und deren Gehilfen zu nennen. Für die Eingrenzung des „Berufshelfers“ scheint es eigene Regeln für jede einzelne Berufsgruppe zu geben.23 Was den Helfer des „Geistlichen“ angeht, so ist unstreitig nur, dass „Gehilfe“ i. S. von § 53a StPO nicht ist, wem die seelsorgerische Tätigkeit zur selbständigen Wahrnehmung übertragen wurde. Ein vom LG Hamburg entschiedener Fall mag das illustrieren: In einem „Kirchenkeller“, der in der Gemeinde als Jugendtreffpunkt dient, ist es zu einer Schlägerei gekommen. Der Aufsicht führende „Hilfsdiakon“, der Zeuge des Geschehens gewesen ist, macht im Ermittlungsverfahren unter Berufung auf § 53a Abs.  1 StPO keine Aussage. Das Landgericht versagt ihm ein Zeugnisverweigerungsrecht mit der Begründung, er sei nicht „Gehilfe“ des Gemeindepastors gewesen, da die Aufsicht im „Kirchenkeller“ keine seelsorgerische Funktion habe; abgesehen davon sei ihm die Tätigkeit zur selbständigen Wahrnehmung übertragen worden, er sei demnach nicht als irgendwessen „Gehilfe“ tätig gewesen.24 Damit steht aber nur fest, dass sich ein „Gehilfe“, will er letztlich von der Regelung des § 53a Abs. 1 StPO profitieren, bei seiner Tätigkeit in irgendeiner Form auf den „Geistlichen“ beziehen, genauer: unter dessen

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Aufsicht bzw. Einfluss stehen muss. Wie sich dieser Einfluss nach außen hin zu manifestieren hat, ist ungeklärt. Ob also z. B. schon Formulare ausreichen, aus denen sich ergibt, dass ein Seelsorger ohne GeistlichenStatus bei einer Seelsorge im Auftrag eines „Geistlichen“ tätig wird und diesen bei Bedarf jederzeit einschalten kann und wird, ist im Ergebnis zweifelhaft. Daraus folgte für die Notfallbetreuung: Ein Nicht‑Geistlicher, der an einem Unfallort seelsorgerisch/psychologisch tätig wird, ohne dabei einem „Geistlichen“, der ebenfalls an Ort und Stelle ist, zuzuarbeiten, sollte den Adressaten seiner Hilfe daher vorsorglich darüber aufklären, dass ihm als bloßem Helfer möglicherweise kein Zeugnisverweigerungsrecht zustehe; dies natürlich nur, wenn die Umstände Veranlassung zu einem solchen Hinweis geben.25 Die gegenwärtige Fassung der §§ 53 Abs. 1 Nr. 1; 53a Abs. 1 StPO dürfte keine andere Herangehensweise zulassen. Eine davon getrennt zu behandelnde Frage ist, ob nicht Notfall‑Unfall‑Katastrophenhelfer mit einer extra‑ bzw. überkonfessionellen Ausrichtung, wenn sie sich auf der Grundlage etwa einer psychologischen Ausbildung als nicht religiöse Seelsorger betätigen, nicht de lege ferenda auch mit einem begrenzten prozessualen Schweigerecht ausgestattet werden sollten. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass nicht schon jetzt der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) gebietet, nicht religiös gebundene Notfallhelfer, soweit sie im weiteren Sinn seelsorgerisch (psychologisch) tätig werden, als analog zu § 53 Abs. 1 StPO mit einem Schweigerecht ausgestattet zu sehen. Das läge jedenfalls im Sinne einer möglichst breitgefächerten psychologischen Notfallhilfe, z. B. wenn es um Opfer geht, die sich nur oder lieber einem weltanschaulich neutralen Helfer anvertrauen wollen. 3 Fazit

Was bleibt für die Praxis der seelsorgerischen Notfallhilfe: Ob ein zeugnisverweigerungsberechtigter „Geistlicher“ von seinem Weigerungsrecht Gebrauch macht, obliegt ausschließlich seiner Gewissensentscheidung.26 Eine strafbewehrte Schweigepflicht, wie sie § 203 StGB für andere geheimnisträchtige Berufsgruppen –  etwa Ärzte, Rechtsanwälte, Notare oder Psychologen – verfügt, gibt es für „Geistliche“ nicht. Das Zeugnisverweigerungsrecht des „Gehilfen“ nach § 53a Abs. 1 StPO ist – wie dargestellt – kein selbständiges, sondern nur ein vom Hauptgeheimnisträger abgeleitetes Recht.27 Daher sollte ein „Helfer“ immer dann äußerst sensibel mit seelsorgerischer Tätigkeit umgehen, wenn

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dabei strafprozessual relevante Informationen anfallen könnten. Die Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts ist in einem solchen Fall nämlich dem „Geistlichen“ und nicht etwa dem Zeugen selbst, also dem „Helfer“ vorbehalten. Will der „Geistliche“ aussagen, sind auch seine Hilfskräfte zur Aussage verpflichtet. Weigert sich die Hilfsperson in einem solchen Fall auszusagen, sind die Beugemittel des Ordnungsgeldes und der Ordnungshaft (§ 70 Abs. 1 StPO) gegen sie grundsätzlich anwendbar.28 Aus eigener Verantwortung können die Hilfspersonen nur dann entscheiden, wenn die Entscheidung des „Geistlichen“ nicht oder jedenfalls nicht in absehbarer Zeit herbeigeführt werden kann, z. B. wenn der „Geistliche“ verstorben, erkrankt oder dauerhaft abwesend ist29 oder der Hilfsperson die eigene Entscheidung anheim gestellt wird. Der „Geistliche“, der einen Gehilfen eingesetzt hat, muss die Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts allerdings nicht einheitlich treffen. Er kann z. B. selbst aussagen, aber seinem Gehilfen die Aussage untersagen, etwa dann, wenn der „Geistliche“ erwartet, dass die Hilfsperson den Vorgang nicht zutreffend wird darstellen können. Umgekehrt kann der „Geistliche“ selbst das Zeugnis verweigern und seine Hilfsperson anweisen, eine Aussage zu machen.30 Beruft sich der „Geistliche“ auf das Zeugnisverweigerungsrecht, kann das Gericht nur prüfen, ob ein Weigerungsrecht besteht; nicht aber, ob die Entscheidung des Zeugen „richtig“ war.31 Umgekehrt, d. h., wenn der „Geistliche“ aussagen will, hat das Gericht nicht zu prüfen, ob der „Geistliche“ gegen eine Verschwiegenheitspflicht verstößt, die das interne Recht seiner Kirche ihm möglicherweise auferlegt.32 Der „Geistliche“ kann als Zeuge von seinem Weigerungsrecht auch nur partiell Gebrauch machen, d. h. nur einen Teil der ihm anvertrauten oder bekanntgewordenen Informationen preisgeben.33 D. h.: Die Entscheidung des „Geistlichen“ ist autark. Das ergibt sich aus einem Umkehrschluss aus § 53 Abs. 2 StPO. Nach dieser Regelung können Verteidiger, Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Ärzte und andere in § 53 Abs. 1 Nr. 2 bis 3b StPO genannte Berufsträger von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit seitens der Personen entbunden werden, deren Schutz sie dient. „Geistliche“ sind hier nicht genannt. Folglich ist, was immer die seelsorgerisch betreute Person auch wünscht, für den „Geistlichen“ – strafprozessual – ohne Belang. Der zur Zeugnisverweigerung berechtigte „Geistliche“ kann auch dann, wenn er zunächst auf sein Weigerungsrecht verzichtet hat und aussagt, den Verzicht noch während seiner Vernehmung entsprechend § 52 Abs. 3 S. 2 StPO widerrufen. Seine Vernehmung darf dann nicht

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fortgesetzt werden. Der Widerruf hat allerdings keine Rückwirkung, d. h. das vorher Bekundete bleibt für das Gericht verwertbar.34 Die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, wird durch die Regelungen der §§ 53 Abs. 1 Nr. 1, 53a Abs. 1 StPO nicht berührt.35 Liegen die Voraussetzungen des § 53 StPO vor, kann lediglich das Zeugnis nicht mit den Mitteln des Ordnungsgeldes und/oder der Ordnungshaft erzwungen werden. Ebenso dürfen Schriftstücke und Aufzeichnungen, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der „Geistlichen“ bezieht, nicht beschlagnahmt werden. Derartige Notizen oder Aufzeichnungen müssen auch nicht an die Polizei oder die Staatsanwaltschaft herausgegeben werden. Das Zeugnisverweigerungsrecht besteht fort, wenn derjenige, dessen Vertrauen zum „Geistlichen“ geschützt wird, gestorben ist; es erlischt auch dann nicht, wenn der Zeuge nicht mehr seelsorgerisch tätig ist. Da die in § 53 StPO genannten Berufsträger ihre Berufsrechte und ‑pflichten im Allgemeinen kennen bzw. kennen sollten, muss das Gericht sie zwar nach h. M. nicht über ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO belehren, wird dies aber regelmäßig tun. Nicht völlig auszuschließen ist, dass zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und dem Geistlichen‑Zeugen, der sich im Übrigen eines Anwaltes als Zeugenbeistand (vgl. § 68b StPO) versichern kann, Streit darüber entsteht, ob die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO vorliegen oder nicht. Da in Zweifelsfällen die interne Sicht des „Geistlichen“ entscheidet (s. oben), dürfte es so gut wie ausgeschlossen sein, dass ein „Geistlicher“ gemäß § 56 StPO seinen Weigerungsgrund durch eine – strafbewehrte – eidliche Versicherung (vgl. § 156 StGB) glaubhaft machen muss. Was die konkrete Äußerung angeht, mit der ein „Geistlicher“ von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, reicht der schlichte Hinweis auf den Geistlichen-Status, die seelsorgerische Tätigkeit und das daraus folgende, in § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO normierte Recht. Alles andere wäre möglicherweise schon eine (Zeugen‑)Aussage. Soweit ein „Geistlicher“ aussagen will – etwa weil ein von ihm ehemals seelsorgerisch betreuter Beschuldigter dies ausdrücklich (etwa zu seiner Entlastung) wünscht –, oder aber der „Geistliche“ seine Zeugenpflicht erfüllen muss, weil seine Wahrnehmung nicht mit seelsorgerischer Tätigkeit zusammenhing, steht die konkrete Vernehmung als Zeuge, wenn es um Angehörige der öffentlichen „Staats‑Kirchen“ geht, immer noch unter dem zusätzlichen Vorbehalt, dass sie vom Dienstherrn des „Geistlichen“ genehmigt ist. Das folgt aus § 54 Abs. 1 StPO i. V.

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mit den einschlägigen kirchen- bzw. beamtenrechtlichen Vorschriften. Danach darf die Aussagegenehmigung verweigert werden, wenn die Aussage die Erfüllung der kirchlichen Aufgaben ersichtlich gefährden oder erheblich erschweren würde. Eine solcherart verweigerte Genehmigung i. S. des § 54 Abs.1 StPO bereitet den übrigen Prozessbeteiligten erfahrungsgemäß erhebliche Probleme und wirkt in der Regel genauso, wie ein ausgeübtes Zeugnisverweigerungsrecht. Gericht und Staatsanwaltschaft können die Versagung der Genehmigung nur mit den recht stumpfen Waffen der Gegenvorstellung bzw. der Dienstaufsichtsbeschwerde angreifen. Andere Verfahrensbeteiligte – etwa der Nebenkläger – müssen das Verwaltungsgericht anrufen; auch das ist keine sonderlich attraktive, d. h. in absehbarer Zeit erfolgversprechende Option. Wird die Genehmigung versagt, ist die Vernehmung verboten, was immer das Gericht von der Versagung hält. Prof. Dr. iur. Klaus Bernsmann Anmerkungen 1

Aktualisierte Fassung eines Vortrags, den der Verf. am 4. Februar 2004 anlässlich einer Fortbildungsreihe für „Notfallseelsorger“ an der Ruhr-Universität Bochum gehalten hat. 2 „Angehörige“ sind gem. § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB Verwandte und Verschwägerte gerader Linie, der Ehegatte, der Lebenspartner, der Verlobte, auch im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner der Geschwister, Geschwister der Ehegatten oder Lebenspartner, und zwar auch dann, wenn die Ehe oder die Lebenspartnerschaft, welche die Beziehung begründet hat, nicht mehr besteht oder wenn die Verwandtschaft oder Schwägerschaft erloschen ist; des Weiteren Pflegeeltern und Pflegekinder. 3 Vgl. § 139 Abs. 3 StGB: „(…) Unter denselben Voraussetzungen ist ein Rechtsanwalt, Verteidiger, Arzt, Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder‑ oder Jugendpsychotherapeut nicht verpflichtet anzuzeigen, was ihm in dieser Eigenschaft anvertraut worden ist. Die berufsmäßigen Gehilfen der (…) genannten Personen und die Personen, die bei diesen zur Vorbereitung auf den Beruf tätig sind, sind nicht verpflichtet mitzuteilen, was ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft bekannt geworden ist.“ 4 Da Geistliche auch keine Garanten für die Rechtsgüter Dritter sind (vgl. § 13 StGB), kommt Beihilfe (§ 27 StGB) durch Unterlassen zu den laufenden Delikten ebenso wenig in Betracht wie eine nachträgliche, jeweils durch Unterlassen begangene Strafvereitelung (§ 258 StGB) bzw. Begünstigung (§ 257 StGB). 5 Vgl. Begr. zum 3. StrÄndG, BT-Drucks 1/1307, S. 46. 6 Zu den Besonderheiten, die gem. § 53a StPO für den „Gehilfen“ des „Geistlichen“ gelten vgl. unten. 7 Zum Verhältnis des Schweigerechts nach § 53 Abs. 1 StPO zur kirchenrechtlichen Verschwiegenheitspflicht vgl. Radtke, ZevKR 2007, 617, 630 f.; zu Sank-

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tionen beim Bruch des Beichtgeheimnisses nach evangelischem und katholischem Kirchenrecht vgl. Winter, KuR 2000, 79. 8 BGH NStZ 2010, 646 ff. 9 Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 53 Rn 12; Ignor/Bertheau, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2008, § 53 Rn 21 f.; Senge, in: Karlsruher-Kommentar, StPO, 6. Aufl. 2008, § 53 Rn 11. 10 BGH NStZ 2010, 646 ff. 11 BGH aaO, 646, 647. 12 Vgl. Bernsmann/Rausch, KuR 2004, 153 ff. 13 BGHSt 51, 140, 142. 14 BGH NStZ 2010, 646, 648; BGHSt 51, 140; zu nicht‑religiös fundiertem psychischem Beistand bei Unglücksfällen vgl. unten. 15 Vgl. dazu Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 139 Rn 4; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 139 Rn 2; Hohmann, in: Münchener Kommentar, StGB, 2005, § 139 Rn 6, 10. 16 Vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011, § 53 Rn 7, 9, 12; Ignor/Bertheau, aaO, § 53 Rn 17, 19 ff.; Senge, aaO, § 53 Rn 12. 17 BGH NStZ 1990, 601. 18 BGH aaO. 19 Dieses (Zwischen‑) Ergebnis ist selbstverständlich; geht es um karitative, fürsorgliche, erzieherische oder verwaltende Tätigkeit des „Geistlichen“ oder wird er – wie im obigen Fall – nur als Verbindungsmann eingeschaltet, oder geht es z. B. in einem Entführungsfall darum, zwischen den Entführern und Erpressungsopfern bzw. der Polizei zu vermitteln, hat das mit der Seelsorge – natürlich – nichts zu tun. 20 Nach BGH NStZ 1990, 601, 602 soll dies daran ablesbar sein, dass der Anrufer sich vergewissert habe, dass er tatsächlich mit dem Pfarrer spreche. Das lege nahe, dass er sich auch deswegen an einen Pfarrer gewendet habe, um sein Gewissen zu erleichtern. 21 BGH NStZ 1990, 601, 602: Hier zeigt sich im Übrigen, welchen Respekt Geistliche in der höchstrichterlichen Rechtsprechung genießen – dass die Selbsteinschätzung eines Zeugen über seine Rechte und Pflichten entscheidet, ist dem Prozessrecht ansonsten fremd! 22 § 139 Abs. 3 S. 3 StGB umfasst lediglich die Berufshelfer der in Satz 2 Genannten. 23 Vgl. zum Ganzen: Ignor/Bertheau, aaO, § 53a StPO Rn 2 ff.; Rogall, in: SKStPO, 2004, § 53a StPO Rn 14 ff. 24 Fall geschildert bei Stromberg, MDR 1974, 892 ff. 25 Ob der Helfer dann noch hinzufügt, er werde gleichwohl in jedem Fall schweigen, muss er mit seinem Gewissen ausmachen. 26 Ignor/Bertheau, aaO, § 53 StPO Rn 20. 27 H.M.; BGH NJW 1956, 599. 28 Das Ordnungsgeld kann in einer Höhe von 5–1000 € festgesetzt werden, die Ordnungshaft kann eine Dauer von 1–42 Tagen betragen (vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 70 Rn 10 f.), ob es zu solchen Maßnahmen eines Gerichts kommt, dürfte von der Tat und dem Aufklärungspotential des schweigenden Zeugen abhängen. 29 Meyer-Goßner, aaO, § 53a Rn 7. 30 Meyer-Goßner, aaO, § 53a Rn 8; Senge, aaO, § 53a StPO Rn 7; Paulus, in: KMRStPO, § 53a StPO Rn 8.

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Notfallseelsorge durch ‚Geistliche’ aus strafrechtlicher Sicht 31

Senge, aaO, § 53 StPO Rn 12. Ignor/Bertheau, aaO, § 53 Rn 20. 33 Senge, aaO, § 53 Rn.7. 34 Rogall, in: SK-StPO, Stand: 2007, § 53a Rn 34 unter Verweis auf § 53 Rn 190. 35 Ignor/Bertheau, aaO, § 53 Rn 2. 32

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15. Jura Der Sensation entfliehen. Rechtliche Grundlagen des Umgangs mit den Medien in Krisensituationen 1. Opferschutz

Generell muss sich niemand gefallen lassen, dass über einen Unfall oder eine Notlage so berichtet wird, dass er als Opfer von seiner Umwelt erkannt werden kann („identfizierende“ Berichterstattung). Ein solcher Bericht stellt einen Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht dar, der Unterlassungsansprüche auslöst. Bei schweren Eingriffen kommt daneben auch ein Schmerzensgeldanspruch in Betracht. Menschen, die Opfer eines Unfalls oder einer Straftat werden oder auf andere Weise in Not geraten, sind also rechtlich umfassend dagegen geschützt, ungewollt zum Objekt öffentlicher Neugier zu werden. Der Schutz entfällt allerdings, soweit sie ihre Situation einem Journalisten selbst offenbart haben. Wer Fragen eines Journalisten zu seiner Person, seiner Lage oder den Umständen, die ihn in die Notfallsituation gebracht haben, beantwortet, kann sich in der Regel nicht mehr dagegen wehren, dass dieser die Informationen journalistisch verwertet. Denn dass jemand einem Journalisten freiwillig Auskunft gegeben hat, wird in der Regel als „konkludente“ Einwilligung mit der Veröffentlichung interpretiert – selbst wenn ihm dies nicht bewusst ist. Das gilt allerdings nicht, wenn sich der Betroffene nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte oder in einer seelischen Extremsituation befindet. Zur Notfallseelsorge gehört deshalb meines Erachtens, dass der Seelsorger seinen Klienten rät, bei Gesprächen mit Journalisten nichts von sich preiszugeben, was nicht in die Öffentlichkeit gelangen soll. Die Beratung und Betreuung von Unfallopfern, den Opfern von Straftaten und anderen Hilfsbedürftigen bedarf der Vertraulichkeit. Wer sich in einer solchen Situation einem Seelsorger oder sonstigen Berater anvertraut, muss sicher sein können, dass dieser Umstand und das, was er von sich preisgibt, nicht ohne sein Einverständnis öffentlich bekannt wird. Dieses Bedürfnis ist rechtlich geschützt.

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Rechtliche Grundlagen des Umgangs mit den Medien in Krisensituationen

So machen sich Angehörige des öffentlichen Dienstes, Berufspsychologen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Berater anerkannter Beratungsstellen strafbar, wenn sie solche Informationen unbefugt offenbaren (§ 203 Strafgesetzbuch [StGB]: Verletzung von Privatgeheimnissen). Andere Personen, die den Inhalt von Beratungsgesprächen bekannt geben, begehen zwar keine Straftat. Auch sie verletzen aber ihre Schutzpflicht und können von ihrem Klienten wegen eines rechtswidrigen Eingriffs in sein Persönlichkeitsrecht zivilrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Der Betroffene kann verlangen, dass die Weitergabe und Veröffentlichung künftig unterbleibt. Außerdem kann er ein „Schmerzensgeld“ beanspruchen, soweit die Mitteilung nicht nur Belanglosigkeiten enthalten hat. Strafbarkeit und zivilrechtliche Haftung entfallen, wenn der Klient den Berater von seiner Schweigepflicht entbunden hat. Wer das Gespräch eines Seelsorgers mit seinen Klienten unbefugt auf einen Tonträger aufnimmt oder eine solche Aufnahme weitergibt oder benutzt, kann gemäß § 201 StGB wegen einer „Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes“ bestraft werden. Dementsprechend kann auch ein Journalist bestraft werden, der ein solches Gespräch aufnimmt oder für die Berichterstattung nutzt. Gerechtfertigt ist die Verwendung nur im Ausnahmefall, wenn die Verbreitung der „Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen“ dient. Dies wird bei Beratungsgesprächen im Rahmen der Notfallseelsorge in aller Regel nicht der Fall sein. Die unbefugte Aufnahme, Weitergabe oder Benutzung verletzt das Persönlichkeitsrecht aller Gesprächspartner. Jeder von ihnen kann deshalb bei einem Verstoß Unterlassung und in der Regel auch Schmerzensgeld verlangen. Fotos von Unfallopfern oder Hilfsbedürftigen dürfen ohne deren Ein­willigung nicht veröffentlicht werden. Der Eingriff in ihr Recht am eigenen Bild ist strafbar (§ 33 Kunsturhebergesetz - KUG). Er löst darüber hinaus - selbst bei „harmlosen“ Fotos - Unterlassungsansprüche aus. Werden die Abgebildeten in einer für sie peinlichen Situation gezeigt, steht ihnen darüber hinaus ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu. 2. Allgemeine Medienauskünfte

Keine rechtlichen Bedenken bestehen dagegen, den Medien allgemeine Auskünfte zur Notfallseelsorge und der eigenen Tätigkeit zu erteilen. Das kann auch anhand konkreter Beispiele geschehen, soweit keine Angaben gemacht werden, die eine Identifizierung der Betroffenen ermöglichen. Behördenvertreter und Mitarbeiter von öffentlich-rechtlichen

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Jura

Trägern der Daseinsvorsorge sind zu solchen Auskünften nach den Landespressegesetzen sogar verpflichtet. Doch auch Einrichtungen, die nicht zur Auskunft verpflichtet sind, sollten nicht auf eine aktive Öffentlichkeitsarbeit verzichten. Ein positives öffentliches Erscheinungsbild hilft bei der Beschaffung von Ressourcen. Das gilt für die Gewinnung von Mitarbeiterinnnen und Mitarbeitern in gleicher Weise wie für die Unterstützung der Arbeit durch öffentliche Mittel und Spenden.

3. Abwehr rechtswidriger Berichterstattung

3.1 Unwahre Tatsachenbehauptungen 

Gegen die Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen können sich die Betroffenen zur Wehr setzen. Das gilt sowohl für Einzelpersonen, also Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Notfallseelsorge, wie auch für juristische Personen, also Unternehmen, Vereine oder Verbände, die in der Notfallseelsorge tätig sind. Jeder Betroffene kann Strafantrag wegen übler Nachrede (§ 186 StGB) stellen, wenn durch die Verbreitung einer unwahren Behauptung seine Ehre verletzt, d. h. seine soziale Wertschätzung beeinträchtigt wird. Zudem hat er zivilrechtliche Ansprüche: Er kann verlangen, dass • der Autor und die Zeitung bzw. der Sender die Behauptung künftig nicht wiederholen, • das Blatt oder der Sender die Falschbehauptung richtigstellt, • Autor und Medium ihm einen eventuell erlittenen Vermögensschaden ersetzen und • ihm ein angemessenes Schmerzensgeld zahlen. Dieselben zivilrechtlichen Ansprüche stehen ihm zu, wenn die Behauptung zwar nicht ehrenrührig ist, aber ein falsches Licht auf seine Persönlichkeit wirft oder seinen Geschäften bzw. seinem beruflichen Fortkommen schadet. Hat ein Blatt oder ein Sender eine unwahre Tatsachenbehauptung veröffentlicht, kann der Betroffene außerdem verlangen, dass das Medium alsbald (in der nächsten Ausgabe) eine Gegendarstellung von ihm veröffentlicht. Der Sinn der Gegendarstellung besteht darin, die Adressaten des Mediums schnell darüber zu informieren, dass der Betroffene die Richtigkeit der verbreiteten Äußerung bestreitet. Gegendarstellungsfähig sind nur Tatsachenbehauptungen, keine Werturteile, wie sie zum Beispiel in Kommentaren vorkommen. Die Gegendarstellung muss sich auf die notwendigen Angaben beschränken. Beide Bedingungen sind

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Rechtliche Grundlagen des Umgangs mit den Medien in Krisensituationen

nicht leicht zu erfüllen. Wer eine Gegendarstellung durchsetzen will, sollte sich deshalb der Hilfe eines im Gegendarstellungsrecht versierten Anwalts bedienen. Die Verbreitung wahrer Tatsachenbehauptungen können die Betroffenen hingegen im Allgemeinen nicht verhindern. Ausnahmen gelten für den individuellen Opferschutz (s. o.). Die Verbreitung von Informationen aus der Privatsphäre der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Notfallseelsorge ist ebenfalls unzulässig, soweit die Allgemeinheit nicht ausnahmsweise ein berechtigtes Interesse daran hat, die entsprechenden Informationen zu erhalten. Ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit kann entstehen, wenn es darum geht, Fehlverhalten, Defizite oder Missstände aufzudecken.

3.2  Wahre Tatsachenbehauptungen 

Gegen eine negative Bewertung seines Verhaltens oder seiner Person kann sich der Betroffene in der Regel nicht zur Wehr setzen. Diese ist in weitem Umfang durch das Recht der Meinungsäußerung geschützt. Das gilt auch für drastische, überzogene oder polemische Aussagen. Die Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit werden erst überschritten, wenn der Betroffene ohne hinreichenden Grund an den öffentlichen Pranger gestellt wird oder die Außerung eine Beschimpfung darstellt, die keinen hinreichenden Sachbezug hat („Schmähkritik“).

3.3  Negative Werturteile 

Prof. Dr. Udo Branahl

Literatur Udo Branahl, Medienrecht, 6.

Aufl. Wiesbaden 2009.

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16. Jura Gewalt in der Schule Ergebnisse der Bochumer Studie 1. Einleitung

Gewalt in der Schule ist ein Thema, das seit vielen Jahren nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Wissenschaft und Praxis beschäftigt. In regelmäßigen Abständen sorgen spektakuläre Einzelfälle dafür, dass sich die Medien in Berichterstattung und Analyse gegenseitig überbieten. In der Öffentlichkeit wird durch Berichte über solche Einzelfälle der Eindruck erweckt, dass massive Gewalt und eine erhöhte Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen mittlerweile zum Alltag vieler Schüler gehört. So konnten Baier u. a. (2009) in einer Repräsentativbefragung zeigen, dass über zwei Drittel der Befragten davon ausgehen, dass die Häufigkeit von Straftaten durch Jugendliche in den letzten zehn Jahren zugenommen hat. Mehr als die Hälfte der Befragten ging davon aus, dass Köperverletzungen durch Jugendliche „viel häufiger geworden“ sind. Eine oberflächliche Auseinandersetzung mit den Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) scheint diesen Anstieg in der „gefühlten Gewalt“ zunächst zu bestätigen. So sind die Tatverdächtigenbelastungszahlen (Taten auf jew. 100.000 einer Altersgruppe) für Gewaltdelikte von Kindern (unter 14 Jahren), Jugendlichen (14–17 Jährige) und jungen Heranwachsenden (18–21 Jahre) seit 1993 stetig gestiegen. In der kriminologischen Forschung werden solche Zahlen aber unter Hinweis auf das Dunkelfeld und ein gestiegenes Anzeigeverhalten in der Bevölkerung zurückhaltend interpretiert. Insgesamt ist die Bereitschaft, ein erlebtes Gewaltdelikt zur Anzeige zu bringen, gestiegen während die Bereitschaft, sich selbst aktiv im Rahmen der nachbarschaftlichen Sozialkontrolle zu beteiligen, gesunken ist. So täuschen die Trends des Hellfeldes über geringe Ausgangswerte hinweg und stehen im Widerspruch zur tendenziell stetig sinkenden Zahl sog. „Raufunfälle“ in Schulen, die nach Angaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherungen zwischen 1995 und 2007 um mehr als 20 % gesunken sind. In der Betrach-

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Gewalt in der Schule – Ergebnisse der Bochumer Studie

tung der Entwicklung zwischen 1993 und 2009 zeigt sich eine sinkende, an manchen Schulen zumindest gleichbleibende, Anzahl an Raufunfällen. Die Anzahl der erfassten Frakturen bei Raufunfällen an Schulen befindet sich seit Jahren auf einem ziemlich gleichbleibenden Niveau. Entlang dieser Statistik wird kein Anstieg der Jugendgewalt sichtbar und auch für die vielfach vorgebrachte Brutalisierung finden sich keine Anzeichen. Vor allem aber verflüchtigt sich der soziale Zusammenhang in der Gesellschaft immer mehr, und das, was Kriminologen „social cohesion“ nennen (also die Bereitschaft, sich für andere einzusetzen und zu engagieren), geht zurück. Beides sind aber wesentliche Faktoren, die Kriminalität positiv oder negativ beeinflussen. Generell ist in der Erwachsenengesellschaft die Akzeptanz von Gewalt geringer geworden – vor allem dann, wenn sie von jungen Menschen ausgeht. Umgekehrt ist ein Anstieg in der Bereitschaft jungen Menschen zu erkennen, Gewalt zur Erreichung bestimmter Zwecke (z. B. einer Teilhabe an der Konsumgesellschaft) oder auch – nach unserer Wahrnehmung – „sinnlos“ anzuwenden. Die Unruhen im August 2011 in England machten deutlich, dass am erschreckendsten für die Bevölkerung nicht war, dass Unruhestifter gegen etwas protestieren, sondern dass sie entweder gegen nichts protestieren oder gegen alles. Ein britischer Sozialanthropologe hat dies so formuliert: „Indem die Jugendlichen vor allem Geschäfte für Sportkleidung und Unterhaltungselektronik zu ihrem Ziel erklärt haben und aus Kiosken Schnaps und Zigaretten haben mitgehen lassen, demonstrieren sie zu gleichen Teilen hohlen Materialismus wie profunde Fantasielosigkeit. Anders als die jungen Leute, die jüngst gegen die Erhöhung der Studiengebühren protestiert haben, sehen sie nicht die Möglichkeiten, die ihnen versagt bleiben. Sie sehen gar keine Möglichkeiten außer Chaos“ (Holloway 2011). Nur selten wird bei uns auf die Angst der Jugend im Allgemeinen und der Unterklassenjugend im Besonderen aufmerksam gemacht. Diese Angst ist in England ausgeufert, und ob dies bei uns tatsächlich nicht geschehen kann, wie Politiker und Wissenschaftler unisono nach den Ereignissen betonten, mag man bezweifeln. Dennoch ist es offenkundig, dass ein vollkommen gewaltfreies Umfeld weder in der Schule, noch andernorts denkbar ist. So ergab die Studie von Baier u. a. (2009) auch, dass ca. jeder sechste Jugendliche in den letzten 12 Monaten mindestens einmal Opfer von Gewalt wurde. Unter Berücksichtigung von direkten Gewalterfahrungen (in Familie, Freizeit und Schule) und indirekten Gewalterfahrungen (z. B. durch die Rezep-

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Jura

tion gewalthaltiger Medien) muss von einem Anstieg der Gewaltbelastung von Jugendlichen insgesamt ausgegangen werden. Daher sind die zahlreichen Gewaltpräventionsprogramme zu begrüßen, die seit vielen Jahren an Schulen durchgeführt werden. Nur wenn Kinder und Jugendliche möglichst früh lernen, mit Gewalt konstruktiv umzugehen, können Eskalationen oder Verfestigungen gewaltbereiten Handelns wirksam vermieden werden. 2. Die Bochumer Studie

2003 wurde am Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum mit einer Studie begonnen, die auf die Untersuchung der tatsächlich Gewalt- und Kriminalitätsbelastung von Jugendlichen abzielte und zugleich die Wirksamkeit eines Gewaltpräventionsprogramms der Bochumer Polizei überprüfen sollte (Feltes/Goldberg 2009; dort finden sich auch weitere Informationen zum Untersuchungsdesign sowie zu den Inhalten des Präventionsprojektes). Im Folgenden werden einige Ergebnisse aus dieser Studie, in der über 4.000 Schüler befragt wurden, vorgestellt, da sie einen relativ ernüchternden Blick auf die alltägliche Gewalt an Schulen ermöglichen. Verbindet man diese Ergebnisse mit anderenorts gefundenen Zahlen zur Gewalt (auch sexuellen) in der Familie, dann wird deutlich, dass Gewalthandeln und Gewalterleben inzwischen zum Alltag vieler jungen Menschen gehören. 3.  Eigene Gewalterfahrungen

Wir fragten u. a. nach Ereignissen, die die Schüler selbst an der eigenen Schule oder in der Freizeit beobachtet haben (Zuschauer), nach Taten, die sie selbst in der Schule oder Freizeit begangen haben (Täter) und nach Taten, die in der Schule oder Freizeit an ihnen begangen wurden (Opfer). Aus Abbildung 1 wird deutlich, dass das Erleben von Gewalt in den verschiedensten Formen zum Alltag vieler Schüler gehört. Zwei Drittel der Schüler gaben an, im vergangenen Jahr von jemandem „ernsthaft beschimpft, beleidigt oder angemacht“ worden zu sein (Beleidigung), und fast jeder zweite Schüler wurde schon Opfer einer „Spaßkloppe“, die er selbst nicht angefangen hatte. Diese Ergebnisse stimmen weitgehend mit den Befunden aus anderen Untersuchungen überein. Auch „schlimmere“ Formen von Gewalt kommen vor: 10 % der Schüler wurden nach eigenen Angaben schon einmal gezwungen, etwas zu

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Gewalt in der Schule – Ergebnisse der Bochumer Studie

Abbildung 1: Viktimisierung insgesamt und differenziert nach Geschlecht

Körperverletzung

6,9 % 5,4 % 8,2 % 66,4 % 65,9 % 65,7 %

Beleidigung

Nötigung

9,9 % 8,8 % 11,0 % 8,9 % 5,8 % 11,9 %

Raub

44,0 %

in Spaßkloppe verwickelt

27,3 %

60,1 %

in Schlägerei verwickelt

Mit Waffe bedroht oder verletzt

13,7 % 7,9 % 19,6 % 5,9 % 4,1 % 7,8 % 27,2 %

sexuelle Belästigung mit Worten

40,7 %

12,8 % 14,5 %

tatsächliche sexuelle Belästigung 5,3 %

D insgesamt

23,2 %

D Mädchen



Jungen

Itemformulierung:,„Bist du in den letzten 12 Monaten selbst schon einmal in der Schule oder in der Freizeit von einem anderen Jugendlichen …“ (Antwortkategorien: „ja“ und „nein“)

tun, was sie nicht wollten (Nötigung) und 9 % berichteten, schon einmal beraubt worden zu sein. 6 % der Befragten in unserer Untersuchung gaben sogar an schon einmal mit einer Waffe bedroht oder verletzt worden zu sein. Die von Klaus Hurrelmann und Sabine Andresen durchgeführte World Vision Kinderstudie kommt zu vergleichbaren Ergebnissen. Von den fast 1.600 befragten Kindern der Altersgruppe 8 bis 11 Jahren gaben 9 % an, dass Sie „manchmal“ oder „schon oft“ bedroht oder geschlagen worden sind. 10 % gaben an, dass ihnen „manchmal“ oder „schon oft“ etwas gewaltsam weggenommen worden sei und 16 % gaben an, dass ihnen Sachen kaputt gemacht worden sind. Insgesamt haben, so die Au-

195

Jura

toren (Hurrelmann/Andresen 2007, 159) 34 % der Kinder mit gewisser Regelmäßigkeit Mobbing oder Gewalt im Alltag erlebt. Kinder aus der Unterschicht sind zudem nach dieser Studie am stärksten von Mobbing und Gewalt betroffen und Jungen dabei häufiger als Mädchen. Auffällig ist, dass es in unserer Studie bei einigen Delikten große Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen gibt. Während Beleidigungen von Befragten beider Geschlechter gleich häufig berichtet werden, werden Jungen deutlich häufiger Opfer von Rangeleien (Spaßkloppe) und Schlägereien als Mädchen und auch Raubdelikte, Bedrohungen und Verletzungen mit einer Waffe werden von doppelt so vielen Jungen wie Mädchen berichtet. Mädchen dagegen erleben nach eigenen Angaben weit mehr sexuelle Belästigungen als Jungen: Mehr als 40 % gaben an, schon einmal „mit Worten sexuell belästigt (z. B. mit ‚versauten Sprüchen’ angemacht) worden“ zu sein und fast jedes vierte Mädchen wurde schon einmal von anderen Jugendlichen „begrapscht oder betatscht“. Aus diesen Zahlen wird offensichtlich, wie wichtig es ist, den Schülern Hilfestellungen an die Hand zu geben, wie sie Viktimisierung möglichst vermeiden oder sich in Bedrohungssituationen verhalten können. 4.  Beobachtete Gewalt

Ebenso wichtig sind jedoch Programme, die sich an potentielle Helfer richten, denn Schüler werden auch relativ häufig Zeugen von Gewalt in der Schule oder der Freizeit. 80 % der Schüler beobachten nach eigenen Angaben mindestens einmal im Monat eine „Spaßkloppe“. Fast jeder dritte Schüler gab an, mindestens einmal im Monat eine „heftigere Schlägerei mit Verletzung“ gesehen zu haben. Fast jeder Vierte nimmt regelmäßig Nötigungen und Raubdelikte in seiner Umgebung wahr. Auch sexuelle Gewalt wird häufig beobachtet: Mehr als 40 % nehmen mindestens einmal monatlich sexuelle Belästigungen mit Worten wahr und fast 30 % tätliche sexuelle Belästigungen durch „begrapschen“ oder „betatschen“. 5.  Selbstberichtete Gewalt nach Herkunft

Darüber hinaus zeigte sich, dass Schüler Gewalt nicht nur beobachten oder als Opfer erleiden, sondern ebenso häufig auch selbst ausüben. Fast jeder zweite Schüler gab an, im vergangenen Jahr eine „Spaßkloppe angefangen“ zu haben. 14 % berichteten, „jemanden so geschlagen oder getreten [zu haben], dass er/sie zum Arzt gehen musste“. Über 50 % haben einen anderen beleidigt. Differenziert man nach der Herkunft der

196

Gewalt in der Schule – Ergebnisse der Bochumer Studie

Abbildung 2: Beobachtete Gewalt („Zuschauer“; mindestens einmal im Monat) 22,9 %

Raub Sachbeschädigung

46,2 %

Spaßkloppe

79,9 %

heftige Schlägerei mit Verletzung Waffe benutzt/damit gedroht

32,2 %

c::::::J

9,4 %

sexuelle Belästigung mit Worten

41,0 %

tatsächliche sexuelle Belästigung

28,5 %

D

mindestens 1 x im Monat

Auf eine getrennte Darstellung nach dem Geschlecht wurde hier verzichtet, da sich die Antworten der Mädchen und Jungen kaum voneinander unterschieden. Itemformulierung: „Welche der unten genannten Ereignisse hast du an deiner eigenen Schule oder in deiner Freizeit überhaupt schon einmal selbst gesehen, und wie häufig hast du sie in den letzten 12 Monaten selbst beobachten können?“ (sechs Antwortkategorien von „täglich“ bis „noch nie“). Zusammenfassung der Antworten zu den Kategorien „täglich“, „mehrmals pro Woche“, „etwa 1 mal pro Woche“, „etwa 1 mal im Monat“

Jugendlichen, ergeben sich nur bei den Deliktstypen Körperverletzung und Schlägerei signifikante Unterschiede. Bei den Körperverletzungen sind die türkischen Jugendlichen am stärksten als Täter vertreten: Nach eigenen Angaben hat mehr als jeder fünfte türkische Jugendliche (21,6 %) in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal „jemanden so geschlagen oder getreten, dass er/sie zum Arzt gehen musste“. Bei den Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion sind dies nur 9,0 %. Auch bei der „heftigeren Schlägerei“ sind die türkischen Jugendlichen die am stärksten vertretene Gruppe (19,3 %). Allerdings ist die Differenz zu anderen ethnischen Gruppen nicht besonders groß, denn auch die Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Südeuropa sind mit etwa 17 % verhältnismäßig stark vertreten. Bei den deutschen und jugoslawischen Jugendlichen berichtet weniger als jeder zehnte von einer Schlägerei, in die er selbst verwickelt war. Die überdurchschnittlichen Werte der türkischen Jugendlichen bei Körperverletzungen und Schlägereien sind gleichwohl teilweise durch die gegebene Ungleichverteilung auf die Schultypen bedingt (der Anteil türkischer Schüler ist in den Gymnasien sehr klein und auf Gesamtschulen sehr groß, während polnische Schüler auf Realschulen überdurchschnittlich vertreten sind).

197

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Die hier gefundenen Ergebnisse ähneln in Teilen denen anderer Studien, wo ebenfalls bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund signifikant (wenn auch teilweise sehr gering) höhere Raten bei Gewaltdelikten gefunden wurden als bei deutschen Jugendlichen). In anderen Studien wurden dagegen keine erheblichen Unterschiede zwischen deutschen und ausländischen Befragten gefunden. Regelmäßig zeigte sich (wie auch in der vorliegenden Untersuchung) eine große Abhängigkeit vom Schultyp: Die Unterschiede wurden bei einer Kontrolle des Schultyps grundsätzlich kleiner oder verschwanden sogar völlig. In vielen Studien fallen die hohen Anteile türkischer Jugendlicher im Bereich der Körperverletzungsdelikte und die niedrigen Anteile beim einfachen Diebstahl auf. Zurück geführt wird dies auf eine insbesondere bei türkischen Jugendlichen verbreitete „Kultur der Ehre“ zurück, die auf der einen Seite die körperliche Verteidigung bei Ehrangriffen erfordert, auf der anderen Seite jedoch eine hohe Achtung für das Eigentum anderer beinhalten soll. Gleichwohl sind Zweifel an einen Vergleich der verschiedenen Herkunftsgruppen angebracht. Es ist fraglich, ob Fragebögen, die nur in deutscher Sprache bereitgestellt werden, von Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, in gleicher Weise verstanden werden wie von muttersprachlichen deutschen Schülern. Zudem können Angaben zur eigenen Delinquenz überlagert werden von männlichen Inszenierungen, so dass sowohl Aufschneider als auch Untertreiber nicht auszuschließen sind. Dass die Unterschiede in unserer Studie zumindest auch das Ergebnis unterschiedlicher Ehrlichkeit beim Ausfüllen der Fragebögen oder unterschiedlicher Wahrnehmungen bzw. Definitionen der abgefragten Tatbestände sind, können wir nicht ausschließen. Die Gesamtgruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist auch viel zu heterogen, als dass sie sich für einen Vergleich mit der Gruppe der Deutschen eignen würde. Die eigenen bzw. elterlichen Erfahrungen mit Migration, Integration, Ausgrenzung, Benachteiligung usw. sind zwischen den verschiedenen Ethnien, aber auch innerhalb der einzelnen ethnischen Gruppen (z. B. je nach Aufenthaltsdauer oder Staatsangehörigkeit) unterschiedlich. 6. Täter-Opfer-Identitäten

Durch die gleichzeitige Abfrage von eigener Delinquenz und erlittenen Viktimisierungen in derselben Befragung konnte untersucht werden, inwiefern bestimmte Gruppen von Jugendlichen die Gewalt quasi „unter

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Gewalt in der Schule – Ergebnisse der Bochumer Studie

sich ausmachen“. Dabei zeigte sich, dass Täter deutlich häufiger Opfer werden als Nichttäter. Wer selbst Gewalt anwendet, hat ein deutlich höheres Viktimisierungsrisiko als ein Jugendlicher, der nicht gewalttätig ist. Die hier vorliegenden Ergebnisse stützen die Befunde aus vergleichbaren Studien, die darauf hindeuten, dass insbesondere im Bereich der Jugenddelinquenz Täter und Opfer oftmals identisch sind: „Wer heute Täter ist, kann morgen Opfer sein.“ In der Kriminologie wird dieses Phänomen mit dem Begriff der Täter-Opfer-Identität beschrieben. 7. Ursache für Gewalt

Was veranlasst die Schüler nun, Gewalt anzuwenden? Hier deutet sich in der Studie an, dass die „Ehre“ ein wesentlicher Aspekt ist. Den Jugendlichen ist nach den vorliegenden Ergebnissen die Verteidigung der eigenen „Ehre“ wichtiger als die Verteidigung nach einem tätlichen Angriff, was gleichermaßen für Jungen und Mädchen gilt: 62  % der Jugendlichen (Jungen: 67 %, Mädchen 57 %) denken, dass man „die eigene Ehre in jedem Fall verteidigen“ muss, aber nur 47 % stimmen dem Satz zu, dass man zurückschlagen soll, wenn man angegriffen wird. Auch bei der Einschätzung, welche Art der Auseinandersetzung als „besonders schlimm“ empfunden wird, zeigt sich der hohe Stellenwert der Ehre. Getreten zu werden oder eine Ohrfeige zu bekommen wiegt für viele Schüler nicht so schwer wie Hänseleien. Während etwa 40 % der Schüler Tritte oder Ohrfeigen als „besonders schlimm“ empfinden, sind dies bei den Hänseleien 54  % der Schüler. Und das Verbreiten von Lügen über einen wird von ebenso vielen Schülern als „besonders schlimm“ empfunden wie angespuckt oder geschlagen zu werden (es sind jeweils um die 70 % der Schüler). Interessant ist hier weiter, dass Mädchen und Jungen die verschiedenen Provokationen unterschiedlich einschätzen: Mädchen reagieren auf Ohrfeigen, Hänseleien und Schläge sensibler als Jungen, während Jungen Tritte und angespuckt zu werden als schwerwiegender einschätzen als Mädchen. Wie bereits angedeutet zeigte sich, dass vor allem Schüler mit türkischem und osteuropäischen (russischen) Migrationshintergrund sowie solche aus Südeuropa meinen, ihre Ehre in jedem Fall verteidigen zu müssen. Diese Gruppen liegen auch (mit anderer Reihung) vorne bei der Frage, ob man bei einem Angriff zurückschlagen solle. Eine Auswertung nur unter Berücksichtigung der Haupt- und Gesamtschüler zeigt gleichwohl, dass solche Einstellungen gegenüber der Gewalt auch durch den sozio-ökonomischen Status bedingt sind, denn die Werte sind durch-

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gängig höher als bei Berücksichtigung der Gesamtgruppe. Besonders sensibel reagieren Schüler aus dem ehemaligen Jugoslawien auf Gewalt, sie liegen bei fast allen Gewaltformen an der Spitze, und zwar entweder zusammen mit den türkischen Schülern oder zusammen mit denen aus der ehemaligen Sowjetunion. Die türkischen Jugendlichen fallen darüber hinaus als einzige Gruppe auf, die Beleidigungen als „besonders schlimm“ einstuft. Wodurch diese Unterschiede in der Sensibilität bedingt sind, konnte durch die vorliegende Untersuchung nicht geklärt werden. Möglicherweise spielt hier das Selbstwertgefühl eine Rolle, das bei Jugendlichen, die häufig Zurückweisungen und Benachteiligung erleben müssen, geringer ausgeprägt sein könnte oder durch delinquentes Verhalten gestützt wird. Neben den gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen sollte also die Sensibilität gegenüber Gewalt verstärkt in die Forschung mit einbezogen werden, denn eine Kombination aus erhöhter Sensibilität und gleichzeitig gewaltbejahenden Einstellungen deutet auf ein hohes Risiko gewalttätigen Verhaltens hin. 8. Kriminalitätsfurcht

In unserer Studie haben wir auch die Kriminalitätsfurcht der Schüler untersucht. Unserer Erhebung lag dabei die Überlegung zu Grunde, dass die Angst Opfer einer Straftat zu werden, sich nicht nur negativ auf die Lebensqualität im allgemeinen auswirkt, sondern auch negative Folgen für die schulischen Leistungen haben kann. Abbildung 3 zeigt, dass bei den befragten Schülern die Angst, dass ihnen „etwas getan werden könnte“, relativ deutlich ausgeprägt ist. Vor allem die Furcht der Mädchen im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs sticht hervor: Fast die Hälfte von ihnen gab an in Haltestellen oder im Bahnhof Angst zu haben. Im Verkehrsmittel selbst fürchten sich etwa ein Drittel der befragten Mädchen davor, dass ihnen „etwas angetan werden könnte“. Auch auf der Straße fühlen sich fast 30 % der Mädchen unsicher. In der Schule bzw. auf dem Schulweg fühlen sie sich dagegen deutlich sicherer. Hier gaben jeweils etwa 16 % der Befragten an, Angst zu haben. Die Jungen sind weitaus weniger furchtsam – ein Befund, der mit der kriminologischen Forschung im Einklang steht. Auf dem Schulweg hat nur jeder zehnte Junge nach eigenen Angaben Angst. In der Schule nur jeder sechste und im Bereich des ÖPNV sowie auf der Straße weniger als jeder vierte. Dabei findet sich kein Zusammenhang zwischen Viktimisierungerfahrungen und subjektiv empfundener Viktimise-

200

Gewalt in der Schule – Ergebnisse der Bochumer Studie

Abbildung 3: Angriffe und Angst an verschiedenen Orten differenziert nach Geschlecht

12,8 % 11,0

auf dem Schulweg +++/+++

7,8 %

16,3 % 29,2 % 16,6 %

in der Schule/auf dem Schulhof +++/n. s. (p=0,202)

14,7 % 15,6 % 11,0 %

in öffentlichen Verkehrsmitteln +++/+++

20,6 % 6,2 %

35,6 % 12,6 %

an Haltestellen/im Bahnhof +++/+++

23,9 % 7,0 %

46,9 % 31,9 % 23,2%

in der Freizeit auf der Straße +++/+++

17,4 % 29,4 % 8,9 %

in der Freizeit in einem Gebäude +++/+++

in Sporteinrichtungen +++/+

D

Angriff Jungen

D

13,5 % 4,7 %

22,0 % 15,7% 14,7 %

5,7 %

Angst Jungen

13,3 %



Angriff Mädchen



Angst Mädchen

Itemformulierungen (mit jeweils zwei Antwortkategorien: „ja“ und „nein“): Angriff: „Bist du an einem der folgenden Orte schon einmal tätlich angegriffen (also z. B. geschlagen, getreten, verkloppt) worden?“ Angst: „Hast du Angst, dass dir an einem der folgenden Orte etwas getan werden könnte (z. B. dass du geschlagen wirst oder dass dir etwas weggenommen wird)?“ Signifikanzniveau (Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei Angriff/Angst): +++: p