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German Pages 1254 [1256] Year 2019
Sprache und Raum: Deutsch HSK 30.4
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer Mitherausgegeben 1985–2001 von Hugo Steger
Begründet und herausgegeben von Herbert Ernst Wiegand 1982–2018
Subseries: Language and Space An International Handbook of Linguistic Variation Edited by Jürgen Erich Schmidt
Band 30.4
De Gruyter Mouton
Sprache und Raum Ein internationales Handbuch der Sprachvariation Band 4: Deutsch Herausgegeben von Joachim Herrgen Jürgen Erich Schmidt Unter Mitarbeit von Hanna Fischer und Brigitte Ganswindt
De Gruyter Mouton
ISBN 978-3-11-018003-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-026129-5 e-PUB (EPUB) 978-3-11-039472-6 ISSN 1861-5090 Library of Congress Control Number: 2019935003 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printing: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Cover design: Martin Zech, Bremen www.degruyter.com
Einleitung
Mit dem Band zum Deutschen liegt in der Subserie Language and Space der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK) neben den übergreifenden Grundlagenbänden Theories and Methods (Auer & Schmidt 2010) und Language Mapping (Lameli, Kehrein & Rabanus 2011) und nach dem Band zum Niederländischen (Dutch, Hinskens & Taeldeman 2014) nun der zweite Sprachenband vor. Da die beiden parallel aufgebauten Sprachenbände auch das Friesische und Luxemburgische umfassen, ist damit die Darstellung der Raumdimension einer ersten Sprachengruppe, der westgermanischen Sprachen Kontinentaleuropas, abgeschlossen (vgl. auch die Reiheneinleitung in diesem Band). Die Relation von Sprache und Raum im Deutschen ist seit über drei Jahrhunderten (Johann Ludwig Prasch 1689) Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung (vgl. Herrgen 2001). Seit rund eineinhalb Jahrhunderten (Georg Wenker 1878) kann von einer systematischen und institutionalisierten Sprachgeographie des Deutschen gesprochen werden. Zu verschiedenen Zeitpunkten innerhalb der Geschichte des Faches wurde der jeweilige Erkenntnisstand der einschlägigen Wissenschaft in Handbüchern gebündelt: Neben kleineren Arbeiten sind hier vor allem die Überblicksdarstellungen von Adolf Bach (1934 et passim) und Viktor Schirmunski ([1962] 2010) zu nennen. Eine umfassende Darstellung der Dialektologie des Deutschen nimmt dann das zweibändige Handbuch Dialektologie: Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung (Besch et al. 1982/1983) vor, das die erfolgreiche De Gruyter-Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK) eröffnete. Unter Herausgeberschaft von Werner Besch et al. unternahm es damals eine Gruppe von Autoren, den Erkenntnisstand der Dialektologie umfassend aufzuarbeiten und der damaligen Theorieentwicklung gemäß vor allem historisch-strukturalistisch zu analysieren. Die Motivation, dass nach rund vierzig Jahren ein grundsätzlich neuer Blick auf die Arealität der deutschen Sprache geworfen wird, liegt einerseits in tiefgreifenden Veränderungen des Gegenstandes „Sprache im Raum“, andererseits in entscheidenden Veränderungen des Faches, das die Beziehung von Sprache und Raum untersucht. Diese doppelte Zäsur ist so markant, dass die Disziplin nicht mehr, wie noch 1982/1983, „Dialektologie“ (auch „Mundartforschung“) genannt werden kann. Diese früher übliche alleinige Fokussierung der standardfernsten Varietäten, der „Dialekte“, muss heute aufgegeben werden: Mit Language and Space werden allgemeiner die komplexen Beziehungen zwischen sprachlichen und räumlichen Strukturen in den Blick genommen, auch über das traditionell „Dialektale“ hinaus. Was den Gegenstand dieses Handbuches, die raumgebundene Sprache, angeht, so ist inzwischen unstrittig, dass im 21. Jahrhundert einschneidende Veränderungen zu konstatieren sind: Im Wesentlichen die gesellschaftliche Modernisierung (Veränderungen der Arbeitswelt, Steigerung der Mobilität, Veränderungen des Wertesystems u. a.) und die dynamische Entwicklung der Medien (Rundfunk, Fernsehen, Online-Medien) haben im 20. Jahrhundert und bis heute völlig neue kommunikative Bedingungen geschaffen, die die sprachlichen Varietäten von Grund auf verändert haben. Auch wenn nach der jüngsten Studie noch ziemlich genau 50 % der Deutschen den Dialekt aktiv beherrschen und vor https://doi.org/10.1515/9783110261295-202
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Einleitung
allem im Oberdeutschen und Teilen des Westniederdeutschen an die jüngere Generation weitergeben (vgl. Schmidt 2017), treten an die Stelle der standardfernen Basisdialekte mehr und mehr großräumige Regiolekte. Zudem entwickelt sich eine markante Regionalität auch in den standardnahen Registern („Regionalakzent“, „Gebrauchsstandard“). Ein ganzes Spektrum des raumgebundenen Sprechens hat die traditionellen Basisdialekte abgelöst. Vor diesem Hintergrund wurde die herkömmliche Dialektologie, die auf eben diese Basisdialekte ausgerichtet war, in den letzten 40 Jahren abgelöst durch eine „raumbezogene Variationslinguistik/Regionalsprachenforschung, die die Dynamik des Gesamtspektrums der regionalen Varietäten systematisch untersucht und dabei die Produktionsdaten und deren Perzeption gleichermaßen im Blick hat“ (Art. 2 in diesem Band). Diese raumbezogene Variationslinguistik bzw. Regionalsprachenforschung ist durch einen materialen und methodologischen Neuansatz gekennzeichnet: Gegenstand sind nicht mehr die Basisdialekte, sondern das gesamte regionalsprachliche Spektrum. Methodologisch ist dieser Neuansatz durch eine markante Erweiterung der überkommenen Methoden der Dialektologie gekennzeichnet. Neue Erhebungsmethoden (natürlichsprachige Daten, Gesprächsdaten, Hirnstrommessungen, Perzeptionstests u. a.) und Auswertungsmethoden (Variablenanalyse, Abstandsmessung, Clusteranalyse u. a.) dominieren in aktuellen Untersuchungen der Regionalsprache. Die Regionalsprachenforschung des Deutschen ist in der beneidenswerten Lage, nun auf die Ergebnisse mehrerer rezenter Großprojekte (vgl. Art. 2 in diesem Band) zurückgreifen zu können, die die traditionellen Projekte zu den Basisdialekten (Sprachatlanten, Dialektmonographien, Dialektwörterbücher) kongenial ergänzen und qualitativ neue Ergebnisse ermöglichen. Das vorliegende Handbuch kann auf diesem nicht nur quantitativ, sondern qualitativ gesteigerten Forschungsstand aufbauen. Es referiert den aktuellen Stand des Faches in dreifacher Hinsicht: Es reflektiert einerseits die umfangreichen Forschungsergebnisse, die zu verschiedenen Systemebenen vorgelegt wurden, die in der Vergangenheit noch als Desiderate zu gelten hatten (z. B. Syntax, Prosodie). Zum anderen werden die umfassenden Erkenntnisse reflektiert, die zur komplexen Struktur der regionalsprachlichen Spektren und zur Dynamik der Regionalsprachen vorliegen. Und zum dritten stellt das Handbuch die Erkenntnisse sprachraumbezogen, also geordnet nach den einzelnen Regionalsprachen dar. In diesem Punkt soll durchaus die Tradition älterer Handbuchdarstellungen aufgenommen werden und die raumübergreifende Darstellung von Phänomenen im HSK-Band Dialektologie (Besch et al. 1982/1983) komplementiert werden. Ausgehend von diesem Ansatz ist eine Gliederung entwickelt worden, die nicht nur für diesen Einzelband Verwendung findet, sondern für weitere Sprachbände innerhalb der Subreihe Language and Space verwendet wird. Dies gilt insbesondere für den schon zuvor erschienenen Sprachband Dutch. Mit den Herausgebern dieses Bandes, Frans Hinkens und Johan Taeldeman (†), wurden Ansatz und Gliederung der Language and SpaceBände ausführlich diskutiert. Es handelt sich bei Konzept und Gliederung der Bände um ein gemeinsames Arbeitsergebnis, das flexibel genug formuliert wurde, um den Besonderheiten der jeweiligen Einzelsprachen und Sprachengruppen Rechnung tragen zu können. Nach weiteren Absprachen mit FachkollegInnen wurde ein erster Gliederungsentwurf erstellt und es wurden potenzielle BeiträgerInnen eingeladen. Nach deren Zusage fand dann am 9. September 2015 ein Kolloquium in Luxemburg statt, bei dem nicht nur das Bandkonzept ausführlich diskutiert wurde, sondern auch eine Abstimmung inhaltlich verwandter Artikel erreicht werden konnte.
Einleitung
Im Ergebnis entstand die Gliederung des vorliegenden Bandes, die wie folgt strukturiert ist: Der Band setzt ein mit zwei fachhistorischen Artikeln, die einmal die Konstitutionsphase der Disziplin „Dialektologie“ zum Gegenstand haben (Art. 1), dann die aktuellen Entwicklungen und Forschungsdesiderate (Art. 2). Eine sprachvariationshistorische Perspektive nehmen die Art. 3 und 4 ein, die die regionale Sprachvariation im Deutschen einmal für das Mittelalter und die frühe Neuzeit, dann für das 17.−19. Jahrhundert behandeln. Einen Überblick zur Sprachvariation im Gegenwartsdeutschen geben die Art. 5 bis 7, wobei hier sprachraumübergreifend die Variationsspektren (Art. 5), die Standardvariation (Art. 6) und die Einteilung der arealen Varietäten des Deutschen (Art. 7) diskutiert werden. Die Art. 8 bis 18 behandeln die einzelnen Regionalsprachen (früher: Dialektverbände) des Deutschen. Diese Artikel sind nicht methodologisch orientiert, sondern benennen die materialen Forschungsresultate zu den jeweiligen Räumen auf der Grundlage der älteren und neuen Forschungsergebnisse. Das Ziel ist eine aktuelle linguistische Raumbeschreibung in allgemeinverständlicher Form. Besonders hinsichtlich dieser Artikel bewährte sich die ausführliche Diskussion und Koordination bei dem genannten Kolloquium in Luxemburg. Es wurde Einvernehmen darüber erzielt, dass der inhaltliche Schwerpunkt der Art. 8 bis 18 einheitlich erstens die linguale Struktur des Fundamentalbereichs der variativen Sprachkompetenz, zweitens die variativen Spektren und drittens die im jeweiligen Raum beobachtbare Sprachdynamik sein sollten. Die in den Artikeln zu behandelnden Systemebenen sollten Phonologie (einschließlich der Prosodie), Morphologie und Syntax sein. Es wurde eine einheitliche Subgliederung der Artikel vereinbart: 1. Einleitung; 2. Historie und Besonderheiten; 3. basisdialektale Raumstruktur (Phonologie, Morphologie, Syntax); 4. Sprachdynamik des Dialekts; 5. vertikale Register. Auf diese Artikel zu den einzelnen Regionalsprachen folgen Artikel, die regionalsprachenübergreifende Phänomene behandeln. Hierzu zählen komparative Aspekte der deutschen Regionalsprachen (Art. 19: Morphologie und Art. 20: Syntax) sowie die Satzprosodie (Art. 21). Die folgenden Artikel behandeln die areale Lexik im Deutschen für das Ober-, Mittel- und Niederdeutsche (Art. 22 bis 24). Auch hier haben die BeiträgerInnen eine gemeinsame Rahmengliederung für die Artikel erarbeitet, so dass − bei allen individuellen Akzentsetzungen und Unterschieden der regionalsprachlichen Räume − Vergleichbarkeit der Darstellungen gegeben ist. Die Rahmengliederung sieht vor, dass sämtliche Artikel 1. einen Forschungsbericht zur dialektalen Lexik enthalten (Wörterbücher, Sprachatlanten, Einzelstudien), 2. einen wissenschaftshistorischen Abriss, 3. eine Erörterung der historischen und dynamischen Aspekte der Lexik, 4. die Verbreitungsstrukturen der dialektalen Lexik darstellen und 5. exemplarische Fallstudien vorstellen. Art. 25 ist dann der rezenten Dynamik im arealen Lexikon des Deutschen gewidmet. Es folgen Artikel zur Arealität der deutschen Familiennamen (Art. 26), zu gesprächslinguistischen Aspekten der arealen Varietäten des Deutschen (Art. 27), zu medienlinguistischen Aspekten der arealen Sprachvariation des Deutschen (Art. 28), zur Perzeptionslinguistik arealer Sprachvariation im Deutschen (Art. 29), zu den Ergebnissen geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen (Art. 30), zur Online-Präsentation und Analyse regionalsprachlicher Forschungsergebnisse (Art. 31), zum Zusammenhang von Sprachraum, Gemeinschaft und Handeln (Art. 32), zu den regionalsprachlichen Merkmalen in der deutschen Gebärdensprache (Art. 33) und zum Erwerb arealer Sprachvariation (Art. 34). Die Art. 35 bis 47 behandeln kontaktlinguistische Aspekte der Regionalsprachen des Deutschen. Zunächst werden deutsche Regionalsprachen im Grenzkontakt behandelt (Art. 35), anschließend die Minderheitensprachen innerhalb des deutschen
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Einleitung
Sprachgebiets (Art. 36). Art. 37 diskutiert die regionalsprachlichen Merkmale jugendsprachlicher Praktiken im mehrsprachigen urbanen Raum. Exemplarische Situationen komplexer Überdachung behandeln die Art. 38 (Schweiz), 39 (Luxemburg) und 40 (Belgien). Die Artikelgruppe 41 bis 47 stellt dann das Deutsche als Minderheitensprache in verschiedenen nationalen und transnationalen Konstellationen dar (Frankreich, Italien, Osteuropa, Nordamerika, Mittel- und Südamerika, Afrika, Australien und Ozeanien). Auch hier konnten die jeweiligen AutorInnen sich in Luxemburg auf eine gemeinsame Rahmengliederung einigen. Ergebnis der Beratung war, dass alle Artikel dieser Gruppe jeweils auf 1. die multilinguale Gesamtsituation der komplexen Überdachung, 2. eine prototypische Situation mit Beschreibung der sprachlichen Repertoires, 3. sprachpolitische Aspekte und 4. die jeweilige Situation des Deutschen als Fremdsprache einzugehen hätten. Ein Handbuch wie das vorliegende ist niemals ein Werk Einzelner, sondern kann nur im Team realisiert werden. In der Konzeptionsphase waren zunächst die Marburger Kollegen Roland Kehrein, Alfred Lameli und Alexander Werth beteiligt, später gaben Michael Elmentaler und Stephan Elspaß wichtige Hinweise zur Anlage des Bandes. Sehr zu danken ist allen BeiträgerInnen, die nicht nur während des Luxemburger Kolloquiums substanzielle Beiträge leisteten, sondern später durch ihre Sorgfalt bei der Abfassung der Artikel die Qualität des Bandes garantierten. Nicht zuletzt danken wir Hanna Fischer und Brigitte Ganswindt für ihre umfassende Mitarbeit, besonders bei der Redaktion der Bände. Unverzichtbar war auch die Arbeit von Marina Frank, Milena Gropp, Judith Hauff (Kartenerstellung), Janina Kurzawa, Paula Rinke und Patrick Wickert, die als Hilfskräfte Teil des Redaktionsteams waren. Bei der Registererstellung halfen außerdem Carolin Kiesewalter und Lars Vorberger.
Literatur Auer, Peter & Jürgen Erich Schmidt (Hrsg.) 2010 Language and Space: Theories and Methods (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 30.1). Berlin & Boston: De Gruyter Mouton. Bach, Adolf 1934 Deutsche Mundartforschung: Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben: Eine Einführung (Germanische Bibliothek. Abt. 1: Elementar- und Handbücher. Reihe 1: Grammatiken 18). Heidelberg: Winter. Besch, Werner, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke & Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.) 1982/1983 Dialektologie: Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 1). Berlin & New York: De Gruyter. Herrgen, Joachim 2001 Die Dialektologie des Deutschen. In Sylvain Auroux, E. F. K. Koerner, Hans-Josef Niederehe & Kees Versteegh (Hrsg.), Geschichte der Sprachwissenschaften: Ein internationales Handbuch zur Entwicklung der Sprachforschung von den Anfängen bis zur Gegenwart (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 18.2), 1513−1535. Berlin & New York: De Gruyter. Hinskens, Frans & Johan Taeldeman (Hrsg.) 2014 Language and Space: Dutch (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 30.3). Berlin & Boston: De Gruyter Mouton. Lameli, Alfred, Roland Kehrein & Stefan Rabanus (Hrsg.) 2011 Language and Space: Language Mapping (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 30.2). Berlin & Boston: De Gruyter Mouton.
Einleitung
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Prasch, Johann Ludwig 1689 Dissertatio altera, de origine germanica latinae, una cum onomastico germanico-latino, aliquatenus suppletur & explicatur, adeoque via aperitur novo Etymologico: Accedit glossarium bavaricum. Ratisbonae: Emmerich. Schirmunski, Viktor M. 2010 [1962] Deutsche Mundartkunde: Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten, 2. Aufl. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Schmidt, Jürgen Erich 2017 Vom traditionellen Dialekt zu den modernen deutschen Regionalsprachen. In Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung & Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache: Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache, 105−139. Tübingen: Stauffenburg. Wenker, Georg 1878 Sprach-Atlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen nach systematisch aus ca. 1500 Orten gesammeltem Material. Marburg: Handgezeichnet.
Joachim Herrgen, Marburg (Deutschland) Jürgen Erich Schmidt, Marburg (Deutschland)
Introduction to the Language and Space series
In 1982 and 1983 the renowned HSK series was launched with a two-volume handbook, Dialektologie: Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Even though this first handbook played a significant role in the subsequent success of the series and was out of print by the mid 1990s, early plans to publish an updated edition (as was done with other successful titles) were soon shelved. Consensus instead settled around the view that advances in the understanding of the object of dialectological study, along with fast-paced developments in the relevant disciplines and the need to adequately represent the rich findings of this global research effort, made a completely fresh start necessary. Even though the variability of human language is in essential ways caused and constrained by the dimensions of time and space, and although most people today still speak with some form of distinct regional coloring, dialects isolated from supranational and standard varieties are increasingly becoming marginal phenomena, right across the world. Accordingly, a reorientation of research into language and space has begun − shifting from a discipline focused on the reconstruction of premodern language states (traditional dialectology) to approaches dedicated to a precise analysis of the dynamic processes at work within complex language systems and their explanation in terms of cognitive and interactive-cum-communicative factors. This shift in emphasis towards embodied and evolving language has led to a blurring of the established boundaries between dialectology, sociolinguistics and language contact studies and to the adoption of impulses from geography, sociology and anthropology as part of a wider reappraisal of the relationship between geographical place and cultural space. Additionally, a way has needed to be found to take account of significant differences in how language is “territorialized”. These range from traditional, sedentary settlement patterns to personally mobile and electronically delocalized postindustrial lifestyles, and from semiliterate, largely oral cultural traditions through, say, the formation and maintenance of immigrant communities and enclaves within multicultural and urbanized landscapes, to the inhabiting of pre-eminently social spaces in the increasingly fragmented and ad hoc milieus of contemporary society. Against the background of this reorientation, the idea of a subseries within the HSK range entitled Language and Space: An International Handbook of Linguistic Variation developed out of intensive discussions between representatives from various research fields, the editors and publishers. Inaugurating this subseries are two “foundation” handbooks, canvassing international developments in theory and research methods and, for the first time, interrogating the theoretical and practical foundations of linguistic cartography. These cross-linguistic foundational volumes are to be complemented by a loose sequence of volumes that each analyze the full dimensions of spatial variation within an individual language or language group whilst remaining guided by a uniform structure. This first introductory volume, Theories and Methods, directly addresses both the changes in the object of study (linguistic variation across “space”) and the attempts within the relevant disciplines to adjust to the concomitant reconceptualization of its nature. As intimated by its subtitle, the volume is divided into two halves. The first of these, the theoretical wing, encompasses a transdisciplinary discussion of the notion of https://doi.org/10.1515/9783110261295-203
Introduction to the Language and Space series
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space together with critical evaluations of linguistic approaches to it plus several articles on the structure and dynamics of (and between) language spaces. The second, methodological wing details and showcases traditional and contemporary methods of data collection, analysis and presentation in linguistic geography and language variation studies, with special emphasis on the methodological problems within the individual structural domains (phonology, prosody, morphology, lexis, syntax and discourse) and a series of illustrative and multifaceted case studies. The second volume, Language Mapping, addresses a striking deficit in the field of studies into language and space. To date there has never been a collected consideration of the many issues impinging upon the creation and use of maps in the investigation of language, its distribution and variation. Within various major languages, schools and traditions have emerged within which problems have been addressed and approaches have been refined, but there has been a dearth of exchange between these traditions. Starting from a thoroughgoing consideration of the conceptual, cognitive and cartographic fundamentals of committing languages to maps, the second foundational volume also explores the individual traditions, their origins, peculiarities and strengths, before considering numerous aspects of the revolutionary enabling impact of computing on language mapping and some of the intersections between the cartography of language and other fields of human endeavor. Naturally, given the topic, the volume will be accompanied by an extensive, separately bound collection of maps. These two foundation stones are to be followed by a series of works that will, while oriented to a uniform structure, thoroughly explore the current state of research into the spatial dimensions of particular languages or language areas. Given linguists’ increased awareness of the complexity of the relationship between language and physical space, and of the fiction of a single “authentic” variety per speaker, the volumes are focused on (groups of) languages rather than regions and attempt to chart their internal variational structure and dynamics, their interface with other languages and their distribution across physical, social and cultural space. Each volume will open with a section examining the history of investigation into the language(s) in question, the foci of current research and perceived deficits. Then the genesis of the (areal) linguistic constellations and variety spectra will be treated along with a complete anatomy of the language space. But the bulk of each volume will be devoted to a detailed description of linguistic subregions and domains including, obviously, those which transcend traditional bounded spaces as well as attitudes and social configurations, and to an exploration of aspects specific to the language (group), including its use in a range of locations as a postcolonial or an immigrant language, the roles of various media and the techniques and technology used to present results. For the noble HSK handbook tradition, Language and Space thus represents the revisiting, after more than a quarter of a century, of one of the fundamental dimensions of human language in all its variety and flux. The new series attempts to draw together and take account of the advances in our understanding of this dimension, broaching the boundaries between disciplines, questioning but not abandoning established traditions, drilling down into the concept of space itself, in order to bring to its readers some of the excitement of the scientific hunt for that most immanent quarry − language itself. Jürgen Erich Schmidt, Marburg (Germany) 19 June 2009
Abkürzungsverzeichnis A Abb. Adj. ahd. ähnl. Akk. alem. altfrz. altslow. altsorb. a. M. Anm. arab. ARD Art. Aufl. Ausg. bair. Bd. Bde. bes. BRD Bsp. bspw. bundesdt. bzgl. bzw. ca. CH CLIL coburg. CV D DAAD DaF DaM DaN dän. Dat. DDR d. h. Dim. Diphth. Diss.
Österreich Abbildung Adjektiv althochdeutsch ähnlich Akkusativ alemannisch altfranzösisch altslowenisch altsorbisch am Main Anmerkung arabisch Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Artikel Auflage Ausgabe bairisch Band Bände besonders Bundesrepublik Deutschland Beispiel beispielsweise bundesdeutsch bezüglich beziehungsweise circa Schweiz Content and language integrated learning coburgisch Consonant Vowel Deutschland Deutscher Akademischer Austauschdienst Deutsch als Fremdsprache Deutsch als Muttersprache Deutsch als Nationalitätensprache dänisch Dativ Deutsche Demokratische Republik das heißt Diminutiv Diphthong Dissertation
https://doi.org/10.1515/9783110261295-204
Abkürzungsverzeichnis
DK dt. engl. et al. etc. etw. EU e. V. evtl. f. Fem./fem. fers. ff. Fn. FPÖ fränk. frühahd. frz. gall. geb. Gen. gemeindt. germ. ggf. ggü. got. H hdt. heideostfäl. hist. holst. Hrsg. Hs. i. Dr. i. d. R. i. d. S. i. e. i. e. S. Ind. Inf. inkl. insg. IPA i. S. i. S. e. i. S. v. ital.
Dänemark deutsch englisch et alii/et alia et cetera etwas Europäische Union eingetragener Verein eventuell feminin Femininum fersentalerisch folgende Fußnote Freiheitliche Partei Österreichs fränkisch frühalthochdeutsch französisch gallisch geboren Genitiv gemeindeutsch germanisch gegebenenfalls gegenüber gotisch High hochdeutsch heideostfälisch historisch holsteinisch Herausgeber Handschrift im Druck in der Regel in diesem Sinne id est im engeren Sinne Indikativ Infinitiv inklusive insgesamt International Phonetic Alphabet im Sinne im Sinne einer im Sinne von italienisch
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Abkürzungsverzeichnis
i. V. J. jdn. Jh. jmd. Kap. kelt. km Konj. Kt. kurd. L L L1 L2 lad. lat. lausitz. Lfg. litspr. Lusern-zimbr. lux. m. Ma. ma. Mask./mask. md. mhd. Mio. mittelbair. mlat. mnd. mnl. modv. moselfrk. münsterl. m. W. n. ndt. Neutr./neutr. nhd. niederbair. niedersorb. nl. Nom. nordbair. nordfrz.
in Vorbereitung Jahre jemanden Jahrhundert jemand Kapitel keltisch Kilometer Konjunktiv Karte kurdisch Luxemburg Low Erstsprache Zweitsprache ladinisch lateinisch lausitzisch Lieferung(en) literatursprachlich Lusern-zimbrisch luxemburgisch maskulinum Mundart mundartlich Maskulinum mitteldeutsch mittelhochdeutsch Million mittelbairisch mittellateinisch mittelniederdeutsch mittelniederländisch Modalverb moselfränkisch münsterländisch meines Wissens neutral niederdeutsch Neutrum neuhochdeutsch niederbairisch niedersorbisch niederländisch Nominativ nordbairisch nordfranzösisch
Abkürzungsverzeichnis
nordhann. nördl. nordndt. NS nürnberg. O o. Ä. oberalem. oberbair. oberostfrk. Oberpf. oberpf. obersorb. o. g. oldenb. omd. örtl. ostfäl. ostfries. ostfrk. osthess. östl. ostmoselfrk. ostwestfäl. Part. Pl. poln. portug. Präs. Prät. Ps. resp. restl. rhein. rheinfrk. rhml. rip. rumäniendt. russ. S S. s. s. a. schwäb. schwed. schweiz. SFB
nordhannoversch nördlich nordniederdeutsch Nationalsozialismus nürnbergisch Objekt oder Ähnliches oberalemannisch oberbairisch oberostfränkisch Oberpfalz oberpfälzisch obersorbisch oben genannt oldenburgisch ostmitteldeutsch örtlich ostfälisch ostfriesisch ostfränkisch osthessisch östlich ostmoselfränkisch ostwestfälisch Partizip Plural polnisch portugiesisch Präsens Präteritum Person respektive restlich rheinisch rheinfränkisch rheinmaasländisch ripuarisch rumäniendeutsch russisch Subjekt Seite(n) siehe siehe auch schwäbisch schwedisch schweizerisch Sonderforschungsbereich
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Sg. slaw. slow. SMS s. o. sog. sorb. Sp. spätahd. spätaltbair. spätlat. spätwgerm. SRF St. standarddiff. std. stddt. stdspr. stl. s. u. Subst. südbair. südl. südöstl. südrhml. südwestdt. südwestfäl. swdt. Tab. thür. tschech. tschechiendt. u. u. a. UdSSR UNESCO ungar. ungarndt. unterostfrk. ukrain. ukrainischdt. URL US USA usw. u. U. u. v. a. m.
Singular slawisch slowenisch Short Message Service siehe oben sogenannt sorbisch Spalte spätalthochdeutsch spätaltbairisch spätlateinisch spätwestgermanisch Schweizer Radio und Fernsehen Sankt standarddifferent standardsprachlich, Standard standarddeutsch standardsprachlich stimmlos siehe unten Substantiv südbairisch südlich südöstlich südrheinmaasländisch südwestdeutsch südwestfälisch Schweizerdeutsch Tabelle thüringisch tschechisch tschechiendeutsch und und andere, unter anderem, unter anderen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization ungarisch ungarndeutsch unterostfränkisch ukrainisch ukrainischdeutsch Uniform Resource Locator United States United States of America und so weiter unter Umständen und viele andere mehr
Abkürzungsverzeichnis
u. v. m. V v. a. vgl. vorröm. vs. westfäl. westl. westmünsterl. westschweiz. wgerm. wörtl. WS Z. z. B. ZDF zentralhess. zentralholst. zimbr. zit. z. T.
und viele(s) mehr Verb vor allem vergleiche vorrömisch versus westfälisch westlich westmünsterländisch westschweizerisch westgermanisch wörtlich Wenkersatz Zeile zum Beispiel Zweites Deutsches Fernsehen zentralhessisch zentralholsteinisch zimbrisch zitiert zum Teil
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reiheneinleitung (Introduction to the Language and Space series). . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Forschungsgeschichte
1. Sprache und Raum im Deutschen: Von der Konstitutionsphase der Dialektologie bis zu ihrer pluridimensionalen Erweiterung im 20. Jahrhundert · Heiko Girnth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sprache und Raum im Deutschen: Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate · Jürgen Erich Schmidt, Antje Dammel, Heiko Girnth & Alexandra N. Lenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Sprachräume des Deutschen: Linguistische Struktur, variatives Spektrum und Dynamik 3. Areale Variation im Deutschen historisch: Mittelalter und Frühe Neuzeit Michael Elmentaler & Anja Voeste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Landschaftliches Hochdeutsch vom 17. bis zum 19. Jahrhundert · Brigitte Ganswindt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“ · Roland Kehrein . . . . . . . 6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen · Stephan Elspaß & Stefan Kleiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Areale Variation im Deutschen „horizontal“: Die Einteilung der arealen Varietäten des Deutschen · Alfred Lameli . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Alemannisch in Deutschland · Tobias Streck . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Alemannisch in der Schweiz · Helen Christen . . . . . . . . . . . . . . . 10. Bairisch in Deutschland · Günter Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Bairisch und Alemannisch in Österreich · Alexandra N. Lenz . . . . . . 12. Ostfränkisch · Rüdiger Harnisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Ostmitteldeutsch: Thüringisch und Obersächsisch · Beat Siebenhaar . . 14. Zentral-, Nord- und Osthessisch · Magnus Breder Birkenes & Jürg Fleischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Rheinfränkisch · Joachim Herrgen & Lars Vorberger . . . . . . . . . . . 16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch) · Jürgen Erich Schmidt & Robert Möller . . . . . . 17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch · Michael Elmentaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch · Klaas-Hinrich Ehlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte 19. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Morphologie · Stefan Rabanus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax · Jürg Fleischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Satzprosodie in den deutschen Regionalsprachen · Jörg Peters . . . . . . . . 22. Die areale Lexik im Oberdeutschen · Andreas Lötscher . . . . . . . . . . . . 23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen · Rudolf Post . . . . . . . . . . . . . . . 24. Die areale Lexik im Niederdeutschen · Jürgen Ruge & Ingrid Schröder . . . 25. Die rezente Dynamik im arealsprachlichen Lexikon · Robert Möller & Stephan Elspaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Areale Variation in den deutschen Familiennamen · Damaris Nübling & Mirjam Schmuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Gesprächslinguistische Aspekte der arealen Varietäten des Deutschen · Jens Philipp Lanwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28. Medien und areale Sprachvariation des Deutschen · Jannis Androutsopoulos & Evelyn Ziegler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29. Perzeptionslinguistik arealer Sprachvariation im Deutschen · Christoph Purschke & Philipp Stoeckle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen · Simon Pickl & Simon Pröll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online · Hanna Fischer & Juliane Limper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32. Sprachraum, Gemeinschaft, Handeln · Alfred Lameli . . . . . . . . . . . . . . 33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache · Claudia Macht & Markus Steinbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34. Der Erwerb arealer Sprachvariation · Annelies Häcki Buhofer . . . . . . . .
617 635 664 679 709 733 756 782 794 828 844 861 879 897 914 936
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt 35. Die deutschen Regionalsprachen im Grenzkontakt · Tom F. H. Smits 36. Minderheitensprachen im deutschen Sprachgebiet · Jürg Fleischer . . 37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken im multilingualen urbanen Raum · Heike Wiese & Ulrike Freywald . . . 38. Komplexe Überdachung I: Schweiz · Regula Schmidlin & Rita Franceschini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39. Komplexe Überdachung II: Luxemburg. Die Genese einer neuen Nationalsprache · Peter Gilles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40. Komplexe Überdachung III: Belgien · Jeroen Darquennes . . . . . . . 41. Deutsch als Minderheitensprache in Frankreich · Frédéric Hartweg . . 42. Deutsch als Minderheitensprache in Italien · Stefan Rabanus, Ermenegildo Bidese & Silvia Dal Negro . . . . . . . . . . . . . . . . . 43. Deutsch als Minderheitensprache in Osteuropa · Claudia Maria Riehl
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Inhaltsverzeichnis 44. Deutsch als Minderheitensprache 45. Deutsch als Minderheitensprache Wildfeuer & Alfred Wildfeuer . 46. Deutsch als Minderheitensprache 47. Deutsch als Minderheitensprache
XXI in Nordamerika · Mark L. Louden . . . . in Mittel- und Südamerika · Nicole Eller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Afrika · Christian Zimmer . . . . . . . in Australien und Ozeanien · Péter Maitz
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Forschungsgeschichte 1. Sprache und Raum im Deutschen: Von der Konstitutionsphase der Dialektologie bis zu ihrer pluridimensionalen Erweiterung im 20. Jahrhundert 1. Einleitung 2. Die historische Bedingung einer Dialektologie des Deutschen: das Spannungsfeld Dialekt − Standardsprache 3. Gegenstandskonstitution im 19. Jahrhundert und Etablierung als wissenschaftliche Disziplin
4. Gegenstandsbereiche und Methodologie der klassischen Dialektologie 5. Pluridimensionale Dialektologie 6. Fazit 7. Literatur
1. Einleitung Für die Dialektologie des Deutschen gilt wie für andere wissenschaftliche Disziplinen auch, dass sie aus dem Prozess einer internen inhaltlichen Differenzierung einer Wissenschaft entsteht, der durch spezifische Erkenntnisziele motiviert ist. Grundlegend hierfür ist die Existenz eines Erkenntnisobjektes bzw. eines Gegenstandsbereiches einschließlich der damit verbundenen Problemstellungen. Allerdings erweist sich die Bestimmung des Gegenstandbereiches der Dialektologie − die Beantwortung der Frage „Was ist eigentlich Dialekt?“ − von den Anfängen der Disziplin im 19. Jahrhundert bis noch weit in die letzte Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein als äußerst vielschichtig und schwierig. Dies hängt sowohl mit der Dynamik des sich stetig veränderten Objektbereiches Sprache als auch mit der Dynamik der Theoriebildung zusammen, die zu einer veränderten Wahrnehmung des Dialekts und einer begrifflichen Diversität führen (vgl. Herrgen 2001: 1514). So ist in Bezug auf den Gegenstandsbereich der Dialektologie etwa von einer „Gegenstandsungewissheit“ (Bellmann 1986: 2 und Herrgen 2001: 1514), einem „Mangel an präziser begrifflicher Abgrenzung des Gegenstandes“ (Löffler 2003: 1), der Notwendigkeit, ihn „in jeder Zeitepoche unterschiedlich zu definieren“ (Mattheier 1980: 13) oder positiver formuliert von einer „Pluralität von Dialektbegriffen“ (Bellmann 1986: 3) die Rede. Um die begriffliche Vielfalt angemessen beurteilen und einordnen zu können, soll daher an dieser Stelle ein weiterer Dialektbegriff vorangestellt werden, der sowohl für die gegenwärtigen als auch für frühere Sprachverhältnisse praktikabel ist. Demnach ist Dialekt eine diatopische Varietät der Gesamtsprache Deutsch, die auf dem Wege der ersten Sozialisation, also muttersprachlich erworben wird. Er wird von einer Standardvarietät mit Schriftlichkeit überdacht, zu der er eine große bis maximale Distanz besitzt und zu der er eine Kontinuumsbeziehung aufweist. Der Dialekt wird in der Regel mündlich realisiert und besitzt einen Teilbestand sprachlicher Mittel, mit denen er einerseits horizontal gegenüber anderen Dialekten kontrastiert andererseits aber auch vertikal gegenüber der Standardvarietät (vgl. Herrgen 2001: 1514). Ein solchermaßen bestimmter https://doi.org/10.1515/9783110261295-001
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I. Forschungsgeschichte
Dialektbegriff mag aus heutiger Perspektive vollständig sein (zu einem Dialektbegriff aus sprachdynamischer Perspektive vgl. Schmidt 2010), da er nicht nur die horizontale und damit areale Dimension des Dialektes berücksichtigt, sondern mit der Vertikalität mindestens auch die sprachsoziale Dimension einbezieht. Das Bewusstsein einer pluridimensional bedingten sprachlichen Heterogenität ist bereits vor dem Einsetzen einer wissenschaftlichen Dialektologie vorhanden und auch in der frühen wissenschaftlichen Dialektologie lässt sich ein über die areale Dimension hinausgehendes Dialektkonzept nachweisen (vgl. hierzu ausführlich Bellmann 1986). Erste Ansätze finden sich schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bei den Aufklärern, insbesondere bei Johann Christoph Adelung. Der Begründer der Dialektologie des Deutschen, Johann Andreas Schmeller, ist sich der Verknüpfung von Arealität und Sozialität durchaus bewusst, und eine pluridimensionale Tradition als dialektologisches Konzept lässt sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts bei Rudolph von Raumer und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bei Philipp Wegener und Hermann Paul nachweisen (vgl. hierzu auch Schmidt 1993: 454). All dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dialektologie erst dann einen entscheidenden Aufschwung nahm und sich als wissenschaftliche Disziplin etablierte, als sie im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Gestalt der Wenker’schen Dialektkartographie und der junggrammatischen Ortsgrammatiken ihren Gegenstand auf die areale Dimension reduzierte und damit einen „reductionist turn“ (vgl. Auer & Schmidt 2010a: viii) vollzog. Der Schritt von einer monodimensionalen zu einer pluridimensionalen Dialektologie, die nicht nur die diatopische, sondern auch die diastratische und diaphasische Dimension des Dialektes in den Blick nimmt, wurde dann erst fast ein Jahrhundert später mit der sogenannten kommunikativ-pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft und dem Aufkommen der Soziolinguistik vollzogen. In diesem Sinne lässt sich die Dialektologie als eine wissenschaftliche Disziplin charakterisieren, die in ihrer Konstitutionsphase zunächst eine Verengung ihres Gegenstandsbereiches vornimmt und im weiteren Verlaufe ihrer Konsolidierung erst spät zu einem vollständigen Dialektbegriff gelangt, welcher der der Sprache inhärenten Eigenschaft der Heterogenität Rechnung trägt. Ein solcher Dialektbegriff kann als integrativ bezeichnet werden, als er alle Dimensionen sprachlicher Variation umfasst. Ein weiteres für wissenschaftliche Disziplinen charakteristisches Merkmal ist der Prozess der Institutionalisierung und die Herausbildung von Schulen. In der Dialektologie des Deutschen setzte dieser Prozess im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein, wobei hier vor allem die Marburger Schule, Württemberger Schule oder Wiener Schule zu nennen sind (vgl. hierzu auch Bremer & Hoffmann 1982). Neben der Etablierung eines Erkenntnisobjektes mit den entsprechenden Problemstellungen, der Entwicklung von Forschungsmethoden und paradigmatischen Problemlösungen sowie dem Prozess der Institutionalisierung ist für die Konsolidierung einer Wissenschaftsdisziplin ein Korpus an Wissen notwendig, das sich in einer Menge von Kommunikaten manifestiert. Um dies quantitativ zu untermauern, sei ein Blick auf die am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg im Rahmen des Projekts Regionalsprache.de (REDE) erstellte Georeferenzierte Online-Bibliographie Areallinguistik (GOBA) erlaubt, die im Jahre 2018 einen Bestand von ca. 26.000 Titeln aufweist, die im weitesten Sinne die Regionalsprachen des Deutschen zum Gegenstand haben und einen Zeitraum von annähernd 200 Jahren umfassen. Nerlich & Clarke weisen zu Recht darauf hin, dass eine wissenschaftliche Disziplin erst dann als ausgereift gelten kann, „when those working in its framework make contributions on the object level, the meta
1. Sprache und Raum im Deutschen
level, and the historiographical level, providing the discipline with the consolidation it needs […]“ (Nerlich & Clarke 1996: 2). Als Beispiele für die beiden letztgenannten Ebenen („meta level“ und „historiographical level“) sei hier auf dialektologische Lehrbücher bzw. Einführungen (vgl. etwa Löffler 2003; Niebaum & Macha 2006; Schmidt & Herrgen 2011), Bibliographien (vgl. Wiesinger & Raffin 1982) und forschungsgeschichtliche Arbeiten (vgl. Bach 1969; Schirmunski 1962; Goossens 1977; Knoop 1982; Herrgen 2001; Macha 2005) verwiesen. Einen gewissen Höhepunkt im Sinne einer umfassenden Bestandsaufnahme des Standes der dialektologischen Forschung etwas mehr als hundert Jahre nach dem so genannten „Epochenjahr“ 1876, in dem die Dialektgeographie und die Dialektgrammatikographie ihren Aufschwung nahmen, markiert das 1982/1983 erschienene zweibändige Handbuch Dialektologie (Besch et al. 1982/1983). Auch wenn die Dialektologie und die Soziolinguistik zu diesem Zeitpunkt noch als komplementäre Disziplinen betrachtet werden können (das Handbuch Soziolinguistik erschien 1987/ 1988), wird im Handbuch Dialektologie der erweiterte Dialektbegriff unter der Bezeichnung kommunikative Dialektologie sowohl in einem Aufsatz (vgl. Scheutz & Haudum 1982) als auch in einem ganzen thematischen Kapitel (vgl. Kapitel XIII) berücksichtigt. Der folgende Beitrag spannt somit einen Bogen von der Gegenstandskonstitution der Dialektologie im Kontext des sprachhistorischen Paradigmas zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ihrer Konstitution als wissenschaftliche Disziplin im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, über ihre weitere Konsolidierung im 20. Jahrhundert durch Einbeziehung sprachtheoretischer Konzepte wie etwa dem Strukturalismus, bis hin zum Abschluss ihrer Konsolidierungsphase im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, der untrennbar mit der kommunikativ-pragmatischen Wende und der Rezeption soziopragmatischer Forschung verbunden ist. Einen besonders symbolträchtigen Abschluss der Konsolidierungsphase bildet dabei der Einzug der pluridimensionalen Dialektologie in die Dialektgeographie, die in besonderer Weise für das Verständnis der traditionellen Dialektologie als „Topolektologie“ (Scheuringer 2000: 431) sowie ihre prototypische Darstellungsform, die Sprachkarte steht (vgl. Girnth 2010). Die chronologisch ausgerichtete Behandlung der jeweiligen wissenschaftlichen Stationen behält dabei immer die folgenden Fragestellungen im Blick: a) Welche Zielsetzungen verfolgte die Dialektologie von ihren Anfängen bis hin zu ihrer Konstitution und Konsolidierung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin, b) welchen Gegenstandsbereichen hat sie sich zugewandt und c) welche Methoden hat sie zur Behandlung ihrer Forschungsfragen entwickelt? Wenn eingangs darauf hingewiesen wurde, dass die Voraussetzung für die Entstehung einer wissenschaftlichen Disziplin das Vorhandensein eines Erkenntnisobjektes bzw. Gegenstandsbereiches ist, dann stellt sich immer auch die Frage, wieso ein Gegenstand überhaupt in den Fokus wissenschaftlichen Interesses gerät. Im Folgenden sollen daher zunächst die aus dem Spannungsfeld Dialekt − Standardsprache resultierenden historischen Bedingungen einer Dialektologie des Deutschen erörtert werden.
2. Die historische Bedingung einer Dialektologie des Deutschen: das Spannungsfeld Dialekt − Standardsprache Die Erkenntnis, dass Sprache sich durch areale und auch soziale Verschiedenheit auszeichnet, ist nicht an die wissenschaftliche Disziplin der Dialektologie geknüpft, wohl
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I. Forschungsgeschichte
aber die Bedingung ihrer Möglichkeit. Ein früher Beleg für das Bewusstsein von der Heterogenität der Sprache findet sich schon in der Bibel (Buch Richter 12, 5−6). Dort wird geschildert, wie die Gileaditer die feindlichen Ephraimiter an der Aussprache von Schibboleth (hebräisch ‘Ähre’) erkennen. Über das allgemeine Bewusstsein sprachlicher Verschiedenheit hinaus, das sicherlich ein zeit- und raumüberdauerndes universelles Phänomen darstellt, ist es für die Geschichte des Deutschen aber vor allem die sich aus dem Spannungsfeld Dialekt −Standardsprache resultierende Wahrnehmung der Dialekte, die der Auslöser für die vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen ist. Dabei sind es zunächst sprachnormative Gründe, die den Dialekt in das Blickfeld der Grammatiker rücken lassen und zugleich auch zu einer Abwertung der Dialekte führen. Das Merkmal der überdachenden Standardvarietät wird in der Sprachgeschichte des Deutschen dann relevant, als sich im 16. Jahrhundert auf ostmitteldeutsch-oberdeutscher Grundlage eine überregionale Schriftsprache entwickelte, die zu den tatsächlich gesprochenen Dialekten eine erhebliche Diskrepanz aufwies (zur Standardisierung der Schriftsprache vgl. Besch 2003 und Mattheier 2000). Die ersten deutschen Grammatiker des 16. Jahrhunderts wie etwa Fabian Frangk (1531) und Valentin Ickelsamer (1534) (vgl. Socin 1888: 254 u. 265) beklagten diese Diskrepanz und stellten die Frage nach der Sprachrichtigkeit. Der Ausbau der überregionalen Schriftsprache im 17./18. Jahrhundert hatte weitreichende Normierungsbestrebungen zur Folge, wie sie etwa bei Justus Georg Schottelius in seiner Ausführlichen Arbeit von der teutschen HauptSprache (1663) zum Ausdruck kommen. Eine grammatische Beschreibung der Dialekte galt den Grammatikern jener Zeit „als unmöglich und sinnlos“ (Löffler 2003: 13), da sich im Gegensatz zur Schriftsprache der mündliche Gebrauch der Sprache nicht regeln lasse. Mit der Herausbildung einer eigenen Oralisierungsnorm der Standardsprache, deren Anfänge im 18. Jahrhundert im ostmitteldeutschen Sprachraum liegen (vgl. Schmidt 2005), begannen die Dialekte dann zunehmend „als systemisch different und areal begrenzt“ (Herrgen 2001: 1515) wahrgenommen zu werden. Auf Basis ihrer dialektalen Kompetenz begann eine kleine intellektuelle Elite die entstehende literale Varietät zu sprechen. Mit der Zeit bildeten sich großlandschaftliche Prestigesprechlagen heraus und man muss davon ausgehen, dass es so viele Oralisierungsnormen wie Zentren gab. Im 19. Jahrhundert spricht bereits ein großer Teil des Bürgertums die neue Standardvarietät auf der jeweiligen regionalsprachlichen Grundlage (vgl. Girnth 2007: 190). So entstand mit der Etablierung einer überregionalen Ausgleichssprache erst das Bewusstsein für die Dialekte, die aus sprachnormativen Gründen eliminiert werden sollten (vgl. Herrgen 2001: 1515). Daneben ist es aber die sich aus dem Spannungsfeld Dialekt − Standard ergebende Wahrnehmung der Dialekte als sozial, areal und medial restringiert, die zu ihrer Abwertung führten. Der Standardsprache mit überregionaler Geltung, einer intellektuellen Trägerschicht und ihrer sowohl literalen als auch oralen Realisierungsmöglichkeit, standen die hinsichtlich ihrer kommunikativen Reichweite eingeschränkten Dialekte gegenüber, die zudem mit Illiteralität und damit niedriger Bildung identifiziert wurden. War das normative Interesse an den Dialekten eher ein negatives, so fanden sich dennoch zahlreiche Ansätze, Dialekte „als Wortreservoire und Lieferanten von Neologismen“ (Löffler 2003: 14) anzuerkennen. Als prominentes Beispiel hierfür kann Gottfried Wilhelm Leibniz gelten, der anregte, den dialektalen Wortschatz zu sammeln und zugänglich zu machen. Die Motive sind dabei vor allem einer Verkümmerung der Schriftsprache vorzubeugen und mit Hilfe der Provinzialwörter bzw. Idiotismen die historischetymologischen Wurzeln der deutschen Sprache zu erkennen. In gewisser Weise lassen
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sich hier auch Ansätze sprachpflegerischer und sprachhistorischer Motivation finden. Von einem ersten Forschungsziel einer zunächst vorwissenschaftlichen Beschäftigung mit Dialekten lässt sich allerdings erst dann sprechen, wenn Dialekte um ihrer selbst willen beachtet und Gegenstand planmäßigen Sammelns werden. Es ist kein Zufall, dass es insbesondere im niederdeutschen Sprachraum im 17. Jahrhundert erste Anstrengungen gab, den dialektalen Wortschatz zu sammeln und für die Nachwelt zu bewahren. Im Niederdeutschen waren die systemischen Unterschiede zwischen dem niederdeutschen Dialekt und der überregionalen Ausgleichssprache besonders groß. Mit dem Rückgang der niederdeutschen Sprechsprache kamen bald die ersten Klagen über den Rückgang oder sogar das Aussterben der Dialekte. Als älteste Form dialektaler Datenpräsentation existieren seit dem 17. Jahrhundert so genannte Idiotika, also Sammlungen dialektaler Wörter, die ausschließlich den von der Schrift- bzw. Standardsprache abweichenden Sonderbestand basisdialektaler Lexik erfassen. Das Forschungsziel des Dokumentierens und Bewahrens findet seinen prototypischen Forschungsgegenstand in der dialektalen Lexik bzw. in der Dialektlexikographie, die „innerhalb der deutschen Dialektologie die am weitesten zurückreichende Tradition“ (Herrgen 2001: 1526) aufweist. Den Beginn des Sammelns von Wörtern markiert das 1689 erschienene Glossarium Bavaricum von Johann Ludwig Prasch, dem dann 1702 die Silesia loquens von Christian Meisner folgt, eine Wörtersammlung des schlesischen Dialekts (vgl. Niebaum & Macha 2006: 52). Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstehen immer mehr Idiotika, wobei insbesondere das 1754 erschienene Idioticon Hamburgense von Michael Richey (1678−1761), der die Bezeichnung Idiotikon prägte, hervorzuheben ist. Im Vorwort seines Wörterbuches verweist Michael Richey darauf, dass die „Mund-Art […] von Tage zu Tage in Abnahme“ gerate und „daß die wahre und eigentliche Landes-Sprache, in welcher niemand mehr öffentlich redet oder schreibet, mit der Zeit sich nicht allein vermischen und verstellen, sondern allmählig gar verlieren werde“ (Richey 1754: xliii− xliv, zitiert nach Niebaum & Macha 2006: 52; Herrgen 2001: 1516). Löffler spricht in diesem Zusammenhang von einem „antiquarischen Interesse“ (Löffler 2003: 15), das die Beschäftigung mit Dialekten bis zum heutigen Tage in vielen Fällen motiviert.
3. Gegenstandskonstitution im 19. Jahrhundert und Etablierung als wissenschaftliche Disziplin 3.1. Die Frühphase der Dialektologie als Wissenschaft Wissenschaft von der Sprache ist im 19. Jahrhundert gleichzusetzen mit Sprachgeschichte bzw. historischer Grammatik. Die Sprachgeschichte als das dominierende wissenschaftliche Paradigma im 19. Jahrhundert hat vor allem in Gestalt der Deutschen Grammatik (1819−1837) von Jacob Grimm entscheidenden Einfluss auf die dialektologischen Arbeiten jener Zeit. Die im Entstehen begriffene Dialektologie orientierte sich methodisch an Grimms Arbeiten, für den die Dialekte allerdings nur von untergeordneter Bedeutung waren. Dennoch erkannte er in ihnen den Ausdruck einer Differenziertheit der Sprache, bei der der vermeintliche Gegensatz zwischen arealen Varietäten und der Standardvarietät zugunsten einer lebendigen Sprache aufgehoben ist (vgl. Knoop 1982: 13 und Herrgen 2001: 1516). Einen starken Einfluss übte Grimm auf Johann Andreas Schmeller (1785−
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I. Forschungsgeschichte
1852) aus (vgl. auch Naumann 1988), der zwei Werke verfasst hat, die seinen Ruf als Begründer der wissenschaftlichen Dialektologie im frühen 19. Jahrhundert rechtfertigen und mit denen er den Grundstein für die „konzeptuelle und empirische Begründung der Disziplin“ (Niebaum & Macha 2006: 55) gelegt hat: Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt (1821) und das Bayerische Wörterbuch (1827−1837) (zur wissenschaftshistorischen Stellung Schmellers vgl. Eichinger & Naumann 1988 und Harnisch 2002). Schmeller wurde 1806 von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zum Verfassen eines Bayerischen Wörterbuchs beauftragt. Angeregt wurde er von Franz Joseph Stalders (1768−1843) Versuch eines Schweizerischen Idiotikon (1806/1812), der erstmals mit einer sprachhistorischen Vorgehensweise den Nachweis erbracht hatte, „dass die Dialekte die konsequentesten laut- und formengeschichtlichen Ergebnisse einer kontinuierlichen Entwicklung darstellen“ (Löffler 2003: 20). Sowohl die Grammatik als auch das Wörterbuch Schmellers erfassen die Dialekte innerhalb des Königreichs Bayern. Als Einleitung zu seinem Wörterbuch plante Schmeller ein Kapitel zur Lautlehre, die er aber dann bald zu einer kompletten Grammatik erweitert. Anknüpfend an seine Publikation Über Schrift und Schriftunterricht (1803) entwickelte Schmeller eine eigene phonetische Notation, die eine Feindifferenzierung beispielsweise von offenen und geschlossenen Vokalqualitäten, Unbetontheit und Nasalierung ermöglicht. Er trennt systematisch zwischen gesprochenem Laut und geschriebenem Buchstaben, was ihn von Grimm unterscheidet. Schmellers Methode ist einerseits eine synchron-komparative, da er die bairischen Dialekte untereinander und mit der Standardsprache kontrastierte, andererseits eine historisch-komparative (vgl. Veith 2006a: 542). Sein Datenmaterial beruhte auf drei verschiedenen Quellen: a) schriftlichen Dokumenten, b) gesprochener Sprache (Informanten aus verschiedenen Gebieten), c) eigenen Erhebungen. Nach Knoop (1982: 14−15) lassen sich in Schmellers Werk für die wissenschaftliche Beschreibung von Dialekten vier Dimensionen unterscheiden, eine historische, areale, systematische und soziale Dimension (Darstellung der Dimensionen nach Knoop 1982; Niebaum & Macha 2006: 56): a) die historische Dimension: Dialekt ist ein sprachhistorisches Phänomen, moderne Mundarten haben sich eigenständig und gesetzmäßig aus historischen Sprachstufen entwickelt; b) die räumliche Dimension: Dialekte lassen sich als areallinguistische Einheiten im Raum darstellen. So ist die erste Sprachkarte in Schmellers Die Mundarten Bayerns (1821) publiziert; c) die grammatische Dimension: Dialekte werden synchron-komparativ beschrieben; d) die soziale Dimension: örtliche Sprechweisen werden sozial differenziert, er unterscheidet eine ländliche Aussprache, eine städtische Aussprache und eine „Aussprache der Gebildeten oder provinzielle Art und Weise, das Schriftdeutsche zu lesen“ (Schmeller 1821: 21−22). Insbesondere die soziale Dimension verweist auf den zweidimensionalen Charakter des Dialekts, wobei die vertikale Dimension bei Schmeller durch die Zugehörigkeit zu einer Sozialschicht determiniert ist (vgl. Bellmann 1986: 15−16). In der Nachfolge Schmellers wurden die Dialekte − im Gegensatz zu weitverbreiteten Auffassungen im 18. Jahrhundert − nahezu ausschließlich als vollgültige Sprachen angesehen, die gleichberechtigt neben der Standardsprache stehen, was ein Blick in die Grammatiken jener Zeit belegt (vgl. hierzu Knoop 1982: 16−19). Ihre Erforschung nahm auch im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einen breiten Raum ein und gehörte zum Kanon der deutschen Philologie, wenn auch bisweilen in der Literatur der Eindruck vorherrscht, „daß die mundartkundlichen Arbeiten bis zur zweiten Hälfte der siebziger Jahre verhältnismäßig selten seien, daß die Mundartforschung zwischen 1830 und 1876 zum Erliegen gekommen sei“ (Knoop 1982: 17). Dass die Dialektforschung auch in jener Zeit durch-
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aus intensiv betrieben wurde, belegt etwa die Publikation erster Dialekt-Bibliographien. So legte Hoffmann 1836 die erste Bibliographie zur Dialektforschung vor, die mehr als 600 Titel enthält. Dass davon mehr als die Hälfte Titel zur Dialektliteratur sind, hängt mit „dem ohnehin immanenten Verhältnis von Mundartforschung und Mundartliteratur“ (Knoop 1982: 17) zusammen. 1854 folgte mit der Bibliographie von Trömel eine weitere Bibliographie, nunmehr um mehr als 400 Titel erweitert. Im selben Jahr begründet J. A. Pangkofer die Zeitschrift Die deutschen Mundarten, die dann nach seinem Tod von G. K. Frommann weitergeführt wurde. Nicht unerwähnt bleiben darf Adalbert von Keller (1812−1885), der einen Lehrstuhl in Tübingen innehatte und vor allem durch den Einfluss auf seine Schüler Georg Wenker und Hermann Fischer als „initiator of traditional dialect geography“ (Schrambke 2010: 88) angesehen werden kann. Ein erster sprachwissenschaftlicher Projektentwurf in dieser Frühphase der Dialektologie, in dem Vorschläge zur Erforschung der rezenten Dialekte vorgelegt werden, findet sich bei Rudolf von Raumer (1815−1876). Wie schon bei Schmeller lassen sich auch bei Raumer Vorstellungen von der Zweidimensionalität des Dialekts nachweisen, der sich bei ihm in einem sprachlichen Zwischenbereich realisiert, den er zwischen Dialekt und Schriftsprache annimmt. Raumer spricht sich in seinem Offenen Brief an Karl Frommann gegen Materialsammlungen aus der Dialektliteratur aus und regt stattdessen die Sammlung areal verbreiteter Dialektexte an, wobei er bereits „über die Wünschbarkeit von Sprachaufnahmen auf Schallträger“ (Bellmann 1986: 16) nachdenkt (vgl. Raumer 1857). Raumers Vorstellungen nahmen dann allerdings erst in der junggrammatischen Theorie mit ihrer Fokussierung auf physiologische und psychologische Zusammenhänge konkrete Formen an (vgl. Knoop 1982: 19). Es ist dann eben diese junggrammatische Sprachwissenschaft mit ihrer Fokussierung auf die gesprochene Sprache sowie die Fundierung einer wissenschaftlichen Phonetik, die entscheidende Impulse dafür lieferte, dass sich die Dialektologie im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin etablieren konnte.
3.2. Der junggrammatische Ansatz und die Fundierung einer wissenschaftlichen Phonetik Die Konsolidierung der Dialektologie als wissenschaftliche Disziplin ist untrennbar mit der junggrammatischen Schule verknüpft (vgl. hierzu auch Murray 2010). Von großem Einfluss auf die dialektologische Forschung war die von der Individualpsychologie seinerzeit geprägte Sprachtheorie Hermann Pauls, der „sämtliche Äusserungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung auf einander“ (Paul [1880] 1968: 24) als den eigentlichen Gegenstand des Sprachforschers bestimmt (vgl. hierzu auch Girnth 2000: 43). Der Sprechtätigkeit als physischer Erscheinung entspricht im Individuum auf psychischer Seite ein „psychische[r] Organismus“ (Paul [1880] 1968: 28) bzw. ein „Organismus von Vorstellungsgruppen“ (Paul [1880] 1968: 27). Paul bestimmt diesen als „ein Produkt aus alledem, was früher einmal durch Hören anderer, durch eigenes Sprechen und durch Denken in den Formen der Sprache in das Bewusstsein getreten ist“ (Paul [1880] 1968: 26). Der Ausdruck „psychische[r] Organismus“ lässt sich treffender mit individueller Kompetenz erfassen (vgl. hierzu Schmidt & Herrgen 2011: 38−49), die dynamischen Charakter besitzt, da ihr „durch jede Tätigkeit des
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Sprechens, Hörens oder Denkens etwas Neues hinzugefügt“ (Paul [1880] 1968: 27) wird. Die individuelle Kompetenz manifestiert sich in der Sprachverwendung, die der eigentliche Ort sprachlicher Veränderung ist. Die Individuen sind somit „die eigentlichen Träger der historischen Entwicklung“ (Paul [1880] 1968: 28). In Übereinstimmung mit Pauls Sprachtheorie legte Philipp Wegener (1848−1916) 1880 ein junggrammatisches Programm einer staatlich geförderten, im gesamten Deutschen Reich durchzuführenden Sprachdatenerhebung vor (vgl. Murray 2010: 78−79). Obgleich Wegeners Programm nicht in den Rang eines nationalen Großprojekts erhoben worden ist, kann es doch als programmatisches Fundament der Tradition junggrammatischer Ortsmonographien angesehen werden, die neben der Dialektgeographie den zweiten großen Pfeiler der klassischen Dialektologie bildet. Wegeners Programm beschreibt modellhaft Ziele, Gegenstände und Methoden einer dialektgrammatikographischen Forschung. Wie Paul stellt er den Idiolekt in den Vordergrund und favorisiert exakte Beschreibungen individueller dialektaler Kompetenzen. Ziel ist die exakte phonetische Beschreibung eines Ortsdialektes, wobei der Forscher im Idealfall im Dialekt sozialisiert ist. Somit bilden die Ortsdialekte eine hervorragende Möglichkeit, die junggrammatischen Auffassungen vom Sprachwandel und der Psychologie der Individuen an sprechsprachlichem Material zu überprüfen. Für die Dialektologie des Deutschen ist es dann insbesondere die Tradition der junggrammatischen Ortsgrammatiken (vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.2.), die ab 1876 über Jahrzehnte hinweg eine nahezu vollständige Beschreibung der Struktur des individuellen Fundamentalbereichs der Kompetenz für die Varietät Dialekt liefern (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 91−92). Um eine solche exakte Beschreibung der Ortsdialekte vorzunehmen, bedurfte es allerdings einer wissenschaftlichen Phonetik, wie sie 1876 von dem Phonetiker und Junggrammatiker Eduard Sievers in seinem Werk Grundzüge der Lautphysiologie − parallel zu Henry Sweet (1877) − vorgelegt wurde. Sievers, der im Kontext der naturwissenschaftlichen Ausrichtung der junggrammatischen Schule steht, beschreibt hier die Laute aus der Perspektive ihrer Artikulation. Demnach ist die Analyse der akustischen Lauteigenschaften Aufgabe der Physik, während die Physiologie die Informationen über die Aktivität der Organe während der Sprechtätigkeit liefert (vgl. Sievers 1876: 1). Ein Vorläufer dieser Methode ist Ernst Brücke, der in seiner Arbeit zur Physiologie und Systematik der Sprachlaute für Linguisten und Taubstummenlehrer (1856) bereits eine lautphysiologische Analyse vorlegte. Im Kontext der junggrammatischen Schule eröffnete die lautphysiologische Beschreibung der Sprachlaute eine völlig neue Perspektive, waren doch Sprachlaute bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend auf der Grundlage geschriebener Sprache beschrieben und Laut und Buchstabe gleichgesetzt worden. Wissenschaftliche Phonetik und junggrammatische Schule sind somit die Bedingung der Möglichkeit einer systematisch einsetzenden dialektologischen Forschungstätigkeit, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einsetzte und als klassische Dialektologie bezeichnet werden kann.
4. Gegenstandsbereiche und Methodologie der klassischen Dialektologie 4.1. Die Ausgangslage der klassischen Dialektologie Der Beginn der Dialektologie des Deutschen als wissenschaftliche Disziplin fällt in das sogenannte „Epochenjahr“ 1876. Es ist dies das Jahr, in dem Georg Wenker mit seinen
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dialektgeographischen Arbeiten begann und in dem mit Jost Wintelers Grammatik der Kerenzer Mundart die erste für Generationen von Dialektologen modellhafte dialektgrammatikographische Arbeit erschien. Mit der Erarbeitung eines umfangreichen Faktenwissens, der Entwicklung eines methodologischen Kanons und der Erarbeitung einer Dialekttheorie emanzipierte sich die Dialektologie ab diesem Zeitpunkt allmählich von dem dominierenden Paradigma der Historischen Sprachwissenschaft (vgl. Herrgen 2001: 1518). In methodischer Hinsicht liegt eine reduktionistische, ausschließlich die areale Dimension berücksichtigende Herangehensweise vor, die sich auf einen bestimmten Ausschnitt der Kompetenz verschiedener Sprechergruppen für den Dialekt konzentriert, nämlich den phonologischen und morphologischen Fundamentalbereich der Kompetenz (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 107). Mit den junggrammatischen Ortsgrammatiken und den dialektgeographischen Arbeiten Georg Wenkers liegen die zwei Grundpfeiler der klassischen Dialektologie vor, die aber in ihrem Vorgehen grundsätzlich verschieden waren. Ging es jenen um eine möglichst exakte Beschreibung des Einzelsystems eines Ortdialektes, bei der die Raumdimension nahezu ausgeblendet wurde, stand bei diesem die vollständige Erhebung der Dialekte des Deutschen und damit die Raumdimension im Mittelpunkt (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 90).
4.2. Dialektgrammatikographie Obgleich Wegeners Programm einer dialektgeographischen Forschung nicht realisiert wurde, entsteht ab 1876 eine Tradition junggrammatischer Ortsmonographien, die durch Jost Wintelers (1846−1929) Grammatik der Kerenzer Mundart des Kantons Glarus begründet wird (zur wissenschaftshistorischen Einordnung Wintelers vgl. auch Kohrt 1984). Winteler, ein Schüler Georg Delbrücks und des Phonetikers und Junggrammatikers Eduard Sievers, 1846 im Kanton Glarus geboren und der Sohn eines Lehrers, sprach nicht nur den Dialekt seiner Gegend, sondern auch den schweizerdeutschen Standard (vgl. Veith 2006b). In seiner Grammatik, die als Modell für Generationen von Dialektologen diente, beschreibt Winteler den Dialekt seines Heimatortes Kerenz auf der Grundlage der Lautphysiologie Eduard Sievers. Er beschreibt die physiologische Natur der Konsonanten und Vokale seines Dialektes und setzt diese in Relation zu ihrer historischen Entwicklung. Das Hauptziel dieser junggrammatischen Ortsgrammatik ist die vollständige Beschreibung der Lautlehre und auch des Flexionssystems eines gesprochenen Ortsdialektes. In Wintelers Methode zeigen sich bereits vorstrukturalistische Ansätze. So zeigt er etwa, dass es Laute mit der Eigenschaft gibt, Bedeutungen zu verändern und nimmt so die Disziplinen Phonetik und Phonologie vorweg (vgl. Veith 2006b: 591). Zu den frühen Klassikern der Ortsmonographien, die in der Nachfolge Wintelers entstanden sind, zählen die Arbeiten von Holthausen (1886), Heusler ([1888] 1970), Schatz (1897) und Lessiak (1903), die den mehr oder weniger typischen Aufbau einer standardisierten Ortsmonographie aufweisen (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 91): Einem Lautteil als Kernstück der Ortsmonographie, der das phonetische System des Ortsdialektes beschreibt und der gegebenenfalls noch eine Skizze der Prosodie enthält, folgen eine Auflistung des dialektalen Kernwortschatzes sowie eine Beschreibung des morphologischen und morphosyntaktischen Systems. Abgeschlossen wird die Ortsgrammatik manchmal noch mit Beobachtungen zu syntaktischen Besonderheiten des Ortsdialektes. Die Ortsmonographien sind in dreifacher Hinsicht reduktionistisch und zwar hinsichtlich der
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Sprachbeschreibungsebene, des Gegenstandes „Dialekt“ und der Datengrundlage: Sie legen den Fokus auf das phonetische System des Dialekts und liefern „akribische phonetische Beschreibungen für den Dialekt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ (Schmidt & Herrgen 2011: 95), den sie ausschließlich als eindimensional-diatopisches Phänomen wahrnehmen. Auch in ihrer Datengrundlage sind sie stark reduktionistisch, da sie die Kompetenz einzelner Individuen, nämlich „junger Akademiker für die Varietät Dialekt“ (Schmidt & Herrgen 2011: 95) widerspiegeln. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert ergaben sich durch die Möglichkeit, Dialekte auf Schallträger aufzunehmen, weitreichende Folgen für die dialektologische Forschung. Wie Murray in Bezug auf die Ortsmonographien hervorhebt, gab es bis dahin „one important ingredient missing in this descriptive and analytic framework − actual sound recordings“ (Murray 2010: 81). Nach der Erfindung des Phonographen durch Edison (1877) und der Schallplatte (1887) erkannte man bald den Nutzen der neuen Aufnahmetechniken für die Dialektologie. 1899 wurde das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften in Wien von Joseph Seemüller gegründet, der eine systematische Aufzeichnung der deutschen Dialekte vornahm (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 116). 1909 wurde das Schweizer Phonogrammarchiv und 1920 die Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek gegründet. Zum „Inventar“ der klassischen Dialektologie gehören dann auch die beiden seit 1950 mit den Mitteln der modernen Rundfunktechnik erstellten Aufnahmeserien, nämlich Eberhard Zwirners Lautbibliothek der deutschen Mundarten mit ca. 500 Aufnahmen aus 1000 Orten aus dem Zeitraum 1955−1960 (vgl. Zwirner 1956 und Zwirner & Bethge 1958) und die Tonbandaufnahme der Vertriebenenmundarten (TAVM) mit ca. 989 Aufnahmen aus den Jahren 1962−1965/1966 (vgl. Bellmann 1964 und Bellmann & Göschel 1970). Die erstellten Tondokumente boten einerseits die Möglichkeit, bereits erhobene Daten zu validieren, andererseits aber auch zu ergänzen. Die Übertragung der exakten Beschreibung der Ortsgrammatiken auf kleinere Sprachlandschaften leisteten dann Anfang des 20. Jahrhunderts so genannte Landschaftsgrammatiken. Primäres Ziel der Landschaftsgrammiken war es, die indirekt erhobenen Daten der Wenker-Karten „durch unabhängige Daten, die direkt durch einen phonetisch geschulten Untersucher erhoben sein mussten, zu validieren“ (Schmidt & Herrgen 2011: 112). Dies leistete die von Ferdinand Wrede (1863−1934), der ab 1911 in der Nachfolge Wenkers das Marburger Sprachatlas-Institut leitete, 1908 begründete Reihe Deutsche Dialektgeographie (Marburg 1908 ff.), die für kleinere Landschaften des Deutschen das Wenker-Material ergänzen konnte (vgl. auch Schrambke 2010: 91−94). Insgesamt kann festgehalten werden, dass sowohl Orts- als auch Landschaftsgrammatiken den größten Teil des deutschen Sprachgebietes erschließen (vgl. Wiesinger & Raffin 1982).
4.3. Dialektgeographie Obgleich sich die erste Sprachkarte bereits in Schmellers Die Mundarten Bayerns (1821) fand, so kann von einer systematisch betriebenen Dialektgeographie und -kartographie erst mit dem Beginn der Forschungstätigkeit des Marburger Bibliothekars Georg Wenker (1852−1911) gesprochen werden, die im Großraumatlas Sprachatlas des Deutschen Reichs (1889−1923) ihren eindrucksvollen Höhepunkt findet (vgl. hierzu auch Lameli 2014: 1−91). Die handgezeichneten Karten des Sprachatlas des Deutschen Reichs wur-
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den im Rahmen des Projekts Digitaler Wenker-Atlas (DiWA) im Internet publiziert und sind auf der Internet-Plattform Regionalsprache.de (REDE) verfügbar. Der Sprachatlas des Deutschen Reichs liegt in zwei farbigen Manuskript-Exemplaren vor, wobei das deutsche Sprachgebiet jeweils auf drei Einzelblättern im Maßstab 1:1.000.000 (Nordwest-, Nordost-, und Südwestblatt) projiziert wird. Auf insgesamt 1.668 Teilkarten sind 339 sprachliche Phänomene kartiert. Das Werk wurde in Auszügen im Deutschen Sprachatlas (DSA) veröffentlicht (1927−1956). In einem neueren Sprachatlasprojekt, dem Kleinen Deutschen Sprachatlas (KDSA, 1984−1999), sind die Sprachatlasmaterialien Wenkers weitestgehend kartiert, allerdings bei einer Ausdünnung des Ortsnetzes. In der Tradition Wenkers steht auch der von Walther Mitzka (1888−1976) initiierte Deutsche Wortatlas (DWA), von dem in der Zeit zwischen 1951 und 1980 insgesamt 22 Bände erschienen sind. Der DWA ist neben dem DSA die zweite dialektkartographische Großdokumentation und folgt mit seiner indirekten Fragebogenerhebung methodisch dem Wenker-Atlas. So wurde eine Liste mit 200 Wörtern an 50.000 Schulorte verschickt, wobei die dortigen Lehrer als Laien-Exploratoren fungierten. Weitere Großraumatlanten sind der Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (Eichhoff 1977/1978) und der Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland (König 1989). Auf Wenkers Ansatz geht letztlich die Marburger Schule zurück, die sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein „in Erhebungsmethode und Dateninterpretation als das bestimmende Forschungsparadigma der deutschen Dialektologie“ (Herrgen 2001: 1520) erwies. Erste sprachkartographische Arbeiten Wenkers (vgl. Wenker 1877), in denen er auch indirekte Sprachdatenerhebungen vornahm, behandeln die Dialekte der nördlichen Rheinprovinz und im Nordwesten des Deutschen (vgl. hierzu auch Knoop, Putschke & Wiegand 1982: 46−68), die dann schließlich auf die Areale des Deutschen Reichs ausgedehnt wurden. Man kann sich Wenker und Wegener durchaus als Konkurrenten vorstellen, die etwa zur selben Zeit, nämlich 1878 bzw. 1879 um Zustimmung für ihre Projekte warben (vgl. Bellmann 1986: 26). Dass Wenker mit seinem Konzept im Gegensatz zu Wegener in Bezug auf institutionelle bzw. finanzielle Unterstützung erfolgreich war, mag „an der bestechenden organisatorischen Einfachheit des Wenkerschen Planes […]“ (Bellmann 1986: 26) liegen. Das Verfahren der indirekten Datenerhebung durch Übertragung von zunächst 42, später dann 40 Sätzen („Wenker-Sätze“) durch Lehrer in Zusammenarbeit mit ihren Schülern in den jeweiligen Ortsdialekt sowie die mit 40.000 Ortspunkten außerordentlich hohe Belegortdichte ermöglichten ein Maximum an Ökonomie und Vollständigkeit. In einer frühen Forschungsphase bestand das Ziel Wenkers darin, klare Dialektgrenzen aufzudecken. Während der Vorarbeiten am Sprach-Atlas der Rheinprovinz rückte er aber aufgrund der unübersichtlichen Datenlage von „der alten naiven Vorstellung von Dialektgrenzen“ (Wenker 1886: 90) ab. Wenker erkannte, dass Dialekte nicht abgegrenzt vorliegen, sondern von dem Sprachforscher erst abgegrenzt werden müssen. Diese veränderte Zielsetzung war das Resultat der kartographischen Bearbeitung der Sprachdaten, die die Hypothese von der Existenz klarer Dialektgrenzen falsifiziert hatte (vgl. Knoop, Putschke & Wiegand 1982: 59). Doch auch dieses Forschungsziel wurde schließlich während der Arbeiten am Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland durch ein neues dialektgeographisches Forschungsziel, die Datendokumentation abgelöst. Demnach geht es „nicht mehr um die Abgrenzung von Dialekten und nicht mehr um einen Begriff von Dialektgrenze, sondern die Dialektkarten sind eine zweidimensionale Datendokumentation für die Erforschung der Dialekte.“ (Knoop, Putschke & Wiegand 1982: 64). Die nachträgliche Motivierung der Erkenntnisziele Wenkers durch seinen
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Nachfolger Wrede, wonach jener am Anfang seiner Materialsammlungen das junggrammatische Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze habe beweisen wollen (vgl. etwa Wrede 1919: 9), gilt inzwischen aber als widerlegt (vgl. hierzu Wiegand & Harras 1971: 11−13). Für das Verständnis des Wenker-Atlasses ist die von Lameli (2013) herausgegebene Gesamtausgabe der Schriften Wenkers von besonderer Bedeutung, da hier insbesondere die bislang als verschollen geltenden 119 Kommentare Wenkers zu den bis zu seinem Tod 1911 gezeichneten Karten erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Neben dem unbestreitbar großen Einfluss, den die Marburger Schule im Inhaltlichen ausübte, war es vor allem ihr methodischer Zugang, der für die Dialektologie insgesamt eine große Rolle spielte und zwar sowohl hinsichtlich der Datenerhebung und Datenauswertung als auch der Dateninterpretation (vgl. Herrgen 2001: 1523). Das Verfahren der mit Hilfe eines Fragebogens durchgeführten indirekten Datenerhebung durch LaienTranskription war zeit- und kostenökonomisch und auf eine maximale Erhebungsortdichte ausgelegt. Die Datenauswertung in Form der Kartierung erfolgte durch ein kombiniertes Flächenverfahren mit Angabe der jeweiligen Leitform, wobei Varianten als Ausnahmen in Originalform erscheinen. Heftig kritisiert wurde die Methodik des Wenkerschen Sprachatlasses von Otto Bremer (1862−1936), einem Schüler von Eduard Sievers. Bremers Kritik richtete sich vor allem gegen die Methode der Laien-Transkription und die Nichtberücksichtigung sozialer Sprachvarianten. Insbesondere der erste Kritikpunkt ist aus Sicht der wissenschaftlichen Phonetik erheblich, da die Lautklassenerfassung durch Laien keine unmittelbar verwendbaren Daten für linguistische Analysen liefert (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 107). Dass die mit Hilfe der Laien-Transkription erhobenen Daten einer Validierung bedurften, war den Bearbeitern des Wenker-Atlasses und den Zeitgenossen durchaus bewusst und für die weitere Entwicklung der klassischen Dialektologie von großer Bedeutung. Diese kann deshalb in großen Teilen „als Geschichte der sukzessiven Validierung der Wenker-Daten“ (Schmidt & Herrgen 2011: 107) beschrieben werden, wobei hier vor allem die Landschaftsgrammatiken und Tondokumente genannt werden müssen (vgl. Kap. 4.2.). Nicht unerwähnt bleiben dürfen aber auch die nahezu zeitgleich zu Wenkers Großprojekt begonnenen dialektgeographischen Arbeiten, wie die Geographie der schwäbischen Mundart (1895) von Hermann Fischer, die als Atlas mit 28 kombinierten Karten publiziert wurde, und die Arbeit von Karl Haag (1898) zum oberen Neckarraum. Sowohl Fischer als auch Haag zählen deshalb mit Recht „zu den Vätern der deutschen Dialektgeographie“ (Löffler 2003: 28). Für den nicht-deutschsprachigen Raum nimmt der ebenfalls fast gleichzeitig zum Wenker-Atlas entstandene Atlas linguistique de la France (ALF) von Jules Gilliéron (1854−1926) und Edmond Edmont (1848−1926) eine herausragende Rolle ein. Im Gegensatz zu Wenker wählte Gilliéron für den ALF, der zum Teil vom französischen Bildungsministerium finanziert wurde, die direkte Erhebungsmethode. Sein Explorator Edmond Edmont hatte ein System entwickelt, um dialektale Laute zu transkribieren, das er exemplarisch in seiner Studie zur Lexik seiner Heimatstadt Saint-Pol (Normandie) angewandt hatte. Dieses System kam dann bei den ALF-Erhebungen in den Jahren 1897−1901 in 639 Orten zum Einsatz (vgl. Veith 2006c: 84). Die direkte Befragung ist zwar kosten- und zeitintensiver als die indirekte und muss notgedrungen mit einem kleineren Ortsnetz auskommen (der Sprachatlas des Deutschen Reichs deckt 100 % der Schulorte ab, der Atlas linguistique de la France hat einen Ortspunktanteil der französischen Gemeinden von 2 %), sie bietet jedoch im Ergebnis
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den Vorteil einer präziseren Datenerfassung durch genaue phonetische Transkription. Aus diesem Grunde folgten dann international als auch in Deutschland die meisten Sprachatlasprojekte der methodischen Anlage des ALF. So ist eine Reihe von Kleinraumatlanten entstanden, die große Teile des mittel- und oberdeutschen Sprachraums abdecken (vgl. die Übersicht bei Niebaum & Macha 2006: 34; vgl. auch Schmidt & Herrgen 2011: 136−141). Die Kleinraumatlanten des Deutschen (mit Ausnahme des Mittelrheinischen Sprachatlasses [MRhSA], vgl. Kap. 5.3.) sind monodimensionale Atlanten und dokumentieren den jeweils tiefsten Basisdialekt einer Region und damit ausschließlich die horizontale Dimension des Dialekts.
4.4. Interpretative Verfahren der Dialektologie War es eine zentrale Funktion der klassischen Dialektologie den Basisdialekt zu dokumentieren, so bildeten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung interpretativer Verfahren neue Zielsetzungen heraus. Diese hatten vor allem die Aufgabe die räumliche Distribution dialektaler Sprachdaten bzw. die Existenz von Sprachgrenzen zu erklären. Von den traditionellen methodischen Mitteln der Dialektologie, der Ortsgrammatik und der Sprachkarte, war es vor allem letztere, die sich „über den Status eines Dokumentationsmittels herausheben und zu einem eigenständigen Forschungsinstrument weiterentwickeln“ (Niebaum & Macha 2006: 71) konnte. Zur Konsolidierung der Dialektologie als wissenschaftlicher Disziplin war dies ein wichtiger Schritt, da sie sich so „deutlich von der historischen Sprachwissenschaft abheben und sich aus der ursprünglichen hilfsdisziplinären Funktion befreien“ (Putschke 1982: 244) konnte. Datengrundlage einer solchermaßen sich emanzipierenden Dialektgeographie blieb aber weiterhin der monodimensionale Basisdialekt, dessen diatopische Variation als „eine Funktion von außersprachlichen raumbildenden Kräften, von Geschichte, Kultur und Wirtschaft“ (Jongen 1982: 248) betrachtet wurde. Dieser extralinguistische Erklärungsansatz ist insbesondere von der Marburger Schule vertreten worden, die die Junggrammatik mit ihrer „lautpsychologischen und individualpsychologischen Vorherrschaft“ (Wrede 1919: 8) ablehnt und an die Stelle des mechanistisch verstandenen Lautgesetzes „die sozial und historisch definierte Sprachgemeinschaft“ (Wiesinger 1982: 145) setzt. In diesem Zusammenhang ist auch die Charakterisierung der Marburger Dialektgeographie durch Wrede als Soziallinguistik (vgl. Wrede 1903: 31 u. 33) in Abgrenzung zur junggrammatischen Individuallinguistik zu sehen. Soziallinguistik ist nicht mit Soziolinguistik oder Sprachsoziologie zu verwechseln, sondern meint „in Ausschließlichkeit die areale Dimension und deren vor allem außersprachlich-historische Steuerungskräfte“ (Bellmann 1986: 33). Die extralinguistische Methode findet ihren Höhepunkt in den Arbeiten von Theodor Frings (1886−1968), einem Schüler Ferdinand Wredes. In seiner Schrift Rheinische Sprachgeschichte (1924) und in dem in Zusammenarbeit mit dem Historiker Hermann Aubin und dem Volkskundler Josef Müller publizierten Werk Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden (Aubin, Frings & Müller 1926) werden die Korrelationen zwischen Sprachgrenzen und geographischen, historischen, politischen und konfessionellen Grenzen als Auswirkungen früherer Kommunikationsbarrieren oder sogenannter Verkehrsgrenzen (vgl. Frings 1924: 8) erklärt. Kritik am extralinguistischen Erklärungsansatz äußert beispielsweise Auer, nach dessen Auffassung es nicht die Verkehrsgrenzen sind, „sondern der Raum als mentales Konstrukt, der die Wahrnehmung
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sprachlicher Variabilität steuert und gegebenenfalls auch in der sprachlichen Produktion sprachliche Grenzen (Isoglossen) bewahrt oder sogar aufbaut“ (Auer 2004: 162). Die extralinguistische Methode, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der dominierende Interpretationsansatz war, wurde im Zuge der zunehmenden „Linguistisierung der Dialektologie“ (Niebaum & Macha 2006: 70−71) durch die sogenannte intralinguistische Methode ergänzt. Die schon im 19. Jahrhundert zu beobachtende Orientierung dialektologischer Forschung an jeweils dominierenden oder doch zumindest aktuellen sprachwissenschaftlichen Paradigmen manifestiert sich insbesondere in der Anwendung strukturalistischer Methoden (vgl. hierzu Jongen 1982 und Barbiers 2010). Ein vorstrukturalistischer intralinguistischer Erklärungsansatz findet sich schon bei Gilliéron & Roques im Rahmen der wortgeographischen Analyse am Beispiel der Bezeichnungen für ‘Hahn’ im Gaskognischen (vgl. Gilliéron & Roques 1912, vgl. hierzu auch die Kt. 320 des ALF). Erste Vorschläge für eine Dialektologie unter strukturalistischen Vorzeichen finden sich bei Trubetzkoy (1931), doch von einer systematischen Anwendung strukturalistischer Methoden in der Dialektgeographie kann erst ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gesprochen werden (vgl. hierzu Goossens 1969). Hier muss insbesondere Weinreich (1954) hervorgehoben werden, dessen Arbeit den programmatischen Titel Is a Structural Dialectology Possible? trägt, und der vor allem mit seinem Begriff des Diasystems eine wesentliche Grundlage zur strukturalistischen Dialektbeschreibung geschaffen hat. Deren Ziel ist die Strukturbeschreibung des Sprachsystems, welches sich aus den Relationen seiner Elemente zusammensetzt. Die strukturelle Dialektgeographie hat dabei die „Aufgabe, Strukturübereinstimmungen und -unterschiede zwischen verschiedenen ursprungsverwandten und im Raum aneinander grenzenden Mundartsystemen aufzudecken, darzustellen und zu deuten.“ (Jongen 1982: 248). Eine große Nähe zu der von Trubetzkoy entwickelten Phonologie weist die von Anton Pfalz 1918 entwickelte Reihenschrittheorie auf, die von den Dialektologen der sogenannten Wiener Schule mehrfach empirisch überprüft wurde (vgl. Wiesinger 1970, 1982). Reihenschritte stellen ein Grundprinzip vokalischen Lautwandels dar und werden zur Erklärung vokalischer Systemveränderungen herangezogen. Demnach vollzieht sich Lautwandel als gleichsinnige Veränderung aller Glieder einer Reihe. Pfalz formuliert dies folgendermaßen: „In einer indo[germanischen] Sprache gleichzeitig vorhandene vordere und hintere Vokale machen, soferne sie gleiche Höhe und Spannung besitzen, gleichartigen Wandel gleichzeitig durch, solange nur der eine Vokal ein vorderer und der andere ein hinterer bleibt.“ (Pfalz 1918: 29). Pfalz (1936) war auch der erste Dialektologe, der die Phonologie aufgriff. Im Gegensatz zur Marburger Schule hält die Wiener Schule am Begriff des Lautgesetzes fest und versucht „in der dialektalen Lautentwicklung die atomistische Sprachauffassung durch den Nachweis der Wirksamkeit von ordnenden, innersprachlich-genetischen Kräften zu überwinden“ (Wiesinger 1982: 145). Die strukturalistische Dialektologie erlebt dann in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, beispielsweise in der Anwendung auf Materialien des Niederländischen (vgl. Goossens 1969) und des Schweizerdeutschen (vgl. Moulton 1961). Mit dem Aufkommen der generativen Grammatik kam dann ein weiteres zu seiner Zeit aktuelles Beschreibungsinventar in der Dialektologie zur Anwendung (vgl. hierzu ausführlich Veith 1982). Dialektale Sprachsysteme, die im Raum miteinander kontrastieren, wurden „mittels je unterschiedlicher Regelbestände oder Regelanwendungen auf bestimmte Bezugssysteme“ (Herrgen 2001: 1527) abgebildet, so dass „Dialektverschiedenheit als Differenz von Ersetzungsregeln verstanden werden“ (Herrgen 2001: 1527)
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konnte. In der Sprachkartographie werden Dialektkarten schließlich zu Regelkarten. Die generative Grammatik hat die Dialekte als wertvolle Datenquelle herangezogen, so dass dann auch in der Folge zahlreiche dialektologische Arbeiten entstanden sind, etwa zur Dialektsyntax des Bairischen (vgl. Weiß 1998). Weitere sprachtheoretische Konzepte wie die Optimalitätstheorie oder die Grammatikalisierungstheorie gelangten ebenfalls in der Dialektologie zur Anwendung (zur Optimalitätstheorie vgl. etwa Herrgen 2005; zur Grammatikalisierungstheorie Girnth 2000).
5. Pluridimensionale Dialektologie 5.1. Wissenschaftshistorische Voraussetzungen einer pluridimensionalen Dialektologie Mit der kommunikativ-pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft und dem Aufkommen der Soziolinguistik in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts rückte die Betrachtung sprachlichen Handelns in seinen kommunikativen und sozialen Zusammenhängen in den Blickpunkt des Interesses. Die Abkehr von der Systemlinguistik, die die innersprachlich-strukturellen Zusammenhänge in den Mittelpunkt stellt, bedeutete eine Aufgabe des Homogenitätspostulats zugunsten einer Auffassung von Sprache, die die Heterogenität als eine ihr inhärente Eigenschaft betrachtet. Auch in dieser Phase der Wissenschaftsgeschichte bleibt die Dialektologie ihrer Tendenz treu, sich an den vorherrschenden bzw. aktuellen Paradigmen zu orientieren und diese in ihre Fragestellungen und Methoden zu integrieren. Da die Dialektologie die sozio-pragmatische Dimension der Dialekte seit Wenker weitestgehend ausklammerte und damit ihren Gegenstand nicht in seiner Ganzheit betrachtete, kommt der kommunikativ-pragmatischen Wende für die Dialektologie eine entscheidende Bedeutung zu. Mit der Rezeption sozio- und pragmalinguistischer Forschungsergebnisse sowie der damit einhergehenden Erweiterung zu einem pluridimensionalen Dialektbegriff findet die Dialektologie als Wissenschaftsdisziplin allmählich zum Abschluss ihrer Konsolidierungsphase. Allerdings muss konstatiert werden, dass die Soziolinguistik und die Pragmatik als anwendungsorientierte und im gesellschaftspolitischen Sinne fortschrittlicher wahrgenommene Disziplinen der Dialektologie hinsichtlich der Aufgabenverteilung zunächst einmal komplementär gegenüberstanden. So weist Bellmann (1994: 2) darauf hin, dass die von William Labov initiierte Variante der Soziolinguistik mit ihrer Ausblendung der arealen Dimension und der Festlegung auf einen idealen Untersuchungsort im Sinne einer Ein-Punkt-Soziolinguistik ähnlich reduktionistisch vorging wie die Dialektologie mit der Ausblendung der sozialen Dimension. Neben Labovs variationistischem Ansatz (vgl. Labov 1966) waren vor allem das Konzept der Sprachbarriere bzw. schichtenspezifischer Codes von Bernstein (vgl. Bernstein 1972 und 1975), die Untersuchungen zu Bilingualismus und Diglossie von Fishman (vgl. Fishman 1975) und ethnographische Formen der Kommunikationsanalyse (vgl. Hymes 1968) von besonderem Einfluss auf die Dialektologie des Deutschen.
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5.2. Sozio-pragmatische Dialektologie Eine um die soziale Dimension erweiterte oder auch so genannte kommunikative Dialektologie (vgl. hierzu auch Niebaum & Macha 2006: 161−202) erlebte vor allem in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Hochphase. Anfang der 70er Jahre „wurden […] fast gleichzeitig und weithin unabhängig voneinander mehrere Arbeiten veröffentlicht, die sich mit den sozialen und schulischen Implikationen von Regionalsprachen befassen“ (Besch 1975: 15). Die kommunikative Dialektologie hat vor allem die Aufgabe, „die gesellschaftlichen und situativen Bedingungen und Funktionen der Verwendung dialektaler Sprachvarietäten […] aufzuzeigen und auf Zusammenhänge zwischen diesen Komplexen hinzuweisen“ (Mattheier 1980: 9). In einer Bestandsaufnahme und wissenschaftstheoretischen Positionierung weist Mattheier der Dialektologie mit den gesellschaftlichen Gruppierungen (vgl. hierzu auch Villena-Ponsoda 2010), den gesellschaftlichen Situationen und dem Raum drei Bereiche zu, die sich den drei Teildisziplinen Dialektsoziologie, Dialektpragmatik und Dialektgeographie zuordnen lassen. Während letztere mit ihrer monodimensionalen Ausrichtung seit Wenker bislang eindeutig im Vordergrund stand, untersucht die Dialektsoziologie „die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Sprache und den gesellschaftlich-situativen Gliederungen innerhalb einer Sprachgemeinschaft und im speziellen auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen den sozialen Gruppierungen und den gesellschaftlichen Situationen“ (Mattheier 1980: 17) und die Dialektpragmatik „die situativen Bedingungen und Funktionen von Dialektgebrauch insbesondere im Verhältnis zum Gebrauch von anderen Varietäten […]“ (Mattheier 1980: 22). Als prominente Beispiele sollen im Folgenden die Themenkomplexe Dialekt und Schule sowie die Stadtsprachenforschung herausgehoben werden (vgl. hierzu Girnth 2007: 208−212). Die Institution Schule war ein bevorzugter Gegenstand, um die aus der amerikanischen Sprachbarriere-Diskussion stammende Sprachdefizit- bzw. Differenzhypothese im Rahmen der Dialektologie zu überprüfen. Insbesondere Bernsteins Thesen und insbesondere die Code-Theorie (vgl. Bernstein 1972 und 1975) wurden in den siebziger Jahren stark rezipiert, wobei vor allem das Schlagwort von der Sprachbarriere im Mittelpunkt stand. So wurde der Dialekt als Sprachbarriere beim Erwerb des Standarddeutschen in der Schule angesehen und mit Hilfe eines kompensatorischen Unterrichts sollten die angenommenen sozialen Nachteile von Dialektsprecherinnen und -sprechern abgebaut werden (vgl. hierzu auch Niebaum & Macha 2006: 203−207). Besonders hervorgehoben werden müssen in diesem Zusammenhang die als praktische Hilfe für Lehrerinnen und Lehrer konzipierten Sprachhefte Dialekt/Hochsprache kontrastiv, die zwischen 1976 und 1981 erschienen und das Hessische, Bairische, Alemannische, Schwäbische, Westfälische, Rheinische, Pfälzische und Niedersächsische umfassen. Daneben gab es auch empirische Untersuchungen zu Problemen dialektsprechender Schülerinnen und Schüler, wie etwa die Arbeit Rosenbergs (1986) für Berlin. Auch wenn die Beschäftigung mit dem Thema Dialekt als Sprachbarriere im Laufe der 80er Jahre rückläufig wurde und nicht mehr der Basisdialekt, sondern großräumigere Regionalsprachen bzw. Umgangssprachen zunehmend in den Fokus rückten, gab es sporadisch immer wieder Arbeiten, die sich mit dieser Problematik beschäftigten (vgl. etwa Ammon & Kellermeier 1997 und Müller-Dittloff 2001). Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Stadtsprachenforschung. Städte zeichnen sich durch eine Vielzahl der in ihnen lebenden Gruppen und die Dichte der Sprecherinnen
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und Sprecher aus, die sie zu einem multi-ethnischen und multi-lingualen Raum machen. Über die lokalen sprachlichen Besonderheiten des Stadtdialektes hinaus sind Städte mit ihrer sozialen Komplexität ein idealer Untersuchungsgegenstand für die sozial- und situationsgesteuerte Sprachverwendung und -bewertung. Damit einher geht eine Erweiterung des traditionellen Analyseinstrumentariums, das durch empirische Verfahren aus der Soziologie und um die Ethnographie ergänzt wird (vgl. hierzu Niebaum & Macha 2006: 174−181; Veith 2002: 134−151). Die Stadtsprachenforschung wurde vor allem von den soziolinguistischen Arbeiten William Labovs (vgl. Labov 1966) beeinflusst, der in seinen Untersuchungen zur Sprache der Lower East Side von Manhattan einen Zusammenhang zwischen sozialer Schicht, Sprechstil und der Realisierung bestimmter sprachlicher Variablen feststellen konnte. Neuere multivariate Verfahren entwickelten dann flexiblere Kategorien, die die Heterogenität des sprachlichen Materials angemessen berücksichtigen, wie etwa die Clusteranalyse. Diese nimmt anstelle einer Kategorisierung der Sprecher aufgrund außersprachlicher Kriterien wie beispielsweise der Sozialschicht in einem ersten Schritt eine Kategorisierung nach sprachlichen Kriterien vor. Aufgrund ähnlicher Sprachdaten werden Sprecher zu Gruppen zusammengefasst, die in sich homogen sind, sich aber möglichst deutlich von den anderen Gruppen unterscheiden. Anschließend lassen sich die clusteranalytisch gewonnenen Gruppen mit außersprachlichen Variablen wie soziale Zugehörigkeit, Alter, Geschlecht, Bildungsstand etc. in Beziehung setzen (vgl. etwa Hofer 1997 und 2000 zur Stadtsprache in Basel). Die intersubjektiv nachprüfbare Clusteranalyse erweist sich somit als geeignetes Instrument der neueren Stadtsprachenforschung, um die Korrelation von sprachlichen und außersprachlichen Variablen nachzuweisen (vgl. etwa Lenz 2003). Bereits vor Labov bestand in Europa und in Deutschland ein großes Interesse an den Stadtsprachen. Davon zeugt beispielsweise die große Zahl an Wörterbüchern zu deutschsprachigen Städten (vgl. Kühn 1978: 125−141). Hervorzuheben ist auch die linguistische Stadt-Umland-Forschung oder die Wortgeographie der städtischen Alltagssprache (Friebertshäuser & Dingeldein 1988). Zu einzelnen Städten erschienen phonetisch-phonologische, zum Teil auch morphologische Studien (vgl. beispielsweise Auer 1990 zu Konstanz; Hofer 1997 zu Basel). Darüber hinaus gibt es zahlreiche Arbeiten zu Unterschieden im Bereich der Diatopik, wobei zwischen einzelnen Stadtteilen (vgl. etwa Dittmar, Schlobinski & Wachs 1986 zu Berlin; Kallmeyer 1994 zu Mannheim und Brinkmann to Broxten 1986 zu Frankfurt) oder zwischen Städten (vgl. hierzu exemplarisch die Untersuchung von Huesmann 1998 zu sechs deutschen Groß- und Kleinstädten) unterschieden wird. Schließlich seien noch Untersuchungen zum Dialektalitätsniveau (vgl. Herrgen & Schmidt 1985) erwähnt, etwa am Beispiel der Stadtsprache von Mainz (vgl. Steiner 1994).
5.3. Pluridimensionale Dialektgeographie und -kartographie In der Dialektologie galt lange der Grundsatz, „that it is impossible to simultaneously investigate areal and social/situational dimensions of linguistic variation […]“ (Herrgen 2010: 668). Die Überwindung der reduktionistischen monodimensionalen Dialektologie und die Hinwendung zu einer pluridimensionalen Dialektologie, die nicht nur die diatopische, sondern auch die diastratische und diaphasische Dimension des Dialektes in den Blick nimmt, ist für die klassischen Aufgabenfelder der Dialektologie, Dialektgeographie
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und -kartographie schließlich der entscheidende Schritt, um der Komplexität ihres Gegenstandes hundert Jahre nach Wenker gerecht zu werden. Indem die Dialektologie weitere Variationsdimensionen einbezieht, fasst sie ihren Gegenstandsbereich weiter und „will das, was zusammenhängt, auch zusammenhängend untersuchen“ (Schmidt 1993: 454). Mit dem Mittelrheinischen Sprachatlas (MRhSA), dessen 6 Bände im Zeitraum von 1992−2002 erschienen, liegt ein Regionalatlas vor, der die Beschränkungen der klassischen Dialektologie überwindet und einen bidimensionalen Ansatz verfolgt (vgl. hierzu auch Girnth 2015). Durch sein „Ineinandergreifen von Dialektalität und Sozialität […]“ (Bellmann 1994: 2) darf der MRhSA als Typus eines neuen Regionalatlasses gelten, der die Fixierung auf die horizontale Dimension aufgibt und konsequent die vertikale Dimension und damit das Sprechlagenspektrum zwischen Dialekt und Standard mit einbezieht. Der Mittelrheinische Sprachatlas kartiert die dialektale Kompetenz zweier soziodemographischer Gruppen. Beide Gruppen teilen die Merkmale und , differieren aber in den Merkmalen und . Die erste Gruppe repräsentiert den traditionellen Dialektsprecher, die zweite Gruppe den Berufspendler mittleren Alters. Der MRhSA steht damit einerseits in der monodimensionalen Tradition der deutschen Regionalatlanten, andererseits hebt er in seiner Bidimensionalität die Grenzen zwischen Diastratik und Diatopik auf. Zur Zeit der Konzipierung des MRhSA gab es zwei Atlasprojekte, die bereits ein zwei- bzw. mehrdimensionales Konzept aufwiesen: Der Linguistic Atlas of New England von Kurath (1939−1943) und den Linguistic Atlas of the Seto Inland Sea (LAS) (1974) von Yoichi Fujiwara, der ein zwischen Kyoto und Hiroshima gelegenes Dialektgebiet zum Gegenstand hat. In diesem Zusammenhang ist auch der von Harald Thun und Adolfo Eliaincin etwas später als der MRhSA erarbeitete Atlas lingüístico diatópico y diastrático del Uruquay (ADDU) (2000 ff.) zu erwähnen, der − auf die sprachlichen Verhältnisse der „Neuen Romania“ bezogen − ebenfalls einen pluridimensionalen Ansatz verfolgt. Der bidimensionale bzw. pluridimensionale Ansatz zeigte sich im Kontext der Sprachkartographie auch weiterhin produktiv (vgl. etwa Mang 2004; Rein 2005), wobei insbesondere der von William Labov erstellte Atlas of North American English (2006) zu nennen ist. Obgleich er nicht als sprachdynamischer Atlas konzipiert war, legt der MRhSA sprachdynamische Interpretationen der dort dokumentierten Pluridimensionalität nahe. Der Zusammenhang von synchroner Variation und diachronischen Veränderungen ist im biseriellen Ansatz des MRhSA bereits angelegt und der Vergleich der beiden Datenserien verweist auf Entwicklungstendenzen im standardfernsten Bereich der modernen Regionalsprachen, die sich plausibel nachvollziehen lassen. Der MRhSA teilt aber das methodologische Problem aller apparent-time-Ansätze, das darin besteht, dass „synchronic variability is interpreted as change across time despite having no systematic control over the temporal dimension“ (Schmidt 2010: 206). Der direkte Schluss (Fehlschluss) von der synchronen Variation auf Sprachwandel ist immer mit Unsicherheiten verbunden und kann „nur dann sicher vermieden werden, wenn es gelingt, zwischen Variation mit unmittelbarem Sprachwandelpotenzial einerseits und andererseits Phänomenen wie langdauernder Variabilität […] oder ‚sprachlichem Altern‘ zu unterscheiden“ (Schmidt & Herrgen 2011: 145). Um belastbare Aussagen zum Sprachwandel machen zu können, ist eine die Zeitdimension einbeziehende real-time-Analyse unabdingbar. Diese ist dann Gegenstand echt dynamischer Dialektatlanten, die auf den MRhSA folgten (DiWA, REDE). Weitere Komplexitätserweiterungen in Theorie und Methode ermöglichen in der Gegenwart dann Analysen, die über den MRhSA weit hinausgehen. Hierzu zählt die
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Erhebung von situativem Sprachgebrauch eines repräsentativen Querschnitts der Bevölkerung und damit die Vermessung und Analyse der linguistischen Struktur und Dynamik der Regionalsprachen des Deutschen.
6. Fazit Die Wissenschaftsdisziplin Dialektologie des Deutschen hatte es von Anfang an immer mit einem sich stetig wandelnden Objektbereich zu tun, was in vielerlei Hinsicht Konsequenzen hatte. Um das Deutsche mit seiner regionalen sprachlichen Vielfalt, dem Spannungsverhältnis zwischen Dialekt und Standard und dem sich durch Variation und Wandel auszeichnendem vertikalen Kontinuum überhaupt wissenschaftlich greifbar zu machen, war für die Konstitutionsphase der klassischen Dialektologie ein reduktionistischer Schritt notwendig, der die areale Dimension in den Fokus rückte. Durch diese Einengung auf einen monodimensionalen Dialektbegriff gelangte die klassische Dialektologie zu eindrucksvollen Forschungsergebnissen und Datensammlungen, die auch für die aktuelle Forschung immer noch von unschätzbarem Wert sind. Im Laufe ihrer Entwicklung erwies sich die Dialektologie als wissenschaftliche Disziplin immer als modern im Sinne einer Orientierung an aktuellen wissenschaftlichen Strömungen. War es zunächst die Historische Sprachwissenschaft, die weit in das 20. Jahrhundert das dominierende sprachwissenschaftliche Paradigma war, so sind es im weitesten Sinne soziopragmatische Konzepte, die den Abschluss ihrer Konsolidierungsphase im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflussen. Mit der Öffnung zu einem pluridimensionalen und damit integrativen Dialektbegriff, der auch entsprechende methodologische und forschungspraktische Folgen hat, ist die Entwicklung der Dialektologie aber noch nicht am Ende. Zwischen dem Epochenjahr 1876 und dem Abschluss der Konsolidierungsphase im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts liegen beinahe 100 Jahre, in denen sich auch die Dialektlandschaft nachhaltig verändert hat. Die Verbreitung der Schriftsprache, die sozialen Umwälzungen nach dem 2. Weltkrieg und die Medialisierung der Gesellschaft führten dazu, dass der lokale Basisdialekt, das traditionelle Betätigungsfeld der Dialektologie, nachhaltig im Rückgang begriffen ist. Der Weg weist zukünftig hin zu einer „integrativen Regionalsprachenforschung“, die das Sprechlagenspektrum zwischen Dialekt und Standard in all seinen Ausprägungen in den Blick nimmt und generell nach sprachdynamischen Mechanismen fragt, „die nicht mehr nur auf linguistische Systeme, sondern zugleich auf die kognitiven Bedingungen des Sprechens zielen“ (Kehrein, Lameli & Rabanus 2015a: V). So führt ein integrativer Dialektbegriff direkt zu einer integrativen Dialektologie, die auch nach Abschluss ihrer Konsolidierungsphase ihren Gegenstand immer wieder neu bestimmen muss und dabei die jeweils aktuellen wissenschaftlichen Paradigmen in den Blick nimmt.
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Heiko Girnth, Marburg (Deutschland)
2. Sprache und Raum im Deutschen: Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate 1. 2. 3. 4.
Einleitung Phonologie/Prosodie Morphologie Syntax
5. 6. 7. 8.
Lexik Pragmatik Neurodialektologie Literatur
1. Einleitung Hätte man vor 40 Jahren nach den wichtigsten Desideraten der Dialektologie des Deutschen gefragt, so hätte man mit ziemlicher Sicherheit für die Varietät Dialekt die Systemebenen Syntax und Prosodie genannt, dann den gesamten Bereich „Umgangssprache“ als nur ansatzweise bearbeitetes Forschungsfeld herausgestellt und für die soziale Dimension der Sprachvariation darauf verwiesen, dass mit der Soziolinguistik ein eigenes Fach institutionalisiert wurde. Zudem konnte das weitgehende Fehlen einer „kommunikativen Dialektologie“ (Scheutz & Haudum 1982) moniert werden. Heute hat sich die Forschungssituation radikal verändert. Wie schon im Eröffnungsband der HSK-Subserie Language and Space herausgestellt wurde, sind Dialektologie und Soziolinguistik international dabei, ihren jeweils eindimensionalen Zugang zum Forschungsgegenstand zu überwinden. Wie weit gerade die Erforschung des Deutschen in diesem Kontext gekommen ist, dokumentiert das vorliegende Handbuch: In seiner Einleitung wird herausgestellt, dass sich aus den Ansätzen einer bi- bzw. multidimensionalen Dialektologie, die den Dialekt verschiedener sozialer Gruppen vergleicht, eine systematische Untersuchung der sprachlichen Vertikale im Raum entwickelt hat, bei der die Kompetenz für die Pole des Dialekt/Standard-Spektrums erhoben und der situative Sprachgebrauch verschiedener sozialer Gruppen analysiert wird (vgl. Kehrein, Art. 5 in diesem Band und Elspaß & Kleiner, Art. 6 in diesem Band sowie die Sprachraumartikel), wobei u. a. die Sequenzialihttps://doi.org/10.1515/9783110261295-002
2. Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate
tät von Gesprächen und der Kontextualisierungsbeitrag von regionaler Sprachvariation in den Blick genommen werden (vgl. Lanwer, Art. 27 in diesem Band und Lanwer 2015). Nimmt die Erforschung des Deutschen, was die systematische Erforschung der gesamten sprachlichen Vertikale im Raum angeht, eine Vorreiterrolle ein, so hinkt sie, was die folk-linguistics (Hoenigswald 1966), Hörerlinguistik, Wahrnehmungsdialektologie (Anders 2010) oder perzeptive Variationslinguistik (Purschke 2011) angeht, eher etwas hinterher. Sie wurde erst im letzten Jahrzehnt zu einem zentralen Forschungsthema (vgl. Purschke & Stoeckle, Art. 29 in diesem Band). Inzwischen wird jedenfalls deutlich gesehen, dass der areallinguistischen Untersuchung der Sprachproduktion eine ebenso wichtige Analyse der Wahrnehmung von Varianten, Varietäten, Sprechergruppen und Sprachräumen gegenüber stehen muss (vgl. Anders, Hundt & Lasch 2010). Eine echte Besonderheit der Sprachraumforschung zum Deutschen ist die in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte Möglichkeit, die Kurzzeitdiachronie der Varietät Dialekt anhand empirischer Daten über ein Jahrhundert oder mehr zu verfolgen und zu erklären. Georg Wenkers im Sprachraum exhaustive Erhebung von 1880, deren Ergebnisse zu größeren Teilen mit Hilfe phonetisch exakter Ortsgrammatiken aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert validiert werden können, und die inzwischen abgeschlossenen Regionalatlanten sowie weitere neuere Sprachdaten erlauben eine weltweit einmalige real timeAnalyse der Dialektdynamik (vgl. die Sprachraumartikel in diesem Band). Anders als vor 40 Jahren haben wir es heute also statt mit einer monodimensionalrekonstruktiven Dialektologie mit einer raumbezogenen Variationslinguistik/Regionalsprachenforschung zu tun, die die Dynamik des Gesamtspektrums der regionalen Varietäten systematisch untersucht und dabei die Produktionsdaten und deren Perzeption gleichermaßen im Blick hat. Im Dialektologie-Handbuch von Besch et al. (1982/1983) wurden die Quantifizierung von Sprachdaten („Dialektometrie“) und die Computerisierung als die damals wichtigsten aktuellen Entwicklungen herausgestellt. Beides hat tatsächlich die seitherige Forschungspraxis geprägt: Regionalsprachliche Daten werden u. a. online erhoben und präsentiert, (z. T. frei zugängliche) Datenbanken sind zu einem zentralen Analyseinstrument geworden (vgl. Fischer & Limper, Art. 31 in diesem Band). Die Quantifizierungstechniken wurden verfeinert und weiterentwickelt, Similaritäten und Differenzen von Varietäten können mit verschiedenen ausgereiften und erprobten Verfahren bestimmt werden, quantitative Raumstrukturen können für frei wählbare Phänomenausschnitte ermittelt werden (vgl. Lameli, Art. 7, Pickl & Pröll, Art. 30, sowie Birkenes & Fleischer, Art. 14, Herrgen & Vorberger, Art. 15, und Schmidt & Möller, Art. 16, alle in diesem Band). Da das neue Handbuch so konzipiert ist, dass die erwähnten Entwicklungen sowohl in den Sprachraumartikeln als auch in thematischen Artikeln ausführlich behandelt werden, erübrigt es sich, sie hier breiter darzulegen. An dieser Stelle soll daher vornehmlich gesichtet werden, was zu tun bleibt. Zu unterscheiden ist dabei zwischen bloßen „Exhaustivitätsdefiziten“, d. h. Bearbeitungslücken, bei denen auf etablierte Methoden zurückgegriffen werden kann, und echten methodischen Defiziten oder theoretischem Neuland. Da das Handbuch im Kern sprachraumbezogen angelegt ist, erfolgt die (skizzenhafte) Sichtung des Forschungsstands in diesem Beitrag nach den Systemebenen: Phonologie/ Prosodie, Morphologie, Syntax, Lexik und Pragmatik. Den Abschluss bildet die Behandlung einer aktuellen Entwicklung, die sich bei der Planung des Handbuchs noch nicht abgezeichnet hatte, der Neurodialektologie.
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I. Forschungsgeschichte
2. Phonologie/Prosodie Die segmentelle Phonetik und Phonologie ist mit Sicherheit der am besten bearbeitete Forschungsgegenstand der Areallinguistik des Deutschen. Für die Basisdialekte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts liegt mit der indirekten Wenkererhebung (Wenker 1888−1923) die weltweit dichteste Erhebung (annähernde Exhaustivität im Raum) vor, die durch die vielen fast zeitgleichen phonetisch exakten Ortsmonographien und die etwas später entstandenen Landschaftsmonographien validiert werden kann. All diese Erhebungen sind historisch-strukturell, sowohl was die Grenzen der Dialektverbände und ihre Übergangsgebiete als auch was exemplarische Ortsdialekte innerhalb der Dialektverbände angeht, komplett analysiert (Wiesinger 1983). Die historische strukturelle Analyse der Dialektgliederung wurde durch eine moderne quantitative Analyse des Wenkermaterials weitgehend bestätigt, in wichtigen Details aber auch modifiziert (vgl. Lameli 2013 und Schmidt & Möller, Art. 16, in diesem Band). Im internationalen Kontext weist die Areallinguistik bzw. Regionalsprachenforschung des Deutschen neben der Totalerhebung der Raumdimension zwei weitere Besonderheiten auf: Es liegt eine Zweiterhebung mit direkten Methoden im Abstand von 100−130 Jahren vor. Diese Zweiterhebung erfolgte und erfolgt im Oberdeutschen, westlichen Mittel- und Niederdeutschen in Form von modernen Dialektatlanten (s. Karte 2.1), im übrigen Ober- und Niederdeutschen in Form exemplarischer Erhebungen mit einem weitmaschigen Ortsnetz (vgl. die Projekte Sprachvariation in Norddeutschland [SiN], Regionalsprache.de [REDE] und SFB Deutsch in Österreich: Variation − Kontakt − Perzeption [DiÖ]). Damit wird eine Analyse der Kurzzeitdynamik (real time-Analyse) der noch „intakten“ deutschen Dialekte, d. h. der Dialekte, die im natürlichen Spracherwerb an die Folgegeneration weitergegeben werden, möglich (vgl. Schmidt & Herrgen 2011). Solche großräumigen sprachdynamischen Analysen, die auf empirischen statt rekonstruierten Sprachdaten basieren, liegen bisher nur für bestimmte Teilräume und auch dort nur für besonders aufschlussreiche Einzelphänomene vor. Dabei hat sich gezeigt, wie ergiebig sie hinsichtlich der Prozessgeschwindigkeit echten Lautwandels, des Verhältnisses externer, interner und kognitiv-interaktionaler Faktoren sowie der Stabilität und Labilität von Dialektgrenzen sind. Ein systematischer Vergleich der beiden großen Datenserien der deutschsprachigen Dialektologie steht allerdings noch aus. Interessanterweise fehlt es hier an einer technischen Voraussetzung. Während die Sprachdaten der neueren Atlanten sukzessive in Datenbanken überführt und im Internet verfügbar gemacht werden (vgl. Die bayerische Dialektdatenbank [BayDat] und REDE) und inzwischen eine informationelle Ontologie auf Basis der IPA-Chart entwickelt wurde, die es ermöglicht, phonetische Differenzen zwischen Datenserien für alle phonetisch-phonologischen Kategorien zu quantifizieren (vgl. Engsterhold 2018), gibt es bisher keine Möglichkeit, den Datenschatz der Wenkererhebung in eine Datenbank zu überführen. Die schiere Informationsfülle bei ca. 40.000 (bzw. mit Nacherhebungen 52.000) Ortspunkten und einer Vielzahl von Graphievarianten (in deutscher Kursive!) für jede phonetisch-phonologische Klasse hat bisher alle entsprechenden Versuche scheitern lassen. Um hier nicht auch weiterhin auf z. T. brachiale Datenreduktionen und stark reduzierte Samples angewiesen zu sein, sollte ein Großprojekt zur systematisch-technischen Erschließung der historischen Sprachdaten initiiert werden. Die zweite große und im internationalen Vergleich bisher einmalige Forschungsanstrengung der Regionalsprachenforschung des Deutschen galt der systematischen Erhe-
2. Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate
Kt. 2.1: Moderne Regionalatlanten des Deutschen (direkte Erhebung); ADT = Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien. 2014 ff.; ALA = Atlas linguistique et ethnographique de lʼAlsace. 1969/1984; ALLG = Atlas linguistique et ethnographique de la Lorraine germanophone. 1977; DHSA = Digitaler hessischer Sprachatlas; DMW = Dialektatlas Mittleres Westdeutschland; MRhSA = Mittelrheinischer Sprachatlas. 1994−2002; SAO = Sprachatlas von Oberösterreich. 1998−2010; SBS = Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben. 1996−2009; (Schles. SA = Schlesischer Sprachatlas. 1965−1967. Der Schles. SA rekonstruiert die schlesischen Dialekte aus Tonaufnahmen mit Vertriebenen. Er ist in Kt. 2.1 nicht berücksichtigt.); SDS = Sprachatlas der deutschen Schweiz. 1962−1997; SMF = Sprachatlas von Mittelfranken. 2003−2014; SNBW = Sprachatlas von Nord Baden-Württemberg. 2015 ff.; SNiB = Sprachatlas von Niederbayern. 2003−2010; SNOB = Sprachatlas von Nordostbayern. 2004 ff.; SOB = Sprachatlas von Oberbayern. 2005−2011; Sprachatlas für Rügen und die vorpommersche Küste = Herrmann-Winter (2013); SSA = Südwestdeutscher Sprachatlas. 1989−2012; SUF = Sprachatlas von Unterfranken. 2005−2009; TirolSA = Tirolischer Sprachatlas. 1965−1971; VALTS = Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluss des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus. 1985−2017.
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I. Forschungsgeschichte
bung der sprachlichen Vertikale, des Gesamtspektrums der Dialekt/Standard-Variation. In den letzten 15 Jahren wurde mit einem weitmaschigen Erhebungsnetz zum einen der Gebrauchsstandard bzw. standardnahe Regiolekt im zusammenhängenden deutschsprachigen Raum erhoben (Deutsch heute: weibliche und männliche Schüler, die einen gymnasialen Abschluss anstreben; 194 Ortspunkte), zum anderen die standardsprachliche und regionalsprachliche Kompetenz verschiedener Sprechergruppen (Männer, Frauen, verschiedene Altersgruppen, Sprechergruppen mit verschiedenen Bildungsabschlüssen) sowie deren Sprachgebrauch gegenüber Fremden und Freunden/Angehörigen (SiN: nur Frauen; ehemals niederdeutscher Sprachraum; 44 Ortspunkte; REDE: nur Männer; Deutschland; 150 Ortspunkte; DiÖ: Frauen und Männer; Österreich; 150 Ortspunkte). Die Auswertungen sind im Gange und, soweit sie vorliegen, in dieses Handbuch eingeflossen. Sie erfolgen in Form von Karten (Deutsch heute; Norddeutscher Sprachatlas [NOSA]), phonetischen Abstandsmessungen von Varietäten und Sprechlagen (REDE), Variablenanalysen (REDE und SiN), der Analyse der Sequenzialität von Gesprächen (SiN) sowie der Analyse von Hörerbeurteilungen (REDE und SiN). Was auffällt, ist eine gewisse „Unwucht“ der Auswertungen: Während für die Kompetenzerhebungen für die Pole des Spektrums in Relation zum abgefragten Material und seiner Ergiebigkeit (Wortlisten, Vorlesetexte, Wenkersätze) Vollständigkeit angestrebt wird, ist die Auswertung für die Zwischenbereiche des variativen Spektrums auf wenige Globalwerte (z. B. messphonetischer Abstand zum Standard; Hörerbeurteilung des Abstands zum Standard) und sehr enge Stichproben (Variablenanalyse) angewiesen. Gerade was das Standardverfahren der Variablenanalyse angeht, werden zunehmend seine methodischen Beschränkungen sichtbar: Ursprünglich als einfaches Instrument zur exakten Bestimmung der wichtigsten Differenzen zwischen standardnahen Varietäten konzipiert (vgl. Labov 1966), erweist sich zunehmend, dass seine Anwendung auf die komplexen und hochdifferenzierten Regionalsprachen des Deutschen einen Aufwand erforderlich macht, der im Missverhältnis zum begrenzten Ertrag steht. Der Aufwand entsteht in erster Linie, wenn die üblicherweise binäre Variantenklassifikation (standardkonform vs. standarddivergent) bei standardfernen Varietäten zu Fehlklassifikationen führen würde. Man denke an Dialekte, bei denen eines der Äquivalente von mhd. î und ei mit der Standardlautung zusammengefallen ist, oder an Dialekte, bei denen die neuhochdeutsche Diphthongierung nur auf bestimmte Bedingungen beschränkt ist (z. B. Auslaut, Hiatus). Die Anwendung der Variablenanalyse auf vertikale Spektren des Deutschen, die noch dialektnahe Varietäten umfassen, muss also grundsätzlich die historischen Bedingungen (Auftretensmöglichkeiten) der Variantenverteilung berücksichtigen, was im Zweifelsfall einzellexemisches Nachprüfen erfordert. Zudem umfassen die Variablen in deutschen Regionalsprachen häufig mehr als zwei Varianten, was sich nur durch Anwendung verschiedener Kunstgriffe mit dem an sich binären Klassifikationsprinzip vereinbaren lässt. Dieser Aufwand und die für statistische Analysen erforderliche hohe Textfrequenz von Variablen führen dazu, dass in der Regel nur relativ wenige Variablen in die Analyse eingehen. Der Durchschnitt bewegt sich zwischen 10 und 15 Variablen. Angesichts der Masse der standardabweichenden phonologischen Varianten eines traditionellen Dialekts − man schaue nur in eine beliebige Ortsgrammatik − wird deutlich, wie klein der durch die Variablenanalyse erfasste Ausschnitt der segmentell-phonologischen Dialekt/Standard-Variation ist. Hier könnte sich die Entwicklung alternativer Methoden als lohnend erweisen. Ansatzpunkte für solche Entwicklungen könnten z. B. (teil)automatisierte phonetische Abstandsmessungen sein, bei denen die Differenzen zwischen Sprachproben auf der Ebene phoneti-
2. Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate
scher Merkmale ausgewiesen werden und dann für quantitative Kontrastanalysen auf Merkmalsebene genutzt werden. Fragt man nach den wichtigsten Ergebnissen der jungen regionalsprachlichen Perzeptionslinguistik hinsichtlich der Phonetik und Phonologie, so fällt eine Diskrepanz zwischen der horizontalen und der vertikalen Dimension der Sprachvariation ins Auge. In Bezug auf die Horizontale sind die Korrespondenzen zwischen objektsprachlichen Merkmalen und den subjektiven Konzeptualisierungen aufs Ganze gesehen eher gering, hinsichtlich der Vertikale stimmen sie häufig gut überein. Was die Gliederung der Horizontalen angeht, sind bisher nur die hierarchisch und typologisch wichtigsten objektsprachlichen Grenzen auch konzeptionell (Konzept NORDDEUTSCH) und perzeptionslinguistisch nachweisbar (vgl. Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band zur Grenze zwischen dem mitteldeutschen Rheinfränkischen und dem historisch eigenständigen „Westdeutsch“), während auf der Ebene der Dialektverbände und ihrer Untergliederungen objektsprachliche und subjektive Einteilungen sowie Lautmerkmalszuschreibungen und empirisch erhobene Lautmerkmalsverteilungen z. T. erheblich voneinander abweichen (vgl. Purschke 2011 zum HESSISCHEN und Anders 2010 zum SÄCHSISCHEN). Da jedoch bekannt ist, dass auch im 21. Jahrhundert ökonomisch relevantes Verhalten (vor allem die Binnenmigration) mit objektiven historischen Dialektgrenzen korreliert (vgl. Falck et al. 2012), besteht hier ein grundsätzlicher Klärungsbedarf. Es stellt sich die Frage, ob und in welchem Maß die historischen Dialektgrenzen in den modernen Grenzen der Regiolekte fortbestehen. Nicht nur in diesem Zusammenhang ist eine systematische Bestimmung der perzeptiven Grenzen zwischen den heutigen Regiolekten und damit zwischen den modernen Regionalsprachen des Deutschen insgesamt dringendes Desiderat. Es ist sicher kein Zufall, dass konzeptionelle und objektive Grenzen dort am besten übereinstimmen, wo die horizontale und vertikale Variationsdimension am intensivsten interagieren: Der hohen subjektiven Bedeutung von Nationalstaatsgrenzen entspricht ihre zunehmende Wichtigkeit bei der Auseinanderentwicklung von Dialekt/Standard-Konstellationen, die von oben erfolgt, also durch die Orientierung der Sprecher an unterschiedlichen Standardsprachen (vgl. Stoeckle 2014; Hohenstein 2017) bzw. den Oralisierungsnormen derselben Standardsprache (vgl. Kleene 2017). Wie erwähnt, korrespondieren die Gliederung der Vertikale auf der Basis objektiver phonetisch-phonologischer Daten und die subjektive Einschätzung von Sprachproben hinsichtlich der Dialekt/Standard-Dimension auffällig gut. So stimmen die Ergebnisse von Variablenanalysen und phonetischen Abstandsmessungen weitgehend mit der subjektiv wahrgenommenen Dialektalität überein (vgl. Lenz 2003; Kehrein 2009, 2012). Diese Übereinstimmung lässt sich nur so erklären, dass die subjektive Dialektalität längerer Sprachproben ganz wesentlich durch die Anzahl der wahrgenommenen phonetischphonologischen Standardabweichungen bestimmt ist. Dabei scheinen sich „echte“ Näheeffekte in der Wahrnehmung und Beurteilung von Einzelregionalismen (geringere Salienz und Pertinenz in der Eigenwahrnehmung im Vergleich zur Fremdwahrnehmung) und inverse Näheeffekte (höhere Salienz und Pertinenz in der Eigenwahrnehmung im Vergleich zur Fremdwahrnehmung) aufzuheben (vgl. Kiesewalter 2018). Ungeklärt ist, ob die verbleibenden Differenzen zwischen den subjektiven Abstandsbestimmungen und den auf der Quantifizierung objektiv-segmenteller Lautmerkmale beruhenden Zuordnungen auf prosodischen Differenzen zwischen Varietäten und Sprachproben beruhen, für die bis heute keine valide Erfassungsmethode entwickelt werden konnte. Während die segmentelle Phonetik und Phonologie der am besten und erfolgreichsten bearbeitete Forschungsgegenstand der deutschen Regionalsprachenforschung ist, gilt für
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I. Forschungsgeschichte
die regionalsprachliche Prosodieforschung das Gegenteil. Obwohl die regionale Prosodie von Beginn an zum Programm der deutschen Dialektologie gehörte (Wegener 1879), über einen langen Zeitraum erhebliche Forschungsanstrengungen unternommen wurden (vgl. Peters, Art. 21 in diesem Band) und die letzten Jahre durch methodische Neuansätze bestimmt waren (versuchsweise Identifizierung phonologischer Einheiten ausgehend vom autosegmental-metrischen Ansatz; Resynthese von Konturen auf der Basis des Fujisaki-Modells, vgl. Fujisaki 1988; Mixdorff 2012), sind die Ergebnisse insgesamt nicht zufriedenstellend. „Die Erforschung der regionalen Prosodie im deutschen Sprachraum hat in den letzten Jahrzehnten wesentliche Fortschritte gemacht, sowohl im Hinblick auf die Datenbasis der Untersuchungen als auch im Hinblick auf die messtechnische Erfassung prosodischer Variation. Gleichwohl ist unser Wissen noch sehr lückenhaft, sowohl was die erfassten regionalen Varietäten betrifft, als auch in Bezug auf die Verbindung zwischen regionaler, soziolektaler, stilistischer und situativer Variation“ (Peters, Art. 21 in diesem Band: 672–673). So wissen wir z. B. bis heute nicht, wie weit die im süd(west)deutschen Sprachraum vermutete „konträre […] Melodisierung“ (Tiefton statt Hochton bei starker Akzentuierung; zu Sievers 1901 vgl. Peters, Art. 21 in diesem Band) über die Stadtsprache Freiburgs hinausreicht. Auch sind wir trotz intensiver und exakter Erforschung des Timings im Schweizerdeutschen lediglich in der Lage, tendenzielle Differenzen zwischen den untersuchten Teilräumen zu benennen, und müssen partiell auch ein Scheitern einräumen: „Die Walliser Prosodie ist generell sehr variabel und schlecht voraussagbar“ (Siebenhaar 2015: 213). Den Grund für den fehlenden Durchbruch teilt die regionale Prosodieforschung mit der allgemeinen Prosodieforschung. Peters et al. (2015: 76) sprechen von „einer unterentwickelten semantisch-funktionellen Komponente vieler aktueller Intonationsmodelle“. Prosodische Informationen (Emotion, lexikalische und morphologische Distinktionen, Prominenz, Interaktionssteuerung) treten im Unterschied zu segmentellen Informationen simultan auf. Nur dort, wo eine linguistische Funktion klar bestimmt (abgegrenzt) werden kann, kann auch das zugehörige Prosodem eindeutig identifiziert werden, was wiederum Voraussetzung für die Untersuchung seiner individuellen, regionalen und stilistischen Variation ist. Nur wenn sich die linguistische Funktion klar bestimmen und abgrenzen lässt, kann der methodische Fortschritt zum Tragen kommen. Das gilt etwa für die rheinische Tonakzentforschung (linguistische Funktion: lexikalische und morphologische Distinktion): Durch Hörtests konnte bestimmt werden, ob prosodische Differenzen zu einem Umschlagen von Wortbedeutungen führen oder nicht, und somit konnte eindeutig festgestellt werden, ob das fragliche Prosodem vorliegt (z. B. Feststellung der Tonakzentgrenze in Schmidt 1986), was es wiederum ermöglicht, das Prosodem in Einzelmerkmale zu dekomponieren und diese gezielt zu verändern („Resynthese“ kombiniert mit Perzeptionstests: Linguistisch relevant ist allein der Tonverlauf auf einem bestimmten Abschnitt [More] des Silbenkerns; vgl. Werth 2011). Das gilt auch für die „Frageintonation“ (Interaktionssteuerung). Durch die Übertragung identischer Entscheidungs- und Ergänzungsfragen in den jeweiligen Ortsdialekt konnte in der Pfalz eine Isoglosse mit regionalen finalen Tonkonturunterschieden bestimmt und modifiziert bestätigt werden (vgl. Peters 2006: 383−390 zu Guentherodt 1971 und 1973). Das gilt für die Diskurssteuerung (Weiterweisung und Abschluss), wo überraschende großräumige Übereinstimmungen zwischen Stadtsprachen zu konstatieren sind (vgl. Gilles 2005). Das gilt für die Nuklei von Intonationsphrasen (Informationsfokussierung). Das Inventar und die Form salienter Konturen von stadtsprachlichen Intonationsphrasen konnten ermittelt
2. Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate
werden (zum Projekt Untersuchung zur Struktur und Funktion regionalspezifischer Intonationsverläufe im Deutschen vgl. Peters 2006 und Peters et al. 2015). Insgesamt ist unser gesichertes Wissen um die regionalsprachliche Prosodie allerdings so lückenhaft, dass man um einen Neuanlauf, eine Basiserhebung mit bescheidenem Anspruch nicht herumkommen wird. Dabei wird man einerseits wenige, sicher identifizierbare, vor allem aber funktionsidentische basale Sprachhandlungen im gesamten Sprachraum neu erheben müssen, dann wird man für dieses Material saliente Differenzen in Horizontale und Vertikale durch Perzeptionstests zu ermitteln haben und schließlich die so gewonnenen Perzeptionsklassen mit machine learning-Algorithmen auf Merkmalsdifferenzen hin analysieren müssen.
3. Morphologie Das Spektrum dialektmorphologischer Forschung der letzten Jahrzehnte (Rabanus, Art. 19 in diesem Band) reicht von traditionellen Ortsmonographien (wie Kollmann 2012) über Arbeiten, die basisdialektale morphologische Systeme raumbezogen in den Blick nehmen (Rowley 1997 zur Pluralbildung im Nordbairischen), bis hin zu neueren Arbeiten, die theoretische und sprachtypologische Ansätze auf dialektmorphologische Phänomene anwenden und Interaktionen von Morphologie mit anderen grammatischen Ebenen einbeziehen. Das bevorzugte Versuchsfeld dieser Arbeiten war die Nominalflexion, genauer: Pluralallomorphie (Zürrer 1999; Nübling 2005, 2008; Kürschner 2008, 2016; Birkenes 2014) und Artikel-, Pronominal- und Kasussysteme (Rohdenburg 1998; Dal Negro 2004a; Alber & Rabanus 2011; Seiler 2003; Rauth 2016; Baechler 2017). Syntagmatische Fragen wurden weit weniger verfolgt; Beispiele sind Rabanus (2008) zum Zusammenspiel der Flexion im Minimalsatz oder Nübling (1992) und Studler (2013) zu Klitisierungsprozessen. Im Vergleich zu Phonologie und Syntax ist für die Morphologie damit weiterhin Nachholbedarf festzustellen. Die Desiderate, die in den folgenden Abschnitten umrissen werden, betreffen neben kernmorphologischen Forschungsfragen in Flexion und Wortbildung auch Fragestellungen an Schnittstellen und die Weiterentwicklung von Methodik und Datenbasis. In der Flexionsmorphologie fehlt es an Untersuchungen, die Systemzusammenhänge und deren Raumbildung im Vergleich mehrerer Varietäten oder Sprachlagen erschließen. Auf paradigmatischer Ebene sind hier z. B. die (Re)Organisation von Flexionsklassen bzw. Pluralallomorphie, Kasussysteme oder die Bedingungen von Synkretismen anzuführen. Während im Verbalbereich die Tempusmarkierung und ihr Umbau größere Aufmerksamkeit erfahren haben (zuletzt Fischer 2018), fehlen zur Modusmarkierung bisher raumübergreifende Untersuchungen, die auch theoretische Ansätze einbeziehen. Das Zusammenspiel morphologischer Einheiten auf syntagmatischer Ebene ist noch kaum erschlossen. Vor dem Hintergrund einer stark kooperativen Flexion der Determinantien, Modifikatoren und Kopfnomen in der standardsprachlichen Nominalphrase wäre hier eine Untersuchung besonders interessant, die im Dialekt- und Sprachlagenvergleich abklopft, inwieweit die Kategorien Kasus, Numerus, Genus und Definitheit auf der Ebene der NP disambiguiert werden, und die ihre Befunde auf phonologische Variablen wie eApokope und syntaktische Faktoren wie Klammerbildung bezieht. Eine weitere syntagmatische Baustelle sind Klitisierungsphänomene als eine Vorstufe von Flexion. Zur Ver-
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schmelzung von Präposition und Artikelform oder finitem Verb und Pronomen liegen zwar Analysen zu besonders klisefreudigen Varietäten vor (Alemannisch, Ruhrdeutsch, bairische und alemannische Sprachinseldialekte), ein dialektvergleichender Ansatz könnte aber neue Einblicke in Schritte der Ausbildung klitischer Formen im Paradigma geben. Sowohl für die dialektmorphologische Empirie als auch für die morphologische Theoriebildung kann es sich als fruchtbar erweisen, moderne typologische und theoretische Ansätze auf dialektale oder regionalsprachliche Daten anzuwenden, was für syntaktische Phänomene seit langem betrieben wird (z. B. Kortmann [2004] 2008; De Vogelaer & Seiler 2012; Dufter, Fleischer & Seiler 2009). So können Daten aus Nichtstandardvarietäten, die häufig als die natürlicheren Sprachdaten angesehen werden (z. B. Geyer 2003: 25), einerseits helfen, Modellbildungen zu hinterfragen, wie dies Birkenes (2014) für theoretische Annahmen zur Subtraktion in der Pluralbildung gezeigt hat. Andererseits können theoretische Ansätze auch einen wichtigen Beitrag zur Systematisierung − und Entdeckung − von Phänomenen morphologischer Irregularität in Dia- und Regiolekten leisten. Ein möglicher theoretischer Rahmen wäre die kanonische Typologie (Corbett 2007; Brown & Chumakina 2013). Dieser Ansatz hat einzelsprachunabhängige und damit im Dialektvergleich gut operationalisierbare Konzepte für Synkretismus, Suppletion und Allomorphie definiert und weitere Phänomene flexionsmorphologischer Irregularität beschrieben. Eines davon ist Overabundance (Thornton 2012), die stabile Koexistenz funktionsgleicher Formen in einer Paradigmenzelle (sog. cell-mates). Hasse (2019) beschreibt korpusbasiert einen solchen Fall für den Indefinitartikel im Zürichdeutschen. Ein weiteres zentrales Konzept sind Morphome (Aronoff 1994; Maiden 2005): systematische Formunterschiede ohne funktionale Entsprechung (z. B. Wechselflexion im Deutschen). Beide Phänomene liefern wichtige Evidenz für die Autonomie der Morphologie als gegenüber der Syntax und Phonologie eigenständige grammatische Ebene und sind für romanische Varietäten gut untersucht, in der Dialektologie des Deutschen aber nahezu unbemerkt geblieben. Hypothesen zur Reorganisation von Morphologie lassen sich in Raum und Kurzzeitdiachronie an irregulären Verbklassen wie Präteritopräsentia oder Kurzverben überprüfen, etwa die Annahme, dass Irregularität schrittweise abgebaut wird (vgl. Dal Negro 2004b: 205 zu Präteritopräsentia in Walserdialekten) oder dass bei irregulären Formen Entropie verringert wird, indem sich irreguläre Merkmale über verschiedene grammatische Ebenen hinweg (Morphologie, Syntax, Semantik) zusammenschließen (Wurzel [1984] 2001; Simon & Wiese 2011). Raumbildung ist hierfür ein Indikator, etwa wenn sich morphologisches und syntaktisches Sonderverhalten räumlich überschneiden (vgl. Girnth 2000 zu brauchen als Modalverb). Desiderate besonderen Ausmaßes tun sich im Bereich Wortbildung im Raum auf, die in Atlasprojekten und Ortsmonographien nicht systematisch berücksichtigt wurde. Dies gilt verstärkt für onomasiologisch-funktionale Fragestellungen: Während etwa die räumliche Verteilung von Diminutiv- und Movierungsformen gut untersucht ist, wissen wir kaum etwas darüber, welche Funktionen Diminution und Movierung im Dialektvergleich übernehmen können und wie häufig diese beiden Wortbildungsfunktionen im Dialektvergleich genutzt werden. Aus funktionaler Perspektive wären darüber hinaus auch Heteronymie, Konkurrenz und Arbeitsteilung von Wortbildungsmustern in Substantiv-, Adjektiv-, Adverb- und Verbderivation systematisch in den Blick zu nehmen (beispielhaft für Nomina actionis: Seidelmann 2004). Aus formaler Perspektive wäre eine Untersuchung des Spektrums an Reanalysen und Verstärkungsprozessen dialektaler Derivationsaffixe interessant (Haspelmath 1995). Kaum untersucht ist dialektale Komposition, z. B. Fugen-
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elemente und ihre Konditionierung im Dialekt- und Sprachlagenvergleich oder Wortbildungskomplexität in verschiedenen Sprachlagen. Ein weiterer relevanter Bereich sind expressive Wortbildungsmuster, die eine affektive Bewertung seitens der SprecherInnen mittransportieren und zu denen auch Diminutive gehören. Man liest immer wieder, expressive Wortbildung sei in Dialekten differenzierter ausgebaut und werde häufiger genutzt als in höheren Sprachlagen; so z. B. Weber (1987: 336) zu Nomina agentis auf -i wie alem. Schwafli zu schwafle ‘schwafeln’: „Diese Wortbildung ist dank der Neigung des Volksmundes zu Tadel und Spott ausserordentlich lebendig“. Überprüft wurde diese Annahme bisher nicht. Über kernmorphologische Fragestellungen hinaus bleiben Fragen an verschiedenen Schnittstellen zu klären. Als erstes ist hier der Status morphologischer Variation in Sprachlagenspektren zu nennen. Da bisher nahezu ausschließlich phonologische (und syntaktische) Variablen einbezogen wurden, liegt noch völlig im Dunklen, wie sich morphologische Phänomene in Flexion (z. B. Kasussynkretismen, Pluralbildung) und Wortbildung (z. B. Komposition, Diminution) im Vergleich mit Spektren in Phonologie und Syntax verhalten. Diese Lücke konstatiert auch Rabanus (Art. 19 in diesem Band) und ergänzt, dass für geeignete morphologische Variablen die „konzeptionelle Klärung und empirische Untersuchung“ noch ausstehen. Beides ist nicht trivial: Während man bei phonologischen Variablen mit Abstandsmessungen konkreter Lautungen arbeiten kann, sind viele morphologische Variablen nur abstrakt zu definieren (z. B. Synkretismuskonstellationen oder die morphologische Komplexität von Komposita) und frequenzbasiert zu untersuchen (z. B. die Gebrauchshäufigkeit von Diminutiven). Um ein Spektrum genuin morphologischer Variablen zu gewinnen, könnten theoretische Konzepte wie die oben erwähnte kanonische Typologie und modellbildende Untersuchungen wie der Morfologische Atlas van de Nederlandse Dialecten (MAND) einbezogen werden. Es müssten Messverfahren entwickelt werden, die relative Frequenzen berücksichtigen, wenn man etwa an die Gebrauchshäufigkeit von Diminutivformen oder die relative Frequenz komplexer Wortbildungen denkt. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Desiderats ist die Notwendigkeit, mehr über die Auffälligkeit, Bewusstheit und Steuerbarkeit morphologischer Dialektmerkmale im Vergleich zu phonologischen und syntaktischen Merkmalen herauszufinden. Fallen z. B. Kasussynkretismen in ähnlicher Weise auf wie phonologische Merkmale? Hierzu existieren unterschiedliche Hypothesen und vereinzelte Untersuchungen (Rabanus 2010, Art. 19 in diesem Band), aber keine, die verschiedene morphologische Variablen vergleichen. Analog ist an der sprachgeographischen Schnittstelle zu fragen, inwieweit morphologische Raumbildung mit für Phonologie, Lexik und Syntax erschlossenen Raumbildern korreliert bzw. wie eigenständig morphologische Räume sind. Auch hierzu existieren nur wenige Untersuchungen. Edelhoff (2017) hat für die Diminution im Moselfränkischen beiderseits der deutsch-luxemburgischen Grenze eine scharfe Grenzbildung festgestellt, was die Form und die Genuszuweisung der Diminutive betrifft. Ob die Parallele zu der von Gilles (1999) beschriebenen phonologischen Grenzbildung, die sich damit zeigt, ein generelleres Muster darstellt, müsste auf breiterer Basis untersucht werden. Dass abstrakte morphologische Aspekte wie Synkretismus-Konstellationen in Flexionsparadigmen oder Grade an Irregularität übergreifend im Raum abgebildet würden, bleibt in der Dialektgeographie des Deutschen bisher ein Einzelfall (vgl. Shrier 1965; Rabanus 2008). Hierfür müssten Darstellungsmethoden weiterentwickelt werden, die Systemaspekte gleichzeitig gut erfassbar abbilden und Abstraktionsschritte transparent halten. Da Raum-
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bildung ein Schlüssel zur Diachronie morphologischer Phänomene sein kann (vgl. auch Rabanus 2010: 817), wären von übergreifenden morphologischen Raumbildern wichtige Aufschlüsse auch für diachrone Fragen zu erwarten, etwa zu implikativen Hierarchien irregulärer Merkmale bei Präteritopräsentia und Kurzverben. Ein dem MAND vergleichbares Atlasprojekt mit Fokus auf genuin morphologische Raumbilder über Einzelformen hinaus könnte Fragen der Konvergenz oder Divergenz morphologischer Räume mit phonologisch, lexikalisch und syntaktisch definierten Räumen beantworten helfen. An der Schnittstelle zwischen Phonologie und Morphologie stellen sich Fragen nach Morphemkonstanz und Morphemgrenzmarkierung im Varietätenvergleich. So weiß man von niederländischen Dialekten, dass sich postkonsonantischer t-Schwund, der auch dentale Suffixe betrifft, morphologisch selektiv verhält und besonders dann greift, wenn die durch das Dentalsuffix markierte Information anderweitig abgesichert ist (Goeman 1999). Eine ähnliche Abhängigkeit von der Präsenz einer Stammalternation hat Harnisch (1999) für die Verschmelzung dentaler Stammauslaute und Suffixe in der Präsensflexion starker Verben ostfränkischer Dialekte beschrieben. Beobachtungen wie diese lassen sich in die generellere Frage nach den Prinzipien der Interaktion und Arbeitsteilung zwischen Modulation und Affigierung in dialektalen Flexionssystemen überführen, die nur unter Einbezug phonologischer Bedingungen (Dentalschwund, e-Apokope) beantwortet werden kann (Seiler 2012; Dammel & Denkler 2017). An der Schnittstelle von Morphologie und Syntax sind weitere Faktoren einzubeziehen, z. B. die Informationsstruktur bei der Konditionierung voller und reduzierter Formen von Artikeln und Pronomina oder die Semantik bei der Interaktion von Verbstellung mit Modusmarkierung und Supin-Morphologie infiniter Formen der Modalverben (punktuell Höhle 2006). Arbeiten zu Argumentrealisierung, Kasus, Possessivität und differenzieller Objektmarkierung zeigen, dass die Belebtheitshierarchie ein relevanter semantisch-pragmatischer Faktor für die Ausprägung von Kasusdistinktionen und die Konditionierung von Pluralallomorphen ist (z. B. Seiler 2003; Kasper 2015; Rauth 2016). Für einzelne Varietäten wurden Reorganisationsprozesse der Kasusmarkierung und der Pluralallomorphie beschrieben, die der Belebtheitshierarchie folgen (Rohdenburg 1998; Dal Negro 2004a; Kürschner 2008; Alber & Rabanus 2011). Im Vergleich von Dialekträumen und für die Kurzzeitdiachronie wären Vertiefungen wünschenswert. Die Interaktion zwischen Morphosyntax, Semantik und Pragmatik wird derzeit für die Genuszuweisung und -kongruenz weiblicher Personennamen untersucht (Nübling, Busley & Drenda 2013). Darüber hinaus lohnen weitere morphologische Phänomene eine genauere Betrachtung aus der Perspektive der Sprachverwendung. So ist etwa die Variation in Pronominalsystemen und im Artikelgebrauch im Hinblick auf diskurssteuernde Faktoren und Bewertungen durch SprecherInnen (z. B. Bellmann 1990; Geyer 2003; Werth 2014) noch nicht erschöpfend untersucht. Interessant wären etwa systematische, dialektübergreifende Analysen der Variation zwischen Demonstrativ- und Personalpronomen und verstärkten Pronominalformen wie dere ‘Dat. Sg. Fem.’. Dabei wäre mit Blick auf die Wahl (pro)nominaler Referenzformen der Einbezug der interaktionalen Ebene (dazu Lanwer, Art. 27 in diesem Band) unerlässlich. Auch wurde die Wortbildung bisher kaum aus pragmatischer Perspektive untersucht, obwohl SprecherInnen mit Personenbezeichnungen regelmäßig Einstellungen und Beziehungsbewertungen vornehmen. Als modellbildender Beitrag ist hier Baumgartner & Christen (2017) zu Genderaspekten von Diminution zu nennen. Auf einer generelleren Ebene sind unter Sprachverwendung auch Untersuchungen zu verorten, die in einem gebrauchsbasierten theoretischen Rah-
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men dialektale Wortbildungsmuster und morphosyntaktische Konstruktionen analysieren (Booij 2010), was für die deutsche Dialektmorphologie nur vereinzelt erprobt wurde (Höder 2012). Aus diesem Spektrum ungehobener Themen ergeben sich Desiderate in Bezug auf die Datenbasis: Publizierte Atlasdaten und Dialektgrammatiken liefern nur eingeschränkt Informationen, wenn es um die Klärung syntagmatischer Fragestellungen oder um Wortbildung geht. Viel günstiger ist die Datenlage auch bei paradigmatischen Fragen nicht, wenn man die Reihenbildung von Flexionsklassen oder vollständige Paradigmen von Determinantien, Pronomina und Adjektiven vergleichen möchte. Hier haben sich am ehesten Dialektgrammatiken als geeignet erwiesen, auch wenn es sich dabei um sekundäre, zeitlich uneinheitliche Daten handelt. Atlasdaten liefern einzelne Fallbeispiele vor allem der nominalen Pluralbildung und irregulären Verbflexion, die nur bedingt Schlüsse auf Gesamtsysteme erlauben. So wurden etwa häufig prominente Artikelformen kartiert, mit Ausnahme des SBS 9.1 jedoch kaum ganze Artikelsysteme. Da ein genuin morphologisches Analysewerkzeug wie der Morfologische Atlas van de Nederlandse Dialecten für den deutschsprachigen Raum fehlt, wäre es wichtig, die Digitalisierung und Vernetzung publizierter Daten zu morphologischen Phänomenen weiter zu betreiben, und zwar über Atlaskarten hinaus auch für Dialektgrammatiken in einer zentralen Datenbank. Über diese Maßnahmen hinaus wäre es ein großer Gewinn, auch unpublizierte Daten inklusive Spontanmaterial aus den zahlreichen Regionalatlaserhebungen digital zu erschließen und übergreifend durchsuchbar zu machen. Fragen nach Variation in Flexionssystemen, von der in Dialektgrammatiken häufig abstrahiert wird, lassen sich letztlich nur korpusbasiert klären. Dies gilt in verstärktem Maße auch für die Wortbildung. Hier geben (zeitlich und räumlich heterogene) Dialektwörterbücher zwar einen ersten Einblick in die Typenvielfalt; Untersuchungen zur Produktivität oder Gebrauchshäufigkeit von Wortbildungsmustern im Varietätenvergleich sind jedoch auf Korpora ausreichender Größe angewiesen. Bestehende Korpora wie das Zwirner-Korpus in der Datenbank für Gesprochenes Deutsch (DGD) müssten in einer Form verfügbar werden, die sie für morphologische Fragen zugänglicher macht: Da die durchsuchbaren standardsprachlichen Transkripte nicht selten morphologisch von der Aufnahme abweichen, müssten die Audiodateien als ganze zugänglich sein. Darüber hinaus sollte der Ausbau regional stratifizierter Korpora zu verschiedenen Sprachlagen vorangetrieben werden. Dies schließt auch die Entwicklung von Prinzipien der Transkription und Annotation für spezifisch dialektmorphologische Probleme (z. B. subtraktive Formen) ein. Nur unter Einbezug von Korpora lassen sich Fragen der Verwendung(shäufigkeit) von Morphologie und Produktivitätsfragen in der Wortbildung stichhaltig beantworten. Zur Untersuchung von Wortbildungsfunktionen, insbesondere expressiven, wären darüber hinaus geeignete Abfragemethoden für direkte Erhebungen zu erproben, etwa Akzeptanztests in situativer Einbettung und discourse completion tasks, bei denen eine Situationseinbettung und der Redebeitrag eines Gesprächspartners vorgegeben werden, den die Gewährsperson frei mit einem eigenen Redebeitrag ergänzt (Blum-Kulka, House & Kasper 1989; Ogiermann 2018). Im Vergleich zu anderen Ebenen des Sprachsystems ist die Morphologie also ein Bereich der Dialektologie des Deutschen, in dem es noch viel zu tun, aber auch viel zu entdecken gibt, und in dem die Chance genutzt werden kann, Methodik und Theoriebildung an Dialektdaten weiterzuentwickeln.
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4. Syntax Die syntaktische Ebene hat sich zweifelsohne in den letzten drei Jahrzehnten zu einem neuen Lieblingskind der Dialektologie entwickelt. Dies drückt sich auch in dialektsyntaktischen Atlasprojekten aus, die für einige Teilregionen des deutschsprachigen Raums derweil vorliegen (Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz [SADS] und Syntax des Alemannischen [SynAlm] für den alemannischen Raum, Syntax hessischer Dialekte [SyHD] für das Bundesland Hessen; s. auch Fleischer, Art. 20 in diesem Band). Die Validität indirekter Fragebogenerhebungen, die in diesen Syntaxprojekten primär zum Einsatz gekommen sind, konnte im SyHD-Projekt durch einen systematischen Vergleich mit direkten (face-to-face) Erhebungen nachgewiesen werden, wobei in Hessen neben klassischen Erhebungsverfahren der Befragung und Beobachtung erstmals „Sprachproduktionsexperimente“ im Rahmen eines Dialektprojekts verwendet wurden (s. Lenz 2016; Fleischer, Lenz & Weiß 2015). Neben „rein“ syntaktisch ausgerichteten Dialektprojekten wurden und werden in einigen modernen Regionalatlanten zumindest ausgewählte syntaktische Phänomene (mit)erhoben. Zu nennen ist hier etwa der jüngst begonnene Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW), Band 1 des Sprachatlas von Niederbayern (Eroms & Spannbauer-Pollmann 2006) sowie Band 7 des Sprachatlas von Mittelfranken (Arzberger 2007). Zumindest für ausgewählte syntaktische Phänomene kann daher ihre dialektgeographische Distribution in Teilregionen des deutschsprachigen Raums nachvollzogen werden. Es handelt sich aber nach wie vor um Einzelphänomene, die einer systematischen Erweiterung und Einbettung in ihre syntaktischen Teilbereiche ([Pro]Nominalsyntax, Verbalsyntax, Kongruenz, Serialisierung, Ko- und Subordination u. a.) bedürfen. Kennzeichnend für alle bisherigen dialektologischen Syntaxprojekte ist auch ihre synchrone Ausrichtung, während dynamische Aspekte der Dialektsyntax weitgehend vernachlässigt werden. Dies schlägt sich auch methodisch in einer Fokussierung auf klassische Gewährspersonen der Dialektologie (nonmobile older rural males/females, NORMs/NORFs) nieder. Wie lohnend allerdings eine dynamische Dialektsyntaxforschung sein kann, deutet sich in der Pilotstudie des Projekts Syntax des Bairischen (SynBai) über den systematischen Vergleich zweier Generationen an, deren intergenerationelle Differenzen vor dem Hintergrund der apparent-time-Analyse dynamisch interpretiert werden (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015). Für die germanistische Dialektsyntax zeichnet sich zusammengefasst als Forschungsaufgabe der Zukunft nach wie vor ein Dialektsyntaxatlas des gesamtdeutschen Raums ab, der die syntaktische Systemebene einzelphänomenübergreifend in ihrer Gänze und ihrer Dynamik umfasst und neben Kompetenzerhebungen auch den „natürlichen“ Sprachgebrauch in den Blick nimmt. (Für ein solches dialektsyntaktisches Großprojekt hat zumindest das SyHD-Projekt insofern wertvolle Vorarbeit geleistet, als sein Erhebungsgebiet Teilregionen aller dialektalen Großräume des Deutschen repräsentiert.) Erst wenn dieses Forschungsdesiderat gefüllt ist, können weitere Forschungsfragen auf großer empirisch abgesicherter Basis beantwortet werden. Zu diesen Forschungsfragen gehört insbesondere die nach dem Verhältnis von traditionellen (und primär auf phonologischer Ebene basierenden) Dialektraumgliederungen einerseits und syntaktischen Arealstrukturen andererseits. Wenn auch die Dialektsyntax seit drei Jahrzehnten einen Boom erlebt, hinkt die Analyse der vertikalen Variationsdimension, wie sie für die regionalsprachliche Phonetik/ Phonologie bereits Tradition hat (s. Kap. 2), nach wie vor hinterher. Die Dissertation von Kallenborn (2019) zur syntaktischen Variation auf der Dialekt/Standard-Achse des
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moselfränkischen Orts Graach stellt einen ersten wesentlichen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke dar, der im ostoberdeutschen Sprachraum aktuell durch eine Syntax-Studie im stadtsprachlichen Variationsraum Wien ergänzt wird (Breuer i. V., s. auch Breuer 2016). Beide Studien belegen die hohe Ergiebigkeit der bereits genannten Sprachproduktionsexperimente, die insbesondere dem forschungspraktischen Problem entgegenwirken, dass bestimmte syntaktische Phänomene in freien, ungesteuerten Gesprächen mitunter in zu niedrigen Belegzahlen auftreten (s. Kortmann 2010: 844−845). Zur Schließung der Lücke, die sich angesichts der bislang sehr überschaubaren regionalsprachlich angelegten Syntaxforschung auftut, berücksichtigen auch mehrere aktuell laufende areallinguistische Großraumprojekte im deutschsprachigen Raum − neben der nach wie vor dominierenden Lautebene und anderen Teilebenen − die Variation auf der syntaktischen Systemebene: Zu nennen ist hier erstens der Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA), der neben lexikalischen, lautlichen, morphologischen und pragmatischen Phänomenen auch einige syntaktische in seiner Online-Befragung berücksichtigt, sodass Informationen zu zumindest einigen syntaktischen Besonderheiten „alltagssprachlicher“ Register im gesamten deutschsprachigen Raum vorliegen bzw. weiter gesammelt werden (z. B. Dativpassivkonstruktionen, periphrastische Konjunktive, Existenzkonstruktionen [es gibt/hat/ist], finale Infinitivkonstruktionen, Pronominaladverbien). Regionalsprachliche Tiefenbohrungen zur Sprachvariation in Norddeutschland liegen zweitens im SiN-Projekt vor, in dessen Rahmen die aufgenommenen Sprachdaten aus vier − in ihren Formalitäts- bzw. Kontrollgraden divergierenden − Erhebungssettings auf syntaktische Phänomene hin untersucht werden: ein „Tischgespräch“ (als eher informelle Gesprächssituation), ein Interview (als eher formelles Pendant zu den Tischgesprächen), eine Erzählung in intendiertem Niederdeutsch sowie Übersetzungen der Wenkersätze. Das untersuchte Korpus umfasst jeweils Datenausschnitte (soweit möglich 2.500 Wörter) von insgesamt 72 (ausschließlich) weiblichen Gewährspersonen aus 18 niederdeutschen Orten (vier Informantinnen pro Ort, im Alter zwischen 40 und 55 Jahren). Zur Analyse vorgesehen sind vor allem die folgenden Phänomene: Komparativkonstruktionen, grammatische Besonderheiten im Kontext temporaler, lokaler und direktiver Präpositionen, Variation im Bereich der Kasusmarkierungen, adnominale Possessivkonstruktionen, Progressivkonstruktionen, Perfektgebrauch und -auxiliarwahl (haben vs. sein), die tun-Periphrase, Pronominaladverbien und ihre Konstruktionsvarianten. Erste Ergebnisse zu ausgewählten Phänomenen liegen etwa mit Schröder (2011, 2012, 2015) vor. Drittens wird auch im Marburger Projekt Regionalsprache.de (REDE) der syntaktischen Variation nachgegangen (URL: , letzter Zugriff: 24.01.2019). Aktuell hat eine groß angelegte indirekte Erhebung syntaktischer Phänomene mittels Online-Fragebogen begonnen (vgl. Kasper & Pheiff 2019), in deren Rahmen − in enger Anlehnung an SyHD (vgl. aber Kasper & Pheiff 2018) − verschiedene Aufgabentypen zum Einsatz kommen. In Ergänzung zu den SyHD-Phänomenen (s. SyHD-atlas) sollen vor allem die folgenden syntaktischen Variationsbereiche fokussiert werden: Artikel vor Massennomen, Stellung bzw. Verdopplung von Artikeln in Kombination mit intensivierendem Partikel (z. B. ganz eine gute Frau bzw. eine ganz eine gute Frau), „Verdopplung“ von Lokalangaben bei Präpositionen (z. B. Tu Kohlen in den Ofen hinein), Präpositionalgruppen in Distanzstellung (z. B. Seine Arbeit habe ich nicht nach gefragt), präpositional erweiterte Dative (z. B. an jemandem etwas bringen), haben + zu-Infinitiv eines Positionsverbs (z. B. etwas im Kofferraum zu liegen haben), finale Infinitivkonstruktionen (z. B. Tabletten zum/für ein(zu)schlafen nehmen), tun-
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Periphrase, inchoatives gehen + Infinitiv (z. B. He güng bi mi sitten ‘Er setzte sich neben mich’), kommen-Futur, Auxiliarselektion bei Perfektkonstruktionen, Gebrauch von Reflexivpronomen (z. B. Er isst sich noch ein Stück Brot), Abspaltung trennbarer Verbzusätze in der rechten Satzklammer („Binnenspaltung“, z. B. Er hat an zu schimpfen gefangen). Anders als bei den lokalen Tiefenbohrungen im REDE-Projekt steht die Teilnahme an der syntaktischen Umfrage allen Interessierten offen, die den Fragebogen in ihrer vertrautesten Sprechweise − nach individueller Einschätzung Dialekt, regional gefärbte Alltagssprache oder „Hochdeutsch“ − ausfüllen können. In Abhängigkeit von den Varietätenkompetenzen der TeilnehmerInnen repräsentieren die erhobenen Daten die Syntax eher dialektaler, eher regiolektaler oder eher standardnaher Spektrenausschnitte. Als viertes regionalsprachliches Projekt mit auch syntaktischer Ausrichtung ist der SFB Deutsch in Österreich: Variation − Kontakt − Perzeption (DiÖ) zu nennen (FWF F060), der sich der syntaktischen Ebene gleich in mehreren Teilprojekten widmet (zur Projektbeschreibung s. Lenz 2018b). Hierzu werden einerseits − analog zum SiN-Projekt − die (mehr oder weniger unkontrollierten) Sprachgebrauchsdaten aus Interviews und Freundesgesprächen auf syntaktische Phänomene hin untersucht und dazu die freien Gesprächsdaten des DiÖ-Korpus morphosyntaktisch annotiert. Zum anderen erfolgen explizite syntaktische Erhebungen, die sowohl flächendeckende direkte und indirekte Fragebogenerhebungen umfassen als auch − im Rahmen lokaler Tiefenbohrung − speziell syntaktisch ausgerichtete „Sprachproduktionsexperimente“, die eine Evozierung hoher Belegzahlen von in freien Gesprächen mitunter zu niedrig belegten Phänomenen garantieren (s. Lenz et al. i. Dr.). Berücksichtigte Phänomene, die in den experimentellen Settings angesteuert werden, sind: Artikel vor Massennomen, Stellung bzw. Verdopplung von Artikeln in Kombination mit intensivierenden Partikeln (z. B. ganz eine gute Frau bzw. eine ganz eine gute Frau), „Negationsverdopplung“ (z. B. Ich habe keine Lust nicht.), adnominale Possessivkonstruktionen, Progressivkonstruktionen, finale Infinitivkonstruktionen, Dativpassive, periphrastische Konjunktive, „flektierende Subjunktionen“ (z. B. Er fragt mich, obsd morgen kommst.), doppelte Nebensatzeinleitung (z. B. Er fragt mich, ob dassd morgen kommst.), Relativsatzeinleitungen (Das ist der Hund, der (wo/ was) mich gebissen hat.). Die Sprachproduktionsexperimente werden pro Individuum in zwei Durchgängen durchgeführt: einmal unter Einsatz basisdialektaler Stimuli, die die Erhebung möglichst dialektaler Daten aus dem individuellen Variationsraum der Gewährspersonen anvisieren, und einmal unter Einsatz standardsprechsprachlicher Stimuli (eingesprochen von einem Nachrichtensprecher des ORF [Fernsehsender Österreichischer Rundfunk]), die die Evozierung (möglichst) standardsprachlicher Daten intendieren. Neben klassischen NORMs finden auch Repräsentanten einer jüngeren Generation (zwischen 18 und 25 Jahre) mit divergierenden Bildungsgraden Berücksichtigung, wobei weibliche und männliche Gewährspersonen in DiÖ vertreten sind. Eine Zusammenschau der aktuellen regionalsprachlichen Entwicklungen im Bereich der Syntaxforschung ergibt ein ziemlich heterogenes Bild − vor allem im Hinblick auf Erhebungsmethoden, Informantenauswahl, anvisierte sprachliche Register, ausgewählte Phänomene −, sodass überregionale, einzelprojektübergreifende Vergleiche nur bedingt und für einige wenige Phänomene möglich erscheinen. Regionalsprachliche Desiderate, die sich deshalb vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungslandschaft für die Zukunft abzeichnen, bestehen insbesondere in einer überregionalen und auch transnationalen Ausweitung vergleichbarer Erhebungen, evozierter Phänomene bzw. Phänomenbereiche, morphosyntaktischer Annotationen der bereits zur Verfügung stehenden bzw. zukünftiger
2. Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate
Sprachgebrauchskorpora und darauf aufbauender Analysen, die insbesondere − in Ergänzung zur Dialektsyntax − Aussagen zur Syntax regiolektaler Register des mittleren Bereichs im gesamten deutschsprachigen Raum ermöglichen. Erst wenn die genannten Forschungslücken der areallinguistischen Syntax des Deutschen geschlossen sind, wird es möglich sein, komplexere Fragestellungen des Forschungsfelds umfassend beantworten zu können, wie etwa (vgl. Lenz 2018a: 242−247): Sprachgeographische Fragestellungen: In welchem Maße ist Syntax ein konstitutives Element für Sprachräume im Deutschen? Welche vertikalen Register der Dialekt/Standard-Achse weisen welche syntaktischen Arealstrukturen (so diese denn eruiert werden können) auf? Zeigen sich dabei Parallelen oder Unterschiede zwischen Dialekten und Regiolekten? In welchem Verhältnis stehen syntaktische Arealstrukturen zu „traditionellen“ Dialektraumgliederungen bzw. zu Sprachraumgliederungen, wie sie sich auf anderen Systemebenen ergeben? Vertikal-soziale Fragestellungen: In welchem Maße differieren Dialekte und „mittlere“ Registerausschnitte im Deutschen hinsichtlich der Syntaxebene? In welchem Maße unterscheidet sich regionalsprachliche Syntax generell von standardsprachlicher? Welchen Beitrag leisten syntaktische Analysen zur Struktur vertikaler Register? Lassen sich auch auf syntaktischer Ebene regiolektale Zwischenbereiche zwischen Dialekt und Standard herausarbeiten bzw. wie ist das Verhältnis zwischen syntaktischer Variation einerseits und der Variation auf anderen Systemebenen andererseits? Sprachdynamische Fragestellungen: Wie steht es um die Dynamik der Syntax im deutschsprachigen Raum, wie sie sich nicht nur im Vergleich verschiedener (diachroner) Sprachstufen, sondern auch vor dem Hintergrund der apparent-time-Hypothese in der synchronen Variation innerhalb der regionalsprachlichen Spektren des Deutschen abzeichnet? Welche syntaktischen Varianten/Phänomene der Regionalsprachen zeichnen sich durch besondere Veränderungssensitivität bzw. Abbaustabilität aus?
5. Lexik Unter allen Systemebenen, mit denen sich die germanistische Dialektologie seit ihren Anfängen beschäftigt hat, gehört die Lexik zweifelsohne zu den ersten Lieblingskindern (s. Herrgen 2001). Die Beliebtheit der Dialektlexik schlägt sich in großangelegten Projekten wie dem Deutschen Wortatlas (DWA) (1951−1980) von Mitzka et al. nieder, dem eine Fülle von Teilbänden moderner Regionalatlanten gefolgt sind (s. z. B. die SBSBände 2, 8, 10−13 und die SDS-Bände 4−8). Der Fokus dieser lexikalischen Teilbände folgt weitgehend dem Vorbild des DWA: Auf der Basis onomasiologisch, seltener auch semasiologisch ausgerichteter Datenerhebungen wird der areal-horizontalen Distribution von primär Substantiven aus vor allem Spezialwortschatzbereichen (Lebensmittel, Landwirtschaft, Fauna und Flora u. a.) nachgegangen, die in der Regel als monosemantische Konkreta klassifiziert werden können, während semantisch komplexe Einheiten (etwa polyseme Verben oder Abstrakta) eher vernachlässigt werden. Auch bleiben der DWA wie auch die Lexikbände moderner Regionalatlanten (i. d. R.) bei der Dokumentation basisdialektalen, archaischen Wortbestands stehen, ohne dass der Dynamik der Lexik nachgegangen wird. Ähnlich statisch sind auch die Wörtersammlungen in traditionellen Ortsmonographien und anderen Fallstudien angelegt (s. z. B. Grabner 1959; Denz 1977
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I. Forschungsgeschichte
und zahlreiche Arbeiten in der Reihe Deutsche Dialektgeographie [DDG]). Neben kartographischen Darstellungen in Sprachatlanten und meist listenhaften Aufzählungen in Ortsmonographien dokumentieren die großlandschaftlichen Dialektwörterbücher des Deutschen, die sich − von wenigen Ausnahmen noch laufender bzw. unterbrochener Wörterbuchprojekte abgesehen − über den gesamten Sprachraum verteilen (s. Niebaum & Macha 2014: 37; Lenz & Stoeckle i. V.), archaisches Wortgut der Dialektlandschaft des Deutschen. Dabei ist jedoch „[d]ie Herkunft des Wortmaterials eines Dialektwörterbuchs, zumal eines Gebietswörterbuchs, […] in der Regel heterogen. So ist Material unterschiedlichster Provenienz hinsichtlich der Komponenten Materialsorte (direkt bzw. indirekt erhobenes Material; private Einsendungen und Sammlungen, gedruckte Ortswörterbücher, wissenschaftliche Monographien, Mundartliteratur etc.) und Zeit zu verarbeiten, was natürlich allein schon methodische Fragen aufwirft“ (Niebaum & Macha 2014: 37). (Zur Ergiebigkeit und Problematik des Wörterbuchmaterials s. auch Lenz 2013 sowie Post, Art. 23 in diesem Band). Den genannten dialektlexikalischen Daten stehen im „mittleren Bereich“ der deutschen Regionalsprachen vor allem zwei groß angelegte Atlasprojekte gegenüber, die verschiedene Zeitspannen abdecken: Während der Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (WDU) lexikalische Daten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert, geht der online-basierte Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) (auch) lexikalischen Phänomenen der Alltagssprache zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach, eindeutig mit dem Ziel, „[d]urch den Vergleich der alten [WDU-Karten; ANL] mit den entsprechenden neuen Sprachkarten aus der gegenwärtigen Interneterhebung […] Veränderungen des Sprachgebrauchs in den letzten 30−40 Jahren“ nachzuvollziehen. In welchem Zusammenhang allerdings die „umgangssprachlichen“ bzw. „alltagssprachlichen“ WDU- bzw. AdA-Befunde zu anderen Registerausschnitten im deutschsprachigen Raum stehen, bleibt unklar. Die lexikalische Variation im standardschriftsprachlichen Bereich steht schließlich im Fokus des Variantenwörterbuchs (Ammon, Bickel & Lenz 2016), dessen Ziel die lexikographische Dokumentation lexikalischer Varianten in Zeitungskorpora aus Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien, Südtirol sowie Rumänien, Namibia und den mexikanischen Mennonitensiedlungen ist. Insgesamt liegen also für die verschiedenen Registerausschnitte der Dialekt/Standard-Achse im deutschsprachigen Raum sehr umfangreiche und auch weitgehend flächendeckende Informationen zur areal-horizontalen Variation der lexikalischen Systemebene vor. Allerdings können diese lexikalischen Daten aufgrund ihrer Heterogenität (unterschiedliche Erhebungsmethoden, divergierende Zeiträume u. a.) nur bedingt zueinander in Beziehung gesetzt werden. Es fehlt nach wie vor an regionalsprachlichen Tiefenbohrungen, die die lexikalische Variation von Individuen auf der gesamten Dialekt/Standard-Achse analysieren und dabei auch der Frage nach lexikalischer Dynamik im Deutschen nachgehen. Das bisherige Fehlen solcher Studien ist umso erstaunlicher, als es gerade die Lexikebene ist, die − wie in attitudinal und perzeptiv ausgerichteten Studien nachgewiesen werden kann − die Systemebene mit besonderer Relevanz auf Sprecher-/Hörerseite darstellt. Zusammengefasst lassen sich für die regionalsprachliche Forschung der Zukunft im Hinblick auf die lexikalische Systemebene die folgenden Herausforderungen formulieren: Es geht erstens um eine flächendeckende und vollständige Analyse lexikalischer Variation auf der gesamten Dialekt/Standard-Achse aus sprachdynamischer Perspektive. Diese Analyse sollte sich zweitens nicht ausschließlich auf traditionell fokussierte Spezialwortschatzbereiche konzentrieren, sondern − wie es bei der Auswahl von Untersuchungs-
2. Aktuelle Entwicklungen und Forschungsdesiderate
phänomenen auf anderen Systemebenen derweil Standard ist − auch (variations)linguistische Kriterien bei der Phänomenauswahl berücksichtigen (etwa die Veränderungssensitivität bzw. -stabilität von Varianten; nicht nur ihre areal-horizontale, sondern auch ihre vertikal-soziale Distribution; Gebrauchsfrequenzen; Berücksichtigung verschiedener lexikalischer Subsysteme). Neben den bislang primär fokussierten Autosemantika sollten drittens die − wenn auch forschungspraktisch und theoretisch sicher anspruchsvolleren − Synsemantika in den Blick genommen werden. Um damit auch komplexere lexikalisch-semantische Untersuchungsobjekte analysieren zu können, bedarf es viertens sicher auch einer Öffnung der Lexikforschung zu neueren (lexikalisch)semantischen Theorieansätzen (wie etwa der kognitiven Semantik, s. Lenz 2013), die es auch ermöglichen, die Schnittstellen zwischen der Lexik und anderen Systemebenen (insbesondere der Syntax und Semantik) anzugehen.
6. Pragmatik Die systematische Beschäftigung mit pragmatischen Fragestellungen innerhalb der Regionalsprachenforschung darf trotz einiger Forschungsanstrengungen in jüngster Zeit und einer Reihe programmatischer Überlegungen und forschungsgeschichtlicher Skizzen (vgl. Bellmann 1994; Macha 2005, 2007) zumindest in Teilen als Desiderat gelten. Der Grund dafür, dass eine im Kontext der so genannten kommunikativ-pragmatischen Wende geforderte „Pragmatisierung der Dialektologie“ (Schlieben-Lange & Weydt 1978) bis zum heutigen Tage nur punktuell vorangeschritten ist, liegt neben einer unzureichenden Explikation des Gegenstandsbereiches vor allem in dem ungeklärten Verhältnis von Pragmatik und Diatopik. Dass pragmatische Fragestellungen in den letzten beiden Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung genommen haben, dürfte vor allem an der Verschiebung des Objektbereiches, weg vom Basisdialekt und hin zum gesamten regionalsprachlichen Spektrum, liegen (vgl. etwa Auer & Schmidt 2010a). So herrscht in der aktuelleren Forschungsliteratur weitgehend Einigkeit darüber, dass der Objektbereich einer pragmatischen Regionalsprachenforschung das Sprachhandeln im Bereich des vertikalen Kontinuums zwischen Dialekt und Standard umfasst (vgl. Macha 2007: 17). Die Fokussierung auf das gesamte regionalsprachliche Spektrum, die die Entwicklung der neueren Regionalsprachenforschung insgesamt prägt, führt dazu, dass zur „Erklärung regionalsprachlicher Varianten (…) vermehrt die Rolle situativer und sozialer Parameter in Betracht gezogen“ (NOSA, 1: 13) werden und damit der pragmatische Aspekt verstärkt eine Rolle spielt. Pragmatische Effekte entstehen durch das intendierte Variieren der Sprecher innerhalb des vertikalen Dialekt/Standard-Kontinuums, für das sich in der Forschung eine Vielzahl unterschiedlichster Termini findet (vgl. hierzu den exemplarischen Überblick in Macha 2007: 320). Verschiedene pragmatische Effekte bzw. Funktionen der Dialekt/ Standard-Variation listet etwa Schwitalla (2012: 47−53) auf, der beispielsweise Markierung von Distanz und Nähe, die Markierung des Anfangs und des Endes einer Äußerungseinheit oder die Markierung eines Interaktionstyps unterscheidet. Die Verschiebung des Objektbereichs hin zum vertikalen Dialekt/Standard-Kontinuum hat aber auch zur Folge, dass nicht die Pragmatik im Dialekt, sondern die pragmatischen Effekte auf der sprachlichen Vertikale zwischen Dialekt und Standard, die durch Kontrastbildung entstehen, Gegenstand der Pragmatik sind. Somit bleiben die Erforschung der Pragmatik im
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(Basis)Dialekt und ihre möglichen sprachgeographischen Reflexe bis heute ein Desiderat (vgl. Bellmann 1994: 106). Unabdingbare Voraussetzung für eine pragmatisch ausgerichtete Regionalsprachenforschung ist eine Explikation ihres Gegenstandsbereiches, die eine theoretische und letztlich auch methodologische Basis für zukünftige Arbeiten bereitstellt. In einer relativ weiten begrifflichen Eingrenzung lässt sich Pragmatik als eine Disziplin fassen, die das handelnde Individuum in den Blick nimmt und die Funktion sprachlicher Äußerungen in der konkreten Sprachverwendung untersucht. Sprachverwendung ist dabei situativ gesteuert und die Wahl bestimmter sprachlicher Mittel seitens des handelnden Individuums steht im Dienste der intendierten Funktion. Für eine pragmatische Regionalsprachenforschung stellt sich dann die entscheidende Frage, ob die pragmatischen Funktionen und die Mittel zu ihrer Realisierung arealspezifische Besonderheiten aufweisen, etwa im Sinne eines regionaltypischen Funktions- bzw. Illokutionspotenzials. Oder anders gefragt: Welche sprachlichen Handlungen und sprachlichen Mittel realisiert der Sprecher, um seine kommunikativen Ziele zu erreichen, und wie ist diese Wahl „von regionaltypischen Bedingungslagen im Hinblick auf Sprachsystematik, Sprachgebrauch und Sprachbewertung präformiert“ (Macha 2007: 321)? Ob eine solche Wahl das sehr wahrscheinliche Produkt „soziohistorischer Entwicklungen im Sprachgebrauch“ (Macha 2007: 321) ist und ob „sich Reflexe der historisch gewordenen Unterschiedlichkeit“ (Macha 2007: 322) beispielsweise in natürlichen Gesprächen wiederfinden, wäre dann von einer (noch zu etablierenden) diachron ausgerichteten pragmatischen Regionalsprachenforschung zu untersuchen. Der Gegenstandsbereich einer pragmatisch ausgerichteten Regionalsprachenforschung ließe sich zusammengefasst auf die Kurzformel „pragmatische Funktionen + Mittel + Arealspezifik“ bringen, wobei unter „Arealspezifik“ die diatopisch-vergleichende Dimension zu verstehen ist. Die meisten Arbeiten, die im Kontext einer pragmatisch ausgerichteten Regionalsprachenforschung stehen, sind allerdings orts- oder raumbezogen und klammern die diatopisch-vergleichende Dimension aus. Eine Arealspezifik pragmatischer Phänomene dürfte sich erfolgsversprechend dort nachweisen lassen, wo sie sich in spezifischen Äußerungsformen niederschlägt, die auch über die Sprachfläche explorierbar sind, wie beispielsweise bei formelhaften Sprachhandlungen des Typs GRÜSSEN (Guten Tag, Servus, Moin) oder Sprachhandlungen, die konditionale Relevanz aufweisen, wie etwa ANTWORTEN AUF DANKE (gern geschehen, da nicht für) (vgl. auch Staffeldt 2015). Für Sprachhandlungen dieses Typs liegen Sprachkarten im AdA vor (vgl. AdA, Runde 2: Frage 1 Gruß beim Betreten eines Geschäfts am Nachmittag, Frage 2 Antwort auf „Danke“), wobei eine systematische Exploration, die über Einzelfälle hinausgeht, wünschenswert wäre. Über die Sprachfläche ebenfalls explorierbar sind deiktische Ausdrücke, die genuine pragmatische Äußerungseinheiten darstellen. Im Gegensatz zu anderen pragmatischen Teilgebieten darf die Deixis im Bereich der Regionalsprachenforschung als relativ gut erforscht gelten, insbesondere für die oberdeutschen Dialekte (vgl. beispielsweise Rowley 1980; Reichel 2002; Harnisch 2004, 2017) und mit Abstrichen auch für die mitteldeutschen Dialekte. Für Richtungsadverbien liegen vereinzelt Sprachkarten vor (vgl. Glaser 1992; die Kartierung der Richtungsadverbien im SBS und die Kt. 682 hinein im Mittelrheinischen Sprachatlas [MRhSA]). Als für eine pragmatisch ausgerichtete Regionalsprachenforschung besonders fruchtbar erweist sich die Einbeziehung gesprächslinguistischer Analysemethoden (vgl. auch Lanwer, Art. 27 in diesem Band). Natürliche Gespräche bilden für die Untersuchung des
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intendierten Variierens auf der vertikalen Dimension eine ideale Datengrundlage. Ein grundlegendes Problem scheint aber darin zu liegen, dass die funktionale Analyse von Sprachhandlungen in Gesprächen keine oder nur marginale arealspezifische Unterschiede zutage fördert. So kommt Lanwer (Art. 27 in diesem Band) nach einem Forschungsüberblick über gesprächslinguistische Arbeiten zur Variation zwischen Dialekt und Gebrauchsstandard zu dem Ergebnis, „dass der funktionale Einsatz sprachlicher Variation auf der Dialekt/Standard-Achse in allen bisher untersuchten Arealen und Städten unabhängig von den jeweils verfügbaren Kontrastmitteln, regelhaft vorkommt und ähnlichen Mechanismen folgt“ (Lanwer, Art. 27 in diesem Band: 819). Zudem zeichneten sich im arealen Vergleich „nur bedingt Unterschiede mit Blick auf die funktionale Nutzung arealspezifischer Kontrastpotenziale ab“ (Lanwer, Art. 27 in diesem Band: 820). Insgesamt gesehen muss der Frage, inwiefern und in welchem Umfang sich pragmatische Phänomene überhaupt über die Sprachfläche kontrastiv erstrecken und dementsprechend explorierbar und analysierbar sind, verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden.
7. Neurodialektologie Eine der interessantesten und vielversprechendsten aktuellen Entwicklungen ist das Entstehen einer neuen Forschungsrichtung, der Neurodialektologie: Einerseits werden neurolinguistische Methoden in der Erforschung der deutschen Regionalsprachen erprobt, anderseits beginnt sich die internationale Neurolinguistik mit großem Gewinn variationslinguistischen Fragestellungen zu öffnen (vgl. Grimaldi 2018; Schmitt, Auer & Ferstl 2019). Besonders attraktiv für Variationslinguisten sind die neurolinguistischen Methoden, die Einblicke in Gehirnaktivitäten während der Sprachverarbeitung ermöglichen, also im besten Fall so etwas wie eine (ansatzweise) „Direktbeobachtung der Sprachkognition“. Dabei handelt es sich einerseits um zeitsensitive Verfahren (z. B. die Elektroenzephalographie [EEG]), die es erlauben, elektrophysiologische Hirnreaktionen während der fortschreitenden (inkrementellen) Verarbeitung eines sprachlichen Stimulus zu beobachten, anderseits um Bildgebungsverfahren (z. B. die funktionelle Magnetresonanztomographie [fMRT]), die es erlauben, die bei bestimmten Sprachverarbeitungsaufgaben beteiligten Hirnregionen zu identifizieren und das Ausmaß der Aktivierung zu vergleichen. Zu deutschen Regionalsprachen liegen bisher zwei Dissertationen (Lanwermeyer 2019; Schmitt 2017) und eine Reihe von Aufsatzpublikationen vor, die meist auf EEGMessungen beruhen. Die bisher einzige Studie mit bildgebenden Verfahren (Schmitt 2017; Schmitt, Auer & Ferstl 2019) bedient sich der funktionellen Magnetresonanztomographie, bei der über die Blutoxygenierung und deren magnetische Eigenschaften die Aktivierung von Hirnarealen mit hoher Auflösung dargestellt werden kann. In der Studie wurde untersucht, ob bivarietäre (bilektale) Sprecher, die Hochalemannisch und Standarddeutsch beherrschen, beim Textverstehen dialektaler Texte andere Hirnregionen aktivieren als monovarietäre (monolektale) Sprecher, die im Deutschen nur die Standardvarietät beherrschen. Dies ist tatsächlich so. Während bei monovarietären Probanden der linke vordere Schläfenlappen nur beim Hören standardsprachlicher Texte eine hohe Aktivierung zeigt, ist dies bei den bivarietären Hörern sowohl bei standardsprachlichen als auch bei den hochalemannischen Texten der Fall. Inwiefern die Aktivierung dieser Hirnregion mit sprachli-
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Abb. 2.1: Interpretationsschema für ein EKP (Schmidt 2016: 68, vgl. Drenhaus 2010: 115)
chen Integrationsleistungen auf höheren linguistischen Ebenen zusammenhängt oder mit sozialen (Vertrautheit) und emotionalen Funktionen in Zusammenhang steht, lässt sich heute noch nicht sicher sagen. Wichtiger ist das Ergebnis, dass, soweit es das Textverstehen betrifft, bivarietäre und bilinguale Sprecher dieselben Aktivierungsmuster zeigen. Beim EEG (Elektroenzephalogramm) werden die Hirnströme von Informanten bei der Verarbeitung sprachlicher Stimuli z. B. mit Hilfe einer Elektrodenkappe erhoben. Für die verschiedenen Hirnregionen („Topographie“) wird dann die durchschnittliche Hirnstromreaktion der Probanden in Form eines EKPs (ereigniskorrelierten Potentials; s. Abb. 2.1) dargestellt, wobei immer ein kritisches Item mit einer Kontrollbedingung verglichen werden muss. Die Abweichungen (elektrophysiologische Signatur) in der Verarbeitung der beiden Items bzw. Itemgruppen werden hinsichtlich des Auftretenszeitpunkts (Latenz), der Polarität des elektrischen Potentials (negativ oder positiv) und der Stärke des Potentials (Amplitude) interpretiert. Zwei EEG-Studien haben die Unterschiede in der Verarbeitung vertrauter und weniger vertrauter Dialektvarianten bei Kindern und Erwachsenen zum Thema: Wie erwartet korreliert die Effektivität der kognitiven Verarbeitung mit dem Grad der Vertrautheit mit regionalsprachlichen Varianten (Bühler, Schmidt & Maurer 2017). Ansatzweise wird zudem erkennbar, welche sprachkognitiven Effekte bei den Zuordnungsprozessen (Identifikationsprozessen) bei weniger vertrauten Varianten eine Rolle spielen (Bühler et al. 2017). Angesichts des hohen Aufwands solcher Studien (erhöhte Anforderungen an die Informantenauswahl, aufwendige Datenaufzeichnung und -auswertung) wurden neurolinguistische Methoden in der Variationslinguistik des Deutschen bisher vor allem im Rahmen größerer multimethodischer Forschungsprogramme eingesetzt, um in Fragen von grundsätzlicher theoretischer Relevanz Aufschlüsse zu gewinnen, die mit anderen Methoden so nicht möglich wären (vgl. den Überblick in Schmidt 2016). Dabei konnte z. B. nachgewiesen werden, dass das von der Sprachdynamiktheorie postulierte Zusam-
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menwirken von sprachkognitiven und interaktiven Faktoren als Auslöser von bestimmten Sprachwandelprozessen (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 174−212) mit spezifischen hirnphysiologischen Verarbeitungssignaturen verbunden ist. Während Diphthong- vs. Monophthong-Gegensätze an Dialektgrenzen, die seit mehr als einem Jahrhundert nachweisbar stabil sind (Odenwald), bei den Sprechern beiderseits der Grenze keine spezifischen EEG-Effekte hervorrufen, lösen Diphthong- vs. Monophthong-Gegensätze, die seit mehr als einem Jahrhundert zu einem durchgreifenden Sprachwandel in Form einer Wort-fürWort Umphonologisierung führen (Bayerisch-Schwaben), bei den Sprechern der Nachbarräume markante hirnphysiologische Reaktionen aus: „Phonemkollisionen“ zwischen Nachbardialekten lösen bei den Hörern zunächst „frühe Negativierungen“ aus, die als „Verletzung einer Fortsetzungserwartung“ interpretiert werden. Diesen schließen sich „späte Positivierungen“ an, die als gescheiterte Integration in den Verstehenskontext interpretiert werden (vgl. Lanwermeyer 2019; Lanwermeyer et al. 2016). Für die von der Theorie postulierten „Irritationen“ bei Synchronisierungsakten, die zu negativen Rückkopplungen in der Interaktion führen und die zur Ursache für Kompetenzmodifikationen der Beteiligten werden und damit Sprachwandel auslösen, lassen sich im neurodialektologischen Experiment also spezifische sprachkognitive Effekte nachweisen. Noch interessanter als die sprachkognitive Verarbeitung von Gegensätzen zwischen Nachbardialekten ist die Verarbeitung von „kopräsenten“ Varietäten des Dialekt/Standard-Spektrums (vgl. zuletzt Franchini 2018). Wie werden phonologische Differenzen zwischen Standard bzw. standardnahem Regiolekt und Dialekt verarbeitet, wenn Sprecher beide Varietäten im Alltag nebeneinander verwenden? Erste Ergebnisse liegen für den Fall vor, in dem standardsprachliche Vokale einen breiteren Streubereich aufweisen als dialektale (vgl. Schmidt 2016: 73−77). Im konkreten Fall liegen die Formantmittelwerte einer dialektalen Kurzvokalopposition (vierstufiges Kurzvokalsystem) innerhalb des Streubereichs eines standardsprachlichen Phonems (dreistufiges Kurzvokalsystem). Monovarietäre Hörer, die nur die Standardsprache beherrschen, reagieren auf die Präsentation dialektaler Minimalpaare, wie man es beim Hören unbekannter Wörter mit einer phonetischen Differenz erwarten darf. Das sprachverarbeitende Gehirn reagiert mit einer mismatch negativity, einem hirnphysiologischen Effekt, der regelmäßig bei lautlichen Abweichungen von einem erwarteten Stimulus auftritt. Ganz anders die Hörer, denen Dialekt und Standard vertraut sind und die die präsentierten dialektalen Minimalpaare hätten erkennen sollen. Bei der Verarbeitung der Minimalpaare tritt hier der zu erwartende sprachkognitive Effekt nur bei einem Teil der Fälle auf („asymmetrische mismatch negativity“). Bei dem Minimalpaarglied, bei dem der standardsprachliche und der dialektale Phonemwert nicht übereinstimmten, ist die Lautdifferenzwahrnehmung gestört. Durch die ständigen Synchronisierungsakte mit der omnipräsenten Standardsprache löst sich die Perzipierbarkeit des (abweichenden) dialektalen Phonemkontrasts schrittweise auf. Die Vermutung liegt nahe, dass dauerhaft kopräsente Varietäten sich so wandeln, dass sie sprachkognitiv mit einem einzigen, identischen Steuerungssystem verarbeitet werden können. Für diese weitreichende These sprechen auch erste neurodialektologische Ergebnisse zur Morphosyntax. Obwohl Dialekte viel weitergehende Kasussynkretismen als die Standardsprache aufweisen, reagiert das sprachverarbeitende System der Sprecher auf vergleichbare Konstruktionen nahezu identisch. So reagieren Sprecher des Zürichdeutschen (Formenzusammenfall von Akkusativ und Nominativ auch beim Maskulinum) auf Objekt-vor-Subjekt-Sätze mit nahezu denselben EKP-Signaturen wie monovarietäre Sprecher der Standardsprache auf den Formenzusammenfall von Akkusativ und Nominativ beim Femininum (vgl. Dröge et al. 2016; Dröge et al.
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i. Dr.). Sollten sich solche Ergebnisse bestätigen, darf von neurodialektologischen Studien ein erhebliches Erklärungspotential für Sprachwandelprozesse erwartet werden. Es eröffnet sich zudem die Möglichkeit, auf der Ebene der Phonologie und der Morphosyntax Sprachen und Varietäten sprachkognitiv voneinander abzugrenzen.
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Jürgen Erich Schmidt, Marburg (Deutschland) Antje Dammel, Münster (Deutschland) Heiko Girnth, Marburg (Deutschland) Alexandra N. Lenz, Wien (Österreich)
II. Die Sprachräume des Deutschen: Linguistische Struktur, variatives Spektrum und Dynamik 3. Areale Variation im Deutschen historisch: Mittelalter und Frühe Neuzeit 1. Einleitung 2. Regionale Kennmerkmale im Überblick 3. Funktionale Aspekte arealer Sprachvariation
4. Entstehung überregionaler Schreibtraditionen 5. Literatur
1. Einleitung Die vormoderne Schriftlichkeit ist von Beginn der schriftlichen Überlieferung im 8. Jahrhundert bis zum 17. Jahrhundert durch ein hohes Maß an arealer Variation gekennzeichnet. Dabei ist der Gebrauch regionaler Schreibvarianten jedoch nicht als Automatismus zu verstehen; vielmehr können Graphien oder morphologische Formen in den Jahrhunderten vor Herausbildung der modernen Orthographie in vielfacher Weise funktionalisiert werden, etwa zur Kennzeichnung sozial und situativ bedingter Sprachdifferenzen, zum Ausdruck der Konfessionszugehörigkeit, als Ausweis der Wertschätzung gegenüber externen Adressaten oder zur Charakterisierung von Figuren in literarischen Texten. Neben den Varianten der jeweils eigenen Region werden auch gezielt Merkmale aus anderen landschaftlichen Varietäten oder anderen Sprachen eingesetzt, um die eigene Sprache sozial zu markieren. In bestimmten Perioden der deutschen Sprachgeschichte finden immer wieder räumlich und systemisch begrenzte Ausgleichsprozesse statt, sodass sich Soziolekte (mittelhochdeutsche Dichtersprache) oder überregionale Schreibvarietäten (Hansesprache, Gemeines Deutsch, „Osthochdeutsch“) herausbilden. Dies führt allerdings noch nicht zu einer Standardisierung im modernen Sinne mit allgemeiner Durchsetzung einer festen Wortschreibung. Erst in neuhochdeutscher Zeit kommt es durch Maßnahmen zur Sprachkultivierung und -normierung im metasprachlichen Diskurs zu einer auf den gesamten Sprachraum bezogenen Vereinheitlichung des geschriebenen Deutsch, das damit seine regionale Färbung weitgehend verliert. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick gegeben über die wichtigsten Merkmale der landschaftlichen Varietäten aus dem oberdeutschen, mitteldeutschen und niederdeutsch-rheinmaasländischen Raum, wie sie sich aus der schriftlichen Überlieferung rekonstruieren lassen (Kap. 2.). Anschließend werden unterschiedliche Bereiche der Funktionalisierung sprachlicher Varianten behandelt (Kap. 3.), bevor dann auf einige (begrenzte) Ausgleichs- und Normierungsprozesse eingegangen wird (Kap. 4.).
https://doi.org/10.1515/9783110261295-003
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II. Die Sprachräume des Deutschen
2. Regionale Kennmerkmale im Überblick 2.1. Allgemeines Der Versuch, schreibsprachliche Kennmerkmale für die verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raumes in vormoderner Zeit zu beschreiben, kann in mehrerlei Hinsicht nur als grobe Annäherung an die Sprachwirklichkeit verstanden werden. Die regionalen Schreibsprachen sind über den hier betrachteten Zeitraum von ca. neun Jahrhunderten (750−1650) erheblichen Veränderungen unterworfen, die auch die jeweils als regionalspezifisch zu betrachtenden Merkmale betreffen. Von der Darstellung dieser diachronen Wandelprozesse muss hier weitgehend abgesehen werden. Darüber hinaus sind die zu beschreibenden Schreiblandschaften weder in sich homogen noch nach außen klar von benachbarten Schreibregionen abgrenzbar. Mit den angeführten regionalen Kennmerkmalen werden somit prototypische Varietäten beschrieben, die in den zeitgenössischen Handschriften und Drucken nicht in dieser Reinform repräsentiert sind; hier ist vielmehr jederzeit mit kanzleispezifischen, textsortenabhängigen oder schreiberindividuellen Unterschieden sowie mit Interferenzen durch Import von Sprachformen aus anderen Regionen zu rechnen, sodass die Einzeltexte stets ein hohes Maß an schreibsprachlicher Variation aufweisen. Wenn hier dennoch von regionalen Kennmerkmalen gesprochen wird, so lässt sich dies auf zweifache Weise rechtfertigen. Zum einen treten die angegebenen Merkmale − bei aller Variabilität im konkreten Einzelfall − in den Texten der jeweiligen Region früher, kontinuierlicher und häufiger auf als in der Überlieferung anderer Regionen, zum anderen gibt es metasprachliche Zeugnisse, etwa von Grammatikern oder Chronisten, die erkennen lassen, dass bestimmte Schreibweisen oder morphologische Konstruktionen auch von den Zeitgenossen als charakteristische Kennformen einzelner Regionen wahrgenommen wurden (Möller 2005). Entsprechend den einleitenden Ausführungen über das Verhältnis der historischen Schreibsprachen zur Mündlichkeit ist davon auszugehen, dass die regionalen Kennmerkmale nur einen kleinen Teil dessen widerspiegeln, was die sprachliche Charakteristik der damaligen Dialekte ausgemacht hat. Unter quantitativen Kriterien sind zunächst solche Merkmale als charakteristisch für die Schreibsprache einer Region zu betrachten, die dort besonders konstant und frequent vorkommen. Diese Schreibungen oder morphologischen Formen mögen Entsprechungen in den oberschichtigen Sprechvarietäten gehabt haben. Daneben gibt es in allen Regionen jedoch auch Sprachformen, die eher selten und nur in Texten wenig erfahrener Schreiber oder in bestimmten Quellentypen (Graser 2011: Quellen vom unteren Rand der Schriftlichkeit) auftreten. Diese Formen, die in der Literatur oft als „Direktanzeigen“ (Besch 1965) oder „Reflexe gesprochener Sprache“ (vgl. z. B. zum Mittelhochdeutschen: Grosse 2000, zum Mittelniederdeutschen: Bischoff & Peters 2000) bezeichnet werden, können trotz ihres sporadischen Auftretens als regionaltypisch betrachtet werden, da sie als schreibsprachliche Wiedergaben regional oder lokal begrenzter Dialektbesonderheiten zu interpretieren sind. Sie werden hier dementsprechend mitberücksichtigt. Auf strukturelle Besonderheiten der Graphemsysteme einzelner Regionen kann nur in Ausnahmefällen eingegangen werden (ein Beispiel wäre die für das Bairische typische graphematische Differenzierung der auf mhd. î und ei zurückgehenden Diphthonge), was auch damit zusammenhängt, dass nur der kleinere Teil der schreibsprachhistorischen Studien strukturelle Eigenschaften historischer Schreibsysteme in den Blick nimmt.
3. Areale Variation im Deutschen historisch: Mittelalter und Frühe Neuzeit
Die Darstellung muss sich darauf beschränken, für jede Region eine Auswahl der im obigen Sinne als charakteristisch zu erachtenden Merkmale anzuführen. Hierbei wird jeweils weiterführende Literatur angegeben. Überblicksdarstellungen zu den wichtigsten regionalen Sprachmerkmalen finden sich u. a. in Keller (1995: 136−147, 250−261, 373− 384) und Schmid (2017a: 92−111), in den historischen Sprachatlanten (Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas [HSS], Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete [ASnA]) sowie in den Grammatiken zu den einzelnen Sprachstufen. Merkmalslisten und bibliographische Angaben zu den einzelnen Regionen bieten außerdem die Webseiten Historische Schreibsprachen − Internetbibliographie (Pfeil 2007) und Schreibsprachen im Spätmittelalter (Seelbach 2007).
2.2. Westoberdeutsch (Alemannisch) Die alemannische Schreibsprache des frühen Mittelalters ist durch die althochdeutsche Glossenüberlieferung von St. Gallen und Reichenau, durch Texte wie die Benediktinerregel und die Murbacher Hymnen sowie durch das Werk Notkers des Deutschen (ca. 950−1022) dokumentiert. Als charakteristisches graphematisches Merkmal gelten im Konsonantismus die Reflexe der weitgehend durchgeführten Zweiten Lautverschiebung, mit der Realisierung von wgerm. p und k durch die Graphien und (fad ‘Pfad’, sceffan ‘Schöffen’; chorn ‘Korn’, wecchen ‘wecken’) und von wgerm. b, d, g durch (pintan ‘binden’, tag ‘Tag’, kepan ‘geben’). Im Vokalismus ist der Gebrauch von für wgerm. ō (im 8.−9. Jahrhundert: samftmoati ‘Sanftmut’, pruader ‘Bruder’) und von im Lexem gan ‘gehen’ (gegenüber gen im Bairischen und Fränkischen) besonders charakteristisch, in der Morphologie der Gebrauch der Form ka-/ ca- für die Vorsilbe ‘ge-’ (im 8. Jahrhundert: cachorot ‘gekürt’). Als Spezifikum kommt in den Texten von Notker ein von der konsonantischen Umgebung bedingter Graphienwechsel hinzu, der auf eine allophonische Variation der auf wgerm. b, d, g zurückgehenden Plosive verweist („Notkers Anlautgesetz“). Notker verwendet hier die Graphien in der Stellung nach Vokal oder nach l, r, m, n (z. B. ter bruoder, in díh, demo gólde), dagegen in allen anderen Positionen (z. B. des prûoder, daz tih, tes kóldes) (Beispiele nach Braune & Reiffenstein 2004: § 103). In mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Zeit kann die Schreibung
für wgerm. b nicht mehr als Charakteristikum des Alemannischen gelten, da sich hierfür weitgehend die Graphie durchgesetzt hat, und die Schreibung für wgerm. k bleibt nur im Südalemannischen bewahrt. Im Bereich des Vokalismus zeichnet sich die alemannische Schreibsprache überwiegend durch eine konservative Beibehaltung der alten westgermanischen Monophthonge ī, ū, ǖ aus (beliben ‘bleiben’, mus ‘Maus’, hiute ‘heute’); nur im Schwäbischen setzen sich in frühneuhochdeutscher Zeit die neuen Diphthongschreibungen durch. Hinzu kommen Graphien, die auf spezifische Lautgegebenheiten in einigen alemannischen Mundarten hinweisen, wie etwa den nicht durchgeführten Umlaut bei wgerm. u vor kk, pf, tz (stucke ‘Stücke’, hupfen ‘hüpfen’), die teilweise Palatalisierung von wgerm. ū (huͤs ‘Haus’) und wgerm. ā (taͤschen ‘Tasche’) oder die Beibehaltung voller Vokale in Nebensilben noch im 13. Jahrhundert (tiefi ‘Tiefe’, vrowa ‘Frau’, altho ‘der Alte’). In der Verbalmorphologie gelten z. B. die Realisierung der 2. Ps. Pl. Ind. Präs. auf -ent (ir sulent ‘ihr sollt’), die Erweiterung des Konj.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Präs. durch (macheje/machege ‘mache’, sige ‘sei’), die Formen kam, kamen (gegenüber md. quam, quamen und bair. chom, chomen) sowie weiterhin auch die schon in althochdeutscher Zeit verbreiteten a-Formen bei ‘gehen’ und ‘stehen’ (gan, stan) als besonders charakteristisch. Eingehende Untersuchungen zu den alemannischen Schreibsprachen des 13.−17. Jahrhunderts liegen mit den Arbeiten von Boesch (1946) und dem HSS vor, die jeweils einen größeren Sprachraum abdecken. Umfangreiche lokale Schreibsprachanalysen gibt es zu Ravensburg (Dreher 1928), Konstanz (Kiefer 1922), Luzern (Brandstetter 1890, 1892), Basel (Hagberg 1922; Müller 1953), St. Gallen (Schmid 1953; McCormick 1977) und Chur (Ludwig 1989); einen knappen Überblick für die Schweiz mit kommentierter Bibliographie bietet Sonderegger (1997). Das Schwäbische behandeln die Studien von Kauffmann (1890), Bohnenberger (1892) und Piirainen (1968), für das ostschwäbische Augsburg vgl. Scholz (1898), Glaser (1985), Freund (1991) und Fujii (2007). Historische Überblicksdarstellungen zum Alemannischen bieten Sonderegger (2003a) zur Schweiz, Kunze (2003) zum Oberrheingebiet und Hartweg (2003) zum Elsass.
2.3. Ostoberdeutsch (Bairisch, Ostfränkisch) Die älteste Phase der bairischen Sprachentwicklung ist durch eine umfangreiche Glossenüberlieferung, u. a. eine Abrogans-Handschrift (Hs. Pa), sowie religiöse Gebrauchstexte wie das Freisinger Paternoster, die Exhortatio ad plebem Christianam, mehrere Gebetstexte und zwei Priestereide, Segenssprüche (Wiener Hundesegen, Pro nessia) und andere Texte bezeugt. Die bairische Schreibsprache weist einige Gemeinsamkeiten mit der des alemannischen Raumes auf, die sich schon in der ältesten Überlieferung zeigen, etwa die früh vorhandenen Merkmale der Zweiten Lautverschiebung, die Graphien für wgerm. b, d, g und die Form ka-/ca- für die Vorsilbe ‘ge-’. Anders als im Alemannischen wird wgerm. ō in den bairischen Texten noch bis ins 9. Jahrhundert durch realisiert (proder ‘Bruder’, gotlih ‘gut, herrlich’), bevor sich dann auch dort die Schreibung durchsetzt. Ab dem 12. Jahrhundert findet eine weitere Ausdifferenzierung des Bairischen gegenüber dem Alemannischen statt, einerseits durch konservative Züge, wie etwa die Bewahrung des im Alemannischen abgebauten p für historisches b und der Graphien für wgerm. sk in sollen (bair. schuln/sculn), andererseits durch regionale Neuerungen wie b für w (gebaltig ‘gewaltig’) oder w für b (wibel ‘Bibel’), nordbair. für j (gunc ‘jung’) oder süd- und mittelbair. für auslautendes g (tach/takch ‘Tag’). Ab dem 14./15. Jahrhundert sind die Graphien für anlautendes k besonders kennzeichnend für den ostoberdeutschen Raum (khennen ‘kennen’, chomen ‘kommen’). Als Kennmerkmal im Vokalismus gilt die Graphie für wgerm. ai (ain ‘ein’), die trotz des wohl schon im 13. Jahrhundert eingetretenen Lautwandels zu [oa] auch in frühneuhochdeutscher Zeit weiter verwendet wird. Lautwandelprozesse wie die Entrundung der Vokale ö, ü, eu (derfer ‘Dörfer’, freid ‘Freude’) werden nur selten graphematisch reflektiert. Schon ab dem 12. Jahrhundert erscheinen im bairischen Raum erste Schreibungen, die auf die Diphthongierung von wgerm. ī, ū, ǖ hindeuten (vleis, haus, leute). In der Flexion sind einige konservative Züge zu konstatieren, wie z. B. die bairischen Dualformen ëʒ ‘ihr beide’ und ënc ‘euch beide(n)’, die seit dem 13. Jahrhundert schriftlich bezeugt sind, sowie die noch bis ins 15. Jahrhundert bewahrte Adjektivendung -iu (z. B. Nom. Pl. und Nom./Akk. Sg. Fem.: gutiu ‘gute’). Ab dem 13. Jahrhundert (verein-
3. Areale Variation im Deutschen historisch: Mittelalter und Frühe Neuzeit
zelt schon im 12. Jahrhundert) treten Graphien auf, die auf Apokopierungen (kirch, aug) bzw. Synkopierungen (gwalt, gnant) verweisen. Darüber hinaus sind für die ostoberdeutschen Schreibsprachen präfixlose Formen des Partizips Präteritum bei perfektiven Verben (bracht ‘gebracht’, worden ‘geworden’), die Suffixvariante -nus (vinsternuß, hindernüß) und die Negationspartikel nit ‘nicht’ charakteristisch. Die frühe Sprachentwicklung im ostoberdeutschen Raum ist z. B. durch die Untersuchungen zur althochdeutschen Griffelglossierung von Glaser (1996) und Ernst (2007) aufgearbeitet worden. Für die mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Zeit liegen mit den graphematisch-phonologisch ausgerichteten Arbeiten von Uminsky (1975) und Bürgisser (1988) zum 13. Jahrhundert, Ernst (1994) und Kolbeck (2017) zum 14.−15. Jahrhundert, Moser (1977) und Tennant (1985) zum Gemeinen Deutsch des 16. Jahrhunderts sowie Tauber (1993), Näßl (2004) und Rössler (2005) zum 15.–18. Jahrhundert größere Fallstudien zu einzelnen bairischen Teilräumen, Kanzleien oder Druckzentren vor. Darüber hinaus befassen sich einige Arbeiten mit dem Sprachgebrauch einzelner Autoren, etwa für das frühe 14. Jahrhundert Baptist-Hlawatsch (1980) zu einem Codex Ulrichs von Pottenstein, Wiesinger (1996a) zu verschiedenen Texten des Mönchs Andreas Kurzmann, und für die Zeit um 1600 Meurders (2001, 2008) zur Graphematik der Drucke von Aegidius Albertinus. Einen historischen Abriss der bairischen Sprachgeschichte bis zum Beginn der Frühen Neuzeit bietet Reiffenstein (2003a).
Das Ostfränkische bildet einen Übergangsraum zwischen den oberdeutschen und mitteldeutschen Dialekten, wird jedoch meist dem Oberdeutschen zugerechnet. Diese regionale Varietät ist für die althochdeutsche Zeit vor allem durch eine Tatian-Übersetzung aus dem 9. Jahrhundert sowie durch einige kleinere Denkmäler dokumentiert (Lex-SalicaFragment, Würzburger Beichte, Merseburger Zaubersprüche, Willirams Paraphrase des Hohen Liedes, Hammelburger und Würzburger Markbeschreibungen). Sprachlich wird das Ostfränkische wegen seines weit fortgeschrittenen Standes der Zweiten Lautverschiebung zum Oberdeutschen gerechnet, doch wird es z. B. in der Mittelhochdeutschen Grammatik (Paul 2007: § E33) als ein eher „unspezifisches“ Oberdeutsch charakterisiert, „dem erkennbar bair. und alem. Kennzeichen fehlen“. Während etwa in bairischen Quellen für wgerm. ī, ū, ǖ schon in spätalthochdeutscher Zeit erste Belege auftreten, die auf eine Diphthongierung verweisen, werden in ostfränkischen Texten noch bis Ende der mittelhochdeutschen Zeit monographische Varianten verwendet (sin ‘sein’, us ‘aus’). Die Diphthongierung von wgerm. ō und ē 2 ist bereits seit dem späten 8. Jahrhundert belegt (buohha ‘Buche’), aber kaum das im Bairischen verbreitete . Daneben steht im Ostfränkischen auch noch die traditionelle Schreibung (mooter ‘Mutter’). Im Konsonantismus ist die Verschiebung der Tenues p und t in allen Positionen durchgeführt (pfenning, hëlphan ‘helfen’, scaf ‘Schaf ’; zi ‘zu’, herza ‘Herz’, saz ‘saß’), während k im Anlaut, anders als im Bairischen und Alemannischen, unverschoben bleibt. Die Medienverschiebung d zu t ist im Ostfränkischen realisiert (tag, bintan ‘binden’), nicht aber die im restlichen Oberdeutschen stattfindende Verschiebung von b zu p und g zu k. In der Flexion setzt sich die Form gi- für die Vorsilbe ‘ge’ (giscriban ‘geschrieben’) schon sehr früh durch (Anfang 9. Jahrhundert). Die Vorsilbe ‘ver-’ tritt häufig als for-, fur- auf (fornidirit ‘verdammt’), dagegen nur selten das im restlichen Oberdeutschen übliche far-. Das Possessivpronomen ‘unser’ erscheint vor allem im Raum Nürnberg in der Form under. Zur Entwicklung ostfränkischer Schreibsprachen in frühneuhochdeutscher Zeit liegen einige ältere Dissertationen vor (z. B. Huther 1913 zu Würzburg, Ludwig 1922 zu Schweinfurt). Am intensivsten erforscht ist die sprachliche Entwicklung Nürnbergs, mit diversen Arbeiten zur graphemati-
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II. Die Sprachräume des Deutschen schen und lautlichen Entwicklung (Pfanner 1954; Marwedel 1973; Straßner 1977; Tullos 1984; Koller 1989; zusammenfassend Müller 2002), zum Wortbildungswandel (Müller 1993; Habermann 1994; Thomas 2002) und zum syntaktischen Wandel im 16. Jahrhundert (Ebert 1998). Für einen Überblick zur Sprachentwicklung im Ostfränkischen vgl. Klepsch & Weinacht (2003).
2.4. Ostmitteldeutsch (Thüringisch, Obersächsisch, Schlesisch) Von den drei Hauptdialekten, die den ostmitteldeutschen Raum bilden, ist der thüringische bereits seit voralthochdeutscher Zeit anzusetzen, der allerdings in der Schriftlichkeit erst um 1200 mit dem lateinisch-deutschen Carmen Paschale von Sedulius in Erscheinung tritt; weitere frühe Zeugnisse aus dem 13. Jahrhundert sind das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch und das Jenaer Martyrologium. Im Zuge der Ostsiedlung im 12./13. Jahrhundert bildeten sich dann die beiden anderen ostmitteldeutschen Dialekte Obersächsisch und Schlesisch heraus, deren Überlieferung erst um 1300 einsetzt (z. B. obersächsisch: Freiberger Stadtrecht, Anfang 14. Jahrhundert; schlesisch: Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwigs des Frommen, um 1301). Da die ostmitteldeutschen Dialekte in der mittelhochdeutschen Zeit noch keine sehr ausgeprägte Profilierung aufweisen, werden im Folgenden zunächst einige Kennmerkmale angeführt, die für alle drei Dialekte gleichermaßen gelten. Anschließend werden ausgewählte Formen für die Einzeldialekte genannt, die vor allem ab der frühneuhochdeutschen Zeitstufe in Erscheinung treten. Als allgemeine Charakteristika der ostmitteldeutschen Dialekte (im Unterschied zu denen des westmitteldeutschen Raumes, aber in Übereinstimmung mit den oberdeutschen Mundarten) gelten die Verschiebung von d zu t (tohter ‘Tochter’) und von anlautendem p zu pf (pfund), das zunächst durch , dann durch realisiert wird und sich später zu f (fund) entwickelt. Im Vokalismus werden u. a. folgende Merkmale als typisch ostmitteldeutsch eingestuft: die Form vor- für das Präfix ver-, die i-Schreibung in schwach betonten Nebensilben wie -er, -es, -en (grozir, gotis, menschin), die Variante für kurzes o in ader ‘oder’, ab ‘ob’, dach ‘doch’, nach ‘noch’, die Velarisierung des langen a-Lautes, die sich in gelegentlichen o-Schreibungen niederschlägt (krom ‘Kram’), sowie Schreibungen, die auf eine kontextübergreifende Monophthongierung von wgerm. ai und au hindeuten (been ‘Bein’, boom ‘Baum’), worin sich das Ostmitteldeutsche dem Niederdeutschen anschließt. Als spezifisch thüringisch gelten gerundete Vokale in den Pronomina ‘sie’, ‘ihm’, ‘ihn’ (su, ume/ome, un/on), n-lose Infinitive (begrife ‘begreifen’), Formen für ‘sollen’ mit anlautendem (schullinde ‘sollend’) und (in älteren Texten) e-Schreibungen in ‘oder’ (eder/edir). In den r-losen Pronominalformen (mi ‘mir’, di ‘dir’, wi ‘wir’, gi/i ‘ihr’) und gesenkten Kurzvokalen in offener Silbe (geledin ‘gelitten’) geht das Thüringische mit dem Niederdeutschen zusammen. Die Hauptmerkmale des Obersächsischen und Schlesischen treten nach Ausweis der Forschungsliteratur erst in frühneuhochdeutscher Zeit vermehrt in Erscheinung. Als typisch für das Obersächsische gilt neben den oben genannten, allgemein ostmitteldeutschen Merkmalen z. B. die Monophthongierung von mhd. ie und uo, die sich im häufigen Gebrauch von monographischen i- und u-Schreibungen manifestiert (dinen ‘dienen’, czu ‘zu’), und die Senkung von kurzem i (werte ‘Wirt’). Im Schlesischen ist, anders als im Obersächsischen, bereits im 15. Jahrhundert die Diphthongierung der Langvokale ī, ū, ǖ weitgehend durchgeführt (schreyben, hauß, getreulich), das kurze u wird oft als wiedergegeben (Vokalsenkung, z. B. worde ‘wurde’) und das s wird manchmal mit der Variante realisiert (lezen ‘lesen’).
3. Areale Variation im Deutschen historisch: Mittelalter und Frühe Neuzeit Die Entwicklung des Ostmitteldeutschen ist vergleichsweise gut erforscht. Erste größere Studien zu den obersächsisch-thüringischen Schreibsprachen des 13.–15. Jahrhunderts haben Bach (1937, 1943) und Schmitt (1966) vorgelegt. Darüber hinaus beschäftigen sich mehrere Monographien und längere Aufsätze mit den lokalen Schreibtraditionen einzelner Kanzleien im obersächsischen (Dresden: Fleischer 1966, 1970; Zwickau: Protze 2008) und thüringischen Raum (Erfurt: Pfeffer 1972, Bentzinger 1973; Jena: Suchsland 1968; Weida, Gera, Plauen: Gleißner 1935, Mettke 1958; Wittenberg: Kettmann 1967; Zeitz: Otto 1970). Mit der Entwicklung der ostmitteldeutschen Druckersprachen hat sich insbesondere Kettmann (1987, 1992) auseinandergesetzt. Einen allgemeinen Überblick über die Entwicklungen im ostmitteldeutschen Raum bietet Lerchner (2003). Eine komplexe Gemengelage, mit einer teils ostmitteldeutschen, teils mittelbairischen Prägung der regionalen Schreibsprachen, ist in den deutschsprachigen Quellen der osteuropäischen Territorien vorzufinden. Zur Geschichte der schlesischen Schreibsprachen im Gebiet des heutigen Polen liegen neben einigen frühen Monographien (allgemein: Rückert 1878, Jungandreas 1937; Arndt 1898 zu Breslau/Wrocław; Barth 1938 zu Danzig/Gdańsk) auch einige neuere Monographien vor (z. B. Waligóra 1996 zu Krakau/Kraków; Bogacki 2008 zu Namslau/Namysłów, Brieg/Brzeg, Neisse/ Nysa und Leobschütz/Głubczyce; Biszczanik 2013 zu Sprottau/Szprotawa). Unter den zahlreichen Arbeiten, die sich mit den frühneuhochdeutschen Schreibsprachen im heutigen Tschechien beschäftigen, sind vor allem die Monographien von Schmitt (1936) zum mittelböhmischen Prag, Skála (1967) zum westböhmischen Eger/Cheb, Rudolf (1973) und Boková (1998) zu den Kanzleisprachen in Südböhmen sowie Zeman (1972), Muzikant (1978) und Vaňková (1999) zu den nordmährischen und Masařík (1966, 1985) zu den mittel- und südmährischen Schreibsprachen zu nennen. Zur Schreibsprache in Ungarn gibt die Arbeit von Szalai (1979) über die Kanzlei von Ödenburg/Sopron Auskunft, zur slowakischen Tradition Weinelt (1938). Die deutschsprachigen Quellen aus Rumänien (Siebenbürgen) und Slowenien sind bislang nur wenig erforscht. Einen guten Überblick über die frühneuhochdeutschen Schreibsprachen im östlichen Europa mit vielen weiterführenden Literaturhinweisen geben die entsprechenden Aufsätze im Handbuch Kanzleisprachenforschung von Greule, Meier & Ziegler (2012: 509−607).
2.5. Westmitteldeutsch (Rheinfränkisch, Hessisch, Moselfränkisch, Ripuarisch) Der rheinfränkische Dialekt ist in althochdeutscher Zeit durch eine Reihe kleinerer Texte bezeugt (z. B. die Straßburger Eide von 842, eine Benediktinerregel aus Mainz aus dem 10. Jahrhundert, die Cantica-Bruchstücke aus dem 10./11. Jahrhundert), das Südrheinfränkische vor allem durch das Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg (9. Jahrhundert); einige andere Texte enthalten neben rheinfränkischen Merkmalen auch solche anderer Regionen (so z. B. das Ludwigslied von 881/882, mit mittelfränkisch-rheinmaasländischen Einflüssen). Als typisch gilt die unvollständige Durchführung der Zweiten Lautverschiebung, bei der z. B. anlautendes p wie im Niederdeutschen und Mittelfränkischen den germanischen Konsonantenstand bewahrt (pad ‘Pfad’, plegan ‘pflegen’), während auslautendes t wie im Alemannischen bereits zu einem s-Laut verschoben ist (geschrieben häufig als wie in fuoʒ ‘Fuß’, daʒ ‘das’). Germ. d bleibt im nördlichen Rheinfränkischen weitgehend unverschoben (fader ‘Vater’, bindan ‘binden’), während das Südrheinfränkische hierin teilweise mit dem Alemannischen zusammengeht (fater, bintan). Die Laute b und g bleiben im Rheinfränkischen, anders als in Teilen des Oberdeutschen, erhalten (bodo ‘Bote’, geban ‘geben’). Darüber hinaus wird in rheinfränkischen Texten noch bis um 900 weitgehend an der alten Schreibung
statt , präfixlose Formen des Partizips Präteritum bei perfektiven Verben wie bringen, finden, kommen oder werden, das Suffix -nus statt -nis sowie die Negationspartikel nit statt nicht (vgl. Kap. 2.3.). Im Laufe des 17. Jahrhunderts etablierte sich auf der Basis des Gemeinen Deutschs eine überregionale oberdeutsche Literatursprache mit wichtigen Druckorten in Bayern (München, Ingolstadt), Österreich (Wien) und Schwaben (Augsburg, Dillingen), die auch als donawisch (Sebastian Helber) bezeichnet wurde. Bekannte oberdeutsch publizierende Literaten waren der Lyriker Friedrich Spee (Trutznachtigall, Köln 1649), der geistliche Schriftsteller Martin von Cochem (Auserlesenes History-Buch, Dillingen 1693) und der Prediger Abraham a Sancta Clara. Unterschiede zur ostmitteldeutschen Druckersprache wurden den Zeitgenossen nicht nur im Bereich der Graphie,
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sondern auch der Morphologie bewusst und konnten konfessionell aufgeladen werden (siehe oben, Kap. 3.3.). Das betraf z. B. die synkopierten und apokopierten Formen des Substantivs (Gwalt, Sprach) sowie eine spezifische Genuswahl (der Tauf, die Katheder, das Teller), die noch in Adelungs Umständlichem Lehrgebäude der Deutschen Sprache (1782) thematisiert wurde. In Reaktion auf die Sprachkritik der protestantischen Sprachgesellschaften traten die katholisch-bayerischen Aufklärer mit ihrer Zeitschrift Parnassus Boicus (München 1722−1727, Regensburg 1737−1740) selbstbewusst für die oberdeutsche Schreibsprachtradition ein und wehrten sich im so genannten spätbarocken Sprachenstreit gegen die zunehmende Vormachtstellung der ostmitteldeutschen Literatursprache (Breuer 2012). Unterstützt wurde diese Haltung in der Folge von den Grammatikern Antesperg (1747) und Aichinger (1754), die die Standardisierung und den Ausbau der oberdeutschen Literatursprache vorantreiben wollten bzw. einen Kompromiss zwischen den Sprachlandschaften befürworteten. Schließlich führten jedoch die Auflösung des Jesuitenordens und die Neuordnung des Schulwesens unter Maria Theresia und Joseph II. bzw. unter Kurfürst Maximilian III. Joseph langfristig zur Durchsetzung der ostmitteldeutschen Literatursprache als Leitvarietät auch in Österreich und Bayern (Reiffenstein 1995, 2003a, 2003b; Wiesinger 1995, 1999).
4.5. Die ostmitteldeutsch-ostoberdeutsche Schreiballianz Spätestens seit dem 15. Jahrhundert entstanden in den weniger stark territorial zersplitterten ostmitteldeutschen und ostoberdeutschen Gebieten überregionale konvergierende Tendenzen, deren Resultat als „Schreiballianz“ (Besch 2003: 2262) oder als „Osthochdeutsch“ (Schmid & Ulbrich 2010: 324) bezeichnet wird. Es handelt sich um eine Varietätengruppe, die im Kontext wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs − vor allem zwischen größeren Städten wie Augsburg, Nürnberg, Erfurt oder Leipzig − entstand, wobei die ostmitteldeutsche Schreibsprache z. B. die Apokope, das Suffix -nus oder die Negationspartikel nit übernahm, während im Ostoberdeutschen mitteldeutsche Verbalendungen aufschienen oder sich die -Schreibung vor Nasalgraphemen (sunne > sonne ‘Sonne’, vrum > vrom ‘fromm’) ausbreitete (Guchmann 1969: 63−65; Rössler 2005: 132−138). Diese Schreibsprachen überregionaler Prägung wurden von den städtischen Eliten genutzt und waren von der gesprochenen Sprache der Landbevölkerung abgekoppelt, was sich etwa an der abweichenden bäuerlichen Sprache in Theaterstücken des 16. Jahrhunderts zeigen lässt (Guchmann 1969: 64). Da Bezeichnungen wie „Schreiballianz“ oder „Osthochdeutsch“ eine gewisse Homogenität nahelegen, muss betont werden, dass ein Gefälle zwischen Städten mit überregional agierenden Kanzleien und solchen mit lokal orientierten Schreibstuben bestand, die eher an älteren regionalen Traditionen festhielten (Schmid & Ulbrich 2010: 336). Auch bildeten die betreffenden Stadtsprachen keineswegs einheitliche lokale Schreibvarietäten. Während die städtischen Druckersprachen die überregionalen konvergierenden Tendenzen unterstützten und so die Schreiballianz vorantrieben, zeigt die handschriftliche Überlieferung in unterschiedlich starkem Ausmaß Kennzeichen der korrelierenden gesprochenen Sprache und regional verankerte Varianten. Hier sind die Untersuchungen zu Augsburg besonders aufschlussreich (Glaser 2002; Reifsnyder 2003; Fujii 2007; Graser 2011; Mihm 2013). Man geht davon aus, dass die ostmitteldeutsch-ostoberdeutsche Schreiballianz
3. Areale Variation im Deutschen historisch: Mittelalter und Frühe Neuzeit
eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der neuhochdeutschen Standardsprache bildete (Glaser 2003). Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die betreffenden ostmitteldeutsch-ostoberdeutschen Varianten später auch Teil der Standardsprache wurden, schon weil die Rekatholisierung um 1600 eine Phase der ostoberdeutschen Autozentrierung auslöste (vgl. Kap. 3.3.).
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Michael Elmentaler, Kiel (Deutschland) Anja Voeste, Gießen (Deutschland)
4. Landschaftliches Hochdeutsch vom 17. bis zum 19. Jahrhundert
4. Landschaftliches Hochdeutsch vom 17. bis zum 19. Jahrhundert 1. Einleitung 2. Entstehung des landschaftlichen Hochdeutsch 3. Areale Aussprachevariation im 17. und 18. Jahrhundert
4. Areale Aussprachevariation im 19. Jahrhundert 5. Fazit 6. Literatur
1. Einleitung Gegenstand dieses Artikels ist der obere Bereich des deutschen sprechsprachlichen Varietätenspektrums vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Im Fokus stehen also ausdrücklich nicht die Dialekte und damit die zu dieser Zeit vorherrschende Sprechweise der Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung. Vielmehr wird im Folgenden näher betrachtet, was die sprachhistorische Forschung über die Prestigesprache (auch Akrolekt, Distanzsprache, Leseaussprache, landschaftliches Hochdeutsch o. ä.) dieser Jahrhunderte in Erfahrung bringen konnte. Die angesetzte Zeitspanne vom 17. bis 19. Jahrhundert birgt sehr unterschiedliche kulturell-gesellschaftliche Voraussetzungen und damit einen recht heterogenen Entwicklungsstand der Prestigesprache, der hier nur in Ansätzen skizziert werden kann. Daneben ist auch das Interesse der sprachwissenschaftlichen Forschung an den einzelnen Epochen/Jahrhunderten unterschiedlich stark ausgeprägt. Während empirische Studien zum Frühneuhochdeutschen in erfreulicher Vielzahl vorliegen (vgl. Elmentaler & Voeste, Art. 3 in diesem Band), ist für das 17. und 18. Jahrhundert ein größeres empirisches Defizit zu konstatieren. Zum landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhundert liegen wieder deutlich mehr Ergebnisse vor. Dass für den hier betrachteten Zeitraum noch recht wenig empirisch basiertes Wissen über die gesprochene Prestigesprache vorhanden ist, liegt insbesondere für das 17. und 18. Jahrhundert einerseits an geeigneten Quellen und Korpora zur Erschließung des Hochdeutsch der Zeit. Zudem gestaltet sich die Auswertung der wenigen vorhandenen Quellen oft problematisch, da sie jeweils nur vereinzelte Angaben über die zu rekonstruierende Prestigesprache enthalten und zudem von geschriebener Sprache auf historische Mündlichkeit geschlossen werden muss, so dass die Erstellung eines annähernd umfassenden Bildes der Arbeit mit „Sprachscherben“ (Kilian 2002) gleich kommt. Neben einem Überblick zu bislang erzielten Erkenntnissen über die historische Prestigesprache werden im Nachfolgenden einige geeignete Quellen exemplarisch angeführt und anhand ihrer die Forschungsdesiderate in diesem Themenbereich aufgezeigt.
2. Entstehung des landschaftlichen Hochdeutsch Die Entwicklung der mündlichen Prestigesprache des Deutschen kann nicht losgelöst von der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache betrachtet werden, da diese Prozesse in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Zwar ging die sprachhistorische Forschung lange Zeit davon aus, dass sich die historischen Schreibsprachen im Wesentlichen https://doi.org/10.1515/9783110261295-004
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unabhängig von der gesprochenen Sprache entwickelten. Seit Kurzem wird der Zusammenhang zwischen historischer Schriftlichkeit und Mündlichkeit aber als deutlich enger betrachtet (vgl. hierzu etwa Mihm 2015). Entscheidend ist es hierbei den Einfluss der Prestigesprache in den Fokus zu nehmen und nicht wie lange Zeit zuvor die Dialekte. Bislang besteht in der aktuellen Forschung „noch keine Klarheit darüber, in welcher Weise sich aus dem spätmittelalterlichen Nebeneinander von Regionalsprachen die nhd. Einheitssprache entwickelte, so dass von empirischen Studien neue Aufschlüsse zu den offenen Fragen zu erwarten sind.“ (Mihm 2015: 106). Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zu datieren ist, während vorher noch einzelne, relativ unabhängige Schreibsprachen anzunehmen sind. Dabei ist nicht auszuschließen, dass einige Entwicklungen hin zur neuhochdeutschen Schriftsprache bereits zeitlich früher anzusetzen sind, wie etwa die sukzessive Etablierung einer ostmitteldeutsch-ostoberdeutschen Schreiballianz ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Diese sieht Besch (vgl. 2003: 2260−2262) durch die gesprochene Ausgleichssprache des Ostmitteldeutschen im Entstehen begünstigt. Durch die Reformation und Martin Luther erlangt der ostmitteldeutsche Raum in der Folge eine klare sprachliche Priorität. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die neuhochdeutsche Schriftsprache das „Produkt eines Ausgleichs mehrerer Schreiblandschaften, nicht das Werk einiger gelehrter Humanisten, geschaffen in der Kanzleistube“ ist (Besch 2003: 2257). Die Prozesse der Entstehung einer einheitlichen neuhochdeutschen Schriftsprache (vgl. hierzu Elmentaler 2017: 201− 205) und die der Entstehung einer gesprochenen Prestigesprache waren wechselseitig wohl eng miteinander verzahnt und werden nicht unabhängig voneinander abgelaufen sein. Die Prinzipien „Schreib, wie du sprichst“ und „Sprich, wie du schreibst“ sind demnach nicht konträr, sondern einander ergänzend zu verstehen. Zur Etablierung einer einheitlichen Leseaussprache ist es unabdingbar, dass die Wortschreibung gefestigt ist. „Denn solange mehr als zehn verschiedene Schreibvarianten eines Wortes in Umlauf sein können, besteht keine Möglichkeit, eine einheitliche Lautform daraus abzuleiten.“ (Mihm 2015: 108). Bei der Etablierung fester Wortformen und der damit einhergehenden Variantenselektion durch damalige Schreiber haben deren Vorstellungen von GraphemPhonem-Zuordnungen und damit das Zusammenspiel von Aussprache und Schrift eine entscheidende Rolle gespielt. Ansätze eines gesprochenen Hochdeutsch bzw. die Vorstellungen davon auf individueller Ebene (Schreiber, Drucker, Kanzleien) müssen demnach schon für die Zeit der Etablierung der neuhochdeutschen Schriftsprache angenommen werden. Einen allmählichen Ausbau und eine Ausformung der Schriftsprache sind für das 17. und 18. Jahrhundert anzusetzen. Auf diese schreibsprachvereinheitlichenden Prozesse hatte der Großteil der damaligen Sprecher keinen Einfluss. Zudem erfolgte die Rezeption der Schreibsprache überwiegend über das Vorlesen oder Nachsprechen von Texten. Diese „kollektive Rezeption“ ist auch für das Vorlesen von Zeitungen anzunehmen, die im 17. Jahrhundert als regelmäßig erscheinende Organe aufkamen, und denen von Polenz (2013: 21) eine tragende Rolle bei der „Verbreitung einheitlicher Schreibvarianten auf dem Weg zur nationalen Schriftsprache“ zuspricht. Eine Grundvoraussetzung für die Entstehung der Vorstellung einer „korrekten“ Aussprache der Schriftsprache ist die individuelle Lese- und Schreibkompetenz. Von Polenz (vgl. 1999: 51−52) schätzt die Zahl der Analphabeten um 1800 auf 50 %, für das 17. und 18. Jahrhundert dürfte die Zahl deutlich höher liegen. Mit zunehmender Alphabetisierung der Menschen (von Polenz
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nimmt für die Mitte des 19. Jahrhunderts 30 % erwachsene Analphabeten an) und der besseren Verfügbarkeit von geschriebenen Druckerzeugnissen wird für deutlich größere Sprechergruppen eine Orientierung beim Sprechen nach der Schrift möglich. So ist in der Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert von einer zunehmend größer werdenden Sprecheranzahl für die Oralisierung des Schriftdeutschen auszugehen. Bei diesen Oralisierungsversuchen der Schrift handelte es sich aber noch keineswegs um eine einheitliche Aussprache. Durch den je nach Region unterschiedlichen dialektalen Hintergrund und die dadurch bedingte unterschiedliche sprachliche Kompetenz entwickelten sich vielmehr areal divergente Oralisierungen der Schriftsprache. Diese Oralisierungen, die sukzessive regional immer gefestigter wurden, werden in der Folge als landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet (vgl. Ganswindt 2017 sowie Schmidt & Herrgen 2011). Genauer werden unter dem Begriff des landschaftlichen Hochdeutsch nach Ganswindt (2017: 19) „die auf Synchronisierungsprozessen beruhenden, areal divergenten Oralisierungen der Schriftsprache durch Dialektsprecher nach der Etablierung der neuhochdeutschen Schriftsprache [verstanden].“ Für das 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der „Massenalphabetisierung“ (Elspaß 2005: 101 sowie weiterführend 76−110, vgl. auch Ludwig 1998) sowie dem Jahrhundert der deutlich verstärkten Mobilität der Menschen ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Sprecher neben ihrem Dialekt über eine zweite gesprochene Varietät, das landschaftliche Hochdeutsch, verfügte. Diese Prestigevarietät war noch im 19. Jahrhundert regional divergent ausgeprägt und zudem unterschiedlich stark dialektal geprägt, wie die Auswertungen in Ganswindt (2017) zeigen können (vgl. Kap. 4). Da es auch im 19. Jahrhundert für das Deutsche noch keinen nationalen Aussprachestandard gab (lediglich für die Bühne lag ab 1898 mit Theodor Siebs’ Bühnenaussprache eine Normierung vor, deren Einfluss auf den sprechsprachlichen Alltag außerhalb der Bühne allerdings vernachlässigbar war), war das landschaftliche Hochdeutsch das einzige und damit auch „beste“ Hochdeutsch dieser Zeit. Bei den Regelungen und Diskussionen zum „besten“ Hochdeutsch im 17. und 18. Jahrhundert wird in der Regel nicht zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, mithin zwischen Phonem und Graphem differenziert (Moser 1987 zeigt das auch für das 16. Jahrhundert; Hundt 2000: 183 schlägt aufgrund der zeitgenössischen Untrennbarkeit von Phonem und Graphem den Begriff „Graphonem“ vor). Erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich vermehrt eigenständige Ausspracheregeln und -lehren (vgl. Voge 1978). Im 17. und 18. Jahrhundert werden von Sprachgelehrten Überlegungen zur Schaffung einer nationalen Standardsprache angestellt und dabei insbesondere die Frage nach einem sprachlichen Vorbild diskutiert. Das 19. Jahrhundert ist dann allerdings das Jahrhundert, in dem der Diskurs über die richtige Aussprache auf Hochtouren läuft. Die Orthographie ist nun im Wesentlichen gefestigt, so dass sich eine areal divergente Aussprache der Schriftsprache zu dieser Zeit nicht mehr auf unterschiedliche Schreibungen bzw. Schriftsprachen zurückführen lassen kann. Im 19. Jahrhundert konstituiert sich zudem die Phonetik als Wissenschaft, was nicht nur die Schaffung eines adäquaten Beschreibungsinstrumentariums für die Artikulation mit sich bringt, sondern auch eine Sensibilisierung für die separate Betrachtung von Schrift und Aussprache. Dies zeigt sich auch in der zunehmenden Zahl an Publikationen zu Aussprachefragen und damit einhergehend einer Loslösung dieses Themenbereichs von den Grammatiken und Orthographielehren, die zuvor die Anmerkungen zur Aussprache enthielten (vgl. z. B. Heinsius 1840, Gervais 1840, Viëtor 1890, Schmolke 1890 oder Benedix 1893). Die Bestrebungen zur Normierung einer gesprochenen Standardsprache erfolgen dabei so-
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wohl aus sprachwissenschaftlicher als auch aus schulpädagogischer Richtung (vgl. etwa Oberländer 1890, Luick 1904/1905 oder Diederichs 1884). Zudem zeichnen sich im 19. Jahrhundert verstärkt zwei grundsätzlich verschiedene Richtungen in den Vorstellungen zur Normierung der Aussprache ab. Die Vertreter der einen Richtung wollen eine nationale Musteraussprache etablieren (vgl. etwa Viëtor 1885), während die der anderen eine überregionale Aussprachenorm weder für erstrebenswert noch für erreichbar erachten und daher für einzelne regional gültige Aussprachestandards plädieren (vgl. z. B. Ackerknecht 1900/1901). Die konträren Forderungen nach einerseits einer (von Gelehrten) zu schaffenden Ideallautung und andererseits der Etablierung regionaler Normen mit dem Vorbild des Sprachgebrauchs der regionalen Eliten lassen sich auch bereits in den Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts finden (vgl. Engels 1983: 91−92). In der zeitgenössischen Auseinandersetzung über die Etablierung einer Standardsprache werden immer wieder sprachliche Vorbilder verhandelt. Bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts wird das Ostmitteldeutsche/Meißnische und auch die Sprache Luthers von vielen Grammatikern als vorbildhaft betrachtet. Daneben werden aber auch andere Regionen/Dialekte wie das Schwäbische, das Alemannische, das Schlesische oder das Gemeine Deutsch (Oberdeutsch) in ihrer Vorbildfunktion hervorgehoben. Nicht selten entstammen die Autoren, die einen Dialekt loben, dabei der jeweiligen Region (eine detaillierte Differenzierung der verschiedenen Grammatikermeinungen diesbezüglich findet sich z. B. in Josten 1976 oder Veith 2000). Spätestens ab dem Ende des 18. Jahrhunderts verliert das landschaftliche Hochdeutsch des Meißnisch-Obersächsischen seinen Vorbildcharakter und das sprachliche Prestige verschiebt sich weiter nordwestlich auf die buchstabengetreuere Aussprache des Norddeutschen (vgl. hierzu etwa von Polenz 2013: 152−154; Schmidt & Herrgen 2011: 60−61; Hollmach 2007; Voge 1978 oder Josten 1976). Dabei rückt auch die Sprache in der Region Hannover als die des „besten“ Hochdeutsch in den Fokus (vgl. Elmentaler 2012; Blume 1987 oder Ganswindt 2018). Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem landschaftlichen Hochdeutsch in der Literatur des 19. Jahrhunderts zeigt, welch großen kommunikativen Stellenwert die Prestigevarietät zu dieser Zeit hatte. Zu einer Änderung in der Bewertung des landschaftlichen Hochdeutsch durch seine Sprecher kommt es erst im 20. Jahrhundert. Durch die Verbreitung einer überregionalen Standardsprache des Deutschen in den Massenmedien Radio und Fernsehen wird der Standard geschulter Sprecher als Vergleich zum bislang „besten“ Hochdeutsch verfügbar.
3. Areale Aussprachevariation im 17. und 18. Jahrhundert Über die gesprochene Sprache im 17. und 18. Jahrhundert ist nur wenig überliefert (vgl. von Polenz 2013: 213). Diese Feststellung ist zweifelsohne richtig − gleichwohl finden sich in zahlreichen zeitgenössischen Werken Hinweise und metasprachliche Kommentare, anhand derer zumindest in Teilen das landschaftliche Hochdeutsch der Zeit rekonstruiert werden könnte. Obwohl die Rekonstruktion der gesprochenen Sprache im 17. und 18. Jahrhundert bereits seit geraumer Zeit in der sprachwissenschaftlichen Forschung als Desiderat aufgezeigt wurde (vgl. etwa Mattheier 1995: 15−16), liegen bislang wenig empirisch basierte Forschungsergebnisse zu diesem Themenbereich vor. Diese ersten Erkenntnisse werden im Folgenden kurz vorgestellt. Im Anschluss wird anhand einiger
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Quellen ein Eindruck vom Potential der Rekonstruktion der gesprochenen Sprache gegeben und es werden Forschungslücken in diesem Bereich benannt.
3.1. Areale Aussprachevariation im 17. Jahrhundert − Ergebnisse und Quellen Vergleichsweise gut erforscht ist das 17. Jahrhundert aus sprachwissenschaftlicher Perspektive in Bezug auf die geschriebene Sprache (vgl. hierzu etwa den jüngst erschienenen Sammelband Deutsch im 17. Jahrhundert [Denkler et al. 2017], die Einleitung des Bandes [Elspaß 2017] sowie den Forschungsüberblick in Hundt 2000). Der Schwerpunkt der sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem 17. Jahrhundert liegt auf der Auseinandersetzung mit den Grammatikern, ihrer Arbeit in den zeitgenössischen Sprachgesellschaften und hierbei auf ihrer Rolle bei der Etablierung der neuhochdeutschen Schriftsprache und der Sprachpflege (vgl. z. B. Josten 1976; Engels 1983; Schletter 1985; Hundt 2000). Die einseitige Fokussierung der Forschung auf die Vereinheitlichungs- und Standardisierungsbemühungen und die gleichzeitige weitgehende Vernachlässigung aller Aspekte sprachlicher Variation sieht Elspaß (2017: 12) in der Pauschalisierung vieler Sprachgeschichtslehrbücher begründet. Beachtung findet die sprachliche Variation im 17. Jahrhundert in dem bereits erwähnten Band von Denkler et al. (2017), wobei auch hier die geschriebene Sprache deutlich im Fokus steht. Lediglich der Beitrag von Mihm (2017) geht dezidierter dem Einfluss der historischen Mündlichkeit auf regionale Schreibsprachen nach. Er verfolgt dabei den erst in jüngerer Zeit sich durchsetzenden Erklärungsansatz, dass „Wandelprozesse primär von der gesprochenen Sprache ausgingen und erst von dort in die Schreibsprachen gelangten“ (Mihm 2017: 308). Am Beispiel von zwölf lautlichen Merkmalen und deren Niederschlag in der Schreibsprache Kölner Schreiber untersucht er, wie sich „oberländische“ (i. e. hier rheinfränkische) Charakteristika in Köln durchgesetzt haben und damit auch in der oralen Prestigesprache des 17. Jahrhunderts dort anzunehmen sind. Ähnliche aufschlussreiche Analysen zur gehobenen Mündlichkeit finden sich in Mihm (2013) und Reifsnyder (2003). Solche punktuellen Einblicke in das landschaftliche Hochdeutsch deuten darauf hin, dass die gesprochene Prestigesprache im 17. Jahrhundert stark regional bzw. dialektal geprägt war. Eine Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch zu dieser Zeit steht bislang allerdings aus. Dass diese zumindest in Ansätzen empirisch basiert erreichbar wäre, wird im Folgenden anhand einiger Quellen verdeutlicht, die Aufschlüsse über das landschaftliche Hochdeutsch im 17. Jahrhundert geben und systematisch ausgewertet werden müssten. 1663 erschien Justus Georg Schottelius’ wichtigstes und umfangreichstes Werk Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, eine Art Summa des damaligen Wissens auf dem Gebiet der Sprachforschung. Grundlegend beeinflusst hat das Werk die Grammatikschreibung des Deutschen. Daneben finden sich in ihm aber auch Hinweise zum landschaftlichen Hochdeutsch im 17. Jahrhundert und zwar bei der Behandlung der Aussprache einiger Buchstaben. So kann man etwa erfahren, dass zwischen die Buchstaben s und w/l/m/n kein ch eingefügt werden müsse, weil die „Ausrede des Wortes“ kein ch erfordere (also etwa [sla:gən] statt [ʃla:gən] für schlagen). Allerdings sei hier der „Ausspruch“ der „Oberländer“ anders als der der „Niedersachsen oder Nie-
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derländer“ (Schottelius [1663] 1967: 196−197). Der gebürtige Einbecker Schottelius favorisiert also seinem eigenen Sprachgebrauch entsprechend eine niederdeutsche Variante und thematisiert zugleich die hiervon abweichende oberdeutsche Variante, was erste (grobe) Raumstrukturen für einzelne Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch erlaubt. Einen kleinräumigeren Einblick in das landschaftliche Hochdeutsch verspricht die Auseinandersetzung mit der (privaten) Korrespondenz der Sprachgelehrten des 17. Jahrhunderts. Diese pflegten einen sehr regen schriftlichen Austausch u. a. über die Etablierung einer deutschen Nationalsprache. Zwar beriefen sich viele dabei auf das sprachliche Vorbild Luthers, ihre Texte zeigen aber oft einen eigenen Stil und sprachliche Merkmale ihrer gesprochenen Sprache in der Schriftlichkeit, also Reflexe ihres landschaftlichen Hochdeutsch. Die Auswertung von Briefen und Tagebüchern des 17. Jahrhunderts hinsichtlich Lautung, Lexik und zum Teil Morphosyntax verspricht daher Rückschlüsse über die gesprochene Prestigesprache der Zeit (vgl. etwa Engels 1983: 193 zu den schlesischen Merkmalen im landschaftlichen Hochdeutsch von Martin Opitz). Da die Briefwechsel von der Literaturwissenschaft zum Teil umfangreich erschlossen sind (vgl. etwa Laufhütte & Schuster 2007), harren sie nur noch ihrer Auswertung durch die Sprachwissenschaft. Wie lohnend Grammatiken des 17. Jahrhunderts für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch sein können, soll exemplarisch an der mitteldeutschen Grammatik Christian Pudors (gebürtig aus Guben im Südmärkischen) Der teutschen Sprache Grundrichtigkeit und Zierlichkeit von 1672 vorgeführt werden. Pudor (vgl. 1672: 6) gibt in seinem Werk zahlreiche Hinweise auf die vermeintlich korrekte Aussprache, die im Umkehrschluss Aufschluss über die regional vorherrschende Aussprache geben. So benennt er etwa die Aussprache von oder als [sw] und [sl] als typisch pommersches oder westfälisches Merkmal. Außerdem gibt er Hinweise auf großräumiger verbreitete Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch, wenn er schreibt, dass vor /e/ und /i/ meistens wie ein „jot“ ausgesprochen, also spirantisch realisiert werde (Pudor 1672: 6). Eine systematische Auswertung der Grammatiken des 17. Jahrhunderts würde zumindest punktuell Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch der Zeit benennen und regional verorten können. Dies verdeutlicht etwa die Arbeit von Schletter (1985). Sie stellt anhand ausgewählter Grammatiken des 17. und 18. Jahrhunderts die in ihnen aufgeführten Merkmale u. a. des Meißnischen Deutsch recht systematisch zusammen (vgl. 1985: 135−139). Dies sind u. a. ungerundete Aussprache der Graphien und , Aussprache des in etwa sehen und stehlen als ä sowie weitere auffallende Besonderheiten bei der Aussprache von , Zusammenfall von /u:/ und /ɔ/ (etwa in Kuchen und Wochen), spirantische Aussprache von anlautendem /g/ (etwa in Gott) und monophthongische Aussprache von Diphthongen etwa sowie als [e:]. Die phonetischen Merkmale überwiegen in den von Schletter untersuchten Grammatiken, darüber hinaus werden aber auch morpho-syntaktische und lexikalische Regionalismen benannt. Weiter führt Schletter (vgl. 1985: 152−159) auch Merkmale des besten Hochdeutsch in Schlesien auf. Darüber hinaus gibt sie eine Übersicht über die zeitgenössisch noch recht vagen Vorstellungen eines überregionalen Hochdeutsch. Interessant ist hier etwa, dass eine einheitliche Regelung der e-/ä-Aussprachen als erforderlich angesehen wird, eine i-üReimung hingegen als einigermaßen tolerierbar erscheint (vgl. Schletter 1985: 184). Aus dem Bereich der historischen Stadtsprachenforschung liegen zum Teil aufschlussreiche Erkenntnisse zum landschaftlichen Hochdeutsch vor. So ist beispielsweise die Prestigevarietät in Berlin über mehrere Jahrhunderte anhand verschiedenster Quellen
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(nicht umfassend, aber doch in Ansätzen für verschiedene sprachliche Systemebenen und Merkmale) rekonstruiert worden (vgl. etwa Schmidt 1992 und Schönfeldt 1992). So lässt sich etwa feststellen, dass manche Regionalismen über Jahrhunderte im landschaftlichen Hochdeutsch stabil erhalten bleiben (z. B. fehlende Dativ- und Akkusativunterscheidung, spirantische Realisierung von anlautendem g als j), während andere Merkmale bei stabilem Erhalt im 17. und 18. Jahrhundert dann im 19. Jahrhundert abgebaut werden (z. B. die ungerundete Realisierung von ö und ü als e und i). Die in der Hochsprache Berlins zu vermeidenden „Fehler“ sind etwa in Moritz (1781) aufgeführt. Diese geben Aufschluss über die salienten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch zum Ende des 18. Jahrhunderts: Die Berliner realisierten die hochdeutschen Lautregeln auf ähnliche Weise, wie es heute ein Norddeutscher mit niederdeutscher Muttersprache tut, wenn er hochdeutsch spricht. Dies betrifft vor allem die Unterscheidung stimmhafter und stimmloser Konsonanten, die Vokalbildung, aber auch die Wort- und Satzintonation. Deshalb unterscheidet sich berlinisches Hochdeutsch vom sächsischen Hochdeutsch schon im 16. Jahrhundert, obwohl die Berliner dem Vorbild der „sächsischen“ Aussprache und Schreibweise noch bis ins 18. Jahrhundert z. T. bewußt nacheiferten. (Schmidt 1992: 150).
Eine weitere ergiebige Quelle zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch stellen nach Bellmann (vgl. 1990: 295−296) (Quasi-)Homophonenlisten dar, die in der Regel Phänomene mit großlandschaftlicher Verbreitung enthalten, während die kleinräumigen Phänomene, die Bellmann dem Dialekt zurechnet, hier nicht in Erscheinung treten. Die von ihm genannten großlandschaftlichen Phänomene sind: Entrundung von ü und ö sowie des oi-Lautes, Zusammenfall der Plosive b und p sowie d und t, auslautende gSpirantisierung, Affrikatenreduktion ts zu s im Niederdeutschen sowie als morphologisches Merkmal die e-Apokope (Homonymisierung von z. B. leer und Lehre). Die systematische Auswertung dieser Quelle würde wichtige Erkenntnisse über die gesprochene Prestigesprache des 17. Jahrhunderts liefern. Dass in jüngster Zeit vermehrt Korpora aufgebaut werden, anhand derer Grundlagenforschung des Neuhochdeutschen unter verschiedenen linguistischen Aspekten ermöglicht werden soll, verspricht auch für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch zumindest eine umfangreichere Quellenlage. Als Beispiel sei hierzu das Korpus des Deutschen Textarchivs (DTA) genannt, das eine Dokumentation der „Entwicklung einer überregionalen Umgangssprache im hochdeutschen Sprachraum“ ankündigt.
3.2. Areale Aussprachevariation im 18. Jahrhundert − Ergebnisse und Quellen Für das 18. Jahrhundert ist das landschaftliche Hochdeutsch bereits etwas besser erschlossen, wie die im Folgenden aufgeführten Beispielanalysen zeigen. Allerdings lässt sich auch für diese Zeit die gesprochene Prestigesprache bislang nicht ansatzweise umfassend beschreiben. Dabei ist die Quellenlage im Vergleich zum 17. Jahrhundert schon eine deutlich komfortablere, wie im Folgenden bei der Vorstellung und Diskussion der Ergiebigkeit von Quellentypen für die Rekonstruktion der gesprochenen Prestigesprache zu sehen sein wird.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Die drei Hauptbereiche, unter die sich diese Quellen subsumieren lassen, sind: 1. große, überregionale Grammatiken und Sprachlehren, 2. Grammatiken und Sprachlehren mit regionaler Begrenzung sowie 3. Texte aus dem Bereich der privaten Schriftlichkeit wie Briefe oder Tagebücher. Generell erscheinen die Sprachlehren, die sich mit dem (anzustrebenden) Sprachgebrauch für eine einzelne Region (vgl. etwa Hemmer 1769) auseinandersetzen, wesentlich ergiebiger für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch als Werke, die einen regionsunabhängigen, allgemeingültigen Anspruch formulieren (vgl. etwa Adelung 1781 oder 1785). Erstere geben oft präzise Belege für die jeweilige regionale Aussprache des Schriftdeutschen, während letztere häufig diesbezüglich vage bleiben bzw. nur eine sehr grobe geographische Verortung der regionalen Merkmale vornehmen. So gibt etwa Adelung in seiner Deutschen Sprachlehre (vgl. 1781: 43) allgemeine Anweisungen der Art, dass p und b nicht verwechselt werden dürfen, was als Hinweis auf diesbezügliche Schwierigkeiten bei der Aussprache des Schriftdeutschen gewertet werden kann. Etwas präziser in der geographischen Verortung ist Adelung dann in seinem Werk Über den deutschen Styl (1785: 320; Schreibungen z. T. angepasst, B. G.), in dem er etwa anmerkt, dass die Unterscheidung von p und b sowie d und t den „meisten Oberdeutschen beynahe unmöglich, den Obersachsen schwer, den Niedersachsen aber desto leichter wird“. Voge (1978) wertet in seiner Studie zu den Aussprachenormierungsversuchen im 18. Jahrhundert insgesamt 60 Grammatiken und Orthographien hinsichtlich der darin formulierten Angaben über eine „korrekte“ Aussprache der Zeit aus. Aufgrund der regionalen Herkunft der Grammatiker zieht Voge dabei auch Schlüsse über die areale Verbreitung lautlicher Aussprachebesonderheiten im anvisierten „Standard“ der Zeit. Er kann dabei zeigen, dass trotz der in den Grammatiken in der Regel nicht vorhandenen Unterscheidung zwischen Lauten und Buchstaben insbesondere die metasprachlichen Kommentare der Sprachnormierer Rückschlüsse auf das landschaftliche Hochdeutsch des 18. Jahrhunderts erlauben. Die regionale Sprachlehre von Hemmer (1769) ist ein Plädoyer für den Gebrauch einer überregionalen Schriftsprache in der Pfalz, in der u. a. dialektale Merkmale, die auch bei gebildeten Sprechern bei der Aussprache des Schriftdeutschen vorkommen, diskutiert werden. Hemmer führt hier (vgl. 1769: 82−108) u. a. an, dass im Pfälzer Hochdeutsch etwa
wie [b] und wie [d] gesprochen, im Auslaut als [ʃt] realisiert, wie [e:], wie [i:] und wie [e:] gesprochen werden. Eine systematische Auswertung von Hemmers ausführlicher Abhandlung verspricht einen profunden Überblick über das landschaftliche Hochdeutsch der Pfalz im 18. Jahrhundert. Als ebenfalls gut geeignet zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch kann auch Braun (1775) gelten. Seine Anleitung zur deutschen Sprachkunst. Zum Gebrauche der Schulen, in denen Churlanden zu Baiern wurde in Bayern offizielles Lehrbuch für Lehrer und Studenten. Brauns Werk war für seine Zeit sehr modern und frei von sprachphilosophischen Überlegungen (vgl. von Polenz 2013: 173−174). Braun thematisiert hier u. a. die Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb speziell in Bayern. Bei der Anleitung, wie welche Buchstaben ausgesprochen werden sollen, benennt er zugleich die „Fehler“, die es im Bairischen zu vermeiden gelte. Anhand dieser „Fehlerbenennungen“ lässt sich das landschaftliche Hochdeutsch Bayerns im 18. Jahrhundert (in Ansätzen) rekonstruieren. Als Merkmale nennt er u. a. (vgl. Braun 1775: 18−25): a wird wie o gesprochen (verdumpft), b wird nicht voll stimmhaft gesprochen, d und t, f und v, g und k sowie p
4. Landschaftliches Hochdeutsch vom 17. bis zum 19. Jahrhundert
und b werden nicht scharf geschieden, e wird wie ö gesprochen, i wird zum Teil diphthongisch als ie und u als ue gesprochen, p wird zum Teil als w gesprochen (Wabst statt Pabst). Des Weiteren nennt Braun (vgl. 1775: 25−26) noch Beispielwörter, die unbedingt unterschiedlich ausgesprochen werden sollen, was darauf schließen lässt, dass dies im landschaftlichen Hochdeutsch Bayerns nicht der Fall war: Leben und Löwen, Garten und Karte. Auch solle man nicht Kend statt Kind sprechen oder Wenterfinster statt Winterfenster. Braun gibt zudem an, dass ö und ü gerundet ausgesprochen werden sollen („Mittelton“) also weder Konig noch Kenig korrekt sei (vgl. Braun 1775: 26). Als Quellen für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch im Österreich des 18. Jahrhunderts eignen sich die in Wiesinger (1993) aufgelisteten Grammatiken sowie Schreib- und Leselehren (wie etwa Popowitsch 1754). Diese thematisieren − wie es sowohl für die Art der Quelle als auch für die Zeit des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts typisch ist − die „Fehler“, die den Sprechern beim Schriftdeutschsprechen aufgrund ihrer regionalen Herkunft unterlaufen. Aus den angeführten Fehlervermeidungsstrategien lässt sich im Umkehrschluss ableiten, welche regionalen Merkmale im landschaftlichen Hochdeutsch vorhanden waren. Einige davon wie Umlautentrundung, Diphthongierungen von Monophthongen oder Konsonantenschwächungen listet Wiesinger (vgl. 1993: 388−406) auf. Eine umfassende Auswertung dieser Quellen verspricht einige Erkenntnisse über das landschaftliche Hochdeutsch in Österreich. Wie ergiebig die Auswertung von fiktiven Briefen auch innerhalb literarischer Werke in Bezug auf die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch sein kann, führt Wegera (1993) beispielhaft vor. Er analysiert zwei Briefe einer negativ skizzierten Adelsfigur im Roman Faramonds Familiengeschichte in Briefen des Erfurter Schriftstellers Christian Friedrich Timme (1752−1788). Diese Briefe weichen aufgrund der zahlreich in ihnen vorkommenden regional (ostmitteldeutsch) markierten Interferenzen von der übrigen Sprache des Textes ab. So finden sich hier Verschriftlichungen, die auf die folgenden regionalen Merkmale hinweisen (vgl. Wegera 1993: 318−321): Binnendeutsche Konsonantenschwächung einschließlich hyperkorrekter Formen (z. B. hallden statt halten und wurte statt wurde), spirantische Realisierung von sowie hyperkorrekte Formen (z. B. begechnet statt begegnet und Schriftlig statt schriftlich), frikativische Realisierung von (z. B. gewen statt geben), Verwechslung von ä und e (z. B. threnen statt Tränen), hyperkorrekte Rundung und Entrundung (z. B. Hümel [Schreibung angepasst, B. G.] statt Himmel und iber statt über) sowie syntaktische Regionalismen wie Was hilft Mich. Wegera bewertet diese satirisch und gesellschaftskritisch eingesetzten Regionalismen als Interferenzen der zeitgenössischen regionalen Umgangssprache, i. e. des landschaftlichen Hochdeutsch im Erfurt des 18. Jahrhunderts. Neben fiktiven Briefen stellen insbesondere auch reale Briefe und Briefkommunikation sowie Tagebücher hervorragende Quellen dar, die Aufschluss darüber geben, welche regionalen Merkmale aus der gesprochenen Sprache in die schriftliche Kommunikation übernommen werden. Zwar ist die Grenzziehung zwischen den Domänen „(Reste) regionaler Schreibtraditionen“ und „Interferenzen des landschaftlichen Hochdeutsch in die Schreibungen“ nicht immer präzise möglich, dennoch geben gerade die regionalen Merkmale in Texten mit wenig Interferenzen Aufschluss darüber, welche regionalen Varianten der jeweiligen „Norm“ entsprachen und damit auch in der schriftlichen Kommunikation als „korrekt“ betrachtet bzw. akzeptiert wurden. Ein Beispiel für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch anhand von Briefen der Familie Mozart liefert Reiffenstein (1993). So kann er für das gesprochene oberdeutsche Hochdeutsch der Familienmit-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
glieder u. a. die folgenden Merkmale konstatieren: Entrundung der Umlaute (z. B. winschen statt wünschen), Konsonantenschwächungen (z. B. gradulieren statt gratulieren), oberdeutscher Gebrauch des Artikels vor Personennamen, Genitivumschreibungen mit Dativ und Possessivpronomen (z. B. er ist dem wolfgang sein wahrer freind), doppelte Verneinungen (z. B. ich bekomme keine antwort nicht), tun-Periphrasen (z. B. thut nur das geld sparen und seits wohl auf) sowie zahlreiche Belege regionalen Wortschatzes (vgl. Reiffenstein 1993: 366−369). Die Beispiele sollen genügen, um einen Überblick über bislang vorliegende Erkenntnisse des landschaftlichen Hochdeutsch im 18. Jahrhundert zu geben und zu zeigen, dass sich in vielen schriftlichen Quellen Spuren historischer Mündlichkeit finden lassen. Gleichzeitig bleibt zu konstatieren, dass insbesondere in Bezug auf die (dialekt)geographische Erstreckung noch große Lücken bei der Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch gefüllt werden müssen. Die systematische Auswertung regionaler Sprachlehren erscheint hier sehr ergiebig, des Weiteren sollte eine verstärkte Analyse privater Schriftlichkeit auch für das 18. Jahrhundert vorgenommen werden (vgl. hierzu die Ausführungen zum 19. Jahrhundert in Kap. 4). Darüber hinaus könnte der regionale und sozial-stilistische Wortschatz in Wörterbüchern für die historische Prestigesprache ausgewertet werden.
4. Areale Aussprachevariation im 19. Jahrhundert − Ergebnisse und Quellen Für die Erforschung des landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhundert ist sowohl die Quellenlage eine bessere als auch der Forschungsstand deutlich weiter fortgeschritten im Vergleich zu den beiden Jahrhunderten zuvor. Beginnen wir dennoch exemplarisch mit zwei unter diesem Aspekt m. W. bislang unausgewerteten Quellen(typen) aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. Johann Andreas Schmellers Werk Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt (1821), durch welches er als Begründer der wissenschaftlichen Dialektologie gilt, enthält neben seiner Grammatik auch eine soziale Kennzeichnung regionaler Varianten. So nimmt er eine Klassifikation der Sprachbeispiele nach dem folgenden Muster vor: „L.“ bezeichnet die „gemeine ländliche Aussprache“, „St.“ die Aussprache der „Bürgerclasse in Städten“ und „G.“ die Aussprache der „Gebildetern“ bzw. die „provincielle Art und Weise das Schriftdeutsche zu lesen“ (Schmeller 1821: 21). Er erläutert an derselben Stelle weiter „Die Aussprache der Gebildeten ist gewöhnlich ganz passiv nach dem Buchstaben der einmal zum Gesetz gewordenen Orthographie gemodelt, doch so, daß fast überall die Hauptfarben des Provincial-Dialektes durchscheinen.“ Eine systematische Auswertung der mit „G.“ gekennzeichneten Varianten würde also wichtige Erkenntnisse über das landschaftliche Hochdeutsch Bayerns im 19. Jahrhundert liefern. Des Weiteren sollten die zahlreichen Regelungen zur und Auseinandersetzungen mit der „korrekten“ Aussprache des Deutschen im 19. Jahrhundert ausgewertet werden. Ein Überblick über diese kann aufgrund ihrer großen Anzahl hier nicht gegeben werden. Stellvertretend sei die Sprachlehre von Trautmann (1884/1886) genannt. Trautmann listet zu allen Lauten Beispiele regionaler Aussprachen von Gebildeten auf, die in einer zu schaffenden Standardaussprache zu vermeiden seien. So führt er zu /a:/ etwa an, dass „im norden“ „grab, trab, stab, bad, rad, gas, glas, gras, mag, schlag, tag, jagd meist mit
4. Landschaftliches Hochdeutsch vom 17. bis zum 19. Jahrhundert
kurzem vocal gesprochen“ werden (Trautmann 1886: 255). Diese regionalen Aussprachebesonderheiten benennen also Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch − leider sind sie nur sehr großräumig areal verortet. Ebenso wie für die Jahrhunderte zuvor gilt, dass Aussprachelehren des 19. Jahrhunderts mit einem überregionalen bzw. nationalen Geltungsanspruch im Vergleich zu denen mit einem eingeschränkten regionalen Gültigkeitsanspruch weniger präzise in der Benennung von regionalen Merkmalen und insbesondere in der arealen Verortung sind. Dennoch würde ihre Auswertung wichtige Erkenntnisse über das landschaftliche Hochdeutsch liefern. Neben diesen mehr oder weniger „indirekten“ Quellen des landschaftlichen Hochdeutsch gibt es im 19. Jahrhundert auch explizite Beschreibungen der historischen Prestigevarietät. Eine solche liegt z. B. mit Haag (1901) vor. Er beschreibt für den im Schwäbischen gelegenen Ort Schwenningen in der Baar die Verkehrs- und Schriftsprache auf dem Boden der örtlichen Mundart. Dabei stellt er unter anderem den lautlichen Wandel vom Ortsdialekt zum „Gebildetenschwäbisch“ (vgl. Haag 1901: 262) dar. Während im Dialekt beispielsweise Haus mit langem Monophthong ([u:]) gesprochen werde, werde der Stammvokal im „Gebildetenschwäbisch“ diphthongiert (etwa [o͡u], vgl. Haag 1901: 263). Haag differenziert in seiner Beschreibung der im Ort anzutreffenden Register sehr fein und unterscheidet dabei beispielsweise zwischen einer „gebildeten verkehrssprache auf fremdem boden“ und einer „gebildeten verkehrssprache auf heimischem boden“ (Haag 1901: 261−262). Die Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachschichten zeigt er anhand von „Übersetzungen“ eines Mustertextes. Der Vorteil dieser Quelle für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch liegt in der exakten arealen Verortung und den zahlreichen Beispielen. Als etwas problematisch muss hingegen die bereits thematisierte Feindifferenzierung der Sprachschichten angesehen werden, bei der nicht klar wird, inwieweit diese auf empirischer Grundlage aufgestellt wurde bzw. dem damaligen Sprechlagen- und Varietätenspektrum am Ort tatsächlich entsprochen hat. Eine Auswertung dieser Quelle liefert Ganswindt (i. Dr.). Ebenso wie in den vorangehenden Jahrhunderten stellt auch für das 19. Jahrhundert Briefkommunikation eine gute Quelle zur Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch dar. Dies können etwa Elspaß & Denkler (2007) anhand von Briefen ostfriesischer Auswanderer des 19. Jahrhunderts zeigen. In diesen Dokumenten historischer Nähesprachlichkeit lassen sich u. a. die folgenden regionalen Merkmale nachweisen, die Rückschlüsse auf die dialektal interferierte Mündlichkeit bei den Versuchen, sich des Schrift- bzw. Hochdeutschen zu bedienen, erlauben: Reduzierung der Affrikaten [pf] und [ts] zu den einfachen Frikativen [f ] und [s], Ausfall des finalen Dentals t nach Konsonant, Bewahrung von [sk] im Anlaut (z. B. in schreiben als ), r-Vokalisierung, Einheitsplural auf -en in verbalen Formen, Partizip II-Formen ohne ge-Präfix, weitgehende Nivellierung der Kasusendungen, Verwendung von Akkusativformen anstatt des Nominativs, regionaltypische Lexik (vgl. Elspaß & Denkler 2007: 92−100). Elspaß (2005) untersucht in seiner Habilitationsschrift in vergleichbarer Weise in breiter regionaler Streuung Briefe von Auswanderern des 19. Jahrhunderts, die exakt (dialekt)geographisch verortet sind. Seine Phänomenauswertungen erstrecken sich insbesondere auf die Bereiche Syntax, Morphosyntax und Lexik und ergeben dabei große Unterschiede zwischen der geschriebenen Alltagssprache und der „gehobenen Schriftsprache“ (vgl. zur Übersicht Elspaß 2005: 463−464). Die zahlreichen von Elspaß ermittelten Interferenzen historischer Mündlichkeit auf die nähesprachliche Schriftlichkeit können hier nicht referiert werden. Sie zeigen aber, welch großes Analysepotential historische Briefkommunikation für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch hat. Einen ähnlichen Ansatz
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verfolgt auch die Arbeit von Schikorsky (1990), die eine Textanalyse zum sprachlichen Verhalten von Kleinbürgern, Handwerkern und Bauern sowie deren Orientierung an den (bildungsbürgerlichen) Sprachnormen des 19. Jahrhunderts vornimmt. Exemplarisch für die Analyse von Patientenbriefen aus psychiatrischen Anstalten und die darin ermittelten Interferenzen regionaler Mündlichkeit in geschriebener Nähesprachlichkeit sei hier Schiegg (2015) genannt. Auch literarische Werke werden in der sprachwissenschaftlichen Forschung genutzt, um die historische Mündlichkeit im 19. Jahrhundert zu analysieren. Hierzu seien stellvertretend Wilcken (2015) und Jordan (2000) angeführt. Da Ende des 19. Jahrhunderts erstmals die technischen Möglichkeiten der Tonkonservierung vorliegen, ist es für diese Zeit auch möglich, Analysen direkt an gesprochener Sprache vorzunehmen. Eine interessante Arbeit liegt hierfür mit Herneck (1941) vor, der Schallplattenaufnahmen deutscher Bühnenschauspieler aus den „letzten fünfzig Jahren“ (Titel der Arbeit) untersucht. Die Arbeit verfolgt dabei das Ziel, die tatsächlich auf den deutschen Bühnen vorherrschende „mustergültig[e] deutsch[e] Bühnenaussprache herauszuarbeiten“ (Herneck 1941: 1). Herneck kann auch in der Sprache des gehobenen Theaters (z. B. im Versdrama) „mundartlich[e] und umgangssprachlich[e] Reste“ ermitteln (Herneck 1941: 9−10). Zusammenfassend kommt Herneck (vgl. 1941: 204) zu dem Ergebnis, dass die deutsche Bühnenaussprache Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts keineswegs frei von regionalen Merkmalen ist („Mundartklängen“) und in „wesentlichen Punkten von den Siebsschen Normen“ abweicht. Für die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch sind diese Ergebnisse insofern interessant, als dass sie empirisch belegen können, dass ein gesprochensprachlicher Standard selbst auf der Bühne im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht vorhanden war. Die erste umfangreiche empirisch basierte Analyse des landschaftlichen Hochdeutsch liegt mit Ganswindt (2017) vor. In dieser Arbeit wird erstmals systematisch die gesprochene Prestigevarietät im ausgehenden 19. Jahrhundert rekonstruiert und darauf basierend die Raumstrukturen der historischen Varietät ermittelt. Daher wird auf die Studie hier näher eingegangen und die Methoden beleuchtet, mit denen die Rekonstruktion historischer Mündlichkeit möglich ist. Anhand der Auswertung von Wilhelm Viëtors Beiträge[n] zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen (1888−1890) kann Ganswindt für 13 nieder- und mitteldeutsche Orte Variantenprofile der phonetisch-phonologischen Merkmale des jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch aufstellen. Hierzu wertet sie für die in Tab. 4.1 aufgeführten Orte alle Angaben in den Viëtor’schen Fragebogen aus. Mit Hilfe dieser Fragebogen hat der Phonetiker Wilhelm Viëtor die Lautvariation in der Leseaussprache (landschaftliches Hochdeutsch) für über 300 Wörter bei phonetisch vorgebildeten Informanten erhoben und sie in den Jahren 1888−1890 in der Zeitschrift Phonetische Studien publiziert. Ganswindt (2017) ermittelt für alle in den Fragebögen genannten lautlichen Merkmale anhand einer umfangreichen Variablenanalyse, ob es sich bei den jeweiligen Regionalismen am Ort ihres Vorkommens um Übernahmen aus dem Dialekt handelt oder ob sich die Varianten durch (überregionale) Ausgleichsprozesse entgegen der dialektalen Grundlage entwickelt haben. Auf diese Weise legt Ganswindt (2017) für alle in Tab. 4.1 aufgeführten Orte/Regionen je eigene Variantenprofile der phonetisch-phonologischen Merkmale des jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch vor. Für Teile des mittel- und niederdeutschen Raumes ist dadurch nun bekannt, welche lautlichen Merkmale die Menschen beim Hochdeutschsprechen realisiert haben. Dabei kann die Autorin zum einen zeigen, dass das landschaftliche Hochdeutsch des 19. Jahrhunderts regional divergent und zum anderen je nach Region unterschiedlich stark regional bzw. dialektal geprägt war. So gab es im 19. Jahrhundert
4. Landschaftliches Hochdeutsch vom 17. bis zum 19. Jahrhundert Tab. 4.1: Analysierte Orte aus Viëtor (1888−1890) Erhebungsort/-region
Dialektgebiet (nach Wiesinger 1983)
Westliches Ostfriesland Segeberg Flensburg Ostfriesland Greifswald Hannover Mülheim an der Ruhr Remscheid Bad Ems Aschersleben Nordhausen am Harz Artern an der Unstrut Gotha/Erfurt
Nordniederdeutsch Nordniederdeutsch Nordniederdeutsch Nordniederdeutsch Mecklenburgisch-Vorpommersch Ostfälisch Übergangsgebiet Niederfränkisch / Ripuarisch Übergangsgebiet Niederfränkisch / Ripuarisch Moselfränkisch Thüringisch Thüringisch Thüringisch Thüringisch
Regionen, in denen ein (noch) stark dialektal geprägtes Hochdeutsch gesprochen wurde (z. B. Flensburg oder das westliche Ostfriesland), während in anderen Gegenden nur vergleichsweise wenig dialektaler Einfluss im gesprochenen Schriftdeutsch vorherrschte (z. B. Hannover oder Mülheim an der Ruhr). Die Verbreitung der lautlichen Merkmale im landschaftlichen Hochdeutsch soll anhand von zwei Beispielen veranschaulicht werden. Kt. 4.1 zeigt die Verteilung der Variable „Deaffrizierung der Affrikata [p͡f] zu [f]“ (z. B. Realisierung von als [fʊntʰ]). Bei diesem Merkmal handelt es sich um eines der am weitesten verbreiteten des landschaftlichen Hochdeutsch, das zumeist keinen Ursprung im Dialekt hat. In allen grün hervorgehobenen Orten ist das Merkmal Teil des landschaftlichen Hochdeutsch. Lediglich für einen Untersuchungsort (der Remscheider Informant gibt [p͡f] an) konnte es nicht für die Prestigevarietät rekonstruiert werden (für Greifswald ist der Viëtor’sche Fragebogen nur lückenhaft ausgefüllt, weshalb für dieses Phänomen keine Aussage getroffen werden kann). Eine komplett andere Verteilung weist etwa das Phänomen „Diphthongische Realisierung für /e:/“ (z. B. in See) auf. Die Diphthongierung des geschlossenen Langvokals /e:/ zu [a͡ɪ] (auch als Diphthongoid) ist ein frequentes Merkmal niederdeutscher Dialekte. Wie die Verteilung in Kt. 4.2 zeigt, konnte das aus dem Dialekt beibehaltene Merkmal für alle nordniederdeutschen Erhebungsorte sowie Greifswald im landschaftlichen Hochdeutsch nachgewiesen werden. Die Rekonstruktion des landschaftlichen Hochdeutsch auf Basis des Viëtor-Korpus weist für jeden Ort/jede Region ein je eigenes Variantenprofil an lautlichen Merkmalen auf. Um von den kleinräumigen Untersuchungen Rückschlüsse auf Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch ziehen zu können, wendet Ganswindt (2017) das statistische Verfahren der Clusteranalyse an. Bei diesem struktur-entdeckenden Verfahren wird auf Basis der ermittelten Merkmalsverteilungen in den Erhebungsorten die Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit der Orte/Regionen ermittelt. Auf diese Weise wird unter anderem überprüft, ob sich die Raumstrukturen des landschaftlichen Hochdeutsch mit denen der Dialekte decken oder ob die historische Prestigevarietät eigene Raumstrukturen aufweist. Dabei kann Ganswindt (2017: 144) zeigen, dass sich „die großlandschaftliche dialektgeographische Aufteilung des deutschen Sprachraumes in ein niederdeutsches und ein mit-
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Kt. 4.1: Deaffrizierung der Affrikata [p͡f] zu [f] im landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts (grün = deaffrizierte Variante im landschaftlichen Hochdeutsch)
teldeutsches Gebiet auch im landschaftlichen Hochdeutsch“ widerspiegelt. Daneben zeigen sich aber auch kleinräumigere Gebiete des landschaftlichen Hochdeutsch, die teils mit den Grenzen der Dialektgebiete übereinstimmen (so bilden etwa die beiden im Übergangsgebiet Niederfränkisch-Ripuarisch gelegenen Orte Remscheid und Mülheim an der Ruhr ein Cluster, das ein gemeinsames landschaftliches Hochdeutsch abbildet), zum Teil aber auch andere Raumstrukturen als die Dialekte aufweisen. Insbesondere das Nordniederdeutsche weist mit separaten Hochdeutsch-Systemen für Flensburg und das westliche Ostfriesland kleinräumigere Raumstrukturen auf, die für ein je eigenes landschaftliches Hochdeutsch stehen. Andererseits kann die Clusteranalyse aber auch zeigen, dass für die Erhebungsorte Segeberg, Ostfriesland und Hannover ein Dialektgrenzen überschreitendes landschaftliches Hochdeutsch vorliegt, dass bereits auf die Entwicklung zu einem großlandschaftlicheren Raum des Niederdeutschen in den modernen Regionalsprachen hinweist. Des Weiteren wird in Ganswindt (2017) anhand eines merkmalsbasierten Vergleichs des rekonstruierten landschaftlichen Hochdeutsch mit neueren Studien zum Regiolekt erstmals empirisch bewiesen, dass es sich bei der untersuchten Prestigevarietät um die historische Vorstufe des rezenten Regiolekts handelt.
4. Landschaftliches Hochdeutsch vom 17. bis zum 19. Jahrhundert
Kt. 4.2: Diphthongische Realisierung für /e:/ im landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts (grün = diphthongische Variante für /e:/ im landschaftlichen Hochdeutsch)
5. Fazit Seit Beginn der Etablierung einer neuhochdeutschen Schriftsprache bedienen sich schriftkundige Sprecher in der mündlichen Kommunikation einer regional bzw. dialektal geprägten Aussprache der Schriftsprache, die hier als landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet wird. Wie zum einen die steigende Alphabetisierungsrate nahelegt und zum anderen die zunehmende Fülle an Quellen zeigt, steigt die Anzahl der Sprecher des landschaftlichen Hochdeutsch vom 17. bis zum 19. Jahrhundert stetig an. Auch wenn die historische Prestigevarietät für das 17. und 18. Jahrhundert noch nicht ansatzweise umfassend rekonstruiert wurde, lassen sich aus den bislang vorliegenden Erkenntnissen einige erste Entwicklungslinien nachzeichnen. Auffallend ist, dass sich viele Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch über die hier betrachtete Zeit von 300 Jahren beobachten lassen. So scheint etwa die ungerundete Aussprache von und in vielen Regionen (etwa im Ostmitteldeutschen und im Oberdeutschen) stabil im landschaftlichen Hochdeutsch verankert zu sein. Erst im 19. Jahrhundert lassen sich Abbautendenzen beobachten. In der Tendenz scheinen zudem die großräumiger verbreiteten Phänomene (z. B. die g-Spirantisierung) langsamer abgebaut zu werden als die kleinräumig verbreite-
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ten (z. B. die Bewahrung von /s/ vor m, n, l oder w). Zudem unterliegen saliente Merkmale (z. B. die Bewahrung von /s/ vor p und t) und über die Schrift kontrollierbare Phänomene (z. B. Vokal-Epenthesen) dem schnelleren Abbau. Auch ist zu beobachten, dass neue Merkmale, die auf überregionalen Ausgleichsprozessen und Aussprachevereinfachungen beruhen, wie die Deaffrizierung der Affrikata [p͡f] zu [f], sich im Verlauf der Jahrhunderte ausbreiten. Wenn das 17. und 18. Jahrhundert besser erforscht sind, was anhand der vorliegenden Quellen möglich erscheint, ließe sich die Entwicklung des landschaftlichen Hochdeutsch vom 17. Jahrhundert bis zu den rezenten Regiolekten nachzeichnen, was sowohl für die Sprachgeschichtsforschung als auch die moderne Regionalsprachenforschung ein großer Gewinn wäre.
6. Literatur Ackerknecht, J. 1900/1901 Zur Aussprache des Schriftdeutschen. Die neueren Sprachen. Zeitschrift für den neusprachlichen Unterricht. Zugleich Fortsetzung der Phonetischen Studien. Achter Band. 535− 544 u. 590−599. Adelung, Johann Christoph 1781 Deutsche Sprachlehre: Zum Gebrauche der Schulen in den Königl. Preuß. Landen. Berlin: Christian Voß und Sohn. Adelung, Johann Christoph 1785 Ueber den Deutschen Styl: Drei Teile. Berlin: Christian Voß und Sohn. [Nachdruck 1974. Hildesheim & New York: Olms. Documenta Linguistica. Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts. Ergänzungsreihe]. Bellmann, Günter 1990 Eine Quelle der deutschen Sprachgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. In Werner Besch (Hrsg.), Deutsche Sprachgeschichte: Grundlagen, Methoden, Perspektiven: Festschrift für Johannes Erben zum 65. Geburtstag, 289−300. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Benedix, Roderich 1893 Der mündliche Vortrag: Ein Lehrbuch für Schulen und zum Selbstunterricht. Leipzig: Weber. Besch, Werner 2003 Die Entstehung und Ausformung der neuhochdeutschen Schriftsprache/Standardsprache. In Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann & Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte: Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.3), 2252−2296. Berlin & New York: Walter de Gruyter. Blume, Herbert 1987 Gesprochenes Hochdeutsch in Braunschweig und Hannover: Zum Wandel ostfälischer Stadtsprachen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Braunschweigische Heimat 73. 21−32. Braun, Heinrich 1775 Anleitung zur deutschen Sprachkunst. Zweyte, verbesserte, und mit einem kleinen orthographischen Lexikon vermehrte Auflage. München: Johann Nepomuk Fritz. Denkler, Markus, Stephan Elspaß, Dagmar Hüpper & Elvira Topalović (Hrsg.) 2017 Deutsch im 17. Jahrhundert: Studien zu Sprachkontakt, Sprachvariation und Sprachwandel: Gedenkschrift für Jürgen Macha. Heidelberg: Winter. Diederichs, Aug. 1884 Über die Aussprache von sp st, g und ng: Ein Wort zur Verständigung zwischen Nord und Süd. Zweite durch einen „Anhang“ vermehrte Sonder-Ausgabe eines in Dr. Vietor’s Zeitschrift für Orthographie, Orthoepie und Sprachphysiologie (Oct. 1881 − Apr. 1882) erschienenen Aufsatzes. Straßburg: In Commission bei Karl J. Trübner.
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Brigitte Ganswindt, Marburg (Deutschland)
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
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5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“ 1. Einleitung 2. Objektsprachliche und subjektive Strukturierung der Vertikale 3. Typen vertikaler regionalsprachlicher Spektren
4. Sprachdynamische Prozesse und ihre Determinanten zur Ausbildung und Weiterentwicklung der vertikalen Variationsspektren 5. Fazit 6. Literatur
1. Einleitung Gegenstand dieses Beitrags ist die sprachliche Variation auf der vertikalen Dimension zwischen Dialekt und Standardsprache. Davon zu unterscheiden sind die horizontale (vgl. Lameli, Art. 7 in diesem Band) und die diachrone Dimension (vgl. Elmentaler & Voeste, Art. 3 in diesem Band) sprachlicher Variation, wobei die Phänomene aller drei Beschreibungsebenen miteinander verknüpft sind. Was bedeutet nun „areale Variation vertikal“? Es geht darum, dass Sprecher die regionale Prägung ihrer Sprechweise in Abhängigkeit von der Kommunikationssituation verändern − weil sie es können und weil sie es in der jeweiligen Situation für angemessen halten oder weil sie bestimmte kommunikative Ziele erreichen wollen. Die Wahl der Sprechweise hängt dabei von der individuellen Situationseinschätzung ab. Dies führt zwar mitunter dazu, dass sich Sprecher, obwohl sie hinsichtlich zahlreicher außersprachlicher Variablen vergleichbar sind, in einer bestimmten Kommunikationssituation, z. B. in einem Interview, sprachlich unterschiedlich verhalten (vgl. etwa Jakob 1985, Salewski 1998 oder Kehrein 2012a). Insgesamt folgt die situativ bedingte Sprachvariation zwischen Dialekt und Standardsprache aber Regeln. Das bedeutet, wenn sich Dialektsprecher einer bestimmten Region in einer Situation der Standardsprache mehr oder weniger stark annähern, tun sie dies in einer vergleichbaren Art und Weise. In der variationslinguistischen Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Variation zwischen Dialekt und Standardsprache auf einer Form von sozialer Übereinkunft beruht. Dies schlägt sich in spezifischen Konstellationen bzw. Kookkurrenzen standardsprachlicher und regionalsprachlicher Varianten nieder, die als Varietäten und Sprechlagen interpretiert werden können. Die Verteilung dieser Varietäten und Sprechlagen bildet die auf der vertikalen Dimension beschreibbare linguistische Struktur der regionalsprachlichen variativen Spektren. Im zusammenhängenden deutschen Sprachraum sind die Dialekt-Standard-Spektren in verschiedenen Regionen unterschiedlich strukturiert. Dies hat in zweifacher Hinsicht historische Gründe. Variation auf der vertikalen Dimension und somit auch regionalsprachliche Spektren sind dadurch entstanden, dass mit der Entwicklung und Verbreitung der hochdeutschen Schriftsprache neben den Dialekten eine zweite Varietät für die sprachliche Kommunikation zur Verfügung stand (auf die komplexen Prozesse der Entwicklung und Verbreitung der hochdeutschen Schriftsprache sowie der Herausbildung von Aussprachenormen kann in diesem Beitrag nicht ausführlich eingegangen werden [vgl. dazu etwa Besch 2003]). Ein Grund für die unterschiedliche Strukturierung der vertikalen Spektren besteht darin, dass die hochdeutsche Schriftsprache bestimmten Dialektverbänden und -regionen strukturell ähnlicher ist als anderen. Eine entsprechende Darstellung der Ähnlichkeit der Dialekte zur Schriftsprache hat Lameli (2013: 234) für https://doi.org/10.1515/9783110261295-005
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Deutschland vorgelegt. Außer durch diesen dialektgeographischen Faktor wird die Struktur der regionalsprachlichen Spektren auch dadurch beeinflusst, an welcher Aussprachenorm sich die Sprecher orientieren, wenn sie die Schriftsprache mündlich umsetzen. Es handelt sich hierbei um einen (historisch-)politischen Faktor, denn die (normierte) Aussprache der Standardsprache variiert in den Staaten, in denen Deutsch eine oder die Amtssprache ist (auch die Debatte zur Plurizentrizität oder Pluriarealität des Deutschen kann hier nicht vertieft werden [vgl. dazu zuletzt Davies et al. 2017]). Hier wird der Vorschlag von Schmidt (2005) zugrunde gelegt, der für den deutschen Sprachraum von einer Standardsprache mit drei nationalen Oralisierungsnormen ausgeht. Diese Normen sind medial verbreitet und daher prinzipiell auch über die Staatsgrenzen hinweg zugänglich. Die Frage, an welchen dieser Normen sich die Sprecher tatsächlich orientieren, muss empirisch geklärt werden. Eine Orientierung an der Schreibung erfolgt in jedem Fall (vgl. König 2004). Aus diesen historischen Prozessen ergeben sich für die Erforschung der regionalsprachlichen Spektren zunächst die empirischen Forschungsfragen „Welche Strukturen vertikaler Spektren lassen sich im deutschen Sprachraum ermitteln?“, „Durch welche remanenten regionalsprachlichen Merkmale sind die standardnächsten regionalsprachlichen Sprechlagen, die Regionalakzente, geprägt?“ und „Welche horizontale Struktur weist der Sprachraum auf der Ebene der Regiolekte und Regionalakzente auf?“ An die genannten empirischen Forschungsfragen schließen sich theoretische Fragen an, zu deren wichtigsten die folgenden gehören: „Wie sind die Strukturen der regionalsprachlichen Spektren entstanden und wie werden sie sich voraussichtlich weiterentwickeln?“, „Welche regionenübergreifenden sprachdynamischen Prozesse lassen sich aus den nachweisbaren Typen vertikaler variativer Spektren ableiten?“ und „Welche Faktoren beeinflussen diese sprachdynamischen Prozesse?“
2. Objektsprachliche und subjektive Strukturierung der Vertikale Das Faktum systematisch variierender Sprachverwendung zwischen Dialekt und Standardsprache wurde bereits vor ca. 200 Jahren beschrieben: So unterscheidet Schmeller (1821) in seiner vergleichenden Darstellung der Mundarten Bayerns zwischen der „gemeinen ländlichen Aussprache“ (= der sogenannte „örtliche“ und der „Provincial-Dialekt“) und der „Aussprache der Gebildetern [sic!]“, die mit „der provinciellen Art und Weise, das Schriftdeutsche zu lesen“ gleichgesetzt wird. Bei dieser Art der Aussprache „[scheinen] fast überall die Hauptfarben des Provincial-Dialektes durch[…]“. Von diesen beiden Formen zu unterscheiden sei noch die Aussprache der „Bürgerclasse in Städten“, die „besonders mit dem Schriftdeutschen immer mehr oder weniger vermischt worden“ sei (alle Zitate Schmeller 1821: 21; Hervorhebungen im Original durch Sperrung). Eine intensivere und mit vergleichbaren Methoden arbeitende Forschung zu dem Gegenstandsbereich regionalsprachlicher Spektren hat sich allerdings erst in den vergangenen Jahrzehnten etabliert. Abgesehen von einzelnen frühen (und leider wenig rezipierten) Arbeiten, wie z. B. Enderlin (o. J. [um 1910]) oder Bellmann (1957), beginnt die Entwicklung eines Methodenkanons − sowohl für die Datenerhebung als auch für die Datenanalyse − mit dem sogenannten Erp-Projekt (vgl. Besch et al. 1981). Mit wenigen Modifikationen und Erweiterungen (vgl. den Überblick über die Entwicklung in Kehrein
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
2012a: 39−67) bauen auf deren Methodeninventar auch die jüngsten groß angelegten Forschungsprojekte auf: Deutsch heute (vgl. Kleiner 2015), Sprachvariation in Norddeutschland (SiN; vgl. Elmentaler et al. 2015), Regionalsprache.de (REDE; vgl. Ganswindt, Kehrein & Lameli 2015) sowie die betreffenden Teilprojekte des österreichischen Spezialforschungsbereichs Deutsch in Österreich. Variation − Kontakt − Perzeption (DiÖ). Bei der direkten Datenerhebung werden Informanten zum einen in mindestens zwei unterschiedlichen Kommunikationssituationen beobachtet, jeweils eine, die eine standardorientierte und eine dialektale oder dialektorientierte Sprachverwendung evoziert. Standardorientiertes Sprechen wird in der Regel in leitfadengesteuerten Interviews mit Mitarbeitern des jeweiligen Projekts aufgezeichnet, während für dialektales Sprechen Situationen im Freundes- oder Familienkreis ausgewählt werden. Zum anderen werden meist zusätzlich sowohl die Dialektkompetenz als auch die Standardkompetenz, also der individuell „beste Dialekt“ und das individuell „beste Hochdeutsch“ der Sprecher erhoben, um deren variativen „Möglichkeitsraum zwischen Dialekt und Standardsprache“ (Macha 1991: 2) zu ermitteln. Bei der Analyse der Sprachdaten wird vor allem auf die Methoden Variablenanalyse (vgl. Kehrein 2012a: 84−87) und phonetische Dialektalitätsmessung (vgl. Lameli 2004) zurückgegriffen. Es erfolgt dabei jeweils ein Vergleich der von den Informanten produzierten dialektalen oder regiolektalen Varianten mit den korrespondierenden Einheiten der Standardsprache bzw. deren jeweiliger Oralisierungsnorm. Aus den Quantifizierungen dieser Vergleiche lassen sich einerseits der regional bedingte phonetische Abstand einer Sprachprobe von der Standardsprache (sogenannter Dialektalitätswert), andererseits situationsspezifische Kookkurrenzen regionalsprachlicher Varianten (Variantenprofile) ermitteln (Lanwer 2015 betrachtet solche Kookkurrenzen nicht für ganze Gespräche, sondern auf der Ebene von Intonationsphrasen und kann auf diese Weise intrasituative Registerwechsel feststellen, welche die von ihm analysierten Sprecherinnen durchführen, um bestimmte kommunikative Ziele zu erreichen). Wie eingangs bereits betont, heißt „situationsspezifisch“ nicht, dass sich alle Sprecher z. B. im Interview gleich verhalten, sondern dass sich in einzelnen Situationen vergleichbare Variantenprofile beobachten lassen. Dabei kann es sich bei einem Sprecher um das informelle Freundesgespräch handeln, bei einem anderen am selben Ort dagegen um das formelle Interview. Dies hängt von der individuellen Definition der Situation und des in dieser Situation angemessenen Sprachverhaltens ab. Die Variantenprofile lassen sich schließlich als typische und interindividuell vergleichbare Sprachverhaltensmuster und damit als linguistische Varietäten und Sprechlagen interpretieren und zusammen als linguistische Struktur der Vertikale beschreiben. Neben den objektsprachlichen Analysen spielen zunehmend auch Analysen der Wahrnehmung sprachlicher Variation eine Rolle. Diese schließen die Auswertungen allgemeinerer Befragungen zu Einstellungen gegenüber Variation und Varietäten, aber auch spezifischerer, häufig experimentell gewonnener Hörerurteile beispielsweise zur Dialektalität von Sprachproben, zur subjektiven Strukturierung der Vertikale oder zur Salienz regionalsprachlicher Merkmale ein (vgl. die oben angeführten Projektbeschreibungen der Projekte SiN, REDE und DiÖ). Hinsichtlich der Strukturierung der Vertikale sind die objektsprachliche und die subjektive Beschreibungsebene − auch terminologisch − strikt zu trennen (vgl. dazu ausführlich Kehrein 2012a: 28−33). Dies wird im vorliegenden Beitrag umgesetzt, indem auf
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 5.1: Objektsprachliche und subjektive Strukturierung der Vertikale
der objektsprachlichen Ebene die Varietäten Dialekt, Regiolekt und Standardsprache und innerhalb dieser die Sprechlagen Basisdialekt, Regionaldialekt, unterer und mittlerer Regiolekt sowie Regionalakzent bzw. in Bezug auf „konservativere“ Dialektsprecher Gesprochenes Schriftdeutsch angesetzt werden. Die Konzepte auf der subjektiven Beschreibungsebene werden dadurch kenntlich gemacht, dass sie jeweils in doppelte Anführungszeichen gesetzt werden. Wenn also von „Dialekt“ und „Hochdeutsch“ die Rede ist, dann bezieht sich dies auf Konzeptualisierungen von Sprechern. Wie aus Abb. 5.1 hervorgeht, liegt keine 1:1-Entsprechung zwischen den Elementen der beiden Beschreibungsebenen vor. Was manche Sprecher als (ihr bestes) „Hochdeutsch“ ansehen, betrachten andere in derselben Region als (ihren besten) „Dialekt“, während objektsprachlich beidem eine Sprechlage des Regiolekts entsprechen kann. Bisher konnte im REDE-Projekt zur subjektiven Einteilung der Dialekt-StandardSpektren festgestellt werden, dass Sprecher in der Regel eine Zweiteilung in „Dialekt“ (teilweise auch „Platt“ oder in Norddeutschland auch „Niederdeutsch“) und „Hochdeutsch“ vornehmen, sofern nicht im Zuge der Erhebung ein von diesen beiden Konzepten abgegrenztes zusätzliches Konzept, wie z. B. „regionale Umgangssprache“, aktiv suggeriert wird. Diese beobachtbare Zweiteilung wird allerdings häufig dadurch erweitert, dass die Grundkonzepte modifiziert werden (z. B. „besseres vs. schlechteres Hochdeutsch“, „Hochdeutsch mit Streifen“, „verwaschenes Hochdeutsch“ oder auch „unechter Dialekt“, „zivilisierter Dialekt“, „entschärfter Dialekt“; vgl. Lenz 2003; Kehrein 2012a). Das bedeutet, dass eine relative konzeptuelle Staffelung vorhanden ist, die zugrunde liegenden Konzepte im interindividuellen Vergleich aber nicht unbedingt denselben Sprechlagen und Varietäten zugeordnet werden können.
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
Die zuletzt genannte Diskrepanz betrifft insbesondere auch die (Wahrnehmung der) Realisierungsformen der Standardvarietät. Für den einzelnen Sprecher handelt es sich bei der intendierten Standardsprache subjektiv um das „individuell beste Hochdeutsch“. In anderen Ansätzen wird diese Sprechweise auch als „Standardsprechsprache“ oder als „Gebrauchsstandard“ (bezogen auf die „Aussprachegewohnheiten der Gebildeten in formal hochstehenden Situationen“ [König 1997: 266 und Elspaß & Kleiner, Art. 6 in diesem Band]) bezeichnet. Die mit diesen Termini benannten Sprechweisen können objektsprachlich sowohl der Standardvarietät, aber auch fast allen Sprechlagen des Regiolekts entsprechen. Auch hinsichtlich der Fremdwahrnehmung dieser Sprechweisen bestehen teilweise erhebliche interindividuelle Unterschiede. Das individuell „beste Hochdeutsch“ von Sprechern wird von Beurteilern mitunter als „Dialekt“ wahrgenommen (vgl. Kehrein 2009). Wie aus Abb. 5.1 hervorgeht, herrscht dagegen in auffälligem Maße Einigkeit darüber, was − zumindest von Befragten in Deutschland − unter „reinem Hochdeutsch“ verstanden wird. Sowohl in Perzeptionsexperimenten, in denen − teilweise neben Aufzeichnungen von Berufssprechern − ausschließlich Proben aus standardorientierten, also regiolektalen Aufnahmen präsentiert wurden (vgl. Lameli 2004; Kehrein 2009), als auch in Experimenten, in denen Aufnahmen aller Varietäten für Orte/Regionen präsentiert wurden (vgl. Lenz 2003; Kehrein 2012a; Herrgen 2015), werden die Berufssprecher, aber auch Beispiele anderer Sprecher, die objektsprachlich dem Kolloquialstandard zugeordnet werden können, mit hoher Übereinstimmung als „(fast) reines Hochdeutsch“ eingestuft. Diese Wahrnehmung erfolgt in den Untersuchungen mit Probanden aus Deutschland unabhängig von deren regionaler Herkunft (vgl. Kehrein 2009) und in der Studie von Herrgen (2015) sogar unabhängig von der nationalen Herkunft der deutschen, schweizerischen und österreichischen Probanden. Diese Ergebnisse werden für Deutschland durch weitere soziophonetische Studien bestätigt, in denen darüber hinaus nach der Angemessenheit von präsentierten Sprachproben etwa für nationale Nachrichtensendungen gefragt wurde. Jochmann gelangt auf Basis ihrer Untersuchung zu der Erkenntnis, dass „innerhalb der Bevölkerung […] eine klar umrissene, dem jeweiligen Hörer inhärente Normvorstellung von der Standardaussprache des Deutschen zu existieren [scheint]“ (Jochmann 2000: 242). Auch Hollmach (2007) konnte in seiner umfangreichen Untersuchung ein ähnlich klares Konzept der Sprachteilhaber von der Standardaussprache belegen (vgl. Hollmach 2007: 250−253). Eine größer angelegte perzeptionslinguistische empirische Erforschung der Normen, an denen sich Schweizer und Österreicher orientieren, wenn sie die Standardsprache realisieren, steht noch aus. Neben der von Herrgen (2015) auf die Wahrnehmung der Aussprache bezogenen Untersuchung liegt mit Peter (2015) eine erste vergleichende Studie zu den Normvorstellungen von Probanden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bei geschriebenen Texten vor (vgl. auch Peter 2017 zur Bewertung von regionalen Wortbildungsvarianten durch österreichische Lehramtsstudenten). Die vorliegenden empirischen Befunde erlauben schließlich eine klare Definition von Standardvarietät/-sprache in Abgrenzung von Regionalsprache: Eine Regionalsprache ist ein durch Mesosynchronisierungen vernetztes Gesamt an Varietäten und Sprechlagen, das horizontal durch die Strukturgrenzen der Dialektverbände/-regionen und vertikal durch die Differenzen zu den nationalen Oralisierungsnormen der Standardvarietät begrenzt ist. (Schmidt & Herrgen 2011: 66; Hervorhebung im Original durch Fettdruck)
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II. Die Sprachräume des Deutschen Standardsprache heißt diejenige Vollvarietät, auf deren Literalisierungsnorm die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft ihre Makrosynchronisierung ausrichten. Die − nationalen − Oralisierungsnormen dieser Vollvarietät sind durch Freiheit von (kommunikativ) salienten Regionalismen gekennzeichnet. (Schmidt & Herrgen 2011: 62; Hervorhebung im Original durch Fettdruck)
Im Folgenden wird es zunächst um die bisher vorliegenden Erkenntnisse zu den Strukturen der vertikalen regionalsprachlichen Spektren im deutschen Sprachraum gehen. Darauf folgt mit der Beantwortung der Forschungsfragen eine Systematisierung der beobachtbaren sprachdynamischen Prozesse und wichtiger Einflussfaktoren.
3. Typen vertikaler regionalsprachlicher Spektren Bevor es in diesem Teilkapitel um eine genauere Betrachtung von Variationsspektren gehen wird, die auf Basis vergleichbarer empirischer Untersuchungen des variativen Sprachverhaltens von Informanten abgeleitet worden sind, werden zunächst im Überblick verschiedene in der Literatur genannte Spektrumstypen vorgestellt. Es handelt sich dabei um stark vereinfachte Darstellungen, die teilweise terminologisch dergestalt angepasst wurden, dass hier Standardsprache/Schriftsprache im Sinne der oben genannten Definition „durch Freiheit von (kommunikativ) salienten Regionalismen gekennzeichnet“ (Schmidt & Herrgen 2011: 62) ist. Von der Standardvarietät abgegrenzt werden verschiedene regionalsprachliche Varietäten und Sprechlagen, von denen immer mindestens jeweils eine dialektal und eine regiolektal (oder standardorientiert) ist (außer bei der Konstellation, in welcher der Dialekt vollständig abgebaut wurde). Der erste Spektrumstyp besteht aus zwei regionalsprachlichen Varietäten, zwischen denen keine wesentliche Beeinflussung stattfindet, sondern eine relativ stabile Trennung vorliegt. Ein solches, häufig als Diglossie bezeichnetes Spektrum wird für die deutschsprachige Schweiz, für Teile des niederdeutschen Sprachraums und für das Mittelbairische, und zwar sowohl in Deutschland (s. u.) als auch in Österreich (vgl. Weiß 1982), beschrieben. Der zweite Spektrumstyp weist ein ausgebautes Spektrum mit zwei regionalsprachlichen Varietäten auf, innerhalb derer in der Regel verschiedene Sprechlagen abgegrenzt werden können. Teilweise werden diese auch als abgrenzbare, aber prinzipiell „gegeneinander durchlässig[e] […] Sprachschichten“ (Wiesinger 1980: 197) bezeichnet. Diese Varietätenkonstellation konnte bisher im Mittelfränkischen, im Hochalemannischen in Deutschland und im Zentralhessischen empirisch belegt werden, sie wird aber auch für das Mittelbairische in Ostösterreich, vor allem für Wien (vgl. Wiesinger 1980, 1988, 1992) beschrieben. Als ein dritter Spektrumstyp lässt sich ein regionalsprachliches Kontinuum mit Dialekt(resten) ansetzen, innerhalb dessen in der Regel der Dialekt als standardfernste und der Regionalakzent als standardnächste regionalsprachliche Sprechlagen beschreibbar sind, während sich Sprechweisen dazwischen nicht mehr systematisch unterscheiden lassen. Regionalsprachliche Kontinua werden einerseits ebenfalls für das Mittelbairische in Ostösterreich angegeben (vgl. Scheutz 1985, 1999; Scheuringer 1997) und konnten andererseits für Orte im Ostfränkischen sowie im erweiterten Rhein-Main-Gebiet empirisch nachgewiesen werden.
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
Abb. 5.2: Typen vertikaler Variationsspektren im deutschen Sprachraum
Schließlich ist noch ein vierter regionalsprachlicher Spektrumstyp empirisch nachweisbar. Dieser besteht lediglich aus der Varietät Regiolekt, der Dialekt ist geschwunden. Solche Spektren sind in Teilen des Niederdeutschen, im rheinfränkisch-zentralhessischen Übergangsgebiet sowie im Ostmitteldeutschen ermittelt worden. Die genannten Spektrumstypen verteilen sich im deutschen Sprachgebiet wie in Abb. 5.2 dargestellt. Eine Erklärung für diese Verteilung wird, zumindest für solche Spektren, die aus vergleichbaren empirischen Untersuchungen abgeleitet wurden, im folgenden Kapitel hergeleitet. Entsprechende Studien liegen derzeit in erster Linie für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vor, während die Analyse der linguistischen
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 5.3: Beispiele für vertikale Variationsspektren verschiedener Dialektverbände im direkten Vergleich
Struktur der Vertikale in der Schweiz (noch) keinen Forschungsschwerpunkt darstellt (vgl. auch Christen, Art. 9 in diesem Band) und in Österreich erst vor Kurzem im Rahmen des oben genannten Spezialforschungsbereichs Deutsch in Österreich systematisch angegangen wurde. Publizierte Ergebnisse liegen zurzeit noch nicht vor (vgl. auch Lenz, Art. 11 in diesem Band). Zur besseren direkten Vergleichbarkeit der Strukturen der vertikalen Spektren, vor allem hinsichtlich des Abstandes der Varietäten von der überdachenden Standardsprache und der daraus resultierenden vertikalen Ausdehnung der Spektren, werden exemplarisch empirisch ermittelte Spektrumstypen in Abb. 5.3 nochmals nebeneinander dargestellt.
3.1. Stabile Disjunktion von Dialekt und „Hochdeutsch“ („Diglossie“) Bei der hier beschriebenen Ausprägung der regionalsprachlichen Spektren handelt es sich um solche, in denen ein vergleichsweise standardferner Dialekt und ein relativ standardnaher Regiolekt koexistieren, ohne dass eine nachhaltige gegenseitige Beeinflussung stattgefunden hat. Eine solche vertikale Struktur ist für die deutschsprachige Schweiz, für Teile des niederdeutschen Sprachraums und für das Mittelbairische in Deutschland belegt worden. In allen diesen Regionen ist eine klare und komplementäre Zweiteilung des Varietätengebrauchs zu beobachten. Da das „beste Hochdeutsch“ bei Dialektsprechern in der Regel eine regionale Prägung aufweist, kann bezogen auf die mündliche Kommunikation objektsprachlich von einer „regionalsprachlichen Diglossie“ ausgegangen werden.
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
3.1.1. Deutschsprachige Schweiz Die Struktur der Vertikale in der deutschsprachigen Schweiz wird in Anlehnung an Ferguson (1959) meist als Diglossie bezeichnet. Diese Konzeptualisierung, insbesondere als mediale Diglossie (vgl. etwa Kolde 1981), ist allerdings nicht unumstritten, da das gesprochene Schweizerhochdeutsch elementarer Bestandteil des kommunikativen Alltags ist. Hinzu kommt, dass der Dialekt gegenüber der Standardsprache als die Varietät mit dem höheren Prestige gelten dürfte, wobei Studler in Fragebogenerhebungen zeigen kann, dass die Standardsprache unter verschiedenen Gesichtspunkten durchaus positiver als der Dialekt bewertet wird (vgl. Studler 2013, 2017). Haas (2004) spricht neutraler von einer „bi-polare[n] Repräsentation des Sprachrepertoires“ (Haas 2004: 93) und verweist damit darauf, dass die Sprecher auch in der mündlichen Kommunikation die beiden Varietäten „sowohl bei der Produktion als auch bei der Perzeption strikte auseinander […]halten“ (Christen, Art. 9 in diesem Band), eine gegenseitige Beeinflussung daher weitgehend ausbleibt. Dies ist dadurch bedingt, dass zwischen Autochthonen der Dialekt die unmarkierte Varietät in der mündlichen Alltagskommunikation darstellt, dieser auch medial präsent ist und insgesamt eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz besitzt. Faktoren, die in anderen Regionen (auch im Alemannischen in Deutschland [vgl. Kehrein 2012a; Bohnert-Kraus 2018]) Varietätenwechsel auslösen, und zwar beispielsweise die soziale Zugehörigkeit oder auch das Alter der Sprecher oder der Grad der Öffentlichkeit einer Kommunikationssituation, haben diese Wirkung in der deutschsprachigen Schweiz nicht. Ein Wechsel zum Schweizerhochdeutschen erfolgt praktisch ausschließlich im Gespräch mit Allochthonen. Trotz der stabilen Trennung der Varietäten ist nach neuesten Erkenntnissen auch eine Vertikalisierung zu beobachten. Allerdings nicht in Form bzw. als Folge einer gegenseitigen Beeinflussung von Dialekt und Schweizerhochdeutsch, sondern als „doppelte Vertikalität“ (vgl. Christen, Art. 9 in diesem Band): Das bedeutet einerseits eine Regionalisierung des Dialekts und andererseits die situations-, adressaten- oder diskursbedingte Variation bei der mündlichen Verwendung der Standardsprache. Weitgehend offen bleibt vorläufig, ob solche Variation im „Schweizerhochdeutschen“ in einem systematischen Zusammenhang mit der dialektalen Herkunft des jeweiligen Sprechers stehen, was als Indiz für die Herausbildung eines Regiolekts als einer intermediären Varietät bewertet werden könnte.
3.1.2. Niederdeutscher Raum (bei vorhandenem Dialekt) Die Dialekte des Niederdeutschen zeichnen sich im diatopischen Vergleich innerhalb Deutschlands durch die größten Distanzen zur Standardsprache aus. Entsprechend wird von einem diglossischen Verhältnis der beiden Varietäten, mitunter auch von Bilingualismus gesprochen. Diercks (1994) schreibt beispielsweise: „In kongruenten Sprechsituationen wird sowohl Niederdeutsch als auch Hochdeutsch gesprochen […], so daß vor allem für die ältere Generation eine Form des Bilingualismus anzunehmen ist, in der der Auslöser für die Wahl der Sprache die Kompetenz des Gesprächspartners ist“ (Diercks 1994: 87). Die Ergebnisse aus dem SiN-Projekt deuten darauf hin, dass der Dialekt in den Regionen Nordhannoversch, Mecklenburgisch-Vorpommersch, Holsteinisch, Dithmarsisch,
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 5.4: Dialekt und Regiolekt im Niederdeutschen (bei erhaltenem Dialekt; vgl. Kehrein 2012a)
Ostfriesisch, Westmünsterländisch, Nordostfälisch, Schleswigisch auch heute noch eine (gewisse) Rolle im kommunikativen Alltag spielt (vgl. Elmentaler et al. 2015: 415). Entsprechend liegen Beschreibungen des vertikalen Spektrums bei Vorhandensein des niederdeutschen Dialekts für den Norden der DDR (vgl. Dahl 1974, Gernentz 1974 und Herrmann-Winter 1974 sowie zusammenfassend Ehlers, Art. 18 in diesem Band) sowie für die folgenden Orte/Regionen vor: Südlohn und Hinte (Hettler, König & Lanwer 2011), Oldenburg (Lanwermeyer 2011), Alt Duvenstedt und Stralsund (Kehrein 2012a), Bergen auf Rügen (Vorberger 2016, 2017). Die Struktur dieser Spektren lässt sich wie in Abb. 5.4 visualisieren. Zwischen dem sehr standardnahen Regiolekt und dem sehr standardfernen Dialekt findet sich eine Sprechweise, die in den Aufnahmen aus den Projekten SiN (vgl. Elmentaler & Rosenberg 2015: 93) und REDE fast immer dann zu beobachten ist, wenn die Sprecher ein Freundesgespräch (im SiN-Projekt „Tischgespräch“) im niederdeutschen Dialekt führen. In die dialektalen Äußerungen fließen in diesen Gesprächen immer wieder standardsprachliche, meist schwach regionalsprachlich markierte Lexeme oder Phrasen ein. Herrmann-Winter bezeichnet solche Wechsel als „Alternanzen“ (Diercks 1994: 238−239 spricht von „Transferenzen“) und weist darauf hin, dass sich „alternierendes Sprechen, von der Mundart her gesehen, […] weitgehend unbewußt“ (Herrmann-Winter 1974: 185) vollzieht, und dass es für „den plötzlichen Übergang vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen und umgekehrt im Redeablauf einer Person […] keine Gesetzmäßigkeiten [gibt]“ (Herrmann-Winter 1974: 186; vgl. auch Hansen-Jaax 1995; Reershemius 2004: 110−111; Schröder 2004: 77; Kehrein 2012a: 275–313; Schröder 2015: 44−46; Elmentaler et al. 2015: 415). Hinsichtlich der lautlichen Qualität der niederdeutschen und der hochdeutschen Elemente kann festgehalten werden, dass sich diese jeweils klar in die Bereiche des sehr standardfernen Dialekts und des sehr standardnahen Regiolekts einordnen lassen. Eine lautliche „Einpassung“ hochdeutscher Wörter in den Dialekt erfolgt im Unterschied zur Schweiz nicht. Dies zeigen auch Hettler, König & Lanwer
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
(2011: 120−122), indem sie die Dialektalitätswerte für die „hochdeutschen Passagen“ und die „niederdeutschen Passagen“ der betreffenden SiN-Tischgespräche separat ermitteln. In der Darstellung in Abb. 5.4 ist das Alternieren in niederdeutsch-basierten Gesprächen entsprechend nicht als Graustufe zwischen Dialekt und Regiolekt dargestellt, sondern als differenzierbares Dunkelgrau/Hellgrau. Eine Abweichung vom alternierenden Gesprächsverhalten zeigt Lanwermeyer (2011) für einen Oldenburger REDE-Informanten der älteren Generation. Nach Ausweis einer Variablenanalyse mit anschließender Clusteranalyse kann Lanwermeyer belegen, dass dessen Sprechweisen bei der Dialektkompetenzerhebung und im Freundesgespräch zu einer Sprechlage Basisdialekt zusammengefasst werden können. Lanwermeyer weist in ihren Analysen zu Oldenburg auch eine Binnenstrukturierung des Regiolekts in zwei Sprechlagen nach. Ein Hinweis darauf, dass vor allem ältere Sprecher in standardorientierten Sprechweisen einen größeren Abstand zur Standardsprache aufweisen, findet sich auch in den REDE-Daten für den Ort Alt Duvenstedt (vgl. Kehrein 2012a). In hochdeutsch-basierten Freundesgesprächen des REDE-Korpus sind darüber hinaus häufig „niederdeutsche Beimischungen“ (Dahl 1974: 343), und zwar ebenfalls auf lexikalischer Ebene, zu beobachten. Diese werden mitunter bewusst sozialdeiktisch eingesetzt (vgl. dazu auch Diercks 1994: 236−238; Menge 2004: 21; Reershemius 2004: 125; Schröder 2004: 79−81). Obwohl in den genannten Orten und Regionen der jeweilige niederdeutsche Dialekt noch erhebbar ist und auch im kommunikativen Alltag noch verwendet wird, so nimmt seine Bedeutung doch insgesamt ab. Diese Entwicklung ist eng mit der Zahl der dialektkompetenten Sprecher verknüpft (vgl. Elmentaler & Rosenberg 2015: 94; Schmidt 2017: 119−122). Die jüngste repräsentative Umfrage des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) und des Instituts für niederdeutsche Sprache (INS) zeigt, dass sich selbst dort, wo der Dialekt im kommunikativen Alltag grundsätzlich noch präsent ist, die Zahl der dialektkompetenten Sprecher in den letzten 30 Jahren von 35 % (1984) auf 15,7 % (2016) mehr als halbiert hat (vgl. Adler et al. 2016: 15). Dieses übergreifende, auf der Selbsteinschätzung beruhende Bild wird durch Untersuchungen zu einzelnen Orten und Regionen gestützt. Diercks (1994) kann dies für die Stadt Schleswig ebenso zeigen wie Reershemius (2004) für das Dorf Campen in Ostfriesland und Jürgens (2015) für Hamburg. Kremer & Van Caeneghem (2007) geben zusammenfassend an, dass die Nicht-Weitergabe des Niederdeutschen durch Eltern, für die Niederdeutsch noch Muttersprache war, an ihre Kinder ein Prozess sei, der „sich im gesamten niederdeutschen Sprachraum seit ein paar Generationen ab[spielt]“ (Kremer & Van Caeneghem 2007: 127). Niederdeutsch bleibe in vielen Regionen dadurch erhalten, dass es in verschiedenen Domänen bewusst gepflegt werde. Dazu gehören Rundfunk, Printmedien, Kirche, Theater oder auch regionale Vereine zur Sprachpflege (vgl. etwa die Zusammenstellung von Kremer & Van Caeneghem 2007). Dadurch wandelt sich das Niederdeutsche als Dialekt „von einer ‚Kommunikationssprache‘ zur ‚Identifikationssprache‘“ (Elmentaler et al. 2015: 416; vgl. auch Jürgens 2015: 389). Dass es sich bei den betreffenden Prozessen tatsächlich um einen Schwund des Dialekts bzw. kompetenter Sprecher und nicht um Dialektwandel handelt, zeigen die gleichzeitigen Beobachtungen, dass sich die jeweiligen Dialekte als sprachliche Varietäten kaum verändern. Die sprachliche Primärsozialisation erfolgt gegenwärtig in der Regel im Regiolekt (vgl. auch Ehlers, Art. 18 in diesem Band), was auch ein Vergleich der REDE-Informanten der älteren mit der mittleren und der jüngeren Generation ergibt: Während die älteren Informanten (über 65 Jahre) in Alt Duvenstedt, Oldenburg, Stralsund und Bergen auf Rügen noch im niederdeutschen Dialekt aufge-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
wachsen sind, haben bereits die Sprecher der mittleren Generation (45−55 Jahre), wenn überhaupt, den Dialekt erst als zweite Varietät gelernt. Keiner der jüngeren Sprecher (18−23 Jahre) hat überhaupt noch Niederdeutsch gelernt (vgl. Lanwermeyer 2011; Kehrein 2012a). Als Folge dessen ist der Regiolekt die im kommunikativen Alltag dominierende Varietät.
3.1.3. Mittelbairisch (in Deutschland) Die mittelbairischen Dialekte in Deutschland werden wie alle anderen Dialektregionen Deutschlands von der „deutschländischen“ Oralisierungsnorm der Standardsprache überdacht. Inwieweit sich die daraus resultierenden vertikalen sprachdynamischen Prozesse von denen in Österreich unterscheiden, muss die künftige Forschung zur Sprachvariation in Österreich zeigen. Für die Dialekte in den im Rahmen des REDE-Projekts bisher untersuchten Kleinregionen um Trostberg, Weiden in der Oberpfalz, Hirschau, Regensburg, Ingolstadt und München (vgl. Limper i. Dr.) gilt, dass sie im diatopischen Vergleich zusammen mit dem Niederdeutschen den größten (phonetischen) Abstand zur Standardsprache aufweisen. Gleichzeitig zeichnen sich die Dialekte des Ostoberdeutschen nach Ausweis der Karte von Lameli (2013: 234) durch eine relative Nähe zur Schriftsprache aus, was vermutlich mit der Relevanz des Osthochdeutschen insgesamt sowie des „gemeinen Deutsch“ für die Entwicklung der hochdeutschen Schriftsprache erklärt werden kann (vgl. dazu Besch 2003; Wolf 2000; Lameli 2013). Die standardnächsten Sprechlagen sind auf der anderen Seite aber durch einen relativ großen phonetischen Abstand von der Standardsprache gekennzeichnet. Der Dialekt ist im bairischen Raum Deutschlands insgesamt im kommunikativen Alltag auch in der jüngeren Generation noch sehr präsent und bildet die dominierende Varietät. Der Regiolekt ist in den meisten REDE-Aufnahmen, die bisher analysiert wurden, fast ausschließlich durch die Standardkompetenzerhebungen, d. h. die Übertragung der dialektal präsentierten Wenkersätze in das individuell beste Hochdeutsch und das laute Vorlesen des Textes Nordwind und Sonne, belegt. Wie in Kap. 4. dargestellt wird, lässt sich die Sprechweise von Dialektsprechern in diesen Situationen als interindividuell stabile Sprechlage Gesprochenes Schriftdeutsch abgrenzen. Die betreffenden Sprecher können als „diglossische Sprecher“ typisiert werden (vgl. Kehrein 2012a: 260–266). Der typische Varietätenerwerb und das typische Sprachverhalten der bisher analysierten Informanten sehen folgendermaßen aus: Die sprachliche Primärsozialisation erfolgt bis in die jüngste Generation hinein im Dialekt. Dieser Dialekt wird in praktisch allen Gesprächen der Erhebungen verwendet. Selbst mit nachweislich nicht dialektkompetenten Sprechern, nämlich im Interview mit Exploratoren des REDE-Projekts, wechseln die Sprecher nicht in den Regiolekt. Sie nähern sich ihrem jeweiligen Gegenüber lediglich leicht an, indem sie bei einzelnen Variationsphänomenen gelegentlich die dialektale durch die standardorientierte Variante ersetzen. Da diese Ersetzungen nicht systematisch, z. B. an einzelne Lexeme gebunden, erfolgen, kann von einer Variabilisierung des Variantengebrauchs gesprochen werden (dies beobachtet auch Scheuringer 1990). Diese Variabilisierung schlägt sich beispielsweise in einem leicht niedrigeren Dialektalitätswert nieder, insgesamt lassen sich die betreffenden Aufnahmen aber stets dem Dialekt zuordnen. Da diese Annäherung kontinuierlich durch Variabilisierung erfolgt und nicht etwa − wie
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
Abb. 5.5: Dialekt und Regiolekt im Mittelbairischen (vgl. Kehrein 2012a)
in anderen Regionen − durch den Abbau kleinregionaler dialektaler Varianten, kann nicht von einer Sprechlage Regionaldialekt ausgegangen werden. Die Sprecher bewegen sich konsequent im Dialekt, dem diglossisch die geschriebene Standardsprache und ihre mündliche Umsetzung als Gesprochenes Schriftdeutsch gegenüberstehen. In den bisherigen Untersuchungen finden sich aber bereits Hinweise auf eine Entdiglossierung (vgl. Bellmann 1983) und den Ausbau des Regiolekts zu einer Varietät der Alltagskommunikation. Zum einen wechselt einer der jungen Sprecher in der Region Trostberg im Interview in sein Gesprochenes Schriftdeutsch. Zum anderen liegt im REDE-Korpus mit einem jungen Sprecher aus München ein monovarietärer Sprecher vor, der im Regiolekt primärsozialisiert wurde und innerhalb dieses Regiolekts variiert. Insgesamt kann für das Mittelbairische in Deutschland von einer (bisher) stabilen Trennung der beiden Varietäten ausgegangen werden. Die Stabilität dieser Trennung wird ähnlich wie in der deutschsprachigen Schweiz von sprachinternen und sprachexternen Faktoren begünstigt: Auf objektsprachlicher Ebene ist dies die relativ große Ähnlichkeit der mittelbairischen Dialekte untereinander (vgl. Lameli 2013: 169−173) und damit ihre relativ große kommunikative Reichweite. Hinzu kommt eine grundsätzlich positive Einstellung der Sprecher zu ihren Dialekten und ihrer kulturellen Tradition insgesamt. Die „norddeutsch geprägte Aussprache“ verfügt hier ebenfalls nicht über das hohe Prestige, das Ferguson (1959) für die H-Varietät in Diglossie-Situationen ansetzt. Für viele Sprecher dient diese Aussprache wahrscheinlich nicht als Orientierungsgröße für den Ausbau ihres individuellen variativen Spektrums.
3.2. Ausgebautes Spektrum aus Dialekt und Regiolekt („Diaglossie“) Im Folgenden geht es um regionalsprachliche Spektren, die eine Struktur aus zwei klar abgrenzbaren Varietäten, Dialekt und Regiolekt, aufweisen, zwischen denen aber − im Unterschied zu den in Kap. 3.1. präsentierten Konstellationen − gegenseitige Beeinflus-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
sung zu beobachten ist. Beide Varietäten zeigen daher einen gewissen Ausbau in zwei oder mehr Sprechlagen. Bellmann bezeichnet solche Spektren in Abgrenzung von Diglossie als „Diaglossie“ (vgl. Bellmann 1998: 24). Als Ausgangspunkt dieser Strukturen kann die Diglossie zwischen gesprochenem Dialekt und anfangs hauptsächlich geschriebener Standardsprache angenommen werden. Einen Beleg für diese Annahme bilden Sprecher, die sich aufgrund ihres Sprachverhaltens als diglossische Sprecher − ähnlich denen im Mittelbairischen in Deutschland − typisieren lassen. Das bedeutet, dass sie in praktisch allen Situationen des kommunikativen Alltags eine Sprechlage des Dialekts verwenden, außer wenn sie aufgefordert werden, ihr „bestes Hochdeutsch“ zu produzieren (Standardkompetenzerhebung, Sprechlage Gesprochenes Schriftdeutsch). Andere Dialektsprecher haben dagegen in Situationen, die als besonders formell empfunden werden, begonnen, ihr „(bestes) Hochdeutsch“ auch im Alltag zu verwenden. Dadurch erfolgte ein sukzessiver Ausbau des Regiolekts. Dieser verlief vom Gesprochenen Schriftdeutsch ausgehend von oben nach unten, indem standardorientierte Sprechweisen in immer mehr Situationen und Kommunikationsdomänen verwendet wurden, und zwar bis hin zu Gesprächen im privaten Freundeskreis, der sich durch die zunehmende Binnenmigration nicht mehr auf Personen aus der unmittelbaren geographischen Umgebung beschränkt, sondern auch „Zugezogene“ einschließt. Mit dieser Ausweitung der Verwendungsbereiche des Regiolekts bis hinein ins Private ging objektsprachlich eine stärkere regionale Prägung dieser Sprechweisen einher (= Regiolektausbau nach unten; vgl. zur Markierung interindividuell-sozialer Vertrautheit durch stärkere regionalsprachliche Prägung auch Kehrein & Fischer 2016). Die weitere strukturelle Entwicklung der Vertikale basiert vor allem darauf, dass Sprecher im Regiolekt sprachlich primärsozialisiert werden, denn sie bauen den Regiolekt weiter nach oben in Richtung Standardsprache aus. Parallel zum Regiolektausbau, aber grundsätzlich davon unabhängig, erfolgte vielfach auch ein Wandel im Dialekt. Kleinräumig verbreitete Dialektmerkmale wurden durch großräumig verbreitete Dialektmerkmale oder standardsprachliche Merkmale ersetzt, was zur Herausbildung einer Sprechlage Regionaldialekt geführt hat. Die genannten Prozesse konnten für die im Folgenden präsentierten Regionen des Mittelfränkischen und um Waldshut-Tiengen im Hochalemannischen sowie um Gießen und Ulrichstein im Zentralhessischen empirisch belegt werden. Diese drei Regionen gleichen sich in der Hinsicht, dass die alten Dialekte einen relativ großen Unterschied zur Standardsprache und zur Schriftsprache aufweisen. Die standardnächsten Sprechlagen der Dialektsprecher sind im diatopischen Vergleich zwar standardferner als im Niederdeutschen, aber standardnäher als in anderen Regionen.
3.2.1. Mittelfränkisch und Hochalemannisch in Deutschland Für jeweils kleinere Regionen des Mittelfränkischen liegen eine Reihe von Studien vor, die unter anderem mit der Methode Variablenanalyse das Sprachverhalten von Informanten in unterschiedlichen Situationen analysiert haben: Mattheier (1979), Lausberg (1993) und Kreymann (1994) zu Erp, Macha (1991) zu Siegburg, Eitorf und Windeck (RheinSieg-Kreis) sowie Lenz (2003), Kehrein (2012a) und Katerbow (2013) zu Wittlich. In ihrem vergleichenden Artikel zu den Erp-Studien und ihrer eigenen Wittlich-Studie kann Lenz (2010) zeigen, dass für beide Regionen von derselben Struktur des regionalsprachli-
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
chen Spektrums ausgegangen werden kann. In der Alltagskommunikation greifen die Sprecher auf die Varietäten Dialekt und Regiolekt zurück, wobei sie innerhalb der Varietäten verschiedene Sprechlagen wählen können. Diese Struktur der Vertikale kann durch Abbauhierarchien regionalsprachlicher Merkmale belegt werden. Sprechlagen kommen also dadurch zustande, dass dialektale Varianten schrittweise vollständig durch die standardsprachlichen Pendants oder durch (neue) regiolektale Varianten ersetzt werden. Der Regiolekt ist mittlerweile mindestens gleichberechtigt, wobei prognostiziert werden kann, dass er sich zur dominierenden Varietät des kommunikativen Alltags entwickelt. Die beschriebene Struktur des regionalsprachlichen Spektrums wird durch Kehrein (2012a) anhand von Daten aus dem REDE-Projekt nicht nur für Wittlich bestätigt, sondern auch für die Kleinregion um Waldshut-Tiengen im hochalemannischen Teil Deutschlands herausgearbeitet. In beiden Regionen sind auch dieselben Sprechertypen vertreten: − diglossische Sprecher, d. h. freie Gespräche im Dialekt, bestes „Hochdeutsch“ nur in
der Abfrage (Lausberg 1993 für Erp; Kehrein 2012a für Waldshut-Tiengen) − bivarietäre Switcher (in allen genannten Untersuchungen) − monovarietäre regiolektale Shifter (in allen genannten Untersuchungen) − nicht variierende Regiolektsprecher („Moveless“), d. h. alle freien Gespräche in der-
selben regiolektalen Sprechlage (Lenz 2003 für Wittlich; Kehrein 2012a für WaldshutTiengen) In beiden Regionen sind darüber hinaus die oben genannten sprachdynamischen Prozesse zu beobachten: Der Dialekt entwickelt sich vom reinen Basisdialekt durch horizontale Ausgleichsprozesse (Ersetzung lokaler/kleinräumiger Merkmale durch großräumig verbreitete) zu einem Regionaldialekt. Solcher Dialektwandel − als Regionalisierung − ist auch eines der zentralen Ergebnisse, die aus dem apparent-time-Vergleich der beiden Datenserien im Mittelrheinischen Sprachatlas gewonnen werden konnten (vgl. Bellmann 1994, 1997: 273; Girnth 2015: 40−41). Für den alemannischen Sprachraum wird eine solche Regionalisierung des Dialekts durch die Resultate aus dem DFG-Projekt Phonologischer Wandel am Beispiel der alemannischen Dialekte Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert belegt (vgl. vor allem Streck 2012, Schwarz 2015 sowie zusammenfassend Streck 2015). Neben diesem Dialektwandel prägen diejenigen, „konservativeren“ Dialektsprecher, die erst in der Schule mit der Standardsprache in Kontakt gekommen sind, mit ihrem besten „Hochdeutsch“ eine interindividuell vergleichbare Sprechlage Gesprochenes Schriftdeutsch, die den Kernbestand regiolektaler Varianten enthält. Davon ausgehend wird der Regiolekt wie oben beschrieben bereits durch Dialektsprecher nicht nur als alltagssprachliche Varietät verwendet, sondern auch variativ nach unten ausgebaut. Dieser Ausbau wird dann durch Sprecher, die im Regiolekt sprachlich primärsozialisiert wurden, auch in Richtung Standardsprache fortgesetzt. Aus der subjektiven Perspektive der Sprecher erfolgt parallel zu dem Ausbau des vertikalen Spektrums eine Restrukturierung: Das Gesprochene Schriftdeutsch der älteren Basisdialektsprecher, das diese als „Hochdeutsch“ bezeichnen, wird durch das Vorhandensein standardnäherer Sprechlagen als „Hochdeutsch mit Streifen“, „schlechteres Hochdeutsch“ oder „Umgangssprache“ neu bewertet. Daneben gibt es dann auch ein „besseres Hochdeutsch“ und das „reine Hochdeutsch“, das in Wittlich auch als „Hochdeutsch der Norddeutschen“ bezeichnet wird (vgl. etwa Lenz 2003: 327−348). Aber auch in den untersuchten Regionen selbst finden sich Sprecher, deren Sprachverwendung im
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 5.6: Dialekt und Regiolekt im Mittelfränkischen und Hochalemannischen (vgl. Lenz 2003; Kehrein 2012a)
Interview in Perzeptionsexperimenten als „fast reines Hochdeutsch“ wahrgenommen wird (vgl. Kehrein 2012a: 188−191). Im Zuge des subjektiven Restrukturierungsprozesses verändert sich auch das Konzept „Dialekt“: Junge Sprecher verwenden Merkmale des ehemals „besten Hochdeutsch“, um bei der Dialektkompetenzerhebung möglichst standardabweichende Merkmale zu produzieren. Als Beispiel kann hier die Realisierung von /r/ vor alveolarem Plosiv und alveolarer Affrikate als Frikativ [x] in Wittlich genannt werden (vgl. Kehrein 2012a: 98). Wie Katerbow (2013) in seiner Untersuchung zum variativen Spracherwerb bei 16 Wittlicher Kindern im Alter von 3;9 bis 10;2 Jahren zeigen kann, setzt sich die beschriebene Entwicklung weiter fort: Lediglich noch eines von sieben Kindern, für die Aufnahmen in zwei Zeitschnitten angefertigt wurden, erwirbt „neben einer standardnahen Sprechlage des Regiolekts auch die dialektale Varietät der Wittlicher Region“ (Katerbow 2013: 499). Die meisten Kinder aus dem Sample „erwerben eine sehr standardnahe Sprechlage, die nur noch durch wenige regionalsprachliche Varianten gekennzeichnet ist“ (Katerbow 2013: 499).
3.2.2. Nördliches Zentralhessisch Auch im nördlichen Zentralhessisch lässt sich eine Struktur des regionalsprachlichen Spektrums nachweisen, die zwei Varietäten enthält, die im kommunikativen Alltag variativ genutzt werden. Vorberger (2019) hat in dieser Region REDE-Aufnahmen aus dem eher ländlichen Ulrichstein und aus der Stadt Gießen analysiert. In Ulrichstein können die Sprecher aller Generationen als sprachlich relativ konservativ bezeichnet werden. Sie sind alle dialektkompetent und bleiben mit ihrem individuell besten Hochdeutsch relativ deutlich von der Standardsprache entfernt (Gesprochenes Schriftdeutsch). In den freien Gesprächen switchen die Sprecher, verwenden aber jeweils Sprechweisen, die von den beiden Kompetenzerhebungen abweichen. Das bedeutet, dass sie im Freundesgespräch
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
nicht ihren jeweils „tiefsten“ Dialekt und im Interview nicht ihr Gesprochenes Schriftdeutsch verwenden. Dies kann als Hinweis auf eine Sprechlagendifferenzierung gewertet werden. Ein weiterer Ausbau des Regiolekts ist (noch) nicht zu beobachten. Es könnte sich hier demnach um ein Ausbaustadium des regionalsprachlichen Spektrums handeln, das chronologisch vor dem im Mittelfränkischen und im Hochalemannischen in Deutschland liegt. Die Resultate für die Stadt Gießen unterscheiden sich insofern von den bisher als „Diaglossie“ behandelten Spektren, als kein Gespräch mehr im Dialekt aufgezeichnet werden konnte. Lediglich ein Sprecher im REDE-Korpus ist durch seine Dialektkompetenzerhebung noch als dialektkompetent ausgewiesen. Die anderen Sprecher geben an, den Dialekt nicht mehr erworben zu haben. Insgesamt werde der Dialekt in der Stadt nicht mehr verwendet. Alle aufgezeichneten freien Gespräche werden entsprechend im Regiolekt geführt. Dabei verwenden die Sprecher auch in diesem Ort eine Sprechweise, die nicht dem Gesprochenen Schriftdeutsch entspricht. Durch den jungen Gießener Sprecher ist schließlich noch ein leichter Ausbau des Regiolekts in Richtung Standardsprache belegt. Insgesamt könnte es sich bei dem regionalsprachlichen Spektrum in Gießen um ein Stadium der Entwicklung handeln, das chronologisch auf das im Mittelfränkischen und Hochalemannischen in Deutschland ermittelte Stadium folgt. Ähnlich wie in der Untersuchung der Wittlicher Kinder durch Katerbow (2013) deutet sich auch für Gießen ein Verlust der Varietät Dialekt durch Nicht-Weitergabe an die Folgegeneration an.
3.3. Regionalsprachliches Kontinuum Im Gegensatz zu den bisher behandelten Spektrumstypen, in denen zwei regionalsprachliche Varietäten klar voneinander abgegrenzt werden konnten, liegen auch Analysen vor, bei denen eine solche Abgrenzung nicht möglich war, obwohl der (alte) Dialekt noch belegt werden konnte. Es handelt sich dabei um den Ort Bamberg (Ostfränkisch) sowie um Orte des Rhein-Main-Gebiets (östliches Rheinfränkisch, südliches Zentralhessisch und rheinfränkisch-zentralhessisches Übergangsgebiet). Wie einleitend bereits ausgeführt, wird verschiedentlich auch für das Mittelbairische in Österreich ein StandardDialekt-Kontinuum angegeben, Analysen mit vergleichbaren Methoden liegen aber bislang nicht vor. Den genannten Regionen ist gemeinsam, dass ihre Dialekte − wie sie von Wenker erhoben wurden − dem Schriftdeutschen relativ ähnlich sind (vgl. Lameli 2013 und zum Rheinfränkischen auch Wiesinger 1983: 849). Auf der anderen Seite kann nachgewiesen werden, dass die standardnächsten Sprechlagen von Dialektsprechern (z. B. das Gesprochene Schriftdeutsch) vergleichsweise starke Differenzen zur Standardsprache aufweisen. Insgesamt liegt daher eine relativ geringe vertikale Ausdehnung der regionalsprachlichen Spektren vor.
3.3.1. Ostfränkisch (Bamberg) Anhand von REDE-Aufnahmen für den ostfränkischen Erhebungsort Bamberg liegt eine Analyse des vertikalen regionalsprachlichen Spektrums vor (vgl. Kehrein 2012a). Für die ostfränkischen Dialekte gilt, dass sie eine relativ starke strukturelle Ähnlichkeit mit der
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 5.7: Regionalsprachliches Kontinuum in Bamberg (Ostfränkisch, vgl. Kehrein 2012a)
Standardsprache aufweisen, vor allem im Bereich des Vokalismus. Dies zeigen auch jüngere Beschreibungen ostfränkischer Dialekte, wie die von Schunk (1999) für Würzburg und Schweinfurt oder die von Schnabel (2000) für Weingarts. Phonologisch weicht lediglich die Reihe mhd. ei, öü, ou mit einer dialektal monophthongischen Realisierung als [a̠(:)] strukturell von der Standardsprache ab. Eine vollständige Hebung von mhd. e, ö, o und auch mhd. ê, ö̂, ô zu /i(:)/, /y(:)/, /u(:)/ gibt bereits Batz (1912) dagegen lediglich für die „Gärtner-Mundart“ an, die zu seiner Zeit schon nicht mehr von anderen Bevölkerungsgruppen realisiert worden sei. Diese Hebung ist in jüngeren Aufnahmen entsprechend nicht mehr belegt. Alle weiteren strukturellen Unterschiede gehören anderen Systembereichen an. Insgesamt kann das vertikale regionalsprachliche Spektrum für Bamberg wie in Abb. 5.7 modelliert werden. Es handelt sich im diatopischen Vergleich um das Spektrum mit der geringsten vertikalen Ausdehnung, in dem noch der alte Ortsdialekt enthalten ist. Das Spektrum besteht aus einem relativ standardnahen Dialekt und einem Regiolekt, dessen standardnächste Sprechlagen vergleichsweise standardfern sind. Eine klare Varietätengrenze konnte nicht ermittelt werden (vgl. Kehrein 2012a: 243−247). Es lohnt in diesem Zusammenhang ein Blick auf die intergenerationellen Unterschiede im variativen Sprachverhalten. Diese werden hier mit den für die einzelnen REDE-Aufnahmesituationen ermittelten Dialektalitätswerten (D-Werte) präsentiert (vgl. Abb. 5.8). Der Sprecher der alten Generation repräsentiert einen dialektkompetenten Sprecher (dies zeigen Vergleiche mit einer Bamberger Aufnahme aus dem Sprachatlas von Nordostbayern [SNOB]), der seinen Dialekt in allen Aufnahmesituationen verwendet und sich lediglich im Interview ganz leicht durch Variabilisierung in der Verwendung einzelner Dialektmerkmale der Standardsprache annähert. Daneben kann er die Schriftsprache, wenn er muss, mündlich umsetzen, tut dies in der Regel aber nicht. Das bedeutet, er verwendet das Gesprochene Schriftdeutsch im kommunikativen Alltag nicht. Das Gesprochene Schriftdeutsch ist bei ihm prinzipiell durch alle dialektalen Merkmale charakterisiert. Lediglich die Variablen „monophthongische Realisierung von mhd. ei, öü, ou“ und „n-Apokope“ realisiert er in dieser Situation mit den standardkonformen Varianten. Auf der anderen Seite steht ein Sprecher der jungen Generation, dessen sprachlicher Alltag überwiegend in dieser Sprechlage, die dem Regionalakzent zu entsprechen scheint, stattfindet. Er kann darüber hinaus bei der Dialektkompetenzerhebung das eine oder andere Merkmal produzieren und entfernt sich dadurch ein wenig mehr von der
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
Abb. 5.8: Dialektalitätswerte der Bamberger Sprecher in den verschiedenen Aufnahmesituationen
Standardsprache. Dialektale Hyperformen bildet er nicht. Zwischen diesen beiden Sprechern finden wir mit BA1 einen Repräsentanten der mittleren Generation, der in der Dialektabfrage den alten Dialekt noch produzieren kann. Auch er ist bei der Aufgabe, sein „bestes Hochdeutsch“ zu produzieren, in der Lage, wie BAALT1 „hart“ umzuschalten und das Gesprochene Schriftdeutsch Bambergs zu verwenden. Dazwischen nähert er sich in den Situationen freier Kommunikation schrittweise der Standardsprache an, ohne allerdings das Gesprochene Schriftdeutsch zu erreichen. BA3 dagegen kann als nicht mehr dialektkompetent bezeichnet werden und dies ist auch aus seiner Sprachbiographie ableitbar, auch wenn er selbst angibt, im Alltag häufig „Dialekt“ zu sprechen. Sein individuell „bester Dialekt“ stimmt mit der Sprechweise überein, die BAALT1 im Interview und BA1 im Freundesgespräch zeigen. Sie enthält alle dialektalen Varianten, sie werden allerdings nicht konsequent verwendet, sondern werden im Wechsel mit den standardsprachlichen Varianten gebraucht. Dies setzt sich in seinen freien Gesprächen fort. In Bamberg finden wir also drei Sprechertypen: einen diglossischen Sprecher (BAALT1), einen dialektkompetenten Shifter (BA1) und zwei nicht dialektkompetente Shifter (BA3 und BAJUNG2). Das vertikale regionalsprachliche Kontinuum zwischen dem tiefsten Dialekt und dem Gesprochenen Schriftdeutsch, das sich aus den Aufnahmesituationen aller Bamberger Informanten ergibt, ist ausschließlich durch zunehmende Variabilisierung des Gebrauchs der dialektalen Varianten und ihren standardsprachlichen Pendants charakterisiert (vgl. auch Kehrein 2012a: 241−243). Im Unterschied zu anderen Regionen werden keine dialektalen Merkmale vollständig durch ihre standardsprachlichen Pendants ersetzt, ein Prozess, der eine Varietätengrenze zwischen Dialekt und Regiolekt konstituieren könnte. Ein solcher Wegfall einzelner Dialektmerkmale erfolgt erst bei
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maximaler Standardorientierung in der Standardkompetenzerhebung. Darüber hinaus werden auch keine dialektalen Hyperformen gebildet, die ihrerseits auf eine solche Varietätengrenze als Kompetenzgrenze hindeuten würden.
3.3.2. Rhein-Main-Gebiet (östliches Rheinfränkisch, südliches Zentralhessisch und rheinfränkisch-zentralhessisches Übergangsgebiet) Die Ergebnisse, die Vorberger (2019) anhand von REDE-Aufnahmen für Erbach im Odenwald erzielen konnte, ähneln denen, die für Bamberg beschrieben wurden. In Reinheim, das wie Erbach im östlichen Rheinfränkisch liegt, ist die Entwicklung des regionalsprachlichen Kontinuums insofern fortgeschritten, als es hier ausschließlich noch die Sprechertypen dialektkompetenter und nicht dialektkompetenter Shifter, aber keinen diglossischen Sprecher mehr gibt. Im Gesprochenen Schriftdeutsch der dialektkompetenten Sprecher, das auch hier klar als standardnächste Sprechlage des Regiolekts erkennbar ist, werden fünf Dialektmerkmale vollständig abgebaut. In allen anderen Aufnahmen, die sich zwischen den beiden Polen des Kontinuums einordnen, nimmt die relative Häufigkeit aller regionalsprachlichen Varianten allmählich ab. Durch Sprecher der jüngeren Generation, die nicht mehr dialektkompetent sind, wird das Kontinuum leicht in Richtung Standardsprache ausgebaut. Für das rheinfränkisch-zentralhessische Übergangsgebiet zeigt Steiner (1994) in ihrer Untersuchung mit Mainzer Postbediensteten ebenfalls die Ausbildung eines regionalsprachlichen Kontinuums. Das variative Sprachverhalten ihrer Informanten gleicht dem der dialektkompetenten Shifter, die von Vorberger (2019) herausgearbeitet werden konnten. Auch sie nähern sich im Vergleich der Aufnahmen der Dialektkompetenzerhebung, des Kollegengesprächs (als Äquivalent zum Freundesgespräch in neueren Studien) und des Interviews kontinuierlich der Sprechweise bei der Standardkompetenzerhebung an. Keiner der Postbediensteten erreicht aber nur annähernd sein jeweils „bestes Hochdeutsch“. Die regionalsprachlichen Spektren in den beiden Orten des südlichen Zentralhessisch, die Vorberger (2019) untersucht hat, bilden einen Sonderfall des Spektrumsausbaus: Sie ähneln als regionalsprachliche Kontinua mit Dialektresten grundsätzlich dem Spektrum für das rheinfränkische Reinheim. Dies ist insofern beachtlich, als die zentralhessischen Dialekte, wie in Kap. 3.2. zu sehen war, die Herausbildung eines ausgebauten Spektrums aus Dialekt und Regiolekt nahelegen. Die Entwicklung eines regionalsprachlichen Kontinuums ist in den Orten Büdingen und Bad Nauheim dadurch möglich gewesen, dass einerseits zentralhessische Dialektmerkmale abgebaut wurden, andererseits durch den Einfluss Frankfurts, das bereits früh zum Rheinfränkischen übergegangen ist, regiolektale Varianten aus dem Rhein-Main-Gebiet übernommen wurden (horizontale sprachdynamische Prozesse). Dies führt sogar so weit, dass diese rheinfränkischen Regiolektmerkmale in der Dialektkompetenzerhebung der dialektkompetenten Sprecher aus Büdingen und Bad Nauheim verwendet werden. Diese Merkmale erweisen sich allerdings als nicht besonders stabil, denn sie werden von der jüngeren Generation weitgehend nicht übernommen, sondern höchstens als „Dialektmarker“ bei der Dialektkompetenzerhebung verwendet (dazu gehören vor allem die s-Sonorisierung und die Koronalisierung). Daher findet vor allem durch die jüngere Generation ein deutlicher Ausbau des regionalsprachlichen Spektrums in Richtung Standardsprache statt (vgl. etwa Vorberger 2019: 292–293).
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
Auch in den Orten des Rhein-Main-Gebiets sind also vertikale Spektren nachweisbar, für die sich keine klare interne Strukturierung nachweisen lässt. Allein zwischen dem alten Dialekt und dem Gesprochenen Schriftdeutsch der Dialektsprecher sind kategorische Unterschiede feststellbar, indem wenige dialektale Varianten vollständig durch ihre standardsprachlichen Pendants ersetzt werden. Entsprechend sind der alte Basisdialekt, soweit er noch erhoben werden kann, und das Gesprochene Schriftdeutsch die einzigen Sprechlagen, die sich durch das Vorhandensein bestimmter Dialektvarianten einerseits und ihr vollständiges Fehlen andererseits relativ klar voneinander abgrenzen lassen. Diese klare Abgrenzung zwischen „bestem Dialekt“ und „bestem Hochdeutsch“ besteht auch in der Konzeptualisierung des regionalsprachlichen Spektrums durch die Sprecher. Zwischen den Polen des Spektrums erfolgt dagegen lediglich ein sukzessiver Rückgang der Frequenzen dialektaler Varianten. Bei den Dialektmerkmalen, die im „besten Hochdeutsch“ vollständig fehlen, ist zwar intersituativ eine deutlichere Abnahme der Verwendungshäufigkeit zu beobachten (Variabilisierung). Aus den ermittelten Variantenprofilen der einzelnen Aufnahmesituationen können aber − im Unterschied zu den in Kap. 3.2. beschriebenen Spektren − keine Grenze zwischen Dialekt und Regiolekt oder weitere Sprechlagengrenzen abgeleitet werden (vgl. Vorberger 2019). Insgesamt liegen somit regionalsprachliche Kontinua vor, in denen sich die Sprecher je nach den Erfordernissen der Kommunikationssituation mehr oder weniger stark der Standardsprache bzw. ihrem „besten Hochdeutsch“ annähern.
3.4. Regionalsprachliche Spektren ohne Dialekt An mehreren Orten verschiedener Regionen konnten in rezenten Studien keine dialektkompetenten Sprecher mehr erhoben werden. Die Dialekte spielen dort im kommunikativen Alltag keine Rolle mehr. Es zeichnen sich zwei Prozesse ab, die zu diesem Dialektschwund geführt haben: Zum einen kann der alte Dialekt vollständig abgebaut worden sein, indem in den Regionen mit regionalsprachlichen Kontinua einzelne Merkmale des jeweiligen alten Dialekts sukzessive bei der sprachlichen Primärsozialisation nicht mehr erworben wurden bzw. nur noch auf einzelne Lexeme beschränkt auftreten. Dieser Prozess konnte empirisch bisher für das Ostmitteldeutsche und für die Stadtsprache Frankfurts im rheinfränkisch-zentralhessischen Übergangsgebiet nachgewiesen werden. Zum anderen kann der klar abgrenzbare Dialekt insgesamt als Varietät nicht an die Folgegeneration weitergegeben worden sein. Ein solcher Dialektverlust durch Nicht-Weitergabe ist in verschiedenen Regionen des Niederdeutschen zu beobachten.
3.4.1. Ostmitteldeutsch und rheinfränkisch-zentralhessisches Übergangsgebiet Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird immer wieder angegeben, dass in weiten Teilen der ehemaligen DDR keine Dialekte mehr anzutreffen sind. Schönfeld konstatiert 1983 in einer Überblicksdarstellung: „Ein lebendiges überfamiliäres Verständigungsmittel größerer Bevölkerungsgruppen − teilweise auch für die jüngere Generation − ist die Mundart nur noch in den Randgebieten der DDR, vor allem in Mecklenburg, in Westthüringen, im Raum des Thüringer Waldes, in Bereichen des Vogtlandes und des Westerzgebirges“
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(Schönfeld 1983: 441). Deutlich drastischer formuliert Fleischer (1961) seine Beobachtungen im Rahmen von Datenerhebungen, die in den 1950er Jahren im Raum Dresden durchgeführt wurden: Ich habe auch unter den älteren Bauern der Dörfer keinen Sprecher gefunden, der in sicherem eigenem Sprachbewußtsein Mda.-Merkmale betont hätte, wenn sie nicht der US [= Umgangssprache] oder der Hochsprache angehörten. Es handelt sich also nicht um eine mehr oder weniger starke Infiltration der Mda. mit schriftsprachlichem Gut, wie sie heute keiner Mda. erspart bleibt, sondern um die Auflösung des mda. Sprachbewußtseins. (Fleischer 1961: 154)
Funktional an die Stelle der Dialekte ist damals schon − vor allem für Sprecher, die nicht der ältesten Generation angehören − die „Umgangssprache“ getreten. Zu ähnlichen Erkenntnissen gelangen auch von Polenz (1954) zu Altenburg, Grosse (1955) und Protze (1957) zur Meißnischen Sprachlandschaft sowie Spangenberg (1969, 1970) für den Westen und den Osten Thüringens (im Gegensatz zum ostfränkischen Süden des Bundeslandes; vgl. auch die Übersicht in Schönfeld & Pape 1981). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass bei den Aufnahmen, die seit 2008 für aktuelle Untersuchungen angefertigt wurden, praktisch keine dialektkompetenten Sprecher aufgezeichnet werden konnten. Unter den von Rocholl (2015) für ausgewählte thüringische und obersächsische REDE-Orte ausgewerteten Sprechern findet sich lediglich je ein Sprecher aus dem Ort Reichenbach im Vogtland (mittlere Generation) sowie aus dem Ort Sondershausen (ältere Generation), die über eine dialektale Restkompetenz verfügen. Beide Sprecher können Merkmale des alten Dialekts bei der Dialektkompetenzerhebung bewusst einsetzen, verwenden sie aber nicht einmal in dieser Aufnahmesituation konsequent, sondern − wie auch im dialektalen Freundesgespräch − variierend, was auf das ehemalige Vorhandensein eines regionalsprachlichen Kontinuums mit Dialekt hindeutet. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen Schaufuß & Siebenhaar (2012) sowie Schaufuß (2015) für insgesamt sieben Orte im Obersächsischen: Sprecher zeigten „keine systematischen Dialektübersetzungen“ (Schaufuß 2015: 375) bzw. hätten „kein Bewusstsein für die dialektalen Formen […] oder [… können] dieses nicht gezielt aktivieren“ (Schaufuß & Siebenhaar 2012: 100). Die betreffenden dialektalen Formen sind am ehesten noch in freien Gesprächen zu beobachten und treten in der Regel nur noch bei einzelnen Lexemen auf, wie z. B. die monophthongische Realisierung von mhd. ei und mhd. ou in kein-, klein-, ich weiß und auch (vgl. Kehrein 2012a; Schaufuß & Siebenhaar 2012; Rocholl 2015). Aufgrund dieser Erkenntnisse lässt sich das vertikale regionalsprachliche Spektrum für das Ostmitteldeutsche auf Basis der derzeit vorliegenden vergleichbaren Forschungsergebnisse wie in Abb. 5.9 modellieren. Das regionalsprachliche Spektrum des Typs „Ostmitteldeutsch“ besteht aus einem vergleichsweise standardfernen Regiolekt, innerhalb dessen Sprecher gezielt standardfernere und standardnähere Sprechweisen verwenden können. Dies zeigt sich in Beiträgen von Schaufuß & Siebenhaar (2012), Rocholl (2015) und Schaufuß (2015). Darin konnte gezeigt werden, dass Sprecher aus Leipzig, Sondershausen, Reichenbach, Chemnitz, Rochlitz, Döbeln, Grimma und Oschatz in der Dialektabfrage und freien Gesprächen ein deutlich anderes Sprachverhalten zeigen (ohne den Dialekt zu erreichen) als bei der Standardkompetenzerhebung. Ein vergleichbares Sprachverhalten und daher der gleiche Spektrumstyp zeigt sich in Vorbergers Untersuchung zur Sprachvariation in Frankfurt (vgl. Vorberger 2019): Der Dialekt ist nicht mehr vorhanden, die Sprecher shiften situationsabhängig innerhalb des Regiolekts. Sie lassen sich somit als nicht dialektkompetente
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Abb. 5.9: Spektrumstyp „Ostmitteldeutsch“ bei weitgehend aufgelöstem Dialekt (vgl. Kehrein 2012a)
Shifter klassifizieren. Abgrenzbare Sprechlagen konnten in allen Studien bisher allerdings nicht nachgewiesen werden. In deutlich geringerem Umfang als in den bisher genannten Orten ist Sprachvariation bei den Sprechern aus Dresden (vgl. Kehrein 2012a; Rocholl 2015; Schaufuß 2015), Gera und Erfurt (vgl. Rocholl 2015) zu beobachten. Bei diesen Sprechern unterscheidet sich das Sprachverhalten in Situationen, in denen die Dialekt- und die Standardkompetenz erhoben werden, von den Situationen freier Sprachverwendung. Ausschließlich in den letzteren und wie bereits erwähnt auf einzelne Lexeme beschränkt werden alte dialektale Merkmale produziert. Dies führt zu der Interpretation, dass diese für die Sprecher keine Merkmale eines Dialekts darstellen, sondern sie mehr oder weniger gezielt als Informalitätsmarker eingesetzt werden. Entsprechend wurde für Dresden ein regionalsprachliches Spektrum angegeben, das aus lediglich einer Sprechlage besteht, und die Sprecher können als Regionalakzentsprecher oder mit Lenz (2003) als „Moveless“ bezeichnet werden (vgl. auch Kehrein 2012a). Dass der Spektrumstyp „Ostmitteldeutsch“ aus einem ehemaligen regionalsprachlichen Kontinuum hervorgegangen ist, zeigt sich daran, dass beide Spektrumstypen in der Region des Rhein-Main-Gebiets anzutreffen sind und dass einzelne Sprecher im Ostmitteldeutschen noch eine dialektale Restkompetenz aufweisen (s. o.). In beiden Regionen ist jeweils eine Varietätengrenze zwischen dem Regiolekt und der Standardsprache klar nachzuweisen. Der Regiolekt ist insgesamt als standardfern zu bezeichnen. Eine Grenze zwischen dem alten Dialekt und dem verbliebenen Regiolekt ist dagegen nicht eindeutig bestimmbar (sukzessiver Variantenabbau, keine dialektalen Hyperformen). Zudem sind in den Regiolekten der beiden Regionen zahlreiche übereinstimmende regionalsprachliche Merkmale enthalten (vgl. für das Ostmitteldeutsche Kehrein 2009, 2012a und 2012b; Purschke 2011 sowie Rocholl 2015 und für das Rhein-Main-Gebiet Vorberger 2019). Es handelt sich dabei um relativ viele Merkmale, die zudem in hoher Frequenz auftreten, sodass selbst die standardnächsten Sprechlagen des Regiolekts eine große Standarddifferenz aufweisen (vgl. Kehrein 2009; Rocholl 2015; Vorberger 2019). Die großregionale Verbreitung der Regiolekte macht es Sprechern schließlich unmöglich, andere Sprecher anhand von Sprachproben räumlich korrekt zu verorten. Dies zeigen Perzeptionsexperimente, die Purschke (2008) zu hessischen Regiolekten sowie Purschke (2011) und zuletzt Schaufuß (2015) zum Ostmitteldeutschen durchgeführt haben. Dass dies für den gesamten Regiolekt und nicht nur für die standardnächsten Sprechweisen gilt, zeigt die Untersuchung von Schaufuß, die resümiert: „Die Sprecher der vorliegenden
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Studie sind nicht in der Lage, regional gefärbte Aufnahmen zuzuordnen. Vielmehr ergeben sich zufällige Verteilungen. Die Annahme, dass dialektintendierte Aufnahmen besser verortet werden, lässt sich für die hier vorgestellten Daten nicht bestätigen“ (Schaufuß 2015: 375). Für das erweiterte Rhein-Main-Gebiet gelangt Purschke (2008) zu ähnlichen Ergebnissen.
3.4.2. Niederdeutscher Raum (bei geschwundenem Dialekt) In manchen Regionen Norddeutschlands können heute keine oder kaum noch dialektkompetente Sprecher angetroffen werden. Dazu gehören beispielsweise das westliche Münsterland, das (westliche) Ruhrgebiet (vgl. Salewski 1998; Menge 2004: 15; Elmentaler & Rosenberg 2015: 28), das Ostfälische oder auch Teile Brandenburgs (vgl. zusammenfassend Schröder 2004; Elmentaler & Rosenberg 2015 und Ehlers, Art. 18 in diesem Band). Für das selbst schon nicht mehr dialektale, sondern regiolektale Ruhrgebietsdeutsch hält Volmert (1997) auf Basis einer Untersuchung jüngerer Sprecher sogar Folgendes fest: „Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, Sprecher zu finden, die noch das alte RGD [= Ruhrgebietsdeutsch] (der 50er und 60er Jahre) sprechen. Ein solches merkmalsreiches RGD wird anscheinend nur noch von älteren Bevölkerungsgruppen bestimmter Sozialstraten gesprochen […]; offensichtlich wird es nicht mehr als dominierende (primäre) Varietät durch das häusliche Milieu vermittelt“ (Volmert 1997: 59). An die Stelle des alten Ruhrgebietsdeutsch tritt nach Volmert bei den Jugendlichen eine von diesem geprägte „Umgangssprache“, die „nicht als ‚Dialekt‘ bzw. als besondere regionale Varietät, schon gar nicht als Soziolekt oder als Gruppensprache eingestuft [wird]; sie ist für die Sprecher einfach ‚die normale Sprache‘ der alltäglichen Kommunikation (alle sprechen hier so)“ (Volmert 1997: 65). Die in Kap. 3.1. beschriebene Varietätenkonstellation im niederdeutschen Raum aus sehr standardfernem Dialekt und sehr standardnahem Regiolekt wird auch in den Regionen gegolten haben, in denen der Dialekt heute aus dem kommunikativen Alltag verschwunden ist. Untersuchungen des Gesamtspektrums anhand von Aufnahmen verschiedener Erhebungssituationen liegen bislang allerdings nicht vor (vgl. dazu auch Elmentaler & Rosenberg 2015). Salewski (1998) kommt anhand von interviewähnlichen Informationsgesprächen für ältere Bergleute im Ruhrgebiet zu dem Ergebnis, dass der ruhrdeutsche Regiolekt, sie bezeichnet diese Varietät als Substandard, diatopisch zwischen den Orten Dortmund-Dorstfeld einerseits und Duisburg-Neumühl und DuisburgHomberg andererseits variiert. Außerdem zeigt sie, dass ihre Informanten, obwohl sie hinsichtlich zahlreicher außersprachlicher Variablen streng vergleichbar sind, in der Variantenwahl in der berücksichtigten Gesprächssituation mitunter deutlich voneinander abweichen (vgl. Salewski 1998: 93−94). Eine Modellierung der Vertikale wird von Salewski nicht vorgenommen. Die Unterschiede im Sprachverhalten ihrer Informanten deuten aber eine mögliche Differenzierung von (zwei) Sprechlagen an. Lanwer (2015) beschäftigt sich mit der intrasituativen Variation in hochdeutschbasierten Tischgesprächen/Familiengesprächen des SiN-Projekts und kann hier anhand von Kookkurrenzanalysen herausarbeiten, dass bestimmte standardabweichende Varianten innerhalb von Äußerungseinheiten bevorzugt zusammen auftreten, sodass von einem implikativen Verhältnis gesprochen werden kann. Auf dieser Basis beschreibt er für drei Orte (Heiden
5. Areale Variation im Deutschen „vertikal“
im Westmünsterländischen, Kranenburg im Nordniederfränkischen und Gransee im Nordbrandenburgischen) innerhalb des Regiolekts, in dem die Gespräche geführt werden, verschiedene Variantenkonfigurationen, zwischen denen Sprecher im Gesprächsverlauf wechseln, und fasst diese als „gebrauchsbasierte Varietäten“ auf (vgl. Lanwer 2015: 72). Aus den Ergebnissen lässt sich hinsichtlich der Struktur der jeweiligen Regiolekte erkennen, dass es mehr als eine Sprechlage zu geben scheint, auch wenn sich diese mitunter nur in wenigen Merkmalen unterscheiden. Darüber hinaus beobachtet Lanwer in den Gesprächen im Nordbrandenburgischen Gransee Berliner Einfluss, der zu einem Ausbau des Regiolekts führt. Zur „Lage“ der Regiolekte und ihrer Sprechlagen relativ zur Standardsprache und zum (alten) Dialekt können keine Rückschlüsse gezogen werden. Neben dem in Kap. 3.1.2. behandelten „niederdeutschen Typ bei vorhandenem Dialekt“ findet sich im niederdeutschen Raum also noch ein zweiter Spektrumstyp, der nach dem Wegfall des ehemals standardfernen Dialekts einen standardnahen, aber grundsätzlich auch „nach unten“ ausbaubaren Regiolekt enthält. Dieser Spektrumstyp ließe sich folgendermaßen schematisieren:
Abb. 5.10: Spektrumstyp „Niederdeutsch“ bei geschwundenem Dialekt
Dass diese vergleichsweise standardnahen Regiolekte nicht durch eine Annäherung des Dialekts an die Standardsprache entstanden sind, zeigt die Beobachtung, dass sich im gesamten niederdeutschen Raum keine Spektren finden lassen, in denen eine solche Annäherung belegt ist. Dagegen wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Dialektverlust durch Nicht-Weitergabe des Dialekts an die nächste Generation auch in den Gebieten befürchtet wird, in denen Niederdeutsch heute noch eine (gewisse) Rolle im kommunikativen Alltag spielt.
4. Sprachdynamische Prozesse und ihre Determinanten zur Ausbildung und Weiterentwicklung der vertikalen Variationsspektren Die im vorangegangenen Kapitel referierten Forschungsergebnisse erlauben es, einige Antworten auf die eingangs formulierten theoretischen Forschungsfragen nach den am Spektrumsausbau beteiligten sprachdynamischen Prozessen und nach den Faktoren, die diese Prozesse beeinflussen, zu geben. Daraus lässt sich schließlich auch der (bisherige und zukünftige) Verlauf des Spektrumsausbaus rekonstruieren.
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Die historische Voraussetzung für die Sprachdynamik in der Vertikalen bildet die erwähnte Entwicklung der hochdeutschen Schriftsprache und ihre Verbreitung über das gesamte Sprachgebiet (vgl. dazu auch den Beitrag von Elmentaler & Voeste, Art. 3 in diesem Band), weil dadurch grundsätzlich zwei Varietäten für die Alltagskommunikation zur Verfügung standen. Daraus resultiert der grundlegende Einflussfaktor auf den Verlauf der aus dem Kontakt der Dialektsprecher mit der Schriftsprache entstehenden sprachdynamischen Prozesse: Das strukturelle Verhältnis der einzelnen Dialekte zu der überdachenden Schriftsprache. Dieser Faktor beeinflusst unmittelbar den historisch ersten und bis heute nachhaltigsten Prozess auf der vertikalen Dimension: den Erwerb der Schriftsprache und deren Aussprache durch Dialektsprecher in der Schule. Diese Art des Standardspracherwerbs wird von Informanten des REDE-Projekts, die sich somit als „konservativere Dialektsprecher“ bezeichnen lassen, bis in die mittlere Generation hinein berichtet. Das Ergebnis dieses Erwerbsprozesses ist eine in den jeweiligen Regionen interindividuell extrem vergleichbare Sprechweise. Diese ist nicht nur in rezenten Aufnahmen als Sprechlage Gesprochenes Schriftdeutsch zu beobachten (vgl. Kehrein 2008, 2010, 2012a, 2015; Ganswindt, Kehrein & Lameli 2015; bei „progressiveren“ Dialektsprechern, die seit frühester Kindheit auch Kontakt zum „Hochdeutschen“ hatten, wird diese Sprechlage nicht notwendigerweise in vergleichbarer Form ausgebildet). Das Gesprochene Schriftdeutsch lässt sich als weitgehend identische Sprechweise bereits für das späte 19. Jahrhundert empirisch nachweisen (vgl. Ganswindt 2017 und Art. 4 in diesem Band) und kann mit Schmidt (2010) als Varietät Landschaftliches Hochdeutsch bezeichnet werden. Sie bildet somit den Vorläufer des heutigen Regiolekts. Landschaftliches Hochdeutsch und Dialekt standen in den einzelnen Regionen zunächst einmal in einem diglossischen Verhältnis (vgl. auch König 2004: 175). Solche Diglossie zwischen Landschaftlichem Hochdeutsch bzw. Gesprochenem Schriftdeutsch und Dialekt war in allen Regionen der Ausgangspunkt für den weiteren Ausbau der vertikalen Spektren. Belege dafür liefern die Beobachtung, dass Diglossie in manchen Regionen bis heute bewahrt ist und dass in anderen Regionen in der Regel ältere Sprecher als diglossische Sprecher nachgewiesen werden können (vgl. Kehrein 2012a: 349−351). Ob von der Diglossie ausgehend ein weiterer Spektrumsausbau erfolgt, wird grundsätzlich von zwei Faktoren beeinflusst, und zwar zum einen von der kommunikativen Reichweite des Dialekts, zum anderen vom jeweiligen Prestige der „konkurrierenden“ Varietäten. Diese Aspekte können hier nicht ausführlich behandelt werden. Im Folgenden wird es um das „Wie“ des Spektrumsausbaus gehen. Dieses wird von dem oben genannten Faktor des strukturellen Verhältnisses der Dialekte zur Schriftsprache beeinflusst. Von diesem Verhältnis hängt direkt die Struktur des historischen Landschaftlichen Hochdeutsch bzw. des rezenten Gesprochenen Schriftdeutsch ab. Das Ergebnis des Schriftspracherwerbs durch Dialektsprecher kann in Form der standardnächsten Bereiche des Regiolekts direkt an den Spektrumsdarstellungen für die verschiedenen Regionen abgelesen werden. Im diatopischen Vergleich bestehen Unterschiede hinsichtlich der Standardnähe des Gesprochenen Schriftdeutsch. Die Standardnähe steht in einem systematischen, und zwar umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Schriftähnlichkeit der historischen Dialekte, wie sie von Lameli (2013: 234) quantifiziert wurde: Je größer die Entfernung des historischen Dialekts zur Schriftsprache ist, umso näher liegen das Gesprochene Schriftdeutsch und dadurch in der Regel auch die standardnächsten Sprechlagen des Regiolekts an der Standardsprache (vgl. vor allem Niederdeutsch, aber auch Mittelfränkisch, Hochalemannisch und nördliches Zentralhessisch). Umgekehrt gilt: Je
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ähnlicher Dialekte der Schriftsprache sind, umso standardferner sind in der Regel die standardnächsten Sprechlagen (vgl. Ostfränkisch, Ostmitteldeutsch und Mittelbairisch). Warum dies so ist, lässt sich auf Basis der Operationalisierung von Standardnähe/-ferne bzw. Schriftnähe/-ferne der Dialekte erklären. Was bedeutet also Standardnähe/-ferne bzw. Schriftnähe/-ferne? Wie in Kehrein (2012a, 2015) ausführlich dargestellt, ergibt der Vergleich von Dialekt und Gesprochenem Schriftdeutsch in allen untersuchten Regionen, dass bei maximaler Normorientierung bestimmte Dialektvarianten vollständig wegfallen, während andere systematisch erhalten bleiben (vgl. dazu auch Wecker-Kleiner 2009: 361). Diese beiden Variantentypen lassen sich folgendermaßen definieren: (1) Typ 1 (diskreter Unterschied): Varianten dieses Typs zeichnen sich dadurch aus, dass ihre standardsprachliche (mündliche) Realisierung über die Schreibung in der Standardsprache eindeutig aus der regionalsprachlichen Form abgeleitet werden kann. Es lassen sich jeweils Korrespondenzregeln formulieren. Lautliche dialektale Varianten sind beispielsweise in der Zielvarietät Standardsprache potenziell phonologisch relevant oder unbekannt. Im Verlauf des Standardspracherwerbs können die Varianten dieses Typs daher identifiziert werden. Eine Korrespondenzregel für den hochalemannischen Dialekt in Waldshut-Tiengen lautet als Instruktion zum Beispiel folgendermaßen: Sprich in Deinem „Hochdeutsch“ überall dort, wo dialektales [i, i:] als ‹ei, ai, ey, ay› geschrieben wird, [a̠ɪ̯ ].
Die in Kap. 3.1. beschriebene stabile Trennung von Dialekt und (standardnahem) Regiolekt baut zum überwiegenden Teil auf solchen diskreten Unterschieden (= Typ-1-Varianten) auf (vgl. dazu auch Christen et al. 2010: 222). (2) Typ 2 (tendenzielle Abweichung): Für die Varianten des zweiten Typs lassen sich keine Korrespondenzregeln formulieren, ein eindeutiger Bezug der regionalsprachlichen auf die standardsprachliche Variante über die Schrift ist nicht möglich. Lautliche Typ-2Varianten werden − wenn überhaupt − in der Regel als regional bedingte Merkmale wahrgenommen (vgl. Kehrein 2015 sowie auch Christen et al. 2010: 195), werden aber allophonisch verarbeitet: Verständigungsprobleme werden durch sie nicht verursacht. Schriftnähe/-ferne bzw. Standardnähe/-ferne lassen sich demnach als Verhältnis von diskreten Unterschieden (Typ-1-Varianten) und tendenziellen Abweichungen (Typ-2Varianten) im jeweils zugrunde liegenden Dialekt im Vergleich zur Standardsprache bestimmen. In den Dialekten des Niederdeutschen, des Moselfränkischen, des Hochalemannischen und des nördlichen Zentralhessischen finden sich entsprechend (relativ) viele diskrete Abweichungen, während in den Dialekten des Ostfränkischen und des Ostmitteldeutschen Varianten des Typs 2 überwiegen. Bei der Oralisierung des Schriftdeutschen können diskrete Abweichungen (Typ-1-Varianten) auch durch dialektale Typ-2-Varianten (tendenzielle Abweichung) ersetzt werden − als Generalisierung einer Dialektvariante (so z. B. im Mittelbairischen die Anwendung der dialektalen Variante /æe̯/ für mhd. î auf Vokale, die auf mhd. ei zurückgehen und die dialektal als /oa̯/ realisiert werden). Jüngere neurolinguistische Studien stützen die Annahme der unterschiedlichen Verarbeitung von konkurrierenden Varianten, die sich unterschiedlich ähnlich sind: In EKP-
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Studien wurde die neurologische Verarbeitung von Phonemkollisionen zweier benachbarter Dialekte untersucht. Im ersten Fall, die Opposition /o:/ : /ɔʊ̯/ für mhd. ô im rheinfränkischen Odenwald, handelt es sich um ein Verhältnis der konkurrierenden Varianten, das dem der oben beschriebenen Typ-2-Varianten (tendenzielle Abweichung) entspricht. Im zweiten Fall, die Opposition von bayerisch-schwäbischem /oa̯/ und mittelbairischem /ɔʊ̯/ für mhd. ô, handelt es sich dagegen um einen diskreten Unterschied, wie er auch bei Typ-1-Varianten zu beobachten ist. Für den Gegensatz /o:/ : /ɔʊ̯/ im Odenwald sind im EEG keine unterschiedlichen Verarbeitungssignaturen nachweisbar. Das bedeutet, dass die Experimentteilnehmer den fremden Diphthong als geeignete Variante für den dialektal korrekten Monophthong, also allophonisch verarbeiten. Im zweiten Fall (Opposition /oa̯/ : /ɔʊ̯/) dagegen sind unterschiedliche Verarbeitungssignaturen klar nachweisbar, die als Nicht-Erfüllung einer Erwartung (N200) und als (gescheiterter) Versuch der Herstellung sinnvoller Bedeutung (LPC) interpretiert werden können (vgl. Lanwermeyer et al. 2016; Lanwermeyer 2019 sowie Schmidt 2016). Übertragen auf den vertikalen Varietätenkontakt zwischen Dialekt und Standardsprache, lässt sich folgern, dass die Anzahl der in einem Dialekt vorhandenen diskreten Unterschiede (Typ-1-Varianten) direkten Einfluss auf den Verlauf des Standardspracherwerbs durch die Sprecher des betreffenden Dialekts hat: Bei einer niedrigen Zahl solcher diskreter Unterschiede kann die Zielvarietät Standardsprache als individuell „bestes Hochdeutsch“ fast vollständig mit den Einheiten des Dialekts realisiert werden, denn die tendenziellen Unterschiede verursachen keine Verständigungsprobleme. Beide Varietäten werden mit einem einzigen kognitiven Steuerungssystem verarbeitet. Bei einer hohen Zahl an Typ-1-Varianten dagegen sind die Sprecher wegen der Vielzahl an neu zu erlernenden Phonem-Lexem-Zuordnungen gezwungen, ein eigenes Steuerungssystem für die Realisierung der Zielvarietät Standardsprache auszubilden. Die beiden Varietäten werden also mit unterschiedlichen kognitiven Steuerungssystemen bewältigt, die Sprecher schalten je nach Kommunikationspartner um. Am deutlichsten ist dies bei den niederdeutschen Sprechern erkennbar: Hier liegen Dialekt und Landschaftliches Hochdeutsch / Gesprochenes Schriftdeutsch extrem weit auseinander, wobei das Landschaftliche Hochdeutsch / Gesprochene Schriftdeutsch sehr standardnah ist. Entsprechend herrscht mitunter die Ansicht, dass die Sprecher des Niederdeutschen die Standardsprache „quasi als Fremdsprache“ (König 2004: 177) lernen mussten. Gleichzeitig wurde die Aussprache der Schrift wegen ihrer Nähe zur Schrift als vorbildlich angesehen (vgl. Mattheier 2003: 237) und spielte daher auch eine wichtige Rolle für frühe Aussprachenormierungen (vgl. Siebs 1898: 18−20). Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass die nachweisbaren Spektren in einem Zusammenhang stehen. Sie bilden, wie Schmidt (1998) dies bereits vermutet hat, unterschiedliche Stadien von Ausbauprozessen der Vertikale ab. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Ausbaustadien eines Prozesses, sondern es können (bisher) drei Typen von diachronen sprachdynamischen Prozessen abgeleitet werden. Ihr jeweiliger Verlauf hängt von der gerade charakterisierten Standardnähe/-ferne der jeweiligen Dialekte ab: (1) Niederdeutsch: Die alten Dialekte sind durch zahlreiche diskrete Unterschiede zur hochdeutschen Standardsprache charakterisiert, die sich dem oben genannten Variantentyp 1 zuordnen lassen. Dadurch enthält das vertikale Spektrum als zweite Varietät einen sehr standardnahen Regiolekt, der kaum Dialektvarianten enthält. Wegen dieser strukturellen Unterschiede findet praktisch keine gegenseitige Beeinflussung statt. Wandel im
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Spektrum erfolgt einerseits durch den Wegfall des Dialekts (in Folge der Nicht-Weitergabe an folgende Generationen) und andererseits gegebenenfalls durch einen Ausbau des Regiolekts (nach oben und/oder nach unten). Dabei können, wie Lanwer (2015) für Gransee im Nordbrandenburgischen gezeigt hat, auch sprachdynamische Prozesse auf der horizontalen Dimension stattfinden. Als aufeinanderfolgende Stadien des Ausbaus können im niederdeutschen Raum die Spektren für Alt Duvenstedt/Oldenburg/Stralsund und die (angenommenen) Spektren für Heiden/Kranenburg/Gransee angesetzt werden. Darauf deutet nicht zuletzt auch das variative Sprachverhalten der nicht dialektkompetenten Sprecher in den erstgenannten Orten hin. (2) Mittelfränkisch, (nördliches) Zentralhessisch, Hochalemannisch: In diesen drei Regionen weisen die alten Dialekte im diatopischen Vergleich einen „mittleren“ Abstand zur Standardsprache auf. Für Wittlich (vgl. Lenz 2003) und für Waldshut-Tiengen (vgl. Kehrein 2012a) konnte gezeigt werden, dass weit mehr als die Hälfte der untersuchten Dialektvarianten als Typ-1-Varianten klassifiziert werden können und diskrete Unterschiede zur Standardsprache bilden. Diese werden im Landschaftlichen Hochdeutsch / Gesprochenen Schriftdeutsch der Dialektsprecher praktisch vollständig durch die standardsprachlichen Pendants oder seltener durch regiolektale Varianten ersetzt. Insgesamt ist das Landschaftliche Hochdeutsch / Gesprochene Schriftdeutsch standardferner als im Niederdeutschen, aber standardnäher als in den Regionen, in denen ein regionalsprachliches Kontinuum belegt ist. Wenn man die nachgewiesenen Spektren als Stadien dieses Ausbaus sortiert, ergibt sich die folgende chronologische Reihenfolge: Ulrichstein > Waldshut-Tiengen/Wittlich > Gießen. Wie für Gießen (vgl. Vorberger 2019) und Wittlich (vgl. Katerbow 2013) gezeigt wurde und worauf auch einzelne Sprechertypen in Waldshut-Tiengen und Wittlich hindeuten, kann am Ende dieses Ausbauprozesses ebenfalls der Wegfall des Dialekts durch Nicht-Weitergabe an folgende Generationen stehen. (3) Östliches Rheinfränkisch, Ostfränkisch, Ostmitteldeutsch und Mittelbairisch in Deutschland: Zwischen den Dialekten dieser Regionen und der Standardsprache, vor allem der Schriftsprache (vgl. Lameli 2013) gibt es relativ viele strukturelle Gemeinsamkeiten, die vielfach lediglich phonetisch abweichend umgesetzt werden. Es handelt sich also um tendenzielle Unterschiede (= Varianten des Typs 2), die auch im Landschaftlichen Hochdeutsch / Gesprochenen Schriftdeutsch erhalten bleiben. Der relativen strukturellen Schriftnähe der Dialekte steht daher eine relative − zumindest phonetische − Standardferne des Landschaftlichen Hochdeutsch / Gesprochenen Schriftdeutsch gegenüber. Der von einer für einzelne Sprecher noch nachweisbaren (historischen) Diglossie ausgehende Spektrumswandel verläuft in Form einer kontinuierlichen Annäherung an die Standardsprache (durch Variabilisierung des Variantengebrauchs in einzelnen Gesprächssituationen). Dies wird dadurch begünstigt, dass es sich bei den Dialektvarianten um meist großräumig verbreitete Merkmale handelt und daher viele Gespräche des Alltags im („variabilisierten“) Dialekt stattfinden können. Wie Kehrein (2012a) für Dresden, Rocholl (2015) für weitere Orte im Ostmitteldeutschen und zuletzt Vorberger (2019) für Orte im östlichen Rheinfränkischen zeigen konnten, führt die Variabilisierung letztlich dazu, dass ehemals strukturelle Unterschiede nicht mehr bestehen, sondern höchstens noch lexemgebunden auftreten. Auch für den hier beschriebenen Entwicklungsstrang kann eine (chronologische) Reihung der Stadien vorgenommen werden: Mittelbairisch in Deutschland (Trostberg) > Ostfränkisch (Bamberg)/rheinfränkisch-zentralhessisches Übergangsgebiet (Mainz)/östliches Rheinfränkisch (Erbach) > östliches Rheinfränkisch
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(Reinheim) > rheinfränkisch-zentralhessisches Übergangsgebiet (Frankfurt)/Ostmitteldeutsch (Land) > Ostmitteldeutsch (Stadt).
5. Fazit Die Ausführungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass sprachliche Variation auf der vertikalen Dimension zwischen Standardsprache und Dialekt regelhaft erfolgt. Der Verlauf der sprachdynamischen Prozesse unterscheidet sich in den verschiedenen Dialektregionen des deutschen Sprachraums. Als wichtigster Einflussfaktor auf diese Prozesse hat sich das strukturelle Verhältnis der zugrunde liegenden Dialekte zur Standardsprache/ Schriftsprache erwiesen. Trotz aller daraus resultierender Unterschiede im Ausbau und in der Struktur der vertikalen Spektren sind zwei raumübergreifende Gemeinsamkeiten klar zu erkennen: (1) Die Entwicklung der regionalsprachlichen vertikalen Spektren scheint, sobald sprachdynamische Prozesse eingesetzt haben, die stabile Trennung von Dialekt und Regiolekt also aufgegeben wird, insgesamt langfristig Konstellationen anzustreben, in denen die beiden Varietäten mit einem einzigen, integrierten Steuerungssystem (vgl. Schmidt 2016) verarbeitet werden können: gewissermaßen vom Switching zum Shifting. Dies kann durch die Nicht-Weitergabe des Dialekts oder durch Dialektwandel erfolgen. Ehemals diskrete, z. B. phonologische Unterschiede zwischen Dialekt und Standardsprache werden diachron abgebaut, während Varianten des Typs 2 (= tendenzielle Unterschiede) erhalten bleiben oder sogar generalisiert werden. (2) Wenn man die sprachliche Kompetenz und das Sprachverhalten verschiedener Generationen vergleicht und im Sinne der apparent-time-Hypothese als Hinweise auf mögliche Sprachwandelprozesse interpretiert, verlaufen die vertikalen sprachdynamischen Prozesse in allen Regionen vor allem in eine Richtung, und zwar in Richtung Standardsprache. Es ist in keinem Fall zu beobachten, dass Sprecher einer Generation im Vergleich zu Sprechern älterer Generationen eine standardfernere Varietät oder Sprechlage beherrschen oder verwenden würden, bzw. umgekehrt, dass das „beste Hochdeutsch“ von älteren Sprechern standardnäher wäre als das von jüngeren Sprechern. Der Ausbau der regionalsprachlichen Spektren in Richtung Standardsprache erfolgt in der Regel durch (jüngere) Sprecher, die nicht mehr im Dialekt, sondern im Regiolekt sprachlich primärsozialisiert wurden. Ein Ausbau eines standardnahen Regiolekts „nach unten“ ist möglich, beschränkt sich aber in der Regel auf die Integration auffälliger, oft lexemgebundener Merkmale, die häufig sozialdeiktische Funktionen erfüllen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die vorliegenden Ergebnisse keine Evidenz für eine häufig behauptete Destandardisierungstendenz im Deutschen − im Sinne größerer Normtoleranz und zunehmender Normskepsis − liefern.
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Roland Kehrein, Marburg (Deutschland)
6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen
6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen 1. Gegenstandsbereich 2. Erscheinungsformen und areale Gültigkeit
3. Resümee 4. Literatur
1. Gegenstandsbereich Im vorliegenden Artikel werden Ergebnisse rezenter Forschungsprojekte zur arealen Variation im Standarddeutschen präsentiert. Das sind im Wesentlichen der Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards (AADG), das Variantenwörterbuch (VWB 2016) und die Variantengrammatik (VG). Alle drei Forschungsprojekte sind empirisch angelegt und gehen vom Konzept des „Gebrauchsstandards“ aus. Dabei werden bestimmte konzeptionell schriftliche bzw. formelle Bereiche des Sprachgebrauchs als standardsprachlich festgelegt. Die Zugehörigkeit sprachlicher Varianten zum Gebrauchsstandard wird danach bestimmt, ob diese Varianten in einem hinreichend häufigen Maße sowie in einer bestimmten Region oder überregional unmarkiert in diesen Gebrauchsbereichen vorkommen. Dabei ist nach dem Medium zu unterscheiden: Im Bereich der Aussprache kann als gesprochener Standard gelten, „was in einer größeren Region den Aussprachegewohnheiten der Gebildeten in formal hochstehenden Situationen entspricht oder was in der gleichen Sprechweise in hinreichender Häufigkeit ohne spezifische regionale Verteilung vorkommt“ (König 1997: 266). Im Bereich des Wortschatzes und der Grammatik wird entsprechend als geschriebener Standard angesehen, was in einer größeren Region oder überregional in hinreichender Häufigkeit in Texten konzeptioneller Schriftlichkeit vorkommt. Zur Ermittlung standardsprachlicher Formen wurden in den einzelnen Projekten einschlägige Gebrauchsbereiche festgelegt − in Abhängigkeit vom Medium der Sprachverwendung, dem Benutzerkreis und dem Formalitätsgrad der Situation. Beim AADG ist dies überwiegend die Vorleseaussprache von Oberstufenschüler/ inne/n. Der Variantengrammatik sowie dem VWB liegt der Sprachgebrauch vor allem der regionalen Presse zugrunde; hier gilt also, dass „der geschriebene Standard im Prinzip statistisch durch eine Auswertung umfangreicher Zeitungskorpora zu ermitteln ist“ (Eisenberg 2007: 217). Das VWB setzt darüber hinaus auch auf andere schriftsprachliche Quellen, wie Zeitschriften, Illustrierte, Magazine, Belletristik, Sachtexte und Sonstiges (Broschüren, Formulare, Kalender, Werbematerial u. a., s. das Quellenverzeichnis in VWB 2016: 859−895). Der Begriff des „Gebrauchsstandards“ ist also nicht auf (wie auch immer definierte) „überregionale“ Standardvarietäten beschränkt, sondern erfasst gerade auch regionale bzw. areale Standardvarietäten, „deren Reichweite vor allem traditionelle Dialektgliederungen umfasst, wobei aber auch administrative Einheiten wie Bundesländer wirksam sein können […]. Sie müssen als Bestandteile der deutschen Standardsprache betrachtet werden, weil sie von den Sprachteilnehmern auch in formellen und öffentlichen Situationen (z. B. im Schulunterricht) im regionalen Kontext als angemessen angesehen und verwendet werden“ (AADG Web, Konzept Gebrauchsstandard). Anders als in anderen Konzeptionen von Standardsprache ist im Konzept des Gebrauchsstandards demnach https://doi.org/10.1515/9783110261295-006
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II. Die Sprachräume des Deutschen
die schon bestehende Kodifizierung von Varianten kein notwendiges Kriterium für ihre Klassifikation als „standardsprachlich“. Vielmehr erlangen mit der Erfassung in den neuen Kodizes − Duden-Aussprachewörterbuch (das ab seiner 7. Auflage Ergebnisse aus dem AADG übernimmt), VWB und VG − auch solche Varianten standardsprachliche Geltung, die „zwar im aktiven Gebrauch weit verbreitet sind, aber oft in den überwiegend präskriptiv ausgerichteten Kodizes (insbesondere solchen zur Aussprache) entweder gar nicht aufgeführt oder als umgangssprachlich markiert“ waren bzw. sind (AADG Web, Konzept Gebrauchsstandard). Wichtig ist, dass damit auch eine Anknüpfung an das implizite Wissen der Sprachbenutzer in den jeweiligen Gebieten gegeben ist (Elspaß & Dürscheid 2017: 94 u. 102; angelehnt an Eisenberg 2007: 217 u. 226). Ein anderes Konzept von Standardsprache vertreten vor allem Schmidt & Herrgen (2011: 62). Wesentliche Bedingung für Standardsprachlichkeit ist nach deren Auffassung das Fehlen von „salienten“ (d. h. auffälligen) Regionalismen, wobei die Feststellung der Auffälligkeit durch die Sprachbenutzer getroffen wird. Das Konzept wurde allerdings bisher ausschließlich auf gesprochene Sprache und die Ebene der Aussprache angewendet. Die areale Variation im gegenwärtigen Standarddeutschen lässt sich auf drei Ebenen beschreiben. − Lautung: „Ohrenfällig“ unterscheidet sich die Aussprache nicht nur auf der Ebene der Nonstandardvarietäten, sondern auch auf der der standardnahen gesprochenen Varietäten in den verschiedenen Regionen des deutschen Sprachraums im Bereich der Lautung. Die Ausspracheunterschiede schlagen sich nur zu einem geringen Teil auch in der Schreibung nieder (apokopierte vs. nicht apokopierte Formen, z. B. Käs- vs. Käse-, sowie umgelautete vs. nicht umgelautete Formen, z. B. nutzen vs. nützen). − Wortschatz: In den geschriebenen Standardvarietäten sind am augenfälligsten die Unterschiede im Bereich der Lexik. Das Variantenwörterbuch umfasst ca. 7.300 „Primärartikel“ (VWB 2016: XVI), „die entweder nach ihrer gesamten Wortform oder nach ihrer Bedeutung nicht im ganzen deutschen Sprachgebiet gebräuchlich sind“ (VWB 2016: XX−XXI). − Grammatik: Standardsprachliche areale Variation in der Grammatik tritt in den deutschsprachigen Ländern vor allem im Bereich Wortbildung (inklusive Fugenelemente) auf, weniger stark ausgeprägt in den Bereichen Genuszuordnung und Pluralbildung der Substantive, Verbmorphologie, Wortstellung sowie Verwendung von verbalen Periphrasen. Die Variantengrammatik umfasst ca. 1.650 Einträge, von denen etwa 1.000 auf Varianten in der Wortbildung entfallen. In Kap. 2. kann nur eine Auswahl dieser Variation präsentiert werden. Einteilungskriterium ist dabei der geographische Raum. Zunächst werden Nord-Süd-Unterschiede aufgezeigt. Wenn angenommen werden kann, dass die Reichweite regionaler Gebrauchsstandards vor allem traditionellen Dialektgliederungen folgt (s. o.), dann müssen Nord-Süd-Unterschiede in den Dialekten (niederdeutsch vs. hochdeutsch bzw. niederdeutsch und mitteldeutsch vs. oberdeutsch) grundlegend für areale Unterschiede in den Gebrauchsstandards sein. Die weitere Untergliederung orientiert sich zum einen an West-Ost-Einteilungen der traditionellen Dialektgliederungen (westniederdeutsch vs. ostniederdeutsch, westmitteldeutsch vs. ostmitteldeutsch, westoberdeutsch vs. ostoberdeutsch), trägt zum anderen aber auch der Tatsache Rechnung, dass sich politische Grenzziehungen sprachraumbildend ausgewirkt haben, besonders im Wortschatz. Die Einteilung erfolgt also sowohl nach Staatsgrenzen wie auch nach Bundeslandgrenzen in Deutschland (D) und Österreich (A). Für die Schweiz (CH) wäre eine Einteilung nach Kantonen möglich; im Bereich der Standardsprache sind innerschweizerische Un-
6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen
terschiede allerdings nur auf Ausspracheebene vereinzelt relevant, in diesen Fällen wird darum grob in Nord-, West- und Ostschweiz differenziert. Die im vorliegenden Artikel dargestellten Forschungsergebnisse beruhen − falls nicht anders genannt − im Bereich der Aussprache auf Daten und Auswertungen des AADG, im Bereich des Wortschatzes auf denen des VWBs (gelegentlich mit Ergänzungen bzw. allfälligen Korrekturen, die sich aus der Auswertung der VG oder des Atlas zur deutschen Alltagssprache [AdA] ergeben) sowie im Bereich der Grammatik auf denen der VG, soweit sie bis zum Abschluss des Manuskripts vorlagen. In Kap. 2. werden die für die Regionen typischen Varianten genannt, d. h. es handelt sich i. d. R. um relative Varianten. Für bestimmte Regionen spezifische, also absolute Varianten, stellen den Ausnahmefall dar. Zur Kennzeichnung der arealen Variation nach Großregionen wird in Kap. 2. auf Regionskürzel zurückgegriffen, wie sie im VWB und nach diesem Muster auch in der VG verwendet werden: A (Österreich), A-west (v. a. Vorarlberg [Vbg.], Tirol), A-mitte (v. a. Oberösterreich, Salzburg), A-südost (Steiermark, Kärnten, Südburgenland), A-ost (Wien, Niederösterreich, Nordburgenland), BELG (Ostbelgien), CH (Schweiz), D (Deutschland), D-südwest (v. a. Baden-Württemberg [BW]), D-südost (v. a. Bayern), Dmittelwest (v. a. Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen, Saarland), D-mittelost (v. a. Thüringen, Sachsen), D-nordwest (Niedersachsen, Bremen, Hamburg, SchleswigHolstein), D-nordost (Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt), LIE (Liechtenstein), LUX (Luxemburg), STIR (Südtirol). In wenigen Fällen (z. B. D-mittelwest, D-südost und CH mit LIE, s. Kap. 2.2.2.2., 2.2.4.1., 2.2.5.3.) umfassen die so definierten Regionen große, regionalsprachlich (insbesondere dialektal) sehr heterogene Gebiete. Auf der Ebene der Standardsprache sind die relevanten Vorkommensareale von Varianten jedoch in der Regel so großräumig, dass etwaige Unschärfen, die sich aus der darstellungsökonomisch erforderlichen Einteilung in die o. g. Großregionen ergeben, in Kauf genommen werden können. Die Frequenzangaben zur Grammatik folgen den sprachlichen Konventionen in der VG: Ein „fast ausnahmsloser“ bzw. „ausnahmsloser“ Gebrauch einer Variante bedeutet, dass sie im der VG zugrundeliegenden Korpus in der betreffenden Region eine relative Häufigkeit von über 95 % aufweist. Entsprechend verweisen „mehrheitlich (verwendet)“ (51−95 %), „gebräuchlich“ (21−50 %) und „selten“ (5−20 %) auf unterschiedlich hohe Verwendungsraten.
2. Erscheinungsformen und areale Gültigkeit 2.1. Nord-Süd-Unterschiede Entlang der „Mainlinie“ lässt sich der deutsche Sprachraum in ein nördliches und ein südliches Gebiet unterteilen. Je nach Phänomen kann unter „Mainlinie“ zum einen die dialektgeographische Nordgrenze des oberdeutschen Raums verstanden werden, die ungefähr mit der Nordgrenze der deutschen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg zusammenfällt (hier: Mainlinie I), zum anderen die historisch-politische Grenze zwischen den Hegemonialbereichen Preußens auf der nördlichen und Bayerns und Österreichs auf der südlichen Seite, die größere Teile des mitteldeutschen Südens (v. a. die südlichen Regionen in Thüringen, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Hessen, Saarland, d. h. vor
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II. Die Sprachräume des Deutschen
allem die traditionellen Dialektgebiete Rheinfränkisch und Obersächsisch) noch zum Süden schlägt (hier: Mainlinie II). Lautung: (1) Im Süden sind die Lenisplosive /d, b, g/ sowie die Lenisfrikative /z, ʒ, dʒ/ im An- und Inlaut allgemein stimmlos, intervokalisch ist /v/ − ebenfalls häufig stimmlos (v. a. in D-mitte auch stimmhaft); vor allem /z/ im Anlaut ist [s] mit ausgeprägter Dauer und Intensität (wie englisch /s/). Im Inlaut in stimmhafter Umgebung fallen im Gebiet der binnendeutschen Konsonantenschwächung (südliche Mitte, nördlicher Süden) und in Teilen von A-südost Lenis- und Fortiskonsonanten durch Lenisierung der Fortes zusammen. Besonders häufig kommt die Nichtdifferenzierung zwischen /d/ und /t/ (leiden − leiten) sowie zwischen /z/ und /s/ (reisen − reißen) zum Tragen. Südlich davon (v. a. im Süden/Osten Bayerns, im größten Teil von A, in STIR und in CH) werden Lenis und Fortis auch bei den Frikativen primär durch Dauerunterschiede differenziert: = [s], = [z̥], = [f ], = [v̥] (ggf. mit Aspiration bei /t, p/; /k/ ist immer aspiriert oder affriziert). In D-süd breitet sich in städtischen Gebieten und vor allem im Süden von D-südwest die [z]-Artikulation aus. Für im An- und Inlaut einzelner Lehnwörter ist im Süden (in je wortspezifischer Verbreitung) die Aussprache [f] (neben [v] bzw. [ʋ]) üblich: November, Vitamin, Ventil usw., weitgehend nur in CH auch in Klavier, Vagabund, Vulkan. /v/ in Vize- ist nur in A, in Vers in A, LUX und BELG gebräuchlich. − (2) Im Süden wird der Schwa-Laut (entspricht in nicht betonter Silbe) in Präfixen und wortauslautend (gemacht, betagt, hatte, Seite) nicht als Zentralvokal, sondern als allenfalls schwach zentralisierter Vordervokal im Bereich [e] bis [ɛ] realisiert. Regionale Ausnahme ist der Westen/Norden von Baden-Württemberg (Badisch) und auch das Rheinfränkische in Bayern. Es handelt sich in vielen Regionen wohl um eine verallgemeinerte Buchstaben- bzw. Vorleseaussprache von , da die meisten oberdeutschen Dialekte Zentralvokale im Wortauslaut kennen. − (3) Im Süden (inklusive v. a. der westlichen Mitte) herrscht bei der Endung -ig im „Standardfall“ (Auslautposition) plosivische Aussprache [-ɪk, -ɪg̥] vor, so in schmutzig, billig, König (Ausnahmen vor allem im Südwesten). In Zahlwörtern (zwanzig) und häufigen Adjektiven/Adverbien (wichtig, richtig) ist auch in D-süd und in Teilen von A Frikativaussprache [-ɪç] am häufigsten. − (4) im Anlaut wird in Chemie, China im Süden als Plosiv [kʰ] realisiert (in Tirol und CH z. T. auch als Affrikate [kx]). In A, weitgehend nicht in D-süd, gilt diese Variante auch z. B. in Chirurg und Chitin. − (5) Im Norden ist der Glottalverschluss am Anfang eines betonten Vokals im wortinlautenden Hiat allgemein auch dann üblich, wenn − wie in Oase, Ruine, Theater − keine morphologische Grenze vorliegt. Nach Präfix wie in beachten, Beamter ist nur in CH auch gebundene Artikulation ohne Glottalverschluss gebräuchlich. − (6) Im Norden wird die Affrikate /pf/ im Stammanlaut weit verbreitet als Frikativ [f ] artikuliert: Pfeffer, verpflichten, Pfand. Im Anlaut bestimmter Lehnwörter wie Chips, Chile wird die Affrikate /tʃ/ als Frikativ /ʃ/ realisiert. Auch die Konsonantengruppe /sts/ in Szene wird zu [s] (seltener [ts]) vereinfacht. Umgekehrt wird im Norden der Frikativ /ʒ/ im Anlaut von bestimmten Fremdwörtern wie Jury, Journalist, Gelatine häufig als Affrikate [dʒ] realisiert. − (7) Im Norden ist, auch in formellen Kontexten, Synkope zwischen Nasalen in den unbetonten Endsilben -men, -mem, -nen, -nem allgemein üblich; der Schwa-Laut wird regelmäßig getilgt, als Reflex der Nebensilbe bleibt häufig ein gedehnter Nasal erhalten: zusammen [tsuˈzam̩], warmem [ˈvaʁm̩], Zitronen [tsiˈtʁo:n̩], einem [ae̯m̩]. − (8) Im Norden (verstärkt erst nördlich der Benrather Linie) ist die velare Verschlusslösung bei wortauslautendem (bevorzugt präpausalem) /ŋ/ wie in entlang [εntˈlaŋk], Ding [dɪŋk] besonders in der Endung -ung
6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen
(Ahnung [ˈa:nʊŋk], Ordnung [ˈɔʁdnʊŋk]) weit verbreitet. Die Erscheinung tritt auch in A-ost häufiger auf. − (9) Im Norden werden nasalierte Vokale in Wörtern französischen Ursprungs wie Restaurant, Pension, Chance, Balance, Ballon, Waggon mit oral artikuliertem Vokal + Velarnasal gesprochen: [ʁɛstoˈʁaŋ], [paŋˈzi̯ o:n], [ˈʃaŋs(ə)]. In D-ost ist diese Aussprache häufiger und konsequenter auch in formellen Kontexten zu finden als im Westen; in Wörtern wie Ballon, Waggon, Beton, Cousin ist diese Aussprache auch im Süden verbreitet. Wortschatz: Wie schon für den alltagssprachlichen Wortschatz festgestellt worden ist (vgl. Durrell 1989; Möller 2003; Pickl & Pröll 2019), stellt die Mainlinie die wichtigste Isoglosse zwischen den Verbreitungsgebieten nördlicher und südlicher Standardvarianten dar. Anschaulich lassen sich die Gegensätze auf Karten des Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) vor Augen führen, in denen sich auch standardsprachliche Varianten gegenüberstehen, d. h. solche, die vom VWB zum Gebrauchsstandard gerechnet werden. Dazu gehören (Brot-)Krümel ggü. Brösel/Brosamen, Reißnagel ggü. Reißzwecke/ Heftzwecke/Reißbrettstift, anfassen ggü. anlangen/-greifen, sich kloppen ggü. sich raufen/sich schlagen, die Grußformeln Guten Tag ggü. Grüß Gott (bzw. Grüezi) (Mainlinie I) sowie Junge ggü. Bub, Eszett ggü. scharfes S (für den Buchstaben ß), Semikolon ggü. Strichpunkt, Gardine ggü. Vorhang (Mainlinie II). Weiter nördlich − ungefähr entlang der Bad Honnefer Linie − verläuft die Isoglosse für das Variantenpaar Harke ggü. Rechen. Ehemals eindeutige Nord-Süd-Zuordnungen sind nicht mehr möglich bei Apfelsine ggü. Orange, Porree ggü. Lauch oder Modalpartikeln wie sowieso ggü. eh und eben ggü. halt, da die einst typisch bzw. spezifisch südlichen Varianten auch im Norden üblich geworden sind (Elspaß 2005: 14−20). Grammatik: (1) In der Syntax zeigt sich die Nord-Süd-Verteilung sehr deutlich in der Verwendung von Auxiliarverben bei Positionsverben (stehen, sitzen, liegen, hocken, kauern u. a.). Nördlich (bzw. nordwestlich) der Mainlinie I wird haben verwendet, südlich davon haben und sein (ist gestanden, gesessen, gelegen, gehockt, gekauert u. a.). In D-süd ist das Verhältnis zwischen sein und haben in etwa ausgeglichen; in CH, A und LIE wird mehrheitlich sein gebraucht. Nur liegen steht auch im Norden häufig mit sein. Periphrasen mit tun, vor allem im Konjunktiv II (sie täten begutachten), treten im Süden (v. a. in A, CH und STIR, aber auch in D-südost und D-südwest) häufiger auf als im Norden. Umgekehrt findet das bekommen-Passiv mit bekommen und kriegen häufiger im Norden als im Süden Verwendung. Auch der Gebrauch diskontinuierlicher Pronominaladverbien, die zunehmend in Kontexte der geschriebenen Standardsprache vordringen (Negele 2012: 241−244), zeigt ein klares areales Muster: Spaltungskonstruktionen (Da halte ich nichts von.) kommen tendenziell im Norden vor, Distanzverdoppelungen (Da halte ich nichts davon.) tendenziell im Süden (Negele 2012: 121−122). − (2) In der Substantivmorphologie gilt der -s-Plural für gewöhnlich als „umgangssprachliches“ Merkmal des Nordens (Jungens, Kumpels etc.). Standardsprachlich zeigt sich je nach Lexem aber ein differenzierteres Bild; bei Tunnel etwa ist der -s-Plural nur im Süden (und LUX) gebräuchlich. − (3) In der Verbmorphologie ist im Süden ein häufigerer Gebrauch starker Präteritalformen von Verben wie sich erschrecken, hauen (hieb-), weben als im Norden festzustellen. − (4) Bei der Genuszuordnung zu Substantiven zeigen sich vereinzelte Nord-Süd-Unterschiede. So ist der Anglizismus Ketchup im Norden mehrheitlich maskulin, im Süden fast ausschließlich neutral. Ansonsten hängen Genusunterschiede mit regulären Wortbildungsmustern oder (alten) phonologischen Mustern zusammen: Im Norden wird die morphologische Konversion von abzweigen, die das
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Maskulinum der Abzweig bedingt, häufiger (in D-nordost, D-mittelost fast ausschließlich) verwendet als die mit dem (Femininum zuweisenden) Suffix -ung abgeleitete Form die Abzweigung, die im Süden sowie in BELG und LUX fast ausnahmslos vorkommt. Zahlsubstantive für Schulnoten sind im Norden fast ausschließlich suffixlos und damit feminin (eine Eins, die Zwei etc.), im Süden dagegen auch (in D-süd, CH) bzw. ganz überwiegend (A) mit -er-Suffix gebildet und damit maskulin (der Einser, ein Zweier etc.). Im Norden (außer D-nordost) ist die Bankette (‘beidseitiger Randstreifen bei Fahrstraßen’) gebräuchlicher als die Form ohne -e, das Bankett, die im Süden fast durchgängig verwendet wird. Bei der Karren (im Süden deutlich häufiger als im Norden) ggü. die Karre bestand schon im Mittelhochdeutschen Variation zwischen den auf -en und auf -e ausgehenden Formen. − (5) In der Wortbildung fällt bei Komposita ein Gegensatz zwischen stärkerer -e-Fuge im Norden und Fugenlosigkeit im Süden auf, z. B. waagerecht (im Norden fast ausschließlich) ggü. waagrecht (im Süden [z. T. deutlich] mehrheitlich), Tagelohn, Tagelöhner (im Norden fast ausschließlich) ggü. Taglohn, Taglöhner (im Süden gebräuchlich, in CH mehrheitlich), Sonnenwende (im Norden mehrheitlich) ggü. Sonnwende (im Süden mehrheitlich); bei Mürbeteig (im Norden mehrheitlich) ggü. Mürbteig (im Süden mehrheitlich bis ausschließlich) besteht ein Zusammenhang mit dem Ausgang (im Norden stärker mit -e ggü. stärkerer Apokopierung im Süden) des als Bestimmungswort verwendeten Adjektivs (mürbe ggü. mürb, vgl. auch trübe ggü. trüb, feige ggü. feig). Vereinzelt zeigt sich ein stärkerer Gebrauch der -s-Fuge im Süden, z. B. anteilmäßig (im Norden − außer D-nordwest − mehrheitlich) ggü. anteilsmäßig/-mässig (im Süden mehrheitlich bis ausschließlich). Die im Süden festzustellende Tendenz zu einsilbigen Formen bei Bestimmungswörtern setzt sich fort bei Komposita mit Verbstämmen, denen im Norden substantivierte Formen als Determinantien gegenüberstehen, z. B. Wohnbau (im Süden − außer D-südost − mehrheitlich bis ausschließlich) ggü. Wohnungsbau und Grabarbeiten (in CH mehrheitlich, in D-süd, A-ost gebräuchlich, in A-west selten) ggü. Grabungsarbeiten (in D-nord und D-mitte fast ausschließlich).
2.2. Großregionale Besonderheiten 2.2.1. Besonderheiten in Deutschland-Nord Lautung: Rundungserscheinungen in der Umgebung labialer/labialisierter Konsonanten bei /ɪ/ sind vor allem im Zentralbereich von D-nord und -(nord)ost belegt: Tisch [tʏʃ], Kirche [ˈkʏɐ̯çə]. Wortschatz: Als Besonderheiten in D-nord gelten Lexeme wie etwa Maräne (ggü. Felche, Renke[n] u. a.), Schmacht (nach Essen, Zigaretten etc.), Mürbebraten (ggü. Lungen-/Lendenbraten), fegen (ggü. wischen [CH]/kehren), Feudel (ggü. Putzlumpen u. a.), feudeln (ggü. wischen u. a.), Plätteisen (ggü. Glätt-/Bügeleisen), Reet (ggü. Ried), betütert (ggü. beschwipst u. a.), plietsch (ggü. gefinkelt/gefitzt u. a.), schnacken/klönen (ggü. [t]ratschen/schwatzen u. a.) oder einlaufen (ggü. eingehen [Wäsche]). Grammatik: Zu den insgesamt seltenen norddeutschen Besonderheiten gehört − im Bereich der Wortbildung − die Variation bei Verbpräfixen und Verbpartikeln bzw. davon abgeleiteten Verbalabstrakta, z. B. anspitzen (ggü. spitzen), dazu: Anspitzer (ggü. Spitzer). Die Formen mit an- werden fast ausschließlich in D-nord verwendet; die entsprechende Isoglosse im AdA verläuft erstaunlich scharf entlang der Benrather Linie.
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2.2.1.1. Deutschland-Nordost Lautung: In D-nordost wird die Endung häufig als offenes, nur schwach zentralisiertes [ε] bzw. leicht diphthongisches [εɐ̯] realisiert: Mutter [ˈmʊtε, -tεɐ̯]. Ähnliche Aussprachevarianten sind allerdings auch in D-mitte/D-süd auf rhein- und ostfränkischem Dialektsubstrat zu finden. Wortschatz: Zu den lexikalischen Besonderheiten in D-nordost zählen die Aufwartung (ggü. Zugehfrau/Putzfrau u. a.), Pantinen (ggü. Clogs/Zoccoli/Klotschen u. a.), Spätkauf (ggü. Trinkhalle/Büdchen), Herrentag (ggü. Vater-/Männertag) sowie Wörter, die aus dem Niederdeutschen entlehnt sind, wie Molle (ggü. Glas Bier) oder Wruke (ggü. Steckrübe/Bodenkohlrabi u. a.).
2.2.1.2. Deutschland-Nordwest Lautung: Vor allem in D-nordwest werden die Fortisplosive /p, t, k/ vor Nasalen [m, n, ŋ] (bes. häufig vor silbischen Nasalen in den diversen -Flexiven/-Endungen wie in hupen, alten, Rücken) weit verbreitet als Glottalplosiv artikuliert bzw. der Plosiv wird glottal gelöst: [ˈhu:ʔm̩], [ˈʔalʔn̩], [ˈʁʏʔŋ̩]. Wortschatz: Kennwort von D-nordwest ist die aus den niederdeutschen Dialekten bzw. aus dem Friesischen übernommene Grußformel Moin (moin) ‘schönen [Tag]’ (ggü. Guten Tag/Grüß Gott u. a.), die auch in geschriebenen standardsprachlichen Kontexten verwendet wird. Weitere lexikalische Merkmale sind Tick(en) (ggü. Fangen[spiel]), Kantstein (ggü. Bordstein u. a.), Knust (ggü. Kanten/Scherzel u. a.) oder Stutenkerl (ggü. Weck[en]mann, Krampus u. a.). Die Verbreitung einiger dieser Wörter reicht bis in die dialektal niederdeutschen Gebiete in D-mittelwest (Westfalen, Nordhessen) hinein.
2.2.2. Besonderheiten in Deutschland-Mitte Lautung: In den Anlautclustern ist vor allem im südlichen D-mitte (daneben seltener auch in D-südwest, teils auch in A-ost) Fortisierung des anlautenden Plosivs weit verbreitet: glatt [klat], Blume [ˈplu:mə]. Zusammen mit der gegenläufigen Tendenz der Lenisierung im Inlaut kann daraus der Zusammenfall von z. B. gleiten und kleiden in [ˈklaɪ̯ dn̩] entstehen. Im Konsonantismus sind Lenisierungen von inlautenden Fortiskonsonanten (bevorzugt in stimmhafter Umgebung) ein typisches Merkmal des gesamten Südens von D-mitte: Zettel [ˈtsεdl̩ ], Suppe [ˈsʊbə], Rücken [ˈʁʏgŋ̩]. Die Erscheinung setzt sich in nördlichen Teilen von D-süd (Franken, nördliches Baden, nördliches Schwaben) fort (Reflex der binnenhochdeutschen Konsonantenschwächung). Im Wortschatz und in der Grammatik finden sich keine Besonderheiten, die für D-mitte übergreifend Gültigkeit besäßen.
2.2.2.1. Deutschland-Mittelost Lautung: Der in Sachsen und im östlichen Thüringen gesprochene Gebrauchsstandard zeichnet sich im Vokalismus durch eine mehr oder weniger umfangreiche Zentralisierung
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und tendenzielle Entrundung gerundeter Vokale aus; langes /e:/ tendiert zur Öffnung Richtung [e̞:]. Die /a/-Laute befinden sich häufig im [ɑ, ɒ]-Bereich. Wortschatz: Lexikalische Besonderheiten betreffen vor allem Gegenstände und Sachverhalte des Alltags: Aufwasch (ggü. Abwasch), aufwaschen (ggü. aufwischen u. a.), Esse (ggü. Kamin/Schornstein u. a.), Essenkehrer (ggü. Schornsteinfeger/Rauchfangkehrer u. a.), (Back-)Röhre (ggü. [Back-]Rohr/Ofen u. a.), (Brat-/Fleisch-)Klops oder (eher thüringisch:) Kloß (ggü. Bulette/Fleischküchle u. a.), Plinse (ggü. Eierkuchen/Pfann[e]kuchen u. a. − nur in Sachsen und in der Lausitz), Haschen (ggü. Fangen[spiel]), Männertag (ggü. Vater-/Herrentag).
2.2.2.2. Deutschland-Mittelwest, Ostbelgien und Luxemburg Lautung: Im moselfränkischen/ripuarischen Raum wird /r/ vor /t/, /ts/ nach den tiefen/ hinteren Kurzvokalen /a̠, ɔ, ʊ/ (hart, Sport, kurz) traditionell als stimmloser, uvularer Frikativ [χ] ausgesprochen: [haχt, ʃpɔχt, kʊχts]. In der mittleren/älteren Generation weit verbreitet, ist diese Erscheinung in der jüngeren Generation stark rückläufig und nur noch im ländlichen Raum oder außerhalb von D-mittelwest in LUX und BELG häufiger zu finden. Wortschatz: D-mittelwest kann lexikalisch kaum als homogener Sprachraum aufgefasst werden (vgl. schon Möller 2003: Kt. 13); lexikalische Besonderheiten im Standard lassen sich überwiegend nur für Teilregionen beschreiben. Mit BELG ergeben sich dabei mehr Gemeinsamkeiten als mit LUX. Weit verbreitet in D-mittelwest sind Wörter wie Kirmes (ggü. Kirchweih/Rummel u. a.; D-mittelwest, aber ohne Teile von Hessen und Rheinland-Pfalz, dafür östlich bis zum thüringischen Teil von D-mittelost reichend), Klotschen (ggü. Clogs/Zoccoli u. a.), Kran (ggü. [Wasser-]Hahn; LUX, BELG, D-mittelwest, aber ohne Hessen und schon sehr rückläufig) oder Teilchen (ggü. Plunder, süße Stücke u. a.; BELG, D-mittelwest, aber ohne Saarland, dort: Kaffeestückchen). Andere Wörter, die in der Literatur mit „D-mittelwest“ etikettiert werden, sind kleinräumiger verbreitet. So ist Kappes (ggü. Kraut) typisch rheinisch. Reißbrettstift (in RheinlandPfalz u. Saarland) und Heftzwecke (in Nordrhein-Westfalen) (ggü. Reißzwecke/-nagel) zeigen einen klaren Nord-Süd-Gegensatz. Reibekuchen (ggü. Reiberdatschi u. a.) ist im Rheinland, in BELG, in der Eifel und im Siegerland üblich, Reibeplätzchen dagegen im Münsterland. Besonders kleinräumige Verbreitungen zeigen die Bezeichnungen für den ‘Brotanschnitt’: Kruste/Krüstchen (Niederrhein, BELG, Hessen), Knäppchen (Westfalen), Knäustchen (Saarland, Moselgebiet), Knorze/Knerzel (Pfalz) u. a. Die wenigen für LUX oder BELG typischen Lexeme stammen meist aus dem amtssprachlichen Bereich. Spezifische Luxemburgismen sind z. B. Klassensaal (ggü. Klassenraum/-zimmer/Schulzimmer), Primärschule (ggü. Primar-/Grund-/Volksschule), Leichendienst (ggü. Totenmesse/Auferstehungsgottesdienst u. a.), Erkennungstafel (ggü. Nummernschild/Kennzeichentafel u. a.) oder begreifen (ggü. beinhalten/umfassen). Recht spezifisch für BELG sind Feriengeld (ggü. Urlaubsgeld/Vierzehntes Gehalt u. a.), Postpunkt (ggü. Poststelle u. a.) oder Heiratsbuch (ggü. Personenstandsbuch u. a.). Grammatik: Der Raum D-mittelwest weist keine systematischen Besonderheiten in der Grammatik auf, allerdings einige markante Auffälligkeiten in einzelnen Bereichen bzw. bei Einzelphänomenen. − (1) Das bekommen-Passiv ist in D-mittelwest, BELG und LUX am weitesten grammatikalisiert. So ist es dort auch bei intransitiven Verben mög-
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lich, z. B. geholfen kriegen/bekommen. − (2) Die vielfach als „rheinische Verlaufsform“ bezeichnete Konstruktion mit am + Infinitiv + sein ist (und war) in ihrer Verbreitung dagegen keineswegs auf D-mittelwest beschränkt: Sie war schon immer auch in CH üblich, und inzwischen ist sie in ihrer Grundform (mit einem substantivierten Infinitiv eines intransitiven Verbs) im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitet. Nur in der − noch nicht standardsprachlichen − Verwendung mit transitiven Verben und Objekterweiterung (z. B. Äpfel am Schälen sein) ist sie gesprochensprachlich erst im Westen üblich. − (3) In der Flexionsmorphologie ist die Pluralform die Pastöre (in D-mittelwest und BELG; ggü. Pastoren) auffällig. − (4) Auch in der Wortbildung gibt es nur wenige Auffälligkeiten, z. B. der (seltene) Gebrauch der mit -e- verfugten Form Pfannekuchen (ggü. Pfannkuchen) oder der Variante Pfarre, die − außerhalb von A (da fast ausschließlich) − sonst nur in D-mittelwest und BELG häufiger ist als Pfarrei.
2.2.3. Besonderheiten in Deutschland-Ost Wortschatz: In Berlin und auf dem Gebiet der deutschen Bundesländer MecklenburgVorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen gibt es einige Besonderheiten im Wortschatz, die diese Regionen von den anderen bundesdeutschen bzw. deutschsprachigen Regionen unterscheiden. Es handelt sich dabei um früher schon vorwiegend in D-mittelost oder auch in D-nordost verbreitete lexikalische Varianten, die sich zunächst zu regionaltypischen Lexemen in der DDR und − nach 1990 − in den ostdeutschen Bundesländern entwickelt haben. Dazu gehören Berufsbezeichnungen wie Fleischer und Böttcher, Bezeichnungen für Speisen wie Broiler (ggü. Grillhähnchen/ Poulet/Hendl u. a.), Eierkuchen bzw. (lausitz.:) Plinse (ggü. Pfann[e]kuchen/Omelett[e]/ Palatschinke u. a.), Pfannkuchen (ggü. Berliner/Krapfen u. a.), Kanten (ggü. Knust/ Scherzel u. a.), für Alltagsgegenstände und -stoffe wie Klammeraffe (ggü. Tacker/Klammermaschine/Bostitch u. a.), Plaste (ggü. Plastik), Polylux (ggü. Overhead-/Tageslicht-/ Hellraumprojektor u. a.) oder für offizielle Bezeichnungen, die sich im Gebrauchsstandard erhalten haben, z. B. Zweiraumwohnung (ggü. Zweizimmerwohnung) oder Dispatcher (ggü. Disponent u. a.). Bezeichnungen wie Jugendweihe sind dagegen an spezifische Sachverhalte gebunden, die sich in der DDR entwickelt haben und heute auf den Raum D-ost beschränkt sind; zu ihnen gibt es keine Varianten. Grammatik: Als Auffälligkeit im Standard ist der in D-ost, besonders D-mittelost, stärker als anderswo verbreitete Gebrauch von trotzdem als Subjunktion zu nennen (s. Schiegg & Niehaus 2017: 92−96).
2.2.4. Besonderheiten in Deutschland-Süd In der Lautung und der Grammatik finden sich keine Besonderheiten, die für D-süd übergreifend Gültigkeit besäßen. Gerade in der Lautung ist D-süd sehr heterogen. Allenfalls kann im Wortschatz als Kennwort des deutschen Südens Geldbeutel angeführt werden (ggü. Portemonnaie in D-nord und CH, Geld-/Brieftasche und (Geld-)Börse in A und STIR).
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2.2.4.1. Deutschland-Südost Lautung: Nur hier ist in Deutschland die /r/-Aussprache mit apikalem [r] (öfter [ɾ]) bis in die jüngere Generation verbreitet; auch uvulares [ʀ] (Trill), das sonst fast nirgends belegt ist, kommt in D-südost vor. Auf Altbayern beschränkt ist die aus dem dialektalen System übernommene Differenzierung zweier verschiedener Qualitäten für /a/ und /a:/: in Erbwörtern (Wasser, Tag, machen, Wagen) wird „verdumpft“ (rückverlagert, gehoben, z. T. gerundet) als [ɑ(:), ɒ(:)] (selten auch [ɔ(:)]) realisiert. In vielen jüngeren Lehnwörtern (Masse, Skala), sowie einzelnen Erbwörtern, die auf mittelhochdeutsch ä/ æ zurückgehen (Achse, Radl), wird hingegen „helles“ [a̟, a̟:] gesprochen. Die mittelbairischen Quantitätsverhältnisse (nach Kurzvokalen Fortis-, nach Langvokalen Leniskonsonanten) werden teilweise auch in die Standardaussprache übertragen, was dann zu Lenisierungen nach Langvokalen führt: weiter [ˈʋaɪ̯ dɐ], Gefäße [geˈfε:z̥ε]. Wortschatz: Viele der standardsprachlich in Bayern verwendeten Wörter, die aus der Wahrnehmung anderer Teile Deutschlands „besonders bairisch“ erscheinen, stellen sich als Teile eines Wortschatzes heraus, der auch in A und STIR gebräuchlich ist. Dazu gehören Wörter, die eine Verankerung im grenzüberschreitenden bairischen Dialektgebiet haben und demnach auch nur in den bairischen Teilen von D-südost verbreitet sind, wie z. B. Scherzel (ggü. Kanten, Knäusle u. a.), Nachtkasten (ggü. Nachtschrank/-tisch) oder auch Lehnwörter wie Salettl (ggü. [Garten-]Laube u. a.). Andere zeigen eine Verbreitung − über das dialektal bairische Gebiet hinaus − über ganz Bayern, z. B. (auf-/ zu-)sperren (ggü. [auf-/ab-]schließen; auch in LUX und im Westen von D-mittelwest üblich), ratschen (ggü. tratschen/schwatzen u. a.), Semmel (ggü. Brötchen/Weck[le] u. a.; auch in Sachsen üblich, nicht in Unterfranken), (die) Speis (ggü. Speise-/Vorratskammer), selchen (ggü. räuchern), Selchfleisch (ggü. Geräuchertes/Rauchfleisch), heraußen, herinnen usw. (ggü. [hier] draußen, drinnen usw.) oder heuer (ggü. dieses Jahr; selten auch in CH). Wieder andere sind auch in den angrenzenden (bairisch-)schwäbischen Regionen üblich, z. B. Stadel (ggü. Scheuer/Scheune), aufklauben (ggü. auflesen/ sammeln), Auf Wiederschauen! (ggü. Auf Wiedersehen!). Lexeme, die im Wesentlichen auf das Gebiet Bayerns beschränkt bleiben und sich damit auch von entsprechenden Varianten in A unterscheiden, sind etwa Sanka (selten Sankra, ggü. Rettung), Brotzeit (ggü. Jause), (die) Renke (ggü. der Renken), aber auch amtssprachliche Bezeichnungen wie Unterschleif (‘Unterschlagung, unerlaubter Gebrauch von Hilfsmitteln bei Prüfungen’), Schulaufgabe (ggü. Schularbeit), Ex(temporale) (‘unangekündigter Test in der Schule’) oder Austrag (ggü. Auszug). Weitgehend auf das Gebiet Altbayerns konzentriert sich die Verbreitung z. B. von Wammerl (ggü. Bauchspeck), Reiberdatschi (ggü. Kartoffelpuffer) oder Bierfilz (ggü. Bierdeckel). Diese Varianten sind (noch) in den fränkischen und schwäbischen Teilen Bayerns standard- wie alltagssprachlich weniger gebräuchlich. Umgekehrt ist etwa die Variante Schlot (ggü. Kamin/Schornstein) für Franken typisch. Zu noch kleinräumigeren Varianten in D-südost zählen etwa Kar (ggü. Rein[e]/Bräter u. a.) in Bayerisch-Schwaben und Viehscheid (ggü. Almabtrieb u. a.) im Allgäu. Grammatik: Nur vereinzelte Varianten sind spezifisch für D-südost, daneben gibt es wiederum solche, die auch für die dialektal bairischen Gebiete in A und STIR typisch sind. − (1) Syntax: Die Zwischenstellung der finiten Form der Hilfsverben haben und werden in dreigliedrigen Verbclustern mit Ersatzinfinitiven von Modalverben oder lassen, die in den meisten Gebieten von A die Mehrheitsvariante ist (s. Kap. 2.2.5.1.), ist auch in D-südost gebräuchlich. − (2) In Wortbildungen aus dem behördlichen Wortschatz
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fallen wenige fugenlose Komposita auf, die Varianten mit -en-Fuge gegenüberstehen, z. B. Klasslehrer (in D-südost selten; ggü. Klassenlehrer), Parteiverkehr (in D-südost fast ausschließlich; ggü. Parteienverkehr, in A und STIR ausschließlich). − (3) Wie im Fall von Karre(n) (s. Kap. 2.1.) und Schranke(n) (s. Kap. 2.2.5.1.) wechselt auch im Fall von Renke(n) mit der Art der Endung das Genus: In D-südost ist die Renke üblich, in A dagegen der Renken.
2.2.4.2. Deutschland-Südwest Lautung/Schreibung: Auf den Geltungsbereich der schwäbischen Dialekte begrenzt ist die Differenzierung von je zwei Diphthongen für standardsprachlich /aɪ̯ / und /aʊ̯/, die im Wesentlichen die sprachhistorische/dialektale Unterscheidung von mittelhochdeutsch î vs. ei sowie û vs. ou fortsetzen: weiß (Farbe), Seite mit [əɪ̯ ]/[eɪ̯ ] vs. weiß (1./3.Sg.), Saite mit [aɪ̯ ], Haus, saufen mit [əʊ̯]/[oʊ̯] vs. Kauf, laufen mit [aʊ̯]. Vergleichbares gilt für die Aussprache von , wo sich die sprachhistorische/dialektale Differenzierung von mittelhochdeutsch e (Primärumlaut) vs. germanisch ë auch in schwäbischer Standardaussprache als geschlossene [e]/[e:]- vs. offene [ε]/[ε:]-Realisierung manifestiert: (hinein)stecken, Bett mit [e] und Segel, Esel mit [e:] vs. (der) Stecken, fett mit [ε] und lesen, geben, Nebel mit [ε:]. Bei -Schreibung ist heute, gegen die etymologische Zuordnung, in der Regel offene [ε]/[ε:]-Aussprache gebräuchlich (wählen, Nägel eigentlich mit mhd. e). Die Gebräuchlichkeit dieser Varianten nimmt parallel zum Rückgang des Dialektgebrauchs ab, wobei der Abbau in Bayerisch-Schwaben noch deutlich weiter fortgeschritten ist als in Württemberg. Wortschatz: Als Kennwörter von D-südwest können gelten Vesper (ggü. den in angrenzenden Regionen üblichen Varianten Frühstück[spause]/Brotzeit/Jause/Znüni [am Vormittag]) − dazu: vespern −, süße Stücke (ggü. Teilchen/Plunder/Mehlspeisen u. a.), Weckle (ggü. Brötchen/Semmel u. a.), Boxauto (ggü. Auto-Scooter/Autodrom/Putschauto u. a.), Teppich (ggü. [Wärme-]Decke), auswellen (ggü. ausrollen/-walken/-wallen) oder eindünsten (ggü. einmachen/-rexen/-wecken). Den dialektal alemannischen Raum übergreifend, also z. T. auch in CH, LIE und A-West (Vbg.), sind üblich Küf(n)er (ggü. Fassbinder/Schäffler u. a.) und strecken (ggü. sich melden/aufzeigen/aufstrecken [im Unterricht]). Bis in den bayerisch-schwäbischen Teil von D-südost reichen Rädle (ggü. Scheibe/Blatt [Käse/Wurst] u. a.; CH: Rädli) oder hinstehen (ggü. sich hinstellen). Den Gegensatz zwischen den dialektal badischen und schwäbischen Gebieten in D-südwest machen Variantenpaare wie Blechner vs. Flaschner, (t)ratschen vs. schwätzen oder Feldsalat vs. Ackersalat deutlich.
2.2.5. Besonderheiten in Österreich, Liechtenstein, Südtirol und der Schweiz Lautung: In der Lautung lassen sich zwei übergreifende Merkmale beschreiben: (1) Die hohen Kurzvokalphoneme /ɪ, ʏ, ʊ/ werden von der Qualität her mehrheitlich sehr ähnlich wie die entsprechenden Langvokale, d. h. geschlossen und nicht oder nur wenig zentralisiert, als [i, y, u] artikuliert. Entsprechende Formen kommen auch in D-südwest und
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D-west (z. B. Ruhrgebiet) vor, sind dort jedoch in standardsprachlichen Kontexten in der jüngeren Generation auf dem Rückzug. − (2) Die Auslautverhärtung im Sinne einer phonetischen Fortisierung, die phonologisch im Wort- und Morphemauslaut zum Zusammenfall der stimmhaften Leniskonsonanten /b, d, g, v, z, ʒ/ mit ihren stimmlosen FortisPendants /p, t, k, f, s, ʃ/ führt, ist besonders in CH, STIR, LIE, überwiegend in A, seltener in D-süd (v. a. in D-südost bei bairischem Dialekthintergrund) ungebräuchlich. Im Wortauslaut werden dort in der Regel für /b, d, g, v, z, ʒ/ stimmlose Lenes gesprochen: Tod [to:d̥] vs. tot [to:t]; arg [arg̊] vs. stark [ʃtark]. Wortinlautend im Morphemauslaut ist die fehlende Fortisierung besonders auffällig und auch in D-süd, besonders vor stimmhaften Konsonanten, weiter verbreitet. Es sind hier auch stimmhafte Realisierungen möglich (besonders in STIR und A): redlich [ˈre:dlɪç] vs. rötlich [ˈrø:tlɪç], Weisheit [ˈvaɪ̯ z̥haɪ̯ t] vs. Weißheit [ˈvaɪ̯ shaɪ̯ t], Reisauflauf [ˈraɪ̯ z̥aʊ̯flaʊ̯f], Sanduhr [ˈsand̥u:ɐ]. Mit der Lenisartikulation geht auch, besonders ausgeprägt auf bairischem Substrat, eine längere Dauer der vorhergehenden Vokale einher. Wortschatz: Erstens durch die unterschiedliche dialektale Verankerung des Alltagswortschatzes in CH, LIE und A-west ggü. A (ohne A-west) und STIR, zweitens infolge der politischen Eigenständigkeit dieser Länder und Regionen, die eigene behördliche Wortschätze mit sich gebracht haben, lassen sich kaum Lexeme nennen, die übergreifend für diese Gebiete (und nur für diese) gölten. Zu den wenigen anzuführenden Wörtern gehören läuten (ggü. klingeln/schellen) und Matur(a) (ggü. Abitur). Grammatik: Grammatische Gemeinsamkeiten zwischen A, LIE, STIR und CH, die diese von Varianten in den nördlich gelegenen Ländern und Regionen von D (allenfalls mit Ausnahme von Teilen von D-süd), LUX und BELG unterscheiden, finden sich vor allem in den Bereichen Morphologie und Genuszuordnung. − (1) In der Verbmorphologie fällt − neben der schon in Kap. 2.1. genannten Präferenz für verschiedene unregelmäßige Präteritalformen − der häufigere Gebrauch des regelmäßig gebildeten Partizips gewendet von wenden auf (ggü. gewandt, dieses mehrheitlich in D, BEL, LUX und auch STIR). − (2) Bei der Zuordnung des Genus zu Lehnsubstantiven aus genusfreien Sprachen (v. a. Englisch) ist eine gewisse Präferenz für das Neutrum erkennbar, wo das Substantiv in Deutschland als Femininum oder Maskulinum behandelt wird, z. B. das EMail (in A, CH mehrheitlich, in STIR selten; ggü. die E-Mail, in D, BELG, LUX fast ausschließlich), das SMS (in CH mehrheitlich, in A und STIR gebräuchlich; ggü. die SMS für ‘Short Message’, nicht ‘Short Message Service’), das Blackout (in A mehrheitlich, in CH gebräuchlich; ggü. der Blackout), das Joghurt (in A, CH und STIR deutlich mehrheitlich, in D-südost selten; ggü. der Joghurt); aber: der Spray (in A, CH fast ausschließlich, in D-südwest, BELG gebräuchlich; ggü. das Spray). Bei einigen Substantiven hängt das Genus mit der unterschiedlichen Wortform zusammen, z. B. dem Vorhandensein eines -e-Suffixes und eines Umlauts, wie in das Backrohr (in A, CH mehrheitlich, auch in D-südost gebräuchlich) ggü. die Backröhre. − (3) In der Wortbildung kommen Besonderheiten in der Verfugung zum Tragen. Bei verschiedenen Bestimmungswörtern gibt es eine deutliche Präferenz für die -s-Fuge, z. B. Rinds- (in CH ausschließlich, in A gebräuchlich bis mehrheitlich; ggü. Rinder-), Schweins- (in A − außer A-west − mehrheitlich, in CH, A-west, D-süd gebräuchlich; ggü. Schweine-), Zugs- (in CH gebräuchlich, in A selten; ggü. Zug-); aber: querschnittgelähmt (in CH ausschließlich, in A-mitte, A-süd mehrheitlich; ggü. querschnittsgelähmt), Generationen- (in CH fast ausschließlich, in A mehrheitlich; ggü. Generations-). Der schon in Kap. 2.1. erwähnte Eindruck, dass bei Komposita im Süden häufiger die Nullfuge als die -e-Fuge
6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen
auftritt, setzt sich fort, wenn man nur Varianten aus A, CH, STIR und LIE in den Blick nimmt: Blasbalg (in A und CH mehrheitlich; ggü. Blasebalg), Einreichfrist (in A und LIE ausschließlich, in STIR und CH gebräuchlich; ggü. Einreichefrist), Sternhotel (in A, CH gebräuchlich; ggü. Sternehotel), Tagbau (in CH mehrheitlich, in A gebräuchlich; ggü. Tagebau); aber: punktelos (in A, CH mehrheitlich; ggü. punktlos). Andere Auffälligkeiten in der Verfugung scheinen weniger regulär zu sein: -e-Fuge ggü. -en-Fuge, z. B. in Modeschau (in A, CH mehrheitlich; ggü. Modenschau); -es-Fuge ggü. Nullfuge, z. B. in Gesetzesentwurf (in A und CH mehrheitlich bis fast ausschließlich, in STIR und Dsüdost gebräuchlich; ggü. Gesetzentwurf); aber: Schadenersatz (ggü. Schadensersatz) ist in A, CH und STIR sehr viel häufiger als in D, BEL, LUX.
2.2.5.1. Österreich Auf allen Beschreibungsebenen äußern sich innerösterreichische Unterschiede als WestOst-Unterschiede, insbesondere als Gegensätze im Sprachgebrauch zwischen den dialektal alemannischen Gebieten in A-west (Vbg., z. T. Tirol) und den dialektal bairischen Gebieten in A-mitte, A-süd und A-ost. Lautung: (1) Bei den Diphthongen /aɪ̯ / und /aʊ̯/ ist in A-ost und Amitte die Glidephase häufig nur schwach ausgeprägt, wobei der Nukleus im Vergleich zur in D üblichsten Realisierung deutlich höher liegt, was zu typischen Realisierungsformen wie [εe̯] bzw. [ɔo̯] führt (Zeit [tsεe̯t], Haus [hɔo̯s]). Beim Diphthong /ɔɪ̯ / ist, ebenfalls in A-ost, der Anstieg häufig sehr flach oder gar nicht vorhanden (nur Frontierung, keine Änderung des Öffnungsgrads): [ɔε̯] (heute [ˈhɔε̯tε]). Der Nukleus von /ɔɪ̯ / kann auch ungerundet sein ([ʌe̯]) und/oder eine Vokalstufe höher liegen ([oe̯]). Besonders in Vbg. kann das Zweitglied z. T. auch gerundet artikuliert werden (Leute [ˈloø̯tε]). − (2) Langes /ε:/ − wird in A mit großer Konsequenz als [e:] realisiert, in A-west (bes. Vbg.), ist auch [ε:] gebräuchlich: sägen [ˈse:gŋ̩], Käse [ke:z̥ε]. − (3) In derselben Silbe vor Nasalkonsonanten stehende Vokale werden in A-ost in der Regel stark nasaliert, was besonders im Fall von /o:/ häufig auch mit einer Öffnung des Vokals einhergeht: Konstruktion [kɔnstrʊkˈtsi̯ ɔ̃:n]. − (4) Die Fortisplosive /p/ und /t/ werden vor allem in A-west (Tirol), in A-ost und A-süd, ebenso in STIR, auch im Anlaut vielfach nicht aspiriert. /p/ fällt dabei allgemein mit /b/ in [b̥] oder [p] zusammen, wohingegen / t/ als [t] in der Regel vom mit weniger Intensität (und kürzerer Verschlussdauer) als [d̥] gesprochenen /d/ differenziert wird. /k/ wird anlautend regelmäßig aspiriert [kʰ] oder − in A-west (Tirol) − auch affriziert [kx] gesprochen und unterscheidet sich darum von /g/, allerdings in A-ost (wie in Teilen von D-südost) nicht in der Position vor /r/, /l/ und /n/ (krank, klein, Knoten), wo es häufig lenisiert wird und mit /g/ in [g̊] zusammenfällt. − (5) Das Phonem /l/ wird in A-ost nach den Labialen /b, p, f, m/ häufig retroflex-postalveolar als [ɭ], nach den Velaren /g, k, x, ŋ/ tendenziell velar als [ʟ] realisiert: Blei [bɭae̯], Flasche [ˈfɭaʃε], Gabel [ˈga:bɭ̩], glauben [ˈgʟaʊ̯bm̩], Dackel [ˈdakʟ̩], Kachel [ˈkaxɭ̩] (vgl. Wiesinger 2010: 243). Wortschatz: Im Österreichischen Wörterbuch (ÖWB) ist seit der ersten Auflage von 1951 der deutsche Wortschatz in A kodifiziert. Allerdings wird im ÖWB (und darauf aufbauenden Arbeiten) nicht systematisch unterschieden zwischen (1) dem für A spezifischen, (2) dem in A und angrenzenden Regionen der deutschsprachigen Länder gleichermaßen üblichen standardsprachlichen Wortschatz und (3) der nur in bestimmten Regio-
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nen von A zum Gebrauchsstandard zählenden Lexik. (Eine im Wesentlichen auf den Differenzwortschatz i. S. v. (1) konzentrierte Kurzfassung strebt Ebner 2009 an.) Die Problematik lässt sich am Küchenvokabular veranschaulichen. Bekannt geworden sind 23 kulinarische Ausdrücke aus dem „Protokoll Nr. 10 über die Verwendung österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache“ zum Beitrittsvertrag Österreichs zur EU im Jahr 1993: Beiried (ggü. Roastbeef/Zwischenrippenstück), Eierschwammerl (ggü. Pfifferling), Erdäpfel (ggü. Kartoffeln), Faschiertes (ggü. Hackfleisch/Gehacktes), Fisolen (ggü. grüne Bohnen), Grammeln (ggü. Grieben), Hüferl ([i. d. R. gekochtes] Rinderhüftfleisch), Karfiol (ggü. Blumenkohl), Kohlsprossen (ggü. Rosenkohl), Kren (ggü. Meerrettich), Lungenbraten (ggü. Lendenbraten/Filet), Marille (ggü. Aprikose), Melanzani (ggü. Aubergine), Nuss (ggü. Zapfen/Kugel), Obers (ggü. Rahm/Sahne), Paradeiser (ggü. Tomate), Powidl (ggü. Zwetschgenmus), Ribisel (ggü. Johannisbeere), Rostbraten (ggü. Hochrücken/Hochrippe(n)[-braten]), Schlögel (ggü. Stotze/Haxe/Keule u. a.), Topfen (ggü. Quark), Vogerlsalat (ggü. Nüsslisalat/Feldsalat u. a.) und Weichsel (ggü. Sauerkirsche). Von diesen können allenfalls Beiried, Faschiertes, Hüferl, Kohlsprossen, Lungenbraten, Marillen, Obers, Paradeiser und Powidl als spezifisch für A i. S. v. (1) gelten, alle anderen sind i. S. v. (2) vor allem auch in angrenzenden dialektal bairischen Regionen gebräuchlich. Darüber hinaus kommen i. S. v. (3) Wörter wie Karfiol, Marille, Topfen in A-west (Vbg.) seltener als in den übrigen Gebieten von A vor, Vogerlsalat fast gar nicht. Auch Paradeiser, Erdapfel oder Eierschwammerl werden im Westen deutlich seltener gebraucht als im Osten; Paradeiser wird in ganz A deutlich weniger verwendet als Tomate. − Auch bei anderen (vermeintlichen) Austriazismen ist nach diesen drei Gruppen zu unterscheiden: (1) Spezifisch für A − und allenfalls LIE − sind Bezeichnungen für alltagssprachliche Wörter und Sachverhalte wie Federpennal bzw. Federschachtel (ggü. Federmappe/Etui/Griffelschachtel), Autodrom (ggü. Auto-Scooter/Putschauto u. a.), Jause (ggü. Vesper/Brotzeit u. a.), (der/die) Pfefferoni (ggü. Peperoni/Peperoncino) oder verabsäumen (ggü. versäumen). Aus dem amtssprachlichen Bereich gehören dazu z. B. Hausübung (ggü. Hausaufgabe), nostrifizieren (ggü. ein/e ausländische/s Qualifikation/Zeugnis anerkennen) oder gegenständlich (ggü. in Rede stehend/von dem die Rede ist/betreffend, z. B. das gegenständliche Objekt/Projekt/Verfahren). A-spezifisch sind schließlich rechtssprachliche Bezeichnungen, wie z. B. Abfertigung (ggü. Abfindung/Abgangsentschädigung), Karenz (ggü. unbezahlter Urlaub), Karenzurlaub (ggü. Mutterbzw. Vaterschaftsurlaub oder Elternzeit), bevorrangt (ggü. vortritts-/vorfahrt(s)berechtigt/bevorrechtigt) oder Schubhaft (ggü. Abschiebehaft/Ausschaffungshaft), die sich einerseits am Wortlaut einschlägiger Gesetze und Verordnungen orientieren, andererseits aber auch für ähnliche Sachverhalte in anderen deutschsprachigen Ländern verwendet werden. − (2) In A wie auch darüber hinaus in den dialektal bairischen Regionen in STIR und (z. T.) in D-südost gebräuchlich sind rinnen (ggü. laufen [von der Nase]), das geht sich aus (ggü. das passt/reicht (zeitlich) aus), resch (ggü. kross/knusprig/knackig bzw. herb [auch bzgl. Erscheinung]), (Back-)Rohr (ggü. [Back-]Ofen/[Back-]Röhre), Polster (ggü. Kissen), Mehlspeisen (ggü. Plunder/Teilchen u. a.), Staubzucker (ggü. Puderzucker) und Fassbinder (ggü. Küf[n]er/Schäffler u. a.). In A wie in STIR, aber nicht in D-südost, üblich sind Rettung (ggü. Krankenwagen/Sanka u. a.), Kassa (ggü. Kasse), Patschen (ggü. Platten/Plattfuß) oder auch der Rechtsterminus bedingte Haft (ggü. Haft[strafe] auf/mit Bewährung). Umgekehrt kommen in A wie in D-südost, aber nicht in STIR, Scherzel (ggü. Anschnitt/Knäusle u. a.) oder Installateur (ggü. Hydrauliker/ Klempner/Sanitär) vor. − (3) Auf viele Wörter, die in der Literatur pauschal als „Austria-
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zismen“ dargestellt werden, trifft diese Etikettierung nur bedingt zu, da sie zwar im größten Teil von A, aber nicht in A-west üblich sind. Dazu gehören z. B. (in Klammern jeweils die in A-west gebräuchlicheren Varianten) Rauchfang (ggü. Kamin), Sessel (ggü. Stuhl), Tixo (ggü. Klebstreifen), Haube (ggü. Kappe) oder Klammermaschine (ggü. [Heft-]Klammerer). Ebenso wenig sind Wörter wie fad (ggü. langweilig), Schachtel (ggü. Karton[-schachtel]) und Packerl (ggü. Schachtel) in A-west gebräuchlich, dafür aber in D-südost. Auf vermeintliche Austriazismen wie Fleischhauer und Fleischhacker trifft diese Bezeichnung noch weniger zu: Sie werden hauptsächlich in A-ost, A-süd und A-mitte (OÖ) gebraucht; sonst ist in A Metzger üblicher. Grammatik: (1) In der Syntax zeichnet sich die Standardsprache in Österreich zunächst durch einige Varianten in der Wortstellung aus: So ist die Zwischenstellung der finiten Form der Hilfsverben haben und werden in dreigliedrigen Verbclustern mit Ersatzinfinitiven von Modalverben oder lassen, z. B. … dass er es wissen3 hätte1 müssen2, in den meisten Gebieten Österreichs deutlich in der Mehrheit ggü. Voranstellungen oder den (ganz seltenen) Endstellungen; in A-west ist dieser Stellungstyp zumindest gebräuchlich. Auch bei der Reihung von Temporaladverbien gibt es Auffälligkeiten: So ist die Reihenfolge immer schon in A, LIE und STIR gleich häufig wie schon immer (und auf jeden Fall häufiger als in D, CH, LUX, BELG). − (2) Auffällig ist in der Standardsprache in A die Verwendungsfrequenz des Artikelworts jene(r/s) ggü. gemeindt. der/die/das oder der-/die-/dasjenige: In A (ohne A-west) und STIR tritt jene(r/s) doppelt so häufig wie in CH, A-west, LUX und mehr als drei Mal so häufig wie in D und BELG auf, typischerweise mit Verweis auf einen folgenden restriktiven Relativsatz, z. B.: Jener 51jährige Steyrer, der Montagabend …; … die Liste jener Länder, die mit dem Team bereist wurden. − (3) Konstruktionen mit einer finiten Form von gehören + Partizip Perfekt, z. B. das gehört verboten, die alltagssprachlich in D-süd, A und STIR üblich sind (s. AdA), treten standardsprachlich in A deutlich häufiger als im übrigen Sprachgebiet auf. − (4) In A sind standardsprachlich „starke“ Partizip-II-Formen des Verbs schalten und seiner Verbindungen möglich, also z. B. eingeschalten (in A u. LIE selten; ggü. eingeschaltet). Dagegen sind die regelmäßigen Partizip-II-Formen von -hauen (gehaut ggü. „stark“ gehauen) und -spalten (abgespaltet ggü. abgespalten) nur in A als gebräuchlich anzusehen. − (5) Die Valenz einiger Verben unterscheidet sich in A von der in anderen deutschsprachigen Ländern und Regionen, z. B. etw. verkaufen um (ggü. etw. verkaufen für), jdn. klagen (ggü. gegen jdn. klagen), vergessen auf etw. (ggü. etw. vergessen). In A begegnen einige Verben in einem reflexiven Gebrauch, der anderswo unüblich ist, z. B. sich (mit etw.) spielen ‘etw. spielerisch bewältigen’ oder auch ‘mit etw. verantwortungslos umgehen’ (Die Politik soll sich nicht spielen.). Auch kann sich der geforderte Kasus der Reflexivpronomen bei reflexiven Verben unterscheiden. So steht in den Konstruktionen sich leicht/schwer tun mit etw. das Reflexivpronomen in A mehrheitlich (in A-ost sogar ausschließlich) im Dativ. (In D-südost ist der Dativ gebräuchlich, in D-südwest selten; dort wird mehrheitlich und in den anderen Gebieten ausschließlich der Akkusativ verwendet.) − (6) Die für A, CH, LIE und STIR festgestellte Tendenz zur Zuweisung des Neutrums bei Lehnwörtern (s. o. Kap. 2.2.5.) setzt sich (nur) in A in Substantiven wie das Service fort (in A-ost, A-südost mehrheitlich, in A-mitte und A-west gebräuchlich; ggü. der Service). In das Offert (nur in A gebräuchlich; ggü. die Offerte) hängt die Genusfestlegung mit dem Vorhandensein eines ausgehenden -e und der darauf beruhenden Silbenzahl zusammen. In einer anderen Gruppe von Substantiven werden in A maskuline ggü. neutralen oder femininen Formen bevorzugt: In der Akt (in A und LIE
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mehrheitlich, in STIR gebräuchlich, in D-südost selten) steht wieder eine endungslose Variante einer Form mit -e gegenüber (die Akte). Polster ist in A überwiegend maskulin (in A-west gebräuchlich, sonst in A mehrheitlich). Im Fall von der Schranken (in Awest gebräuchlich, sonst in A mehrheitlich) ggü. die Schranke wird − wie im Fall von der Karren ggü. die Karre (s. o. Kap. 2.1.) − eine schon im Mittelhochdeutschen auftretende Variation weitergeführt. − (7) In der Pluralbildung der Substantive weist das Deutsche in Österreich (und z. T. in angrenzenden Regionen der Nachbarländer) bei zweisilbigen Substantiven auffallend mehr Formen mit Umlaut auf, z. B. die Pölster (in A-west selten, sonst in A gebräuchlich), die Hochwässer (in A-mitte mehrheitlich, sonst in A wie in D-südost gebräuchlich), die Wägen (in A-mitte und A-ost gebräuchlich, sonst in A sowie in D-südost und STIR selten), die Krägen (in A, CH und D-südost mehrheitlich, in anderen Regionen von D eher selten). − (8) In der Wortbildung tritt Variation im Gebrauch von Verbpräfixen und Verbpartikeln bzw. davon abgeleiteten Verbalabstrakta auf, die vor allem im Amtsdeutschen österreichtypische Varianten zum Ergebnis haben, z. B. Asylwerber (in A fast ausschließlich; ggü. Asylbewerber), Ansuchen (in A und STIR mehrheitlich; ggü. Gesuch), Behebung (in A mehrheitlich; ggü. Abhebung) − dazu: (Geld) beheben in A häufiger als (Geld) abheben −, Einhebung (in A, STIR deutlich mehrheitlich, in D-süd selten; ggü. Erhebung) − entsprechend: (Steuern, Abgaben, …) einheben/erheben −, Verbauung (in A und STIR mehrheitlich, neben Bebauung; ggü. Überbauung [CH], Bebauung [D]), Zubau (in A mehrheitlich, in STIR gebräuchlich; ggü. Anbau). In A deutlich gebräuchlicher als anderswo sind daneben Abverkauf (zu abverkaufen; ggü. gemeindt. Ausverkauf), Draufgabe (ggü. gemeindt. Zugabe) oder Strafausmaß (ggü. gemeindt. Strafmaß). Das Fehlen einer (Verb-)Partikel begegnet in Rufzeichen (in A-west, STIR Rufezeichen) ggü. gemeindt. Ausrufezeichen. Im Bereich der Diminutiva treten in A (weniger in A-west, z. T. auch in D-südost und STIR) häufig Bildungen mit dem Suffix -erl auf, z. B. die Engerl, das Sackerl, das Geldtascherl u. a. Variation findet sich auch bei Adjektiv- und Substantivsuffixen. Beispiele für in A typische Adjektivbildungen sind prozentuell (in A und STIR mehrheitlich; ggü. prozentual), ident (in A-ost mehrheitlich, sonst in A gebräuchlich; ggü. identisch), kontroversiell (in A-ost und A-süd mehrheitlich, sonst in A gebräuchlich; ggü. kontrovers), grauslich (in A gebräuchlich, in D-südost mit Umlaut: gräuslich/greislich; ggü. grausig), neidig (in A gebräuchlich; ggü. neidisch); für Substantivsuffixe vgl. Pfarre (in A fast ausschließlich, allerdings auch in BELG und D-west mehrheitlich, in STIR gebräuchlich; ggü. Pfarrei) oder Kontrollor (in A-west selten, sonst in A gebräuchlich; ggü. Kontrolleur). − (9) Die im Süden des deutschen Sprachgebiets tendenziell häufigere Verwendung der -s-Fugen scheint in A noch ausgeprägter zu sein: Zur -s-Fuge ggü. anderen Fugenelementen (v. a. bei Fachtermini) vgl. z. B. Personsbeschreibung (in A gebräuchlich; ggü. Personenbeschreibung), Aufnahmsprüfung (in A, außer A-west, gebräuchlich; ggü. Aufnahmeprüfung), Klagsverfahren (in A mehrheitlich; ggü. Klageverfahren). Zu -s-Fugen ggü. Nullfuge vgl. überfallsartig, Spitals-, Aufbruchsstimmung, Fabriks- (in A fast ausschließlich; ggü. überfallartig, Spital-, Aufbruchstimmung, Fabrik-), Interessens- (in A, LIE und STIR mehrheitlich, in D-süd, LUX und BELG gebräuchlich; ggü. Interessen-), Gelenks-, Gepäcks-, Überfalls- (in A gebräuchlich; ggü. Gelenk-, Gepäck-, Überfall-), Geschenks(in A und STIR gebräuchlich; ggü. Geschenk-). Bei den Komposita mit Advent(s)- dagegen dominieren in A die fugenlosen Varianten (auch in STIR sehr gebräuchlich) gegenüber denen mit -s-Fuge. Auch bei einigen Komposita mit Tag- (s. o. schon Kap. 2.2.5.) sind fugenlose Formen deutlich verbreiteter, z. B. Tagsatz (in A-ost fast ausschließlich,
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in A-mitte und A-süd gebräuchlich, in A-west selten) ggü. Tagessatz. Bei Komposita mit Nah(e)-/Nähe- kommen fugenlose Formen nur selten vor, aber wieder lediglich in A und STIR, z. B. Nahverhältnis (ggü. Nahe-/Näheverhältnis). (Deutlich) mehr -e- und -esFugen als Nullfugen finden sich dagegen in punktegleich (in A mehrheitlich bis fast ausschließlich; ggü. punktgleich) und in Amtsbezeichnungen und -termini mit Land(es)-, z. B. Landesgericht, Landesrat (in A und STIR fast ausschließlich; ggü. Landgericht, Landrat). Eine Besonderheit in A und D-südost sind -i-Fugen in Feiertagsnamen mit Heiligennamen als Erstglied, z. B. Floriani-, Stefani-, Josefitag.
2.2.5.2. Südtirol Lautung/Schreibung: Bei den Plosiven /b, d, g/ ist in STIR, teilweise in A-süd (Kärnten), anders als im Rest des Südens des deutschen Sprachraums, voll stimmhafte Artikulation üblich. Wortschatz: Besonderheiten des Wortschatzes in STIR finden sich im alltäglichen wie im amtssprachlichen Bereich, z. B. Griffelschachtel (ggü. Federpennal/Etui u. a.), Spicker (ggü. Murmel/Schusser u. a.), Puffauto (ggü. Putschauto/Autodrom u. a.), ajournieren (ggü. ajourieren/aktualisieren), Kenntafel (ggü. Nummernschild/Kennzeichentafel u. a.). Einige der Spezifika in STIR gehen auf Entlehnungen aus dem Italienischen zurück, wie Marende (ggü. Brotzeit/Jause u. a. [am Nachmittag]) − dazu: marenden −, Hydrauliker (ggü. Klempner/Sanitärinstallateur/Spengler), oder sind an Bezeichnungen im Italienischen angelehnt, z. B. Arztambulatorium (ggü. Arztpraxis/Ordination). Ansonsten finden sich überwiegend Übereinstimmungen entweder mit dem Wortschatz in CH (und z. T. A-west), z. B. im Fall von Kappe (ggü. Haube/Mütze), Anschnitt/Zipfel (ggü. Scherzel u. a.), ansässig (ggü. niedergelassen/domiziliert), etw. homologieren (ggü. etw. (behördlich) abnehmen), oder mit dem in A, z. B. im Fall von Melanzani (ggü. Aubergine), Brösel (ggü. Brösmeli u. a.), Fassbinder (ggü. Küf[n]er u. a.). Grammatik: Auffälligkeiten im Bereich der Grammatik in STIR betreffen nur Einzelphänomene: (1) Im Bereich der Syntax sind Progressiv-Konstruktionen mit beim + INF + sein häufiger als anderswo. − (2) Vereinzelt begegnen Besonderheiten in der Genuszuordnung, z. B. bei der Peperoni (ggü. die Peperoni in CH). − (3) In einigen wenigen Fällen zeigen sich Spezifika der Pluralbildung, z. B. die Parke (neben Parks; ansonsten nur in A-südost selten) oder die Kartone (häufiger als die Kartons). − (4) Bei bestimmten Komposita tritt die -en-Fuge deutlich häufiger als die -e-Fuge auf, z. B. Gemeindenverband (ggü. fast überall Gemeindeverband) oder Einnahmenausfall (ggü. Einnahmeausfall, wie mehrheitlich auch in A und CH). − (5) Im Bereich der Adjektivderivation fällt die häufigere Verwendung von juridisch ggü. juristisch auf.
2.2.5.3. Schweiz (und Liechtenstein) Lautung/Schreibung: Die Standardaussprache in CH zeichnet sich insgesamt durch eine starke Orientierung am geschriebenen Buchstaben aus. Neben dieser traditionellen schweizerhochdeutschen Standardaussprache breiten sich in der jüngeren Generation in größerem Umfang auch am norddeutschen Standard orientierte Aussprachegewohnheiten
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aus. − (1) Eine Besonderheit auf der suprasegmentalen Ebene ist, dass der Wortakzent von Wörtern französischen Ursprungs in den meisten Fällen auf der ersten Silbe liegt (in allen anderen Regionen ist hier die finale Silbe akzentuiert): Bálkon, Éngagement, Réstaurant. Die gleiche Initialakzentuierung zeigen auch Abkürzungswörter: SBB [ˈεsbe:be:], DVD [ˈde:faʊ̯de:], CD [ˈtse:de:]. − (2) In Teilen von CH-west tendieren besonders die mittelhohen Langvokale [e:]/[o:]/[ø:] zu offener Aussprache als [ε:]/[ɔ:]/[œ:]. Das „lange“ /ε:/ wird grundsätzlich von /e:/ differenziert (sägen vs. Segen), die Aussprache ist dabei jedoch häufig sehr offen [ε̞:], in CH-west oft auch überoffen [æ:]. (Paralleles gilt für das „kurze“ /ε/ wie in Wäsche, hätte mit [ε̞] oder [æ].) − (3) Kurzes in der Tonsilbe zeigt vor allem in CH-ost eine Tendenz zur Aussprache als geschlossenes [e], was sich im angrenzenden A-west (v. a. Vbg.) fortsetzt. Dies trifft auf alle zu, nicht nur − wie in Schwaben (vgl. Kap. 2.2.4.2.) − diejenigen, die auf mhd. e zurückgehen: Bett [bet], fett [fet], Brett [bret]. − (4) Für die a-Laute /a̠/ und /a̠:/ () sind − mit Ausnahme von CH-nordost − hintere Artikulationsorte im Bereich [ɒ], [ɒ:] weit verbreitet: Frage [ˈfrɒ:gε], Sache [ˈsɒχε]. − (5) Für die Diphthonge /aɪ̯ / ( in Zeit, Saite), /aʊ̯/ ( in Haus) und /ɔɪ̯ / ( in Leute, Bäume) findet sich in CH ein breites Spektrum an (meist regional gebundenen) Realisierungsvarianten. Besonders das Erstglied (der Nukleus) variiert qualitativ und liegt bei /aɪ̯ / und /aʊ̯/ oft im vorderen tiefen Bereich bei [a̟]/[æ]; bei /ɔɪ̯ / kommt [ɔ] (selten auch [o]) vor, häufig ist das Erstglied aber auch zentralisiert/entrundet ([ʌ̈]) oder liegt tendenziell sogar im Bereich der vorderen Vokale bei [œ, ɜ]. Der Nukleus erreicht, vor allem bei /aɪ̯ / und /aʊ̯/, oft hohe Dauern, was zusammen mit einer regelmäßig zeitlich und qualitativ stark ausgeprägten Glidephase (z. T. Anstieg fast bis [i] und [u]) zu einer allgemeinen perzeptiven Auffälligkeit der Schweizer Diphthongartikulationen („breit“) beiträgt. − (6) wird von einem Teil der Sprecher/innen auch nach vorderen Vokalen und nach /l/ und /r/ als velarer/uvularer Frikativ [x/χ] gesprochen. Wortinitiales in Fremdwörtern vor allem griechischen Ursprungs wird auch vor tiefen und hinteren Vokalen sowie vor /r/ und /l/ häufig als Frikativ [x/χ] realisiert (Chor, Chrom, Chlor). − (7) /r/ wird in der Silbenkoda und im Auslaut in der Regel nicht vokalisiert, auch nicht bei nebentonigem : Fahrt [fa:rt], Tor [to:r], Wasser [ˈvasər]. Die am weitesten verbreitete /r/-Realisierung ist apikal (einmal geschlagen, seltener Trill), in CH-nordost und in Basel auch dorsal (uvularer Frikativ). − (8) Vokalquantitätsvariation: Bei bestimmten Einzelwörtern sind in CH lange Vokale in der Tonsilbe weit verbreitet, die sonst vor allem noch in D-südwest vorkommen, dort aber z. T. stark auf dem Rückzug sind: Rache, rächen, rösten, Rost (‘Gitter’), dachte, brachte, Lorbeer, Hochzeit, Nachbar. − (9) Konsonantenlängung: Die gelängte (geminierte) Aussprache von intervokalischen Konsonanten nach akzentuiertem Kurzvokal in Wörtern wie Rippe, Mitte, drücken, Masse, Sache usw. ist kein exklusiv schweizerisches Phänomen, sondern auch bei mittel- und südbairischem Dialekthintergrund (d. h. in Altbayern, A und STIR) sowie im Mittelfränkischen zu finden. Hinsichtlich der Dauer der gedehnten Konsonanten und der Häufigkeit und Konsequenz ihres Auftretens weist die Gemination in CH allerdings die stärkste Ausprägung auf. − (10) In den Endungen , , kommen, neben den in D üblichsten silbischen [m̩], [n̩], [l̩ ], in CH oft auch Varianten mit realisiertem Schwa-Laut vor: reiten [ˈraɪ̯ tən], brauchen [ˈbraʊ̯xən], grossem [ˈgro:səm], Nagel [ˈna:gəl]. Die entsprechenden Formen mit Schwa und unsilbischen Konsonanten in der Nebensilbe sind allerdings auch in LUX und traditionell in D-mittelwest gebräuchlich. − (11) Das Phonem /l/ wird in CH häufig, besonders in der Nachbarschaft tiefer Vokale, velarisiert („dunkel“) als [ɫ]
6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen
ausgesprochen. Entsprechende Varianten sind regionalsprachlich auch in D-mittelwest üblich, in der jüngeren Generation aber auf Standardsprachebene nicht mehr nachweisbar. In der Schreibung auffällig ist das Fehlen des Buchstabens ß; stattdessen wird konsequent ss geschrieben, z. B. gross (ggü. groß), Busse (ggü. Buße) u. a. Wortschatz: Mit Bickel & Landolt (2012) liegt ein aktuelles Differenzwörterbuch zum Schweizerhochdeutschen vor, sodass hier eine Auswahl genügen kann. Dabei ist zum einen wieder nach Sachbereichen zu unterscheiden, zum anderen danach, (1) ob die Lexeme CH-spezifisch sind oder (2) ob sie darüber hinaus in angrenzenden, basisdialektal alemannischen Regionen verwendet werden. Für die hier genannten „Helvetismen“ gilt dabei, dass sie i. d. R. auch in LIE üblich sind: (1) Zunächst finden sich wieder für Gegenstände und Sachverhalte im Bereich des Alltags einige Bezeichnungen, die als spezifisch für CH und LIE gelten können, z. B. Nüsslisalat (ggü. Feld-/Acker-/Vogerlsalat u. a.), Federkohl (ggü. Grünkohl u. a.), Konfi(türe) (ggü. Marmelade), (Haus-)Abwart (ggü. Hausmeister/-besorger), (Dach-)Kännel (ggü. Dach-/Regenrinne), Bostitch (ggü. Tacker/Klammermaschine u. a.), Velo (ggü. [Fahr-]Rad/Radl), zügeln (ggü. siedeln/ umziehen) oder tönen (ggü. sich anhören/klingen). Spezifisch für CH sind auch amtsund rechtssprachliche Bezeichnungen wie Busse(nzettel) (ggü. Strafzettel/Knöllchen), Führerflucht (ggü. Fahrerflucht/Unfallflucht), vortrittsberechtigt (ggü. bevorrangt/vorfahrtsberechtigt/bevorrechtigt), Handänderung (ggü. Besitzer- bzw. Eigentümer(innen) wechsel) oder Ausschaffungshaft (ggü. Abschiebehaft/Schubhaft), die an den Wortlaut einschlägiger Gesetze und Verordnungen gebunden sind, aber auch zur Bezeichnung ähnlicher Sachverhalte in anderen Ländern herangezogen werden. − (2) Auch in den benachbarten dialektal alemannischen Regionen von D-südwest und A-west (z. T. auch in STIR) sind z. B. folgende Varianten üblich: Felche (ggü. Renke/Maräne u. a.), (die) Omelette (in STIR, A-west eher das Omelett[e]; ggü. Pfann[e]kuchen/Palatschinke u. a.; das Omelett[e] für eine ohne Mehl zubereitete Eierspeise ist weit verbreitet), Fangis (ggü. Fangen[spiel] u. a.) und Kappe (ggü. Haube/Mütze). Kein Helvetismus ist etwa − wie im VWB und in Bickel & Landolt (2012) angegeben − Glätteisen (ggü. Bügeleisen); das Wort ist auch in A und D (ähnlich schwach) verbreitet. Besonderheiten in LIE beschränken sich − sieht man von Bezeichnungen für Realien wie Erbhuldigung ab − wohl auf ein Lexem, nämlich (das) Kappile (ggü. Bildstock/ Marterl/Heiligenhäuschen). Grammatik: (1) Einige Phänomene der Wortstellung sind spezifisch für CH und LIE oder kommen allenfalls noch in angrenzenden Regionen des alemannischen Sprachraums (D-südwest, A-west) vor. So kann in CH auf wertende Konstruktionen wie gut/es ist gut/ich finde es gut …, schade/es ist schade …, sie ist froh … etc. ein abhängiger Satz mit V1-Stellung folgen (Schade, haben wir heute verloren., Es ist schön, ist jetzt Weihnachten.). Interpretieren lässt sich dies auch so, dass die fraglichen Konstruktionen im Vorfeld des Gesamtsatzes stehen, während sie im übrigen deutschen Sprachgebiet einen Matrixsatz bilden, der einen mit dass eingeleiteten Nebensatz erfordert (Schade, dass …, Es ist schön, dass …). Eine weitere Besonderheit sind Sätze mit einleitendem Dies und einem folgenden Konjunktionalsatz, also Dies, weil/obwohl/nachdem … (auch ohne Komma: Dies weil … [v. a. CH, selten auch in D-süd]), z. B. Dies(,) nachdem die Firma polnische Arbeiter zu Dumpinglöhnen beschäftigt hatte. Ähnlich scheint bei der Konstruktion Kommt hinzu, dass … (in CH, A-west gebräuchlich) ein elliptischer Matrixsatz vorzuliegen. Ein weiteres Spezifikum standardsprachlicher Sätze in CH und LIE ist, dass das Temporaladverb bereits im Vorfeld stehen kann, z. B. Bereits würden erste
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Notmassnahmen getroffen. − (2) Ähnlich spezifisch für CH und LIE ist die Verwendung enger Appositionen statt Genitiv-Nominalphrasen bei Zeitangaben wie Anfang/Mitte/ Ende Woche/Monat/Jahr/Saison u. a. (ggü. Anfang der Woche etc.). − (3) Zu den zuweilen konservativ erscheinenden Zügen der standardsprachlichen Grammatik in CH zählt der im Vergleich zu D und A häufigere Gebrauch von w-Relativpronomina − oder auch das starke Festhalten an der (ursprünglich) schwachen Partizip-II-Form von winken (gewinkt), die in CH noch deutlicher gegenüber der „starken“ Form gewunken überwiegt (welche bereits in den anderen deutschsprachigen Ländern und Regionen mehrheitlich verwendet wird). − (4) Auch in CH gibt es Besonderheiten in der Valenz einiger Verben. So können abpassen, anläuten, rufen und anrufen einen Dativ anstelle eines Akkusativobjekts fordern. Die Verwendung eines obliquen Kasus anstelle eines präpositionalen Objekts ist vor allem bei beantragen auffällig (Die Regierung […] beantragt dem Grossen Rate den Beitritt). Auch sind einige Verben nicht reflexiv, die anderswo reflexiv sind, z. B. ändern (das Wetter ändert ggü. das Wetter ändert sich), vorbehalten (Die Regierung hat eine Revision vorbehalten ggü. Die Regierung hat sich eine Revision vorbehalten); umgekehrt werden reflexive Formen verbaler Konstruktionen verwendet, die anderswo immer nicht reflexiv sind, z. B. wie wir es uns gewohnt sind (Dürscheid & Hefti 2006). − (5) Obwohl alltagssprachlich in D-west und BELG am weitesten grammatikalisiert (s. o. Kap. 2.2.2.2.), erscheinen Progressiv-Konstruktionen mit am + INF + sein standardsprachlich in CH öfter als anderswo. − (6) Bei manchen Partikelverben gibt es mehr untrennbare als trennbare Formen, z. B. bei anerkennen (in CH und LIE fast ausschließlich, in A-west mehrheitlich; besonders gebräuchlich darüber hinaus in Dsüdwest und D-mittelost) und widerspiegeln (in CH und LIE mehrheitlich), die damit in geringerem Maße klammerbildend sind. Dies ist sicherlich auf die in CH (und LIE) üblichen und für Präfixverben typischen Betonungsvarianten anerkénnen und widerspíegeln zurückführbar (ggü. dem für Partikelverben charakteristischen ánerkennen und wíderspiegeln, vgl. Duden-Aussprachewörterbuch 2015). − (7) In CH (und LIE) gibt es einige wenige Anglizismen, die maskulin sind, während sie im restlichen deutschsprachigen Raum (vornehmlich) als Neutrum behandelt werden, z. B. der Match, der Fax (in CH fast ausschließlich; ggü. das Match, das Fax), der Event (in CH mehrheitlich, in A und D-süd gebräuchlich; ggü. das Event). Bei der Final (ggü. das Finale) hängt das maskuline Genus mit der einsilbigen Grundform des Substantivs zusammen, die in CH mehrheitlich verwendet wird. Das auslautende -e bedingt in den meisten anderen Fällen die Zuordnung des femininen Genus, z. B. die Etikette, die Limite (in CH mehrheitlich; ggü. das Etikett ‘Hinweisschildchen an Gegenständen, Waren’, das Limit). Bei die Einsprache (in CH fast ausschließlich; ggü. der Einspruch) kommt Ablautvariation hinzu. − (8) In der Pluralbildung zeigen sich im Gebrauch des Umlauts und des -e-Plurals z. T. andere Verhältnisse als in den anderen deutschsprachigen Gebieten. Üblich sind in CH etwa die umlautlosen Formen die Krane (auch in LIE, A-west und D-südwest; ggü. der Form die Kräne, die sonst ganz überwiegend bis fast ausschließlich verwendet wird) und die Bogen (selten auch in LIE und A-west; ggü. die Bögen, sonst fast ausschließlich). Gerade mit Umlaut kommt die Variante die Pärke (ggü. die Parke/Parks) nur in CH vor. Bei einigen Lehnwörtern wird in CH der -e-Plural bevorzugt, in die Balkone ausschließlich (ggü. dem v. a. in D-ost gebräuchlichen die Balkons), weit mehrheitlich in die Billet(t)e (ggü. die Billets) sowie mehrheitlich in die Abonnemente (ggü. die Abonnements) und die Ballone (auch in A recht gebräuchlich; ggü. die Ballons). − (9) In der Wortbildung ist das Schweizerhochdeutsch im Vergleich zum übrigen Sprachgebiet
6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen
besonders variantenreich. Viele der daraus entstandenen Lexeme sind dem amtssprachlichen Bereich zuzuordnen. So wird bei der Substantivierung von Verben häufig der (Präterital-)Stammkonversion der Vorzug gegenüber der Derivation mit -ung gegeben, z. B. Beschrieb (ggü. Beschreibung), Einbezug (auch in LIE, STIR; ggü. Einbeziehung), Entscheid (auch in LIE; ggü. Entscheidung), Unterbruch (auch in LIE; ggü. Unterbrechung), Verlad (ggü. Verladung). Variation zeigt sich auch bei Verbpräfixen und Verbpartikeln bzw. davon abgeleiteten Verbalabstrakta, z. B. Überbauung (in CH weit mehrheitlich ggü. Bebauung [D] bzw. Verbauung [in A und STIR mehrheitlich, neben Bebauung]), Abklärung (in CH und LIE mehrheitlich, in A-west und A-mitte gebräuchlich; ggü. Klärung) − dazu: etw. abklären (ggü. etw. klären) −, Abstellplatz (in CH mehrheitlich, z. T. auch in A gebräuchlich) oder Einstellplatz (in CH selten; ggü. Stellplatz), Widerhandlung (in CH, LIE mehrheitlich; in A-west gebräuchlich; ggü. Zuwiderhandlung), Autobahneinfahrt (in CH, STIR mehrheitlich; ggü. Autobahnauffahrt bzw. [seltener:] -zufahrt), Kleber (in CH mehrheitlich; ggü. Aufkleber), Wegweisung (in CH gebräuchlich; ggü. Ausweisung), Abtausch (in CH gebräuchlich, auch in A-südost; ggü. Tausch). Bei der Adjektivbildung entsteht Variation durch das Vorhandensein oder Fehlen von Affixen, wie z. B. in streng (in CH und LIE gebräuchlich; ggü. anstrengend), oder durch Affixvarianten, z. B. apolitisch (in CH und BELG gebräuchlich; ggü. unpolitisch) und ambitiös (in CH und LUX gebräuchlich; ggü. ambitioniert). In der desubstantivischen und deadjektivischen Verbderivation treten Bildungen mit dem Präfix ver- und dem Infix un- in CH, LIE und A-west deutlich häufiger als in anderen Regionen auf, z. B. verunfallen und verunmöglichen. Mehrheitlich gebräuchlich sind in CH ieren- ggü. -en-Endungen, z. B. bei parkieren ggü. parken, grillieren ggü. grillen, handicapieren ggü. handicapen, rezyklieren (in LUX auch recyklieren) ggü. recyclen; auch im Fall von amtieren ggü. amten überwiegt die ieren-Variante (wobei amten überhaupt nur in CH und LIE gebräuchlich ist). Bei der Substantivierung von Verben auf -ieren führt die Bevorzugung verschiedener Suffixe zur Variation. So werden in CH und LIE auch bzw. mehrheitlich Substantive auf -ation statt auf -(ier)ung verwendet: Fast ausschließlich wird Nomination (ggü. Nominierung) gebraucht, deutlich mehrheitlich sind Renovation, Reservation, Signalisation (ggü. Renovierung, Reservierung, Signalisierung), etwa gleich häufig kommen in CH Hospitalisation und Hospitalisierung vor, und zumindest gebräuchlich sind dort Annulation und (auch in LIE) Evakuation (ggü. Annullierung, Evakuierung). Mehrheitlich bis fast ausschließlich gebräuchlich sind in CH Formen auf -or statt auf -eur, wie Animator (auch in BELG fast ausschließlich; ggü. Animateur), Redaktor (in LIE mehrheitlich; ggü. Redakteur). Vornehmlich in CH und LIE (selten auch in A-west) kommen Substantivableitungen auf -ler vor, die (bei umlautfähigen Vokalen) mit Umlaut auftreten, so in Bähnler, Kindergärtler, Gewerbler, Pöstler (s. aber auch Postler in A), Fastnächtler (in CH und LIE ausschließlich, in D-südwest gebräuchlich; ggü. Fastnachter). Was spezifisch für CH ist und CH insbesondere von der benachbarten dialektal alemannischen Region D-südwest unterscheidet, ist das Diminutivsuffix -li (ggü. -le u. a. in Dsüdwest), z. B. Weggli (ggü. Weckle u. a.), Guetsli (ggü. Guetsle u. a.), Schäufeli (ggü. Schäufele u. a.), Änisbrötli (ggü. Springerle u. a.) oder Hacktätschli (ggü. Fleischküchle u. a.). − (10) Bei Komposita ist in CH das häufige Fehlen eines Fugenelements auffällig. Es variieren vor allem (a) Nullfuge vs. -s- und -es-Fuge, z. B. Ausland- (in CH mehrheitlich; ggü. Auslands-), Bahnhof- (in CH mehrheitlich, ggü. Bahnhofs-), Jahrzahl (in CH, STIR gebräuchlich; ggü. Jahreszahl), aber: Prachtswetter (nur in CH gebräuchlich; ggü. Prachtwetter), und (b) Nullfuge vs. -e- und -en-Fuge, z. B. Wegnetz (CH, LIE, auch: A,
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STIR; ggü. Wegenetz), Tannzapfen (in CH mehrheitlich; ggü. Tannenzapfen), Badmeister, Wartsaal (in CH gebräuchlich; ggü. Bademeister, Wartesaal), aber: Lastenzug (in CH mehrheitlich; ggü. Lastzug) und Produktepalette (in CH gleich häufig wie Produktpalette). Einzelfälle betreffen die Variation zwischen -es- und -s-Fuge bei Bestandesaufnahme (in CH mehrheitlich; ggü. Bestandsaufnahme) und zwischen -er- und -s-Fuge bei Mitgliederbeitrag (in CH weit mehrheitlich; ggü. Mitgliedsbeitrag).
2.2.6. Besonderheiten in Deutschland Grundsätzlich können zu den Besonderheiten in D alle Merkmale gezählt werden, die in Kap. 2.2.5. als Gegenvarianten zu den übergreifenden Besonderheiten in Österreich, Liechtenstein, Südtirol und der Schweiz genannt wurden. Viele der „Deutschlandismen“ gelten aber auch in BELG und LUX. Lautung: Als Besonderheiten der Aussprache in D lassen sich z. B. die Glottalisierung von /t/ vor [n] in Fällen wie halten [ˈhalʔn̩] und die frikativische Aussprache von /pf/ als [f] in Fällen wie Pfeffer [ˈfεfɐ] anführen, die außerhalb von D praktisch nicht vorkommen. Hierher gehört auch die sog. g-Spirantisierung im Silbenauslaut (Tag [tax], Berg [bεɐ̯ç], legt [le:çt]), die in D nur ganz im Süden (mittelbairisch, alemannisch) nicht gebräuchlich ist. Sie ist allerdings im Wesentlichen auf spontansprachliche Äußerungen beschränkt (beim Vorlesen „zwingt“ der Buchstabe zur Plosivaussprache) und wird in formellen Kontexten vor allem von der mittleren und älteren Generation in D-mitte und D-nord verwendet. Wortschatz: Besonderheiten des Wortschatzes in Deutschland sind zum einen (i. S. der Bemerkung oben) Varianten, die in ganz D und allenfalls noch in BELG und LUX verwendet werden, den südlich angrenzenden Ländern und Regionen aber weitgehend fremd sind; dazu zählen Peperoni (‘kleine, scharfe Paprikafrucht’; ggü. Pfefferoni/ Peperoncino), Mütze (ggü. Haube/Kappe), Tüte (ggü. Sack/Sackerl/Beutel) − entsprechend Tütensuppe (ggü. Beutelsuppe/Packerlsuppe) −, Tesa(film) (ggü. Tixo/Klebstreifen), und auch amtssprachliche Bezeichnungen wie Abitur (ggü. Matur[a]), Abschiebehaft (ggü. Ausschaffungshaft/Schubhaft) oder vorfahrt(s)berechtigt und (i. d. S.:) bevorrechtigt (ggü. bevorrangt/vortrittsberechtigt). Andere Wörter kommen nur regional in D sowie z. T. in BELG und LUX vor, sind aber in A, CH, LIE und STIR standardsprachlich weitgehend unbekannt: Vor allem in D-mitte, BELG und D-süd verbreitet ist (Feder-)Mäppchen (ggü. Federpennal, Griffelschachtel u. a.), vor allem in D-nord, D-mitte, BELG und LUX verwendet werden Knöllchen, Zollstock, (sich) kloppen (ggü. Strafzettel/ Busse/Buße, Meter-/Maßstab/[Doppel-]Meter u. a., [sich] schlagen/raufen u. a.), und vor allem in D-nord, D-mitte, aber nicht in BELG und LUX, sind üblich z. B. Schnürsenkel, Schornstein (ggü. Schuhband, Kamin/Rauchfang u. a.). Grammatik: Es können verschiedene Phänomene benannt werden, die aus der Sicht der südlich von D gelegenen Länder und Regionen als grammatische Besonderheiten in D einzustufen sind. Hier seien exemplarisch Einzelvarianten genannt: Perfekt- und Plusquamperfektbildungen mit sein kommen bei einigen Verben der Zustandsveränderung wie enden fast nur in D (und BELG) vor. Im Formenparadigma des Verbs backen kommen die umlautlosen Varianten (du backst, er backt) nur in D (außer D-mittelost) häufiger als die umgelauteten Varianten vor. Während in A und CH das Substantiv Samba fast ausschließlich maskulin ist, ist in D (außer D-südwest) die feminine Form häufi-
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ger. In dem Kompositum Ellenbogen/Ellbogen fällt aus „südlicher Sicht“ auf, dass die Variante mit -en-Fuge nur in D häufiger in Gebrauch ist als die fugenlose Variante. Bei Einnahmeausfall/Einnahmenausfall ist die -e-Fuge nur in D häufiger als die -en-Fuge.
2.3. Regionenübergreifende Phänomene Lautung: Die allgemeine /r/-Vokalisierung in der Silbenkoda (d. h. unabhängig von der vorhergehenden Vokalquantität, was im Fall von /a̠/ und /a̠:/ zum Zusammenfall von Karte und Kate, scharf und Schaf führt) gilt in ganz D-nord, in D-mitte, in weiten Teilen Ost-/Nordbayerns und in A-ost. Von ihr werden zunehmend auch Regionen erfasst, in denen ehemals konsonantische /r/-Realisierungen üblich waren. In den anderen deutschsprachigen Regionen wird /r/ in der Silbenkoda (besonders nach kurzen Vokalen) traditionell nicht vokalisiert, sondern im Fall einer dorsalen Artikulation („Zäpfchen-r“) als Frikativ [ʁ] oder uvularer Approximant [ʁ̞], in D-mittelost, D-südwest, Tirol und der Ostschweiz häufig auch als pharyngaler Approximant [ʕ̞] realisiert: hart [hɒʕ̞t], Burg [b̥ʊʕ̞k]. Im Fall von wortfinalem entsteht dann ein [ɔˤ]-artiger, pharyngalisierter Vokal: Mutter [ˈmʊtɔˤ]. (Zur Aussprache von /r/ vor /t, ts/ als stimmloser Frikativ im Rheinland vgl. Kap. 2.2.2.2.) In Regionen mit apikaler /r/-Realisierung wird /r/ in der Silbenkoda in der Regel als apikaler Tap [ɾ] oder Approximant [r̞ ] gesprochen. Das Zweitglied in wird in CH, STIR, LUX und BELG in der Regel nicht als labiodentaler Frikativ, sondern als bilabialer Approximant [β̞] bzw. halbvokalisches/unsilbisches [u̯] ausgesprochen. Wortschatz: Regionenübergreifende und staatsgrenzenübergreifende Distributionen zeigen vor allem die Uhrzeitenangaben im Deutschen. Viertel vor sechs, Viertel nach zehn oder zwanzig vor acht für 5:45, 10:15 und 7:40 gelten in D-nordwest, D-mittelwest sowie in CH und größtenteils in A-west, STIR und in den fränkischen Teilen von Dsüdost; in allen anderen Regionen, vor allem in D-ost, sind drei Viertel sechs, viertel elf und zehn nach halb acht üblich. Solche auffälligen Verbreitungen finden sich auch bei den Varianten Tischler (D-nord, D-mittelost, A, STIR; ggü. Schreiner), Schippe/Schüppe (D-mittelwest, D-nordost; ggü. Schaufel), Berliner (D-nordwest, D-mittelwest, BELG, LUX, CH; ggü. Pfannkuchen/Krapfen u. a.) und Einmachglas (D-nordwest, D-mittelwest, BELG, CH) bzw. Einweckglas (D-nordost, D-mittelost, D-südost, A-west, LUX, STIR; ggü. Rexglas [A, ohne A-west]). Ansonsten sind es vor allem auf Entlehnungen zurückgehende Varianten, die regionen- und staatsgrenzenübergreifend gebräuchlich sind, z. B. Kamin (D-nord, CH; ggü. Schornstein/Rauchfang u. a.), Bulette (LUX, BELG, D-nordost; ggü. Frikadelle/Fleischlaiberl u. a.), Karotte (A, STIR, D-mitte [Rhein-Main-Gebiet]; ggü. Möhre/gelbe Rübe u. a.), Portemonnaie (D-nord, CH; ggü. Geldbeutel/[-]Börse u. a.), Poulet (CH, LIE, LUX; ggü. [Brat-/Grill-]Hähnchen/Hendl u. a.) oder auch amtssprachliche Termini wie domiziliert (CH, BELG, ggü. ansässig/ niedergelassen) oder urbanistisch (LUX, BELG, STIR, ‘die Stadtplanung betreffend’). Grammatik: Die V2-Stellung nach Operatoren wie weil, obwohl und wobei, die als typisch für gesprochenes Deutsch gilt, findet sich auch in standardsprachlichen Kontexten − allerdings meist in der direkten oder indirekten Redewiedergabe oder in konzeptionelle Mündlichkeit imitierenden Textsorten. V2-Stellung nach wobei tritt in fast allen Regionen auf, nach weil und obwohl vor allem in Zeitungen aus dem Südwesten des deutschen Sprachgebiets. Weiters fallen vereinzelt regionenübergreifende Wortbildungs-
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muster, z. B. bei Verbpräfixen und Verbpartikeln bzw. mit Hilfe dieser abgeleiteten Verbalabstrakta wie Autobahnausfahrt (D-süd, CH, BELG, LUX) ggü. Autobahnabfahrt (D-nord, D-mitte und A), sowie Muster bei Verfugungen auf, z. B. im Gebrauch der -sFuge, wie in Werkleiter (nur in CH, D-ost, D-südost mehrheitlich) ggü. Werksleiter.
3. Resümee Wie der Überblick in Kap. 2. gezeigt hat, ist regionale Variation in Aussprache, Lexik und Grammatik ein elementarer Wesenszug des deutschen Gebrauchsstandards. Ein einheitlicher, überregionaler Standard ist, wenn man das Standardsprachverhalten der einheimischen Bevölkerung (mit höherer Schulbildung) bzw. der regionalen Presse zugrunde legt − trotz unbestreitbar vorhandener Vereinheitlichungstendenzen −, derzeit nicht nachweisbar und auch für die nahe Zukunft nicht in Sicht. Allerdings kristallisieren sich deutliche Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit regionalsprachlicher Besonderheiten heraus, die in südlichen Regionen des deutschen Sprachraums insgesamt wesentlich zahlreicher und oft auch kleinräumiger sind. Das ist, besonders im Bereich Aussprache und Lexik, nicht überraschend, da die präskriptive Norm des Deutschen auf einer norddeutschen Basis beruht und zudem im Süden die weiterhin von Region zu Region mehr oder weniger vorhandene Dialektkompetenz sich auf den Gebrauchsstandard auswirkt. Bei der Grenz- bzw. Arealbildung der einzelnen Varianten lassen sich in zahlreichen Fällen bestimmte wiederkehrende Muster erkennen. Diese können sich − besonders im Süden − an traditionellen Dialektverbänden orientieren, häufiger sind aber auch die Grenzen von aktuellen − z. T. auch von historischen − politischen Territorien (d. h. Staats- und Ländergrenzen) relevant. So kann sich z. B. bei der Realisierung der Phoneme /a̠, a̠:/ (vgl. Kap. 2.2.4.1.) die dialektal innerbairische Staatsgrenze zwischen Bayern und Österreich als hochgradig sprachlich wirksam erweisen (ähnlich wie bei /ε:, ɪ, ʊ, ʏ/), obwohl die dialektale Grundlage hier wie dort gehobene/gerundete („verdumpfte“) Formen im Bereich [ɑ, ɒ, ɔ] aufweist, welche jedoch nur in Altbayern auch in den Gebrauchsstandard übertragen werden, wohingegen in Österreich neutrale oder sogar vordere („helle“) [a̟, a̟:] am üblichsten sind. Die ehemalige innerdeutsche Grenze wirkt heute vor allem noch im Wortschatz nach (vgl. Kap. 2.2.3.). Auf länger zurückliegende dialektale wie auch historisch-politische Gegensätze verweisen die Nord-Süd-Gegensätze, die den gesamten deutschsprachigen Raum betreffen (vgl. Kap. 2.1.). Sie lassen sich zum einen als Folge der dialektalen Unterschiede zwischen dem (historisch) niederdeutschen und dem hochdeutschen Sprachraum bzw. der Unterschiede zwischen dem niederdeutsch-mitteldeutschen und dem oberdeutschen Dialektraum erklären, zum anderen bzw. gleichzeitig auch als sprachliche Nachwirkungen jahrhundertelang sich gegenüberstehender Hegemonialbereiche deuten (zu einer solchen Deutung der „Mainlinie“ vgl. etwa Durrell 1989). In der Lexik zeigt sich insbesondere innerhalb des administrativen Wortschatzes notwendigerweise eine starke Staats- bzw. Landesspezifik. Die betreffenden Isoglossen trennen hier tatsächlich absolute Varianten, da der österreichische Landeshauptmann im bundesdeutschen Ministerpräsidenten sein funktionales Äquivalent hat, der gymnasiale Abschluss überall in D Abitur und überall in A Matura (in CH Matur, Matura und Maturität) heißt. Der Regelfall ist jedoch, dass sich nicht absolute, sondern relative Varianten gegenüberstehen, die sowohl im einen als auch im anderen Areal gebräuchlich sind, deren Gebrauchsfrequenz sich aber jeweils mehr oder weniger deutlich voneinan-
6. Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen
der unterscheidet (vgl. Farø 2005: 386−388). In diesen Fällen ist das Konzept der Isoglosse nicht anwendbar, da die Variantenfrequenz durch (sprach)geographische Zuordnung definiert wird. Es ist perspektivisch damit zu rechnen, dass durch die anhaltend hohe Mobilität und den massiven Einfluss der überregionalen Medien (Zeitung, Radio, Fernsehen und v. a. Internet) sowie durch den damit im Zusammenhang stehenden Rückgang bzw. die Standardannäherung dialektaler Sprechweisen regionale Spezifika aller sprachlichen Ebenen noch stärker als bisher unter Druck kommen und auch im Standardbereich seltener werden (vgl. z. B. Wiesinger 2015). Auch spezifisch in Deutschland verwendete Varianten können „Besonderheiten“ bilden (vgl. die kleine Auswahl in Kap. 2.2.6.). Dass es vor allem für die Lexik eigene Wörterbücher zum Standarddeutschen in A und CH gibt, aber „bis heute die entsprechende Darstellung der nur in Deutschland üblichen Varianten“ fehlt (VWB 2016: XLI), hat wissenschaftshistorische Gründe und verleitet auch heute noch Forscher/innen dazu, die Verhältnisse in D − oder auch nur in Teilen davon − als den „Normalfall“ anzusehen.
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Stephan Elspaß, Salzburg (Österreich) Stefan Kleiner, Mannheim (Deutschland)
7. Areale Variation im Deutschen „horizontal“
7. Areale Variation im Deutschen „horizontal“: Die Einteilung der arealen Varietäten des Deutschen 1. Hinführung 2. Begriffsklärung 3. Historischer Abriss
4. Ansätze im jüngeren Forschungsdiskurs 5. Schlussbemerkung 6. Literatur
1. Hinführung Den Dialektraum einzuteilen, d. h. Dialekte nach vordefinierten Kriterien zu klassifizieren, ist eines der traditionellen sprachgeographischen Anliegen. Einteilungen sind deswegen wichtig, weil es die in Dialekteinteilungen angesetzten Teilräume sind, die einer an Sprachlandschaften orientierten Analyse überhaupt erst ihre Referenzobjekte zur Verfügung stellen. Denn das Sprechen über Gruppen lokaler Dialekte ist nur in dem Maße eindeutig, in dem ihm ein gemeinsames oder zumindest interindividuell nachvollziehbares Konzept der räumlichen Gliederung zugrunde liegt. Auf diese Weise prägen die Einteilungen ganz wesentlich den Diskurs über den Sprachraum. Was hier trivial anmutet ist in der Praxis umso komplizierter. Wer etwa um 1900 auf das Westfälische referiert, meint womöglich einen anderen Sprachraum als es bei jüngeren Fachvertretern üblich ist, auch wenn die Datengrundlage ähnlich oder sogar identisch ist (vgl. z. B. Bremer 1892 vs. Wiesinger 1983). Die Einteilung der Dialekte ergibt sich offenbar nicht von selbst aus dem Gegenstand heraus. Sie muss modelliert werden und unterliegt dabei verschiedenen Einflüssen. Hier sind zunächst die verschiedenen methodischen Zugänge zu nennen, denen sich die einzelnen Autoren verpflichtet sehen. Damit einhergehend beeinflusst häufig die unterschiedliche sprachwissenschaftliche Perspektive, unter der die Analyse des Sprachraumes jeweils erfolgt, das Strukturierungsergebnis. So gestaltet sich z. B. eine Gliederung auf lexikalischer Ebene anders als auf morphologischer oder phonologischer (vgl. z. B. Hildebrandt [1987] 2003 vs. Wrede 1937). Die sich damit andeutende Problemlage bildet den Gegenstand des vorliegenden Artikels. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, die horizontale Gliederung des Phänomenbereichs „areale Varietäten“ zu beschreiben. Ausgehend von der Anlage des Buchs sind damit die Varietäten unterhalb des Standarddeutschen angesprochen, d. h. die Dialekte sowie der mittlere Bereich der Standard−Dialekt-Achse. Der Beitrag erläutert die grundlegenden Schwierigkeiten der Dialekteinteilung, führt in bisherige Einteilungsansätze ein und stellt neben ihrer Chronologie auch die zugrundeliegenden konzeptuellen Ansatzpunkte heraus. Hierfür wird ein Kriteriensystem eingeführt, auf das in den Ausführungen Bezug genommen wird. Grundlage der Auswahl ist einerseits die im Wissenschaftsdiskurs erzielte Nachhaltigkeit bzw. die Aktualität der Einteilungen. Zudem finden einige bislang eher unberücksichtigt gebliebene Ansätze Erwähnung.
https://doi.org/10.1515/9783110261295-007
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2. Begriffsklärung Areale Variation bezieht sich unter dem Blickwinkel ihrer horizontalen Erstreckung ganz allgemein auf die Verbreitungsgebiete der Dialekte einer Gesamtsprache, hier des Deutschen. Als eine solche Gesamtsprache − mitunter wurde hierfür der Begriff des Diasystems angesetzt (vgl. Weinreich 1954: 390; Goossens 1977: 37) − ist ein System höherer Ordnung zu verstehen, das sich aus vielerlei, sich ggf. überschneidenden Existenzformen zusammensetzt, die allesamt in einem engen sprachgenetischen Rahmen stehen. Die Dialekte machen darunter nur eines neben anderen, insbesondere situativ gesteuerten Teilbzw. Subsystemen aus, auf das Sprecherinnen und Sprecher in geschriebener oder gesprochener Form z. B. in der Familie oder im Fachdiskurs zurückgreifen (vgl. Löffler 2016: 79). Operationalisieren lässt sich areale Variation ganz allgemein nach mindestens drei sich partiell überschneidenden Kriterien, die häufig auch in Kombination angewendet werden: 1. Synchrones Kriterium, i. e. ein sprachinternes Kriterium der synchron feststellbaren
sprachlichen Variantenverteilungen. Hier eingebunden sind bisweilen auch sprachsystemische bzw. sprachstrukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede einzelner lokaler und regionaler Dialekte. Meist implizit ist auch das Kriterium der allgemeinen kommunikativen Reichweite der Dialekte mitgedacht; 2. Diachrones Kriterium, i. e. ein sprachinternes Kriterium der sprachhistorischen Bedingungen und diachronen Entwicklungen der Dialekte, d. h. ausgehend von historischen Sprachzuständen hinsichtlich des historischen Werdens der einzelnen Dialekte und Sprachvarianten, ggf. mit Bezug auf historische Referenzsysteme; 3. Sprachexternes Kriterium, i. e. ein Kriterium vor allem der sozialen und kulturellen Bedingungen, wobei für Dialektgliederungen häufig auf eine wie auch immer definierte kulturelle Kontinuität, politische oder topographische Anbindung in den Regionen Bezug genommen wird. Unter dieses Kriterium fallen auch pragmatische Aspekte sowie allgemein die spezifische Sicht der Menschen auf ihre eigenen oder fremden Dialekte. Differenziert werden Dialekte auf solcher Grundlage traditionellerweise in kartographischen Repräsentationen, bisweilen aber auch in graphisch hierarchisierenden bzw. strukturierenden Beschreibungen (z. B. in Baumdiagrammen oder Vektorräumen) oder ganz allgemein in Textform bzw. als Liste (z. B. Mentz 1892). Der Regelfall besteht in einer Kombination von Karte und Text. In allen Fällen handelt es sich um Klassifikationen, die dem Zweck geschuldet sind, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Dialekte zu konturieren. Der hierfür häufig gebrauchte Terminus ist „Einteilung“. Einteilungen arealer Varietäten bieten im engeren Sinn eine Übersicht über das Verbreitungsgebiet bestimmter Gruppen von Dialekten, die nach Maßgabe der einzeln oder in Verbindung angewendeten Kriterien 1 bis 3 definiert werden. Mit solchen Einteilungen sind Dialekte, resp. Dialektgruppen, folglich als räumlich integrale Entitäten des Sprachraums gefasst. Sofern diese Klassifikation unter Berücksichtigung der jeweiligen Eigenständigkeit der sprachsystemischen Struktur erfolgt, kommt den solcherart definierten Dialekten Varietätenstatus im engeren Sinn zu (sog. „Vollvarietäten“ nach Schmidt & Herrgen 2011: 51). Areale Varietäten werden so gesehen als räumlich individualisierbare, d. h. sprachstrukturell definierbare und voneinander abgrenzbare Subsysteme einer Gesamtsprache verstanden. Da die Grenzen der Varietäten nicht unmittelbar evident sind,
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reflektieren bzw. modellieren Einteilungen arealer Varietäten weniger eine alltagsweltlich relevante Beobachtung, als vielmehr eine latente topologische Ordnung. Im Peirceschen Sinne handelt es sich um eine Form des diagrammatischen Argumentierens, dem im logischen Schlussprozess eine herausragend wichtige Funktion zukommt, etwa im Bereich der Hypothesenbildung oder Hypothesenprüfung (vgl. Peirce 1906: 542). Eine eingehendere theoretische Auseinandersetzung steht in dieser Hinsicht allerdings noch aus.
3. Historischer Abriss 3.1. Ansätze im 19. Jahrhundert Erste, um geographische Exaktheit bemühte Einteilungskarten der deutschen Dialekte datieren auf das 19. Jahrhundert (vgl. Lameli 2010). Früheste nationale Versuche scheinen dabei vor allem das Kriterium der kommunikativen Reichweite zentral zu setzen, indem sie sich noch mit der Unterscheidung des Niederdeutschen vom Hochdeutschen im Kontext der Fremdsprachen eines national definierten Sprachgebiets begnügen. Ein Beispiel bietet Döring mit seiner Karte vom Preußischen Staate von 1827. Hingegen verfährt Schmeller (1821) in seiner auf Bayern und Umgegend begrenzten Darstellung schon durchaus kleinteilig nach klarer Maßgabe sprachsystemischer Bedingungen. Die von Schmeller angesetzten Dialekträume bleiben in ihren Umrissen über viele Forschergenerationen prägend. Bisweilen stellen sie für Teile des Ober- und Mitteldeutschen die einzige eingehendere Rauminformation der Dialektverteilungen zur Verfügung, wie vor allem an Bernhardis 1843 und 1849 vorgelegter Sprachkarte von Deutschland deutlich wird, die Schmellers Gliederung übernimmt und demgegenüber das Niederdeutsche und Mitteldeutsche vollständig ungegliedert lässt (vgl. Bernhardi 1849). Auch hier steht intentional das Reichweitenkriterium im Vordergrund, immerhin ist die Karte in den Diskurs um die Erstreckung des Staatsgebietes nach 1848 eingebettet. Aber auch die soziokulturellen Bedingungen des Sprachraums sind erkennbar, wenn Bernhardi in seiner Karte expliziten Bezug auf das Verbreitungsgebiet der germanischen Stämme (nicht der germanischen Sprache!) nimmt. Wie an der Karte von Bremer (1892) noch zu zeigen sein wird, ist die Kontinuität der Stämme (bei Bremer über die Sprache!) auch in späteren Generationen für die Einteilung noch wichtig. Sehr viel detaillierter ist demgegenüber die Einteilung von Berghaus (National-, Sprach-, Dialect-Verschiedenheit) von 1848, die auf persönlichen Mitteilungen von Fachgelehrten sowie den Texten in Firmenichs Völkerstimmen aufbaut (Firmenich 1846−1854). Hier liegt verglichen mit Bernhardis Ansatz eine geradezu extrem kleinräumige Gliederung vor, die darum bemüht scheint, alle irgendwie relevanten Dialekte zu erfassen. Deutlich wird dies − um nur ein Beispiel zu nennen − in der Ausdifferenzierung der Nieder Lotharingischen Dialecte, die in die Gebiete der Aachener Gegend, Trier, Luxemburg und Eifel untergliedert sind, Gebiete also, die moderne Einteilungen eher undifferenziert unter das Moselfränkische subsumieren. Hier scheint das Reichweitenkriterium auf eine möglichst kleinregionale Dimension ausgerichtet zu sein. Ebenso wie die zuvor erwähnte Karte von Schropp ist auch Berghausens Karte im Forschungsdiskurs fast vollständig unberücksichtigt geblieben. Das ist insofern bedeutsam, als die darin erkennbare Gliederung des Niederdeutschen ihrer Zeit voraus ist. Noch Behaghel verzichtet in seiner 1891 erstmals vorgelegten Einteilung auf eine Ausdifferenzierung des
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Niederdeutschen und weist diese auch eine Dekade später noch als bestehendes Desiderat aus (vgl. Behaghel 1901: 664). Vergleicht man die Karte von Berghaus hingegen mit der − ebenfalls im Forschungsdiskurs meist übersehenen − Einteilung von Maurmann (1895) oder der Einteilung von Bremer (1892), die beide sehr wohl das Niederdeutsche untergliedern, erkennt man eine dermaßen geringe Übereinstimmung, dass das Problem der Dialektdifferenzierung auch hier klar vor Augen tritt.
3.2. Problem der Dialektdifferenzierung Voranstehend zeigt sich ein praktisches Problem der Dialektdifferenzierung auf sprachstruktureller Ebene. Im Kern ist dieses konzeptuell gelagert. Als Varietäten oder Subsysteme einer Gesamtsprache verfügen letztlich alle Dialekte über eine gemeinsame Schnittmenge bestimmter sprachlicher Eigenschaften, die unterschiedlich groß ausgeprägt sein kann. Aus dem Umfang dieser Schnittmenge ergibt sich ein Abgrenzungsproblem, das mit dem Begriff der arealtypologischen Komplexität gefasst wurde (vgl. Lameli 2013: 1−8). Je geringer die Schnittmenge − und damit je größer die Differenzmenge − identischer oder ähnlicher sprachlicher Varianten, desto eindeutiger ist die Abgrenzbarkeit der Dialekte. Das grundsätzliche konzeptuelle Problem lässt sich jedoch nicht auflösen. Es besteht darin, dass die räumliche Überlagerung eben dieser Schnittmengen zum Bild eines räumlichen Variantenkontinuums führt, das letztlich nur unscharfe Kontraste der arealen Varietäten zulässt, auch wenn diese gleichwohl als räumliche Schwerpunkte oder Verdichtungen erkennbar sein mögen. Dialekte nach sprachinternen Bedingungen einzuteilen bedeutet daher, die Transformation einer bestehenden Kontinuität oder Gradualität zu kategorialen Einheiten. Dies ist ein Schritt der Komplexitätsreduktion, der wie gesehen auf unterschiedlichen Wegen erfolgen kann. Über die längste Zeit des 19. Jahrhunderts ist dieser Schritt jedoch noch nicht zuverlässig möglich, da das Wissen um die Dialektsysteme mangels größerer Datenmengen noch zu gering ist. Aus diesem Grund rücken bis ins 20. Jahrhundert hinein statt der sprachinternen die sprachexternen Bedingungen bisweilen stark in den Vordergrund. Da aber auch das Wissen über diese meist historischen und kulturellen Bedingungen nur eingeschränkt ist, droht eine „argumentative Zirkularität“ (Putschke 1993: 425), die nur schwer aufzulösen ist. Eine eingehende Reflexion dieser Umstände ist im germanistischen Forschungsdiskurs klar nachrangig. Anders ist dies in der Romanistik, wo die sprachstrukturellen Umstände Gegenstand einer lebhaften und z. T. lange nachwirkenden theoretischen Auseinandersetzung um die Frage der grundsätzlichen Abgrenzbarkeit der Dialekte geworden sind. Eine Pointierung dieser aus heutiger Sicht als Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte zu bewertenden Debatte zwischen vor allem Paris & Meyer vs. Ascoli während der 1870er und 1880er Jahre hat Gauchat (1903) vorgelegt. In der Beschäftigung mit den deutschen Dialekten wurde das Problem auf eher praktische Weise zu handhaben versucht, indem man Misch- oder Übergangslandschaften definiert. So kartiert schon Wenker ([1877] 2013: 908) in der Gliederung der Rheinprovinz explizite „Uebergangs-Mundarten“ und auch in seiner Einleitung zum Sprachatlas des Deutschen Reichs findet sich z. B. die Überlagerung gleich mehrerer Sprachsysteme im Übergangsgebiet zwischen dem Niederdeutschen, Nordfriesischen und Dänischen kartiert (Wenker [1899] 2013: 5). Zu nennen ist hier zudem Brenner (1890), der die Dialekte in Bayern durch explizite Mischgebiete nach innen und außen definiert und damit eine Kartierung vorwegnimmt, die Wiesinger
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dann seit den 1970er Jahren konsequent auf das gesamte deutsche Sprachgebiet übertragen hat. Einen anderen Weg schlägt wiederum Bremer (1892) durch gezielte Berücksichtigung dynamischer Prozesse an den Übergängen der Dialektregionen ein, die er durch Pfeile markiert. Ein Beispiel hierfür liefert das Schwäbische, das sich nach Bremers Einschätzung zu jener Zeit innerhalb Württembergs nach Norden und Süden ausbreitet. Aber auch Übergangsmundarten setzt er vielfach an, wenn er sie auch nicht in der Karte eindeutig markiert. Anders als gemeinhin angenommen, lassen sich so gesehen gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchaus verschiedene Operationalisierungen des Differenzierungsproblems nachweisen. Allerdings können sich solche Ansätze im 20. Jahrhundert zunächst nicht durchsetzen, und zwar auch deswegen nicht, weil in einer amorphen und zudem variablen Struktur, wie sie mit den sprachräumlichen Bedingungen häufig gegeben ist, nicht nur die Kerngebiete, sondern auch die Übergangs- und Mischgebiete schwer zu fassen sind. Wichtiger ist daher das Konzept der zusammenlaufenden Isoglossen geworden. Solche Isoglossenbündel markieren diskontinuierliche Momente oder, z. B. im Falle von Sprachinselsituationen, auch regelrechte Brüche des sprachräumlichen Kontinuums. Für Wenker, der, wie man inzwischen weiß, auf diesen Zugang gezielt zurückgreift (vgl. z. B. Wenker [1892] 2013: 204−205 zur Kt. ich), konnte eine konzeptuelle Anbindung an die von seinem Lehrer Schmidt entwickelte Wellentheorie aufgezeigt werden, die somit auch auf die deutsche Dialektologie schon sehr früh einwirkt (vgl. Lameli 2014a: 21−22). Im Schwäbischen hat Haag (1898) solche Strukturen in einem taxonomischen Ansatz, bei dem das zugrundeliegende Ortsnetz in Thiessen-Polygone transformiert wird, aufgedeckt. Die Dicke der Polygonlinien bemisst sich dann über die Anzahl der am jeweiligen Ort zusammenfallenden Isoglossen, so dass ein strukturiertes und dabei hierarchisch gewichtetes Gliederungsbild entsteht. Diesem Ansatz haben sich während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Landschaftsbeschreibungen erfolgreich angeschlossen (vgl. die frühen Arbeiten der Reihe Deutsche Dialektgeographie; DDG). Was in kleinregionaler Ausrichtung gut umzusetzen ist, gestaltet sich für das Verbreitungsgebiet der Gesamtsprache jedoch deutlich schwieriger. Für diese Ausrichtung lässt sich daher eine weitere konzeptuelle Verschiebung feststellen, indem Isoglossen nur noch als „technische Hilfskonstruktionen“ verstanden werden (Wrede 1926: 12). Sie bezeichnen dann, wie Wrede (1926: 10) schreibt, „keine Grenzlinien, sie bezeichnen nur Grenzzonen, in denen beide Formen der Nachbargebiete noch nebeneinander stehen“. Auf die Einteilungsversuche der Dialekte wirkt sich dies so aus, dass nunmehr auf die Darstellung expliziter Übergangsgebiete verzichtet werden kann. Stattdessen werden auf der Grundlage eingehender Sprachkartenvergleiche einzelne Sprachvarianten selektiert, denen ein prototypischer Wert zukommt, d. h. die geeignet sind, in bestimmten Raumausschnitten bestehende Isoglossenbündel bestmöglich abzubilden. Die Einteilung Wredes (1937) ist diesem Weg am konsequentesten in einem die Sprachlandschaften binär differenzierenden Ansatz seit 1903 gefolgt. Der prototypische Wert einzelner Isoglossen wurde dabei einerseits durch die sich über Jahrzehnte erstreckende Evaluierung von Sprachatlaskarten durch Wrede selbst, andererseits aber auch durch die gezielte Analyse seitens kleinräumig operierender Forscher ermittelt. Die hierarchisch strukturierende Methode Haags wirkt in der Einteilungskarte selbst in einer Gewichtung der einzelnen Variantenverteilungen nach, so dass sich zwischen den ausgewiesenen Arealen klassifizierte Ähnlichkeitsrelationen ausmachen lassen, die zugleich als Bewertung der individuellen Verwandtschaftsgrade interpretiert werden können.
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Man hat hierin in einer Zeit, in der die Erschließung kultureller Wurzeln einen gewissen Schwerpunkt beanspruchen kann (vgl. Lameli, Art. 32 in diesem Band), eine unnötige Linguistisierung erkannt, die dann von kulturwissenschaftlicher Seite aus der Kritik unterzogen wurde (vgl. Bach 1950: 27). Im Kern sehen die Kritiker eine Vernachlässigung vor allem der sprachhistorischen und sozio-kulturellen Bedingungen (Kriterien 2 und 3), die z. B. in der Einteilung von Behaghel − bezeichnenderweise in einem Artikel über die Geschichte der deutschen Sprache veröffentlicht − schon integrativ gefasst waren. So werden in Behaghels Zugang bestehende Sprachgrenzen konsequent hinsichtlich ihrer historischen Stabilität bewertet (Kriterium 2), wenn auch ohne die kulturellen Anbindungen, die etwa Haag (1900) aufzeigt (Kriterium 3). Diese wirken aber vermittelt, wenn z. B. − wie auch heute bisweilen noch üblich − das Niederdeutsche nicht zuletzt mit dem sächsischen Siedelgebiet begründet wird. Solche Herleitungen versucht Wrede nun in seiner Einteilung bewusst auszublenden, indem er z. B. auf die etablierten Bezeichnungen der Dialektgruppen nach Stammesnamen (Fränkisch, Bairisch etc.) zugunsten einer streng formalisierten Nomenklatur konsequent verzichtet und damit eine Gliederung auf „linguistisch exakt verifizierbaren Grundlagen“ (Niebaum & Macha 2014: 91; Hervorhebung im Original) erstellt. Indem somit Kriterium 1 ins Zentrum rückt, kann die angesprochene Zirkularität umgangen werden. Sie mag auf anderer Ebene, nämlich durch eine allgemeine Prägung der Wissenschaftstradition, gleichwohl immer noch nachwirken.
3.3. Zweckbestimmung und Aussagequalität Die angesprochene Kritik ist vor dem Hintergrund der nun verstärkt einsetzenden Reflexion um die Zweckbestimmung und die Aussagequalität der Einteilungskarten zu bewerten. Lange Zeit dienen Einteilungen schlicht dazu, einen strukturierenden Überblick über die Sprachlandschaft zu erlangen. Sie bilden das Ergebnis einer in ihrer Methodik nicht immer ganz nachvollziehbaren Beschäftigung mit den sprachlichen Charakteristika eines bestimmten Raumausschnitts bzw. der Reichweite einer bestimmten arealen Varietät, so z. B. bei Bernhardi oder Berghaus. Während diese Autoren die Karte selbst als das eigentliche Ergebnis ihrer Arbeit begreifen, kommt der Einteilungskarte Schmellers ein anderer Anspruch zu. Wie gezeigt werden konnte, dient sie ihrem Autor primär als räumliches Register, um die textlich getroffenen Differenzierungen alternativ erschließen zu können (vgl. Lameli 2010: 571). Die Karte steht damit deutlich hinter der eigentlichen Sprachbeschreibung zurück und ist im Argumentationsgang klar nachrangig. Auch für Bremer ist die Analyse zentral, nicht die Karte, doch bildet die Karte das Analyseergebnis überblicksartig ab, womit sie einen hohen argumentativen Wert erhält. Inhaltlich bringt Bremer seine Einteilung ausdrücklich mit dem Siedelgebiet der historischen Stämme in Verbindung, in denen er die Wurzel der wesentlichsten Besonderheiten der Dialekte sieht, womit also insbesondere das sprachhistorische Kriterium getroffen ist. Ähnlich verhält es sich mit Wenkers Karte zum Rheinischen Platt (1877), die ebenfalls in einen kulturhistorischen Diskurs eingebettet ist. Nimmt man ergänzend die kulturbezogenen Ergebnisse jener Zeit in den Blick, wie sie z. B. Haag (1900) auf der Grundlage seiner Kartenauswertungen präsentiert, so erfüllen Raumanalysen und somit auch Raumgliederungen alsbald den Zweck der Definition von Kulturlandschaften. In den Vordergrund rückt damit das dritte Kriterium. Hier eröffnen Einteilungen also einen Blick in die Sprach- und Kulturgeschichte, während sie bei Wrede, obwohl er selbst als einer der Protagonisten der sozio-
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kulturell bezogenen Forschung zu gelten hat, in der Frage der Dialektgliederung eine rein synchrone Sprachzustandsbeschreibung erlaubt (Kriterium 1). Dieser Ansatz ist nicht zuletzt an die philologische Arbeit geknüpft, dient die linguistische Einteilung doch in jener Zeit verstärkt dem Zweck, die Provenienz unlokalisierter Sprachdenkmäler zu entschlüsseln (Wagner 1927: 1). Die Einteilung selbst ist dann primär nicht mehr als Modell der soziokulturell bedingten Gesamtsprache, d. h. der Kulturlandschaft zu verstehen, sondern als Modell der sprachlichen Typizität, nicht mehr primär als Ergebnis der sprachkulturellen Analyse, sondern als Hilfsmittel der philologischen Arbeit. So ist es auch aufzufassen, wenn Behaghel (1901: 662) konstatiert, eine Einteilung sei trotz aller Schwierigkeit in der Umsetzung „aus praktischen Gründen […] kaum zu entbehren“. Auf diese Weise stehen sich folglich zwei Modelltypen gegenüber, die Ausdruck unterschiedlicher Forschungsinteressen bzw. Forschungsperspektiven sind. Im Lauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt der zweite Modelltyp deutlich in den Vordergrund. Dies ist allerdings weniger philologischen Motiven als vielmehr der zunehmend strukturalistischen Orientierung der Sprachwissenschaft geschuldet, die kulturelle Aspekte klar in den Hintergrund stellt. Ein weiterer Grund für die verstärkt sprachstrukturelle Orientierung ist darauf zurückzuführen, dass, im Gegensatz zum frühen 19. Jahrhundert, inzwischen sehr umfangreiche Datenmengen zur Verfügung stehen, auf die zur Raumklassifikation zurückgegriffen werden kann. Konsequenterweise werden in jüngerer Zeit quantifizierend ausgerichtete Arbeiten zunehmend wichtig. Bezug nehmend auf die oben angesetzten Kriterien lässt sich auf diese Weise eine nicht nur individuelle, sondern auch über die Zeit sich vollziehende Verschiebung in der germanistischen Schwerpunktsetzung erkennen.
4. Ansätze im jüngeren Forschungsdiskurs 4.1. Konzeptuelle Voraussetzung Im Gegensatz zu den geschilderten historischen Bedingungen dominieren den aktuellen Forschungsdiskurs Einteilungen nach den sprachinternen Kriterien. Zwei Zugänge lassen sich grob unterscheiden, ein datenbewertender, d. h. primär qualitativ orientierter, und ein primär datenquantifizierender. Der erste Zugang ist i. d. R. strukturalistisch geprägt, der zweite greift auf Methoden der numerischen Taxonomie, inzwischen auch der Stochastik und der räumlichen Statistik zurück und fällt damit in das Themengebiet der Dialektometrie (vgl. Goebl 1984). Beide Ansätze basieren auf dem schon bei Haag sichtbar gewordenen Prinzip der sprachlichen Ähnlichkeit, die im Detail freilich auf unterschiedliche Weise begründet werden kann. Nach Arndt (1963: 3) bedingt die gemeinsame Ähnlichkeit geographische Kerne („Kernlandschaft“ bei Haag), zu denen er schreibt: ‚Gemeinsame Kerne‘, d. h. Bestände von praktisch gleichen sprachlichen Zügen und Kennzeichen der Phonologie (Phonetik und Phonemik), der Grammatik (Morphologie und Syntax), des Sprachschatzes, der Intonation, verbinden einander benachbarte oder unferne Dialekte etwa umgekehrt proportional ihrer Entfernung. Der von solchen Gemeinsamkeiten weitgehend bestimmte Verständigungsradius erweitert sich wohl ferner durch eine rezeptive Vertrautheit der Sprecher mit ihnen an sich fremden Sprachzügen.
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Abb. 7.1: Kreisschema der Dialektähnlichkeit (Arndt 1963: 3)
Damit ist ein Grundkonzept der modernen Einteilungen auf Grundlage von Kriterium 1 und unter Berücksichtigung des Aspekts der kommunikativen Reichweite ausformuliert. Für die Konzeptualisierung der Sprachraumstruktur bleibt dies nicht ohne Konsequenz. So geht Arndt (1963: 3) davon aus, dass sich „mehrere regionale Kerngebiete verschiedener Größen und Formen […] zu einem sprachlichen Übersystem zusammenfügen“ können, sich also hierarchische Beziehungen zwischen einzelnen Dialekten definieren lassen, z. B. im Sinne des Übersystems Bairisch und des Teilsystems Nordbairisch. Diesem Umstand wird nun allerdings der Begriff des Kontinuums nicht mehr voll gerecht. Man hat es in dieser Konzeption nach Arndt (1963: 3) nicht mehr „mit einem einzigen, schwer erfaßbaren Kontinuum von Dialekten zu tun, die sich einander theoretisch mit radialer Entfernung ad infinitum entfremden, sondern mit mehreren kernbestimmten Teilsystemen, die peripher zusammenhängen.“ Schematisch führt dies zum Modell in Abb. 7.1. In jüngerer Zeit wurde argumentiert, dass solche kernbestimmten Teilsysteme je eigene sprachliche Kompetenzprofile der Kommunikanden in den betreffenden Regionen repräsentieren. Zwischen den Gebieten verbergen sich so gesehen „in Mesosynchronisierungen [i. e. in gleichgerichteten Synchronisierungen innerhalb einer Sprachgemeinschaft; A. L.] nicht unüberwindbare Differenzen der linguistischen Kompetenz“ (Schmidt & Herrgen 2011: 216). Diese lassen sich zwischen den Regionen über spezifische sprachliche Kontraste, sog. Strukturgrenzen, sichtbar machen, die letztlich für bestimmte sprachsystemische Eigenarten der Regionen stehen (z. B. unterschiedliche Anzahl an Stufen im Vokalsystem). Die genaue praktische Ausformung solch linguistisch definierter Sprachareale kann allerdings je nach Zugangsweise unterschiedlich ausfallen, wie auch die Definition des Systembegriffs, sofern überhaupt in Anwendung, bisweilen differiert. Vor allem aber ist die sprachliche Grundlage der Kerne bis heute noch nicht integrativ gefasst worden, sondern lediglich selektiv. Einteilungen zum übergeordneten Sprachraum konzentrieren sich dabei insbesondere auf die segmentell-phonologische und morphologische Ebene, mitunter auch auf die Lexik. Auf prosodischer und syntaktischer Ebene stehen entsprechende Einteilungen ebenso aus, wie eine Zusammenführung all dieser Systemebenen in ein einheitliches Gesamtbild. Die Priorisierung der Lautebene hat einerseits praktische Gründe (vgl. Arndt 1963: 6; Wiesinger 1983: 810−811), andererseits hat man der Phonologie einen besonders hohen Abbildungswert der sprachräumlichen Strukturen beigemessen, was dann Sinn macht, wenn man z. B. mit Schmidt & Herrgen (2011: 214) davon ausgeht, dass „[p]honologische Systeme die sprachkognitive Aufgabe [haben], lexikalische Einheiten unterscheidbar zu machen“. Damit sind also phonologische Eigenschaften über die Lautebene hinweg, und dann nicht nur für die Lexik, relevant. Dennoch wird eine umfassende Beschreibung der Dialektlandschaft in der Zukunft auch die übrigen Systemebenen zu berücksichtigen haben.
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4.2. Datenbewertende Ansätze Als datenbewertend sind hier solche Klassifikationen angesprochen, die wesentlich auf dem Kriterium der Typizität gründend Sprachräume und Raumstrukturen über selektierte Varianten definieren. Die Anfänge dieser Richtung lassen sich wie gesehen bei Schmeller und dann im Umfeld von Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs festmachen. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weisen Niebaum & Macha (2014: 93−97) auf die besondere Präsenz strukturalistischer Einteilungen hin. Diese Einteilungen überwinden die Einzelbetrachtung von Isoglossen zugunsten einer Betrachtung, die auf das Zusammenwirken der einzelnen sprachlichen Phänomene innerhalb des Sprachsystems hin ausgerichtet ist. Es geht dann nicht mehr vorrangig um den prototypischen Wert einer sprachlichen Variante in einer bestimmten Region, sondern um die Struktur des spezifischen sprachlichen Systems (z. B. Lautreihe, morphologisches Paradigma), in das die Variante in einer bestimmten Region eingebunden ist. Prototypischer Wert kann ihr dann immer noch zukommen, aber eben nicht für systemisch eher unbestimmte Variantenbündel, sondern für sprachliche (Teil-)Systeme in einer Region. Wegweisend sind für diesen strukturalistischen Zweig, neben Weinreichs (1954) grundlegendem Aufsatz, vor allem die empirischen Arbeiten von Moulton zu Schweizer Varietäten (z. B. Moulton 1963, 1968). Am Beispiel der Nordschweiz präsentiert Moulton (1963: 79) z. B. eine strukturelle Einteilung, die auf der Form der lokalen Vokalsysteme aufbaut. Einteilend im eigentlichen Sinne sind auch die Arbeiten zum Niederdeutschen von Panzer & Thümmel (1971) sowie Teepe ([1973] 1983) und für den binnendeutschen Gesamtraum die Arbeit von Wiesinger (1983). Hervorzuheben ist hier zunächst Teepes Ansatz, der eine frühere Arbeit von Wortmann (1960) fortführt und sich auf unterschiedliche Phänomene des Vokalismus und Konsonantismus konzentriert. In seiner Einteilungskarte werden die in den niederdeutschen Dialekten repräsentierten Kontinuanten der mnd. ê- und ô-Laute differenziert, womit also der an sich synchrone Befund diachron zumindest teilmotiviert ist (Kriterien 1 und 2). Im Besonderen treten in dieser Einteilung auf vergleichsweise einfacher Ebene phonemische Strukturoppositionen hervor, die eine neue Gliederung der Dialektlandschaft ermöglichen (vgl. auch Niebaum & Macha 2014: 95, zum Niederdeutschen insgesamt auch Foerste [1957] 1978). Teepe gelingt damit für das Niederdeutsche der wichtige Beleg, dass der strukturalistische Ansatz in der Lage ist, kohärente Raumstrukturen aufzudecken und dabei neue Sichtweisen auf den Sprachraum zu eröffnen. Da das Primat der systemischen Relevanz zugleich die Selektivität der Varianten steuert, erhöht Teepe in gewisser Weise die Objektivität des Vorgehens. Dies ist auf der anderen Seite durch eine äußerst strenge Reduktion auf einen sehr kleinen Ausschnitt der phonologischen Ebene erkauft, womit nur geringe Repräsentativität beansprucht werden kann. Diesen Ansatz erweitert Wiesingers struktureller Einteilungsversuch, der den Sprachraum in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts repräsentiert. Seine Karte (Wiesinger 1983: Kt. 47.4) ist inzwischen eine Standardreferenz der dialektalen Raumstruktur geworden. Wesentlich sind dabei die diachronen Entwicklungen der vor allem phonologischen, aber auch morphologischen Teilsysteme seit mittelhochdeutscher bzw. mittelniederdeutscher Zeit. Diese historische Herleitung, die Arndt (1963: 5) aus strukturalistischer Warte noch als „irrelevant“ bewertet, ist in theoretischer Hinsicht u. a. wichtig für die Begründung der Dialekte als Varietäten des Deutschen. Damit konzentriert sich Wiesinger explizit auf sprachinterne Bedingungen nach Maßgabe der oben genannten
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Kt. 7.1: Systemdifferenzierende Einteilung des binnendeutschen Sprachraums (Wiesinger 1983: Kt. 47.4)
Kriterien 1 und 2. Um dabei Anschlussfähigkeit an die Forschungstradition zu erzielen, behält er die außersprachlich motivierten Dialektbezeichnungen bei. Wiesingers eigentliches Vorgehen besteht darin, zunächst für jeden Sprachraum die räumlich differenzierbaren Kontinuanten jeweils eines historischen Bezugsphänomens zu identifizieren. In einem zweiten Schritt kombiniert er die gefundenen Verteilungen der einzelnen Bezugsphänomene und generalisiert diese in einem dritten Schritt zu einem abschließenden Gesamtbild, der eigentlichen Einteilungskarte (vgl. Kt. 7.1). Aufgrund der teilweise sehr unregelmäßigen Überlagerung der Varianten ergeben sich Kern- und Übergangsregionen, die dem von Arndt entwickelten Modell entsprechen. Eine Besonderheit liegt darin, dass Wiesinger zumindest in seiner kartographischen Repräsentation auf die Markierung hierarchischer Strukturen (z. B. im Sinne der Übersysteme bei Arndt) verzichtet, wenn er sie auch in seinen textlichen Ausführungen berücksichtigt. Auf diese Weise entsteht jedoch kartographisch das durch die oben getroffenen Erwägungen zum
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Konzept der kernbestimmten Teilsysteme beeinflusste Bild gleichrangiger arealer Varietäten. Wie Schröder (2004: 63−64) herausstellt, konzentriert sich Wiesinger für das Niederdeutsche auf die in den traditionellen Einteilungen bereits erarbeiteten Phänomene. Ähnlich verhält es sich auch im hochdeutschen Raum. Insofern ist es nicht allzu überraschend, dass sich als Kerne im Wesentlichen die schon bekannten Dialektregionen mit teilweise abweichendem Verbreitungsgebiet ergeben. Auffällig ist die Ausdifferenzierung der westmitteldeutschen, insbesondere der hessischen Dialekte, die ähnlich schon bei Bremer zu erkennen ist. Alles in allem zeigt Wiesinger somit in Ergänzung Teepes, dass der strukturalistische Ansatz bei hinreichend großem Differenzierungsmaterial grundsätzlich in der Lage ist, dieselben oder zumindest sehr ähnliche Raumstrukturen wie die früheren Ansätze zu belegen, dies allerdings dann mit der bedeutsamen Validierung über den systemischen Aspekt. Kritik hat sich seit den ersten Ansätzen (Wiesinger 1970) an der phonetischen Operationalisierung, aber auch an dem Umstand erhoben, dass zwar i. d. R. phonologische Oppositionen, aber keine phonologischen Merkmale bedacht sind (vgl. Moulton 1972). In diese letzte Richtung arbeitet Veith (1995), allerdings ohne abschließendes Ergebnis. Wegweisend wurde Wiesingers Vorgehen auch für weitere strukturelle Einteilungen zu Teilregionen des Deutschen. Allem voran ist hier die auf Grundlage des Mittelrheinischen Sprachatlasses (MRhSA) erarbeitete Karte zu den Strukturgrenzen des Westmitteldeutschen zu nennen (vgl. Bellmann, Herrgen & Schmidt 2002).
4.3. Datenquantifizierende Ansätze Auch die hier zu besprechenden quantifizierenden Ansätze greifen auf die gemeinsamen Schnittmengen an Varianten zurück, die alle Dialekte einer Gesamtsprache untereinander notwendigerweise aufweisen. An die Stelle der Frage nach der Systemeinbindung tritt nun allerdings die Frage nach der (aggregierten) sprachlichen Ähnlichkeit an sich, die je nach Korpus und Untersuchungsfrage neu zu definieren ist. Eine allgemeine Verfahrensweise der hier ansetzenden Klassifikationen beschreibt Naumann (1976: 133) folgendermaßen: „1. Schritt − Aufstellen einer Ähnlichkeitsexplikation bzw. Distanzfunktion, 2. Schritt − Gewichtung, 3. Schritt − Auffinden von Gruppierungen.“ Im Grundsatz entspricht dies nicht nur dem Schema der frühen, international seit den 1920er Jahren vorgelegten numerisch klassifizierenden Arbeiten, wie z. B. der Arbeit von Reed & Spicer (1952), die sich explizit der Analyse von arealen, hier amerikanischen Varietäten in räumlichen Übergangssituationen widmen. Auch die jüngeren dialektometrischen Arbeiten, etwa im Gefolge Goebls (1984), entsprechen diesem quantifizierenden Verfahrensansatz. Der eigentliche Wert dieses Zugangs bemisst sich zunächst an Effizienzgründen, ermöglicht er doch, große Datenmengen zu verarbeiten (vgl. Putschke 1993: 421). Zudem bietet der statistische Zugriff neue Möglichkeiten der Auswertung, die abermals geeignet sind, die Dialektlandschaft aus neuen Perspektiven zu betrachten. Für den geschlossenen binnendeutschen Sprachraum liegen bislang keine quantifizierenden Einteilungen vor, sehr wohl aber für nationale Teilräume. Die umfangreichste Arbeit dürfte Hummels dialektometrische Auswertung des Kleinen Deutschen Sprachatlas (KDSA) sein (Hummel 1993a), die ca. 6.000 Orte auf dem Gebiet des Deutschen
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Reichs zur Wenkerzeit in den Blick nimmt. In der Frage der Einteilung bedient sich Hummel des sog. relativen Kohärenzmittels (Hummel 1993a: Kt. 266−267), wobei es sich letztlich um die durchschnittliche Ähnlichkeit der Untersuchungsorte handelt. Der dritte Schritt der Verfahrenskette, die Gruppierungen, nimmt Hummel davon unabhängig über Ähnlichkeitsprofile einzelner Referenzorte vor, nicht aber über Datenfusionierungen, die zu jener Zeit schon in anderen Arbeiten genutzt werden, um areale Varietäten zu ermitteln, wie etwa in der Einteilung der Dialekte in den Niederlanden durch Hoppenbrouwers & Hoppenbrouwers (1993) mittels hierarchischem Clustering und multidimensionaler Skalierung auf der Grundlage phonologischer Merkmale. Diesen Schritt vollziehen mit ähnlicher Fusionierungstechnik Nerbonne & Siedle (2005) in ihrer Auswertung des von Göschel erarbeiteten Transkriptionskorpus des Phonetischen Atlas von Deutschland (PAD) an 186 Orten der BRD. Ihre Klassifikation bestätigt in der Fusionierung das Hoch- und Niederdeutsche sowie Teile des Mitteldeutschen. Die Ordnungsstrukturen sind allerdings mit insgesamt fünf Großräumen deutlich gröber als in den bekannten datenbewertenden Arbeiten. Überhaupt scheint in der Anzahl der ausgewiesenen Räume ein wesentlicher Unterschied zwischen den hier diskutierten Ansätzen vorzuliegen. Gerade die datenbewertenden Ansätze scheinen bestrebt zu sein, möglichst kleinräumige Areale aufzuspüren, wie dies oben schon an der frühen Arbeit von Berghaus deutlich wurde. Computative Gliederungen zeichnen hier jedoch häufig ein anderes Bild, sodass Hummel (1993b: 394, vgl. auch Putschke 1993: 426−427) nach Auswertung der KDSA-Daten sogar die Frage aufwirft, ob die Datenlage „eine derart kleinräumige Gliederung, wie sie in allen gängigen Gliederungskarten zu finden ist, rechtfertigt“. In den regionalen dialektometrischen Einteilungen wurden hingegen sehr wohl auch kleinräumige Varietäten ermittelt (vgl. z. B. Schiltz 1996; Möller 2003; Streck 2012; Pickl 2013; Mathussek 2014; Pröll 2015), doch sind die Arbeiten aufgrund jeweils unterschiedlicher Methodik, Datenkorpora, Systemebenen und Registerausschnitte untereinander nur schwer vergleichbar. Einen Weg, der die qualitativen und quantifizierenden Arbeiten explizit verbindet, schlägt daher Lameli (2013) ein. Diese Arbeit nimmt für 439 Landkreise der BRD eine Re-Analyse von Wredes Einteilungskarte mit raumstatistischen Methoden vor. Eingebunden sind damit Wredes prototypische Phänomene der Laut- und Formenebene aus Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs. Da es sich dabei um die wichtigste Datenquelle aller Einteilungen seit dem 19. Jahrhundert handelt, ermöglicht dieser Ansatz einen besonders guten Vergleich zwischen den einzelnen Gliederungen. Methodisch ist das Vorgehen zudem mit den Arbeiten von Hummel und Nerbonne & Siedle kompatibel, so dass sich direkte Vergleichbarkeit ergibt. Im Ergebnis werden hier 14 Großräume identifiziert (Abb. 7.2), die hinsichtlich ihrer Erstreckung mit den bekannten Arbeiten konform gehen. Damit ist abermals ein reduzierter Gliederungsumfang belegt, wobei gleichzeitig die metrische Struktur des Sprachraums ausgewiesen werden kann (Abb. 7.2/B). Die von Arndt angesetzten Kern- und Übergangsräume werden hier nicht interpretiert, sondern statistisch in unterschiedlichen Auflösungsgraden ermittelt. So handelt es sich bei den schraffierten Flächen in Abb. 7.2/A um solche Regionen, die in einem Resamplingverfahren mal dem einen, mal dem anderen Sprachraum zugeschrieben werden, während die farblichen Verdichtungen in Abb. 7.2/B Werteähnlichkeiten im Rahmen einer multidimensionalen Skalierung belegen. Neu sind zudem die Befunde zur Hierarchie der Räume. Hervorzuheben ist zunächst die Sonderstellung des Mittelfränkischen (hier als Westdeutsch terminologisiert), sodann die Auflösung der Relation von West- und Ostniederdeutsch und schließlich die viel
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Abb. 7.2: Similaritätsbezogene Einteilung der Dialekte in Deutschland; A: Hierarchische Gliederung (Lameli 2013: 193−194); B: Metrische Struktur (Lameli 2013: 197)
geringere Differenzierbarkeit der niederdeutschen Dialekte im Kontrast zu den hochdeutschen Dialekten. Insgesamt kann mit dieser Arbeit gezeigt werden, dass die Annahme der prototypischen Variablen an sich durchaus stichhaltig ist, die durch die Wissenschaftler vorgenommenen Gewichtungen, die sich dann in einer die Forschungslandschaft dominierenden Traditionslinie verfestigt haben, in wichtigen Teilen jedoch nicht reliabel sind. Blendet man die tradierten Muster aus, ergeben sich sogar eindeutige Bezüge zur Gliederung auf lexikalischer Ebene oder zu bekannten Besonderheiten weiterer Systemebenen. Die Traditionengebundenheit mindestens ein Stück weit aufzulösen und damit neue Perspektiven auf den Sprachraum freizugeben, ist somit ein weiterer hoher Wert der quantifizierenden Arbeiten. Gleichwohl bleiben einige Probleme auch weiterhin bestehen. So ist es bislang nicht gelungen, sämtliche Systemebenen in ein Gesamtbild zu integrieren. Immerhin liegen
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Ansätze vor, wie z. B. die Arbeit von Scherrer & Stoeckle (2016) zur Deutschschweiz. Die Autoren vergleichen für ihr Untersuchungsgebiet Klassifikationen auf Grundlage phonologischer, morphologischer, lexikalischer und syntaktischer Phänomene, wobei sie zum Schluss kommen, dass „although we find many differences between the linguistic levels, they generally seem to be coherent“ (Scherrer & Stoeckle 2016: 120). Ob sich dieser Befund auch außerhalb der Schweiz und über die Sprachregionen hinweg bestätigen würde, muss derzeit offen bleiben. Insbesondere die prosodische (vgl. Peters 2006; Leemann 2012), aber auch die syntaktische Ebene, die auch in der Schweiz aufgefallen ist, könnte hier alternative Raummuster zeigen. Ein eher methodisches Problem ist in den Daten selbst zu sehen. Klassifizierende Arbeiten, seien sie datenbewertend oder datenquantifizierend, greifen fast ausnahmslos auf normalisierte und typisierte, d. h. auf geglättete Daten zurück. Dies wirkt sich notwendigerweise auch auf die sich ergebenden Raumbilder aus. Werden, wie üblich, Atlaskarten ausgelesen, so finden sich darunter i. d. R. nur Karten mit umfassender sprachlicher und häufig konsistenter räumlicher Variation. Hingegen sind Raumverteilungen mit geringer oder überhaupt keiner Variation klar unterrepräsentiert. Das sich daraus ergebende Problem besteht in einer Überbetonung der kleinräumigen Differenzmengen zulasten der Schnittmengen. Allerdings scheinen die dialektometrischen Arbeiten diesen Effekt durch die Masse an Daten ein Stück weit zu kompensieren, was sich an den größeren Raumeinheiten, die sie ausweisen, erkennen lässt. Letztlich stehen aber auch in diesem Bereich noch eingehendere Forschungsarbeiten aus.
4.4. Zusammenführung zu einer Einteilung der arealen Varietäten des Binnendeutschen Die horizontale Variation der arealen Varietäten des Binnendeutschen lässt sich im Rückgriff auf die in den oben angesprochenen Arbeiten gefundenen Raumstrukturen und nach Maßgabe vor allem des ersten oben angesetzten Kriteriums folgendermaßen beschreiben. Es bestehen zwei Großräume, das Hochdeutsche und das Niederdeutsche, die über je eigenständige sprachsystemische Strukturen verfügen. Davon abgrenzen lässt sich aufgrund typologischer Eigenarten das Nordfriesische, für das bisweilen Sprachenstatus sowie eine eigenständige dialektale Subgliederung reklamiert wurde (vgl. Walker 1983). Eigenständigkeit kann auch die mittel- und niederfränkische Dialektgruppe beanspruchen, das sog. Westdeutsche (Abb. 7.2 unten), das eine Übergangssituation zwischen dem Niederdeutschen und Hochdeutschen mit besonders scharfer Abgrenzung nach Süden beschreibt, wobei ein sprachlicher Sonderbestand auszumachen ist, der nicht zuletzt an prosodische Phänomene gebunden ist (v. a. die dortigen Tonakzente, vgl. Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band). Die Sonderstellung dieser Dialektgruppe oder zumindest von Teilräumen dieser Gruppe zeigt sich auch in den einschlägigen quantifizierenden Arbeiten (z. B. Nerbonne & Siedle 2005). Sie lässt sich zudem auf sprachgeschichtlicher Ebene nachweisen (Kriterium 2, vgl. Hildebrandt [1987] 2003) wie auch auf sprachperzeptiver Ebene (Kriterium 3, vgl. Schmitt 1992). Über das in Abb. 7.2 ausgewiesene Sprachgebiet hinaus, muss auch das Letzeburgische zu dieser Gruppe gerechnet werden, möglicherweise auch Teile der Niederlande und Belgiens. Damit fällt der Blick auf die beiden Hauptgruppen. Im Forschungsdiskurs besteht hier weithin Einigkeit über die anzusetzenden Teilräume des Mittel- und Oberdeutschen.
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Folgt man der Sonderstellung des Westdeutschen, so lässt sich das Westmitteldeutsche auf die rheinfränkischen und hessischen Dialekte eingrenzen (westliches Mitteldeutsch in Abb. 7.2, Subgliederung nach Wiesinger in Kt. 7.1). Die Dialekte des Ostmitteldeutschen (Thüringisch, Sächsisch, Schlesisch in Kt. 7.1) bilden ebenfalls eine deutliche Einheit (östliches Mitteldeutsch in Abb. 7.2). Gerade an diesen mitteldeutschen Dialekten zeigt sich der Erkenntniswert der in quantifizierenden Arbeiten gefundenen gröberen Auflösung. Wie in Perzeptionsstudien deutlich wurde, entsprechen die in Abb. 7.2 ausgewiesenen Dialektgruppen den Grenzen der regionalen Oralisierungsnormen, d. h. dem, wenn man es so nennen möchte, landschaftlichen Hochdeutsch (vgl. Purschke 2011; Lameli 2013: 240; Ganswindt 2017: 157). Das Oberdeutsche gliedert sich in drei Hauptgruppen, das Ostfränkische, Bairische und Westoberdeutsche, jeweils mit entsprechender Subgliederung (Kt. 7.1). Während das Ostfränkische auf das Gebiet der BRD begrenzt ist, umfasst das Bairische zudem geringe Teile Tschechiens sowie den größten Teil Österreichs. Im Westoberdeutschen ist zunächst das Schwäbische als Sonderraum dieser Dialektgruppe anzusetzen, das sich über ein auffallend exklusives Variantenrepertoire auszeichnet (vgl. Lameli 2014b). Etwas kohärenter fügen sich das Nieder-, Hoch- und Höchstalemannische in Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Liechtenstein und Österreich in diese Dialektgruppe ein, wobei das Höchstalemannische aufgrund seiner teils exklusiven sprachlichen Merkmale abermals eine Sonderstellung beanspruchen kann (vgl. Wiesinger 1983: 835−836). Für das Niederdeutsche fällt die Subgliederung, wie schon angedeutet, deutlich schwerer. Dies hat im Wesentlichen mit einer größeren sprachlichen Nähe der niederdeutschen Dialekte zueinander zu tun. Wie die Strukturübersicht in Abb. 7.2 verdeutlicht, liegt die erste Stufe der niederdeutschen Subgliederung ungefähr auf dem Differenzierungsniveau von Bairisch und Ostfränkisch. Das bedeutet eine strukturell sehr viel größere Ähnlichkeit der niederdeutschen Dialekte. Ein sprachlicher Unterschied, wie er z. B. zwischen dem Zentralhessischen und dem Mittelbairischen vorliegt, ist im Niederdeutschen folglich nicht zu finden. Hierin liegt auch begründet, warum die Ausdifferenzierung dieser Dialektgruppe forschungsgeschichtlich lange Zeit als problematisch angesehen wurde. Was nun die eigentliche Subgliederung anbelangt, so ist die häufig angesetzte Differenzierung eines westniederdeutschen Raums von einem ostniederdeutschen aus verschiedenen Gründen nicht stichhaltig. Dies gilt nicht nur deshalb, weil sie außersprachlich auf der Differenzierung von Alt- und Neusiedelland zu einer Zeit aufbaut, da die östliche Erstreckung deutlich größer war als gegenwärtig. Sondern insbesondere die in mehreren Arbeiten aufgefallene starke strukturelle Nähe zwischen dem Mecklenburgisch-Vorpommerschen und dem Nordniederdeutschen spricht für die gegenwärtigen Bedingungen gegen diesen Ansatz (vgl. Foerste [1957] 1978: 1874). Stattdessen erscheint die Unterscheidung dieser nördlicheren Gruppe von einer südlicheren Gruppe, die zur Bewahrung relikthafter Sprachformen neigt (vgl. Wiesinger 1983: 874), plausibel. Angesprochen sind damit das Ostfälische und Westfälische. In den quantifizierenden Arbeiten ist zudem ein weiter westlich gelagerter Dialektraum (Westniederdeutsch in Abb. 7.2) aufgefallen, den zwar Wiesinger nicht aufführt (Kt. 7.1), der aber in historischen Einteilungen häufig ausgewiesen ist (z. B. Bremer 1892). An dieser Stelle zeigt sich die enge Anbindung des Niederdeutschen an das Niederländische, dessen östlicher Ausläufer in diesem Dialektraum zu erkennen ist. Eine Besonderheit im Niederdeutschen stellt zudem das Brandenburgische dar. Wie Abb. 7.2/B verdeutlicht, hat man es hier mit einem Über-
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gangsraum zum Ostmitteldeutschen zu tun, was mit starken Verhochdeutschungstendenzen zu tun hat, die sich in jener Region sprachhistorisch feststellen lassen (hierzu schon Bremer 1928: 74).
5. Schlussbemerkung Um den Sprachraum zu gliedern wurden in der Vergangenheit je nach Forschungsinteresse unterschiedliche Techniken genutzt, die zu teilweise sehr unterschiedlichen, teilweise aber auch zu sehr einheitlichen Ergebnissen geführt haben. Auch wenn es wünschenswert erscheint, über eine verbindliche Einteilung zu verfügen, etwa um Referenzsicherheit im wissenschaftlichen Diskurs herzustellen, so eröffnen Einteilungen zugleich die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven auf den Sprachraum zu gewinnen. Gerade weil die Differenzierung möglicher Teilräume je nach Ansatz unterschiedlich ausfallen kann, ergibt sich ein exploratives Potential, das den wissenschaftlichen Diskurs befruchten kann, wie aus den unterschiedlichen oben aufgeführten Versuchen deutlich geworden ist. Hierfür steht z. B. auch der mit Kt. 7.2 wiedergegebene integrative Ansatz von Schmidt, Pheiff & Pistor (Schmidt 2017: 107), der eine Kombination der von Wiesinger aufgezeigten ungewichteten kleinräumigen Strukturräume mit den bei Lameli sichtbar gewordenen Großräumen und Hierarchien vornimmt. Die dort modellierte Einteilung der arealen Varietäten des Deutschen stellt ein auf unterschiedliche Weise analysiertes und dabei validiertes Raumbild dar, das als Erklärungsmittel für unterschiedliche Fragen zur sprachlichen Dynamik und Stabilität nutzbar ist. Dessen ungeachtet ist noch auf die vertikale Differenzierung der Varietäten hinzuweisen. Den Dialekten steht kommunikativ die Schriftsprache gegenüber. In den vergangenen Jahren ist die Analyse des regionalen Einflusses auf die gesprochene Schriftsprache zunehmend in den Fokus geraten (z. B. Kehrein 2012; Ganswindt 2017). Zu berücksichtigen ist dabei das, was bereits Bremer (1892: 27) bei der Beschreibung der deutschen Dialekte angemerkt hat: „Das sog. Schriftdeutsch wird nirgends, selbst auf der Bühne kaum, völlig rein gesprochen, hat überhaupt nur eine ideelle Existenz. Besonders die Aussprache beruht überall auf der Mundart.“ Auch wenn die Basisdialekte inzwischen in vielen Orten und bei vielen Sprecherinnen und Sprechern nicht mehr greifbar sind, so kommt ihrer arealen Klassifikation insofern eine bedeutende Aufgabe zu, als diese die Grenzen markieren kann, innerhalb derer auch die gesprochene Schriftsprache, mit anderen Worten die am Standard orientierten Sprechlagen und Regionalakzente, ihre Gültigkeitsräume haben. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die großräumigen Strukturen der datenquantifizierenden Ansätze (vgl. Abb. 7.2) gewinnbringend, da sich dort Grenzen dieser Sprechlagen (sog. Oralisierungsnormen nach Schmidt & Herrgen 2011) sehr viel leichter identifizieren lassen, als dies in datenbewertenden Ansätzen bislang möglich war. Schließlich ist anzumerken, dass Dialekträume aus der Sicht der Sprecherinnen und Sprecher eine metadiskursive Realität darstellen (vgl. Stoeckle 2014). Vor diesem Hintergrund wäre zukünftig über die objektsprachliche Ebene hinaus auch an Einteilungen auf sprachperzeptiver Grundlage zu denken. Dies würde eine erneute Stärkung des dritten hier formulierten Kriteriums bedeuten, dann allerdings als eigenständigem Phänomenbereich.
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Kt. 7.2: Einteilung der deutschen Dialekte nach Schmidt, Pheiff und Pistor (Schmidt 2017: 105)
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Alfred Lameli, Freiburg i. Br. (Deutschland)
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II. Die Sprachräume des Deutschen
8. Alemannisch in Deutschland 1. 2. 3. 4.
Einleitung Historie und Besonderheiten Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie
5. 6. 7. 8.
Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Sprachdynamik Vertikale Register Literatur
1. Einleitung Das Alemannische gehört zu den am besten untersuchten Sprachräumen des Deutschen (vgl. z. B. Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 11; Kleiber 1980: 486). Dies liegt insbesondere daran, dass in insgesamt sechs Staaten alemannische Varietäten gesprochen werden bzw. wurden, nämlich außer in Deutschland und der Schweiz (wie auch die Gliederung der Artikel in diesem Band vielleicht vermuten lassen könnte) auch in Frankreich (Elsass), Österreich (Vorarlberg, kleine Teile Tirols), dem Fürstentum Liechtenstein und einigen Sprachinseln in Norditalien. Dementsprechend wurden in fast allen dieser Staaten schon früh Unternehmungen zur Erforschung und Dokumentation der Dialekte durchgeführt. Als traditionelle (Groß-)Projekte sind hier für das Alemannische in Deutschland der Historische Südwestdeutsche Sprachatlas (HSS), der Südwestdeutsche Sprachatlas (SSA), der Sprachatlas von Nord Baden-Württemberg (SNBW), der Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben (SBS), das Schwäbische Wörterbuch (Fischer 1904– 1936), das Digitale Wörterbuch von Bayerisch-Schwaben (WBS) und das Badische Wörterbuch (Ochs et al. 1925 ff.), für das Elsass der Atlas Linguistique et ethnographique de l’Alsace (ALA) und das Wörterbuch der elsässischen Mundarten (Martin & Lienhart 1899−1907), für die Deutschschweiz der Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS), der Syntaktische Atlas der deutschen Schweiz (SADS) und das Schweizerische Idiotikon (Staub, Bachmann & Schifferle 1881 ff.) sowie für Vorarlberg und Liechtenstein der Vorarlberger Sprachatlas (VALTS) und das Vorarlbergische Wörterbuch (Jutz 1960− 1965) zu nennen. Darüber hinaus existieren zahlreiche Einzelarbeiten zum Alemannischen in bestimmten Regionen oder Ortschaften, also beispielsweise Gebiets- und Ortsmonographien, klassische Ortsgrammatiken, Arbeiten zur mundartlichen Gliederung, Orts- oder Regionalwörterbücher, namenkundliche Arbeiten sowie verschiedene Untersuchungen zum Dialektwandel. Für Baden-Württemberg, Vorarlberg und Liechtenstein sind die bis zum Jahr 2000 erschienenen dialektologischen Arbeiten eindrucksvoll in der Bibliographie von Baur (2002) dokumentiert. Weitere bibliographische Informationen bis hin zu rezenten Studien sind in der Georeferenzierten Online-Bibliographie Areallinguistik (GOBA) zu finden. Speziell die Sprachatlanten des alemannischen Raumes werden in König & Schrambke (1999) vorgestellt. Neben den wissenschaftlichen Werken existieren inzwischen auch mehrere populärwissenschaftliche, aber dennoch fachlich hochwertige Veröffentlichungen, die sich der Vielfalt des Alemannischen in Deutschland, der Schweiz, Vorarlberg und Liechtenstein widmen (Klausmann, Kunze & Schrambke 1997; Post & Scheer-Nahor 2010; Christen, Glaser & Friedli 2010; König & Renn 2007; Klausmann 2012; König 2013; Klausmann & Bühler 2018). Innerhalb Deutschlands werden im südlichen Teil von Baden-Württemberg sowie im äußersten Westen Bayerns alemannische Varietäten gesprochen. Die Grenze zwischen https://doi.org/10.1515/9783110261295-008
8. Alemannisch in Deutschland
dem Alemannischen im Westen − genauer gesagt dem Schwäbischen, das ebenfalls zum Alemannischen gehört − und dem Bairischen im Osten ist also nicht identisch mit der Grenze zwischen den beiden Bundesländern, sondern verläuft weiter östlich, in etwa entlang des Flusses Lech im Regierungsbezirk Bayerisch-Schwaben. Die deutschen Staatsgrenzen nach Westen zu Frankreich und nach Süden zur Schweiz stellen keine basisdialektalen Grenzen dar, da auch im benachbarten Elsass und der Deutschschweiz Alemannisch gesprochen wird. Die basisdialektalen Isoglossen, die in der Regel für die Gliederung des alemannischen Sprachraums herangezogen werden, verlaufen überwiegend nicht entlang der Staatsgrenzen. Allerdings unterscheiden sich die soziolinguistischen Gegebenheiten in Südwestdeutschland deutlich von denen im Elsass und der Deutschschweiz. Die alemannischen Dialekte im Elsass werden von der französischen Standardvarietät, die nicht eng mit dem Deutschen verwandt ist, überdacht. Sie werden vom Französischen durch lexikalische Entlehnungen, strukturelle Einflüsse und auch indirekt durch Code-Switching und Mixing beeinflusst. Zudem sind sie durch einen ausgeprägten Domänenverlust gekennzeichnet. Vielerorts hat sich der Dialekt im Elsass höchstens als Familiensprache erhalten (vgl. Auer et al. 2015: 326; Auer, Breuninger & Pfeiffer 2017: 28, dort jeweils weitere Literaturhinweise). In der Deutschschweiz dagegen ist die Verwendung des Dialekts völlig unmarkiert, nicht an soziale Zugehörigkeiten gebunden und eine Selbstverständlichkeit im Alltag, sogar gegenüber Fremden (vgl. Christen, Art. 9 in diesem Band). Während für die Deutschschweiz eine ausgeprägte Diglossie-Situation gilt, in der die beiden Varietäten Dialekt und Hochsprache bipolar organisiert und funktional bzw. situationsspezifisch getrennt sind, gilt für Südwestdeutschland weitgehend ein diaglossisches Repertoire mit einem Kontinuum zwischen Dialekt und Standarddeutsch, auf dem die Übergänge mehr oder weniger fließend sind. Obwohl das Alemannische in Südwestdeutschland ein vergleichsweise hohes Prestige genießt und für die regionale Identifikation der Sprecher*innen durchaus von Bedeutung ist, wird der Gebrauch in öffentlichen Situationen beziehungsweise bei formellen Anlässen eher vermieden. Das grenzüberschreitende Kontinuum, als das der alemannische Sprachraum aus traditionell-dialektologischer Perspektive gilt, findet heutzutage vielerorts keine Entsprechung mehr in der subjektiven Verortung von Dialektgrenzen. Aus der Sprecherperspektive werden die Dialektgrenzen sowohl von Sprecher*innen aus Südwestdeutschland als auch von Sprecher*innen aus dem Elsass und der Schweiz sehr häufig mit den Staatsgrenzen gleichgesetzt, d. h. die alemannischen Varietäten jenseits der jeweiligen Staatsgrenze werden als different wahrgenommen (vgl. Kap. 2. und z. B. Auer 2004: 170−175; Stoeckle 2014: 366 sowie Christen, Art. 9 in diesem Band). Diese Perspektive sowie die eben genannten, sehr verschiedenen soziolinguistischen Gegebenheiten − und nicht zuletzt auch der Befund einer tatsächlich zunehmenden Divergenz der alemannischen Dialekte westlich und östlich sowie nördlich und südlich des Rheins (vgl. hierzu z. B. Klausmann 1990, 2000; Schifferle 1990, 1995; Seidelmann 1989; Hansen-Morath 2016; Auer, Breuninger & Pfeiffer 2017) − rechtfertigen auch die Behandlung von Alemannisch in Deutschland und Alemannisch in der Schweiz in jeweils eigenen Artikeln dieses Handbuchs.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
2. Historie und Besonderheiten 2.1. Zur Sprachgeschichte Die Ursprünge des Alemannischen werden gemeinhin in der Sprache eines Stammesverbandes gesehen, der bereits von römischen und griechischen Geschichtsschreibern Alamanni genannt wurde. Etwa um das Jahr 260 herum eroberten die Alamannen das Gebiet zwischen Rhein, Bodensee und Iller von den Römern und wurden ungefähr seit dem späten 5. Jahrhundert noch über diese Grenzen hinaus sesshaft (vgl. z. B. die Karte in Kraft 1942: 63). Ihr Siedlungsgebiet lässt sich an den Ortsnamen ablesen. Die Namen der ältesten alemannischen Siedlungen enden auf -ingen, ihre Lage deckt sich weitgehend mit dem Gebiet, in dem alemannische Reihengräber gefunden wurden. Ihr Fundgebiet zeigt, dass zwischen den Siedlergruppen auch große Gebiete lagen, die jahrhundertelang unbewohnt waren, vor allem der Schwarzwald. Dies ist sicherlich auch der Grund, weshalb die Sprache der Alamannen begann, sich unterschiedlich zu entwickeln. Ein bekanntes Beispiel für die frühe Auseinanderentwicklung des Alemannischen ist das Wort Matte (‘Wiese’), das offenbar durch östliche Einflüsse von dem Wort Wiese immer weiter in Richtung Westen verdrängt wurde, bis die Entwicklung schließlich am Schwarzwaldkamm zum Stehen kam (vgl. z. B. Maurer 1942a: Kt. 74). Mit Hilfe des Historischen Südwestdeutschen Sprachatlasses (HSS) lassen sich die wichtigsten historischen Prozesse bei der Herausbildung der einzelnen Sprachlandschaften innerhalb des Alemannischen sehr gut rekonstruieren. Für den HSS wurden etwa 350 Urbare (Besitz- und Abgabenverzeichnisse) aus dem 13. bis 15. Jahrhundert ausgewertet. Auf über 200 Karten wurden die damaligen Schreibgewohnheiten im Südwesten, die wiederum Rückschlüsse auf die Dialekte zu dieser Zeit ermöglichen, erfasst. Insgesamt ist auffällig, dass sich das gesamte Gebiet durch die Konservierung zahlreicher althochdeutscher Formen als eine ausgeprägte Reliktzone innerhalb des Westgermanischen auszeichnet (vgl. Kleiber 1984: 841 u. Kt. 62.2). Es lässt sich jedoch auch der räumliche Geltungsbereich einzelner historischer Lautungen relativ genau rekonstruieren. So geht aus dem HSS beispielsweise hervor, dass die Affrikatenverschiebung von germ. k im Spätmittelalter deutlich weiter nach Norden gereicht haben muss als in den rezenten Dialekten (vgl. Kunze 1982: 175). Eine große Zahl an Kartenbildern des HSS zeigt, dass sich das Oberrheingebiet durch fränkische Einflüsse schon spätestens im 14. Jahrhundert als eigenständige Sprachlandschaft des Alemannischen herausgebildet haben muss (seit den Niederlagen der Alamannen gegen die Franken um 496 nahm das Oberrheingebiet jahrhundertelang Einflüsse aus dem Fränkischen auf), wohingegen das Schwäbische mit dem südwestlichen Alemannischen noch stärker eine Einheit bildete (vgl. Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 45; Kunze 1982: 175). Die sprachlichen Neuerungen aus dem Norden blieben aus verschiedenen Gründen zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Höhe entlang des Rheins liegen (vgl. Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 45). Die staffelartig über den Rhein verlaufenden Isoglossen wurden bereits von Maurer (1942a: Kt. 55) als „Rheinstaffeln“ bezeichnet. Als eine der deutlichsten Staffeln tritt die alte Gaugrenze zwischen der Ortenau und dem Breisgau hervor. Sie fiel später mit der Südgrenze des Bistums Straßburg gegen das Bistum Konstanz zusammen (vgl. Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 46; Kleiber 1984: 841 u. Kt. 62.3).
8. Alemannisch in Deutschland
Wesentlich seltener treten in den HSS-Karten schwäbische Besonderheiten (gegen Gemeinsamkeiten des oberrheinischen und südwestlichen Alemannischen) in Erscheinung, z. B. die typisch schwäbischen Diphthongierungen (siehe unten Kap. 3.). Daraus lässt sich schließen, dass sich das Schwäbische erst deutlich später als das Oberrheinische als eigenständige Sprachlandschaft innerhalb des Alemannischen konstituierte − wohl auch als Folge der Herausbildung des Territoriums Altwürttemberg (vgl. Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 47). Das südwestliche Alemannische schließlich erweist sich für den Untersuchungszeitraum des HSS als ein sprachlich konservatives Gebiet, das von den oberrheinischen und schwäbischen Neuerungen überwiegend nicht erreicht wurde (vgl. Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 48). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich auf Grundlage der HSSKarten verschiedene alte territoriale Grenzen − die nördliche Grenzzone des zweiten alemannischen Stammesherzogtums, Gaugrenzen (z. B. Ortenau vs. Breisgau) sowie Bistumsgrenzen (Bistum Straßburg vs. Bistum Konstanz − letzteres umfasste wiederum das Gebiet des altalemannischen Herzogtums mit Ausnahme der Ortenau), jedoch auch kleinere klösterliche Wirtschaftsräume (vgl. Kleiber 1984: 841; Kunze 1982: 174) − als sprachgeschichtlich bedeutsam und arealbildend erwiesen haben. Auch die im Zuge der Reformation entstandenen konfessionellen Unterschiede spielen sprachgeschichtlich eine Rolle und hinterließen Spuren im Dialekt. Diese zeigen sich häufig in der Wortgeografie, jedoch teils auch in der Aussprache: So wird beispielsweise im konfessionell zerklüfteten Breisgau das Fest in den evangelischen Orten als Feschd und in den katholischen als Fäschd oder Faschd ausgesprochen (vgl. Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 39 u. Kt. 18). Entlang des Schwarzwaldes, der nicht nur historische Siedlungsgebiete (siehe oben) voneinander trennt, sondern (besonders der nördliche und mittlere Schwarzwald) auch ein überwiegend katholisches Gebiet im Westen und ein überwiegend evangelisches im Osten (und außerdem die historischen politischen Gebiete Baden und Württemberg, vgl. dazu auch Streck 2012a) verläuft bis heute eine der deutlichsten Binnengrenzen innerhalb des Alemannischen.
2.2. Terminologie und Dialektgliederung Zwar werden die Dialektgruppen im Südwesten des deutschen Sprachraums bisweilen auch unter dem Begriff Westoberdeutsch subsumiert (vgl. z. B. Kleiber 1980; Lameli 2013: 194), jedoch ist der auch hier verwendete Ausdruck Alemannisch weitaus geläufiger. Dieser hat sich als Dialektbezeichnung besonders seit dem Erscheinen der Allemannischen Gedichte von Johann Peter Hebel (1803) verbreitet, ist aber nicht überall gleichermaßen volkstümlich geworden. Während Alemannisch in der wissenschaftlichen Erforschung und Beschreibung der Dialekte als allgemein akzeptierter und gebräuchlicher Terminus gelten kann, ist Alemannisch als Bezeichnung für den eigenen Dialekt (durch die Sprecher*innen selbst) vor allem in Südbaden üblich. Auch dort konkurriert er allerdings − und dies gilt umso mehr, je weiter nördlich man sich im alemannischen Teil Badens bewegt − mit der volkstümlichen Bezeichnung Badisch, die eher auf die ehemalige politische Zugehörigkeit zum Großherzogtum Baden bzw. zum späteren Land (Süd-)Baden referiert als auf ein als einheitlich und zusammengehörig wahrgenommenes Dialektgebiet (auch nördlich des alemannischen Sprachraums, beispielsweise in der Ge-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
gend um Karlsruhe und auch weiter nördlich, wird der eigene Dialekt von den Sprecher*innen daher häufig als Badisch bezeichnet). Badisch fungiert für die Sprecher*innen auch als Abgrenzung gegenüber Schwäbisch, was östlich des Schwarzwalds, in Württemberg (und auch weiter östlich in Teilen Bayerisch-Schwabens), gesprochen wird. Schwäbisch ist sowohl die übliche Eigenbezeichnung für den Dialekt als auch der wissenschaftliche Begriff für das nordöstliche Alemannische (vgl. Kap. 3.). Die Bezeichnung Alemannisch ist innerhalb des schwäbischen Dialektgebiets wenig bis überhaupt nicht geläufig. Den meisten Sprecher*innen ist nicht einmal bewusst bzw. bekannt, dass das Schwäbische dialektologisch betrachtet zum alemannischen Sprachraum gehört. Auch im Elsass und in der Schweiz ist Alemannisch als Bezeichnung für den eigenen Dialekt kaum gebräuchlich. Im Elsass ist es üblich, den eigenen Dialekt als Elsässisch zu bezeichnen, in der Schweiz wird für die dort verbreiteten alemannischen Dialekte die Bezeichnung Schweizerdeutsch verwendet (vgl. Schifferle 2009 und Christen, Art. 9 in diesem Band) oder mit Bezeichnungen wie Zürichdeutsch, Berndeutsch usw. auf kleinere Dialekträume Bezug genommen (häufig sind hier die Kantone die besonders relevanten Bezugsgrößen, vgl. z. B. Christen 2010). Solche sprecherseitigen Dialektbenennungen spiegeln sich auch in populären Medien wie der alemannischen Wikipedia (URL: , letzter Zugriff: 18.12.2018) wider, wo die Leser*innen auf der Startseite zwischen „Schwyzerdütsch“, „Badisch“, „Elsassisch“ und „Schwäbisch“ auswählen können (vgl. dazu auch Streck 2018). Die Geschichte der Gliederungsversuche des Alemannischen ist − wie auch die der Gliederungsversuche des deutschen Sprachraums in Dialektgebiete − lang und recht komplex. Vom späten 19. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert hinein − mit einem Schwerpunkt im 20. Jahrhundert − haben Dialektologen unterschiedlich viele Teilgebiete des Alemannischen identifiziert − zum Teil auch postuliert. Dabei spielten immer sowohl Nord/Süd- als auch West/Ost-Unterschiede innerhalb des Gesamtalemannischen eine Rolle, allerdings wurde deren Stellenwert jeweils sehr unterschiedlich gewichtet und begründet. Dementsprechend wurde beispielsweise eine Gliederung in die beiden Hauptgruppen Hochalemannisch (= südlicher Teil) und Niederalemannisch (= nördlicher Teil) mit jeweils einer westlichen und einer östlichen Untergruppe vorgeschlagen (z. B. Wrede 1937), aber auch eine Gliederung in Nord- und Südalemannisch, bei der das Nordalemannische ebenfalls weiter in eine westliche und östliche, das Südalemannische jedoch in eine nördliche und südliche Gruppe unterteilt wird (z. B. Bohnenberger 1924, 1953; Jutz 1931: 19−21). Außerdem existiert eine Gliederung, bei der zunächst zwischen Nord-, Mittel- und Südalemannisch unterschieden und das Nordalemannische dann in Niederalemannisch und Schwäbisch sowie das Südalemannische in rheinisches Südalemannisch, Hoch- und Höchstalemannisch unterteilt wird (Ochs 1921). Die Einschätzung, dass das Alemannische insbesondere in Nord-Süd-Richtung gegliedert ist, findet sich auch bei Beck (1926: 11−12) sowie in jüngerer Zeit bei Schrambke (2003) und Nübling & Schrambke (2004), deren Einteilung in Nord- und Südalemannisch (vgl. Kt. 9 in Nübling & Schrambke 2004: 318) beziehungsweise Nieder- und Hochalemannisch (bei Beck 1926) auf prosodischen Merkmalen beruht. Daneben wurden aber auch eine Gliederung in westliches Alemannisch und östliches Schwäbisch, bei der sich das Alemannische weiter in Hoch- und Niederalemannisch untergliedert (z. B. Behaghel 1916: 54− 57), und eine, in der Oberrheinisch, Schwäbisch und Südalemannisch „gleichartig nebeneinander“ stehen (Maurer 1942a: 192), vorgeschlagen.
8. Alemannisch in Deutschland
Kt. 8.1: Vergleich der Karten zur Binnengliederung des Alemannischen von Steger & Jakob (1983) und Wiesinger (1983)
Der zuletzt erwähnte Gliederungsvorschlag von Friedrich Maurer gehört neben den beiden im Folgenden noch erläuterten von Steger & Jakob (1983) und Wiesinger (1983) zu den bekanntesten und einflussreichsten. Seine Dreiteilung des Alemannischen in Oberrheinisch, Schwäbisch und Südalemannisch beruht auf zwei „Hauptschranken“, der westöstlich verlaufenden Sundgau-Bodensee-Schranke und der nord-südlich verlaufenden Schwarzwaldschranke. Anders als die Bezeichnung „Schranken“ vermuten lässt, handelt es sich allerdings jeweils um einen recht breiten Streifen von Isoglossen, die in westöstlicher bzw. nord-südlicher Richtung verlaufen (vgl. die Kt. 28 und 33 in Maurer 1942a) und letztlich keine klaren Begrenzungen der drei genannten dialektalen Großräume zulassen. Solche klaren Begrenzungen beinhaltet der auf einem anderen Verfahren basierende Gliederungsvorschlag von Steger & Jakob (1983), der Maurers Dreiteilung außerdem um einen vierten Raum, das so genannte Bodenseealemannische, erweitert. Im Ansatz von Wiesinger (1983), in dem grundsätzlich zwischen Kern- und Übergangs- bzw. Interferenzräumen unterschieden wird, findet sich ebenfalls ein vierter Teilraum, den er Mittelalemannisch nennt. Wie der in Kt. 8.1 dargestellte Vergleich der beiden Karten zur Binnengliederung des Alemannischen in Deutschland nach Steger & Jakob (1983) und Wiesinger (1983) zeigt, ähneln sich die jeweils ermittelten vier Teilgebiete im Kern sehr,
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II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 8.1: Übersicht über die Kern- und Übergangsgebiete und deren jeweilige Benennung in den beiden besonders einflussreichen und verbreiteten Vorschlägen zur Binnengliederung des Alemannischen von Steger & Jakob (1983) und Wiesinger (1983) Steger & Jakob (1983)
Wiesinger (1983)
schwäbisch-fränkisches Übergangsgebiet Oberrheinalemannisch
alemannisch-schwäbisch-fränkisches Übergangsgebiet
Schwäbisch Bodenseealemannisch Südalemannisch
Niederalemannisch niederalemannisch-schwäbisches Übergangsgebiet Schwäbisch Mittelalemannisch mittel-/hochalemannisches Übergangsgebiet Hochalemannisch 2 hoch-/niederalemannische Übergangsgebiete schwäbisch-(fränkisch)-baierisches Übergangsgebiet
ihre geographische Ausdehnung ist jedoch nicht identisch. Bei Wiesinger gibt es außerdem neben den vier Kerngebieten noch sechs Übergangsgebiete. Auch in der Benennung der vier alemannischen Teilräume unterscheiden sich die beiden eben genannten Gliederungsvorschläge − ein Umstand, der dazu führte, dass bis heute zwei verschiedene Terminologien nebeneinander bestehen: Steger & Jakob (1983) unterscheiden Oberrheinalemannisch, Schwäbisch, Bodenseealemannisch und Südalemannisch, Wiesinger (1983) Niederalemannisch, Schwäbisch, Mittel- und Hochalemannisch (vgl. auch die Gegenüberstellung in Tab. 8.1). In Streck & Auer (2012), wo auch eine detaillierte theoretisch-methodische Diskussion der Ansätze von Maurer (1942a), Steger & Jakob (1983) und Wiesinger (1983) zu finden ist, wurden die Ergebnisse einer dialektometrischen Analyse einer großen Menge spontansprachlicher Dialektdaten aus den 1970er/1980er-Jahren für die Südhälfte BadenWürttembergs vorgestellt und mit den traditionellen Dialekteinteilungen verglichen. Es wurde gezeigt, dass rein datenbasiert drei Teilgebiete identifiziert werden können. Diese entsprechen ungefähr den oben genannten Teilräumen Niederalemannisch („Oberrheinalemannisch“), Hochalemannisch („Südalemannisch“) und Schwäbisch, sind allerdings im äußersten Süden des Landes nicht scharf gegeneinander abgrenzbar. Vielmehr befindet sich ein großes Übergangsgebiet zwischen ihnen, das sich von der französischen Grenze bis in die Gegend um Friedrichshafen erstreckt. Dieser breite Übergangsstreifen ist im Westen durch das Aufeinandertreffen nieder- und hochalemannischer Formen und im Osten durch das Vordringen des Schwäbischen in Richtung Bodensee gekennzeichnet (vgl. dazu Streck 2012a, 2014). Trotzdem lassen sich sein West- und Ostteil nicht sinnvoll gegeneinander abgrenzen, sondern die Übergänge sind hier fließend. Während sich für den nördlichen Teil des Alemannischen die scharfe Begrenzung zwischen Niederalemannisch im Westen und Schwäbisch im Osten bestätigt, gibt es keine Evidenz für die Existenz eines gleichwertigen vierten Dialektgebiets „Bodenseealemannisch“ (vgl. dazu auch Seidelmann 1995, 2004). In Streck & Auer (2012: 182) und auch hier wird deshalb dafür plädiert, diesen Begriff aufzugeben − er ist schließlich auch geographisch nicht (mehr) zutreffend. Entsprechend sollte auch die geographisch unbefriedigende Bezeichnung „Oberrheinalemannisch“ aufgegeben und stattdessen neben Schwäbisch von Nieder- und Hochalemannisch gesprochen werden. Diese schon von Wiesinger (1983) ver-
8. Alemannisch in Deutschland
Kt. 8.2: Binnengliederung des Alemannischen in Deutschland nach den Analysen von Streck (2012b) und Streck & Auer (2012), für die Bereiche außerhalb des Arbeitsgebiets des SSA ergänzt nach Wiesinger (1983)
wendete Terminologie erweist sich als konsistenter, unter anderem auch, weil eine Analogie zu geläufigen sprachgeographischen Bezeichnungen wie Nieder- und Hochdeutsch besteht. Es bietet sich an, den breiten Übergangsstreifen, der sich nördlich des Hochalemannischen und südlich des Niederalemannischen (im Westen) bzw. des Schwäbischen (im Osten) erstreckt, entsprechend als mittelalemannisches Übergangsgebiet zu bezeichnen. Die ungefähre geographische Ausdehnung dieses Übergangsstreifens sowie der drei genannten Kerngebiete gemäß den Analysen von Streck (2012b) und Streck & Auer (2012) ist in Kt. 8.2 dargestellt. Da diesen Arbeiten das Untersuchungsgebiet des Südwestdeutschen Sprachatlasses zu Grunde liegt, wurden in Kt. 8.2 die außerhalb dieses Gebietes befindlichen Übergangsgebiete im Norden und Osten von Wiesinger (1983) übernommen. Die sprachlichen Merkmale, die für die einzelnen Teilgebiete charakteristisch sind, sowie zentrale Merkmale, durch die sich das Alemannische von den Nachbardialekten Fränkisch und Bairisch unterscheidet, werden in den Kap. 3. bis 5. im Überblick erläutert. Den sprachdynamischen Prozessen innerhalb des Alemannischen in Deutschland widmet sich anschließend Kap. 6.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
3. Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie 3.1. Außengrenzen Das Alemannische in Deutschland wird nach Westen und Süden durch die Staatsgrenzen zu Frankreich, zur Schweiz und zu Österreich begrenzt, die eher soziolinguistische Grenzen als Dialektgrenzen im eigentlichen Sinne darstellen, da im Elsass, in der Deutschschweiz und in Vorarlberg ebenfalls alemannische Dialekte gesprochen werden (vgl. jedoch die Hinweise und Literaturangaben in Kap. 1. zur zunehmenden Divergenz der alemannischen Dialekte an den Staatsgrenzen). Die östliche Außengrenze des Alemannischen, genauer gesagt die Grenze zwischen Schwäbisch im Westen und Bairisch im Osten, verläuft in etwa entlang des Flusses Lech im Regierungsbezirk Bayerisch-Schwaben und somit weiter östlich als die politische Grenze zwischen den Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern. Sie tritt allerdings weniger als eine klare Grenze, sondern vielmehr als ein breites Übergangsgebiet zwischen Lech und Ammer in Erscheinung (vgl. Koch, Art. 10 in diesem Band). Auch die nördliche Außengrenze des Alemannischen zum Fränkischen − in ihrem westlichen Teil zum Rheinfränkischen und im östlichen Teil zum Ostfränkischen − verläuft als recht breiter Streifen etwa von der Gegend um Rastatt über Heilbronn am Neckar bis in die Gegend um Dinkelsbühl (vgl. Kt. 8.2 sowie die detailliertere Kt. 47.5 bei Wiesinger 1983: 831. Mit der alemannischfränkischen Dialektgrenze haben sich schon früh Haag 1929, 1930, 1932 und Bohnenberger 1935 befasst. Ergebnisse eines umfangreichen Projekts wurden in Ruoff 1992 publiziert. Den rezenten Stand bietet Bühler 2016). Einige besonders charakteristische Merkmale zur Abgrenzung des Schwäbischen gegenüber dem Bairischen sind in Tab. 8.2 anhand von Beispielen dargestellt (vgl. hierzu auch Koch, Art. 10 in diesem Band). Als eines der auffälligsten Merkmale ist die sogenannte a-Verdumpfung zu nennen, die für das Bairische kennzeichnend ist. Während das mhd. a in Wörtern wie nhd. Tag im Schwäbischen ähnlich wie im Standarddeutschen als vergleichsweise heller a-Laut realisiert wird, wird im Bairischen ein nach hinten verlagerter Vokal gesprochen, der sich dem [ɔ] annähert. Auch beim Sekundärumlaut von a wird im Bairischen ein anderer Vokal realisiert als im Schwäbischen und Standarddeutschen. In diesem Fall hat das Bairische einen [a]-Laut, d. h. einen tieferen Vokal, wodurch sich bei Wörtern wie nhd. Käse schwäbisch [kɛ:s] und bairisch [ka:s] gegenüberstehen. Bei Wörtern mit den mittelhochdeutschen Langvokalen ô, œ und ê werden im Schwäbischen fallende Diphthonge, im Bairischen dagegen steigende Diphthonge oder Monophthonge realisiert. In Tab. 8.2 ist dies anhand der Beispielwörter Stroh, schön und Schnee dargestellt (vgl. auch Koch, Art. 10 in diesem Band). Auffällige Unterschiede bestehen auch bei der Entwicklung der mittelhochdeutschen Diphthonge ei und ou. Während sich mhd. ei im Schwäbischen zu [ɔɪ̭ ], teils auch zu [aɪ̭ ] entwickelt hat, ist für das Bairische eine Entwicklung zu [oɐ̭] zu verzeichnen. Für mhd. ou wird im Schwäbischen [aʊ̭], im Übergangsgebiet [o:] und im Bairischen [a:] realisiert. Mit breit und Baum ist auch für diese beiden Diphthonge in Tab. 8.2 jeweils ein Beispiel zu finden. Weitere lautliche Gegensätze zeigen sich bei der Diphthongierung der mittelhochdeutschen Langvokale î, û und iu. Hier weichen die schwäbischen Formen vom Standarddeutschen ab, die bairischen Formen haben dagegen standardkonforme Diphthonge,
8. Alemannisch in Deutschland
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Tab. 8.2: Übersicht über charakteristische Unterschiede zwischen Schwäbisch und Bairisch
Mhd. a Sekundärumlaut von a Mhd. ô Mhd. œ Mhd. ê Mhd. ei Mhd. ou Mhd. î Mhd. û Mhd. iu /l/ im Auslaut (und vor Konsonant) Mhd. b intervokalisch
Standarddeutsch
Schwäbisch
Bairisch
Tag / [a:] Käse / [ɛ:] Stroh / [o:] schön / [ø:] Schnee / [e:] breit / [aɪ̭̭ ] Baum / [aʊ̭] Eis / [aɪ̭̭ ] Haus / [aʊ̭] Häuser / [ɔɪ̭̭ ] schnell / [ɛ] Gabel / [a:]
[da:g̥] [kɛ:s] [ʃtraʊ̭], [ʃtroɐ̯] [ʃeɐ̯̃], [ʃiɐ̯̃] [ʃnaɪ̭ ], [ʃnɛɐ̯] [brɔɪ̭ d̥], [braɪ̭ d̥] [baʊ̭m], [bo:m] [ˀɛɪ̭ s] [hou̯s] [ˈhɛɪ̭ sr] [ʃnɛl] [ˈga:bəl]
[dɔ:g̥] [ka:s] [ʃtrɔu̯] [ʃe:] [ʃnɛ:] [broɐ̭d̥] [ba:m] [ˀaɪ̭ s] [hau̯s] [ˈhaɪ̭ sɐ] [ʃnɛi̯ ] [ˈgɔ:ße]
wenn keine Entrundung vorliegt (vgl. Koch, Art. 10 in diesem Band). Die Durchführung der neuhochdeutschen Diphthongierung in abgeschwächter Form ([ɛɪ̭ ] statt standarddeutsch [aɪ̭̭ ], [ou̯] statt standarddeutsch [aʊ̭] etc.) ist für das Schwäbische im Vergleich zu den übrigen alemannischen Dialekten kennzeichnend. Sie ist in Tab. 8.2 anhand der Beispiele Eis, Haus und Häuser veranschaulicht und wird weiter unten im Zusammenhang der Binnengliederung des Alemannischen nochmals aufgegriffen. Für den Bereich des Konsonantismus sind als wesentliche Abgrenzungsmerkmale die Vokalisierung von /l/ vor Konsonant und im Auslaut sowie die Spirantisierung von zwischenvokalisch /b/, die beide für das Bairische im Vergleich zum Schwäbischen charakteristisch sind, zu nennen (vgl. hierzu die Beispiele schnell und Gabel in Tab. 8.2 sowie die ausführliche Darstellung in Koch, Art. 10 in diesem Band). Ein auffälliges Kennzeichen des Schwäbischen aus dem konsonantischen Bereich ist die Palatalisierung von [s] zu [ʃ]. Sie erfolgt im Schwäbischen − wie in den alemannischen Dialekten überhaupt − generell in der Position vor Konsonant. Im Bairischen dagegen tritt die [s]-Palatalisierung lediglich im Silbenanlaut auf. Zu einigen Ausnahmefällen, bei denen [s] im Bairischen auch in anderen Kontexten palatalisiert wird, siehe Koch (Art. 10 in diesem Band). Um die Abgrenzung des Alemannischen gegenüber dem Fränkischen im Norden möglichst übersichtlich zu gestalten, wurden in Tab. 8.3 und Tab. 8.4 ebenfalls einige Beispiele für die Unterschiede zwischen Niederalemannisch bzw. Schwäbisch und Rheinfränkisch sowie zwischen Schwäbisch und Ostfränkisch zusammengestellt. Als zentrale Unterscheidungskriterien zwischen dem Alemannischen und dem Fränkischen gelten die neuhochdeutsche Monophthongierung der mittelhochdeutschen Diphthonge ie, üe und uo sowie die neuhochdeutsche Diphthongierung der mittelhochdeutschen Langvokale î, iu und û. Wie in Tab. 8.3 anhand der Beispielwörter lieb, Brüder und Bruder dargestellt, hat das Alemannische die drei genannten mittelhochdeutschen Diphthonge bis heute erhalten, im Rheinfränkischen dagegen entwickelten sie sich − wie im Standarddeutschen − zu Langmonophthongen (siehe Bühler 2016: Kt. 20−22). Bei Wörtern wie Zeit, Haus, Häuser und Feuer treffen im westlichen Teil der alemannisch-fränkischen Dialektgrenze niederalemannische Formen mit erhaltenem Langvokal und rheinfränkische Formen mit Diphthong und weiter östlich schwäbische Formen mit Diphthong und rheinfränkische Formen mit Diphthong aufeinander (siehe Bühler 2016: Kt. 16−19),
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II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 8.3: Übersicht über charakteristische Unterschiede zwischen Niederalemannisch bzw. Schwäbisch und Rheinfränkisch Standarddeutsch
Niederalemannisch
Schwäbisch
Rheinfränkisch liib / [i:] Briider / [i:] Bruuder / [u:] Zaid / [aɪ̭ ] Haus / [au̯] Haiser, Faier / [aɪ̭ ]
Mhd. Mhd. Mhd. Mhd. Mhd. Mhd.
ie üe uo î û iu
lieb Brüder Bruder Zeit Haus Häuser, Feuer
liab / [iɐ̯], [iə̯] Briader / [iɐ̯], [iə̯] Bruader / [uɐ̯] Zidd / [ɪ] Huus / [u:] Hiiser, Fiir / [i:]
Mhd. Mhd. Mhd. Mhd. Mhd.
ê ô œ ei ou
Schnee groß größer breit laufen
Schnee / [e:] grooß / [o:] greeßer / [e:] braid / [aɪ̭ ] laufe / [aʊ̯]
liab / [iɐ̯] Briader / [iɐ̯] Bruader / [uɐ̯] Zeid / [ɛɪ̭ ] Hous / [ou̯] Heiser, Fuir, Fuur / [ɛɪ̭ ], [uɪ̭ ], [u:] Schnae / [aɪ̭ ], [ɛɐ̯] graoß / [aɔ̯], [aʊ̯] graeßer / [aə̯] braid, broid / [aɪ̭ ], [ɔɪ̭ ] laufe / [aʊ̯]
Kirche
Kirch / [ɪ]
Kirch / [i], [ɪ]
Schnee / [e:] grooß / [o:] greeßer / [e:] braid / [aɪ̭ ] laafe, loofe / [a:], [o:] Kärch / [ɛ]
Wurst
Wurschd / [ʊ]
Wurschd / [ʊ]
Worschd / [ɔ]
Bürste
Bi(ə)rschd / [ɪ], [iə̯]
Bi(ə)rschd / [ɪ], [iə̯]
Berschd / [ɛ]
gehabt
ghed / [khed̥]
ghe(e)d / [khed̥], [khe:d̥]
ghad / [khad̥]
gesagt
gsaid / [gsaɪ̭ d̥]
gsaid / [gsaɪ̭ d̥]
gsagd / [gsagd̥]
Mhd. i (vor r) Mhd. u (vor r) Mhd. ü (vor r) Partizip II von haben Ahd. -egi-
da eine Diphthongierung der mittelhochdeutschen Langvokale î, iu und û im Schwäbischen und Fränkischen stattgefunden hat, im Niederalemannischen jedoch nicht. Wie die Beispiele in Tab. 8.3 zeigen, weist das Rheinfränkische allerdings standardnähere Diphthonge auf als das Schwäbische, da die Diphthongierung das Schwäbische in abgeschwächter Form erfasst hat (vgl. dazu Kap. 3.2.2.). Bei Wörtern mit den mittelhochdeutschen Langvokalen ê, ô und œ kontrastieren schwäbische Formen, bei denen diese Vokale diphthongiert wurden (vgl. dazu ebenfalls Kap. 3.2.2.), mit rheinfränkischen Formen, bei denen die Langvokale erhalten blieben (siehe Bühler 2016: Kt. 13−15). In Tab. 8.3 sind die Unterschiede anhand der Beispielwörter Schnee, groß und größer veranschaulicht. Wie die Beispiele zeigen, unterscheidet sich das Niederalemannische hier nicht vom Rheinfränkischen. Die Monophthonge werden im Niederalemannischen ebenfalls bewahrt, bei mhd. œ wird der Vokal wie im Rheinfränkischen entrundet. Auch bei Wörtern mit mhd. ei unterscheiden sich nur die schwäbischen und die rheinfränkischen Formen. In Wörtern wie breit wird − wie weiter oben bereits erwähnt − in weiten Teilen des Schwäbischen der Diphthong [ɔɪ̭ ] realisiert, im Rheinfränkischen und im Niederalemannischen dagegen ein standardkonformer Diphthong. Bei mhd. ou hat sich das Rheinfränkische jedoch anders entwickelt als das Alemannische. Das Rheinfränkische zeichnet sich hier durch Langvokale aus, wohingegen sowohl im Niederalemannischen als auch im Schwäbischen in Wörtern wie laufen ein standardnaher Diphthong realisiert wird (siehe Tab. 8.3 sowie Bühler 2016: Kt. 24).
8. Alemannisch in Deutschland
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Tab. 8.4: Übersicht über charakteristische Unterschiede zwischen Schwäbisch und Ostfränkisch
Mhd. i vor Nasal Mhd. u vor Nasal Mhd. ü vor Nasal Mhd. g intervokalisch Mhd. b intervokalisch Mhd. o Mhd. ö Mhd. ei Mhd. a Partizip II von haben Ahd. -egi-
Standarddeutsch
Schwäbisch
Ostfränkisch
Finger Hund Sünde Bogen lieber Ofen Öfen breit Tag / [a:] gehabt gesagt
Fenger / [e] Hond / [o] Send / [e] Booge / [g] lieber / [b] Oofe / [o:] Eefe / [e:] broid / [ɔɪ̭ ] Daag / [a:] ghe(e)d / [khed̥], [khe:d̥] gsaid / [gsaɪ̭ d̥]
Finger / [ɪ] Hund / [ʊ] Sünd / [ʏ] Booche / [x] liewer / [v] Oufe / [oʊ̯] Eife / [eɪ̯ ] braad / [a:] Doog / [ɔ:] ghad / [khad̥] gsogd, gsochd / [gsɔgd̥], [gsɔxd̥]
Ein weiterer charakteristischer Unterschied betrifft Wörter mit mhd. i/u/ü vor r. In dieser Position werden im Fränkischen die Vokale gesenkt, d. h. für Kirche, Wurst und Bürste heißt es dort Kärch, Worschd und Berschd (für das Beispielwort Wurst siehe Bühler 2016: Kt. 9). Im Niederalemannischen und im Schwäbischen sind dagegen im Falle von mhd. u und i vor r standardnahe Monophthonge üblich, im Falle von mhd. ü vor r gilt Entrundung des Vokals (Birschd, teils auch Biərschd). Das letzte in Tab. 8.3 (sowie auch in Tab. 8.4) aufgeführte Merkmal gehört zu den wenigen Merkmalen, die für das Gesamtalemannische kennzeichnend sind. Betroffen sind Wörter bzw. Wortformen, die auf ahd. -egi- zurückgehen. Bei Wörtern wie z. B. sagen, tragen oder legen treten im Alemannischen bei einigen Formen des Paradigmas (2. und 3. Person Singular Präsens, Partizip II) kontrahierte Varianten mit einem Diphthong auf, d. h. die Wortform des Partizips Perfekt des Verbs sagen beispielsweise lautet im Alemannischen gsaid (für einen Überblick zur Entwicklung und Verbreitung der kontrahierten Formen vgl. Streck 2012b: 323−327). An der alemannisch-fränkischen Grenze trifft gsaid auf nicht-kontrahierte Formen − im Westen auf rheinfränkisches gsagd und weiter östlich auf ostfränkisches gsogd/gsochd (vgl. Bühler 2016: Kt. 34). Bei der ebenfalls in Tab. 8.3 und Tab. 8.4 aufgeführten Realisierung des Partizips II von haben handelt es sich − anders als bei der Realisierung von gesagt − nicht um ein gesamtalemannisches Merkmal, sondern um einen weiteren alemannisch-fränkischen Gegensatz. Während im nördlichen Niederalemannischen und im Schwäbischen ghed für nhd. gehabt gilt (im Schwäbischen auch häufig gheed, im südlichen Niederalemannischen und im Hochalemannischen dagegen überwiegend ghaa), lautet die angrenzende rhein- und ostfränkische Variante ghad. Im Folgenden werden nun noch einige Merkmale erläutert, die die Unterschiede zwischen dem Schwäbischen und dem Ostfränkischen veranschaulichen. Wie Tab. 8.4 zeigt, gehört dazu die für das Schwäbische charakteristische Vokalsenkung bei Wörtern mit mhd. i, u und ü vor Nasal. Betroffen sind also Wörter wie Finger, Hund und Sünde, die im Schwäbischen als Fenger, Hond und Send, im Ostfränkischen dagegen mit standardkonformem Vokal als Finger, Hund und Sünd realisiert werden (siehe Bühler 2016: Kt. 7 u. Kt. 8). Charakteristisch für das Ostfränkische ist im Gegensatz zum Schwäbischen die Spirantisierung von g und von b in intervokalischer Position. In Wörtern wie Bogen oder
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II. Die Sprachräume des Deutschen
lieber wird im Ostfränkischen also ein Frikativ statt des Plosivs realisiert (siehe Bühler 2016: Kt. 26 u. Kt. 27). Die dialektalen Varianten lauten demnach Booche und liewer. Ebenfalls kennzeichnend für das Ostfränkische ist eine diphthongische Realisierung bei Wörtern wie Ofen und Öfen (mhd. o und ö). Sie werden hier als Oufe und Eife ausgesprochen, im angrenzenden Schwäbischen wird dagegen ein Monophthong realisiert (im Falle des ö mit Entrundung, siehe Tab. 8.4, vgl. auch Bühler 2016: Kt. 5 u. Kt. 6). Auch bei den bereits bei der Abgrenzung zum Rheinfränkischen erwähnten Wörtern mit mhd. ei unterscheiden sich die schwäbischen und die ostfränkischen Realisierungen. Während in Wörtern wie breit − wie oben erwähnt − im Rheinfränkischen ein standardkonformer Diphthong und in weiten Teilen des Schwäbischen der Diphthong [ɔɪ̭ ] realisiert wird, zeichnet sich das Ostfränkische hier durch einen langen a-Vokal aus. Das Wort breit wird dort demnach als braad realisiert (siehe Bühler 2016: Kt. 23). Zuletzt wird hier nochmals ein Merkmal aufgegriffen, das bereits bei der Abgrenzung zum Bairischen erläutert wurde. Es handelt sich um die a-Verdumpfung, die nicht nur für das Bairische, sondern auch für das Ostfränkische charakteristisch ist. Während das mhd. a in Wörtern wie nhd. Tag (also in gedehnter Stellung) im Schwäbischen ähnlich wie im Standarddeutschen als eher heller a-Laut realisiert wird, wird in diesem Kontext im Ostfränkischen − wie im Bairischen − ein dumpfer klingender Vokal, ein o-Laut gesprochen (für die Beispielwörter sagen und Magen siehe Bühler 2016: Kt. 1), der sich dem [ɔ] annähert.
3.2. Binnenstruktur Die Darstellung der Binnenstruktur des Alemannischen in Deutschland konzentriert sich auf die in Kt. 8.2 eingezeichneten Teilräume. Eine weitere Unterscheidung in beispielsweise Zentralschwäbisch und Ostschwäbisch (vgl. u. a. die Karte in König & Renn 2007: 25 sowie die Übersichtskarte in Klausmann & Bühler 2018) wird hier also nicht vorgenommen. Selbstverständlich existieren über die im Folgenden erläuterten Merkmale hinaus weitere basisdialektale Merkmale, die jeweils für kleinere Gebiete typisch sind, jedoch gemäß den Analysen, die Kt. 8.2 zu Grunde liegen, keinen wesentlichen Beitrag zur grundsätzlichen räumlichen Gliederung der alemannischen Dialekte leisten. Merkmale dieser Art können hier nicht erörtert werden, sind allerdings in den am Anfang dieses Beitrags genannten Sprachatlanten etc. genauestens dokumentiert. Für das Gebiet des Südwestdeutschen Sprachatlasses werden viele solche Merkmale und ihre räumliche Verbreitung auch in den Arbeiten von Streck (2012b) − für den Konsonantismus − und Schwarz (2015) − für den Vokalismus − beschrieben. Die folgenden Ausführungen zur Binnenstruktur wurden der Übersichtlichkeit halber in zwei Teile untergliedert. Zunächst werden Nord-Süd-Unterschiede, d. h. in erster Linie Unterschiede zwischen dem Nieder- und dem Hochalemannischen, anschließend WestOst-Unterschiede, d. h. vor allem Unterschiede zwischen dem Niederalemannischen und dem Schwäbischen besprochen. Das mittelalemannische Übergangsgebiet wird dabei ebenfalls charakterisiert, nämlich durch das Aufeinandertreffen verschiedener Formen in je nach Phänomen sehr unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung.
8. Alemannisch in Deutschland
3.2.1. Nord-Süd-Unterschiede Eines der zentralen Beispiele für Nord-Süd-Unterschiede innerhalb des Alemannischen ist die so genannte k-Verschiebung. Sie ist ein Produkt der Zweiten Lautverschiebung und ein auch für linguistische Laien salientes und gut wahrnehmbares Phänomen. Die Verschiebung von k zum meist velaren Frikativ oder zur Affrikata [kx] ist charakteristisch für das Hochalemannische und wird dort im An-, In- und Auslaut durchgeführt (vgl. die Beispiele in Tab. 8.5). Die räumliche Verbreitung des Phänomens − und auch, ob eine Verschiebung zum Frikativ oder zur Affrikata stattfindet − variiert jedoch je nach Position im Wort und lautlichem Kontext zum Teil erheblich. Diesen Sachverhalt veranschaulicht Kt. 8.3, auf der die Verbreitung der k-Verschiebung im An-, In- und Auslaut gemäß den Daten und Karten des Südwestdeutschen Sprachatlasses dargestellt ist. Bei der Betrachtung der verschiedenen Isoglossenverläufe in dieser Karte wird auch klar, weshalb weiter oben argumentiert wird, dass sich zwischen dem Niederalemannischen und dem Hochalemannischen ein breiter Übergangsstreifen befindet (siehe Kt. 8.2). Ein weiteres sehr salientes Merkmal des Hochalemannischen ist die fehlende Ich-/ Ach-Laut-Alternation. Während im Niederalemannischen (und auch im Schwäbischen) wie im Standarddeutschen nach Vordervokalen der Ich-Laut (palataler stimmloser Frikativ) und nach Hintervokalen der Ach-Laut (meist velarer stimmloser Frikativ) realisiert wird, existiert diese stellungsbedingte Alternation im Hochalemannischen nicht. Stattdessen wird hier unabhängig davon, ob es sich beim vorangehenden Vokal um einen vorderen oder einen hinteren handelt, grundsätzlich der Ach-Laut, also ein (meist) velarer stimmloser Frikativ realisiert. Die fehlende Ich-/Ach-Laut-Alternation beginnt räumlich etwas weiter im Norden als beispielsweise die k-Verschiebung (vgl. SSA: II/105.00a) und prägt somit neben den teilweise recht weit auseinander laufenden Isoglossen bei der k-Verschiebung (sowie der nicht deckungsgleichen räumlichen Verbreitung weiterer Phänomene) ebenfalls den mittelalemannischen Übergangsraum. Aus dem Bereich des Vokalismus ist für das Hochalemannische der Erhalt der gerundeten Vokale charakteristisch. In Wörtern wie Hütte oder Böden usw. wird also ein standardkonformer Vokal realisiert (siehe die Beispiele in Tab. 8.5), wohingegen in den anderen alemannischen Dialekten alle gerundeten Vokale, und zwar unabhängig von ihrer lautgeschichtlichen Herkunft, entrundet werden (vgl. Schwarz 2015: 373; Kleiber 1993). Im Niederalemannischen gilt somit Hiddi ‘Hütte’ und Beede ‘Böden’. Umgekehrt bleiben im Hochalemannischen nicht nur die gerundeten Vokale erhalten, sondern mitunter werden auch etymologisch nicht gerundete Vokale gerundet, wie z. B. in Schwöschter ‘Schwester’ (vgl. hierzu ebenfalls Schwarz 2015: 373). Wie ein Vergleich der Kt. 8.3 und 8.4 zeigt, reicht die räumliche Verbreitung des konsequenten Erhalts der gerundeten Vokale weniger weit nach Norden als die der k-Verschiebung (in den meisten Positionen/ Kontexten). Ein lautliches Phänomen, das das Niederalemannische mit den fränkischen Dialekten gemeinsam hat, ist die Frikativierung (Spirantisierung) von b in intervokalischer Position (sowie nach den Liquiden l und r). Wie weiter oben bereits erwähnt wurde, wird also anstelle des Plosivs ein (stimmhafter, labiodentaler oder zuweilen auch bilabialer) Frikativ realisiert, was das Beispiel bliiwe ‘bleiben’ in Tab. 8.5 veranschaulichen soll. Im Hochalemannischen hingegen wird ein Wort wie bleiben mit einem zwischenvokalischen Plosiv − also als bliibe − ausgesprochen. In Kap. 3.1. wurde bereits angesprochen, dass
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II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 8.5: Übersicht über charakteristische Nord-Süd-Unterschiede innerhalb des Alemannischen: Niederalemannisch vs. Hochalemannisch
k-Verschiebung (Anlaut) k-Verschiebung (Inlaut) k-Verschiebung (Auslaut) k-Verschiebung (nach /n/) Realisierung von ch nach Vokal Entrundung /b/ zwischenvokalisch Neuhochdeutsche Vokaldehnung Konsonantenschwächung
Standarddeutsch
Niederalemannisch
Hochalemannisch
Kind Stecken Sack denken dich, leicht, Dach
Kind [k] Stägge Sagg dängge [dɪç], [lɪçd̥], [dax]
Hütte, Böden, Heu, müde bleiben Boden
Hiddi, Beede, Hei, miad bliiwe / [v] [bo:də]
Chind [x] Stäckche Sackch dänkche [dɪx], [li:xt] ([liɐxt]), [dax] Hütti, Bööde, Höu/Höi, müad bliibe / [b] [bɔdə]
Wappen
[vab̥ə]
[vapə]
Kt. 8.3: Räumliche Verbreitung der k-Verschiebung im An-, In- und Auslaut gemäß Daten und Karten des Südwestdeutschen Sprachatlasses (aus Streck 2012b: 263)
die Frikativierung von b auch im Schwäbischen nicht stattfindet. Es handelt sich bei diesem Phänomen somit um eines, das nicht nur einen Nord-Süd-Unterschied, sondern auch einen West-Ost-Unterschied innerhalb des Alemannischen aufzeigt (siehe Kt. 8.5).
8. Alemannisch in Deutschland
Kt. 8.4: Kombinationskarte zur Entrundung von mhd. ü in mehreren Lexemen gemäß Karten und Spontandaten des Südwestdeutschen Sprachatlasses (aus Schwarz 2015: 397)
In Tab. 8.6 in Kap. 3.2.2. ist es daher mit dem Beispielwort heben, das im Niederalemannischen als heewe und im Schwäbischen als heebe realisiert wird, ebenfalls vertreten. Auch bei der Zweisilberdehnung in offener Silbe (vs. dem Erhalt der mittelhochdeutschen Kurzvokale) sowie dem Verlauf der etymologischen Fortis-Lenis-Grenze werden sowohl Nord-Süd- als auch West-Ost-Unterschiede sichtbar. Kt. 8.5 zeigt, dass jeweils ungefähr die nördliche Hälfte des Alemannischen sowie der äußerste Südwesten (d. h. das Niederalemannische, der größte Teil des Schwäbischen und der westliche Teil des mittelalemannischen Übergangsgebiets und des Hochalemannischen) die neuhochdeutsche Dehnung und die binnendeutsche Konsonantenschwächung (vgl. dazu z. B. Schrambke 1994) durchgeführt haben. Nur im südöstlichen Teil des Alemannischen in Deutschland treten noch die alten Kurzvokale und Fortiskonsonanten auf. Nur dort heißt es also [bɔdə] ‘Boden’ und [vapə] ‘Wappen’ u. ä., in den übrigen Gebieten gelten Varianten wie [bo:də] (mit Langvokal wie im Standarddeutschen) und [vab̥ə] (mit Lenisplosiv). Die Fortis-LenisOpposition scheint jedoch gemäß verschiedener, seit den 1990er Jahren erschienener Arbeiten nicht mehr durchgängig stabil zu sein (vgl. die Anmerkungen in Streck 2012b: 210). Einige weitere − überwiegend prosodische − Merkmale, bei denen Nord-Süd-Unterschiede innerhalb des Alemannischen auftreten, werden in Schrambke (2003: 181−184) sowie in Nübling & Schrambke (2004, mit zahlreichen Karten) erläutert. In Christen (Art. 9 in diesem Band) werden im Kapitel „Silbenstrukturen“ (Kap. 3.3.) ebenfalls einige Merkmale genannt, die das Alemannische in der Schweiz mit dem hochalemannischen Teil Deutschlands gemeinsam hat.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. 8.5: Kombinationskarte zur räumlichen Verbreitung der Frikativierung von zwischenvokalisch b (nach Fischer 1895; Ochs 1922; Haag 1946 und Bohnenberger 1953) und der Zweisilberdehnung in offener Silbe (nach Schrambke 1994) sowie zur etymologischen Fortis-Lenis-Grenze (nach Schrambke 1994)
3.2.2. West-Ost-Unterschiede Nachdem am Ende von Kap. 3.2.1. mit der Frikativierung von intervokalisch b, der Konsonantenschwächung und dem Erhalt der mittelhochdeutschen Kurzvokale bereits Phänomene thematisiert wurden, bei denen neben Nord-Süd- auch West-Ost-Unterschiede vorhanden sind, werden im Folgenden noch einige Merkmale angesprochen, die für besonders charakteristische West-Ost-Unterschiede im Alemannischen stehen. In Tab. 8.6 ist für diese Unterschiede zwischen Niederalemannisch im Westen und Schwäbisch im Osten wieder jeweils ein Beispielwort aufgeführt. Eines der zentralen Merkmale für das westliche Alemannische überhaupt (d. h. Nieder- und Hochalemannisch) und die Unterscheidung zwischen diesem und dem Schwäbischen ist die unterschiedliche Entwicklung der mittelhochdeutschen Langvokale î, û und iu. Nieder- und hochalemannische Dialekte haben diese Langmonophthonge bis heute bewahrt, im Schwäbischen wurden sie hingegen diphthongiert. Wie weiter oben bereits erwähnt, fand diese Diphthongierung im Schwäbischen jedoch im Vergleich zum Neuhochdeutschen in abgeschwächter Form statt. Das mittelhochdeutsche î entwickelte sich zum [ɛɪ̭ ] (standarddeutsch [aɪ̭̭ ]), der mittelhochdeutsche Langvokal û zum [ou̯] (standarddeutsch [aʊ̭]) und das mittelhochdeutsche iu zum [ɛɪ̭ ] (standarddeutsch [ɔɪ̭̭ ]) oder je nach
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Tab. 8.6: Übersicht über charakteristische West-Ost-Unterschiede innerhalb des Alemannischen: Niederalemannisch vs. Schwäbisch
Mhd. î Mhd. iu Mhd. û Mhd. ê Mhd. œ Mhd. ô Mhd. ei Mhd. i vor Nasal Mhd. u vor Nasal Mhd. ü vor Nasal /b/ zwischenvokalisch
Standarddeutsch
Niederalemannisch
Schwäbisch
Weib Häuser, Feuer Haus Schnee böse groß breit Finger Hund Sünde heben
[vi:b] Hiis(ə)r, Fiir / [i:] [hu:s] [ʃne:] [be:s] [gro:s] [braɪ̭ d̥] Finger / [ɪ] Hund / [ʊ] Sind / [ɪ] [he:və]
[vɛɪ̭ b] Heisr, Fuir / [ɛɪ̭ ], [ʊɪ̭ ] [hou̯s] [ʃnaɪ̭ ], [ʃnɛɐ̯] [baɪ̭ s] [graʊ̯s], [graɔ̯s] [brɔɐ̯d̥], [brɔɪ̭ d̥] Fenger / [e] Hond / [o] Send / [e] [he:bə]
Kt. 8.6: Beispielkarte zur räumlichen Verbreitung der Diphthongierung der mittelhochdeutschen Langvokale, hier zur Realisierung von mhd. î im Lexem bleiben (aus Schwarz 2015: 59.)
Wort/Kontext auch zu einem [ʊɪ̭ ], [aɪ̭̭ ] oder [ɔɪ̭̭ ]. Somit stehen sich in Wörtern wie Weib, Häuser und Haus westlich und östlich des Schwarzwaldes niederalemannische Formen wie [vi:b], [ˈhi:sr], [hu:s] und schwäbische Formen wie [vɛɪ̭ b], [ˈhɛɪ̭ sr] und [hou̯s] gegenüber (vgl. z. B. Kt. 8.6 zum Lexem bleiben sowie die weiteren Karten in Schwarz 2015: Kap. 3.).
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. 8.7: Karte zur räumlichen Verbreitung der so genannten schwäbischen Diphthongierung, hier am Beispiel des Lexems groß nach Daten aus dem Digitalen Wenker-Atlas (DiWA), Fischer (1895) und dem SSA dargestellt (aus Schwarz 2015: 253)
Auch die mittelhochdeutschen Langvokale ô, œ und ê wurden im Schwäbischen diphthongiert, so dass Wörter wie Schnee, böse und groß dort überwiegend [ʃnaɪ̭ ] (oder [ʃnɛɐ̯]), [baɪ̭ s] und [graʊ̭s] lauten. Im Niederalemannischen haben diese Wörter einen Langvokal wie im Standarddeutschen, beim œ liegt allerdings Entrundung vor, d. h. ein Wort wie böse wird als [be:s] realisiert (vgl. Tab. 8.6). Bei der Diphthongierung der mittelhochdeutschen Langvokale ô, œ und ê handelt es sich um ein für große Teile des Schwäbischen sehr charakteristisches Merkmal. Das Phänomen wird daher in der Forschungsliteratur häufig als schwäbische Diphthongierung bezeichnet. Einen Überblick zur räumlichen Verbreitung bietet Kt. 8.7 zum Beispielwort groß (für Details zur Verbreitung siehe z. B. Schwarz 2015: Kap. 6.). Bei Wörtern, die auf mhd. ei zurückgehen, existieren im Alemannischen im Wesentlichen drei Formen, die jeweils eine großräumige Verbreitung aufweisen. Das gesamte westliche Alemannische (Nieder- und Hochalemannisch) hat hier standardkonformes [aɪ̭ ], der westliche Teil des Schwäbischen (sowie der östliche Bereich des mittelalemannischen Übergangsgebiets) hat [ɔɐ̯], und im östlichen Teil des Schwäbischen ist der Diphthong [ɔɪ̭ ] verbreitet. Von Westen nach Osten treten bei einem Wort wie breit somit die Varianten [braɪ̭ d̥], [brɔɐ̯d̥] und [brɔɪ̭ d̥] auf (vgl. die Karte in Schwarz 2015: 162). Der letzte West-Ost-Unterschied, der hier behandelt werden soll, wurde bereits in Kap. 3.1. bei der Abgrenzung des Schwäbischen von den fränkischen Dialekten aufgeführt: die schwäbische Vokalsenkung. Die für das Schwäbische charakteristische Sen-
8. Alemannisch in Deutschland
kung des Vokals bei Wörtern mit mhd. i, u und ü in der Position vor Nasal unterscheidet das Schwäbische nämlich nicht nur vom Fränkischen, sondern auch vom westlichen Alemannischen. Während Wörter wie Finger, Hund und Sünde im Niederalemannischen mit standardkonformem (im Falle von ü allerdings entrundetem) Vokal als Finger, Hund und Sind realisiert werden, lauten sie im Schwäbischen, bedingt durch die Vokalsenkung Fenger, Hond und Send (vgl. Tab. 8.6).
4. Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie 4.1. Verbalmorphologie Nahezu das gesamte Alemannische teilt einige morphologische Besonderheiten, wie zum Beispiel den Schwund des Präteritums, das durch Perfektformen ersetzt wird (vgl. auch Christen, Art. 9 in diesem Band, im Alemannischen in Deutschland kommt jedoch Präteritum von sein durchaus vor, vgl. z. B. Schifferle 2009; Sutter 2008: 505 und Fischer 2018), oder die Bildung der Form des Partizips Perfekts ohne das Präfix ge- (betrifft Verben mit einem Plosiv oder einer Affrikate im Anlaut, d. h. beispielsweise die neuhochdeutschen Partizip-Perfekt-Formen gekauft und gezogen lauten im Alemannischen kauft und zoge) bzw. mit reduziertem Präfix g- (z. B. glegt ‘gelegt’, gwisst ‘gewusst’ usw.). Es existieren allerdings auch morphologische Unterschiede zwischen einzelnen Regionen innerhalb des Alemannischen. Für die Verbflexion ist hier zunächst die Pluralbildung zu nennen. Für große Teile des Gebiets gilt der so genannte Einheitsplural, d. h. alle drei Formen sind (anders als in der Standardsprache) gleich. Sie unterscheiden sich jedoch je nach Region: Im westlichen Teil des Alemannischen hört man beispielsweise mir mache, ihr mache, sie mache, im östlichen Teil (große Teile des Schwäbischen sowie im Südosten, also auf der Baar, im Hotzenwald, Klettgau und Hegau) dagegen Formen mit Dentalsuffix, also mir machet, ihr machet, sie machet. Lediglich im äußersten Südwesten (Kreis Lörrach) gibt es keinen Einheitsplural. Hier lauten die Formen mir mache, ihr machet, sie mache. Auch bei der 2. Person Singular existiert ein solcher West-Ost-Unterschied. In den westlichen alemannischen Dialekten wird bei dieser Personalform der Verben das auslautende -t getilgt, in den östlichen bleibt es hingegen erhalten. Für standarddeutsch du machst, du bist, du kommst heißt es somit entlang des Rheins du machsch, du bisch, du kommsch im östlichen Alemannischen dagegen du machscht, du bischt, du kommscht (siehe z. B. SSA: III/1.001). Gerade das Verb sein weist im Alemannischen bei mehreren Formen verschiedene Varianten mit unterschiedlicher räumlicher Verbreitung auf. Schon beim Infinitiv stehen sich eine im Westen großräumig verbreitete (sii) und eine östliche Variante (sei bzw. sae) gegenüber (vgl. SSA: III/1.511). Bei der 1. Person Singular gilt im Schwäbischen und im äußersten Südwesten des Landes überwiegend n-Tilgung (d. h. bi(i) oder be(e)), ab etwa der Gegend um Freiburg nordwärts dagegen gilt westlich des Schwarzwaldes standardkonformes bin mit erhaltenem Nasal im Auslaut (vgl. SSA: III/1.513 sowie die Karte in Streck 2012b: 157). Beim Imperativ Singular, der schon von Maurer (1942a) als ein Merkmal für seine „Sundgau-Bodensee-Schranke“ herangezogen wurde, liegt
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eine Nord-Süd-Verteilung der basisdialektalen Varianten vor. Im Niederalemannischen und im Schwäbischen lautet die basisdialektale Form sei, im Hochalemannischen sowie im mittelalemannischen Übergangsgebiet dagegen überwiegend bis − nur im äußersten Südwesten (Kreis Lörrach, Markgräflerland) gilt bisch (allerdings kommt bisch mancherorts auch im Niederalemannischen und Schwäbischen − meist neben sei − vor; siehe SSA: III/1.517). Sehr charakteristisch − und daher auch gerne als eines der Merkmale für die Unterscheidung zwischen dem westlichen Alemannischen und dem Schwäbischen herangezogen − sind auch die unterschiedlichen Partizip-Perfekt-Formen von sein. Nahezu im gesamten Westen (also sowohl im Niederalemannischen als auch im Hochalemannischen) lautet diese Form gsii, im Schwäbischen hingegen lautet sie im nördlichen Teil (sowie ganz im Osten) gweea und im südlichen Teil gsei/gsae (vgl. SSA: III/1.512). Daneben existieren noch einige kleinräumiger verbreitete Sonder- und Zwischenformen. Genauere Angaben zur Herkunft, Verbreitung und Entwicklung der einzelnen Varianten sind in Streck (2012b: Kap. 10.) zu finden. Ein markantes alemannisches Dialektmerkmal sind auch die so genannten Kurzverben, von denen einige nicht nur in der Schweiz bzw. im Hochalemannischen allgemein (vgl. hierzu z. B. Nübling 1995), sondern auch in den nördlicheren Gebieten in Gebrauch sind. Die Verben gehen, stehen, geben, haben und lassen existieren nahezu im gesamten Alemannischen in Deutschland noch heute als Kurzverben. Die bei diesen Kurzverben auftretenden Varianten unterscheiden sich hauptsächlich im Vokalismus und weisen in der Regel eine West-Ost-Verteilung auf. So gilt beispielsweise bei gehen und stehen (Infinitiv) im Westen gee, goo / stee, stoo (die zuerst genannte Variante ist immer die nördlichere) und im Osten gao / stao (vgl. die Karten in Streck 2012b: 150 u. 154) oder bei haben westlich hoo, haa und östlich hao (vgl. SSA: III/1.501 sowie die Karte in Nübling & Schrambke 2004: 317). Beim Verb haben sind außerdem die Varianten für die Form des Partizips II und deren räumliche Verbreitung interessant: Im nordwestlichen Teil des Niederalemannischen sowie in großen Teilen des Schwäbischen ist die Variante ghet üblich (im nordöstlichen Schwäbischen gheet), im nordöstlichen Niederalemannischen ghoo, im südlichen Niederalemannischen sowie im Hochalemannischen ghaa und in einem kleinen Gebiet in Richtung Hegau gha, mit kurzem Vokal (für genauere Angaben siehe SSA: III/1.502). Bei der Wortform gehabt unterscheiden sich die dialektalen Varianten somit nicht nur im Vokalismus, sondern auch durch das vorhandene oder nicht vorhandene Dentalsuffix.
4.2. Nominalmorphologie Zur Flexion der Substantive im Alemannischen ist zunächst anzumerken, dass der Genitiv − außer in einigen festen Wendungen sowie in Herkunfts- bzw. Zugehörigkeitsbezeichnungen (wie s Lehmanns Anna ‘die Anna aus der Familie Lehmann’) − weitgehend verschwunden ist. Er wird durch von + Dativ (de(r) Deckel vu(n) dem Fass) oder durch eine Konstruktion aus Dativ und Possessivpronomen (em Hans si Brueder / de Klara ihri Schweschter) ersetzt. Der Akkusativ ist formal mit dem Nominativ zusammengefallen: des isch de(r) Hund (‘das ist der Hund’, Nominativ), i heer de(r) Hund (‘ich höre den Hund’, Akkusativ).
8. Alemannisch in Deutschland
Besonderheiten gibt es auch bei der Pluralbildung. Zum Ausdruck des Plurals der Substantive wird im Alemannischen der Umlaut häufiger verwendet als im Standarddeutschen (z. B. Pl. Dögdər zum Sg. Dogdər ‘Doktor’ oder Pl. Nämmə zum Sg. Nammə ‘Name’). Durch die verbreitete Apokope von wortfinalem -e ist die alleinige Pluralmarkierung durch Umlaut überdies besonders häufig (wie in Pfähl ‘Pfähle’ oder Müüs ‘Mäuse’, aber auch Ärm ‘Arme’). Das Pluralallomorph -er kommt im Alemannischen sowohl bei Wörtern vor, bei denen es auch im Standarddeutschen den Plural markiert (z. B. Wald/Wälder), als auch bei bestimmten Wörtern, bei denen im Standarddeutschen der Plural mit -e oder -en gebildet wird. Pluralformen wie Gschenkər ‘Geschenke’ und Gschäftər ‘Geschäfte’ oder Hemdər ‘Hemden’ und Bettər ‘Betten’ können als typisch alemannisch gelten. Bei femininen Substantiven auf -el, -er und -e kommt es im Südwesten des Landes zu einem Zusammenfall der Singular- und Pluralformen, was im folgenden Kap. 4.3. näher erläutert wird. Teilweise weicht das Genus von Substantiven in den alemannischen Dialekten vom standarddeutschen Genus ab. Klassische Beispiele hierfür sind der Butter, das Teller, der Bank und der Schneck. Häufig ist ein vom Standarddeutschen abweichendes Genus jedoch eine lokale oder regionale Erscheinung. Die räumliche Verbreitung ist also oftmals von Lexem zu Lexem ganz unterschiedlich. Wie das Standarddeutsche unterscheidet das Alemannische einen bestimmten und einen unbestimmten Artikel. Substantive werden in den alemannischen Dialekten allerdings nahezu immer mit einem Artikel verwendet, d. h. auch Marken- und Eigennamen, Abstrakta (ə Liəcht ‘ein Licht’) und teilweise auch unzählbare Mengen (wie z. B. ə Geld ‘ein Geld’ im nördlichen Alemannischen). Die Verwendung des Artikels bei Personennamen ist völlig wertneutral, hat also keinerlei pejorative Bedeutung (nicht nur im Alemannischen, sondern allgemein in den oberdeutschen Varietäten; siehe dazu Werth 2017: 191). Es ist völlig unmarkiert, de Hans, de Klaus oder d Heidi, d Petra usw. zu sagen. Wie diese Beispiele schon zeigen, treten die Artikel in den allermeisten Fällen in lautlich reduzierter Form auf. Im Nominativ/Akkusativ lautet der maskuline Definitartikel də(r), der feminine d(i), der neutrale (ə)s und der pluralische d(i). In den südlichen alemannischen Dialekten hat der feminine bzw. pluralische Definitartikel zwei verschiedene Formen, je nachdem, ob direkt das Substantiv oder zunächst noch ein Adjektiv folgt. Es heißt hier somit beispielsweise d Frau ‘die Frau’, aber di jungi Frau ‘die junge Frau’. Im Dativ lauten die Formen des bestimmten Artikels əm (mask.), də(r) (fem.), əm (neutr.) und də (Pl.). Auch beim indefiniten Artikel sind lautliche Reduktionen verbreitet. Im Nominativ/Akkusativ lautet der maskuline Indefinitartikel ə(n), der feminine ə und der neutrale (ə)s, im Dativ (ə)m(ən)ə (mask.), (ən)əre/rə (fem.) und (ə)m(ən)ə (neutr.). Insbesondere bei den dativischen Formen tritt viel Variation auf, was hier durch die Klammerungen deutlich werden soll. Wie in früheren Sprachstufen des Deutschen treten im Alemannischen auch heute noch Adjektive mit Nullflexion auf. Im Projekt SynAlm (Syntax des Alemannischen, siehe Brandner 2015) wurde eine breite Akzeptanz endungsloser Adjektive in der Position vor Nomen − wie z. B. də(r) bruun Hund ‘der braune Hund’, di hart Ärbət ‘die harte Arbeit’ usw. − nachgewiesen.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
4.3. Wortbildung Ein bekanntes Merkmal des Alemannischen aus dem Bereich der Wortbildung ist die Diminutivbildung. Sie erfolgt grundsätzlich mittels eines Suffixes, das auf ahd. -līn beruht. Es wird allerdings ohne den in der althochdeutschen Form vorhandenen auslautenden Nasal und mit regional unterschiedlicher Vokalqualität realisiert. Im größten Teil des Niederalemannischen sowie im Hochalemannischen lautet das Diminutivsuffix -li, im Schwäbischen dagegen -le oder (reduziert) -lə. Im äußersten Nordwesten des (Nieder-)Alemannischen wird das Suffix zu silbischem -l̩ reduziert. Die Diminutivformen von Fass und Rad beispielsweise lauten somit im westlichen Alemannischen Fässli und Rädli (abgesehen von der äußersten Nordwestecke, wo Fässl und Rädl gilt) und im östlichen Alemannischen Fässle bzw. Fässlə und Rädle bzw. Rädlə. Genauer ist die räumliche Verbreitung der genannten Varianten am Beispiel des Diminutivs von Rad in Kt. 8.8 (aus Nübling & Schrambke 2004: 319, die Karte enthält auch die in der Deutschschweiz und im alemannischen Teil Österreichs üblichen Formen) dargestellt. Eine Besonderheit liegt bei Wörtern vor, die auf -en bzw. auf -el enden. Bei ihnen wird die Diminutivform im Nordwesten sowie im Schwäbischen mit -ele, im übrigen niederalemannischen sowie im hochalemannischen Gebiet mit -eli oder -ili gebildet. Für bei-
Kt. 8.8: Räumliche Verbreitung der unterschiedlichen Diminutivformen von Rad im Alemannischen (aus Nübling & Schrambke 2004: 319)
8. Alemannisch in Deutschland
spielsweise Laden lauten die verschiedenen Diminutivformen dann Lädele, Lädeli und Lädili, für Nadel entsprechend Nädele, Nädeli und Nädili. Bei Feminina auf -el existiert im Alemannischen ebenfalls ein raumbildendes Phänomen. In Wörtern wie stddt. Nadel oder Sichel sind im Niederalemannischen und im Schwäbischen vergleichsweise standardnahe Varianten (Nodəl, Sichəl) verbreitet, im Hochalemannischen und im mittelalemannischen Übergangsgebiet dagegen Formen, die von Sprecher*innen aus dem nördlichen Alemannischen leicht für Pluralformen gehalten werden könnten (Nodlə, Sichlə, vgl. z. B. die Karte in Post & Scheer-Nahor 2010: 19). Es handelt sich allerdings um Singularformen, die in diesem Gebiet mit den Pluralformen zusammenfallen. Auch bei femininen Substantiven auf -er wie Ader oder Feder fallen in diesem südwestlichen Gebiet die Singular- und Pluralformen zusammen (Odere ‘Ader’ und ‘Adern’ / Fädere ‘Feder’ und ‘Federn’), wohingegen sie im nördlichen Alemannischen klar zu unterscheiden sind (Oder ‘Ader’ vs. Odere ‘Adern’ / Fäder ‘Feder’ vs. Fädere ‘Federn’). Bei Feminina mit wortfinalem -e im Standarddeutschen fallen die Singular- und Pluralformen im Süden ebenfalls zusammen. In den südlicheren alemannischen Dialekten gilt beispielsweise Rose für ‘Rose’ und ‘Rosen’ oder Suppe für ‘Suppe’ und ‘Suppen’. Für die nördlicheren alemannischen Dialekte ist dagegen die Tilgung des -e (bei der Singularform) kennzeichnend, weshalb sich hier die Singularformen Ros ‘Rose’ und Supp ‘Suppe’ leicht von den Pluralformen Rose ‘Rosen’ und Suppe ‘Suppen’ unterscheiden lassen. Die räumliche Verbreitung der Singularformen mit versus ohne wortfinalem -e kann jedoch von Wort zu Wort recht unterschiedlich ausfallen (vgl. z. B. die Karte in Post & Scheer-Nahor 2010: 20). Im Vergleich zur Standardsprache kommen in den alemannischen Dialekten bestimmte Präfixe − wie beispielsweise be-, er-, ent- oder zer- − wesentlich seltener vor oder sind gänzlich unproduktiv. Die Wortbildung ist dadurch jedoch keinesfalls eingeschränkt, sondern es werden meist andere Präfixe oder bestimmte Präfixe häufiger eingesetzt als im Standarddeutschen. Sehr typisch für das Alemannische ist die Verwendung von veranstelle von standarddeutsch zer- und er-, wie z. B. in verrisse ‘zerreißen’, verrupfe ‘zerrupfen’, verfriere ‘erfrieren’, versticke ‘ersticken’ etc. Das Alemannische verfügt jedoch umgekehrt auch über Wortbildungsmuster, die dem Standarddeutschen fehlen. Ein bekanntes Beispiel ist die Bildung von Kollektiva − also von Substantiven, die eine unbestimmte Menge, Ansammlung, Anhäufung von etwas bezeichnen − mittels -ete. Allein im Badischen Wörterbuch sind ungefähr 400 solche Bildungen zu finden. Beispiele sind Putzete ‘was auf einmal geputzt wird’, Druckete ‘Menschengedränge in großer Enge’, Fegete bzw. Kehrete ‘das Zusammengefegte, Kehricht’, Kratzete ‘das Auseinandergekratzte, verrührter/in der Pfanne zerhackter Pfannkuchen’, Nähete, Strickete ‘was man gerade näht, strickt, gesamte Näh-/Strickarbeit’, Tratschete ‘Geschwätz’, Setzete ‘Gesamtheit der einzupflanzenden Setzlinge’ u. v. m. (vgl. dazu auch Christen, Art. 9 in diesem Band).
5. Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Eine flächendeckende Darstellung zur Syntax des Alemannischen in Deutschland, wie für die Schweiz mit dem Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz der Fall, liegt bislang noch nicht vor (vgl. aber die in Brandner 2015 aufgeführten, im Projekt SynAlm −
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II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 8.7: Infinitivkonstruktionen im Standarddeutschen und im Alemannischen (aus Brandner 2006: 221; opc-verb = optional coherent verb ‘optional kohärentes Verb’, z. B. vergessen, versuchen) Type of construction
Standard German
Alemannic
opc-verb object sentence (factive, propositional verbs) subject sentence motion verb gerund construction adjective, noun final/purpose clause
zu-INF. (finite clause) zu-INF./finite clause zu-INF. bare/(um) … zu-INF. zu-INF. zu-INF. um … zu-INF.
bare inf. (finite clause) finite clause bare inf. (finite clause) gi-INF. z’.+ dental inf. zum-INF., P+NOM zum-INF.
Syntax des Alemannischen untersuchten Phänomene). Die folgende Darstellung einiger syntaktischer Phänomene, die das Alemannische auszeichnen, stützt sich daher auf ausgewählte Einzelarbeiten (überwiegend aus dem Umfeld des SynAlm-Projekts). Als syntaktische Besonderheit des Alemannischen wird in der Literatur besonders häufig der Relativanschluss mit wo genannt. Er ist tatsächlich in den alemannischen Dialekten großräumig verbreitet und vollkommen normal, allerdings ist er auch für das Bairische und das Hessische ausgewiesen und daher kein Alleinstellungsmerkmal des Alemannischen (vgl. Christen, Art. 9 in diesem Band). Relativanschluss mit wo heißt, dass Relativsätze grundsätzlich mit der Relativpartikel wo (zuweilen jedoch auch mit Relativpronomen + wo, vgl. z. B. Brandner 2015: 294 u. 319) eingeleitet werden. Die Partikel kann im Relativsatz die Funktion des Subjekts oder die des Akkusativ-Objekts übernehmen, wie beispielsweise in e Kind, wo schloft ‘ein Kind, das schläft’ oder di Baim, wo d(ə) siisch ‘die Bäume, die du siehst’. Die Funktion eines Dativ- oder Präpositionalobjekts kann wo jedoch nicht allein übernehmen. Bei solchen Bezügen sind basisdialektal Konstruktionen wie ə Vogəl, wo si nəm zuəluəgt ‘ein Vogel, dem sie zuschaut’ (also mit wo + Personalpronomen im Dativ) oder də(r) Briəf, wo mir druf warte ‘der Brief, auf den wir warten’ belegt. Mit wo können außerdem temporale Bezüge hergestellt werden, wie in Weisch noch, wo mer uns kenne glehrt hän? ‘Weißt du noch (damals), als wir uns kennen lernten?’ oder in Wo er heim gloffe isch, het s gschneit ‘Als/während er nach Hause gegangen ist, schneite es’ (vgl. Brandner & Bräuning 2013). Ein in der Literatur ebenfalls viel beachteter Bereich ist die Infinitivsyntax. Das Alemannische zeichnet sich bei Sätzen, in denen im Standarddeutschen zu-Infinitive auftreten, durch eine Vielfalt an möglichen Konstruktionen aus. In Tab. 8.7 (aus Brandner 2006) sind die im Alemannischen und im Standarddeutschen möglichen Konstruktionen einander gegenübergestellt. Auffällig ist zunächst, dass reine Infinitive (ohne Markierung) im Alemannischen in mehr Kontexten möglich sind als im Standarddeutschen, was die folgenden Beispiele (aus Brandner 2006: 207) veranschaulichen: er probiert grad die obere öpfel o no abehole (‘er versucht gerade, die oberen Äpfel auch noch zu pflücken’), etz het der doch vergesse de Block zuemache (‘jetzt hat der doch vergessen, das Gewächshaus zuzumachen’), woasch no wo die aagfange hond d’schtrooss uffriisse (‘weißt du noch, als sie angefangen haben, die Straße aufzureißen’). Wird das infinitivische Komplement markiert, so kann das in den alemannischen Dialekten bei manchen Konstruktionstypen durch z’ (was dem standarddeutschen zu entspricht) geschehen, bei anderen durch gi/go/ge oder durch zum. Die spezielle Markierung durch gi/go/ge (bei Bewegungsverben) kann nahezu als Alleinstellungsmerkmal einiger alemannischer Dia-
8. Alemannisch in Deutschland
lekte betrachtet werden (vgl. Brandner 2015: 302). Dieser Typ ist vor allem im nördlichen Bodenseeraum verbreitet und wird dort überwiegend als gi/ge (wie in I gang gi/ge schaffe ‘Ich gehe arbeiten’) realisiert. Die go-Form (wie in I gang go schaffe) wird hingegen hauptsächlich in der Schweiz verwendet (vgl. Brandner 2015: 302). Eine ausführliche Diskussion der Unterschiede zwischen der deutsch-alemannischen und der schweizerdeutschen Bewegungsverbkonstruktion findet sich in Brandner & Salzmann (2012). Die Markierung durch zum ist im Alemannischen bei Finalsätzen (Markierung im Standarddeutschen durch um … zu) sowie bei Komplementen von Nomen und Adjektiven (zu-Markierung im Standarddeutschen) möglich, wie z. B. in ich zünd jo oh ko liecht aa zum s unter de schemmel stelle ‘Ich zünde ja auch kein Licht an, um es unter den Schemel zu stellen’ und ich ha koa Luscht zum mit dir do morge anigoh ‘Ich habe keine Lust, mit dir dort morgen hinzugehen’ (Beispiele aus Brandner 2006: 216). Bei Sätzen mit mehreren Infinitiven in mehrgliedrigen Verbalkomplexen ist im Alemannischen eine andere Abfolge möglich als im Standarddeutschen, d. h. das regierende Verb folgt in der rechten Satzklammer nicht dem regierten, sondern steht in der Position vor dem regierten Verb, wie z. B. in I ha ne höre schreie ‘Ich habe ihn schreien hören’. Sind Modalverben beteiligt, nehmen diese die Position vor den anderen Infinitiven ein, das Auxiliar steht an erster Stelle des Verbalkomplexes: dass er des Buech het welle lese ‘dass er das Buch hat lesen wollen’, er het’s nit kenne bliibe loo ‘Er hat es nicht bleiben lassen könnenʼ. Auch finite Modalverben können vor dem infiniten Vollverb stehen: dass er des Buech will lese (ʻdass er das Buch lesen will’). Wie Brandner (2006: 209) anhand einiger Beispiele zeigt, ist die relative Abfolge der Verben im Satz sehr konstant, die Position der nicht verbalen Elemente dagegen vergleichsweise variabel. Ein syntaktisches Phänomen, für das bereits eine gewisse Raumbildung innerhalb des Alemannischen nachgewiesen wurde, ist die Realisierung des Personalpronomens (en ‘ihn’) anstelle des Reflexivpronomens (sich) für die auf das Subjekt des Satzes referierende Anapher in Dativsätzen sowie nach einer Präposition. In Brandner (2012: 124− 125) wird dargestellt, dass dieses Phänomen − ihr Beispielsatz ist Na, di het er für en selber kauft ‘Nein, die hat er für sich selbst gekauft’ − hauptsächlich im östlichen Alemannischen (d. h. im Schwäbischen und im östlichen Teil des mittelalemannischen Übergangsgebiets) vorkommt. Im Nieder- und Hochalemannischen hingegen wird in solchen Sätzen (wie im Standarddeutschen) das Reflexivpronomen (sich) realisiert.
6. Sprachdynamik In umfangreichen Untersuchungen auf der Basis von Dialektdaten aus den 1970er und 1980er Jahren (Streck 2012b; Schwarz 2015) wie auch in Analysen zu Teilräumen auf der Basis von Daten aus jüngster Zeit (Breuninger 2016; Hansen-Morath 2016; Auer, Breuninger & Pfeiffer 2017; Streckenbach i. V.) haben sich die alemannischen Dialekte in Deutschland als variable Gebilde erwiesen, in denen oftmals alte und neue Formen nebeneinander bestehen. Die Sprachdynamik ist durch eine Mischung aus horizontalem und vertikalem Wandel gekennzeichnet (vgl. Schwarz 2015: 538; Streck 2015: 165; Bühler 2016: 179). Gerade für kleinräumig verbreitete dialektale Reliktformen gilt, dass sie in der Regel abgebaut und durch großräumiger verbreitete Dialektvarianten aus dem Umland ersetzt werden. Dies wurde in Streck (2012b: 272−284 u. 301−321) beispiels-
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weise für die Velarisierung von /n/ im Auslaut in Wörtern wie sein, mein, Wein und neun sowie für die Realisierung von /nd/ bzw. /nt/ als /ŋ/ (im Kinzig- und Elztal) nachgewiesen, in Auer, Breuninger & Pfeiffer (2017) für die Palatalisierung von mhd. û. Auch Hansen-Morath (2016: 350) kommt zu dem Ergebnis, dass kleinräumig verbreitete Merkmale zumeist stärker von Dialektwandelprozessen betroffen sind als solche, die großräumiger verbreitet sind. Als besonders dynamisch hat sich der nördliche Bodenseeraum erwiesen, für den bereits in älteren Arbeiten (z. B. Moser 1955; Seidelmann 1995) von einem Dialektwandel zugunsten des Schwäbischen berichtet wurde. Auf breiter empirischer Basis konnte für diese Gegend (die früher traditionell dem so genannten Bodenseealemannischen zugerechnet wurde) z. B. eine Ausbreitung der schwäbischen Diphthonge (anstelle der alten alemannischen Langvokale in Wörtern mit mhd. î, iu und û) und der Dehnung in offener Silbe (statt ursprünglichem Erhalt der mittelhochdeutschen Kurzvokale) sowie die Durchsetzung von schwäbischem oi in Wörtern mit mhd. ei nachgewiesen werden (Schwarz 2015). Auch bei den dialektalen Varianten von beispielsweise gewesen oder nichts haben sich die jeweiligen schwäbischen Dialektformen in dieser Gegend weitgehend durchgesetzt (Streck 2012b). Dass der Dialektwandel zugunsten des Schwäbischen im nördlichen Bodenseegebiet nicht nur einzelne Phänomene betrifft, konnte in quantitativen Analysen auf breiter empirischer Basis nachgewiesen werden (siehe Streck & Auer 2012; Streck 2014 und die dort abgedruckten dialektometrischen Karten). Dieser Befund wurde bei der im vorliegenden Beitrag enthaltenen Karte zur Binnengliederung des Alemannischen in Deutschland (Kt. 8.2) entsprechend berücksichtigt. Wie ein Vergleich mit Kt. 8.1 zeigt, ist der äußerste Südosten Baden-Württembergs − ab etwa Friedrichshafen ostwärts − dem Schwäbischen zuzurechnen, nicht (mehr) wie in älteren Dialektgliederungskarten dem „Mittel-“ (Wiesinger 1983) bzw. „Bodensee“alemannischen (Steger & Jakob 1983). Insgesamt bestimmen häufig regionaldialektale Formen − die oft, aber nicht immer, auch standardnäher sind − die Richtung des Lautwandels. Es breiten sich also oftmals gerade solche Realisierungen aus, die mit regionaldialektalen Formen identisch oder diesen zumindest sehr ähnlich sind. In Streck (2012b) wurde dies u. a. anhand der Ausbreitung der regionalsprachlichen Variante [nɪks] ‘nichts’ zu Ungunsten von älteren basisdialektalen Varianten wie niats, noits, nonts oder nents (siehe auch Streckenbach i. V., wo für das von ihr untersuchte Teilgebiet eindrucksvoll belegt wird, dass sich diese Entwicklung bis in die jüngste Zeit hinein fortsetzt), anhand des Rückgangs der basisdialektalen n-Tilgung vor alveolarem Plosiv in Wörtern wie Hand, Hund und Kind (im Schwäbischen) sowie anhand des tendenziellen Rückgangs der für das Hochalemannische charakteristischen k-Verschiebung (vgl. dazu auch Sutter 2008: 504; Schifferle 2009; HansenMorath 2016: 98) gezeigt. Breuninger (2016) und Auer, Breuninger & Pfeiffer (2017) weisen bezüglich der Frikativierung von intervokalisch b eine deutliche Angleichung an die regionaldialektale (und zugleich standarddeutsche) Plosivrealisierung nach. Auf eine Entwicklung vom geographisch eher kleinräumig strukturierten alten Basisdialekt zu einer großräumigeren Dialektgliederung in jüngerer Zeit deuten auch die dialektometrischen Analysen von Hansen-Morath (2016: 227−233) hin. Für die Südwestecke Baden-Württembergs (etwa vom nördlichen Breisgau bis zur Schweizer Grenze) zeigt sie anhand eines Vergleichs von Daten aus dem SSA (erhoben in den 1970er und 1980er Jahren) mit eigenen Daten, die um das Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts herum erhoben wurden, dass die anhand von Clusteranalysen ermittelten Dialektgruppen bei den aktuel-
8. Alemannisch in Deutschland
len Daten deutlich großräumiger ausfallen als bei den SSA-Abfragedaten. Darüber, ob diese Ergebnisse − ein Wandel vom Basisdialekt zum Regionaldialekt (den auch Kehrein 2012 für die Region Waldshut-Tiengen feststellt) − auch auf das übrige Alemannische in Deutschland übertragen werden können, kann allerdings nur spekuliert werden, da keine flächendeckenden Neuerhebungen existieren, die einen diachronen Vergleich mit den Daten aus dem SSA ermöglichen würden. Für ausgewählte Teilräume des Alemannischen, für die aktuelle Daten vorliegen, ist nachweisbar, dass die Dialektalität sowohl im diachronen Vergleich als auch beim Vergleich von Sprecher*innen unterschiedlicher Altersgruppen insgesamt zurückgeht. Hansen-Morath (2016) errechnete für alle von ihr untersuchten Sprecher*innen aus dem im vorangehenden Abschnitt genannten Untersuchungsgebiet auf der Basis von Dialektkompetenzdaten (Dialektabfrage in direkter Erhebung) einen Dialektalitätswert, der sowohl einen Vergleich mit den ca. 30−40 Jahre älteren Daten des SSA als natürlich auch zwischen den Sprechergruppen aus ihrer eigenen Erhebung ermöglichte. Obwohl sich insgesamt zeigte, dass der Mittelwert der individuellen Dialektalitätswerte sowohl bei den älteren Sprecher*innen (60−70 Jahre alt) als auch bei den jüngeren (25−35 Jahre alt) relativ hoch ist, fällt die Dialektkompetenz zum Erhebungszeitpunkt bereits geringer aus als noch bei den Gewährspersonen des SSA. Darüber hinaus ist für die jüngeren Sprecher*innen im Vergleich zur älteren Sprechergruppe eine signifikant niedrigere Dialektkompetenz festzustellen (vgl. Hansen-Morath 2016: 46). Hansen-Morath berechnete außerdem für alle Sprecher*innen die Distanz zum gesprochenen Standard. Für die Daten der Dialektabfrage bestätigen ihre statistischen Auswertungen hier ebenfalls einen signifikanten Effekt der Altersgruppe auf den Abstand zum gesprochenen Standard: „Der Mittelwert der Abweichungen vom Standard für die jüngeren Sprecher ist signifikant niedriger als der Mittelwert für die älteren Informanten“ (Hansen-Morath 2016: 322). Bezüglich der Dialektweitergabe an die Folgegeneration kann aus den Ergebnissen von Hansen-Morath für das von ihr untersuchte Teilgebiet des Alemannischen in Deutschland geschlossen werden, dass die Dialektkompetenz und der Abstand zur gesprochenen Standardsprache offenbar von Generation zu Generation geringer wird. Speziell für die Region Waldshut-Tiengen zeigt das auch Kehrein (2012), wobei es sich bei dem von ihm untersuchten jüngsten Sprecher (19 Jahre alt), der „keine Dialektkompetenz mehr besitzt“ (Kehrein 2012: 149), vermutlich eher (noch?) um eine Ausnahme handelt als um einen für die Region repräsentativen Sprecher dieser Altersgruppe. Da Hansen-Morath (2016), zu deren Untersuchungsgebiet auch Waldshut-Tiengen gehört, ja auch für ihre jüngere Sprechergruppe (allerdings 25−35 Jahre alt) eine relativ hohe Dialektkompetenz nachgewiesen hat (siehe oben), wäre eine alternative Erklärung, dass Kehreins jüngster Sprecher womöglich bereits die nächstjüngere Sprechergeneration repräsentiert. Auch die Ergebnisse von Streckenbach (i. V.) deuten darauf hin, dass die Dialektalität im intergenerationellen Vergleich abnimmt. In ihrer Untersuchung, die alemannische Orte entlang des Rheins − etwa von der fränkischen Dialektgrenze im Norden bis zur Schweizer Grenze im Süden − berücksichtigt, zeigt sich dies jedoch insbesondere bei der Dialektperformanz (Spontansprache), nicht immer auch bei der Dialektkompetenz (Abfragedaten). Offenbar ist die alte Dialektvariante bei manchen Variablen besonders fest in der Kompetenz verankert und kann in Abfragesituationen (auch von jüngeren Sprecher*innen) sicher produziert werden, obwohl sie in der Spontansprache abgebaut wird (vgl. zu diesem Aspekt auch Kehrein 2012: 158). Möglicherweise hat dieser Unterschied zwischen Kompetenz- und Performanzdaten, der nicht bei allen Variablen glei-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
chermaßen stark ausgeprägt ist, jedoch nicht nur mit dem Variablentyp zu tun, sondern auch mit dem jeweiligen sozialen bzw. beruflichen Hintergrund der Sprecher*innen. Hansen-Morath (2016: 345) stellt diesbezüglich fest, „dass die beruflich kommunikationsorientierten Sprecher zwar ein gutes Dialektwissen aufweisen, in der Spontansprache aber eher standardnahe Varianten verwenden“ (d. h. in größerem Ausmaß als solche mit einem handwerklichen oder landwirtschaftlichen Beruf). Insgesamt spielt für die Dynamik des Alemannischen in Deutschland − anders als in der Deutschschweiz (vgl. Christen, Art. 9 in diesem Band) − der Kontakt mit dem Standarddeutschen eine wichtige Rolle (vgl. u. a. Schifferle 2009; Auer, Breuninger & Pfeiffer 2017: 40). Wie in verschiedenen Untersuchungen nachgewiesen wurde, sind bei den Wandelprozessen mancher Variablen klar die vertikalen Einflüsse dominant. Als Beispiele seien hier die Diphthongierung von mhd. iu (also der Ersatz der basisdialektalen Monophthonge durch den standardsprachlichen Diphthong [ɔɪ], siehe Schwarz 2015: 537), der Ersatz der entrundeten durch die standarddeutschen gerundeten Vokale im Falle von mhd. ü und œ (siehe Schwarz 2015: 538) sowie die Monophthongierung von mhd. ie und oe (also ein Ersatz der basisdialektalen Diphthonge durch den standardsprachlichen Langvokal, siehe Streckenbach i. V.) genannt. Wie Hansen-Morath (2016: 352−353) für die Gegend um Freiburg feststellt, kann der standardsprachliche Einfluss durchaus auch regional unterschiedlich stark ausgeprägt sein. In ihrer Untersuchung zeigte sich, dass die Sprecher*innen aus Freiburg (Universitäts- und einzige Großstadt in ihrem Untersuchungsgebiet) und Umgebung in der Dialektkompetenzerhebung besonders viele standardnahe Varianten nannten. Auch in der Spontansprache wurden bei diesen Sprecher*innen geringere Standarddistanzen gemessen als bei den Sprecher*innen aus den von Freiburg weiter entfernt gelegenen Orten. Es ist naheliegend, aber bislang nur vereinzelt empirisch nachgewiesen, dass dieser Effekt auch bei anderen südwestdeutschen Großstädten und deren Umland auftritt. Für den Großraum Stuttgart weist jedenfalls auch Bühler (2016: 179, Fußnote Nr. 188) unter Verweis auf verschiedene SNBW-Karten auf eine Ausbreitung stadtsprachlicher Merkmale im Stuttgarter Umland hin. Morphologisch komplexen Wortformen (Komposita und Derivationen) scheint beim vertikalen Wandel eine besondere Rolle zuzukommen. Sie tendieren gemäß Schwarz (2015: 539) eher zu standardnahen Realisierungen als Simplizia, zumindest in den Fällen, in denen es sich um im Standard gebildete Wortbildungsprodukte handelt. Sie werden „von Dialektsprechern als (Ad-Hoc-)Entlehnungen in den Dialekt überführt [..]. Die Entlehnungen werden dabei nicht an die dialektale Lautung angepasst, sondern behalten die standardsprachliche Lautung bei“ (Schwarz 2015: 539), was in der Folge ggf. den Lautwandel bei einer ganzen etymologischen Klasse beschleunigen kann (vgl. auch ausführlicher Auer & Schwarz 2015). Auch Sutter (2008: 504) belegt (für den Ort Opfingen), dass neuere/standarddeutsche Wörter in jüngerer Zeit häufig nicht mehr in den Dialekt eingelautet werden. Bei seinen Beispielen handelt es sich um Komposita mit auf mhd. î, iu und û zurückgehenden Diphthongen: Wörter wie Feuerwehr, Streichholz oder Eiswein werden laut Sutter häufig nicht mit Langmonophthong (wie es ansonsten bei mhd. î, iu und û basisdialektal in Opfingen üblich ist) ausgesprochen, sondern mit Diphthong wie im Standarddeutschen. Das Alemannische in Deutschland verhält sich in diesem Punkt somit ganz anders als die alemannischen Dialekte der Deutschschweiz, wo neue/standarddeutsche Wörter möglichst konsequent dialektalisiert werden (vgl. Christen, Art. 9 in diesem Band).
8. Alemannisch in Deutschland
7. Vertikale Register Es liegen bislang keine flächendeckenden systematischen Untersuchungen vor, anhand derer empirisch gestützte Aussagen über sämtliche vertikalen Register in allen Teilräumen des Alemannischen in Deutschland möglich wären. Für die im Hochalemannischen gelegene Region Waldshut-Tiengen hat jedoch Kehrein (2012) eine detaillierte Analyse des regionalsprachlichen Spektrums vorgelegt. Mit Spiekermann (2008) liegt eine Arbeit für die standardnächste Sprechlage vor, die Daten aus insgesamt elf Städten in ganz Baden-Württemberg (sieben davon im alemannischen Sprachraum: Freiburg, Konstanz, Lörrach, Offenburg, Stuttgart, Tübingen und Ulm) berücksichtigt. Knöbl (2012) analysiert Interaktionen einer schwäbischen Schulklasse in sowohl eher formellen als auch informelleren Situationen und den jeweils damit verbundenen Gebrauch variabler Sprechlagen. Kehrein (2012) weist für die Region Waldshut-Tiengen die Sprechlagen Basisdialekt, Regionaldialekt, unterer Regiolekt, mittlerer Regiolekt, Regionalakzent sowie Kolloquialstandard nach (siehe auch Abb. 8.1). Basis- und Regionaldialekt bilden nach Kehrein (2012: 197) „unterschiedliche Sprachverhaltensmuster innerhalb der Varietät Dialekt ab.“ Sie unterscheiden sich dadurch, dass der Anteil dialektaler Varianten im Regionaldialekt rund 30 % geringer ist als im Basisdialekt. Bei den im Regionaldialekt nicht vorhandenen Merkmalen handelt es sich überwiegend „um die auf bundesdeutschem Gebiet kleinräumig verbreiteten hochalemannischen Merkmale“ (Kehrein 2012: 196). Das heißt, dass beispielsweise die Merkmale k-Verschiebung oder Rundung/Palatalisierung (Schwöschter ‘Schwester’, siehe Kap. 3.2.1.) nicht im Regionaldialekt vorkommen, großräumiger verbreitete Merkmale wie z. B. die Tilgung des Präfixes ge- bzw. dessen Reduktion (Schwa-Tilgung) und die Realisierung des Suffixes -en als -e ([ə]) dagegen schon. Diese Merkmale zählt Kehrein zu den kontrollierbaren Merkmalen. Es handelt sich um „Varianten, die im Dialekt noch absolut stabil sind und bei der Oralisierung der Schriftsprache vollständig ersetzt werden können“ (Kehrein 2012: 203). Ihre prozentualen Anteile in den verschiedenen Sprechlagen sind in Tab. 8.8 dargestellt. Die anderen von Kehrein (2012: 197−201) identifizierten Sprechlagen zeichnen sich entsprechend durch eine weitere Abnahme dialektaler Merkmale aus: Im unteren Regiolekt werden vor allem die Monophthonge der Reihe mhd. î, iu und û durch standarddeutsche Diphthonge ersetzt, er beinhaltet jedoch insgesamt noch einen Anteil von gut 40 % dialektaler/regionalsprachlicher Merkmale. Im mittleren Regiolekt gehen die a-Verdumpfung und die -Tilgung deutlich zurück (vgl. Tab. 8.8) und der Anteil dialektaler/ regionalsprachlicher Merkmale liegt insgesamt noch bei knapp 30 %. Der Regionalakzent beinhaltet dann noch einen Anteil von rund 16 % dialektaler/ regionalsprachlicher Merkmale. Er zeichnet sich „vor allem durch die Realisierung von ge- mit Vollvokal, die verdumpfte Realisierung von -er und dialektales stimmloses [s] für std. /z/“ (Kehrein 2012: 200) aus. Hinzu kommen die fehlende Ich-Ach-Laut-Alternation und die [s]-Palatalisierung sowie einige wenige weitere Merkmale. Sie gehören laut Kehrein alle zur Gruppe der nicht kontrollierbaren dialektalen Varianten, „die nicht ersetzt werden können, wenn Dialektsprecher ihr individuell bestes Hochdeutsch produzieren“ (Kehrein 2012: 203). Die prozentualen Anteile dieser Variablen in den verschiedenen Sprechlagen sind in Tab. 8.9 dargestellt. Der Kolloquialstandard schließlich enthält noch lediglich 1,16 % dialektale/regionalsprachliche Merkmale: „Gelegentlich lässt sich ein stimmloses [s] für std. /z/ oder ein
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II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 8.8: Prozentuale Anteile kontrollierbarer dialektaler Merkmale in den einzelnen Sprechlagen in der Region Waldshut-Tiengen (aus Kehrein 2012: 204 / bei den seltener belegten Variablen bedeutet D = ausschließlich dialektal, D(/S) = überwiegend dialektal, D/S = variabel, (D/)S = überwiegend standardsprachlich und S = ausschließlich standardsprachlich) Basisdialekt
Regionaldialekt
Regiolekt unten
Regiolekt Mitte
Regionalakzent
Kolloquialstandard
k-Verschiebung mhd. Diphth. Extremred. die Rundg./Palatal.
92,92 D D D
21,31 (D/)S (D/)S D/S
1,60 S S S
0,00 S S S
0,00 S S S
0,00 S S S
mhd. î mhd. û mhd. ü̂ kontrah. Verben verb. Sonderf. Lenis-/t/
93,90 98,26 D D D D
59,17 92,73 D(/S) D(/S) D(/S) D
14,26 17,67 (D/)S (D/)S (D/)S (D/)S
0,00 2,38 S S S S
0,00 0,00 S S S S
0,00 0,00 S S S S
a-Verdumpf. -Tilgung geVerbalplural -en t-Tilgung einzellex. Form.
96,26 97,59 98,55 96,67 99,34 100,00 D
87,32 94,20 89,03 96,25 96,86 99,20 D
64,41 73,78 54,68 84,84 87,50 94,52 D/S
25,42 27,15 52,78 45,09 60,12 97,53 D/S
0,00 0,00 3,22 0,00 0,85 2,27 S
0,00 1,29 1,62 0,00 0,00 0,00 S
Tab. 8.9: Prozentuale Anteile der nicht kontrollierbaren dialektalen Merkmale in den einzelnen Sprechlagen in der Region Waldshut-Tiengen (aus Kehrein 2012: 205) Basisdialekt
Regionaldialekt
Regiolekt unten
Regiolekt Mitte
Regionalakzent
Kolloquialstandard
[s]-Palatalis. /ç, x, χ/ [a̠]-Quantität [t]-Quantität std. /ε/
98,67 100,00 73,82 64,83 56,54
99,73 83,33 62,80 56,73 37,36
92,96 87,66 28,82 29,31 23,72
97,92 11,11 27,32 21,63 21,39
22,02 33,85 37,02 17,97 28,07
1,61 0,00 0,38 0,00 1,92
-er /z/
94,25 97,51
81,36 88,14
63,32 62,76
67,35 68,46
82,88 92,41
2,52 9,94
ge- (Vollvokal)
0,00
5,95
23,37
37,50
77,72
9,77
Präfix ge- mit Vollvokal beobachten, ansonsten tendieren die Anteile der dialektalen Formen gegen Null“ (Kehrein 2012: 201, vgl. Tab. 8.9). Wichtig ist nun, dass die Daten, die bei Kehrein die Sprechlagen Kolloquialstandard und Regionalakzent konstituieren aus Standardkompetenzerhebungen und/oder von Sprechern stammen, die bereits über keine Dialektkompetenz mehr verfügen. Bei Kehreins dialektkompetenten Sprechern ist in keinem freien Gespräch − und damit offenbar in keiner im kommunikativen Alltag auch tatsächlich verwendeten Sprechlage − ein so geringer Anteil an Merkmalen, die
8. Alemannisch in Deutschland
Abb. 8.1: Das regionalsprachliche Spektrum der Region Waldshut-Tiengen (aus Kehrein 2012: 208)
Kehrein als dialektal/regionalsprachlich einstuft, zu finden (vgl. Kehrein 2012: 192, 200 u. 211). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das regionalsprachliche Spektrum in der Region Waldshut-Tiengen gemäß Kehrein aus zwei Varietäten − Dialekt und Regiolekt − besteht, „die im kommunikativen Alltag mittlerweile gleichberechtigt nebeneinander stehen dürften“ (Kehrein 2012: 207). Abb. 8.1 zeigt, wie Kehrein die Struktur des vertikalen regionalsprachlichen Spektrums grafisch darstellt (Die dicken schwarzen Linien kennzeichnen die Lage von Varietätengrenzen, die dünneren gestrichelten Linien verweisen auf Übergänge zwischen den Sprechlagen.). Der in der alltäglichen Kommunikation genutzte Bereich zwischen den Polen des gesamten Spektrums reicht bis zum Basisdialekt. Dieser scheint jedoch eine rückläufige Bedeutung zu haben (vgl. die weiter unten noch folgende Beschreibung der Sprechertypen), was in der Abbildung als nach unten hin schmaler werdender Bereich der Varietät Dialekt dargestellt ist. Die Schwerpunkte der Alltagskommunikation liegen im Regionaldialekt sowie in den mittleren und oberen Sprechlagen des Regiolekts (mittlerer Regiolekt und Regionalakzent), was in Abb. 8.1 an der jeweiligen horizontalen Ausdehnung des schwarzen Rahmens erkennbar ist. Kehrein (2012: 191−193 u. 349−351) belegt für die Region Waldshut-Tiengen anhand der Daten der Sprecher aus der älteren (über 65 Jahre alt) und mittleren (45−55 Jahre alt) Generation sowohl noch den Typ des diglossischen Sprechers als auch (vor allem) Sprecher mit bivarietärer Kompetenz. Für die jüngste Generation (18−20 Jahre alt) kann Kehrein keine Dialektkompetenz und (mit Ausnahme eines Sprechers, einem „monovarietären Shifter“, Kehrein 2012: 192) in „deren Sprechweisen keine salienten regionalsprachlichen Merkmale“ (Kehrein 2012: 207) mehr belegen (vgl. jedoch oben in Kap. 6. die Ergebnisse von Hansen-Morath 2016 zur Dialektkompetenz von 25−35-Jährigen). Den Grund für diesen vollständigen Verlust salienter regionalsprachlicher Merkmale sieht Kehrein (2012: 212) darin, dass die jüngsten von ihm untersuchten Sprecher in erster Linie im Regiolekt sozialisiert wurden und bereits früh durch die Medien und in Bildungseinrichtungen mit der Standardsprache in Kontakt kamen. Der diglossische Sprechertyp (hier eine Person aus der älteren Generation) zeichnet sich durch eine praktisch ausschließliche Verwendung des Dialekts in der mündlichen
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Alltagskommunikation aus. Dem Dialekt steht bei diesem Sprechertyp die Sprechlage Regionalakzent gegenüber, die einer „mündlichen Umsetzung der Schriftsprache entspricht“ (Kehrein 2012: 350), aber faktisch fast nicht verwendet wird. Sprecher mit bivarietärer Kompetenz dagegen verwenden in ihrem kommunikativen Alltag außer dem Dialekt auch regiolektale Sprechweisen (dieser Sprechertyp ist bei Kehrein sowohl in der älteren als auch in der mittleren Generation vertreten). Sie richten die Varietätenwahl am Formalitätsgrad der Situation und/oder den Kommunikationspartnern aus, d. h. sie wählen in offiziellen Situationen und in der Kommunikation mit Sprechern, die offensichtlich nicht aus der Umgebung kommen, standardnähere Sprechlagen, die individuell und je nach Formalitätsgrad der Situation mehr oder weniger stark regional geprägt sein können. Gegenüber Sprechern aus der Umgebung und in informellen Kommunikationssituationen wählen Sprecher mit bivarietärer Kompetenz entsprechend die Varietät Dialekt, die wiederum je nach individueller Dialektkompetenz und Alter als Sprechlage Basisdialekt oder Regionaldialekt ausgeprägt sein kann. Wie Knöbl (2012) am Beispiel einer Lehrerin mit schwäbischer Dialektkompetenz zeigt, kann der Varietätenwechsel allerdings u. a. auch geschickt als Kontextualisierungshinweis bzw. zur Markierung der Interaktionsmodalität genutzt werden. Darüber, ob das eben skizzierte, sehr breite vertikale Spektrum, das Kehrein (2012) für die Region Waldshut-Tiengen identifiziert hat, und die angesprochenen Repertoire-/ Sprechertypen auf das übrige Alemannische in Deutschland übertragen werden können, lässt sich derzeit mangels flächendeckender Untersuchungen nur spekulieren. Vermutlich kann aber für die meisten anderen alemannischen Teilräume ebenfalls ein recht breites regionalsprachliches Spektrum angenommen werden, wobei sich die linguistischen Merkmale der einzelnen Sprechlagen natürlich (insbesondere im Bereich der Varietät Dialekt und sicherlich auch noch im Bereich des unteren Regiolekts) von Region zu Region unterscheiden werden. Wie Spiekermann (2008) zeigt, lassen sich auch in den standardnahen Sprechlagen, die in den von ihm betrachteten formellen bzw. halbformellen Kommunikationssituationen von den von ihm untersuchten Sprecher*innen aus sieben Städten im alemannischen Südwesten gewählt wurden, regionale Unterschiede/regionalspezifische Merkmale feststellen. So tritt zum Beispiel die Öffnung/Senkung von /e:/ zu [ɛ:] (wie in [ˈlɛ:sə] ‘lesen’) fast ausschließlich bei Sprecher*innen aus den schwäbischen Städten auf (siehe Spiekermann 2008: 152). Es gibt jedoch auch regionalsprachliche Merkmale, die offenbar in fast allen Teilgebieten des Alemannischen in Deutschland auch in den standardnahen Sprechweisen vieler Sprecher*innen regelmäßig vorkommen. Hierzu gehören beispielsweise die [s]-Palatalisierung, die Lenisierung intervokalischer Fortis (wie in [ˈlad̥ə] ‘Latte’), gespannte Kurzvokale (wie in [ˈvidɐ] ‘wieder’) und die Realisierung von das (Artikelwort und Pronomen) als [dɛs]/[des] (vgl. Spiekermann 2008: 66−75, 149−153 u. 308 sowie speziell zur [s]-Palatalisierung Kehrein 2012: 200−207 und Knöbl 2012: 176 u. 262). Auch bezüglich der Repertoire-/Sprechertypen, die Kehrein (2012) für die Region Waldshut-Tiengen belegt hat, ist anzunehmen, dass diese auch in den anderen alemannischen Regionen in Deutschland vorzufinden sind. Diglossische Sprecher*innen werden vermutlich eher vereinzelt und wohl auch hauptsächlich in der älteren Generation zu finden sein. Mit Sprecher*innen mit bivarietärer Kompetenz, die also über eine basisdialektale bzw. ggf. auch nur noch regionaldialektale Kompetenz und Regiolekt (inkl. Regionalakzent) verfügen, dürfte heutzutage noch relativ häufig (insbesondere in der älteren und mittleren Generation) zu rechnen sein. Zu diesem Sprechertyp scheint auch die zum
8. Alemannisch in Deutschland
Aufnahmezeitpunkt ca. 60 Jahre alte Klassenlehrerin der von Knöbl (2012) untersuchten schwäbischen Schulklasse zu gehören. Auch Sprecher*innen ohne nachweisbare Dialektkompetenz, die also viele dialektale Merkmale nicht mehr beherrschen und verwenden, jedoch über einige regionalsprachliche Merkmale verfügen und in der Lage sind, ihre Sprechweise situationsabhängig zu variieren, sind sicherlich in den meisten alemannischen Regionen in Deutschland vorzufinden, wahrscheinlich vor allem in der jüngeren Generation. Im Falle der von Knöbl (2012) untersuchten neunten Klasse eines Gymnasiums in Ulm scheint ein Großteil der Schüler*innen diesem Sprechertyp − dem monovarietären Shifter (im Sinne von Schmidt & Herrgen 2011: 52; Kehrein 2012: 192 u. 350) − zu entsprechen. Interessanterweise fällt bei diesen Schüler*innen allerdings die intersituative Variation vergleichsweise gering aus. Der Gebrauch regionalsprachlicher Merkmale hat hier offenbar die sozio-symbolische Funktion eines Stil-/Identitätsmerkmals (vgl. Knöbl 2012: 187−188 u. 256). Neben diesen Sprechertypen gibt es sicherlich in den meisten alemannischen Teilgebieten innerhalb Deutschlands, vermutlich insbesondere in der jüngeren Generation, den Typ des Standardsprachesprechers, der keine Dialektkompetenz mehr besitzt und dessen Sprechweise auch keine salienten regionalsprachlichen Merkmale enthält. Sprecher*innen dieses Typs können jedoch durchaus in der Lage sein, ganz bewusst regionalsprachliche Merkmale zu produzieren und „einzelne dialektale Varianten mit situativ-sozialdeiktischer Funktion“ (Kehrein 2012: 193) einzusetzen. Ob diese Repertoire-/Sprechertypen tatsächlich in allen alemannischen Regionen in Deutschland gleichermaßen vertreten sind, wie die jeweiligen Repertoires genau ausgeprägt sind und in welchen Altersgruppen welche Repertoire-/Sprechertypen besonders häufig zu finden sind, muss jedoch vielerorts erst noch empirisch untersucht werden.
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8. Alemannisch in Deutschland
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Tobias Streck, Freiburg i. Br. (Deutschland)
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II. Die Sprachräume des Deutschen
9. Alemannisch in der Schweiz 1. 2. 3. 4.
Einleitung Historie und Besonderheiten Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie
5. 6. 7. 8.
Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Sprachdynamik Vertikale Register Literatur
1. Einleitung Die Dialekte, die in der deutschen Schweiz gesprochen werden, ordnet man dem Alemannischen zu: „Alemannisch werden die Mundarten genannt, die im Südwesten des deutschen Sprachgebietes gesprochen werden. Das heutige Gebiet der alemannischen M[undarten] umfaßt die deutsche Schweiz, Vorarlberg, Bayern westlich vom Lech, einen Teil des tirolischen Lechtales, den Hauptteil von Württemberg, Baden und vom Elsaß“ (Jutz 1931: 1). Die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer fassen ihre alemannischen Dialekte unter den Sammelbegriff „Schweizerdeutsch“, dessen zugehörige Dialekte als unterschiedlich von jenen Deutschlands und Österreichs empfunden werden. Diese „Gefühlsrealität“ (Hotzenköcherle 1984: 25), die bis heute anhält, findet keine Entsprechung in objektiven dialektalen Grenzverläufen, die sich mit den Landesgrenzen decken würden (Wiesinger 1983a: 836). Gerade dialektale Merkmale, die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer gerne als exklusiv für ihr Territorium geltend machen, gehören auch zu den Dialekten jenseits der Grenzen − wie zum Beispiel die zu Frikativen ([x], [χ]) oder Affrikaten ([kx], [kχ]) verschobenen /k/-Anlaute (Chind ‘Kind’; Kchompiuter ‘Computer’). Mag es an dialektalen Abgrenzungen mangeln, die sich entlang der Staatsgrenzen hinziehen, so ist doch eine Eigenheit zu nennen, die zumindest für die Wahrnehmung des Schweizerdeutschen als etwas Besonderes sorgen dürfte. Es handelt sich um den Sachverhalt, dass der Dialektgebrauch in der Deutschschweiz an keinerlei soziale Zugehörigkeiten gebunden ist und dass der Dialekt in der Mündlichkeit als unmarkierte Sprachform gelten kann, die auch gegenüber Fremden zum Zuge kommt. Die Selbstverständlichkeit, mit der in der Deutschschweiz Dialekt gesprochen wird − auch Bundesrätinnen, Bischöfe und Professorinnen verwenden „normalerweise“ und „für alles“ ihren Dialekt − scheint in den anderen deutschsprachigen Ländern nicht gleichermaßen gegeben zu sein. Das besondere soziolinguistische Arrangement im Gebrauch von Dialekt und Hochdeutsch, wie es in der Deutschschweiz Konvention ist, wird nicht ganz unangefochten als „mediale Diglossie“ (Kolde 1981) bezeichnet und trägt terminologisch dem Umstand Rechnung, dass − bis zum Aufkommen der sog. neuen Medien − die Wahl der Sprachformen weitgehend nach Maßgabe der Medien (gesprochen/geschrieben) getroffen wurde (vgl. Schmidlin & Franceschini, Art. 38, Kap. 4. in diesem Band). Auf der Ebene des Sprachbewusstseins werden die beiden Sprachformen sowohl bei der Produktion als auch bei der Perzeption strikte auseinander gehalten − Haas (2004: 94) schreibt von einer „bipolare[n] Repräsentation des Sprachrepertoires“ −, was weder durch formelle Ambiguitäten noch durch die zahlreichen lexikalischen Transfers von der Hochsprache in den Dialekt gefährdet ist (vgl. Kap. 7.). Diese Diglossie, deren Stabilität selbst von der zunehmend mobileren Gesellschaft nicht bedroht scheint, begründet eine Differenz zu den deutschsprachigen Nachbarländern, die als „pragmatische Sprachgrenze“ (Ris 1979) fungiert. https://doi.org/10.1515/9783110261295-009
9. Alemannisch in der Schweiz
Die besonderen soziolinguistischen Gegebenheiten, wie sie für die Deutschschweiz ab dem 18. Jahrhundert erwähnenswert werden, mögen mit ein Grund dafür sein, dass die Dialekte der deutschsprachigen Schweiz besondere Aufmerksamkeit erfahren haben und als Forschungsgegenstand keiner besonderen Legitimation bedurften, da ja selbst die Gebildeten immer auch Dialektsprecher waren und sind, wenn diese auch nicht einhellig in ein Dialektlob einstimmten, sondern den Dialekt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durchaus für verderbte Schriftsprache halten konnten.
2. Historie und Besonderheiten Für die alemannischen Dialekte der Schweiz wird nicht etwa die Bezeichnung „Alemannisch“, sondern − wie oben bereits erwähnt − „Schweizerdeutsch“ verwendet, eine Bezeichnung, die erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts aufgekommen ist. Vorher ist die Rede von „der Heluetier tütsch“, „Dialectus Helvetica“, „allgemeine helvetische Mundart“, „Schweizerisch“, „unsere Landtsprach“, „Schweizer Sprache“ u. a. Seit dem 15. Jahrhundert wird gelegentlich auf Besonderheiten des Deutschen in der nachmaligen Schweiz hingewiesen, wobei insbesondere die Klage Luthers über Zwinglis unverständliches Deutsch bekannt ist. In dieselbe Zeit fallen die ältesten Zeugnisse über die Verschiedenheiten der Schweizer Dialekte. Mit seinem „Mithridates“ legte Konrad Gessner im Jahr 1555 ein erstes Buch zur vergleichenden Sprachwissenschaft vor, das auch eine ausführlichere Gegenüberstellung des „Helvetischen“ mit dem Schwäbischen enthält. Ansonsten trat der Dialekt vor allem von jenem Zeitpunkt an ins Bewusstsein, als das deutsche Bürgertum die Schreib- zur Sprechsprache machte und deutschen Reisenden die Schweizer Verhältnisse zwangsläufig auffallen und Anlass zu entsprechenden Notizen geben mussten: „Die Landessprache ist ein grobes Deutsch, aber alle Personen vom Stande sprechen französisch“, so eine Beobachtung aus dem Jahre 1705 zu den Verhältnissen in Bern (Trümpy 1955: 44). Von einer systematischen und im heutigen Sinne wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alemannischen in der Schweiz kann aber erst mit den Arbeiten des Pfarrers Franz Joseph Stalder (1757−1833) gesprochen werden. Von der Volkskunde herkommend, sah dieser sich mit zahlreichen „besonderen“ dialektalen Bezeichnungen konfrontiert, deren Sammlung in seinen Versuch eines schweizerischen Idiotikon (1806−1812) mündete, woran er bis zu seinem Lebensende weiterarbeitete. Im Jahre 1808 reichte Stalder bei der Académie Celtique eine − nicht eigenständig publizierte − Schweizerische Dialektologie mit 29 Versionen des Gleichnisses vom verlorenen Sohne ein, das er von katholischen und reformierten Pfarrherren des ganzen Landes übersetzen ließ. Diese Beschäftigung animierte Stalder (1819) zu seinem Werk Die Landessprachen der Schweiz oder Schweizerische Dialektologie (ein Anhang enthält 74 Varianten der „Gleichnißrede von dem verlorenen Sohne in allen Schweizermundarten“), das als erste wissenschaftliche Dialektgrammatik des deutschen Sprachgebietes gilt. Deren Wert wird auch dadurch nicht geschmälert, dass er die Lautung von der Hochsprache her anging und noch nicht − wie es schon zu seinen Lebzeiten üblich werden sollte − das mittelhochdeutsche Lautsystem als Bezugsgröße ansetzte. Die fehlende Zurückhaltung von subjektiven Bewertungen sprachlicher Eigenheiten kann einem weitgehenden Autodidakten des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht eigentlich angelastet werden.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Als Merkmale des Schweizerdeutschen stellte Stalder − nach einer Zusammenstellung von Trümpy (1955) − die aus dem Mittelhochdeutschen erhaltenen resp. aus seiner Sicht vom Hochdeutschen abweichenden Langvokale und Diphthonge, die Synkopierung und Apokopierung unbetonter Vokale, den Kasuszusammenfall von Nominativ und Akkusativ, den Relativanschluss mit der Partikel wo und das Fehlen des Präteritums heraus. Außerdem geht Stalder auf Besonderheiten der Wortbildung ein (denominative Verbbildungen wie kalten ‘kalt werden’, Verbbildungen auf -elen wie käselen ‘nach Käse riechen’, herbstelen ‘Anzeichen von Herbst zeigen’, Substantivbildungen auf -ete wie Kochete, Näijete (Vorgangskollektive resp. mit dem Verbalvorgang in Zusammenhang stehende Konkreta zu kochen, nähen). Pfarrer Stalders Bemühungen um ein schweizerisches Idiotikon stießen im 19. Jahrhundert auf Resonanz: War das Anliegen des Altertumsforschers Ferdinand Keller, ein Idiotikon ins Leben zu rufen, 1845 noch erfolglos, fruchteten etwas später die Bemühungen von Friedrich Staub, dem es 1862 anlässlich eines Vortrages vor der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich gelang, die Gründung einer Wörterbuch-Kommission anzuregen und breite Kreise für die Datensammlung zu gewinnen. Als erster Redaktor konnte er zusammen mit Ludwig Tobler 1881 die erste Lieferung des Wörterbuchs präsentieren, das die Einträge nach dem „Schmellerschen Prinzip“ anordnete. Anfänglich als eigentliches Idiotikon der rezenten Dialekte geplant, wurde das Wörterbuch schon früh auf den Wortschatz der älteren (und damit schriftlichen) Sprache und später dann auch auf den Gesamtwortschatz ausgeweitet, dem der Haupttitel Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache gerecht wird. Dieses fast fertiggestellte Wörterbuch ist die unverzichtbare Basis für jegliche lexikologische Beschäftigung mit den schweizerdeutschen Dialekten. Die elektronische Volltextsuche eröffnet überdies zahlreiche Möglichkeiten von morphologischen und syntaktischen Abfragen des reichen Belegmaterials (Schweizerisches Idiotikon 1881 ff.). Albert Bachmann, der Nachfolger von Friedrich Staub, begründete die Reihe Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik (BSG), bei deren 20 Bänden es sich zumeist um junggrammatisch orientierte Ortsmonographien mit einheitlichen Darstellungen der phonetischen Gegebenheiten und der historischen Entwicklung der Laute, gelegentlich auch der Flexion und seltener der Wortbildung handelt (Bachmann 1910−1941). Auch wenn mit diesen Monographien zwar eine flächendeckende Beschreibung des Alemannischen in der Schweiz angestrebt, jedoch nicht erreicht wurde, sind sie doch wesentliche Bausteine zum Grundlagenwissen der Deutschschweizer Dialekte, genauso wie Staubs Mitbegründung des Phonogrammarchivs der Universität Zürich für die Archivierung von Tondokumenten sorgte. Rudolf Hotzenköcherle, ein Schüler Bachmanns, gab die Reihe Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung (BSM) heraus, deren 24 Bände sich vielfältigen Forschungsfragen öffneten (Hotzenköcherle 1949−1982). Hotzenköcherle begründete zusammen mit Heinrich Baumgartner den Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS 1962−1997), der nicht nur zum sprachgeographischen Grundlagenwerk der Deutschschweizer Dialekte, sondern gleichzeitig konzeptionelles und methodisches Vorbild für zahlreiche Kleinraumatlanten wurde. Erste Befunde aus den sprachgeographischen Bemühungen ließ Hotzenköcherle (1986) in eine Arbeit münden, in welcher er die Raumstruktur des Schweizerdeutschen skizzierte und mit extralinguistischen Gegebenheiten wie Verkehrsverhältnissen oder Besiedlungsgeschichte in einen erklärenden Zusammenhang brachte. Während Bohnenberger (1953: 153) bei seiner „Gliederung im Südstück“ der alemannischen Mundart ausschließlich sprachliche Merkmale geltend
9. Alemannisch in der Schweiz
Kt. 9.1: West/Ost- vs. Nord/Süd-Gegensatz
machte, die „Nordabschnitte“ von südlicheren abgrenzen und damit eine Nord/Süd-Gliederung des Alemannischen in der Schweiz nahelegen, führt Hotzenköcherle zusätzlich eine Reihe von Merkmalen an, die die Deutschschweiz in ein östliches und westliches Gebiet aufteilen und mit einer alten kulturhistorischen Grenze und den territorialen Verhältnissen zwischen 1415 (Eroberung des Aargaus) und 1797 (Helvetische Revolution) erklärt werden. Aus den Nord/Süd- und West/Ost-Gegensätzen ergibt sich die sprachgeographische Grundstruktur des Alemannischen in der Deutschschweiz (auf Kt. 9.1 in ihrer Ausprägung anhand der durchgeführten/nicht durchgeführten Hiatusdiphthongierung des mittelhochdeutschen langen Hochzungenvokals î und der Realisierung des Primärumlauts als [e] (Bett) oder [ɛ] (Bètt) visualisiert). Diese Grundstruktur kann mittlerweile als wissenschaftlich gesicherter „Tatbestand“ (Hotzenköcherle 1984) angesehen werden, der überdies durch dialektometrische Verfahren bestätigt wird. Alternativ zu dieser Einteilung in vier Quadranten findet sich sowohl im laienlinguistischen Alltag als auch in der Dialektologie eine Einteilung der Dialekte nach Kantonen. Die Kantone resp. die vormals als Stände bezeichneten politischen Einheiten werden schon früh zu geographischen Orientierungsgrößen zur Kategorisierung von Dialekten. Freilich wurde immer auch die kantonsinterne Uneinheitlichkeit resp. anhand ausgewählter Merkmale die Eigenständigkeit der Dialekte von Talschaften, Bezirken oder auch einzelnen Dörfern geltend gemacht. Im Folgenden wird die basisdialektale Raumstruktur anhand von einzelnen Merkmalen der verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen skizziert. Kantonsbezeichnun-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. 9.2: Parameterkarte: Ähnlichkeitsverteilung
gen dienen dabei der geographischen Verortung sprachlicher Phänomene, ohne jedoch Kantonsdialekte postulieren zu wollen. Quasi als Einstieg soll diesen Ausführungen eine Kt. vorangestellt werden, die mit Hilfe eines dialektometrischen Verfahrens visualisiert, in welchem Ausmaß ein Ortsdialekt im Durchschnitt Gemeinsamkeiten mit jedem der anderen Ortsdialekte innerhalb des schweizerischen Bezugsareals aufweist. Die Berechnung dieser sog. Zentralität fußt auf 343 gleichgewichteten Variablen verschiedener Sprachebenen, die aus dem SDS sowie dem Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz (SADS) stammen und 565 Deutschschweizer Ortspunkte einbeziehen. Die Kt. 9.2 zeigt, dass im schweizerischen Mittelland die zentralsten Dialekte vorkommen, d. h. dort werden jene Ortsdialekte gesprochen, die im Mittel am meisten Ähnlichkeiten mit allen anderen Ortsdialekten haben (höchster Zentralitätsgrad), während vor allem im alpinen Raum Dialekte gesprochen werden, die im Durchschnitt weniger Ähnlichkeiten zu den anderen Bezugsdialekten aufweisen (niedrigster Zentralitätsgrad). Diese Kt. gibt nicht nur die (kumulierten) Befunde des SDS und des SADS wieder, sondern sie bestätigt auch die ethnolinguistische Sicht auf den Deutschschweizer Sprachraum, wonach es in den ländlichen Randregionen „besondere“, „eigentümliche“ Dialekte gebe.
3. Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Da sich die alemannischen Dialekte diesseits und jenseits der heutigen Landesgrenzen seit althochdeutscher Zeit in unterschiedlicher Weise verändert haben, ist es ausgeschlos-
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sen, lautliche Eigenheiten zu finden, die allen Deutschschweizer Dialekten eigen wären und diese gleichzeitig von den anderen, außerschweizerischen Dialekten abgrenzen würden. Allerdings lassen sich sowohl aus dem Bereich der Vokal- als auch der Konsonantensysteme Eigenheiten benennen, die für eine Binnenstrukturierung des Deutschschweizer Dialektareals sorgen. Die langen mittelhochdeutschen Hochzungenvokale î (Typ: schniien ‘schneien’), û (Typ: buuen ‘bauen’) und iu (Typ: nüü ‘neu’) sind in Hiatusstellung im Süden der deutschsprachigen Schweiz beibehalten worden (vgl. Kt. 9.1), während sie im Norden vor Vokal oder – etwas weniger oft – im Auslaut diphthongiert wurden und dort meist eine Reihe von Diphthongen begründen, die sich mit ihrer geschlossenen Qualität von den Reflexen von mhd. ei (Geiss ‘Geiss’), ou (gloube ‘glauben’) und öu (Böum ‘Bäume’) unterscheiden (vgl. z. B. [glaʊbə] ‘glauben’ vs. [boʊ̯ə] ‘bauen’ im Zürichdeutschen). Dieser Nord/Süd-Unterschied ist es u. a., der herangezogen wird, um − tendenziell relikthaftes − Höchstalemannisch von − tendenziell „modernem“ − Hochalemannisch abzugrenzen. Eine ähnliche areale Aufteilung zeigen die rezenten Entsprechungen von mhd. â (z. B. in Haar), wo sich im Hochalemannischen verdumpfte, angehobene [ɔ:]oder [o:]- Realisierungen gegenüber südlichen [ɑ:]-Realisierungen zeigen, wobei im Raum Zürich frühere Verdumpfungen wieder zurückgenommen wurden (die sog. System-Umlaute lassen den früheren Zustand noch erkennen, vgl. Haar/Höörli und nicht Haar/Häärli ‘Haar, Härchen’). Der unterschiedliche Entfaltungsgrad der Althochdeutschen Lautverschiebung schließlich dient der Abgrenzung des Hoch- vom Niederalemannischen: In der Stadt Basel wird anlautendes /k/, anders als in der übrigen Deutschschweiz, weder zu einem Frikativ noch zu einer Affrikata verschoben ([kɪnd], [kʊnʃt] vs. [xɪnd], [kxʊnʃt] ‘Kind, Kunst’). Die nicht verschobenen Lautungen im Churerdeutschen bleiben dabei als Substrateffekte des Rätoromanischen unberücksichtigt. Häufig bestätigen zwar die Gültigkeitsareale dialektaler Varianten die Grundstruktur der West/Ostoder Nord/Süd-Gliederung, diese Darstellung des Sprachraums ist jedoch insofern komplexitätsreduzierend, als es dialektale Ausprägungen im Bereich des Vokalismus und des Konsonantismus gibt, deren Gültigkeitsareale mit diesem Schema nicht konform sind. Nachfolgend werden einige Phänomene präsentiert, die eine − im Einzelnen unterschiedlich geartete − sprachliche Raumbildung zeigen, wobei der Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) als Referenzgröße dient. Damit ist ein basisdialektaler Sprachstand der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesprochen.
3.1. Vokalismus Die Entrundung von Palatalvokalen (mhd. ü, iu > /i/, /i:/; mhd. ö, œ > /e/, /e:/; mhd. üe > /iə/) kommt in zwei getrennten Arealen vor: Sie ist im Nordwesten und in großen Teilen des alpinen Raums, d. h. im östlichen Berner Oberland, im Wallis und in der südlichen Vierwaldstättersee-Region belegt. Während das Gebiet mit entrundeten Langvokalen im Nordwesten auf die Stadt Basel sowie auf einige basellandschaftliche und solothurnische Orte beschränkt ist, greifen die Areale mit entrundeten /iə/-Diphthongen über diese Orte hinaus bis in den Kanton Solothurn, mit Einzelbelegen auch in den Kantonen Freiburg und Luzern. Sie legen damit eine Hierarchie der Entrundungsumgebungen nahe mit einem größeren − und mutmaßlich früheren und nachhaltigeren − Zu-
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spruch bei zugrundeliegendem Diphthong, begünstigt wohl durch den nicht-labialen zweiten Diphthongbestandteil, der eine Assimilation auslöst. Die Palatalisierung von Velarvokalen (mhd. u, û, > /ʉ/, /y:/; mhd. uo > /yə/, /io/; mhd. o, ô > /ɵ/, /ɵ:/; mhd. ou > /øy/, /øi/, /ai/) kommt in jenen Regionen vor, die auch Entrundung zeigen, was einen inneren Zusammenhang dieser beiden lautlichen Erscheinungen nahelegt. Die Palatalisierung von mhd. û ist insofern am deutlichsten ausgeprägt, als diese das größte Areal formiert und außerdem der Lautwandel im Wallis und in Uri in einem /y:/ resultiert, während die kurzen mhd. u und o sowie die langen mhd. ô nur im Raum Basel und im Kanton Uri zwar palatalisiert sind, jedoch nicht die Qualität von gerundeten Vorderzungenvokalen erreichen. Die Palatalisierung entfaltet sich in den alpinen Regionen auch bei Diphthongen mit erstem oder zweitem /u/-Bestandteil. In Wörtern wie Muoter ‘Mutter’ wird im Wallis sowie in vereinzelten Urner und östlichen Berner Oberländer Orten der erste Diphthongbestandteil als /y/ realisiert (Müoter), während in der Gegend um Lungern (Kanton Obwalden) der palatalisierte Laut einer Entrundung unterzogen wird (Mioter). In Wörtern mit steigendem Diphthong wie in Auge führt die Palatalisierung zum Diphthong /øi/ (im Wallis und in Uri) oder in Unterwalden zu /ai/). Die Rundung von Hoch- und Mittelzungenvokalen (mhd. i, e > /ʏ/, /ø/) ist im SDS als lexemgebundene Erscheinung ausgewiesen; als raumbildend erweist sich die Rundung, wie sie bei Primärumlaut vor /nn/ (z. B. in brennen) vorkommt und ein großes mittelländisches Rundungsareal begründet. Rundungen in Wörtern wie finden oder in den Personalformen der Auxiliarien sein, haben als sönd, hönd sind für den Raum um Appenzell ausgewiesen. Neuere, areallinguistisch allerdings noch nicht ausreichend erforschte Rundungen zeichnen sich im Kanton Freiburg ab, die sich dann sogar bei Entsprechungen des mhd. Langvokals î entfalten können (mhd. î > /y:/ in Wörtern wie begrüüffe ‘begreifen’ zu mhd. begrîfen). Diphthongierungen kommen bei Hoch- und Mittelzungenvokalen vor, wobei diphthongierte Langvokale größere Gültigkeitsareale ausbilden als diphthongierte Kurzvokale, die nur an disparaten Orten belegt sind. Die langen Hochzungenvokale mhd. î, û, iu (îs ‘Eis’, mûs ‘Maus’, miuse ‘Mäuse’) werden vornehmlich in der südlichen Vierwaldstättersee-Region diphthongiert und zwar zu /ei/ (Eis ‘Eis’, Meis ‘Mäuse’; iu wird zu /i:/ entrundet und dann diphthongiert) und /ui/ (Muis ‘Maus’) oder zu /i:/ (Iis ‘Eis’, Miis ‘Mäuse’) und /ui/ (Muis ‘Maus’) oder aber (in Engelberg) zu /ei/ (Eis ‘Eis’), /øi/ (Möis ‘Maus’), /ui/ (Muis ‘Mäuse’). Im bündnerischen Schanfigg beschreiben die steigenden Diphthonge /ei/ (Eis ‘Eis’), /ou/ (Mous ‘Maus’) /øi/ (Möis ‘Mäuse’) ein Kleinareal. Die langen mittelhochdeutschen Mittelzungenvokale ê, ô, œ (und teilweise auch die Umlaute von mhd. â) werden am westlichen und östlichen Rand der Deutschschweiz „gebrochen“ (mhd. ê > /eə/; mhd. ô > /oə/; mhd. œ > /øə/; mhd. æ > /eə/). In einem kleinen Freiburger und Berner Oberländer Areal und im St. Galler Rheintal nämlich kommen fallende Diphthonge vor (Schneə ‘Schnee’, Broət ‘Brot’, Chöəl ‘Kohl’, nur im Westen Cheəs ‘Käse’). In einem geschlossenen Areal, das sich zwischen Schwyz und Zug befindet, sowie vereinzelt in Uri, im St. Galler Oberland und in Graubünden sind dagegen Entwicklungen zu steigenden Diphthongen zu beobachten (mhd. ê > /ei/, mhd. ô > /ou/, mhd. œ > /øu/; Schnei ‘Schnee’, Brout ‘Brot’, Chöul ‘Kohl’). Diese Diphthongierungen können als offensichtlich chronologisch spätere Erscheinung auch die gegebenenfalls velarisierten Entsprechungen von mhd. â erfassen (mhd. â > /ɔ:/ > /ou/, Aabig > Oobig > Oubig ‘Abend’).
9. Alemannisch in der Schweiz
Kt. 9.3: Reflexe von mhd. ou
Die Monophthongierung von mhd. ei (mhd. ei > /e:/, /a:/) führt zu einer Arealbildung mit einer Dreiteilung der Deutschschweiz mit einem westlichen und einem östlichen Monophthongierungsgebiet und einem zentralen Raum mit beibehaltenen, jedoch in ihrem Öffnungsgrad jeweils unterschiedlichen Diphthongen. Im Westen sind es große Teile des südlichen Kantons Bern einschließlich Freiburgs, die geschlossene Monophthonge zeigen (Typ Geess ‘Geiss’), während in der Ostschweiz (Appenzell, St. Gallen, Thurgau, Schaffhausen) offene Monophthonge resp. /a:/ (Typ Gaass) auftreten (im Rheintal wird gebrochenes /oə/ realisiert). Im Westen entfaltet sich die Monophthongierung auch bei mhd. ou und öu, entsprechende Entwicklungen im Osten sind dagegen an die begünstigende nasale Lautumgebung gebunden (Osten [bei gleichzeitiger Vokalkürzung]: Typ Bom, Böm; Westen: Typ Boom, Bööm) (vgl. Kt. 9.3). Die fallenden Diphthonge mhd. ie, uo, üe werden in zwei Kleinarealen einer Monophthongierung unterzogen: im Berner Oberländer Haslital (mhd. ie > /e:/ leeber ‘lieber’; mhd. üe > /iə/ > /e:/ Feess ‘Füße’; mhd. uo > /ø:/ Mööter ‘Mutter’ zu mhd. Muoter) und im Raum Schaffhausen/Thurgau, wo die Monophthongierung allerdings eine nasale Umgebung voraussetzt (mhd. ie > /e:/ Reeme ‘Riemen’; mhd. uo > /o:/ Bloom(e) ‘Blume’ zu mhd. Bluom(e); mhd. üe > /ø:/ gröön ‘grün’ zu mhd. grüen(e)). Die Vorder- und Hinterzungenvokale sind in unterschiedlichen Regionen in unterschiedlichem Ausmaß von Senkungen betroffen. Die gesenkten kurzen Vorderzungenvokale lassen sich in eine implikative Ordnung bringen, bei der die Senkung von germ. ë zu überoffenem /æ/ in der relativen Chronologie des Lautwandels zuerst erscheint und
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die größte areale Verbreitung zeigt. Die höchste Entfaltungsstufe der Senkung ist erreicht, wenn sämtliche vorderen Kurzvokale gesenkt sind ([sebə] ‘sieben’, [bɛt] ‘Bett’, [ʃpækx] ‘Speck’) und außerdem die langen Mittelzungenvokale eine offene Qualität zeigen ([sɛ:] ‘See’), was im Westen der Deutschschweiz der Fall ist (Haas 1978). Als raumbildendes Phänomen erweist sich nicht bloß die Verdumpfung von mhd. â, sondern auch die lautlich konditionierte Hebung der langen Mittelzungenvokale vor (apokopiertem) /n/, wie sie in zusammenhängenden Arealen im Kanton Glarus, im St. Galler Oberland und im Vorderrheintal vorkommt: zwii ‘zwei’ zu mhd. zwên(e), Luu ‘Lohn’, schüü ‘schön’. Die Umlautung erfährt umgebungsabhängig einen unterschiedlichen Zuspruch: z. B. in Lexemen wie Mücke, Krücke, Brücke oder stupfen, lupfen bleibt es im Osten beim Velarvokal, während der Westen einen (allenfalls entrundeten) Palatalvokal zeigt, wobei sich die Verbreitungsareale zwar wortabhängig unterscheiden, aber ungefähr parallel verlaufende Isoglossen ausbilden. Die eher geringe Neigung, Palatalvokale der Wirkung von Fernassimilation auszusetzen und umzulauten, eröffnet die Möglichkeit, die Umlautung in vermehrtem Maße morphologisch zu nutzen (vgl. Kap. 4.1. und 4.2.). Was die Quantität der Vokale betrifft, so erscheinen zwar mittelhochdeutsche Kurzvokale in offenen Silben in vielen Regionen noch immer als Kürzen. Freilich gibt es Areale um Basel, Biel und in Uri, im St. Galler Oberland und im Vorderrheintal, wo relativ unabhängig vom betroffenen Laut und vom betroffenen Wort Dehnung ausgewiesen ist. Ansonsten ist je nach Vokal und je nach Wort eine unterschiedliche Neigung zur Dehnung auszumachen, wobei insbesondere der /a/-Laut und nachfolgendes /r(r)/ eine Dehnung des vorangehenden Vokals begünstigt. Geschlossene mittelhochdeutsche Einsilber mit Kurzvokal (z. B. Tag) dagegen werden − auch hier abhängig vom betroffenen Laut − in vielen Gebieten gelängt, wobei die alten Kürzen ein Areal beschreiben, das das Wallis, Obwalden, Uri und die östliche Schweiz umfasst. Ebenso laut- und wortabhängig ist die Kürzung von altlangen mhd. î, û, iu und â, die ihre höchste Entfaltungsstufe im Raum Freiburg/Bern und St. Gallen/Appenzell zeigt. Die verschiedenen lautlichen Entwicklungen können zu Phonemspaltung und -zusammenfall und damit zur Neuorganisation des Phonemsystems − bei gleichbleibender, geringerer oder höherer Zahl an Phonemen − mit neuen Oppositionen und Relationen führen. Exemplarisch hat Moulton (1960) die Vokalspaltung, wie sie in Ostschweizer Dialekten stattgefunden hat, als sprachintern motivierten Wandel dargestellt, der das asymmetrische mittelhochdeutsche Lautsystem in unterschiedlicher Weise optimiert. Der Dialekt in Glarus-Süd mit seinem asymmetrischen dreistufigen Kurzvokal- und seinem vierstufigen Langvokalsystem sowie drei fallenden und drei steigenden Diphthongen zeigt die größte Nähe zum Mittelhochdeutschen (Wiesinger 1983b: 1050), während andere Dialekte sich beträchtlich in der Zahl an Phonemen und an Stufen unterscheiden können. Das Luzerndeutsche und Baseldeutsche verfügen beispielsweise über je ein vierstufiges System der Lang- und Kurzvokale, allerdings unterscheiden sie sich − u. a. wegen der Basler Entrundung − in der Anzahl der Phoneme: In den entrundenden Gebieten ergeben sich (je nach theorieabhängiger Zählung) +/− 25 Vokalphoneme, im St. Galler Rheintal sogar +/− 40 Vokalphoneme (Sonderegger 2003: 2871). Als eine Besonderheit des Alemannischen in der Deutschschweiz können die Nebenton-Vokale gelten, die im nördlichen Hochalemannischen und im Niederalemannischen in den beiden Qualitäten [ə] (Boone ‘Bohne’) und [ɪ] (Lääsibüechli ‘Lesebüchlein’) vorkommen, im Höchstalemannischen aber auch reduziertes a und u ([ich] süochu ‘ich
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suche’; Wallis) umfassen, denen Phonemstatus zukommt (vgl. Schtuba vs. Schtube ‘Stube’ Sg. vs. Pl., Freiburg; Schlittu vs. Schlitte ‘Schlitten’ Sg. vs. Pl., Wallis). Diese unterschiedlichen Vollvokale im Nebenton, wie sie im Althochdeutschen noch bezeugt sind, werden oft geltend gemacht, um den Reliktcharakter schweizerischer Dialekte zu illustrieren. Um eine Neuerung im Hochalemannischen handelt es sich dagegen bei der Synkopierung von Nebentonvokalen, die vor allem Präfixe (glismet, Partizip zu lismen ‘stricken’) betrifft und die zu Assimilationen führen kann, die gar die Morphemgrenzen überschreiten (z. B. wirkt sich die Assimilation des ge-Präfixes im Partizip Perfekt von bringen in einer Fortisierung des stammanlautenden Plosivs aus: prunge/praacht ‘gebracht’). Ebenso sind die Apokopierungen von Nebentonvokalen und auslautenden Nasalen (Freud ‘Freude’, lisme zu lismen ‘stricken’) als Neuerungen zu betrachten. Sowohl Synkopierungen und Apokopierungen sind in höchstalemannischen Dialekten in beschränkterem Umfang eingetreten (ohne Synkopierung gibrunge, Wallis; ohne Apokopierung lismen, östliches Berner Oberland).
3.2. Konsonantismus Eine Gemeinsamkeit der alemannischen Dialekte der Deutschschweiz besteht im Fehlen stimmhafter Plosive und Frikative. Dennoch gibt es Paare von homorganen Plosiven und Frikativen mit übereinstimmender Artikulationsart, die sich − wie die jüngere Forschung nachgewiesen hat − in ihrer Länge unterscheiden, traditionell aber als Lenis-/FortisUnterscheidung gefasst werden ([z̥alts] vs. [salts] ‘Salz’ vs. s Salz ‘das Salz’) (vgl. Nocchi & Schmid 2006: 25−26). Diese Unterscheidung wird − anders als die stimmhaft/ stimmlos-Opposition im Neuhochdeutschen − auch im Auslaut zumeist nicht neutralisiert ([g̊eld̥] vs. [g̊ilt] ‘Geld’ vs. ‘gilt’). Die Plosive sind in der Regel nicht behaucht; Ausnahmen bilden Fremdwörter [theˈa:tər] oder Namen [phe:tər] (jedoch auch [pe:tər] oder [b̥e:tər]). Was die Plosive in Anlautposition betrifft, so werden die Entsprechungen von mhd. d (Deckel) und t (Tag) nur im westlichen Berner Oberland, im Wallis und in Teilen des Bündnerlandes lautlich auseinandergehalten. Im gesamten Mittelland wird die Unterscheidung zugunsten einer Fortis-Realisierung (Teckel, Ta(a)g), in der Nordwestschweiz zugunsten einer Lenis-Realisierung (Deckel, Daag) aufgegeben. Wie bereits oben in anderem Zusammenhang erwähnt, verfügen die hochalemannischen Dialekte mit [kx] über eine zusätzliche Affrikate, die sich in neueren Entlehnungen als partielle Lautverschiebung von /k/ manifestiert ([kxri:tɪʃ] ‘kritisch’). Die /k/-Affrikata erscheint auch − bis auf Ostschweizer und Nordwestschweizer Gebiete mit [k]-Plosiv − bei vordeutsch /kk/ nach Vokal im In- und Auslaut (wie in drücken). In /nk/-Verbindungen zeigen sich dagegen andere räumliche Verhältnisse, die dem Umstand geschuldet sind, dass im Südwesten (und in den Bündner Walser Dialekten) /k/ in dieser Lautumgebung zum Frikativ verschoben und anschließend dem sog. Nasal-Spirans-Gesetz (s. u.) unterzogen wurde, so dass für ein Lexem wie trinken in der Deutschschweiz die Varianten mit Plosiv (Typ [trɪŋkə]), mit Affrikata (Typ [trɪŋkxə]) oder mit Frikativ (Typ [tri:xə]) belegt sind (vgl. Kt. 9.4). In einigen Dialekten zeigt sich die [kx]-Affrikata überdies als Assimilation der Lautverbindung /gh/ zu [kx] ([gheɪ̯ ə], [kxeɪ̯ ə] zu geheien ‘fallen’), die bei synkopiertem gePräfix und morphemanlautendem /h/ gegeben ist. Der velare Frikativ [x] zeigt areal
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Kt. 9.4: Realisierung von germ. nk und die Entfaltung des Nasal-Spirans-Gesetzes
leicht unterschiedliche Qualitäten. Eine umgebungsbedingte Alternanz zwischen einer palatalen und velaren Variante, wie sie im Hochdeutschen gegeben ist, fehlt allerdings. Die /nd/-Verbindungen sind lexemabhängig im Wallis, im St. Galler Rheintal und in Westschweizer Dialekten lautlichen Veränderungen unterworfen worden, insofern als Velarisierungen zu [ŋ] eingetreten sind oder aber /d/ geschwunden ist ([fɪŋə], [fɪnə], [fɪn:ə] ‘finden’). Ebenfalls als Westschweizer Phänomen − allerdings mit weiter ostwärts ausgreifendem Gültigkeitsareal − zeigt sich die Vokalisierung von /l/ zu [u], die in unterschiedlichen Lautumgebungen auftreten kann. Als lautliche Voraussetzung für Vokalisierung zum Vokal [u] werden stark velarisierte /l/-Realisierungen angenommen, wie sie im angrenzenden nicht-vokalisierenden Gebiet auch tatsächlich ausgewiesen sind. Überdies kommen im Berner Oberland, im Wallis und an den Bündner Walserorten − umgebungsbedingt − auch palatale /l/-Realisierungen vor, wie man sie im Mittelbairischen kennt. Die /l/-Vokalisierung führt zu einer Reihe von Diphthongen, die sich qualitativ und quantitativ von den rezenten Entsprechungen der mittelhochdeutschen Diphthonge unterscheiden ([tɑ:ʊ̯] ‘Tal’, [mæ:ʊ̯] ‘Mehl’). Ebenso können Triphthonge entstehen ([ʃuəʊ̯] ‘Schule’). Das Nasal-Spirans-Gesetz, das bei Verbindungen von Nasalen und nachfolgendem Frikativ wirksam werden kann, führt zu einem Nasalausfall und zu Langvokalen (Typ fiischter ‘finster’) oder aber zu Diphthongen (Typ feischter ‘finster’). Die sich aus dem Nasal-Spirans-Gesetz ergebenden Diphthonge fallen je nach Gebiet teils mit Diphthon-
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gen anderer historischer Provenienz zusammen (z. B. in mittelländischen Dialekten: [eɪ] in [tseis] ‘Zins’ [Nasal-Spirans-Gesetz], [ʃnei̯ ə] ‘schneien’ [mhd. î ] vs. [ɛi] in [gɛis] ‘Geiss’ [mhd. ei]). Allerdings zeigt sich hier insofern eine „starke Zerrüttung der alten Verhältnisse“ (SDS II, 136a) als sich orts-, laut- und lexemabhängig Formen mit nie eingetretenem oder aber rückgängig gemachtem Nasalschwund zeigen, was den Begriff „Gesetz“ erheblich relativiert. Als weitgehend lexikalisiert kann jedoch der Nasalschwund in den Wörtern uns und fünf gelten. Während in Basel sowie im Wallis und in Graubünden der Typus uns/ünsch/insch vorkommt, sind auf dem übrigen Areal der Deutschschweiz monophthongische Formen des Typs üüs/öös und diphthongische Formen des Typs öüs/öis belegt. Beim Lexem fünf sind die diphthongischen Realisierungen (Typ föif) auch im Kanton Bern üblich und Gebiete mit erhaltenem − oder wieder eingeführtem − Nasal auf die nördliche Deutschschweiz beschränkt. Als eine Sonderentwicklung des alpinen Raums gilt die als Sprossvokalbildung bezeichnete Erscheinung, die zu Formen wie gääre ‘gern’ oder Da(a)re ‘Darm’ führt. Diese kommen dadurch zustande, dass die auslautenden Nasalverbindungen auf /rn/ resp. /rm/ als eigene Silben aufgefasst und durch den Einschub von Vokalen in ihrer Aussprache erleichtert wurden (geeren, Da(a)rem). Solche historischen Vorläufervarianten sind im Berner Haslital und Walliser Lötschental auch tatsächlich belegt, während die auslautenden Nasale in den übrigen Gebieten apokopiert sind. Bemerkenswert an dieser lautlichen Erscheinung ist ihre räumliche Verbreitung, die mit jener von sprachlichen Relikten wie der Erhaltung der langen Hochzungenvokale im Hiatus oder der unverdumpften â-Realisierung weitgehend übereinstimmt und damit den Nord/Süd-Gegensatz bestätigt.
3.3. Silbenstrukturen Ausgehend vom Sachverhalt, dass es Sprachen gibt, bei denen entweder die zeitlichen Abstände zwischen Akzenten oder aber zwischen Silben ungefähr gleich sind, hat sich in der Sprachtypologie eine mittlerweile gängige Unterscheidung von sog. Silben- und Akzent- resp. Wortsprachen etabliert. Das Deutsche gilt dabei als Beispiel für eine Wortsprache, da die Aussprache des Hochdeutschen die Informationseinheiten Morphem und Wort stark exponiert. Vielfach wurde darauf verwiesen, dass das Alemannische der Schweiz im Unterschied dazu Züge aufweise, die nicht das Wort, sondern die Sprechsilbe als Grundeinheit erkennen lasse. Es handelt sich hier allerdings bloß um graduelle Unterschiede, und die alemannischen Dialekte der Deutschschweiz weisen bezüglich gewisser Kriterien sogar wortsprachlichere Züge als das Hochdeutsche auf. So kann die in den meisten Dialekten übliche Synkopierung der Vokale in Nebentonsilben zu einem Silbenkopf mit einem Konsonantenbündel ([kʃtrɛıflət] ‘gestreift’) führen, das komplexer und damit wortsprachlicher ist als im Hochdeutschen. Im Folgenden seien jedoch einige Merkmale benannt, bei denen sich diese Silbensprachlichkeit zeigt, auch in Abgrenzung zu anderen deutschen, namentlich auch nordalemannischen resp. schwäbischen Dialekten (Nübling & Schrambke 2004; Siebenhaar 2014). Das Streben nach CV-Silben, das Silbensprachen eigen ist, führt zu Wort- und Morphemgrenzen überschreitender Liaison (wie.ni.ksei.tha ‘wie ich gesagt habe’, e.me.nal.te.maa ‘einem alten Mann’), während der Knacklaut als Wortanfangssignal unbekannt ist (vgl. Kt. 9.5). Die − verfestigten − lexikalischen Reanalysen über Wortgrenzen hinweg verdanken sich fehlenden Wortgrenzmarkierungen (westschweiz. diir ‘ihr’ 2. Ps. Pl. aus enklitischem hen.dir, wen.dir
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Kt. 9.5: Hiatustilger zwischen Wörtern
etc. ‘habt ihr’, ‘wollt ihr’). Wie erwähnt verfügen die schweizerdeutschen Dialekte über ein mehr oder weniger großes Repertoire an Nebentonvokalen, das zu einer im Vergleich zum Hochdeutschen geringeren Diskrepanz zwischen den Vokalen in den stark- und schwachtonigen Silben führt, auch dies ein silbensprachliches Charakteristikum.
4. Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie 4.1. Verbalmorphologie Was die Verbalmorphologie betrifft, so fehlt − wie im ganzen Süden des deutschen Sprachraums − das synthetische Präteritum gänzlich. Vergangenheit wird mit Perfekt (si het gjodlet ‘sie hat gejodelt’) oder Doppelperfekt (si het gjodlet gha ‘sie hat gejodelt gehabt’) ausgedrückt. Ein grammatikalisiertes Futur ist basisdialektal nicht ausgewiesen. Anders jedoch der Konjunktiv, der als synthetische (ich gäng Konj. I; ich gieng Konj. II
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Kt. 9.6: Endungen der Normalverben
‘ich ginge’) oder aber als analytische Verbalform (ich wurd/täät gaa ‘ich würde/täte gehen’) realisiert wird. Der Konjunktiv II, der vom Präteritalstamm abgeleitet wird, ist bei den hochfrequenten starken Verben etabliert und kann auch doppelt markiert werden (ich giengti ‘ich ginge’). Zu häufig vorkommenden schwachen Verben sind basisdialektal starke Formen ausgewiesen (ich chuf ‘ich kaufte’, ich miech ‘ich machte’). Der analytische Konjunktiv, der beinahe in der ganzen Deutschschweiz belegt ist, ist bei schwachen, mehrsilbigen Verben die Regel (ich wurd/täät zittere statt ich zittereti ‘ich würde zittern’) (Nübling 1997). Die Wahl des Konjunktiv-Auxiliars zeigt nun insofern eine Arealbildung, als östlich von Zürich (fast) ausschließlich würd/wurd- verwendet wird, im Westen dagegen täät- eine gewisse Präferenz hat, im gesamten Areal aber gleichzeitig auch wurd-/würd-Konjunktive belegt sind. Damit zeigt sich eine Raumbildung, wie sie sich im Bereich der Verbalmorphologie gleich mehrfach ausweisen lässt, wird doch die eingangs erwähnte räumliche Grundstruktur des Schweizerdeutschen vor allem durch Eigenheiten der Verbalmorphologie begründet. Vorrangig sind dabei die Personalendungen des Verbalplurals, die im Raum gleichzeitig eine Chronologie des morphologischen Wandels abbilden: Im Südwesten haben die Normalverben drei verschiedene Pluralendungen (Typ: wir mache, ir machet, schi machunt), die damit den sprachhistorisch ältesten Zustand reflektieren. Die westliche Deutschschweiz hat einen zweiförmigen Plural (Typ: mir mache, [d]ir machet, si mache), der durch einen Ausgleich der 1. und 3. Person zustande kam. In der östlichen Deutschschweiz dagegen hat sich die Endung der 3. Person für den gesamten Plural durchsetzen können (Typ mir/ir/si mached) (vgl. Kt. 9.6).
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Ein sehr ähnliches Raumbild zeigen die Plural-Endungen bei den Auxiliar- und den Kurzverben (mit etwas weiter nach Westen greifendem Gültigkeitsareal des einförmigen Plurals), während die Endungen des Singulars zumeist eine unspezifische Raumbildung zeigen. Anders jedoch die 1. Person Singular von Kurzverben, wo sich in einem größeren zentral-östlichen Territorium eine zweisilbige, offensichtlich an die Normalverben angepasste Form behauptet (zweisilbiges ich gaane, staane, tuene, gseene, ziene, faane vs. einsilbiges gaa, staa, tue, gsee, zie, faa ‘ich gehe, stehe, tue, sehe, ziehe, fange’). Die Infinitivendungen der verschiedenen historischen Verbklassen sind zu -e(n) vereinheitlicht worden. Wie schon beim Verbalplural, so zeigt das Wallis auch hier insofern Reliktformen, als mit zwei oder gar drei Endungen die Unterscheidung zwischen starken und drei schwachen Verbklassen markiert wird (vgl. z. B. schniidn, heftn, salbu, losä ‘schneiden, heften, salben, hören’). Der mehrfach geltend gemachte West/Ost-Gegensatz zeigt sich auch beim Vokalismus des Verbs haben im Plural. Östliche einförmige hend/händ-Formen stehen westlichen zwei- oder dreiförmigen hei(t)-Formen gegenüber. Eine andere räumliche Verteilung zeigt dagegen das Partizip von haben: Vor allem, aber nicht ausschließlich im Südwesten sind umgelautete (z. B. ghä(ä)be) oder nicht umgelautete Langformen (z. B. ghabet) festzustellen, während im Norden die Form gha(a) verbreitet ist. Eine klare West/Ost-Differenz zeigt sich überdies beim Stammsilbenvokalismus der Verben stehen und gehen in der 2./3. Person Singular, der dem Umstand geschuldet ist, dass unterschiedliche Vorläuferformen fortgesetzt werden. Einerseits ist von den Vollformen gangan, stantan auszugehen, andererseits von den Kurzformen gân und stân resp. deren Nebenformen gên und stên. Basisdialektal stehen nun östliche gaasch(t)/gaat resp. staasch(t)/staasch-Formen − mit den entsprechenden lautlichen Modifikationen, die mhd. â betreffen − westlichen geisch(t)/geit-Formen gegenüber, die auch im Kanton Graubünden verbreitet sind und deren Lautung sich nach den dialektalen Entsprechungen von mhd. ei richtet. Umlautung tritt bei den Verben gehen und stehen im Plural auf (Typ mir gönd, [d]ir stööt), wie überhaupt Umlautung resp. Labialisierung genutzt wird, um Pluralität zu markieren (so auch bei den Verben tun, lassen, fangen, kennen, kommen, schlagen, wollen, sollen, wissen). Allerdings zeigen sich hier disparate räumliche Verteilungen. Wiederum eine deutliche West/Ost-Verteilung zeigt sich beim Modalverb müssen, bei dem sich zweisilbige westliche Formen auf -s (Typ mir müesse) östlichen s-losen einsilbigen Formen gegenüberstehen (Typ mir müend). Ebenfalls eine West/OstVerteilung ist beim Stammsilbenvokalismus der zweiten Klasse der starken Verben (sieden, schießen, lügen, ziehen) festzustellen: Je weiter nordöstlich ein Ort liegt, desto mehr Verben zeigen /y:/- und nicht /iǝ/-Lautung.
4.2. Nominalmorphologie Die definiten und indefiniten Artikel haben in der gesamten Deutschschweiz lautliche Reduktionen erfahren, je nach syntaktischer Konstellation und je nach Areal in unterschiedlichem Ausmaß. Der neutrale Definitartikel erscheint als nördliches s und als südliches ds. Der feminine resp. pluralische Definitartikel ist in der Stellung vor Substantiv im Norden zu d reduziert (und ggf. sogar assimilatorisch mit dem Anlaut des Substantivs verschmolzen; vgl. pfrou ‘die Frau’, ggescht ‘die Gäste’), während im südlichen Berner Oberland, im Wallis und im östlichen Teil des Kantons Graubünden vor Obstruenten die
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Form di gilt. Der maskuline Definitartikel − nur im östlichen Berner Oberland, im westlichen Wallis und im östlichen Bündnerland gibt es noch Belege für erhaltenen Akkusativ − bildet im nordöstlichen Quadranten die Artikelform de aus, während in den anderen Regionen dr − vor allem im Nordwesten neben de − vorkommt. In der Verbindung mit Präpositionen sind die Definitartikel teilweise zu einem Nullartikel reduziert: ‘in den Wald, an den Boden’ (Mask. Akk. Sg.) lautet in einem mittleren Streifen der Deutschschweiz i Wald, a Bode, im Norden und in Teilen des Berner Oberlandes in Wald, an Bode, im Wallis und im Kanton Graubünden in de(n) Wald, an de(n) Bode(n) oder innu Wald, annu Bode (Nübling 1992). Weitreichende Folgen hat der Dentalverlust beim Definitartikel Maskulinum/Neutrum Dativ Singular nach Präposition (ufem, abem, im ‘auf dem, ab dem, in dem’), wird doch aus diesen hochfrequenten Konstellationen in der nördlichen Schweiz der Artikel als em (oder im/am) reanalysiert („vollständigere“ dFormen sind im Berner Oberland, im Wallis, im Kanton Graubünden, im St. Galler Oberland und vereinzelten Orten im Kanton Zürich belegt). Die d-losen Dativ-Artikel, die homonym sind mit den „Präposition + Artikel“-Ausdrücken (z. B. im ‘in dem’ und ‘dem’), gelten als Ausgangspunkt für die präpositionale Dativmarkierung (Seiler 2003): im (oder em/am) Vater wird als „Präposition + Definitartikel“ reinterpretiert, analog auf Feminina übertragen (i de Mueter) und damit als neuer analytischer Typus von Dativmarkierung grammatikalisiert (vgl. auch Fragepronomen i wem ‘wem’). Empirische Evidenz für diesen Grammatikalisierungspfad erwächst aus dem arealen Befund, dass der SADS die analytische Dativmarkierung für Orte ausweist, an denen der SDS die d-losen maskulinen/neutralen Dativ-Artikel belegt. Die Kardinalzahlen zwei resp. drei, die im Mittelhochdeutschen genusabhängig drei resp. zwei unterschiedliche Formen ausgebildet haben, sind für die Deutschschweizer Verhältnisse deshalb von besonderer Bedeutung, als sie ein Beispiel dafür abgeben, dass sprachliche Merkmale mit Reliktcharakter nicht zwingend an den alpinen Raum gebunden sind, sondern ein älterer Zustand gelegentlich auch im Mittelland ausgewiesen ist. Im Wallis und in Teilen des Kantons Graubünden gibt es für zwei eine einzige Form, nördlich davon gibt es Systeme mit zwei Formen (dann sind zumeist Maskulinum und Femininum zusammengefallen; Typ zwee Manne, zwee Frau, zwäi Chind ‘zwei Männer, Frauen, Kinder’) oder aber mit drei Formen (Typ zwee Manne, zwoo Fraue, zwäi Chind). Eine ähnliche räumliche Verteilung zeigt sich bei der Kardinalzahl drei, bei der sich zwei Formen − nun allerdings auf einem etwas kleineren mittelländischen Areal − halten können (Typ drei Manne, drei Fraue, drüü Chind ‘drei Männer, Frauen, Kinder’). Ausgeprägte areale Formationen zeigen sich auch bei einigen Personalpronomen, wo insbesondere die 3. Person Singular Femininum als haupttonige Form − im Norden zumeist mit Vokallänge markiert − in Freiburg und im Berner Oberland sia oder seie, im Appenzell und im Rheintal auch süü oder söu, im Wallis auf Grund der s-Palatalisierung schii lauten kann. Diesen Vollformen stehen reduzierte enklitische Pronomen gegenüber, deren Formen das bekannte West/Ost-Muster zeigen: In einem östlichen Areal lautet das Enklitikum -si, westlich -se. Das Pronomen der 3. Person Neutrum ist in seiner Vollform ääs auf persönliche Referenz beschränkt. Neben Bezügen auf Neutra wie Meitschi (‘Mädchen’) kann das neutrale Pronomen nach Ausweis des SDS in Basel, Zürich und Bern auch für Frauen, im Wallis auch für Männer verwendet werden. Das Pronomen der 1. Person Plural zeigt die „alte“ wir-Form im Südwesten und Südosten der Deutschschweiz, während im übrigen Gebiet die enklitische Form aus assimilatorisch modifizierten Verbindungen wie he(i)mer (< hend + wir, hei + wir) oder
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Kt. 9.7: Personalpronomen ‘euch’ (Dativ/Akkusativ Plural)
sim(m)er (< sind + wir, si + wir) herausgelöst und − wie für pronominale Vollformen üblich − zu miir gelängt (im St. Galler Rheintal zu möör gerundet) oder in einem zentralen Areal zu mier gebrochen wurde. Eine raumbildende Verteilung zeigen auch die Formen des Personalpronomens der 2. Person Plural Dativ (vgl. Kt. 9.7). Während im Hochdeutschen euch als Entsprechung der mittelhochdeutschen Akkusativform iuch/iuwich die Funktionen von Dativ- und Akkusativ übernimmt, haben die schweizerdeutschen Dialekte unterschiedliche Wege beschritten: Vor allem im Nordosten ist es die ehemalige mhd. Dativform iu, die sich als synkretisches Akkusativ/Dativ-Pronomen fortsetzt (Typ üü, öi). In den restlichen Gebieten sind es lautlich unterschiedlich modifizierte Formen der alten Akkusativform, die sich durchsetzen (Typ üüch, öich). Die Walliser Pronomen ew, euw, eib gehen mutmaßlich auf eine Dativ-/Akkusativ-Mischform *iuw zurück. Für die Substantivflexion im Alemannischen der Schweiz ist charakteristisch, dass die Singular/Plural-Opposition im Vergleich zu historischen Vorgängerstufen − wie auch im Hochdeutschen und anderen Dialekten − in den Vordergrund rückt und die Kasusunterschiede bis auf den Dativ Plural der Maskulina und Neutra aufgegeben werden. Freilich nutzt man im Deutschschweizer Raum, dies u. a. auf Grund von lautlichen Veränderungen wie der Apokopierung, andere Mittel, um die Singular/Plural-Opposition zu markieren. Im Wallis und an den Walser Orten ist bei einigen starken Maskulina und Neutra noch der alte Kontrast von Tag/Taga, Nagel/Nagla, Horu/Hora belegt, während die nördlichen Dialekte den Umlaut zu morphologischen Zwecken nutzen: Tag/Täg,
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Nagel/Nägel, Horn/Hörner − dies ist ein modulatives Verfahren, das auch für Fremdwörter genutzt wird (Punkt/Pünkt ‘Punkt/Punkte’, Tschop/Tschöp ‘Job/Jobs’). Singular und Plural werden bei ehemals starken Neutra wie Bett im Gebiet der Kantone Luzern, Bern, Solothurn − wie auch im Mittelhochdeutschen − nicht unterschieden. In den übrigen Gebieten nutzt man dagegen unterschiedliche Möglichkeiten der Numerusmarkierung: Im Osten und Norden der Deutschschweiz nimmt das Lexem einen -er-Plural (Bett/ Better), im Wallis, an vereinzelten Walser Orten und Freiburg dagegen wird der Plural mit -i (Bett/Betti) (wohl zurückgehend auf ein altalemannisches -iu im Nom./Akk. Pl.) oder -eni (Bett/Betteni) markiert. Ähnlich zeigt sich bei femininen Substantiven wie Sohle oder Stube, dass hier im Südwesten der Deutschschweiz die Singular/Plural-Opposition markiert wird, und zwar durch Modulation der Flexionsendung (Typen Sola/Sole; Sole/Soli), die Hotzenköcherle (1986) als Effekt des romanischen Substrats erklärt. Die Morphologisierung des Umlauts, der sich als nominaler, aber auch verbaler Numerusmarker erweist, tritt als Folge früherer Lautverhältnisse ebenso bei der Unterscheidung von Adjektiven und Adverbien in Erscheinung, dies in der westlichen Deutschschweiz (Adjektiv ahd. langi, dialektal läng; Adverb ahd. lango, dialektal lang), jedoch ohne Produktivität zu entfalten.
4.3. Wortbildung Ein besonderes Kapitel schlägt die dialektale Wortbildung auf, die bislang (noch) keine Gesamtdarstellung gefunden hat, jedoch in der für ein breites Publikum ausgerichteten Reihe Grammatiken und Wörterbücher des Schweizerdeutschen (bisher 16 Bände, 1948− 2014, herausgegeben vom Verein Schweizerdeutsch, vormals Bund Schwyzertütsch) durchaus Beachtung findet. Wie bereits Stalder (1819) als Besonderheiten der schweizerdeutschen Wortbildung benannt hat, sind dies etwa Verben, die aus der Konversion von Adjektiven entstanden sind (schön: schönen ‘schön werden, schön machen’ i. S. v. ‘schälen, rüsten’; feissen ‘feist werden’). Die denominativen -ele-Ableitungen, die ‘nach x riechen’ oder ‘den Anschein von x haben’ bedeuten, stehen meist deverbalen -ele-Ableitungen (schäffele, läsele) mit der Bedeutung ‘x unernsthaft, ziellos betreiben’ gegenüber, deren Pejoration wohl dem zugrundeliegenden l-Diminutivsuffix geschuldet ist. Wie bei Diminutiva üblich, ist jedoch immer auch eine hypokoristische Komponente möglich, dies insbesondere bei Verbalableitungen auf -erle (chöcherle zu ‘kochen’, gümperle zu gumpen ‘hüpfen’). Außerdem gibt es − wie im Hochdeutschen, jedoch mit größerer Produktivität − die Nutzung von denominalem -ele als Iterativ läädele ‘shoppen’ (zu ‘[Kauf-]Laden’), käfele ‘Kaffeekränzchen abhalten’, aperööle ‘sich bei einem Aperitif vergnügen’). Die ebenfalls von Stalder (1819) geltend gemachten -ete-Bildungen − das Suffix ist eine romanische Entlehnung von -ata ins Althochdeutsche − sind produktiv zur Bildung von Vorgangskollektiva (Truckete zu ‘drücken’, Schläglete zu ‘schlagen’, Rutzete zu ‘rutzen, raufen’ usw.). Das Suffix hat sich so entwickelt, dass auch Konkreta als Resultate von Handlungen gebildet werden können (Lismete ‘Strickarbeit’, Bachete ‘Backwerk’, Metzgete ‘Schlachtschmaus’) oder aber Bezeichnungen von Resultaten von Handlungen mit einer quantifizierenden Komponente (Zilete ‘Menge an Zahlen, Buchstaben einer Zeile’, Schuuflete ‘eine Schaufel voll’). Diesen Feminina stehen maskuline Ableitungen
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Kt. 9.8: Feminines Movierungssuffix
auf -et (Schwinget zu schwingen [= schweizerischer Volkssport], Heuet zu heuen) gegenüber, die periodisch wiederkehrende Tätigkeiten bezeichnen. Freilich sind diese Eigenheiten der Wortbildung − bis auf die Movierung und die Diminuierung − kaum in ihrer sprachgeographischen Dimension erforscht. Bei der Movierung zeigt sich einmal mehr eine West/Ost-Differenz (vgl. Kt. 9.8), zumindest dann, wenn die Ableitung synchron von der Basis einer männlichen Personenbezeichnung auf -er aus erfolgt (Bernerin, Näherin, Schneiderin). Im Westen findet man tendenziell eine Ableitung auf -(er)e/-(er)a, die ahd. -ar(r)a fortsetzt, im Osten eine solche auf -(er)i zu ahd. -erin(na) (vgl. Henzen 1965: 152−164). Ist die Ableitungsbasis simplizisch (Wirt, Puur ‘Wirt, Bauer’) sind ganz im Westen und ganz im Osten -i-Movierungen (Wirti, Püüri), im Zentrum -ene/-eni-Ableitungen anzutreffen (Wirtene, Püürene). Diese Suffixe haben − mit Familiennamen als Basis − auch die Funktion von Zugehörigkeitssuffixen d Mülleri, d Kochene ‘Frau eines Mannes mit dem Namen Müller resp. Koch’. Die Diminutive gelten sowohl in formaler als auch in pragmatischer Hinsicht als Deutschschweizer Besonderheit, wobei Schirmunski (1962: 476) zu ihrem Gebrauch im deutschen Sprachgebiet anmerkt: „Die Häufigkeit wächst von Norden nach Süden, in besonders starkem Maße wird es in den oberdeutschen Mundarten verwendet, vor allem im Bairischen und Schweizerischen, wo die Diminutivform eine deutliche emotionalexpressive Färbung hat.“ In Grammatiken zu schweizerdeutschen Dialekten wird übereinstimmend auf die positiv evaluierende Komponente der Diminutive hingewiesen; mit-
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unter steht durch die Option, zusätzlich Umlautung ins Spiel zu bringen, ein ganzes Set an Möglichkeiten zur Disposition, die sich durch nuancierte Zärtlichkeits-Abstufungen unterscheiden (Hündli, Hundli, Hündeli, Hundeli ‘Hündchen’). Die extensive Nutzung des Diminutivs in der Deutschschweiz hat zu vielen Lexikalisierungen geführt (Rüebli ‘Karotte’, Hüüseli ‘Karo’, Hüüsli ‘Toilette’), und sie wird auch im Familiennamengut fassbar (Buchli, Stämpfli, Hänsli). In der Deutschschweiz sind basisdialektal die Diminutivsuffixe -el, -i, -(e)li/-ji, -tschi und -ti ausgewiesen, die sich jedoch in ihrer arealen Verbreitung und in ihrer Produktivität beträchtlich voneinander unterscheiden. Der Diminutiv von Hund lautet im Hochalemannischen Hünd(e)li/Hund(e)li, im westlichen Wallis und im östlichen Bündnerland Hundji, dessen Suffix sich der Palatalisierung von /l/ nach Konsonant verdankt. Außerdem kommen im Berner Oberland und in Graubünden Diminutive auf -i vor (Hundi/ Hündi), neben -(t)schi-/-(t)si-Diminutiven, die auch im Wallis belegt sind (Hundschi, Hundsi, Hündschi, Hündseli). Bei Basisformen auf -el/-il (Apfel, Vogel) zeigt sich insofern eine südliche Besonderheit, als hier Diminutive auf -(el)ti erscheinen (Typ Öpfelti). Freilich verdeckt dieser sprachgeographische Befund, dass die areal scheinbar gebundenen Suffixe durchaus auch in anderen Regionen als produktive Suffixe vorkommen: Das -i-Diminutiv kann in einem beträchtlichen Areal vom westlichen Freiburg bis in die Innerschweiz als relativ vital gelten. Die Diminutive auf -tschi/-tsi dagegen haben außerhalb des oben erwähnten Territoriums ihre Produktivität eingebüßt und erscheinen bloß noch in lexikalisierten Bildungen (Müntschi/Müntsi ‘Kuss’, Meitschi ‘Mädchen’). Bei den produktiven Bildungen auf -el, im Kanton Bern und in der Innerschweiz belegt, scheint die diminuierende Bedeutung des Suffixes in den Hintergrund zu treten und einer eher vergröbernd-pejorativen Komponente Platz zu machen. Die Diminutive, die mutmaßlich auf onymische Hypokoristika zurückgehen, haben denn auch im Bereich der Anthroponyme ihre wohl stärkste Verankerung: z. B. Hansli, Hansi, Hänsel, Hanschi (zu Hans), Anneli, Anni, Anntschi (zu Anna). Die durch Diminutivsuffixe modifizierten Namen können sich dabei derart verfestigen, dass sie zumindest bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts selbst für (vor allem weibliche) Erwachsene nicht abgelegt werden.
5. Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Syntaktische Eigenheiten, durch die sich das Alemannische der Deutschschweiz gegenüber anderen Dialektregionen auszeichnen würde, sind kaum bekannt. Der Relativanschluss mithilfe der Partikel wo, der gerne als Besonderheit schweizerdeutscher Dialekte geltend gemacht wird, ist im Bairischen ebenso ausgewiesen wie im Hessischen. Das Muster S isch schaad, isch es scho Friitig (‘es ist schade, dass es schon Freitag ist’) mit Verberststellung im Nebensatz und das Muster Ich wäär froo, s wäär entlech Friitig (‘ich wäre froh, wenn es endlich Freitag wäre’) mit Verbzweitstellung und Konjunktiv II im Haupt- und Nebensatz finden ihren Niederschlag sogar im Schweizer Hochdeutschen (Gut, besitze ich ein Mobiltelefon) (Lötscher 1997). Die Muster können in historischen Belegen nachgewiesen werden, allein, ob diese auf die Deutschschweiz beschränkt sind, ist nicht bekannt. Die Partikeln glaub(s), meini, dänk(i), schiints (er het glaub/ meini/dänk/schiiints d Prüefig bestande) − schiints ist auch erststellenfähig und damit
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Satzadverb −, die aus parenthetischen Sätzen grammatikalisiert wurden, dienen entweder dem Ausdruck von Modalität oder von Evidentialität. Inwiefern diese eine typische Schweizer Erscheinung sind, ist ebenfalls ungeklärt. Die Partikeln schiints und glaub sind zumindest in Vorarlberg und im Badischen − und dort auch im Regiolekt − bekannt (Knöbl & Nimz 2013), als Fokuspartikeln (glaub film und nid theater het si gmacht ‘„glaub“ Film und nicht Theater hat sie gemacht’) scheinen sie jedoch auf die Schweiz begrenzt zu sein. Da die Dialektsyntax erst jüngst in den Fokus dialektologischer Forschung gelangt ist (vgl. jedoch Hodler 1969), beruhen einige der nachfolgend präsentierten Befunde auf jüngeren Befragungen, d. h. es wird ein basisdialektaler Stand beschrieben, der einerseits die Jahre um die Mitte des 20. Jahrhunderts (SDS) und andererseits den Zustand am Übergang des Millenniums dokumentiert (SADS). Raumbildend ist − nach Ausweis des SDS − die Handhabung des prädikativen Adjektivs, das in der südlichen Hälfte der Deutschschweiz (in unterschiedlichem Ausmaß) flektiert wird und den Nord/Süd-Gegensatz auf syntaktischer Ebene bestätigt. Raumbildend ist die Abfolge der Pronomen in Sätzen wie ‘hast du’s gern’, wo sich eine West/ Ost-Aufteilung zeigt mit Typ du-es im Westen und Typ es-du im Osten, letzteres mit der verbreiteten Nebenform vom Typ hesch-es ‘hast du es’, bei der das Pronomen der 2. Person Singular ausfällt, was ohnehin bei Fragesätzen mit Verberststellung festgestellt werden kann (gaasch is Kino? ‘gehst du ins Kino?’, machsch Pause? ‘machst du eine Pause?’). Eine zumindest ähnliche Raumstruktur wird durch die Abfolge der Verbalteile des Perfekts in Nebensätzen etabliert (‘als ich noch ein kleines Mädchen gewesen bin’) mit Typ gsii bin im Osten und bin gsii im Westen, die Abfolge bin gsii freilich in einem doch wesentlich kleineren Gültigkeitsareal. Mehrteilige Prädikate in Sätzen wie ‘Er hat ihn gehen lassen’ formieren ein im äußersten Osten liegendes Areal mit dem AbfolgeTyp gehen lassen, im Westen davon gilt der Typ lassen gehen. Als raumbildend kann weiter die sog. Verbverdoppelung gelten, die bei den Verben gehen, kommen, lassen, anfangen eintritt, wenn diese einen Infinitiv regieren: Sie geht gehen einkaufen. Der Ausgangspunkt der Grammatikalisierung dieser Verdoppelung, die bei gehen den größten Grad an Obligatorik zeigt, liegt bei diesem Verb und der mutmaßlichen Präposition gen, die als ‘gehen’ reanalysiert wurde und letztlich zur Entstehung einer Verdoppelungsregel bei den genannten Verben geführt hat (Lötscher 1993; Glaser & Frey 2011). Die räumliche Verteilung der Varianten für die Konstruktion lass ihn (lassen) gehen weist ein östliches Gebiet ohne lassen-Verdoppelung aus, ein Verdoppelungsgebiet vom Wallis über die Zentralschweiz bis in den Nordwesten und ein westliches Areal vorwiegend ohne Verdoppelung. Diese arealen Verhältnisse bilden somit den unterschiedlichen Intensitätsgrad ab, den die Verdoppelungsregel auf dem Areal der Deutschschweiz hat. Die Daten des SADS − sie sind schriftlich bei jeweils mehreren ortsfesten Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und beruflicher Ausrichtung erhoben worden − vermögen nun weitere raumbildende Phänomene der (morpho-)syntaktischen Beschreibungsebene beizubringen, wobei sich in Bezug auf die Raumbildung unterschiedliche Gegebenheiten abzeichnen: (morpho-)Syntaktische Raumbildung mit großräumigen Gültigkeitsarealen auf der einen Seite, (morpho-)Syntaktische Raumbildung mit einer großräumig gültigen Variante nebst kleinräumig gültiger/en Variante(n) auf der anderen Seite (Glaser 2014). Zum ersten Typ sind die Finalsatzanschlüsse zu zählen (‘… um ein Billet zu lösen’), bei denen ein westlicher Typ für … z (für es Billet z löse) und ein östlicher Typ zum …
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Kt. 9.9: Anschlusstypen finaler Infinitivsätze
(z) (zum es Billet (z) löse) festzumachen sind. Allerdings zeigt sich bei dieser räumlichen Verteilung, wie dies für die dialektale Syntax als charakteristisch gelten kann, ein großes Übergangsgebiet mit Variation (vgl. Kt. 9.9). Es ist also nicht von einem räumlich abrupten Wechsel von syntaktischen Mustern auszugehen, die kartographisch eine IsoglossenDarstellung rechtfertigen würden. Die Übergangszone erweist sich dabei nicht als beliebiges Nebeneinander von Varianten, sondern man kann eine „schiefe Ebene“ (Seiler 2005) konstatieren, die die Syntaktische Raumbildung insofern bestätigt, als − bezogen auf das Beispiel des Finalsatzanschlusses − erstens die Dichte der Belegorte für die westliche Variante für … z gegen Osten abnimmt, sich zweitens die relative Häufigkeit der Nennung der westlichen Variante pro Ort gegen Osten vermindert, dass drittens die Teilmenge der Befragten, die die westliche Variante präferieren, gegen Osten kleiner wird und schließlich, viertens, dass die Varianten mit syntaktischen Kontexten korrelieren. Gegenläufiges gilt für die östliche Variante. Ein klares Raumbild ergibt sich in Bezug auf den syntaktischen Gebrauch von Eigennamen (‘Ich habe es Fritz/dem Fritz gegeben’). Hier zeigt sich in kleinräumigen Arealen im südlichen Teil des Kantons Bern, im Freiburgischen und an den Bündner Walser Orten eine Präferenz der Artikellosigkeit, wobei im östlichen Teil des Berner Areals der Name flektiert wird (Fritze, Fritzen, Fritzun) (Bucheli Berger 2006). Bei den nachfolgend herausgegriffenen Beispielen ist der Sachverhalt im Blick zu behalten, dass an den meisten Orten Variation ausgewiesen ist. Eine Syntaktische Raumbildung ist dabei zumeist bei der an einem Ort mehrheitlich vorkommenden Variante
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nicht gegeben, sondern es sind die weniger häufig belegten Varianten, die eigentliche Gültigkeitsareale erkennen lassen. Dies ist der Fall bei der Verdoppelung von Indefinitartikeln in der Umgebung von Intensivierern − also d Susi wär e ganz e liebi Frau für de Markus ‘also Susi wäre eine ganz (eine) liebe Frau für Markus’. Hier zeigt sich, dass die Varianten Typ e ganz e liebi, Typ ganz e liebi und Typ e ganz liebi koexistieren und für grammatisch gehalten werden, wobei der Typ ganz e liebi am meisten Zuspruch erhält und flächendeckend belegt ist. Greift man jedoch die Orte heraus, an denen der Typ e ganz e liebi präferiert wird, so formieren diese ein Areal, das sich vom Baselbiet über die Innerschweiz bis ins nördliche Graubünden hinzieht (Richner-Steiner 2011). Ebenso zeigt sich, dass die w-Wort-Verdoppelung (Typ Was macht der Urs jetzt was?) in weiten Teilen der Deutschschweiz akzeptiert ist, die höchsten Akzeptanzwerte jedoch in der Innerschweiz erzielt werden, wo sie bei einigen gar als „natürlichste“ Option gilt, d. h. keinerlei kontextuellen Beschränkung unterliegt (Frey 2006). Als Vergleichspartikel bei Relativanschlüssen (‘Sie ist größer als ich’) wird überall als präferiert. Allerdings gibt es gleichzeitig weitere Partikeln, die von einer Minderheit als präferiert angegeben werden. Diese minderheitlichen Präferenzen zeigen nun eine deutliche Raumbildung, wie zum Beispiel der wa(n)-Anschluss, der auf ein südwestliches Areal beschränkt bleibt (Friedli 2012). Entgegen früherer Ansichten sind auch syntaktische Phänomene raumbildend, und wie bei der Lautung, der Morphologie und dem Lexikon zeigen sich hier areale Verteilungen, die häufig die von Hotzenköcherle (1984, 1986) geltend gemachte Grundstruktur mit Nord/Süd- und West/Ost-Gegensätzen bestätigen.
6. Sprachdynamik Nach Ausweis der Volksbefragung vom Jahr 2000 − seither gibt es diese Enquêten nicht mehr − sprechen 98,7 % der deutschsprachigen Schweizer in der Familie Schweizerdeutsch. Dieser Sachverhalt lässt denn auch keinen Zweifel daran, dass der Dialekt an Folgegenerationen weitergegeben wird und als unmarkierte Sprachform im Alltag verwendet wird. Dem Umstand einer ausgebauten Diglossie mit der Omnipräsenz und Unangefochtenheit des Dialekts ist es geschuldet, dass der Dialekt zwangsläufig Spuren dieses soziolinguistischen Arrangements trägt. So macht es der Alltagsgebrauch der Deutschschweizer Dialekte beispielsweise unabdingbar, dass der gesamte Wortschatz des Hochdeutschen für den Dialekt verfügbar bleibt. Dem Bedürfnis, Dialekt und Hochdeutsch getrennt zu halten, trägt ein Set an lautlichen und morphologischen Regeln Rechnung, mit dem Hochdeutsches „dialektalisiert“ werden kann. Da es hier einen beträchtlichen Spielraum an Integrationstiefe gibt (Herusforderig/Useforderig ‘Herausforderung’) und gelegentlich auch Lexeme dialektalisiert werden (z. B. arbeite), zu denen es bereits eine dialektale Variante gibt (schaffe), wird der Dialekt Gegenstand sprachpflegerischer Kritik, dies vor dem Hintergrund eines Dialektideals, wonach sich der „echte“ Dialekt möglichst stark vom Hochdeutschen zu unterscheiden habe. Da es kaum Konstellationen gibt, in denen sich Deutschschweizer untereinander auf Hochdeutsch austauschen würden, sondern es die soziale Konvention will, mit allen − selbst mit Unbekannten − Dialekt zu sprechen, entstehen polydialektale Dialoge, bei denen die Beteiligten jeweils ihren angestammten Dialekt sprechen. Derartige Konstella-
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tionen ergeben sich auch in den gesprochenen Medien, wo ganz verschiedene Dialekte gesprochen und vom Publikum rezipiert werden. Dass hier keine Kommunikationsprobleme entstehen, verdankt sich dem Sachverhalt, dass die strukturellen Unterschiede zwischen den Dialekten letztlich weniger groß sind, als gerne überzeichnend herausgestellt wird („in jedem Dorf spricht man wieder anders“), und dass sich aus dem Willen zum Dialekt die Bereitschaft ergibt, Variation nicht als Störfaktor, sondern als Bereicherung aufzufassen. Schließlich führt die Routine im Umgang mit anderen Dialekten dazu, dass Verständigungsprobleme minimiert werden. Freilich haben hier Dialekte aus Regionen mit vielen Sprecherinnen und Sprechern die besseren Karten, da sie im Kommunikationsraum Deutschschweiz eine größere Präsenz haben, ihr Dialekt einen größeren Bekanntheitsgrad hat und sich ein entsprechendes metadialektales Alltagswissen ausbilden kann. Auf Wortebene dürfte eine einseitige Richtung von Akkommodationen insofern vorhersehbar sein, als Minoritätenlexeme nicht nur ein partielles Nicht-Verstehen auslösen, sondern als störender Kollateraleffekt eine Verschiebung der Kommunikation von der objektsprachlichen auf die metasprachliche Ebene bewirken können. Eine asymmetrische Akkommodation zeigen auch experimentalphonetische Untersuchungen zu Vokalqualitäten in einem bi-dialektalen Arrangement. Die einseitige Anpassung (hier von Zürcher an Graubündner Testpersonen) kann jedoch nicht mit Vorkommenshäufigkeit erklärt werden, sondern es dürften hierfür sozialpsychologische Faktoren ausschlaggebend sein (Ruch 2015). Das Kontakt-Phänomen der short term accommodation wird als eine Ursache von Dialektwandel geltend gemacht; allerdings steht die Modellierung einer polydialektalen Sprechergemeinschaft, die das Zusammentreffen zwischen Sprecherinnen und Sprechern unterschiedlichster Dialekte, die relative Stabilität arealer Unterschiede sowie den Dialektwandel kohärent darstellt, noch aus. Nachfolgend werden Ergebnisse aus Studien referiert, die sich mit Dialektwandel auseinandergesetzt haben und Indizien für die Richtung sprachdynamischer Prozesse liefern. Dass sich Sprachen und Dialekte verändern, entging auch den frühen Dialektologen nicht. Freilich wurde sprachliche Variation, die zu Wandel führen kann, als Störenfried des vermeintlichen Idealzustandes einer homogenen, „reinen“ Mundart betrachtet, „verschuldet“ von bestimmten sozialen Gruppen: […] so sind doch heute die Verhältnisse nicht mehr so, daß der Mundartforscher beim Erstbesten oder gar im Dorfwirtshause in fröhlicher Gesellschaft seine Erhebungen machen kann, am allerwenigsten, wenn es sich um lautliche Erscheinungen und deren örtliche Fixierung handelt. Die gebildetern Kreise, ferner solche, die ihr Beruf in Berührung mit anderen bringt, haben manches von der echt mundartlichen Aussprache eingebüßt und neigen dazu, besonders auffallende Eigentümlichkeiten ganz preiszugeben. […] Noch stärkeren Anteil an der allmählichen Zersetzung der Lokalmundarten hat aber die ansässige fremde Bevölkerung und der immer wachsende Bevölkerungswechsel. […] Auf dem ganzen Gebiete besteht ein starker Unterschied zwischen der ältern und jüngern Generation. (Vetsch 1910: 3−5)
Drei Jahrzehnte später sollte Heinrich Baumgartner die dialektale Variation in der Stadt Biel − noch eher impressionistisch, aber bemerkenswert zurückhaltend in Bezug auf Bewertungen − beschreiben und die Erkenntnisse der späteren korrelativ-quantitativen Variationslinguistik vorwegnehmen. So gemahnen die Kapitelüberschriften seiner Studie überdeutlich an spätere, dann statistisch erhärtete soziolinguistische Arbeiten US-amerikanischer Provenienz: „Bewegungen von oben nach unten“, „Bewegungen von unten nach oben“, „Anteil der Jugend an den Bewegungen des Sprachgutes“, „Die Bedeutung
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der Mittelschicht für die Entwicklung unserer Stadtsprache“ (Baumgartner 1940: 7). An zahlreichen Beispielen der lautlichen und morphologischen Ebene illustriert er, wie Merkmale der Berner Landschaft mit ihren Trägern in die Stadt gelangen. Dort werden sie Teil des städtischen Variantenraumes und indizieren die meist niedrige soziale Zugehörigkeit ihrer Sprecher, können aber auch zu stilistischen Varianten avancieren und sich unter bestimmten Bedingungen im sozialen Raum ausbreiten („Wandel von unten“). Von Vetsch bedauert, von Baumgartner mit Interesse zur Kenntnis genommen, werden die Steuerungsfaktoren dialektalen Wandels und die davon betroffenen sprachlichen Merkmale seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Schwerpunkt dialektologischer Forschung. Die späteren und zumeist der korrelativ-quantitativen Soziodialektologie verpflichteten Studien stellen die sprachliche Variation resp. den sprachlichen Wandel in (statistischer) Abhängigkeit von soziosituativen und linguistischen Steuerungsgrößen dar. In einer Untersuchung „zum Sprachleben der Gemeinde Stäfa“ kontrolliert Wolfensberger (1967) neben dem Faktor Alter jenen der Ortsansässigkeit. Wolfensberger (1967: 214) kann folgende Bilanz ziehen: Geographische Mobilität und Dominanz der Massenmedien führen in räumlicher Sicht zu einer Verflachung des sprachgeographischen Profils und in örtlicher Sicht zu einer Vermehrung des Angebotes an sprachlichen Formen. Dieses grössere Formenangebot führt aber (erstaunlicherweise) nicht zu einem allgemeinen Zerfall der lokalen [Mundart]struktur, sondern zu einer reich gegliederten, aber noch überschaubaren Auffächerung der einst viel einheitlicheren Lokal[mundart] in sprachlich divergierende Kleingruppen. Die wichtigsten strukturbildenden Faktoren sind dabei das Alter und der Grad der örtlichen Bindung der [Mundart]sprecher. […] Am interessantesten und komplexesten ist das Sprachverhalten der Zugezogenen. Diese sind empfänglicher für schriftsprachliche Einflüsse als die Sesshaften. Anderseits zeigen viele junge Zuzüger eine beträchtliche Assimilationsbereitschaft an die Orts[mundart].
Was die Qualität des dialektalen Wandels betrifft, so „ergibt sich zum einen ein Zug zur ‚Gross[mundart]‘, zum anderen ein solcher nach der Schriftsprache hin. Immerhin weist eine beachtliche Anzahl von Fällen, in denen sich die [Mundart] des Ortes von der Gestalt des [Hochdeutschen] entfernt, darauf hin, dass das [Schweizerdeutsche] vorderhand nicht um seine Eigenständigkeit zu bangen braucht.“ (Wolfensberger 1967: 214). Dieses Bild, das Wolfensberger entwirft, wird nun in verschiedenen weiteren Studien bestätigt und ergänzt. Bigler (1979), der das Untersuchungsdesign von Wolfensberger weitgehend übernimmt, untersucht gleich mehrere Orte des mittleren Aargaus, wo sich im Gange befindlicher Wandel überdies in der Form von intrapersonaler Variation manifestiert. Bei der auf intra- und interpersonale Variation fokussierten Studie zur Realisierung von /l/ am östlichen Rand des basisdialektalen Vokalisierungsareals erweist sich die Vokalisierung von /l/ zu [u] als soziolinguistisches Stereotyp i. S. v. Labov, das neben der soziosituativen Steuerung eine offene Wertzuschreibung als „richtiger, urtümlicher Variante“ erfährt (Christen 1988). Die jüngste Entwicklung geht dahin, dass die vokalisierte Variante ihren räumlichen Geltungsbereich über die ländlichen Gebiete der westlichen Deutschschweiz hinaus beträchtlich ausweiten konnte und neuerdings sowohl im Freiburgischen als auch in der Innerschweiz fassbar wird (Leemann et al. 2014). Die nachfolgend herausgegriffenen soziodialektologischen Untersuchungen nehmen umfangreiche Merkmalsets in den Blick, dies auch, um die unterschiedliche Zugänglichkeit resp. Resistenz für sprachlichen Wandel ermessen zu können. In der breit angelegten Studie zur Basler Stadtsprache zeigt sich, dass sich die bestehende Variation nur schwer entlang von sozialen Gruppen ordnen lässt, sondern dem Idiolekt eine zentrale Bedeu-
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tung zukommt (Hofer 1997, 2001). Weder Bildung, Geschlecht noch Kontext steuern maßgeblich die sprachliche Variation, sondern am offenkundigsten das Alter, womit Evidenz für Sprachwandel erbracht ist: Dabei ist es erwartungsgemäss dort, wo Differenzen bestehen, immer so, dass jüngere SprecherInnen mehr sprachgeografisch weiter verbreitete, von der kleinräumigen traditionellen Stadtmundart abweichende Varianten verwenden als ältere SprecherInnen. Dabei lässt sich jedoch keine einheitliche Tendenz gegenüber dem Hochdeutschen ausmachen. Im Bereich der Lautung geht die Entwicklung hin zu Varianten, die mit denjenigen grosser Dialektareale in der Deutschschweiz oder wenigstens der Nordwestschweiz übereinstimmen. (Hofer 1997: 271)
Allerdings bedeutet dieser Wandel, der im Basler Dialekt vor sich geht, nicht den Abbau sämtlicher charakteristischer Merkmale, sondern einige „typische“ Merkmale wie z. B. das uvular realisierte [ʀ] können sich sogar über die Stadtgrenzen hinaus ausbreiten. Eine der umfassendsten Studien zum Dialektwandel in der Deutschschweiz beleuchtet die Verhältnisse in Aarau, einer Kleinstadt zwischen den städtischen Zentren Zürich und Bern (Siebenhaar 2000). Die dialektalen Varianten, die den Dialekt von Aarau basisdialektal konstituieren, haben teils eine westliche, teils eine östliche Verbreitung, sind also gleichzeitig auch Berner oder Zürcher Varianten. Das zentrale Anliegen der Arbeit besteht darin, empirisch aufzuzeigen, inwiefern sich das West/Ost-Gepräge der Aarauer Mundart im Vergleich zum Basisdialekt, wie er im SDS ausgewiesen ist, verändert hat, inwiefern die beiden Bezugspole Zürich und Bern den Aarauer Sprachwandel dynamisieren und ihm einen Drift in die eine oder andere Richtung geben. Folgende Ergebnisse zeichnen sich ab: „Die Unterschiede zur SDS-Erhebung finden sich im gesamten Sprachsystem. Die Veränderungen sind weitgehend nicht qualitativer, sondern quantitativer Art. Die für den SDS erhobene Variante ist in Aarau meist noch belegt, jedoch stehen ihr noch andere Varianten zur Seite, die teilweise sogar schon häufiger vorkommen als die tradierte Form“ (Siebenhaar 2000: 240). Erwartungsgemäß ist häufig der Faktor Alter eine relevante Steuerungsgröße, etwa bei der Morphologie, aber erstaunlicherweise nicht einfach immer in dem Sinne, dass sich bei den jüngeren Sprecherinnen und Sprechern auch ein historisch jüngerer Sprachstand manifestieren würde. Seltener erweisen sich auch andere Faktoren − Geschlecht, Bildung, Ortsansässigkeit − als relevant. Auch der West/Ost-Kontakt hat Auswirkungen auf den dialektalen „Östlichkeitsgrad“, wobei dieser Faktor vor allem durch die Werte der Zugezogenen bestimmt wird, die den Variantenraum in Aarau überhaupt entscheidend zu prägen scheinen. Zudem zeigt sich an einzelnen Stellen, wie zum Beispiel bei den Kurzvokalen, dass auch mit innersprachlichem Einfluss gerechnet werden muss, der mehr zufällig eine räumliche Komponente bekommt, weil sich natürlicher Wandel auch andernorts durchgesetzt hat. Schließlich kann Siebenhaar auch einen Zusammenhang zwischen sprachlicher Variation und Einstellungen zum westlichen Berner und zum östlichen Zürcher Großraumdialekt nachweisen. Eine Erklärung für das kontraintuitive Verhalten von Sprecherinnen und Sprechern, die den Zürcher Großraumdialekt zwar eher negativ einschätzen, dessen (vor allem) morphologische Varianten aber trotzdem übernehmen, muss (noch) offenbleiben. Auch die Ergebnisse aus einer Studie zum Alemannischen im Churer Rheintal fügen sich nahtlos an die obigen Untersuchungen an, können doch u. a. die folgenden Thesen verifiziert werden: Die im Verlauf der Zeit aufgetretenen sprachlichen Veränderungen haben dazu geführt, dass sich die Churer Stadtmundart und die Dialekte der Ortschaften rund um Chur dermassen angenähert
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II. Die Sprachräume des Deutschen haben, dass in der Altersgruppe der Adoleszenten und jungen Erwachsenen kaum mehr ortstypische Merkmale zu erkennen sind […] Im Churer Dialekt und in den Ortsdialekten rund um Chur treten sowohl konvergente als auch divergente Veränderungen auf; dies sowohl im Hinblick auf das Hochdeutsche als auch zwischen dem Churer Dialekt und den umliegenden Dialekten. (Eckhardt 2016: 400)
Die Veränderungen in Richtung Hochdeutsch machen sich am deutlichsten in der Lexik bemerkbar, wobei häufig nicht zu entscheiden ist, ob ein neues Lexem wie Bäcker, das früheres Beck ablöst, tatsächlich dem Hochdeutschen geschuldet ist − immerhin ist Bäcker in der weiteren Umgebung bereits basisdialektal ausgewiesen − oder aber als Analogiebildung zu bestehenden dialektalen Berufsbezeichnungen auf -er betrachtet werden kann. Wie in Basel so kann sich auch in Chur die typische (plosive) /k/-Lautung behaupten und gar ausbreiten. Wie in Aarau so zeigen sich in diesem östlichen Dialektgebiet sprachliche Varianten, die sich aus natürlichem Wandel ergeben, so etwa der Ausfall des Dentals der Personalformen der 2. und 3. Person Singular (du bisch, er isch statt du bischt, er ischt ‘du bist, er ist’), ein Wandel, der sich bereits im SDS basisdialektal ankündigt (SDS, III: Kt. 42). Als übereinstimmende Ergebnisse, die der Beurteilung sprachdynamischer Prozesse dienen, können die folgenden Befunde aus den erwähnten Studien genannt werden: Dialektwandel führt teils zum Abbau kleinräumiger zugunsten großräumiger Dialektformen, teils aber auch zur Bewahrung und zur arealen Ausbreitung kleinräumiger Dialektformen sowie zu Neuerungen, die die Distanz zum Hochdeutschen vergrößern (-ene-Plural bei Feminina Gruppe [Sg.] vs. Gruppene [Pl.] ‘Gruppe[n]’; Umlaut im Verbalplural von Normalverben mir/ir/si möchid ‘wir/ihr/sie machen/macht’). Dialektale Veränderungen, die auf den ersten Blick Advergenz an das Hochdeutsche zeigen, sind auf der Ebene von Phonologie und Morphologie häufig gestützt durch das Vorkommen in anderen Dialekten resp. innersprachlich zu begründen (z. B. ist der Zusammenfall der zwei steigenden Diphthongreihen, die sich aus den Entsprechungen der mittelhochdeutschen steigenden Diphthonge und der Hiatusdiphthonge der langen Hochzungenvokale ergeben, einer Ökonomie geschuldet, bei der die Lautung der seltenen jener der häufigen Fälle angepasst wird). Auf der Ebene des Wortschatzes ist, wie in einer ausgebauten Diglossie nicht anders zu erwarten, von einer massiven Beeinflussung durch das Hochdeutsche auszugehen: Hochdeutsche Lexeme werden in den Dialekt übernommen und können dort − vor allem in Komposita − auch dialektale Lexeme ersetzen (basisdialektal Bilgere, neu Zandfleisch ‘Zahnfleisch’; basisdialektal Stääge, neu Rolltreppe ‘[Roll-]Treppe’; basisdialektal Niidle, neu Kafiraam ‘[Kaffee-]Sahne’) und für eine gemeindeutsche Vereinheitlichung des Wortschatzes sorgen. Freilich können solche lexikalischen Übernahmen auch Folgen für die Lautung haben (Oglesby 1991). Bei den Transfers vom Hochdeutschen in den Dialekt werden Entsprechungsklassen gebildet, wie hochdeutsche Lautung in den Dialekt zu übertragen ist: Der Lautung [i:] resp. der Graphemkombination wie in Liebe, Dieb entspricht im Dialekt gemeinhin der Diphthong /iǝ/. Bei „neuen“ Wörtern wie Tiefkühltruhe oder gefriertrocknen tritt nun dieser /iǝ/-Diphthong vermehrt auf, obwohl in einigen Dialekten basisdialektal anderslautende Entsprechungen von altoberdeutsch iu zu erwarten wären (nämlich z. B. töüf-, gfrüür-). Der /iǝ/-Diphthong erhöht hier − mehr zufällig − die Ähnlichkeit mit Regionen, in denen dieser Diphthong tatsächlich der basisdialektalen Realisierung entspricht. Aus einer konkurrierenden Entsprechungsklasse, bei der hochdeutsches [i:] resp. dialektal /i:/ realisiert wird, entstehen aus hochdeutschem „Siedepunkt“ oder „Kiemen“ die dialektalen Lautungen
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[si:dephunkxt] und [kxi:mə/xi:mə]. Die Lexeme erweisen sich somit als trojanische Pferde, bei denen die Lautung von historischen Vorgängerformen abgekoppelt und direkt aus dem Hochdeutschen abgeleitet wird. Es ist zu beachten, dass diese hochdeutschen Übertragungen nicht etwa das Lautinventar verändern, sondern zu anderen funktionellen Belastungen von Phonemen führen, d. h. die Quantität der lexikalischen Repräsentanten von Phonemen ändert sich. Den Abbau kleinräumiger Formen und die Vereinheitlichungstendenzen im Rahmen lexikalischer Binnenentlehnungen könnte man als Tendenz zu einem Regiolekt interpretieren, dessen areale Begrenztheit aber nach wie vor gegeben und jenen Formen geschuldet ist, die sich einem Wandel bisher widersetzt haben, resp. jenen kleinräumigen Formen, die sich gar haben ausbreiten können. Welche neuen Dialektareale sich allenfalls ausbilden, hängt von den „sprachlich vermittelten Solidaritäts- und Abgrenzungshandlungen“ (Berthele 2000: 283) ab, die in ihrer Kumulation die Sprache einer sozial(räumlich)en Gruppe erzeugen. Was Berthele als Erklärung für die frappante Korrelation zwischen dem Sozialgefüge einer Freiburger Schulklasse und der realisierten dialektalen Variation geltend macht, ist nicht anders für die Gemeinschaft der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer insgesamt zu veranschlagen. Haben diese dialektalen Veränderungen ein Stadium erreicht, bei dem die Neuerungen kategorisch geworden sind und die alten Formen durchgängig ersetzt worden sind, dann formieren sie als neue „Regionaldialekte“ (Eckhardt 2016) gleichzeitig die rezenten Basisdialekte. Ein variables Nebeneinander von Formen, sei es als Übergangsstadium, sei es als stabile Variation, eröffnet dagegen einen soziostilistischen Spielraum (vgl. Kap. 7).
7. Vertikale Register Vor dem Hintergrund einer Diglossie-Situation verbietet es sich, die vertikalen Register des Dialekts als ein Kontinuum oder als Verdichtungsbereiche zwischen Dialekt und Hochsprache zu modellieren, müssen die beiden Varietäten, die die Diglossie konstituieren, doch trennscharf auseinandergehalten werden, um als bipolar vorgestellte Größen ihre (komplementären) Funktionen auszufüllen. Dass die Existenz von Register-Variation innerhalb des Dialekts jedoch zwingend ist, ergibt sich nur schon aus dem Sachverhalt der sog. ausgebauten Diglossie (Haas 2004), die den Dialektgebrauch kaum einschränkt, ihn also in den unterschiedlichsten soziosituativen Konstellationen zum Zuge kommen lässt und damit intradialektale, stilistische Variation zwangsläufig nach sich zieht. Wird diese Variation als eine Annäherung resp. Entfernung vom Hochdeutschen modelliert, so läuft dies zumindest der emischen Sicht der Sprechergemeinschaft zuwider, die die Varietäten bipolar organisiert. Vor diesem Hintergrund ist eher eine doppelte Vertikalität anzusetzen, nämlich sowohl eine dialektbezogene als auch eine hochdeutschbezogene Registervariation. Da Hochdeutsch ebenfalls über eine breite Gebrauchspalette verfügt und situationsinduziert (in Domänen, in denen das Hochdeutsche institutionalisiert ist), adressateninduziert (gegenüber Angesprochenen, die kein Schweizerdeutsch verstehen) und diskursinduziert (in der Form von Insertionen als Kontextualisierungshinweise) vorkommt (Christen et al. 2010), werden auch hier Register ausgebildet. Nachfolgend wird die dialektbezogene Registervariation − soweit überhaupt Forschungsergebnisse vorliegen − thematisiert.
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In der Untersuchung zur Basler Stadtsprache hat sich gezeigt, dass sich Parameter wie Formalität innerhalb der dialektalen Sprachproduktion in der korrelativ-global angelegten Studie nicht auf die Realisierung der untersuchten lautlichen und morphologischen Merkmale auswirken. Anders in der Untersuchung zur /l/-Realisierung, bei der sich insofern ein Zusammenhang mit soziostilistischen Faktoren zeigt, als die jungen nicht-manuell Tätigen bei ihren öffentlichen Auftritten vor Publikum die vokalisierten /l/ beträchtlich reduzieren und so einen formellen Stil kreieren (Christen 1988). Neben den dialektalen Variablen, die tatsächlich den soziolinguistischen Status von Markern oder Stereotypen haben − vgl. Baumgartner zur Konstellation in Berner Städten, Kap. 6. − ist jedoch davon auszugehen, dass sich stilistische Unterschiede vor allem auf der lexikalischen, syntaktischen und thematischen Ebene zeigen. Das nachfolgende Beispiel illustriert einen konzeptionell eher schriftlichen Stil, wie er einem Bildungspolitiker in einem Radio-Interview eigen ist, der u. a. Auskunft über die Bologna-Reform gibt (vgl. Christen 2012: 164): was wömmeer i de leer i dene bätschelerschtudiegäng erreiche + öber di einzelne fachbereich use + mir hend aangebot gschaffe + wo bischpöuswiis e schtodäntin in architektuur ou i de wirtschaft oder i de geschtaltig cha belegge om s enterdisziplinääre z fördere + mer hend aareizenschtrumänt gschaffe för di aawändigsorientierti forschig ond entweklig ond so witer ond so fort ‘was wollen wir in der Lehre in diesen Bachelor-Studiengängen erreichen + über die einzelnen Fachbereiche hinaus + wir haben Angebote geschaffen + die beispielsweise eine Studentin in Architektur auch in Wirtschaft oder in Gestaltung belegen kann um das Interdisziplinäre zu fördern + wir haben Anreizinstrumente geschaffen für die anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung und so weiter und so fort’
Die dialektale Lautung und die dialektale Morphologie vermögen den Sprecher (u. a. über die Qualität der Hochzungenvokale, die Diphthongqualität, die â-Verdumpfung, die /l/-Realisierung und den Verbalplural) in den westlichen Kanton Luzern zu verorten. Sie sind gleichzeitig die Strukturvorgaben, in die hochdeutsche Lexeme (Anreizinstrument, anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung, beispielsweise) und Phraseoschablonen (über die einzelnen Fachbereiche hinaus, Studentin in Architektur) eingepasst werden. Diese „Binnenentlehnungen“ sind unabdingbar für die lexikalische Präzision, aber auch den Duktus, wie er beispielsweise in Fachgesprächen erwartet wird. Freilich kann diese Einpassung auch ohne maximale Anpassung an den Dialekt geschehen (geschtaltig ohne Synkopierung von e im Präfix, jedoch gschaffe; aangebot ohne Synkopierung von n, jedoch aareizenschtrumänt), was den materiellen Abstand zum Hochdeutschen vermindert (vgl. auch den „hochdeutschen“ Finalsatz-Anschluss om s enterdisziplinääre z fördere). Aus Sicht der diglossischen Sprecher sind solche „Mischungen“ gängig und werden als Dialekt intendiert resp. rezipiert, weil ungeachtet suboptimaler oder „falscher“ Integration die Markierungen als Nicht-Standard dafür bereits ausreichend sind (vgl. Oglesby 1991). Dass dialektale Register, die sich durch solche Mischungsphänomene auszeichnen, aus der Sicht der Sprecherinnen und Sprecher keineswegs als Annäherungen an das Hochdeutsche intendiert sind, sondern als eine Art dialektaler Umpolung des Hochdeutschen, ist daran erkennbar, dass die verbleibenden hochdeutschen „Spuren“ vornehmlich bei (poly-)lexikalischen Größen zu beobachten sind, die eindeutige hochdeutsche Provenienz haben (Siidepunkt ‘Siedepunkt’, jedoch süüde ‘sieden’). Da das Register, das sich durch die beschriebenen Phänomene auszeichnet, prototypisch in formellen Kommunikationskonstellationen vorkommt, mag es ethnolinguistisch als „höhe-
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res“ Register und damit vertikal konzeptualisiert werden. Dies verdankt sich aber den spezifischen Lexemen und der vergleichsweise komplexen Syntax, die im Hochdeutschen gleichermaßen für eine „hohe“ Registerzuweisung sorgen würden. Im spezifischen Deutschschweizer Kontext ist überdies zu erwägen, ob es neben den situationsbezogenen vertikalen Registern auch adressatenbezogene horizontale Register gibt. Das Verbleiben im Dialekt führt zu spontanen und immer wieder anders kombinierten polydialektalen Dialogen, an denen Sprecherinnen und Sprecher mit unterschiedlichen Ausgangsdialekten partizipieren. Einige wenige Studien haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern Sprecherinnen und Sprecher ihre dialektale Sprechweise auf diese besondere Konstellation zuschneiden. In Konstellationen, die als face to faceInteraktionen gelten können, deutet sich an, dass nur ein Teil der Sprecherinnen und Sprecher überhaupt mit dialektalen Neuausrichtungen reagieren (Schnidrig 1986; Christen 2000). Von deren formalen Ausprägung her scheint es sich dabei weniger um eine Akkommodation an konkrete Kommunikationspartnerinnen und -partner zu handeln, als vielmehr um gezielte Modifikationen des eigenen Dialekts, bei denen auf gewisse dialektale Merkmale zugunsten von großräumigeren dialektalen Formen verzichtet wird (anders zeigen jedoch experimentalphonetische Untersuchungen, dass Anpassungen an präsentierte Dialektstimuli sehr wohl stattfinden können; Ruch 2015). Da sich sowohl bei den ersetzten als auch bei den ersetzenden Formen eine zumindest partielle interindividuelle Übereinstimmung zeigt, erlaubt dies die Annahme eines kollektiven Registers, das geteiltes Dialektwissen und damit Dialektpräsenz und -kontakt gerade voraussetzt. Es deutet sich an, dass ein Konnex besteht zwischen den oben beschriebenen Veränderungen im Basisdialekt und diesen short term-Ausrichtungen auf Andersdialektale. Was hier als horizontales Register bezeichnet wird, kann seine Adressatenabhängigkeit verlieren und zur dialektalen Normallage mutieren (dies ist insbesondere bei einem Teil der Binnenmigrantinnen und -migranten, die in „fremden“ Dialektgebieten dauerhaft ansässig werden, zu beobachten, vgl. Werlen 2006). Die ethnolinguistisch als „Über-InnerschweizerDialekt“ bezeichnete Varietät, die in einer Befragung im Kanton Unterwalden geltend gemacht wird, scheint einen (noch) changierenden Status zwischen adressatenabhängigem horizontalem Register und neuem Regionaldialekt inne zu haben.
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der deutschen Sprache und ihrer Erforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.3), 2825−2888. Berlin & New York: De Gruyter. Stalder, Franz Joseph 1806−1812 Versuch eines Schweizerischen Idiotikon mit etymologischen Bemerkungen untermischt: Samt einer Skizze einer Schweizerischen Dialektologie. Aarau: Sauerländer. Stalder, Franz Joseph 1819 Die Landessprachen der Schweiz oder Schweizerische Dialektologie, mit kritischen Sprachbemerkungen beleuchtet. Aarau: Sauerländer. Trümpy, Hans 1955 Schweizerdeutsche Sprache und Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Basel: Krebs. Vetsch, Jakob 1910 Die Laute der Appenzeller Mundarten (Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik 1). Frauenfeld: Huber. Werlen, Iwar 2006 Zwischen „Grüessech“ und „Tagwoll“: Das Sprachverhalten und die Lebenssituation der Oberwalliser und Oberwalliserinnen in Bern. Bern: Universität Bern. Wiesinger, Peter 1983a Die Einteilung der deutschen Dialekte. In Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke & Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.), 807−900. Wiesinger, Peter 1983b Phonologische Vokalsysteme deutscher Dialekte: Ein synchronischer und diachronischer Überblick. In Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke & Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.), 1042−1076. Wolfensberger, Heinz 1967 Mundartwandel im 20. Jahrhundert: Dargestellt an Ausschnitten aus dem Sprachleben der Gemeinde Stäfa. Frauenfeld: Huber.
Helen Christen, Freiburg/Fribourg (Schweiz)
10. Bairisch in Deutschland 1. 2. 3. 4.
Einleitung Historie und naturräumliche Gliederung Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie
5. 6. 7. 8.
Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Sprachdynamik Vertikale Register Literatur
1. Einleitung Das bairische Dialektgebiet ist zum größten Teil auf die beiden Staaten Deutschland und Österreich (Lenz, Art. 11 in diesem Band) aufgeteilt und wird in der traditionellen Dialektologie durch die im gesamten Gebiet verbreiteten sog. Kennwörter (Lötscher, Art. 22 in diesem Band) eingegrenzt. Auf deutscher Seite entspricht die Dialektlandschaft dem unter „Altbayern“ geläufigen Begriff und umfasst im Wesentlichen die Regierungsbezirke Oberpfalz, Oberbayern und Niederbayern. Östlich der Oberpfalz und nördlich von Niederbayern grenzt Tschechien als Nationalstaat an − die historische Ausdehnung des https://doi.org/10.1515/9783110261295-010
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Bairischen in diesen Raum wurde mit der Bevölkerungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend aufgelöst, gegenwärtige Reste werden im Forschungsprojekt Atlas der historischen deutschen Mundarten in der Tschechischen Republik (ADT) seit 2001 erfasst. Im Osten und Süden Niederbayerns sowie entlang der Ost- und Südgrenze Oberbayerns verläuft die Nationalstaatsgrenze zu Österreich. Diese politische Grenze durchschneidet das mittel- und südbairische Dialektkontinuum, wirkt sich aber sprachraumbildend nur sekundär aus. Das Bairische zählt, nach den sprachgeographischen Auswirkungen der Zweiten bzw. Althochdeutschen Lautverschiebung geordnet, zu den oberdeutschen Dialekten. Ein zweiter großer Dialektverband des Oberdeutschen, das Alemannische (Streck, Art. 8 in diesem Band), grenzt im Westen mit der schwäbischen Varietät an das Bairische an; zwischen Lech (Lechfeld und Lechrain) und Ammer hat sich, von Augsburg im Norden bis ins Allgäu, ein breites Übergangsgebiet ausgebildet. Nördlich davon treffen in einem kleinen Mischgebiet um Gunzenhausen das Bairische, das Schwäbische und der dritte große, oberdeutsche Dialektverbund, das Ostfränkische (Harnisch, Art. 12 in diesem Band), aufeinander. Diese Übergangslandschaft setzt sich nach Norden in einem bairischostfränkischen Mischgebiet fort. Im Kern dieses Areals befindet sich die Stadt Nürnberg, deren Dialekt in jüngerer Zeit eher ostfränkisch geprägt ist. Der Bayreuther Raum grenzt sich dagegen recht deutlich über die Nordbairische Hauptmundartlinie ab, wenngleich auch hier einige bairische Einflüsse vorhanden sind (Wagner 1987: 36−38). Ein Übergang zu mitteldeutschen Dialekten liegt im Norden vor, hier gliedert sich das Obersächsische (Siebenhaar, Art. 13 in diesem Band) an das Nordbairische an − allerdings befindet sich dieser Übergang im historischen Sudetenland, im heutigen Tschechien; in Sachsen zählt nur das südliche Vogtland um Adorf, Markneukirchen und Bad Brambach zum Nordbairischen. Durch den „Eisernen Vorhang“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine Randlage geraten, handelt es sich um ein „mundartliches Reliktgebiet“ (Weber 2000: 103): Kennzeichnend dafür ist, dass die basisdialektalen Sprecher ihre Mundart selbst nicht als Bairisch, sondern als Vogtländisch bezeichnen. Die große geographische Ausdehnung des Bairischen führt zu einer Binnendifferenzierung in Nord-, Mittel- und Südbairisch. Auf deutscher Seite sind alle drei Bereiche vorhanden: Die größten Bereiche werden vom Nordbairischen, dessen Raumbildung hauptsächlich dem Regierungsbezirk Oberpfalz entspricht, und dem Mittelbairischen in Ober- und Niederbayern abgedeckt. Das Mittelbairische setzt sich nach Osten in Österreich fort: Es wird deshalb zudem eine Unterscheidung in West- und Ostmittelbairisch getroffen, die sich aber nicht an der Nationalstaatsgrenze orientiert. Südbairisch ist nur zu einem sehr geringen Anteil im Südosten Bayerns vertreten (Wetterstein- und Karwendelgebirge, Werdenfelser Land). Auch zwischen diesen Binnengroßräumen sind Übergangszonen anzusetzen, der südbairische Anteil Bayerns ist insgesamt dem nördlichen Bereich des Mischgebietes Mittelbairisch-Südbairisch zuzuordnen (Wiesinger 1983: Kt. 47.4).
2. Historie und naturräumliche Gliederung 2.1. Territorial- und kirchengeschichtliche Entwicklung Für die Entstehung des altbairischen Dialektraums kann vom älteren Stammesherzogtum des Frühmittelalters ausgegangen werden: Die Agilolfinger erlangten mit Herzog Tassi-
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lo III. eine königgleiche Stellung. Der Lech galt schon seit dem 8. Jahrhundert als westlicher Grenzfluss, nördlich der Donau dehnte sich die Herrschaft ab 531, als die Thüringer vertrieben wurden, über den Nordgau (nördlicher Bayerischer Wald) bis in den Raum um Nürnberg und Fürth aus. Im Osten wurde das Gebiet durch die Enns im heutigen Oberösterreich begrenzt, das heutige Niederösterreich war nur spärlich bayerisch besiedelt und galt als Vorhof sowohl zur bayerischen Seite im Westen als auch zur Herrschaft der Awaren im Osten. Im Süden weitete sich das Gebiet bis Bozen im heutigen Südtirol aus (Reindel 1981: 149−156). Durch Karl den Großen wurde 788 die eigenständige Herrschaft Tassilos III. gebrochen. Erst 907 lebte das Herzogtum Bayern mit dem sog. jüngeren Stammesherzogtum neu auf. Die Herrschaft wurde weit nach Osten und Südosten ausgedehnt, doch 976 wurde Kärnten als eigenes Herzogtum abgetrennt und im Osten wurde die Markgrafschaft Ostarrichi eingerichtet, die 1156 von Kaiser Friedrich Barbarossa zu einem eigenständigen Herzogtum erhoben wurde. Die Grenze zu Bayern verlagerte sich kontinuierlich bis zum Hochstift Passau und dem Innviertel, das aber noch bayerisch war. Für den Süden einigte man sich 1369 darauf, dass Tirol zu Österreich kam (Wiesinger 2004: 48−52). Im Jahre 1180 wurde die Herrschaft im Herzogtum Bayern von Kaiser Barbarossa an Otto von Wittelsbach übertragen: Die Wittelsbacher Dynastie sollte über 700 Jahre die Geschicke Bayerns lenken. Infolge von Erbstreitigkeiten kam es zu zahlreichen Teilungen, aus der 1255 Ober- und Niederbayern und 1329 eine neue rheinpfälzisch-oberpfälzische Herrschaft hervorgingen. Mit dem Landshuter Erbfolgekrieg von 1504 wurden die Konflikte beigelegt. In der Folge des Bayerischen Erbfolgekrieges wurde das Innviertel 1779 an Oberösterreich angegliedert. Seither bilden hauptsächlich die Donau und der Inn die natürliche Staatsgrenze bis Simbach am Inn; der weitere Verlauf der Grenze entlang der Salzach wurde 1803 im Zuge der Säkularisation festgelegt, da der sog. Rupertiwinkel vormals zum Erzbistum Salzburg gehörte. Aus diesen territorialen Entwicklungen ist dialektgeographisch insbesondere die Entstehung der Oberpfalz als Hauptverbreitungsgebiet des Nordbairischen, in Abgrenzung zu den mittelbairischen Gebieten Ober- und Niederbayerns, von Bedeutung. Dass die Staatsgrenze zu Österreich eine untergeordnete Rolle spielt, geht aus der sukzessiven Entstehung bis in die Neuzeit hervor: Maßgeblich sind alte Dialektgrenzen, wie sie sich bereits im Frühmittelalter an der Enns und der Traun-Krems-Linie herausbildeten (Scheuringer 2005: 241 u. 250, Kt. 1; Scheuringer 2013: 24) und die für eine Differenzierung in West- und Ostmittelbairisch herangezogen werden können (Wiesinger 2004: 21). Neben den weltlichen Herrschaften erweisen sich oft auch die geistlichen Herrschaften als bedeutsame Kulturgrenzen, wie z. B. die des Hochstifts Passau im östlichen Niederbayern (sog. Abteiland). Der Rupertiwinkel war ursprünglich Teil des Bistums Salzburg; das Werdenfelser Land gehörte ab 1294 bis zur Säkularisation zum Freisinger Hochstift, und für die Oberpfalz ist das Kloster Waldsassen für die Ausbildung des Stiftlandes im Landkreis Tirschenreuth zu nennen. Die Reformation wirkte sich vornehmlich in der Oberpfalz aus, doch wurde sie von der Gegenreformation bis weit in den Nordwesten (Landkreis Wunsiedel) zurückgedrängt (Sprachatlas von Nordostbayern [SNOB], 1: 5 mit Kt. E4).
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2.2. Naturräumliche Gliederung Die Landschaften des bairischen Sprachraums werden vor allem durch die Donau geprägt. Der Strom durchzieht das Dialektgebiet von West nach Ost und bildet seit alters her weniger eine Grenze als vielmehr eine Verbindung zu den dicht bewaldeten Mittelgebirgen. Diese liegen überwiegend auf 500−700 m (Bayerischer Wald, an den sich Oberpfälzer Wald und Fichtelgebirge nach Norden anschließen, sowie die Fränkische Alb), am Großen Arber werden über 1400 m erreicht. Das Gewässernetz der Oberpfalz ist geprägt von Regen und Naab, die zur Donau hin entwässern (Glaser et al. 2007: 10− 11). Im Donau- und Isarraum befinden sich reiche Kultur- und Wirtschaftslandschaften, wie die Hallertau und der Gäuboden. Die Gegenden Oberbayerns sind durch die Kalkalpen im Süden geprägt: Von dort gingen die Vergletscherungen der Würmkaltzeit aus, sie formten die Schotterebene des Alpenvorlandes (Münchner Ebene) und hinterließen prägnante Zungenbeckenseen wie den Starnberger See und den Chiemsee. Postglaziale Grundwasseraustritte führten zur Quellmoorbildung, wie das Dachauer Moos oder das Erdinger Moos (Glaser et al. 2008: 34−35 u. 79). Die Schotterablagerungen im niederbayerischen Hügelland südlich der Donau sind zwar nicht glazialen Ursprungs, rühren aber vom alpinen Flusssystem her (Keim, Glaser & Lagally 2004: 87). Vom Donauraum aus fand die Besiedelung der nördlich gelegenen, bewaldeten Gebiete statt, und er ist auch der Raum der Neuerung: Das Dreieck München − Regensburg − Wien bildet einen idealen Verkehrsraum, die schwerer zugänglichen alpinen Gebiete im Süden und die dicht bewaldete Oberpfalz geraten in eine Randlage. So zeigt sich das Südbairische dem Mittelbairischen gegenüber als beharrsam, und das mittelbairisch besiedelte nördliche Waldland übernimmt spätere Neuerungen nicht mehr, so dass es zunehmend einen älteren Sprachstand aufweist bzw. auch eigenständige Neuerungen hervorbringt (Zehetner 1985: 60; Wiesinger 1983: 839). Hinderling (2004a: 174) stellt, in Bezug auf die Raumbildung, die Besiedelungsgeschichte und phonetische wie morphologische Befunde aus den Sprachatlasprojekten der deutschen Schweiz und Nordostbayern, die Hypothese auf, dass die einander entsprechenden Daten im Norden (nach Südwesten verlaufende Isoglossen in der nördlichen Oberpfalz) und im Südwesten (Mundarten der Schweiz mit angrenzenden Gebieten) als Ergebnisse eines Geschehens aufzufassen seien, das sich von Osten her westwärts ausgebreitet habe, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei den einzelnen Phänomenen (Hinderling 2004b: 98). Demnach unterteilt er in Oberdeutsch-Nord (Donau bis zu den Mittelgebirgen) und Oberdeutsch-Süd (Hochalemannisch mit nördlich, östlich und südlich angrenzenden Gebieten), die zusammengefasst als Oberdeutsch-West den bairischen Mundarten Österreichs als Oberdeutsch-Ost gegenüberstehen (Hinderling 2004a: 171). Besch (2014: 23−29) zieht dagegen aus Untersuchungen der schriftsprachlichen Überlieferung des 15. Jahrhunderts den Schluss, dass ein West-Ost-Gegensatz bestehe, in Form einer Kombination aus Ostoberdeutsch, Ostfränkisch und Mitteldeutsch, die sich letztlich den Westregionen gegenüber als eindeutig dominant erwiesen habe.
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3. Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie 3.1. Außengrenzen Auf deutscher Seite grenzt sich die bairische Mundart lautgeographisch in erster Linie gegen das Schwäbische und das Ostfränkische ab. Nach Osten, Südosten und Süden setzen sich die Dialektgebiete jenseits der Staatsgrenze fort, ohne Außengrenzen zu bilden: Das Nordbairische ist resthaft im Egerländischen erhalten, auf österreichischem Gebiet setzen sich das Mittel- und Südbairische fort. Aus dialektgeographischer Perspektive wird deshalb hier die Nationalstaatsgrenze zu Österreich nicht als Außengrenze des Bairischen in Deutschland, sondern als Binnengrenze des Gesamtbairischen (s. Kap. 3.2.) beschrieben. Zur Abgrenzung gegenüber den Nachbardialekten werden in erster Linie vokalische Erscheinungen herangezogen, als Bezugssystem dient das Mittelhochdeutsche. Zunächst wird eine Abgrenzung gegen das Schwäbische vorgenommen, dann gegen das Ostfränkische und zuletzt wird der Nürnberger Raum als Übergangsraum charakterisiert.
3.1.1. Abgrenzung zum Schwäbischen Eine besonders auffällige phonetische Abgrenzung des Bairischen gegenüber dem Schwäbischen ergibt sich durch die sogenannte a-Verdumpfung. Das mhd. a wird, unabhängig davon, ob eine Dehnung des Vokals eingetreten ist, westlich der Isoglosse heller gesprochen als östlich der Lautlinie, wo es im Vokalviereck eher nach hinten verlagert ist und sich dem offenen [ɔ] annähert. Als Wortpaare können etwa Tag [ta̠:k] (Standard, Langvokal) − [da̠:g̥] (Schwäbisch) : [dɔ:g̥] (Bairisch) oder Wasser (Kurzvokal) − [ˈßa̠sr̩ ] : [ˈßɔsɐ] genannt werden. In diesem Kontext kann auch die unterschiedliche Aussprache des Sekundärumlauts von [a̠] zu [ɛ] gesehen werden, wiederum bei mittelhochdeutschem Kurz- und Langvokal, wie er etwa in den Belegwörtern Mädchen − [ˈmɛ:dlə] : [ˈma:dl̩ ] oder Käse − [kɛ:s] : [ka:s] vorliegt: Der frontierte Umlaut wird im Schwäbischen weiter dem offenen [ɛ] angenähert, im Bairischen ist er, dem standarddeutschen [a̠] gegenüber, nach vorne verlagert, sodass ein deutlicher Kontrast zum verdumpften a-Laut entsteht (Kleiner Bayerischer Sprachatlas [KBSA]: Kt. 6 Schnäbel u. Kt. 14 Käse). Die Langvokale mhd. ô, œ und ê weisen ebenfalls einen deutlichen geographischen Gegensatz auf: Während im Schwäbischen Falldiphthonge vorliegen, zeigt das Bairische Steigdiphthonge oder Monophthonge, wie die Wörter Stroh − schön − Schnee verdeutlichen: [ʃtroɐ̯] : [ʃtrɔu̯] − [ʃeɐ̯̃]/[ʃiɐ̯̃] : [ʃe:] − [ʃnɛɐ̯] : [ʃnɛ:]. Das lange [e:] wird dabei im bairischen Teil Bayerns zumeist mit offener Qualität gesprochen. Das Schwäbische zeigt auch eine andere Entwicklung hinsichtlich der mittelhochdeutschen Diphthonge ei und ou, die sich zum Neuhochdeutschen zu den Diphthongen [ai̯ ] und [au̯] gewandelt haben (Nukleussenkung). Als besonders markant für die Außenabgrenzung des Bairischen nach Westen gilt dabei der Wandel von [ɛi̯ ]: Während im Schwäbischen hauptsächlich eine Zwischenstufe [ɔi̯ ] (neben [ai̯ ] im östlichen Allgäu) zu verzeichnen ist, hat sich dieser Diphthong im Bairischen weiter zu [oɐ̯] verändert, z. B. in mhd. breit [brɛi̯ t] − [brɔi̯ d̥]/[brai̯ d̥] : [broɐ̯d̥]. Ähnlich auffällig ist der Gegensatz beim
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Diphthong mhd. ou, hier steht dem hauptsächlich in Oberbayern verbreiteten, frontierten Langmonophthong [a:] im Übergangsgebiet [o:] entgegen, im Schwäbischen blieb der Diphthong als [au̯] erhalten. Hier zeigt sich auch die geographische Auffächerung eines Lautprozesses: Die [ɔi̯ ]/[ai̯ ] : [ai̯ ]-Isoglosse bildet eine der westlicheren Begrenzungslinien des alemannisch-bairischen Mischgebiets, die [o:] : [a:]-Isoglosse eine der östlicheren (Renn 1999: 33). Während sich die neuhochdeutsche Monophthongierung bei der Abgrenzung zum Schwäbischen nicht auswirkt, Kuh und Kühe werden gleichermaßen mit Falldiphthong als [kua̯] bzw. [kiɐ̯] (entrundet) gesprochen, zeigen sich bei der neuhochdeutschen Diphthongierung von mhd. î, iu und û lautliche Gegensätze: Während die bairischen Formen zum Teil dem Standarddeutschen entsprechen, weichen die schwäbischen Formen davon ab: Eis [ˀɛi̯ s] : [ˀai̯ s], Haus [hou̯s] : [hau̯s]. Feuer ist im Bairischen entrundet [ˈfai̯ ɐ], schwäbisch steht dafür [ˈfui̯ r̩ ] oder, wenn wie bei Häuser ein Umlaut vorliegt, [ˈhɛi̯ sr̩ ]. Auch im konsonantischen Bereich sind wesentliche Abgrenzungsmerkmale zum Schwäbischen vorhanden: Zunächst ist die Liquidenvokalisierung, also die Vokalisierung der Phoneme /r/ und /l/ vor Konsonant und auch im Auslaut, zu nennen, die für das Mittelbairische gilt (s. Kap. 3.2.1.), vgl. schnell schwäb. [ʃnɛl] : bair. z. B. [ʃnɛi̯ ], schwarz [ʃvarʦ̮] : [ʃßɔɐ̯ʦ̮], Apfel [ˈˀap͜fl̩ ] : [ˈˀɔp͜fe], Häuser [ˈhɛi̯ sr̩ ] : [ˈhai̯ sɐ]. Die l-Vokalisierung reicht nördlich von Augsburg bis an den Lech, gegen Süden weicht sie nach Osten bis zum Starnberger See und Isarwinkel zurück und bildet damit den Ostrand des bairischschwäbischen Übergangsgebiets (s. auch Kap. 6.1.). Im Übergangsgebiet wird der Konsonant /l/ zwar artikuliert, aber mit dem Beiklang eines zentralisierten vorderen Hochzungenvokals (‘ü-Klang’). Die r-Vokalisierung reicht bis an den Lech (KBSA: 65). Daneben ist die b-Spirantisierung anzuführen, die sich im bairischen Gebiet auf intervokalisches /b/ auswirkt, vgl. Gabel bair. [ˈgɔ:ße] : schwäb. [ˈga:bəl] (KBSA: Kt. 28). Das Phonem /v/ wird im Bairischen basisdialektal noch, wie im Mittelhochdeutschen, als bilabialer Frikativ [ß] gesprochen. Eine ähnliche Spirantisierung liegt im Nordwesten bei /g/ zu Frikativ /χ/ vor, vgl. Weg, schwäb./mittelbair. [ße:g̥] : nordbair. [ße:ç]; diese Erscheinungen werden mit der binnendeutschen und der mittelbairischen Konsonantenschwächung in Zusammenhang gebracht (s. Kap. 3.1.2.; KBSA: 69). Umgekehrt kann der bilabiale Frikativ [ß] im Bairischen als /b/ ausgesprochen werden, vgl. schneien, mhd. snîwen, bair. [ʃnae̯m] Infinitiv, [g̥ʃnae̯b̥d̥] Partizip Präteritum. Im Infinitiv läuft der phonologische Prozess der Nasalassimilation von /b/ zu /m/ ab (s. Kap. 4.1.). Kranzmayer (1956: 75 § 25 b.1) ordnet diese Wortformen mit /b/ zu den Kennwörtern des Bairischen. Allerdings reichen Partizipialformen von schneien mit bErhalt weit in das Schwäbische hinein, über die Wertach hinaus, und erreichen im Süden sogar die Mindel. Im Sinne des Dialektkontinuums kann diese Isoglosse als Westrand des bairisch-schwäbischen Übergangsgebietes betrachtet werden (KBSA: 82−83). Ein weiteres auffälliges lautliches Kennzeichen gegenüber dem Schwäbischen ist die s-Palatalisierung von [s] zu [ʃ], die im Schwäbischen grundsätzlich in Position vor Konsonant erfolgt, im Bairischen aber, wie im Standarddeutschen, nur im Silbenanlaut. Ausnahmen bilden einige Lexeme, vor allem, wenn das /s/ in eine konsonantische Umgebung eingebettet ist, vgl. Wurst [ßuɐ̯ ʃd̥], wenn es sich um Fremdwörter wie Maskerade [ˈmaʃgarɐ], oder um Eigennamen wie Kasper [ˈkɑʃbɐ] handelt, oder um Ortsnamen mit Fugen-s, z. B. Regensburg [ˈreŋʃbuɐ̯g̥]. Es handelt sich dabei um Reste einer ursprünglich auch im Bairischen allgemein verbreiteten s-Palatalisierung (Zehetner 1985: 87; KBSA: 68−69, Kt. 28).
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3.1.2. Abgrenzung zum Ostfränkischen Zum Ostfränkischen im Nordwesten wird das Bairische in den dialektalen Beschreibungen durch eine klare, recht geradlinige bis leicht geschwungene Isoglosse abgetrennt: Sie führt, vom Ascher Zipfel im Norden ausgehend, südlich an Hof und Bayreuth vorbei und knickt nordwestlich von Nürnberg nach Süden Richtung Augsburg ab (Kranzmayer 1956: Hilfskt. 1; Wiesinger 1983: Kt. 47.4 u. 837 mit Kt. 47.6; Zehetner 1985: 61; Wagner 1987: Kt. 1; KBSA: Kt. 4). Der Nürnberger Raum wird dabei als Übergangsgebiet meist dem bairischen Dialektraum zugeordnet, im KBSA dagegen deutet die Schraffur eine größere Nähe zum Ostfränkischen an. Diese bairische Hauptmundartscheide wird von Steger (1968: 477) im nördlichen Teil, oberhalb des Nürnberger Raums, als „nordbairisch-oberostfränkische Hauptmundartlinie“ bezeichnet. Diese scharfe Abgrenzung ist allerdings zu relativieren, denn [i]m Blick auf die nordbairischen Beimischungen im Oberostfränkischen und die (jüngeren) ostfränkischen Überformungen des bairischen Nordoberpfälzer Raumes wird damit nun ganz deutlich sichtbar, wie die bairische Hauptmundartlinie, obgleich eine primäre Grenze, in keiner Richtung eine absolute Grenze darstellt, sondern beiderseits von Mischungszonen der benachbarten Mundarten begleitet wird. (Steger 1968: 495)
Dennoch liegen auf dieser Strecke zahlreiche Isoglossen dicht beieinander, sodass der dialektale Gegensatz deutlich zutage tritt: „Im groben [sic] betrachtet liegt die Mundartgrenze […] auf der Mitte zwischen den Bögen, in denen die Regensburger Bistumsgrenze und die bayreuthische Territorialgrenze seit dem 15. Jhd. nach Westen und Osten ausschwingen.“ (Steger 1968: 482). Das auffälligste Merkmal des Nordbairischen liegt in den steigenden Diphthongen /ɛɪ̯ / und /ɔʊ̯/, die zum einen aus den mittelhochdeutschen Falldiphthongen /iə̯/, /yə̯/ und /uɔ̯/ entstanden sind, zum anderen aus mittelhochdeutschen Langvokalen. Durch Entrundung und Phonemzusammenfall kommt es so zu einer Vielzahl von Wortformen mit den charakteristischen Diphthongen /ɔʊ̯/ und /ɛɪ̯ /, die sich gegen ostfränkische Langmonophthonge an der Hauptmundartlinie absetzen − in allen Fällen schließt sich der Nürnberger Raum dem Nordbairischen an (s. Kap. 6.2.): Tab. 10.1: Nordbairischer Phonemzusammenfall in den Diphthongen /ɔʊ̯/ und /ɛɪ̯ / nhd. Wortform
mhd. Falldiphthong / mhd. Langvokal
nordbair. Diphthong
oberostfrk. Monophthong
Kuh Schaf Stroh
mhd. uo mhd. â mhd. ô
[kɔʊ̯] [ʃɔʊ̯f] [ʃdrɔʊ̯]
[g̥u:] [ʃo:f] [ʃdru:] / [ʃdro:]
fliegen, Kühe Schnee schön
mhd. ie, üe mhd. ô mhd. œ
[flɛɪ̯ ŋ], [kɛɪ̯ ] [ʃnɛɪ̯ ] [ʃɛɪ̯ ]̃
[ˈfli:ŋ] / [ki:] [ʃni:] / [ʃne:] [ʃe:]
Während sich bei den aus der neuhochdeutschen Diphthongierung entstandenen Steigdiphthongen keine Gegensätze zum anschließenden ostfränkischen Gebiet zeigen und auch mhd. /ɔʊ̯/ beiderseits zu /a̠:/ monophthongiert vorliegt, stehen sich für mhd. /ɛɪ̯ /
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ostfränkisch monophthongiertes /a̱:/ und nordbairische Diphthonge gegenüber (zur Qualität s. Kap. 3.2.1.). Der Nürnberger Raum und auch ein Streifen um Neustadt am Kulm schließt sich bei dieser Entwicklung dem Ostfränkischen an (KBSA: Kt. 21), bei nachfolgendem Nasal wie in Stein dringt die monophthongierte Variante [ʃtɑ̃:] nach Osten über Weiden bis an die Staatsgrenze vor (KBSA: Kt. 22). Ein für ganz Altbayern sehr konsistentes geographisches Bild ergibt die Karte des Sekundärumlauts mhd. æ, doch auch bei dieser Erscheinung ist der Nürnberger Raum der ostfränkischen Lautung zuzuordnen, ebenso wie das Gebiet um den Rauhen Kulm, vgl. Käse, oberostfrk. [ke:s] : nordbair. [ka:s] (KBSA: Kt. 14). Der Umlaut von /ʊ/ erfolgte im Bairischen nicht vor bestimmten Konsonanten, etwa bei nachfolgendem /k/ wie in drücken, so dass sich oberostfrk. [drɪg̥ə] (entrundet) : nordbair.[drʊg̥ɐ] gegenüberstehen. Diese Isoglosse entspricht in ihrem Verlauf in etwa der von Käse, doch liegen diese Isoglossen räumlich gestaffelt vor: Die Sprachlinie zu Brücke verläuft oberhalb von Bamberg durch Oberfranken und grenzt im südwestlichen Verlauf das Oberostfränkische gegen das Unterfränkische ab, die Linie zu Stück verläuft etwa 50 km weiter südlich (KBSA: 33; Gütter 1971: Kt. 7; SNOB, 1: Kt. 158−159). Die Isoglosse zum Umlaut /ø:/ wie in Vögel zeigt für das Nordbairische entrundetes /e:/ entgegen ostfränkisch gehobenes /i:/, diese Isoglosse entspricht wiederum weitgehend der von drücken und orientiert sich an der Dialekthauptscheide, allerdings im Südverlauf weiter nach Osten gerückt und im Fichtelgebirge und im Stiftland sind Diphthongierungen zu /iɐ̯/ vorhanden (KBSA: Kt. 12; SNOB, 1: Kt. 101). Im Konsonantismus ist insbesondere auf die binnendeutsche Konsonantenschwächung hinzuweisen: Während im Fränkischen die Lenis- und Fortiskonsonanten, mit Ausnahme des anlautenden /k/, in allen Positionen mit den Lenislauten zusammengefallen sind, herrschen im Nord- und Mittelbairischen andere Verhältnisse: Zwar gilt auch hier, dass der Gegensatz zwischen /b/ und /p/, /d/ und /t/ und auch, vor Konsonant wie bei Knie, /g/ und /k/ aufgehoben ist, doch spielt hier der Silbenbau eine zusätzliche Rolle: Einem langen Vokal folgt ein Leniskonsonant, einem kurzen Vokal ein Fortiskonsonant. Hinzu kommt die Einsilberdehnung, die alle einsilbigen Wörter mit Kurzvokal und Fortiskonsonant im Silbenendrand erfasst, wie z. B. Frosch oder Sack, bair. [fro:ʃ], [sɔ:g̥] (SNOB, 1: Kt. 96 Schloß u. Kt. 97 Schlösser; s. Kap. 4.2.). Die Konsonanten der gedehnten Einsilber wurden lenisiert. Diese von der binnendeutschen Konsonantenschwächung abweichende Lenisierung wird als mittelbairische Konsonantenschwächung bezeichnet, nach dem Ursprung dieser Neuerung, die zunächst im 14. Jahrhundert auf der Achse München − Wien, also der Isar-Donaustraße, auftrat (Kranzmayer 1956: 96 § 34 c.10 u. Kt. 21), sich dann im 15. Jahrhundert aber auch auf das Nordbairische ausdehnte. So stehen sich an der Hauptmundartscheide Lexeme wie Acker, oberostfrk. [ˈɁagɐ] : bair. [ˈɁɔkɐ] (unbehauchtes /k/) gegenüber, es kommt sogar zu einer „Grenzversteifung“ (Kranzmayer 1956: 95 § 34 c.1), indem auf bairischer Seite die Fortislaute besonders deutlich artikuliert werden, etwa bei essen, machen, Winter, merken. Kranzmayer (1956) sieht einen systematischen Zusammenhang zwischen der mittelbairischen Konsonantenschwächung, dem Behauchungsverlust und der Liquidenvokalisierung, so dass „fast vier Fünftel aller mittelbair. Wortformen von dieser Konsonantenschwächung irgendwie betroffen [sind]. An dieser Zahl vermag man erst den gewaltigen Umfang der Lautumwälzung selbst richtig zu beurteilen“ (Kranzmayer 1956: 95 § 34 c.4); entsprechend bezeichnet er diese Erscheinung als „mittelbair. Lautverschiebung“ (Kranzmayer 1956: 97 § 34 c.11).
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Das /l/ ist im Nordbairischen nicht vokalisiert, weist aber gegenüber dem Ostfränkischen im gesamten nordbairischen Gebiet, einschließlich dem Nürnberger Raum, den Beiklang eines zentralisierten vorderen Hochzungenvokals („ü-Klang“) auf, so wie es auch im bairisch-schwäbischen Übergangsgebiet artikuliert wird (KBSA: 65; SNOB, 1: Kt. 129 Milch u. Kt. 131 viel). Nachvokalisches /r/ wird zwar wie im Mittelbairischen vokalisiert, allerdings nicht unbedingt im Nord- und Westrand der Oberpfalz (Kranzmayer 1956: 123; KBSA: 65). Zumindest im Norden zeigt der Landkreis Hof deutliche r-Artikulation, die sich bis in den Bayreuther Raum erstrecken kann (SNOB, 1: Kt. 150 kurze (Haare) u. Kt. 106 Korb). Da aber auch in den nordbairischen Übergangsgebieten und im Oberostfränkischen zumeist r-Vokalisierungen auftreten, ist ein klares Abgrenzungskriterium nicht gegeben. Im Oberostfränkischen unterscheidet sich der vokalische Charakter als [ə] vom östlichen bairischen [ɐ] (Steger 1968: 55 u. 203−204). Eine Kuriosität ist die Aussprache des /j/ als /g/, z. B. jung als [gʊŋ]: Die im Mittel- und Niederdeutschen, vor allem in Berlin, häufige Aussprache des /g/ als /j/ wurde im Ostfränkischen zurückgedrängt; dabei wurden auch Wörter mit ursprünglichem /j/ erfasst. Diese übergeneralisierende Restitution des /g/ reicht über das Nordbairische vereinzelt, vor allem in alten Bauernwörtern, bis nach Niederbayern und Oberösterreich (Kranzmayer 1956: 73).
3.1.3. Der Nürnberger Raum Beim Verlauf der nordbairisch-oberostfränkischen Hauptmundartlinie wurde im südlichen Verlauf auch der Nürnberger Raum berücksichtigt, durch Inklusion oder Exklusion von den nordbairischen Lautungen ergibt sich ein scharf umrissenes geographisches Bild: „Im Westen und Norden trennt ihn eine Dialektgrenze ersten Grades mit weit über hundert Linien von den umgebenden Mundarträumen, und auch seine Ostgrenze vereinigt ein Bündel von mehr als hundert Grenzen in sich.“ (Steger 1968: 544). Zusammenfassend, in Bezug auf die in Kap. 3.1.2. skizzierten Lautstände, ergeben sich folgende Zuordnungen des Nürnberger Raumes zum Nordbairischen bzw. zum Oberostfränkischen (Steger 1968: 544−548):
Tab. 10.2: Zuordnung des Nürnberger Raumes aufgrund seiner Lautstände zum Nordbairischen bzw. Oberostfränkischen nhd. Wortform
mhd. Vokal
Oberostfränkisch
Nordbairisch Nürnberger Raum
Brot böse, Schnee gut lieb, Kühe
mhd. mhd. mhd. mhd.
ô œ, ê uo ie, üe
[bro:d̥] [be:s], [ʃne:] [gu:d̥] [ˈli:b̥], [ki:]
[brɔʊ̯d̥] [bɛɪ̯ s], [ʃnɛɪ̯ ] [gɔʊ̯d̥] [lɛɪ̯ b̥], [kɛi̯ ]
heiß Ofen Vögel erzählt mähen
mhd. mhd. mhd. mhd. mhd.
ei o ö e æ
[ha:s] [ˈɁu:fm̩] [ˈfi:gl̩ ] [dəˈd͜si:ld̥] [ˈme:ɐ̯]
[hɔɪ̯ s] [ˈɁo:fm̩] [ˈfe:gl̩ ] [dəˈd͜se:ld̥] [ma:n]
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Der Nürnberger Raum ist, allein auf den Vokalismus bezogen, dennoch kein reines Mischgebiet, sondern bildet − aufgrund der abweichenden Gruppierungen von gedehnten mittelhochdeutschen Kurzvokalen − „ein eigenes Langvokalsystem aus, das sich grundlegend unterscheidet von dem System des südlichen Nordbairischen“ (Steger 1968: 547). Steger (1968: 554) bezeichnet die westliche Isoglosse als „Nordbairische Westschranke“, sie beharrt seit etwa 1850 im Westen des Rednitztales bewegungslos auf ihrer heutigen Linie. Bemerkenswert ist der Zusammenhang mit den Grenzen der Pfarreiorganisation des späten Mittelalters: Es wird erkennbar „daß wir in den Kirchspielen die kleinsten sprachlichen Raumeinheiten, die ‚Verkehrsgemeinschaften‘, fassen […], welche die Feinstruktur der Grenze ausgebildet haben.“ (Steger 1968: 555 u. Abb. 33). Die nördliche Grenze verläuft im Wesentlichen auf der Nordgaugrenze, so dass Steger (1968: 572) daraus folgert, dass der gesamten West- und Nordgrenze bairischer Spracherscheinungen eine mittelalterliche Siedlungsgeschichte (staufische Reichslandbildung) zugrunde liege. Im Nürnberger Raum seien „etwa je zur Hälfte ostfränkische und bairische Einflüsse vorhanden“ (Steger 1968: 571), in einer östlich vorgelagerten Übergangszone sei immer noch ein Viertel der Vokale ostfränkisch geprägt (Steger 1968: 549).
3.2. Binnenstruktur Die Binnengliederung des Bairischen in Deutschland zielt in erster Linie auf die Abgrenzung des Nordbairischen zum Westmittelbairischen ab; das Südbairische und das Ostmittelbairische treten an der Staatsgrenze zu Österreich im Süden und Osten nur marginal in Erscheinung.
3.2.1. Das Nordbairische und seine Abgrenzung zum Westmittelbairischen Die wesentliche Abgrenzung zum Mittelbairischen erfolgt durch die sog. gestürzten Diphthonge, die den mittelhochdeutschen Falldiphthongen ie, üe und uo entsprechen und bereits für die Außenabgrenzung als primäres Merkmal herangezogen wurden: Während im Mittelbairischen die Falldiphthonge erhalten blieben − durch Entrundung ist mhd. üe mit ie im Phonem /iə̯/ zusammengefallen −, haben sich diese Lautungen im Nordbairischen zu Steigdiphthongen entwickelt. Dabei gilt es nicht als völlig gesichert, ob sich diese Laute aus den mittelhochdeutschen Falldiphthongen entwickelt haben (Rowley 2000: 30), oder ob mitteldeutsche Monophthonge zugrunde liegen − ausgehend von der These, dass im mitteldeutschen Bereich gar keine Diphthonge vorgelegen haben, sondern die germanischen Monophthonge fortgesetzt wurden (Schmidt 2015: 235). Für die Annahme, dass dieser nordbairische Lautwandel vom Donauraum aus angestoßen wurde, spricht das geographische Erscheinungsbild: Die Isoglossen breiten sich, ihren Ausgang in Niederbayern nehmend, bogenförmig in die Oberpfalz aus, so dass eine nordbairische Stufenlandschaft entsteht. Dabei ist auffällig, dass die Sprachlinien für mhd. uo breit gefächert sind, von Südosten nach Nordwesten Bub/Kuh, tun, Wut/Fluch/Bruder, Schnur, Mutter/gut (Hinderling 1996: 125 mit Kt. 1), dass aber paradigmische Bezüge zu einer gemeinsamen Verbreitung geführt haben, wie z. B. die Wortformen von Kuh, im Singular [kɔʊ̯] und im Plural [kɛɪ̯ ], zeigen (KBSA: Kt. 24−25). Bei mhd. ie bildet sich eine weit
10. Bairisch in Deutschland
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nach Niederbayern und bis an die Westgrenze des Ostmittelbairischen reichende Abstufung heraus: Während im Westmittelbairischen in Oberbayern und südwestlichen Niederbayern die Lautform [iɐ̯] flächendeckend vorherrscht, gilt für den Donauraum und den Unteren Bayerischen Wald teilweise die Lautung [oɪ̯ ] und im Anschlussgebiet zum Nordbairischen die Form [uɪ̯ ] − ebenso wie im Nordbairischen handelt es sich um zwei Steigdiphthonge: Diese sind aber nicht auf mhd. ie, sondern auf ahd. iu zurückzuführen und haben sich durch analogen Ausgleich im Verbparadigma durchgesetzt (KBSA: Kt. 26). Von dieser Lautentwicklung betroffen sind z. B. starke Verben wie fliegen, ziehen, schießen, schieben, verlieren und lügen, und dazu gebildete Derivationen, wie z. B. Fliege, oder das Adjektiv tief (Sprachatlas von Niederbayern [SNiB], 3: Kt. 134−136). Das Nordbairische grenzt sich vom Mittelbairischen auch über die mittelhochdeutschen Diphthonge ei und ou ab: Während sich für mhd. ei im Einsilber im gesamten bairischen Sprachgebiet auf deutscher Seite der Falldiphthong /oɐ̯/ durchgesetzt hat (s. Kap. 3.1.2.), gilt für mehrsilbige Wörter im nordbairischen Teil eine Aussprache als Steigdiphthong /ɔɪ̯ /:
Tab. 10.3: Mhd. ei in ein- und zweisilbigen Belegwörtern
nordbair. mittelbair.
breit (Adj., Positiv)
breiter (Adj., Komparativ)
Leiter (Subst., fem.)
[broɐ̯d̥] [broɐ̯d̥]
[ˈbrɔɪ̯ dɐ] [ˈbreɐ̯dɐ]
[ˈlɔid̥ɐ] [ˈloɐ̯d̥ɐ]
Das kann sich auch im Paradigma auswirken, wie die Komparation des Adjektivs breit zeigt (vgl. auch Kap. 4.2.: Plural von Stein); im Mittelbairischen wird der Diphthong des Komparativs umgelautet und entrundet. Mhd. ou wurde fast im gesamten Gebiet zum Monophthong [a:] gewandelt, mit Ausnahme eines breiten Keils, der sich von Osten her, von Bratislava ausgehend, über den Donauraum nach Westen schiebt und erst bei Ingolstadt ausdünnt (KBSA: Kt. 23 glauben); erst das schwäbisch-bairisch-ostfränkische Mischgebiet bildet eine Brücke mit Monophthong zwischen den südlichen und nördlichen Dialektgebieten. Für den Großteil Niederbayerns gilt deshalb der Phonemzusammenfall von mhd. û und ou zu au wie im Neuhochdeutschen. Allerdings weichen die Lautungen von taufen und raufen doch erheblich ab, hier reichen die Monophthonge fast vollständig vom Süden bis zur Donau, bei raufen liegen die letzten Diphthonge östlich vor Landshut. Denkbar wäre ein schriftsprachlicher Einfluss, der beim Kirchenwortschatz zu einer größeren Verbreitung führte, so entspricht z. B. mhd. ei in Fleisch im Bairischen dem Standarddeutschen. Um eine spezifisch mittelbairische Erscheinung handelt es sich bei der l-Vokalisierung (s. Kap. 3.1.1.), die zu Steigdiphthongen führt: kalt [kɔɪ̯ d̥], Holz [hoɪ̯ ʦ̮], Sulz ‘Sülze’ [suɪ̯ ʦ̮], viel [fɛɪ̯ ]/[fuɪ̯ ], Mehl [mɛɪ̯ ], Geld [gɛɪ̯ d̥]. Sie gilt für fast ganz Ober- und Niederbayern (Sprachatlas von Oberbayern [SOB], 2: Kt. 38 Bild; SNiB, 3: Kt. 8 spielen u. Kt. 9 viel) und erreicht nur marginal die südlichsten Gebiete der Oberpfalz, im Westen im Landkreis Neumarkt, im Osten im Landkreis Cham (SNOB, 1: Kt. 130 spielen u. Kt. 131 viel). Es handelt sich dabei um eine Neuerungserscheinung des Mittelbairischen, die sich im Isar-Donau-Raum fest etablierte (Kranzmayer 1956: 120 § 49 c.6 u. Kt. 26). Bei der Vokalisierung nach mhd. i kommt es zu einer markanten Raumverteilung; im
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II. Die Sprachräume des Deutschen
östlichen Niederbayern entstand neueres [ɛɪ̯ ], das sich gegen älteres [uɪ̯ ] abhebt und als Keil über Donau und Isar westwärts drängt. Die postvokalische r-Vokalisierung vor Konsonant, wie sie in Garten (SOB, 2: Kt. 81) oder Bart (SNiB, 3: Kt. 85) auftreten kann, in der Lautung [ˈg̥oɐ̯d̥nn̩] und [b̥oɐ̯d̥], ist vorwiegend auf das östliche Niederbayern beschränkt. Auch hier entstehen sekundäre Diphthonge, wie bei der l-Vokalisierung. In etwa dem gleichen Raum, im östlichen Niederbayern mit kleinen Ausläufern nach Norden in die Oberpfalz und im Süden nach Oberbayern, ist das sog. „Kollmersche Gesetz“ (Rowley 1990: 54, 1996: 141 mit Abb. 2) wirksam. Dieses Lautgesetz betrifft die mhd. a- und â-Laute, die unabhängig von ihrer Quantität lexemspezifische Abweichungen im Grad der Verdumpfung zeigen: So wird Wasser [ˈßosɐ] mit geringerem Öffnungsgrad artikuliert als tragen [ˈd̥ro̞ŋ]. Ungewöhnlich ist, dass die Regularität für die geschlossenere bzw. offenere Artikulation nicht aus dem mittelhochdeutschen Lautsystem erklärt werden kann, sondern dass althochdeutsche Lautfolgen berücksichtigt werden müssen. So wirken sich /ß/ und /l/ im Anlaut vor Vokal, vokalisiertes [e:] aus der Endung -el und diverse althochdeutsche Suffixe, z. B. -o der schwachen Maskulina, hebend auf den a-Laut aus, was eine geschlossenere Aussprache bewirkt, als sie z. B. bei starken Verben mit der althochdeutschen Endung -an vorliegt. Dadurch entstehen phonologische Oppositionen, wie sie als Minimalpaar in der Phrase einen Graben graben in den Sprachatlanten erhoben wurden: [gro:m] − [gro̞:m], zurückzuführen auf ahd. grabo − graban (SNOB, 1: Kt. 16 tragen u. Kt. 17 Graben; SNiB, 3: Kt. 69 Graben u. Kt. 80 Wasser; SOB, 1: Kt. 1 Wasser; KBSA: 31 u. Kt. 13; Lemmalisten in Gaisbauer 2004: 70−73). Das Kollmersche Gesetz wird in seiner Ausdehnung nach Österreich bis an die Enns mit dem altbairischen Kernland in Verbindung gebracht, eine ähnliche Verbreitung zeigt auch die alte Artikulation von anlautendem /s/ als /h/, die heute nur noch, wenn auch hochfrequent, in Plural-Präsens-Formen des Verbums sein üblich ist (SNiB, 5: Kt. 164; Scheuringer 2004: 44). Für eine Abgrenzung des Nordbairischen zum Mittelbairischen müssen die beiden Städte Passau und Regensburg berücksichtigt werden. Regensburg gilt als mittelbairische Enklave in nordbairischem Sprachgebiet, zumindest bis etwa 1965 (s. Kap. 6.2.). Allerdings galt das mittelbairische Idiom dort als abgekapselt, ohne Strahlkraft auf das Umland, sodass die Stadt eher „Mit-Objekt“ denn als „Subjekt“ der Sprachgeschichte zu sehen ist: „[Das] lässt sich daran erkennen, dass die dargestellten Isoglossen, mal näher, mal ferner an der Stadt vorbeiziehen, ohne sich auch nur im geringsten von dem Kräftefeld der Stadt ablenken zu lassen.“ (Hinderling 2002: 161). Das Mittelbairische hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Nordbairische südlich von Regensburg verdrängt, so dass mittlerweile eine „Landbrücke“ (Zehetner 2005: 218) zur einstigen Sprachinsel vorliegt. Dagegen kann der Stadt Passau, da weniger vom Umland abgekapselt, eine größere Strahlkraft zugesprochen werden: Ihr kann die Auffächerung der Isoglossen zum Nordbairischen zugeschrieben werden, so „daß das Nordbairische durch die Jahrhunderte hindurch eine ständige Umgestaltung durch Neuerungsströme aus dem Südosten erfahren hat. Südosten heißt: der Donauraum um Passau, hinter dem der österreichische Donauraum und letztlich wohl Wien steht.“ (Hinderling 1996: 135).
10. Bairisch in Deutschland
3.2.2. Die Abgrenzung des Westmittelbairischen vom Ostmittelbairischen Etwa 10 km östlich von Passau liegt, abgegrenzt durch die in die Donau mündende Erlau, das sog. Abteiland, das durch besondere Lautmerkmale auffällt. Es zeigt sich, dass diese Lautformen Ausläufer eines größeren Gebietes sind, denn in Oberösterreich verlaufen die Isoglossen weitgehend entlang der alten, vor 1779 bestehenden bayerischösterreichischen Landesgrenze (zugleich Ostgrenze des Niederbayerischen Rentamts Burghausen; Wiesinger 2004: 49 mit Kt. 20) bis ins Salzkammergut. Es handelt sich dabei um eine zentrale Achse (Scheuringer 2005: 243), die den Westrand „einer durch Nord-Süd-Linien gegliederten Staffellandschaft“ (Scheuringer 2013: 24) bildet, die bis an die Linie Traun-Krems heranreicht. Dieser größere Raum mit einer maximalen WestOst-Ausdehnung von 150 km wird als Übergangsraum zwischen West- und Ostmittelbairisch interpretiert (Wiesinger 2004: 21), der sich durch „unzählige Variationen eines alten Kernraums“ (Scheuringer 2005: 244) auszeichnet. Beispielhaft kann dieses Gebiet durch die Entwicklung von mhd. ô gut umrissen werden: Während mhd. rôt westlich mit Diphthong [ɔʊ̯], östlich mit Monophthong [ɔ:] gesprochen wird, liegt zentral die diphthongische Variante [ɛɔ̯] vor (Wiesinger 2004: 28 mit Kt. 9; Scheuringer 2013: 24 mit Abb. 5).
3.2.3. Die Abgrenzung des Mittelbairischen zum Südbairischen Der südliche Rand des Bairischen auf deutschem Staatsgebiet ist dem Südbairischen zuzurechnen, aber größtenteils nicht dem Kernraum, sondern dem Übergangsgebiet zum Westmittelbairischen. Die Linie verläuft auf Höhe von Salzburg nach Westen, südlich an Rosenheim vorbei zum Lechrain, wo sich das Südbairische keilförmig nach Norden mit dem Mittelbairischen und Schwäbischen mischt. Besonders deutlich zeigt dies die Tenuesverschiebung von /k/ zu /k͜x/, wie etwa bei nhd. Knie, südbair. [k͜xniɐ̯] (KBSA: Kt. 27), aber auch mhd. ô und ê in rot − [rɔɐ̯d̥] und Schnee − [ʃnɛɐ̯] (KBSA: Kt. 15− 16). Diese Diphthongvarianten gelten als bekannteste Charakteristika und eignen sich am besten, um südbairischen Dialekt festzustellen (Hornung & Roitinger 2000: 19). Über das Schwäbische finden diese Diphthonge allerdings, wie über eine Brücke, eine räumliche Fortsetzung im nordöstlichen Württemberg (KBSA: 45). Zum Kernbereich des Südbairischen, dem sog. „Alpenbairischen“, zählt nur das Werdenfelser Land (Zehetner 1985: 63). Die Mundart von Garmisch-Partenkirchen ist zwar von der mittelbairischen Konsonantenschwächung betroffen, unterscheidet aber altdeutsches /d/ und /t/ in Anund Inlaut, so wie es für das Südbairische charakteristisch ist (Stein-Meintker 2004: 143). Zusammen mit der k-Affrizierung führt dies im Selbstverständnis der Dialektsprecher dazu, dass der Tiroler Dialekt in dieser Mischmundart maßgeblich verankert ist (Stein-Meintker 2004: 145).
4. Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie Die Morphologie wird im bairischen Sprachraum maßgeblich von phonologischen Prozessen geprägt. Grundsätzlich handelt es sich um lautliche Erscheinungen, die aber, da sie vor allem die schwachtonigen Flexionssilben betreffen, zu amorphen Wortstrukturen
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II. Die Sprachräume des Deutschen
führen, die sich dann paradigmatisch in Form eigener Stammallomorphe etablieren können (s. Kap. 6.3.). Zudem liegen in der Oberflächenstruktur der Wörter verschiedene Endungen vor, wenngleich sie dieselbe grammatische Funktion erfüllen − diese Erscheinung kann, wenn an einem Ort beide Erscheinungen auftreten, mit dem Begriff der Allomorphie erfasst werden, als lautliche Variante eines Morphems im Sprachsystem. Da aber räumliche Verteilungen in den Kartenbildern festgestellt werden können, ist eher − in Anlehnung an den Begriff der Heteronymie in der Wortgeographie − von Heteromorphie zu sprechen (Koch 2006: 130). Die phonologischen Prozesse werden exemplarisch an den Endungen der Verben dargestellt.
4.1. Verbmorphologie Die auffälligste Grenze bildet sich zum alemannischen Sprachraum hin aus: Sie betrifft insbesondere die Infinitivendungen, aber auch die Partizip-Präteritum-Formen der starken Verben. Diese Formen sind gerade im Bairischen besonders häufig, da periphrastische Verbformen aufgrund des Präteritalschwunds, aber auch im Präsens durch die tun- und die täte-Periphrasen, die Bildung der Prädikate dominieren. Die hohe Frequenz dieser infiniten Verbformen bewirkt die scharfe Grenzziehung gegen den westlichen Nachbardialekt: Die vokalische Endung schwäb. [ə] steht grundsätzlich einer konsonantischen Endung /(e)n/ im Bairischen gegenüber (Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben [SBS], 6: Kt. 1−11), die, je nach Stammauslaut des Wortes, unterschiedlich realisiert werden kann − hier werden phonologische Prozesse wirksam: Ein vokalisches [ɐ] ist im Bairischen nur bei nasalem Stammauslaut (z. B. kommen [kɛmɐ]), nach Frikativ /f/ und /χ/ (z. B. helfen [ˈhɛi̯ fɐ], machen [ˈmɔxɐ]) und nach Fortis-Plosiv /k/ (z. B. schicken [ˈʃɪkɐ]) möglich, ansonsten wird nach Frikativ (z. B. essen [ˈˀesn̩]) ein silbischer Konsonant und bei vokalischem Stammauslaut, wie er auch durch r- und l-Vokalisierung zustande kommt, ein unsilbisches [n] verwendet (vgl. bauen [bao̯n], scheren [ʃe:ɐ̯n]). Außerdem laufen bei den Fortis- und Lenis-Plosiven die phonologischen Prozesse der Nasalassimilation ab, wie sie auch in Regiolekten oder in der Umgangssprache vorhanden sein können: Die Flexionssilben -ben, -gen und -den werden vollständig zu unsilbischem [m], [ŋ] und [n] assimiliert (vgl. leben [le:m], legen [le:ŋ], schneiden [ʃnai̯ n]), bei den Fortisplosiven /p/ und /t/ liegen partielle Assimilationen vor: Der Plosiv bleibt erhalten, der an den Artikulationsort des Plosivs assimilierte Nasal wird silbisch realisiert (z. B. schnappen [ˈʃnɑpnm̩], halten [ˈhɔi̯ tnn̩]). Diese Vielfalt der allo- und heteromorphen Endungen (SNiB, 5: 20−22) kann auch zur Abgrenzung an den anderen Außenseiten des Bairischen in Deutschland sowie zur Binnengliederung herangezogen werden: Der südliche Teil des Nordbairischen folgt im Großen und Ganzen der westmittelbairischen Verteilung. Das nördliche Gebiet zeigt bei vokalischem Stammauslaut die vokalische Variante, z. T. auch die Variante [nɐ]. Außerdem tritt nach /k/ und /χ/ der velare Nasal [ŋ] auf: Nördlich der Linie Neumarkt − Amberg − Vohenstrauß − Oberviechtach wird z. B. drücken als [ˈdrʊknŋ̩] ausgesprochen (Gütter 1971: Kt. 23), das nördliche Gebiet schließt sich morphologisch dem fränkischen Sprachraum an. In Niederbayern herrscht bei vokalischem Stammauslaut vorwiegend Endungslosigkeit vor (z. B. bauen [bao̯], zum Teil mit Nasalierung des Stammvokals). An der östlichen Staatsgrenze zu Österreich zeichnet sich, über die Donau und den Inn bis zum Südbairischen verlaufend, eine recht markante Differenzierung ab, indem nach
10. Bairisch in Deutschland
[f] und [x] konsonantische Endungen verwendet werden (z. B. schlafen [ˈʃlɔfm̩], machen [ˈmɔxŋ̩]). Am Südrand Oberbayerns zeigt sich der Übergang zum Südbairischen, indem in einem schmalen Streifen die assimilierte Form [m̩] in nicht-assimiliertes [n̩] übergeht (SOB, 3: Kt. 3). Von den Personalendungen zeigen sich die Singularformen recht einheitlich. Die 1. Person Singular Präsens Indikativ aktiv ist endungslos, bei stammauslautendem Nasal kann dieser fehlen (z. B. ich kann [ˀi ˈkɔ:]/[ˀi ˈkɑ:], SNiB, 5: Kt. 66). Bei der 2. Person Singular Präsens Indikativ aktiv zeigt sich gelegentlich ein fehlender Dental, vor allem in Niederbayern zwischen Isar, Inn und Donau (Typ [du ˈsɔg̥s], SNiB, 5: Kt. 76); und auch bei der 3. Person Singular ist ein fehlender Dental zwar grundsätzlich − bei dentalem Stammauslaut durch Assimilation (z. B. er findet [ˀeɐ̯ ˈfɪnd̥]) − möglich, regelhaft aber nur im Westrand des Untersuchungsgebiets sowie im südbairischen Übergangsraum (z. B. er sagt [ˀeɐ̯ ˈsɔk], SOB, 3: Kt. 21), z. T. wird in eben diesen Gebieten der Dental auch partiell assimiliert (z. B. er kommt [ˀeɐ̯ ˈkɪmp], SOB, 3: Kt. 22). Insbesondere die Pluralaffixe (Präsens) wirken sich stark raumbildend aus: Auch hier spielt die Form des Infinitivs eine wichtige Rolle, da die 1. und 3. Person in weiten Gegenden zusammenfallen: So gilt z. B. für das Verb lesen in fast dem gesamten Gebiet die infinitivgleiche Form [ˈle:sn̩]. Gegen Südwesten unterscheidet sich deutlich die schwäbische Form [ˈle:səd̥] (Einheitsplural), gegen Nordwesten zum Fränkischen gibt es dagegen keine Grenzbildung. Besondere Beachtung verdienen die Formen, die sich in fast ganz Niederbayern und den südlich bzw. nördlich anschließenden Regionen Oberbayerns und der Oberpfalz fest etabliert haben: Hier hat sich das Personalpronomen der 1. Person Plural Nominativ − wir − an den Verbstamm angegliedert (KBSA: Kt. 31). Der Ursprung liegt in einer syntaktischen Inversionsstellung; die betonte Vollform [miɐ̯] ist in abgeschwächter Form enklitisch als [mɐ] anstelle des Flexivs an den Verbstamm angeschmolzen. Dass es sich noch nicht um eine vollends zum Flexiv grammatikalisierte Form handelt, zeigt die Nebensatzstellung, in der nach wie vor die infinitivgleiche Form gilt (SNiB, 5: 210). Neben der infinitivgleichen Form kann im südöstlichen Raum auch ein Zusammenfall mit der 3. Person festgehalten werden: Hier wird die Endung [n̩d̥] bzw. [ɐnd̥] übernommen. Auch in der 2. Person Plural ist die Klitisierung zu beobachten: Hier wurde die Vollform [ˀe:s] (2. Ps. Nom. Pl.), ebenso aus einer syntaktischen Inversionsstellung heraus, in einer zu [s] reduzierten Form an den Verbstamm angeschmolzen. Dabei handelt es sich nicht mehr um ein Enklitikon, sondern um ein vollständig grammatikalisiertes Flexiv, das im gesamten altbairischen Sprachraum gilt und selbst in der Nebensatzstellung beibehalten wird. In der 3. Person Plural zeigt sich vor allem in Niederbayern und im südwestlich angrenzenden Oberbayern eine dentale Endung, wie sie noch dem Mittelhochdeutschen entspricht (z. B. sie essen [de: ˈˀesn̩d̥], sie kommen [de: ˈkɛmɐnd̥]), ansonsten gilt der Formenzusammenfall mit der 1. Person Plural (ohne Enklitikon, z. B. [ˈˀesn̩], [ˈkɛmɐ]; SNiB, 5: 253). In Oberbayern finden sich, bei nasaler Endung, zwischen den westlichen, infinitivgleichen Formen (Typ [ˈkɛmɐ]) und den östlichen, dentalhaltigen Formen (Typ [ˈkɛmɐnd̥]) Übergangsformen ohne Dental (Typ [ˈkɛmɐn], SOB, 3: Kt. 28). Auch in dieser Paradigmenposition kommt es, mit oder ohne Dental, zu entsprechenden Nasalassimilationen, wie sie für Infinitiv und 1. Person Plural gelten: sie bleiben [de: blai̯ md̥] − sie schneiden [de: ʃnai̯ nd̥] − sie tragen [de: d̥rɔŋd̥]. In den südbairischen Gebieten Oberbayerns, auch hier liegen Endungen mit Dental vor, kommt es zur partiellen Assimilation des Dentals zu [p] und [k]: sie treiben [z̥e: ˈdrai̯ mp], sie steigen [z̥e: ʒ̥dai̯ ŋk] (Wiesinger 1989: 47).
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Die Paradigmenbildung führt, da die 2. Person Plural immer eindeutig markiert ist, bei Formgleichheit der 1. und 3. Person zum Muster a−b−a. Bei Dentalsuffix − inklusive der Übergangsform [ɐn] − entsteht das Muster a−b−c. Bei enklitischem Personalpronomen in der 1. Person Plural, der dominierenden Form in Niederbayern, liegt stets Dreiformenplural vor. Da an einigen Orten, vor allem im östlichen Niederbayern, die DentalEndung in die 1. Person Plural übernommen wird, entsteht dort wieder Zweiformenplural (SNiB, 5: 291). Neben dem Indikativ werden Konjunktiv-Präteritum-Formen genutzt. Dabei können zwei Flexionsarten unterschieden werden: Die starken Verben bilden den Konjunktiv II mit Ablaut, die schwachen Verben mit einem Suffix [ɐd̥]: z. B. er käme [ˀeɐ̯ kam], er sagte [ˀeɐ̯ ˈsɔ:gɐd̥]. So kann auch, entgegen dem Standarddeutschen, bei schwachen Verben eine eindeutige Konjunktivform gebildet werden. Dieses besondere Suffix kann, da sich die Personalendung anschließt, als Infix aufgefasst werden, das ausschließlich den Modus symbolisiert (SNiB, 5: 323): Tab. 10.4: Paradigma der schwachen Konjunktiv-Präteritum-Flexion am Beispiel sagen Singular Konjunktiv Präteritum
Plural Konjunktiv Präteritum
Standard
Bairisch
ich sagte du sagtest er sagte
Bairisch [ˀi ˈsɔ:gɐd̥] [du ˈsɔ:gɐ(d̥)sd̥] [ˀeɐ̯ ˈsɔ:gɐd̥]
Standard n
[miɐ̯ ˈsɔ:gɐd̥ mɐ] [ˀe:s ˈsɔ:gɐd͜ ̥ s] [de ˈsɔ:gɐd̥nn̩(d̥)]
wir sagten ihr sagtet sie sagten
Bei den starken Verben ist die Formbildung des Konjunktiv Präteritum mit Ablaut hauptsächlich auf diejenigen Lexeme beschränkt, die ein umgelautetes /a/ aufweisen, wie es bei kommen, geben, sehen oder tun der Fall ist. Andere Verben, wie schlagen oder ziehen, bilden den Konjunktiv II analog zu den schwachen Verben mit dem Infix [ɐd̥]: er schlüge [ˀeɐ̯ ˈʃlɔ:gɐd̥], er zöge [ˀeɐ̯ ʦ̮iɐ̯gɐd̥]. Dadurch etabliert sich dieses Infix zunehmend auch bei Verben mit umgelautetem /a/ als Nebenform oder auch als raumbildende Flexionsweise, wie z. B. bei er käme [ˀeɐ̯ ˈka:mɐd] im Nordbairischen (KBSA: Kt. 33). Ein vollständiger Übergang zur schwachen Flexion vom Typ [ˀeɐ̯ ˈkɛmɐd̥], indem der Stammvokal des Infinitivs beibehalten wird, findet z. B. bei kommen und geben nur an wenigen Orten statt; bei sehen (Typ [ˀeɐ̯ ˈsɛ:gɐd̥]; SNiB, 5: Kt. 146) aber ist diese Form schon die dominierende Bildeweise, die starke Flexion findet sich nur noch im Südosten zwischen Vils und Inn. Als Alternative zur synthetischen Konjunktivbildung existiert in ganz Altbayern die Möglichkeit einer syntaktischen Umschreibung mit tun (täte-Umschreibung), nur vereinzelt − vor allem im Bayerischen Wald − auch mit werden (würdeUmschreibung): er täte kommen [ˀeɐ̯ d̥ad̥ ˈkɛmɐ] / er würde kommen [ˀeɐ̯ ßuɐ̯ / ˈßuɐ̯rɐd̥ ˈkɛmɐ] (SNiB, 5: Kt. 137−138). Die Unterscheidung zwischen starkem und schwachem Verb kann im Bairischen, aufgrund des oberdeutschen Präteritalschwundes, hauptsächlich am Partizip Präteritum festgestellt werden. Während das Dentalsuffix {-t} der schwachen Flexion deutlich erkennbar ist und nur bei dentalem Stammauslaut vollständig assimiliert wird, unterliegt die Endung {-en} der starken Flexion den Regularitäten der Nasalassimilation, wie sie bei Infinitiv und 1./3. Person Plural vorkommen. Zusätzlich wird bei allen Verben das
10. Bairisch in Deutschland
Präfix assimiliert: Neben der regulären Synkope des Schwa (Typ gesagt [g̥sɔg̥d̥]) laufen phonologische Prozesse dann ab, wenn der Verbstamm mit Plosiv oder Nasal beginnt: Bei Plosiv wird das Präfix vollständig dem Anlaut angeglichen (Typ gebracht [b̥rɔ:d̥], getrunken [ˈd̥rʊŋɐ], geknetet [g̥nŋɛd̥]). Im Bayerischen Wald kann das zu einer leichten Fortisierung des Anlautes führen (SNiB, 4: Kt. 1 Darm u. Kt. 8 getan). Im Bayerischen Wald kommt es zudem zu einer teilweisen Angleichung bei nasalem Anlaut des Verbstamms: Typ genäht [d̥nna:d̥], gemäht [b̥nma:d̥]. Vor /f/ wird vereinzelt zu [b̥] assimiliert (Typ geflochten [b͜ ̥ flɛxd̥]; SNiB, 5: Kt. 39, 47 u. 48). Zahlreiche starke Verben zeigen einen Übergang von der starken zur schwachen Flexion. Exemplarisch soll das an den Verben schneien und flechten gezeigt werden: Das Lexem schneien zählt im Mittelhochdeutschen noch zu den starken Verben, im neuhochdeutschen Standard aber zu den schwachen Verben. Auch im Bairischen ist dieser Flexionsklassenübertritt zu erkennen: Das Kartenbild (KBSA: Kt. 35) zeigt eine großräumige Verbreitung des Typs [g̥ʃnai̯ b̥d̥] im Donau-Isar-Gebiet Nieder- und Oberbayerns, und auch das Nordbairische kann mit der Form [g̥ʃnai̯ m(b)d̥] (auch: [g̥ʃnai̯ nd̥], [g̥ʃnɛb̥d̥]) zur schwachen Bildung gerechnet werden; hier wird die Nasalassimilation des Infinitivs als Stamm reanalysiert. Dem Stammauslaut [b̥] und der Assimilation zu [m] liegt mittelhochdeutsches /w/ zugrunde (mhd. snîwen). Dass es sich bei der schwachen Flexion um neuere Formen handelt, wird durch die Randlage der starken Bildeweise deutlich: Reste finden sich, in Form des Typs [g̥ʃni:m], zurückgedrängt im Bayerischen Wald und im Westen und Süden Oberbayerns. Das Lexem flechten zeigt, wie der Flexionsklassenwechsel von stark zu schwach graduell abläuft: Neben der starken Form im Nordbairischen und im Bayerischen Wald (Typ [ˈg̥flɔxtnn̩]) und der schwachen Bildung (Typ [g̥flɛçt]), die hauptsächlich in Oberbayern vorherrscht, gibt es vereinzelt zwischen Isar und Inn eine Mischform mit starker Endung, aber mit Grundstufe des Stammvokals: Typ [ˈg̥flɛçtnn̩] (SNiB, 5: Kt. 39; SOB, 3: Kt. 12).
4.2. Nominalmorphologie In der Nominalmorphologie sind Substantiv, Adjektiv, Artikelwörter und Pronomina zu betrachten. Zunächst sei der Blick auf die Flexionskategorien des Substantivs gelenkt: Neben den Deklinationskategorien Genus, Kasus und Numerus stellt die Diminuierung eine Möglichkeit der Wortmodifikation dar, die zwar auch Gegenstand der Wortbildung sein kann, in der Sprachgeographie aber häufig in der Formenbildung abgehandelt wird (Schnabel 2000: 186). Im Genus weichen zahlreiche Substantive von der Standardsprache ab, ohne dass es zu einheitlichen Genuszuweisungen im gesamten altbairischen Gebiet käme. Zwar sind in Grammatiken häufig Lexeme mit abweichendem Genus pauschal verzeichnet, wie etwa Schnecke (bair. [dɐ ˈʃnɛk] mask.), Wespe (bair. [dɐ ˈßeps] mask.), Schokolade (bair. [dɐ ʃokˈla:d̥] mask.), Ecke (bair. [s ˈˀek̥] neutr.), Marmelade (bair. [s mamɛˈla:d̥] neutr.), Schraube (bair. [dɐ ˈʃrao̯m] mask.), Butter (bair. [dɐ ˈbu:dɐ] mask.) (Zehetner 1985: 121−123), doch detaillierte Kartierungen in den Kleinraumatlanten geben ein differenzierteres Bild. Gut zu sehen ist das an dem Lexem Teller, standardsprachlich ein Maskulinum, bairisch ein Neutrum: [s ˈd̥ai̯ ɐ]. In den Sprachatlanten von Oberbayern und Niederbayern sind aber basisdialektal auch zahlreiche Streubelege für maskulines Genus
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vorhanden (SOB, 4: Kt. 18; SNiB, 7: Kt. 35). Eine räumliche Verteilung kann bei Zehe festgestellt werden: Im nordwestlichen Oberbayern gilt tendenziell die maskuline Variante, in der östlichen Hälfte dagegen die feminine (SOB, 4: Kt. 19). Eine sehr scharfe Isoglosse zeigt das Lexem Werfel ‘Kurbel am Drehbutterfaß’, das im südöstlichen Niederbayern (Rottal und Unterer Bayerischer Wald) maskulin ist, im westlichen Gebiet dagegen feminin (SNiB, 7: Kt. 23). Ähnlich verhält sich das dialektale Wort für Biene, bair. Imp [ˀɪmp], das aber nur im Unteren Bayerischen Wald den Feminina zugeordnet wird, ansonsten gilt in Niederbayern die maskuline Form (SNiB, 7: Kt. 25). Das Lexem Honig zeigt sich in ganz Niederbayern als Mischgebiet aus Neutrum und Maskulinum, und zwar offensichtlich unabhängig von den zahlreichen lautlichen Variationen wie etwa [hɛ:g̥] oder [ˈhɛne] (SNiB, 7: Kt. 26). Bei einigen Lexemen scheint es aber dennoch systematische Zusammenhänge zwischen Lautung und Genuszuweisung zu geben. Beispielsweise konnte bei den dialektal der schwachen Deklination zuzuordnenden Lexemen Ameise und Hornisse das Kasusmorphem des Akkusativs in den Nominativ übernommen werden, sodass nunmehr keine morphologische Formbildung mehr vorliegt: Alle Paradigmenformen sind gleich gestaltet: [ˈhuɐ̯nao̯sn̩], [ˈˀɑmoɐ̯sn̩] oder [ˈˀɑmoɪ̯ sn̩]. Das Genus ist dann feminin. Diese Formen liegen aber in Niederbayern hauptsächlich nur im Donauraum und im Bayerischen Wald vor, in den südlichen Gebieten dagegen wurde das auslautende Schwa synkopiert, so dass Wortformen wie [ˈhu:ɐ̯nao̯s] und [ˈˀɑmoɐ̯s] / [ˈˀɑmoɪ̯ s] entstanden, denen heute das maskuline Genus zuteil ist (SNiB, 7: Kt. 32 u. 33) − das Genus scheint bei diesen Lexemen durch die Silbenstruktur motiviert zu sein. Auch im Nordbairischen gibt es zahlreiche regionale Unterschiede in den Genuszuordnungen, so dass jeder Fall dieser Art eine kleine worthistorische Abhandlung für sich verlangt (Rowley 1997: 103). Das Kasussystem ist im Bairischen weitgehend reduziert: Im Singular wurde der Genitiv aufgegeben und durch Präpositionalphrase mit von oder vorangestelltem Dativ ersetzt; Dativ und Akkusativ entsprechen einander, ein Unterschied zum Nominativ liegt bei schwachen Maskulina vor. Im Plural herrscht Einheitskasus (Zehetner 1985: 106). Eine Besonderheit kann in der Kasusmorphologie festgestellt werden, wenn ausdrucksseitig modifizierte Anredeformen als eine Vokativ-Markierung interpretiert werden, z. B. Rufformen wie Seppe [ˈsɛˌb̥e:] oder Hanse [ˈhɑnˌse:] im Vergleich zu den Nominativformen Sepp und Hans. Es kann aber keineswegs von einem grammatisch etablierten Kasusmorphem gesprochen werden, da eine eindeutige Differenzierung zum Familiarisierungsmorphem nicht möglich sei (vgl. Mare [ˈma:ˌre:] vs. Mari [ˈma:re] mit Möglichkeit zahlreicher lautlicher Abstufungen), vielmehr seien beide Bildeweisen der Derivation zuzuordnen (Schnelzer 2013: 164). Insgesamt sind die Paradigmen im Kasus von starker Formengleichheit (Synkretismus) geprägt, so dass in erster Linie Unterschiede in der Kategorie des Numerus vorliegen. Die Unterschiede zum Standarddeutschen sind vielfältig, da auch hier phonologische Prozesse das Vorhandensein bzw. die Form der Endung entscheidend beeinflussen und zu einer grundsätzlichen Abgrenzung zu schwäbischen Formen führt: Es seien hier einige raumbildende, vom Standarddeutschen abweichende Pluralbildungen angeführt: Das Lexem Haufen, das im Standard keinen Singular-Plural-Unterschied aufweist, wird vor allem in Oberbayern endungsindifferent, aber stammvokalmodifizierend mit den Formen Sg. [ˈhao̯fɐ] − Pl. [ˈhai̯ fɐ] (entrundeter Umlaut) verwendet (SOB, 4: Kt. 72), in Niederbayern und im südlichen Nordbairischen wird größtenteils unterschieden, indem im Plural ein Nasal suffigiert wird (Sg. [ˈhao̯fɐ] − Pl. [ˈhao̯fɐn], SNiB, 7: Kt. 50); im übrigen
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Nordbairischen entsprechen sich ansonsten Singular- und Plural-Form, südlich von Weiden als [ˈhao̯fɐ], nördlich dieser Stadt als [ˈhao̯fm̩] (BayDat). Durch die Apokope des auslautenden Schwa oder aber die Übernahme des Nasals in den Nominativ Singular kann regional das Vorhandensein der Nasalassimilation zur morphologischen Markierung genutzt werden, z. B. bei Auge (oberbair. Sg. [ˀao̯g̥] − Pl. [ˀao̯ŋ], SOB, 4: Kt. 94; oberpf. Sg. [ˀao̯x] − Pl. [ˀao̯ŋ]; niederbair. Sg. = Pl. [ˀao̯ŋ], BayDat). Die Apokope des e-Plurals kann dazu führen, dass der Umlaut alleiniger Plural-Marker wird, z. B. bei bair. Kopf Sg. [kho:p͜f] (nördl. Oberpf. [khuə̯p͜f ]) − Pl. [khep͜f] (BayDat; SNiB, 7: Kt. 83−84). Der Plural-Umlaut kann aber auch verallgemeinert werden, so dass die Numerusopposition aufgehoben wird, z. B. bei Wand: Während in Oberbayern weitgehend in Sg. [ßɑnd̥] − Pl. [ßɛnd̥] unterschieden wird (SOB, 4: Kt. 92), fallen in der Oberpfalz und in Niederbayern die beide Formen in der umgelauteten Variante [ßɛnd̥] zusammen (BayDat; SNiB, 7: Kt. 72). Vor allem in Niederbayern, aber auch in der südlichen Oberpfalz wird häufig der Formenzusammenfall aufgelöst, indem im Plural ein Nasal suffigiert wird, sodass ein breites Mischgebiet aus Formengleichheit Sg. = Pl. [ßɛnd̥] und Formendifferenzierung Sg. [ßɛnd̥] − Pl. [ßɛndnn̩] entsteht. Der Umlautplural kann mit der Nasalendung konkurrieren, wie das Lexem Fuchs zeigt: Im gesamten altbairischen Raum gilt im Sg. [fʊks], im Pl. [ˈfʊksn̩] oder [fɪks] (SOB, 4: Kt. 81; BayDat). Dabei ist die Form mit Nasalsuffix im westlichen Oberbayern dominant (entgegen der Raumbildung von Haufen), der Umlautplural im östlichen Oberbayern, dem südöstlichen Niederbayern und der nördlichen Oberpfalz; der Großteil Niederbayerns und die südliche Oberpfalz ergeben ein breites Mischgebiet. Neben dem Nasalsuffix findet auch der er-Plural Verwendung: Bei dem Lexem Wurm stehen dem einheitlichen Singular [ßuɐ̯m] zwei Pluralformen gegenüber, wie bei Füchse ein umgelautetes, endungsloses [ßiɐ̯m] oder ein zweisilbiges [ˈßiɐ̯mɐ]. Dabei dominiert in Oberbayern die einsilbige Form, und auch in Niederbayern und der südlichen Oberpfalz ist das die häufigste Variante: Zahlreiche Streubelege der zweisilbigen Form aber verdichten sich gegen Norden, sodass in der nördlichen Oberpfalz schließlich die Variante [ˈßiɐ̯mɐ] klar überwiegt (SOB, 4: Kt. 83; SNiB, 7: Kt. 98−99; BayDat). Der er-Plural kann auch abweichend vom Standarddeutschen raumbildend wirken: Das Lexem Stein zeigt an den Randgebieten Oberbayerns und vereinzelt in Niederbayern südlich der Donau die Pluralform [ˈʃd̥oɐ̯nɐ] (in München und vereinzelt auch in Oberbayern mit entrundetem Umlaut [ˈʃd̥eɐ̯nɐ]) zum Singular [ˈʃd̥oɐ̯]. Im Werdenfelser Land ist diese Pluralform in den Singular übernommen worden. Vom zentralen Bereich Oberbayerns bis hin zur Donau findet keine Numerusunterscheidung statt (Sg. = Pl. [ˈʃd̥oɐ̯]). Nördlich der Donau tritt die Pluralform [ʃd̥oi̯ ] zutage, die aber nicht auf Umlaut beruht, sondern auf der Phonemspaltung von mhd. [ɛi̯ ] (s. Kap. 3.2.1.: breit − breiter nordbair. [broɐ̯d̥] − [ˈbrɔɪ̯ d̥ɐ]): Die einsilbige Form erhielt den Falldiphthong, die zweisilbige Form − bevor sie zur einsilbigen reduziert wurde − den Steigdiphthong. In der Oberpfalz liegt zumeist Sg. = Pl. vor, überwiegend mit der Variante des Falldiphthongs, wobei die Variante des Steigdiphthongs bei Formengleichheit auch in den Singular übernommen werden kann (Landkreis Schwandorf) (SOB, 4: Kt. 78; SNiB, 7: Kt. 114; BayDat). Abschließend soll noch auf eine Kuriosität vor allem des Nordbairischen hingewiesen werden: Hier kann der Numerus durch Quantität ausgedrückt werden − während im Singular Langvokal vorliegt, die auf Einsilberdehnung zurückzuführen ist, zeigt der Plural Kurzvokal (bei unterbliebener Dehnung), etwa bei Fisch Sg. [fi:ʒ̥] − Pl. [fɪʃ] (SNOB, 1: Kt. 118−119; auch in Niederbayern, SNiB, 7: Kt. 136−137) oder Hund Sg. [hu:nd̥] − Pl. [hʊnt] (SNOB, 1: Kt. 148−149; bis nördlich von München, SOB, 4: Kt. 77; SNiB, 7:
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Kt. 134−135), wobei zusätzlich der Auslaut lenisiert wird. Auch bei Umlaut liegt der Längenunterschied vor, vgl. Kopf Sg. [kho:p͜f] − Pl. [khep͜f] (Hinderling 1980). Als Wurzel kann der Pluralstamm angesetzt werden, aus der die Singularform durch Dehnung und Auslautlenisierung gebildet wird (Rowley 1997: 133). Als kontrasttragend wird die Konsonantenlänge (Fortis) angesehen, da sich daraus die Vokalquantität ableiten lässt (Seiler 2008: 185). Auch wenn, wie bei Hund in Niederbayern, die Längenopposition des Vokals schon häufig aufgegeben wird, bleibt der Gegensatz zwischen Lenis-Konsonant im Singular und Fortis-Konsonant im Plural erhalten. Diese Art der Flexion kann als ein Spezialfall nicht-katenativer Morphologie betrachtet werden, aber auch andere Pluralbildungen fallen darunter, wie die Konsonantenmodulation bei Auge, Sg. [ˀao̯x] − Pl. [ˀao̯ŋ], oder die qualitative Vokalmodulation bei Stein, Sg. [ʃd̥oɐ̯] − Pl. [ʃd̥oi̯ ] (dazu Seiler 2008: 183). Die Quantitätsmarkierung wie bei Fisch und Hund ergibt eine markante Abgrenzung nach Westen, die mit der Nordbairischen Hauptmundartlinie zusammenfällt − im Oberostfränkischen werden die Singulare wie die Plurale mit Kurzvokalen ausgesprochen (bei Hunde kommt der entrundete Umlaut hinzu: [hɪnd̥]). Die Diminuierung erfolgt im gesamten altbairischen Raum durch das Suffix -lein, und zwar mit Subtyp [ɐl]: Diese Variante, wie bei bair. Hündlein [ˈhʊndɐl], grenzt sich deutlich gegen den zweiten Subtyp [lə]/[lɐ] im Westen ab, z. B. schwäb. [ˈhɔndlə]. Im Nordbairischen kann das Suffix auch häufig auf den Konsonanten reduziert werden [ˈhʊndl̩ ], und im niederbayerischen Abteiland sowie im südöstlichen Oberbayern und dem Alpenvorland kann die l-Vokalisierung zur Form [ai̯ ] führen: [ˈhʊndai̯ ]. Insgesamt ergeben sich sehr lexemspezifische Diminutivbildungen: Zum einen kann die Diminutivform die Grundform verdrängen, wie bei Fass [ˈfasl̩ ] (SOB, 4: Kt. 55−56) und Glas [ˈgla:sl̩ ], die dann entweder formgleich mit dem Diminutiv ist oder, wie im niederbayerischen Donauraum, eine neue Form mit Suffix [ɐl]/[ai̯ ] ausbilden: [ˈfasɐl], [ˈgla:sɐl] (SNiB, 7: Kt. 5−6). Außerdem ist, abweichend vom Standarddeutschen, der Umlaut nicht obligatorisch, zu Vogel etwa können Formen ohne Umlaut (Typ [ˈfo:gɐl]) oder mit (entrundetem) Umlaut entstehen (Typ [ˈfe:gɐl], SOB, 4: Kt. 54; SNiB, 7: Kt. 10). Die morphologischen Raumbilder zur Substantivflexion ergeben insgesamt einen sehr heterogenen Eindruck: Eine gewisse Raumbildung ist zwar erkennbar, aber primär an lexikalische Einheiten gekoppelt, so dass der altbairische Raum zahlreiche nicht-konvergierende Isoglossen zeigt. Eine Außenabgrenzung im Nordwesten ist nicht möglich, vielmehr bestätigt sich „die Hypothese einer nordbair.-ostfr. Übergangszone (R. Harnisch 1984) […], die weit über den engen, phonologisch definierten Grenzraum hinausreicht, der herkömmlich über die ‚Nordbairisch[e] Hauptmundartlinie‘ gestülpt wird“ (Rowley 1997: 199). Die Abgrenzung zum Schwäbischen scheint nur auf den ersten Blick sehr deutlich zu sein; auch hier ist aber eher von einem morphologischen Kontinuum auszugehen, da zwar die Morphe durch die phonologischen Prozesse unterschiedliche Lautungen aufweisen, diese aber doch − tiefenmorphologisch − auf ein gemeinsames Flexionselement zurückgeführt werden können, so wie es z. B. auch bei der Infinitivendung der Verben möglich ist (SOB, 4: Kt. 71−102). Eine eindeutige Außenabgrenzung leistet das Personalpronomen der 2. Person Plural im Nominativ und im Akkusativ, die Ausprägungen [ˀe:s] (Nom.) und [ˀɛŋk] (Akk.) gelten als Kennwörter des Bairischen, sowohl in Altbayern als auch in Österreich (KBSA: Kt. 37 u. 39), und grenzen sich gegen ostfrk. [ˀai̯ ç] und schwäb. [ˀui̯ ] ab. Östlich von Bayreuth sind Kontaminationen der beiden Kasusformen vorhanden, der Akkusativ lautet dort [ˀɛŋks]. In der südlichen und östlichen Oberpfalz sind durch falsche Segmen-
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tierung bei Inversionsstellung Varianten wie [diɐ̯d͜ ̥ s] (Wunsiedel, Tirschenreuth), [de:d͜ ̥ s] (Schwandorf) oder [ˀɛd͜ ̥ s] (nördlich von Regensburg) entstanden. Die 1. Person Plural Nominativ zeigt in weiten Teilen Bayerns eine einheitliche Form [ˀuns], wobei sich die nördliche Oberpfalz (Wunsiedel, Tirschenreuth) bei mehrsilbigen Formen (Possessivpronomen) wie unser an die Variante Oberfrankens [ˀʊnɐ] anschließt, indem das /s/ ausfällt. Im südwestlichen und südlichen Oberbayern liegt uns in der umgelauteten und entrundeten Variante [ˀins] bei Personal- und Possessivpronomen vor (KBSA: Kt. 38). In der 3. Person Plural wird anstatt eines dem Standard entsprechenden sie zumeist das Demonstrativpronomen die [de:] verwendet; das Höflichkeitspronomen entspricht dem Standard und wird klitisiert, das Reflexivpronomen in der Höflichkeitsform entspricht dem Dativ Plural des Personalpronomens: Haben Sie sich geschnitten? [hams ˈeɐ̯nɐ ˈg̥ʃni:n]. Eine vom Standard abweichende zweisilbige Gestalt zeigen die Dativ-SingularFormen des Personal- und Demonstrativpronomens des Femininums: stddt. ihr − [ˈˀiɐ̯rɐ], stddt. der − [ˈdɛɐ̯rɐ] (SOB, 4: Kt. 25 u. Kt. 20), das Schwäbische grenzt sich mit einsilbigen Formen deutlich davon ab. Das Fragepronomen zeigt in vielen Gebieten Kasuszusammenfall zwischen Dativ und Akkusativ: Fast ganz Oberbayern tendiert zu Typ [ßen], das Gebiet östlich des Chiemsees bis zur österreichischen Grenze zu Typ [ßem] (SOB, 4: Kt. 21−22). Zum Schwäbischen werden die beiden Kasus differenziert. Die Adjektivflexion zeigt sich im altbairischen Raum recht einheitlich. Die schwache Flexion nach bestimmtem Artikel differenziert nur den Numerus: Suffix Sg. [e] (teilweise auch als [i] notiert) − Pl. /n/ mit entsprechender allomorphischer Realisierung, z. B. der alte Mann [dɐ ˈˀɔi̯ de ˈma:] − die alte Frau [de ˈˀɔi̯ de ˈfrao̯] − das alte Haus [s ˈˀɔɪ̯ de ˈhao̯s] − die alten (Männer/Frauen/Häuser) [de ˈˀɔi̯ dnn̩]. Daneben existiert aber auch flexionsloser Gebrauch im Nominativ Singular, z. B. [dɐ rɔu̯d ˈgikɐl], [de rɔu̯d hen], [s rou̯d ˈsiŋɐl] ‘der rote Hahn, die rote Henne, das rote Küken’ (Klinglbachtal Kr. Regen/ Niederbayern, Rowley 1991: 17; SNiB, 1: 109 mit Kt. 1−2 u. 123 mit Kt. 12). Bei starker Flexion wird das Genus im Singular unterschieden, z. B. ein alter Mann [ˀɐ ˈˀɔi̯ dɐ ma:] − eine alte Frau [ˀɐ ˈˀɔi̯ de ˈfrao̯] − ein altes Haus [ˀɐ ˈˀɔɪ̯ d͜ ̥ s ˈhao̯s] − alte (Männer/Frauen/ Häuser) [ˈˀɔi̯ de]. Im Nordbairischen (Wunsiedel, Tirschenreuth) weicht die Flexion ab: Die schwache Flexion zeigt ein [ɐ] anstelle des geschlossenen [e]~[i] im Singular, die starke Flexion fasst Maskulina und Feminina mit dem Suffix [ɐ] zusammen, im Plural sind diese beiden Genera endungslos: [ˀɐ ˈgelßɐ ˈʒnɔu̯ɐ] eine gelbe Schnur, [ʒɛĩ̯ g̥hei̯ ], [grɔŋk g̥hei̯ ] schöne/kranke Kühe (Rowley 1991: 17−18 u. Kt. 1). Die Komparation wird mit Suffix und bei umlautfähigem Stammvokal mit entsprechender Modifikation durchgeführt, wie im Standard, doch abweichend davon kann der Superlativ, neben eigener Formenbildung, auch durch den Komparativ und sogar durch den Positiv ausgedrückt werden: groß, größer, am größten − [grɔu̯s], [ˈgrɛsɐ], [dɐ ˈgrɛsd̥e] / [dɐ ˈgrɛsɐ] / [dɐ grɔu̯s] (SOB, 4: Kt. 31−32). Bei prädikativem Adjektivgebrauch kann im Nordbairischen Einsilberdehnung und Konsonantenlenisierung eintreten, wie es bei der quantitativen Singularflexion der Substantive der Fall ist, oder auch andere Stammmodifikationen: attributiv kalt [g̥hɔlt], blind [blint], heiß [hoi̯ s] − prädikativ [g̥ho:ld], [bli:nd], [hɑ:z] (Rowley 1991: 2−3 u. 16).
5. Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Syntaktische Phänomene sind zumeist von großräumigerer Natur. Durch den Syntaxteil des Sprachatlas von Niederbayern (SNiB 1) liegt eine gute Dokumentation syntaktischer
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Erscheinungen an der Schnittstelle zwischen Nord- und Mittelbairisch vor. Allgemein verbreitet ist die Differenzierung des bestimmten Artikels nach betonter und unbetonter Variante: Es stehen sich mask. [dɐ] − [ˈdeɐ̯], fem. [d] (auch in Assimilation zu [b] wie bei die Frau [ˈb̥frao̯]) − [ˈde] und neutr. [s] − [ˈdes] gegenüber. Die auf Konsonant reduzierten Formen schmelzen proklitisch an das nachfolgende Substantiv an. Je nach Phrase und Kontext sind unterschiedliche Präferenzen festzustellen, zuweilen treten aber auch recht eindeutige räumliche Verteilungen auf, wie bei der Phrase Gib mir den großen Hammer!, die eine Umsetzung mit bestimmtem und unbestimmtem Artikel zulässt: Während im Nordwesten Niederbayerns die Phrase mit [ˀɐn ˈgrɔu̯sn̩ ˈhɑmɐ] umgesetzt wird, zeigt der Südosten [dɛn ˈgrɔu̯sn̩ ˈhɑmɐ] (SNiB, 1: 119 mit Kt. 8). Eine bairische Besonderheit bei der Artikelverwendung ist die Doppelsetzung bei Graduierung, die als syntaktische Alternativform zum morphologischen Superlativ interpretiert werden kann: Sie funktioniert mit unbestimmtem Artikel (ein recht schöner Vogel [ˀɐa ˈrɛçt ˀɐ ˈʃe:nɐ ˈfo:gl̩ ]) ebenso wie mit dem bestimmten Artikel: das ganz kleine Schaf [des ˈganʦ̮ des ˈgloɐ̯ne ˈʃɔ:f]. Die letzte Phrase findet zwischen Isar und Inn und im Unteren Bayerischen Wald breitere Akzeptanz; das Gebiet ist nahezu deckungsgleich mit der Phrase den großen Hammer, sodass erste Ansätze einer syntaktischen Raumbildung denkbar werden. Hinzu kommt eine weitere Besonderheit, die zwischen Isar und Inn gilt − der unbestimmte Pluralartikel: der Hund hat Flöhe − [dɐ ˈhu:nd̥ hɔd̥ ɔi̯ flɛ:]. Auch bei attribuiertem Adjektiv ist diese Form möglich: er hat große Hände − [ˀeɐ̯ hɔd̥ ɔi̯ ˈgro:sə ˈhɛnt]. Hinzu kommt die konsequente Verwendung des bestimmten Artikels bei Eigennamen − der Peter [dɐ ˈb̥ɛ:dɐ] − der Herr Huber [dɐ heɐ̯ ˈhuɐ̯bɐ]. Das Bairische gilt deshalb als „eine viel konsequentere Artikelsprache als das Standarddeutsche“ (SNiB, 1: 139). Eine besondere Art der Adjektiv- bzw. Partizipialverwendung liegt mit dem sog. prädikativen Attribut vor (SNiB, 1: 187): Während in der Standardsprache nur ein unflektiertes Adjektiv oder Partizip adverbial die Handlung des Prädikats modifizieren kann − als Modaladverbiale −, treten im Bairischen flektierte Adjektive und Partizipien auf, die zudem über die Partikel also, dialektal [ˈˀɔlsɐ], mit l-Vokalisierung [ˈˀɔi̯ sɐ], angebunden sein können: Die Äpfel kannst du grün essen [ˈde ˈˀep͜fe ˈka:st (ˈɔi̯ sɐ) ˈgreɐ̯ne ˈˀesn̩]. Diese syntaktische Konstruktion leistet „Zustands- oder Eigenschaftsangaben, die dem Subjekt oder Objekt zur Zeit des Vorgangs zugesprochen werden, die also im zeitlichen Rahmen des Prädikats liegen.“ (Seidelmann 2005: 142). Dabei gilt „in großen Teilen des bairischen Dialektraums die unveränderliche Form des Nom.Sing.mask. der starken Adjektivflexion“ (Seidelmann 2005: 142 u. Kt. auf S. 148) − im Altbairischen gilt das für das Nordbairische, im Zentralmittelbairischen steht dagegen die starke Form des Nominativ Singular Femininum: Der Osten Niederbayerns grenzt sich mit Formen wie [ˈgreɐ̯ne] von nordbairischem [ˈgreɐ̯nɐ] ab und gehört zu einem größeren Gebiet, das sich auf österreichischer Seite bis hinter Krems fortsetzt. Die Partikel [ˈˀɔi̯ sɐ] wird gegenwärtig allgemein als vergleichendes als ein verstanden, geschichtlich liegt ein verstärkendes allsô ‘ganz so’ zugrunde, das im jeweiligen Verwendungskontext auch heute noch durchaus Sinn macht (Seidelmann 2005: 145); Verwendungsrestriktionen sind möglicherweise durch die alte Bedeutung zu begründen. Geradezu berühmt ist die doppelte Negation im Bairischen: Sie resultiert aus einer Satznegation (Prädikatsnegation mit nicht), die mit einer fokussierenden Negation durch kein gebündelt wird, z. B. der Negation des Akkusativobjekts (SNiB, 1: 197). Dadurch entstehen Sätze wie Ich habe kein (Fokusnegation) Geld nicht (Satznegation) [ˀi ˈha: koɐ̯ ˈgɛi̯ d̥ ned̥]. Diese doppelte Negation, die sich im Standarddeutschen aufheben würde, im
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Bairischen aber verstärkenden Charakter besitzt, kann durchaus noch erweitert werden zu einer dreifachen Negation, indem z. B. ein negierendes Zeitadverb wie nie beigegeben wird: Der hat kein Geld noch nie nicht gehabt [deɐ̯ ˈhɔd̥ koɐ̯ ˈgɛɪ̯ d̥ nɔ ˈniɐ̯ ned̥ ˈkhɔ:d̥]. Zumindest doppelte Negationen sind in ganz Niederbayern geläufig, wenn auch spontane Belege eher selten sind: So ist die Phrase wenn keiner kein Geld hat (SNiB, 1: 227 mit Kt. 26) von den 102 erhobenen Orten nur 15 Mal spontan belegt, aber sonst allgemein als suggerierte Form akzeptiert, sie gelten insgesamt für den altbairischen Sprachraum. Im Ostteil häuft sich auch die Akzeptanz für eine dreifache Negation wenn keiner kein Geld nicht hat, zweimal wurde dieses Syntagma als spontane Äußerung notiert. Gegen eine Interpretation der doppelten Negation als Verstärkung argumentiert Weiß (1998: 221), er sieht vielmehr einen semantischen Unterschied zwischen einfacher und doppelter Negation (Weiß 1998: 213−215). Auch die syntaktischen Fügteile weisen Besonderheiten auf: Für die Präpositionen in, an und auf kann eine Nord-Süd-Verteilung festgestellt werden, die sich durch Formenzusammenfall und Artikelverschmelzung ergibt. Südlich eines Isoglossenbündels, das sich im West-Ost-Verlauf an den Flüssen Isar bzw. Vils und Donau orientiert, fallen generell sowohl die nicht verschmolzenen als auch die verschmolzenen Formen von in und an als [ˀa] bzw. [ˀan] zusammen, z. B. Sie sind im Bett [ˈse: sand̥ ˀan be:t], Es sind Wolken am Himmel [ˀan ˈhɪme], nördlich lauten die Formen, mit deutlicher Dativverschmelzung [ˀɪm]~[ˀem] und [ˀɑm] (Koch 2005: 636 u. Kt. 1−5). Die Nebensatzeinleitungen zeigen, dass die Subjunktion dass nicht nur in dieser Funktion verwendet wird, sondern einer anderen Subjunktion verstärkend zur Seite gestellt werden kann: Untergeordnete Fügungen, z. B. mit bis, seitdem, bevor, können mit diesen Subjunktionen allein oder eben mit nachgestelltem dass konstruiert werden, wie seitdem er geerbt hat / seitdem dass er geerbt hat. Grundsätzlich lässt sich dabei die Konjunktion dass „als eine Markierung der Nebensatzqualität schlechthin, die Konjunktionen bis […] usw. als genauere semantische Spezifizierungen auffassen“ (SNiB, 1: 293). Auch der Relativsatz kann zweifach eingeleitet werden, indem die Relativpartikel wo zu den Relativpronomen dazugesetzt wird; dieses wo kann aber auch alleine stehen, z. B. Das Geld, das ich verdiene [des ˈgɛi̯ d̥ (des) ßo: e fɔˈdeɐ̯]. Insgesamt zeigt sich eine bunte Vielfalt, denn das Geld kann auch über was/das was [(de:s) ßɔ:s] und wie/das wie [(de:s) ßiɐ̯] aufgegriffen werden (SNiB, 1: 315 mit Kt. 2). Eine Kuriosität ist das Vorkommen sogenannter flektierender Konjunktionen (SNiB, 1: 281): Dabei wird die Flexionsendung des Verbs zusätzlich an die Subjunktion gehängt, z. B. Wenn du kommst [ßɛnst kɪmst] − das Personalpronomen du kann bei Betonung stehen [ßɛnst˺ˈdu kɪmst blai̯ b̥ ˈi: dɐˈhoɐ̯m], ansonsten verschmilzt es enklitisch mit dem Dental der flektierten Subjunktion und wird damit praktisch unhörbar. Zahlreiche syntaktische Eigenheiten weist das Prädikat auf. Durch den oberdeutschen Präteritalschwund gibt es faktisch keine synthetischen Präteritalformen, mit Ausnahme von sein: Zwar herrscht bei dem Syntagma als ich noch ein kleiner Bub war zumeist die Periphrase gwen bin vor, mit kontrahierter Form des Partizips, doch ist im Westen Niederbayerns zunehmend auch die synthetische Bildung war anzutreffen, die auch in Oberbayern vorkommen kann (SOB, 3: 126). Eine Besonderheit bildet bei Straubing die Invertierung des Verbalkomplexes in Form von bin gwen [ˈßiɐ̯re no: ɐ ˈkloɐ̯nɐ ˈbuɐ̯ ˈbin gwe:n] (SNiB, 5: Kt. 155). Das Futur wird in der Regel durch das Präsens ausgedrückt. Im östlichen Niederbayern ist aber noch eine Konstruktion aus werden + Partizip I vorhanden, die im Frühneu-
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hochdeutschen besonders weit verbreitet war. Allerdings ist diese Bildeweise nicht mehr produktiv, sie ist vielmehr lexikalisiert, vor allem mit Witterungsverben wie es wird regnend (SNiB, 5: Kt. 157) / schneiend (SNiB, 1: 183 mit Kt. 11) [ˈˀes ßiɐ̯d̥ ˈreŋɐd̥ / ˈʃnai̯ ßɐd̥], mit gehen, wenn jemand oder etwas in Bewegung gerät: jetzt wird er endlich gehend ‘jetzt handelt er endlich’ / der Holzstoß wird gehend ‘der Holzstoß gerät ins Rutschen’, oder mit brennen (SNiB, 5: Kt. 158). Der Fokus wird dabei stets auf den Beginn der Handlung gelegt, auch, wenn sie noch nicht eingesetzt hat, aber der Beginn der Handlung absehbar ist: es wird regnend kann geäußert werden, wenn die ersten Regentropfen fallen, aber auch, wenn erste Anzeichen für Regenwetter vorliegen (SNiB, 5: 372−374). In Oberbayern ist diese Fügung aus werden + Partizip Präsens auf den Ostteil beschränkt; flächendeckend belegt ist für diesen Regierungsbezirk eine andere Konstruktion, kommen zu + substantivierter Infinitiv, die ebenso den Beginn einer Handlung fokussiert: Die Suppe kommt gleich zum Kochen [ˈdsʊb̥nm̩ ˈkɪmb̥d̥ glai̯ ʦ̮ʊn / ʦ̮ʊm ˈkoxɐ] / Der Krischbaum kommt die nächsten Tage zum Blühen [dɐ ˈkeɐ̯ ʃˌbao̯m ˈkɪmb̥d̥ de ˈnɛksd̥nn̩ ˈda:g̥ ʦ̮ʊn / ʦ̮ʊm ˈbliɐ̯n] (Maiwald 2002: 56 u. 62−63). Die letzten beiden Phrasen führen zu einer kontrovers beurteilten Konstruktion des Bairischen: der erweiterte Infinitiv. Da der erweiterte Infinitiv mit zum/zun (zu den Lauttypen SNiB, 5: Kt. 162) angeschlossen wird, kann die Verbform als Substantivierung interpretiert werden − mit der impliziten Schlussfolgerung, verbale Infinitivkonstruktionen gebe es im Bairischen nicht. Weiß (1998: 231−232) dagegen geht grundsätzlich von einem verbalen Charakter der Konstruktionen aus. In Niederbayern liegt häufig eine Reduktion zu [ʦ̮] vor, die proklitisch an den Verbstamm anschmilzt; doch sind flächendeckend auch Vollformen vorhanden. Offenbar liegt zumindest im südlichen Gebiet eine funktionale Differenzierung vor, indem die Kurzform für attributive Infinitivkonstruktionen verwendet wird, die Vollform für modale Infinitive: Tab. 10.5: Formen des mit zu erweiterten Infinitivs attributiver Infinitiv mit Bezug zum Akkusativobjekt nichts: Es gibt nichts zu essen. [ˀes ˈgɪb̥d̥ nɪks ˈd͜ ̥ sesn̩] modaler Infinitiv, in der Bedeutung ‘können’: Er ist nirgends zu finden. [ˈˀeɐ̯ is ˈniɐ̯gɛnd͜ ̥ s d͜ ̥ sɔn ˈfɪndnn̩]
Unter den verbalen Phrasen verdient die Umschreibung der Präsensform mit tun + Infinitiv noch ein besonderes Augenmerk: Als Verlaufsform charakterisiert sie gerade ablaufende Handlungen, z. B. Meine Frau bügelt. [mai̯ ˈfrao̯ d̥uɐ̯d̥ ˈbe:gl̩ n]. Besonders groß ist die Akzeptanz dieser Konstruktion im Nebensatz, wenn im Hauptsatz die zeitliche Aktualität fokussiert wird (Siehst du nicht, dass ich bügle; SNiB, 1: 271 mit Kt. 8−9). Restriktionen entstehen vor allem durch die Aktionsart des Verbs: Die Konstruktion wird bei durativen Verben präferiert, bei nicht-durativen prinzipiell abgelehnt, etwa bei der terminativen Aktionsart von suchen (Vater sucht schon den ganzen Vormittag die Zeitung; SNiB, 1: 277 mit Kt. 14). Als Ersatzform für den Konjunktiv II (s. Kap. 4.1.) und in Fragen ist diese Konstruktion schon weitgehend grammatikalisiert: Spielen wir heute noch Karten? [ˈdeɐ̯mɐ ˈhai̯ d̥nno: ˈkoɐ̯tnn̩ ʃpɛi̯ n] (SNiB, 1: 269 mit Kt. 6). Eine intensivierende Wirkung erzielt die tun-Periphrase im Aufforderungssatz: Schlaf jetzt endlich! [ˈduɐ̯ iɐ̯d͜ ̥ sd̥ ˈɛndle ˈʃlɔfɐ] (SNiB, 1: 263 mit Kt. 1).
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Weitere Forschungsbereiche der Syntax liegen in der Topologie vor: Mehrgliedrige Verbalkomplexe wie Modalverbkonstruktionen mit drei Verben zeigen ebenso dialektale Eigenheiten, die dem Standard gegenläufig sind (z. B. im Nebensatz: … dass er nicht hat arbeiten müssen [ˈda:sɐ ned̥ ˈɔɐ̯ßɐd̥nn̩ hɔd̥ ˈmiɐ̯sn̩], wie auch eine größere Variabilität (SNiB, 1: 233). In der Pronominalsyntax sind zahlreiche Klitisierungen mit reduzierter Lautung zu berücksichtigen, die auch Einfluss auf die Wortstellung des Satzes nehmen (Weiß 2005). Zuletzt sei noch auf ein phonetisches Phänomen aufmerksam gemacht, das durch die syntaktische Reihung der Wörter entsteht − im Hiat können /n/ und /r/ als Hiatustrenner eingesetzt werden, z. B. Wie ich dir schon gesagt habe [ˈßiɐ̯-r-e da ʃo: ˈg̥sɔg̥d̥ ho:b̥], dann gehe ich [dɑn ˈgɛ:-n-e] (SNiB, 5: Kt. 68).
6. Sprachdynamik Die Datenauswertungen des Bayerischen Sprachatlas zeigen deutlich, dass in Altbayern die Dialekte noch gut in ihrer kleinräumigen Struktur erhalten sind. Dennoch ist auch vielfach belegt, dass jüngere Personen, die manchmal in der Explorationssituation anwesend waren, vom Basisdialekt der NORMs (nonmobile, older, rural males, dazu Schmidt & Herrgen 2011: 141) abweichen. Besonders die Stadtdialekte stehen im Spannungsfeld zur Hochsprache und bilden Mischformen mit Breitenwirkung aus, die eine Grundlage für Regiolekte bilden können. Hinzu kommt der Einfluss der Medien, der auch fernab von Großstädten wie München und Nürnberg gerade im prekären Kindesalter maßgeblichen Einfluss auf den Spracherwerb ausüben kann, und zwar nicht nur, wenn beide Elternteile berufstätig sind und wenig Zeit für die Kinder haben: Der Fernsehkonsum gehört ebenso wie Hörspiele, Hörbücher und CDs mit Kinderliedern zum Medienalltag aller Kinder. Die wenigsten der Medien sind dialektal konzipiert, und wenn, dann in der Regel nicht im Ortsdialekt, sondern in einer anderen dialektalen Ausprägung. Da Kinder gerne sprachliche Merkmale von Identifikationsfiguren übernehmen, kann die fortwährende Konfrontation als Sprachkontaktphänomen interpretiert werden, das die soziale Geltung einer Dialektvariante als Prestige-Dialekt fördern kann. Sichtbar wird das in der Ausbreitung der Regiolekte, oder auch in der Verlagerung von Isoglossen. Daneben kann auch immer die Sprachbewusstheit, das Hinterfragen von Sprache in ihrer Struktur und Bedeutung, zum Sprachwandel führen, unabhängig vom Alter der Sprecher.
6.1. Prestige-Dialekte In Altbayern gilt das Mittelbairische als Prestige-Dialekt. Gerade im Übergangsraum vom Mittelbairischen zum Nordbairischen ist das bemerkbar, aber auch an der Außengrenze zum Schwäbischen. Außerdem gewinnt das Ostfränkische im Nürnberger Kontaktraum an Gewicht. Das Nordbairische genießt, von den umgebenden Dialekten her gesehen, weniger Prestige. Das zeigt sich insbesondere an der Zurückdrängung der Isoglossen zu den sog. gestürzten Diphthongen, die als Schibboleth für das Nordbairische gelten und häufig in Spottversen auftauchen. In Niederbayern tendieren die Städte Straubing und Kelheim zu den mittelbairischen Lautungen und strahlen entsprechend in das Umland aus (KBSA:
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64); Regensburg hat diese Lautungen schon früher übernommen und galt deshalb lange als mittelbairische Sprachinsel im Nordbairischen, bis vom Süden her die Lautungen zu Regensburg aufgeschlossen haben (s. Kap. 3.2.1.). Auch konfessionelle Gründe können das Prestige des Mittelbairischen fördern: In der christlichen Lehre wurde die südliche Aussprache eher geduldet, zentrale Begriffe wie Vater und Mutter waren lediglich schriftnah, allenfalls mit mittelbairischer Färbung, geduldet, eine „nordbair. Mouda Gottes erscheint schon fast als Gotteslästerung“ (Hinderling 1996: 127). Die Übernahme der südlichen Prestige-Lautungen erfolgt dabei nicht konsequent, sie ist vielmehr in Häufigkeitsverlagerungen festzustellen, indem relativ willkürlich einmal die nordbairische, einmal die mittelbairische Variante gewählt wird, wobei die letztere zusehend mehr Anteil gewinnt (Zehetner 1985: 69): In einem Regelabbauschema, das auf einer sozialen „Differenzierung des Informantenkreises in Alte und Junge, Arbeiter und Angestellte, Männer und Frauen, Stadt- und Landbewohner“ (Bücherl 1982: 16) beruht, wird erkennbar, welche Regel eher, welche später kontinuierlich, bis zur völligen Aufgabe, abgebaut wird: Es ist zwar recht schwierig, psychologische Phänomene − Prestige ist ein sozialer und psychologischer Faktor − empirisch nachzuweisen; die Verhältnisse bei den komplementären Regeln können aber doch als Indiz dafür herangezogen werden, daß es sich beim Wechsel von der nordbairischen zur mittelbairischen Mundart − psychologisch gesehen − um Dialektabbau handelt. (Bücherl 1982: 19; Hervorhebung im Original, G. K.)
Diese lautlichen Ergebnisse können durch verbmorphologische Befunde gestützt werden: Die Verwendung der 3. Person Plural [n̩d̥] ist expansiv, wie ein Vergleich des Deutschen Sprachatlas (DSA) mit den Daten des Sprachatlas von Nordostbayern zeigt. Durch die ähnliche Verteilung der enklitischen Endung [mɐ] der 1. Person Plural kann auch bei dieser Endung auf eine Ausbreitung gegen Norden geschlossen werden (Bachmann & Scheuerer 1995: 9−12 mit Kt. 1−4). In Niederbayern dagegen wird südlich der Donau der Dental der 3. Person Plural zugunsten der Endung [n̩] aufgegeben, wohl unter regionalisierendem Einfluss Münchens (Wiesinger 1989: 45). Auch in Richtung Österreich kann eine Ausbreitung des [mɐ]-Suffixes der 1. Person Plural festgestellt werden: Bei Simbach/Braunau schiebt sich die Endung Richtung Staatsgrenze vor, bei Passau greift sie sogar auf österreichische Nachbarorte wie Freinberg über (Scheuringer 1990: 265). Großräumige, regionalsprachliche Ausbreitung kann bei der Liquiden-Vokalisierung festgehalten werden: Die mittelbairische l-Vokalisierung erreicht im Norden den Lech, der Lechrain weist bereits „ü-haltigen Klang“ (KBSA: 65; s. Kap. 3.1.1.) auf; die rVokalisierung, die nach Kranzmayer in den 1970er Jahren München erreichte, ist nach Datenlage des Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben bereits bis zum Lech vorgedrungen. Die Belege zur l-Vokalisierung lassen erkennen, dass sich die oberbayerische Lautqualität [ui̯ ], ausgehend von der Sprachregion München, auf Kosten der [ɛi̯ ]-Lautungen ausbreitet und mittlerweile den Westen Niederbayerns erfasst hat (Zehetner 1985: 80). Das Prestige des mittelbairischen Dialekts, insbesondere der Münchner Prägung, bewirkt nicht nur innerbairischen Dialektwandel, sondern beeinflusst auch zunehmend das im Westen angrenzende Schwäbische: Neben lexikalischem Gut (Bavarismen) sind es auch grammatische Erscheinungen der Flexionsmorphologie (Renn 2004: 73). In der Verbflexion kann das „sukzessive Vorrücken des bairischen -TS“ (Rabanus 2008: 180) in der Flexion der 2. Person Plural Präsens Indikativ konstatiert werden, in der Stadtregion Augsburg haben die jüngeren Sprecher dieses Flexiv fast völlig gegen das bodenständige -t eingetauscht (Renn 1994: 106−107 u. 257 mit Kt. 57).
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6.2. Stadtdialekt Die Ausführungen zum Prestige der Dialekte machen bereits deutlich, dass die städtische Prägung der Varietäten unmittelbar mit sozialem Ansehen gekoppelt ist. Kleinere Städte wie Passau sind zwar gut in den Dialekt des Umlands integriert, zeigen aber doch hie und da kleinere Besonderheiten, die zur latent dominierenden Regionalsprache tendieren. Der entscheidende Schritt, weshalb sich Regensburg vom Nordbairischen abkehrte und sich zur mittelbairischen Varietät bekannte, liegt in der Konfessionszugehörigkeit: 1542 wandte sich die Stadt dem Protestantismus zu und war Auffangbecken zahlreicher Exulanten aus katholischen Gegenden Österreichs und Bayerns. Dies führte zu konfessioneller und kultureller Isolation. Im 19. und 20. Jahrhundert sank das Nordbairische in der Stadt zur Sprache des Dienstpersonals herab, der sog. Kocherl-Sprache, die Bildungsbürgerschicht bediente sich eines „Regensburger Honoratioren-Bairisch“ (Zehetner 2005: 216) mit zahlreichen mittelbairischen Merkmalen. Diese Stadtsprache blieb auch nach Eingliederung der Vororte auf den alten Stadtkern beschränkt, erst die Aufnahme tausender Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg und die beginnende Industrialisierung der 1960er Jahre führte zu einer breiteren Verwendung des Mittelbairischen als Stadtsprache (Zehetner 2005: 215−218 u. Kt. auf S. 219). Die Münchner Varietät des Mittelbairischen avanciert zum Regiolekt, indem dialektale Merkmale zugunsten des Standarddeutschen aufgegeben werden und eine Verbreitung dieser Varietät durch die Medien stattfindet. Einen maßgeblichen Faktor für die Aufgabe dialektaler Merkmale stellt der Zuzug orts- und dialektfremder Personen dar, doch auch im Erstspracherwerb werden zusehend weniger Dialektformen transportiert. Ein Sonderprojekt des Sprachatlas von Oberbayern, das der Sprachregion München (SOB SRM) gewidmet ist, zeigt deutlich die Generationenschritte, in denen basisdialektale Lautungen sukzessive aufgegeben werden (SOB SRM: 25 mit Abb. II): In den 50er Jahren wurden durch beständigen Zuzug die alten Siedlungsstrukturen aufgelöst; in den gehobeneren Wohnvierteln ließ sich die zumeist nicht bairischsprechende Oberschicht nieder, zum einen waren es Fremde, zum anderen konsequente Dialektvermeider, da „prestigebewußt und aufstiegsorientiert“ (SOB SRM: 15). Auch alte Stadtteile wurden bald Spekulationsobjekt der Immobilienwirtschaft, sodass sich die traditionell sprechende Bevölkerungsschicht die bald horrenden Mietpreise nicht mehr leisten konnte. Innerhalb eines Jahrzehnts (1957−1967) kam eine Million Menschen nach München, 750.000 zogen weg und 100.000 Bürger wechselten ihre Bleibe innerhalb des Stadtgebiets (SOB SRM: 15). Auch der wachsende Ausländeranteil ist zu berücksichtigen, es darf dabei aber nicht vorschnell auf die Ausbildung eines Ethnolekts geschlossen werden, denn die in den 50er und 60er Jahren geborenen Gastarbeiterkinder sprachen noch „‚astreines‘ Münchnerisch“ (SOB SRM: 15), bevor sich dann in den 70er Jahren die tertiären Ethnolekte (Kanak Sprak) etablierten, die auch von der deutschsprachigen Jugendkultur maßgeblich adaptiert und transportiert wurden. Die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre Geborenen können als Multimedia-Generation bezeichnet werden, der ab den 80er Jahren die dialektlose Generation folgte: Die wenigen Kinder, in deren Familien auch nach zwei Jahrzehnten allgemeiner Dialektverteufelung dennoch Dialekt gesprochen wurde, hatten angesichts der „Nordsprech“-Majoritäten in den Kindergärten und spätestens in den Grundschulen keine Chance mehr, ihre in den ersten Lebensjahren erworbene Dialektkompetenz zu bewahren. Heute ist bereits in Kindergärten und in Grundschulen in der Stadt und im stadtnahen Raum kaum noch ein bairischer Laut von Kindern und
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II. Die Sprachräume des Deutschen Jugendlichen zu hören. Die wenigen, noch fallweise auf mundartliche Formen zurückgreifenden Kinder sind gehänselte Außenseiter innerhalb der Klassenverbände. (SOB SRM: 24)
Im Projekt Sprachregion München werden diaphasische, diasexuelle und diastratische Variation kombiniert als Symbolsäulen dargestellt, um das Sprachverhalten der jüngeren und mittleren berufstätigen Personen beiderlei Geschlechts zu erfassen, die berufsbedingt eher standardsprachlich oder dialektal kommunizieren. So zeigt z. B. die Einsilberdehnung bei Nacht, dass das lange, verdumpfte /a/ in [nɔ:xd̥] basisdialektal in Stadtteilen wie Allach, Pasing, Perlach oder Riem/Daglfing noch belegt ist, die sprachdynamisch differenzierte Befragung aber ergibt ein ganz anderes Bild: Die alte, dialektale Form wurde fast vollständig von allen Probanden als standardnahe Form [nɑxd̥] artikuliert, mit gesenktem und gekürztem Stammvokal (SOB SRM: Kt. 5). Bei dem Belegwort Gabel dagegen zeigt sich, dass der offene, lange Stammvokal in verdumpfter Form − [ˈgɔ:ßə] − weitgehend bewahrt blieb, bis auf die jüngste, berufsbedingt standardnahe Generation, die neben der dialektalen auch die standardnähere Form mit [ɑ:] nennt (SOB SRM: Kt. 7). Dass die l-Vokalisierung fest zur Regionalsprachlichkeit Münchner Prägung gehört, zeigen Belegwörter wie Pelz, Geselle oder zwölf (SOB SRM: Kt. 22), die von allen Gewährspersonen mit [ɛi̯ ] artikuliert werden. Dennoch sind auch hier Einbrüche zu verzeichnen: Das Lexem Hölle wird von der jüngsten Münchner Generation fast ausschließlich standardkonform als [ˈhœˑlə] ausgesprochen − Ursache dafür ist wohl, dass es sich dabei um ein Lexem aus dem religiösen Wortschatz handelt. Werden Wörter aus dem ländlichen Alltag − z. B. Pflug − erfragt, so verwundert es kaum, dass hier der alte Falldiphthong im Stadtgebiet fast vollständig dem standardsprachlichen Monophthong gewichen ist (SOB SRM: Kt. 104), da dieses Lexem keinen unmittelbar zugänglichen Referenten der Lebenswelt mehr bezeichnet; bei Wörtern wie Bruder dagegen ist die [uɔ̯]-Lautung noch gut belegt − bis auf die jüngere, weibliche, standardorientierte Berufsschicht. Insgesamt kann festgestellt werden, dass sich Münchner Lautformen regionalsprachlich immer mehr durchsetzen: Aufgrund ihrer Affinität zur Standardsprache und dem damit verbundenen Prestige entwickelte die Stadtmundart Münchens eine starke Expansions- und Innovationskraft. Dieses moderne Mittelbairisch breitet sich, wie bereits anhand der DSA-Erhebungen vor über 100 Jahren ersichtlich, zunächst entlang der Verkehrswege aus, schafft sich neue Aktionsbasen in größeren Orten im gesamten mittelbairischen Sprachraum, von Rosenheim bis nach Ingolstadt und von Landshut bis nach Passau. (Stör 1999: 16)
Eine ähnliche Untersuchung wurde im Rahmen des Sprachatlas von Mittelfranken für den Ballungsraum Nürnberg (SMF SRN) angelegt. Für das Zentrum wurden Angestellte und Handwerker beiderlei Geschlechts aus drei Generationen befragt, bei den Erhebungen im Umland wurden auch Erwerbstätige aus der Landwirtschaft berücksichtigt. Aus der Lexemliste (Tab. 10.2 in Kap. 3.1.3.) zum Dialekt des Nürnberger Raums ergibt sich ein sprachdynamisches Bild mit grundsätzlichem Erhalt der grundmundartlichen Lautungen, doch zeigen sich durchaus gruppenspezifische Abweichungen im Stadtzentrum: Brot [broʊ̯d̥] (SMF SRN: Kt. 82a−b) wird von der jüngeren Generation mit standardnahem Monophthong artikuliert, aber auch ältere weibliche Gewährspersonen meiden die dialektale Lautung, obwohl sie bei Lexemen wie Floh oder groß durchaus geläufig ist. Bei böse und Schnee fällt das Ergebnis sehr unterschiedlich aus: Während böse (SMF SRN: Kt. 75a−d) weitgehend mit stabilem Diphthong artikuliert wird, teilweise qualitativ
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modifiziert und auch monophthongiert, herrscht bei Schnee (SMF SRN: Kt. 67a−d) fast ausschließlich Monophthong [e:] vor − bei basisdialektal durchgehend diphthongischer Realisierung bei den Landwirten außerhalb des Stadtzentrums. Der gestürzte Diphthong ist bei gut (SMF SRN: Kt. 106a−d) noch sehr stabil, nur die jüngere Generation neigt zu standardsprachlicher Monophthongierung, ebenso bei den Lexemen tief (SMF SRN: Kt. 99a−d) und Kühe (SMF SRN: Kt. 104a−d), die auch von der mittleren Generation bereits häufig (ca. ein Drittel der Belegwörter) monophthongiert werden. Bei Kühe tendiert die mittlere Generation eher zu [i:], der oberostfränkischen Variante, die jüngere Generation dagegen zu standardsprachlichem [y:]. Grundsätzlich überwiegen aber bei allen bislang dargestellten Lautungen die nordbairischen Realisierungen. Auch die oberostfränkischen Anteile am Nürnberger Raum erweisen sich im Stadtgebiet als stabil, vor allem der charakteristische Monophthong bei heiß (SMF SRN: Kt. 111a−d), der nur wieder von der jüngeren Generation standardsprachlich diphthongiert wird. Bei Ofen (SMF SRN: Kt. 38a−d) ist das ebenso, doch fällt auch auf, dass ältere Frauen stärker zu [o:] neigen als Männer − das ist zwar die standardsprachliche Form, aber zugleich auch die nordbairische. Der Plural Vögel [ˈfi:gl̩ ] (SMF SRN: Kt. 35a−d) wird von der mittleren Generation, und zwar auch in den Randgebieten, fast völlig durch den Monophthong [e:] verdrängt; die jüngeren Gewährspersonen setzen den Stammvokal wie zu erwarten eher standardnah um. Erstaunlich aber sind zwei Hyperkorrekturen, die nach den Regeln des Nordbairischen zur Variante [ˈfɛi̯ gl̩ ] führt. Der Stammvokal von mähen kann mit dem von Nägelein (SMF SRN: Kt. 44a−d) verglichen werden; die dialektale Variante mit geschlossenem [e:], wie sie noch in der älteren und mittleren Generation gut vertreten ist, wird von der jüngeren Generation fast vollständig zugunsten eines geöffneten, standardnahen [ɛ:] aufgegeben. Aus diesem Befund lässt sich schwer erkennen, ob die jüngere Generation tatsächlich mehr zur ostfränkischen Varietät tendiert (so Zehetner 1985: 66), zumindest, was den generationenbezogenen Sprachwandel anbelangt. Vor allem Hyperkorrekturen wie die bei Vögel geben eindeutige Hinweise darauf, dass das Nordbairische im Sprecherbewusstsein eine wesentliche Rolle für die sprachliche Identifikation spielt (zur Ausbildung einer eigenen, auf großstädtischem Selbstbewusstsein beruhenden „fränkischen“ Varietät vgl. Harnisch, Art. 12 in diesem Band: Kap. 6.). Neben den städtischen Zentren müssen auch noch kurz die ländlichen Gebiete angesprochen werden, die teilweise ganz ähnliche soziale Umformungen erfahren, wenn sie stark vom Tourismus geprägt sind. So war im Werdenfelser Land in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch den stetig wachsenden Tourismus ein rasches Wachstum zu verzeichnen, das viele Ortsfremde nach Garmisch-Partenkirchen führte und „die Mundartsprecher zur Minderheit werden ließ.“ (Stein-Meintker 2004: 141).
6.3. Sprachbewusstheit als Neuerungsfaktor: Reanalyse und Synchronisierung Sprachdynamische Einflüsse schärfen die Sprachbewusstheit der Sprecher. Die vielfältigen Vergleichsmöglichkeiten bieten etliche Analogieschlüsse zur Auswahl und werden vereinzelt, vor allem bei Unsicherheiten in der Bildung dialektaler Formen, als Lösungsweg herangezogen. Insbesondere die Nasalassimilationen scheinen eine Quelle der Neuerung darzustellen, da sie tendenziell die Wortformen verkürzen, so dass sich mundartli-
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che Kurzformen und standardsprachliche Langformen gegenüberstehen. Der Dialektsprecher kann bei einer Modifikation der ursprünglichen dialektalen Form in beiderlei Hinsicht systemangemessen reagieren: Einerseits erfolgen Restitutionen scheinbar verloren gegangener Endungen gemäß standardsprachlichem Vorbild, andererseits folgen diese Mechanismen den dialektalen Vorgaben der Endungsvariation (s. Kap. 4.1. zur Infinitivendung). Einige dieser Restitutionsbestrebungen betreffen die Infinitivform, andere den Plural der Substantive, und auch das Diminutiv (dazu Koch 2008a) unterliegt Neuerungsprozessen, die der Ausdrucksseite zum einen mehr Transparenz verleihen sollen, zum anderen den Prinzipien des konstruktionellen Ikonismus folgen. So wird in Niederbayern den Verben heuen (< mhd. hiuwen) und eggen, die durch Nasalassimilation zu [hae̯ŋ] und [ˀe:ŋ] verkürzt werden, durch neuerliches Anhängen eines Infinitivmorphems in eine Zweisilbigkeit überführt, die zum einen durch die Standardsprache vorgegeben ist (Makrosynchronisierung), zum anderen aber auch dialektal bei Wörtern mit Stammauslaut auf Nasal fest verankert ist, wie z. B. bei fangen [ˈfɑŋɐ] (Mikro- bzw. Mesosynchronisierung). Die ausdrucksseitige, analoge Angleichung an Verben wie fangen gliedert assimilierte Verben strukturell den nicht-assimilierten Verben an, eine Lemmatisierung unter Auflösung der Nasalassimilation macht aber die Doppelung der Endung sichtbar: heu-en-en [ˈhae̯-ŋ-ɐ], egg-en-en [ˈˀe:-ŋ-ɐ]. Durch Reinterpretation der assimilierten Form als Stamm, der in das Verbparadigma übernommen wird (vgl. Part. Prät. ge-egg-t [g-e:ŋ-d̥]), gewinnt die Flexionsbildung an Transparenz. Bei den beiden genannten Verben ist eine Raumbildung in Niederbayern erkennbar, wenn auch eine konträre: Die geographische Abweichung darf deshalb als Indiz für eine eher spontane Entwicklung gelten, die der Sprachreflexion entspringt (Koch 2008b: 153−157 u. Kt. 1− 2). Auch bei Substantiven können solche Restitutionen entdeckt werden: Der Singular Taube [dao̯m], der im Dialekt mit der Pluralform Tauben zusammenfällt, kann als echter Singular reinterpretiert werden, wenn im Plural eine neue Endung, dialektkonform als [ɐ], angehängt wird, so dass sich Sg. [dao̯m] − Pl. [ˈdao̯mɐ] gegenüberstehen. Dadurch werden auch ikonische Prinzipien erfüllt, indem ein semantisches Mehr auch ein ausdrucksseitiges Mehr einfordert. Zuweilen kann dies sogar zu einer nochmaligen Suffigierung führen, wie das Beispiel Plural Ketten [ˈke:nɐn] zeigt, das als Kett-en-en-en [ˈke:-n-ɐ-n] segmentiert werden müsste (Koch 2008b: 158 mit Kt. 4). Vor allem im bairisch-schwäbischen Übergangsraum − dort treffen bairische assimilierte und schwäbische nicht-assimilierte Formen aufeinander, aber auch apokopierte oder restituierte Formen − können mikro- und mesosynchronisierende Prozesse festgestellt werden, die zu solchen Restitutionen durch analoge Übertragung führen; die Lexeme Sohle und Seife zeigen unterschiedlich fortgeschrittene sprachgeographische Stadien dieser Entwicklungen auf (dazu Koch 2008b: 159−165 u. Kt. 6−7). Vereinzelt treten Belege für Prozesse dieser Art in ganz Altbaiern auf, wie etwa auch in der Oberpfalz, wenn z. B. durch Makrosynchronisierung die Pluralform Füchse [fɪks] vereinzelt mit zusätzlicher Endung versehen wird: [ˈfɪksə].
7. Vertikale Register Die im Jahre 1771 von Bildungsreformer Heinrich Braun verordnete Schulpflicht in Bayern bildet den Ausgangspunkt einer sich langsam entwickelnden, aber bis zum heuti-
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gen Tage weitreichenden Durchdringung Bayerns mit dem Schriftdeutschen − wurden anfangs Lese- und Schreibfähigkeiten vermittelt, die meist, wenn überhaupt, nur marginalen Anteil am Alltag hatten, so steht heute in den Schulen der systematische Erwerb der Standardsprache im Mittelpunkt der Ausbildung: Diese führt sukzessive zu einer Inneren Mehrsprachigkeit, einem „Nebeneinander mehrerer Varietäten, die von einer Normsprache, vor allem im schriftlichen Sprachgebrauch und in öffentlichen Umgebungen, überdacht werden und zudem in einer engen sprachverwandtschaftlichen Beziehung stehen“ (Wildfeuer 2009: 61). Entgegen der Sprachbarriere-Diskussion der 1970er Jahre wird nunmehr Dialekt als Bildungsaufgabe begriffen und ist in den Lehrplan integriert; das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Wissenschaft und Kunst (2015) entwickelte 2006 erstmals eine umfangreiche Lehrerhandreichung mit zahlreichen Unterrichtsmaterialien. Als Auslöser für diese Entwicklung kann eine Zeugnisbemerkung in Oberbayern gelten, die verdeutlicht, dass die Sprachbarriere-Diskussion im Jahr 1999 noch längst nicht überwunden war: „Florian hat Probleme, sich verständlich auszudrücken, da er zu Hause nur bayerisch redet.“ (Huber 2014). Durch den Förderverein Bayerische Sprache und Dialekte e. V. wurde diese Bemerkung publik, es entbrannte eine heftige Diskussion um den Stellenwert von Dialekt in Schule und Gesellschaft, zahlreiche Initiativen zur Stützung der Dialekte wurden ins Leben gerufen − etwa auch das Projekt MundART WERTvoll als Teil des von Ministerpräsident Horst Seehofer 2010 initiierten Zusammenschlusses „Wertebündnis Bayern“ (u. a. Stiftungen, Arbeitsgemeinschaften, Lehrerverbände). Die vertikale Stratifikation der Sprachvarietäten sieht in Altbayern sehr unterschiedlich aus. Während am Land die Sozialisation noch primär im Basisdialekt stattfindet, sind in städtischer Umgebung die hochsprachlichen Einflüsse dominant. Hinzu kommen die standardsprachlich orientierten Medien, die auch im ländlichen Bereich ihre Spuren hinterlassen. Zumindest in den stark dialektal geprägten Gebieten findet ein Schriftspracherwerb statt, der auf mundartlicher Artikulationsbasis in gesprochene Sprache umgesetzt wird: Typische Merkmale dieser Aussprache sind z. B. das zurückverlagerte [ɑ], die generelle Verwendung eines stimmlosen [s], die Aussprache der Endung -ig mit Plosiv (z. B. [ˈkø:nɪk]). Viele dieser Merkmale gehen mit den westlichen Dialekten des süddeutschen Sprachgebietes konform, sodass eine überregionale Leseaussprache vorliegt, für die sich langsam der Begriff „Südhochdeutsch“ zu etablieren scheint (Höfer & Höfer 2012; Kronsteiner 2014; Stellmacher 2002: 206−207). Aus der Außenperspektive wird diese Leseaussprache z. T. als „Dialekt“ bezeichnet; in einer Studie zur HörerurteilDialektalität reicht das Spektrum von „reines Hochdeutsch“ bis „tiefster Dialekt“, wobei die meisten Urteile eine gemäßigte Hochlautung aufgrund von Restarealität konstatieren (vgl. Kehrein 2009: 27−28). Diese Restarealität fällt im bundesweiten Vergleich, gemessen am phonetischen Abstand dialektaler und standardkonformer Daten (objektsprachliche Dialektalität), für das Nord- und Mittelbairische am höchsten aus, so dass die Hörerurteile durchaus die empirisch nachweisbare Dialektalität abbilden (vgl. Kehrein 2009: 39 u. 48). In der schriftlichen Sprachproduktion sind Eigenheiten aus der Morphologie und Syntax zu erkennen, wie etwa die Hebung in der 1. Person Singular Präsens ich nehme − ich nimm (Löffler 1982: 532 u. 536), oder fehlender Umlaut bei den Singular-Formen von tragen, wie er trägt − er tragt (Zehetner 1977: 108), generelle Verwendung des Perfekts anstelle des Präteritums oder abweichende Serialisierung im Verbalkomplex. Einige dieser Abweichungen, wie die Perfektverwendung und auch die Anordnung im
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Verbalkomplex, sind im Standarddeutschen durchaus zu tolerieren; solche Merkmale bleiben dann auch in der Sprachverwendung geübter Standardsprecher bairischer Provenienz erhalten. Diese vom Dialekt her angenäherte Standardsprache kann in umgangssprachlichen Registern mit weiteren mundartlichen Formen durchsetzt werden, typisch ist etwa die Aussprache des Artikels bzw. Pronomens das als [dɛs], während die Subjunktion dass als [das] artikuliert wird, oder eine reduzierte Aussprache unbetonter Personal- oder Indefinitpronomina (er − [ɐ], mir − [mɐ] − man [mɐ]), eine dialektnahe Form der Negationspartikel nicht als [nɛd̥]. Solche Formen können in entsprechender graphischer Umsetzung auch in schriftsprachlicher Kommunikation vorkommen, etwa in der E-Mail-Korrespondenz von Vereinsmitgliedern. Bemerkenswert ist auch der Sprachgebrauch Jugendlicher: Schüler „dialektstarker“ Regionen verwenden nicht unbedingt den Jugendwortschatz, der in Wörterbuchform propagiert wird und davon ausgehend mediale Verbreitung findet, sondern greifen vermehrt auf mundartliche Versatzstücke zurück (Koch 2013: 262−263). Im Projekt Regionalsprache.de (REDE) wurden im gesamten deutschen Sprachgebiet die vertikalen Sprachregister erhoben. Eine für das mittelbairische repräsentative Analyse aus dem oberbayerischen Gebiet um Trostberg liegt mit Kehrein (2012: 250−275) vor, basierend auf Daten aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. In dieser ländlichen Gegend hat sich noch keine Regionalsprache etabliert, die in absehbarer Zeit den Dialekt im alltäglichen Gebrauch ablösen könnte. Vielmehr ist hier der Dialekt in allen Situationen des alltäglichen Sprechens die einzige Varietät, die allerdings durch Variabilisierung verschiedenster Dialektmerkmale den Sprechsituationen angepasst werden kann. Eine endgültige Substitution basisdialektaler Merkmale durch standardnahe Formen − das würde zur Ausbildung eines Regiolekts führen − hat noch nicht stattgefunden, kann allenfalls bei der jüngsten Generation ansatzweise erkannt werden. Es liegt eine Diglossie-Situation mit klaren Gebrauchsdomänen vor, Standardsprache ist der Schriftlichkeit zuzuordnen, dialektale Sprechweise der Mündlichkeit. Alle im Zuge dieses Projekts beteiligten Sprecher gaben an, sich dem Interviewer gegenüber in ihrem Dialekt zu mäßigen, ein „Mittelding“, ein „gemäßigtes Hochdeutsch“, ein „zivilisiertes“ oder „entschärftes Bayrisch“ zu sprechen, aber eben nur soweit, dass die Verständigung gesichert ist, es werden keine konsequenten Substitutionen durch Standardformen vollzogen. In den Interviews machen die Standardformen weniger als ein Drittel der Sprachdaten aus, mit Ausnahme eines jungen Sprechers, dessen Varietät in dieser Situation als Regiolekt bezeichnet werden kann, der aus der Standardsprache abgeleitet ist. Ein klares Indiz für die Vitalität des Dialekts in dieser Gegend ist, dass keine falschen Dialektformen gebildet werden; insofern liegt kein Wechsel zwischen Dialekt und Regiolekt vor, sondern ein Sprechlagenwechsel innerhalb des Dialekts aufgrund Variabilisierung. In der Vorleseaussprache finden sich dann auch einige remanente Dialektmerkmale, die von den Sprechern nicht kontrolliert werden können. Neben den oben angeführten Merkmalen der Leseaussprache ist insbesondere eine Realisierung des schriftsprachlichen Diphthongs [a̱e̯] als [æe̯], mit gehobener und vorverlagerter Diphthongkomponente, zu beobachten. Ein stimmhaftes [z] wird durchaus, vor allem intervokalisch, artikuliert, doch ist die Distribution gemäß der Standardlautung nicht bekannt. Dass das apikale [r] grundsätzlich nach Vokal als vokalisches Allophon gesprochen wird, führt bei zunehmender Standardnähe zu einer Substitution durch die konsonantische Variante, sodass am Ende sogar Hyperkorrekturen der im Standard korrekten r-Vokalisierungen stattfinden. Diese Hyperkorrekturen stammen als Prestige-Merkmal aus der Zeit, als die Schriftsprachlichkeit eingeführt
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wurde. Ebenso können Vollvokale der Nebensilben, z. B. beim ge-Präfix als [gě], als solche alten Prestigemerkmale erklärt werden. Die l-Vokalisierung ist in der Leseaussprache nicht mehr vorhanden. Diese remanenten Dialektmerkmale begegnen auch in der Sprechweise von Personen des öffentlichen Lebens, z. B. bei Politikern. Zuletzt sei noch die Rolle der Medien thematisiert: Regionale Radiosender sind, auch wenn sie sich beim Verlesen der Nachrichten am „Südhochdeutschen“ orientieren, durchaus näher am lokalen Kolorit der Dialekte angesiedelt, um eine Hörerbindung zu erreichen. Dagegen müssen sich das Fernsehen oder gar Kinoproduktionen um eine gewisse Reichweite bemühen (zum Begriff „Reichweite“ vgl. König 2010): Der Bayerische Rundfunk verbreitet daher in erster Linie einen Kunstdialekt mittelbairischer, insbesondere Münchner Prägung, der Mundartmerkmale aufweist, wie sie in der Umgangssprache noch zu fassen sind. Dieses Register ist nicht ohne Weiteres mit den Ausspracheformen von Mundartbühnen zu vergleichen, auch wenn beides allzu häufig und vorschnell als „Komödienstadel-Bayrisch“ (Berlinger 1983: 275) abgetan wird − wobei dem Komödienstadl (Fernsehsender Bayerischer Rundfunk, seit 1959) mit dieser negativen Belegung zuweilen Unrecht getan wird, wie recht dialektale Produktionen beweisen (z. B. Herzsolo 2005, vgl. Kleiner 2013: 445). Während sich die Sprachform der Laienbühnen zumeist vom Dialekt Richtung Standard bewegt − aufgrund einer besseren Verstehbarkeit im Vortragsraum −, wird der mediale Kunstdialekt zunächst Standarddeutsch gedacht und dann dem Dialekt mehr oder weniger erfolgreich angenähert. Die mundartfesten Rezipienten reagieren bei beiden Formen zunächst verhalten, entsprechen sie doch beide nicht den eigenen Sprachgewohnheiten. Der Bayerische Rundfunk reagiert auf diese Kritik und versucht, authentischere Formate zu entwerfen: Das Betthupferl (Radiosender BR1 Hörfunk, auch als Podcast) wird seit 2011 sonntags von dialektfesten Sprechern vorgetragen, z. B. von der Musikerin Barbara Dorsch (Passau) oder Theaterautor Josef Parzefall (Straubing) für die Region Niederbayern, Schauspielerin Kathrin Anna Stahl für die Oberpfalz, oder in „oberbayerischer Mundart“ von dem Münchner Musiker und Schauspieler Heinz-Josef Braun. Zudem sind nicht alle Produktionen gleichermaßen mundartlich verflacht, wie ein Vergleich von Die Rosenheim-Cops (Fernsehsender ZDF, seit 2001) und Der Bulle von Tölz (Fernsehsender SAT.1, 1995−2009) zeigt (Koch 2008c: 83−84); Variablenanalysen und phonetische Abstandsmessungen zur Standardsprache ergeben größere Unterschiede im Dialektalitätsgrad, sodass drei Gruppen angesetzt werden können: „die Dialektalen“ − „die Gemischten“ − „die Standardnahen“ (Kleiner 2013: 431−445). Problematisch sind dabei meist die Gemischten, vor allem, wenn sie aus der Standardsprache angenähert werden. Verständlich ist dieses Vorgehen aus Sicht der Medienproduzierenden allemal, denn Umfragen zufolge gilt Bairisch als einer der beliebtesten Dialekte − das mag Ursache dafür sein, dass in Film- und Fernsehproduktionen das Bairische mittelbairischer Prägung die am häufigsten zu hörende regionale Varietät darstellt: „Es ist quasi der prototypische Dialekt des Südostens, von dem viele vor allem im Norden glauben, er werde in ganz Bayern gesprochen“ (König 2010: 9−10). Da die meisten Menschen in Deutschland zwar über mehrere Sprachregister verfügen, aber seltener mit anderen Basisdialekten konfrontiert werden, nimmt die Vorstellung von dem, was den einen oder anderen Basisdialekt im Detail ausmacht, mit zunehmender geographischer Entfernung ab. Deshalb wird die bairische Verkehrssprache „von außen, je weiter man sich von ihrem Zentrum, das wir mal in München ansetzen, nach Norden und Westen entfernt, als umso tieferer Dialekt empfunden“ (König 2010: 9; zum proximityEffekt vgl. Kehrein 2009: 30). Daher reichen wenige dialektale Merkmale, kombiniert
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mit allgemeinen Phänomenen der deutschen Umgangssprache, dass diese Varietäten als Dialekte akzeptiert werden (Koch 2008c: 85). Durch diesen Effekt wird die Dialektverwendung in den Medien auch Gegenstand der Wahrnehmungsdialektologie: Wie die Besucherzahlen des populären, im oberbayerischen Voralpenland situierten Kinofilms Wer früher stirbt ist länger tot (Marcus H. Rosenmüller 2007) zeigen, gibt es gravierende Unterschiede bei der regionalen Verteilung: Dass die Besucherzahl gerade in Niederbayern stark abnimmt, kann nicht auf traditionelle Dialektunterschiede zurückgeführt werden, sondern ist vielmehr durch „eine subjektive Dialektgrenze mittleren Grades zwischen dem Großraum München und dem östlich und nordöstlich davon liegenden Gebiet“ (König 2010: 11, Kt. 1 u. Kt. 3) zu erklären. Das Mittelbairische ist nicht nur in den Medien dominant, sondern erweist sich auch bei Kartierungen der Dialektkompetenz als ausgesprochen vital (Schmidt & Herrgen 2011: 275) − es mag darum verwundern, dass, angesichts des für das Bairische im Vergleich zu anderen Dialekten recht positiven Ergebnisses der Varietätendemoskopie, eine Aufnahme des Dialekts in die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen angestrebt wird. Doch die Entwicklungen insbesondere in und um München zeigen deutlich, dass nicht etwa die Frage im Raum steht, ob sich das Bairische zu einem Regiolekt bzw. einer Umgangsvarietät entwickeln wird, sondern eher die Frage, wann denn das geschehen wird. Das Bairische mag zwar eine vergleichsweise verzögerte Entwicklung im Dialektabbau zeigen, ausgenommen aber ist es von dieser allgemeinen Tendenz keineswegs.
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10. Bairisch in Deutschland SNiB = Eroms, Hans-Werner & Rosemarie Spannbauer-Pollmann (Hrsg.) 2003−2010 Sprachatlas von Niederbayern, 7 Bde. (Bayerischer Sprachatlas. Regionalteil 5). Heidelberg: Winter. SNiB 1 = Eroms, Hans-Werner, Birgit Röder & Rosemarie Spannbauer-Pollmann 2006 Einführung mit Syntaxauswertung (Sprachatlas von Niederbayern 1). Heidelberg: Winter. SNiB 3 = Ritt-Stadler, Sabine, Rosemarie Spannbauer-Pollmann & Sigrid Graßl 2010 Lautgeographie: Vokalismus (Sprachatlas von Niederbayern 3). Heidelberg: Winter. SNiB 4 = Holzer, Elfriede 2005 Lautgeographie: Konsonantismus (Sprachatlas von Niederbayern 4). Heidelberg: Winter. SNiB 5 = Koch, Günter 2007 Formengeographie I: Verbum (Sprachatlas von Niederbayern 5). Heidelberg: Winter. SNiB 7 = Meier, Gisela 2008 Formengeographie II: Nomen (Sprachatlas von Niederbayern 7). Heidelberg: Winter. SNOB = Hinderling, Robert (Hrsg.) 2004 ff. Sprachatlas von Nordostbayern, bisher 2 Bde. (Bayerischer Sprachatlas. Regionalteil 4). Heidelberg: Winter. SNOB 1 = Hinderling, Robert, Jürgen Krappmann, Johann Schmuck & Michael Schnabel 2004 Lautgeographie I: Vertretung der mittelhochdeutschen Kurzvokale (Sprachatlas von Nordostbayern 3). Heidelberg: Winter. SOB = Eichinger, Ludwig M. (Hrsg.) 2005−2011 Sprachatlas von Oberbayern, 7 Bde. (Bayerischer Sprachatlas. Regionalteil 6). Heidelberg: Winter. SOB 1 = Knoerrich, Isabel 2011 Phonologie I: Langvokale und Diphthonge (Sprachatlas von Oberbayern 1). Heidelberg: Winter. SOB 2 = Maiwald, Cordula 2010 Phonologie 2: Vokalismus: Kurzvokale. Konsonantismus (Sprachatlas von Oberbayern 2). Heidelberg: Winter. SOB 3 = Maiwald, Cordula 2008 Verbmorphologie (Sprachatlas von Oberbayern 3). Heidelberg: Winter. SOB 4 = Lau, Tatjana 2008 Nominalmorphologie (Sprachatlas von Oberbayern 4). Heidelberg: Winter. SOB SRM = Rein, Kurt & Bernhard Stör 2005 Sprachregion München (Sprachatlas von Oberbayern. Ergänzungsband). Heidelberg: Winter. Steger, Hugo 1968 Sprachraumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken: Das Lautsystem der Mundarten im Ostteil Frankens und seine sprach- und landesgeschichtlichen Grundlagen (Schriften des Instituts für fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg 13). Neustadt an der Aisch: Degener. Stein-Meintker, Anneliese 2004 Südbairisches und Mittelbairisches in der Mundart von Garmisch und Partenkirchen. In Stephan Gaisbauer & Hermann Scheuringer (Hrsg.), 141−149. Stellmacher, Dieter 2002 Niederdeutsch − Hochdeutsch − Oberdeutsch − Südhochdeutsch: Dialekt und Dialektbeurteilung in Nord und Süd. In Ingmar ten Venne (Hrsg.), „Was liegt dort hinterm Horizont?“ Zu Forschungsaspekten in der (nieder)deutschen Philologie: Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. phil. habil. Dr. h. c. Irmtraud Rösler (Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft 12), 201−209. Rostock: Universität Rostock. Stör, Bernhard 1999 Die mundartlichen Verhältnisse in der Region München, Teil 1 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1715). Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Wagner, Eberhard 1987 Das fränkische Dialektbuch. München: Beck.
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Günter Koch, Passau (Deutschland)
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich 1. 2. 3. 4.
Einleitung Historie und Besonderheiten Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie
5. 6. 7. 8.
Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Sprachdynamik Vertikale Register Literatur
1. Einleitung Der österreichische Sprachraum ist dialektgeographisch dem Oberdeutschen zuzuordnen, wobei mittelbairische Dialekte den größten sprachgeographischen Raum im Ostoberdeuthttps://doi.org/10.1515/9783110261295-011
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
Abb. 11.1: Der österreichische Sprachraum und seine Dialektareale
schen einnehmen (vgl. Wiesinger 1983: Kt. 47.4 sowie Abb. 11.1). Innerhalb Österreichs erstrecken sich die mittelbairischen Dialekte vor allem über die Areale der Bundesländer Wien, Nieder- und Oberösterreich, den Norden des Burgenlands sowie den Salzburger Flachgau. Hinzu kommen nördliche Randgebiete der Obersteiermark. Die nördliche Außengrenze des bairischen Sprachraums liegt außerhalb Österreichs im Bundesland Bayern, wo der nordbairische Sprachraum in einem (etwa Nürnberg einschließenden) Übergangsstreifen in das nordwestlich angrenzende Ostfränkische übergeht (s. Harnisch, Art. 12 in diesem Band). Auch das Mittelbairische reicht weit über die österreichischdeutsche Landesgrenze nach Bayern hinein und geht erst nahe Ingolstadt und etwa auf der Höhe von Deggendorf ins Nordbairische über (s. Koch, Art. 10 in diesem Band). Innerhalb des Mittelbairischen heben sich die ostmittelbairischen Dialekte in Österreich von den westmittelbairischen ab, die bis auf einen kleinen nordwestlichen Teil Österreichs (v. a. Innviertel, Salzburger Flachgau) in Süddeutschland angesiedelt sind (s. Abb. 11.2). Territorialgeschichtlich formuliert ist Westmittelbairisch „Altbairisch im Raum zwischen Lech und Enns, Ostmittelbairisch ist Neubairisch im Raum östlich der Enns“ (Scheuringer 1990: 170). Wie das Nordbairische teilt auch das Mittelbairische in Deutschland in seinem Nordwesten ein kleineres Übergangsgebiet mit dem Ostfränkischen, eine größere Übergangszone stellt allerdings das bairisch-alemannische Areal (mit z. B. Garmisch-Partenkirchen) westlich des Mittelbairischen dar. Die an die mittelbairische Kernlandschaft in Österreich südlich angrenzenden südmittelbairischen Dialekte (v. a. Teile der Steiermark, Süden des Burgenlands, Teile Nordtirols sowie Salzburgs) bilden einen breiten, horizontal verlaufenden Übergangsstreifen zum Südbairischen, das innerhalb Österreichs vor allem in Teilen der Steiermark, in Kärnten, Osttirol sowie in Teilen Nordtirols verbreitet ist (s. Abb. 11.1). Auch die bairischen Dialekte Südtirols in Norditalien sind dem Südbairischen zuzuordnen. Neben dem areal dominierenden bairischen Sprachraum in Österreich heben sich im äußersten Westen des Landes, im Bundesland Vorarlberg sowie im Außerfern (Nordtirol) alemannische Dialekte ab. Trotz ihrer begrenzten Größe weisen die alemannisch-österreichischen Areale eine erstaunliche in-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 11.2: Isoglossenbündel im west-/ostmittelbairischen Übergangsgebiet. Kombinationskarte auf Basis folgender Karten aus dem Sprachatlas von Oberösterreich (SAO): SAO, I: Kt. 113 (mhd. -el-); Kt. 181 (mhd. -il-); Kt. 84, Kt. 85, Kt. 86 u. Kt. 87 (mhd. ë); SAO, II: Kt. 10, Kt. 11, Kt. 18 u. Kt. 21 (mhd. ô); Kt. 156 (spätahd. s im Anlaut der Pluralformen des Verbs sein) [bereitgestellt von Stephan Gaisbauer (Linz)]
neralemannische Vielfalt auf (vgl. Wiesinger 2003: 2973): Während in den beiden Walsertälern und in einigen Walsersiedlungen höchstalemannische Dialekte vorzufinden sind, begegnen im Montafon hochalemannische und im Rheintal sowie Bregenzerwald mittelalemannische Varietäten (s. auch Gabriel 1987). Der im Norden gelegene alemannische Zipfel Tirols (Außerfern) wird dem Schwäbischen zugeordnet (s. Abb. 11.1). Wie zwischen Mittel- und Südbairisch ist auch zwischen dem westlichen Südbairischen in Nordtirol und den sich nördlich (Außerfern) bzw. westlich (Vorarlberg) anschließenden alemannischen Räumen ein dialektales Übergangsgebiet angesiedelt, das geographisch vor allem das Oberinntal (mit z. B. Ried im Oberinntal und Ischgl) umfasst. Die systemlinguistischen Merkmale, die den dialektgeographischen Gliederungen zugrunde liegen, werden Gegenstand von Kap. 3.−5. sein. In der bisherigen Forschung zu deutschsprachigen Varietäten in Österreich dominieren Studien zum dialektalen Varietätenpol und unter diesen (mehr oder weniger junggrammatisch orientierte) Orts- oder Kleinraumgrammatiken mit primär phonetisch-phonologischer Ausrichtung (s. z. B. Schatz 1897; Lessiak 1903; Weitzenböck 1942). Was Sprachatlanten betrifft, sind mit dem Sprachatlas von Oberösterreich (SAO) (1998 ff.), dem Tirolischen Sprachatlas (TSA) (1965−1971) und dem Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluss des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus (VALTS) (1985 ff.) bislang nur ausgewählte Regionen Österreichs (bzw. auch direkt angrenzender Räume)
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
und diese vor allem im Hinblick auf phonetisch-phonologische Dialektmerkmale abgedeckt. Wenn auch die österreichischen Wenkerbögen nicht in die Kartierungen zu Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs (Wenker 1888−1923) eingegangen sind, liegen dennoch mit Wiesingers Ergänzungskarten (WEK) (1962−1969) zumindest einige später hinzugefügte Sprachkartierungen von Wenkerlemmata vor (396 Einzelkarten zu phonetisch-phonologischen und 194 Einzelkarten zu morphologischen Phänomenen), die über das REDE SprachGIS einsehbar sind (s. REDE). Was die Forschung zum entgegengesetzten Pol der Dialekt-Standard-Achse betrifft, nimmt die Frage nach einer möglichen Abgrenzung einer österreichischen Standardvarietät von einer bundesdeutschen eine besondere Rolle ein. Diese vor allem im Paradigma der „Plurizentrizitätsforschung“ angesiedelte Diskussion konzentriert sich schwerpunktmäßig auf die Systemebene der Lexik (s. z. B. Ammon, Bickel & Lenz 2016), während Aspekte der (Sozio)phonetik (s. z. B. Moosmüller 1991) und der Grammatik (v. a. Syntax) eine bislang noch untergeordnete Rolle spielten (s. aber das laufende Projekt zur Variantengrammatik, , letzter Zugriff: 05.02.2019). Empirisch fundierte Studien zur vertikalen Varietätenstruktur der gesamten Dialekt-Standard-Achse liegen in Österreich nur in Ansätzen vor (s. etwa Scheutz 1985, Scheuringer 1990 und Unger 2014 bzgl. PhonetikPhonologie; Breuer i. V. für die Syntax); sie werden aktuell im Rahmen des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Spezialforschungsbereichs (SFB) Deutsch in Österreich. Variation − Kontakt − Perzeption (DiÖ) flächendeckend und für verschiedene Systemebenen angegangen (Projektnummer: FWF F060; s. , letzter Zugriff: 05.02.2019). Während für den alemannischen Westen Österreichs von einem mehr (binnen)diglossischen Varietätenkomplex ausgegangen wird, bei dem sich Dialekt und Standard systemlinguistisch wie sozio-pragmatisch gegenüberstehen, wird für den bairisch-österreichischen Sprachraum eine mehr diaglossische Varietätenstruktur angenommen, die sich durch kontinuierliche Übergänge im „mittleren Bereich“ (Bellmann 1983) des Varietätenspektrums auszeichnet (s. Kap. 7.). Im Komplex der Varietätenkontakte, die areal-horizontal und vertikal-sozial wirken, wird der österreichischen Hauptstadt Wien eine besondere linguistische wie soziolinguistische Strahlkraft zugeschrieben. Neben den intralingualen Kontakten, die sich innerhalb der Gesamtsprache Deutsch ergeben, stehen die deutschsprachigen Varietäten in Österreich (und ebenso die des südlich angrenzenden Südtirols) geschichtlich wie geographisch bedingt in vielfältigem Kontakt mit Varietäten anderer Sprachen (s. Kap. 2.).
2. Historie und Besonderheiten Erstmalige Erwähnung findet „Ostarrichi“ als Name für eine Region in einer zum Herzogtum Bayern gehörenden Markgrafschaft im Jahr 996. Von der Mitte des 12. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war das Land als Herzogtum bzw. Erzherzogtum Teil des Heiligen Römischen Reichs. Dem Kaisertum Österreich (ab 1804) schließt sich 1867 die „Österreich-Ungarische Doppelmonarchie“ an, die 1918 auseinanderbricht und deren überwiegend deutschsprachige Kronländer in die 1918 gegründete Republik Österreich münden (Südtirol wird im Rahmen des Vertrags von Saint-Germain 1919 Italien zugesprochen). In das nationalsozialistische Deutsche Reich wird das Land 1938 eingegliedert. Seit 1945 ist Österreich wieder eine Republik.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Die historisch gewachsene Mehrsprachigkeit Österreichs findet ihre Reflexe in vielfältigen Sprachkontakterscheinungen (besonders etwa zwischen Deutsch und slawischen Sprachen, s. z. B. Kranzmayer 1953: 205; Rindler Schjerve & Nelde 2003; Newerkla 2009, 2013), die auch im kollektiven Bewusstsein fest verankert sind, deren umfassende empirische Erforschung aber nach wie vor ein Desiderat darstellt (vgl. Scheuringer 1990: 301). Im Jahr 2019 sind in Österreich folgende Sprachen autochthoner Minderheiten gesetzlich geschützt: Burgenlandkroatisch, Romanes, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch und Ungarisch. Hinzu kommt die keiner autochthonen Minderheit zuzuordnende österreichische Gebärdensprache. Auch sprachgeographisch zeichnet sich Österreich durch besonderen multidimensionalen Sprachkontakt aus, indem in den acht direkt angrenzenden Nachbarländern gleich mehrere Sprachfamilien vertreten sind: Neben der durch Deutsch (v. a. in Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein) repräsentierten germanischen Sprachfamilie sind dies vor allem die slawische (v. a. in der Slowakei, Slowenien und Tschechien), die romanische (etwa in Italien und der Schweiz) sowie mit Ungarisch als nicht-indogermanischer Sprache die finno-ugrische Sprachfamilie (v. a. in Ungarn). Neben vielfältigen historischen wie gegenwartssprachlichen Kontakten zu anderen Sprachen zeigt der österreichische Sprachraum zudem eine Vielfalt an intralingualen Varietätenkontakten innerhalb der Gesamtsprache Deutsch. Ein auch soziokulturell besonders spannungsgeladenes Moment besteht dabei in der soziolinguistischen Auseinandersetzung mit dem Nachbarland Deutschland. Mit einem erstarkenden Nationalbewusstsein geht in der neueren Geschichte Österreichs die Diskussion um eine eigene österreichische (Standard)Sprache einher (zur Plurizentrizitäts-/Pluriarealitätsdiskussion mit Fokus auf Österreich s. etwa Scheuringer 1996; Glauninger 2013; Herrgen 2015; zur Standardsprache in Österreich s. Soukup & Moosmüller 2011; Wiesinger 2009, 2014: 155−182; Koppensteiner & Lenz 2017). Die Frage um die Positionierung einer österreichischen Hochsprache gegenüber anderen Hochsprachen im deutschsprachigen Raum reicht weit zurück in der Sprachgeschichte: A special problem with regard to the regional diffusion and use of the German standard language emerged in the context of the Reichsgründung, i.e. the decision for the kleindeutsche Lösung […] without Austria. Admittedly, the concepts of the ‚language of the classics‘ (Klassikersprache) and the ‚language of education‘ (Bildungssprache) as models for ‚correct‘, ‚beautiful‘ and ‚good‘ German were implicitly valid for all German-speaking territories, including Austria and the German-speaking part of Switzerland. However, soon there stirred resistance in these countries. Although both states agreed to the main codification steps of German orthography and orthoepy around 1900, they were careful to maintain a distinct standard language identity by preserving a number of linguistic peculiarities, in particular in the area of the lexicon. Here one can see the starting point of the current polycentric structure of the German language with three full centres of the standard as well as a number of marginal centres […]. (Mattheier 2003: 235; s. hierzu auch Wiesinger 2003, 2014: 313−363)
Einen Reflex der sprachlichen Identitätskonstruktion Österreichs stellt das Protokoll Nr. 10 über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union dar, das dem österreichischen EU-Beitrittsvertrag beigelegt ist und 23 Begriffe (aus dem Lebensmittelbereich) enthält, die laut Protokoll „den gleichen Status [haben] und […] mit der gleichen Rechtswirkung verwendet werden [dürfen] wie die in Deutschland verwendeten entsprechenden Ausdrücke“ (Bundesgesetzblatt (BGBl.) Nr. 45/1995: 2544; s. hierzu De Cillia 1995; Markhardt 2002; Wiesinger 2014: 183−195; Koppensteiner 2015). Im Hinblick auf eine/die österreichi-
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
sche Varietät der deutschen Standardsprache kommt dem stadtsprachlichen Variationsraum Wien eine besondere Rolle im intralingualen Varietätengeflecht der deutschen Sprache in Österreich zu. Attitudinal-perzeptive Studien zum standardsprachlichen Spektrum in Österreich zeigen, dass das Konzept „Hochdeutsch“ mit gehobenen Bildungsschichten in Wien assoziiert wird und dass standardsprachnahe Aufnahmen im Rahmen von Hörerurteilstests mitunter auch dann nach Wien lokalisiert werden, wenn die Stimuli-Sprechenden keine Wiener sind (s. Moosmüller 1991; Soukup 2009; Goldgruber 2011; Koppensteiner & Lenz i. V.). Doch auch nicht-standardsprachliche Varietäten bzw. Varianten aus dem Wiener Raum haben Einflüsse auf den österreichischen Sprachraum insgesamt (s. dazu auch unten Kap. 6.). Denn [b]edingt durch seine jahrhundertelange Funktion als deutsche Kaiserstadt und damit kulturelles und politisches Zentrum des Reichs, kann Wien überhaupt als einer der kräftigsten Ausgangspunkte sprachlicher Innovation und sprachraumbildender Fähigkeit innerhalb des gesamten Deutschen gelten. Erst seit etwa zwei Jahrhunderten − einhergehend mit dem sukzessiven Rückzug Österreichs aus Deutschland − strahlen „Wiener Neuerungen“ kaum mehr über Österreich hinaus, während der sprachliche Einfluß Wiens innerhalb Österreichs bis heute anhält und sich gerade in der Gegenwart für die überwiegende Zahl der großräumigen Entwicklungen im Substandardbereich über den Basisdialekten verantwortlich zeichnet. (Scheuringer 1990: 301)
3. Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie [Vorbemerkung zur phonetischen Transkription: Zugunsten der Lesbarkeit des Kapitels (wie des Artikels insgesamt) wurde auf feinphonetische Details (wie zum Beispiel auf die Wiedergabe „lenisierter Frikative“ in den mittelbairischen Dialekten sowie die Differenzierung von r-Qualitäten) verzichtet.] In älterer wie jüngerer Forschungsliteratur sind es gerade phonetisch-phonologische Charakteristika, die Dialekteinteilungen und damit auch die Abgrenzungen der Sprachräume Bairisch und Alemannisch von benachbarten Räumen motivieren. Was die PhonetikPhonologie der bairischen und alemannischen Dialekte in Österreich betrifft, können wir auf eine Fülle von (v. a. traditionell-junggrammatisch orientierten) Strukturbeschreibungen zurückgreifen, die bzw. deren Daten allerdings zum großen Teil aus der ersten Hälfte und Mitte des 20. Jahrhunderts stammen und somit einen potenziell archaischen Lautstand widerspiegeln. Von besonderem Wert sind in diesem Zusammenhang die Überblicksdarstellungen von Wiesinger (1983, 1990 u. a.). Sie werden im Folgenden vor allem durch Verweise auf Sprachkarten der drei österreichischen Regionalatlanten − SAO (Erhebungszeitraum: 1988 bis 1998), TSA (Erhebungszeitraum: 1941 bis 1943 und 1960) und VALTS (Erhebungszeitraum: 1964 bis 1968 sowie von 1971 bis 1977; Nacherhebungen von 1982 bis 1984 und 1985) − sowie die Wiesinger Ergänzungskarten (WEK) ergänzt (s. Kap. 1.). Als Quelle, die den aktuellsten Forschungsstand präsentiert, werden zusätzlich jüngst (2017 und 2018) erhobene Dialektdaten aus dem SFB Deutsch in Österreich. Variation − Kontakt − Perzeption (DiÖ) angeführt und hier vor allem die bereits aufbereiteten Daten aus Dialektübersetzungen (v. a. auf Basis der Wenkersätze) älterer Dialektsprecher aus folgenden Ortspunkten (s. auch Abb. 11.1): Linz (Oberösterreich (OÖ), ostmittelbairisch), Gaweinstal, Allentsteig und Neumarkt an der Ybbs (Niederös-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
terreich (NÖ), ostmittelbairisch), Taufkirchen an der Pram (Oberösterreich, west-/ostmittelbairisches Übergangsgebiet), Neckenmarkt (Burgenland (Bgld.), südmittelbairisches Übergangsgebiet), Weißbriach und Döbriach (Kärnten (Ktn.), südbairisch), Axams (Tirol (T), südbairisch) sowie Raggal (Vorarlberg (Vbg.), alemannisch). Die bisherigen SFBDaten bestätigen, dass die in der Forschungsliteratur erwähnten und unten diskutierten Dialektmerkmale zumindest in den ländlichen Räumen Österreichs bis heute (in mehr oder weniger deutlichem Maße) nachzuweisen sind. Hinsichtlich des gesamtbairischen Sprachraums können die beiden folgenden (hier schematisiert dargestellten) zentralen Charakteristika herangezogen werden: Mhd. ä und æ: Im Gesamtbairischen treten die alten vorderen Mittelzungenvokale als a-Monophthonge ([a̠:] bzw. [a̠]) auf (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ) [b̥la̠:ɬ(n̩)] ‘Blatt (Dim./Pl.)’, [ma̠:n] ‘mähen’; Weißbriach (Ktn.) [b̥la̠:tlɐn] ‘Blatt (Dim./Pl.)’, [ma̠:n] ‘mähen’; s. auch Kranzmayer 1956: 23 u. Kt. 2; Wiesinger 1983: 837, 1990: 450; Schirmunski 2010: 263−264). Die Dialektgrenze, die die bairischen a-Varianten von den ostfränkischen bzw. alemannischen e-Lauten trennt, gehört zu einem dichten Isoglossenbündel, das nach Wiesinger (1983: Kt. 47.6) die Außengrenzen des gesamtbairischen Sprachraums markiert. Die Stabilität dieses bairischen Dialektmerkmals bis in regiolektale Sprechlagen hinein spiegelt sich bereits in folgender Beobachtung Kranzmayers (1956: 24) wider: „Bis ins beginnende 19. Jh. las man in Österreich und Bayern in der deutschen Lesesprache geschriebenes ä als den mundartlichen a-Laut. Erst um 1820 wird es üblich, diesen Buchstaben ä nach der strengeren Regel als offenes ę zu lesen.“ (In der standardsprachlichen Leseaussprache Anfang des 21. Jahrhunderts dominieren allerdings österreichweit vor allem geschlossene e-Laute; lediglich im alemannischen Westen weist der Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards (AADG) offene /ɛ:/-Laute nach (s. URL: , letzter Zugriff: 09.02.2019).) Mhd. a und â: Als Reflexe der mhd. a-Laute erscheinen in den bairischen Dialekten Österreichs häufig „verdumpfte“ Vokalvarianten, deren Öffnungsgrad variiert (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Neumarkt (NÖ) [ʃlɔ:g̥]/[ʃlo:g̥] ‘schlage (1. Ps. Sg.)’, [flɔʃn̩]/ [floʃn̩] ‘Flasche’; Axams (T) ‘schlage (1. Ps. Sg.)’, [flɔʃn̩] ‘Flasche’, [ʃlɔ:g̥]; s. auch WEK: Kt. „schlafen“ u. „Nacht“; Kranzmayer 1956: Kt. 1; SAO, I: Kt. 6, Kt. 13, Kt. 33 u. Kt. 35b). Im alemannischen Vorarlberg liegt zumindest mhd. â ebenfalls verdumpft vor (s. VALTS, II: Kt. 12; Jutz 1925: 59), die Reflexe zu kurzem mhd. a zeigen hier jedoch häufiger auch a-Qualität (s. VALTS, I: Kt. 2 u. Kt. 16; Jutz 1925: 56). Während im Kontext der l-Vokalisierung (s. u.) mittelbairisch oi-Diphthonge vorherrschen (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [sɔe̯d̥͡ s] ‘Salz’, [b̥ɔe̯d̥] ‘bald’, [kɔe̯d̥ə] ‘kalte’; s. auch Scheutz 1985: 127), weisen die südbairischen wie alemannischen Dialekte aufgrund fehlender bzw. seltener l-Vokalisierung auch im Falle von -al-Kontexten aMonophthonge auf (s. auch VALTS, II: Kt. 182a). In Kombination mit folgendem (vokalisiertem) r kommt vor allem ostmittelbairisch eine Diphthongqualität zustande mit einem o-haltigen Onset, der in einen a-haltigen Vokal übergeht (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.) [g̥fɔɐ̯n] ‘gefahren’; s. auch SAO, I: Kt. 71). In Teilen des Westmittelbairischen ist laut Scheuringer (1990: 223) hingegen „bis heute keine r-Vokalisierung“ nach mhd. a und â eingetreten (s. SAO, I: Kt. 64), die ebenso im alemannischen und in konservativeren Teilen des Südbairischen (darunter auch Südtirol) weitgehend fehlt, sodass hier die (verdumpften bzw. nicht-verdumpften) Monophthonge vorzufinden sind (z. B. Axams (T) [fɔ:ʀn̩] ‘fahren’, [vɔʀtn̩] ‘warten’; s. auch TSA, I:
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
Kt. 1 für Westsüdbairisch und das Übergangsgebiet zum Alemannischen sowie VALTS, I: Kt. 16 u. Kt. 11). Neben der Senkung von kurzen und langen mhd. ä-Lauten gehört die a-Verdumpfung wohl zu den „auffälligste[n]“ strukturellen Gemeinsamkeiten des gesamtbairischen Raums (Wiesinger 1983: 837), auch wenn intraregional auch hinsichtlich dieses Merkmals ein großer „Variantenreichtum“ zu beobachten ist (Scheuringer 1990: 211). Die im Folgenden aufgeführten und nach den historischen Bezugssystemen des mittelhochdeutschen Vokalismus bzw. westgermanischen/althochdeutschen Konsonantismus sortierten lautlichen Merkmale weisen eine Arealdistribution auf, die nicht als gesamtbairische bzw. -alemannische Phänomene beschrieben werden können, sondern die auch innerhalb der Dialektgroßräume areal differieren. Die folgenden (sehr verkürzt wiedergegebenen) Phänomene werden mit Schwerpunkt auf den ostmittelbairischen Raum skizziert, während die übrigen vor allem südbairischen und südmittelbairischen Teilregionen bzw. der alemannische Westen Österreichs kontrastiv beschrieben werden. Mhd. i: Dem mhd. i entspricht in den Dialekten Österreichs grundsätzlich ein kurzer oder auch langer i-Vokal, dessen Öffnungsqualität bzw. Spannungsgrad variieren kann (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.) [sid̥͡ sn̩]/[sɪd̥͡ sn̩] ‘sitzen’, [d̥iʃ]/[d̥ɪʃ] ‘Tisch’, [hĩ:]/[hɪ:̃ ] ‘hin’; s. auch SAO, I: Kt. 179; WEK: Kt. „Tisch“ u. „Mittwoch“; VALTS, II: Kt. 187b; Scheutz 1985: 148−157). Im Kontext von postvokalisch vokalisiertem l heben sich die nördlicheren westmittelbairischen Dialekte mit ui-Diphthongen („Typ München“ (Haas 1983: 1112), z. B. [mʊḙç] ‘Milch’) von den ostmittelbairischen Dialekten ab, in denen gerundete Vorderzungenvokale vorliegen („Typ Wien“ (Haas 1983: 1112), z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [my:ç]/ [mʏ:ç] ‘Milch’; s. auch oben Abb. 11.2 (Isoglosse zu „Bild“) sowie SAO, I: Kt. 181). Im südlicheren Westmittelbairischen (um Salzburg) finden sich auch lange, nicht gerundete i-Monophthonge („Typ Salzburg“ (Scheuringer 1990: 186), z. B. [g̥ʀi:] ‘Grille’, [ʃd̥i:] ‘Stiel’; s. ebenfalls SAO, I: Kt. 181), die in weiten Teilen des Südbairischen und im alemannischen Westen − dann mit Erhalt des Liquids − dominieren (z. B. Weißbriach (Ktn.)/Raggal (Vbg.) [fi:l] ‘viel’; s. auch TSA, I: Kt. 28; VALTS, I: Kt. 185c). In Kombination mit folgendem (vokalisiertem oder erhaltenem) Liquid r liegen häufig fallende Diphthonge vor (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [vɪɐ̯]/[mɪɐ̯] ‘wir’; Raggal (Vbg.) [mɪɐ̯ʀ] ‘wir’; s. auch VALTS, I: Kt. 179). Mhd. ü und ö: Für die gerundeten Vorderzungenvokale des mittelhochdeutschen Bezugssystems sind gesamtbairisch Entrundungsprozesse zu beobachten. Was mhd. ü betrifft, fallen seine Reflexe in der Regel mit denen von mhd. i zusammen (z. B. Linz (OÖ)/ Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.) [ʃd̥ɪkl̩ ]/[ʃd̥ikl̩ ] ‘Stück (Dim.)’; Weißbriach (Ktn.) [ʃtikhl̩ ] ‘Stück (Dim.)’; Axams (T) [ʃtɪkχl̩ ] ‘Stück (Dim.)’). Dialektal liegt also häufig ein kurzer oder langer i-Laut vor. Bei -ül- treten die oben (s. mhd. i) beschriebenen Reflexe in Kombination mit l-Vokalisierung auf (dann mit gerundeten Vokalen, z. B. Linz (OÖ) [fy:n]/[fʏ:n] ‘füllen’, [ky:n]/[kʏ:n] ‘kühlen’), ebenso wie in Kombination mit folgendem (vokalisiertem) r die auch bei mhd. -ir- beschriebenen fallenden Diphthonge erscheinen (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [b̥ɪɐ̯ ʃd̥n̩] ‘Bürste’, [fɪɐ̯] ‘für’; Weißbriach (Ktn.) [b̥ɪɐ̯ ʃtn̩] ‘Bürste’, [fɪɐ̯] ‘für’), denen alemannisch gerundete Vokale gegenüberstehen. Eine Besonderheit stellt standardsprachlich ü vor -ck oder -pf dar, das in weiten Teilen des Bairischen und Alemannischen auch ohne Umlaut auftritt (z. B. Taufkirchen (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ)/Neckenmarkt
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II. Die Sprachräume des Deutschen
(Bgld.) [d̥͡ sʀʊk]/[d̥͡ sʀuk] ‘zurück’; s. auch Hutterer 1978: 328−329; Wiesinger 1990: 449; VALTS, I: Kt. 207a). Ebenso wie die Reflexe aus mhd. ü und mhd. i bairisch weitgehend zusammenfallen, stimmen auch die Dialektreflexe des bairisch ebenfalls entrundeten mhd. ö mit jenen von mhd. e und ë (s. u.) weitgehend überein. Im alemannischen Westen sind hingegen (meist offenere) gerundete ü- bzw. (im Öffnungsgrad variierende) ö-Qualitäten erhalten (z. B. Raggal (Vbg.) [b̥ʏʀʃtə] ‘Bürste’, [ʃø:nə] ‘schöne’; s. auch VALTS, I: Kt. 168b). „Nur im äußersten Norden (in etwa bis zur Bregenzer Ach) und insbesondere im Vorarlberger Allgäu ist diese Entwicklung [Entrundung; A. N. L.] nachzuweisen, z. B. Veegel ‚Vögl‘ […].“ (Schallert 2010: 38). Mhd. e und ë: Laut Kranzmayer (1956: 26, s. auch Kt. 3) zählt das Mittelbairische zu den Mundarten mit „e-Verwirrung“, bei denen ein Zusammenfall von geschlossenem und offenem e-Vokal (< mhd. e und mhd. ë) bzw. eine wenig bis nicht-regelhafte lexikalische Verteilung von geschlossenen und offenen e-Qualitäten zu beobachten sei (s. auch Kranzmayer 1953; Seidlmann 1971; Scheuringer 1990: 205). Auch für Teilregionen des Südbairischen geht Kühebacher (1962: 159) in der Mitte des letzten Jahrhunderts von einem (zunehmenden) Zusammenfall aus: „In den verkehrsoffenen Gebieten des Landes, nämlich im Inntal, in der Bozner Gegend und im unteren Eisacktal, herrscht […] ein weitgehender Ausgleich, nämlich der Zusammenfall der beiden Laute“ (s. auch Kühebacher 1962: Kt. 4). Neueste Analysen stützen die These, dass wir es im Hinblick auf die Dialektreflexe zu mhd. e und ë generell mit einem inter- und intraindividuell deutlich schwankenden Variationsphänomen zu tun haben, dessen (mitunter messphonetische) Untersuchung aber (noch) keinen eindeutigen Lautwandel zugunsten nur einer /e/-Qualität gezeigt hat (s. Moosmüller 2011 für Wien; Moosmüller & Scheutz 2013 für Salzburg und Wien; Pokorny et al. 2017 für Graz). Dass die ostmittelbairischen Dialekte bei „altem“ mhd. ë häufiger zu den geschlossenen e-Qualitäten neigen als die westmittelbairischen, deutet die SAO-Karte (I: Kt. 86) „Besen“ (mhd. ë) an (s. auch oben Abb. 11.2: Isoglossen zu „Regen“, „Besen“, „Stecken“, „Nebel“). Gebiete mit diphthongischen Qualitäten finden sich hingegen im Zentrum und am Rande des südmittelbairischen Übergangsgebiets (z. B. Neckenmarkt (Bgld.) [vɛe̯d̥ɐ] ‘Wetter’, [p͡fɛe̯fɐ] ‘Pfeffer’), um Salzburg sowie in Teilen des Südbairischen (s. Kühebacher 1962: Kt. 7; WEK: Kt. „Besen“). In Kombination mit vokalisiertem l treten ostmittelbairisch überwiegend gerundete Monophthonge mit ö-Qualität auf (z. B Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ)/ Neumarkt (NÖ) [b̥ʃd̥œ:d̥]/[b̥ʃd̥ø:d̥] ‘bestellt’, [fœ:d̥]/[fø:d̥] ‘Feld’), denen im Westmittelbairischen vor allem Diphthonge gegenüberstehen (s. o. Abb. 11.2: Isoglosse zu „stellen“; SAO, I: Kt. 113; Scheuringer 1990: 194 u. 208; Kranzmayer 1956: Kt. 4). Im bairisch-alemannischen Übergangsgebiet weisen Kranzmayer (1956: Kt. 4) und der TSA (I: Kt. 23) ein -al-Gebiet anstelle von südbairisch und alemannisch sonst dominierendem -el- nach (s. VALTS, I: Kt. 90). Vor r sind im Falle von r-Vokalisierung fallende Diphthonge vorherrschend (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [b̥͡fɛɐ̯d̥] ‘Pferd’, [hɛɐ̯d̥͡s] ‘Herz’; s. auch SAO, I: Kt. 121; Kranzmayer 1956: Kt. 6). Auch im alemannischen Westen lassen sich laut VALTS Regionen mit Zusammenfall der alten eLaute in Richtung basisdialektaler, meist offenerer e-Monophthonge belegen, aber ebenso Regionen, in denen die alten e-Laute differenziert werden (s. VALTS, II: Kt. 157a „Besen“ (< mhd. ë) mit offenen e-Monophthongen; s. hingegen VALTS, I: Kt. 39 „Bett“ (< mhd. e), eher geschlossene, seltener aber auch offene e-Monophthonge). Mhd. u und o: Wie mhd. i zeichnet sich auch für mhd. u und o im gesamten österreichischen Sprachraum überwiegend der Erhalt der monophthongischen Vokalqualitäten
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
ab, sodass i. d. R. kurze oder lange u- bzw. o-Vokale − mit variierenden Öffnungsqualitäten bzw. Spannungsgraden − erscheinen (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [d̥ɔxd̥ɐ]/[d̥oxd̥ɐ] ‘Tochter’; Raggal (Vbg.) [ofə] ‘Ofen’; s. auch WEK: Kt. „Ofen“ u. „krumm“). Im nordöstlichen Viertel des Westmittelbairischen sind für mhd. o zudem kleinere Diphthongregionen (v. a. eo-, oi- und ou-Diphthonge) nachweisbar (s. WEK: Kt. „Tochter“; SAO, I: Kt. 143), und auch im südbairischen bzw. im südmittelbairischen Übergangsgebiet liegen ou/au-Diphthonge vor (z. B. Neckenmarkt (Bgld.) [ɔo̯fn̩] ‘Ofen’; s. auch WEK: Kt. „(Mitt)woch“ u. „Ofen“; Kranzmayer 1956: Kt. 5). Bei vokalisiertem r bzw. l sind mittelbairisch vor allem ua/oa- bzw. ui/oi-Diphthongvarianten zu beobachten (z. B. Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [d̥ʊɐ̯x] ‘durch’, [d̥ɔɐ̯f] ‘Dorf ’ bzw. [sɔe̯çə] ‘solche’, [g̥ʃd̥ɔe̯n] ‘gestohlen’; s. auch SAO, I: Kt. 201 u. I: Kt. 159; WEK: Kt. „gestorben“ u. „gestohlen“; Scheuringer 1990: 191; Kranzmayer 1956: Kt. 7). Im Südbairischen und Alemannischen, wo i. d. R. keine Liquid-Vokalisierung vorliegt, finden sich vor -r kaum und vor -l noch seltener Diphthonge (s. VALTS, I: Kt. 138b; WEK: Kt. „gestohlen“; Kranzmayer 1956: Kt. 7 u. 8). Mhd î: Die bairischen Dialektreflexe von mhd. î werden zumeist mit steigender ai/ äi-Diphthongqualität artikuliert (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [b̥æ(:)e̯sn̩]/[b̥a(:)e̯sn̩] ‘beißen’), wobei − in Ostösterreich − ausstrahlend von Wien − als Ergebnis der sogenannten „Wiener Monophthongierung“ auch eine überoffene Monophthongqualität vorliegen kann (z. B. [b̥æ:sn̩] ‘beißen’; s. auch Moosmüller 1998; SAO, II: Kt. 30; Kranzmayer 1956: Kt. 11). Im alemannischen Westen Österreichs sind die alten mittelhochdeutschen Hochzungenvokale î, û, iu hingegen weitgehend erhalten (z. B. Raggal (Vbg.) [b̥i:sn̩] ‘beißen’, [hu:s] ‘Haus’, [ly:t] ‘Leute’; s. auch VALTS, II: Kt. 57, Kt. 74 u. Kt. 197b). Mhd. iu: Im Gegensatz zum alemannischen Vorarlberg ist mhd. iu bairisch entrundet, sodass seine Reflexe weitgehend den oben bei mhd. î besprochenen Varianten entsprechen (s. SAO, II: Kt. 37). (Zu relikthaften ui-Gebieten s. Kranzmayer 1956: Kt. 12 und WEK: Kt. „Feuer“.) Im Bairischen dominieren folglich gegenwärtig steigende ai/äiDiphthonge, denen im alemannischen Vorarlberg − mit Ausnahme des nördlichsten Zipfels des Bundeslands − die erhaltenen Hochzungenmonophthonge gegenüberstehen (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.)/Weißbriach (Ktn.) [hæ(:)e̯sɐ]/[ha(:)e̯sɐ] ‘Häuser’, aber Raggal (Vbg.) [hy:z̥ɐʀ] ‘Häuser’; s. auch WEK: Kt. „Häuser“; Jutz 1925: 96−100; VALTS, II: Kt. 80a u. Kt. 197b). Vor allem im Wiener Raum − und ebenfalls ausstrahlend nach Ostösterreich − sind auch überoffene ä-Monophthonge anzutreffen („Wiener Monophthongierung“, z. B. [læ:d̥] ‘Leute’; s. auch Moosmüller & Scheutz 2013: 83; SAO, II: Kt. 37). Mhd. û: Für mhd. û dominieren im gesamten bairischen Sprachraum ao-Diphthonge (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.) [hɑ(:)ɔ̭s] ‘Haus’). Im alemannischen Westen Österreichs ist die monophthongische Qualität hingegen i. d. R. erhalten (z. B. Raggal (Vbg.) [hu:s] ‘Haus’, [u:f ] ‘auf ’; s. auch WEK: Kt. „Haus“; Kranzmayer 1956: Kt. 11; VALTS, II: Kt. 74). Im Kontext der „Wiener Monophthongierung“ treffen wir auf lange verdumpfte Monophthonge (z. B. [hɑ:s] ‘Haus’, s. Moosmüller & Scheutz 2013: 83; Moosmüller 1998; SAO, II: Kt. 43). Mhd. ê: Als Dialektreflexe für mhd. ê weist das Mittelbairische in Österreich gemeinsam mit dem alemannischen Westen i. d. R. lange e-Monophthonge − mit variierenden Öffnungsgraden − auf (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ)/Neumarkt (NÖ)/Raggal (Vbg.) [ʃne:]/[ʃnɛ:] ‘Schnee’; s. auch Kranzmayer 1956: Kt. 9; WEK:
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. „Schnee“; VALTS, II: Kt. 39). Gerade südbairisch begegnen hingegen (mitunter noch) Diphthonge (z. B. Weißbriach (Ktn.)/Axams (T) [ʃnɛɐ̯] ‘Schnee’; s. auch Kühebacher 1962: Kt. 13; TSA, I: Kt. 27 sowie für das alemannisch-bairische Übergangsgebiet VALTS, II: Kt. 39). „Vor folgendem Nasallaut beschreitet das mhd. ê in großen Landstrichen eigene lautkombinatorische Sonderwege“ (Kranzmayer 1956: 45), über die Kühebacher (1962: Kt. 14), TSA (I: Kt. 27) sowie auch VALTS (II: Kt. 44) informieren. Mhd. oe: Die Reflexe des mhd. oe fallen im Mittelbairischen weitgehend mit denen von mhd. ê (s. o.) zusammen (z. B. Taufkirchen (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [b̥ɛ:sn̩]/[b̥e:sn̩] ‘bösen’, [g̥ʀɛ:sɐ]/[g̥ʀe:sɐ] ‘größer’; s. auch SAO, II: Kt. 1, Kt. 28 u. Kt. 7). Im alemannischen Westen hingegen liegen häufiger ö-Monophthonge vor (z. B. Raggal (Vbg.) [ʃø:nə] ‘schöne’; s. auch VALTS, II: Kt. 54), denen südbairisch dominierend (steigende oder fallende) Diphthonge gegenüberstehen (z. B. Weißbriach (Ktn.)/ Axams (T) [b̥ɛɐ̯sn̩] ‘bösen’, [g̥rɛɐ̯sɐ(ʀ)] ‘größer’; s. auch VALTS, II: Kt. 54 für das alemannisch-bairische Übergangsgebiet und Hutterer 1978: 338 für das Steirische). Mhd. ô: Als Reflexe von mhd. ô begegnen im Ostmittelbairischen sowie in Teilen des alemannischen Vorarlbergs − in dem mitunter auch Diphthonge auftreten (s. VALTS, II: Kt. 53a) − vor allem lange o-Monophthonge (z. B. Taufkirchen (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [g̥ʀɔ:s]/[g̥ʀo:s] ‘groß’, [hɔ:x]/[ho:x] ‘hoch’; Raggal (Vbg.) [g̥ʀo:s] ‘groß’; s. auch SAO, II: Kt. 18; VALTS, II: Kt. 48; Patocka 2017). Ihnen stehen in Teilen des Westmittelbairischen − als Ergebnis der westmittelbairischen „Palatovelardiphthongierung“ (Wiesinger 1983: 839) − Diphthonge (mit v. a. ou-, eo- und oi-Qualitäten) gegenüber (s. o. Abb. 11.2; SAO, II: Kt. 11 u. Kt. 18; Kranzmayer 1956: Kt. 10; Wiesinger 1990: 463−464). Im südbairischen und südmittelbairischen Übergangsgebiet begegnen (v. a. oa-)Diphthonge (z. B. Axams (T) [g̥ʀɔɐ̯s] ‘groß’; s. auch Kühebacher 1962: Kt. 15; WEK: Kt. „groß“; TSA, I: Kt. 35). Mhd. ie und üe: Was die fallenden mittelhochdeutschen Diphthonge ie und üe betrifft, dominieren im bairischen Sprachraum ungerundete ia- und iǝ-Diphthonge (z. B. Taufkirchen (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.) [lɪɐ̯b̥] ‘lieb’ bzw. [mɪɐ̯d̥] ‘müde’; s. auch WEK: Kt. „müsst“ und VALTS, II: Kt. 148 für das bairisch-alemannische Übergangsgebiet). Nur relikthaft finden sich in einigen wenigen Lexemen noch ui/oi-Diphthonge (s. WEK: Kt. „Fliege“). Im Gegensatz zum bairischen Sprachraum sind die beiden mittelhochdeutschen Diphthonge im alemannischen Vorarlberg nicht zusammengefallen. Für mhd. üe erscheinen hier häufiger gerundete Monophthonge bzw. gerundet anlautende Diphthonge (z. B. Raggal (Vbg.) [mʏɐ̯d̥] ‘müde’; s. auch VALTS, II: Kt. 148 versus Kt. 143a). Mhd. uo: In weiten Teilen des Mittel- und Südbairischen entsprechen dem mhd. uoDiphthong ua-Diphthonge (z. B. Allentsteig (NÖ)/Neumarkt (NÖ) [b̥ʀʊɐ̯d̥ɐ] ‘Bruder’, [g̥ʊɐ̯d̥] ‘gut’; s. auch SAO, II: Kt. 58 u. Kt. 59; Kranzmayer 1956: Kt. 15; WEK: Kt. „gut“ u. „genug“). Im Alemannischen treten häufiger uǝ-Diphthonge auf (s. VALTS, II: Kt. 198a u. Kt. 145; Jutz 1925: 102−103). Innerhalb des Ostmittelbairischen (Weinviertel) und südlich angrenzenden südmittelbairischen Übergangsgebiets hebt sich eine schmale östliche Grenzregion ab, in der die ui-Dialektreflexe zu mhd. uo die als archaisch geltenden „ui-Mundarten“ charakterisieren (z. B. Neckenmarkt (Bgld.) [d̥ʊɪ̭ d̥͡ s] ‘tut (2. Ps. Pl.)’, [g̥ʊɪ̭ d̥] ‘gut’, [b̥ʀʊɪ̭ d̥ɐ] ‘Bruder’), die auch im südbairischen Osttirol noch belegt sind (s. Kranzmayer 1956: Kt. 15; WEK: Kt. „gut“ u. „genug“). Mhd. ei: Der standardsprachliche Reflex zu mhd. ei trifft in dialektkonservativeren Regionen des Mittelbairischen und in weiten Teilen des Südbairischen basisdialektal auf
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
einen oa-haltigen Diphthong (z. B. Taufkirchen (OÖ)/Allentsteig (NÖ) [d̥͡ svɔɐ̯] ‘zwei’, [sɔɐ̯f]/[sɔɐ̯fn̩] ‘Seife’; Axams (T) [t͡svɔɐ̯] ‘zwei’, [sɔɐ̯fn̩] ‘Seife’; s. auch Wiesinger 1990: 450; Scheuringer 1990: 166 u. 412−420), dem im südbairischen Kärnten mitunter lange a-Monophthonge gegenüberstehen (z. B. Weißbriach (Ktn.) [t͡sva̠:] ‘zwei’, [sa̠:fn̩] ‘Seife’; s. auch WEK: Kt. „heim“ u. „Eier“; Wiesinger 1990: 451; Kranzmayer 1956: Kt. 16; Fanta-Jende i. Dr.). Die im Ostmittelbairischen ursprünglich nur im Wiener Raum dialektal verankerten langen a-Monophthonge haben sich mittlerweile in weite Teile des Sprachraums ausgedehnt (s. Kap. 6.). Im alemannischen Vorarlberg ist insgesamt eine große Variationsbreite bzgl. mhd. ei zu beobachten, die sich in verschiedenen und variierenden Diphthong- und Monophthongqualitäten niederschlägt (z. B. Raggal (Vbg.) [t͡svae̯]/[t͡svɛe̯] ‘zwei’, [sae̯fə]/[sɛe̯fə] ‘Seife’; s. auch VALTS, II: Kt. 90a u. Kt. 100; Jutz 1925: 85−86). Mhd. öu: Als mittel- und südbairische Reflexe von mhd. öu zeigen sich dominierend lange a-Monophthonge in kontextgebundener Variation mit ai/äi-Diphthongen (z. B. Taufkirchen (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [hæ(:)e̯]/[ha(:)e̯]] ‘Heu’, [b̥a̠:m(ɐ)] ‘Bäume’; Döbriach (Ktn.) [b̥a̠:mɐ] ‘Bäume’, [ˈtʀa̠:mən] ‘träumen’, [g̥fʀae̯n] ‘freuen’, [hae̯] ‘Heu’; s. auch WEK: Kt. „Häuser“; Kranzmayer 1956: Kt. 18 sowie VALTS, II: Kt. 113 für das bairisch-alemannische Übergangsgebiet), wobei die Qualität der mittelbairischen äi-Diphthonge mitunter als „annähernd monophthongisch“ (in Richtung überoffener ä-Monophthong) beschrieben wird (SAO, II: Kt. 37). Den bairischen Varianten entsprechen alemannisch vor allem gerundete öü- und ö-Varianten (z. B. Raggal (Vbg.) [-b̥œ:m-] ‘(-)bäum(-)’; s. auch VALTS, II: Kt. 113 u. Kt. 118; Jutz 1925: 123−125). Mhd. ou: Der mittelhochdeutsche Diphthong ou tritt − besonders häufig vor Labialund Labiodentalkonsonanz − in weiten Teilen des Bairischen mit a-Monophthongqualität auf (z. B. Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.)/Weißbriach (Ktn.)/Axams (T) [b̥a̠:m] ‘Baum’; s. auch WEK: Kt. „verkaufen“). In anderen Lautkontexten dominieren gesamtbairisch auch au-Diphthonge (z. B. vor Velarkonsonanten (z. B. Auge), vor Vokal (z. B. Mauer), im Auslaut (z. B. Frau)). Im Alemannischen finden sich (neben v. a. o-haltigen Monophthongen) auch ou/au-Diphthonge (s. VALTS, II: Kt. 105, Kt. 110 u. Kt. 111; Jutz 1925: 94−96). 2. Lautverschiebung: Der österreichische Sprachraum gehört zu den Regionen des deutschsprachigen Raums, in denen die 2. Lautverschiebung am konsequentesten durchgeführt wurde. Wgerm. p erscheint in den ostoberdeutschen Dialekten anlautend, postnasal wie in alter Gemination als pf-Affrikate (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.) [b̥͡ fʊnd̥]/[b̥͡ fund̥] ‘Pfund’, [ˈɔb̥͡ fe] ‘Apfel’; Weißbriach (Ktn.)/Raggal (Vbg.) [p͡fʊnd̥] ‘Pfund’). Was wgerm. k betrifft, zeigt sich innerösterreichische Variation, insofern als alemannisch, im westlichen Südmittelbairischen und in Tirol (südbairisch) auch stark aspirierte kh-Laute, affrizierte kch-Varianten und (höchstalemannisch) mitunter frikativische (a)ch-Laute auftreten (z. B. Axams (T) [k͡χnɛχt] ‘Knecht’; s. auch VALTS, III: Kt. 40a u. I: Kt. 179; Jutz 1925: 204−205; Kranzmayer 1956: Kt. 21). Konsonantenlenisierung: Im Mittelbairischen werden Fortislaute vor allem initial lenisiert („mittelbairische Konsonantenschwächung“, s. z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.) [d̥ɔxd̥ɐ]/[d̥oxd̥ɐ] ‘Tochter’, [b̥ɛç]/[b̥eç] ‘Pech’). Die Lenisierung von Plosiven unterbleibt hier lediglich bei k- im prävokalischen Anlaut (z. B. Allentsteig (NÖ) [ku:xn̩] ‘Kuchen’). Südbairisch und Alemannisch sind die Fortislaute hingegen erhalten (z. B. Axams (T) [pɛχ] ‘Pech’; s. auch Kranzmayer 1956: Kt. 21; Wiesinger 1983: Kt. 47.6). Im In- und Auslaut korreliert die mittelbairische Konsonantenqualität mit der
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Art des Silbenschnitts insofern, als Lenisvarianten nach schwachgeschnittenen Langvokalen oder Diphthongen auftreten, während Fortes nur nach starkgeschnittenen Kurzvokalen oder Diphthongen erscheinen („komplementäre Länge“, s. Pfalz 1913; Scheutz 1984; Wiesinger 1990: 460−462). b-Spirantisierung: In stimmhafter Umgebung entspricht dem standardsprachlichen b im Mittelbairischen und im südbairischen Tirol ein bilabialer oder labiodentaler Frikativ, dem in anderen Teilen des Südbairischen und Alemannischen plosivische Konsonanten gegenüberstehen (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.) [sœ:vɐ] ‘selber’; Axams (T) [sɛlvɐʀ] ‘selber’; Weißbriach (Ktn.)/Raggal (Vbg.) [sɛlb̥ɐ(ʀ)] ‘selber’; s. auch VALTS, III: Kt. 16; Scheutz 1985: 164−168; Hutterer 1978: 332; Wiesinger 1990: 453). s-Palatalisierung: Nach r- bzw. auch medial vor -p tritt im gesamten Sprachraum häufiger Palatalisierung des s-Lauts ein, sodass standardsprachlich Durst und Kasper bairisch und alemannisch Duascht bzw. Koschpa entspricht (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [d̥ʊɐ̯ ʃd̥] ‘Durst’, [b̥ɪɐ̯ ʃd̥n̩] ‘Bürste’; Döbriach (Ktn.) [ˈkaʃpɐlɛ] ‘Kasper (Dim.)’; Raggal (Vbg.) [b̥ʏʀʃtə] ‘Bürste’; s. auch VALTS, I: Kt. 191; Jutz 1925: 200; TSA, II: Kt. 50). Im südbairischen Tirol, westlichen Kärnten und im Alemannischen wird /s/ auch generell vor /t/ palatalisiert (s. WEK: Kt. „gestern“; VALTS, II: Kt. 200a). l-Vokalisierung: Die l-Vokalisierung gilt als „eines der charakteristischsten, zugleich aber auch komplexesten und aufgrund seiner räumlichen Differenzierung nur schwer in den Griff zu bekommenden Dialektmerkmale des Mittelbairischen“ (Scheutz 1985: 126; s. auch Kranzmayer 1956: 29; Glattauer 1978: Kt. 26; Wiesinger 1983: 840, 1990: 463; Zehetner 1985: 56; Scheuringer 1990: 168−169 u. 390−401). Die im Kontext der lVokalisierung areal stark variierenden Monophthong- und Diphthongqualitäten, die sich für die Kombination aus präliquidem Vokal und vokalisiertem l ergeben, wurden oben im Kontext der mittelhochdeutschen Bezugsvokale (s. v. a. mhd. i, e und ë) skizziert. Dabei gehört die „Ostgrenze des ‚westlichen‘ l-Vokalisierungstypus“ (Scheuringer 1990: 169) zu dem Isoglossenbündel, das West- und Ostmittelbairisch voneinander abhebt. Im Kontext nach Palatalvokal dominieren westmittelbairisch Diphthonge (z. B. [d̥͡ sɔe̯n] ‘zählen’, [ʃʊḙd̥l̩ ] ‘Schild (Dim.)’ „Typ München“ (Haas 1983: 1112)), während ostmittelbairisch gerundete Vorderzungenvokale („Typ Wien“ (Haas 1983: 1112)) vorherrschen (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ) [fœ:d̥]/[fø:d̥] ‘Feld’, [d̥ɐd̥͡ sœ:n]/ [d̥ɐd̥͡ sø:n] ‘erzählen’; s. auch oben Abb. 11.2 (Isoglossen zu „stellen“ und „Bild“); SAO, I: Kt. 181 u. I: Kt. 113; Kranzmayer 1956: Kt. 4; Wiesinger 1990: 463; zum „Typ Salzburg“ (Scheuringer 1990: 186) s. o. mhd. i). Laut Wiesinger (1990: 459) ist vor allem im Osten des Südmittelbairischen eine Ausbreitung der l-Vokalisierung festzustellen. r-Vokalisierung: Charakteristisch für weite Teile des Mittelbairischen ist die Vokalisierung bzw. der Ausfall des postvokalischen r-Lauts (z. B. Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/ Gaweinstal (NÖ) [b̥ɪɐ̯ ʃd̥n̩] ‘Bürste’), der in Teilen des Westmittelbairischen sowie im Südbairischen häufiger erhalten bleibt (z. B. Raggal (Vbg.) [b̥ʏʀʃtə] ‘Bürste’; s. auch Kranzmayer 1956: 123 u. Kt. 26; Scheutz 1985: 140−147; WEK: Kt. „ver(kaufen)“). n-Ausfall: Auslautendes -n kann vor allem mittelbairisch mit dem vorangehenden Vokal fusionieren (z. B. in Linz (OÖ)/Allentsteig (NÖ)/Neumarkt (NÖ) [mɔ̃:]/[mɑ̃:] ‘Mann’, aber auch − im südmittelbairischen Übergangsgebiet − Neckenmarkt (Bgld.) [mɔ̃ʊ̯ ̃ ] ‘Mann’), wobei die Nasalierung regional stark variierend auftritt. Charakteristisch für weite Teile des Südbairischen in Österreich ist hingegen der n-Erhalt (z. B. Weißbriach (Ktn.) [ma̠n] ‘Mann’; s. auch TSA, II: Kt. 80). Ein weniger klares Bild ergibt sich
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für das alemannische Vorarlberg, in dem nasalierte und nicht-nasalierte Varianten mit und ohne n-Erhalt nachzuweisen sind (s. z. B. Raggal (Vbg.) [mã:] ‘Mann’; s. auch VALTS, II: Kt. 74). Konsonantenausfall am Wortende: Im gesamten österreichischen Dialektraum, aber besonders frequent im Mittelbairischen, sind Ausfälle von plosivischen und frikativischen Konsonanten am Wortende zu beobachten, besonders häufig bei -b, -g und -ch (z. B. Allentsteig (NÖ)/Gaweinstal (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.)/Weißbriach (Ktn.)/Raggal (Vbg.) [g̥nʊɐ̯]/[g̥ənʊɐ̯] ‘genug’, [d̥i:] ‘dich’; s. auch Scheutz 1985: 170; Wiesinger 1990: 454; WEK: Kt. „genug“ u. „fertig“). Die vorangehend aufgeführten Merkmale stellen prototypische Charakteristika des Bairischen und Alemannischen in Österreich bzw. ihrer Teilregionen dar. Während der alemannische Teil Österreichs − auch aufgrund seiner relativ überschaubaren Größe − in der Regel als Einheit beschrieben wurde, ohne auf lokale oder kleinräumliche Besonderheiten einzugehen, kamen für den bairischen Teil Österreichs auch Aspekte der Binnendifferenzierung zur Sprache, die insbesondere den mittelbairischen Raum vom Südbairischen, zu dem auch Südtirol gehört, abheben. Die insgesamt dennoch schematisierte Darstellung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in den österreichisch-bairischen wie -alemannischen Arealen eine Fülle von kleinregionalen Abweichungen gibt, die weitere Subgliederungen innerhalb der Großräume motivieren, auf die hier aber nur exemplarisch verwiesen werden konnte. Auch auf die verschiedenen Grade der „Abbaustabilität“ bzw. „Veränderungssensitivität“ (Lenz 2003) wurde nicht eingegangen; exemplarische Ausschnitte zu dieser Dynamik werden in Kap. 6. präsentiert.
4. Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie Die im Folgenden aufgeführten morphologischen Merkmale, von denen einige auch an den Schnittstellen zur Phonologie, Lexik oder Syntax liegen, stellen nur sehr ausgewählte Ausschnitte der komplexen Morphologie österreichischer Dialekte bzw. deren Subareale dar. Was morphologische Besonderheiten der bairischen Dialekte in Österreich betrifft, sei weiterführend (und exemplarisch) auf Wiesinger (1989) und Mauser (1998) verwiesen. Für den südbairischen Raum in Südtirol liefert etwa Lanthaler (1971) Hinweise (mit Fokus auf das Passeiertal); zum alemannischen Vorarlberg siehe Jutz (1925) (mit Fokus auf Südvorarlberg). Des Weiteren enthalten die österreichischen Ortsmonographien sowie die regionalen Sprachatlanten zumindest eingeschränkt morphologische Informationen. Personalendungen (Verbalmorphologie): Während sich standardsprachlich die Verbalendungen der 1. Ps. Pl. und 3. Ps. Pl. decken (-en/-en), haben zumindest einige mittelbairische Basisdialekte die alte mittelhochdeutsche Distinktion aufrechterhalten (-(e)n, -(e)nt). Als deutlich stabileres und weiter verbreitetes Merkmal erweist sich die bairische Verbalendung der 2. Ps. Pl. auf -(e)ts, der standardsprachlich ein einfacher Plosiv gegenübersteht (z. B. Allentsteig (NÖ): „Ihr frogts eich sicher, obs mitkomma derfts.“ ‘Ihr fragt euch sicher, ob ihr mitkommen dürft.’; s. auch Wiesinger 1989: 39−40). Im höchst-
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alemannischen Teil Vorarlbergs finden sich mitunter zweiförmige Plurale, während aber insgesamt im alemannisch-österreichischen Raum einförmige Plurale dominieren (s. VALTS, III: Kt. 120; Jutz 1925: 290−292). Generell hinsichtlich auf -en auslautender Verbalformen (Infinitiv, 1. Ps. Pl. Präs., 3. Ps. Pl. Präs., Part. II starker bzw. unregelmäßiger Verben) zeigen sich interregionale Unterschiede: Während im Alemannischen und bairisch-alemannischen Übergangsgebiet diese Verbalformen basisdialektal vokalisch enden, begegnet im Südbairischen /-(ɐ)n/ bzw. treten im Mittelbairischen traditionell „je nach vorangehenden Konsonanten und zugleich gebietsweise wechselnd die Allomorphe /-(ɐ)n ~ ɐ/“ auf (Wiesinger 1983: 841). Im Falle einer Nasalendung erscheinen auch -m oder -ng (z. B. Neckenmarkt (Bgld.): „wonn ma di wiederseng kenna“ ‘wann wir dich wiedersehen können’; s. auch WEK: Kt. „verkaufen (Infinitiv)“ u. „gekommen (Part. Prät.)“; Wiesinger 1989: 80 sowie Kt. 1−3; Mauser 1998: 266−281; Scheuringer 1990: 378−379; TSA, I: Kt. 59; VALTS, III: Kt. 69). Ein für das südbairische Kärnten kennzeichnendes Merkmal der Verbalmorphologie ist die aus dem unbetonten Personalpronomen der 1. Ps. Pl. entstandene Verbalendung -ma(r) der 1. Ps. Pl. (z. B. Weißbriach (Ktn.): „wir werma ja sehng“ ‘wir werden ja sehen’, „wir wissma“ ‘wir wissen’; s. auch Wiesinger 1989: 37−38). ge-Präfix (Partizip II): Als ebenfalls recht stabil erweist sich mittelbairisch der Ausfall des partizipialen ge-Präfixes vor Plosiven (z. B. kaaft ‘gekauft’) bzw. die e-Synkopierung in anderen präkonsonantischen Kontexten (z. B. gschtoin ‘gestohlen’; s. WEK: Kt. „gesagt (Präfix)“; TSA, II: Kt. 97; Wiesinger 1989: 63−67), während das alemannische Vorarlberg in der Regel das (teils assimilierte) Präfix (mit und ohne e-Synkopierung) aufweist (s. VALTS, Kt. 72, Kt. 98, Kt. 79b u. Kt. 76b). Innerhalb des Bairischen zeigt Kranzmayer 1956: Kt. 19 „wie von der Donaustraße aus gemessen nach Norden und Süden gleichzeitig stufenweise je nach dem folgenden Mitlaut die Verkürzung von gezu g- oder sein gänzliches Verklingen abnimmt“ (Kranzmayer 1956: 85). Konjunktiv II: Was Besonderheiten im Bereich der Modusmarkierung betrifft, „sind im B[airischen] synthetische Konjunktiv-2-Formen dank des dialekteigenen Suffixes -at lebendiger Bestandteil der Sprache geblieben […]. Das B[airische] kann zu j e d e m Verb eine unverwechselbare einfache Konjunktiv-2-Form bilden.“ (Zehetner 1978: 319, Sperrung im Original; Wiesinger 1989: 56−61; Merkle 1975: 69−73; Breuer & Wittibschlager i. V.). Als Beispiele dienen folgende Belege aus dem SFB-Korpus: Gaweinstal (NÖ): „mechat’s oba nie söwa sei.“ ‘(Ich) möchte es aber nie selbst sein.’; Allentsteig (NÖ): „Ja, des warat super!“ ‘Ja, das wäre super!’; Weißbriach (Ktn.): „Wir brauchatma das Schweizer Vorbild.“ ‘Wir bräuchten das Schweizer Vorbild.’ Partizip I: Eine Endung -at begegnet auch beim bairischen Partizip I, das eine Vielfalt syntaktischer Funktionen übernimmt (s. Wiesinger 1989: 52−55), indem es 1. nicht nur als attributives Adjektiv auftritt (z. B. „a drågade Kuh ‚eine tragende (= trächtige) Kuh‘“ (Wiesinger 1989: 52), sondern auch 2. (zumindest in Teilregionen des Bairischen in Österreich) prädikativ mit den Kopulaverben sein, werden und bleiben „diverse Handlungsverlaufs-Aspekte spiegelnd“ erscheint (Mauser 1998: 330; z. B. „er wird gehàd = er fängt zu gehen an, wird unruhig“ (Zehetner 1978: 315), wörtlich: er wird gehend), 3. zur Ableitung von Verbalsubstantiven dient (z. B. „Ràffàds, Sauffàds = Rauferei, Besäufnis“ (Zehetner 1978: 315); „a Spinnade ‚eine Spinnende (= eine leicht Verrückte)‘“ (Wiesinger 1989: 52); s. auch Reiffenstein 1969: 180) sowie
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4. als (depiktives) Subjektsprädikativ genutzt werden kann (z. B. „da Bua is woanade hoam kema ‚der Bub ist weinend heim gekommen‘“ (Wiesinger 1989: 52; s. auch Mauser 1998: 207 u. 331)). Koprädikative Adjektive: Auch koprädikative Adjektive treten in bairischen wie alemannischen Dialekten in Österreich mitunter flektiert auf, und zwar mit dem Flexionselement „-e/-a bzw. -i“ (Schallert 2010: 50 und eben dort das Vorarlberg-Beispiel: „Är isch (asa) bsoffn-a haamgfahra ‚Er ist besoffen nach Hause gefahren‘“; für Vorarlberg s. auch Schallert 2010: Abb. 4, Jutz 1925: 265, VALTS, V: Kt. 201; für den bairischen Sprachraum s. Bucheli Berger & Glaser 2004: 207−210 und eben dort (S. 209) den zitierten Hörbeleg aus dem östlichen Westmittelbairischen: „Fabrend-a mòg-e-s ned ‚Verbrannt-KP mag-ich-es nicht [Brot]‘“, KP = ‘Koprädikativmarkierung’). Personalpronomen: Die bairischen Dialekte in Österreich nutzen mitunter noch die Dualformen eß (< mhd. ëz) und enk für die Personalpronomen ihr (Nom.) und euch (Akk./Dat.) der 2. Ps. Pl. Mitunter ist eß „prefixed with a d-“, besonders in südbairischen Dialekten (Wiesinger 1990: 451; z. B. Weißbriach (Ktn.): „Des frogts enk sicher, ob des mitkemma derfts.“ ‘Ihr fragt euch sicher, ob ihr mitkommen dürft.’). Den pronominalen Vollformen (für alle Personen) stehen mitunter unbetonte, in der Regel klitisierte Pronominalformen zur Seite (s. Merkle 1975; Mauser 1998: 216−224). Nominaldeklination: In den Bereich der Morphosyntax gehören die für das Bairische typischen Synkretismen von im Standard differenzierten Akkusativ- und Dativformen (z. B. bei schwachen Maskulina: „Gib n Ochsn s Hai! ‚Gib dem Ochsen das Heu!‘“ analog zu „Fiader n Ochsn! ‚Fütter den Ochsen!‘“ nach Wiesinger 1990: 454). Den Grenzverlauf des „bairische[n] Zusammenfall[s] von Dativ und Akkusativ im Akkusativ“ im bairisch-alemannischen Übergangsgebiet in Tirol zeigt die VALTS-Karte V: Kt. 207b. Die Funktionen des standardsprachlichen Genitivs übernehmen in den Dialekten i. d. R. analytische Alternativkonstruktionen wie etwa − im Falle adnominaler Possession − die von-PP oder der „possessive Dativ“ (s. u. Kap. 5.). Wortbildung: Im Bereich der Wortbildung zeichnen sich die bairischen wie alemannischen Dialekte durch eine hohe Frequenz und Produktivität an Diminutivbildungen aus, die vor allem mit l-haltigen Suffixen auftreten (s. Glauninger 2005). Da die erste Diminutionsstufe auf -l im Bairischen mitunter bereits ihre diminuierende Semantik verloren hat, „a second diminutive has been formed which has the form /-ɐl/. The dental quality of the /l/ in this ending has led to its representation in spelling as -erl“ (Wiesinger 1990: 463; s. z. B. Glasl versus Glaserl ‘Glas (Dim.)’). Während im bairischen Teil Österreichs die Suffixe -(e)l und -erl besonders frequent sind, dominiert im alemannischen Vorarlberg das Suffix -le/-li (z. B. Raggal (Vbg.): „Die isch grad am Würschtle esse.“ ‘Die ist grade dabei, eine Wurst zu essen.’, „Das ischt a Nadle zum Knöpfannähe.“ ‘Das ist eine Nadel zum Annähen von Knöpfen.’; s. auch VALTS, III: Kt. 176).
5. Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Was die sprachgeographischen Außen- wie Binnengrenzen des bairischen (wie auch alemannischen) Sprachraums betrifft, so sind diese traditionellerweise vor allem auf Basis phonetisch-phonologischer und allenfalls ergänzend auch morphologischer und lexikalischer Phänomene definiert. Inwieweit auch die Dialektsyntax (bzw. die Syntax anderer
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vertikaler Registerausschnitte) areal-horizontale Strukturen aufweist, die sich mit den tradierten sprachgeographischen Arealstrukturen Österreichs decken, gehört zu den noch offenen Fragen der Dialektsyntaxforschung (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015). Auch wenn die Dialektsyntax des Deutschen ein erst verspätet aufgekommenes, aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend fokussiertes Untersuchungsobjekt darstellt, sind es gerade die dialektsyntaktischen Phänomene des (traditionell gefassten) bairischen Sprachraums, die innerhalb der (vor allem theoretisch orientierten) Syntaxforschung ein großes Forschungsinteresse auf sich gezogen haben und ziehen (s. etwa Bayer 1984 u. 1990; Weiß 1998; Bayer & Brandner 2004; Grewendorf & Weiß 2014). Trotz des überdurchschnittlich großen Interesses an gerade bairischer Dialektsyntax fehlen bislang flächendeckende syntaktische Studien bzw. sie beschränken sich lediglich auf Teilräume oder ausgewählte Phänomenkomplexe (z. B. Patocka 1997; Maiwald 2002; Lenz, Ahlers & Werner 2015). Die im Folgenden aufgeführten dialektsyntaktischen Phänomene, deren Liste nicht als exhaustiv zu verstehen ist, können auf Basis der bisherigen Forschungsliteratur zumindest Teilregionen des österreichischen Dialektraums zugeordnet werden. Ihre genauere sprachgeographische Verortung wird das Ergebnis aktueller Forschungsprojekte darstellen. Für den vorliegenden Beitrag kann bereits auf erste Datenbelege und -analysen zur Dialektsyntax in Österreich aus dem SFB DiÖ zurückgegriffen werden, und zwar aus den Ortspunkten, die auch für die Phonologie und Morphologie herangezogen wurden (s. o. Abb. 11.1). Verbalcluster und IPP: Nach Patocka (1997) und Schallert (2013a, 2014) zeigt sich in Österreich interregional deutliche Variation bezüglich der Serialisierung in komplexen Verbalclustern, vor allem in Kontexten von „Ersatzinfinitiven“. Bei 3-Verbclustern gilt die Mittelstellung des finiten Verbs (3−1–2) in eingeleiteten Nebensätzen als charakteristisch für den bairisch-österreichischen Raum (z. B. dass er arbeiten3 hat1 müssen2), während die Abfolge 1−2−3 (dass er hat1 müssen2 arbeiten3), die im alemannischen Westen und Südbairischen wohl häufiger vorzufinden ist, sowie die Abfolge 1−3−2 (dass er hat1 arbeiten3 müssen2) seltener vorkommen bzw. weniger klare Raumbilder ergeben (s. Patocka 1997: Kt. 6; Schallert 2010: 43, 2013a: Abb. 5). Das Phänomen des im Verbalcluster hat arbeiten müssen exemplifizierten IPP (infinitivus pro participio) ist nicht in allen Dialekträumen Österreichs gleichmäßig vertreten; insbesondere für südbairische Varietäten finden sich auch Belege ohne IPP-Realisierungen (s. Schallert 2013a: Abb. 2 u. Abb. 3). Bei 2-Verbclustern kommt bei eingeleiteten Nebensätzen eine 1−2 Abfolge (z. B. dass er hat1 gearbeitet2) als eine Serialisierungsvariante vor allem in Kärnten, im Osten der Steiermark, im Burgenland sowie am südöstlichen Rand von Niederösterreich vor, während im übrigen Österreich (v. a. Oberösterreich, Salzburg, nördliche Steiermark) fast ausschließlich nur die Abfolge 2−1 (dass er gearbeitet2 hat1) anzutreffen ist (s. Patocka 1997: Kt. 9 u. 10). „Inversion“ klitischer Pronomen: Die Analyse des Wenkersatzes 9 („[…] und habe es ihr gesagt“) von Fleischer (2011) liefert Evidenz für die These, dass der österreichische Sprachraum zu den Arealen gehört, in denen das (klitisierte) pronominale indirekte Objekt ihr dem (klitisierten) Pronomen es (direktes Objekt) in „Wackernagelposition“ (s. Weiß 2016) vorangehen kann (z. B. „u. hanaras gset“ ‘und habe ihr es gesagt’ (Wenkerbogen 42867 aus Götzis, Vorarlberg), zitiert nach Schallert 2010: 43). Diese Serialisierungsvariante steht der standardsprachlichen gegenüber, bei der laut Duden-Grammatik (2016: 878) bei pronominaler Realisierung der Objekte das direkte Objekt i. d. R. voran-
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
steht (es ihr). Im SFB-Material exemplifizieren folgende Belege die Dativ-AkkusativAbfolge: Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.): „und hob ihr-s gsogt“; Raggal (Vbg.): „un han-er-es gseit“. Komplexe Infinitivanschlüsse: Charakteristisch für den österreichischen Sprachraum ist eine starke Abweichung der Infinitivsyntax vom Standarddeutschen; hierzu gehören auch komplexe Infinitivanschlüsse mit zum, denen in der Standardsprache (häufiger) (um) zu-Infinitive entsprechen (s. Mayerthaler, Fliedl & Winkler 1995; Weiß 1998: 231− 275; Schallert 2013b; Lenz et al. i. Dr.). Belege aus dem SFB-Korpus sind etwa: Allentsteig (NÖ): „[…], fängt das leichter zum brennen an“; Raggal (Vbg.): „Wenn wir jetzt die Möglichkeit hätten, zum die Schule neu reformieren.“ Flektierende Komplementierer: Zu den syntaktischen Merkmalen mittelbairischer (wie auch nordbairischer) Nebensatzeinleitungen gehört die „Flexion“ von Subjunktionen bzw. anderen Nebensatzeinleitungen („Complementizer Agreement“, s. Bayer 1984; Weiß 2005; Lenz, Ahlers & Werner 2015: 10−15, Kt. 6 u. 7; Lenz et al. i. Dr.; Fingerhuth & Lenz i. V.). Elemente, die im Bairischen am rechten Rand der C-Domäne eines Nebensatzes stehen, können in Kongruenz zum finiten Verb „flektiert“ werden, was insbesondere häufig im Falle der 2. Ps. (Sg. und Pl.) auftritt (z. B. Neckenmarkt (Bgld.): „[…], ob_s es morgen orbeiten werdts“ ‘ob ihr morgen arbeiten werdet’; „[…], bis wann_st morgen die Hausübung fertig host“ ‘bis wann du morgen die Hausübung fertig hast’). Im Falle eines Nebensatzes mit 2. Ps. Sg. ist im Mittelbairischen das Morphem, das am rechten Rand der C-Domäne auftritt, phonologisch ident mit der Verbalendung des Finitums (z. B. ob_st (pro) morng in d’Schui geh-st ‘ob du morgen in die Schule gehst’). Im Falle der 2. Ps. Pl. dominiert hingegen mittelbairisch − abweichend zum Nordbairischen, wo affrizierte -ts-Endungen vorzufinden sind (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015: Kt. 6 u. 7) − die einfache Spirans -s am Komplementierer (z. B. Neckenmarkt (Bgld.): „ob_s es morgen orbeiten tui-ts“ ‘ob ihr morgen arbeiten tut/werdet’). Im Südbairischen ist die Komplementiererflexion deutlich seltener belegt (s. Fingerhuth & Lenz i. V.). Weiß (2005: 150) nennt etwa Vöran in Südtirol als eine Ausnahme; die Daten der Pilotstudie Syntax des Bairischen (SynBai) weisen das Phänomen allenfalls in den mittelsüdbairischen Übergangsräumen nach (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015: Kt. 6 u. 7). Auch im Alemannischen sind flektierende Nebensatzeinleitungen generell nur sehr selten vorzufinden; Weiß (2005: 150) führt z. B. Zürich als einen alemannischen Ausnahmefall an. „Doppelt gefüllte Komplementierer“: Anstelle einer standardsprachlich „einfach“ besetzten Nebensatzeinleitung finden sich in österreichischen Dialekten durch das Hinzutreten einer (weiteren) Subjunktion bzw. eines weiteren nebensatzeinleitenden Elements (v. a. dass, aber auch wo u. a.) mitunter „doppelte“ Nebensatzeinleitungen („doubly filled COMP“; z. B. des Audo, des wo_ts kaffd hab-ts ‘das Auto, dasCOMP1 (woCOMP2) ihr gekauft habt’ (nach Bayer 1984: 234); s. auch Weiß 1998; Bayer & Brandner 2008; Lenz et al. i. V.; Fingerhuth & Lenz i. V.). Aktuelle SFB-Beispiele hierfür sind etwa: Neckenmarkt (Bgld.): „[…], wie viel Leit als ma nächsts Johr im Urlaub treffn“ ‘[…], wie viele Leute wir nächstes Jahr im Urlaub treffen’; Raggal (Vbg.): „[…], bis wenn dass mer mure schaffen“ ‘[…], bis wann wir morgen schaffen/arbeiten’. Relativsatzanschlüsse: Zu Besonderheiten von Nebensatzeinleitungen im österreichischen Sprachraum gehören Varianten von Relativsatzeinleitungen, bei denen − auch in standardabweichender Distribution − wo und was oder aber sogar „doppelte“ Relativsatzanschlüsse (s. o. „doubly filled COMP“) vorkommen können (s. Bayer 1984; Pittner 1995; Weiß 1998; Bayer & Brandner 2008; Schallert 2010: 57−59; Ahlers 2016 u. 2017;
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Breuer 2017a). Beispiele für standardsprachabweichende wo- und was-Verwendungen, die im Bairischen wie Alemannischen in Österreich belegt sind, liefern die SFB-Daten: Neckenmarkt (Bgld.): „[… der Hund], wos i gester fotografiert hob“ ‘[… der Hund], den ich gestern fotografiert habe’; Raggal (Vbg.): „[… des Schwi], wo immer an Salto schlot“ ‘[… das Schwein], das immer einen Salto schlägt’. Im Falle einfacher w-Partikel deutet das SFB-Korpus auf eine recht eindeutige Verteilung von was in den bairischösterreichischen Arealen hin, während wo primär im alemannischen Vorarlberg auftritt; für Letzteres sprechen auch die Daten des Projekts Syntax des Alemannischen (SynAlm). Auch die Kombination aus d-Pronomen plus wo scheint häufiger im alemannischen Vorarlberg vorzukommen (s. auch Schallert 2010: 57−59), während die Kombination mit was ein Charakteristikum von Ostmittel- und (seltener) Südbairisch (wie auch Nordbairisch) darstellt (s. Fleischer 2004: 65; Ahlers 2016: 269; Breuer 2017a: 177). Als Beispiele dienen folgende SFB-Experimentbelege: Neckenmarkt (Bgld.): „[… der Hut], der wos am lustigsten hupft“ ‘[… der Hut], der am lustigsten hüpft’; Weißbriach (Ktn.): „[… der Hund], der wos am greaschten is“ ‘[… der Hund], der am größten ist’; Raggal (Vbg.): „[… der Hund], der wo mer geschtern kauft hän“ ‘[… der Hund], den wir gestern gekauft haben’. „Artikelverdopplung“: Im Zusammenhang mit intensivierenden Gradpartikeln (wie so, ganz, recht, sehr) sowie mit schwachen Quantoren (bissl, wenig) kann gesamtbairisch wie alemannisch eine „Verdopplung“ des indefiniten Artikels auftreten (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015: 18−19 sowie Kt. 11−15; Merkle 1975: 89; Steiner 2005; Kallulli & Rothmayr 2008; Strobel & Weiß 2017; Lenz et al. i. Dr.). SFB-Beispiele (allesamt in prädikativer Funktion) sind etwa: Allentsteig (NÖ): „a so a liaber Hund“ ‘(ein) so ein lieber Hund’; Raggal (Vbg.): „an ganz an böser Hund“ ‘ein ganz (ein) böser Hund’. Inversion von Gradpartikel und Artikel: Wohl im gesamten österreichischen Sprachraum ist eine Inversion von Artikel und intensivierenden Gradpartikeln wie ganz, recht charakteristisch, wie sie in Phrasen wie ganz ein lieber Hund zu beobachten ist (z. B. Neumarkt (NÖ)/Weißbriach (Ktn.): „gonz a liaber Hund“ ‘ein ganz (ein) lieber Hund’; Raggal (Vbg.): „ganz an leaber Hund“ ‘ein ganz (ein) lieber Hund’). Je nach theoretischer Perspektive kann das in Rede stehende Phänomen auch als „Artikel-Drop“ interpretiert werden, bei dem ausgehend von einer tiefenstrukturell vorhandenen „Artikelverdopplung“ (s. o.) der „erste“ Indefinitartikel getilgt ist (s. Kallulli & Rothmayr 2008; Lenz et al. i. V.). Indefiniter Artikel bei Massennomen: Zu den Besonderheiten im Bereich der Nominal- bzw. Artikelphrase des Bairischen wie auch alemannischen Vorarlbergs gehört die Realisierung eines Indefinitartikels bei „mass nouns“ (Kontinuativa) (s. Glaser 1996; Weiß 1998: 69−70; Breuer 2017b; Strobel 2017). Die SFB-Experimente liefern hierzu folgende Beispielbelege: Allentsteig (NÖ)/Neckenmarkt (Bgld.): „a Müüch“ ‘(eine) Milch’, „a Gööd“ ‘(ein) Geld’; Weißbriach (Ktn.): „a Mil(i)ch“ ‘(eine) Milch’; Raggal (Vbg.): „a Geld“ ‘(ein) Geld’. Definitartikel bei Eigennamen: Der österreichische Sprachraum gehört zu den Regionen, in denen Eigennamen in der Regel mit Definitartikel versehen sind (z. B. der Franz, die Sophie; s. Weiß 1998: 70; Werth 2017). Possessiver „Dativ“: Als nicht-standardsprachliche Konstruktionsvariante zum Ausdruck adnominaler Possession findet sich in den Dialekten des österreichischen Sprachraums der sogenannte „possessive Dativ“ (s. Weiß 1998: 77; Weiß 2008; Kasper 2017), wie er in den folgenden SFB-Belegen vertreten ist (zum dativischen „Kasusmarker {in}“
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
s. ausführlicher Mauser 1998: 130−134): Allentsteig (NÖ): „dem Roboter sein Haxen“ ‘das Bein des Roboters’, „im Peter sei Bein“ ‘Peters Bein’; Neckenmarkt (Bgld.): „im Mou sei Fuaß“ ‘der Fuß des Mannes’. In Abhängigkeit vom Kasussystem des Dialekts kann der Possessor im Falle eines Zusammenfalls von Dativ und Akkusativ (in einem einzigen obliquen Kasus) auch mit -n markierten Kasusmorphemen auftreten, sodass die Bezeichnung „possessiver Dativ“ im österreichischen Sprachraum nur bedingt zutreffend erscheint (zur Diskussion s. auch Kasper 2017 und Weiß 2008: 384). Wenn auch laut Forschungsliteratur der „possessive Dativ“ nicht nur im bairischen, sondern auch im alemannischen Sprachraum vorkommen soll (s. etwa Jutz 1925: 233), ist das Phänomen laut aktueller SFB-Lage im alemannischen Sprachraum deutlich seltener belegt. Zumindest im alemannischen Raggal (Vbg.) findet sich bislang vor allem die alternative vonKonstruktion und diese häufiger auch pränominal (z. B. „Das isch vom Roboter des Bee.“ ‘Das ist das Bein vom Roboter.’). tun-Periphrase und täte-Konjunktiv: Periphrastische Verbalkonstruktionen mit dem Auxiliar tun zählen zu den häufig vorkommenden Konstruktionen der österreichischen Dialektlandschaft (s. Eroms 1984, 1998; Schwarz 2004; Elspaß 2005). Ihre genaue Funktionalität ist aber bislang noch ungeklärt (s. Abraham & Fischer 1998: 41). Inwieweit ihr flächendeckend (auch) aspektuelle Funktion (etwa als Progressivkonstruktion) zuzuschreiben ist, kann auf Basis der vorhandenen Literatur nicht entschieden werden. In SFB-Experimenten zu Progressivkonstruktionen kommt das Phänomen zumindest häufiger vor (z. B. Allentsteig (NÖ): „Die Frau tuat beten.“ ‘Die Frau betet.’; Neckenmarkt (Bgld.): „Der Mo duad eikafm.“ ‘Der Mann kauft ein.’, „Der duat Grumpirn schöön.“ ‘Der schält Kartoffeln.’; Weißbriach (Ktn.): „Der duad wondern.“ ‘Der wandert.’; Raggal (Vbg.): „Der Ma duad ekaufa.“ ‘Der Mann kauft ein.’). Der mit der indikativischen tunPeriphrase in engem Zusammenhang zu sehende täte-Konjunktiv (s. Lenz 2017) ist − neben seinen synthetischen Alternativvarianten (s. Kap. 4.) − ebenfalls in den österreichischen Dialekten (wie auch Regiolekten) anzutreffen (s. Glauninger 2008, 2011a, 2011b; Breuer & Wittibschlager i. V.). SFB-Belege (mit jeweils kontrafaktischer Semantik) sind etwa: Allentsteig (NÖ): „Da darad i nur mit die Puppen spün.“ ‘Da würde ich nur mit (den) Puppen spielen.’; Raggal (Vbg.): „Ja, i dät a Weltreise macha go.“ ‘Ja, ich würde eine Weltreise machen (gehen).’ Am- und beim-Progressive: Die auch als „Rheinische Verlaufsform“ bekannte Konstruktion bestehend aus „am + Infinitiv“ zum Ausdruck von Progressivität ist im alemannischen Vorarlberg verbreitet (s. Schallert 2010: 43), im Bairischen hingegen (noch) seltener und wohl nicht als genuin dialektal anzusehen (s. Kuhmichel 2017). Diese Hypothese zur dialektalen Arealverteilung deckt sich mit den Ergebnissen des Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) bezüglich des am-Progressivs in „alltagssprachlichen“ Registern in Österreich (s. ). Auch die SFB-Experimente konnten die Konstruktion bislang vor allem im alemannischen Raggal in Vorarlberg evozieren (z. B. Raggal (Vbg.): „Die Frau isch am bete.“ ‘Die Frau betet.’, „Die Rosen ischt am uufblühe.“ ‘Die Rose blüht auf.’), während in den bairischen Ortspunkten Alternativkonstruktionen (darunter auch beim-Progressive, s. Meier 2015) deutlich überwiegen (z. B. Taufkirchen (OÖ): „Er is beim Erdäpfe schöön.“ ‘Er schält Kartoffeln.’). Doppelte Negation („Negative Concord“): Es wurde oben bereits auf eine Reihe (auch syntaxtheoretisch) interessanter „Verdopplungsphänomene“ der österreichischen Dialektsyntax hingewiesen, die innerhalb des Bairischen wohl gerade den mittelbairischen Raum als besonders verdopplungsaffin auszeichnen (s. Lenz, Ahlers & Werner
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2015: 15−18 sowie Kt. 8−11; Bayer 1990; Weiß 1998, 2002). Auch im Bereich der Negation sind solche „Verdopplungen“ vorzufinden, wobei hervorzuheben ist, dass in der Regel lediglich die Negation eines Satzes bzw. einer Phrase jeweils doppelt markiert ist, ohne dass aber identische Negationselemente wiederholt auftreten. Exemplarische Belege für den bairisch-österreichischen Sprachraum, die aus den „freien“ Antworten der SynBai-Fragebögen (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015) stammen, sind: Wien: „I hob ka Wuascht ned gessn.“; bzw. Andau (Bgld.): „I how kua Wuascht nid gaissn.“ ‘Ich habe keine Wurst gegessen.’ (Auf die Dynamik der Negationsverdopplung wird in Kap. 6. eingegangen.)
6. Sprachdynamik Was die linguistische und soziolinguistische Dynamik des österreichischen Variationsraums betrifft, ist der Forschungsstand bislang überschaubar. Die drei regionalen Sprachatlanten zu Teilgebieten des österreichischen Sprachraums (VALTS, TSA, SAO) fokussieren primär die Basisdialekte der „autochthonen bäuerlichen Grundschicht“ (Scheuringer 1992: 272) und „den ältesten noch erreichbaren Sprachzustand“ (Gabriel 1985: 17), ohne dabei der Dialektdynamik − etwa über intergenerationelle Vergleiche − systematisch nachzugehen. Auch Monographien, die die Dialektdynamik einzelner Ortspunkte bzw. Kleinregionen in den Blick nehmen, sind bislang rar (s. Scheutz 1985 zu Ulrichsberg (OÖ); Scheuringer 1990 zu Braunau am Inn (OÖ); Unger 2014 zu Deutsch-Wagram (NÖ)). Eine zumindest für ausgewählte bairische Syntaxphänomene flächendeckende dialektdynamische Studie liegt mit Lenz, Ahlers & Werner (2015) vor. Die indirekte SynBaiFragebogenerhebung berücksichtigt zwei Generationen, um der syntaktischen Dynamik innerhalb der bairischen Dialekte in Österreich, Bayern und Südtirol nachzugehen. Dabei wurden auch Spracheinstellungsdaten bzgl. Varietätenkompetenzen und -gebrauch abgefragt (zu ausgewählten Ergebnissen s. u.). Noch seltener als Apparent-Time-Studien sind Real-Time-Analysen zur österreichischen Dialektlandschaft, in deren Rahmen ältere Dialektdaten mit aktuelleren verglichen werden (z. B. Patocka 2017). Was die Dynamik am entgegengesetzten Pol der Dialekt-Standard-Achse betrifft, dominieren Analysen zum lexikalischen Wandel, die sich insbesondere mit „Austriazismen“ und ihrem befürchteten Schwund zugunsten bundesdeutscher Lexik beschäftigen (s. z. B. Wiesinger 2015; Koppensteiner 2015). Neben lexikalischen Studien zum standardsprachlichen Bereich sind es vor allem soziophonetische Analysen, deren synchrone Variationsbefunde dynamisch interpretiert werden (können) (z. B. Moosmüller 1987; Fanta-Jende i. Dr.). Als dritte Quelle, die im Hinblick auf standardsprachdynamische Analysen ausgewertet werden kann, sei auf attitudinal-perzeptive Studien zum österreichischen Sprachraum verwiesen, in deren Rahmen Spracheinstellungen wie Hörerurteile (nicht nur) zum standardsprachlichen Spektrum erhoben werden (z. B. Moosmüller 1991; Steinegger 1998; Ender & Kaiser 2009; Soukup 2009; Herrgen 2015; Kleene 2017; Koppensteiner & Lenz 2017 u. i. V.). Was sprachdynamische Forschung zur gesamten vertikalen Dialekt-Standard-Achse betrifft, besteht sicher gerade im Hinblick auf die Dynamik im „mittleren Bereich“ (Bellmann 1983) zwischen Dialekt und Standard das größte Forschungsdesiderat (s. Kap. 7.). Nach allen vorliegenden Befunden zeichnet sich der österreichische Sprachraum insgesamt − und vor allem mit Blick auf seine eher ländlichen Räume − durch eine im
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
Abb. 11.3: Relative Häufigkeiten (in %) der kategorisierten Antworten auf die Frage „Wie haben Ihre Eltern mit Ihnen gesprochen, als Sie klein waren?“ (Datenbasis: 318 bairisch-österreichische Informanten (v. a. ländliche Räume) der SynBai-Studie, s. Lenz, Ahlers & Werner 2015)
Vergleich zu weiten Teilen Deutschlands relativ hohe Dialektloyalität, eine hohe Dialektkompetenz bei relativ vielen Sprechern und einen häufigen Dialektgebrauch aus. Dies belegen die (mehr oder weniger) flächendeckenden Fragebogenerhebungen von Steinegger (1998) (Erhebungszeitraum: 1984/1985 und 1991/1992), Ender & Kaiser (2009) wie auch Lenz, Ahlers & Werner (2015). In der letztgenannten und aktuellsten Erhebung (SynBai-Studie), die den gesamten bairischen Sprachraum abdeckt, sind die Daten von 318 bairischen Dialektsprechern aus vor allem ländlichen Regionen Österreichs enthalten, von älteren Dialektsprechern einerseits (NORMs, s. Chambers & Trudgill 1998: 29) und einer jüngeren Informantengruppe (zwischen 20 und 30 Jahre, höhere Bildung, Pendler) andererseits (s. Abb. 11.3). Trotz der soziodemographisch deutlich differierenden Parameter geben beide Generationen mehrheitlich an, in „Dialekt“ bzw. „Mundart“ sozialisiert worden zu sein, allerdings ist der Prozentsatz für diese Primärvarietät bei den jüngeren Befragten deutlich geringer. Die jüngere Generation zeigt zudem ein deutlich heterogeneres Antwortverhalten als die ältere, indem sie auch auf andere („mittlere“ bzw. „höhere“) Sprechlagen der Vertikalen verweist. Die bei Steinegger (1998: 134) herausgearbeitete Normvorstellung, mit „kleinen Kindern“ solle nicht Dialekt gesprochen werden, hat in der Sozialisationspraxis Ende des 20. Jahrhunderts (in den Geburtsjahrgängen der jungen SynBai-Generation) zumindest teilweise konkrete Umsetzung erfahren (s. auch Ender & Kaiser 2009: 289−290). Anders als im alemannischen Vorarlberg (s. hierzu Ender & Kaiser 2009: Abb. 8) kommen auch in ländlichen Regionen des bairisch-österreichischen Sprachraums anstelle einer „rein“ dialektalen Sozialisation zunehmend Spracherwerbskontexte zum Vorschein, in deren Rahmen „Hochdeutsch“ − seltener als alleinige, häufiger in Kombination („Mischung“) mit „Dialekt“ oder „Umgangssprache“ − genutzt wird, wobei kritisch zu hinterfragen ist, welche Konzepte hinter den laiensprachlichen Bezeichnungen stehen (s. hierzu Koppensteiner & Lenz 2017; Moosmüller 1991). Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist das SwitchingVerhalten von Eltern, die in der Kommunikation mit den Kindern erst „mit Hochdeutsch beginnen“, dann aber doch „nach einigen Jahren“ zu Dialekt (seltener „Umgangsspra-
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Abb. 11.4: Relative Häufigkeiten (in %) der kategorisierten Antworten auf die Frage „Wird der Dialekt Ihres Ortes auch noch von der jüngeren Bevölkerung gesprochen?“ (Datenbasis: 318 bairischösterreichische Informanten (v. a. ländliche Räume) der SynBai-Studie, s. Lenz, Ahlers & Werner 2015)
che“) wechseln. (Zitat einer befragten jungen Germanistik-Studentin: „Während des Spracherwerbs hat meine Mutter mit mir teilweise eine standardnahe Varietät gesprochen, später aber Dialekt.“) Bislang scheinen aber die sich in den letzten Jahrzehnten verändernden sprachlichen Sozialisationsbedingungen noch relativ geringe Auswirkungen auf die aktive Dialektkompetenz und den Dialektgebrauch in ländlichen Bereichen Österreichs zu haben; dies deuten die Selbsteinschätzungen der aktuell 20- bis 30-Jährigen an (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015: Abb. 6 u. 7), die ihre eigene Dialektkompetenz zwar geringer einschätzen als die ältere Generation, sich aber noch immer eine gute bis sehr gute Dialektkompetenz zuschreiben und von einem häufigen Dialektgebrauch („auf die Woche verteilt“) ausgehen (s. auch Steinegger 1998: 288). Die Ergebnisse der SynBai-Fragebogenerhebung werden aktuell durch direkte Befragungen im Rahmen des SFB DiÖ bestätigt. Auch die junge SFB-Generation (Pendler zwischen 18 und 35 Jahre) in ländlichen Regionen Österreichs bewertet ihre passive bzw. aktive Dialektkompetenz durchschnittlich mit 5,4 bzw. 4,4 Punkten auf einer siebenstufigen Skala (0 = „gar nicht“; 6 = „vollständig“) und liegt damit in der Nähe der Selbsteinschätzungen der alten österreichischen NORMs (passive D-Kompetenz: 5,6 Punkte; aktive D-Kompetenz: 4,8 Punkte) (Erhebungsstand: September 2017). In ländlichen Bereichen Österreichs korreliert die hohe Dialektkompetenz auch mit einem hohen Dialektgebrauch. Die NORMs sowie (nur wenig abweichend) die jüngere Generation der SFB-Gewährspersonen geben an, „auf die Woche verteilt“ häufig bis sehr häufig Dialekt zu sprechen (s. ebenso die Ergebnisse der SynBai-Studie in Lenz, Ahlers & Werner 2015). Die Befunde zur subjektiven Dialektkompetenz und zum individuellen Dialektgebrauch werden in Abb. 11.4 (Basis: SynBai-Studie) durch die generelle Einschätzung bezüglich des Sprachgebrauchs „der jungen Generation am Heimatort“ ergänzt. Demnach gehen etwa 77 % der SynBai-Informanten eindeutig davon aus, dass in ihrem Heimatort die jüngere Generation dominierend bzw. mehrheitlich noch Dialekt gebraucht. Weniger als 3 % verneinen die Frage vollständig. Interessant sind die weniger eindeutigen Antworten (auf die offen gestellte Frage) zwischen diesen Extrempositionierungen, die damit begründet werden, dass zwar „Dialekt bei den Einheimischen“ oder „bei traditionellen Festen“, aber eben nicht bei den „vielen Zugereisten“
11. Bairisch und Alemannisch in Österreich
Abb. 11.5: Selbsteinschätzungen (Mittelwerte) „autochthoner“ Wiener bezüglich der individuellen aktiven Dialektkompetenz (1 = „sehr gut“; 5 = „mangelhaft“) und des Dialektgebrauchs „auf die Woche verteilt“ (1 = „immer“; 5 = „nie“) (Datenbasis: 32 Wiener, s. Breuer i. V.)
noch den Alltag bestimmt. Und auch wenn der jüngeren Generation am Ort noch Dialektgebrauch zugesprochen wird, handelt es sich dabei um eine „abgeschwächte Form“, einen „neuen“ und „eigenen Dialekt“, um eine „Dialektmischung“, die eben „keinen extremen Dialekt“ mehr darstellt und bei der „Wörter oder Phrasen fehlen“, die „verglichen mit der Großelterngeneration bei jungen Menschen nicht mehr verwendet werden“. Die Einstellungszitate liefern Evidenz dafür, dass Prozesse des auch objektiv-systemlinguistisch nachvollziehbaren Dialektumbaus (s. u.) ebenso in der Wahrnehmung der dialektsprechenden Bevölkerung selbst ihre Spuren hinterlassen (haben). Deutlicher als in den ländlichen Regionen Österreichs zeichnen sich Prozesse der soziolinguistischen Dialektaufgabe − Abnahme von Verwendungssituationen und Domänen, in denen Dialekt gesprochen wird, bzw. auch rückläufige Zahlen an Dialektsprechern − in den österreichischen Mittel- und Großstädten ab, in denen Befragte niedrigere Dialektkompetenzen und selteneren Dialektgebrauch angeben und auch davon ausgehen, dass die „jüngere Bevölkerung“ „kaum“ bis „gar nicht mehr“ Dialekt kann bzw. spricht: „Erstaunlich viele Wiener Jugendliche verwenden gegenwärtig nahezu unabhängig von sozialschicht- und situationsspezifischen Faktoren im Rahmen der kommunikativen Bewältigung ‚alltäglicher‘ sozialer Routinen − somit als ‚Alltagssprache‘ − eine standardnahe Varietät des Deutschen. Dabei wird offensichtlich die Realisierung dessen angestrebt, was im kollektiven Wiener Sprachbewusstsein als Hochdeutsch (in Abgrenzung zu den als Dialekt bezeichneten Nonstandard-Varietäten) verankert ist.“ (Glauninger 2007: 6; s. für Wien auch Moosmüller 1991, Steinegger 1998: 169 u. 201−202, Glauninger 2010; für die Mittelstadt Villach in Kärnten s. Malliga 1997) Die variationslinguistische Syntax-Studie von Breuer (i. V.), in der „autochthone“ Wiener (selbst in Wien gebürtig und sprachlich primär sozialisiert, mindestens ein Elternteil ebenfalls) aus drei Altersgruppen auch bezüglich ihrer Varietätenkompetenzen und ihres -gebrauchs befragt wurden, liefert hierzu aktuelle Daten (s. Abb. 11.5). Alle befragten Wiener Gewährspersonen der Breuer-Studie (Breuer i. V.) schreiben sich selbst eine nur eher befriedigende aktive Dialektkompetenz zu; den „schlechtesten“ Mittelwert erreichen die jüngsten Befragten. Diese jüngste Informantengruppe spricht nach Eigenaussage auch so gut wie nie Dialekt, wobei Dialektgebrauch insgesamt in Wien − auch bei älteren und autochthonen Wienern − wohl zunehmend eine Seltenheit darstellt. Diese Befunde decken sich mit allen bisherigen Befunden zum städtischen Ballungsraum Wien, in dem im Laufe der
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letzten Jahrzehnte massive Prozesse der Dialektaufgabe stattgefunden haben (s. auch Glauninger 2010: 188−189; Steinegger 1998: 169 u. 201−203). An die Stelle des Dialekts, wenn er abgebaut wird, rückt in der Stadt wie auf dem Land seltener eine standardsprachliche Sprechlage, häufiger aber − zumindest im bairischen Teil Österreichs − eine „mittlere“, „umgangssprachliche“ (regiolektale), wobei die Varietäten- bzw. Sprechlagenwahl komplexen sozio-situativen Steuerungsfaktoren unterliegt (s. Moosmüller 1991; Wiesinger 1992: 290−291; Malliga 1997: 111−137; Steinegger 1998: 128 u. 105−151; Ender & Kaiser 2009; Glauninger 2012: 89−92; Koppensteiner & Lenz 2017). Als eher dialektloyale Domänen und Kontexte geben die Gewährspersonen des SFB DiÖ in ländlichen Regionen vor allem die privaten Bereiche der Familie (mit Einschränkungen hinsichtlich der Kommunikation mit Kleinkindern, s. o.), der Ortsnetzwerke und generell des Freundes- und Bekanntenkreises an, wobei die (zumindest passive) Dialektkompetenz des Kommunikationspartners eine wesentliche Rolle spielt und gegebenenfalls zu abweichender Varietätenwahl führen kann (etwa falls der Lebenspartner aus einer nicht-österreichischen Region kommt und/oder keine oberdeutsche Dialektkompetenz besitzt). Auch innerhalb der beruflichen Domäne, selbst wenn sich der Arbeitsplatz in urbaneren Räumen befindet (z. B. Wien oder Graz), wird − nach den Selbsteinschätzungen − Dialekt auch von den jüngeren Berufstätigen nicht selten als „alltägliche“ Kommunikationssprechlage bevorzugt und genutzt, wobei auch hier Faktoren der Vertrautheit bzw. der emotionalen und sozialen Nähe (z. B. „Kollegenfreund“ versus „Vorgesetzter“), der Sprach- bzw. Dialektkompetenzen des Gegenübers oder der konkrete Mikrokontext bzw. Anlass (z. B. „Kaffeepause“ versus „Präsentation“) die Frage der Varietätenadäquatheit und des Varietätengebrauchs mitbestimmen. Zu Domänen bzw. Situationsfaktoren, die prototypischerweise als dialektfremde Kontexte genannt werden, gehören Domänen des öffentlichen Raums wie „Amt“, „Gericht“, „Bank“, „Polizei“ bzw. Kommunikationspartner, bei denen potenzielle Verständnisschwierigkeiten (aufgrund vermuteter mangelnder Dialektkompetenz) zu einem intendierten Varietätenwechsel führen (z. B. „Touristen“, „Fremde“, „Nicht-Muttersprachler“). Was die (subjektiven) Gebrauchsfrequenzen des Dialekts und seine Präferenz generell betrifft, hebt sich insbesondere der Westen Österreichs als die Region ab, in der innerösterreichisch die größte Dialektloyalität vorzufinden ist (s. Ender & Kaiser 2009; Steinegger 1998: 201−203). Hinsichtlich soziodemographischer Faktoren zeigen österreichweit Geschlecht, Bildung und Urbanitätsgrad des Wohnorts eine hohe Korrelation mit den Angaben zu Dialektkompetenz, Dialektgebrauch und Dialektpräferenz, insofern als gerade die Einstellungsdaten von jüngeren Frauen mit höherer Bildung und diese gerade in urbane(re)n Kontexten auf eine fortgeschrittene Dialektaufgabe und eine gesteigerte Tendenz zu Standardsprachgebrauch hinweisen. Dies belegen bereits die Ergebnisse umfangreicher Fragebogenerhebungen aus den 80ern und 90ern des 20. Jahrhunderts (s. Malliga 1997; Steinegger 1998: 295; Wiesinger 2009: 233). In dialektloyaleren Regionen Österreichs zeichnet sich Dialektdynamik zu Beginn des 21. Jahrhunderts (aktuell noch) weniger durch Prozesse der Dialektaufgabe (s. o.) als vielmehr durch Prozesse des Dialektumbaus aus, der sich im Abbau lokaler bis kleinräumiger Merkmale zugunsten großräumiger regionaler Merkmale bzw. im Abbau von lokalen „Basisdialekten“ zugunsten großräumiger „Regionaldialekte“ oder „Umgangssprachen“ (Regiolekte) zeigt. (Zu den im Folgenden aufgeführten lautlichen Merkmalen sei auch auf die Beschreibungen in Kap. 3. verwiesen.) Zumindest für Ober- und Niederösterreich liegen mit Scheutz (1985) (Ulrichsberg), Scheuringer (1990) (Region Braunau) und Unger (2014) (Deutsch-Wagram) dialektdynamische Studien in Form lokaler Tiefen-
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Abb. 11.6: „Durchschnittliche Häufigkeit der Realisierung von Dialektmerkmalen“ (in %) im intersituativen Vergleich im oberösterreichischen Ulrichsberg (nach Scheutz 1985: 237)
bohrungen vor, die über den Vergleich verschiedener Sprechertypen (insbesondere Alter) und/oder verschiedener Erhebungssituationen einen tieferen Einblick in die „Veränderungssensitivität“ (Lenz 2003) dialektaler Lautmerkmale an einem Ort ermöglichen. Aus dem intersituativen Vergleich („Freundesgespräch“ versus „Interview“) von sechs Variablen bei sieben Sprechern arbeitet Scheutz (1985) für das oberösterreichische Ulrichsberg verschiedene Typen an „Abbauaffinität“ (Lenz 2003) dialektaler Merkmale heraus (s. besonders Scheutz 1985: 226−252). Dabei zeigen sich die Phänomene der b-Spirantisierung und l-Vokalisierung intersituativ recht stabil. Sie werden von den Gewährspersonen im Interview nur leicht seltener realisiert als im Freundesgespräch und erweisen sich in beiden Situationen mit Frequenzwerten zwischen 70 und 100 % als besonders abbauresistente Phänomene des ostmittelbairischen Sprachraums. Deutlichere intersituative Differenzen zeigen die ua-Diphthonge (< mhd. uo), die im Freundesgespräch noch dominieren, im Interview hingegen nur noch ca. 40 % der Belege ausmachen. Bereits im Freundesgespräch niedrigere Gebrauchsfrequenzen (um die 65 %), die dann im Interview noch weiter zurückgehen und dort auf einem Frequenzniveau um 20 bis 30 % bleiben, zeigt der Ausfall auslautender ch-Frikative (z. B. di(ch), i(ch)) sowie ia-Diphthonge (< mhd. ie und üe). Die offensichtlichsten Abbautendenzen, die nicht nur aus dem intersituativen Vergleich abgeleitet werden können, sondern sich auch intrasituativ im Freundesgespräch nachweisen lassen, zeigt die Entrundung von standardsprachlichen ü-Lauten, die bereits im Freundesgespräch mit nur 33 % deutlich seltener als die anderen genannten Phänomene auftreten. Die mehr intuitive Einteilung der fünf Phänomene in Typen divergierender Abbausensitivität, die Scheutz (1985) auf Basis recht weniger Sprecher aus dem intersituativen Vergleich ableitet, wird durch die intrasituativen Befunde im Interview gestützt, für das Daten von insgesamt 21 Sprechern zur Verfügung stehen. Der ostmittelbairischen Ulrichsberg-Studie (Scheutz 1985) steht Scheuringer (1990) mit seiner dialektdynamischen Untersuchung der am Inn gelegenen Regionen Braunau
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Abb. 11.7: Frequenzen (in %) dialektaler Merkmale im „semi-formellen Interview“ dreier Sozialgruppen („Schichten“) im westmittelbairischen Braunau (nach Scheuringer 1990: 319−420)
(Österreich) und Simbach (Bayern) gegenüber, für deren westmittelbairischen Österreich-Teil 29 autochthone Personen zwischen 28 und 78 Jahren mit variierenden Bildungsgraden im Rahmen „semi-formeller Interviews“ aufgenommen wurden. In diesen setzte der Interviewer selbst „städtischen Dialekt“ ein, „oft [waren] auch andere Familienmitglieder zugegen“ (Scheuringer 1990: 297). Abb. 11.7 fasst die Frequenzen analysierter morphologischer und lautlicher Dialektmerkmale zusammen, wie sie für die von Scheuringer (1990) differenzierten Sozialgruppen („Schichten“) herausgearbeitet werden können. Aus der Übersicht in Abb. 11.7 lassen sich (mindestens) drei Klassen an Phänomenen für den westmittelbairischen Raum um Braunau ableiten, deren Gruppierung graduell zu verstehen ist: Einerseits weisen die Interviewdaten aus Scheuringer (1990) Dialektmerkmale auf, die in der semiformellen Aufnahmesituation sprecherübergreifend eine Seltenheit darstellen und damit besonders hohe Grade an Abbauaffinität zeigen. Zu diesen Phänomenen gehören erstens westmittelbairische Diphthongvarianten der l-Vokalisierung bei mhd. -el-, während sich die ostmittelbairische Variante mit gerundetem ö-Monophthong als stabil erweist (vgl. Scheuringer 1990: 395−401; s. auch oben Abb. 11.2), zweitens besondere verbalmorphologische Paradigmenformen (z. B. Endungen der 1. Ps. Pl. und 3. Ps. Pl. auf -ent anstelle von standardsprachlich -en), drittens die Ortsadverbien drent(en) ‘drüben’ und herent(en) ‘herüben’, viertens hân-Formen in der 1. Ps. Sg. des Verbs haben und fünftens ein zu e-Vokalen hin ausgeglichenes Verbalparadigma von werden. Auf der anderen Seite der Graphik (Abb. 11.7) bzw. der „Abbauhierarchie“ (Lenz 2003) finden sich hingegen solche Phänomene, die von allen drei differenzierten
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Sozialgruppen in (mehr oder weniger) häufigem Maße eingesetzt werden. Diese Gruppe der abbaustabileren Merkmale beinhaltet die Richtungsadverbien des Bildungsmusters einher/ausher ‘rein’/‘raus’, basisdialektale oa-Reflexe zu mhd. ei (anstelle der sich ausbreitenden a-Monophthonge) sowie die „s-losen“ Varianten von gewesen. Zwischen diesen beiden Phänomenklassen sind Merkmale mit deutlichster intrasituativer Dynamik abzulesen, bei denen in der Regel die als „Grundschicht“, seltener die als „Mittelschicht“ ausgewiesenen Informanten noch höhere Gebrauchsfrequenzen zeigen, während die „höhere Schicht“ als sprachprogressivste Gruppe sie im Interview vermeidet bzw. sehr selten realisiert (darunter h-anlautende Paradigmenformen des Verbs sein (s. auch oben Abb. 11.2), e/i-Stammvokale im Paradigma von kommen, die westmittelbairische Variante der l-Vokalisierung nach i-Vokal sowie die Richtungsadverbien umhin ‘hinüber’ und umher ‘herüber’). Die jüngste bereits abgeschlossene regionalsprachliche Tiefenbohrung liegt mit Unger (2014) zum niederösterreichischen Deutsch-Wagram (nahe der Wiener Stadtgrenze) unter Berücksichtigung der ländlicheren Ortspunkte Aderklaa und Parbasdorf vor, in deren Rahmen 18 Variablen aus dem Bereich der Phonologie und Morphonologie bei 27 Sprechern aus drei Generationen analysiert wurden. Neben Freundesgesprächen und Interviews kommen in Deutsch-Wagram − in Anlehnung an die Wittlich-Studie von Lenz (2003) − Übersetzungsaufgaben in den „Intendierten Ortsdialekt“ (IOD) sowie die „Intendierte Standardsprache“ (ISS) zum Einsatz. Auch wenn die Auswertungen lediglich auf dem Vergleich von Mittelwerten mehr intuitiv gebildeter Teilgruppen an Gewährspersonen basieren und nicht mit weiterführenden statistischen Verfahren (etwa Clusteranalysen) gewonnen wurden, können aus dem intra- wie intersituativen Variationsverhalten der analysierten Phänomene Aussagen bezüglich der Dynamik regionalsprachlicher Merkmale im Ostmittelbairischen formuliert werden (s. Abb. 11.8). Dabei erweisen sich die Lenisierung der Plosive p und t sowie k in der Konsonantenverbindung kl- ebenso wie die rVokalisierung als besonders abbaustabile Phänomene. Die Tatsache, dass diese konsonantischen Merkmale nicht nur in allen vier Erhebungssituationen in hohen bis sehr hohen Frequenzen realisiert werden, kaum intersituative Variation zeigen und zudem selbst in der ISS-Übersetzung zu über 60 % aller Fälle produziert werden, deutet die Stabilität der Phänomene über die vertikale Variationsachse bis in standardsprachnächste Register hinweg an. Diese Ergebnisse des intersituativen Vergleichs aus Deutsch-Wagram decken sich mit Beschreibungen zur „Standardaussprache in Österreich“, in denen die Lenisierung der Plosive p, t und eingeschränkt k als konstitutive Merkmale standardsprachlicher Sprechlagen Österreichs ausgewiesen sind (vgl. Wiesinger 2009: 239−241). Eine weitere Phänomengruppe zeichnet sich hinsichtlich ihres intra- und intersituativen Variationsverhaltens dadurch aus, dass ihre insgesamt hohen Gebrauchshäufigkeiten in IOD-Übersetzung, Freundesgespräch und Interview nur minimal variieren und ein deutlicher Switch zu standardsprachlichen Realisierungen allein in der ISS-Übersetzung auftritt. Zu dieser Gruppe gehören nonstandardsprachliche Varianten im Bereich des ge-Präfixes (e-Synkopierung oder Präfixausfall), im Bereich des ver-Präfixes (Kürzung zu [fɐ]) sowie postverbal klitisierte mir/ma-Formen für das Personalpronomen wir. Der erst in der ISS-Erhebung feststellbare deutliche Frequenzabfall dieser Phänomene lässt sie als stabile regionalsprachliche Merkmale in Österreich erscheinen, die aber durch das Switching-Verhalten der Gewährspersonen individuenübergreifend als nicht-standardkonform ausgewiesen werden.
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Abb. 11.8: Abbauhierarchie regionalsprachlicher Varianten (Frequenzen in %) im intersituativen Vergleich im niederösterreichischen Deutsch-Wagram (nach Unger 2014: Tab. 102 u. 106)
Varianten einer dritten und größten Gruppe sind − nach den hohen Frequenzen in der IOD-Übersetzung und im Freundesgespräch zu urteilen − stabile Dialektmerkmale des ostmittelbairischen Dialekts, die aber in formelleren Kontexten (wie dem Interview) deutlich abgebaut werden. Zu ihnen gehören verschiedene standarddifferente Varianten zu mhd. öu und iu, ia-Diphthonge (< mhd. üe), u-Monophthonge anstelle von standardsprachlich ü (z. B. in Küche), die Entrundung von mhd. ö, die l-Vokalisierung, die nVokalisierung (mit Nasalierung des vorangehenden Vokals z. B. in Stein, Mann), die aVerdumpfung, a-Monophthonge als Reflexe zu mhd. ou und standarddifferente Reflexe zu mhd. ei. Die Varianten einer vierten Gruppe zeichnen sich durch besondere Abbauaffinität aus, die sich in niedrigeren Frequenzen bereits in der IOD-Übersetzung und im Freundesgespräch zeigen, in dem sie nur noch etwa die Hälfte ihrer potenziellen Belegstellen füllen. Zu den Dialektmerkmalen mit größter Abbauaffinität gehören in Niederösterreich: ia-Diphthonge (neben einigen anderen standarddifferenten Reflexen zu mhd. ie), die Palatalisierung von s (nach r), ua-Diphthonge (< mhd. or und ôr), zu i entrundetes mhd. ü und schließlich die mit m- anlautenden (betonten) Vollformen des Personalpronomens wir.
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Wenn auch ein Vergleich der drei skizzierten Studien von Scheutz (1985), Scheuringer (1990) und Unger (2014) dadurch erschwert wird, dass es erstens nur wenige sich überschneidende Phänomene gibt, die zweitens mit unterschiedlichen Methoden erhoben und drittens (und erschwerend) auch abweichend präsentiert werden (mit Blick auf individuelle Sprecher bzw. lediglich in Form von Sprechergruppen), können aus den Ergebnissen − und diese eingebettet in die gesamte Forschungsliteratur sowie ergänzt durch die aktuellen Analysen des SFB DiÖ − dennoch Thesen bezüglich genereller regionalsprachlicher Dynamiktendenzen auf der phonetisch-phonologischen Systemebene (zumindest) für den mittelbairischen Raum Österreichs formuliert werden: Autochthone Sprecher der (eher) ländlichen Räume Österreichs nutzen in ihrem sprachlichen Alltag in der Regel eine große Breite des regionalsprachlichen Spektrums von Dialekt bis Standard. Dabei zeigt das intersituative Sprachverhalten vergleichbare Muster in dem Sinne, als erstens generell auf divergierende Situationsparameter der Formalität/Informalität sprachlich reagiert wird und zweitens die „Richtung“ der Sprachvariation überindividuell vergleichbar ist: In der Regel gilt, dass Dialektvarianten, die bereits in informelleren Kontexten oder Dialektkompetenzerhebungen selten(er) vorkommen, auch in formelleren Kontexten bzw. Standardsprachkompetenzerhebungen seltener verwendet werden. Anders formuliert: Regionalsprachliche Merkmale, die im interindividuellen Vergleich in informelleren Erhebungskontexten höhere Frequenzen erzielen, haben eine größere Chance, auch in standardsprachnäheren Kontexten − zumindest partiell − aufzutreten. Die Mehrheit regionalsprachlicher Phänomene weist dabei eine mehr graduelle und weniger absolute situationstypische „Verteilung“ auf Gesprächssituationen/-kontexte auf. Nur wenige Merkmale des mittelbairischen-österreichischen Sprachraums werden ohne größere intersituative Variation über verschiedene Erhebungssettings hinweg eingesetzt (s. etwa Lenisierungsphänomene oder die r-Vokalisierung). Neben intersituativen Vergleichen lassen auch interindividuelle Kontrastierungen (in Form von intergenerationellen Vergleichen oder Gegenüberstellungen von „Sozialschichten“) unterschiedliche Grade an Abbauaffinität bzw. Veränderungsstabilität von regionalsprachlichen Phänomenen deutlich werden. Die zu beobachtenden Prozesse des Dialektumbaus machen auch vor den für die traditionellen dialektgeographischen Arealstrukturen konstitutiven Merkmalen nicht halt. So stellt etwa das Phänomen der a-Velarisierung, die zu den „auffälligste[n]“ Phänomenen des Gesamtbairischen zählt (Wiesinger 1983: 837), „den wohl variabelsten und instabilsten Bereich innerhalb des Vokalismus dar, was letztlich auf der seit Jahrhunderten schon existenten Spannung zwischen (in sich je nach sprachhistorischen Ausgangspunkten verschiedenartiger) ‚Verdumpfung‘, d. h. Hebung des a, und der von der Standardsprache geforderten Aussprache beruht“ (Scheuringer 1990: 210). Nicht selten ist dialektal eine Abnahme des Velarisierungsgrades festzustellen, wie Scheutz (1985: 70) sie etwa für Ulrichsberg (OÖ) beobachtet: „Das /ɔ/ des Dialekts wird zunehmend ersetzt durch einen ‚Kompromißlaut‘ [ɒ], der quasi phonetisch vermittelnd zwischen dem [ɔ] des Dialekts und [ɑ] der Hochsprache steht.“ Neben der Standardsprache sind aber auch andere Varietäten im horizontal-arealen wie vertikal-sozialen Varietätenkontakt maßgeblich an den Prozessen des Dialektumbaus beteiligt. Eine besondere Strahlkraft kann dem stadtsprachlichen Variationsraum Wiens zugeschrieben werden, dessen Varianten sich vor allem im Osten Österreichs ausbreiten (s. Scheutz 1985: 69−71; Scheuringer 1990: 301− 311; Moosmüller 1991; Fanta-Jende i. Dr.), und dies obwohl das „Wienerische“ in Einstellungsbefragungen eher geringe Sympathiebezeugungen hervorruft (s. Steinegger
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1998: 353−369). „Die schon seit Jahrhunderten wirksame sprachliche Strahlkraft Wiens“ erfasst nach Wiesinger (1992: 297) unmittelbar das umgebende Niederösterreich und nördliche Burgenland und wirkt im Donauraum über Linz auf Oberösterreich, besonders dessen Osten, und im Alpenraum über Graz auf die Steiermark ein und erstreckt sich im Süden bis Kärnten und reicht im Westen bis Salzburg. Gegenüber dieser Osthälfte bildet Tirol mit zum Teil auch schon dem westlichen Salzburg und Oberkärnten die Westhälfte, indem dort östliche Neuerungen nur langsam oder gar nicht Fuß fassen, während Vorarlberg ohnehin vielfach eigene Wege geht.
Doch nicht nur in Bezug auf die Dynamik im nonstandardsprachlichen Spektrum wird dem großstädtischen Variationsraum Wien eine zentrale Bedeutung für Österreich zugeschrieben. Nach Glauninger (2008: 235) „entscheidet sich [in Wien] − im Kontext des Kräftespiels mit den beiden anderen staatsbezogenen Standardvarietäten der ‚plurizentrischen‘ Sprache Deutsch (schweizerisches bzw. bundesdeutsches Standarddeutsch) auch das ‚Schicksal‘ einer spezifisch österreichischen Variante der deutschen Standardsprache.“ Als Beispiel für die Ausbreitung dialektaler Merkmale der österreichischen Hauptstadt dienen die Wiener a-Monophthonge (als Reflexe zu mhd. ei) anstelle ursprünglicher dialektaler oa-Diphthongvarianten (z. B. Neckenmarkt (Bgld.) basisdialektal [d̥͡ svɔɐ̯], [hɔɐ̯m] versus regionaldialektal [t͡sva̠:] ‘zwei’, [ha̠:m] ‘heim’). Wie auch die Studien von Scheutz (1985), Scheuringer (1990) und Fanta-Jende (i. Dr.) zeigen, ist es west- wie ostmittelbairisch häufig nicht der standardsprachliche Diphthong, der „an die Stelle des ɔɐ tritt, […], sondern das offenbar als weniger stark dialektal empfundene ‚Wiener‘ a, das sich als ein Merkmal umgangssprachlicher Sprechweise immer stärker überregional durchzusetzen beginnt. […] Das heißt aber nicht, dass a als ‚Hochspracheform‘ konnotiert ist und statt ai̭ eingesetzt wird: Sowohl ɔɐ als auch a-Formen nehmen im Interview generell im Vergleich zum Gespräch signifikant ab“ (Scheutz 1985: 242; s. auch Scheuringer 1990: 412−420 und schon Pfalz 1910). Auch die „Wiener Monophthongierung“ ist ein Phänomen, das von Wien ausgehend areal-horizontale und sozial-vertikale Ausdehnung zeigt. Laut Moosmüller (1997: 1) reicht dieser Prozess weit ins Mittelbairische hinein und kann zudem im Südbairischen beobachtet werden, „although to a lesser degree. Due to its proximity to the city of Vienna, monophthongization is more frequently applied in Graz; in Innsbruck for example, a slight tendency towards monophthongization, primarily affecting weak prosodic positions, can be observed.“ Neben der Wiener Region im Speziellen ist es das Ostmittelbairische im Allgemeinen, dessen Merkmale sich innerösterreichisch ausbreiten. Dabei wird auch die Grenze zwischen West- und Ostmittelbairisch (s. o. Abb. 11.2) zunehmend in Richtung Staatsgrenze verschoben: „[A]b der Verselbständigung Österreichs im 12. Jh. ist die sprachliche Dynamik dieses Raums [der Grenzraum zwischen West- und Ostmittelbairisch; A. N. L.] zum größten Teil vom Rückzug westlicher Erscheinungen im Gebiet des heutigen Oberösterreich geprägt, so daß heute de facto ein breites Übergangsgebiet zwischen West- und Ostmittelbairisch existiert, das basisdialektal zwischen dem östlichen Innviertel und dem Osten Oberösterreichs angesetzt werden kann.“ (Scheuringer 1990: 170). Die Ausdehnung des ostmittelbairischen Raums kann an verschiedenen lautlichen Merkmalen festgemacht werden, wie etwa an der Ausbreitung der l-Vokalisierung des Wiener Typs (s. Scheuringer 1990: 395−401; Vollmann et al. 2015). Während die l-Vokalisierung ein Beispiel für die Ausbreitung großlandschaftlicher Dialektmerkmale darstellt, sind natürlich auch Prozesse des Abbaus kleinräumiger Merkmale zugunsten regionaldialektaler Merkmale
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zu beobachten. Als Beispiel seien in diesem Zusammenhang die ui-Mundarten genannt, die sich durch ui-Diphthonge als Reflexe zu mhd. uo auszeichnen und deren Verbreitungsgebiete − vor allem im Ostmittelbairischen und Südmittelbairischen − im Auflösen begriffen sind (s. hingegen noch Kranzmayer 1956: Kt. 15). Die skizzierten Prozesse der regionalsprachlichen Dynamik lassen sich mit Blick auf das Individuum auch mit soziodemographischen Parametern in Zusammenhang bringen, wobei es gerade die sozialen Variablen Alter sowie Bildung und damit zusammenhängend die Art der Berufstätigkeit sind, die − in mehr oder weniger starkem Maße − mit Dialektgebrauch bzw. standardsprachlicher Orientierung zu korrelieren scheinen. Die bisher genannten Beispiele betreffen allesamt die Lautebene. Prozesse der Dialektdynamik, aber auch der Dialektstabilität lassen sich ebenso auf anderen linguistischen Systemebenen, wie etwa der Syntax, sehr wohl nachweisen (zu den im Folgenden aufgeführten syntaktischen Phänomenen s. auch Kap. 5. im Detail). Zu den eher abbauaffinen Merkmalen bairischer Dialektsyntax gehört sicher die „doppelte Negation“, die im intergenerationellen Vergleich einen Rückgang hinsichtlich ihrer Gebrauchshäufigkeit wie Präferenz zeigt. Dies konnte bislang zumindest am Beispiel des Mengenquantifikators kein in Kombination mit nicht (mehr) nachgewiesen werden (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015: 15−18 u. Kt. 8−11); die bisherigen SFB-Daten bestätigen die insgesamt im österreichischen Sprachraum niedrigen Gebrauchsfrequenzen des (hoch salienten) Phänomens, das nicht nur in Sprachproduktionsexperimenten seltenst zu evozieren ist, sondern auch bei expliziter Befragung niedrige Präferenzwerte erreicht. Die in den Dialekten bereits nachvollziehbaren Abbautendenzen lassen sich auch in regiolektalen Registern nachvollziehen. Hierzu sei auf die AdA-Karten „nie nichts“ sowie „kein Hunger“ () verwiesen, die nur noch sehr wenige Belege (n < 5) doppelter Negation im gesamten österreichischen Raum verzeichnen. Während die Negationsverdopplung bereits dialektal im Abbau begriffen ist, erweist sich das „Complementizer Agreement“ als recht stabiles Merkmal der mittelbairischen Dialektsyntax (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015: 10−15, Kt. 6 u. 7). Es zeigt in beiden SynBai-Generationen − zumindest im Hinblick auf sein Vorkommen bei der Subjunktion ob bzw. der Nebensatzeinleitung warum in Sätzen mit 2. Ps. Pl. − offensichtliche intergenerationelle Parallelen „hinsichtlich der morphonologischen Form, der Auftretenshäufigkeiten sowie der arealen Staffelung der Varianten“ (Lenz, Ahlers & Werner 2015: 15), was insgesamt auf relative Stabilität dieses bairischen Dialektmerkmals hinweist. Auch die bisherigen SFB-Daten belegen insgesamt stabile bis nur leicht abnehmende Gebrauchswerte für das Phänomen in mittelbairischen Dialekten (s. Fingerhuth & Lenz i. V.). Ein dialektsyntaktisches Phänomen, das sich nicht nur als stabil erweist, sondern bei dem sich auch Potenzial zum (horizontalen wie vertikalen) Ausbau andeutet, stellt nach SynBai- wie SFB-Datenlage die „Artikelverdopplung“ dar (s. Lenz, Ahlers & Werner 2015: 18−19, Kt. 12−15; Lenz et al. i. Dr.), die vom AdA ebenso in der „Alltagssprache“ des Mittel- und Südbairischen wie Vorarlberger Raums als geläufiges Phänomen angegeben wird (s. ). Ob und in welchem Maße sich die oben skizzierten und vor allem mit Blick auf den mittelbairischen Raum nachweisbaren Dynamikprozesse auch im interregionalen Vergleich und hier insbesondere im südbairischen und alemannischen Teil Österreichs nachvollziehen lassen oder aber ob wir dort anders gestaltete Formen der Variation und des Wandels vorliegen haben, werden weitere Analysen in nächster Zukunft zeigen.
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7. Vertikale Register Was die vertikale Struktur der Dialekt-Standard-Achse in Österreich betrifft, so sind wohl für den bairischen und alemannischen Sprachraum unterschiedliche Variationsverhältnisse anzunehmen. Die Vagheit der Formulierung ist dem Umstand geschuldet, dass es bislang an regionalen oder lokalen Tiefenbohrungen fehlt, die sowohl dem emischen wie auch etischen Status von Varietäten oder „Verdichtungsbereichen“ (Lenz 2003, 2010) nachgehen. Auf Basis der verfügbaren Forschungsliteratur ist es lediglich möglich, Hypothesen bezüglich vertikaler Register in Österreich zu formulieren, die als Ausgangspunkt weiterer Forschung dienen sollen. Im Hinblick auf den bairisch-österreichischen Sprachraum finden sich in der sozialdialektologischen Forschungsliteratur des 20. Jahrhunderts gehäuft Ansätze, die von mehreren „(Sprach)schichten“, „Sprachformen“, „Sprechlagen“, „Varietäten“, „Einschnitten“ auf der vertikalen Variationsachse ausgehen und dabei die „Grenzen“ zwischen diesen Sprechlagen als mehr oder weniger kontinuierlich sehen (s. Pfalz 1925; Kranzmayer 1953; Reiffenstein 1973, 1982; Hutterer 1978; Wiesinger 1980, 1992; Malliga 1997; Unger 2014). Diese Modelle unterscheiden meist zwischen drei bis fünf „Schnitten“, die die Dialekt-Standard-Achse untergliedern. Als exemplarischer Vertreter eines Vierstufenmodells ist Wiesinger (1980) (und ebenso Wiesinger 1992) zu nennen, der „4 Typen der gesprochenen Sprache“ (Wiesinger 1980: 174) ansetzt: Zwei dieser „Subsysteme“ oder „Varietäten“ ordnet er dem dialektalen Bereich zu („Basisdialekt“ versus „Verkehrsdialekt“); ihnen steht auf der anderen Seite der vertikalen Skala die „Standardsprache“ − verstanden als „mündliche Realisierung der Schriftsprache“ − gegenüber (Wiesinger 1980: 184). Zwischen dialektalen Subsystemen und der Standardsprechsprache ist in Wiesingers Modell die „Umgangssprache“ angesiedelt, die [d]ie Vermittlung zwischen Dialekt und Standardsprache vollzieht […]. Während sie strukturell besonders auf der phonetisch-phonologischen Ebene die primärkennzeichnenden, als anstößig empfundenen Merkmale des Dialekts meidet, was gebietsweise sehr unterschiedlich ist, und an ihre Stelle die höherwertigen standardsprachlichen Entsprechungen setzt, behält sie besonders auf der syntaktischen und lexikalischen Ebene verkehrsdialektale Elemente bei oder bildet gelegentlich Kompromißformen aus. Die Umgangssprache besitzt daher auf Grund der verbleibenden sekundären dialektalen Merkmale zwar noch eine deutliche regionale Bindung, verliert aber durch ihre standardsprachlichen Anteile den intimen Charakter des Dialekts. (Wiesinger 1980: 189)
Als noch komplexer als die intralinguale Variation in ländlichen Regionen werden die vertikalen Variationsverhältnisse in großstädtischen Kontexten modelliert. Bezüglich des sprachlichen Möglichkeitsraums autochthoner Wiener postuliert etwa Kranzmayer (1953: 202−203) einerseits einen basisdialektalen Pol (auf den mit Labels wie „Altwienerisch“, „Haussprache“, „echte Mundart“ oder „Dialekt“ referiert wird), dem am entgegengesetzten Pol die „leicht wienerisch verfärbte, schriftsprachliche Ausdrucksweise“ gegenübersteht. Die „vorschriftsmäßig[e] Bühnensprache“ wird hingegen in der Kompetenz „Zugewanderte[r] und besonders ursprünglich Fremdsprachige[r]“ verortet (Kranzmayer 1953: 203). Auf „Sprachtönungen“ des mittleren Bereichs zwischen Dialekt und Standard wird mit Bezeichnungen wie „Umgangssprache“, „Verkehrssprache“ bzw. − wenn diese sich „an den echten Dialekt noch enger an[lehnt]“ − „Verkehrsmundart“ oder auch „Jungwienerisch“ verwiesen (Kranzmayer 1953: 202−203). Mehr wohl als Stil denn als vertikalen Varietätentyp führt Kranzmayer (1953: 203) zusätzlich das „Hyperwienerisch[e]“ an, „eine betont wienerische Sprechweise“, die er „Chauffeuren und Sportlern“
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zuschreibt und „an der Grenze zur letzten Sprachschicht der Großstadt“ liege, nämlich an der Grenze „zum Jargon. Dieser bemüht sich absichtlich, Althergebrachtes einerseits ins Zynisch-Lächerliche, andererseits ins Schwerverständliche umzubilden, und fühlt sich dabei originell, fortschrittlich und doch urwienerisch.“ Wie Kranzmayer (1953) für Wien geht auch Hutterer (1978: 325) im Hinblick auf Graz davon aus, dass der standardnächste Pol autochthoner Städter eine „Hochsprache in ihrer österreichischen Abart“ und an bestimmte soziodemographische Variablen gekoppelt ist, indem er diese „Bildungssprache“ als „auf die Schriftlichkeit orientierte Sprache gebildeter Schichten“ fasst. In seinem Schichtenmodell erhält die „städtische Umgangssprache“ einen defizitären Misch-Charakter, da sie sich zwar einerseits an der Bildungssprache orientiere, aber andererseits „Merkmale des eigentlichen Stadtdialekts“ aufweise, die dadurch erklärt werden, dass „die Sprecher nicht imstande sind, die Formen der Bildungssprache durchzuhalten“ (Hutterer 1978: 325). Wenn auch alle vertikalen Strukturmodelle des letzten Jahrhunderts mehr auf Beobachtung und Introspektion denn auf eine breit angelegte empirische Basis gründen, so haben sie dennoch die folgenden Punkte gemeinsam: Erstens beschränken sie sich auf Regionen und Städte des bairisch-österreichischen Sprachraums, während der alemannische Teil Österreichs (s. u.) in den Strukturmodellen nicht erfasst ist. Zweitens werden neben einem dialektalen und einem standardsprachlichen Pol eine bis mehrere Sprechlagen im „mittleren Bereich“ (Bellmann 1983) angenommen, die als mehr oder weniger vom Dialekt bzw. von der Standardsprache beeinflusst dargestellt und in der Regel als ein „Mischprodukt“ aus beiden Quellen angesehen werden. Drittens werden die differenzierten Sprechlagen vor allem extralingual definiert, indem sie mit Bezug auf „Sozialschichten“ (bestimmte Berufsgruppen, Generationen u. a.), Sprachsituationen oder Domänen charakterisiert werden, ohne dass konkrete linguistische Phänomene bzw. Merkmalsbündel angeführt werden. Wenn dennoch selten explizit auf sprachliche Merkmale referiert wird, dann in der Regel eingebettet in wenige Beispielsätze, die exemplarisch die einzelnen Sprachschichten repräsentieren sollen (s. etwa Hutterer 1978; Wiesinger 1980, 1992). Unabhängig von der Anzahl vertikaler Verdichtungen werden die Möglichkeiten, die verschiedenen Sprechlagen klar voneinander abheben zu können, in der Forschungsliteratur unterschiedlich eingeschätzt, sodass einerseits mehr von distinktiven Einschnitten ausgegangen wird (s. etwa Malliga 1997; Wiesinger 1980, 1992), während sich andererseits − insbesondere in jüngerer Forschungsliteratur − Vertreter von Kontinuumsmodellen herausarbeiten lassen, die allenfalls von „Kookkurrenzregularitäten“ ausgehen, ohne dass sich aber sonstige Evidenzen „für die Annahme einer quasi-homogenen Sprachvarietät ‚Umgangssprache‘ oder anderer entsprechender sprachlicher ‚Schichten‘ finden“ ließen (Scheutz 1999: 129; zur Diskussion s. auch Martin 1996 sowie Ender & Kaiser 2009). Dass sich Varianten im bairisch-österreichischen Sprachraum intra- und interindividuell nicht distinktiv, sondern graduell (auf Gesprächssituationen u. a.) verteilen, wurde auch in diesem Beitrag in Kap. 6. anhand der Studien von Scheutz (1985), Scheuringer (1990) und Unger (2014) nachvollzogen. Unter diesen liefert insbesondere die Studie von Unger (2014) zur Region Deutsch-Wagram erste und sicher noch zu überprüfende Evidenzen für die These, dass sich im ostmittelbairischen Sprachraum innerhalb des sprachlichen Kontinuums der Dialekt-Standard-Achse sehr wohl intraund intersituative „Verdichtungsbereiche“ (im Sinne von Lenz 2003, 2010) nachweisen lassen. Diese sind nach Unger (2014) in Deutsch-Wagram einerseits zwei Sprechlagen innerhalb des Dialekts („Basisdialekt“ und „Regionaldialekt“) sowie zwei Sprechlagen
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II. Die Sprachräume des Deutschen
im „Nicht-dialektalen Nonstandard“ („Regionaler Standard“ und „Regionaler Nonstandard“). Die Zusammenschau aus bisheriger Forschungsliteratur und den aktuellen Befunden aus dem SFB DiÖ deuten insgesamt darauf hin, dass die vertikale Struktur des bairisch-österreichischen Sprachraums wohl nicht mittels eines Kontinuumsmodells oder eines Varietätenmodells adäquat erfasst werden kann, sondern dass ein synoptisches Modell der Sprachrealität am nächsten kommt, in dem einerseits von einem vertikalen Kontinuum ausgegangen werden kann, in dem andererseits aber sehr wohl emisch und etisch fassbare Varietäten oder zumindest Verdichtungsbereiche herauskristallisiert werden können. Für ein Kompromissmodell (Verdichtungen im Kontinuum) sprechen auch die Einstellungen der sprechenden Individuen selbst, wie sie in aktuellen Studien erhoben worden sind (und werden) und die Evidenzen dafür liefern, dass es „im Bewusstsein der Sprecher/-innen so etwas wie distinkte Sprachschichten zu geben [scheint] (man denke nur an den alltäglichen Gebrauch der Bezeichnungen ‚Dialekt‘, ‚Hochdeutsch‘ und ‚Umgangssprache‘)“ (Ender & Kaiser 2009: 270). Auch die Studie von Kleene (2017) − mit regionalen Schwerpunkten auf Schärding (A) und Passau (D) − belegt, dass sich die Primärkategorien „Hochdeutsch“ und „Dialekt“, die zunächst auf ein dichotomisches Verhältnis der Konzepte hindeuten, bei näherer Betrachtung in der Konzeptualisierung der Befragten als stark subdifferenziert erweisen, indem beiden Primärkategorien bis zu drei Ausprägungen zugeordnet werden, zwischen denen graduelle Übergänge bestehen (s. Kleene 2017: 307−330; s. auch Koppensteiner & Lenz 2017). Was den alemannisch-österreichischen Sprachraum betrifft, sind Untersuchungen, die Antworten geben könnten auf die Frage, inwieweit hier wirklich von einem diglossischen Spektrum auszugehen ist, oder inwieweit auch in Vorarlberg ein Zwischenbereich zwischen Dialekt und Standard vorliegt, rar (s. Kaiser & Ender 2015). Für Letzteres sprächen zum einen die Ergebnisse der Telefonbefragung von Ender & Kaiser (2014): Während die alemannisch-österreichischen Gewährspersonen zwar einerseits (und wie zu erwarten) ihr eigenes Sprachverhalten in der Selbsteinschätzung eher dichotomisch organisieren, scheint das Konzept der Umgangssprache wenig bis gar nicht verfügbar zu sein […]. In der Erhebung tatsächlicher Sprachdaten offenbarten sich jedoch nicht die zu erwartenden großen Diskrepanzen zwischen den beiden Dialektregionen [d. h. zwischen bairischem und alemannischem Raum in Österreich; A. N. L.]. Hier waren vielmehr recht überraschende Parallelen zu beobachten. So bildet das kollektive Repertoire der Sprachgemeinschaften […] in beiden Regionen durchaus ein ‚sprachliches Kontinuum‘ zwischen Standard und Dialekt, in dem die ganze Spannbreite von sehr standardnahem bis stark dialektalem Sprechen mit einer Vielzahl von Zwischenformen auftritt. (Ender & Kaiser 2014: 144)
Evidenzen für diese These eines auch in Vorarlberg vorliegenden vertikalen Kontinuums bzw. eines sich herausbildenden Kontinuums, dessen Mitte (noch) „nicht so ‚dicht‘ ist wie etwa in den bairischen Gebieten Ostösterreichs“ (Schönherr 2016: 350) liefert zudem die aktuelle Sprachgebrauchsstudie zu Albersschwende im Bregenzerwald von Schönherr (2016).
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12. Ostfränkisch
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Alexandra N. Lenz, Wien (Österreich)
12. Ostfränkisch 1. 2. 3. 4.
Einleitung Historie und Besonderheiten Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie
5. 6. 7. 8.
Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Sprachdynamik Vertikale Register Literatur
1. Einleitung Der geschlossene ostfränkische Dialektraum liegt heute gänzlich auf deutschem Staatsgebiet. Zu ostfränkischen Sprachinseln vergleiche man Riehl (Art. 43 in diesem Band), historische Spuren und gegenwärtige Reste des Ostfränkischen im heutigen Tschechien sind im Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien (ADT) erfasst (Bachmann 2015: 122−124, Abb. 5). Den größten arealen Anteil am Ostfränkischen haben die heutigen Regierungsbezirke Unter-, Mittel- und Oberfranken des Freistaats Bayern. Alltagssprachliche Sammelbezeichnung für diese Gebietskörperschaften und die von ihnen abgedeckte Landschaft ist Franken. Das Sprachgebiet des Ostfränkischen ist also nicht der Osten dieses Frankens (oft mit dem östlichsten der genannten Regierungsbezirke, Oberfranken, gleichgesetzt), wiewohl das in der Laienöffentlichkeit oft so verstanden wird. Auf dieses Missverständnis hat das Ostfränkische Wörterbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften jüngst reagiert, indem man den dialektgeographischen Begriff Ostfränkisch durch laienverständlichere Alternativbezeichnungen ersetzt hat. Zuerst wurde, 2007, ein Handwörterbuch mit der Sprachraumbezeichnung von Bayerisch-Franken im Titel herausgebracht (HWBF). Dann wurde das gesamte Akademie-Projekt in Fränkisches Wörterbuch umbenannt. Das ist nun wiederum in der (historischen) Dialektologie missverständlich, da diese unter dem Fränkischen − von Südosten nach Nordwesten − neben dem Ostfränkischen auch das Rheinfränkische, darüber hinaus das Mittelfränkische (aus Moselfränkisch und Ripuarisch) sowie das Niederfränkische bis in die Niederlande und Flandrisch-Belgien hinein subsumiert (vgl. Wiesinger 1983: Kt. 47.4). Die sprachhistorischen und -geographischen Terminologien rund um das Fränkische sind im Kapitel Der ostfränkische Sprachraum des HWBF (11−13) dargestellt (dazu siehe auch Kap. 2.). Ostfränkisch im dialektologischen Sinne (vulgo Fränkisch) wird zwar hauptsächlich in den heutigen fränkischen Regierungsbezirken Bayerns gesprochen, aber nicht nur. https://doi.org/10.1515/9783110261295-012
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Vielmehr reicht es im Norden nach Thüringen hinein: in einem westlichen Abschnitt bis an den Kamm des Thüringer Waldes, auf dem der sog. „Rennsteig“ verläuft, in einem östlichen Abschnitt bis ins Thüringische und Sächsische Vogtland. Im Südwesten greift das Ostfränkische in Form des Südostfränkischen (zu lesen als Süd-Ostfränkisch, nicht als *Südost-Fränkisch) in den Hohenlohischen Raum Baden-Württembergs aus (zu dessen Binnengliederung Wagner 1987: 55, Kt. IV). Umgekehrt wird in den fränkischen Regierungsbezirken Bayerns nicht nur Ostfränkisch gesprochen (Kleiner Bayerischer Sprachatlas [KBSA] 2006: 18, Kt. 4): In den Westen Unterfrankens schieben sich nämlich bis in den Spessart das Rheinfränkische und bis in die Rhön das Osthessische (als Teile des Westmitteldeutschen), in den äußersten Norden Oberfrankens bis an die Kammlinie des Thüringisch-Fränkischen Schiefergebirges das Thüringische (als Teil des Ostmitteldeutschen). Im äußersten Südwesten Mittelfrankens wird das Ostschwäbische (als Teil des Alemannischen) gesprochen, im Südosten Ober- und Mittelfrankens das Nordbairische (als Teil des Bairischen). Südlich von Gunzenhausen bildet das Ostfränkische mit diesen Nachbardialekten eine von der traditionellen Sprachgeographie so genannte „Dreistammesecke“ (Nübling 1938). Hier stoßen die dialektalen Großräume aneinander, die den Dialektverbund des Oberdeutschen ausmachen: das Ostfränkische, das im Südwesten daran angrenzende Alemannische und das im Südosten daran angrenzende Bairische. Von diesen drei „Stämmen“ waren die Baiern aber aus einer Ethnogenese erst hervorgegangen (vgl. Koch, Art. 10 in diesem Band) und die Franken keine „Stammes“-Franken. Nur für die Alemannen in diesem Raum kann ein solcher „Stammes“-Status beansprucht werden. Die Thüringer, in der Frühzeit dort ein ebenso wichtiger Faktor, kommen in dieser Charakterisierung nicht mehr zur Geltung (Näheres s. u. Kap. 2.). Der Versuch, das Ostfränkische mit dem Nordbairischen zu einem Dialektverbund Nordoberdeutsch zusammenzufassen (Straßner 1980), hat sich als nicht tragfähig erwiesen und wurde nicht weiterverfolgt. Nach (Nord-)Westen und Nord(ost)en grenzt sich das Ostfränkische gegen das Mitteldeutsche ab: gegen das Rheinfränkische und Osthessische als seinen nächstliegenden westmitteldeutschen Anrainermundarten, gegen das Thüringische als seine nächstliegende ostmitteldeutsche Anrainermundart. Alle besprochenen Räume und Teilräume haben, dem Kontinuum-Charakter der horizontalen (diatopischen) Variation geschuldet (siehe Lameli, Art. 7 in diesem Band), keine scharfen Grenzen (anschaulich geschildert im KBSA: 19−20). Vielmehr bündeln sich in bestimmten geographischen Abschnitten identisch oder nah beieinander verlaufende Linien, an denen sich raumunterscheidende sprachliche Merkmale gegenüberstehen. Je mehr solche Linien sich zu sog. „Isoglossenbündeln“ vereinen, desto deutlichere, objektiv an der Zahl der differierenden Merkmale messbare, Dialektgrenzen bilden sich aus. Andere Merkmale machen jedoch an solchen Grenzen nicht Halt und setzen sich in die Nachbarräume hinein fort. In der subjektiven Wahrnehmung der Unterschiede (siehe Purschke & Stoeckle, Art. 29 in diesem Band) spielt nun aber nicht nur oder sogar weniger die Frequenz solcher Charakteristika eine Rolle, sondern auch oder sogar mehr deren Salienz (Auffälligkeit). Oft sind es gerade solche Merkmale, welche die traditionell auf segmentale Charakteristika der Laute, Formen und syntaktischen Einheiten gerichtete Dialektgeographie gar nicht erfasst: so vor allem − aus dem Lautlichen − suprasegmentale (prosodische) Merkmale und die sog. „Artikulationsbasis“, die den „Akzent“ einer Sprachlandschaft ausmachen (siehe Kehrein, Art. 5 in diesem Band, und Peters, Art. 21 in diesem Band), zumal für das Ohr des Laien, oder − aus dem Lexikalischen − sog.
12. Ostfränkisch
Kt. 12.1: Sprachräume und Sprachschranken in Franken (Steger 1968: Kt. 0)
„Kennwörter“ (zu bairischen siehe Koch, Art. 10 in diesem Band: Kap. 1., mit Verweis auf Lötscher, Art. 22 in diesem Band). Entsprechend vorsichtig sind auch die hier beschriebenen Räume und (Außen- wie Binnen-)Grenzen des Ostfränkischen zu beurteilen (zu ihnen Kt. 12.1). Es ist wie andere dialektale Großlandschaften auch von einem Kranz von Übergangsgebieten zu benachbarten Großdialekten umgeben. Im Nordwesten zum Rheinfränkischen und Osthessischen (Westmitteldeutschen) hin liegen der Mainzer und Fuldaer Übergangsstreifen. Übergangsräume zum Thüringischen (Ostmitteldeutschen) hin bilden im Norden der Henneberger und im Nordosten der Reußische Raum. Im Südosten zum (Nord-)Bairischen hin stellt der östliche Nürnberger Raum ein solches Übergangsgebiet dar. Als nennenswertes binnen-ostfränkisches Mischgebiet identifiziert Steger (1968: Kt. 0; hier Kt. 12.1) etwa einen Würzburger Übergangsstreifen zwischen Würzburger und Regnitz-Raum. Es sind vornehmlich lautliche Merkmale, auf die sich die Geographie sowohl der − relativ − homogenen Räume als auch der Übergangsgebiete stützt (Wiesinger 1983: 813; Steger 1968: Untertitel). Einzelheiten dazu folgen in den Kap. 3.1. und 3.2.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
2. Historie und Besonderheiten Die folgenden Ausführungen zur Geschichte des Gebiets stützen sich auf die Überblicksdarstellungen der Historiker Störmer (2004) und Endres (1997, 2003, 2004) sowie des Dialektologen Wagner (1987), der die Ergebnisse vor allem von Steger (1968) zusammenfasst. Im Einzelnen nachgewiesen werden nur wörtlich zitierte Stellen. „Aspekte einer fränkischen Sprachgeschichte“ erörtern Klepsch & Weinacht (2003). Der heutige Landschaftsname Franken, die Bezeichnung Franken für die dort lebende Bevölkerung und die alltagssprachlich (inzwischen sogar von der ostfränkischen Dialektlexikographie − siehe oben Kap. 1. − fachsprachlich) gebrauchte Bezeichnung Fränkisch für die von dieser Bevölkerung gesprochene Varietät haben nur mittelbar mit den gleichlautenden (mittelalter)historischen und älteren sprachgeographischen Bezeichnungen für den germanischen Stamm der Franken (sog. „Stammesfranken“) und die von ihnen gesprochene Sprache (mit ihren Varietäten Nieder-, Mittel-, Rheinfränkisch) zu tun. Die heute Fränkisch (i. S. v. dialektgeographisch Ostfränkisch) sprechenden Franken (i. S. v. Ostfranken) sind keine nach Süden den Rhein und schließlich nach Osten den Main aufwärts gewanderten Stammesfranken gewesen. Vielmehr ist die vorher dort schon ansässige Bevölkerung unter die expandierende Herrschaft der Stammesfranken und ihrer politischen Erben gekommen. Auch der Begriff Ostfranken (adjektivisch ostfränkisch) ist ambig, stand er doch ursprünglich für den Ostteil des Frankenreichs generell und wurde erst später auf das östlich an Rheinfranken anschließende mainische Ostfranken übertragen. Francia orientalis, Name für das Ost-Reich der geteilten Groß-Francia, wurde in der Bedeutung also zunächst eingeengt auf den Namen für das im Sinne dieses Artikels Ostfränkisch sprechende Gebiet, und zur Disambiguierung schon in historischer Zeit dann von Francia (orientalis) in Franconia (latinisierter Name für den heute als Franken bezeichneten Raum) umbenannt. Unter die Königsherrschaft des (stammes)fränkischen Geschlechts der Merowinger kommen um 500 im Westen, am Untermain, Alemannen, um 530 in dem hier in Betracht stehenden östlich anschließenden Gebiet am mittleren Main Thüringer. Das erst später der fränkischen Herrschaft erschlossene Obermain-Gebiet war slawisch. Im Gebiet südlich von Ansbach „verstanden sich die Mitglieder der − offenbar heterogenen − Bevölkerung […] als Sualafelder (Schwalmfelder), die […] nicht zu den ‚Franken‘ zählen wollten“ (Störmer 2004: 18). Im Südosten bilden Baiern ein territorialpolitisches Gegengewicht. Zuerst gehörte das mittelmainische Territorium noch in den Machtbereich eines vom König eingesetzten thüringischen Amtsherzogs, doch zur Begrenzung von dessen Macht wurde im 7. Jahrhundert „als Gegengewicht gegen den Thüringerherzog“ und „möglicherweise unter Abspaltung ursprünglich thüringischer Herrschaftsbereiche im Maingebiet“ ein neuer Herzog mit Sitz in Würzburg installiert (Störmer 2004: 19) − ein erster Schritt zu einem politischen Territorium (Ost-)Franken. Von diesem aus suchten die Amtsinhaber nun umgekehrt Macht in Thüringen zu gewinnen. Dieses nicht zuletzt dadurch erstarkende fränkische Amtsherzogtum wird gleich zu Beginn der KarolingerZeit um 720 liquidiert, weil der König das Herzogsgut selber beanspruchte. In der Folge brauchten die Karolinger Franken als „Zwischenstation und Brückenkopf“ für die Feldzüge gegen die Sachsen, für die Mission der Main- und Regnitzwenden und für die Umwandlung des Herzogtums Baiern in karolingisches Königsland. Nach der Reichsteilung gab es Bestrebungen, die Mainlande u. a. mit den umliegenden heute mittelfränki-
12. Ostfränkisch
schen Gebieten des Sualafelds und des bairischen Nordgaus zu einem eigenen ducatus Austrasiorum zu machen. Für den Sprachraum bleiben aus diesen frühen territorialgeschichtlichen Gegebenheiten bis in die Gegenwart wirksam: nach Norden starke dialektale Gemeinsamkeiten der mittleren Mainlande (dem heutigen Unterostfränkischen) mit dem Thüringischen, nach Süd(west)en im heterogenen historischen Schwalmfeld (s. o.) keine starken Isoglossenbündel, nach Südosten eine Übergangslandschaft abnehmender ostfränkischer und zunehmender nordbairischer Merkmale. Weiter nach Osten ins heutige Oberfranken hinein erfolgt fränkische Besiedlung erst noch: von den Mainlanden her und deshalb zunächst unter Mitnahme der dortigen Sprache. In spät- bzw. nachkarolingischer Zeit gaben die Konradiner nach 900 „dem mainfränkischen Raum den Charakter einer Königslandschaft“ (Störmer 2004: 27). Noch viel mehr galt das für den letzten König aus sächsischem Hause, den vormaligen Baiernherzog Heinrich II., dessen Herrschaftsmaßnahmen „die Königsmacht in Franken intensiv betonten“, vor allem durch die von der Idee des Aufbaus eines Reichskirchensystems motivierte Gründung des Bistums Bamberg als einer „Art königlichen Eigenbistums“ − „zum Schaden von Würzburg und Eichstätt“ (Störmer 2004: 28). Ebenfalls „dem östlichen Franken ein anderes Gesicht“ − und Gewicht − gab der Salier Heinrich III. dadurch, dass er dort mit (der Burg) Nürnberg ein neues Zentrum des Königtums schuf (Störmer 2004: 29). Zum Ende der Salierzeit und spätestens unter dem Staufer Friedrich I. Barbarossa gewannen die Würzburger Bischöfe herzogsähnliche Gewalt in ihrem Bistum. Im Osten wurde damit das Bamberger Hochstiftsgebiet dauerhaft ausgeklammert, im Westen die „Zweiteilung Frankens“ (Störmer 2004: 32) in einen Würzburger Norden und einen staufischen/stauferfreundlichen Süden festgeschrieben. Mit Ende des Hochmittelalters erscheint Franken also, was die territorien- und damit auch sprachraumbildenden Kräfte betrifft, insgesamt dreigeteilt in das herzogtumsähnliche Bistum Würzburg in „Unterostfranken“, das königliche Eigenbistum Bamberg in „Oberostfranken“ und das von staufenfreundlichem Adel dominierte „Süd-Ostfranken“. Mit Nürnberg ist in der fränkisch-bairischen Pufferzone eine neue (sprach)raumbildende Kraft im Kommen, deren Bedeutung im Spätmittelalter wachsen wird. Ein erster Schritt dahin ist 1273 die vom Habsburger Rudolf I. verfügte „Umwandlung des Burggrafenamts in eine Territorialgrafschaft, die künftig den Machtkern bei der Territorialbildung der Zollern in Franken stellte“ (Endres 2004: 50). Die beiden daraus erwachsenen zollerischen Markgrafentümer Kulmbach-Bayreuth und Ansbach sind später mit den beiden Hochstiften Würzburg und Bamberg (sowie am Rande Eichstätt) und den Reichsstädten unter der Führung Nürnbergs die „wichtigsten politischen Faktoren im spätmittelalterlichen Franken“ (Endres 2004: 54). Unter Ludwig dem Bayern war 1340 „erstmals die Raumeinheit ‚Franken‘ deutlich erkennbar“ geworden, als sich die genannten Gebiete und Städte mit den Grafen von Henneberg, Castell und Hohenlohe „zu einem Landfriedensbund vereinten“ (Endres 2004: 51). „Diese […] Tendenz zu einer dauerhaften landschaftlichen Zusammenfassung […] wurde im ausgehenden Mittelalter durch die Reichsreform noch verstärkt“ (Endres 2003: 6). Sie führte bis 1512 zur Einrichtung der Reichskreise, von denen der Fränkische seiner Königsnähe und geographischen Mittellage wegen als „der erst und furnembst“ (Endres 2003: 4) galt. Er war einerseits mehr als nur ausführendes Organ der Reichsverwaltung, anderseits lebte in ihm die territoriale Heterogenität fort: mit den geistlichen Fürstentümern Bamberg, Würzburg und Eichstätt (sowie dem Hochmeister der Deutschordensballei Franken), den hohenzollerischen weltlichen Fürstentümern Ansbach und Kulmbach-
367
368
II. Die Sprachräume des Deutschen
Bayreuth (dazu den gefürsteten Grafschaften wie den Hennebergern), den Grafen und Herren (wie denen von Hohenlohe oder Castell) sowie den Reichsstädten mit Nürnberg an der Spitze (dazu Rothenburg, Windsheim, Schweinfurt, Weißenburg). Außerhalb der Kreisorganisation standen die in sechs Kantone gegliederten Reichsritterschaften. Diese Zersplitterung unterschied den Fränkischen Reichskreis negativ etwa vom Bayerischen oder Sächsischen, die von jeweils einem mächtigen Reichsstand dominiert und dadurch weitaus geschlossener waren, positiv aber etwa vom Schwäbischen, der durch noch mehr Mitglieder in seiner Handlungsfähigkeit noch stärker beeinträchtigt war. Reformation und darauf folgende Konfessionalisierung verstärkten die Gegensätze zwischen den katholischen Hochstiften (vor allem Bamberg als Führer des Kreisdirektoriums) und den evangelischen zollerischen Markgrafschaften und Reichsstädten. Im Dreißigjährigen Krieg gab es protestantische Partikularkonvente im Kreis, so 1611 gegen bambergische Rekatholisierungsbestrebungen. Insgesamt kam jedoch die Kreisorganisation auch während des Krieges nie völlig zum Erliegen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wuchs die politische Institutionalisierung des Kreises sogar, ablesbar an vielen denominativ auf ihn bezogenen administrativen Akten wie Creiß-Pollicey-Verordnungen, die von den Territorien weitergegeben und in Creiß-Ortschaften bzw. an Creiß-Unterthanen vollzogen wurden: „Alle Untertanen der Kreisstände sollten als ‚Glieder eines und deßselbigen Staates‘ behandelt werden und ‚alle fränkischen Creiß-Lande wie ein zusammengehöriger Staats-Körper‘ angesehen werden“ (Endres 2003: 37). Nachdem aber 1792 Markgraf Alexander zugunsten Preußens auf die zollerischen Fürstentümer verzichtet hatte und napoleonische Truppen 1796 auch ins Kreisgebiet eingedrungen waren, wurde Franken zunehmend zum „Objekt der Entschädigungs- und Erweiterungspolitik von Preußen und Bayern“ (Endres 2003: 37). Schon 1800 konnte Frankreich „die völlige Überlassung Frankens […] verlangen“ (Endres 1997: 520) und in der Folge mit territorialen Teilen davon politisch im wahren Wortsinne „handeln“. Mit dem Ende des Reichs (dem von Frankreich maßgeblich bestimmten Reichsdeputationshauptschluss 1803, Auflösung des Immerwährenden Reichstags 1806) war auch das Ende des Fränkischen Reichskreises gekommen. Die sprachlichen Außen- und die wichtigsten Binnengrenzen Frankens am Ende dieser Ära sind, mit Ausnahme des äußersten Westens und Südens, vor der Folie der geschilderten „[g]rundherrschaftliche[n] Verhältnisse am Ende des Alten Reiches“ in der Faltkarte Abb. 37 von Steger (1968) dargestellt. Die Lande des Fränkischen Kreises wurden − nach dessen förmlicher Auflösung − zum größten Teil in den neuen und sich zunehmend „arrondierenden“ Flächenstaat Bayern integriert: Der Kurfürst von Pfalzbayern erhält die Bistümer Würzburg, Bamberg, teilweise Eichstätt sowie die Reichsstädte außer Nürnberg und legt sich den Titel eines Herzogs von Franken zu, aus der fränkischen Reichsritterschaft wird die Pfalzbayerische Ritterschaft in Franken, Kirchenbesitz in Franken wird rücksichtslos säkularisiert, protegiert von Napoleon verleibt sich Bayern die preußischen Provinzen Frankens ein (Ansbach 1806, Bayreuth 1807), dann Nürnberg und Fürstentümer wie Castell, die österreichische Exklave Redwitz (das heutige Marktredwitz) und ehemals österreichisch besetzte fuldische Gebiete vor der Rhön. „Damit hatte das Königreich Bayern seine neuen Grenzen […] gefunden. Im Westen mit Aschaffenburg griff Bayern über das Gebiet des alten Reichkreises hinaus, dagegen waren altfränkische Teile verlorengegangen, wie die Hohenloher Lande […] an Württemberg, die gefürstete Grafschaft Henneberg an die Wettinischen Erben“ (Endres 1997: 533). Nur mit dem durch Volksabstim-
12. Ostfränkisch
mung 1919 (bei 88 % Ja-Stimmen) herbeigeführten Beitritt des jungen Freistaats Coburg zu Bayern, der 1920 mit Staatsvertrag besiegelt wurde, erfuhr das moderne Bayern noch einmal einen nennenswerten Zuwachs an Staats- und Sprachgebiet (vgl. Hürten 2003: 470). Dass Franken die längste Zeit das geschilderte territorium non clausum war und seine bedeutendsten Teilterritorien intern wiederum territoria non clausa mit eingesprengelten Adelsherrschaften darstellten, hatte Auswirkungen auf die ausgeprägte sprachgeographische Verschiedenheit dieser Landschaft. Der Gegensatz zwischen den geistlichen Fürstentümern Würzburg und Bamberg auf der einen und den weltlichen Markgrafschaften Ansbach und Kulmbach-Bayreuth, dem ehemaligen Herzogtum Sachsen-Coburg sowie den Reichsstädten und Reichsritterschaften auf der anderen Seite wurde später auch zu einem konfessionellen − manchmal großflächiger, manchmal in einem wimmelnden Enklavenwesen. Im bayerischen Staatsverbund fand zwar eine Homogenisierung der alten historischen Territorien statt, die allenfalls administrativ in den „Kreisen“, den späteren Regierungsbezirken, fortlebten, doch an den in Franken besonders kleinräumigen historischen und sprachlichen Identitäten änderte sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wenig. Erst ab da kommen infolge zunehmender horizontaler Mobilität Ausgleichsprozesse in Kontaktgebieten in Gang und bilden sich Übergänge aus, etwa vom Fränkischen zum Bairischen in der sog. Frankenpfalz, einem Grenzraum der modernen Regierungsbezirke Oberfranken und Oberpfalz (Näheres in Kap. 6.). Sog. „natürliche“ Grenzen des Ostfränkischen bilden Spessart und Rhön zum Rheinfränkischen bzw. Osthessischen, Thüringer Wald und Thüringisch-Fränkisches Schiefergebirge zum Thüringischen sowie Fichtelgebirge und Fränkische Alb (östlich und südlich der Pegnitz) zum Bairischen hin. Gegen Südwesten zum Schwäbisch-Alemannischen gibt es solche deutlichen natürlichen Grenzen nicht. Intern wird der ostfränkische Raum von Norden nach Süden durch Steigerwald und Frankenhöhe in seine zwei größten Teilräume getrennt: in das Unterostfränkische im Westen (v. a. in Unterfranken) und das Oberostfränkische im Osten (v. a. in Ober- und Mittelfranken). Sprachraumbildend sind diese natürlichen Grenzen jedoch nicht direkt als unüberwindliche Barrieren des menschlichen Kontakts, sondern nur mittelbar in ihrer Wirkung auf die fortschreitende Kolonisierung aus unterschiedlichen Richtungen auf (ökonomisch immer unattraktiver werdende) Höhenlagen von Gebirgen zu. Innerhalb der geschilderten Umgrenzung durch Gebirge bildet den „natürlichen“ Raum des Ostfränkischen das Fluss-System des Mains mit seinen Nebenflüssen − im Uhrzeigersinn − Fränkische Saale, Itz, Rodach, Regnitz aus Pegnitz und Rednitz, Tauber). Das Süd-Ostfränkische liegt im Fluss-System von Jagst und Kocher, das sich nach Westen zum schwäbischen Neckar-Raum hin öffnet. Aus dem ostfränkischen Raum heraus fließen auch noch, sprachlandschaftliche Übergangszonen durchquerend, im Süden die Wörnitz ins schwäbische Donaugebiet, im Nordosten die Sächsische Saale ins thüringische und im Südosten die Altmühl ins (nord)bairische Gebiet.
3. Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie 3.1. Außengrenzen Zu beachten ist im Folgenden immer, dass die ostfränkische Ausprägung eines Abgrenzungsmerkmals nicht gesamt-ostfränkisch sein muss und es in den wenigsten Fällen
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370
II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. 12.2: Außengrenzen des Ostfränkischen (nach Wiesinger 1983: Kt. 47.7)
tatsächlich auch ist, weil es nur wenige gesamt-ostfränkische Merkmale gibt. Vielmehr ist immer diejenige ostfränkische Ausprägung genannt, die sich vom jeweiligen Merkmal des benachbarten nicht-ostfränkischen Dialekts im betreffenden Grenzabschnitt gerade unterscheidet. So zu verstehen ist auch der Hinweis von Wiesinger (1983: 842), dass „sich ein ostfränkischer Dialektverband weniger auf Grund spezifischer Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr aus deutlichen Unterschieden gegen die benachbarten Dialekte“ ergebe. Auch das Ostfränkische ist vorwiegend anhand lautlicher Kriterien (im Folgenden in IPA-Transkription) nach außen abgegrenzt worden. Wiesinger (1983: Kap. 3.3.3., Kt. 47.7, vgl. auch Kt. 47.4 und Wiesinger 1970: Kt. 1) umreißt das Gebiet unter Verwendung von 15 Merkmalen, davon 14 lautlichen. Es ergibt sich idealisiert das geographische Bild eines Parallelogramms, dessen linke und rechte Seiten um ca. 30 bis 40 Grad nach rechts geneigt und etwas länger sind als dessen obere und untere horizontale Seiten (vgl. Kt. 12.2). Die vier Ecken werden, im Uhrzeigersinn, ungefähr von den Städten 1 Schmalkalden im Nordwesten (NW) − 2 Plauen im Nordosten (NO) − 3 Weißenburg im Südosten (SO) − 4 Heilbronn im Südwesten (SW) markiert. Lameli (2013: 199−200, Abb. 7−4) kommt mit einem algorithmenbasierten „Similaritätsmodell“ (SIM) zu einem ganz ähnlichen Umriss des Ostfränkischen: „Vergleicht man das SIMModell […] mit der Wiesingerkarte […], stellt man eine beinahe perfekte Deckung fest.
12. Ostfränkisch
371
Der einzige wesentliche Unterschied betrifft den Übergang zum Ostmitteldeutschen“ im Nordosten, wo nach dem SIM-Modell das vogtländische Gebiet mit Plauen nicht mehr zum Ostfränkischen gerechnet wird.
3.1.1. Abgrenzung nach Norden Strecke 1−2 grenzt das Ostfränkische nach Norden vom Thüringischen − und am äußersten östlichen Rand vom Obersächsischen − ab (vgl. Siebenhaar, Art. 13 in diesem Band). Sie besteht nach Wiesinger (1983: Kt. 47.7) in einzelnen Abschnitten aus unterschiedlichen Isoglossenbündeln und baucht nach Süden bis Sonneberg aus (vgl. auch Rosenkranz 2003: 9−28, Kt. 3−6):
Tab. 12.1: Nördliche Lautgrenzen des Ostfränkischen nach Wiesinger (1983) Abschnitt
Merkmal
Ostfrk.
Thür.
durchgehend westlich
Auslaut-n in Mann Reflexe von mhd. ü, ö Reflexe von mhd. e, ë, ä Reflexe von mhd. e vs. ë=ä
geschwunden Rundung erhalten e- vs. ë=ä-Reflex [e] vs. [ɛ]
erhalten zu i, e entrundet e=ë=ä-Reflex [ɛ] vs. [a]
östlich
Aus der Perspektive des Thüringischen dokumentiert Hucke (1961/1965) weitere Grenzlinien zum Ostfränkischen, die im Wesentlichen mit dem Rennsteig verlaufen:
Tab. 12.2: Nördliche Lautgrenzen des Ostfränkischen nach Hucke (1961/1965) Kt.
Merkmal
Ostfrk.
Thür.
8 10 32
Form von nicht r-Lautung* Vokal in Schaufel
net/nit apikal [r] [-au̯-]
nech/nich uvular [ʀ] [-u-]
* Bei Hucke umgekehrt transkribiert!
Für die Abgrenzung des Ostfränkischen zum Thüringischen bietet das Material des KBSA, der die wichtigsten Raumbilder der Teilatlanten des Bayerischen Sprachatlasses (BSA) zusammenfasst, deshalb wenig, weil das Untersuchungsgebiet über die administrativen Grenzen Bayerns nicht hinausreicht. Dadurch sind außerhalb Bayerns liegende Grenzen von Dialekten, die, wie das Ostfränkische, auch in Bayern gesprochen werden, nicht dokumentiert. Der KBSA erfasst vom Thüringischen mithin nur den Raum Ludwigsstadt und dessen schmalen Grenzstreifen zum südlich angrenzenden Oberostfränkischen. Dieser Streifen bildet nach Werner (1961: 301 und Kt. 20) − mit Verweis auf die schon von Rosenkranz (1938: 48 und Kt. 9a) beschriebene „Frankenwaldschranke“ − eine „Grenze 6. Grades“, die mit bis zu 214 Merkmalsunterschieden eine „außerordentliche Stärke“ aufweist, „mit der sich keine andere ostfrk.-thür. Sprachgrenze messen
372
II. Die Sprachräume des Deutschen
kann“. Einige dieser Merkmale teilt dieser Raum mit dem Thüringischen und Unterostfränkischen gegen das westliche Oberostfränkische, z. B. [a(:)] vs. [e(:)] für (gedehnt [ged.]) germ. ë, andere teilt er mit dem Thüringischen gegen das Unter- und westliche Oberostfränkische, z. B. entrundete vs. runde vordere Vokale.
3.1.2. Abgrenzung nach Osten Strecke 2−3 grenzt das Ostfränkische nach Osten vom Nordbairischen ab. In Koch (Art. 10 in diesem Band: Kap. 3.1.2.) wird unter Bezug auf Steger (1968: 480−482) festgestellt, dass im einschlägigen Abschnitt diese Dialektgrenze genau da liege, wo die Bistümer Regensburg und Bamberg aneinanderstießen (vgl. Spindler 1969: 26−27). Die Gesamtstrecke wird nach Wiesinger (1983: Kt. 47.7) von zwei zunächst isoglossischen Linien gebildet, die sich dann aber vor dem Nürnberger Raum gabeln, ihn umschließen und sich hinter ihm wieder vereinigen (vgl. Gütter 1971: Kt. 13−18 bzw. Kt. 20−21). Der Raum Nürnberg ist dadurch als ostfränkisch-nordbairischer Zwitter ausgewiesen (vgl. auch Koch, Art. 10 in diesem Band: Kap. 3.1.3.). Umso fragwürdiger ist die verbreitete öffentliche Fremdund Eigenwahrnehmung des Nürnbergischen als Prototyp des Fränkischen.
Tab. 12.3: Östliche Lautgrenzen des Ostfränkischen nach Wiesinger (1983) Abschnitt
Merkmal
Ostfrk.
Nordbair.
Raum Nürnberg westlich umgehend
Diphthonge mhd. ie, üe / uo
monophthongiert zu [i:] / [u:]
„gestürzte“ Diphthonge [ei̯ ] / [ou̯]
Raum Nürnberg östlich umgehend
Diphthong mhd. ei
Monophthong [a:]
[ɔɐ̯]~[ɔ:]~[ɔʏ̯]
Dieselbe räumliche Verteilung wie die Reflexe der mittelhochdeutschen fallenden Diphthonge weisen die Reflexe von ged. mhd. i vor h (in Vieh oder Trichter) auf. Auch hier steht ostfrk. [i:] gegen nordbair. [ei̯ ] (Sprachatlas von Nordostbayern [SNOB], 1: Kt. 126/136). Der Unterschied von nordbair. [ɔɐ̯]~[ɔ:] vs. [ɔʏ̯] korreliert, von Fällen innerparadigmatischen Ausgleichs und distributioneller Sonderbedingungen abgesehen, mit Ein- vs. Zweisilbigkeit, so dass sich etwa einsilbig ostfrk. [ʒda:] und nordbair. [ʒdɔɐ̯]~[ʒdɔ:] ‘Stein’ und zweisilbig ostfrk. [za:vm̩] und nordbair. [zɔʏ̯vm̩] ‘Seife’ gegenüberstehen (nach Gütter 1971: Kt. 20/22). Was den zweisilbigen Typus Maidlein betrifft, bilden nach dem KBSA (Kt. 50) ostfrk. M[a:]dla / M[a:]l vs. nordbair. M[ɔʏ̯]dla / M[ɔʏ̯](d)l die Grenze. Ähnlich wie die Linie der Reflexe von mhd. ei verläuft die von mhd. æ (æ), die ostfrk. [e:] von nordbair. [a:] trennt (Wiesinger 1970: Kt. 11). Nach dem KBSA (Kt. 14/6 in Tab. 12.4) gilt das ähnlich für ged. mhd. ä, nach Gütter (1971: Kt. 2) auch für ä mit erhaltener Kürze (s. u. Tab. 12.6 zu seinem Atlas). Für die Abgrenzung des Ostfränkischen zum Nordbairischen und für die Umgrenzung des Nürnberger Übergangsraums liefert der KBSA folgende Kriterien (s. u. Tab. 12.4 und 12.5; zur Kt. auf S. 33 und zu Kt. 13 vgl. auch Gütter 1971: Kt. 7 bzw. 8):
12. Ostfränkisch
373
Tab. 12.4: Östliche Lautgrenzen des Ostfränkischen (mit Nürnberger Raum) nach KBSA Kt.
Merkmal
Ostfrk. mit Nürnberger Raum
Nordbair.
7 14/6 S. 33
Lenis/Fortis mhd. æ (æ) / ged. ä in Käse / Schnäbel drücken/-u-
Lenisierung [ezn̩] ‘essen’ [e:] Umlaut
Fortis [esn̩] [a:] kein Umlaut
Tab. 12.5: Östliche Lautgrenzen des Ostfränkischen (ohne Nürnberger Raum) nach KBSA Kt.
Merkmal
Ostfrk.
Nürnberger Raum mit Nordbair.
13 S. 65
mhd. â / ô in Schaf / fragen Lateral l
[o:] erhaltenes l
[ou̯] nicht vokalisiertes ü-haltiges l
Die Lenis/Fortis-Grenze, also jene „zwischen dem Nordwesten, wo alle harten Konsonanten generell lenisiert (erweicht) sind, und dem Südosten, wo man systematisch zwischen Fortes (Starklaute) und Lenes (Lindlaute) unterscheidet“ (KBSA: 29, Kt. 7), trennt das Ostfränkische zwar vom (Nord-)Bairischen, nicht aber vom (nördlichen) Schwäbischen, Rheinfränkischen und Thüringischen. Doch „[e]ntgegen der tatsächlichen Verbreitung […] wird die Lenisaussprache, speziell die der Plosivlaute p, t, k, gemeinhin als ein besonderes Sprachmerkmal der Franken und Sachsen angesehen“ (KBSA: 29, Kt. 7). Aus der Perspektive des Nordbairischen dokumentiert Gütter (1971) weitere Grenzlinien zum Ostfränkischen und zur Zwischenlage des Nürnberger Raums: Tab. 12.6: Östliche Lautgrenzen des Ostfränkischen (mit Nürnberger Raum) nach Gütter (1971) Kt.
Merkmal
Ostfrk. mit Nürnberger Raum
Nordbair.
2 19 25
Sekundärumlaut in Männlein mhd. öuw in Streu mhd. ch in schuoch ‘Schuh’
[ɛ] [ae̯] [ʃu:]~[ʃou̯] ohne Auslaut-[x]
[a] [a:] [ʃou̯x] mit [-x]
Tab. 12.7: Östliche Lautgrenzen des Ostfränkischen (ohne Nürnberger Raum) nach Gütter (1971) Kt.
Merkmal
Ostfrk.
Nürnberger Raum mit Nordbair.
8−12
mhd. â/ô/æ(æ)/ê/œ(œ) in blasen / rot / Drähte / Klee / böse
[o:] / [u:] / [e:] / [e:] / [e:]~[ø:]
[ɔu̯] / [ɔu̯] / [ɛi̯ ] / [ɛi̯ ] / [ɛi̯ ]
Zahlreiche der genannten Merkmale, die das Ostfränkische vom Nordbairischen abgrenzen, finden sich fokussiert auf den Ausschnitt des südlichen Bayreuther Raums in arealen Details dokumentiert bei Wagner (1964).
3.1.3. Abgrenzung nach Süden Strecke 3−4 grenzt das Ostfränkische nach Süden vom Schwäbischen ab (vgl. Streck, Art. 8 in diesem Band). Sie wird nach Wiesinger (1983: Kt. 47.7) von drei Linien gebildet, die sich nur nördlich von Ellwangen kurz bündeln:
374
II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 12.8: Südliche Lautgrenzen des Ostfränkischen nach Wiesinger (1983) Abschnitt
Merkmal
Ostfrk.
Schwäb.
nördlichste Linie mittlere Linie südlichste Linie
ged. mhd. ë Diphthong mhd. ei mhd. ou
[e:] Monophthong [a:] Monophthong [a:]
[ɛ:]~[ɛ:ə̯] Diphthong [ɔʏ̯] [au̯]~[ɔ:]
Für diese Grenze, zumindest für deren noch in Bayern liegenden östlichen Abschnitt, bietet der KBSA weitere Evidenz. Die Grenzlinien in Tab. 12.9 sind von Nord nach Süd gestaffelt (zum Befund von Kt. 20 des KBSA auch Ruoff 1992: Kt. II, Linie 13): Tab. 12.9: Südliche Lautgrenzen des Ostfränkischen nach KBSA Kt.
Merkmal
Ostfrk.
Schwäb.
28 5a 5 S. 33 20
inlautend -st- in Husten kurz gebliebenes mhd. a ged. mhd. a drücken/-umhd. iu in Feuer
[-st-] [ɒ] [ɔ:] Umlaut [aɪ̯ ]
[-ʃt-] [a] [a:] kein Umlaut [ui̯ ]
In einigen (Lautklassen-)Merkmalen (s. u. mittelhochdeutsche mittelhohe Langvokale) geht der sonst ostfränkische Raum Ansbach mit dem Schwäbischen: Tab. 12.10: Südliche Lautgrenzen des Ostfränkischen (ohne Raum Ansbach) nach KBSA Kt.
Merkmal
Ostfrk.
Ansbacher Raum und Schwäb.
15 16 17 28
mhd. ô in Stroh mhd. ê in Schnee mhd. œ in schöne -b- in Gabel
[o:]~[ɔ:] [e:]~[ɛ:] [e:] [-b-]
[oɐ̯] [ɛɐ̯] [eɐ̯] [-w-]
Die Grenze des äußersten südwestlichen Ostfränkischen zum Alemannischen hat auf damaligem Stand Bohnenberger (1905) beschrieben. Die in Ost-West-Richtung verlaufenden Linien sind bei Ruoff (1992: Kt. II) zu sehen und beruhen auf folgenden von Nord nach Süd gestaffelten Merkmalen: Tab. 12.11: Ostfränkisch-alemannische Lautgrenzen nach Ruoff (1992: Kt. II) Linie
Merkmal
Ostfrk.
Alem.
5 2 4 6 7 3 10 11
germ. ë in leben -g- in biegen / gelogen ged. mhd. e / o in gegen / Ofen -in-/-un- in blind / Hund -er-/-or- in Kirche / Durst ged. mhd. a in Hase mhd. ei in Geiß mhd. ou in Auge
[e:] [ç] / [x] [ei̯ ] / [ou̯] [in] / [un] [er] / [or] [o:] [aɪ̯ ]~[a:] [a:]
[ɛ:]~[ɛə̯] [g] [e:] / [o:] [en] / [on] [ir] / [ur] [a:] [oɐ̯]~[oy] [aʊ̯]~[ou̯]~[o:]
12. Ostfränkisch
375
Linie 5 verläuft knapp nördlich von Gaildorf und Heilbronn. Alle anderen Linien reichen gebündelt von Osten bis südlich von Gaildorf. Das Bündel aus den Linien 2, 4, 6, 7 spaltet sich hier in nordwestlicher Richtung ab und zieht sich bis südöstlich von Heilbronn. Das Bündel aus den Linien 3, 10, 11 geht nach Westen weiter knapp nördlich an Backnang vorbei. Beide Bündel fasern von südlich von Heilbronn an im weiteren Verlauf nach Westen stark aus.
3.1.4. Abgrenzung nach Westen Strecke 4−1 grenzt das Ostfränkische nach Westen vom Rheinfränkischen und Osthessischen ab (vgl. Herrgen & Vorberger, Art. 15, bzw. Birkenes & Fleischer, Art. 14 in diesem Band). Sie besteht von Süden her bis in den Raum Lohr (wo das Maindreieck ins Mainviereck übergeht) aus sich nicht bündelnden Linien und bildet deshalb „eine breite Interferenzzone“ (Wiesinger 1983: 842). Im weiteren Verlauf nach Norden vereinigen sich einige dieser Linien mit anderen zu einem Bündel: Tab. 12.12: Westliche Lautgrenzen des Ostfränkischen nach Wiesinger (1983) Abschnitt
Merkmal
Ostfrk.
Rheinfrk./Osthess.
ganze Länge von Süden bis zur Fulda
p- vs. pf- bei Pfund mhd. ê / ged. ë; œ (œ) / ged. ö; ô / ged. o mhd. e, ë, ä mhd. æ (æ)
bfbleiben getrennt
pfallen zusammen
e vs. ë=ä [a:]
e=ë=ä [ɛ:]
zirka von Lohr am Main nach Norden
Den westlichen Abschnitt der Grenze zwischen (Süd-)Ostfränkisch und Schwäbisch sowie den südlichen Abschnitt der Grenze zwischen dem Ost- und dem Rheinfränkischen kann der KBSA aus den genannten Gründen (Zuschnitt des Untersuchungsgebiets auf das politische Gebilde Bayern) nicht dokumentieren. Erst für den nördlichsten Abschnitt der Grenze zwischen dem Ostfränkischen und Rheinfränkischen im Gebiet Aschaffenburg sowie dem Osthessischen nördlich davon bietet er wieder Material. So teilt dieser Raum − übrigens mit dem Schwäbischen − gegen das Ostfränkische die Reflexe des ungedehnten/ gedehnten mhd. a: [ɒ]/[ɔ:] vs. [a]/[a:] (siehe Tab. 12.9). Hinzu kommen: Tab. 12.13: Westliche Lautgrenzen des Ostfränkischen nach KBSA Kt.
Merkmal
Ostfrk.
Rheinfrk./Osthessisch
8 9 11
germ. ë in Nebel mhd. o in Frosch mhd. ö in Köpfe als Beispiel für runde Vordervokale mhd. â in Schaf mhd. æ (æ) in Käse mhd. ei in breit / ein, Stein mhd. ou in glauben
[a:] [ou̯] [œ] und weitere runde Vordervokale [oɐ̯] [ɛ:(ɐ̯)]~[a:] [e:]~[ɛ:] [e:]~[ɛ:]
[ɛ(:)] [o] [e] und weitere entrundete Vordervokale [o:] [e:] [a:] / [o:] [a:]
13 14 21/22 23
376
II. Die Sprachräume des Deutschen
Merkmale, die das gesamte Ostfränkische gemeinsam hat und die es global kennzeichnen, gibt es also nicht. Wohl aber bilden, wie vorgeführt, mehr oder weniger dicke Bündel von Merkmalen sichtbare Außengrenzen zu benachbarten Großdialekten.
3.1.5. Besonders saliente Parameter der Abgrenzung nach außen Abschließend seien einige lautliche Abgrenzungsparameter genannt, die, offensichtlich durch ihre Salienz, in der Wahrnehmung dialekttypischer Charakteristika gerade durch Laien (siehe Kap. 6. und 7. sowie Purschke & Stoeckle, Art. 29 in diesem Band) eine besondere Rolle spielen, aber in der Sprachgeographie (jedenfalls in den hier ausgewerteten Überblickswerken) bisher vernachlässigt wurden, wohl auch, weil sie weniger segmentaler als suprasegmentaler Natur sind: 1. Phänomene der Artikulationsbasis wie die Zentralisierung von Vokalen; 2. Silbengesetze wie a) der sog. Silbenschnitt oder b) vom Silbenakzent bzw. der Position in der Silbe abhängige Artikulationen der r-
Laute, unter den segmentalen Merkmalen in ihrer arealen Relevanz unterschätzt; 3. Koronalisierung als segmentale Eigenschaft, die durch ihre Salienz dialektlandschaft-
lichen Schibboleth-Charakter hat. Anhand von Kriterium 1 lassen sich die Vokale [i]-[u], [e]-[o] des Ostfränkischen von den zentralisierten Vokalen [ɨ]-[ʉ], [ë]-[ɵ] des Thüringischen und Obersächsischen (sowie von den schwächer zentralisierten des Schwäbischen) abgrenzen. Zentralisierung umschreibt Werner (1961: XX) am Beispiel des thüringischen Teils seines Untersuchungsraums so: „Die gesammelte Artikulation ist im G[ebiet] Ludwigsstadt grundsätzlich anders als südlich des Rennsteigs“ im Ostfränkischen. „Die Zunge meidet bei den meisten Vokalen die extreme Stellung“, auch der hintere a-Laut werde „angehoben“ artikuliert. Mit Kriterium 2.a) lässt sich das Ostfränkische deutlich vom (Nord-)Bairischen abgrenzen. In diesem Kriterium kommt nicht nur die Konsonantenstärke Lenis/Fortis (L/F) zur Geltung, sondern auch deren Relation zur vorausgehenden Länge/Kürze des Vokals (V:/V), so ostfrk. [V:L] / [VL] in [vi:ʒ] / [viʒ] ‘Fisch/e’ vs. bair. [V:L] / [VF] in [vi:ʒ] / [viʃ] (vgl. Rowley 1997: 208, Kt. 8: Grenze der Opposition Lenis ≠ Fortis; KBSA: 28−29; König 2005: 148−149). Auf die am Beispiel Fisch/e sichtbar werdende morphologische Relevanz des Silbenschnitts wird in Kap. 4. eingegangen. Mit Kriterium 2.b) lässt sich das Ostfränkische mit seinem apikalen [r] vom Thüringischen mit seinem uvularen [ʀ] abgrenzen, jedenfalls wo es seiner Position in der Silbe nach überhaupt ausgesprochen wird: am erwartbarsten im Silbenanlaut(cluster). Die Artikulation des [r] im Auslaut(cluster) selbst unbetonter Silben dagegen ist ein auffälliges Kennzeichen des Schwäbischen (auch) gegenüber dem Ostfränkischen. Aus dem Befund, den König (1989: 322−323, Kt. NS 7−8) für die areale Standard-Variation ermittelt, kann man getrost auf die dialektalen Verhältnisse zurückschließen: Ein hoher Anteil von realisierten [r]-Lauten im südwestlich ans Ostfränkische anschließenden SchwäbischAlemannischen steht rhotazierten Vokalen bzw. Vokalisierungen des [r] zu [ɐ] im Ostfränkischen gegenüber.
12. Ostfränkisch
377
Mit Kriterium 3 lässt sich das Ostfränkische am Spessart vom rheinfränkischen („südhessischen“) Raum Aschaffenburg abgrenzen (vgl. Sprachatlas von Unterfranken [SUF], 1: Kt. 194, 197 u. 198). Westlich wird rheinfrk. [ʒ] gesprochen: [khiriʒ] ‘Kirche’, [melɪʒ] ‘Milch’ (nach Sprossvokal) oder [ɪʒ], [sɪʒ], [mɪʒ] ‘ich’, ‘sich’, ‘mich’. Östlich gilt ostfrk. [ç], sofern dieses artikuliert und nicht in [-ŋ]-Formen wie [khɛrŋ] absorbiert bzw. in Formen wie [sɪ] elidiert wird. Neben den hier für die Umreißung der Außengrenzen des Ostfränkischen herangezogenen großflächigen Überblicksdarstellungen ließen sich natürlich auch eine Vielzahl von kleinräumigen Untersuchungen nennen, die diese groben Befunde im arealen und phonetischen Detail ebenfalls dokumentieren. Wenigstens auf diejenigen, welche die Eck-Bereiche des ostfränkischen Parallelogramms (s. o.) und jeweils zweier benachbarter Großdialekte abdecken, sei hingewiesen: auf Bracke (1966) im NW-Eck zum Osthessischen und Thüringischen, auf Gerbet (1900) im NO-Eck zum Thüringischen und Obersächsischen, auf Nübling (1938) im SO-Eck zum Nordbairischen und Schwäbischen sowie auf Braun (1906) im SW-Eck zum Schwäbischen und Rheinfränkischen hin. Säume zu beiden Seiten des ostfränkischen Parallelogramms beziehen in Richtung des Thüringischen Rosenkranz (1938), in Richtung des Nordbairischen Wagner (1964) und in Richtung des Rheinfränkischen/Osthessischen Dietz (1954) ein. Zu weiteren lautgeographischen Arbeiten siehe Wiesinger & Raffin (1982 und Kt. 1) sowie die Georeferenzierte Online-Bibliographie zur Areallinguistik (GOBA) von Regionalsprache.de (REDE).
3.2. Binnenstruktur Die im letzten Absatz von Kap. 3.1. genannten kleinräumigen Lautgeographien und weitere in Wiesinger & Raffin (1982) verzeichnete geben natürlich auch Auskunft über binnen-ostfränkische räumliche Mikrostrukturen. Diese können hier jedoch nicht alle und diese nicht im Detail beschrieben werden; vielmehr wird, wieder vornehmlich auf Basis der schon in Kap. 3.1. zurate gezogenen Überblickswerke, die interne sprachräumliche Makrostruktur des Gebiets dargestellt bzw. exemplarisch verfahren. Wiesinger (1983: 845−846) teilt den ostfränkischen Raum mit einer Linie (Kt. 47.7, Isoglosse 14) nur in einen größeren westlichen und einen kleineren östlichen Teilraum. Sie setzt zwischen Schleusingen und Sonneberg an, geht westlich an Coburg vorbei in den Steigerwald und nimmt südlich davon in einem zwischen Ansbach und Fürth hindurchziehenden süd-südöstlichen Bogen Kurs auf die ostfränkisch-nordbairische Hauptmundartlinie. Kriterium sind die Reflexe der mittelhochdeutschen mittelhohen Langvokale, die immer als lange Monophthonge oder als Diphthonge auf Schwa artikuliert werden: westlich jeweils in offenen, östlich jeweils in geschlossenen oder gar gehobenen Varianten: Tab. 12.14: Lautgrenzen zwischen Unter- und Oberostfränkisch nach Wiesinger (1983) Merkmal
westlicher Teilraum
östlicher Teilraum
mhd. ê, œ (œ), ô z. B. in Klee böse rot
[ɛ:(ə̯)] [œ:(ə̯)] [ɔ:(ə̯)]
[e:]~[i:]~[iə̯] [ø:]~[y:]~[yə̯] [o:]~[u:]~[uə̯]
378
II. Die Sprachräume des Deutschen
Ebenfalls an der „Steigerwaldschranke“ (dazu ausführlich Krämer 1995) divergierend, jedoch den Raum Coburg dem Westen und den Raum Ansbach dem Osten anschließend, ergeben nach dem KBSA die folgenden Merkmale eine innerostfränkische West-OstAufteilung:
Tab. 12.15: Lautgrenzen zwischen Unter- und Oberostfränkisch nach KBSA Kt.
Merkmal
Unterostfrk. (mit Coburg)
Oberostfrk.
14 23 21/22
mhd. æ (æ) in Käse mhd. ou in glauben mhd. ei in breit / Stein
[ɛɐ̯]~[a:] [e(:)]~[ɛ:] [e:]~[ɛ:] / [e:]~[ei̯ ]~[ɛ:]
[ɛ:]~[e:]~[ei̯ ] [a:] [a:] / [a:]~[ã:]
Schibboleth-Charakter für beide Gebiete hat das konstruierte Kennwort Geißkäse, dessen Reflexe für mhd. ei und germ. ë areal exakt komplementär verteilt sind, so dass es unterostfrk.-coburg. Gääskaas vs. oberostfrk. Gaaskees heißt (nach KBSA: 31/57 und Kt. 8/21). Auch für die Kennphrase breites Brett gilt diese areale und lautliche Komplementarität: brääds Braad vs. braads Breed. In den geschilderten unter-/oberostfränkischen Merkmalsunterschieden schlägt die historische Territorialgrenze zwischen dem Bistum Würzburg im Westen und dem Erzbistum Bamberg im Osten durch. Doch auch die Grenze zwischen den ehemaligen geistlichen, später katholischen, Fürstentümern Würzburg und Bamberg im (Nord-)Westen auf der einen Seite und den weltlichen, später evangelischen, Fürstentümern Ansbach und Bayreuth im (Süd-)Osten auf der anderen Seite wird lautgeographisch sichtbar: hauptsächlich am Merkmal der Erhaltung runder vorderer Vokale vs. deren Entrundung (nach Karten im KBSA; vgl. auch Rowley 1997: 213/Kt. 13, auch 172 [zu II]/ Kt. 39):
Tab. 12.16: Lautgrenzen zwischen Würzburg-Bamberger und Bayreuth-Ansbach-Nürnberger Raum nach KBSA Kt.
Merkmal
(Nord-)Westen:WürzburgBamberger Raum
(Süd-)Osten: BayreuthAnsbach-Nürnberger Raum
11 12 17 19 20 12
mhd. ö in Köpfe ged. mhd. ö in Vögel mhd. œ (œ) in schöne mhd. iu in Häuser mhd. iu in Feuer alle mhd. runden Vokale
[ø] [ø:]~[øy]~[y:]~[yɐ̯] [ø(:)]~[øɐ̯]~[y:]~[yɐ̯] [ɔʏ̯] u. ä. [ɔʏ̯]~[ɒʏ̯]~[ɒʊ̯ɪ̯ ]~… generell erhaltene Rundung
[e] [e:]~[ei̯ ]~[i:] [ɛ]~[e:]~[eɐ̯]~[ei̯ ]~[ẽĩ] [a(:)ɪ̯ ] u. ä. [aɪ̯ ]~[ɛɪ̯ ]~[ɛ:] generelle Entrundung
Im Falle des kürzebewahrenden mhd. a wie in Acker gehen jedoch der bambergische und bayreuthische Raum gegen die restlichen Gebiete des Ostfränkischen zusammen. Jene haben, wie übrigens auch das von ihnen entfernt liegende Schwäbische, hellen, diese dagegen verdumpften a-Laut (KBSA: 23 und Kt. 5a; vgl. SNOB, 1: Kt. 2−6, 41, 164):
12. Ostfränkisch
379
Tab. 12.17: Markante Lautgrenze des Bamberg-Bayreuther Raums zum restlichen Ostfränkischen nach KBSA Kt.
Merkmal
Bamberg-Bayreuther Raum
Würzburg-Ansbach-Nürnberger Raum
5a
unged. mhd. a in Acker
[a]
[ɒ]
Die kleineren inner-ostfränkischen lautgeographischen Räume, wie sie in den Teilatlanten des Bayerischen Sprachatlasses, im KBSA und in diversen Gebietsmonographien (neben bereits genannten etwa noch Niederlöhner 1937 und Koß 1967 zum Itz-Obermain-Gebiet, Trukenbrod 1973 zur nördlichen Fränkischen Schweiz oder Diegritz 1971 zu West-Mittelfranken) beschrieben sind, können hier nicht alle dargestellt werden. Vielmehr sei nur ein Kleinraum, der sich bei mehreren Merkmalen als in sich sehr konsistent erweist, exemplarisch etwas ausführlicher behandelt: der Frankenwald, gebildet aus „Teuschnitzer Gebiet“ und „Nailaer Raum“ (vgl. Kt. 12.1; für Details Werner 1961). In folgenden „Reihenschritten“ hebt er sich von seiner Umgebung ab: Tab. 12.18: Reflexe nicht-hoher Vokale im Frankenwäldischen nach KBSA und Gütter (1971) Kartenwerk
Merkmal
Frankenwald-Dialekt
inner-ostfrk. Umgebung
KBSA: Kt. 5/6/8
ged. mhd. a/ä/ë in Schnabel/-ä-/Nebel
[ɔʊ̯] / [ɛɪ̯ ] / [ɛɪ̯ ]
[o:] / [ɛ:]~[e:]~[a:] / [e:]
KBSA: Kt. 9/10/12; Gütter (1971): Kt. 3
ged. mhd. o/ö//e ̣ in Frosch, Vogel / Vögel // Esel, Rede
[uə̯] / [yə̯] // [iə̯]
[u:]~[o:] / [y:]~[i:]~[ø:]~[øy] // [i:]
KBSA: Kt. 15/16
mhd. lang ô/ê in Stroh/Schnee
[uɐ̯] / [iɐ̯]
[u:]~[o:] / [i:]~[e:]
Was die Reflexe von ged. mhd. o, ö und e ̣ angeht, findet sich, unterbrochen von anderen ostfränkischen Varianten, derselbe Typus im nördlichsten Nordbairischen: Fr[uə̯]sch, V[uə̯]gel / V[iə̯]gel ‘Pl.’ (entrundet) // [iə̯]sel, R[iə̯]d. Eine weitere frankenwäldisch-nordbairische Solidarität zeigt sich, wiederum unterbrochen von anderen ostfränkischen Varianten, in Bezug auf die Reflexe der mittelhochdeutschen fallenden Diphthonge ie, üe, uo, nur dass der nordbairische Raum hier insgesamt und nicht nur in seinem nördlichsten Teil erfasst ist. In der Frankenwald-Mundart kommt jedoch neben diesen „gestürzten“, also in steigende umgewandelten Diphthongen, noch eine andere Art von Steigdiphthongen vor, die gleich lauten, aber auf die gedehnten mittelhochdeutschen hohen Kurzvokale i, ü, u zurückgehen (Tab 12.19). Die Reflexe der zweiten Reihe (hier ged. mhd. u und i) sind im volkstümlichen Schibboleth d[eɪ̯ ] L[oʊ̯]ft is lauter W[eɪ̯ ]nd aufgespießt, die der ersten und zweiten Reihe (hier nach-mhd. u und mhd. uo) in der Phrase Måri, sen deina N[oʊ̯]dln g[oʊ̯]t. Diese „flach“ steigenden Diphthonge [eɪ̯ ] und [oʊ̯] sind von jenen „steil“ steigenden [ɛɪ̯ ] und [ɔʊ̯] verschieden, die oben als Reflexe von ged. mhd. ä/ë/a behandelt wurden und die auch lang mhd. æ (æ) / â fortsetzen.
380
II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 12.19: Reflexe hoher Di-/Monophthonge im Frankenwäldischen nach KBSA und SNOB Kartenwerk
Merkmal
Frankenwald-Dialekt
ostfrk. Umgebung
KBSA: Kt. 24/25/26
mhd. ie/üe/uo in fliegen/Kühe/Kuh
diphthongisch [eɪ̯ ] / [oʏ̯]~[eɪ̯ ] / [oʊ̯]
monophthongisch [i:] / [y:]~[i:] / [u:]
SNOB, 1: Kt. 131, 132, 136 / 145 / 140, 142, 148; 144
ged. mhd. i/ü/u in viel, Kind, Trichter / Flügel / Stube, Luft, Hund; nach-mhd. Nudel
diphthongisch [eɪ̯ ] /
monophthongisch [i]~[y], [i], [i]~[e] /
[øʏ̯]~[eɪ̯ ] / [oʊ̯]; [oʊ̯]
[y(:)]~[i(:)] / [u(:)]; [u(:)]
Eine „Mainlinie“, die eigentlich auf eine mitteldeutsch-oberdeutsche Abgrenzung zielt, aber auch eine (ost)fränkische Binnengrenze suggeriert, ist in beiderlei Hinsicht Schimäre − durchaus nicht nur „als volkstümlich geographische Vorstellung“ (Durrell 1989: 89), sondern auch als eine der wissenschaftlichen Sprachgeographie.
4. Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie Ein elementares wortbildungsmorphologisches Kriterium der Abgrenzung des Ostfränkischen von seinen Nachbardialekten ist die Form des Diminutivsuffixes. Die Grenze zum Rheinfränkischen/Osthessischen (4−1) und Thüringischen (1−2) beschreibt Wiesinger (1983: Kt. 47.7, Linien 10a, 10), die zum Nordbairischen (2−3) und Schwäbischen (3− 4) der KBSA (Kt. 40): Tab. 12.20: Außengrenzen ostfränkischer Diminutiv-Varianten nach Wiesinger (1983) und KBSA Abschnitt 4−1 4−1 1−2 2−3 3−4
von S bis ca. Miltenberg von Miltenberg nach N, westliche Teilstrecke gesamte Strecke östlicher Abschnitt
Merkmal
ostfrk.
andere
Varianten des Typus -lein unterschiedliche Typen
-le -lein
Varianten des Typus -lein Varianten des Typus -lein
-la -la
rheinfrk. -l rheinfrk./osthess., thür. -chen nordbair. -l schwäb. -le
Was die Strecke 3−4 im westlichen Abschnitt betrifft, so unterscheiden sich ostfrk. und schwäb. -le jedoch nicht. Allerdings lassen sich Außen- und Binnengrenzen des Ostfränkischen damit bestimmen, ob es vom Singular unterschiedene Pluralformen des Diminutivs gibt und welche Form diese ggf. haben (vgl. KBSA: Kt. 40) (Tab 12.21). Rowley (1997: 233/Kt. 33) gibt zusätzlich zu den Varianten der Singular-PluralUnterscheidung beim Diminutiv, die das Ostfränkische nach außen abgrenzen (bei ihm vom thür. -le/-le und vom nordbair. -l/-la), auch solche an, die es im Innern staffeln (Tab 12.22). Beim wortbildungsmorphologischen Ausdruck von „Sprecherperspektive“ sondert sich ein bairischer Typus von Richtungsadverbien ab. Ihm steht der verbreitete westhoch-
12. Ostfränkisch
381
Tab. 12.21: Außen- und Binnengrenzen ostfränkischer Diminutiv-Plural-Varianten nach KBSA Abschnitt
Singular / Plural ostfrk.
Singular / Plural andere
4−1 soweit im KBSA sichtbar 2−3 nördlicher Abschnitt südlicher Abschnitt 3−4 soweit im KBSA sichtbar
-le / -li(ch) -la / — -la / -li -le ~ -la / -li(ch)
rheinfrk./osthess. -chen-Typus / — nordbair. -l / -la schwäb. -le ~ -la / -la ~ -lan
Tab. 12.22: Binnengrenzen des Ostfränkischen in der Singular-Plural-Unterscheidung beim Diminutiv nach Rowley (1997) nördl. Unterostfrk. südl. Unterostfrk. mit Unterscheidung
Oberostfrk. ohne Unterscheidung
-la / -lich
-la / -la
-la / -li
deutsche (und süd-standardsprachliche) Typus gegenüber, dem auch das Ostfränkische angehört. Dieses Kriterium eignet sich also nicht zur Abgrenzung des Ostfränkischen von seinen nicht-bairischen Nachbardialekten, auch nicht vom südwestlichen Nordbairischen, das mit dem westlichen Mittelbairischen dem verbreiteten Typus folgt. Gütter (1971: Kt. 40) stellt den Grenzverlauf anhand des Grundmorphems -auf- dar, der KBSA anhand von -ein- (Kt. 43; siehe Tab. 12.23) und − mit ähnlichem Bild − anhand von -über- (Kt. 44). Tab. 12.23: Ostfränkischer vs. nordbairischer Typ der Affigierung von Richtungsadverbien nach KBSA Merkmal
Ostfränkisch
Nordbairisch außer Südwestteil
Typus proximal distal lautliche Realisierung
präfigiert her-ein hin-ein r-ai n-ai
suffigiert ein-her ein-hin ain-a nördlich ai-cha* ain-e nördlich ai-che*
* Der Suffixanlaut h von -her/-hin ist in [ç] noch reflektiert, der Stammauslaut n von ein ist geschwunden.
Beim Präfix des proximalen Ortsadverbs (Beispiel Grundmorphem -innen-) stehen sich im nördlichen Grenzabschnitt ostfrk. h-innen und nordbair. her-innen gegenüber, im südlichen Abschnitt ostfrk. 0̸-innen/dr- innen und nordbair. her-innen (KBSA: Kt. 41). Auch die Variation grammatischer Funktionswörter kann grenzbildend sein. So stehen sich an der Hauptmundartlinie bei den Pronomina der 2. Person Plural ostfrk. (einschließlich nürnberg.) ihr und, von Nord nach Süd, nordbair. dirts/enk(s)/ēʒ gegenüber. Den gleichen Grenzverlauf nehmen ostfrk. eich vs. nordbair. enk(s) (Gütter 1971: Kt. 34, 35; KBSA: Kt. 37, 39). In der Verbalflexion der 2. Person Plural (Präs. Ind.) trennt diese Linie ostfrk. (ihr) schreib-t von nordbair. schreib-ts (Gütter 1971: Kt. 36; vgl. SNOB, 1: Kt. 18 zu ihr tragt, Linie 2---2).
382
II. Die Sprachräume des Deutschen
Eine räumliche Verteilung von flexivischen Allomorphen begegnet beim Konjunktiv II. Am Beispiel von kommen zeigt sich im KBSA (Kt. 33) an der Hauptmundartgrenze ein Gegensatz zwischen ostfrk. (einschließlich nürnberg.) kummad und standard-nordbair. kaamad. Dies ist ein Kontaminationsprodukt der geographischen Zwischenlage zwischen (a) dem suffigierten „schwachen“ Typ ostfrk. kummad und (b) dem umlautenden „starken“ Typ kaam im großen sich südöstlich anschließenden Gebiet des restlichen Nordbairischen und des Mittelbairischen (sowie in einem kleinen Gebiet im äußersten Nordosten des Nordbairischen). Vom Typ (a) nimmt es das ad-Suffix, vom Typ (b) das umgelautete Grundmorphem:
ostfrk. standard-nordbair. rest-nordbair. / mittelbair.
ad
kumm
↓
kaam ↑ kaam
ad
Abb. 12.1: Ostfränkisch-bairische Staffelung des Konjunktivs II von kommen nach KBSA
Dass es nicht nur deutliche Grenzen zwischen den Großdialekten oder Übergangszonen zwischen ihnen mit Kompromissformen gibt, sondern auch Exklaven des einen Großraums im anderen oder vorgeschobene Vorstöße des einen in den anderen, kann an den Formen des Imperativs Singular von sein („sei!“) gezeigt werden (dazu KBSA: Kt. 32). So findet sich die bairische Standardform bi! auch im östlichen Oberostfränkischen (Bayreuth-Hofer Raum), keilförmig unterbrochen von einem Gebiet mit der ostfränkischen Standardform sei!, die sich umgekehrt ins nördliche Nordbairische (Raum Weiden) schiebt. Die Grenze zwischen den Varianten ostfrk. sen und nordbair. san ~ han für die 1. Person Plural (wir) sind ist dagegen deckungsgleich mit der Hauptmundartlinie derjenigen Variante, bei der der Raum Nürnberg mit dem Ostfränkischen geht (Gütter 1971: Kt. 37). Wie bei den Diminutiv-Varianten des -lein-Typus (-le, -la) verhält es sich auch mit vielen geographischen Varianten im Bereich der Flexion: Die Unterschiede sind nicht eigentlich morphologischer, also echt allomorphischer Natur (wie das beim Unterschied der Diminutiv-Typen -lein vs. -chen der Fall war), sondern Folgen morpho-phonologischer Prozesse. Es liegt also eigentlich eine Allophonie von Morphen vor. So lassen sich nach Rowley (1997: 171) für sein ostfränkisch-nordbairisches Untersuchungsgebiet „Kerngebiete herausarbeiten, die primär durch die Auswirkung phonologischer Gesetzmäßigkeiten auf die […F]lexion gekennzeichnet sind“, und auch in Koch (Art. 10 in diesem Band) wird Kap. 4. zur Morphologie des Bairischen mit dem Hinweis eingeleitet, dass die „Morphologie […] maßgeblich von phonologischen Prozessen geprägt“ sei (Hervorhebungen R. H.). Was hier morphologisch jeweils wirksam wird, sind lautlich motivierte Prozesse wie Syn- und Apokopen, Silbenschnitt-Constraints, morenzahlgetriebene Quantitätsausgleiche, Reparaturen lautlicher Störungen u. ä. So verwundert es nicht, dass Rowley (1997: 172) feststellen kann: „Diese Ergebnisse [zur Morphologie] spiegeln die bereits übliche Sprachraumeinteilung nach phonologischen Kriterien wieder [sic], wie sie zum Beispiel in H. Steger (1968) vorliegt“ (Hervorhebungen R. H.).
12. Ostfränkisch
383
Areal verteilt sind z. B. lautliche Varianten des Suffixes -en (Rowley 1997: 76, Kt. 19) oder des Präfixes ge- (70, Kt. 17). Anhand der ge-Synkope sei eine solche geographische Staffelung exemplarisch vorgeführt. Nach diesem Kriterium lässt sich das Ostfränkische sowohl nach außen (vom Thüringischen und Nordbairischen) abgrenzen als auch im Innern gliedern. Die Synkopierung ist abhängig vom konsonantischen Anlaut des Grundmorphems. Welche Anlaute betroffen sind, ist geographisch gestaffelt (I−V). Rowleys kartographischer Befund für das Oberostfränkische lässt sich tabellarisch folgendermaßen abbilden (z. T. nennt er ganze Beispielverben, z. T. nur die Anlautkonsonanten von Verbstämmen):
Tab. 12.24: Staffelung der ge-Synkope nach Rowley (1997) I
ge-sagt
II
g-sagt
III
ge-wes’n
ge-wart’t
ge-nomm’n
ge-tan
Thür. Ostfränk.
g-wes’n
IV
g-wart’t
g-nomm’n
V
0̸-tan
Nordbair.*
weitere, nach entsprechender Klasse des Stammanlauts: ge/g-fahr’n ge/g-h… Frikative
ge/g-m… ge/g-l… ge/g-r… Sonoranten
ge/0̸-taut ge/0̸-baut ge/0̸-k… Plosive
* In seinem nördlichen Abschnitt, dann flachere Kurve nach Westen, das südliche Oberostfränkische durchschneidend.
Im Oberostfränkischen wird also anders als im Thüringischen vor einem Grundmorphem mit frikativischem Anlaut synkopiert (g-sagt), vgl. auch Werner (1961: 168−169). Nach Südosten folgt dann eine interne Stufenlandschaft mit zusätzlicher Synkope zuerst vor dem -w der hoch tokenfrequenten Verbform g-wes’n, dann vor semivokalischem, nasalem und liquidem Anlautkonsonanten generell (g-wart’t, über die Beispiele von Rowley 1997: Kt. 17 hinaus auch g-macht, g-loff’n). Doch geht das nördliche Oberostfränkische am Ende nicht so weit wie das Nordbairische (und das südliche Oberostfränkische; siehe *-Anm. zu Tab. 12.24) und verschließt sich einer Totalassimilation und -verschmelzung von g- und plosivischem Stammanlaut (was den Anschein einer 0̸-Präfigierung hat: 0̸tan, 0̸-baut). Noch etwas weiter südöstlich verläuft die Grenze zwischen nordöstlichem nicht-synkopiertem und südöstlichem synkopiertem und ggf. (total)assimiliertem enklitischem bestimmtem Artikel fem. Sg.: die Eier / Milch / Füß’ / Kleider / Bauern vs. d’Eier / b’Milch / b’Füß’ / 0̸’Kleider / 0̸’Bauern (Rowley 1997: 218/Kt. 18). Beim Substantiv Getreide ist nach dem KBSA (Kt. 111) im nördlichen Ostfränkischen (Würzburger, Bamberger, Hofer Raum) Ge- erhalten (Ge-träd/Ge-tra(d)), im südlichen (Bayreuther, Nürnberger, Ansbacher Raum) fehlt wie im benachbarten Nordbairischen das Ge(Träd/Tra(d), Troid).
384
II. Die Sprachräume des Deutschen
In Kap. 3.1. war der Unterschied zwischen dem Ostfränkischen und dem Nordbairischen in der Kombinierbarkeit von vokalischer Quantität ([V:] / [V]) und konsonantischer Qualität (L[enis] / F[ortis]) bereits angesprochen worden, allerdings nur unter lautlichem Aspekt (KBSA: 29/Kt. 7 u. 67/Kt. 27; vgl. Koch, Art. 10 in diesem Band, Kap. 3.1.2.). An den Beispielen ostfrk. [vi:ʒ] / [viʒ] vs. bair. [vi:ʒ] / [viʃ] ‘Fisch / Fische’ war jedoch auch schon die morphologische Nutzbarkeit dieser Art des Gegensatzes sichtbar geworden: im Ostfränkischen durch den reinen Wechsel der Vokalquantität bei gleichbleibender Lenis-Konsonanz (Quantitätsausgleich), im Nordbairischen durch Wechsel der Vokalquantität mit strikt daran gekoppelter Konsonantenqualität (Silbenschnitt): dort nur [V:L] oder nur [VF] (vgl. Rowley 1997: 35 zum sog. „Pfalzschen Gesetz“). Unterscheiden sich beide Dialekte hierin im Einzelnen, so haben sie doch gemeinsam, dass die grammatische Kennzeichnung rein introflexiv, also ohne Suffixe, geschieht. Gemeinsam ist ihnen auch, wie sie mit tiefenstruktureller Gemination (vgl. Hinderling 1980: 32) umgehen, die bei Suffigierung entsteht, wenn Stammauslaut und Suffix(anlaut) lautlich identisch sind (s. Asterisk * in Tab. 12.25): Die Konsonanten verschmelzen, die Vokale werden gekürzt. Den Unterschied machen auch hier wieder Quantitätsausgleich vs. Silbenschnitt. Dieses Merkmal trennt den ostfränkischen (einschließlich Nürnberger) Raum vom nordbairischen: Tab. 12.25: Flexion durch Quantitätsausgleich vs. Silbenschnitt im Ostfränkischen und Nordbairischen ostfrk. (mit Raum Nürnberg)
nordbair.
V(:)-L/F-Relation
V:L
V:L
Sg. Fisch Pl. Fische
[vi:ʒ]
1. Ps. Sg. ich rede 3. Ps. Sg. er redet
[re:d] *[re:d-d] >
VL
VF
[vi:ʒ] [viʒ] [re:d] [red]
rein quantitativer Unterschied
[viʃ] [re:d] *[re:d-d] >
[re:d] [ret]
Quantitäts- und Stärke-Unterschied
Weitere (vorwiegend nominal-)morphologische Grenzen des Ostfränkischen zum Nordbairischen, ferner zum Thüringischen, arbeitet Rowley (1997: 171−174) heraus. Für die sich ergebenden Sprachräume konstatiert er erneut, dass sie „primär durch die Auswirkung phonologischer Gesetzmäßigkeiten auf die [F]lexion gekennzeichnet sind (s. Karte 39)“. Am Beispiel von Fisch und seinen Formen seien die Merkmale der sog. „Einsilblerdehnung“ und des Silbenschnitts und ihre Funktionalisierung für morphologische Zwecke hier nochmals aufgegriffen und in Rowleys Areale morphologische Gliederung des Untersuchungsgebiets (so Kap. 6.4.) eingepasst, die eine Staffelung vom Thüringischen über das Ostfränkische bis zum Nordbairischen aufweist. Gleichzeitig werden von Rowley beobachtete, durch innerparadigmatische Vereinheitlichung bedingte Synkretismen berücksichtigt, die typischerweise in ausgleichsfreundlichen Städten entstanden sind (Tab 12.26). Die ganz ähnlichen Verhältnisse bei Grundmorphemen mit silbenauslautender Mehrfachkonsonant wie Hund zeigt der SNOB (1: Kt. 148−149) (Tab 12.27). Die ostfränkisch-nordbairische Grenze zwischen Lenis- und Fortis-Auslaut im Plural von Hund deckt sich nach dem SNOB (1: Kt. 149) mit der Grenze zwischen umgelaute-
12. Ostfränkisch
385
Tab. 12.26: Geographische Staffelung der silbischen Morphologie nach Rowley (1997) Merkmal
Thür.
Stadt/Land
± Einsilblerdehnung: Sg. (ein) Fisch
[viʒ]
ländlich städtisch
Silbenschnitt: Sg./Pl. Fisch/Fische
[viʒ] / [viʒə]
ländlich städtisch
Ostfrk.
Nordbair. [vi:ʒ] [viʒ]
[vi:ʒ] / [viʒ] [viʒ] / [viʒ]
[vi:ʒ] / [viʃ] [viʃ] / [viʃ]
Tab. 12.27: Geographische Staffelung der silbischen Morphologie nach SNOB Merkmal
Ostfrk.
Nordbair.
Einsilblerdehnung bei Sg. Hund Lenis/Fortis-Auslaut bei Pl. Hunde
[hu:nd] ~ [hound]* [hind] ~ [hynd]** [hunt]
* eingestreut [hund]; ** ostfrk. eingestreut [hi:nd] / [hy:nd]
tem und nicht umgelautetem Plural. Die Kt. zeigt im Umlautgebiet zusätzlich die Grenze zwischen rund gebliebenem und entrundetem Vokal, wie sie in Kap. 3.2. beschrieben ist. Folgende räumliche Verteilung zeigen nach Rowley (1997: Kt. 39) die Reflexe von -e-Suffixen der Stammbildung bei Feminina und der Pluralbildung: Tab. 12.28: Geographische Staffelung der Stamm- und Pluralbildung auf -e nach Rowley (1997) Merkmal
Thür.
Sg.-Stamm Typ Wiese Sg.-Stamm Typ Katze e-Plural
Wies-e Katz-e Gäns-e, Fisch-e
Ostfrk.
Nordbair. Wies-n Katz Gäns, Fisch
Kriterium ist hier erhaltenes vs. durch nasale Endung ersetztes bzw. apokopiertes eSuffix. Mit ihm lässt sich auch die Grenze zum Thüringischen, hier auf Höhe des Gebiets Ludwigsstadt, ziehen. Dazu schreibt Werner (1961: 175): Das auslautende -e des Mhd. hat sich nur im [thür.] G. Ludw. […] erhalten; im verbleibenden großen [ostfrk.] Raum ist dieses -e stets gefallen. […] Damit läuft eine der markantesten Grenzen, die heute das Mitteldt. vom Oberdt. abheben, durch unseren [Untersuchungs-] Raum. […] Mit Recht wird die Bedeutung dieser Grenze stets betont, weil der gesamte Sprachrhythmus und die Intonation von diesem erhaltenen oder fehlenden End-e wesentlich mitbestimmt werden.
Man vergleiche dazu einen Satz wie die Katze und die Hunde wollen heute nichts fressen in dreizehnsilbiger Ludwigsstädter und neunsilbiger frankenwaldfränkischer Version: die Katze und die Hunne wulln heite nix frasse vs. die Katz’ und die Hünd’ wölln heut’ nex fress’. Den endungslosen Typus des Femininums Singular am Beispiel Sohle kartiert für den Norden Unterfrankens (mit vermutbarer Fortsetzung im östlich anschließenden Coburger und frankenwaldfränkischen Gebiet) auch der SUF (3: Kt. 1): Sohl-0̸. Südlich davon scheidet der rechte Schenkel des Maindreiecks den größeren westlichen Typus Sohl-e/-a vom östlichen Typus Sohl-n.
386
II. Die Sprachräume des Deutschen
An der Infinitiv-Varianz fress-en/fress-0̸ des obigen Kennsatzes sieht man, dass auch verbale -en-Suffixe apokopiert werden können und die morphologischen Paradigmen entsprechend geprägt sind. So weist der KBSA (Kt. 30) ein „Verbreitungsgebiet endungsloser Infinitive“ aus, das − über die Fläche des politischen Bayern hinaus nach Thüringen hinein − auch bei Bock (1965: Kt. 6) kartographiert ist. Die Formvarianten des Verbalsuffixes -en sind auch noch in anderer Weise raumbildend, so bei den Infinitiven von − exemplarisch − geh-en und dreh-en (KBSA: Kt. 29/ 30): Tab. 12.29: Geographische Staffelung der Infinitivformen nach KBSA Ostfrk.
Nürnberger Raum
[ge:] „geh-0̸“ [dre:(i̯ )ɐ] „dreh-a“
Nordbair.
[gẽĩ̯ ] / [geɐ̃] „geh-n“ [dra:n] „drah-n“
Neben der lautlich realisierten Oberflächenform steht in doppelten Anführungszeichen jeweils auch eine zugrundeliegende Form, die anzeigt, ob ein Suffix angesetzt werden kann und, wenn ja, in welcher Weise. Bei [gẽĩ̯ ] / [geɐ̃] wird der nasalierte Stammvokal als schwacher Reflex eines Nasalsuffixes „-n“ aufgefasst. Im Falle der vokalisch auslautenden Verben vom Typ gehen schließt sich der Nürnberger Raum dem Nordbairischen an, bei den verba pura des Typs drehen geht er mit dem Ostfränkischen. Am Beispiel der 1. Person Plural (wir) les-en zeigt sich eine andere Raumaufteilung (KBSA: Kt. 31). Hier grenzen sich von einem großflächigen Gebiet, das den größten Teil des Ostfränkischen, das Nordbairische und westliche Mittelbairische umfasst, das Schwäbische und, mit dem Rheinfränkischen und Osthessischen gehend, das westliche Unterostfränkische ab: Tab. 12.30: Geographische Staffelung der Formen der 1. Person Plural nach KBSA westl. Unterostfrk. les-e
restl. Ostfränkisch mit Nord- und westl. Mittelbair. les-n
Schwäb. les-ed*
*vgl. mittelbair. les-(e)nd
Raumbildend sind nach Rowley (1997: 139−143 und Kt. 26/35) auch die Formen des Dativs Plural. Westlich einer in strikter Süd-Nord-Richtung verlaufenden Linie entlang der Flussläufe von Rednitz, Regnitz und Itz kommt nach Ausweis seiner Kt. 26 „immer die mit dem Nom./Akk. Pl. gleichlautende Form“ ohne Endung vor, östlich davon eine nasale Endung, zum Großteil mit verstärkenden Sonderformen. Dieses oberostfränkische Gebiet wird dann von Linien zu Varianten des verstärkten Dativs Plural weiter unterteilt, die von Südwesten nach Nordosten verlaufen. Als Beispielwort wird hier Kuh gewählt. Die Form Ochs-an steht für die Klasse der n-Plurale, bei denen der Nominativ Plural auf -n mit dem Dativ Plural auf -an alterniert: bei Fällen mit n-Stammbildung Gart-n/ Gärt-n/Gärt-an, bei Fällen ohne solche Ochs/Ochs-n/Ochs-an. Variation in ein und demselben Raum ist einerseits durch die lautliche Umgebung des Suffixes mitbedingt, ander-
12. Ostfränkisch
387
seits durch arealen Kontakt und, wenn die standardnahe Variante auf -n betroffen ist, durch soziale Schichtung mitverursacht. Tab. 12.31 ist so aufgebaut, dass die in der geographischen Staffelung jeweils allein gültige oder − bei Variation − neu hinzukommende Variante explizit genannt ist: Tab. 12.31: Geographische Staffelung des Dativs Plural nach Rowley (1997) Großraum
Thür.
Teilraum nach Kt. 35 bei Rowley
III Ludwigsstadt
Dat. Pl.
Küh-n
I Coburg
Küh-na
Ostfrk.
Ostfrk.-Nordbair.
Nordbair.
II Kronach, Hof, Kulmbach, Lichtenfels
VI Bayreuth, Wunsiedel, Tirschenreuth
IV Weiden und südlich davon
= = Küh-an
= = =/ Ochs-an (V) Küh-nan
= = =
(V) = Raum Bayreuth − Pegnitz − Kemnath
Eine Besonderheit von ostfränkischen Artikel-Substantiv-Phrasen im Dativ-Plural wird im Kap. 5. zur Syntax behandelt.
5. Basisdialektale Raumstruktur: Syntax So, wie vieles an der in Kap. 4. behandelten Morphologie eigentlich Morphophonologie war, ist vieles an der in diesem Kap. 5. behandelten Syntax eigentlich Morphosyntax. Eine solche morpho-syntaktische Alternation beschreibt Schübel (1955: 262) für den Ort Stadtsteinach im − siehe Tab. 12.31 − Teilraum II von Rowley (1997: Kt. 35). Es geht darum, dass die Nominalphrase im Dativ Plural dem Prinzip der Monoflexion folgt: unten Beispiel (1). Für den westlichen Teilraum, der nach Rowley (1997: Kt. 26) nicht zum geschlossenen Gebiet mit (Sonder-)Formen des Dativs Plural gehört, dokumentiert Bock (1965: 50 u. 64) diese Arbeitsteilung der nominalflexischen Kennzeichnung − entweder am Artikelwort oder am Substantiv − ebenfalls: Beispiel (2). Zu beiden vgl. Harnisch (2006: 387−398), daraus auch die verhochdeutschende Interlinearglossierung zwischen „…“: (1)
in sain a:ŋɑ ~ in sainɑ a:ŋ
„in sein-0̸ Augen-en ~ in sein-en Augen-0̸“
(2)
midan khy:nə ~ midanə khy:
„mit den-0̸ Kühe-n-en ~ mit den-en Kühe-0̸“
Dieser Befund legt eine syntopisch latente Variabilität syntaktischer Konstruktionen insbesondere in Kontaktgebieten nahe. Dafür sprechen auf Rowleys Kt. 26 „Einzelbelegpunkte“ von Sonderformen des Dativs Plural außerhalb des Kerngebiets sowie die Absteckung eines Übergangsgebiets um Kronach, in dem „nur Streubelege“ vorkommen. In solchen Räumen kann es Zufall gewesen sein, welche Variante eine Gewährsperson in der Erhebungssituation gerade aktiviert hat.
388
II. Die Sprachräume des Deutschen
Reflexe des Suffixes -en betreffend wurde in Kap. 4. schon auf das „Verbreitungsgebiet endungsloser Infinitive“ hingewiesen, aber noch nicht erwähnt, dass diese verbalsyntaktisch gesteuert sind: durch Stellung „nach Modalverben“ wie bei wölln + Inf. fress (vgl. KBSA: Kt. 30). Es ist identisch mit dem „Verbreitungsgebiet der Vorsilbe ‚ge-‘ bei Infinitiven“, wiederum verbalsyntaktisch bedingt „nach bestimmten Modalverben“ (vgl. KBSA: Kt. 29): die Katz ko heut nix ge-fress ‘die Katze kann heute nichts fressen’ (modv. ko + Inf. ge-fress). Infinitive mit ge-Präfix in Stellung nach modv. mögen und können dokumentiert Sperschneider (1959: Kt. 14 u. 24): ich mücht g-sah ‘ich möchte sehen’ bzw. du kannst dich doch selbst ge-rasier/ge-balbier und (dass) etwas ge-passier konnt. Auch wenn dieses Phänomen neben dem Raum Würzburg in Unterfranken auch den Coburger und nördlichen Bamberger (mitsamt Frankenwald-)Raum in Oberfranken umfasst, ist es scherzhaft sprichwörtlich für Unter-ge-franken geworden. Ins Thüringische reicht dieses Phänomen nicht mehr, da es laut Sperschneider (1959: 112) nur südlich vom „Kammweg des Thüringer Waldes“, der sog. „Rennsteigschranke“, vorkommt (vgl. seine Kt. 57). Dasselbe gilt für eine weitere syntaktische Konstruktion in diesem Raum, die im Titel von Werner (1994: 343) mit dem Beispielsatz was da sich ölles aahotmüßhör! ‘was der sich alles an hat müss(en) hören’ wiedergegeben ist. Sie wird von sprachgeographischen Nachbarn in Kenn-Sätzen wie er hot sich foto- loß -graphier ‘er hat sich fotographieren lassen’ karikiert. Sie enthält endungslose Infinitive (hör; foto…graphier) und endungslose partizipiale Infinitive (loß, müss), vor allem aber fällt sie in der Serialisierung auf: Präverbale Wortbildungselemente (Partikel, Doppelpartikel, Adverbien) werden nicht nur vom verbalen Grundmorphem getrennt, sondern sogar klammerbildend positioniert: aa-[müß]-hör; foto-[lass]-grafier). Endungslose Infinitive in solchen komplexen verbalen Konstruktionen (vgl. König & Fritz-Scheuplein 2014) thematisiert der SUF (Bd. 3) in zwei Zusammenhängen: (1)
Partizip-II-Bildung „in einem haben-Gefüge“ (Kt. 191): unterostfrk. hat müss-0̸ … vs. rheinfrk. hat müss-e …
(2)
Imperativ helfen schieben bzw. schieben helfen (Kt. 192, Legende): als Prototypen sind helf schieb-0̸! bzw. schieb helf-0̸! genannt (vgl. SMF, 7: Kt. 134, mit weiterer syntaktischer Komplizierung Ich habe schieben helfen müssen, Kt. 135).
Im SUF (3: Kt. 167.1, Legende) findet sich im Kontext des Präteritums von wollen ein Zufallsbeleg für eine diskontinuierliche Wortbildung bei heimgehen: er wollt ihn nicht heim- lass -gehn. Für das Gebiet südlich des Rennsteigs im Abschnitt Masserberg − Neuhaus − Spechtsbrunn weist Sperschneider (1959: 110−111 und Kt. 54−55) zwei weitere solche für das Ostfränkische im südöstlichen Thüringer Wald typische Konstruktionen nach: − ‘aufhören/anfangen zu X-enInf.’
Wie es auf zu brennen gehört hatte, hat die Feuerwehr […] an zu saufen gefangen (Tu die Kohlen in den Ofen,) dass die Milch bald an zu kochen fängt (Wenker-Satz) − ‘steckengeblieben sein’ (Da hätte es passieren können,) daß ich im Sumpf stecken wäre geblieben Eine weitere Klammerkonstruktion, bestehend aus flektiertem Nebensatzeinleiter und finitem Verb in Endstellung, wird oft als typisch bairisch aufgefasst, auch in der wissen-
12. Ostfränkisch
schaftlichen Dialektgrammatik und dort vor allem von bairischen Generativisten. Doch kommt sie im Ostfränkischen genauso vor, wie das Sperschneider (1959: 72−73, 10− 110 u. Kt. 53) für sein Untersuchungsgebiet an folgenden Subjunktionssätzen zeigt (Hervorhebungen R. H.): waͅ ls daͅ niə åədiχ woəšd, … (weil du nicht artig warst) iχ will wis (ich will wissen), öbs daͅ mídgesd, weͅ ns daͅ kümsd, wis dəš [sic! − recte: dəs] wilsd hou (ob du mitgehst, wenn du kommst, wie du es haben willst), iə müsd sāͅ (ihr müsst sehen), öbdə, weͅ ndə, wīdə, deͅ sdə, wūdə hīgaͅ d (ob ihr, wenn ihr, wie ihr, dass ihr, wo ihr hingeht).
Da sich die Erscheinung sogar bis ins südliche Thüringische zieht, kann sie für keinen der genannten Räume als Spezifikum veranschlagt werden. Vielmehr stellt sie eine osthochdeutsche Gemeinsamkeit dar. Das Verbreitungsgebiet dieser Konstruktion scheint nach Westen hin allerdings noch innerhalb des Unterostfränkischen zu enden: „Der Teil des Werratals nämlich, der noch im bearbeiteten Gebiet liegt, kennt diese syntaktische Eigenheit nicht“ (Sperschneider 1959: 110). Nach Südwesten scheint sie sich aber fortzusetzen, wie ein Hinweis von Sperschneider (1959: 73) auf die Studie von Freiling (1929) zum hessischen Odenwald verrät. An gleicher Stelle stimmt er Weise (1907) zu, der „in dem s im Sing. und dem d im Plural ‚assoziative Fernwirkungen‘ der Verbalhandlungen“ (sic! − richtig ist: Verbalendungen) sieht. Dann müsste Sperschneider aber für Subjunktion und Verb konsequenterweise nicht nur ein Flexiv -d für die 2. Person Plural ansetzen (iə müsd sāͅ , öb-d-ə hīgaͅ -d), sondern auch ein Flexiv *-sd für die 2. Person Singular: iχ will wis, öb-*sd daͅ mídge-sd mit Verschmelzung des Suffixauslauts -d mit dem Anlaut d- des enklitischen Pronomens. Diesen Ansatz verifiziert Harnisch (1989: 287) unter Rückgriff auf die im Südthüringischen wie im Ostfränkischen mögliche Stellung des Pronomens vor der Subjunktion wenn anhand der Formen [du: wensd], [i:r wend] (segmentiert: /wen+sd/, /wen+d/). Darin, dass in diesen Dialekten die Subjunktion auch in der 3. Person Plural flektiert wird, gehen diese weiter als das Bairische: vgl. /no: is s a: fu:rgxumn das+n#ere six ɒbgsedsd xɒ+n/ ‘dann ist es auch vorgekommen, daß ihrer (= welche) sich abgesetzt haben’ (Harnisch 1989: 288). Auch die Varianten des im letzten Beispiel vorkommenden partitiven Genitivs ihrer und sein grenzen die Enklitika ostfrk. #ərɐ / #sn̩ und das selbständige Pronomen bair. o͂ɐ̯͂ „ein(−)“ (Merkle 1976: 153 u. 158) sprachgeographisch voneinander ab. Deckungsgleich mit dem parallelogrammförmigen Gebiet des Ostfränkischen nach Wiesinger (1983: 843/Kt. 47.7; s. o. Kap. 3.1.) ist der von Frings (1956: 55) beschriebene Geltungsbereich für die „Erscheinung ‚Richtungs- und Ortsadverb als Präposition‘“ (Rowley 1989: 369 [Kt.]). Dieses flächendeckende syntaktische Merkmal grenzt also das Ostfränkische zu allen benachbarten Großdialekten ab. Seine Grenze zum Nordbairischen ist mit der Grenze der Affixtypen ostfrk. hin-/her-ab vs. nordbair. ab-hin/-her identisch (s. o. Kap. 4.). Genau auf dem Kamm des Thüringer Waldes verläuft nach Sperschneider (1959: Kt. 41) die Grenze zwischen dem Typus ostfrk. naͅ en/naͅ ofn wåld ‘in den Wald (hinein/hinauf)’ und dem Typus thür. in’ wåld. Die Richtungsadverbien des ostfränkischen Typs vererben ihre Differenzierung in die Sprecherperspektiven „vom Sprecher weg / auf ihn zu“ an die aus ihnen hervorgegangenen Präpositionen: (sie schickt ihn) nauf den öbern Boden, (er kommt zu mir) rauf das Dach. Zweitens zeigen Konstruk-
389
390
II. Die Sprachräume des Deutschen
tionen wie naͅ ofn wåld, dass unspezifische Richtungsangaben wie „in“ bei diesem Typ von Präpositionen eine zusätzliche topologische Information enthalten, hier ‘in … hinauf ’. Aus beiden Gründen (zu ihnen Harnisch 2017: 50 bzw. 48; vgl. Harnisch 1982) handelt es sich also nicht nur um eine Grenze zwischen „präpositional“ versus „adverbial aussehenden“ Präpositionen, sondern um eine Grenze zwischen einem ostfränkischen Präpositionensystem, das raumsemantisch durch specherperspektivische Differenzierung und topologische Zusatzspezifizierung reicher ist, und einem in dieser Hinsicht ärmeren System aller Nachbardialekte (und des Hochdeutschen). Neben den im SMF (7: Kt. 121−125) kartierten Befunden einer arealen Variation von Dativ- und Akkusativformen (z. B. Kt. 121: hinein dem kalten Wasser vs. hinein das kalte Wasser) muss auch die Möglichkeit einer semantischen Alternation in Betracht gezogen werden, da sich die Konstruktionen (ein Kuchenblech) nei der Röhrn vs. nei die Röhrn (schieben) aspektuell nach resultativer ‘Befindlichkeit am Zielort’ und progressiver ‘Gerichtetheit der Bewegung’ unterscheiden können (Harnisch 2017: 50). Nach Ausweis der Karten im SMF (Bd. 7) scheint sich die Erscheinung adverbialförmiger Präpositionen gegenüber den Beobachtungen von Frings in den Norden des Bearbeitungsgebiets Mittelfranken zurückgezogen zu haben. Auch im Norden des Unterostfränkischen gibt es ausweislich Sperschneider (1959: Kt. 42) Vorstöße des Typs thür. (gleichzeitig stdspr.) an die Wand in das Gebiet von ostfrk. naa der Wänd. Rowley (1997: 368) konstatiert ferner, dass die Präpositionen aus Ortsadverbien (proximal [bei mir] h-innen der Stub’, distal [die Schwammen ‘Pilze’] dr-innen dein’n Korb) nicht so weit verbreitet sind wie die Präpositionen aus Richtungsadverbien. Im Nordstreifen des Ostfränkischen beginnen Präteritalformen von Süden nach Norden zuzunehmen. Das setzt sich ins Thüringische hinein fort. So bilden in einem breiteren Saum beiderseits dieser Dialektgrenze nah beieinander liegende verb(gruppen)spezifische Isoglossen ein auffälliges Verdichtungsbündel zwischen einer mittel- (und nieder-)deutschen Präterital- und einer oberdeutschen Perfekt-Landschaft. Einerseits kann man am Beispiel bestimmter Verben eine anhand anderer Merkmale schon gezogene ostfränkischthüringische Grenze bekräftigen. Dafür ist die Linie zwischen südlichem bin gekommen und nördlichem kam prototypisch geworden, die sich in der Kt. von Rowley (1983: 175) findet (vgl. auch die dem Rennsteig folgende sind gekommen / kamen-Linie bei Bock 1965: Kt. 2). Anderseits weist diese grenzüberschreitende Staffelung nah beieinander, aber nicht aufeinander liegender Isoglossen eine innere Logik auf, denn die präteritalen Formen nehmen in Süd-Nord-Richtung nach verbklassensemantischen Merkmalen zu: vom Auxiliar war über die Präteritopräsentia/Modalverben wusste, wollte, musste usw. bis zu fundamentalen Ruhe- und Bewegungsverben wie lag oder kam. Das zeigen alle sprachgeographischen Untersuchungen zu diesem Phänomen (Sperschneider 1959: Kt. 17−18, wiedergegeben und fortgeführt von Rowley 1983: 168, 175). Eine funktionale Beziehung dieser Verbklassensemantik zu morphologischer Irregularität und der Vorkommenshäufigkeit der präteritumfähigen Verben wird von Harnisch (1997) hergestellt.
6. Sprachdynamik Sprachdynamik durch das „Dialektverhalten junger Erwachsener“ ist für das gesamte Gebiet des SUF in dem zweidimensional auf Arealität und Generationenkontrast angelegten Sprachatlas Sprachatlas von Unterfranken zum Dialekt und Dialektverhalten
12. Ostfränkisch
391
junger Erwachsener (JuSUF) dokumentiert. Areale Muster sind daraus allerdings nur schwer zu erkennen. Innerhalb des SUF-Gebiets arbeitet, ebenfalls im Generationenkontrast, Schunk (1999) an fünf Ortspaaren aus jeweils einer Stadt und einer benachbarten Land-Kommune im Maindreieck deren Unterschiede in den lautlichen Dialektalitätsgraden heraus, die erwartungsgemäß um so deutlicher sind, je größer die betreffende Stadt ist, am größten deshalb bei den Ortspaaren Würzburg/Erlabrunn und Schweinfurt/ Heidenfeld (Schunk 1999: 198−202). Zum Dialektumbau stellt Schunk (1999: 206) fest: „Der Sprachwandel geht […] durchaus nicht immer Richtung Standardsprache. […] Im Gebiet des Maindreiecks entstehen durch diesen Sprachwandel […] dialektale Formen, die in der gesamten Region verbreitet sind“ und dazu berechtigen, hier von „Regionalisierung“ (Titel der Untersuchung) zu sprechen. Sprachdynamik dadurch, dass sich zwischen unterschiedlichen Dialekten Gebiete ausbilden, die deutlichen Übergangs-Charakter haben, zeigt etwa eine zwischen Bayreuth (Oberfranken) und Weiden (Oberpfalz) gelegene, sprachhistorisch festgewordene Landschaft: das im KBSA (Kt. 21) abgebildete Areal zwischen den Geltungsgebieten von ostfrk. braad und nordbair. broat ‘breit’, in dem brååd gesprochen wird, ein Kompromissvokal åå also, der zwischen „hellem“ aa und „dunklem“ oa liegt. Was hier in geographischer Zwischenlage entstanden war, kann auch in diastratischer Zwischenlage entstehen, so wenn Städter, Jüngere oder Gebildetere im Frankenwald Hååsn ‘Hasen’ sagen, das zwischen dialektalem Housn und standardnahem Haasn liegt (zu solchen „gemäßigteren“ neu-dialektalen Varianten im nördlich angrenzenden Gebiet Ludwigsstadt Harnisch 2004: 458−460, mit gleichem Beispiel). Während solche Zwischenformen prestige- und insofern sozial bedingt sind, liegen die Gründe für andere neutralisierende Formen im Bereich kommunikativer Funktionalität und mentaler Sprachverarbeitung. Beispiel dafür sind Kontaminationsräume „in einer ostfränkisch-nordbairischen Ausgleichszone […], die ‚gerade die Randgebiete zweier […] Mundartlandschaften eng zusammenschließen und solche ›Grenzen‹ überlagern‘“ (Rowley 1991: 1, mit Zitat aus Harnisch 1984: 90). In der östlichen Fränkischen Schweiz und im westlichen Fichtelgebirge bildet sich bei stark flektierenden Adjektivformen nach unbestimmtem Artikel zwischen dem Typ ostfrk. [a blind-e] ‘ein blind-er’ vs. [a blind-a] ‘eine blind-e’ und dem genau inversen Typ nordbair. [a blind-a] ‘ein blind-er’ vs. [a blind-e] ‘eine blind-e’ ein ambiger Kompromiss-Typ [a blind-ɐ] aus, der „im lautlichen Schnittpunkt der von beiden Seiten angebotenen Suffixe liegt“ (Harnisch 1984: 88) und zwischen den Genera nicht unterscheidet (dazu aus bairischer Perspektive Koch, Art. 10 in diesem Band): Tab. 12.32: Neutralisierung suffixmorphologischer Gegensätze im ostfränkisch-nordbairischen Kontaminationsraum nach Harnisch (1984) Genus
mask.
ostfrk. Gebiet Kontaminationsgebiet nordbair. Gebiet
[a blind-e]
fem. [a blind-a] [a blind-ɐ]
[a blind-a]
[a blind-e]
In der Theorie der „Sprachdynamik“ von Schmidt & Herrgen (2011) würde man dieses Phänomen heute „interaktiv-kognitiv“ und über „Synchronisierung“ unter den in Kontakt
392
II. Die Sprachräume des Deutschen
stehenden Sprechern erklären, die ein „problemloses Verstehen“ (Schmidt 2016: 62) sichern und „Misunderstanding“ (Lanwermeyer et al. 2016: 7) vermeiden wollen. Bei Harnisch (1984: 88) war das noch so ausgedrückt: „Für die Minderung der Gefahr, daß der jeweilige sprachgeographische Nachbar das genaue Gegenteil des Gesagten versteht, nimmt man eine nichteindeutige Form in Kauf, zumal sie offensichtlich in der Redundanz von Kontext und Situation ausreichend desambiguiert [sic!] werden kann.“ Nicht umsonst sind vom Sinn-Verstehen an Dialektgrenzen bedeutungstragende Einheiten betroffen: Gerade „morphologische Erscheinungen […] halten sich keineswegs an die sogenannte ‚Hauptmundartlinie‘, sondern verbinden ostfr. und nordbair. Dialekte über die phonologische Trennlinie hinweg“ (Rowley 1997: 173). Dürrschmidt (2001: 94−96, Kt. 53) hält ihre sprachgeographische Lupe unter anderem noch einmal auf dieses Phänomen der funktional synkretisierten Form [a blind-ɐ] in einem Kleinraum zwischen Bayreuth (Oberfranken) und Kemnath (Oberpfalz), der von den Bewohnern selbst in mehrfacher (auch sprachlicher) Hinsicht als dynamisches Übergangsgebiet empfunden und treffend als Frankenpfalz (< Oberfranken × Oberpfalz) bezeichnet wird. Während dort, abgesehen von ganz wenigen Orten an der Peripherie, die ältere Generation erwartungsgemäß nicht zwischen maskuliner und femininer Adjektivform differenziert, sondern [a blind-ɐ] für beide Genera gebraucht, bleibt dieser Synkretismus bei den Jüngeren in Reinform nur in drei Orten erhalten, überwiegt zwar noch in vier Orten, wird aber in bereits zehn Orten vom neuen Typus mask. [a blind-a] / fem. [a blind-e] dominiert, der in 19 Orten nun sogar zur Normalform geworden ist. Dieser neue Typus ist der bairische Normaltypus, so dass man vermuten könnte, die Sprecher richteten sich an dem hierin prestigereicheren Bairischen aus. Doch weist Dürrschmidt zu Recht darauf hin, dass die bairische Unterscheidung möglicherweise deswegen gewählt wurde, weil sie der standardsprachlichen „zufällig“ näher ist als der ostfränkischen mask. [a blind-e] / fem. [a blind-a]. Als Wahl einer möglicherweise prestigereicheren ostfränkischen Variante könnte man die von Dürrschmidt (2001: Kt. 38 u. 40) dokumentierte Abkehr der Sprecher von den nordbairischen „gestürzten Diphthongen“ (s. o. Kap. 3.1.) im Kernbereich ihres Untersuchungsgebiets werten, doch auch dem könnte eine versteckte Orientierung am Standarddeutschen zugrundeliegen, dem das Ostfränkische in diesem Merkmal näher ist. So kommt Dürrschmidt (2001: 138) zu folgendem Resümee: Im bair. Teil des UG sind die Sprecher offensichtlich dazu geneigt, Neuerungen zunächst aus dem Fränk. zu übernehmen, das nach Einschätzung der Gpp. ein wenig mehr Prestige genießt als das Bair. [in seiner nordbair. Variante; R. H.]. Anzumerken ist aber auch, daß das Fränk. − mit Ausnahme des Konsonantismus − meist auch standardsprachnähere Varianten anzubieten hat als das Bair. (z. B. bei den Richtungsadverbien oder den Pronomen [der 2. Person Plural; R. H.]), so daß auch hier eine Tendenz in Richtung der Stspr. gesehen werden könnte, die allerdings eine fränk. Färbung hat, so wie sie bei der Adjektivflexion eine bair. Färbung aufzuweisen hatte.
Die angesprochene „Ausnahme des Konsonantismus“ − im Untersuchungsgebiet „bewegt sich das Bair. mit der Lenisierung […] gar von seiner näher an der Stspr. liegenden Lautung weg und folgt dem Fränk.“ (Dürrschmidt 2001: 138) − belegt dann doch ein höheres Prestige des Ostfränkischen in diesem Übergangsraum, dessen Formen, so könnte man es ausdrücken, um so lieber gefolgt wird, wenn diese näher an der Standardsprache liegen. Die Strahlkraft der oberfränkischen Bezirkshauptstadt Bayreuth wird das noch unterstützen.
12. Ostfränkisch
Neben der Ausbildung von Übergangsräumen sind als Folge sprachdynamischer Prozesse auch Grenzverschiebungen zu beobachten. Das Ostfränkische ist hier für einen sprachgeschichtlich und sprachwandeltheoretisch bisher einmaligen Fall Musterregion der Forschung geworden: für die Entwicklung der Dialektsituation an der innerdeutschen Grenze zwischen der ehemaligen DDR (mit den betreffenden politischen Bezirken Thüringens und Obersachsens) und der Bundesrepublik (mit den betreffenden fränkischen Bezirken Bayerns) durch eine zeitlich sehr kurze (nur vier Jahrzehnte währende), doch von der Kontakthinderung her äußerst starke (man könnte sagen: hermetische) Trennung von Dialektgebieten, die vor der Grenzziehung dialektal einheitlich (überwiegend ostfränkisch in der einen oder anderen regionalspezifischen Ausprägung) waren. Für den Raum nördlich von Mellrichstadt − Bad Königshofen hat Fritz-Scheuplein (2001: 193) in einer apparent-time-Studie festgestellt, dass auf beiden Seiten der Grenze die Älteren ihr Dialektalitätsniveau ungefähr gehalten haben, während bei den Jüngeren ein Abbau basisdialektaler Merkmale zu beobachten ist − soweit nicht besonders überraschend. Ein sprachlicher Unterschied bildet sich aber an der politischen Grenze insofern aus, als die junge Generation auf ehemaliger DDR-Seite den Dialekt eher in Richtung Standardsprache verlässt, während sie auf ehemaliger bundesdeutscher Seite eher eine regionalsprachliche Zwischenform (eine unterostfränkische Umgangssprache) wählt. Für die Räume nördlich von Coburg und Hof haben Harnisch, Reinhold & Schnabel (2008) im Rahmen eines DFG-Projekts zur Sprachsituation im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet nach 40 Jahren politischer Spaltung (SPRiG) in einer real- und apparenttime-Untersuchung herausgefunden, dass die politische Spaltung bei den Jüngsten auch eine Spaltung nach areal fassbaren sprachlichen Merkmalen hervorgerufen hat, darunter zwei oben in Kap. 3.1. genannte saliente, doch in der herkömmlichen Dialektologie eher vernachlässigte: Vokal-Zentralisierung und r-Artikulation. So geben junge Sprecher aus nördlich von Hof gelegenen Orten auf bayerischem Boden, in denen vor dem Mauerbau Vokalzentralisierung gesprochen wurde, dieses Merkmal auf. Genau inverse Neuerungen haben sich im ehemaligen Osten und Westen in Bezug auf die Aussprache des r-Lauts ergeben: Junge Sprecher aus Orten auf thüringischem Boden, in denen vor dem Mauerbau apikales [r] gesprochen wurde, wechseln zu uvularem [ʀ], solche aus Orten auf bayerischem Boden, in denen die Alten uvulares [ʀ] hatten, wechseln zu apikalem [r] (Näheres Schnabel 2006; Harnisch 2010: 277−279; Harnisch 2015: 231, Kt. 3). Neue Dialektgrenzen an jungen politischen Grenzen können immer (mindestens) auf zwei grundsätzliche Arten zustande kommen: durch Umorientierung in neue dialektale Hinterlande oder durch unterschiedliche Grade des Dialektabbaus auf den beiden Seiten der Grenze. „Die Aufgabe des uvularen [ʀ] zugunsten des apikalen [r] auf westlicher Seite im [ostfränkischen] Hofer Raum spricht beispielsweise für die Entstehung einer neuen Grenze durch basisdialektake Umorientierung ins Hinterland“ (Harnisch, Reinhold & Schnabel 2008: 210), denn immerhin gibt man das normgerecht(er)e Standard-[ʀ] auf. „Schwieriger zu beantworten ist aber eine Frage wie die, ob die Aufgabe der Zentralisierung im Hofer Raum eine basisdialektale Umorientierung darstellt oder ob sie in Richtung der oberdeutschen Umgangs- und Standardsprache zielt“ (Harnisch, Reinhold & Schnabel 2008: 210). Wenn auffällige Dialektmerkmale wie die Steigdiphthonge in [wei̯ s] ‘Wiese’ oder [kei̯ ] ‘Kühe’ des nördlichen Hofer Raums im ehemaligen Westen erhalten bleiben und im ehemaligen Osten zu [wi:s] bzw. [ki:] abgebaut werden oder umgekehrt die öffnenden Diphthonge in [byə̯s] ‘böse’ oder [vuə̯xl̩ ] ‘Vogel’ des nördlichen Coburger Raums im ehemaligen Westen zu [bø:s] bzw. [vo:xl̩ ] abgebaut werden
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II. Die Sprachräume des Deutschen
und im ehemaligen Osten erhalten bleiben (vgl. Harnisch 2015: 231), so dürfte das für eine − hier: inverse − „Entstehung einer neuen [sprachlichen] Grenze durch unterschiedliche Grade des Dialektabbaus auf beiden Seiten der politischen Grenze“ sprechen (Harnisch, Reinhold & Schnabel 2008: 210). Für das Kontaktgebiet des Ostfränkischen mit dem Schwäbischen und Nordbairischen ist eine weitere Art von Sprachdynamik beschrieben worden. Im „tridialektalen Raum um Dinkelsbühl“ (die „Dreistammesecke“ bei Nübling 1938) beobachtet Neu (2014: 295) Code-Mixing von und Code-Switching zwischen mehreren Dialekten und der Standardsprache als neuen, nicht mehr mono-, sondern diasystemischen Normalfall der Sprachkompetenz: Zwar stellt eine dialektnahe Sprachebene noch in großen Teilen das Register dar, das im Alltag gesprochen wird, aber es besteht bei jeder Gewährsperson aus einem höchst unterschiedlichen Mixing aus Merkmalen vier verschiedener Codes mit ihren Interdependenzen, die, je nach Situation und Funktion, auch geswitcht werden können. Diese Tatsache macht es notwendig, von einem arealen Standard-Dialekte-Kontinuum mit einer vertikalen und einer horizontalen Ausrichtung − einer Art quadriglossisch ausgerichtetem Sprachvarietätenkontinuum − auszugehen [Hervorhebung im Original].
Funktionale Gründe können Grenzen auch stabilisieren. So arbeitet Rabanus (2008: 232) in seiner real-time-Studie heraus, dass die „sprachliche Zweiteilung Nordostbayerns in einen ostfränkischen und einen nordbairischen Dialektraum (…) zwischen 1887 und 1999 […] praktisch identisch (bleibt)“. Er vergleicht die Räume nach dem Kriterium eines sog. Morphologischen Minimums (Titel der Arbeit), das keine Redundanzen in der Kennzeichnung grammatischer Kategorien an Personalpronomen und Flexionsendung des kongruierenden Verbs aufweisen muss, sondern Synkretisierungen in den Paradigmen so weit zulässt, dass die morphosyntaktische Distinktion noch gesichert ist (vgl. Schmidt 2016: 79). Für das Ostfränkische kommt er zu dem Ergebnis, dass es über die Zeit formenstabil geblieben sei. Das Nordbairische habe dagegen insofern „große Dynamik“ gezeigt, als es z. B. im Paradigma des Pronomens der 2. Person Plural ENK(S) − so seine Schreibweise − Formenzusammenfall zwar zugelassen habe, aber nur bis exakt zu der Grenze des Gebiets zum Ostfränkischen hin, in dem das Verbalsuffix -TS stabil geblieben sei und die Unterscheidung nun allein leiste (Rabanus 2008: 226−227, Kartenpaar 20−21). Eine besondere innere, aber auch auf das Umland wirkende Dynamik hatten von jeher und haben auch gegenwärtig Stadtsprachen. Rowley (1997: 172, Kt. 39) hatte für seine oberostfränkischen Fälle einen eigenen Typus (= IV) angesetzt, der durch „Ausgleich“ etwa „der Vokallänge im Paradigma“ und durch weitere „Annäherungen an die Standardsprache“ charakterisiert sei (s. o.). Auch schon in den kleineren Städten Coburg, Forchheim, Schwabach (und Eichstätt) zeigen sich diese Tendenzen, erst recht in den größeren Städten Bamberg, Bayreuth (und Weiden), vor allem aber in den Großstädten Erlangen, Fürth, Nürnberg (und Regensburg). Auch die von Schunk (1999: 197/ Kt. 15 u. 198−201) behandelten Städte sind nach wachsender Größe gestaffelt: Karlstadt, Ochsenfurt, Kitzingen; Schweinfurt; Würzburg. Je größer die Stadt ist, desto ausgeprägter ist die Diskrepanz zwischen den Dialektalitätsgraden von Stadt und Umlandgemeinde (s. o.). Der Varietätenvielfalt in der größten Stadt Frankens, Nürnberg, und ihrem Umfeld widmet der SMF einen eigenen Atlasband (= Bd. 6). Über die erwartbaren Ergebnisse
12. Ostfränkisch
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hinaus, dass vom Zentrum nach außen (Vorstädte, Landstädte, Dörfer) die Dialektalitätsgrade global zu- und die Tendenzen der Regionalisierung und Standardisierung insbesondere bei den Jüngeren abnehmen, sind einige spezifische Erkenntnisse gewonnen worden. Zunächst wurde festgestellt, dass die Unterscheidung in (ost-)fränkische und (nordbairisch-)oberpfälzische Merkmale, die von der Dialektologie zur Kennzeichnung des Übergangs-Charakters der Region Nürnberg getroffen wird, von den Sprechern in diesem Raum nicht vorgenommen wird. Man hält alles, einschließlich der für das Nordbairische so markanten Steig-Diphthonge, „durchaus für ‚fränkisch‘“. Auch scheint das westlich anschließende „reine“ Ostfränkische „nicht als prestigereicher beurteilt zu werden als das Nordbairische“ (SMF, 6: 28). Hier zeigt sich das Selbstbewusstsein der Großstadt. Unter der Oberfläche einer scheinbaren Frankisierung mancher Merkmale verbirgt sich oft der Umstand, dass das eigentliche Ostfränkische hierin der Standardsprache näher ist als das Nordbairische. Richtung Standardsprache zielen auch Kompromissformen, die vom Basisdialekt weg tendieren und sozusagen auf halbem Wege stehen bleiben, sich oberflächlich also noch nicht (ganz) nach Standardvariante anhören. Im folgenden Beispiel aus dem SMF (6: 28) könnte die neu-nürnbergische Variante zwar als Anpassung von alt-nürnberg. (nordbair.) [drou̯d] ‘Draht’ (< mhd. drât) an ostfrk. [dro:d] aufgefasst werden, wird aber hier als Kompromisslautung zwischen alt-nürnbergischem ou-Diphthong und standardsprachlichem a-Monophthong in [dra:t] interpretiert.
Tab. 12.33: Stadtmundartliche Kompromisslautung: Nürnberg (nach SMF) grundmundartlich, alt-nürnberg. (hier nordbair.)
stadtmundartlich neu-nürnberg.
standardsprachlich
droud
dro:d dra:t ‘Draht’ wie grundmundartliche ostfrk. Variante Übergang zur stdspr. Variante: noch o-haltig, schon monophthongisch
Auch das in Richtung der ostfränkisch-nordbairischen Hauptmundartlinie westlich von Nürnberg liegende Fürth weist solche Kompromisslautungen auf und ist namengebend für die sog. „Fürther Monophthongierung“ (SMF, 6: 31) geworden, von der die Reflexe der Diphthonge mhd. ie, üe, uo betroffen sind. Einerseits sind sie keine „gestürzten“ Diphthonge mehr, haben aber noch die Vokalqualität des nordbairischen Nukleus. Anderseits weisen sie noch nicht die hohen Vokale der ostfränkischen standardnahen Formen auf, sind aber schon Monophthonge: Tab. 12.34: Stadtmundartliche Kompromisslautung: Fürth (nach SMF) nordbair./alt-nürnberg. Diphthonge
„Fürther Monophthonge“
ostfrk. standardnahe Monophthonge
gŋei̯ brei̯ dɐ hou̯d
gŋe: bre:dɐ ho:dh
gŋi: ‘Knie’ bri:dɐ ‘Brüder’ hu:t ‘Hut’
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Mittelfranken ist auch ostfränkische Musterregion für ein Methodenexperiment, in dem 1. traditionell sprachgeographische Raumbilder mit 2. dialektometrisch aus Abstandsmessungen zwischen jeweils zwei Orten gewonnenen „Waben“-Arealen und 3. bei Laien erfragten perzeptionslinguistischen Raumvorstellungen abgeglichen wurden (Mathussek 2013, 2014). „Die Übereinstimmung zwischen allen drei Kartenbildern erwies sich als überraschend hoch“ (Mathussek 2014: 249; vgl. 242−243/Abb. 135−136). Es „traten nur einige wenige Unterschiede hervor“ (Mathussek 2014: 247, mit exemplarischem Zoom in die südliche Begrenzung des mittelfränkischen Weststreifens). Die größeren Veränderungen sind in Tab. 12.35 dargestellt (vgl. Mathussek 2014: 279−282; traditionelle Räume und Grenzen nach SMF, 1: Kt. 2, online verfügbar über Regionalsprache.de (REDE): URL: ): Tab. 12.35: Sprachdynamik im Raum Mittelfranken nach Mathussek (2014) Räume und „Schranken“ − traditionell 1 2 3 4 5 6 7 8 9
10
stabil
Uffenheimer Raum (Unterostfrk.) „Steigerwaldschranke“ 1 | 2 Neustädter Raum „Hochstädter Schranke“ 2 | 3 Erlangen-Höchstädter Raum Rothenburger Raum „Frankenhöheschranke“ 4 | 5 Ansbacher Raum „Nordbair. Westschranke“ 3−5 | 6 Nürnberger Raum Nordbair. Gebiet in Mittelfranken Gunzenhäuser Raum Grenze 6 | 9 Weißenburger Raum „Schwäb. Hauptmundartlinie“ 4−5−8 | 10 Dinkelsbühler Raum (Schwäb.)
Abweichungen − neu
X X vergrößert um 3 und NO-5 entfällt zu vergrößertem Raum 2 X X NO zu vergrößertem Raum 2 X
zu 4−5 hin
O-Grenze weiter westlich * nach W verschoben innerhalb 6 W-Teil an 10, O-Teil an 9 * überlagert von Übergangsraum vergrößert um O-Teil von 8 nach O verschoben in 8 vergrößert um W-Teil von 8 *
* Wegen stärkerer Berücksichtigung konsonantischer Merkmale.
Die von Mathussek (2014: 276−277, Tab. 10) neu angesetzten, sich nur noch auf acht belaufenden Sprachräume in Mittelfranken definieren sich durch einen jeweils spezifischen Mix ausgesuchter distinktionsfähiger lautlicher bzw. morpho(phono)logischer Merkmale in 16 Wörtern/Wortformen. Zwei exemplarische werden in Tab. 12.36 zur Veranschaulichung gegeben: Stammvokal und Suffix (a) bei bös-en (Dat. Pl.) und (b) schieb-en (Inf.): Tab. 12.36: Morphophonologische Merkmale der Sprachräume Mittelfrankens nach Mathussek (2014) Raum
1 neu
2 neu
3 neu
4 neu
5 neu
6 neu
7 neu
8 neu
ad (a) ad (b) usw.
be:zɐ ʒi:m …
be:ɐzɐ ʒi:ɐm …
beizɐ ʒeim …
beizɨ ʒeim …
beise ʒeim …
be:zɐ ʒiɐƀɐ …
be:ɐzɨ ʒiɐƀɐ …
be:zɨ ʒiɐb …
12. Ostfränkisch
Abschließend sei noch einmal auf ein nicht selbstverständliches Faktum hingewiesen: „Die Informanten liegen mit der Zuweisung assoziierter Dialektmerkmale zu Nachbarmundarten in den meisten Fällen richtig“ (Mathussek 2014: 283). Mit Hörproben und dialekträumlichen Zuweisungsaufgaben an Laien arbeitet auch Sauer (2017) im fränkisch-thüringischen Gebiet an der ehemaligen innerdeutschen Grenze und kann damit Untersuchungen von Fritz-Scheuplein (2001) und die „objektiv-linguistischen“ Befunde von Harnisch, Reinhold & Schnabel (2008) zu diesem Raum um perzeptionslinguistische ergänzen. Auf zutreffende Laien-Schibboleths war in Kapiteln des vorliegenden Artikels zu „objektiven“ systemischen Merkmalen öfters hingewiesen worden, z. B. auf d[eɪ̯ ] L[oʊ̯]ft is’ lauter W[eɪ̯ ]nd (Phonologie, Kap. 3.2.) oder Unter-ge-franken (Morphosyntax, Kap. 5.). Werner (1961: 12−18) hat solchen Kennwörtern und -sätzen für sein Untersuchungsgebiet ein eigenes Kapitel gewidmet. Er weist ferner auf den protestantischen Ort Langenau im Raum Tettau hin, dessen Dialekt sich von der bambergischen Sprache des benachbarten katholischen Gebiets Windheim kaum unterscheidet (Werner 1961: 303). Obwohl die Langenauer also selbst bambergisch-fränkisch sprechen, grenzen sie sich von ihren Nachbarn im Windheimer Gebiet ab und kennzeichnen sie nach deren Sprache als Franken (Beobachtung von R. H. bei der Erhebung dieses Orts für den SNOB). Aus geringfügigsten sprachlichen Abweichungen wird also vor dem Hintergrund des Katholischseins der Nachbarn eine Dialektgrenze konstruiert, die kaum eine ist. Dass Laien nicht nur solche horizontalen (arealen) Auffälligkeiten perzipieren, sondern auch vertikale (soziale), wird aus Sprüchen deutlich wie (3)
(Ich komme daher,) − wo die Hasen Hosen haßen und die Hosen Husen haßen (ost-oberostfrk.) − wo die Hasen Housen haßen und die Hosen Huesen haßen (west-oberostfrk.) − wo die Hasen Hosen häßen und die Hosen Housen häßen (ost-unterostfrk.) − wo die Hasen Haasche heße und die Hosen Hoosche heße (west-unterostfrk.)
oder (4)
Sooche sagt man nicht, sondern sagen secht mer
In beiden Fällen wird Dialekt (kursiv) und Hochdeutsch (recte) kontrastiert. Beispiel (3) nach Wagner (1987: 47, ergänzt) stellt unter Nutzung der Standardsprache als Bezugssystem eine dialekt-areale Eigenart in den Vordergrund, Beispiel (4) nach Hornn (1968: Titel) eine dialekt-soziale: In der Vertikalen wird der Dialekt unten eingeordnet („sooche sagt man nicht“) und zum Hochdeutschen gehoben („…, sondern sagen“), bevor dann doch der Absturz auf der diastratischen Skala erfolgt („… secht mer“).
7. Vertikale Register Für das Ostfränkische (genauer: für eine areale Variante davon) hat Rein (1983: 1448− 1449) anhand von Schibboleth-Sätzen für die Befragung im Rahmen des Bayerischen Dialektzensus von 1975 eine Vertikale entworfen, die fünf Stufen aufweist: „A. Reines dialektfreies Hochdeutsch, B. Hochdeutsch mit Dialektanklang […], C. Mundartlich ge-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
färbte Umgangssprache […], D. Abgeschwächter Dialekt […], E. Reiner Dialekt […]“ (nach Rascher 1987: 113−116). Anhand einer erfundenen „Situation E ‚zum Kind‘ (Fränkisch)“ bettet Rein (1983: Abb. 87.4) die Befragung in einen exemplarischen kommunikativen Kontext ein. Das jeweils hinzukommende Substandard-Merkmal ist fett gedruckt (Hervorhebung R. H.): Ihr Kind will kurz vor dem Abendessen noch zum Spielen gehen. Sie wollen, daß es nicht zu lange weg bleibt. Was sagen Sie zu ihm? a) Komm aber nicht so spät heim b) Komm aber nit so spät heim! c) Kumm aber nit so spät hem! d) Kumm ober nit sou spet hem! e) Kumm fei nit sou speat hem!
Als Korrelate (und mögliche Explananten) werden in der Vorgehensweise der damaligen Sozio-Dialektologie Sozialstrukturmerkmale von Sprecher und Adressat, deren tatsächliche oder angenommene sprachliche Kompetenzen, Gesprächsgegenstand und situative Faktoren (Domänen usw.) angesetzt (Rein 1983: 1452, Abb. 87.6). Es werden also Annahmen einer (linguistisch gewendeten) Modernisierungstheorie zugrunde gelegt, die für die damalige Phase der gesellschaftlichen Entwicklung durchaus angemessen waren. Im SMF (6: Kap. 3.4) jedoch werden in Rücksicht auf die weiter fortgeschrittene gesellschaftliche Entwicklung und unter Rückgriff auf Ansätze von „Postmodernisierungstheorien“ neue außersprachliche Faktoren der Varietätenwahl ins Spiel gebracht: Diese […] sagen − grob vereinfacht − aus, daß in hochentwickelten Gesellschaften immer weniger über den Zusammenhang einer sozialen Struktur mit verschiedensten Verhaltensweisen ausgesagt werden kann. […] Vielmehr wird Verhalten gesteuert durch subjektiven Geschmack, ‚life-style‘ oder subjektiv wahrgenommene Trends. […] Zukünftige empirische Untersuchungen zur Mundart könnten verstärkt die oben erwähnten Aspekte (Situation, Mode, Stil etc.) kontrollieren und operationalisieren. […] Verschiedene Phänomene, die in der traditionellen dialektologischen Forschung oft als ‚Ausrutscher‘ klassifiziert und womöglich sogar als empirische Reibungsverluste vernachlässigt wurden, wären mit neuer Herangehensweise besser greifbar […]. Die bei der vorliegenden Untersuchung berücksichtigten Auswahlparameter Alter, Geschlecht und Beruf könnten sich dagegen bei zukünftigen Forschungen als nur bedingt maßgeblich für regelmäßige Variation der Mundart erweisen. (SMF, 6: 35)
Worin die Städte Vorreiter sind, wird auf das Vorland der Städte und schließlich in den ländlichen Raum ausstrahlen. Auf der Vertikalen mit Wirkung auf die Horizontale werden sich Stadt − Land − Schicht, so noch der Titel von Harnisch (1994), in Zukunft nivellieren. Bamberg im Westen des Oberostfränkischen ist einer der Vergleichsorte zur Feststellung von Vertikalen und darunter sog. Regionalsprachliche[n] Spektren (Titel von Kehrein 2012) im Raum. Viele der dortigen dialektlautlichen Merkmale entsprechen der Standardsprache: Wie dort sind die Tenues p, t, k verschoben, mhd. ie, üe, uo monophthongiert, mhd. î, iu, û diphthongiert, vor allem aber die Reflexe von mhd. ü/iu, ö/œ (œ) und öu/üe nicht endrundet. Das macht den Fall insofern intrikat, als nur durch Mitvorkommen anderer substandardsprachlicher Merkmale oder durch eine eindeutig festzustellende Sprechlage zu entscheiden ist, ob die jeweiligen Äußerungen zu „höheren“ Ebenen des vertikalen Spektrums gehören oder basisdialektal sind. Letzteres trifft auf die Monophthongierungen von mhd. ei, ou und, z. T., öu zu [a:] sowie auf die n-Apokope in Einsilblern wie
12. Ostfränkisch
[ʒø:] ‘schön’, [mo:] ‘Mann’ zu. „Den einzigen Hinweis auf die Grenze zwischen den Varietäten Dialekt und Regiolekt liefert der junge Sprecher, der über eine monovarietäre Kompetenz im Regiolekt verfügt und in dessen standardfernster Sprechweise die[se] beiden dialektalen Varianten […] nicht mehr zu beobachten sind“ (Kehrein 2012: 348). Für seine Zeit konstatierte Batz (1912: 4): In Bamberg „wird die reine Mundart nicht für sonderlich fein gehalten, und so hat sich auch in alteingesessenen […] Bürgerfamilien, die ‚feiner‘ sprechen wollen, eine Art ‚Halbmundart‘ ausgebildet.“ Ein solches „Honoratiorenfränkisch“ erwähnt, für Nürnberg, auch Enzensberger (2013: 15): „Früher, als Schüler, konnte ich sogar behände zwischen dem proletarischen Dialekt der Insel Schütt und dem Honoratioren-Fränkisch des reichen Prinzregentenufers wechseln“. Mit seinem Hinweis auf ein „Honoratiorenhämmerisch“ dokumentiert Sperschneider (1959: 11 u. 70), dass es so etwas auch in Landgemeinden wie seinem Untersuchungsort Hämmern gab. Heutzutage kann eine solche Varietät von Prozessen wie Dialektabbau, -umbau und Regionalisierung eingeholt oder auch schon überholt worden sein, so dass sie, obwohl „gehobene“ Sprechform, dialektaler klingen mag als manche Varietäten im regionalsprachlichen Spektrum desselben Orts. Generell schwinden jedoch die bürgerschaftlichen Grundlagen zur Pflege einer solchen sozial distingierten Sprachform. Dass es umgekehrt Bedürfnisse − gerade junger Sprecher − gibt, örtliche oder regionale Identität durch hohe Dialektalität zu signalisieren, zeigt sich unter anderem in zunehmenden auf Dialektalität und eben nicht auf Standardsprachlichkeit zielenden Hyperkorrekturen. Während die zuletzt genannten entstehen, wenn sich die Sprecher in der Standardsprache nicht „systemsicher“ fühlen und z. B. für das Ostfränkische typische Fehlbildungen wie Nürn[p]erger O[p]er[p]ürgermeister hervorbringen, entstehen die zuerst genannten, wenn sich die Sprecher im Dialekt nicht (mehr) „systemsicher“ fühlen und Fehlbildungen wie pseudo-nürnberg. W[ei̯ ]sn ‘Wiese’ hervorbringen, das als mhd. wise (nicht *wiese!) gar keinen „stürzbaren“ Diphthong hat, aber dem Muster von mhd. liep zu nürnberg.-nordbair. l[ei̯ ]b nachgebildet wird. Da „die Anzahl systemunsicherer Sprecher in der Zukunft eher zu- als abnehmen wird“, könnten „die hyperkorrekten Lautungen längerfristig auch bestimmte Lautwandelvorgänge in der Mundart bedingen“ (zu alldem SMF, 6: 26−28, mit weiteren Beispielen; auch 30 u. 35). Mit Hyperkorrekturen und den anderen − „direktanzeigenden“ − dialektbedingten Fehlern (Interferenzfehlern) befasst sich im schulischen Kontext Koller (1991). Seine Studie Fränggisch gschriem? steht außerhalb der Reihe Dialekt/Hochsprache − kontrastiv, in der als Folge der Sprachbarrierendiskussion in den späten 1970er Jahren unter anderem für die Nachbardialekte des Ostfränkischen (Bairisch, Schwäbisch, Hessisch) Sprachhefte für den sog. „kompensatorischen“ Deutschunterricht erschienen waren (zu „Fränkisch in der Schule“ in jener Zeit vgl. Rascher 1987: 130−146). Inzwischen genießt − auch der fränkische − Dialekt in den Schulen (hier Bayerns) eine positivere curriculare Rolle als kultureller Speicher, Identitätsfaktor und Ermöglicher literarischer und sprachlicher Alteritätserfahrung. Insbesondere dem zuletzt genannten Anliegen kommt zugute, dass wichtige dialektkundliche Schulprojekte aus dialektologischen Arbeitsstellen heraus konzipiert und durchgeführt werden. Für Franken kann hier auf gleich zwei verwiesen werden: auf das Projekt Fränki des SUF, Würzburg (dazu Fritz-Scheuplein 2008−2010), und auf die Erlanger Initiative Der SMF kommt in die Schule, die sich u. a. auf die Verwendung von Sprachatlas-Material (Untertitel von Arzberger 2013), hauptsächlich aus dem KBSA, stützt. Was das Fränkische in den auf Bayern ausgelegten Medien, also vor allem den Bayerischen Rundfunk (Radio und mehr noch Fernsehen) betrifft, ist eine massive Vertikali-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
sierung der beiden benachbarten Kulturen Altbayerns und Frankens, darunter auch der Dialekte Bairisch und Fränkisch, zu beobachten und, wie von Rascher (1987: 147−156) und Bachmann (2009) getan, auch zu messen. Letztgenannter konnte nachweisen, „dass der Bayerische Rundfunk mit der Sprachverwendung in seinem Fernsehprogramm nicht ‚der Eigenart Bayerns gerecht‘ wird, wie es Artikel 4, Absatz 1 des Bayerischen Rundfunkgesetzes verlangt“ (Bachmann 2009: 28). Dass die kulturelle Hegemonisierung Altbayerns gegenüber Franken im Medienbereich nicht nur von bayerischen Akteuren betrieben, sondern auch durch Handlungen Außenstehender gestützt wird, zeigt der Skandal um die Dialektwahl im TV-Dreiteiler Tannbach. Dort ließ das ZDF die Bewohner des durch die deutsch-deutsche Grenze geteilten Dorfes Tannbach (fiktional; realiter ist es Mödlareuth, das „Little Berlin“) nicht ihren vogtlandfränkischen Dialekt, nicht einmal ein „gemäßigtes“ Fränkisch reden, sondern Bairisch. Offensichtlich, so R. H. in einem Interview der Passauer Neuen Presse am 13. Januar 2015, sei leider zu vermuten, „dass die schlichte Denke über den Zusammenhang von sprachlichen und politischen Räumen gewaltet hätte, nämlich dass man in Bayern flächendeckend Bairisch spreche.“ Die Rechtfertigungsversuche des Senders waren hilflos, die Kritik von 2015, u. a. in der Süddeutschen Zeitung vom 8. Januar 2015, blieb folgenlos: 2017 wird die Saga weitergedreht, und wieder wird der Dialekt „dann wohl bayerisch sein, weil sich die wenigsten Schauspieler auf Fränkisch ausdrücken können“, wie eine ZDF-Sprecherin laut Nürnberger Nachrichten vom 17. Februar 2017 haltlos behauptet. Dass sich die Franken stark über eine Außenabgrenzung zu den Altbayern definieren, arbeitet Niehaus (2018: 171–174) heraus. Nach innen wird eine fränkische Sprachidentität aus zwei diametral entgegengesetzten Richtungen bezogen: aus dem Stereotyp der internen „Vielfalt als Authentizitätsmerkmal“ und über „Franken einigende Merkmale“ (Niehaus 2018: 179 u. 183–184) wie die „weiche“ Aussprache der „harten“ Plosive. Dabei gewinnt die Rede vom „haddn b und d“ selber Schibboleth-Charakter, den man selbstironisch belächelt.
8. Literatur ADT = Bachmann, Armin (Hrsg.) 2014 ff. Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien. Tübingen: Francke. Arzberger, Steffen 2013 Der SMF [Sprachatlas von Mittelfranken] kommt in die Schule − zur Verwendung von Sprachatlas-Material an bayerischen Schulen. In Horst Haider Munske & Andrea Mathussek, Handbuch zum Sprachatlas von Mittelfranken: Dokumentation und Auswertung, 273−284. Heidelberg: Winter. Bachmann, Armin R. 2009 Mundart und mundartlich gefärbte Sprache im Bayerischen Fernsehen. In Ulrich Kanz, Alfred Wildfeuer & Ludwig Zehetner (Hrsg.), Mundart und Medien: Beiträge zum 3. dialektologischen Symposium im Bayerischen Wald, Walderbach 2008, 19−29. Regensburg: edition vulpes. Bachmann, Armin R. 2015 Der Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien (ADT). In Roland Kehrein, Alfred Lameli & Stefan Rabanus (Hrsg.), 109−127. Batz, Hans 1912 Lautlehre der Bamberger Mundart. Zeitschrift für Deutsche Mundarten 7. 3−53, 193−225.
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Rüdiger Harnisch, Passau (Deutschland)
13. Ostmitteldeutsch: Thüringisch und Obersächsisch
13. Ostmitteldeutsch: Thüringisch und Obersächsisch 1. Einleitung 2. Historie und Besonderheiten 3. Basisdialektale Raumstruktur
4. Sprachdynamik und vertikale Register 5. Literatur
1. Einleitung Thüringisch und Obersächsisch gelten als die wichtigsten Dialektverbände des Ostmitteldeutschen, zu denen auch die Übergangsmundarten zum Oberfränkischen, Vogtländisch und Erzgebirgisch, und die Übergangsmundart zum Schlesischen, Lausitzisch, gerechnet werden. Zum Ostmitteldeutschen zählen auch die heute untergegangenen Gebiete des Schlesischen und Hochpreußischen, welche hier unberücksichtigt bleiben, wie auch in einzelnen Darstellungen das bis nach Berlin reichende Südmärkische (Berliner Trichter), das in Ehlers (Art. 18 in diesem Band) behandelt wird, und die erzgebirgisch-obersächsische Sprachinsel im Landkreis Goslar. Heute − seit dem Ende des 2. Weltkrieges, der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei − deckt sich die Ostgrenze des zusammenhängenden deutschen Sprachgebiets und damit des Ostmitteldeutschen mit der Staatsgrenze zu Polen und zur Tschechischen Republik. Innerhalb des ostmitteldeutschen Raumes liegt das Siedlungsgebiet der Sorben in der Lausitz und ist damit eine westslawische Insel im deutschen Sprachgebiet (Fleischer, Art. 36 in diesem Band). Dieses Gebiet ist seit der deutschen Landnahme immer mehr eingeschränkt worden, sodass heute − je nach Zählung − noch zwischen 30.000 und 60.000 sorbischsprachige Deutsche in Ostsachsen im Dreieck zwischen den Städten Bautzen, Kamenz und Hoyerswerda und in Südostbrandenburg nördlich von Cottbus wohnen. Trotz ursprünglich erheblicher Unterschiede im basisdialektalen Bereich kann der thüringisch-obersächsische Raum auf der Basis aktueller Erhebungen wohl zu einer Regionalsprache zusammengefasst werden, weil die basisdialektale Prägung heute reduziert ist und die standardabweichenden Formen sich innerhalb dieses Ostmitteldeutschen nur noch geringfügig unterscheiden (Rocholl 2015). Schon die gesamte Forschungsgeschichte zur basisdialektalen Gliederung der Mundarten, die im Wesentlichen die beiden Freistaaten Sachsen und Thüringen abdecken und mit Ausläufern nach Sachsen-Anhalt, ins brandenburgische Elster-Elbe-Gebiet, nach Niederfranken, in den Nordosten Hessens sowie in den niedersächsischen Landkreis Osterode am Harz ausgreifen, ist geprägt durch die Beschreibung dialektaler Ausgleichbewegungen der Siedlermundarten und vor allem durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Hochdeutschen bzw. der Standardsprache. Die wissenschaftliche Wahrnehmung des ostmitteldeutschen Raums wurde in der Vergangenheit stark durch die kulturmorphologische Sicht Theodor Frings’ und seiner Schüler (Knobloch 2010) geprägt. Ausgangspunkt ist eine sprachhistorische Betrachtungsweise, welche die aktuelle Lautung auf ein historisches Bezugssystem und damit auf die Ausgangsmundarten der Siedler zurückführt. Dabei steht aber ganz besonders für den ostmitteldeutschen Raum nicht nur das Nebeneinander dialektaler Formen im Zentrum, sondern auch deren Ausgleich, was als Resultat historisch-kultureller Prozesse verstanden wird und so von sprachlicher Seite her eine Rekonstruktion der historisch ungenügend dokumentierten Besiedlung stützt. In diesen Kontext ostmitteldeutscher https://doi.org/10.1515/9783110261295-013
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Ausgleichsmundarten hatte Frings auch die Entwicklung der deutschen Schriftsprache gestellt, was heute als überholt gilt (Besch 2003). Was Frings aber richtig erkannt hatte, ist die große Nähe der Hochsprache zu den ostmitteldeutschen, insbesondere zu den obersächsischen Mundarten, die durch aktuelle statistisch-dialektometrische Untersuchungen des Wenker-Materials (Lameli 2013: 234) bestätigt wird. Diese strukturelle Nähe von Basisdialekten und dem landschaftlichen Hochdeutsch als gesprochener Variante der Schriftsprache hat vermutlich die relativ frühe Bildung von Ausgleichsformen zwischen den Basisdialekten und der Hochsprache bis zu einer sozial weit verbreiteten Übernahme des landschaftlichen Hochdeutsch erleichtert. Für das Obersächsische außer im Erzgebirge, im Vogtland und in der Lausitz hat das dazu geführt, dass die Basisdialekte auch in ländlichen Gebieten in der Mitte des 20. Jahrhunderts als ausgestorben gelten (Große 1955: XV; Fleischer 1961: 154). Für die thüringischen Städte wird das für die jüngere Zeit ebenfalls angenommen (Rocholl 2015: 309). Die traditionelle Sprachgeographie, die das Ziel hat, die basisdialektale Verbreitung von Lauten und Formen auf Karten darzustellen, kann so nur wenig klare Resultate aufweisen. Die Versuche, Varianten voneinander abzugrenzen, Isoglossen zu zeichnen und Gebiete voneinander abzutrennen, führen besonders im obersächsischen Raum durch die Unstetheit der Daten häufig nicht zu strukturierten Ergebnissen (Große 1955; Fleischer 1961). Rosenkranz (1964) erarbeitet für das Thüringische noch eine detaillierte Dialekteinteilung, die aber auf je unterschiedlichen Isoglossen − „dieses bunte Gewebe der Leitlinien“ (Rosenkranz 1964: 281) − beruht. Entsprechend sind auch die Arbeiten am Thüringischen Dialektatlas (Hucke 1961/1965) nach zwei Lieferungen eingestellt worden. Die Monographien, die seit den 1930er Jahren entstehen, nehmen deshalb neben den Basisdialekten verschiedene Formen der „Umgangssprache“ bzw. der Ausgleichsmundart in den Blick und sind damit frühe Ansätze zur Erforschung sprachdynamischer Prozesse. Diese Arbeiten rücken den sprachlichen Bereich zwischen Standard und Dialekt in den Kontext der Dialekte, während neuere Beschreibungen eher von Substandard oder Regiolekt ausgehen und damit eher den Bezug zur Standardsprache betonen oder die Eigenständigkeit hervorheben (Rocholl 2015). Dadurch zeigt sich ein sehr deutlicher Unterschied der Beurteilung der standardfernen Formen, welche von Laien meist als Dialekt bezeichnet werden, dessen funktionales Spektrum sie übernommen haben (Lerchner 1989; Siebenhaar 2011), während sie aus sprachwissenschaftlicher Perspektive als substandardsprachlich oder regiolektal bezeichnet werden müssen. Vor dem Hintergrund der immer weniger binnendifferenzierenden standardfernen Basis treten auch in Laienurteilen sonst eher weniger beachtete Aspekte stärker hervor: prosodische Unterschiede − „Die xx singen“ − und syntaktisch vom Standard abweichende Strukturen. Seit dem Ende der 1950er Jahre sind dementsprechend Arbeiten zur Prosodie (Gericke 1963) und Syntax (Baumgärtner 1959; Sperschneider 1959) der Umgangssprache erschienen, in der Dialektologie sonst eher vernachlässigte Untersuchungsaspekte. Die genannten Arbeiten beschreiben jeweils lokale Verwendungsweisen, die aber generell den substandardsprachlichen Schichten zuzuordnen sind und nur eingeschränkt oder großräumig eine sprachgeographische Differenzierung zulassen. Leider sind diese Forschungsansätze erst in den 2000er Jahren wieder aufgegriffen worden und berücksichtigen nur die Großräume (für die Prosodie: Gilles 2005; Peters 2006; zur Syntax: Fleischer 2015). Trotz der relativen Nähe zur kodifizierten Standardaussprache ist die Beurteilung der ostmitteldeutschen Varietäten spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im gesamten deutschen Sprachraum stark negativ geprägt, wobei diese negative Bewertung
13. Ostmitteldeutsch: Thüringisch und Obersächsisch
das Hochdeutsch der sächsischen Oberschicht im ausgehenden 18. Jahrhundert (Scharloth 2003; Schmidt 2017) und heute alle regionalsprachlichen Formen bis zum Regionalakzent gleichermaßen betrifft (Gärtig, Plewnia & Rothe 2010; Siebenhaar 2011). Als soziales Stereotyp scheint es gefestigt und wird immer wieder anders begründet − gegenwärtig wird meist die Sprache Walter Ulbrichts bzw. DDR-Sprache und als sprachliche Eigenheit ein „Nuscheln“ als Begründung angeführt. Im Rahmen der perceptual dialectology (Preston 2010) werden Laienurteile als Forschungsobjekte den „objektiven“ Sprachdaten zur Seite gestellt. Anders (2010) dokumentiert anhand des Obersächsischen, dass die herkömmlichen Dialekteinteilungen in den Zuordnungen von Laien häufig noch vorhanden sind, obwohl sie objektiv in den Daten nicht auffindbar sind. Gleichzeitig weist sie nach, dass diese laienlinguistischen Repräsentationen auch durch das regional-soziale Umfeld geprägt sind und also nicht im ganzen Raum gleich sind. Beide Aussagen zeigen damit, dass Wahrnehmung und Beurteilung den Abbau dialektaler Unterschiede überleben und zumindest eine gewisse Zeit lang unabhängig von den realen Daten sind; das geht sogar so weit, dass Hörerinnen und Hörer in Sprachaufnahmen dialektale Phänomene erkennen, die gar nicht realisiert werden (Anders 2010: 337−359; Schaufuß 2015). Das ist auch im größeren thüringisch-obersächsischen Kontext nachgewiesen: Einerseits zeigt Purschke (2011), dass die Abgrenzung zwischen Obersächsisch und Thüringisch von den Sprechern zwar behauptet wird, Sprecher aus den beiden Mundartgebieten perzeptiv aber nicht voneinander unterschieden werden können. Andererseits weist Rocholl (2015) nach, dass Unterschiede zwischen den beiden alten Mundarträumen in der Lautung verschiedener Sprachlagen weitgehend ausgeglichen worden und die Basisdialekte verschwunden sind. Damit ist heute davon auszugehen, dass es nur noch eine übergreifende thüringisch-obersächsische Regionalsprache gibt.
2. Historie und Besonderheiten 2.1. Historischer Hintergrund Der ostmitteldeutsche Sprachraum ist in zwei größeren Phasen besiedelt worden, welche die Grundlagen für die ursprüngliche dialektale Binnenstrukturierung in das Thüringische und Obersächsische bieten. Die Siedlungsgeschichte bietet die Grundlage für die dialektale Gliederung, wie sie sich Ende des 19. Jahrhunderts im Wenker-Atlas zeigt und wie sie von Frings (1955) kulturmorphologisch interpretiert worden ist. Die historischen Zeugnisse dokumentieren überaus deutlich, dass die Namen Sachsen und Thüringen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche, teilweise sich überschneidende Gebiete bezeichnen (Capelle, Springer & Tiefenbach 2004: 31−33; Heizmann et al. 2005: 528−529), wobei der Name Sachsen grundsätzlich vom Nordwesten (Niedersachsen, Sachsen-Anhalt) auf das heutige Sachsen übertragen wurde. Eine Übereinstimmung dieser Gebiete mit den aktuellen politischen Grenzen der beiden Bundesländer oder mit den dialektalen Grenzen des 19. Jahrhunderts, wie sie in verschiedenen Dialekteinteilungen aufgezeigt werden, ist aber nicht gegeben. Der Raum westlich der Saale ist schon seit vorchristlicher Zeit ununterbrochen durch Germanen besiedelt. Während der Völkerwanderungszeit haben sich verschiedene Stammesgruppen vermischt, die im Erstbeleg am Ende des 4. Jahrhunderts als Thüringer (mit
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II. Die Sprachräume des Deutschen
unterschiedlicher Schreibung) bezeichnet werden. Namenkundlich wurden Bezüge zu den Hermunduren (Rosenkranz 1964: 91−93), zum germanischen oder auch zum keltischen Stamm der Turonen bzw. Terwinger (Grahn-Hoek 2002) hergestellt. Udolph (2001) erklärt sie als -ing-Ableitung zum Wortstamm dore ‘Hügel’. Insgesamt ist eine eindeutige Bestimmung weder historisch noch namenkundlich möglich (Heizmann et al. 2005). Um 500 war das Thüringerreich das mächtigste germanische Reich außerhalb der römischen Grenzen, wobei seine Ausdehnung unterschiedlich beschrieben wird. Im Jahr 531 unterwarfen die merowingischen Franken die Thüringer und verteidigten das Gebiet gegen die nach Westen drängenden Slawen. Bedeutsam waren im 11. Jahrhundert die Ludowinger, die als erste eine zusammenhängende Herrschaft und Infrastruktur im heutigen Thüringen und Nordhessen begründen konnten. Mit dem Anstieg der Bevölkerung und der damit verbundenen mittelalterlichen Siedlungsmigration wurden bisher unbesiedelte Waldgebiete gerodet und urbar gemacht. Die Wartburg bei Eisenach wurde in der Zeit ein kulturelles Zentrum des deutschen Reiches, was sich im Mythos des Sängerkrieges auf der Wartburg äußert. Die Landgrafschaft der Ludowinger ging nach dem Tod Heinrich Raspes 1246 an den wettinischen Markgraf von Meißen, womit die Geschichte Thüringens bis zur Leipziger Teilung 1485 eng mit Sachsen verbunden war. Insgesamt zeigt die Siedlungsgeschichte für den westlichen Raum des hier behandelten Gebietes eine gut 2000-jährige germanische Besiedlung, wobei kaum von einer gleichbleibenden Grenzbildung des historischen und aktuellen Thüringen ausgegangen werden darf. Ganz anders sieht die Siedlungsgeschichte im Gebiet östlich der Saale aus, das im 4./5. Jahrhundert von Slawen besiedelt wurde. Diese drangen nach Westen in die von Germanen weitgehend verlassenen Gebiete vor und besiedelten sie mit meist kleinen Weilern hochwassergeschützt oberhalb der Flussauen der Leipziger Tieflandbucht und im südlich anschließenden Lössgebiet, wovon heute eine Vielzahl Orts- und Flurnamen mit slawischen Wurzeln zeugt. Im 7./8. Jahrhundert schlossen sie sich zu größeren Stammesverbänden zusammen und drängten weiter nach Westen. Karl der Große besiegte die slawischen Stämme zwischen Saale und Elbe und machte sie tributpflichtig. Eine gezielte deutsche Eroberung und Besiedelung der Gebiete östlich der Saale fand aber erst ab dem 10. Jahrhundert statt. Der militärischen Sicherung und kirchlichen Verwaltung folgten deutsche Siedler, die sich neben und mit der älteren sorbischen Bevölkerung niederließen. Die deutsche Siedlungstätigkeit wurde zuerst getragen durch Siedler aus dem heutigen Niedersachsen, aus Flandern und vor allem aus Thüringen; im 12. Jahrhundert kamen Siedler aus Ostfranken dazu. Die Markgrafen von Meißen wie auch die deutschen Könige boten Bauern günstige rechtliche Bedingungen. So gab es in Sachsen keine Leibeigenschaft, weder für die deutschen Neusiedler, noch für die alteingesessenen slawischen Bauern und Fischer (Menzenhausen 2008: 9), die meist friedlich mit- und nebeneinander siedelten. Diese Siedlungspolitik führte schließlich zur Erschließung der bisherig unbesiedelten Wälder bis zu den Mittelgebirgszügen wie auch der Sumpf- und Heidelandschaften in der Tieflandbucht. Mit den Bauern kamen auch Kaufleute, deren Siedlungen zu den Keimzellen der schnell wachsenden Städte im wettinischen Herrschaftsbereich wurden. Im Jahr 1168 wurde im Erzgebirge Silber entdeckt. Der Silberbergbau brachte eine rasche Entwicklung der Region mit einer Siedlungsbewegung aus dem Harz mit sich und er bot den Wettinern ein enormes finanzielles Potenzial für den weiteren Landausbau und die Schatzbildung, wodurch sie im 13. Jahrhundert ihre Macht bis nach Thüringen ausdehnen konnten. 1423 belehnte König Sigismund den Markgrafen Friedrich IV. von Meißen mit dem Herzogtum Sachsen-
13. Ostmitteldeutsch: Thüringisch und Obersächsisch
Wittenberg. Damit wurden die Wettiner zu Kurfürsten und zählten zu den ranghöchsten deutschen Reichsfürsten. Mit dieser neuen Würde der Wettiner wurde der Name Sachsen allmählich auf die Markgrafschaft Meißen und den gesamten wettinischen Territorialstaat übertragen. 1485 wurde das Gebiet zwischen den Brüdern Albert und Ernst aufgeteilt. Der östliche, albertinische, Teil mit Dresden als Residenz bildet die Grundlage des heutigen Sachsen, das bis 1918 von den Wettinern regiert wurde, während der westliche, ernestinische Teil in der Folge mehrfach weiter geteilt wurde und später meistenteils im heutigen Thüringen aufging. Die Besiedelung der beiden Gebiete verlief also unterschiedlich, was von den traditionellen Dialektgliederungen auch immer berücksichtigt wurde. Seit dem Spätmittelalter steht die politische Kleinstaaterei Thüringens mit 28 Territorien (Peter 2008: 392) der sächsischen Einheit entgegen. Trotz dieser politischen Unterschiede zeigen beide Gebiete eine gemeinsame, für Deutschland zentrale sprachlich-kulturelle Bedeutung, die durch Martin Luther und die Reformation geprägt ist. Luther hat sich für seine Schriften auf die meißnische Kanzleisprache gestützt. Diese war als schriftliche Ausgleichssprache mehr als andere Schriftsprachen dieser Zeit großräumiger verständlich, weil sie Oppositionen hervorhob und das System optimal ausnutzte. Dabei war dieses Schriftsystem keineswegs ein Abbild der Dialekte, sondern setzte sich auch häufig vom System der gesprochenen Sprache im ostmitteldeutschen Raum ab. Mit der Reformation und der Verbreitung Luthers Schriften wurde diese meißnische Kanzleisprache zum sprachlichen Vorbild, das in den gesamten deutschen Sprachraum hineinwirkte, auch in die katholischen Gebiete. Weitere Ausgleichprozesse im Anschluss an Luthers Wirken führten bis ins 18. Jahrhundert zur Ausbildung der schriftlichen Norm. Dabei nimmt das Ostmitteldeutsche durch seine zentrale Lage und seinen Charakter als Mischlandschaft eine sprachliche Mittlerrolle ein. Für die Beschreibung der dialektalen, der frühen hochsprachlichen und aktuellen regiolektalen Gliederung ist bedeutsam, dass sich Luthers Wirkungskreis im Untersuchungsraum befand. Dadurch wurde seine von der meißnischen Kanzleisprache geprägte Schriftsprache immer wieder fälschlicherweise ursächlich mit den gesprochenen sächsischen Dialekten in Verbindung gebracht. Diese Position ist spätestens mit Besch (2003) nicht mehr zu halten, ist als Mythos aber noch sehr präsent (Siebenhaar 2011). Trotzdem ist die Ähnlichkeit der dialektometrisch analysierten Wenker-Daten mit dem historischen wettinisch-meißnischen Gebiet erstaunlich. Diese Ähnlichkeit darf aber nur als Korrelation, nicht als Ursächlichkeit gewertet werden (Lameli 2013: 248−254), da eine Beziehung nur über Umwege, über die Ähnlichkeit von verschrifteten Mundarten und Schriftsprache, von Schriftlichkeitsarealen und politischen Arealen zu konstruieren ist. Gleichwohl scheint eine gegenseitige Beeinflussung von Schriftsprache und dialektalen Formen nicht ganz abwegig. Neben den Dialekten bildeten sich vom 17. Jahrhundert bis in die 1870er Jahre großregionale Oralisierungskonventionen zum „gesprochenen Schriftdeutsch“ aus. Die lautlichen Ausprägungen dieser verschiedenen landschaftlichen Hochdeutschsysteme hatten ihren Ursprung im Wesentlichen in den zugrundliegenden Dialekten und unterschieden sich dadurch deutlich voneinander (Ganswindt 2017). In Ostmitteldeutschland kann sich dieses großregionale Hochdeutsch als zweite Varietät neben dem Dialekt zuerst unter den Eliten und durch die frühe Ausbildung eines Schulsystems schon ab Mitte des 18. Jahrhunderts auch in breiteren Bevölkerungsschichten etablieren (Schmidt 2012: 76). Damit ist zu vermuten, dass besonders durch die strukturelle Nähe der Mundarten zur neuen hochsprachlichen Norm auch der Einfluss der Hochsprache auf den Sprachge-
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brauch in Ostmitteldeutschland bedeutsam ist, was sich schon in den noch als basisdialektal zu wertenden Daten des Wenker-Atlas manifestiert und wie es in den zeitgenössischen Sprachbeschreibungen (z. B. Albrecht 1881) festgehalten ist.
2.2. Zur Problematik basisdialektaler Strukturierung des Ostmitteldeutschen Die Abgrenzung dialektaler Räume, wenn auch seit den Anfängen dialektologischer Forschung Ziel der Arbeit, ist und bleibt ein problematisches Unterfangen, da es durch ideologische und theoretische Grundlagen sowie methodische Schwierigkeiten geprägt ist (Niebaum & Macha 2014: 89−105). Verfahren, die sich an einzelnen Isoglossen orientieren, sind immanent willkürlich, eine strukturalistische Übersicht, wie sie Wiesinger (1983) eindrucksvoll anhand einer Vielzahl phonologischer und morphologischer Kriterien durchgeführt hat, bietet einen methodologisch sauberen Zugang. Doch auch dieser Zugang stößt mit der Auswahl der Daten und mit der Wertung der einzelnen Strukturunterschiede zur Dialektgliederung an seine Grenzen. Trotzdem bietet Wiesingers Einteilung im Vergleich zu vielen vorangehenden eine konzeptuell wesentliche Verbesserung, insofern er Kern- und Übergangsgebiete unterscheidet und damit häufig auf genaue Grenzen verzichtet. Besonders für das hier darzustellende Gebiet machen die Übergangszonen fast die Hälfte des Raumes aus (Kt. 13.1, Wiesinger 1983: Kt. 47.4). Der Vergleich dieser Überblickskarte mit den Detailkarten zum Thüringischen (Wiesinger 1983: Kt. 47.11) und besonders zum Obersächsischen (Wiesinger 1983: Kt. 47.12) dokumentiert jedoch auch die Willkürlichkeit dieser Gebietseinteilung. Denn nur in einzelnen Fällen, wie beispielsweise bei der Grenze zwischen Obersächsisch und Nordobersächsisch, sind die Dialektabgrenzungen anhand der Isoglossen gut nachvollziehbar. In vielen anderen Fällen werden deutliche Isoglossenbündelungen, wie sie sich beispielsweise für
Kt. 13.1: Ausschnitt Ostmitteldeutsch nach Wiesinger (1983: Kt. 47.4)
13. Ostmitteldeutsch: Thüringisch und Obersächsisch
das Obersächsische östlich von Zwickau und Chemnitz oder westlich von Erfurt im Thüringischen zeigen, nicht zu einer Aufteilung des Obersächsischen i. e. S. oder des Thüringischen eingesetzt. Somit ist aus Wiesingers Detailkarten zu den ostmitteldeutschen Mundarten nur in wenigen Fällen eine Bündelung von Strukturdifferenzen, die eine Dialektabgrenzung und Binnenstrukturierung ermöglicht, eindeutig ersichtlich. Das unterscheidet das ostmitteldeutsche Mundartgebiet sehr deutlich von den meisten anderen, viel einfacher nachvollziehbaren Dialekteinteilungen Wiesingers. Modernere Dialektstrukturierungen gehen diesem Vorwurf der Willkürlichkeit durch statistische Verfahren der Datenaggregation aus dem Weg. In einem sehr gelungenen Ansatz greift Lameli mit seiner dialektometrischen Analyse und auf Clusteringverfahren gestützten Strukturierung des deutschen Sprachraums auf 66 Variablen der Wenker-Daten zurück. Die so breiter abgestützte statistische Analyse fasst in der Klassifizierung dialektaler Großräume beide hier zu beschreibenden Dialekte in einem Ostmitteldeutsch zusammen (Lameli 2013: 185−195). Die Kt. 13.2 zeigt den Vergleich von Wiesinger (1983) und Lameli (2013), dabei wird hier zusätzlich eine bei Lameli selbst nicht ausgeführte Aufteilung des ostmitteldeutschen Clusters durch verschiedene Farben vorgenommen. Die Daten des ostmitteldeutschen Clusters wurden also für den vorliegenden Text weiter differenziert. Die beiden Strukturierungen zeigen weitgehend deckungsgleiche nördliche und auch südliche Grenzen des Ostmitteldeutschen. Es finden sich aber auch bedeutende Unterschiede. Ein Teil davon liegt in der Datenaggregation und unterschiedlicher geographischer Auflösung, ein anderer Teil auf einer unterschiedlichen Strukturierung. Auf unterschiedlicher Datenaggregation beruht die südöstliche Grenze, weil Lamelis Untersuchung auf das Gebiet der heutigen Bundesrepublik beschränkt ist. Zudem stützt sich Wiesingers Dialekteinteilung auf jeden einzelnen der über 40.000 Ortspunkte Wenkers und hat damit eine sehr hohe geographische Auflösung. Lameli dagegen berücksichtigt die Landkreise als kleinste Untersuchungseinheiten, wobei er dem jeweiligen Landkreis diejenige Form der Wenker-Daten zuweist, die darin am häufigsten vertreten ist. So wird bei Lameli der nordbairische Südzipfel Sachsens um Adorf−Bad Brambach nicht abgegrenzt, weil er Teil des relativ großen Vogtlandkreises ist, und der Wartburgkreis wird zum westlichen Mitteldeutsch gerechnet, was durch den Zuschnitt des Landkreises die dialektale Struktur um Eisenach durchbricht. Lameli kann also nicht eine Feingliedrigkeit, wie sie Wiesinger zeigt, erreichen, was einige der Unterschiede erklärt. Nur beschränkt auf den Zuschnitt der Landkreise zurückzuführen ist dagegen der Unterschied in der Zuordnung des südlichen Vogtländischen, das Wiesinger ganz dem Ostfränkischen zuordnet, während es bei Lameli Teil des Ostmitteldeutschen ist. Lamelis Ostmitteldeutsch greift auch weiter nach Nordwesten aus als Wiesingers, dessen westliche Übergangszone und das nordhessische Kassel bei Lameli zum Ostmitteldeutschen gerechnet werden. Dabei ist anzumerken, dass Clusteringverfahren, welche jeweils auf der Grundlage einer Ähnlichkeitsmatrix Untersuchungsorte und Cluster zu übergeordneten Clustern zusammenfassen, keine Übergangszonen zulassen, sondern methodenbedingt scharfe Grenzen erzeugen. Das Ostmitteldeutsche bildet aber auch bei Lameli keine in sich geschlossene Einheit; in der Fokussierung auf spezielle Strukturmuster kann Lameli (2013: 161−167) eine Binnendifferenzierung in thüringische und obersächsische Gebiete nachweisen. Das zeigt auch Kt. 13.2, in welcher das West-Ostmitteldeutsche, das im Wesentlichen Wiesingers thüringischem Kerngebiet entspricht, als erster Cluster ausgegliedert wird. Auf die weiteren Unterschiede der beiden Einteilungen wird nach der Darstellung der lautlichen und
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Kt. 13.2: Überblendung der Dialekteinteilung nach Wiesinger (1983: Kt. 47.4) im Hintergrund schwarz dargestellt und des ostmitteldeutschen Clusters nach Lameli (2013: 186) in Farbe − erstellt mit Regionalsprache.de (REDE)
morphologischen Binnenstrukturierung in Kap. 3.4. eingegangen. Lamelis und Wiesingers Binnenstrukturierungen beruhen beide auf den Wenker-Daten. Mit Rückgriff auf Dissertationen der 1950er und 1960er Jahre zeigen Becker & Bergmann (1969) für Sachsen noch weitere Strukturen mit klaren Grenzen auf, welche sich aber mit dem Blick auf die Quellen als nicht so fest wie aufgezeichnet erweisen. Auch Rosenkranz (1964: 58) versucht für das thüringische Gebiet Binnengrenzen aufzuzeigen, die aber schon in der Übersichtskarte zu immer weiteren Aufteilungen führen. All diese Einteilungen lassen sich jedoch schon in der Analyse der thüringischen und sächsischen Tonaufnahmen der 1960er Jahre aus der Aufnahmeserie Tonbandaufnahmen der deutschen Mundarten in der DDR (Schädlich & Eras 1965), die heute im Archiv für Gesprochenes Deutsch [AGD] im IDS-Mannheim zugänglich sind, und dann besonders in der Analyse der Aufnahmen aus dem REDE-Projekt nach der Jahrtausendwende nicht mehr halten (Rocholl 2015: 100−288). Der Dialektabbau ist für solche Strukturierungen zu stark fortgeschritten. Die folgende Überblicksdarstellung der basisdialektalen Raumstruktur hat dementsprechend nur noch historische Bedeutung.
3. Basisdialektale Raumstruktur Dialektometrische Analysen, wie sie von Lameli (2013) vorgenommen wurden, lassen sich nur als aggregierte Strukturen erfassen, die gleichzeitig alle Variablen berücksichtigen. Das ist nur statistisch zu erreichen, was eben eine entsprechende Datenreduktion zur Folge hat. Eine Sicht, die jede einzelne Variable berücksichtigt, ist nicht nachvollziehbar. Deshalb beschränkt sich die folgende Darstellung auf die einzelnen Variablen,
13. Ostmitteldeutsch: Thüringisch und Obersächsisch
die exemplarisch einerseits eine Abgrenzung zu anderen Dialekträumen und andererseits eine Binnendifferenzierung ermöglichen, wie sie in Kt. 13.2 präsentiert wird. Die berechtigte Kritik von Wiesinger und Lameli (und vielen weiteren) an entsprechenden Verfahren sei hier nochmals erwähnt, sie wird aber zugunsten einer Nachvollziehbarkeit auf beschränktem Raum in den Wind geschlagen. Da für die Basisdialekte in den letzten 30 Jahren kaum mehr neue Erhebungen vorgelegt wurden und durch den Dialektabbau auch nicht mehr zu erwarten sind, stützt sich die Darstellung wesentlich auf die Daten des Wenker-Atlas, auf dessen Analyse durch Wiesinger (1983) wie auch für das Obersächsische auf die Zusammenstellung von Becker & Bergmann (1969) und für das Thüringische auf Rosenkranz (1964). Für die Einteilung des Raumes wird die von Anders (2010: 129) gezeichnete Kt. verwendet, die wiederum mit der Einteilung in Cluster nach Lameli (2013) kombiniert wird. Anders’ Kt. beruht für das Obersächsische auf Becker & Bergmann (1969) sowie auf dem Wörterbuch der obersächsischen Mundarten (1994−2003), für die Einteilung des thüringischen Sprachraums auf dem Thüringischen Wörterbuch (1975−2006) und damit auf Rosenkranz (1964), sowie Teilen des Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs (1976−2001) aus Steger (1968). Die Einteilung der auf der Kt. dargestellten Gebiete ist nur eingeschränkt nachzuvollziehen. Sie bieten aber generelle Orientierungspunkte für die weitere Darstellung. Die Kt. 13.4 zeigt keine Isoglossen an, was angesichts der unklaren Führung der historischen Isoglossen und der nicht mehr aktuellen Datenbasis für die Darstellung der heutigen Sprachsituation auch nicht mehr sinnvoll erscheint. Die Zusammensicht mehrerer Isoglossen würde durch die hohe Variation überaus unübersichtliche Karten hervorbringen, wie sie Wiesinger (1983: Kt. 47.11−47.12) präsentiert. Für genauere Darstellung der Isoglossenverläufe sei deshalb auf Wenkers Originalkarten (Wenker-Atlas 1888−1923) verwiesen. Zudem stellen die Isoglossenzeichnungen der früheren Arbeiten Idealisierungen dar, da sich dieselben lautlichen und morphologischen Isoglossen sehr häufig wortweise unterscheiden, so dass kaum von Grenzen zwischen Varianten, sondern von breiten Grenzzonen auszugehen ist. Exemplarisch dokumentiert das Kt. 13.3 (Große 1955: 73) anhand der wortweise unterschiedlich verlaufenden Isoglossen zwischen der [bf]- und [f]-Realisierung für anlautend wgerm. p den breiten Übergangsstreifen zwischen beiden Realisierungen. Die stark mäandrierenden Isoglossen lassen auch auf relativ zufällige Verteilungen zwischen den beiden Realisierungen eines Wortes schließen. Insgesamt kann in diesem Gebiet also nicht von lautlichen Grenzen, sondern von mehr oder weniger breiten Übergangszonen ausgegangen werden. Die für die folgende Beschreibung des Raumes gewählte Kt. 13.4 ohne Isoglossen und mit ihrem dezisionistischen Raumbild ermöglicht die dialektalen Räume zu benennen und Grundstrukturen zu beschreiben, deren Nachhall in den aktuellen Daten noch von Bedeutung sein kann. Es sei deshalb nochmals explizit darauf hingewiesen, dass die in dieser Kt. gezeigten Grenzen relativ willkürlich gezogen sind, was mit der unterlegten Kt. der Clustereinteilung auch offensichtlich wird. Dementsprechend folgen die im vorliegenden Text gemachten Zuordnungen lautlicher und morphologischer Phänomene in den allermeisten Fällen nicht exakt, sondern nur grosso modo der in dieser Kt. vorgegebenen Einteilung.
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Kt. 13.3: Wortweise unterschiedlich verlaufende Isoglossen für die Realisierung von wgerm. p (nach Große 1955: 73)
Kt. 13.4: Gliederung des ostmitteldeutschen Dialektraums nach Anders (2010: 129) und nach dem ostmitteldeutschen Cluster nach Lameli (2013: 186) in Farbe − erstellt mit Regionalsprache.de (REDE)
13. Ostmitteldeutsch: Thüringisch und Obersächsisch
3.1. Außengrenzen des Ostmitteldeutschen Die südliche Grenze Sachsens zur Tschechischen Republik und die östliche zu Polen bilden heute die östliche Sprachgrenze des geschlossenen deutschen Sprachgebiets und damit des Ostmitteldeutschen. Diese Sprachgrenze wird im Folgenden nicht mehr diskutiert. Das Sprachgebiet der Sorben kann nicht mehr abgegrenzt werden, da die Sorben schon zu Zeiten der Wenker-Erhebung mehrheitlich zweisprachig waren. Das Deutsch der Sorben wird als Neulausitzisch bezeichnet. Die Abgrenzung der ostmitteldeutschen Mundarten Thüringisch und Obersächsisch von den niederdeutschen und westmitteldeutschen Mundarträumen wird im Allgemeinen am Kriterium der Durchführung der hochdeutschen Lautverschiebung festgemacht. Als nördliche Abgrenzung zum Niederdeutschen werden die fast deckungsgleich verlaufenden und konstanten Isoglossen für die Verschiebung von wgerm. t und k angesetzt. Diese Grenze ist auch in dialektometrischer Betrachtung überaus bedeutsam (Lameli 2013: 186), da sich an dieser auch weitere Nord-Süd-Unterschiede bündeln. Wiesinger (1983: 868) erwähnt für das 17./18. Jahrhundert besonders die Annäherung der Grenze zwischen niederdeutschen und hochdeutschen Vokalsystemen an diese Lautverschiebungsgrenze. Die Lautverschiebungsgrenze von wgerm. k und t stellt damit eine Dialektgrenze dar, die sich in unterschiedlichen Methoden als stabil erweist. Die Abgrenzungen zu den westlichen und südlichen Nachbarmundarten sind weniger deutlich, entsprechend finden sich auch je nach Autor unterschiedliche Einteilungen und Grenzziehungen, wobei wie bei Wiesinger (1983: Kt. 47.4) Übergangszonen angesetzt werden. Als Abgrenzungskriterium gegenüber dem westmitteldeutschen Hessischen kann die teilweise durchgeführte Verschiebung von wgerm. p angesetzt werden, dem sich in „mehr oder minder großen Teilabschnitten […] kleinräumige Spracherscheinungen“ anschließen, „dass ein ansehnliches Linienbündel entsteht“ (Rosenkranz 1964: 9). Während nämlich die westmitteldeutschen Dialekte wgerm. p weitgehend bewahrt haben, zeigen das Thüringische und Obersächsische eine Verschiebung des anlautenden wgerm. p zu [pf] mit weiterführenden Lenisierungen zu [bf] bzw. [f] (Bfafer bzw. Fafer ‘Pfeffer’), wobei auch von niederdeutsch geprägtem Lautersatz von [pf] durch [f] ausgegangen werden kann. Die Geminate spätwgerm. pp ist dagegen im Obersächsischen und fast dem ganzen Thüringischen als lenisiertes [b] bewahrt (Abl und Kob ‘Apfel’ und ‘Kopf ’). Der Süden des Thüringischen bis zur Höhe von Erfurt zeigt mit der Verschiebung zu [pf] schon oberdeutsche (ostfränkische) Einflüsse. Die daran anschließenden südlichen Mundarten des Freistaats Thüringen, das Hennebergische und das Itzgründische werden mit weiteren oberdeutschen Merkmalen − insbesondere durch die Synkope von Schwa in Präfix ge- und die Schwa-Apokope − schon ganz dem Ostfränkischen zugerechnet. Gleiches gilt für den südlichsten Zipfel Sachsens um Adorf−Bad Brambach, der als nordbairisches Mundartgebiet gilt. Die ostmitteldeutschen Mundarten haben in den südlichsten Randgebieten (Südostthüringisch zwischen Gera, Saalfeld und Lobenstein, Vogtländisch und Erzgebirgisch) Anteil an der Schwa-Apokope. Der Großteil des Ostmitteldeutschen bewahrt das auslautende Schwa, besonders auffällig auch bei Adverbien und Adjektiven in prädikativer und adverbialer Funktion (Unsere Berge sind nicht sehre hoch). Fast parallel zur Schwa-Apokope verläuft die Isoglosse mit der Apokope des auslautenden -n. -n wird im Ostmitteldeutschen bewahrt, während das Ostfränkische apokopiert (ostfrk. Wii − omd. Wiin bzw. Wein). Allerdings gehen das Vogtländische und das Erzgebirgische wie auch das Südostthüringische schon mit den oberdeutschen
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Mundarten. Eine der Schwa- und n-Apokopierung ähnlich verlaufende Isoglosse wird durch die Gutturalisierung von mhd. -nd- zu [ŋ], gefunden > gefungen gebildet. Allerdings ist die Verteilung diesbezüglich umgekehrt, denn die erzgebirgischen und vogtländischen Mundarten sowie die spät germanisierten neulausitzischen Gebiete in Sachsen zeigen die ältere − und standardnähere − Form auf [nd] oder ihre Lenisierung auf [n], während die thüringischen und der größere Teil der obersächsischen Mundarten die Gutturalisierung zu [ŋ] aufweisen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten der südlichen Mundarten des Ostmitteldeutschen mit den oberdeutschen Mundarten werden sie normalerweise zum Ostmitteldeutschen gezählt, insbesondere weil diese Mundarten in Sachsen die Monophthongierung von mhd. ou, ei, öu mitgemacht haben. Gleichwohl stellen diese südlichen Mundarten mit wechselnden Einflüssen aus dem Oberdeutschen und west-östlichen Unterschieden insgesamt ein komplexes Mischgebiet dar. Diese Darstellung, welche die Bezüge des Erzgebirgischen und Vogtländischen zum Ostfränkischen als Staffellandschaft sichtbar macht, kann entsprechend auch unter die Binnengliederung des Ostmitteldeutschen gestellt werden. Die Zuordnung zum Ostmitteldeutschen wird jedoch durch die statistische Analyse nach Lameli (2013) gestützt, wenn auch dieser erzgebirgischvogtländische Cluster in der Binnengliederung den zweitwichtigsten nach dem WestOstmitteldeutschcluster darstellt. Zum Schluss sollen mit der Zentralisierung und der Pharyngalisierung im Umfeld von R zwei artikulatorische Auffälligkeiten erwähnt werden, die als charakteristisch für das Ostmitteldeutsche gelten, allerdings nicht auf diese beschränkt sind und auch nicht nur in der Mundart, sondern ebenso im Substandard, ja auch im standardintendierten Sprechen vorkommen. Beide Phänomene sind durch die späte Behandlung in der Dialektologie und die Schwierigkeit der Transkription relativ schlecht belegt und insbesondere im ostmitteldeutschen Raum nicht sprachgeographisch aufgearbeitet, so dass sie hier nur generell genannt werden, ohne jedoch ihren Status innerhalb des Ostmitteldeutschen zu präzisieren. Die Zentralisierung betrifft einerseits als Palatalisierung alle Hinterzungenvokale und geht mit einer Delabialisierung einher; sie ist − wie die umfangreiche Monographie von Wiesinger (1970) darlegt − im Ostmitteldeutschen nicht als phonologisch zu werten. Auf der anderen Seite findet sich eine ebenfalls nicht phonologische Zentralisierung als Velarisierung der Vorderzungenvokale. Durch den phonologisch relevanten Schwund der gerundeten Vorderzungenvokale im Ostmitteldeutschen werden Vorderzungenvokale, insbesondere [ɪ], leicht labialisiert und zentralisiert (vgl. dazu auch Siebenhaar 2014). Erst in jüngster Zeit wird die Pharyngalisierung von R untersucht. Barden & Großkopf (1998: 46) beschreiben das R im Obersächsischen als „Reduktion des auslautenden r zu einem uvularen bis pharyngalen Approximanten, der das vorausgehende Tiefschwa mit einem sehr ‚dunklen‘ (‚gutturalen‘) Timbre versieht“. Diese pharyngalisierende Wirkung von R betrifft aber nicht nur Tiefschwa, sondern auch weitere Vokale (Rues et al. 2014: 83−99). Da beide Phänomene in der Literatur erst spät aufgearbeitet wurden, kann deren Status in der alten Mundart nur postuliert werden, zeigt sich aber auf jeden Fall schon in den Tonbandaufnahmen der deutschen Mundarten in der DDR der 1960er Jahre. Diese schlechte Beleglage gilt ebenfalls für die Intonation. Die wenigen punktuellen Arbeiten zeigen diesbezüglich Besonderheiten, für die aber eine größere − ostmitteldeutsche? − Verbreitung angenommen werden kann. Gericke (1963) hat in einer der frühen Arbeiten zur regionalen Prosodie für Leipzig einen häufig realisierten Halbschluss, also ein Abschluss in einer mittleren Tonhöhe, genannt. Zudem wird eine als typisch erachtete
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Abb. 13.1: Varianten der Fallkontur in abschließenden Phrasen mit dem Fallbogen als ostmitteldeutscher Besonderheit (Gilles 2005: 163)
Kontur beschrieben, die sie als Fallbogen bezeichnet. Dessen Vorkommen hat Gilles (2005) auch für Dresden − und für keine der anderen sieben deutschen Vergleichsstädte − belegt. Bei diesem Fallbogen (siehe Abb. 13.1) fällt die Intonationskontur nicht wie üblich nach der betonten Nukleussilbe, sondern der hohe Ton wird gehalten und der Fall findet erst verzögert am Schluss der Intonationsphrase statt. Im nationalen Vergleich kann dies als typisch ostmitteldeutsche Abschlusskontur gelten, die in Dresden in etwa einem Viertel aller abschließenden Phrasen realisiert wird.
3.2. Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Ein wesentliches lautliches Merkmal für die Binnenstrukturierung des Ostmitteldeutschen ist der Reflex von mhd. î, û, iu vor Konsonanten. Das Obersächsische und die östlichen Mundartgebiete des Thüringischen (Ilmthüringisch, Ost-, Nordost- und Südostthüringisch) haben die frühneuhochdeutsche Diphthongierung durchgeführt, während die westlichen und zentralen Mundarten des Thüringischen die mittelhochdeutschen Monophthonge bewahrt haben. Da die Vokale zudem entrundet und palatalisiert werden, wobei der Status beider Entwicklungen in den Basismundarten durch die schriftlichen Erhebungen im Allgemeinen relativ schlecht dokumentiert ist, stehen sich in beiden Fällen meist nur noch je zwei Laute gegenüber (Ziit, Liit(e) − Huus gegenüber Zeit, Leit(e) − Haus ‘Zeit, Leute, Haus’). In einem Zusammenhang mit der frühneuhochdeutschen Diphthongierung der alten Langvokale ist auch der Status der mittelhochdeutschen Diphthonge zu sehen. Das westliche Thüringische hat entsprechend die mittelhochdeutschen Diphthonge ei, ou, öu bewahrt, während das Obersächsische und östliche Gebiete des Thüringischen diese Diphthonge monophthongiert haben. Entrundung und Palatalisierung greifen auch hier, so dass den westthüringischen heiß, Beime [ɛɪ̯ ~ a̠e̯] − Baum [ɔu̯ ~ a̠o̯] die obersächsischen Formen hees, Beeme [e:] − Boom [o:ʊ̯̽ ~ o̟:] ‘heiß, Bäume, Baum’ gegenüberstehen. Im Erzgebirgischen und Vogtländischen sind mhd. ei, ou und öu gänzlich zusammengefallen und werden als Monophthong [ɑ:] realisiert. Gegenüber den Isoglossen der frühneuhochdeutschen Diphthongierung sind die Isoglossen der neuen dialektalen Monophthongierung an der Grenze zwischen Nord- und Nordostthüringisch etwas östlicher gelegen, so dass in einem schmalen Streifen sowohl für mhd. î, als auch
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für mhd. ei der Diphthong [ɛɪ̯ ~ a̠e̯] gilt. Dieser Zusammenfall ist im Gesamtdeutschen ganz selten, da diese beiden Reihen in den deutschen Dialekten im Gegensatz zum Standard meist getrennt bleiben. In der südlichen Weiterführung liegt die dialektale Monophthongierungsisoglosse westlich der frühneuhochdeutschen Diphthongierungsisoglosse, so dass in diesem Übergangsgebiet hees ‘heiß’ einem Ziit ‘Zeit’ gegenübersteht, womit die beiden Reihen zwar als Monophthonge vorkommen, aber durch die Lautqualität voneinander geschieden sind. In Kap. 3.1. wurden Nord-Süd-Unterschiede aufgeführt, die für das Vogtland und Erzgebirge häufig ostfränkische Einflüsse dokumentieren. Auch im Norden findet sich eine Nord-Süd-Unterscheidung, wo in nördlichen Teilen des Nord- und Nordostthüringischen sowie im Nordosterländischen als niederdeutsches Substrat ein anlautendes g- als [j] realisiert wird, so dass im Nordstreifen des Ostmitteldeutschen Jarten und jesagt auffallen. Eine gegenläufige Lautentwicklung findet sich wiederum im Erzgebirge und Vogtland, wo wie im südlich anschließenden Ostfränkischen und Nordbairischen j- als [g] realisiert wird, sodass wir Gung und Gacher ‘Junge, Jäger’ finden. Fast im gesamten Ostmitteldeutschen wird mhd. ë zu [a] gesenkt, Schwaster und schlacht ‘Schwester, schlecht’ gelten damit als typisch ostmitteldeutsche Wortformen. Ausnahmen dieser Senkung sind im Norden fast das ganze Osterländische und das Neulausitzische sowie im Süden das Vogtländische, wo jeweils die ungesenkte Form [ɛ] gilt. Eine weitere im Wesentlichen Norden und Süden unterscheidende binnenräumliche Strukturierung ergibt sich aus der Hebung von mhd. â zu [o: ~ ɵ:] im Nord-, Zentral-, Südost- und Ostthüringischen, im Vogtländischen, Erzgebirgischen und in den anschließenden südlichen Teilen des Obersächsischen von Chemnitz bis Dresden und im Lausitzischen. Ein Gebiet südlich von Dresden, das die Sächsische Schweiz und das Osterzgebirge umfasst, zeigt isoliert für die Form gebracht sogar eine Hebung zu [ʊ] wie in der Oberlausitz und im Schlesischen. Der Osten Thüringens und der Norden Sachsens zeigen für mhd. â ein bewahrtes [ɑ: ~ ɒ:]. Für das Nordosterländische und das Nordmeißnische ist eine Diphthongierung zu [oɒ̯ ~ ɔə̯] belegt. Allerdings unterscheiden sich die Isoglossen wortweise so stark, dass nur allgemeine Tendenzen benannt werden können, aber keine klare Struktur. Innerhalb des Ostmitteldeutschen nehmen das Zentralthüringische und unabhängig davon Teile des Südostthüringischen eine Sonderstellung bezüglich der mittelhochdeutschen öffnenden Diphthonge ein: Während nämlich im übrigen Teil des Ostmitteldeutschen die frühneuhochdeutsche Monophthongierung durchgeführt wurde, zeigt das Zentralthüringische die Bewahrung von mhd. ie, ue und üe, wobei letzteres meist entrundet ist. Im Südostthüringischen finden sich wie im östlichen Nordbairischen, aber sprachgeographisch getrennt davon, gestürzte Diphthonge [oʊ̯] für mhd. ue und [eɪ̯ ], in welchem mhd. ie und üe zusammenfallen. Ein weiteres Merkmal mitteldeutscher Binnenstrukturierung ergibt sich aus der Hebung von mhd. o. Fast im gesamten Ostmitteldeutschen außer im Nordosterländischen, im Schradengebiet, im Westlausitzischen ist mhd. o in ‘Ofen’ und ‘oben’ zu Ufen und uben gehoben worden. Die sprachgeographische Verteilung dieser Hebung ist vor hinteren Konsonanten deutlich eingeschränkt und markiert damit mehrheitlich eine Ost-WestGliederung: Vor velaren und uvularen Konsonanten ist mhd. o nur in den obersächsischen Mundarten mit Abgrenzung zur Lausitz, zum Erzgebirge und zum Vogtland, sowie im Ost- und Südostthüringischen gehoben worden. Im Wenker-Atlas sind dafür kuchen, Tuchter, Uchsen ‘kochen, Tochter, Ochsen’ und regional etwas eingeschränkter
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auch Kurb, Durf, Wurt ‘Korb, Dorf, Wort’ belegt. Mit einer ähnlichen sprachgeographischen Verteilung wie bei mhd. o in ‘Ofen’ wurden auch die mittleren Langvokale mhd. ê, ô und œ gehoben, womit sich wiederum eine Nord-Süd-Gliederung ergibt. Das Osterländische, das Schradengebiet und das Neulausitzische zeigen noch [e:], [o:] und [e:] (< mhd. œ), die südlicheren Mundarten die Hebung zu [i:], [u:] und entrundet als [i:]. Das Nordthüringische fällt mit mehreren kleinräumigen Bewahrungen und Senkungen aus dem Rahmen. Im Zentralthüringischen sind die aus mhd. ê, œ, ô entstandenen [i:], [u:] zu Falldiphthongen [iə], [uə] weiterentwickelt worden, womit sie weitgehend mit den Reflexen von mhd. ie, üe und ue zusammenfallen. Diese Diphthongierung bildet damit eine weitere Ost-West-Differenzierung, die das Zentralthüringische von den östlicheren Mundarten abgrenzt. Das Personalpronomen der 2. Person Plural Akkusativ und Dativ ist im gesamten Ostmitteldeutschen in einem einheitlichen euch zusammengefallen. Die Formunterschiede sind nur lautlicher Art: Das Meißnische, Vorerzgebirgische und Lausitzische ohne das Neulausitzische zeigen die Form euch. Die nördlichen, östlichen und mit dem Vogtländischen und Erzgebirgischen auch südlichen Teile des Obersächsischen wie auch das Neulausitzische zeigen zusammen mit dem östlichen Thüringischen die entrundete Form eich. Um Altenburg findet sich die Sonderform auch. Für das Zentral- und Nordthüringische ist monophthongisches uch/och nachgewiesen Insgesamt erweist sich das Ostmitteldeutsche in lautlicher Hinsicht als durch eine Vielzahl von Isoglossen stark zerklüftetes Gebiet. Sehr häufig sind diese Isoglossen zudem nicht im Lautsystem gebündelt, sondern zeigen eine wortweise Streuung, wie das die Gebietsmonographien der 1950er und 1960er Jahre und davor schon der WenkerAtlas dokumentieren (siehe dazu nochmals die Kt. 13.3). Die sprachgeographische Strukturierung bleibt deshalb mit einem Blick auf lautliche Einzelphänomene etwas willkürlich − was sich weiter unten in der Darstellung der morphologischen Binnenstruktur wiederholt. Als übergreifend kann eine Nord-Süd-Staffelung im Übergang ober- und niederdeutscher Elemente nachgewiesen werden. Darin zeigen das Nordost- und Ostthüringische, das Osterländische mit dem Schradengebiet häufig noch Reste niederdeutscher Formen bzw. eine Abwehr oberdeutscher Besonderheiten, was darauf hinweist, dass insbesondere das nordöstliche Gebiet des Ostmitteldeutschen auf der Basis der „Verhochdeutschung niederdeutscher Grundlagen“ (Wiesinger 1983: 828) entstanden ist. Auf der südlichen Seite sind dagegen besonders im Vogtländischen und Erzgebirgischen oberdeutsche Phänomene des Nordbairischen und vor allem des Oberostfränkischen zu finden, so dass diese Mundarten auch schon ganz aus dem Obersächsischen ausgegliedert wurden. Das Südostthüringische mit häufigen Einflüssen aus dem Oberostfränkischen, Itzgründischen und Hennebergischen nimmt diesbezüglich ebenfalls eine Sonderstellung ein. Auch die West-Ost-Gliederung, wie es die unterschiedlichen Bezeichnungen Thüringisch und Obersächsisch suggerieren, manifestiert ähnliche Probleme, was sich in der von Wiesinger (1983) postulierten breiten Übergangszone festmachen lässt. Die Kerngebiete zeichnen sich dabei vor allem dadurch aus, dass eine Vielzahl von Phänomenen, die im jeweils anderen Kerngebiet vorkommen, je nicht belegt sind. Grenzen lassen sich kaum mittels Bündelungen von Isoglossen ziehen, sondern eher anhand einzelner Phänomene, denen sich − wie es Rosenkranz (1964) ausdrückt − streckenweise einzelne andere Phänomene anschließen.
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3.3. Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie Als wichtiges morphologisches Kriterium für die Abgrenzung von oberdeutschen und mitteldeutschen Mundarten wird häufig die Präteritalgrenze genannt. Jedoch ist, wie Fischer (2018) deutlich nachweisen kann, auch beim Präteritumschwund im Gesamtdeutschen nicht von einer klaren Grenze zu sprechen, sondern von einem zeitlich und räumlich gestaffelten Abbauprozess zwischen Bewahrung des Präteritums im Niederdeutschen und Ersatz durch das Perfekt im Oberdeutschen. Die mitteldeutschen Mundarten befinden sich diesbezüglich in der Übergangszone, in der bei einer Nord-Süd-Staffelung Präteritalformen bei den Modalverben noch weitgehend vorherrschend sind, während besonders bei niedrig frequenten Verben die Präteritalformen nur im Norden noch üblich sind. Dementsprechend ist das ganze Ostmitteldeutsche durch unterschiedliche von West nach Ost verlaufende Isoglossen durchzogen. Eine etwas deutlichere Nord-Süd-Abgrenzung ergibt sich durch die oben schon behandelte Schwa-Apokope, welche zuerst ein Produkt eines phonologischen Prozesses ist. Dieser hat aber − besonders im Zusammenspiel mit der n-Apokope − massive Auswirkungen auf die Morphologie, in dem Sinne, dass in den Apokope-Gebieten Plural und auch Kasus viel weniger deutlich durch Endungen markiert werden können. Damit kommt es im Oberdeutschen mehrfach zu Synkretismen, wohingegen das Ostmitteldeutsche die Kasus- und Numerusdifferenzierung viel häufiger bewahrt. So unterscheiden das Thüringische und Obersächsische den Dativ Singular Tische, Felde mit auslautendem Schwa vom Nominativ Tisch, Feld. Die südlichen Gebiete − wieder die vogtländischen und erzgebirgischen Mundarten − zeigen den oberdeutschen Zusammenfall von Nominativ, Akkusativ und Dativ in der Form Tisch, Feld womit der Kasus nur noch durch den Artikel gekennzeichnet wird. Für Tisch und Feld zeigt aber auch das Nordosterländische mit dem gesamten Nordosten eine einsilbige Form, während diese Isoglosse im Westen das niederdeutsche Ostfälische zum Gebiet mit Schwa schlägt. Bei Bett zeigt auch der Großteil des Brandenburgischen die Schwa-Endung. Die Nord-Süd-Differenzierung aufgrund der südlichen Schwa-Apokope findet sich auch bei der Pluralmarkierung: wo das Ostmitteldeutsche mit den nördlich anschließenden niederdeutschen Mundarten Gans und Gänse unterscheidet, findet sich im Oberdeutschen, dem sich Vogtland und Erzgebirge anschließen, Gans und Gäns. Eine weitere Nord-Süd-Differenzierung im nördlichen Teil des Ostmitteldeutschen bildet der Kasuszusammenfall beim Personalpronomen. Im Norden des gesamten Ostmitteldeutschen, im Zentralthüringischen jedoch bis nach Gotha reichend, findet sich der oblique Einheitskasus in der Form des Akkusativs: mich/dich und mir/dir sind im Wenker-Atlas jeweils als mich/dich belegt, während der größere, südliche Teil der beiden Mundarten die beiden Kasus deutlich unterscheidet. Entlang der Isoglosse, die mir/dir von mich/dich als Dativpronomen trennt, kommt vereinzelt ein Synkretismus mit Ausgleich nach dem Dativ mir/dir vor. Als morphologisches Abgrenzungskriterium zu den oberdeutschen Mundarten wird häufig die mitteldeutsche Verwendung des -chen-Diminutivs (Stückchen) gegenüber oberdeutschem -l-Diminutiv (Stücklein) angesetzt. Allerdings ist diese Isoglosse gegenüber der angesetzten Grenze zum Oberdeutschen gegen Norden vorverschoben, wodurch eine ostmitteldeutsche Binnengliederung entsteht. Das Südostthüringische, das Vogtländische und Erzgebirgische sowie auch südliche Teile des Ostmeißnischen und Lausitzischen weisen in den Basismundarten ebenfalls den l-Diminutiv (Stückel bzw. Stückle)
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auf. Der Vergleich der Wenkerkarten macht aber besonders im östlichen Ostmitteldeutschen wieder deutliche, wortweise unterschiedliche Isoglossenverläufe offenbar. Ein bedeutsames Merkmal einer Ost-West-Gliederung, das als Unterschied zwischen Thüringisch und Obersächsisch angesetzt wird, ist die Bildung des Verbalplurals. Wiesinger (1983: 861) betont den strukturellen Unterschied, der im Thüringischen zwischen dem Infinitiv (mache) und 1. und 3. Person des indikativischen Präsensplurals (machen) besteht, während im Obersächsischen sowie im Nordostthüringischen beide Formen wie im Standard zusammenfallen (machen). Auch wenn dieser Unterschied strukturell bedeutsam ist, so ist die Isoglosse doch weitgehend isoliert, denn mit dieser decken sich kaum andere, lautliche oder morphologische Isoglossen, so dass auch in morphologischer Hinsicht eine klare Trennung von Thüringisch und Obersächsisch nicht möglich erscheint und von einer breiten Übergangszone auszugehen ist.
3.4. Vergleich der Strukturierungen Der Vergleich der drei Strukturierungen nach Wiesinger (1983), Anders (2010) − und damit Becker & Bergmann (1969), Rosenkranz (1964) und Steger (1968) − und Lameli (2013) macht die grundsätzlichen Übereinstimmungen in der Außenabgrenzung der drei Ansätze deutlich. Er zeigt aber auch wesentliche Unterschiede. Ein Teil der Unterschiede liegt in der Datenbasis. Der Bezug auf die Landkreise als kleinste Einheit bei Lameli verdeckt oder überlagert kleinräumigere Unterschiede, die sich bei Wiesinger und Anders zeigen. Da mit der vorliegenden Kt. nach Lameli, die auf statistischen Ähnlichkeitsmaßen und der Zusammenfassung der ähnlichsten Orte und Cluster beruht, eine neue Binnenstrukturierung deutlich wird, soll sie als Grundlage dienen, womit diese Strukturierung auch genauer erläutert werden kann. Für jeden dieser Cluster werden einige wenige Abgrenzungsmerkmale genannt. Diese sind aber je nur Beispiele, an welche sich andere Merkmale, oft nur auf Teilstrecken der Abgrenzung, angliedern. Für eine detaillierte Darstellung der statistischen Zusammenhänge müssten eigentlich die jeweils über 60 Variablen und deren Zusammenspiel berücksichtigt werden, was nicht geleistet werden kann − der Grund, weshalb auf statistische, komplexitätreduzierende Verfahren zurückgegriffen wird. Aus dem gesamten Ostmitteldeutschen wird zuerst das West-Ostmitteldeutsche ausgegliedert. Dies entspricht im Wesentlichen dem thüringischen Kerngebiet Wiesingers und dem Zentral- und Nordthüringischen aus Anders. Es greift aber nach Westen in Gebiete aus, die klassischerweise als Nordhessisch bezeichnet werden. Als ein Merkmal dieser Abgrenzung gegenüber den östlicheren Teilen des Ostmitteldeutschen kann die Diphthongierung der mhd. î, û und iu gelten. Eine Binnenstrukturierung, wie sie Anders (2010) vorgibt und wie sie auch die Wiesingerkarte 47.11 (Wiesinger 1983) suggeriert, zeigt sich in der Clusteranalyse auf dieser Differenzierungsebene nicht. Der zweite Ast ist der erzgebirgisch-vogtländische Cluster, der auf die oft als Südostthüringisch bzw. als Südmeißnisch bezeichneten Gebiete im Westen und Osten ausgreift. Das am ehesten dieser Abgrenzung entsprechende Kriterium gegenüber dem nördlicheren Ostmitteldeutschen ist die Schwa-Apokope im Auslaut, die auch morphologische Konsequenzen zeigt. Der dritte Cluster, der ausgegliedert wird, ist erstaunlicherweise das Altenburger Land, das in den bisherigen Einteilungen nicht besonders behandelt worden ist, sondern als Teil des Ostthüringischen (Anders 2010) bzw. als östliche Spitze des thüringisch-ober-
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sächsischen Übergangsgebiets (Wiesinger 1983) galt. Ein zentrales Abgrenzungskriterium kann für dieses Gebiet nicht angegeben werden; vielmehr ist es die spezifische Mischung nördlicher und südlicher, östlicher und westlicher Elemente, die die Sonderstellung des Altenburgischen ausmachen. So wird dort im Gegensatz zur Umgebung der westliche Verbalinfinitiv auf -e verwendet und es zeigt den nördlichen -chen-Diminutiv. Gegenüber nördlichen und südlichen Formen gilt im Altenburgischen au für mhd. iu. Ähnliches gilt für die Ausgliederung des vierten Clusters mit dem Ilm-Kreis und dem Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, wo die unterschiedlichen Bezüge in die Nachbargebiete sichtbar werden. Der fünfte Cluster, Ost-Ostmitteldeutsch, umfasst im Wesentlichen die östlichen Teile des Wiesinger’schen Obersächsischgebiets wie auch das Übergangsgebiet zum Schlesischen und die Reste des Schlesischen auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Räumlich durch den erzgebirgisch-vogtländischen Cluster abgegrenzt, der bei Wiesinger allerdings nicht gesondert erscheint, gehört auch das Chemnitzer Land dazu. Bei Anders sind dies die Gebiete Ostmeißnisch, das gesamte Lausitzische und das Vorvogtländische. Als Abgrenzung gegenüber dem erzgebirgisch-vogtländischen Cluster kann die fehlende Schwa-Apokope gelten. Gegenüber dem Zentral- und Nord-Ostmitteldeutschen mit -chen-Diminutiv verwendet das Ost-Ostmitteldeutsche den -l-Diminutiv. Der sechste Cluster, Zentral-Ostmitteldeutsch, deckt die östlichen Teile aus Wiesingers Ostmitteldeutsch wie auch die westlich anschließenden Teile des Übergangsgebietes zum Thüringischen ab. Er greift weit in die Teile des Nord-Ostmitteldeutschen aus, was aber durch den Zuschnitt des Landkreises Torgau-Oschatz bedingt sein könnte. Bei Anders sind dies Teile des Nord- und Westmeißnischen, das nördlich daran anschließende Südwest- und Südostosterländische, wie auch das Nord-, Nordost- und Ilmthüringische. Der Zuschnitt dieses Gebiets macht es schwierig, Kriterien für dessen Beschreibung zusammenzutragen. Vielmehr ist es so, dass dieses Gebiet sich in je anderen Kriterien von den übrigen Gebieten abgrenzt. Interessant ist auch die hier nicht dargestellte weitere Aufteilung des Clusters, die teilweise unzusammenhängende Gebiete zusammenfasst, was darauf schließen lässt, dass die Binnenstrukturierung wenig ausgeprägt ist. Der letzte, siebte, Cluster schließlich umfasst den ganzen mittleren und östlichen Nordteil des Gebiets, das Wiesinger als Nordobersächsisch bezeichnet, und die westlich und östlich anschließenden Übergangsgebiete. Anders unterteilt diesen Cluster in Nordthüringisch, Nordosterländisch, Südwestosterländisch, Schraden-, Elbe-Elster-Gebiet und Niederlausitzisch. Als wichtiges Abgrenzungskriterium gegenüber dem sechsten Cluster ist die Nicht-Senkung von mhd. ë zu nennen, gegenüber dem fünften Cluster die unterschiedliche Diminutivvariante und gegenüber dem ersten Cluster die obersächsische Monophthongierung von mhd. ei, ou, öu. Der Vergleich macht insgesamt deutlich, was in vielen sprachgeographischen Darstellungen aus dem 20. Jahrhundert schon angedeutet worden ist: Der Raum weist keine sehr deutliche Binnenstrukturierung aus. Je nach angesetzten Kriterien ist die Aufteilung deutlich anders. Die statistische Clusteranalyse hebt zuerst die West-Ost-Unterschiede hervor, die das westliche Thüringische vom restlichen Ostmitteldeutschen trennt. Dieser Rest zeigt dann vor allem eine Nord-Süd-Strukturierung, wobei zuerst das Erzgebirgisch-Vogtländische ausgegliedert wird, das bei Wiesinger keine Sonderstellung hat. Die übrigen drei größeren Gebiete zeigen je kaum klare Abgrenzungskriterien, sondern unterscheiden sich im unterschiedlichen Zusammenspiel der Varianten verschiedener Variablen. Die hier skizzierte relativ schwach ausgeprägte basisdialektale Raumstruktur dient als Basis einer Argumentation, die nicht nur soziolinguistisch, sondern auch auf struktu-
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reller Ebene zeigen kann, weshalb die Dialekte gerade im Ostmitteldeutschen relativ früh und deutlich aufgegeben wurden, was im nächsten Kapitel gezeigt wird.
4. Sprachdynamik und vertikale Register In der Einführung zur basisdialektalen Raumstruktur ist schon deutlich gemacht worden, dass diese Struktur keine aktuelle Geltung mehr hat. Die Gebietsmonographien der 1930er bis 1960er Jahre versuchten noch mittels direkt erhobener Daten, die ostmitteldeutsche Sprachlandschaft präziser als mit dem indirekt erhobenen Wenker-Atlas zu beschreiben. Doch auch mit diesen neuen Daten war eine ortsgenaue Ziehung von Isoglossen sogar im ländlichen Raum kaum mehr möglich, „weil die meisten Formen nicht mehr im täglichen Gebrauch erscheinen und deshalb das einzige sichere Urteilsvermögen, das Sprachrichtigkeitsgefühl, stark beeinträchtigt ist“ (Große 1955: XV) bzw. sich sogar „aufgelöst“ (Fleischer 1961: 154) hat. Ein Basisdialekt war also schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu erheben. Die Überblicksdarstellungen von Rosenkranz (1964) für das Thüringische und von Becker & Bergmann (1969) für das Obersächsische haben dementsprechend schon zur Publikationszeit weitgehend rekonstruktiv-historischen Charakter, genauso wie die archaisierende Darstellung des Chemnitzer Lautsystems (Khan & Weise 2013) und auch die obige Darstellung. Innerhalb des Deutschen ist die dialektale Raumstruktur des Ostmitteldeutschen also relativ früh als instabil zu bezeichnen, was auch durch die relativ geringen strukturellen Unterschiede zwischen den Mundarten gestützt wird. Gleichzeitig wurden hochsprachliche Formen nicht nur für die städtische, sondern auch für die ländliche Bevölkerung zu Referenzgrößen. Die Übernahme hochsprachlicher Formen wird auch dadurch erleichtert, dass die mundartlichen und standardsprachlichen Systeme im ostmitteldeutschen und besonders obersächsischen Raum sich viel weniger unterschieden als in anderen Gebieten (Lameli 2013: 234). Dementsprechend beschäftigt sich die Forschung zum Ostmitteldeutschen schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit vertikalen Registern. Diese Forschung ist in den 1930er Jahren vertieft worden und hat insbesondere in den 1960er Jahren an Intensität gewonnen. Bereits Albrechts 1881 erschienene Monographie Grammatik und Wörterbuch der Leipziger Volkssprache bietet dazu in der Einleitung einen ersten Einblick. Nachdem Albrecht Unterschiede zur näheren Umgebung der Stadt Leipzig − im Umkreis von zwei oder drei Stunden − nennt, führt er auch Bildungsunterschiede in der Stadt selbst auf und macht auf Veränderungen aufmerksam: „Erst in allerneuester Zeit beginnt man, etwas auf Reinheit der Aussprache zu halten, sich weniger gehen zu lassen“ (Albrecht 1881: X), wobei er vor allem die Lenisierung der Plosive und die Entrundung hervorhebt. Er erwähnt besonders den Einfluss der Schule, wo der Elementarschüler aus fuffz’n ein deutlicheres fuffzehn macht und, „wenn der Lehrer seine Aussprache verbessert“, fumfzehn oder geziert fünfzehn. In einem weiteren Beispiel weist er noch den Diphthongoid für mhd. öu nach: ein Beime (Bäume) der einfachen Hausfrau steht einem Bēme des Vollblutleipzigers gegenüber. In der Grammatik und im Wörterbuch markiert Albrecht die ländlicheren und die derberen Formen der Stadt mit „Bauernsprache“. Besonders die Dissertationen der 1930er bis 1960er Jahre (Becker 1933; Bellmann 1962; Bergmann 1965; Fleischer 1961; Große 1955; Protze 1957; Rosenkranz 1964; Spangenberg 1962; von Polenz 1954) sowie die umfangreichen Arbeiten von
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Spangenberg (1977, 1978, 1998) und die Überblicksdarstellung von Becker (o. J. [1939]) mit der Überarbeitung (Becker & Bergmann 1969) dokumentieren dann umfangreich die Hinwendung zu einer nicht nur grammatischen, sondern auch sprachsoziologischen Auseinandersetzung mit dem gesamten Variationsbereich zwischen Basisdialekt und Hochsprache im ostmitteldeutschen Sprachgebiet. Dabei wird die Zwischenebene relativ deutlich gegen die Hochsprache und etwas weniger trennscharf gegen die Mundart abgegrenzt und als „Umgangssprache“ bezeichnet. Der Varietätenstatus dieser Umgangssprache bleibt damit noch unklar. Die so beschriebene Auflösung von räumlich klar voneinander abgrenzbaren und in sich stabilen basisdialektalen Systemen liegt vermutlich nicht nur in der jüngeren Zeit. Angesichts der oben dargestellten Siedlungsgeschichte ist sogar die Frage zu stellen, ob überhaupt je von stabilen Verhältnissen ausgegangen werden kann, wenn insbesondere mit Bezug auf das Obersächsische eigentlich von Anfang an eine Landschaft des sprachlichen Ausgleichs vorliegt. Wie Lerchner (2003) mit sprachhistorischem Fokus darstellt, ist für die Beschreibung eines ostmitteldeutschen „Regiolekts“ (i. S. e. Regionalsprache, die alle Sprachformen der Region erfasst) die Gesamtheit soziokultureller Parameter zu berücksichtigen, wobei von den interaktionalen Beziehungen und der Kommunikationskultur auszugehen ist. Damit dürfen dialektale Strukturen nicht einfach nur mit Siedlungsbahnen und der Mitnahme von dialektalen Ausgangsphänomenen durch die Siedler erklärt werden, sondern es sind zusätzlich vielfältige Ausgleichsprozesse und sprachliche Neuerungen im „Transferraum“ (Lerchner 2003: 2755) anzunehmen. Ausgangspunkte für diese Ausgleichsprozesse sind demnach nicht nur in der jeweils lokalen Bevölkerung und ihrem Kontakt zu den Nachbarn zu suchen, sondern auch in der gesamten Bevölkerungsmischung durch die vielfältigen Migrationsbewegungen während der Siedlungstätigkeit und im Kontakt mit der sorbischen Bevölkerung. Zu beachten sind ebenfalls die weitreichenden Handelsbeziehungen, das Kraftfeld des wettinischen Staates, die einigende Wirkung der Reformation, die Ausdehnung der meißnisch geprägten schriftsprachlichen Varietät und die daran geknüpfte neue Oralität einer ostmitteldeutschen Hochsprache. Bedeutsam ist auch die vom Bürgertum getragene ökonomische Prosperität und kulturelle Blüte wie auch die frühe Industrialisierung. All diese und weitere wirtschaftliche, politische und kulturelle Prozesse prägen die Interaktion im engeren und weiteren Kommunikationsraum. Diese Kommunikationsräume sind im spät besiedelten Ostmitteldeutschen von Anfang an weitläufiger gewesen als im alten Siedlungsgebiet, und das Kommunikationsnetz ist im wirtschaftlich starken Sachsen sehr schnell überdurchschnittlich dicht geworden. Demzufolge müssen für die gesamte Zeit unterschiedliche horizontale und vertikale Ausgleichs- und Abgrenzungsprozesse angesetzt werden, welche das gesamte Varianten- und Varietätenspektrum im Ostmitteldeutschen prägen. Diese Sprachdynamik hat unter den sich immer wieder ändernden Kommunikationsbedingungen zu verschiedenen sprachlichen Erscheinungsformen geführt, die sich nicht nur areal, sondern auch schon früh sozial und textsorten- bzw. diskursspezifisch unterscheiden, allerdings leider nur wenig, z. B. in Bittschriften (Hünecke 2012), oder indirekt, z. B. in literarischen Texten, dokumentiert sind. Vor einem solchen Hintergrund betont Lerchner (2003: 2762), dass sprachliche Ausgleichsformen im regionalsprachlichen Diasystem schon lange vor der Industrialisierung emergent wurden und nicht nur einseitig als Produkt eines vertikalen Ausgleichsvorgangs zwischen Schriftsprache und Mundart oder als ein horizontaler Ausgleich zwischen den Dialekten zu erklären seien. Lerchner greift damit die Frings’sche These des Dialektausgleichs auf, die als überholt gelten kann
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(Besch 2003). Allerdings weitet er diese dahingehend aus, dass die „Gesamtheit soziokultureller Parameter eines historisch gewachsenen Diasystems“ (Lerchner 2003: 2746) betrachtet wird. Ausgleichsprodukt ist damit nicht ein relativ einheitlicher obersächsischer Ausgleichsdialekt, wie er noch von Frings postuliert wurde. Vielmehr seien schon früh horizontale und vertikale Ausgleichsprozesse anzusetzen, die sich gegenseitig durchdringen. Horizontale Ausgleichsprozesse führen von kleineren zu etwas größeren Dialektarealen, wie sie noch bei Wenker sichtbar sind. Prozesse unter vertikaler Perspektive sind generell großräumig anzusetzen. Zudem sind die vertikalen Prozesse in zwei gegenläufige Phasen zu trennen. Die erste führt von einer dialektal geprägten Aussprache der Schriftsprache zur Oralisierungsnorm des regionalen Hochdeutsch. Erst wenn diese regionale Oralisierungsnorm eine gewisse Stabilität erreicht hat und ein größerer Teil der Bevölkerung auch über Kompetenzen in dieser Varietät verfügt, kann diese Hochsprache auf die Dialekte wirken. Dabei ist allerdings wohl der Einfluss der Hochsprache auf die dialektalen Strukturen nicht so bedeutsam; vielmehr führt die Hochsprachkompetenz der Sprecher dazu, dass sie die Dialekte ganz durch das prestigeträchtigere regionale Hochdeutsch ersetzen. Horizontale und vertikale Prozesse sind prinzipiell unabhängig voneinander, durchdringen sich aber gegenseitig und beeinflussen einander. Sprachdynamik ist dementsprechend nur in der gleichzeitigen Mitberücksichtigung horizontaler und vertikaler Prozesse zu betrachten. Die Theorie der Sprachdynamik (Schmidt & Herrgen 2011) geht von eben solchen kommunikativen Prozessen auf Mikro-, Meso- und Makroebene aus. Trotzdem hat die jüngere Erforschung der Sprachdynamik im Ostmitteldeutschen zuerst noch punktuelle Untersuchungen und damit den vertikalen Ausgleich ins Zentrum gestellt und steht so zuerst eigentlich in der Tradition der Erforschung der „Umgangssprache“, als Beispiel dafür wird anschließend Kehrein (2012) dargestellt. Erst die jüngsten Arbeiten berücksichtigen innerhalb des Ostmitteldeutschen auch den Raumaspekt, dafür wird unten Rocholl (2015) präsentiert. Zu den Arbeiten, die für das Ostmitteldeutsche punktuelle Untersuchungen vorlegen, gehört die für viele folgenden Analysen grundlegende Arbeit von Kehrein (2012), in der die linguistische Struktur der Vertikale von sieben Städten in Deutschland erfasst wird. Für den ostmitteldeutschen Raum steht die Stadt Dresden, aus der Aufnahmen von vier Gewährsleuten analysiert werden. An allen Aufnahmeorten werden in meist sechs formal unterschiedlichen Sprechsituationen Aufnahmen gemacht und deren phonetischer Abstand zum kodifizierten Standard gemessen, womit also an jedem Ort die vertikale Variation untersucht wird. Im Vergleich zu den anderen Untersuchungsorten zeichnen sich alle vier Dresdener Sprecher dadurch aus, dass zwischen den einzelnen Situationen eine extrem geringe Variation zu beobachten ist. Zudem weisen die Dresdener für die Erhebung der Standardsprachkompetenz von allen Sprechern den höchsten Abstand zur kodifizierten Standardaussprache aus. Auch zeigt sich, außer beim jüngsten Sprecher, dass nicht die Erhebung der Dialektkompetenz die größte Differenz zum kodifizierten Standard markiert wie in allen anderen Städten, sondern das Gespräch unter Freunden. Es ist sogar so, dass in der Dialektkompetenzerhebung ein gleich großer Abstand zum kodifizierten Standard erreicht wird, wie in der Standardkompetenzerhebung. Damit bestätigt sich der Befund der früheren Arbeiten, dass ostmitteldeutsche Sprecher nicht mehr über eine dialektale Kompetenz verfügen − und es zeigt sich auch, dass ihre Standardkompetenz ebenfalls eingeschränkt ist. Kehrein (2012: 223) schließt daraus, „dass das regionalsprachliche Spektrum in Dresden lediglich aus einer Varietät besteht“. Sprechlagenwech-
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sel werden innerhalb dieser Varietät durch Lautvarianten markiert, die jedoch nur lexemspezifisch vorkommen und nicht in einem (dialektalen) Lautsystem verankert sind. Die Ähnlichkeit des intendierten Dialekts und des intendierten Standards gegenüber einem standardferneren spontansprachlichen Sprechen erklärt Kehrein mit der erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber sprachlichen Phänomenen, welche formellere Formen stärken. Für Kehrein stehen die Sprecher aus Dresden für den gesamten ostmitteldeutschen Raum. Im Vergleich zu Dresden erscheint der Unterschied der Sprechlagen in Leipzig jedoch etwas ausgeprägter. Exemplarisch untersuchen Schaufuß & Siebenhaar (2012) die Realisierung der mittelhochdeutschen Diphthonge. Diese werden im intendierten Standard immer regelkonform verwendet, im intendierten Dialekt und auch im Interview erscheinen sie mit je unterschiedlich höherem Anteil standardabweichender Varianten. Aber auch in Leipzig erreichen diese Varianten nicht kategoriale dialektale Werte. Eine direkt mit Kehrein vergleichbare Studie in der Kleinstadt Oschatz, die zwischen Dresden und Leipzig liegt, präsentiert Schaufuß (2015). Auch hier steht der intendierte Dialekt näher am Standard als das spontansprachliche Interview, was zusammen mit der Inkonsistenz der Verwendung einzelner Variablen den Verlust des Dialekts bestätigt. Im Gegensatz zu den Dresdener Sprechern und wie die Leipziger ist der intendierte Standard der Oschatzer Sprecher aber deutlicher von den beiden anderen Sprechlagen geschieden. Die Inkonsistenz der Variablenverwendung erlaubt es aber auch für die Sprecher der Kleinstadt Oschatz nicht, von zwei Varietäten auszugehen. Siebenhaar (2014) untersucht nicht die Verwendung unterschiedlicher standardsprachlicher oder dialektaler Varianten lautlicher Variablen, sondern er analysiert instrumentalphonetisch die Artikulationsbasis der Monophthonge von zwölf Leipziger Frauen. Gegenüber der standardintendierten Aussprache werden sowohl die dialektintendierte wie auch spontansprachliche Aussprache zentralisiert. Die Tendenzen der Zentralisierung unterscheiden aber die intendierten Sprechlagen, so dass sich nicht deren Lautgrammatik, sondern deren generelle Klangfarbe unterscheidet. Im Gesamtbild dieser Arbeiten wird deutlich, dass die Aussprache von den Sprecherinnen und Sprechern beabsichtigt verändert wird, das lässt sich auch in den subjektiven Einschätzungen der Versuchspersonen erkennen, die in den genannten Arbeiten ebenfalls erhoben wurden. Unterschiede der Variantenwahl zeigen sich besonders zwischen intendiertem Standard und den anderen Erhebungssituationen. Intendierter Dialekt und Spontansprache unterscheiden sich dagegen weniger in der Variantenwahl, sondern vielmehr in einer veränderten Artikulationsbasis, d. h. in einem anderen Klang der Laute. Über diese punktuellen Untersuchungen hinaus geht Rocholl (2015), die explizit die horizontale und die vertikale Dimension im Ostmitteldeutschen in den Blick nimmt. Sie dokumentiert, dass die Aufgabe basisdialektaler Merkmale nicht notwendigerweise zu einer standardnäheren Form führt, sondern dass auch ursprünglich fremde standardferne Formen aus dem weiteren ostmitteldeutschen Raum aufgenommen werden, was eine Konvergenz am standardfernen Pol zur Folge hat. Beispielsweise verwenden Erfurter Sprecher heute die in früheren Aufnahmen nicht belegten obersächsisch-ostthüringischen Monophthonge, um den intendierten Ortsdialekt zu markieren. Sie nehmen damit die standardabweichende Form der Umgebung als eigene wahr, was einmal mehr den Abbau der Dialektkompetenz dokumentiert. In der Spontansprache kommen diese obersächsischen Monophthonge seltener vor, sie werden aber auch nicht vollständig unterdrückt. Generell sind altdialektale kleinräumige Unterscheidungsmerkmale zwischen Thüringisch und Obersächsisch, die in dialektologischen Arbeiten hervorgehoben wurden, heute
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in den großen Städten kaum mehr zu finden. Unterschiede finden sich vor allem noch im Gebrauch dialektaler Grundwörter bzw. deren regionaler Lautung, die allerdings häufig über ihr ursprüngliches Verteilungsgebiet hinaus ausstrahlen. So sind [ʊf] und [ɔf] ‘auf ’ oder [o:x] und [ɔx] ‘auch’ in allen Aufnahmen zu finden. Auch der unbestimmte Artikel ein oder das Indefinitpronomen kein sind heute fast durchgehend mit der obersächsisch-ostthüringischen n-Apokope als e ‘ein’ oder ke ‘kein’ gebräuchlich. Konvergenz zeigt sich auch in der heute weit über das Ostmitteldeutsche hinaus verbreiteten Koronalisierung von [ç] oder der hyperkorrekten Fortisierung von [b], [d] und [g] vor [l] und [ʁ] als Plumen, Traht oder Kleis ‘Blumen, Draht, Gleis’. Häufig können sich besonders diejenigen standardabweichenden Formen durchsetzen, die als lautliche Zwischenformen zwischen den mundartlichen und standardsprachlichen anzusetzen sind. Das gedehnte mhd. ë ist basisdialektal meist zu einem a-Laut gesenkt worden. Diese basisdialektale Form findet sich kaum mehr, vielmehr erscheint es z. B. in eben entweder als [e:] wie im Standard oder dann als [ɛ:], was als regiolektal zu werten ist. In den untersuchten größeren Städten Dresden, Gera und Erfurt liegt somit ein weitgehend identisches Varianteninventar mit obersächsischer Orientierung vor. Rocholl (2015) hält auch fest, dass die Sprecher aller Altersgruppen größtenteils nicht mehr in der Lage sind, intentional verschiedene Ausschnitte ihrer Kompetenz abzurufen, so dass der intendierte Ortsdialekt und der intendierte Standard zusammenfallen, was die Dresdener Ergebnisse von Kehrein (2012) für weitere ostmitteldeutsche Großstädte, Gera und Erfurt, bestätigt. Bestätigt wird auch für alle drei Städte, dass die spontansprachlichen Daten alle standardferner sind als die Daten der Kompetenzerhebung. Somit liegt in den ostmitteldeutschen Großstädten nur eine einzige Varietät mit geringer Sprechlagenvariation vor. Neben den Großstädten Dresden, Gera und Erfurt untersucht Rocholl auch die nordthüringische Kleinstadt Sondershausen und die vogtländische Kleinstadt Reichenbach. Hier lassen sich bei je einem älteren Sprecher noch eine bivarietäre Kompetenz in Dialekt und Regiolekt feststellen, während die jüngeren Sprecher auch nur über die eine regiolektale Varietät verfügen, die sich in ihrer Ausprägung nicht von derjenigen der Großstädter unterscheidet. Die im Kap. 3.2. genannte Unterscheidung zwischen Thüringisch und Obersächsisch wird somit in einer einzigen Varietät, dem Regiolekt, aufgelöst, der als Ostmitteldeutsch bezeichnet werden kann. Das Ergebnis wird auch durch wahrnehmungsdialektologische Studien von Anders (2010) und Purschke (2011) bestätigt. In beiden Studien zeigt sich, dass Laien klare Vorstellungen der Sprachgeographie haben, die sich im Falle der obersächsischen Studie von Anders auch im Wesentlichen mit der dialektologischen Strukturierung deckt. Laien haben also Dialektkonzepte, die den wissenschaftlichen Dialekteinteilungen auf der Basis der um 1880 erhobenen Daten entsprechen. Wenn Laien aber aktuelle Hörproben aus den verschiedenen Regionen vorgelegt werden, so werden nur die Randmundarten Erzgebirgisch, Vogtländisch und Lausitzisch einigermaßen korrekt zugeordnet. Die Aufnahmen aus dem Osterländischen (Leipzig), Meißnischen (Dresden) und Vorerzgebirgischen (Chemnitz) werden dagegen nur selten korrekt erkannt, sie werden sogar überdurchschnittlich oft dem eigenen Dialektraum zugeordnet. Die Dialektkonzepte sind also instabil. Entsprechende Resultate zeigen sich für den gesamten ostmitteldeutschen Raum auch bei Purschke (2011). Er legt seinen Versuchspersonen Aufnahmen vor, die auf der Strecke zwischen Erfurt und Dresden erhoben worden sind; die Versuchspersonen sollten diese dem Thüringischen oder Obersächsischen zuordnen. Obwohl die Versuchspersonen angeben, die beiden Gebiete sprachlich auseinander halten zu können, liegt die Erken-
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nenswahrscheinlichkeit lediglich bei 55 %. Auch hier wird also deutlich, dass sich die ursprünglichen Dialektgebiete nicht mehr trennen lassen und sie auch perzeptiv von einem ostmitteldeutschen Regiolekt abgelöst worden sind. Die verschiedenen neuesten Studien zum ostmitteldeutschen Kerngebiet zeigen also durchgehend eine Ablösung der basisdialektalen Gliederung durch einen ostmitteldeutschen Regiolekt, der sich zwischen Dresden und Erfurt durch eine relative Einheitlichkeit auszeichnet, welche auf lautlicher und auch morphologischer Ebene dokumentiert ist. Laien können rezente Aufnahmen auch nicht mehr regional zuordnen, obwohl die alten Dialektkonzepte mit ihrer Regionalität noch präsent sind. Diese horizontale Einheitlichkeit ist gleichzeitig durch eine vertikale Einheitlichkeit geprägt. Unterhalb des „guten Hochdeutsch“, das für distanzsprachliche Kommunikation genutzt wird, gibt es ein „normales Hochdeutsch“ (Purschke 2011: 306), das für die Nähekommunikation genutzt wird. Dieses normale Hochdeutsch ist perzeptiv und variationslinguistisch deutlich vom guten Hochdeutsch getrennt und wird damit als regionalsprachlich bezeichnet. Innerhalb dieser Regionalsprache, die von vielen Sprechern auch in formalen Situationen nicht verlassen wird, zeigt sich zudem kaum Variation, so dass die Sprecher als monovarietär gelten können. Da, wo Variation noch sichtbar wird, zeigt sie sich auf lexikalischer Ebene als lexemspezifische Lautvarianten. Dabei finden sich in hochfrequenten Wörtern sehr häufig noch die ursprünglich dialektalen Formen (weeß ‘weiß’, ooch ‘auch’). Zudem werden Sprechlagen durch eine veränderte Artikulationsbasis markiert, die aber kaum systemrelevante Differenzierungen erlaubt. Diese Regionalsprachenforschung, welche sowohl horizontale wie auch vertikale Variation und deren Veränderungen in den Blick rückt, beruht zwar auf den alten dialektologischen Arbeiten, die auch die Umgangssprache differenziert behandeln, ist insgesamt jedoch noch relativ jung. Dementsprechend sind die Arbeiten erst auf die zentralen Bereiche des Ostmitteldeutschen beschränkt. Die Randgebiete im Norden und Süden, welche die Grenzen zum Ostfränkischen bzw. Südmärkisch-Brandenburgischen und Ostfälischen darstellen sowie das Lausitzische, das heute als Grenzdialekt nicht mehr zum Schlesischen, sondern zum Slawischen gilt, wie auch die Grenze zum Hessischen sind bislang noch kaum erforscht. Die Randlage und die häufig noch tiefere Dialektalität lassen darauf schließen, dass die Ablösung des Dialekts dort noch nicht so weit fortgeschritten ist, belegt ist das jedoch noch kaum. Erste noch unsystematische Hinweise dafür finden sich bei Hünecke, Koch & Koch (2012), wo öffentliche Beiträge von Opfern, die die Flutkatastrophe von 2002 kommentieren, analysiert werden. In dieser Hinsicht bleibt bei der Neukonzeption von ostmitteldeutscher Regionalsprache statt Dialekten, die die aktuellen Arbeiten dokumentieren, noch viel zu tun, um die (geographischen) Grenzen dieser Regionalsprache zu erfassen.
Dank Zum Schluss sei Matthias Hahn, dem REDE-Team und Alfred Lameli ein spezieller Dank ausgesprochen, Matthias Hahn und dem REDE-Team für die Karten und Alfred Lameli für die Daten seiner Habilitationsschrift, die hier nochmals neu ausgewertet werden konnten.
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Einleitung Geschichte und Besonderheiten Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie
5. Basisdialektale Raumstruktur: Syntax 6. Wandel und vertikale Register 7. Literatur
1. Einleitung Die drei nach Wiesinger (1983a) als Hessisch zusammengefassten Dialektverbände Zentralhessisch, Osthessisch und Nordhessisch werden im Norden durch das Niederdeutsche (Westfälisch und Ostfälisch), im Osten durch das Thüringische und Ostfränkische, im Süden durch das Rheinfränkische und im Westen durch das Moselfränkische begrenzt. Vom Niederdeutschen abgesehen bestehen zu allen benachbarten Dialekträumen mehr oder weniger große Übergangsgebiete, was auch für die Abgrenzungen der drei hessischen Dialektverbände untereinander gilt. Mit Ausnahme weniger kleinerer Räume sowie einiger Übergangsgebiete sind die hessischen Dialekte im Sinne Wiesingers fast ausschließlich in der Mitte und im Norden des in der heutigen Form erst seit nach dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Bundeslandes Hessen beheimatet. Forschungsgeschichtlich ist die Annahme eigenständiger hessischer Dialekte relativ jung: Zwar sieht bereits Bremer (1892: 31) trotz des im Vergleich zum Rheinfränkischen gleichen Standes bezüglich der Zweiten Lautverschiebung im Hessischen „im engern Sinne“ − worunter in der Terminologie Wiesingers in etwa das Nord- und Osthessische zu verstehen ist (wogegen „Wetterauisch“, „Nassauisch einschließlich Gießen“ und „Oberhessisch um Marburg und an der Ohme“ dem Rheinfränkischen zugerechnet werden) − „eine besondere Hauptmundart“, allerdings sind die zu dieser Einschätzung führenden Kriterien wenig explizit (vgl. Wiesinger 1980: 70 = 2017: 162). Nach Bremer nimmt https://doi.org/10.1515/9783110261295-014
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erst wieder Wiesinger (1970) eine gegenüber dem Rheinfränkischen eigene Einheit an, indem er „Hessisch“ (vgl. Wiesinger 1970: 326−327) bzw. „Ost- und Nordhessisch“ (vgl. Wiesinger 1970: 335−336) dem Rheinfränkischen (und weiteren mitteldeutschen Mundarten) gegenüberstellt (dabei stellt Wiesinger 1970 das Ost- und Nordhessische zum Thüringischen). Frühere Klassifikationen, etwa durch Ferdinand Wrede, rechnen die hessischen Dialekte als „Nordrheinfränkisch (Hessisch)“ (Wrede, Mitzka & Martin 1937: 250 = Deutscher Sprachatlas [DSA]: 26, mit Kt. 56) dem Rheinfränkischen zu, was sich sachlich gleich, jedoch teilweise mit anderer Terminologie, auch in vielen weiteren Klassifikationen findet (vgl. Wiesinger 1980: 69 = 2017: 160). Die hier verwendete Terminologie mit den drei eigenständigen Räumen Zentral-, Ostund Nordhessisch ist von Wiesinger (1980) vorgelegt worden, der sie für seine Gesamteinteilung der deutschen Dialekte (Wiesinger 1983a: 849−855) übernimmt. Im Folgenden wird Wiesingers auf systemischen (vor allem vokalischen) Kriterien beruhende Klassifikation, die als etabliert gelten darf, im Prinzip übernommen. Ihre Validität wird etwa durch Lameli (2013: 161) aufgrund seiner raumstrukturellen Analysen bestätigt. Anhand eines anderen Verfahrens, das eine globale Perspektive auf Dialekt-Ähnlichkeiten ermöglicht, ergibt sich ebenfalls eine weitgehende Bestätigung der Klassifikation Wiesingers: Für ein opportunistisch zusammengestelltes Korpus von 127 vollständigen hessischen Transliterationen aller 40 Sätze Georg Wenkers aus den Erhebungen für den Sprachatlas des Deutschen Reichs (WA) wurden sog. Buchstaben-N-Gramme erstellt, d. h. Folgen von n Zeichen, in unserem Fall: Folgen von drei Zeichen (sog. Trigramme) inklusive Leerzeichen. Durch die Bewahrung von Leerzeichen wird gewährleistet, dass charakteristische Auslautkontexte, etwa erhaltene Schwa-Silben auf -e oder -(e)n, erfasst werden. Danach wurde die Frequenz der jeweiligen Trigramme in jedem Wenkerbogen gezählt (dabei wurden Formulare der süddeutschen Erhebung 1887/1888, die für die hessischen Dialekte nur in wenigen Fällen eine Rolle spielt, aus dem Korpus ausgeschlossen; vgl. Fleischer 2017a: 29 u. 54 zu den Unterschieden dieser gegenüber den früheren Erhebungen). Die Materialauswahl gewährleistet, dass sehr gut vergleichbare (und unter vergleichbaren Bedingungen entstandene) Primärdaten analysiert werden, wobei diese allerdings nicht phonetisch exakt sind, sondern Laien-Verschriftungen darstellen. Für jeden Ort wurde eine Frequenzliste erstellt und der Abstand zwischen diesen wurde sodann anhand einer sog. Cosinus-Distanz berechnet. Auf diese Weise ergibt sich ein Abstandsmaß zwischen den einzelnen Versionen der Wenkersätze. Dabei kommen lautliche Unterschiede zwischen Dialekten, sofern sie in den Laien-Graphien repräsentiert sind, in den N-Gramm-Analysen besonders zum Tragen, aber auch morphologische und lexikalische Unterschiede, die sich in unterschiedlichen Frequenzen von Buchstaben-Verbindungen niederschlagen, werden erfasst, dagegen wirken sich Unterschiede in der Wortstellung kaum aus (zu weiteren germanistischen Anwendungen dieser v. a. in der Computerlinguistik verbreiteten Methode vgl. Dipper & Schrader 2008, Dipper 2016 und Birkenes i. V., letztere Arbeit insbesondere auch zum hier verwendeten dialektologischen Verfahren). Zur Visualisierung der aus den Trigrammanalysen entstandenen Abstandsmessungen wurden anschließend nach der Methode von Heeringa (2004) die ersten drei Dimensionen der Variation nach einer Multidimensionalen Skalierung (MDS) auf eine Farbskala der drei Grundfarben abgebildet; ähnliche Farbtöne stehen somit für höhere Ähnlichkeit der entsprechenden Versionen der 40 Sätze Georg Wenkers (abweichend von Heeringa 2004 arbeiten wir dabei mit Ortspunkten statt mit Voronoi-Polygonen). Wie Kt. 14.1 (deren Hintergrund die Einteilung von Wiesinger 1983a bildet) zeigt, deckt
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
Kt. 14.1: Abstandsmessung aufgrund von Trigrammanalysen von 127 Versionen der Wenkersätze (Visualisierung in Anlehnung an Heeringa 2004, Hintergrund: Einteilung der deutschen Dialekte nach Wiesinger 1983a)
sich das Resultat relativ gut mit Wiesingers Klassifikation: Die drei Großräume Zentralhessisch, Osthessisch und Nordhessisch entsprechen jeweils einem eigenen Farbraum. Gegenüber Wiesinger deutet sich aber ein Übergangsraum in der Schwalm (bei Wiesinger: südlicher Ausläufer des Nordhessischen) an, bei dem die Orte jeweils Affinitäten zu allen drei Dialektverbänden zeigen. Bei einem hierarchischen Clustering (Ward-Algorithmus) erweist sich die durch den nordhessischen Raum verlaufende Grenze als besonders wichtig: sie erscheint bei einer 2-Cluster-Lösung (vgl. Kt. 14.2). Das nördliche Nordhessische scheint somit besonders eigenständig zu sein. Die sich aus Trigrammanalysen ergebenden Räume bestätigen sich in qualitativer Hinsicht bei mehreren der unten diskutierten Phänomene. Die Abgrenzung des nördlichen Nordhessischen korreliert relativ gut mit der Apokope-Grenze (vgl. Kap. 3.1.) und mit der Verbreitung des Schwunds des auslautenden -n (vgl. Kap. 3.2.); diese lautlichen Entwicklungen haben beide auch morphologische Konsequenzen. Die Schwalm erweist sich bei vielen Phänomenen als eigenständiger, doch nicht völlig homogener (Übergangs-)Raum zwischen Zentral- und Nordhessisch; das Osthessische erscheint bei vielen
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Kt. 14.2: 2-Cluster-Lösung (Ward-Algorithmus) aufgrund von Trigrammanalysen von 127 Versionen der Wenkersätze (Hintergrund: Einteilung der deutschen Dialekte nach Wiesinger 1983a)
Einzelphänomenen besonders eigenständig. Auch in der dialektologisch-grammatischen Literatur sind Charakterisierungen als Übergangslandschaft vorzufinden: So sieht etwa Schoof (1914: 9) in der Schwalm „eine interessante Grenzmundart zwischen Ober- und Niederhessisch“, wobei „das Oberhessische“ darin überwiege. Auf der Basis unserer Trigrammanalysen werden im Folgenden, gegen die Abfolge von Wiesinger (1983a), nordhessische jeweils vor osthessischen Formen aufgeführt, wenn sich aufgrund dialektaler Gemeinsamkeiten und Unterschiede keine andere Abfolge anbietet. Es bleibt künftiger Forschung überlassen zu eruieren, inwiefern sich diese sich aus Trigrammanalysen ergebenden Räume erhärten lassen. Neben der von Wiesinger (1980, 1983a) vorgeschlagenen Terminologie verwendet u. a. Friebertshäuser (etwa Friebertshäuser 1987: 52−53; vgl. z. B. auch Dingeldein 1989: 27−29 mit Kt. und Friebertshäuser 2004: 21 sowie 16 [Kt.]) eine alternative Terminologie, die sich an den üblichen Landschaftsbezeichnungen orientiert und in der Wiesingers Zentralhessisch in etwa dem als „Mittelhessisch“ und Wiesingers Nordhessisch in etwa dem als „Niederhessisch“ bezeichneten Raum entspricht, wogegen die Bezeichnung „Osthessisch“ identisch ist. Da diese Klassifikation mit der Einteilung Wiesingers (1983a) weitgehend koextensiv ist, wird sie im Folgenden, wo entsprechende Arbeiten
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
zitiert werden, durch Wiesingers Terminologie ersetzt. In der älteren Literatur findet sich nicht selten auch eine Zweiteilung in „Oberhessisch“ und „Niederhessisch“ (etwa bei Reis 1910 oder Schirmunski 1962), wobei dann für „Niederhessisch“ in der Regel eine weitere areale Ausdehnung anzusetzen ist als für das „Niederhessische“ im Sinne Friebertshäusers. Die bei Reis (1910) angenommene Verbreitung des „Oberhessischen“ entspricht dem Zentralhessischen Wiesingers einschließlich des (süd-)westlichen Nordhessischen und des westlichen Osthessischen, wogegen „Niederhessisch“ Wiesingers Ost- und östlichem Nordhessischen entspricht (vgl. Reis 1910: 11−12). Auch die von Schirmunski (1962: 636) dem „Oberhessischen“ zugeordneten Dialektgrammatiken erstrecken sich im Wesentlichen auf Wiesingers „Zentralhessisch“, umfassen aber auch Übergangsgebiete zum und südliche Teile des Nordhessischen (z. B. die Schwalm oder die Gegend um Alsfeld, die bei Wiesinger zum Nordhessischen gerechnet wird) sowie Teile des zentralhessisch-osthessischen Übergangsgebiets im Vogelsberg. Charakteristisch für die älteren Klassifikationen (inklusive Wiesinger 1970) ist dabei, dass keine primäre Unterteilung in drei Entitäten, sondern eine binäre Gliederung vorgenommen wird, wobei aber bestimmte Räume je nach Unterteilung verschiedenen Gruppen angeschlossen werden. Neben sachlichen Unterschieden in der Dialektklassifikation kann auch die Tatsache, dass „hessisch“ in vielen Fällen nicht die hessischen Dialekte im hier verstandenen Sinn bezeichnet, zu terminologischen Problemen führen: Bezieht sich „hessisch“ auf die Dialekte des modernen Bundeslandes Hessen − dies gilt etwa für die Daten des Projekts Syntax hessischer Dialekte (SyHD; vgl. Kap. 2.) −, werden neben zentral-, nord- und osthessischen auch rheinfränkische sowie west- und ostfälische Dialekte (und Übergangsgebiete zu weiteren Dialektverbänden) abgedeckt. Die im Süden des Bundeslandes Hessen beheimateten rheinfränkischen Dialekte werden auch jenseits rein administrativ orientierter Benennungen nicht selten als „südhessisch“ bezeichnet (vgl. Herrgen & Vorberger, Art. 15 in diesem Band). Auch das „Neuhessische“ als eine im Ballungsraum des Rhein-Main-Gebiets verankerte Varietät (vgl. Dingeldein 1994; Herrgen & Vorberger, Art. 15 in diesem Band; Vorberger 2019) ist gerade nicht durch die hessischen Basisdialekte geprägt. Aus diesem Grund würde es sinnvoll scheinen, den Terminus „Neuhessisch“ zu vermeiden (vgl. Vorberger 2019: 377). Da der Terminus in der Literatur jedoch etabliert ist und da sich ein Bezug zu den hessischen Dialekträumen sekundär dadurch ergibt, dass das „Neuhessische“ zumindest im Gebiet des südlichen Zentralhessischen prägend wirkt (vgl. Kap. 6.), wird im Folgenden am Terminus „Neuhessisch“ (in der Regel in Anführungszeichen) festgehalten. In der Konzeptualisierung durch Laien werden mit „Hessisch“ weniger die zentral-, nord- und osthessischen Basisdialekte, sondern vielmehr das im Süden des Bundeslandes Hessen beheimatete Rheinfränkische und vor allem das „Neuhessische“, mit dem „das Hessische“ in der überregionalen Wahrnehmung in der Regel pauschal gleichgesetzt wird (vgl. Purschke 2008: 185, 2011: 156; Vorberger 2019: 11–12), assoziiert: Auf die entsprechende Frage im Hessischen Dialektzensus (HDZ [Friebertshäuser & Dingeldein 1989]; vgl. Kap. 2.), der sich auf das Bundesland Hessen bezieht und somit auch rheinfränkische und niederdeutsche Gebiete abdeckt, bezeichneten insgesamt 42 % der Befragten den in ihrer Gegend gesprochenen Dialekt als „hessisch“, allerdings geschah dies am häufigsten gerade im Rhein-Main-Gebiet (51 %), d. h. im Kerngebiet des „Neuhessischen“; mit 44 % für das Zentralhessische erweist sich diese Bezeichnung dort noch als relativ gut verankert (was, mit genau dem gleichen prozentualen Anteil, auch für das rheinfränkische „Südhessische“ gilt), sie ist mit 28 % bzw. 22 % im Nordhessischen bzw.
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Kt. 14.3: Bezeichnungen der Basisdialekte im Bundesland Hessen (SyHD, direkte Erhebung; Hintergrund: Dialekteinteilung nach Wiesinger 1983a und Grenzen des Bundeslandes Hessen)
Osthessischen dagegen deutlich weniger weit verbreitet (Friebertshäuser & Dingeldein 1989: Kt. 15). Dass sich moderne Laienkonzepte des „Hessischen“ nicht an den hessischen Basisdialekten, sondern am rheinfränkisch geprägtem „Neuhessischen“ orientieren, ergibt sich auch aus der Analyse von Imitationsdaten (Purschke 2010; vgl. Kap. 6.). Die hessischen Basisdialekte werden von den Sprechern in der Regel als „Platt“ bezeichnet, wie Kt. 14.3 illustriert (erstellt anhand von Daten der direkten SyHD-Erhebung, vgl. Kap. 2.; die entsprechende Karte im Atlas zur deutschen Alltagssprache [AdA: Runde 1, Frage 20] weist gerade für die hessischen Räume nur wenige Datenpunkte auf, bestätigt aber, soweit Antworten vorhanden sind, das Bild der SyHD-Daten). Die Karte zeigt außerdem, dass im rheinfränkischen Süden des Bundeslandes Hessen die Bezeichnung „Dialekt“ weiter verbreitet ist (die Bezeichnung „Plattdeutsch“ wurde ausschließlich in niederdeutschen Gebieten und damit nicht im Bereich der hessischen Basisdialekte genannt). Zur genaueren Spezifizierung werden in der Regel lokale oder kleinregionale Bezeichnungen verwendet („Hersfelder Platt“, „Fuldisch Platt“; vgl. Friebertshäuser & Dingeldein 1989: Kt. 15).
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
2. Geschichte und Besonderheiten Für das Hessische ist zunächst eine Orientierung nach Westen zum Moselfränkischen anzunehmen. Bei Formen wie dęrə ‘dass er’ (um Wetzlar) und bǫrə ‘was er’ (um Rotenburg/Fulda) handelt es sich vielleicht um Reflexe der nicht durchgeführten Verschiebung von germ. *-t in pronominalen Formen (in denen dann der in den hessischen Dialekten weit verbreitete Rhotazismus gegriffen hätte; vgl. Kap. 3.2.), wie sie im Moselfränkischen üblich sind (vgl. Wiesinger 1980: 131 = 2017: 213; Wiesinger 1983a: 850). In mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Urkunden lassen sich unverschobene Formen nördlich des Mains nachweisen, als letzte findet sich dit bis ins 16. Jahrhundert hinein etwa in Frankfurter Quellen (vgl. Ramge 2003: 2732). In der weiteren Entwicklung bleibt das Zentralhessische mit dem Moselfränkischen stärker verbunden, wogegen sich das Nord- und Osthessische stärker nach Osten (zum Ostfränkischen bzw. Thüringischen) orientieren (vgl. Wiesinger 1980: 133, 136 u. 141− 142 = 2017: 215, 220 u. 226−228; vgl. auch Lameli 2013: 194). Nach Freiling (1924: 208) und Maurer (1929: 105) waren verschiedene hessische Merkmale in älterer Zeit im Vergleich zum Stand, wie er in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts dokumentiert wurde, ursprünglich deutlich weiter nach Süden verbreitet, wurden dann aber zugunsten von rheinfränkisch geprägten Formen (die zugleich meist näher am Hochdeutschen liegen) aufgegeben. Dieser Rückgang hessischer Formen findet auch in jüngeren Entwicklungen eine direkte Fortsetzung (vgl. Kap. 6.). In der dialektgrammatischen Forschung sind die hessischen Dialekte auf weniger Interesse gestoßen als andere Dialektverbände: Zu Beginn der 1980er Jahre verzeichnet die Bibliographie von Wiesinger & Raffin (1982) 124 Titel zu Zentral-, Ost- und Nordhessisch zusammengenommen (Nummern 2273−2396) gegenüber 206 Arbeiten zum Rheinfränkischen allein (Nummern 2067−2272). Einen Forschungsüberblick zum Zentralhessischen bietet Dingeldein (1989: 11−23), Vorberger (2019: 67–79) gibt eine konzise Darstellung der jüngeren Forschung. In die Fläche gehende Daten wurden für die hessischen Dialekte neben den auf größere Räume ausgerichteten Atlanten wie Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs (WA; die hessischen Daten gehen mehrheitlich auf die erste, 1879/1880 erfolgte Erhebung zurück) oder Mitzkas Deutschem Wortatlas (DWA), die die hessischen Dialekträume vollständig abdecken, erstmals für das von Ferdinand Wrede begründete Hessen-Nassauische Volkswörterbuch (HNWB) erhoben, in dessen Rahmen in den 1910er und 1920er Jahren mehrere Fragebogen, in erster Linie an Lehrer, verschickt wurden (vgl. Friebertshäuser 1976: 95−96) und die teilweise in Karten und Artikel des HNWB Eingang gefunden haben. Für regiolektale Register bestehen Atlanten zur Wortgeographie der Alltagssprache in städtischen (Friebertshäuser & Dingeldein 1988; Dingeldein 1991) und ländlichen Räumen (Dingeldein 2010). Daten zur Verbreitung, zum Gebrauch und zur Bewertung der Dialekte des Bundeslandes Hessen wurden im Rahmen des Hessischen Dialektzensus (HDZ), dessen Resultate ebenfalls in Atlas-Form vorliegen (Friebertshäuser & Dingeldein 1989), erhoben. Das über die Forschungsplattform Regionalsprache.de (REDE) verfügbare, zu Beginn der 1980er Jahre erstellte Tonarchiv hessischer Dialekte (vgl. Deutscher Sprachatlas − Wissenschaftlicher Bericht 1992: 80; Dingeldein 1994: 279), das Tonaufnahmen der Wenkersätze und freie Texte bietet, wie auch die zum größten Teil aus den 1950er Jahren stammenden Zwirner-Aufnahmen, scheinen bisher in Bezug auf die hessischen Dialekte nicht systematisch ausgewertet worden zu sein.
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Für die basisdialektale Syntax stehen die im Rahmen des Projekts Syntax hessischer Dialekte (SyHD) indirekt und direkt erhobenen Daten (vgl. Fleischer, Lenz & Weiß 2015) über die Forschungsplattform SyHD.info zur Verfügung. Bei der indirekten SyHDErhebung wurden pro Ort jeweils mehrere Gewährspersonen dokumentiert, die direkte Erhebung beschränkte sich dagegen auf eine Person pro Ort. Zentrale Resultate sind in SyHD-atlas, einem an traditionelle Sprachatlanten angelehnten Format, zusammengefasst (Fleischer, Lenz & Weiß 2017b). Im vorliegenden Überblick werden zur Illustration teilweise dialektale Beispiele von SyHD-Gewährspersonen angeführt. Dabei kommt die in SyHD-atlas verwendete Zitierung der Orte und Gewährspersonen (vgl. Fleischer, Lenz & Weiß 2017a: 7) und Erhebungen (vgl. Fleischer, Lenz & Weiß 2017a: 9) zur Anwendung. Da sich die bisherige Forschung zu den hessischen Räumen, von der hier nicht behandelten Lexik abgesehen, vor allem auf lautliche Phänomene bezieht, legt unsere Darstellung der basisdialektalen Strukturen einen gewissen Schwerpunkt auf morphologische und syntaktische Phänomene, wobei wir häufiger auf eigene Auswertungen zurückgreifen. Dabei werden in erster Linie die zentral-, nord- und osthessischen Kerngebiete abgedeckt, jedoch fallweise auch Beschreibungen, die sich auf Übergangsgebiete beziehen, berücksichtigt. Generell ist die Perspektive auf die hessischen Dialektverbände fokussiert: Wenn im Folgenden ein bestimmtes sprachliches Phänomen als „charakteristisch“ für einen oder mehrere der hessischen Dialektverbände bezeichnet wird, bedeutet dies nicht, dass es außerhalb der hessischen Dialekte nicht ebenso vorkommen kann (dies gilt etwa für die „gestürzten Diphthonge“, die sich in vergleichbarer Weise auch im Nordbairischen finden, oder für die Verwendung des Reflexivpronomens sich bei einem Subjekt der 1. Person Plural, die auch in bestimmten bairischen und niederdeutschen Dialekten auftritt, was aber in den folgenden Kapiteln jeweils nicht thematisiert wird). Auf Fortsetzungen bestimmter Phänomene in angrenzenden Dialektverbänden wird jedoch gelegentlich hingewiesen, wo dies geboten erscheint.
3. Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Obwohl die Zweite Lautverschiebung in der älteren Forschung als wichtigstes Kriterium zur Einteilung der deutschen Dialekte galt, werden heute mit Wiesinger (1983a) die Unterschiede im Vokalismus als bedeutsamer eingeschätzt; dies hat auch für die Klassifikation der hessischen Dialekte Konsequenzen (vgl. Wiesinger 1980: 121 = 2017: 201; Friebertshäuser 1987: 73). Die Lautverschiebungsgrenzen werden nach wie vor für die Abgrenzung der hessischen Dialekte nach außen verwendet: Die nördlich von Frankenberg und Kassel durch das ehemalige Fürstentum Waldeck verlaufende Benrather Linie (maken−machen) grenzt das Nordhessische vom Niederdeutschen (Westfälisch und Ostfälisch) ab. Dabei tritt nach Ausweis der Wenker-Materialien in wenigen Orten „moselfränkischer“ Lautstand auf, indem die pronominalen Formen es, das und was unverschoben sind (wogegen beim starken Adjektiv liebes uneinheitliche Formen vorkommen), ansonsten aber die für hessische Dialekte üblichen verschobenen Formen auftreten, etwa machen, Wasser, Dorf (der Lautstand dieser „nordhessischen Ausbuchtung“ der Benrather Linie wird durch die Wenkerformulare 24499 Neukirchen, 24503 Sachsenberg und 24508 Oberorke dokumentiert und durch 1959/1960 direkt erhobene Materialien bestä-
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
tigt (Möhn 1962: 152 u. Kt. 68; vgl. Martin 1925: 129 sowie Möhn 1962: 146–153 u. Kt. 58–67 für weitere unerwartete Formen an der Lautverschiebungsgrenze). Im Osten trennt die Pund−(P)fund-Linie das Nordhessische und Osthessische vom Ostmitteldeutschen und Ostfränkischen (allerdings ist der Verlauf dieser Isoglosse nicht völlig deckungsgleich mit der von Wiesinger 1983a angegebenen arealen Ausdehnung des Osthessischen). Im Westen grenzt die Hunsrück-Barriere (dat−das) das Moselfränkische vom Zentralhessischen ab (vgl. Kap. 2. für mögliche Relikte unverschobener Formen). Allerdings verläuft zwischen dem Zentralhessischen und dem Rheinfränkischen keine Lautverschiebungsgrenze, was eine Abgrenzung anhand dieses Kriteriums unmöglich macht und in der älteren Forschung zur Einstufung der hessischen Dialekte als „(Nord-)Rheinfränkisch“ geführt hat (vgl. Kap. 1.). Hinzu kommt, dass auch andere konsonantische Isoglossen (wie etwa die fest−fescht-Linie) problematisch sind (s. Herrgen & Vorberger, Art. 15 in diesem Band). Im Folgenden werden einige Phänomene des Vokalismus und Konsonantismus diskutiert, die für die hessischen Dialekte charakteristisch sind und die teilweise eine Binnendifferenzierung erlauben. Der zentralhessische Raum erweist sich gegenüber einem rekonstruierten westgermanischen Lautstand als am innovativsten, während es zwischen Nord- und Osthessisch viele Überschneidungen gibt. Das Osthessische hat mit Blick auf den Haupttonvokalismus als am konservativsten zu gelten.
3.1. Vokalismus Die Phänomene, die im Folgenden vorgestellt werden, können nur grob umrissen werden. Für eine ausführlichere Beschreibung sei auf Wiesinger (1970, 1980, 1983a: 849− 855) verwiesen; ein knapper Überblick findet sich in Durrell & Davies (1990: 218−223). Vokalphonemsysteme für hessische Dialekte aufzustellen ist problematisch: Die Phoneminventare in der Literatur (etwa bei Hall 1973: 16 u. 35 für das Zentralhessische, Arend 1991: 158−159 für das Nordhessische, Wegera 1977: 54 für das Osthessische) basieren auf Sekundärauswertungen älterer, prä-phonologischer Literatur (etwa auf Soost 1920 bei Arend 1991) bzw. auf historischer Rekonstruktion (Wiesinger 1983b: 1057). Nach diesen Analysen weisen alle hessischen Dialekte im Bereich der mittleren Vorderzungenvokale sowohl Längen- als auch Öffnungskontraste auf. Das südöstliche Osthessische hat aufgrund der Bewahrung der gerundeten Vorderzungenvokale ein größeres Phoneminventar im Kurz- und Langvokalismus als das restliche Ost-, Nord- und Zentralhessische. Das Nordhessische ist dadurch gekennzeichnet, dass bei den kurzen und langen o-Lauten nur ein phonemischer Öffnungsgrad angesetzt wird (Arend 1991: 158−159), womit weniger phonemische Kontraste vorliegen als im Zentral- und Osthessischen. Allerdings ist gerade die Anzahl der o-Phoneme für die zentral- und osthessischen Dialekte problematisch: Hall (1973: 17) nimmt für das Zentralhessische eine phonemische Opposition an, ohne jedoch dafür Minimalpaare anführen zu können. Für das Osthessische bietet Wegera (1977) widersprüchliche Angaben (vgl. schon Guentherodt 1980: 372, die ausführt, dass unklar ist, inwieweit eine Minimalpaaranalyse durchgeführt wurde): So bleibt offen, ob [o] und [ɔ] als Allophone eines Phonems /ǫ/ zu bewerten sind (vgl. Wegera 1977: 53) oder ob zwei Phoneme /o/ und /ǫ/ (vgl. Wegera 1977: 54) angesetzt werden sollten. Synchrone phonologische Analysen hessischer Vo-
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kalsysteme bleiben somit ein Desiderat. Im Folgenden beschränken wir uns darauf, ausgewählte diachrone Entwicklungen zu skizzieren. Im Kurzvokalismus sind Senkungen von mhd. i bzw. entrundetem i < mhd. ü zu e und mhd. u zu o für alle hessischen Dialekte charakteristisch (vgl. z. B. zentralhessisch belt ‘Bild’ oder pont ‘Pfund’, Bender 1938: 19 u. 21 für Ebsdorf; nordhessisch dendə ‘Tinte’ oder lost ‘Lust’, Hofmann 1926: 17 für Oberellenbach; osthessisch beld ‘Bild’, pond ‘Pfund’, Noack 1938: 15−16 für Fulda). Typisch für das Zentralhessische ist dabei in bestimmten Fällen eine Diphthongierung zu eə, vgl. für Ebsdorf etwa keənd ‘Kind’ (Haas 1988: 86); der Monophthong e findet sich in ehemals umlautbewirkender, der Diphthong eə in ehemals umlautloser Umgebung (diese unterschiedlichen Diaphoneme werden von Wiesinger als i1 und i2 bezeichnet; vgl. im Einzelnen Wiesinger 1980: 74 = 2017: 167, 1983a: 851). Bei der Entwicklung der drei kurzen mittelhochdeutschen e-Phoneme (germanisches ë, Primärumlaut ė, Sekundärumlaut ä; vgl. Paul 2007: 87 = § L 28) treten charakteristische Unterschiede auf: Im Zentralhessischen sind Primär- und Sekundärumlaut zusammengefallen (vgl. Wiesinger 1983a: 1069), während sich mhd. ë meist als Diphthong findet: In Selters zeigt fęald ‘Feld’ (mhd. ë; Schwing 1921: 25) einen anderen Vokal als sędsə ‘setzen’ (mhd. ė; Schwing 1921: 21) und šwęχər ‘schwächer’ (mhd. ä; Schwing 1921: 21). Im Nordhessischen findet sich Zusammenfall von mhd. ë und ä in einen Vokal, der gegenüber dem auf mhd. ė zurückgehenden Vokal tiefer ist. So stehen in Oberellenbach fąlt ‘Feld’ (mhd. ë) und hąχt ‘Hecht’ (mhd. ä) bęt ‘Bett’ (mhd. ė) gegenüber (vgl. Hofmann 1926: 16). Im Osthessischen ist hingegen Zusammenfall aller drei Diaphoneme eingetreten (vgl. Wiesinger 1983a: 852), etwa in Fulda fędsə ‘Fetzen’ (mhd. ë), ębəl ‘Äpfel’ (mhd. ė), nęχd ‘Nächte’ (mhd. ä; vgl. Noack 1938: 14). Allgemein in den hessischen Mundarten tritt Entrundung der gerundeten Vorderzungenvokale ein, so z. B. im zentralhessischen Ebsdorf welf ‘Wölfe’ (Bender 1938: 21), im nordhessischen Oberellenbach welfə ‘Wölfe’ (Hofmann 1926: 17) und im osthessischen Fulda bek ‘Böcke’ (Noack 1938: 17). Die Entrundung unterbleibt jedoch im südöstlichen Osthessischen und im nordhessisch-thüringischen Übergangsgebiet (vgl. Wiesinger 1980: 73 = 2017: 166), ähnlich wie beispielsweise im Hennebergischen und Unterostfränkischen. So finden wir z. B. hø̄f ‘Höfe’ im äußersten Südosten des südlichen Werra-Fulda-Raumes (Weber 1959: 35) oder brøgə ‘Brücke’ zwischen Vogelsberg, Spessart und Röhn (vgl. Dietz 1954: 63 u. Kt. 30). In phonemischer Hinsicht sind teilweise trotz Entrundung bestimmte Distinktionen erhalten geblieben: So sind in bestimmten zentralhessischen Dialekten die Entsprechungen von mhd. î und iu distinkt, etwa šnairə ‘schneiden’ (mhd. snîden), aber lǫirə ‘läuten’ (mhd. liuten) (Bender 1938: 24 bzw. 25; vgl. Wiesinger 1983a: 851), Gleiches gilt für mhd. ie und üe (vgl. unten). Für das mittlere und südliche Osthessische charakteristisch ist das von Wiesinger (1970: 60, 1980: 73 = 2017: 166) als „Quantitätengesetz“ bezeichnete System an Vokalkürzungen und -dehnungen, welche die Wortlänge in Einsilblern und Zweisilblern zunächst ausglichen. Langvokale und Diphthonge in Zweisilblern wurden vor bestimmten mittelhochdeutschen Geminaten, Affrikaten und Konsonantenverbindungen gekürzt, in Einsilblern vor Lenes und Fortes und in Zweisilblern vor Lenes hingegen gedehnt. So stehen sich šlǭf ‘Schlaf ’ und šlǫf ‘schlafen’ gegenüber (vgl. Wiesinger 1980: 74 = 2017: 167). Weitere, jedoch weniger systemhafte Dehnungs- und Kürzungsprozesse finden sich darüber hinaus im gesamten Sprachraum. Vor Konsonantenclustern treten häufig Dehnungen auf, z. B. a > a: vor ld, nd, ŋg, etwa in khāld ‘kalt’ (Bromm 1936: 9 für Rau-
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
schenberg; vgl. auch Friebertshäuser 1987: 69−70). Vor Nasallauten tritt neben Dehnung oft Nasalierung bei mhd. a vor (ehemaligem) Nasal auf, so z. B. im zentralhessischen Wissenbach sa̰nd ‘Sand’ (Kroh 1915: 70, s. auch Friebertshäuser 1987: 69), im osthessischen Fulda dsō- ‘Zahn’ (Noack 1938: 13). Für den Langvokalismus typisch ist die Hebung von mhd. â zu o:, die in allen hessischen Dialekten durchgeführt ist (vgl. dsǭl ‘Zahl’ für das zentralhessische Ebsdorf, Bender 1938: 16; wōr ‘wahr’ für das nordhessische Oberellenbach, Hofmann 1926: 18; då̄k ‘Tag’ für das osthessische Salzungen, Hertel 1888: 14). Zentralhessisch ist hingegen die Hebung von mhd. ê zu i:, z. B. gī ‘geben’, mī ‘mehr’ (Bender 1938: 26 für Ebsdorf; s. auch Friebertshäuser 1987: 60) oder von mhd. ô zu u:, etwa brūd ‘Brot’ (Alles 1993: 37 für Großen-Linden), rūt ‘rot’ (Bender 1938: 26 für Ebsdorf). Für das Nordhessische typisch ist die Senkung von gedehntem mhd. i, ü, u zu ē bzw. ō, z. B. dēl(ə) ‘Diele’ oder lōg ‘Lüge’ (Wiesinger 1980: 78 = 2017: 173). Bezüglich der Prozesse der frühneuhochdeutschen Diphthongierung und Monophthongierung ist der hessische Sprachraum gespalten: Zunächst sind im östlichen Nordhessischen und allgemein im Osthessischen die Monophthonge mhd. î, iu, û erhalten, während das Zentral- und westliche Nordhessische die Diphthongierung vollzogen haben (vgl. Schirmunski 1962: 28; Wiesinger 1983a: 852; Ebert et al. 1993: 64 = § L 31): Hier steht also (nord-)östliches monophthongisches i:s dem diphthongischen ais gegenüber (vgl. WA: Kt. 51 Eis). Bei den Entsprechungen der Diphthonge mhd. ie, uo, üe ist für den gesamten hessischen Sprachraum zunächst von Monophthongen auszugehen, wie sie sich im Nord- und Osthessischen belegen lassen: z. B. brōdəř ‘Bruder’ und brēf ‘Brief ’ (vgl. Noack 1938: 17−18 für das osthessische Fulda) bzw. gluk ‘klug’ und brīp ‘Brief ’ (vgl. Hofmann 1926: 18 für das nordhessische Oberellenbach); charakteristisch ist dabei Senkung zu ō, ē, (ȫ) für das Kerngebiet des Osthessischen, wogegen für den osthessischen Süden und das Nordhessische Bewahrung des Öffnungsgrads gilt (vgl. Wiesinger 1980: 94 = 2017: 195). Im Zentralhessischen hat dagegen eine Weiterentwicklung zu den steigenden Diphthongen ęi, ǫu, oi bzw. ui stattgefunden, vgl. lęib ‘lieb’, gǫud ‘gut’, broirǝr bzw. bruirǝr ‘Brüder’ (Wiesinger 1983a: 851; vgl. Ebert et al. 1993: 67 = § L 32; Wiesinger 1980: 93 = 2017: 194); da hier die Entsprechungen von mhd. ie und mhd. üe distinkt sind, muss die Diphthongierung vor der Entrundung stattgefunden haben. Diese als „gestürzt“ bezeichneten Diphthonge sind ein Charakteristikum des Zentralhessischen. Als Entsprechungen der mittelhochdeutschen Diphthonge ei und ou treten im Zentralhessischen und im südlichen Nordhessischen in der Regel Monophthonge auf, während Erhalt der Diphthonge für das Osthessische und nördliche Nordhessische typisch sind. Was das innovative Monopthongierungsgebiet betrifft, ist für mhd. ei die Spaltung in ein südliches a-Gebiet (z. B. Flaasch ‘Fleisch’) und ein nördliches ä- bzw. e-Gebiet (Flääsch bzw. Fleesch) (WA: Kt. 291; vgl. Friebertshäuser 1987: 65 u. 67) charakteristisch. Bei mhd. ou tritt dagegen mehrheitlich a: auf, allerdings finden sich bei Marburg kleinere Gebiete mit einem e-Monophthong (WA: Kt. 125; vgl. Schirmunski 1962: 233; Friebertshäuser 1987: 66). Im Bereich des Nebentonvokalismus teilen sich die hessischen Sprachräume in einen kleineren nördlichen Teil (nördliches Nordhessisch), in dem auslautendes mhd. -ə erhalten ist (dies ist unter den westmitteldeutschen Dialekten einzigartig, setzt sich jedoch im angrenzenden Thüringischen fort), und einen größeren Teil, in dem die Apokope bis auf bestimmte Fälle überall durchgeführt ist. Hierin manifestiert sich eine besondere Konservativität des nördlichen Nordhessischen, die auch Auswirkungen auf die Morphologie hat. In der Bewahrung der unapokopierten Formen geht das nördliche Nordhessi-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
sche häufig weiter als die Standardsprache, z. B. in glegə ‘Glück’ (< mhd. gelücke; Hofmann 1926: 24) oder bālə ‘bald’ (< mhd. balde; Hofmann 1926: 30). Das südliche Nordhessische, das Zentralhessische und das Osthessische zeigen hingegen meist Apokope. Angesichts fehlender diatopischer Untersuchungen zum Nebentonvokalismus in den Dialekten des Deutschen sind wir dabei nach wie vor auf die Angaben der Ortsgrammatiken und den Sprachatlas des Deutschen Reichs angewiesen. Nach letzterem reicht das Gebiet, das erhaltenes Schwa zeigt, stellenweise bis Marburg (vgl. Schirmunski 1962: 159). Für den Plural Berge (vgl. WA: Kt. 406; Wenker [1900] 2013: 636−637) zeigen sogar Teile des Zentral- und Osthessischen (jedoch mit vielen Abweichungen) erhaltenes Schwa, was bei dieser zu einem nicht umlautfähigen Stamm gebildeten Pluralform jedoch teilweise morphologisch bedingt sein dürfte.
3.2. Konsonantismus Der Stand der Zweiten Lautverschiebung in den hessischen Dialekten ist, da er häufig zur Klassifikation herangezogen wird, bereits oben behandelt worden (vgl. Kap. 1.). Eine weitere besonders wichtige Entwicklung im Bereich des Konsonantismus stellt die „Binnenhochdeutsche Konsonantenschwächung“ dar, bei der mhd. p, t, k und b, d, g zu den stimmlosen Lenes b̥, d̥, g̊ geworden sind (s. dazu allgemein Schirmunski 1962: 332). Laut Lessiak (1933: 13) gehört allgemein das Mitteldeutsche (mit Ausnahme des Schlesischen, Ripuarischen und westlichen Moselfränkischen) zum Schwächungsgebiet, bei dem ein Lenis-Fortis-Kontrast nur noch im Anlaut vor Vokal (teilweise) erhalten bleibt (vgl. Simmler 1983: 1122). Für den zentralhessischen Dialekt von Moischt liegt mit Braun (1988) eine instrumentalphonetische Untersuchung vor, in der nachgewiesen werden kann, dass im Anlaut vor Vokal ein Kontrast zwischen den beiden Reihen über Aspiration (bzw. phonetisch genauer: über die Aspirationsdauer) noch vorhanden ist, vgl. [khʊs] ‘Kuss’ vs. [kʊs] ‘Guss’ und [phont] ‘Pfund’ vs. [pont] ‘bunt’ (Braun 1988: 171− 175). Die Konsonantenschwächung kann auch zum totalen Verlust eines Lautes führen (vgl. Simmler 1983: 1122): So fällt z. B. das intervokalische /g/ in den hessischen Dialekten oft aus, was zu einer Kontraktion der Silbe führt, z. B. bei wa ‘Wagen’, sa ‘sage’ (Imperativ Singular) oder rā ‘Regen’ (Bromm 1936: 9 u. 11 für das nordhessische Rauschenberg). Im Zentral- und Nordhessischen findet sich Wandel von mhd. v zu w zwischen Vokalen. So hält Schoof (1914: 60) für die Schwalm die Formen awər ‘aber’ und heewə ‘heben’ fest. Damit einher geht auch eine Entwicklung von auslautendem mhd. f zu b, z. B. brīp ‘Brief ’ (Hofmann 1926: 18 für das nordhessische Oberellenbach) oder hōp ‘Hof ’ (Bender 1938: 34 für das zentralhessische Ebsdorf). Im Osthessischen finden wir dagegen die Entwicklung von anlautendem mhd. w zu b in Pronomina und Partikeln (vgl. Wiesinger 1980: 122 = 2017: 201). So weist z. B. Hertel (1888: 75) für Salzungen Formen wie baer ‘wer’, bê ‘wie’, bann ‘wann’, brem ‘warum’ nach. Für das Zentralhessische kann Hall (1973: 48, 163) zeigen, dass der „ich-“ und der „ach-Laut“, die ursprünglich wie in der Standardsprache in komplementärer Distribution standen, aufgrund vokalischer Entwicklungen teilweise phonemisiert wurden: Insbesondere durch die Monophthongierung von mhd. ei und öu > a: (vgl. Kap. 3.1.) erscheint der palatale Frikativ, der zunächst auf einen vorderen Vokal folgte, nun nach /a:/ und somit im gleichen phonologischen Kontext, in dem auch der velare Frikativ auftritt. Ein
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
Minimalpaar darstellen würden die bei Kroh (1915: 70 u. 88) belegten Substantive dax ‘Dach’ vs. dɑχ ‚Deich (als Bezeichnung für eine ‘schwarze Wolkenwand’)‘ (vgl. Hall 1973: 163 für weitere Paare, die jedoch nicht ausschließlich durch den unterschiedlichen Frikativ differenziert sind). Im Nord- und Osthessischen findet sich, ähnlich wie im benachbarten Thüringischen, Velarisierung von nd (vgl. Werlen 1983; Friebertshäuser 1987: 76; die areale Verbreitung für einen bestimmten lautlichen Kontext ergibt sich etwa aus WA: Kt. 232 Ende). Inlautend ist mhd. nd meist zu /ŋ/ geworden, teilweise tritt der velare Nasal aber auch auslautend auf, wobei die Regel nicht ausnahmslos ist (s. z. B. Schoof 1914: 51 und Hofmann 1926: 30 für das Nordhessische, Hertel 1888: 67 und Noack 1938: 23 für das Osthessische). Im nordhessischen Oberellenbach finden wir heŋ ‘Hände’ und ręŋk ‘Rind’ (Hofmann 1926: 30). Für das osthessische Fulda ergeben sich z. B. liŋ ‘Linde’ und wiŋ ‘Wind’ (Noack 1938: 23). Das Zentralhessische weist hingegen inlautend Totalassimilation nd > n(n) auf, vgl. ānər ‘andere’, wobei der Plosiv auslautend (meist) erhalten bleibt, vgl. hont ‘Hund’ (Bender 1938: 34 für Ebsdorf). Schwund des auslautenden -n wurde generell im Zentralhessischen, im südlichen Nordhessischen sowie im Osthessischen durchgeführt, im nördlichen Nordhessischen hingegen nicht (vgl. Wiesinger 1983a: 855 und WA: Kt. 6). Das hat Konsequenzen für verschiedene morphologische Erscheinungen, etwa die Morphologie des Infinitivs (vgl. Kap. 4.1.). Eine prominente Erscheinung des Zentralhessischen und des südlichen Nordhessischen ist der Rhotazismus von intervokalischem mhd. d und t zu r (vgl. Wiesinger 1980: 122 = 2017: 202; WA: Kt. 21). So finden wir in Großen-Linden, dokumentiert durch Alles (1993: 47), z. B. brǫurər ‘Bruder’ und šārə ‘scheiden’ oder im nordhessischen Rauschenberg brūrər ‘Bruder’ oder brōrə ‘braten’ (Bromm 1936: 26; vgl. auch Müller 1931). In der Stadtmundart von Friedberg, für dessen zentralhessische Umgebung in der Wetterau dieses Phänomen typisch ist, findet sich diese Erscheinung hingegen nicht (vgl. Reuß 1907: 68). In Bezug auf die Realisierung des /r/ zeigen sich zwischen verschiedenen hessischen Dialekten interessante Unterschiede. Nach Vokal sind Vokalisierungen, teilweise auch Schwund, in allen Dialekträumen belegt (vgl. z. B. Schudt 1970: 201 für Erbstadt, Schoof 1914: 56 für die Schwalm, Müller 1958a: 8 für Hintersteinau; vgl. auch Friebertshäuser 1987: 77). Allerdings sind für das nördliche Nordhessische auch auslautend konsonantische Realisierungen typisch: Für Kassel beschreibt Müller (1958b: 8) auch postvokalisch frikativische Realisierungen. Im Anlaut ergeben sich nach Göschel (1971: 114−120 u. 94 [Kt. = Abb. 22]; Kt. auch in Wiese 2003: 30), der sich auf 1936 aufgezeichnete Daten des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten bezieht, für die hessischen Dialekte zwei unterschiedliche Gebiete: Zungenspitzen-r [r] herrscht im gesamten Zentralhessischen und in angrenzenden Teilen des Nord- und Osthessischen; uvulares oder velares frikativisches [ʁ]/[ɣ] gilt dagegen für die östlicheren Teile des Nord- und Osthessischen, etwa für Kassel, für das Müller (1958b: 8) [ɣ] ansetzt. Im Gebiet mit alveolarem r finden sich vielfach Spuren eines retroflexen r [ɽ] oder eines schwach retroflex kontinuanten r [ɹ] (Göschel 1971: 115), die teilweise über das von Friebertshäuser (1987: 77) postulierte Gebiet im Westerwald hinauszugehen scheinen. Generell tritt bei /r/ auch sehr kleinteilige Variation auf, wie sie etwa Hofmann (1940: 49) für das nordhessische Gebiet südlich von Kassel in diatopischer Hinsicht und Soost (1920: 417−418) für einen Teil seines Gebiets im intergenerationellen Vergleich beschreibt (vgl. generell Wiese 2003 zur Variationsanfälligkeit von /r/).
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II. Die Sprachräume des Deutschen
4. Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie In morphologischer Hinsicht ist das Hessische wesentlich schlechter erforscht als in lautlicher (vgl. Dingeldein 1989: 17 für das Zentralhessische), wobei es jedoch bestimmte Themenfelder gibt, die in jüngerer Zeit ausführlicher behandelt wurden (z. B. Pluralbildung, Präteritumschwund). Wir behandeln im Folgenden einige Besonderheiten der nominalen und verbalen Flexionsmorphologie; die bisher wenig systematisch erforschte Wortbildung wird ausgeklammert (vgl. dazu z. B. David 1892 und zahlreiche einschlägige Beobachtungen in Stroh 1928).
4.1. Nominalmorphologie 4.1.1. Personalpronomen: Formengeographie Für das Zentralhessische typisch sind die diphthongierten Formen der 1./2. Person Singular aįχ ‘ich’ und daįχ ‘dich’ (Wiesinger 1980: 126 = 2017: 206−207). Für das östliche Nordhessische und Osthessische sind r-lose Formen von Pronomina der 1. und 2. Person (‘mir’, ‘dir’, ‘wir’, ‘ihr’) dokumentiert, z. B. mē, dē (vgl. Wiesinger 1980: 126 = 2017: 207). Im Nominativ der 1. Person Plural findet sich in allen hessischen Dialekten der Anlaut m- (Friebertshäuser 1987: 90; vgl. WA: Kt. 333); vgl. dazu auch die entsprechenden Formen in Tab. 14.1. Die Form he(i) für den Nominativ der 3. Person Singular Maskulinum, die auch im Niederdeutschen und in benachbarten mitteldeutschen Dialekten vorkommt, tritt in allen hessischen Dialekten auf; eine Sonderform ist her, die sich im südlichen Osthessischen findet (vgl. Wiesinger 1980: 126 = 2017: 206−207 und WA: Kt. 296, dort an der Grenze zwischen nördlichem hä- und südlichem ar-Gebiet). Allerdings dringen r-haltige Formen wie ę̄r vom Süden des Zentralhessischen „bis an die obere Lahn“ vor (Wiesinger 1980: 126 = 2017: 207−208). Solche r-haltigen Formen setzt etwa der Sprachatlas des Deutschen Reichs (vgl. WA: Kt. 64, 93, 296 u. 316, die sich auf er im Vorfeld beziehen) als Leitformen an (WA: Kt. 330 u. 368, die sich auf er im Mittelfeld beziehen, haben als Leitform dagegen e; vgl. auch DSA: Kt. 48), wobei jeweils zahlreiche abweichende Belege auftreten. Dabei ist auch ein möglicher Effekt der Vorlage (die standardsprachliches er aufweist) zu bedenken. In der Paradigmensynopse zu sechs hessischen Ortsmundarten in Tab. 14.2 finden sich keine er-Formen; jedoch führt etwa Siemon (1921: 105) für die Mundart von Langenselbold im südlichen Zentralhessischen ausschließlich die Formen ę̄r bzw. ər an. Kt. 14.4, die anhand des in Kap. 1. kurz charakterisierten Korpus von 127 Wenkerbogen anhand von WS 5, in dem er im Vorfeld auftritt („Er ist … gestorben“), erstellt wurde, zeigt, dass die he-Form in allen hessischen Räumen verankert ist, jedoch besonders im Nordhessischen dominiert, während vor allem im Zentralhessischen viele er- oder e-Formen auftreten.
4.1.2. Kasussysteme: Pronomen und Adjektiv In Bezug auf die Kasusmorphologie ist generell höchstens von drei synthetischen (Nominativ/Akkusativ/Dativ) Formen auszugehen, wobei diese maximale Distinktion auf be-
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
Kt. 14.4: Formen des Personalpronomens der 3. Person Singular Maskulinum Nominativ anhand eines Korpus von 127 Versionen von WS 5 (Hintergrund: Klassifikation der deutschen Dialekte nach Wiesinger 1983a)
stimmte Personalpronomen und maskuline Formen beschränkt ist, da beim Femininum seit frühneuhochdeutscher und beim Neutrum seit vorgermanischer Zeit weiter gehende Synkretismen vorliegen. Eine Systematisierung der Kasussysteme nimmt Shrier (1965) anhand von ausgewählten Ortsgrammatiken vor, wobei die genauen Orte und Quellen aus der Darstellung bedauerlicherweise nicht hervorgehen; hessische Dialekte wurden scheinbar kaum berücksichtigt. Im Folgenden werden − an Shrier (1965) orientiert − Informationen zum Personalpronomen der 1. Person, zum Personalpronomen der 3. Person, zum bestimmten Artikel sowie zum starken und schwachen Adjektiv zusammengestellt, jeweils (bei Formen der 3. Person) mit Beschränkung auf das Maskulinum, bei dem am meisten Distinktionen zu erwarten sind. Bei der Beschreibung stützen wir uns auf sechs Ortsgrammatiken, die für die Darstellung der entsprechenden Wortarten genug Informationen bieten und von denen je zwei für das Zentralhessische (Alles 1993 für Großen-Linden, Schwing 1921 für Selters), zwei für das Nordhessische (Schoof 1914 für die Schwalm, Soost 1920 für Holzhausen) und zwei für das Osthessische (Hertel 1888 für Salzungen, Salzmann 1888 für Hersfeld) stehen (allerdings steht für das osthessische Kerngebiet leider keine genug
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II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 14.1: Paradigmensynopse 1: Personalpronomen der 1. Person (nach Alles 1993: 69; Schwing 1921: 112; Schoof 1914: 86; Soost 1920: 225; Hertel 1888: 102−103; Salzmann 1888: 81)
Nom. Sg. Akk. Sg. Dat. Sg. Nom. Pl. Akk. Pl. Dat. Pl.
Gr.-Linden
Selters
Schwalm
Holzhausen
Salzungen
Hersfeld
iχ; aχ miχ; maχ mə; mīər mīər ūs ūs
iχ; aiχ miχ; maiχ mər; mīr mər; mīr us us
əc; ec məc; mec mər; meer mər; meer əns; ins əns; ins
əx; ix məx; mix məx; mix mə; mē uns uns
ech mech me; mei me; mei ons ons
ej mej mə; mæi mə; mæi ons ons
Tab. 14.2: Paradigmensynopse 2: Personalpronomen der 3. Person (nach Alles 1993: 69; Schwing 1921: 113; Schoof 1914: 86−87; Soost 1920: 225−226; Hertel 1888: 103; Salzmann 1888: 81)
Nom. Sg. m. Akk. Sg. m. Dat. Sg. m. Nom. Pl. Akk. Pl. Dat. Pl.
Gr.-Linden
Selters
Schwalm
Holzhausen
Salzungen
Hersfeld
ə; hē ən; īn əm; īm sə; sęi sə; sęi ən; īnə
hę̄ ən; īn əm; īm sə; sei sə; sei ən; īnə
ə; hä n, ən; en m, əm; em sə; see sə; see n, ən; en
ə, hə; hē n̥, ən, nə; enə, ę̄n ən, əm; emə sə; sē sə; sē ən; enə, ę̄n
e; hae n; en n; en se; sae se; sae n, en; êne
hə; hē ən; ēn əm; ēm sə; sæi sə; sæi ən; ēnə
ausführliche grammatische Beschreibung zur Verfügung, die hier herangezogenen Grammatiken beziehen sich auf Übergangsgebiete; vgl. dazu Kt. 14.5). Falls die Grammatiken verschiedene Betonungs- bzw. Klisegrade unterscheiden, führen wir Formen mit weniger phonetischer Substanz vor Formen mit mehr phonetischer Substanz an; vollständige Synkretismen werden durch dunkelgraue Hinterlegung der entsprechenden Zellen gekennzeichnet, wogegen Teilsynkretismen (etwa nur der klitischen, aber nicht der vollen Formen) durch hellgraue Hinterlegung gekennzeichnet sind. Dabei ist allerdings damit zu rechnen, dass sich „Teilsynkretismen“ auch dadurch ergeben können, dass eine Grammatik im Vergleich zu einer anderen mehr Formen anführt und somit vielleicht kein sachlicher, sondern ein Unterschied hinsichtlich der Beschreibungstiefe vorliegt. Beim Personalpronomen der 1. Person zeigt sich, dass alle Dialekte bis auf das nördlichste Nordhessische im Singular ein Drei-Kasus-System mit distinktem Nominativ, Akkusativ und Dativ aufweisen. Im nördlich von Kassel in unmittelbarer Nähe zum niederdeutschen Gebiet gelegenen Holzhausen findet sich ein System, bei dem die 1. und 2. Person Singular Akkusativ/Dativ ähnlich wie in vielen niederdeutschen Dialekten zusammengefallen sind, wobei in dieser Ortsmundart aber die alte Akkusativform auf den Dativ übertragen wurde (Soost 1920: 225). Das gilt generell für eine gewisse „Anzahl mitteldeutscher Grenzorte“ (Soost 1928: 216); in bestimmten nordhessischen Orten wird nach Soost (1920: 498−499) auch die alte Dativform in akkusativischen wie dativischen Kontexten verwendet, wobei die Distinktion allerdings auch sekundär wiedereingeführt wird. Bedeutsam scheint, dass ursprünglich die Akkusativ-Dativ-Distinktion aufgegeben war, ähnlich wie in der Mehrheit der niederdeutschen Dialekte, aber z. B. im Unterschied zum benachbarten Westfälischen mit erhaltener Distinktion (vgl. Martin 1925: 91 für
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
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Tab. 14.3: Paradigmensynopse 3: bestimmter Artikel (nach Alles 1993: 68−69; Schwing 1921: 114; Schoof 1914: 88; Soost 1920: 228; Hertel 1888: 100; Salzmann 1888: 71−72) Gr.-Linden
Selters
Schwalm
Holzhausen
Salzungen
Hersfeld
a
dr, där; daer dn, dän; daen dn, dän; daen de; dê de; dê dn; daen
tər; tēr
Nom. Sg. m.
də; dēər
də; dę̄ r
də, dä; dä(ä)
dr̥ , dər; dę̄r
Akk. Sg. m.
də; dēn
də, (ən); dēn
də, dä; dä(ä)
n̥, dn̥, dən; dę̄n
Dat. Sg. m.
dəm; dēm
əm, dəm; dēm dəm; dä(ä)m
Nom. Pl. Akk. Pl. Dat. Pl.
dī; dęi dī; dęi də; dēnə
di; dei di; dei də; dēnə
n̥, dn̥, dən; dę̄n, demə [dę̄m] də; dē də; dē n̥, dn̥, dən; dę̄n, denə
di; dii di; dii də; dä(ä)n
n təm, m; tem tə, te; tē tə, te; tē tə, te; tēnə
Rhoden). Interessant ist auch die Tatsache, dass in allen Dialekten bis auf das nordhessische Holzhausen ein Zusammenfall zwischen dem Dativ Singular und dem Nominativ Plural der 1. Person festzustellen ist. Im Akkusativ/Dativ Plural liegt seit mittelhochdeutscher Zeit (13. Jahrhundert) Totalsynkretismus vor (vgl. Paul 2007: 212 = § M 40, Anm. 5). Beim Personalpronomen der 3. Person Singular Maskulinum findet sich neben dem Akkusativ/Dativ-Synkretismus in Holzhausen (dort systemisch analog zur 1. Person; leider macht Soost 1920: 225−226 keine genaueren Angaben zur Verteilung der angeführten Formen) ein ähnlicher Synkretismus auch im östlichen Osthessischen. Bei der 3. Person Plural tritt überall ein Nominativ-Akkusativ-Synkretismus bei erhaltener eigenständiger Dativform auf. Beim bestimmten Artikel liegt nur im östlichen Osthessischen (Salzmann 1888 für Hersfeld) ein System mit drei distinkten Formen im Singular Maskulinum vor. Während das Zentralhessische bei der phonetisch stärker reduzierten Form und das südliche Nordhessische bei beiden Formen einen Nominativ-Akkusativ-Synkretismus aufweisen, zeigen das nördliche Nordhessische und das östliche Osthessische einen Akkusativ-DativSynkretismus bei distinktem Nominativ. Dabei führt Soost (1920) für den Dativ Singular neben synkretischen auch die distinkten Formen dę̄m und demə an; während demə auf das ahd. demu zurückgeführt wird und somit eine alte mundartliche Form darzustellen scheint, wird dę̄m als jüngere Einwirkung „der Casseler Mda.“ charakterisiert (Soost 1920: 228). Im Plural tritt durchgängig Nominativ-Akkusativ-Synkretismus auf, ein weiter gehender Teilsynkretismus mit dem Dativ Plural findet sich im osthessischen Hersfeld. Für die Adjektivflexion ist die Forschungslage schwieriger (s. den knappen Überblicksartikel von Lipold 1983: 1187−1188; vgl. auch Friebertshäuser 1987: 87−89). Beim starken Adjektiv zeigt das zentralhessische Selters im Maskulinum Singular ein DreiKasus-System, das ebenfalls zentralhessische Großen-Linden dagegen ein Ein-KasusSystem, wobei in diesem Ort aber interessanterweise eine erhaltene Dativform beim Femininum vorhanden ist: Nom./Akk. gǫud vs. Dat. gǫurə (vgl. Alles 1993: 67). Im Nordhessischen und Osthessischen finden sich im Maskulinum Singular hingegen lediglich Zwei-Kasus-Systeme: bei Soost (1920) und Hertel (1888) erhaltene Nominativfor-
452
II. Die Sprachräume des Deutschen Tab. 14.4: Paradigmensynopse 4: maskulines starkes Adjektiv (nach Alles 1993: 67; Schwing 1921: 108; Schoof 1914: 82; Soost 1920: 221−222; Hertel 1888: 95; Salzmann 1888: 87)
Nom. Sg. m. Akk. Sg. m. Dat. Sg. m. Nom. Pl. Akk. Pl. Dat. Pl.
Gr.-Linden
Selters
Schwalm
Holzhausen
Salzungen
Hersfeld
-ə -ə -ə -ə -ə -ə
-ər -ə -əm -ə -ə -ə
-ər -ər -əm -ə -ə -ə
-ər -ən -ən -ə -ə -ən
-r -e -e -e -e -e
-ər -ər -əm -ə -ə -ə
Tab. 14.5: Paradigmensynopse 5: maskulines schwaches Adjektiv (nach Alles 1993: 67; Schwing 1921: 108; Schoof 1914: 81; Soost 1920: 221−222; Hertel 1888: 95; Salzmann 1888: 87)
Nom. Sg. m. Akk. Sg. m. Dat. Sg. m. Nom. Pl. Akk. Pl. Dat. Pl.
Gr.-Linden
Selters
Schwalm
Holzhausen
Salzungen
Hersfeld
-ə -ə -ə -ə -ə -ə
-0̸, -ə -0̸, -ə -ə -ə -ə -ə
-ə -ə -ə -ə -ə -ə
-ə -ən -ən -ən -ən -ən
-0̸ -e -e -e -e -e
-ə -ə -ə -ə -ə -ə
men gegenüber zusammengefallenen obliquen Formen, bei Salzmann (1888) hingegen zusammengefallene Nominativ/Akkusativ-Formen (die den alten Nominativ fortsetzen) gegenüber einem distinkten Dativ. Bemerkenswert ist die Bewahrung des Dativ Plural in Holzhausen (was mit dem fehlenden n-Schwund im nördlichen Nordhessischen korreliert). Beim schwachen Adjektiv ist, wie in der Standardsprache, höchstens ein Zwei-KasusSystem vorhanden. Ein intaktes System ist dabei lediglich im nördlichen Nordhessischen und im östlichen Osthessischen zu finden, während das Zentralhessische entweder Totalsynkretismus oder Schwanken zwischen -0̸ im Nominativ/Akkusativ und -ə im Dativ Singular kennt. In der Gesamtschau erweist sich das Zentralhessische, mit Systemen mit drei distinkten Formen beim betonten Artikel, beim starken Adjektiv und bei den Personalpronomen der 1. Person Singular und 3. Person Singular Maskulinum, als am konservativsten. Bedeutsam scheinen die festgestellten Asymmetrien der Synkretismen: Während Teile des Zentralhessischen und Nordhessischen zu Synkretismen von Nominativ und Akkusativ bei distinktem Dativ tendieren (NA/D), wie sie etwa für das westliche Oberdeutsche und teilweise das Rheinfränkische typisch sind, finden wir an den Rändern des Osthessischen und Nordhessischen eher Synkretismen von Akkusativ und Dativ bei distinktem Nominativ (N/AD), wie sie auch im Niederdeutschen und Ostmitteldeutschen auftreten (vgl. Shrier 1965). In Kt. 14.5 werden die hier behandelten Muster für fünf grammatische Kontexte (1. Person Singular, 3. Person Singular Maskulinum, definiter Artikel Singular Maskulinum, starkes Adjektiv Singular Maskulinum, schwaches Adjektiv Singular Mas-
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
Kt. 14.5: Kasussysteme hessischer Dialekte (Personalpronomen 1. Person Singular, Personalpronomen 3. Person Singular Maskulinum, definiter Artikel Singular Maskulinum, starkes Adjektiv Singular Maskulinum, schwaches Adjektiv Singular Maskulinum)
kulinum) kartographisch dargestellt. In Ergänzung zu den in den Paradigmensynopsen behandelten Grammatiken werden weitere Ortspunkte mit grammatischen Beschreibungen, zu denen zumindest teilweise Informationen zur Verfügung stehen (Siemon 1921: 104−106 für Landenselbold; Friebertshäuser 1961: 35−36 für Weidenhausen; Hofmann 1926: 38−39 für Oberellenbach; Noack 1938: 25−26 für Fulda; Weldner 1991: 90, 100 u. 105 für Barchfeld an der Werra), ebenfalls abgebildet.
4.1.3. Substantiv: Kasusmarkierung In vielen grammatischen Beschreibungen wird dem formal weitestgehend abgebauten Genitiv sehr viel Platz gewidmet (vgl. etwa Schoof 1914: 67−74; Hofmann 1926: 36;
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Friebertshäuser 1961: 33), die noch lebendig(er)en Kasus werden dagegen nur marginal behandelt, was eine Übersicht erschwert. Für die Kasusmarkierung am Substantiv gilt, dass aufgrund der Schwa-Apokope und des n-Schwunds in großen Teilen des Sprachraums nur wenig morphologische Differenzierungen auftreten. Am ehesten finden sich distinkte Kasusmarkierungen noch im (nördlichen) Nordhessischen (vgl. Friebertshäuser 1987: 87), was damit korreliert, dass dort n-Schwund und Apokope nicht gegriffen haben. So dokumentiert Soost (1920: 214) für Holzhausen noch bei schwachen Substantiven Kasusoppositionen wie Nom. Sg. osə − Akk./Dat. Sg. osən ‘Ochse’, Nom. Sg. menš − Akk./Dat. Sg. menšən. Für das osthessische Salzungen belegt Hertel (1888: 91− 92) die Formen Nom. Sg. Mänsch − Akk./Dat. Sg. Mänsche ‘Mensch’ sowie analoge Formen bei männlichen Eigennamen. Entsprechende Formen finden sich bei Verwandtschaftsbezeichnungen auch noch in der Schwalm (Schoof 1914: 75−76; vgl. auch Alles 1907/1908: 235 für die osthessische Gegend um Schlitz). Auffällig ist, dass sich schwache Kasusformen am ehesten bei belebten Substantiven erhalten haben, womit also synchron ein semantisches Kriterium für das Auftreten expliziter Kasusmarkierungen verantwortlich zu sein scheint. Bei starken Substantiven finden sich Kasusmarkierungen teilweise noch im Dativ Plural, und zwar im (nördlichen) Nordhessischen generell als -n, etwa Nom./Akk. dāɣə − Dat. dāɣən (Soost 1920: 208), im Zentral- und Osthessischen als -e (vgl. Alles 1907: 232; Hertel 1888: 91), wobei es im Zentral-, südlichen Nord- und Osthessischen auch häufig einen totalen Nominativ-Akkusativ-Dativ-Synkretismus gibt (vgl. Friebertshäuser 1961: 33−35 für das zentralhessische Weidenhausen; Alles 1993: 63−66 für das zentralhessische Großen-Linden; Schwing 1921: 104 für das zentralhessische Selters; Schoof 1914: 74−76 für die Schwalm; Salzmann 1888: 72−74 für das osthessische Hersfeld; vgl. auch WA: Kt. 543 zu Leuten). Im Dativ Singular starker Maskulina und Neutra ist teilweise die Endung -e noch erhalten, und zwar − aufgrund der dort fehlenden Apokope − am ehesten im nördlichen Nordhessischen, wobei allerdings teilweise auch Ausgleich mit der Nominativ-/Akkusativ-Form zu beobachten ist. Soost (1920: 201−212) gibt für das nordhessische Holzhausen bei vielen Maskulina und Neutra ein Dativ-e an, jedoch immer als optionale Form (vgl. Tab. 14.6). Für Oberellenbach, das nördlich der Apokopegrenze liegt, berichtet Hofmann (1926: 36) zwar, dass der Dativ nur noch am Artikel sichtbar werde; gleichzeitig führt er jedoch Beispiele an, bei denen sehr wohl eine nominale Markierung vorhanden ist, etwa dǭs dax fon dą̄m hȳsə ‘das Dach von dem Hause’ (Hofmann 1926: 36). Wo dieses Morphem im nördlichen Nordhessischen tatsächlich abgebaut ist, bedeutet dies, dass morphologische Reduktion ohne sonstigen phonologischen Abbau auftritt und somit ein aktiver morphologischer Prozess vorliegt. In anderen Teilen des Hessischen finden sich im starken Dativ Singular Maskulinum/Neutrum hingegen nur noch Kasusreste über „sekundäre lautliche Differenzierung“ (Schirmunski 1962: 416 u. 438) in der Form von Vokaldehnungen und -kürzungen, konsonantischen Modifikationen in ehemals stimmhafter Umgebung bis hin zur Konsonantentilgung (Subtraktion). Bei ein und demselben Lexem ‘Tag’ finden wir somit neben erhaltenem Dativ-e und der Nullmarkierung auch modifikatorische Formen, die sich durch einen Wechsel des stammschließenden Konsonanten auszeichnen, und subtraktive Dativ-Formen, bei denen der Dativ im Vergleich zum Nominativ durch weniger phonologisches Material gekennzeichnet ist. In der folgenden Tabelle sind die Möglichkeiten der Bildung des Dativs beim starken Maskulinum Tag zusammengefasst:
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
455
Tab. 14.6: Paradigmensynopse 6: Formen der nominalen Dativmarkierung beim starken Dativ Singular ‘Tag’ Verfahren:
Nom./Akk.
Dat.
Ort/Quelle
additiv modifikatorisch Nullmarkierung subtraktiv
dāg doag doag tǭk
dāɣə (neben dāg) doah doag tǭ
Holzhausen (Soost 1920: 208) Bönstadt u. a. (Alles 1907: 234) Rödgen u. a. (Alles 1907: 234) Naunstadt (Stroh 1928: 11)
Die für Naunstadt angeführte subtraktive Form ist nach Stroh (1928: 11) auf das Auftreten nach Präposition beschränkt. Subtraktive Dative sind auch im Osthessischen belegt, z. B. in Salzungen wâld − wall ‘Wald’ (Hertel 1888: 90), wo die Subtraktion auch mit Vokalkürzung einhergeht. Es ist aufgrund der Beschreibungen anzunehmen, dass viele Dativformen nur noch in häufigen Kollokationen auftreten und nicht mehr frei gebildet werden (vgl. Birkenes 2014: 200−202).
4.1.4. Substantiv: Pluralbildung Die Pluralsysteme in den hessischen Dialekten sind sehr vielfältig und besonders die sog. subtraktiven Plurale haben zahlreiche Arbeiten angeregt. Die Pluralbildung zentralund osthessischer Dialekte wurde erstmals in Alles (1907/1908) ausführlich beschrieben, Reuß (1907) bietet eine reichhaltige junggrammatische Beschreibung der Stadtmundart von Friedberg in der zentralhessischen Wetterau, Haas (1988) eine systematische strukturalistische Beschreibung eines zentralhessischen Dialektsystems anhand der Mundart von Ebsdorf. Zunächst fällt auf, dass die Pervasivität des Nullplurals als erstaunlich hoch einzustufen ist: so findet z. B. Haas (1988: 14) für Ebsdorf, dass 47 % von seinen insgesamt 651 untersuchten Substantiven Nullplural aufweisen. Somit ergibt sich, dass der für die Sprachgeschichte des Deutschen postulierte Prozess der „Profilierung der Numeruskategorie“ (Hotzenköcherle 1962: 329; vgl. Schirmunski 1962: 414) für Teile des Westmitteldeutschen wenig charakteristisch ist. Der hohe Anteil an Nullpluralen lässt sich vor allem mit dem phonologischen Prozess der Apokope in Verbindung bringen, der, wie in Kap. 3.2. ausgeführt, in allen hessischen Dialekten bis auf das nördliche Nordhessische durchgeführt ist (vgl. Haas 1988: 22−23) und in vielen Fällen zu keiner morphologischen Reaktion (etwa zur Bildung analogischer Pluralformen) geführt hat. Im Gegensatz zum oberdeutschen Raum, in dem modifikatorische Plurale mit Umlaut besonders häufig sind (vgl. Schirmunski 1962: 418), sind im hessischen Sprachraum modifikatorische Plurale, die den Konsonantismus involvieren, charakteristisch. So stellt Haas (1988: 14) fest, dass über die Hälfte der von ihm gefundenen modifikatorischen Plurale konsonantischer Natur ist. Dabei ist der Wechsel von Liquiden und Nasalen häufig, etwa -l > -n: bril − brin ‘Brille’, -r > -n: modər − modən ‘Mutter’ (Haas 1988: 82 u. 84). Einen gewissen Anteil an den modifikatorischen Pluralen hat auch der Rhotazismus, z. B. šret − šrer ‘Schritt’ (Dingeldein 1983: 1198). Es gibt darüber hinaus im Zentralhessischen auch einen seltenen vokalisch-modifikatorischen Typ, bei dem der Stammvokal im Singular rückverlagert und scheinbar auch gedehnt wird: Fohsch − Fesch ‘Fisch’ (Alles 1907: 353; vgl. auch Dingeldein 1983: 1198).
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Als besonders charakteristisches Phänomen hessischer Dialekte haben sog. subtraktive Plurale zu gelten, die darin bestehen, dass ein Stammphonem im Plural getilgt wird (z. B. hond − hon ‘Hund’, dog − do ‘Tag’). Diese Plurale, so wie die oben behandelten Dativformen, erweisen sich diachron als das Resultat von Konsonantenassimilationen bzw. Lenisierung in ehemals vokalischer Umgebung mit anschließender Apokope (s. dazu ausführlicher Haas 1988 und Birkenes 2014). Die subtraktiven Plurale des Hessischen haben über die Natürliche Morphologie Wurzels (vgl. etwa Wurzel 1984: 59) Eingang in die theoretische Literatur gefunden (vgl. etwa Golston & Wiese 1996 und Holsinger & Houseman 1999). Subtraktive Plurale finden sich in allen hessischen Dialekten bis auf das nördliche Nordhessische, wo sie aufgrund der nicht durchgeführten Apokope fehlen; sie erlangen im Zentralhessischen sogar beschränkte Produktivität: [pe:ənd] − [pen] ‘Schuhnagel’ (Haas 1988: 86 für Ebsdorf), bei dem das /d/ des Singulars (vgl. mnd. pinne, nhd. Pinne) nicht etymologisch ist (vgl. auch Alles 1907: 365, der annimmt, dass Analogie zu wind − winn vorliegt; vgl. auch Birkenes 2014: 94−96). Charakteristisch für alle hessischen Dialekte sind Pluralendungen (meist -(er)cher oder -(er)chen) beim Diminutiv (vgl. sprachgeographisch allgemein Wrede 1908: 103− 107). Für das zentralhessische Ebsdorf beschreibt Haas (1988: 86−88) drei Typen: 1. Sg. -çə − Pl. -ərçən, z. B. lemçə − lemərçən ‘Lämmchen’, 2. Sg. -çə − Pl. -çən, z. B. budəʎçə − budəʎçən ‘kleine Flasche’ und 3. Sg. -ilçə − Pl. -ilçən, z. B. bregilçə − bregilçən ‘Brücklein’. Haas (1988: 58−62) bietet eine ausführliche Analyse der Distribution der verschiedenen Typen. Die charakteristischen Formen mit der Einfügung eines -erim Plural sieht Haas (1988: 62) als Optimierung der Silbenstruktur des Diminutivplurals: Die Bedingung ist dabei, dass die Stammsilbe auf betonten Vokal (z. B. ʃb̥i:ərçən ‘Spänchen’) oder Vokal + vorderer Konsonant endet (s. ‘Lämmchen’ oben). Die allgemeine Einfügung von -el- deutet Haas hingegen als Verhinderung einer Kollision zweier palataler oder velarer Konsonanten (z. B. Stammesauslaut auf -g + Diminutivsuffix -çə wie oben). Man könnte darin ein Beispiel für Exaptation sehen, bei dem zwei Flexive (-il als etymologisches Diminutivsuffix, -er als etymologisches Pluralsuffix) für neue Aufgaben „zweckentfremdet“ werden.
4.1.5. Genusdistinktion bei ‘2’ Für manche zentral-, südliche nord- und osthessische Dialekte ist eine erhaltene Genusdistinktion beim Numerale ‘2’ (vgl. mhd. m. zwên(e) − f. zwô, zwâ, zwuo − n. zwei) belegt, etwa für das zentralhessische Selters dswī, dswō, dswā (Schwing 1921: 111), für das im osthessisch-thüringischen Übergangsgebiet gelegene Barchfeld an der Werra tswɪ:n − tswʊ: − tswa: (Weldner 1991: 104) oder für die nordhessische Schwalm tswii − tswoo − tswęę (Schoof 1914: 85). Aus den SyHD-Materialen (vgl. Kap. 2. und 5.) ergibt sich eine teilweise erhaltene Genusdistinktion in diesen Gebieten (vgl. Meyer & Schwalm 2017), wobei allerdings auch Verschiebungen der historisch konsistenten Genus-Formen auftreten (bei teilweisem Erhalt der unterschiedlichen Formen, die sich jedoch nicht notwendigerweise nach dem Genus des Substantivs richten). Genusdistinktion mit den historisch konsistenten Formen zeigen etwa zentralhessisch zwi − zwu − zwa (SyHD: E4_16; Ehringshausen_Kölschhausen_1), nordhessisch zwi − zwo − zwä (Alsfeld_Eifa_1), osthessisch zwe − zwu − zwä (Ehrenberg_Wüstensachsen_2).
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
457
4.2. Verbalmorphologie 4.2.1. Flexionsmorphologie In Bezug auf die Verbalmorphologie ist der hessische Sprachraum vor allem geprägt durch die Präteritalgrenze: Während die nördlichen hessischen Räume basisdialektal das Präteritum noch weitgehend erhalten, ist es im südlich ans Zentralhessische angrenzenden Rheinfränkischen weitgehend abgebaut (vgl. Kap. 5.1.). Eine Fülle an Material zur Flexionsmorphologie des Verbs bieten Schaefer (1912) für das nordwestliche Zentralhessische im Kreis Biedenkopf und Schoof (1905) für die nordhessische Schwalm. Synthetische Konjunktiv I-Formen sind nur relikthaft belegt. Konjunktiv II-Formen scheinen vor allem im Süden kaum noch aufzutreten (vgl. Friebertshäuser 1987: 92): In der Wetterau treten nach Alles (1954: 64) synthetische Formen nur bei Präterito-Präsentien (mit Ausnahme von ‘taugen’ und ‘gönnen’) auf, wogegen etwa Stroh (1928: 21) zumindest für die ältere Generation noch mehr synthetische Konjunktiv II-Formen belegt (über periphrastische Konjunktive vgl. Kap. 5.1.). Für das nordwestliche Zentralhessische (vgl. Schaefer 1912: 56 u. 60−89) und für die Schwalm (vgl. Schoof 1905: 250) lassen sich dagegen noch sehr viele Konjunktiv II-Formen belegen, wobei diese auf Verben beschränkt sind, deren Stammvokal umlautfähig ist. Ähnliche Systeme beschreiben auch Soost (1920: 183) für das nordhessische Holzhausen und Salzmann (1888: 88) für das osthessische Hersfeld. Somit müssen in der Verbalmorphologie das Nordhessische und nördliche Osthessische mit bedeutenden Anteilen an bewahrten Präteritum- und Konjunktiv II-Formen als konservativ gelten (vgl. auch Kap. 4.2.2. zu Flexionsklassen, bei denen sich ähnliche Tendenzen zeigen). Im Bereich der Person/Numerus-Distinktionen kann allgemein von einem zweiformigen Plural -e(n), -t, -e(n) ausgegangen werden (vgl. Alles 1993: 52 für das Zentralhessische; Soost 1920: 184 für das Nordhessische; Wegera 1977: 173−179 für das Osthessische), während z. B. Teile des Rheinfränkischen einen Einheitsplural kennen (s. Herrgen & Vorberger, Art. 15 in diesem Band). Eine Besonderheit des Zentralhessischen (und des südlichen Nordhessischen) stellt das Verbum substantivum ‘sein’ dar (vgl. Friebertshäuser 1987: 93): Wie die Synopse von Paradigmen in Tab. 14.7 zeigt, tritt in der 1. Person Singular, teilweise auch in der 2. Person Singular, der s-Stamm anstelle des bStamms auf:
Tab. 14.7: Paradigmensynopse 7: Indikativ Präsens von sein in zentralhessischen Ortsmundarten und in der Schwalm (nach Alles 1993: 59; Schwing 1921: 124; Wagner & Horn 1900: 15; Kroh 1915: 135; Friebertshäuser 1961: 31; Schoof 1905: 278)
1. 2. 3. 1. 2. 3.
Sg. Sg. Sg. Pl. Pl. Pl.
Gr.-Linden
Selters
Großen-Buseck
Wissenbach
Weidenhausen
Schwalm
sǫi saisd įəs sǫi said sǫi
saĩ saisd es saĩ said saĩ
sai saisd, biɒsd iɒs sai said sai
sa̰i beasd eas sa̰i said sa̰i
sai bįəsd įəs sai said sai
seŋ best es seŋ said seŋ
458
II. Die Sprachräume des Deutschen
Nach dem Sprachatlas des Deutschen Reichs (WA: Kt. 122) sind s-Formen in der 1. Person Singular generell für die hessischen Dialekte typisch; bei der 2. Person Singular beschränken sich die s-Formen hingegen laut WA (Kt. 216) auf den mittleren und nördlichen Westen des Zentralhessischen, während sich ansonsten der b-Stamm findet. Das von Friebertshäuser (1987: 93) für die „Gegend um Wetzlar“ angesetzte Paradigma mit der Form ben für die 3. Person Singular, 1. Person Plural und 3. Person Plural lässt sich allerdings weder durch die im HNWB (3: 569) angeführten Formen noch durch den Sprachatlas des Deutschen Reichs (vgl. für die 3. Person Singular WA: Kt. 47, 65, 359 u. 367 bzw. Wenker [1900] 2013: 616−617 u. 617−618, [1907] 2013: 828−829 u. 829) bzw. durch den DSA (vgl. für die 3. Person Singular DSA: Kt. 19) bestätigen. Bei der Morphologie des Infinitivs unterscheiden sich die hessischen Dialekte untereinander in einer charakteristischen Art und Weise: Bei der Form der Infinitivendung zeigt Zentralhessisch generell -ə, Nordhessisch -ən (Wiesinger 1983a: 855; allerdings tritt in der Schwalm wie im zentralhessischen Kerngebiet generell -ə auf, vgl. Schoof 1905: 251), dagegen sind für das Osthessische Nullendungen charakteristisch (vgl. Friebertshäuser 1987: 93). In den Varietäten, die Nullendungen kennen, gibt es jedoch zwei wichtige Ausnahmen: So weist der zu-Infinitiv (diachron handelt es sich hierbei wohl um eine Fortsetzung der Gerundium-Form) im Nullgebiet immer eine Endung auf (vgl. Dietz 1954: 115; Wegera 1977: 170−171; Weber 1959: 81). Ferner können Endungen nach bestimmten Auxiliarverben wie werden und bleiben auftreten (vgl. ɪç wa:ʁ wɔʃə ‘ich werde waschen’, Weldner 1991: 111 für das östliche Osthessische; Weber 1959: 82; dagegen führt Wegera 1977: 170−171 nur -0̸ auf). Kt. 14.6 illustriert die Infinitivendungen mithilfe des in Kap. 1. beschriebenen Korpus von 127 Versionen der Wenkersätze anhand von WS 22 und WS 16: In WS 22 hängt der Infinitiv schreien vom Modalverb müssen ab (bei diesem Modalverb treten anders als bei wollen und mögen keine geInfinitive auf, vgl. unten; wie Wenker [1895] 2013: 367 ausführt, unterbleibt im Sprachatlas des Deutschen Reichs bei der entsprechenden Karte [WA: Kt. 328] die Darstellung der Endung). Für WS 16 wurde der zu-Infinitiv (um …) auszutrinken herangezogen. Die Karte stellt eine Synopse der beiden Kontexte dar: die linke Hälfte des Kreissymbols repräsentiert WS 22 (verbale Infinitive), die rechte WS 16 (nominale zu-Infinitive). Die oben skizzierte dialektgeographische Situation wird dabei bestätigt (vereinzelte -enFormen im Zentralhessischen sind wohl der Vorlage geschuldet): Im nördlichen Nordhessischen dominiert -en, im Zentralhessischen -e, im Osthessischen dagegen je nach Kontext -0̸ oder -e. Interessant ist, dass das Nullgebiet fast ins Nordhessische übergeht und dort bei den nominalen Formen lautgesetzliche -en-Endungen erscheinen. Die Formen lassen sich zum Teil aufgrund der lautgeschichtlichen Entwicklung erklären: Im Zentralhessischen liegt n-Schwund vor, wobei das n vor Apokope geschützt hat, während im nördlichen Nordhessischen das auslautende mhd. -n (und damit dann auch das davor stehende e) häufig erhalten ist. Für das Osthessische spielen allerdings neben rein lautlichen wohl auch morphologische Kriterien eine entscheidende Rolle, wobei die genauen Bedingungen noch zu klären sind. Ein zweites Charakteristikum des Osthessischen und zum Teil des Nordhessischen sind ge-präfigierte Infinitive in Verbindung mit den Modalverben können und mögen, z. B. ɪç kʊn dɔs ned gəmɑx ‘ich kann das nicht machen’ (Weldner 1991: 112; vgl. auch Weber 1959: 79−81 für den Werra-Fulda-Raum; Post 2013: 40−41 für Bad Salzschlirf; Soost 1920: 435−436 für die ehemaligen Ämter Neustadt und Bauna). Bei trennbaren Verben tritt das ge-Präfix zwischen Partikel und Stamm, etwa Ich konn nedd hèèrgekomm
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
Kt. 14.6: Infinitivformen von schreien (WS 22) und auszutrinken (WS 16) aufgrund von 127 Versionen der Wenkersätze (Hintergrund: Einteilung der deutschen Dialekte nach Wiesinger 1983a)
‘ich kann nicht herkommen’ (Post 2013: 40; vgl. allgemein für dieses Phänomen, das sich auch in benachbarten thüringischen und ostfränkischen Dialekten findet, Höhle 2006: 64−65). Nach Weldner (1991: 112) handelt es sich beim osthessischen ge-Infinitiv um eine Erscheinung, „die im Bewußtsein der Mundartsprecher sicher stärkere Gemeinsamkeit schaffende Wirkung zwischen den einzelnen Lokalmundarten hat als bestimmte Lautungen oder lexikalische Bedingungen“. Kt. 14.7 zeigt für das in Kap. 1. charakterisierte Korpus die Verbreitung des ge-präfigierten Infinitivs anhand von WS 27, bei dem das Vollverb warten vom Modalverb können abhängt (Infinitive ohne ge-Präfigierung werden hier, unabhängig von ihrer Endung, weiß dargestellt). Mit ge- präfigierte Infinitive erscheinen im Osthessischen (allerdings nicht in allen Orten), aber auch im Nordhessischen und stellenweise sogar im Zentralhessischen, und zwar jeweils mit der für den entsprechenden Raum charakteristischen Endung. Bemerkenswert ist ihr westliches Auftreten, u. a. in einem Gebiet südlich von Biedenkopf, vgl. etwa Kint er net nach äi Agebläikche of ins gewarte […] ‘Könnt ihr nicht noch ein Augenblickchen auf uns warten […]’ (28527 Oberdieten). Auch Bender (1938: 43 u. Kt. 5) belegt für Allendorf und Kirtorf mit ge- präfigierte Infinitive, wobei diese ebenfalls in WS 27, der hier wohl in direkter Erhebung aufgezeichnet wurde (vgl. Bender
459
460
II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. 14.7: Infinitivformen beim Modalverb können aufgrund von 127 Versionen von WS 27 (Hintergrund: Einteilung der deutschen Dialekte nach Wiesinger 1983a)
1938: 1), auftreten. Fraglich ist allerdings, ob die im Kontext von WS 27 belegten mit ge- präfigierten Infinitive jeweils auf das Auftreten nach dem Modalverb können beschränkt sind oder ob von einer generellen ge-Präfigierung, die sich durch das ganze Paradigma hindurchzieht, auszugehen ist, also anstelle eines Verbs warten von *gewarten auszugehen ist. In den konsultierten Wörterbüchern lässt sich dafür keine Evidenz finden (vgl. etwa Crecelius 1897/1899: 894). Da allerdings warten in den Wenkersätzen über WS 27 hinaus in keinem anderen Kontext belegt ist, kann ein generelles *gewarten anstelle von warten prinzipiell nicht ausgeschlossen werden.
4.2.2. Kennzeichen verbaler Klassen Ein charakteristischer Zug der hessischen Dialekte findet sich im weitgehenden Erhalt der sog. Wechselflexion (Hebungs- und Umlautalternationen in vielen Ablautreihen der starken Verben, vgl. Schirmunski 1962: 495−500). Im Gegensatz zu anderen westmitteldeutschen Dialekten wie etwa dem Moselfränkischen finden sich in den hessischen Dialekten meist erhaltene Hebungsalternationen, aber nur in der 2. und 3. Person Singular
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und nicht, wie in den oberdeutschen Dialekten (und im Althochdeutschen), auch noch in der 1. Person Singular; auch der Imperativ scheint hier keine Alternation zu kennen (vgl. etwa Schaefer 1912: 66 hæɒlf, -t ‘hilf/helft’ für das Verb hæɒlfə ‘helfen’ im Zentralhessischen und Schoof 1905: 260 hälf ‘hilf ’ für die nordhessische Schwalm). So heißt es z. B. in der nordhessischen Schwalm mit Wechsel von ä (mhd. ë) zu e (dem Senkungsprodukt von mhd. i) im Singular Präsens: hälf, helfst, helfd ‘helfen’ oder äs, esd, esd ‘essen’ (Schoof 1905: 260 u. 264; ähnlich auch Bromm 1936: 33 für Rauschenberg). Auch die meisten Umlautalternationen in der 2. und 3. Person Singular sind erhalten (vgl. Schirmunski 1962: 499). So finden wir fååɒr, feeɒšd, feeɒd ‘fahren’ oder fal, felsd, feld ‘fallen’ (Schoof 1905: 266 u. 268). Sogar Fälle von Produktivität, die auch aus anderen westmitteldeutschen Dialekten bekannt sind (vgl. Nübling 2001: 470), treten auf, bei denen die Umlautalternationen der starken Verben auf schwache umlautfähige Verben ausgedehnt worden sind: glööb, gleebsd, gleebd ‘glauben’, köfə, keefst, keefd ‘kaufen’; allerdings wurde der Umlaut gelegentlich auch wieder ausgeglichen (Schoof 1905: 272). Verben mit sogenanntem Rückumlaut haben sich in den drei hessischen Dialektverbänden gut gehalten, und zwar besonders dort, wo das Präteritum allgemein erhalten ist. So schätzt Schirmunski (1962: 501) aufgrund von Angaben in Ortsgrammatiken, dass im Nordhessischen von einer Typenfrequenz von 25−30 Verben auszugehen, diese Zahl jedoch im Süden deutlich geringer sei. Während die Standardsprache viele der Rückumlaut-Verben regularisiert hat (z. B. mhd. hœren), sind viele hessische Dialekte näher beim mittelhochdeutschen Zustand oder haben die Klasse in bestimmten Fällen sogar ausgebaut. Hinweise darauf finden wir vor allem für das nordhessische Oberellenbach (vgl. Hofmann 1926: 42) oder für die Schwalm (Schoof 1905: 272): So existieren neben Alternationen von e/ä − a wie in bren, braand, gəbraand ‘brennen, brannte, gebrannt’ oder dseeln, dsaald, gədsaald ‘zählen, zählte, gezählt’ (Schoof 1905: 272) auch die Alternationen e − å wie in heeɒn, håɒd, gəhåɒd ‘hören, hörte, gehört’ oder i: − u: wie in fiiln, fuuld, gəfuuld ‘fühlen, fühlte, gefühlt’. Besonders interessant ist die Klasse der Verben auf -ek-, die sich auch analogisch auf Verben mit mhd. i (bzw. entrundetem mhd. ü) + k ausgedehnt hat (wohl aufgrund der Senkung von mhd. i/ü > e): neben šdeʒə, šdååxd, gəšdååxd ‘stecken, steckte, gesteckt’ finden wir analogisch reʒə, råxd, geråxd ‘rücken, rückte, gerückt’ (Schoof 1905: 273; vgl. auch Schirmunski 1962: 502).
5. Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Beschreibungen syntaktischer Phänomene der hessischen Dialekte können in wenigen Grammatiken, die auch syntaktische Phänomene abdecken, gefunden werden. Außerdem erlauben die bestehenden flächendeckenden Datensätze einige Angaben. Die WenkerDaten erweisen sich in Bezug auf die hessischen Dialekträume als nicht besonders ergiebig: Georg Wenkers 40 Sätze enthalten gerade für die hessischen Basisdialekte nur wenige arealbildende syntaktische Phänomene. Dagegen erlaubt das speziell zur Dokumentation syntaktischer Strukturen erhobene SyHD-Material, das sich im Wesentlichen auf das Bundesland Hessen bezieht und auch einen gewissen Vergleich zu dem Zentral-, Nord- und Osthessischen benachbarten Dialekträumen erlaubt (vgl. Kap. 2.), einige Angaben zu für die hessischen Dialekte charakteristischen Konstruktionen. Die folgende
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Darstellung stützt sich primär auf die Resultate von SyHD, wie sie in SyHD-atlas (Fleischer, Lenz & Weiß 2017b) zusammengefasst sind. Insgesamt sind die hessischen Basisdialekte in syntaktischer Hinsicht durch vergleichsweise kleinräumige Strukturen geprägt. Häufig entpuppt sich das Osthessische als besonders eigenständig; die nördlichen Gebiete des Nordhessischen wie auch der westliche Teil des Zentralhessischen zeigen gelegentlich gegenüber dem restlichen Nord- bzw. Zentralhessischen abweichende Muster.
5.1. Verbalsyntax Abhängig vom Verbtyp lässt sich der Präteritumschwund bzw. die Perfekt-Ausdehnung für die südlichen hessischen Dialekte belegen (vgl. Fischer 2015, 2017). So dominiert beim schwachen Verb wohnen, bei dem die Perfekt-Ausdehnung im Vergleich zu anderen abgefragten Verben am weitesten vorangeschritten ist, das Perfekt im Zentral- und Osthessischen, wogegen das Nordhessische noch einen stärkeren Anteil an Präteritum-Formen aufweist (vgl. Fischer 2015: bes. 501 [Karten]). Beim starken Verb kommen ist das Präteritum in einer Übersetzungsfrage in den hessischen Räumen sehr weit verbreitet, bei einer Bewertungsaufgabe tritt allerdings das Perfekt häufiger auf, u. a. auch im Nordhessischen (vgl. Fischer 2015: bes. 502 [Karten]). Beim Präteritopräsens wollen ist unabhängig vom Fragetyp das Präteritum in allen hessischen Dialekträumen (nicht jedoch im südlich angrenzenden Rheinfränkischen) dominant (vgl. Fischer 2015: bes. 503 [Karten]). Zur Umschreibung des Konjunktivs II (vgl. Lenz 2017a) ist in den hessischen Dialektverbänden die tun-Periphrase, d. h. die Umschreibung mittels täte, weit verbreitet, etwa zentralhessisch Eich deed dich joa oabholle ‘ich täte dich ja abholen’ (SyHD: E2_ 23; Büdingen_Vonhausen_2), nordhessisch Ich dät dich vo de Schul gän oabholln ‘ich täte dich von der Schule gerne abholen’ (Alsfeld_Eifa_3), osthessisch Ich däd dich Moinn joa gähn von de School oabhole ‘ich täte dich morgen ja gerne von der Schule abholen’ (Großenlüder_Müs_1); in den nördlichen und nordöstlichen nordhessischen Dialekten dominiert jedoch die Umschreibung mittels würde, etwa Ech werde Dech jo lange ‘ich würde dich ja abholen’ (Allendorf_Haine_7). Demgegenüber belegt Soost (1920: 183) für das nordhessische Holzhausen noch die täte-Periphrase, diese scheint sich also im Nordhessischen zugunsten der würde-Periphrase zurückgezogen zu haben. Morphologisch gebildeter Konjunktiv II ist vor allem in den südlichen Dialekten weitgehend abgebaut (vgl. Kap. 3.2.). Das kriegen-/bekommen-Passiv, eine Periphrase mit den Verben kriegen oder bekommen, die es erlaubt, einen in einem Aktivsatz in der Regel im Dativ stehenden Aktanten in den Nominativ zu setzen (vgl. Lenz 2017b und dort zitierte Literatur), ist in allen hessischen Dialektverbänden verbreitet. Dies zeigen etwa zentralhessisch der kreet e banan abgenomme ‘der kriegt eine Banane abgenommen’ (SyHD: DP_02; Dillenburg_ Eibach_2), nordhessisch der kreit e banane abgenomme ‘der kriegt eine Banane abgenommen’ (Burgwald_Ernsthausen_7), osthessisch der mann krit die banane obgenomme ‘der Mann kriegt die Banane abgenommen’ (Hünfeld_Michelsrombach_3). Für „progressive“ Konstruktionen (vgl. Kuhmichel 2016, 2017) ist die Umschreibung am + Infinitiv in allen hessischen Dialektverbänden belegt, etwa zentralhessisch Das Mädche is om nachdenke (SyHD: E3_18, Lautertal_Engelrod_5), nordhessisch Dos Määche es om ewwerleeng (Schrecksbach_Schrecksbach_7), osthessisch Dos Maje is
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om nochdenke (Flieden_Magdlos_4). Gerade im Zentralhessischen wird jedoch in entsprechenden Kontexten die tun-Periphrase bevorzugt, etwa Dos Madche dout nochdenke (Gießen_Allendorf_Lahn_3), was allerdings nicht zwingend bedeuten muss, dass es sich hierbei um eine grammatikalisierte Progressiv-Konstruktion handelt (vgl. Kuhmichel 2017: 122 u. 131). Die Konstruktion am + Infinitiv ist vor allem im westlichsten Zentralhessischen besonders häufig. Dies sowie die Tatsache, dass am + Infinitiv gegenüber den westlich angrenzenden Dialekten in den hessischen Mundarten in Bezug auf bestimmte grammatische Kontexte stärker eingeschränkt ist, passt zur vermuteten rheinischen Herkunft dieser Konstruktion.
5.2. Nominal- und Pronominalsyntax Der bestimmte Artikel wird in den hessischen Dialekten auch bei Rufnamen fast generell verwendet (vgl. Werth 2017a, 2017b). So entspricht dem standardsprachlichen ich habe 0̸ Klaus gestern erst gesehen (SyHD: E2_19) etwa zentralhessisch Eich ho de Klaus geasdern escht geseh (Ulrichstein_Ulrichstein_3), nordhessisch Ech honn dän Klaus gäs-
Kt. 14.8: Reflexivpronomen sich mit Bezug auf ein Subjekt der 1. Person Plural (Fleischer 2017b: 298)
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tern erscht gesähn (Fritzlar_Lohne_2) und osthessisch Ich honn dr Klaus nächte erst gesie (Ehrenberg_Wüstensachsen_4). Bei indefinit-partitiven Verhältnissen (vgl. Strobel 2017) sind die auf Genitive von Personalpronomen zurückgehenden Formen (e)r(e) (Plural, Femininum) und sen (Maskulinum, Neutrum) charakteristisch. Dem standardsprachlichen da sind welche („ihrer“; SyHD: E1_21) entsprechen etwa zentralhessisch Do soi ere (Nidda_Borsdorf_6) oder osthessisch Do sennere (Eichenzell_Kerzell_5). Im Nordhessischen, das derartige Partikeln ursprünglich auch kennt (Soost 1920: 200−201 belegt sie für das nördlich von Kassel in unmittelbarer Nähe zum niederdeutschen Gebiet gelegene Holzhausen), tritt dagegen eher das Pronomen welch auf, etwa Do sing welche (Gilserberg_Gilserberg_2). Das Pronomen welch findet sich dann auch in den nördlich angrenzenden niederdeutschen Dialekten. Charakteristisch für das Zentralhessische ist das Reflexivpronomen sich mit Bezug auf ein Subjekt der 1. Person Plural (vgl. Fleischer 2017b), etwa Mer duze sich häi ‘wir duzen uns (wörtl.: sich) hier’ (SyHD: E3_05; Gießen_Allendorf_Lahn_2); vgl. dazu Kt. 14.8.
5.3. Kongruenzphänomene Für das Osthessische charakteristisch sind neutrale Formen von Indefinitpronomina bei generischer Referenz (vgl. Birkenes & Fleischer 2017), wo im Standard stattdessen (neben niemand) maskuline Formen wie keiner, einer, jeder auftreten würden. Dies zeigen etwa Well noch äns Salz? ‘will noch jemand (wörtl.: eines) Salz?’ (SyHD: E3_19; Ehrenberg_Wüstensachsen_2) oder Mit dähne Sache wollt doch keins me spiel ‘mit diesen Sachen wollte doch keines mehr spielen’ (SyHD: E2_08; Großenlüder_Müs_1). Als besonders charakteristisch für das Nordhessische und westliche Zentralhessische, aber auch darüber hinaus belegt, erweisen sich neutrale Kongruenzformen bei Bezug auf das Substantiv Mädchen, bei dem eine Genus-Sexus-Divergenz vorliegt (vgl. LeserCronau 2017a; 2018), und, damit areal korrelierend, bei Bezug auf weibliche Personen (vgl. Leser-Cronau 2017b; 2018). So finden sich neutrale Artikelformen, etwa zentralhessisch es Maria (SyHD: E3_03; Weinbach_Edelsberg_6), nordhessisch s Maria (Fritzlar_ Lohne_3). Auch in anaphorischen Kontexten finden sich hier dominierend neutrale Pronomen-Formen.
5.4. Wortstellung Gegenüber dem Standard abweichende Abfolgen der Teile des verbalen Clusters mit Modalverben können für das Osthessische belegt werden (vgl. Weiß & Schwalm 2017; als osthessische Eigenheit im Kontrast zur Standardsprache bewertet dieses Merkmal Post 2013: 43−44), bei einem Zwei-Verb-Cluster etwa ob där eh mol will heirot ‘ob der einmal heiraten will (wörtl.: will heiraten)’ (SyHD: E1_13; Hilders_Simmershausen_8; vgl. dazu Kt. 14.9), bei einem Drei-Verb-Cluster etwa däess mer doas Büoch bis zum Fredich müsse geläse ho ‘dass wir das Buch bis Freitag gelesen haben müssen (wörtl.: müssen gelesen haben)’ (SyHD: E1_17; Neuhof_Hauswurz_3). Bestimmte osthessische Modalverbkonstruktionen, bei denen eine das Dentalsuffix aufweisende Form der Modal-
14. Zentral-, Nord- und Osthessisch
Kt. 14.9: Wortstellung von Modalverb und Infinitiv (Weiß & Schwalm 2017: 475)
verben können und mögen zusammen mit einer mit ge- präfigierten Form des Vollverbs auftritt (vgl. Kap. 4.2.), zeigen neben der im Standard und in den angrenzenden Dialekten unbekannten infiniten Verbform auch eine vom Standard abweichende Abfolge, etwa Bos hon ich fröher konnt geschwemm! ‘was habe ich früher schwimmen können’ (SyHD: E2_15; Fulda_Kämmerzell_8; vgl. Luks & Schwalm 2017). Bei der Abfolge der in der Regel als klitische Formen realisierten pronominalen Objekte es und mir (vgl. Fleischer 2017c) bevorzugen die hessischen Dialekte die Serialisierung mir es, etwa zentralhessisch Du musst mesch ower moann wirre breange (SyHD: E1_23; Lollar_Ruttershausen_5), nordhessisch Du müsst mesch aber morje werre bränge (Schrecksbach_Schrecksbach_8), osthessisch Du musst mesch moan wieder breng (Neuhof_Hauswurz_4). Für nördlichere nordhessische Gebiete ist jedoch die umgekehrte, dem Standard entsprechende Serialisierung charakteristisch, etwa Dü müsst’s me awwer morgen wärre brengen (Borken_Arnsbach_1). Bei Äquivalenten zu den standardsprachlichen Pronominaladverbien mit konsonantisch anlautender Präposition wie davon etc. (vgl. Fleischer 2017d) ist die Spaltungskonstruktion für das Nordhessische und teilweise das westliche Zentralhessische charakteristisch, etwa Do weß ech noch nex vonne (SyHD: E1_11; Felsberg_Wolfershausen_7). Dagegen ist im übrigen Zentralhessischen und Osthessischen vor allem die Verdoppelung
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von da verbreitet. Einerseits tritt Trennung von der Präposition auf, etwa zentralhessisch Do waaß eisch nix devo (Karben_Burg-Gräfenrode_5), osthessisch Do weiß ich noch nischt devo, andererseits können auch die beiden verdoppelten Elemente unmittelbar hintereinander auftreten, etwa zentralhessisch Dodeva waaß eich noch nix (Büdingen_Vonhausen_5), osthessisch Doadevo weiß ich noch nischt (Hünfeld_Neuwirtshaus_4). Bei vokalisch anlautenden Präpositionen sind beide Verdoppelungs-Konstruktionen in allen hessischen Dialekten belegt, so auch im Nordhessischen, etwa Do hättest du au frier drann denke kinnen (SyHD: E2_16; Edertal_Hemfurth_4) oder Dodro kunnste och frieher gedenke (Alsfeld_Eifa_2).
5.5. Satzverknüpfung Bei verschiedenen Vergleichs-Konstruktionen (vgl. Jäger 2013, 2017, 2018: bes. 304− 324, 331−346 u. 350−356) tritt in allen hessischen Dialekten anstelle des standardsprachlichen als häufig oder dominierend wie auf, etwa zentralhessisch das medche is grissr wei der jung (SyHD: DP_03; Rabenau_Rüddingshausen_3), nordhessisch das mäje is grösa wii da jüng (Neuenstein_Raboldshausen_1), osthessisch das mäjen is grössa bi de jung (Fulda_Kämmerzell_8). Teilweise werden auch als und wie kombiniert, etwa s maichen is grässa als wie da junge (Hessisch Lichtenau_Velmeden_1; nordhessischthüringisches Übergangsgebiet). Neben als belegt bereits der Sprachatlas des Deutschen Reichs (WA: 211, zu WS 15: … Du darfst früher nach Hause gehn als die Andern) für die hessischen Dialekte auch wie und als wie, allerdings erscheinen sie dort nicht als dominierende Typen (vgl. auch Jäger 2018: 295−296, mit Kt.). Bei der Relativsatz-Einleitung (vgl. Fleischer 2017e) tritt in den meisten hessischen Dialekten das mit seinem Antezedens kongruierende Pronomen der/die/das auf, wobei im Neutrum das häufig durch was ersetzt wird, etwa zentralhessisch Doas Geald, woas äch veadien (SyHD: E1_18; Gemünden_Nieder-Gemünden_1), nordhessisch Dos Gäld boß ich verdinn (Schrecksbach_Schrecksbach_5), osthessisch Dos Geld, bos ich verden (Eichenzell_Kerzell_6). Durch unflektiertes wo eingeleitete Relativsätze, wie sie im angrenzenden Rheinfränkischen häufig sind, werden etwa für das zentralhessische Gebiet (bzw. das Übergangsgebiet zum Rheinfränkischen) von Urff (1926: 23) für Hanau, von Alles (1954: 50) für die Wetterau und von Schwing (1921: 115) für Selters an der Lahn beschrieben. In den SyHD-Daten finden sich wo-Relativsätze im zentralhessischen Gebiet eher selten, sie treten jedoch etwas häufiger im Osthessischen auf, etwa Dos Geld bu ich verdie (Ehrenberg_Wüstensachsen_6).
6. Wandel und vertikale Register 6.1. Wandel Da für die hessischen Dialekträume meist keine Vergleiche zwischen flächendeckenden Datensätzen aus unterschiedlichen Zeiten möglich sind, können empirisch breit abgestützte Generalisierungen zum Wandel auf dialektaler Ebene nur in wenigen Fällen gemacht werden. Dennoch sind einige Aussagen möglich, gerade für das südliche Zentral-
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hessische: Während noch bis ins 19. Jahrhundert zentralhessische Formen bis unmittelbar vor Frankfurt reichten (Ramge 2003: 2739), lassen sich für den südlichen zentralhessischen Bereich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Einflüsse aus dem Frankfurter Raum feststellen, die sich mehr oder weniger weit nach Norden ausdehnen und in letzter Konsequenz die zentralhessischen Basisdialekte gesamthaft verdrängen. Alles (1954: 180− 196; vgl. die Diskussion bei Vorberger 2019: 62–64) hält Anfang der 1950er Jahre für die Wetterau das Vordringen südlicher lautlicher Formen fest, wobei er verschiedene konzentrische Ausdehnungsareale beobachtet: beispielsweise ist der „gestürzte“ Diphthong /ou/ für mhd. uo in der gesamten Wetterau zu diesem Zeitpunkt mit wenigen Ausnahmen im Süden noch erhalten, ebenso dominiert für mhd. ô mit Ausnahme des Südens noch /u:/ (Alles 1954: 189); dagegen wurde der Rhotazismus von intervokalischen d, t im Süden wieder rückgängig gemacht (Alles 1954: 190) und die Koronalisierung von [ç] zu [ʃ, ɕ] ist bereits bis nach Friedberg verbreitet (Alles 1954: 191). Ein Vergleich der SyHD-Daten mit älteren Datentypen erlaubt in manchen Fällen in die Fläche gehende Aussagen. In Bezug auf den Präteritumschwund (vgl. Kap. 5.1.) zeigt sich bei einem Vergleich derselben Verben in Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs mit den SyHD-Materialien zwischen diesen beiden ca. 130 Jahre auseinanderliegenden Datensätzen eine bemerkenswerte Konstanz (Fischer 2015: 123−124). Dagegen scheint sich die (dem Standard näherstehende) würde-Periphrase anstelle der täte-Periphrase im Nordhessischen, die bei Soost (1920: 183) noch für einen nördlichen nordhessischen Ort beschrieben wird, ausgedehnt zu haben (vgl. Kap. 5.1.). Bei den Vergleichskonstruktionen (vgl. Kap. 5.5.) ergibt sich zwischen den Wenker- und den SyHD-Materialien ein wenig konklusives Bild: In beiden Datensätzen herrscht beträchtliche, areal wenig aussagekräftige Variation, die als solche stabil zu sein scheint. Der mit was eingeleitete Relativsatz-Typ bei neutralem Bezugsnomen (vgl. Kap. 5.5.) könnte sich im Vergleich zu einer Verbreitungsangabe aus den 1860er Jahren ausgebreitet haben (vgl. Fleischer 2017e: 566). Dagegen scheint bei den partitivischen Partikeln (vgl. Kap. 5.2.) ein gewisser arealer Rückgang stattgefunden zu haben, indem etwa Soost (1920: 200−201) diese Partikeln noch für einen sehr weit nördlich gelegenen Ort belegt, jedoch auch ausführt, dass sie von der jüngeren Generation kaum noch gebraucht werden und neben welch stehen.
6.2. Vertikale Register In Bezug auf den Status der Dialekte zeigen die Daten des Hessischen Dialektzensus (HDZ, Friebertshäuser & Dingeldein 1989) bereits für die Mitte der 1980er Jahre einen deutlichen Rückgang der Basisdialekte, wobei charakteristische regionale Staffelungen auftreten. Die Stellung der Dialekte ist im Nordhessischen am prekärsten, im Zentralhessischen noch am besten (vgl. Dingeldein 1997: 121): Die Frage, ob die interviewte Person einen Dialekt spricht, wurde von 50 % (Zentralhessisch; zur Terminologie vgl. Kap. 1.), 46 % (Osthessisch) bzw. 32 % (Nordhessisch) bejaht (vgl. Friebertshäuser & Dingeldein 1989: Kt. 1). Besonders für das Nordhessische und Osthessische werden Dialektkenntnisse bei der jüngsten Altersgruppe (16−30 Jahre) mit 25 % bzw. 27 % deutlich tiefer eingeschätzt als im Zentralhessischen mit 52 % (vgl. Friebertshäuser & Dingeldein 1989: Kt. 3). Damit korrespondiert die Einschätzung der Häufigkeit des Dialektgebrauchs, die im Zentralhessischen von 52 % mit „immer/meistens“ beantwortet wurde und somit deutlich höher liegt als beim Nordhessischen mit 32 % und beim Osthessi-
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schen mit 33 % (vgl. Friebertshäuser & Dingeldein 1989: Kt. 22). Bei der Frage, welche Sprachform im Umgang mit den eigenen Kindern verwendet wird, überwiegt Hochdeutsch in allen Räumen, jedoch besonders deutlich im Nordhessischen (vgl. Friebertshäuser & Dingeldein 1989: Kt. 47 u. 49). Als Sprache der etwa Sechsjährigen dominiert Hochdeutsch nach der Wahrnehmung der im HDZ Befragten ebenfalls deutlich, wobei sich eine Staffelung vom Zentralhessischen (57 %) über das Osthessische (64 %) zum Nordhessischen (79 %) ergibt (vgl. Friebertshäuser & Dingeldein 1989: Kt. 51). Mit dem generellen Rückzug der traditionellen Basisdialekte geht eine uneinheitliche neue Sprachsituation einher: Mit dem „Neuhessischen“ hat sich im Ballungsraum des Rhein-Main-Gebiets eine neue Varietät etabliert, die mit Vorberger (2019: 377) als „Rhein-Main-Regiolekt“ charakterisiert werden kann. Sie wirkt sich auch auf die angrenzenden zentralhessischen Räume aus und tritt zunehmend an die Stelle der alten Dialekte: Das „Neuhessische“ wird meist als „Dialekt“ eingeschätzt. Dies legen etwa bereits Daten des HDZ (Friebertshäuser & Dingeldein 1989: Kt. 3) nahe, gemäß welchen die Alterskategorie 16−30 Jahre im Rhein-Main-Gebiet mit 63 % deutlich häufiger „Dialekt“ spricht als etwa im Osthessischen (27 %). Mit zunehmendem Abstand vom Rhein-Main-Gebiet werden „in der alltagssprachlichen Kommunikation zunehmend standardsprachliche oder sehr standardsprachenahe Varianten mit nur wenigen regionalen artikulatorischen und lexikalischen Elementen verwendet“ (Dingeldein 1997: 131; vgl. Dingeldein 1997: 128). Dieser Befund wird etwa durch eine Untersuchung bestätigt, in der in den Gebieten des Zentralhessischen, Nordhessischen, Osthessischen und „Neuhessischen“ unter vergleichbaren Bedingungen Tonaufnahmen im intendierten Standard erstellt wurden: Dabei traten in den Aufnahmen aus dem nordhessischen Gebiet am wenigsten Abweichungen vom Standard auf (Purschke 2008: 201). Für die genauere Einschätzung der vertikalen Register liegen mit Kehrein (2008) zu Gießen und Vorberger (2019) zu den Orten Büdingen (dazu auch Vorberger 2017), Bad Nauheim, Gießen und Ulrichstein Auswertungen zu REDE-Daten aus dem zentralhessischen Raum vor; für den nord- und osthessischen Bereich fehlen bisher eingehende empirische Untersuchungen. Für Gießen stellt Kehrein (2008: 150) für einen Sprecher der mittleren Generation eine gewisse Ähnlichkeit zur Situation in vielen niederdeutschen Gebieten fest, indem keine Dialektkompetenz mehr festgestellt werden kann und ausschließlich standardnahe Sprechlagen verwendet werden. Vorberger (2019: 370–378) zeigt auf, dass zwischen dem südlichen und dem nördlichen zentralhessischen Gebiet bedeutende Unterschiede in Bezug auf die Struktur des regionalen Spektrums vorliegen: Im nördlichen Gebiet lässt sich ein Zwei-Varietäten-Spektrum feststellen, das neben dem Basisdialekt, der in größeren Städten (aufgezeigt anhand von Gießen) zwar schon weitgehend abgebaut ist, sich in ländlicher geprägten Orten aber teilweise durchaus noch hält (so in Ulrichstein im Vogelsberg; für das Marburger Hinterland und für Biedenkopf deuten sich ähnliche Ergebnisse an, vgl. Vorberger 2019: 372, Fn. 647), einen „nördlichen Regionalakzent“ umfasst, der sich vom „südlichen Regionalakzent“ klar abgrenzen lässt. Charakteristisch für das nördliche Gebiet ist das Nebeneinanderstehen diskreter Varietäten (wobei sich als Entwicklung ein Trend hin zum monovarietären Sprecher festhalten lässt). Im Bereich des südlichen Zentralhessischen werden dagegen verschiedene regionalsprachliche Kontinua ohne diskrete Varietätengrenze, die in der Regel nur noch Reste der alten Basisdialekte umfassen, von einer gemeinsamen Oralisierungsnorm überdacht, wobei sich ähnliche Erscheinungen auch südlich von Frankfurt im rheinfränkischen Gebiet sowie in Frankfurt selbst, wo allerdings der Dialekt durch den Regiolekt schon definitiv abgelöst wurde, feststellen lassen.
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Da sich das regionalsprachliche Kontinuum im Süden des zentralhessischen Raums am Rhein-Main-Gebiet orientiert, wird dieses Gebiet aus seinen ursprünglichen dialektalen Zusammenhängen gelöst, womit eine „Rhein-Mainisierung des südlichen Zentralhessischen“ (Vorberger 2019: 374) festgestellt werden kann. Die Situation im Süden ist dabei durch eine hohe Dynamik innerhalb des regionalsprachlichen Kontinuums gekennzeichnet, wogegen im Norden eine geringe Dynamik (bei weitgehender Aufgabe der standardfernen Sprechlagen) vorliegt. Die genauere Abgrenzung des arealen Geltungsbereichs der beiden unterschiedlich strukturierten Varietäten-Spektren bleibt noch festzustellen. Mit der Angleichung der Sprachsituation des südlichen zentralhessischen an die des südlich angrenzenden rheinfränkischen Raums geht eine Ausdehnung südlicher sprachlicher Formen einher, wie in Bezug auf die Wetterau bereits oben ausgeführt wurde. Teilweise finden sich bestimmte Phänomene auch auf sprachlichen Ebenen über dem Basisdialekt. Die Koronalisierung etwa, ein Phänomen, das in den zentralhessischen Basisdialekten ursprünglich keine Grundlage hatte, sich aber bereits in den 1950er Jahren in der Wetterau belegen lässt, verbreitet sich in jüngerer Zeit auf der Ebene des Regiolekts (Vorberger 2019: 361–363); sie hat sich im südlichen zentralhessischen Gebiet im gesamten Spektrum etabliert (wird dort allerdings teilweise bereits wieder abgebaut) und lässt sich auch in Gießen, wo allerdings in jüngster Zeit auch bereits wieder Abbautendenzen festzustellen sind, auf der Ebene des Regiolekts beobachten. Da es sich bei der Koronalisierung um ein hochgradig salientes Merkmal handelt (vgl. Kiesewalter 2011: 352), passt die Tatsache, dass sie sich in Gießen feststellen lässt, zur Angabe, dass das „Neuhessische“ bis Gießen Verbreitung finde (Wiesinger 1980: 72 = 2017: 164; Dingeldein 1994: 277). Allerdings zeichnet sich dort, mit der beobachteten zunehmenden Standardadvergenz des Regiolekts, wie ausgeführt, bereits wieder ein Rückgang dieses Merkmals ab. Auf der Ebene des Regionalakzents findet sich die Koronalisierung in den südlichen zentralhessischen Orten Büdingen und Bad Nauheim, jedoch nicht in Ulrichstein und Gießen (Vorberger 2019: 342). Neben der Koronalisierung lassen sich weitere lautliche Entwicklungen, die in den zentralhessischen Dialekten zunächst keine Basis hatten, sich aber in jüngerer Zeit oberhalb der Basisdialekte verbreiten, nennen: So lässt sich für den gesamten zentralhessischen Raum (und im südlich daran angrenzenden rheinfränkischen Gebiet) die Ausbreitung der s-Sonorisierung (Vorberger 2019: 358–368), beobachten. Die TiefschwaVorverlagerung, bei der für ein vokalisiertes r anstelle eines Tiefschwas [ɐ] ein Vollvokal realisiert wird (vgl. Vorberger 2019: 363–365), verbreitet sich über den Regiolekt und findet sich im Gebiet des südlichen wie des nördlichen Zentralhessischen, allerdings in der Regel nicht im gegebenenfalls noch vorhandenen Basisdialekt (wo noch konsonantische Realisierungen vorherrschen). Bei der jungen Generation in Ulrichstein lässt sich jedoch bei diesem Merkmal eine dialektale Ausbreitung beobachten (dabei handelt es sich um das einzige Beispiel für die Ausdehnung eines ursprünglich nicht lokalen Merkmals in diesem Dialekt; vgl. Vorberger 2019: 353). Als sich in erster Linie im generationellen Vergleich ausdehnendes Merkmal, das charakteristischerweise auf dialektaler Ebene seltener auftritt als in höheren Sprachlagen, lässt sich schließlich die Fortisierung von Lenis-Plosiven im Anlaut vor Sonorant nennen (Vorberger 2019: 365–369). Für den Süden des zentralhessischen Gebiets lässt sich insgesamt eine Ausdehnung des „Neuhessischen“ (die in jüngster Zeit allerdings bereits wieder zurückgeht) feststellen. Dies gilt auch in einer perzeptiven Perspektive: „Neuhessische“ Sprachproben werden von Hörern aus dem südlichen zentralhessischen Raum in der Regel mit der eigenen Sprache identifiziert, von Hörern aus dem nördlichen zentralhessischen Raum dagegen
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II. Die Sprachräume des Deutschen
dem Raum Frankfurt zugeordnet (Purschke 2008: 196). Damit existiert eine „Bewertungsgrenze“ (Purschke 2008: 200) zwischen dem südlichen und dem nördlichen zentralhessischen Raum, die mit den oben diskutierten Unterschieden im regionalen Spektrum zu korrelieren scheint und die die Ausdehnung des „Neuhessischen“ in den Bereich des südlichen Zentralhessischen reflektiert. Dazu passt auch, dass diese Varietät, wie bereits in Kap. 1. ausgeführt, in Laienkonzeptionen in der Regel für „das Hessische“ steht. Aus Imitationsdaten ergibt sich ebenfalls, dass diese Varietät „als kognitiver regionalsprachlicher Prototyp fungiert“ (Purschke 2010: 172). Für die zukünftige Forschung im Bereich der vertikalen Register stellt die genauere Untersuchung und Einordnung der Verhältnisse im Bereich des Nordhessischen und Osthessischen ein Desiderat dar. Darüber hinaus ist die Frage, ob sich bestimmte grammatische Merkmale in den Spektren oberhalb der Basisdialekte wiederfinden oder ob diese vollständig abgebaut werden, noch weitgehend ungeklärt, da sich die bisherigen Untersuchungen zu Varietäten oberhalb der Basisdialekte im Wesentlichen auf phonologische und lexikalische Phänomene beschränken. Es stellt etwa eine noch unbearbeitete Frage dar, inwieweit Vergleichsstrukturen mit wie und als wie, die Dingeldein (1994: 304) für das „Neuhessische“ beschreibt und die auch in den hessischen Basisdialekten verbreitet sind (vgl. Kap. 5.5.), auch in standardnäheren Varietäten persistieren. Gleiches gilt auch für durch was eingeleitete Relativsätze, die nach Dingeldein (1994: 303) im Neuhessischen vorkommen und auch in den modernen hessischen Dialekträumen festgestellt werden können (vgl. Kap. 5.5.) sowie für durch wo bzw. der/die/das wo eingeleitete Relativsätze, die Dingeldein (1994: 303) ebenfalls für das Neuhessische ansetzt, die aber in den hessischen Basisdialekten weniger stark verankert sind (vgl. Kap. 5.5.). In Bezug auf den Artikel bei Rufnamen zeigt sich, dass in den hessischen Dialekten und Regiolekten der Artikel in der Regel gesetzt wird und somit in beiden Varietäten gegen den Standard die gleichen Strukturen vorliegen (vgl. Werth 2017b). Es bleibt abzuwarten, ob sich ähnliche Strukturen auch bei anderen grammatischen Phänomenen finden.
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Magnus Breder Birkenes, Marburg (Deutschland) Jürg Fleischer, Marburg (Deutschland)
15. Rheinfränkisch 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Historie und Besonderheiten Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie Basisdialektale Raumstruktur: Syntax
6. Sprachdynamik des Rheinfränkischen 7. Dynamik der Regionalsprachengrenze Rheinfränkisch/Zentralhessisch 8. Literatur
1. Einleitung Mit Rheinfränkisch wird im Folgenden eine Regionalsprache des Deutschen bezeichnet, die im Südwesten vom Französischen, im Nordwesten vom Rheinischen, im Nordosten https://doi.org/10.1515/9783110261295-015
15. Rheinfränkisch
vom Hessischen, im Osten vom Ostfränkischen und im Süden vom Alemannischen begrenzt ist. Im Unterschied zu anderen Sprachraumbezeichnungen des Deutschen (Hessisch, Rheinisch, Alemannisch, Bairisch …) findet sich der Ausdruck Rheinfränkisch nicht in der Alltagssprache, sondern allein in der Terminologie der Regionalsprachenforschung. Dementsprechend wird man in diesem Sprachraum schwerlich Laien finden, die ihre eigene Regionalsprache als Rheinfränkisch bezeichnen. Stattdessen dominieren alltagssprachlich Bezeichnungen von Teilräumen. Diese orientieren sich meist an territorialkulturellen Einheiten (Pfälzisch, Lothringisch, Saarländisch, Mainzerisch, Mannheimerisch etc.). Das Konzept „Rheinfränkisch“ scheint also im Sprecherbewusstsein weniger stark verhaftet zu sein als die Konzepte der rheinfränkischen Teilräume. Die fehlende Verankerung des Rheinfränkischen im Sprecherbewusstsein findet ihre Entsprechung in der dialektologischen Forschung, insbesondere in den Vorschlägen zur Dialekteinteilung des Deutschen: Behaghel (1891 et passim; ebenso Bach 1969, 1970; Moser 1969; König [1978] 2015: 230−231) schlug zunächst vor, Rheinfränkisch als Großeinheit von der deutsch/französischen Sprachgrenze bis zum Niederdeutschen anzusetzen, jeweils östlich und westlich begrenzt durch die Lautverschiebungsisoglossen (wat/was und Pund/Pfund). Wredes Einteilungskarte der deutschen Mundarten (vgl. DSA 1927−1956, 1937: Blatt 56) nimmt dann eine Zweiteilung des Rheinfränkischen in Südrheinfränkisch (Lothringisch und Pfälzisch) und Nordrheinfränkisch (Hessisch) vor, worin ihm eine Vielzahl der Handbücher folgen (vgl. Mitzka 1943; Schwarz 1950; Schirmunski [1962] 2010: 70; Protze 1969: 406). Wiesinger (1970, 1983a: 846−849) schlägt dann aufgrund systemischer, meist vokalischer Kriterien eine Neuterminologisierung vor, die Rheinfränkisch nicht mehr als Oberbegriff versteht, sondern es auf den pfälzischlothringischen Raum reduziert, dem das Hessische (mit drei klar abgegrenzten Teilräumen) gegenübersteht. Misslich an dieser Umterminologisierung ist die nun bestehende Mehrdeutigkeit des Ausdrucks Rheinfränkisch, der einmal einen Oberbegriff für Lothringisch, Pfälzisch und Hessisch meint und einmal nur die ersteren beiden Areale zusammenfasst. In diesem Handbuch wird Wiesingers Terminologie übernommen, da sie sich aufgrund der zugrunde gelegten systemischen Kriterien und aufgrund der Unterscheidung von Kernzonen und Übergangsgebieten als Forschungsstandard etabliert hat (vgl. aber Lameli 2013). Sowohl die fehlende Verortung des Rheinfränkischen im Sprecherbewusstsein als auch die Probleme der wissenschaftlichen Abgrenzung des Sprachraumes sind auf das gleiche Faktum zurückzuführen: Es fehlen regionalsprachliche Gemeinsamkeiten des Rheinfränkischen als Ganzes. Zwar lässt sich das Rheinfränkische klar von Nachbarsprachräumen abheben, aber eben nur durch Außenabgrenzung: „Ähnlich dem Alemannischen fehlen den verschiedenen, unter Rheinfränkisch zusammengefaßten Dialektgruppen charakteristische synchrone Gemeinsamkeiten, die sie gegenüber den Nachbardialekten als Einheit erscheinen ließen. Solche strukturelle charakteristische Eigenschaften besitzen aber vor allem das Zentralhessische und Moselfränkische und in gewissem Maße auch die benachbarten alemannischen und ostfränkischen Teilräume, so daß die Zusammenfassung von außen her gerechtfertigt wird.“ (Wiesinger 1983a: 846). Diese Außenabgrenzung ist nicht nur für die Basisdialekte, sondern auch für das regionalsprachliche System insgesamt deutlich genug nachweisbar, so dass das Rheinfränkische klar genug als Sprachraum hervortritt (vgl. Kt. 15.2).
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Das Rheinfränkische wurde in der Forschungsliteratur der Vergangenheit verschiedentlich zusammenfassend dargestellt (vgl. Beckers 1980; Wiesinger 1983a: 846−849; Green 1990). Eine Neubehandlung in diesem Handbuch ist aber trotzdem geboten, da in den zurückliegenden Jahren völlig neue Datenklassen erhoben und innovative Methoden zu ihrer Beschreibung entwickelt wurden: Zum einen haben umfangreiche Erhebungen stattgefunden, die eine neue Einschätzung der Sprachdynamik des Rheinfränkischen, sowohl im Basisdialekt als auch in den variativen Registern, erlauben. Zum zweiten existieren avancierte Methoden der flächenstatistischen Auswertung dieser Daten, die neue Aufschlüsse über die linguistischen Raumstrukturen geben. Und zum dritten wurden neue und ertragreiche Untersuchungen zum mentalen Sprachraumkonzept Rheinfränkisch vorgelegt, so dass auch aus perzeptionslinguistischer Sicht eine Neuvermessung des Rheinfränkischen erfolgt ist. Die hier gewählte Perspektive auf das Rheinfränkische kann dabei als sowohl sprachsystematisch als auch sprachdynamisch bezeichnet werden. Sicherlich ist es lohnend, das Rheinfränkische auch unter gesprächsanalytischem und/oder interferenzlinguistischem Aspekt zu betrachten. Hinzuweisen ist hier zum einen auf die gesprächsanalytisch und soziolinguistisch fundierten Forschungen zur Stadtsprache in Mannheim (vgl. z. B. Kallmeyer 1994 et passim), zum anderen auf die stärker interferenzlinguistisch orientierten Arbeiten z. B. zum Kontakt zwischen rheinfränkischer Regionalsprache und unterschiedlichen Migrantensprachen, besonders aber dem Türkischen (vgl. Bierbach & BirkenSilverman 2014; Kallmeyer & Keim 2003; Keim 2007, 2012). Diese Aspekte können hier nicht ausgeführt werden, jedoch ist ihnen ein eigener Artikel in diesem Handbuch gewidmet (vgl. Wiese & Freywald, Art. 37 in diesem Band).
2. Historie und Besonderheiten Das Rheinfränkische kann sprachlich vorläufig wie folgt abgegrenzt werden: Es ist derjenige westmitteldeutsche Sprachraum, der im Konsonantismus die 2. Lautverschiebung weiter durchgeführt hat als das Moselfränkische (das statt dat), der jedoch im Unterschied zum Alemannischen und Ostfränkische keine p-Verschiebung zeigt (Pund ‘Pfund’ und Appel ‘Apfel’). Im Vokalismus ist das Rheinfränkische im Unterschied zum Alemannischen durch die Diphthongierung der mittelhochdeutschen Langvokale î − iu − û (mein, neues, Haus) gekennzeichnet (vgl. aber Lothringisch mit fehlender Diphthongierung bzw. Reihenspaltung [vgl. Abb. 15.1, Reihe 3]) und im Unterschied zum Hessischen durch die fehlenden „gestürzten“ Diphthonge: mhd. ie − üe − uo sind hier wie auch in der neuhochdeutschen Standardsprache als Monophthonge i: − y: − u: repräsentiert. Diese vorläufig grobe Abgrenzung des Rheinfränkischen (vgl. genauer Kt. 15.2) belegt schon die für den Raum sprachhistorisch maßgeblichen Prozesse: Erstens die 2. Lautverschiebung und zweitens die Umstrukturierung des mittelhochdeutschen Langvokalsystems. Beide zusammen konstituieren einen charakteristischen, bis in die Gegenwart wirksamen Tatbestand: Eine gewisse strukturelle Nähe des Rheinfränkischen zur neuhochdeutschen Standardsprache. Seit Georg Wenkers epochaler Studie Das rheinische Platt (1877) ist die Bedeutung der Hauptlinien der 2. Lautverschiebung in der Dialektologie klar. Die Einteilung der deutschen Dialekte hat sich seit Langem am Verschiebungsstand der 2. Lautverschiebung orientiert, mit umfassender Verschiebung der Plosivlaute im Oberdeutschen, positionell
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von Süd nach Nord abnehmender Verschiebung der Plosive im Mitteldeutschen und Nichtverschiebung im Niederdeutschen. Ob die Lautverschiebungslinien tatsächlich das geeignete Kriterium darstellen, um die deutschen (respektive westmitteldeutschen) Dialekte zu gliedern, war in der Forschung strittig. Insbesondere wurde bestritten, dass einzelne Lautverschiebungsisoglossen wie die ik/ich-Linie, die dat/das-Linie oder die Pund/ Pfund-Linie eine so hohe Relevanz für die Dialektraumbildung haben wie angenommen (vgl. Frings 1926; Wiesinger 1983a). Auch wenn dieser Kritik zuzustimmen ist, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass die Forschung alles in allem die Relevanz der Lautverschiebungsisoglossen eher bestätigt als in Zweifel gezogen hat: Die von Frings vorgeschlagenen Grenzräume („Schranken“) sind Isoglossenbündel, die mit dem Verlauf der Lautverschiebungslinien partiell koinzidieren. Für die von Wiesinger herausgearbeiteten Übergangszonen zwischen Dialekträumen gilt das Gleiche. Die von der neueren Forschung herausgearbeitete, systemisch hochrelevante Tonakzentgrenze (vgl. Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band) zeigt eine nahezu perfekte Passung zur Lautverschiebungsisoglosse dat/das. Und aufwändige wahrnehmungsdialektologische Untersuchungen zur Grenze Moselfränkisch/Rheinfränkisch belegen die Bedeutung der dat/das-Linie bis in die aktuellen Regionalsprachen des Deutschen hinein. Es kann also kein Zweifel an der hohen Relevanz der Lautverschiebungslinien für die Dialektgliederung des Deutschen bestehen, auch wenn die „Linien“ sich teilweise − aber beileibe nicht immer − als Übergangsräume, als Linienbündel darstellen. Noch uneinheitlicher als die Frage nach der prinzipiellen Relevanz der Lautverschiebung für die Dialektgliederung des Deutschen stellt sich die Forschungslage hinsichtlich der Sprachgeschichte des Rheinfränkischen dar. Es ist umstritten, ob die dominanten sprachhistorischen Entwicklungen des Raumes sich von Süd in Richtung Nord oder von Nord in Richtung Süd vollzogen. Auch die Auffassung, dass weder das Eine noch das Andere gelte, wird vertreten: Die sprachhistorischen Innovationen werden dann als autochthone Neuerungen in verschiedenen Räumen begriffen. Die traditionelle Sichtweise ist die, dass die Lautverschiebung in der Mitte des 6. Jahrhunderts eingesetzt habe und wenig später den fränkischen Sprachraum von Süden her erreicht habe und sich sukzessive entlang des Rheins nach Norden ausgebreitet habe. Dabei habe sich die Lautverschiebung zunehmend abgeschwächt, so dass schrittweise immer weniger Positionen im Wort von der Lautverschiebung erfasst worden seien. Ergebnis sei die bekannte dialektologische Struktur des „Rheinischen Fächers“ gewesen, der die Gliederung des Westmitteldeutschen bestimmt. Der angesprochene Prozess habe sich über Jahrhunderte vollzogen, so dass die Benrather Linie sich erst im 15. Jahrhundert ausgebildet habe und bis ins 16. Jahrhundert urkundensprachlich unverschobene Formen im Lautverschiebungsgebiet zu beobachten seien. Einen bemerkenswerten Widerspruch zu dieser These stellen die allgemeinhistorischen Fakten dar: Die angenommene Ausbreitung der 2. Lautverschiebung von Süd nach Nord fällt in der Frühzeit zeitlich zusammen mit der fränkischen Expansion und den Reichsteilungen. Die fränkische Expansion jedoch vollzog sich in exakt entgegengesetzter Richtung, nämlich von Norden, dem Stammland der Franken, in den vormals alemannischen Süden. „Eine Übernahme der II. LV. von den Alemannen durch die politisch und kulturell überlegenen Franken scheint ohne die Annahme der politisch werbenden Absicht der Franken, die sich deshalb dem Süden anschließen, kaum denkbar.“ (Venema 1997: 27). Nicht als schrittweise Ausbreitung von Innovationen im Areal, sondern als polygenetische, autochthone Entwicklung hat dagegen Schützeichel (1976) die Lautverschiebung gesehen. Er hat die These vertreten, dass die Lautverschiebung im Westmitteldeutschen nicht eine aus dem Süden übernommene Neuerung sei,
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sondern dass sie alte Sprachraumbildungen schon der Merowingerzeit widerspiegele. Hierzu wertet Schützeichel Urkundenbelege aus, die ihm zeigen, dass die Lautverschiebung im Westmitteldeutschen schon sehr viel früher als von Ausbreitungstheorien angenommen verbreitet gewesen sein muss. Schon in frühalthochdeutscher Zeit kann Schützeichel auf Belege für die Lautverschiebung verweisen, und zwar in einer Staffelung, die dem Rheinischen Fächer nahekommt. In dieser Hinsicht ähnlich argumentiert die neuere „Bifurkations- und Zurückdrängungstheorie“ (vgl. Vennemann 1984). Vennemann nimmt an, dass die von ihm so genannte Hochgermanische Lautverschiebung wesentlich älter sei als bisher angenommen und von Jütland ihren Ausgangspunkt genommen habe. Die dialektgeographische Situation wird dann nicht erklärt als Ausbreitung einer Neuerung von Süd nach Nord, sondern als Zurückdrängung der durchgeführten Lautverschiebung von Nord nach Süd. „Der Rheinische Fächer ist die dialektgeographische Projektion der salisch fränkischen Unterwerfung des Rheinlandes.“ (Vennemann 1987: 48). Vennemanns Theorie hat in der Forschung überwiegend kritische Aufnahme gefunden (vgl. Venema 1997: 52−65). Bei allen Unterschieden erweist die Forschung zur Lautverschiebung das Rheinfränkische jedenfalls als seit merowingischer Zeit hochdynamischen Sprachraum, der von der fränkischen Zurückdrängung des vormaligen Alemannischen geprägt war. Was den Vokalismus angeht, so hat das Rheinfränkische in seinem pfälzischen Kernareal Anteil an verschiedenen Lautveränderungen, die es strukturell in die Nähe der neuhochdeutschen Schrift- später Standardsprache bringen. Hierzu gehört erstens seit Mitte des 15. Jahrhunderts die neuhochdeutsche Diphthongierung (z. B. mîn /i:/ > mein /a͡i/, niuwes /y:/ > neues /ɔ͡y/, hûs /u:/ > Haus /a͡u/), die sich von Südost nach Nordwest im deutschen Sprachraum ausbreitete und die im Rheinfränkischen mit Ausnahme des Lothringischen durchgeführt wurde. Zweitens gehört hierher die sogenannte neuhochdeutsche Monophthongierung (liebe /i͡ɛ/ > Liebe /i:/, bruoder /u͡o/ > Bruder /u:/). Anders als die neuhochdeutsche Standardsprache zeigt das Rheinfränkische dann aber generelle Umlautentrundung (früh /y:/ > frie /i:/, schön /ø:/ > schee /e:/, schää /ɛ:/) sowie (alte) Monophthonge /ɛ:/, /a:/ (brääd /ɛ:/ ‘breit’, Bääm /ɛ:/ ‘Bäume’, kaafe /a:/ ‘kaufen’) statt der im Mittelhochdeutschen und der neuhochdeutschen Standardsprache vorliegenden Diphthonge mhd. ei nhd. /a͡i/, mhd. öü nhd. /ɔ͡y/, mhd. ou nhd. /a͡u/. Insgesamt sind auf diese Weise im zentralen Rheinfränkischen einfache zweigliedrige Vokalsysteme entstanden, die zum Teil ergänzt sind durch ein System der Nasalvokale (vgl. Wiesinger 1983b: 1057; Christmann 1927). Das Lothringische ist als westrheinfränkischer Dialektverband sprachlich wesentlich konservativer als das restliche Rheinfränkische. Es hat die neuhochdeutsche Diphthongierung (vgl. Abb. 15.1, Reihe 3) nur unvollständig durchgeführt und zeigt keine Monophthongierung (vgl. Abb. 15.1, Reihe 4). Zuletzt wurde überzeugend dargelegt, dass der Vokalismus des Pfälzischen sich schlüssig als Weiterentwicklung des Lothringischen im Rahmen einer Ein-Schritt-Rekonstruktion des Wandels der Langvokal- und Diphthongsysteme beschreiben lässt (vgl. Schmidt 2015: 272−274). Zudem wurde gezeigt, dass die markanten Unterschiede im rheinfränkischen und moselfränkischen Vokalismus sich im Rahmen einer solchen Ein-Schritt-Theorie auf die Differenzen der jeweiligen altwestdeutschen bzw. althochdeutschen Protosysteme zurückführen lassen (vgl. Schmidt 2015). Sprachhistorisch stellt sich das Rheinfränkische als hoch dynamischer Sprachraum dar. Die unterschiedlichen Entwicklungen sowohl im Konsonantismus als auch im Vokalismus resultieren dabei in einer Struktur der Dialekte, die eine gewisse Nähe zur neuhochdeutschen Standardsprache aufweisen. Eine solche Nähe legt schon Frings’ (1926)
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Abb. 15.1: Ein-Schritt-Wandel des Langvokalismus vom Althochdeutschen zum Lothringischen um 1900 (Schmidt 2015: 273)
Analyse nah, der anhand einer Reihe von Beispiellemmata (gehen, wachsen, ich, euch, Haus) einen mitteldeutschen Streifen der Übereinstimmung mit der Standardsprache herausgearbeitet hat, der das Rheinfränkische enthält (vgl. Lameli 2013: 249). Während Frings’ Argumentation noch auf einer relativ schmalen Datengrundlage basiert, konnte das Projekt Regionalsprache.de (REDE) nun für den Basisdialekt der ältesten Sprecher genaue quantitative Daten vorlegen. Ein bewährtes Messinstrument zu diesem Zweck ist die Dialektalitätsmessung nach Herrgen und Schmidt (vgl. zusammenfassend Vorberger 2019: 99–108), das den phonetischen Abstand einer Sprachprobe zur Standardsprache misst. (Ein D-Wert von 0 bedeutet „keinerlei Differenz zur Standard-Norm“. Ein D-Wert von 1 bedeutet „Abweichung von der Standard-Norm im Umfang von durchschnittlich einem phonetischen Merkmal pro Wort“. Die Skala ist prinzipiell nach oben offen.) Es wurde nun gezeigt, dass der Abstand zur Standardsprache im niederdeutschen Norden am höchsten ist (D = 2,5), gefolgt vom oberdeutschen Süden (D = 2,25). Die größte Nähe zur Standardsprache zeigt das Ostmitteldeutsche mit einem Wert von D = 1,0, gefolgt vom Ostfränkischen mit einem Wert von D = 1,7 (vgl. Kehrein 2012). Das Rheinfränkische nimmt nach neuesten Messungen (vgl. Vorberger 2019) − und ähnlich wie das Moselfränkische − einen mittleren Wert von D = 2,1 ein. Zu einem ähnlichen Bild führen die arealtypologischen Analysen, die Lameli (2013) vorgelegt hat. Auf einer Karte, die die Ähnlichkeit der deutschen Dialekte zur Schriftsprache kartiert (rot: höchste, blau: geringste Ähnlichkeit) ist die Standardnähe des Ostmitteldeutschen und Ostfränki-
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Kt. 15.1: Nähe der historischen deutschen Dialekte zur Schriftsprache nach Lameli (2013: 234)
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schen markant sichtbar, auch die Standardferne des Niederdeutschen (vgl. Kt. 15.1). Ebenso tritt die mittlere Entfernung des Rheinfränkischen zur Schriftsprache klar hervor. Und auch die unterschiedliche Dialektalität des Rheinfränkischen und Moselfränkischen tritt klar in Erscheinung (vgl. unten Kt. 15.4 und 15.5) Das Zentralhessische tritt in dieser Karte dann wieder als Raum geringerer Nähe zur Schriftsprache, d. h. erhöhter Dialektalität, hervor. Die jüngeren Entwicklungen zeigen dann im Rheinfränkischen insgesamt eine weitere Annäherung an die Standardsprache, die auch durch außersprachliche Entwicklungen in neuerer Zeit begünstigt wurde: In mehreren Teilregionen des Rheinfränkischen (RheinMain-Gebiet, Raum Mannheim-Ludwigshafen, Saarland) dominieren soziale Faktoren, die eine starke gesellschaftliche Modernisierung motivieren (frühe Industrialisierung, aktuelle dynamische Ballungsräume). Auf dieser Grundlage entstanden im Rheinfränkischen moderne Regiolekte, auch Regionalakzente, die eine Koine-Funktion haben und sich von den traditionellen Basisdialekten entfernt haben (vgl. unten zum sog. „Neuhessischen“). Es ist kein Widerspruch zu dieser Diagnose, dass die Restdialektalität, die Sprecher des Rheinfränkischen bei intendierter Standardsprachverwendung zeigen, ähnlich wie im Thüringischen und Obersächsischen relativ hoch ist (vgl. Kehrein 2012: 324− 330): Gerade aufgrund der gewissen basisdialektalen Nähe zur Standardsprache wird diese im Rheinfränkischen nicht wie im Niederdeutschen als distantes System erlernt und kommunikativ im Sinne eines Code-Switching verwendet. Im Rheinfränkischen kann die Standardsprache hingegen auf der Basis des regionalsprachlichen phonologisch-morphologischen Fundamentalbereiches (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 47−59) erworben und realisiert werden, teilweise mittels Adaptionsregeln (vgl. Vorberger 2019). Im Ergebnis verbleiben dann aber gerade deshalb zahlreiche remanente Dialektalismen bei intendierter Standardsprachverwendung (z. B. Koronalisierung, Konsonantenlenisierung, sDesonorisierung, Realisierung geschlossener Kurzvokale, Zentralisierung etc. [vgl. Kehrein 2012: 332−339]), die zu der hohen Restdialektalität bei intendierter Standardsprachverwendung beitragen.
3. Basisdialektale Raumstruktur: Phonologie Was die phonologische Raumstruktur im Rheinfränkischen angeht, so soll zunächst die Außenabgrenzung des Rheinfränkischen (vgl. Kt. 15.2) behandelt werden, dann die Binnenstruktur (vgl. Kt. 15.3). Rezent unproblematisch ist zunächst die südwestliche Abgrenzung zum französischen Sprachraum. Problematischer ist dann schon die nordwestliche Abgrenzung zum Rheinischen, hier Moselfränkischen: Während diese Grenze in der Vergangenheit nach der auslautenden tVerschiebung in Wörtern wie das/dat bzw. was/wat getroffen wurde, wurde später die Auffassung vertreten, dass hier ein breites Übergangsgebiet vorliegt (vgl. Frings 1926; Wiesinger 1983a: 847−848). Dieses Übergangsgebiet ist nach Wiesinger östlich abgegrenzt durch den Gegensatz von /e:/ − /o:/ vs. /ɛ:/ − /ɔ:/ (Kees vs. Kääs; schloofe vs. schlɔ:fe). Die Westgrenze dieses Übergangsgebietes ist durch den Einheitsakkusativ beim attributiven Adjektiv (Mask.) bestimmt. Die umfangreichste neuere Datenerhebung zu diesem Areal stellt der Mittelrheinische Sprachatlas (MRhSA) dar, der zur Phonologie und zur Flexions- und Wortbildungsmorphologie des Rheinfränkischen umfassende linguistische Informationen bereitstellt. Wiesingers (1970, 1983a) Ansatz aufnehmend zeigt
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Kt. 15.2: Außenabgrenzung des Rheinfränkischen
das Team des MRhSA in Band 5 (S. IX−XI; Kt. 479b), dass das Arbeitsgebiet des MRhSA markant durch solche dialektalen Isolinien gegliedert ist, die Strukturdifferenzen zwischen Teilarealen markieren. Solche „Strukturgrenzen“ markieren nach Sicht der MRhSA-Autoren jeweils starke Isoglossenbündel. Was die Grenze zum Moselfränkischen angeht, so benennt der MRhSA die folgenden Isoglossen: An erster Stelle steht die Tonakzentgrenze, denn sie ist die wichtigste Strukturgrenze im Westmitteldeutschen und trennt die moselfränkischen Dialekte (Tonakzent-Distinktion) von den rheinfränkischen (keine Tonakzent-Distinktion). Die Bedeutung dieser Grenze ergibt sich aus der prosodischen Differenz selbst, aus den Auswirkungen auf die Vokalqualitäten (Reihenspaltung; vgl. Wiesinger 1970 Bd. 1: 65 u. 127; 1970 Bd. 2: 178−179) und Quantitäten (vgl. Schmidt 1986: 185−191). Hinsichtlich ihrer Relevanz an zweiter Stelle steht die Entrundungsgrenze, die die südlichste Grenze des ripuarisch-moselfränkischen Übergangsgebietes bildet. Weitere Strukturgrenzen markieren die südliche und nördliche Grenze des rheinfränkisch-moselfränkischen Übergangsgebiets: Die südliche Isoglosse ist die Grenze des rheinfränkischen Distinktionserhalts von mhd. ë und e/ä. Die nördliche Isoglosse ist die Stimmhaftigkeitsgrenze des . So überzeugend diese Resultate im Einzelnen sind, so werfen doch neuere Untersuchungen ein deutlich anderes Licht auf die sprachlichen Verhältnisse: Es handelt sich dabei um neue, perzeptionslinguistische Analysen sowie um quantitative Verfahren der raumstatistischen Clusterung linguisti-
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scher Daten. Diese raumstatistischen Untersuchungen wurden in den letzten Jahren anhand des Materials des Mittelrheinischen Sprachatlasses durchgeführt. Engsterhold (2018) hat nun die phonologischen Daten des MRhSA mittels einer informationellen „Ontologie“ (vgl. ausführlich Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band) analysiert, die komplexe Raumcluster zum Vorschein bringt. Das Ergebnis dieser raumstatistischen Analysen bestätigt zunächst einmal die traditionelle Dialektologie des Deutschen. Die Grenze zwischen Rheinfränkisch und Moselfränkisch liegt auch nach Massendatenauswertungen genau da, wo sie in der Vergangenheit auch angesetzt wurde: Sehr exakt im Bereich der dat/das-Linie (Kt. 15.2, Linie 1) bzw. der Tonakzentgrenze (Kt. 15.2, Linie 2). Diese Grenzen waren also keineswegs arbiträre singuläre Isolinien, die dezisionistisch zur Differenzierung von Dialektverbänden angesetzt worden wären. Im Gegenteil erweist die Massendatenauswertung, dass die Grenze zwischen Rhein- und Moselfränkisch auch nach Berücksichtigung sämtlicher Karten des MRhSA exakt hier liegt (vgl. Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band, Kt. 16.3). Bemerkenswert ist dabei, dass sich auch bei Verfeinerung der Clusterung bis hin zu einer Zwölferclusterung kein Übergangsgebiet südlich der dat/das-Linie nachweisen lässt (vgl. Kt. 15.4 mit einer Fünferclusterung). „Dies erklärt, warum bisherige Versuche, südlich dieser Grenze relevante Strukturgrenzen eines Übergangsgebietes nachzuweisen, zu nicht übereinstimmenden und auch wenig überzeugenden Ergebnissen gelangt sind.“ (Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band: 530). Es handelt sich bei der Grenze zwischen dem Rhein- und Moselfränkischen um eine hoch disjunkte Grenze zwischen Dialektverbänden, die dort zu lokalisieren ist, wo die frühe Dialektologie des Deutschen sie auch angesetzt hat. Zum perzeptionslinguistischen Ansatz: Die aktuelle Forschung hat gezeigt, dass die rhein-/moselfränkische Grenze nicht nur zwischen den traditionellen Basisdialekten angesetzt werden kann, sondern dass sie auch im standardnahen Bereich (Regionalakzent) Bestand hat. Damit wurde nachgewiesen, dass das Rheinfränkische genau wie das Moselfränkische den Status einer „Regionalsprache“ (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 63−68) des Deutschen hat, die in der Sprecherperzeption klar verortet ist. Purschkes (2011) Forschungsfrage war, wie individuelle Sprachraumkonzepte strukturiert sind. Dies wurde empirisch anhand von dialektalen Übergangsräumen untersucht, und zwar nicht anhand des Basisdialektes, sondern anhand des oberen Registers, das Sprechende realisieren, wenn sie Standardsprache intendieren. Das Ergebnis war zunächst für das Thüringische und Obersächsische, dass hier keine distinkten Sprachraumkonzepte (mehr) vorliegen: Die Informanten waren nicht (mehr) in der Lage, präsentierte Stimuli sicher als sächsisch oder thüringisch zu identifizieren. Ganz anders war das Ergebnis für das Rheinfränkische und Moselfränkische: Sowohl die rheinfränkischen wie die moselfränkischen Sprecher waren mit höchster Sicherheit in der Lage, präsentierte rheinfränkische und moselfränkische Stimuli sicher und korrekt den jeweiligen Räumen zuzuordnen − und zwar unabhängig von dem Dialektalitätsgrad der Stimuli. Hinsichtlich der Frage nach der perzeptiven Distinktheit der benachbarten regionalsprachlichen Räume des Moselfränkischen und Rheinfränkischen kann aus den Ergebnissen gefolgert werden, dass es sich um eine perzeptiv äußerst klar strukturierte Grenze handelt. Rheinfranken wie Moselfranken unterscheiden exakt zwischen Aufnahmen, die aus dem Gebiet des Moselfränkischen stammen, und solchen, die aus dem Rheinfränkischen stammen. Dabei ist diese perzeptive Distinktion unabhängig von der Herkunft der Aufnahme, von der Lage des Untersuchungsortes sowie von der phonetischen Dialektalität der Aufnahme. Selbst für die standardnächsten Proben aus den grenznahen Orten funktioniert die Unterscheidung zuverlässig (vgl. Purschke 2011: 252).
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 15.2: Regionalsprachengrenze Rhein-/Moselfränkisch (Purschke 2011: 253)
Purschke hat damit empirisch zuverlässig gezeigt, dass Rheinfränkisch und Moselfränkisch unterschiedliche Regionalsprachen des Deutschen sind − ganz im Gegensatz zum Thüringischen und Obersächsischen. Nicht nur die Geostatistik anhand produktionslinguistischer Daten, sondern auch die Perzeptionslinguistik anhand der unterschiedlichen Sprachraumkonzepte konnten somit nachweisen, dass das Rheinfränkische und das Moselfränkische klar differenzierte Räume sind, die durch die dat/das- bzw. Tonakzentgrenze disjunkt abgegrenzt werden. Für die nördliche Abgrenzung des Rheinfränkischen zum (Zentral-)Hessischen liegen weder vergleichbare geostatistische noch perzeptionslinguistische Analysen vor, so dass die Situation wesentlich schwerer zu beurteilen ist. Auch handelt es sich bei der Abgrenzung Rheinfränkisch/Hessisch um eben jene Differenzierung, die in der Geschichte der Dialektologie des Deutschen strittig war und zu unterschiedlichen Dialekteinteilungen geführt hat. Wie oben ausgeführt schließt sich das vorliegende Handbuch der Unterscheidung Wiesingers (1970, 1983a) an, die Zentralhessisch und Rheinfränkisch unterscheidet und nicht etwa ein- und demselben Sprachraum zuordnet. Die Kriterien hierfür liegen eher im Zentralhessischen, das einen klaren dialektalen Eigenbestand aufweist und im Übrigen stärkere Übereinstimmungen mit dem − vom Rheinfränkischen klar disjunkten − Moselfränkischen zeigt (vgl. Wiesinger 1983a: 851). Für das Rheinfränkische hingegen „muss von einer mitteldeutsch-fränkischen Grundlage […] ausgegangen
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werden, mit oberdeutsch-alemannischem Einfluss und eigenen Entwicklungen im Vokalismus.“ (Vorberger 2019: 33). Ramge (2003) erklärt die divergente Entwicklung des Rheinfränkischen (i. e. Südhessischen) und Zentralhessischen dadurch, dass der Raum um Frankfurt und Mainz sich als „sprachlicher Umschlagsort“ (Ramge 2003: 2738; vgl. Vorberger 2019: 33) nach Süden, d. h. hin zum Rheinfränkischen, orientiert und sich damit aus den alten westmitteldeutschen Zusammenhängen gelöst habe. Das Zentralhessische habe hingegen keine südlichen Formen übernommen, so dass nun das RheinMain-Gebiet zum Rheinhessischen zu zählen sei. Diese Tatsache lässt sich an Kt. 15.2 klar ablesen, in der zunächst Merkmale hervortreten, die als Eigenbestand des Zentralhessischen die Abgrenzung zum Rheinfränkischen markieren: Hier ist zu nennen die zentralhessische Erhaltung der mittelhochdeutschen Differenzierung von e [ɛ] (besser) und ë [ɛ͡ə] (Schwester) (Kt. 15.2, Linie 3). Diese Differenzierung tritt dann zwar auch in der Ostpfalz auf, ist jedoch hier, im Rhein-Main-Gebiet, raumdifferenzierend. Ein charakteristisches und raumdistinktives Merkmal des Zentralhessischen sind dann (Kt. 15.2, Linie 4) die „gestürzten“ mittelhochdeutschen Diphthonge ie − üe − uo, die hier als /ɛ͡ɪ − ɔ͡ɪ − ɔ͡ʊ/ realisiert werden und zu den rheinfränkischen Monophthongen kontrastieren. Stellvertretend findet sich in der Karte die Isoglosse leib(es)/lieb(es) (‘liebes’). Ein drittes abgrenzendes Merkmal ist der mittelhochdeutsche Langvokal iu, der im Zentralhessischen zu /ɔ͡ɪ/ diphthongiert wird, im Rheinfränkischen hingegen diphthongiert und entrundet als /ɑ͡ɪ/ auftritt. In Kt. 15.2 ist hier die Linie 5 Häuser/Haiser eingetragen. Im Ergebnis tritt zwischen dem Rheinfränkischen und dem Zentralhessischen ein Übergangsgebiet hervor, das jedoch aufgrund der zentralhessischen Spezifika klar differenzierte Dialektverbände abgrenzt (vgl. Wiesinger 1983a: 847 u. 853). Dieses zentralhessisch-rheinfränkische Übergangsgebiet war zuletzt Gegenstand einer eingehenden variationslinguistischen Analyse durch Vorberger (2019). Die linguistische Feindifferenzierung dieses regionalsprachlichen Raumes findet sich dort. Die Abgrenzung des Rheinfränkischen zum Ostfränkischen wird sehr deutlich durch die Lautverschiebungsisoglossen für germ. p markiert (Kt. 15.2, Linien 6 Pund/Pfund und 7 Appel/ Apfel). Die Lautverschiebungslinien stellen klar die Westgrenze eines Isoglossenbündels dar, das den Übergang vom Rheinfränkischen zum Ostfränkischen konstituiert (vgl. Wiesinger 1983a: 847). Die südfränkischen (auch: südrheinfränkischen) Dialekte können als sprachliche Ausprägung dieses Übergangsgebietes betrachtet werden. Die Lautverschiebungslinien markieren in der Folge auch nicht allein den Gegensatz Rheinfränkisch/Ostfränkisch, sondern auch im Südosten die Grenze zum Alemannischen. Diese Grenzlinie ist auch deshalb bedeutend, weil mit der Rheinfränkisch/Alemannisch-Grenzlinie gleichzeitig die Unterscheidung von Mitteldeutsch und Oberdeutsch markiert ist. Neben den Lautverschiebungsisoglossen ist in Kt. 15.2 auch die in diesem Sinne bedeutende Südgrenze der neuhochdeutschen Diphthongierung von mhd. î − iu − û eingetragen, für die stellvertretend Linie 8 Eis/Iis steht. Auch hinsichtlich der Südgrenze des Rheinfränkischen hat die Forschung ein Übergangsgebiet benannt (Wiesinger 1983a: 830), das im Unterelsass zu lokalisieren ist. Die dort verbreiteten unterelsässischen Dialekte nehmen eine Zwischenstellung zwischen Rheinfränkisch und Alemannisch ein. Neben der Außenabgrenzung wurden für das Rheinfränkische auch Untergliederungen vorgenommen (vgl. Beckers 1980 und für das Pfälzische Post 1992: 21). Eine solche Binnendifferenzierung wird hier (vgl. Kt. 15.3) für das gesamte Rheinfränkische vorgestellt. Sie legt dialektale Merkmale zugrunde, wie sie in Georg Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs (Wenker-Atlas) dokumentiert sind. Einschränkend ist allerdings
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II. Die Sprachräume des Deutschen
festzuhalten, dass eine Differenzierung nach den Sprachraumkonzepten der Bewohner des Raumes mitunter zu anderen Ergebnissen kommt (vgl. Post 1992: 13−21). Auch findet sich die Binnendifferenzierung nach Leitisoglossen nicht unbedingt in geostatistischen Clusterungen wieder (vgl. Kt. 15.1, 15.4, 15.5). Geostatistisch tritt im Rheinfränkischen − neben der prominenten Grenze zum Moselfränkischen − primär das südpfälzisch/ vorderpfälzische Reliktgebiet (Kt. 15.4 und 15.5) in Erscheinung. Die Binnendifferenzierung des Rheinfränkischen unterscheidet Nordrheinfränkisch, Pfälzisch (mit mehreren Unterdifferenzierungen) und Lothringisch. Kt. 15.3 enthält die relevanten Isoglossen des Wenker-Atlasses, die eine solche Binnendifferenzierung des Rheinfränkischen markieren: Das Lothringische ist derjenige Teilraum des Rheinfränkischen, der einerseits von den Lautverschiebungsisoglossen (Kt. 15.3, Linien 1 dat/das und 3 Appel/Apfel) und der historischen deutsch/französischen Sprachgrenze begrenzt wird, andererseits von der Grenze der neuhochdeutschen Diphthongierung von mhd. î − iu − û, für die in Kt. 15.3 Linie 4 Eis/Iis steht. Das Lothringische ist insofern ein Sonderfall, als es fast vollständig auf französischem Staatsgebiet liegt und insofern von der französischen Standardsprache überdacht ist. In dieser komplexen Überdachungssituation ist die Verwendung der deutschen Dialekte seit Jahrzehnten von starkem Schwund geprägt (vgl. Hartweg, Art. 41 in diesem Band). Im Norden des Rheinfränkischen tritt ein sprachlich bemerkenswerter Übergangsraum hervor, der sich zwischen der rheinfränkisch/zentralhessischen Grenze und dem Pfälzischen erstreckt (vgl. im Einzelnen hierzu Vorberger 2019). Er kann nördlich durch die Grenze der „gestürzten“ mittelhochdeutschen Diphthonge ie − üe − uo markiert werden (Kt. 15.3, Linie 2 leib(es)/lieb(es)) und südlich durch die Grenze der Palatalisierung von wg. s vor t (Linie 5 fest/fescht). Dieser Raum soll als „Nordrheinfränkisch“ bezeichnet werden. (Die in der Forschung verbreiteten Bezeichnungen „Südhessisch“ und „Rheinhessisch“ werden nicht verwendet, da diese geopolitisch motivierten Benennungen dem Missverständnis Vorschub leisten, es handle sich hier um hessische Dialektverbände, was nicht der Fall ist.) Der Raum zwischen der nördlichen fest/fescht-Linie und der Diphthongierungsgrenze im Süden heißt Pfälzisch. Er kann nach sprachlichen Kriterien untergliedert werden in Westpfälzisch und Ostpfälzisch, wobei als Kriterium die e-Apokope im Partizip Perfekt der starken Verben herangezogen wird (vgl. Kt. 15.3, Linie 6 gebroch/gebrochen). Innerhalb des Ostpfälzischen wird der rechtsrheinische Raum als Kurpfälzisch bezeichnet. In Nord/ Süd-Richtung wird zudem noch ein Nordpfälzisch abgegrenzt (vgl. Kt. 15.3, Linie 7 hun vs. han ‘haben’) und im Süden ein Südpfälzisch, für das die t-Deletion bzw. s-Dissimilation in der 3. Ps. Sg. des Verbum Substantivum herangezogen wird (vgl. Linie 8 is, es vs. isch, esch). Zuletzt konnten einige Aspekte der phonologischen Strukturierung des Rheinfränkischen sowohl in einer Innen- als auch in einer Außenperspektive vorgestellt werden. Im Folgenden soll nun noch auf verschiedene phonologische Spezifika des Rheinfränkischen hingewiesen werden, die sich Gliederungsansätzen mittels Isolinien entziehen, gleichwohl aber hoch relevant für den Sprachraum sind. Insofern liegt es nahe, zuerst auf eine phonetisch/phonologische Strukturierung des Rheinfränkischen hinzuweisen, die nur bei Datenaggregierung in Erscheinung tritt, nicht bei Einzelisoglosseninterpretation. Eine solche Datenaggregierung hat Engsterhold (2018) im Zuge seiner geostatistischen Analysen der phonologischen Daten des Mittelrheinischen Sprachatlasses vorgenommen (s. oben). Bemerkenswert ist eine geostatistische Raumstruktur, die bei Fünferclusterung des Materials zum Vorschein kommt (vgl. Kt. 15.4): Klar sichtbar wird die rheinfränkisch-
15. Rheinfränkisch
Kt. 15.3: Binnenstrukturen des Rheinfränkischen
moselfränkische Regionalsprachengrenze. Im Unterschied zum Moselfränkischen (vgl. Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band) tritt das (im MRhSA aber nur linksrheinisch untersuchte) Rheinfränkische dann aber als relativ einheitlicher regionalsprachlicher Raum hervor. Die oben vorgestellten Teilräume des Rheinfränkischen werden jedenfalls bei Datenaggregierung nicht sichtbar. Interessanterweise tritt aber ein südpfälzisches Areal in Erscheinung, das in den gängigen Einteilungssystemen nicht vorhanden war. Es ist in Kt. 15.4 durch orange Symbole repräsentiert. Bei diesem Gebiet handelt es sich um ein südpfälzisches Reliktareal, das auch zuvor schon Gegenstand der Forschung war (vgl. Kt. 15.5). Als Ergebnis einer Dialektalitätsmessung des Materials des MRhSA (4: VII, Kt. 314/ 1−2) wurde zunächst sichtbar, dass das Rheinfränkische deutlich weniger dialektal ist als das Moselfränkische, das in der Westeifel sogar durch sehr hohe Dialektalitätswerte gekennzeichnet ist. Das Rheinfränkische ist hingegen standardnäher und areal weniger differenziert. Was nun aber damals schon ins Auge sprang, war ein charakteristisches Areal in der Südpfalz, das durch deutlich höhere Dialektalität gekennzeichnet ist. (Die rezente geostatistische Analyse Engsterholds darf als Bestätigung der Ergebnisse dieser Dialektalitätsmessung angesehen werden.) Die Autoren des MRhSA (5: IX−X) haben sich auch dazu geäußert, welche sprachlichen Merkmale mit diesen charakteristischen Arealbildungen verbunden sind. Das südpfälzische Reliktgebiet kann sprachlich wie folgt abgegrenzt werden: Erstens durch die Grenze der Diphthongierung von mhd. ê − (œ) − ô. Durch diese Grenze werden die „normalrheinfränkischen“ phonologischen Systeme, bei denen die Phoneme ô und â des mittelhochdeutschen Bezugssystems zusammengefallen
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. 15.4: Geostatistische Analyse des Mittelrheinischen Sprachatlasses: Fünfercluster (der hier gewählte Kartenausschnitt bildet nur vier Cluster ab, da der fünfte Cluster (Rundungsgebiet im Norden) außerhalb des Rheinfränkischen liegt)
sind, von den Systemen des Reliktgebietes unterschieden, in denen die Distinktion erhalten ist. Zweitens trennt die Grenze der Phonemverschmelzung von mhd. ei − (öu) − ou den „normalrheinfränkischen“ Distinktionserhalt (/ɛ:/ Schdää ‘Stein’ − /ɛ:/ Bääm ‘Bäume’ − /a:/ Baam ‘Baum’) von dem Phonemzusammenfall im Reliktgebiet (/ɛ:/ Schdää ‘Stein’ − /ɛ:/ Bääm ‘Bäume’ − /ɛ:/ Bääm ‘Baum’). Zusammen bewirken diese Gegensätze dann umfassende und sprachraumprägende Eigenschaften der Dialekte dieses Reliktgebietes. Das südpfälzische Reliktgebiet hat, das haben mehrere sprachdynamische Analysen gezeigt, durchschlagenden Einfluss auf die Dynamik der Regionalsprache Rheinfränkisch. Es mag überraschen, dass der Einfluss einer basisdialektalen Arealstruktur, wie sie das südpfälzische Reliktgebiet darstellt, sogar so weit reicht, dass er ein Phänomen wie die Koronalisierung (vgl. Herrgen 1986; Schmidt & Herrgen 2011: 230−232) dominiert. Koronalisierung ist die Ersetzung eines dorsalen [ç] durch koronales [ɕ], das phonetisch zwischen [ʃ] und [ç] angesiedelt ist. Die Koronalisierung dominiert im Rheinfränkischen heute großflächig, und zwar über alle Teilareale hinweg und auch über das Rheinfränkische hinaus. So hat Vorberger (2019: 128–134) für das 20. Jahrhundert gezeigt, wie sich die Koronalisierung ins Zentralhessische ausbreitet. Dies ist wenig erstaunlich, handelt es sich bei der Koronalisierung doch um die dominante und durchschlagend vollzogene
15. Rheinfränkisch
Kt. 15.5: Dialektalitätsareale im Rheinfränkischen und Moselfränkischen (MRhSA, 4: Kt. 314; zunehmende Intensität der Farbgebung symbolisiert Zunahme der Dialektalität)
Neuerung im Konsonantismus der mitteldeutschen Regionalsprachen. Die heute weit verbreitete Koronalisierung ist erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Großstädten des Mitteldeutschen polygenetisch entstanden. Was das Rheinfränkische angeht, so zeigen die Karten des MRhSA (vgl. 4: Kt. 349−350), dass die Koronalisierung schon in Datenserie 1 (ältere Generation) areal dominierte. Diese Entwicklung hat sich im Dialekt der jüngeren Generation (Datenserie 2) weiter fortgesetzt, so dass sie heute fast im gesamten Gebiet dominiert. Bemerkenswert ist, dass wir es hier mit einer regionalsprachlichen Innovation zu tun haben, die sich divergent zur Standardsprache und zum traditionellen Dialekt vollzogen hat und vollzieht. Zur Erklärung des Phänomens sind eine Reihe von Faktoren herangezogen worden (vgl. Herrgen 1986): 1. Als Ergebnis einer Reihe von sprachhistorischen Prozessen ist im Deutschen die Reihe der stimmlosen Frikative überbesetzt; eine Distinktion ist schwierig. Eine Neutralisierung der /ç/-/ʃ/-Distinktion
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II. Die Sprachräume des Deutschen
kann daher als artikulatorische Vereinfachung gelten. 2. Die funktionale Belastung der Opposition /ç/−/ʃ/ ist gering, nur sehr wenige Minimalpaare können angeführt werden (Kirche/Kirsche, selig/seelisch, Männchen/Menschen). Die geringe funktionale Belastung steht einer Neutralisierung der Opposition also nicht im Wege. 3. In den stark wachsenden Großstädten in den Modernisierungsphasen des 19. Jahrhunderts herrschte aufgrund einer „Melting-Pot-Situation“ relative Normtoleranz: Damit konnte im Mitteldeutschen (anders als im Nieder- oder Oberdeutschen, wo sprachhistorisch andere Voraussetzungen gelten) die Opposition /ç/−/ʃ/ rasch aufgegeben werden. 4. In den Folgegenerationen wurde die Koronalisierung dann auch in den Dörfern übernommen. Hier wirkten einerseits die gleichen Faktoren wie die oben angegebenen, zum anderen kam hinzu, dass die Koronalisierung aufgrund ihrer Genese nun mit dem Prestige der Städte ausgestattet war. Umso mehr muss es erstaunen, dass die Koronalisierung, die inzwischen in den Regionalsprachen des Deutschen großräumig durchgeführt wurde, ausgerechnet in einem Teilareal des Rheinfränkischen unterbleibt: Es handelt sich um das oben herausgestellte südpfälzische Reliktgebiet (vgl. MRhSA, 4: Kt. 350). Gerade am Beispiel der großräumigen Koronalisierung erweist sich das Gewicht basisdialektaler Strukturgrenzen, die als Grenzen von Synchronisierungsarealen den Sprachwandel steuern. „Es sind die systemischen Grenzen (Strukturräume) des Basisdialekts (Datenserie 1), die in erster Linie die Arealstruktur des sich entwickelnden Regionaldialekts (Datenserie 2) systematisch determinieren.“ (MRhSA, 5: IX−X [Vorwort]). Die Dialekte des Rheinfränkischen haben, wie im Hochdeutschen weit verbreitet, Umlautentrundung. Diese Umlautentrundung resultiert in zweigliedrigen Vokalsystemen ohne Umlautphoneme. Phonologisch stellt diese Zweigliedrigkeit die Voraussetzung für ein Phänomen dar, das im Rheinfränkischen teilregional zu beobachten ist, nämlich die Zentralisierung (vgl. Wiesinger 1970, Bd. 1: 247−248; Wiesinger 1970, Bd. 2: 34; Herrgen & Schmidt 1986; Drenda 2000: 53−82; Schmidt & Herrgen 2011: 219). Zentralisierung meint, dass die palatalen Vokale tendenziell velarisiert (Velopalatalität) und die velaren Vokale tendenziell palatalisiert (Palatovelarität) realisiert werden, dass also die jeweiligen palatalen und velaren Vokalreihen in Richtung des Zentrums des Vokaldreiecks verlagert werden. Der Grund für diese Vor- bzw. Rückverlagerung ist in ausspracheökonomischen Tendenzen zu suchen: Dort, wo Distinktionen nicht gefährdet sind (eben im Entrundungsgebiet), können die Sprecher artikulatorischen Aufwand vermeiden, indem sie die Palatalität bzw. die Velarität der Vokalartikulation reduzieren. Das Phänomen ist instrumentalphonetisch und phonologisch genau untersucht und beschrieben. Bemerkenswert ist, dass die zentralisierten Vokalphoneme, besonders das vorverlagerte /u:/ (Resultat: [ʉ:]), hoch saliente Dialektalismen darstellen: Bei einer Salienzuntersuchung wurden den zentralisierten Vokalen unter allen untersuchten Merkmalen die höchsten Grade der Abweichung von der Standardsprache zugewiesen (vgl. Herrgen & Schmidt 1985: 32−33). Die Zentralisierung findet sich nach den Analysen von Drenda im Rheinfränkischen besonders im Ostpfälzischen (vgl. Drenda 2000: Kt. 2−3; MRhSA, 1: Kt. 51; 2: Kt. 132, 153 u. 177). Dort handelt es sich um den Typus der „schwachen Zentralisierung“, die eine lediglich phonetische Palatalisierung bzw. Velarisierung bewirkt. Anders zu beurteilen ist die „starke Zentralisierung“ an der unteren Mosel, bei der durch Palatalisierung in der Vergangenheit eine neue Reihe palataler Langvokale entstanden ist, die bei Konfrontation mit dem Vokalsystem der neuhochdeutschen Standardsprache komplexe sprachdynamische Reaktionen auslöst (vgl. Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band).
15. Rheinfränkisch
Kt. 15.6: Intonationsgegensätze im Rheinfränkischen nach Peters und Guentherodt (Peters 2010: 794)
Im gesamten Rheinfränkischen anzutreffen ist die Nasalität von Vokalen (vgl. Thinnes 1981), die in unterschiedlicher Intensität und bei unterschiedlicher Distribution (meist vor apokopiertem historischem Nasal[konsonanten]) zu beobachten ist. Vokalische Nasalität ist in den hochdeutschen Dialekten weit verbreitet (vgl. Thinnes 1981: 78), nicht jedoch im Moselfränkischen (vgl. Thinnes 1981: 79; MRhSA, z. B. 1: Kt. 65), bei dem die n-Apokope fehlt: Somit gehört die Nasalität zu denjenigen phonetischen Merkmalen, die die Regionalsprachengrenze Rheinfränkisch/Moselfränkisch markieren. Weitere phonetisch/phonologische Merkmale des Rheinfränkischen sind im Mittelrheinischen Sprachatlas erhoben und in ihrer Arealdistribution detailliert dargestellt (vgl. auch Post 1992: 75−102): Es handelt sich im Vokalismus z. B. um Senkung (Kersch ‘Kirche’; gebess ‘gebissen’) und Hebung (Finschder ‘Fenster’; gischder ‘gestern’), um Dehnung (Duuch ‘Tuch’) und Kürzung (Kiwwel ‘Kübel’; rede ‘reden’) und um vokalische Epenthesen (Millich ‘Milch’; Barig ‘Berg’). Im Konsonantismus finden sich verbreitet Ausprägungen der binnendeutschen Konsonantenschwächung (vgl. Post 1992: 99−102), insbesondere die Lenisierung (Mudder ‘Mutter’; bumbe ‘pumpen’) und die Spirantisierung von Plosiven (hewe ‘heben’; Nachel ‘Nagel’). Auch der Rhotazismus (Werrer ‘Wetter’;
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Bruurer ‘Bruder’) und Lambdazismus (Bruuler ‘Bruder’) gehören hierher. Mit unterschiedlicher arealer Erstreckung (und teilweise progressiver Tendenz, vgl. Kap. 6.1.: beißen) finden sich im Rheinfränkischen Sonorisierungen von Spiranten (Oowe ‘Ofen’; [ba͡izə] ‘beißen’). Zu den phonologischen Eigenschaften des Rheinfränkischen zählen auch Suprasegmentalia: Zwar existieren hier nicht, wie im angrenzenden Moselfränkischen, distinktive Tonakzente (vgl. Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band), jedoch berichtet die Forschung schon seit Langem über nicht-distinktive Spezifika der Intonation in Teilräumen des Rheinfränkischen: Munzinger (1907) setzt bei der Beobachtung an, dass Vorderpfälzer und Westpfälzer Dialektsprecher ihre jeweilige Intonation wechselseitig als „singen“ bezeichnen. Auch unter Zuhilfenahme von musikalischen Notationen zeigt Munzinger, dass diese Alltagskonzepte insofern zutreffend sind, als die Intonation im Westpfälzischen und Vorderpfälzischen sowohl deutlich voneinander als auch von der Intonation in der neuhochdeutschen Standardsprache abweichen. Guentherodt (1971, 1973) untersucht das Phänomen dann instrumentalphonetisch und kann eine Isoglosse zwischen steigendem und fallendem Tonverlauf in Fragesätzen nachweisen, die die beiden genannten Räume unterscheidet. Zuletzt hat Peters (2006) im Rahmen des Projekts Intonation deutscher Regionalsprachen das Phänomen untersucht. Er bestätigt die Ergebnisse Guentherodts − bis auf Abweichungen in einigen wenigen Orten (vgl. Kt. 15.6).
4. Basisdialektale Raumstruktur: Morphologie Der Mittelrheinische Sprachatlas, der weite Teile des Rheinfränkischen umfasst, hat mit seinem Band 5 die Flexions- und Wortbildungsmorphologie des Untersuchungsgebietes nicht nur in ihrer Arealstruktur, sondern auch hinsichtlich ihrer sprachdynamischen Tendenzen erfasst. Diese umfassende Erhebung ist in den letzten Jahren zum Ausgangspunkt von anspruchsvollen Sekundäranalysen gemacht worden (vgl. z. B. Girnth 2000; Rabanus 2008). Im Ergebnis dieser Analysen „zeigen sich Rheinland-Pfalz und das Saarland als Gebiete, in denen die basisdialektalen Konfigurationen sehr standarddifferent und mit dieser Standarddifferenz sehr stabil sind.“ (Rabanus 2008: 127). In der Flexionsmorphologie des Rheinfränkischen imponiert zunächst der Einheitsplural beim Verb. Rabanus (2008) hat insbesondere das Flexionsparadigma von haben, das im MRhSA vollständig dokumentiert ist, grundlegend erforscht, indem Wenker-Atlas, MRhSA I (ältere Generation) und MRhSA II (jüngere Generation) aufeinander bezogen wurden. Zunächst einmal ist das Ergebnis, dass das Moselfränkische einen Zweiformenplural aufweist (1. Pl. hon, 2. Pl. hot, 3. Pl. hon z. B. in Horath), das Rheinfränkische hingegen Einheitsplural (1., 2., 3. Pl. hän in Winden). Bemerkenswert ist es, dass dieser strukturell markante, standardabweichende Synkretismus diachronisch weitestgehend stabil bleibt und sogar leicht progressiv erscheint: „Die Grenze zwischen Einheits- und Zweiformenplural, die etwa mit der Tonakzentgrenze übereinstimmt, ist sehr stabil. Sie wird nur in drei Orten, in denen der Übergang vom Zweiformenplural zum Einheitsplural sicher nachweisbar ist, minimal nach Norden verschoben.“ (Rabanus 2008: 111). Eine gewisse Standardkonvergenz, hier als Tendenz hin zum standardsprachlichen Zweiformenplural, beobachtet Rabanus lediglich in einigen Orten, die durch starke Industrialisierung, Verstädterung und gute Verkehrsanbindung unter starkem Einfluss der Standardsprache stehen (vgl. Raba-
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nus 2008: 114−115). Abweichungen von der Standardsprache sind in der Verbalflexion dann in großer Zahl aufgrund unterschiedlicher e- und n-Apokopen zu beobachten, auch aufgrund unterschiedlicher Auswirkungen von Umlaut und Hebung/Senkung (sie beißen/ beiße; er bloosd/blääsd; er issd/essd etc.). Dies soll hier nicht ausgebreitet werden (vgl. hierzu Post 1992: 126−138). Hinzuweisen ist hingegen noch auf den Flexionsklassenwechsel von Verben, z. B. mit Tendenz zum schwachen Verb: gedenggd ‘gedacht’; gekennd ‘gekannt’; gerennd ‘gerannt’. Auch die standardabweichend starke Flexion kommt vor: geschborr ‘gesperrt’, geschdogge ‘gesteckt’. Auffällig in diesem Zusammenhang ist die südpfälzisch verbreitete Partizipform gebrung ‘gebracht’, über die ausführlich aus sprachdynamischer Perspektive berichtet wurde (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 153−164). Die stark flektierende Form ist schon 1880 im Wenker-Atlas im Rheinfränkischen unweit des südpfälzischen Reliktgebietes neben der Form (ge-)bracht (gemischte Flexion) belegt. In dem einhundert Jahre später erhobenen MRhSA nimmt diese Form für den Basisdialekt der Älteren bereits große Teile des Rheinfränkischen ein, im Dialekt der jüngeren Generation dann das gesamte Rheinfränkische bis zur Tonakzentgrenze. Das südpfälzische Reliktgebiet nimmt auch hier an dem Sprachwandel nicht teil. Ursache dieses Sprachwandels ist ein Paradigmenausgleich, bei dem eine singuläre Ausnahme im Flexionssystem (gemischte Flexion mit i/a-Alternation) beseitigt wird. Die Ausbreitung lässt sich vor dem Hintergrund der Synchronisierungstheorie (Schmidt & Herrgen 2011) gut erklären: Generell produzieren Kinder in der Spracherwerbsphase unter anderem auch normabweichende Formen (*gebringt, *gebrung). Während diese Formen von den Interaktionspartnern sonst korrigiert werden, unterbleibt die Korrektur im Rheinfränkischen: Hier war die (ge-)brung-Form schon im 19. Jahrhundert verbreitet und insofern areal akzeptiert. Diese kommunikativ hoch wirksame Differenz in der Variantenbewertung zwischen dem Rheinfränkischen einerseits und dem südpfälzischen Reliktgebiet und dem Moselfränkischen andererseits zeigt, wie fest die dialektalen Strukturräume im Sprecherbewusstsein verankert sind. Die basisdialektalen Strukturräume sind also gleichzeitig die sprachdynamischen Räume. Der aktuelle regionalsprachliche Wandel wird nicht in erster Linie von der überall präsenten Standardsprache determiniert, sondern primär durch die basisdialektale Arealstruktur. Die Flexion des Substantivs zeigt zunächst zahlreiche Genusdifferenzen zur Standardsprache (vgl. Post 1992: 116−118): die Bach, der Budder ‘Butter’, das Egg ‘Ecke’, das Ort, teillandschaftlich der Dach, das Imbs ‘Imbiss’, der Luft etc. Strukturell bemerkenswert ist dann aber das System der Pluralmarkierung. Die Pluralmarkierung erfolgt im Rheinfränkischen zum Teil mit vergleichbaren Mitteln wie in der Standardsprache, wenn auch mitunter in abweichender lexikalischer Besetzung: Es finden sich zahlreiche additive Plurale (Mann/Männer, Kads/Kadse ‘Katze’), die insofern unmarkiert sind, als sie dem Ikonismus-Prinzip entsprechen: Der Plural, der die Mehrzahl markiert, ist auch auf der Formseite komplexer ausgebildet als der Singular. Regionalsprachliche Spezifika finden sich im Rheinfränkischen besonders in der häufigeren Verwendung des er-Plurals (Bedder ‘Betten’; Dinger ‘Dinge’; Hemmer ‘Hemden’; Veilcher ‘Veilchen’ usw.; vgl. Post 1992: 119). Abweichend zur Standardsprache existieren im Rheinfränkischen auch additive Plurale auf -ele und -ere (Amschele ‘Amseln’; Noorele ‘Nadeln’; Feddere ‘Federn’). Wie in der Standardsprache sind auch modifikative Plurale vertreten, ob nun in der Form vokalischer oder konsonantischer Modifikation (Schoof/Scheef ‘Schaf/Schafe’; Schuk/Schuuch ‘Schuh/Schuhe’). Aufgrund der e-Apokope wird im Rheinfränkischen auch häufiger als in der Standardsprache Nullmarkierung des Plurals beobachtet (Schuu/Schuu ‘Schuh/
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Schuhe’; Daach/Daach ‘Tag/Tage’). Ein auffälliges Merkmal, das im Deutschen nicht in der Standardsprache, sondern ausschließlich in den Dialekten auftritt, ist dann aber die subtraktive Pluralmarkierung. Subtraktion als morphologisches Merkmal besteht im Wegfall phonologischen Materials in der kontrastierenden Kategorie und ist insofern markant, als es sich hier um einen Verstoß gegen das Ikonismus-Prinzip handelt. Subtraktive Pluralmarkierung ist die Grammatikalisierung der Reduktion phonetischer Substanz in den Pluralformen (vgl. Girnth 2000). Solche subtraktiven Plurale sind im Rheinfränkischen hochfrequent und auch im Kartenmaterial des MRhSA gut repräsentiert (vgl. MRhSA, 5: Kt. 559 „Kind/Kinder“: Kind/Kin; MRhSA, 5: Kt. 552 „Tag/Tage“: Daach/Daa; MRhSA 5, Kt. 551 „Schuh/Schuhe“: Schuch/Schuu). Der subtraktive Plural darf inzwischen als gut erforscht gelten (vgl. Girnth 2000: 187−208; Birkenes 2014). Des Weiteren ist die Substantivflexion im Rheinfränkischen durch starke Kasussynkretismen gekennzeichnet. Der Genitiv ist geschwunden und wird durch possessive oder partitive Konstruktionen umschrieben: Moiner Mudder ihr Audo ‘Das Auto meiner Mutter’; E Glääsl vum beschde Woi ‘Ein Gläschen besten Weines’ (vgl. auch Kasper 2017 zur adnominalen Possession im SyHD-atlas). Die übrigen Kasus sind zwar noch vorhanden, jedoch nicht mehr durch eigene Kasusendungen markiert. Die Adjektive zeigen noch Flexionsendungen, die areal in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommen (z. B. en armer Mann; e armi Fraa; e armes Kind). Auffällig ist die Femininendung auf -i, die auf die historische Femininendung -iu zurückgeht („ein schoeniu maget sprach ›vil liebiu frouwe mîn, wolûf! ez taget‹.“ [Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst, Lied 40, I]). Im Unterschied zur Standardsprache unterlag dieser volle Endsilbenvokal -iu im Rheinfränkischen nicht der Abschwächung und ist als entrundetes -i erhalten.
5. Basisdialektale Raumstruktur: Syntax Längst ist die Dialektsyntax insgesamt kein Forschungsdesiderat der Dialektologie mehr. Für das Rheinfränkische muss allerdings festgestellt werden, dass der MRhSA keinen Syntaxteil enthält, so dass eine flächendeckende, areal feinteilige Dokumentation der Syntax für diesen Raum leider fehlt (vgl. aber die rheinfränkischen Erhebungsorte des Projekts Syntax hessischer Dialekte [SyHD]). Dies ist umso bedauerlicher, als Hans Reis mit seiner Gießener Dissertation schon früh (1891) eine umfassende syntaktische Beschreibung für das rheinfränkische Mainz vorgelegt hat. Reis diagnostiziert im Vergleich zur Standardsprache ein reduziertes Tempus-System: „[D]ie mainzer Mundart kennt eine indikativische präteritale Form nur für die zwei Verba sein und wollen; für alle übrigen ging der Indikativ Präteriti verloren.“ (Reis 1891: 12−13). Reis erklärt diesen Präteritalschwund durch die Apokope des -e, das zu Synkretismen geführt habe. Fischer (2018) hat nun den Präteritumschwund im Deutschen in seiner Gänze behandelt und kommt für das Rheinfränkische zu dem folgenden Ergebnis: Das Rheinfränkische stellt einen Übergangsraum dar, in dem der Präteritumschwund nicht wie im Alemannischen ausnahmslos eingetreten ist, sondern in einer Staffelung von Süd nach Nord. Nach Ausweis der Dialektgrammatiken gilt in der Südpfalz vollständiger Präteritumschwund, in der mittleren Vorderpfalz existiert das Präteritum ausschließlich bei sein, in der Nord- und Westpfalz bei zwei bis vier Verben und nahe dem rheinfränkisch-moselfränkischen Übergangsgebiet bei bis zu 30 Verben. Kt. 15.7 stellt die Präteritum/Perfekt-Isoglossen nach
15. Rheinfränkisch
Kt. 15.7: Präteritalgrenzen bei Wenker im Vergleich (Fischer 2018)
dem Wenker-Atlas zusammen und stützt Reis’ Beobachtung: Für sein und wollen liegt die Präteritalgrenze wesentlich südlicher als für die starken Verben. Fischer erklärt den Präteritumschwund − anders als Reis − als Folge der Perfektexpansion: „Als auslösender und ursächlicher Faktor des Präteritumschwunds wurde die Expansion des Perfekts benannt. Die semantisch-funktionale Ausbreitung der Perfektformen in die präteritalen Bedeutungs- und Funktionsbereiche führt zu einer prinzipiengeleiteten Verdrängung des Präteritums. Die verbweisen Staffelungen der Abbauhierarchie spiegeln diesen faktorengesteuerten Verdrängungsprozess wider.“ (Fischer 2018: 395). Zu diesen Faktoren gehört dann auch die e-Apokope, die zu Homonymien und damit zu defektiven Verbalparadigmen der schwachen Verben führt. Es ist insofern naheliegend, dass die unregelmäßigen oder gar suppletiven Verben noch am ehesten das Präteritum bewahren, da die e-Apokope dort die Verbalparadigmen weniger stört und die Präteritumformen zugleich durch die hohe Gebrauchsfrequenz dieser Verben gestützt werden. Eine Reihe weiterer syntaktischer Spezifika des Rheinfränkischen werden sichtbar, wenn die rheinfränkischen Erhebungsorte des SyHD-atlas in den Blick genommen werden: Im Rheinfränkischen ist das Auxiliar im Konjunktiv II nicht würde, sondern täte: Ich täte sie ja füttern, aber ich habe keine Zeit. Dies ist die im Rheinfränkischen absolut dominierende Form. Was die Artikelverwendung angeht, so dominiert im Rheinfränkischen der Definitartikel bei den Rufnamen (der Klaus), und zwar im Kontrast zur stan-
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Kt. 15.8: Rheinische Verlaufsform: syntaktische Isoglossen im Rheinfränkischen (Ramelli 2016: 87)
dardsprachlichen Norm. Was Pronominaladverben mit einer konsonantisch anlautenden Präposition angeht (davon), so ist für das Rheinfränkische überwiegende kurze Verdoppelung belegt (dadavon), gefolgt von der Distanzverdoppelung (Da … davon). Die Relativsatzeinleitung erfolgt im Rheinfränkischen nicht stets, aber doch dominant nicht durch das, sondern durch wo: Die Oma hat uns von einem Mädchen erzählt, wo ganz lange geschlafen hat. Umfangreiche Analysen zu syntaktischen Kontrasten zwischen Rheinfränkisch und Standardsprache (auch unter schuldidaktischem Aspekt) finden sich bei Henn (1978) und Henn (1980). Zuletzt − und in gewisser Weise im Vorgriff auf das folgende Kapitel − soll noch auf ein syntaktisches Phänomen hingewiesen werden, das an sich „nicht hierher gehört“: auf die Rheinische Verlaufsform (am-Progressiv): Ich bin die Uhr am reparieren (Atlas zur deutschen Alltagssprache [AdA]). Als typisches Phänomen des Rheinischen wird die Rheinische Verlaufsform in diesem Handbuch im Artikel Rheinisch (Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band) behandelt. Bemerkenswert ist es nun aber, dass dieses Phänomen sich rezent als stark progressiv erweist und von rheinfränkischen Sprechern zunächst akzeptiert und dann auch produziert wird: „Während die RV in den ZwirnerDaten von rheinfränkischen Sprechern nur mit einwertigen Verben verwendet wird, kann sie mittlerweile auch problemlos mit zweiwertigen, bevorzugt transitiven, Verben kombiniert werden. Ein erheblicher Teil der rheinfränkischen Sprecher akzeptiert dabei bereits links von am realisierte Objektargumente, eine Wortstellung, die sich noch bei Zwirner fast ausnahmslos im ripuarischen Dialekt nachweisen lässt.“ (Ramelli 2016: 88). Kt. 15.8 belegt diese progressive Tendenz mit leicht unterschiedlicher arealer Erstreckung in verschiedenen Distributionen: Am weitesten ins moselfränkischferne Rheinfränkisch ist das Phänomen in Konstruktionen mit Dativobjekt (+ DAT.OBJ) vorgedrungen: Sie waren meiner Freundin am Gratulieren. Am wenigsten weit ist die Erstreckung in Konstruktionen mit direktiven Präpositionalphrasen (PP (Dir.ADV) MF)
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verbreitet: Er konnte nicht kommen, weil er in die neue Wohnung am Umziehen war. Dazwischen liegt die Isoglosse für Konstruktionen mit Nominalphrase (NP am V): Moritz ist Äpfel am Waschen.
6. Sprachdynamik des Rheinfränkischen In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich das Rheinfränkische zu einem Referenzraum für die Regionalsprachenforschung des Deutschen entwickelt. Dies hängt in erster Linie mit den Methoden zusammen, mit denen hier die Varietätendynamik des Raumes untersucht wurde. Drei Teilbereiche der Sprachdynamikforschung sind anhand dieses Raumes fundiert und ausgearbeitet worden: Zum einen wurde mit dem MRhSA ein mehrdimensionaler Sprachatlas vorgelegt, der aufgrund von Apparent-time-Analysen neue Einsichten in Entwicklungstendenzen der Varietät Dialekt ermöglicht. Zum zweiten wurde mittels des Digitalen Wenker-Atlasses (DiWA) ein sprachdynamischer Atlas entwickelt, der mittels Real-time-Analysen in der Lage ist, die Zeitdimension systematisch zu untersuchen. Und drittens wurden im Rahmen des Informationssystems Regionalsprache.de eine Forschungsinfrastruktur und eine variationslinguistische Methodologie entwickelt, die neue Einsichten in die Struktur und Dynamik des Dialekt-/Standard-Spektrums, insbesondere in die situative Varietätenwahl der Sprechenden, ermöglicht. Zu diesen drei Teilbereichen sollen im Folgenden exemplarische Informationen gegeben werden.
6.1. Sprachdynamik des Dialekts im Rheinfränkischen: Der Mittelrheinische Sprachatlas Als erster Sprachatlas in Europa setzte der MRhSA sich ein doppeltes Ziel: Die dialektalen Strukturen in seinem Untersuchungsareal sollten bidimensional, d. h. sowohl hinsichtlich ihrer arealen Erstreckung und als auch hinsichtlich ihrer sozialen Differenziertheit dokumentiert und analysiert werden. Die Erkenntnisziele sind: „(1) Die Ermittlung und Dokumentation der Arealstruktur des standardfernsten Bereichs der gesprochenen Sprache, der Basisdialekte. (2) Die Ermittlung und Dokumentation diastratisch determinierter ortssprachlicher Kontraste und damit der sich verändernden Arealstruktur in einem immer noch standardfernen Bereich der gesprochenen Sprache, den Regionaldialekten.“ (Bellmann, Herrgen & Schmidt 1989: 285−286). Der linksrheinische Teil des Rheinfränkischen ist Teil des Bearbeitungsgebietes des MRhSA. Da das Arbeitsgebiet jedoch deutlich über das Rheinfränkische hinausgeht, können auf der Grundlage des MRhSA auch Fragen der Abgrenzung der Dialektverbände des Westmitteldeutschen beantwortet werden. Die Bidimensionalität des MRhSA prägt sich in verschiedener Weise aus, sie hat aber insbesondere schon in der Datenerhebungsphase methodische Konsequenzen: In einer ersten Erhebungsserie folgt der MRhSA ganz den traditionellen Sprachatlanten, indem Informanten befragt wurden, die in zweiter Generation ortsfest waren, älter als 70 Jahre und die einen manuellen Beruf ausgeübt hatten. Die entscheidende Neuerung des MRhSA bestand dann aber in einer zweiten Aufnahmeserie, in der
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. 15.9: Ausschnitt aus der Kontrastkarte beißen (MRhSA, 4: Kt. 332)
mit derselben Methode eine jüngere Informantenschicht befragt wurde. Die Informanten der zweiten Erhebung waren gleichfalls in zweiter Generation ortsfest und gleichfalls manuell berufstätig. Im Unterschied zu der ersten Serie waren sie aber zwischen 30 und 40 Jahre alt und als Tagespendler ortsmobil. Die mittels dieser biseriellen Technik erarbeiteten Forschungsresultate wurden in fünf Atlasbänden publiziert und verschiedentlich weiterführend analysiert (vgl. Herrgen 2010; Schmidt & Herrgen 2011: 141−145). Mit Blick auf die Dialektdynamik sind jedoch besonders die biseriellen Kontrastkartenblätter des MRhSA relevant. Es handelt sich hier um Doppelkarten im Paralleldruck, die links den Dialekt der Älteren, rechts den der Jüngeren zeigen. Die Kontrastinformation lässt sich auf den Kartenblättern leicht ablesen: Wo der Dialekt der jüngeren Generation mit dem der älteren Generation kontrastiert, ist das Symbol in der Karte, die den Dialekt der jüngeren Generation abbildet, rot gesetzt. Bei dialektaler Identität der beiden Generationen bleibt das Symbol schwarz. Durch dieses Visualisierungsverfahren kann der Atlasbenutzer die intergenerationellen dialektalen Kontraste analysieren, und zwar sowohl Ort für Ort als auch hinsichtlich stabiler oder dynamischer Arealstrukturen. Kt. 15.9 (Ausschnitt aus MRhSA, 4: Kt. 332/1−2 „beißen“) dokumentiert hohe interserielle Dynamik: Für die ältere Generation sind im rheinfränkischen Teil des MRhSA-Untersuchungsgebietes beim alveolaren Frikativ im Lemma beißen weit überwiegend stimmlose Varianten belegt. In stärkstem Kontrast dazu steht die
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Erhebung der jüngeren Generation, wo im mittleren Rheinfränkischen hochfrequent stimmhafte Frikative imponieren. Dies ist ein erstaunliches, hoch auffälliges Phänomen, zumal hier eine Innovation im Dialekt der Jüngeren nicht nur kontrastierend zum Basisdialekt der Alten, sondern auch zur neuhochdeutschen Standardsprache vordringt. Die Erklärung des Phänomens liegt wohl in den phonologischen Strukturen und kann innerhalb des MRhSA geleistet werden, indem die Arealdistribution historisch stimmhafter dentaler Frikative einbezogen wird (z. B. MRhSA, 4: Kt. 403/1−2 „Besen“). Dies zeigt, dass die sich bei beißen abzeichnende Ausbreitung der Stimmhaftigkeit sich in einem rheinfränkischen Areal vollzieht, das durch Fehlen der Stimmhaftigkeitsopposition gekennzeichnet ist: Indem die Stimmhaftigkeit hier − anders als im Moselfränkischen − keine phonologische Relevanz hat, kann intervokalische Sonorisierung durchdringen. Artikulationsökonomisch motivierte Koartikulationstendenzen führen hier zu einer Ausbreitung der intervokalischen Stimmhaftigkeit, ohne dass Distinktionen gefährdet wären. Auch die Tatsache, dass die Standardsprache die Stimmhaftigkeitsopposition kennt, ist hier nicht von Belang: Der Regionalakzent der Sprechenden ist in diesem Raum durch Fehlen der Stimmhaftigkeitsopposition auch bei intendierter Standardsprachverwendung gekennzeichnet. Aufs Ganze gesehen lassen sich einige grundlegende Ergebnisse der spezifischen mehrdimensionalen Methode des MRhSA festhalten: Es zeigt sich, dass der MRhSA in seiner Datenserie 1 (ältere Generation) einen „Sprachzustand mit extrem hoher Dialektalität erreicht.“ (Bellmann, Herrgen & Schmidt 1989: 301). Was die Datenserie 2 angeht (Dialekt der jüngeren Generation), so dokumentiert der MRhSA einen immer noch tief dialektalen, jedoch tendenziell lokal entdifferenzierten Sprachzustand. Zu beobachten ist eine vergröberte Arealität, die mit verminderter Dialektalität verbunden ist. Zusammengenommen „dürfte die Zielvarietät dieser Entwicklung ein sich herausbildender Regionaldialekt sein.“ (Bellmann, Herrgen & Schmidt 1989: 305). Die durch den MRhSA belegte vorherrschende Tendenz lässt sich also am ehesten mit dem Stichwort „dialektale Regionalisierung“ kennzeichnen. Dies zeigen auch die im MRhSA den Karten beigegebenen Häufigkeitsauszählungen: Es herrscht die Tendenz vor, seltene und kleinräumig verteilte Merkmale durch häufigere und großräumig verteilte Merkmale zu ersetzen. Wo sich neue Regionaldialekte herausbilden, ist eine eigenständige Entwicklung zu beobachten, die in Teilbereichen sogar durch Innovationen gekennzeichnet ist, die von der neuhochdeutschen Standardsprache wegführen. Der Mittelrheinische Sprachatlas belegt zahlreiche Fälle, die zeigen, dass die regionaldialektale Form nicht nur der lokaldialektalen Form vorgezogen wird, sondern auch derjenigen der Standardsprache, von der man hätte meinen sollen, dass sie durch Medien und Schule besonders gestützt wird.
6.2. Real-time-Analysen zum Rheinfränkischen Echt sprachdynamische Analysen sind solche, bei denen nicht aus synchronischen Differenzen auf historische Veränderung geschlossen wird, sondern bei denen vergleichbare Daten unterschiedlicher Zeitschnitte systematisch aufeinander bezogen und vergleichend analysiert werden. Als Vorläufer zu solchen Analysen kann schon Dingeldein (1997) angesehen werden, der auf Grundlage diverser Einzelstudien den gesamten mitteldeutschen Sprachraum in den Blick nimmt. Für das Rheinfränkische nimmt er an, dass die Anzahl der Dialektsprecher in der jüngsten Generation zwar zurückgeht, dass ihre Sprachverwendung aber noch immer relativ stark regional geprägt ist (vgl. Dingeldein 1997: 123). Hin-
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sichtlich der regionalsprachlichen Entwicklungen stellt er die Hypothese auf, dass einerseits die alten Basisdialekte durch Regionalisierungstendenzen in großräumigeren Formen regionalen Sprechens aufgehen und andererseits neue Formen dieser Art entstehen. Für das Rhein-Main-Gebiet bezeichnet er diese neue Form als „Neuhessisch“ (vgl. Dingeldein 1997: 126, 128 u. 131 sowie Dingeldein 1994). Eine methodologisch wie auch inhaltlich wegweisende Studie hat dann Lameli (2004) vorgelegt, der die Sprachdynamik der Mainzer Regionalsprache anhand von Tonbandprotokollen der Stadtratssitzungen untersuchte. Eine echte Real-time-Analyse wurde hier in realen Alltagssituationen durchgeführt. Eine aktuelle sprachdynamische Studie ist Keil (2017), der den Lautwandel in Frankfurt (Übergangsgebiet Zentralhessisch, Rheinfränkisch) untersucht. Hier liegt nun eine echt sprachdynamische Studie vor, indem verschiedene Zeitschnitte vergleichbar gemacht und mit modernsten Methoden vergleichend analysiert werden. Keil (2017) klassifiziert Laute dialektintendierter Sprachdaten mit einer phonetisch-algorithmischen Methode und kann empirisch nachweisen, dass die a-Verdumpfung in Frankfurt abgebaut wird (vgl. bspw. Rauh 1921a, 1921b). Die Realisierung des Merkmals wird variabel, und in rezenten Daten kann lediglich eine tendenzielle, fakultative Verdumpfung ermittelt werden (vgl. Keil 2017: 309−310 u. 395−397). Andere Merkmale bleiben hingegen erhalten (bspw. monophthongische Entsprechungen von mhd. ei, ou sowie die Entrundung, vgl. Keil 2017: 395−397). Das Anliegen echt sprachdynamischer Atlanten ist es, den Wandel des gesprochenen Dialektes in Raum und Zeit exakt zu verfolgen, indem zeitlich distante Sprachdatenerhebungen (synchronische Schnitte) systematisch aufeinander bezogen und Real-time-Analysen unterzogen werden. Dies geschah in der jüngsten Vergangenheit mittels sprachdynamischer Forschungsplattformen wie dem Digitalen Wenker-Atlas (DiWA) oder Regionalsprache.de (REDE). Die Leistung solcher sprachdynamischer Datenvernetzung kann erneut am Rheinfränkischen gezeigt werden: Durch den systematischen Vergleich des Wenker-Atlasses (Erhebung 1876 bis 1887) mit dem MRhSA (Erhebung 1978 bis 1988) ergibt sich eine Realtime-Differenz von etwa 100 Jahren (hinzu kommt durch die zweite Datenserie des MRhSA noch einmal eine Apparent-time-Differenz von 30 Jahren). Es können somit präzise Analysen diachronischer Veränderungsprozesse des Rheinfränkischen unternommen werden, was zuletzt mit Erfolg geschehen ist. Sprachdynamische Prozesse von hoher Systematizität konnten für die Morpho-Phonologie am Beispiel der t-Deletion im Rheinfränkischen (vgl. Herrgen 2005, 2010) gezeigt werden und auch anhand der Dynamik der Verbalflexion (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 153−164, 172−174 u. 451−453). Wie differenziert, hoch komplex und zugleich systematisch sprachdynamische Prozesse auch in der Phonologie ablaufen, konnten Schmidt & Herrgen (2011: 212−235) anhand der dynamischen Entwicklung von mhd. ê (Lemma weh) zeigen. Anhand ein- und desselben Phänomens konnten hier gleichzeitig gezeigt werden: 1. Die Stabilität von Grenzen zwischen dialektalen Großräumen (rheinfränkisch ve: vs. moselfränkisch vi:), 2. die Auflösung von Reliktgebieten, 3. der Abbau von lokal-exklusiven Dialektformen (isoliertes vi: im Westpfälzischen), 4. die Entwicklung von regionaldialektalen bzw. stadtsprachlichen Neuerungen (väi in
der Umgebung von Mainz) und 5. die punktuelle Konstanz von lokal-exklusiven Dialektformen (väi im Südpfälzischen).
Die skrupulöse sprachdynamische Analyse dieser Entwicklungen zeigt, dass diese keineswegs dem Zufall unterliegen oder durch externlinguistische Faktoren bedingt sind
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(Siedlung, Verkehr, Sozialschichtung etc.), sondern dass sie jeweils aus der spezifischen Strukturkonstellation der Regionalsprache erklärbar werden.
6.3. Struktur und Dynamik des Dialekt-/Standard-Spektrums im Rheinfränkischen Die Variationslinguistik der Gegenwart hat einen entscheidenden Erkenntnisgewinn erfahren durch die Ergänzung der traditionell-raumbezogenen Perspektive durch einen sprecherzentrierten Zugang. So wurden die älteren areallinguistischen Befunde ergänzt durch die Analyse des situationsspezifischen sprachlichen Handelns. Neben die ausschließliche Untersuchung der Eigenschaften des standardfernen Basisdialekts trat nun die Beschreibung der Spektren an Sprechlagen und Varietäten („Register“), mit denen Sprechende ihre kommunikativen Bedürfnisse situationsspezifisch erfüllen (vgl. Lenz 2003; Kehrein 2012). Auch für das Rheinfränkische liegen ergiebige Analysen des Dialekt-/Standard-Spektrums vor. Steiner (1994) führt eine frühe variationslinguistische Studie zu Mainz (Übergangsgebiet Zentralhessisch/Rheinfränkisch) durch. Sie untersucht das Sprachverhalten von Postzustellern in verschiedenen Situationen und wertet dieses mit unterschiedlichen Methoden aus. Steiner (1994: 106−127) kommt zu dem Ergebnis, dass die Dialektkompetenz der Sprecher trotz allgemeiner Stabilität des Dialekts leicht zurückgeht. Viele ihrer Informanten verwenden den Dialekt noch im kommunikativen Alltag (vgl. Steiner 1994: 106−127). Trotz Fokussierung auf andere Aspekte (vgl. Steiner 1994: 136−179) findet Steiner Evidenz für eine „zunehmende sprachliche Regionalisierung“ (Steiner 1994: 184). Punktuelle Studien wie Steiner (1994) und Lenz (2003) haben gezeigt, wie ergiebig eine Analyse der variativen Register sein kann. Vor diesem Hintergrund sind zuletzt Großprojekte durchgeführt worden, die die Regionalsprachenforschung auf eine qualitativ neue Stufe bringen, indem sie variative Register nicht nur punktuell, sondern im Raum erheben (vgl. Deutsch heute [vgl. Kleiner 2015]; Sprachvariation in Norddeutschland [SiN]; Regionalsprache.de; vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 364−392.). Was das Rheinfränkische angeht, so ist insbesondere das Projekt Regionalsprache.de einschlägig, da mehrere der 150 Erhebungsorte in diesem Areal liegen. Die durchgeführten Erhebungen versprechen schon deshalb neue Ergebnisse, weil hier für drei Sprecher-Generationen jeweils sechs Sprechlagen von intendierter Standardverwendung über informelle Alltagssprache bis zum intendierten Dialektgebrauch (Vorleseaussprache, Standardkompetenzerhebung, Interview, Notrufannahmegespräche, Freundesgespräch, Dialektkompetenzerhebung) ermittelt wurden. Eine rezente Studie (vgl. Vorberger 2019) hat die REDE-Daten für rheinfränkische und zentralhessische Orte eingehend analysiert. Für den östlichen Teil des Rheinfränkischen (vgl. Kt. 15.3) wurden dabei die Orte Reinheim (bei Darmstadt) und Erbach (im Odenwald) ausgewertet. In Reinheim bei Darmstadt lässt sich für den Dialekt festhalten, dass dieser von Sprechern der älteren und mittleren Generation beherrscht und in informellen Situationen des kommunikativen Alltags auch gesprochen wird. Zwischen diesen beiden Generationen nimmt die Dialektalität leicht ab. Es lässt sich von einer Variabilisierung des Dialekts sprechen, die sich in einem variablen Gebrauch dialektaler Merkmale und dem Rückgang der Frequenz der Realisierung dieser Merkmale äußert. Bei
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Sprechern der jüngeren Generation liegt hingegen ein nahezu vollständiger Abbau dialektaler Merkmale vor. Die jungen Sprecher beherrschen den Dialekt nicht mehr und können allenfalls einzellexikalisch Erinnerungsformen abrufen (bspw. kein [kʰɔ̞:]). Den sprachbiografischen Angaben lässt sich entnehmen, dass die Sprecher nicht mehr im Dialekt primärsozialisiert wurden. Die Dialektkompetenz nimmt über die Generationen ab und das Sprachverhalten verlagert sich vom Dialekt in den Regiolekt. Zwischen den Sprechern der älteren und mittleren Generation findet dieser Entwicklungsprozess aber sukzessive statt, zu den Sprechern der jüngeren Generation ist hingegen ein Umbruch festzustellen. Für den Raum um Darmstadt kann somit ein Abbau des Dialekts durch zunehmende Regionalisierung festgehalten werden. In Erbach im Odenwald beherrschen die Sprecher aller Generationen den Dialekt noch und verwenden ihn in informellen Situationen. Es ist lediglich für die dialektalen Diphthonge (aus mhd. ê und ô) ein variabler Gebrauch zu beobachten, der auf einen langfristigen Abbau dieser Dialektmerkmale hindeutet. Ansonsten können im intergenerationellen Vergleich nur Tendenzen einer Variabilisierung des Gebrauchs dialektaler Varianten festgestellt werden, sodass von einer Stabilität des Dialekts im Odenwald ausgegangen werden kann. Als einer der Gründe kann die Primärsozialisation im Dialekt identifiziert werden, die in Erbach auch für die jungen Sprecher gilt. Insgesamt nimmt die Dialektkompetenz geringfügig ab und das Sprachverhalten im kommunikativen Alltag verlagert sich sukzessive und eher tendenziell in den Regiolekt. Für den Odenwald kann somit eine übergreifende Stabilität des Dialekts mit leichten Regionalisierungstendenzen festgehalten werden. Für den Dialekt und dessen Dynamik kann für den östlichen Teil des Rheinfränkischen Folgendes resümiert werden (vgl. Vorberger 2019): − Rezent wird der Dialekt von den meisten Sprechern beherrscht und in informellen
Situationen des kommunikativen Alltags auch verwendet. − Einige dialektale Merkmale zeichnen sich durch große Stabilität der Verwendung aus
(bspw. Palatalisierung), andere wiederum unterliegen nach einem standarddivergenten Ausbreitungsprozess innerhalb des Dialekts einem Abbau. − Im Odenwald lassen sich im intergenerationellen Vergleich nur Tendenzen des Dialektabbaus ermitteln, während im Darmstädter Raum der Dialekt in der jüngeren Generation bereits vollständig abgebaut wurde. − Der Dialektabbau vollzieht sich hauptsächlich über eine zunehmende Variabilisierung des Gebrauchs dialektaler Merkmale. Die regionalsprachlichen Entwicklungen lassen sich vor dem Hintergrund der Struktur der rheinfränkischen Basisdialekte verstehen: Als Besonderheit des Dialektverbands gilt, dass er „insbesondere im Vokalismus der Schrift- und Standardsprache nähersteht als die nördlichen Dialekte“ (Wiesinger 1983a: 849; vgl. auch Schirmunski 2010: 667− 668; Reis 1910 und Maurer 1929). Diese relative Schriftnähe kann auch Lameli (2013: 242) in seiner arealtypologischen Studie zeigen. Analysen der Dialektmerkmale zeigen, dass sie oft keinen systemischen Kontrast zur Standardsprache bilden (vgl. Vorberger 2019: 153–161), sondern dass viele dialektale Merkmale als Allophone standardsprachlicher Phoneme beschrieben werden können (vgl. bspw. die Entsprechungen von mhd. ê und ô, s. o.). Weitere standarddifferente Varianten sind nicht struktur- oder systembildend (vgl. bspw. n-Apokope), da sie in direktem Bezug zu standardsprachlichen Varianten stehen und ohne den Aufbau neuer Strukturen verwendet werden können. Hinzukommt, dass viele rheinfränkische Merkmale großräumig verbreitet sind. Aufgrund der
15. Rheinfränkisch
relativen Standardnähe der rheinfränkischen Dialekte können Dialektsprecher in überregionaler Kommunikation leicht modifizierte regionalsprachliche Merkmale verwenden. Bei Bedarf − bspw. aufgrund sozialer Konventionen und Erwartungen − müssen die Sprecher kein System wechseln. Sie können sich über eine Variabilisierung des Gebrauchs der dialektalen Merkmale oder den vollständigen Ersatz nicht-strukturbildender Dialektvarianten durch standardsprachliche Pendants der Standardsprache annähern (vgl. Vorberger 2019: 161). Dadurch, dass beide Systeme so ähnlich sind, können die Sprecher sich mit kommunikativ ausreichendem Effekt sukzessiv dem Standard nähern, ohne ihn wirklich zu erreichen. Dies stellt die Grundlage des Dialektwandels „von unten“ bzw. des Ausbaus des individuellen Registers „nach oben“ dar (vgl. dazu auch Kehrein 2012). Ältere Beschreibungen (Urff 1926; Rudolph 1927; Grund 1935; Born 1938) deuten darauf hin, dass die Struktur des regionalsprachlichen Spektrums im östlichen Teil des Rheinfränkischen als Kontinuum zu beschreiben ist. Auch Bellmann (1983), Steiner (1994) und Schmidt (1998) nehmen für das (städtische) Rhein-Main-Gebiet und somit für Teile des Rheinfränkischen ein regionalsprachliches Kontinuum ohne distinkte Varietäten, sondern mit Sprechlagen an. Auf der Grundlage umfangreicher empirischer Verfahren (Variablenanalysen, Clusteranalysen, Dialektalitätswertmessungen, qualitativer Implikationsanalysen), die die Verteilung der regionalsprachlichen Varianten auf untersuchte Sprachproben analysieren, kann Vorberger (2019) für den östlichen Teil des Rheinfränkischen tatsächlich ein solches regionalsprachliches Kontinuum nachweisen (vgl. dazu genauer Vorberger 2019: 141–164). Dies bedeutet, dass im Sinne der Sprachdynamiktheorie (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 51−66) keine Varietätengrenze ermittelt werden kann und dass bei den meisten regionalen Varianten eine durchgehende Variabilisierung des Gebrauchs zu beobachten ist. Innerhalb dieses Kontinuums ist hin zum standardnahen Pol eine sukzessive Zunahme standardsprachlicher Varianten zu beobachten. Eine eindeutige und diskrete Varietätengrenze besteht lediglich hin zur Standardsprache (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 62). Das Spektrum kann wie folgt modelliert werden (vgl. Vorberger 2019: 162−164):
Abb. 15.3: Spektrumstyp im Rheinfränkischen: regionalsprachliches Kontinuum
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Was die sprachlichen Merkmale angeht, so lässt sich das variative Kontinuum im östlichen Teil des Rheinfränkischen über die Realisierung bzw. Nicht-Realisierung der folgenden Merkmale bestimmen (vgl. Vorberger 2019: 397–399): Vokalismus − a-Verdumpfung − Realisierung von mhd. ei als [a̠:] − Realisierung von mhd. ou als [a̠:] − Realisierung von mhd. ü, üe als [ɪ, i:] − Realisierung von mhd. ö, œ als [ɛ, e:] − monophthongische Realisierung von auf, rein usw. [ʊ, ɪ] Konsonantismus − unverschobenes germ. p im Inlaut − Frikativrealisierung statt Affrikate − (teilweise) apikale /r/-Varianten − Frikativelision (auslautend) (Bsp. nach) − t/d-Assimilation (nach /n, l/) − b-Spirantisierung − Tiefschwa-Vorverlagerung − s-Sonorisierung
− − − − −
Nasalierung tendenziell Hebung/Diphthongierung von [e:, o:] tendenziell Senkung von [ɪ, ʊ] Vokalkürze e-Apokope
− − − − − − − −
Realisierung von nicht als [nɛt] n-Apokope g-Spirantisierung Lenisierung (in- und anlautend) r-Ausfall ohne Ersatzdehnung Realisierung von das als [d̥ɛs] Koronalisierung Fortisierung
7. Dynamik der Regionalsprachengrenze Rheinfränkisch/ Zentralhessisch Die Grenze zwischen den Regionalsprachen Rheinfränkisch und Zentralhessisch (vgl. Kt. 15.2) ist − anders als die stabile Grenze zwischen Rheinfränkisch und Rheinisch − durch Dynamik geprägt. Seit Langem wird in der Forschung darauf hingewiesen, dass eine Beeinflussung des Zentralhessischen durch das Rheinfränkische zu beobachten ist, die als Süd-Nord-Ausbreitung rheinfränkischer Merkmale verstanden wurde (vgl. bspw. Alles 1954; Debus 1963; Schnellbacher 1963; Wiesinger 1980, 1983a: 849). Auch wurde eine Ausbreitung einer neuen, südlichen Form des regionalen Sprechens („Neuhessisch“, vgl. Dingeldein 1994) konstatiert. Der Prozess der Ausbreitung südlicher regionalsprachlicher Merkmale ins Zentralhessische ist anhand sprachlicher Merkmale nachweisbar: Auf dialektaler Ebene lässt sich zunächst die Ausbreitung der rheinfränkischen Diphthonge [ɛ͡ɪ, ɔ͡ʊ] für standardsprachlich [e:, o:] beobachten, und zwar in südlichen zentralhessischen Städten. Da Hyperdialektalismen ausgeschlossen werden können (vgl. Vorberger 2019: 302, Fn. 573), handelt es sich um die horizontale Ausbreitung eines rheinfränkischen Dialektmerkmals. Als Erklärung dieser horizontalen Ausbreitung kommt wiederum der allophonische Status der betreffenden Varianten in Betracht. Als rein phonetische Anpassung sind diese Varianten einfach zu verwenden, großräumig verstehbar und eignen sich dennoch zur regionalen Markierung (vgl. dazu Vorberger 2019: 302, Fn. 573). Zu den weiteren rheinfränkischen Merkmalen, die sich ins Zentralhessische ausbreiten, zählt die Koronalisierung, die sowohl einer horizontalen wie vertikalen Ausbreitung unterliegt (vgl. dazu Herrgen 1986; Vorberger 2019: 361–363). Genuin zentralhessische Dialektmerkmale sind dagegen durch Abbau gekennzeichnet wie [u:], die zentralhessische Entsprechung von mhd. ô. Dialektale Merkmale, die mit dem Rheinfränkischen übereinstimmen, bleiben dagegen
15. Rheinfränkisch
erhalten und erfahren insofern einen Gebrauchswandel, als sie von Sprechern öfter und auch in standardnäheren Sprechlagen verwendet werden (bspw. die Entsprechungen von mhd. ei und ou [a̠:] wie in kaan ‘kein’, aach ‘auch’). Im nördlichen Zentralhessischen ist dies nicht zu beobachten. Im südlichen Zentralhessischen findet somit ein umfassender, auf das Rheinfränkische hin ausgerichteter Sprachwandel statt, der sich in drei Teilprozesse differenzieren lässt (vgl. Vorberger 2019: 306–309): 1. Übernahme regionalsprachlicher Merkmale des Rheinfränkischen, 2. Abbau basisdialektaler Merkmale des Zentralhessischen und 3. Stabilität der Merkmale, die dem rheinfränkischen Dialekt und Frankfurter Regiolekt
entsprechen. Das Ergebnis dieser regionalsprachlichen Entwicklung ist eine Neustrukturierung des Sprachraums. Sie führt dazu, dass sich der südliche Teil des Zentralhessischen dem Rheinfränkischen angleicht. Die Struktur der Vertikale lässt sich dort als regionalsprachliches Kontinuum mit zentralhessischem Basisdialektrest beschreiben. Dies ist das Ergebnis des Aufbaus struktureller Gemeinsamkeiten (Teilprozesse 1 und 3) und des Abbaus struktureller Unterschiede (Teilprozess 2). Die beiden ehemals unterschiedenen Regionalsprachen konvergieren und die bestehende Regionalsprachengrenze schwindet. Es entsteht hier eine neue Regionalsprache, die insbesondere durch einen gemeinsamen Regiolekt und eine gemeinsame Oralisierungsnorm der Standardsprache (rheinfränkisch geprägter Regionalakzent) gekennzeichnet ist. Es kann somit von einer Rheinfrankisierung (oder Rhein-Mainisierung) des südlichen Zentralhessischen gesprochen werden. Die beschriebenen regionalsprachlichen Prozesse (vgl. Debus 1963; Wiesinger 1983a) setzen sich also weiter fort und führen rezent zu dem Ergebnis einer einheitlichen Regionalsprache des Rhein-Main-Gebiets vom Odenwald bis in die Wetterau. Dabei handelt es sich aber nicht um eine monodimensionale Ausbreitung des rheinfränkischen Regiolekts (vgl. bspw. Brinkmann to Broxten 1986: 12), sondern um einen komplexen Gesamtprozess, der sich als Advergenzprozess der Regionalsprache im südlichen Zentralhessischen zu einer rheinfränkischen Regionalsprache bezeichnen lässt (vgl. dazu Vorberger 2019: 369–378).
8. Literatur AdA = Elspaß, Stephan & Robert Möller 2003 ff. Atlas zur deutschen Alltagssprache. URL: , letzter Zugriff: 12.10.2017. Alles, Heinz 1954 Mundart und Landesgeschichte der Wetterau. Diss. Universität Marburg. Auer, Peter & Jürgen Erich Schmidt (Hrsg.) 2010 Language and Space: An International Handbook of Linguistic Variation: Theories and Methods (Handbooks of Linguistics and Communication Science 30.1). Berlin & New York: De Gruyter Mouton. Bach, Adolf 1969 Deutsche Mundartforschung, 3. Aufl. Heidelberg: Winter. Bach, Adolf 1970 Geschichte der deutschen Sprache, 9. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer.
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16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch) Wiesinger, Peter 1980 Die Stellung der Dialekte Hessens im Mitteldeutschen. In Hildebrandt, Reiner & Hans Friebertshäuser (Hrsg.), Sprache und Brauchtum: Bernhard Martin zum 90. Geburtstag (Deutsche Dialektgeographie 100), 68−148. Marburg: Elwert. Wiesinger, Peter 1983a Die Einteilung der deutschen Dialekte. In Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke & Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.), 807−900. Wiesinger, Peter 1983b Phonologische Vokalsysteme deutscher Dialekte: Ein synchronischer und diachronischer Überblick. In Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke & Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.), 1042−1076.
Joachim Herrgen, Marburg (Deutschland) Lars Vorberger, Marburg (Deutschland)
16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch) 1. Einleitung 2. Historie und Besonderheiten 3. Basisdialektale Raumstruktur
4. Sprachdynamik 5. Literatur
1. Einleitung Es gibt wenige Sprachräume im Deutschen, deren Gliederung in der sprachwissenschaftlichen Tradition so fest verankert und im Laienbewusstsein so bekannt ist, wie das im Rheinischen der Fall ist. Seit Georg Wenkers kleiner Schrift Das rheinische Platt (1877) und seinem Sprach-Atlas der Rheinprovinz […] und des Kreises Siegen (1878) sind fast alle wichtigen Dialektgrenzen und die Übergangsgebiete nördlich der Mosel sachlich korrekt beschrieben. Jeder Germanist kennt die Uerdinger und die Benrather Linie. Jeder im Hunsrück oder im Saarland aufgewachsene Laie wird, wenn man ihn nach Dialektunterschieden fragt, von sich aus Orte nennen, in denen man dat, und andere, wo man stattdessen das sagt. Von Beginn der wissenschaftlichen Diskussion an (Wenker 1877) war zudem klar, dass die Isoglossen des Rheinischen Fächers, der sich am Rothaargebirge (nördlich Siegen) aufspaltenden Linien der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung, zum Teil nur wenige Wörter betreffen (Uerdinger Linie: ich und auch; dat/das Linie: das, was, es, meines, seines …). Ihre Bedeutung für die Dialektgliederung kommt einerseits dadurch zustande, dass die Lautverschiebungslinien Teil von Isoglossenbündeln (vgl. Frings 1926) sind, also von vielen sich auf engem Raum verdichtenden sprachlichen Gegensätzen, und dass wiederum ein Teil dieser Gegensätze von hoher sprachstrukturell-systematischer Relevanz ist (vgl. Wiesinger 1983). Sie sind anderseits von Bedeutung, weil sie den Sprechern erlauben, tiefgreifende Sprachraumdifferenzen kommunizierbar zu machen, sie sind also deren symbolischer Ausdruck. https://doi.org/10.1515/9783110261295-016
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 16.1: Phylogramm der Similarität der deutschen Dialekte um 1880 (Lameli 2013: 185−186)
Abb. 16.2: Hierarchische Gliederung der deutschen Dialekte (nach Lameli 2013: 193; Nummerierung der Dialektverbände nach Abb. 16.1 geändert)
Dieser langen Kontinuität der sich immer wieder bestätigenden Abgrenzungen von Teilräumen steht in den letzten Jahren eine radikale Korrektur der hierarchischen Klassifikation der Dialektverbände gegenüber. Trotz gewichtiger Gegenstimmen (Frings 1916: 2 „Die Geschichte des westgermanischen Lautsystems ist zu revidieren.“) hatte sich die Auffassung verfestigt, das Moselfränkische und das Ripuarische seien aufgrund der sprachhistorischen Zusammenhänge den hochdeutschen Dialektverbänden zuzuordnen. Als „Mittelfränkisch“ wurde es auf einer vierten Klassifikationsstufe dem Westmitteldeutschen zugeordnet (vgl. Wiesinger 1983): Hochdeutsch > Mitteldeutsch > Westmitteldeutsch > Mittelfränkisch (mit Ripuarisch und Moselfränkisch). Anstoß für die Neuklassifikation war eine quantitative Analyse der Similarität (Ähnlichkeit) der deut-
16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch)
schen Dialekte. In seiner Habilitationsschrift hat Alfred Lameli alle 64 phonologischen und morphologischen Variablen der Wenker-Erhebung von 1880, die nach Wredes Analyse raumbildend sind, mit biostatistischen Verfahren quantitativ ausgewertet. Das Ergebnis lässt sich an einem Phylogramm veranschaulichen, in dem jeder feine Strich für den Dialekt eines Landkreises steht und die sich ergebenden farbigen „Bündel“ den Dialektverbänden entsprechen. Der optische Abstand zwischen den Bündeln entspricht der errechneten Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit der Dialektverbände. Während das Ergebnis insgesamt die klassischen Dialekteinteilungen bestätigt, ergibt sich für das „Mittelfränkische“ ein völlig anderes Bild: Das zugehörige (grüne) Bündel 3 steht in deutlicher Distanz sowohl zu den sich verzweigenden hochdeutschen Dialekten (4 und 5) als auch zu den niederdeutschen Dialekten (2) und dem historisch eigenständigen Nordfriesisch (1). Lamelis Clusteranalyse bestätigt dieses Bild. Das Moselfränkische, Ripuarische und Südniederfränkische heben sich schon auf der ersten Klassifikationsstufe von allen anderen deutschen Dialekten ab. Was bisher „Mittelfränkisch“ genannt wurde, ist hinsichtlich seiner raumbildenden phonologischen und morphologischen Merkmale demnach so eigenständig wie die hochdeutschen und die niederdeutschen Dialekte. Lameli zieht aus diesem Befund die terminologische Konsequenz und stellt dem hochdeutschen (mit dem ober- und mitteldeutschen) und niederdeutschen Dialektverband den westdeutschen gegenüber. Um zu vermeiden, dass der Terminus auf die Dialekte der Bundesrepublik Deutschland vor der Wiedervereinigung bezogen wird, hat Jürgen Erich Schmidt (2015: 249) vorgeschlagen, den Dialektverband als historisches Westdeutsch einzuordnen. In diesem Beitrag verwenden wir daneben die populäre und weit verbreitete Bezeichnung Rheinisch (vgl. kritisch dazu Elmentaler 2005: 118−126). Alles spricht dafür, dass das Ergebnis der quantitativen Neuklassifikation valide ist, d. h., dass wir es hier tatsächlich mit einem typologisch-historisch eigenständigen Varietätenverband, mit einer typologisch-historisch eigenständigen Regionalsprache zu tun haben. Typologisch handelt es sich um den einzigen deutschen Dialektverband, der lexikalisch (und morphologisch) distinkte Töne aufweist („rheinische Akzentuierung“ bzw. franconian tone accents). Sprachhistorisch liegt dem Dialektverband ein eigenständiges altwestdeutsches Langvokalsystem zugrunde, das die althochdeutsche Diphthongierung nicht mitgemacht hat und sich von den mitteldeutschen Dialekten und der Standardvarietät durch die umgekehrte Positionierung der Hoch- und Mittelzungenvokale (Reihenvertauschung) unterscheidet. Auch perzeptionslinguistisch hebt sich das historische Westdeutsch bzw. das Rheinische in einer Deutlichkeit ab, die sonst so nicht belegt ist: Für die südliche Grenze hat Christoph Purschke (2011: 228−269) gezeigt, dass Hörer noch in den standardnächsten Sprechlagen des Regiolekts (Statements für Radiosendungen) Sprachproben eindeutig den Sprachräumen südlich und nördlich der dat/das-Linie zuweisen können, die wiederum weitgehend mit der durch Distinktivitätstests belegten Tonakzentgrenze im Dialekt zusammenfällt. Die gesamte Regionalsprache, der gesamte rheinische Varietätenverband von Dialekt und Regiolekt, wird demnach im Süden von einer klaren perzeptionslinguistischen Grenze abgeteilt. Da die Eigenschaften, die den Sprachraum typologisch-historisch prägen, also die distinktiven Tonakzente und die „Vertauschung“ der Langvokalreihen, im Norden im Bereich der Uerdinger Linie enden und nach Michael Elmentaler (2005: 125) die entscheidende Grenze im Regiolekt ebenfalls im Bereich der Uerdinger Linie verläuft, ergeben sich im Norden und Süden des Rheinischen fast komplett parallele Abgrenzungen, wie Kt. 16.1 zeigt. Die Parallelität der Außengrenzen darf allerdings nicht darüber hin-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Kt. 16.1: Historisches Westdeutsch/Rheinisch
16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch)
wegtäuschen, dass die dialektalen Grenzräume im Norden und Süden des Rheinischen einen anderen Status haben. Im Süden haben wir es mit einer der schärfsten Grenzen im deutschen Sprachraum zu tun. Neben der klaren perzeptiven Grenze ergeben die quantitativen Analysen mit verschiedener Sprachdatenbasis (Wenkerdaten, Mittelrheinischer Sprachatlas [MRhSA]) völlig stabile Cluster an der dat/das-Linie (vgl. Lameli 2013: 214 und zu Engsterhold 2018 unten Kap. 3.1.2.3). Im Norden hingegen bestätigt die bisher einzige quantitative Analyse das Vorliegen eines echten Übergangsgebiets (vgl. Lameli 2013: 149−154). Es handelt sich um das Südniederfränkische, das hinsichtlich fast aller Merkmale einen Übergangsraum zwischen dem Ripuarischen und Niederfränkischen bildet, der sich zum Niederländischen hin fortsetzt. Neben den erläuterten Außengrenzen des historischen Westdeutsch/Rheinischen (zum Rheinfränkischen im Süden und Niederfränkischen im Norden) sind in Kt. 16.1 die wichtigsten sprachraumprägenden Binnengrenzen eingetragen: Es handelt sich um die Benrather Linie, die die wichtigste konsonantische Grenze darstellt und als Hauptgrenze der 2. oder hochdeutschen Lautverschiebung für die meisten Lexeme unverschobenes wgerm. *p, *t, *k (nach Vokal) von verschobenem hochdeutschen f, (t)s und ch trennt: /ʃlͻ:əpə/ ‘schlafen’, /e:ətə/ ‘essen’, /ma:kə/ ‘machen’ sowie wgerm. t auch in anderen Positionen: /ti:t/ ‘Zeit’, /ha(r)t/ ‘Herz’, /zetə/ ‘sitzen’. Sie trennt das Südniederfränkische vom Ripuarischen. Und es handelt sich um die Grenze der neuhochdeutschen Diphthongierung vor Konsonant (/bi:sə/ vs. /bɛɪsə/ ‘beißen’; /hu:s/ vs. /hɔʊs/ ‘Haus’). Sie stellt die wichtigste Differenz zwischen dem Moselfränkischen, in dem die Diphthongierung vollständig durchgeführt wurde, und dem Ripuarischen dar, wo sie wie im Niederfränkischen nur im Auslaut (Sau) und Hiatus (schneien, bauen) erfolgte. Die Grenze der Diphthongierung vor Konsonant fällt weitgehend mit der ansonsten unbedeutenden Dorp/Dorf-Linie zusammen (Verschiebung von wgerm. *p nach *l und *r).
2. Historie und Besonderheiten 2.1. Besonderheiten des historischen Westdeutsch Die wichtigsten Besonderheiten des historischen Westdeutsch sind zweifellos die distinktiven Tonakzente und die „Vertauschung“ der Langvokalreihen. Die rheinischen Tonakzente (Rheinische Akzentuierung; vgl. Schmidt 1986), die sich in den ans Deutsche angrenzenden Dialekten der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs fortsetzen, sind innerhalb der westgermanischen Sprachen und Dialekte singulär. Innerhalb der Germania gibt es direkt vergleichbare prosodische Distinktionseinheiten nur in den nordgermanischen Sprachen (Norwegisch, Schwedisch). Sehr ähnlich ist auch der dänische stød („Stoßton“). Die südliche Grenze der rheinischen Tonakzente links des Rheins wurde durch Distinktivitätstests ermittelt (durchgezogene grüne Linie in Kt. 16.1), die nördliche und östliche aufgrund der Angaben in Dialektmonographien rekonstruiert (gestrichelte Linie in Kt. 16.1; vgl. Schmidt 1986: 223−231, 91−92 u. 243). Im Rheinischen stehen sich zwei Tonakzente gegenüber: Bei Tonakzent 1 (häufigster traditioneller Terminus: Schärfung) ist im isoliert gesprochenen Wort die akzentuierte Silbe kürzer als im Standarddeutschen und weist einen (stark) fallenden Tonhöhenverlauf auf, bei Tonakzent 2 (häufigster traditioneller Terminus: Trägheitsakzent) ist die akzentuierte Silbe länger (bis zur Überlänge) und weist einen ebenen Tonhöhenverlauf oder einen Tonhöhen-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 16.3: Tonakzentverläufe im isolierten Wort
verlauf mit zwei „Gipfeln“ (zwei Maxima) auf. Perzeptionslinguistische Studien zeigen, dass jedoch nur die Tonhöhenverläufe für die Wort- bzw. Wortformunterscheidung relevant sind. Im Satzkontext variieren die Tonakzentverläufe nach einem raffinierten System (vgl. Werth 2011). Die Tonakzente unterscheiden im Dialekt und Regiolekt Lexeme und Morpheme. Die folgenden Minimalpaare stammen aus dem moselfränkischen Dialekt der Stadt Mayen/ Eifel: /man1/ ‘Korb (Mande)’ vs. /man2/ ‘Mann’, /ʀɛɪ1və/ ‘reiben’ vs. /ʀɛɪ2və/ ‘reifen’, /daʊ1f/ ‘Taube’ vs. /daʊ2f/ ‘Taufe’, /zɛɪ1t/ ‘Seide’ vs. /zɛɪ2t/ ‘Seite’, /ma:1t/ ‘Made’ vs. /ma:2t/ ‘Markt’, /gʀa:1f/ ‘Graf ’ vs. /gʀa:2f/ ‘Grab’. Die zum Teil redundanten Morphemdistinktionen betreffen den Numerus /ʃda:2n/ ‘Stein’ vs. /ʃda:1n/ ‘Steine’, den Kasus /də hal2s/ ‘der Hals’ vs. /əm hal1s/ ‘im Hals’, die Diminution /kla:2t/ ‘Kleid’ vs. /kla:1tʃə/ ‘Kleidchen’, die Komparation /ʃø:1n/, /ʃø:1nɑ/ vs. /ʃø:2nsdə/ ‘schön, schöner, am schönsten’ und die Verbflexion /eʃ von1ən/ ‘ich wohne’ vs. /daʊ von2s/ ‘du wohnst’. Die Tonakzente sind remanent (vgl. Herrgen & Schmidt 1985): Wer sie im Dialekt erworben hat, kann sie bei intendierter Standardsprache nicht vermeiden. Sprecher, die im Regiolekt sozialisiert wurden, verwenden die Tonakzente ebenfalls, allerdings ergeben sich hierbei andere Minimalpaare als im Dialekt, z. B. /me:1ɐ/ ‘mehr’ vs. /me:2ɐ/ ‘Meer’ oder /ʀaɪ1nɐ/ ‘reiner’ vs. /ʀaɪ2nɐ/ ‘Rainer’. Da fast alle Silben (Ausnahme: Kurzvokale vor Obstruenten. Zur Tonakzentopposition auch bei Kurzvokalen vor Obstruenten im Limburgischen vgl. Goossens 2017) von Sprechern der rheinischen Regionalsprache mit einem der beiden Tonakzente versehen werden müssen, nehmen Nichttonakzentsprecher praktisch in jeder Silbe eine geringfügige Tonhöhenabweichung wahr („rheinisches Singen“). Da
16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch)
ähnliche Tonhöhenabweichungen in nichttonalen deutschen Varietäten als emotionale Prosodeme dekodiert werden, wird den Rheinländern als Landschaftsstereotyp eine auffällige emotionale Bewegtheit unterstellt. Die Verteilung der Tonakzente im Lexikon lässt sich mit historischen Zuordnungsregeln beschreiben: Dialektale Entsprechungen altwestdeutscher Langvokale mit Mittel- und Tiefzunge haben „spontanen“ Tonakzent 1, weisen also in jedem Fall Tonakzent 1 auf. Bei den Entsprechungen aller übrigen Vokale tritt Tonakzent 1 kombinatorisch auf, d. h. nur dann, wenn dem Vokal ehemals eine stimmhafte Silbengrenze folgte. Diese Verteilungsregel gilt für den größten Teil des historischen Westdeutsch/Rheinischen, ohne dass bisher ihre genaue Grenze festgestellt werden konnte. Peter Wiesinger bezeichnet sie als Regel A. Im Bereich der nördlichen Tonakzentgrenze werden Regelmodifikationen diskutiert (z. B. Tonakzent 1 nur bei Einsilbern), ohne dass entsprechende perzeptionslinguistische Studien vorlägen (vgl. Wiesinger 1975). Im Bereich der südlichen Tonakzentgrenze gibt es kleine Areale im Westerwald und im Hunsrück, in denen eine umgekehrte Tonakzentverteilung sicher belegt ist (= Regel B; vgl. Kt. 16.1): Lexeme und Morpheme, die nach Regel A Tonakzent 1 aufweisen, haben hier Tonakzent 2 (vgl. Bach 1921; Schmidt & Künzel 2006; Köhnlein 2011; Werth 2011). Es ist sicher kein Zufall, dass sich im Süden und Norden des Tonakzentgebiets Sprachräume mit prosodischen Auffälligkeiten anschließen, die Merkmale beider Tonakzente vereinigen (steigend-fallender Tonhöhenverlauf mit Überlänge), die aber keineswegs distinktiv sind („Nichtdistinktiver Akzent“ im rheinfränkisch-moselfränkischen Übergangsgebiet und kleverländischer Akzent im Niederfränkischen). Dies deutet darauf hin, dass das Tonakzentgebiet ursprünglich größer gewesen ist (Zusammenfall von Merkmalen und Neutralisierung der Opposition). Über die Genese der Tonakzentopposition gibt es keinen Konsens. Die historischen Verteilungsregeln deuten auf einen sehr alten intrinsisch-prosodischen Gegensatz zwischen Vokalklassen und Silbentypen hin (vgl. de Vaan 1999), bei dem nach der jüngsten Analyse die Sonoritätshierarchie eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte (vgl. Goossens 2017). Phonologisch „scharf“ (= Mehrzahl der rezenten Minimalpaare) wurde dieser Gegensatz wahrscheinlich erst im Zusammenhang mit mittelalterlichen Umgestaltungen der Silbenstruktur (Dehnung in offener Tonsilbe und Apokope; zur e-Apokope in der 1. Hälfte des 14. Jh. und der Phonemisierung der Tonakzente vgl. auch Büthe-Scheider 2017: 7−9, 378 u. 401). Dabei könnte es auch zu phonetisch-phonologischen Umgestaltungen gekommen sein, mit denen sich das Gegenüber der Regeln A und B erklären ließe (vgl. Schmidt 2002 und Werth 2011, vgl. aber auch Ternes 2006 und Gussenhoven 2000, 2018). Das Moselfränkische, das Ripuarische und das Südniederfränkische haben verglichen mit dem Standarddeutschen und dem Rheinfränkischen vertauschte Langvokalreihen: Bezogen auf die Lexik sind die altlangen Mittel- und Hochzungenvokale umgekehrt verteilt, d. h., die Phonem/Lexem-Zuordnung ist „spiegelverkehrt“. Abb. 16.4 zeigt den Zusammenhang. Die Wörter, die in der Standardsprache und dem Rheinfränkischen mit dem /u:/Phonem kodiert werden (z. B. Fuß, gut, Schuh, Kuh, zu…), werden im Rheinischen mit dem /o:/-Phonem kodiert (moselfränkische Beispiele: /fo:s/, /go:t/, /ʃo:/, /ko:/, /tso:/), während genau umgekehrt die Wörter, die in der Standardsprache und dem Rheinfränkischen mit dem /o:/-Phonem kodiert werden (z. B. tot, Brot, rot, hoch, groß…), im Moselfränkischen und Ripuarischen mit dem /u:/-Phonem kodiert werden (moselfränkische Beispiele: /du:t/, /pʀu:t/, /ʀu:t/, /hu:/, /kʀu:s/). Dasselbe gilt für die Phoneme /i:/ und /e:/ sowie nördlich der Umlautgrenze (Entrundungsgrenze) auch für /y:/ und /ø:/. Die
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Abb. 16.4: Die vertauschten Langvokalreihen
Reihenvertauschung setzt sich prinzipiell im Zentralhessischen fort, dessen Vokalismus weitgehende Übereinstimmungen mit dem Moselfränkischen aufweist. Allerdings sind hier die rezenten Entsprechungen von wgerm. *ē2 und *ō Diphthonge (/bɾɛɪb/ ‘Brief ’; /goʊt/ ‘gut’). Dieses eigenartige Gegenüber von Phonemsystemen im Raum lässt sich historisch leicht erklären, wenn man annimmt, dass Sprache in vorliterarischen Zeiten in ähnlicher Weise variiert hat wie heute und dass Sprachwandelprozesse in vorliterarischen Zeiten sich nicht grundsätzlich anders vollzogen haben als in Zeiten, in denen wir über gute Beobachtungsdaten verfügen (vgl. ausführlich Schmidt 2015). Dann wäre die Reihenvertauschung bei der (partiellen) Monophthongierung von wgerm. *ai und *au entstanden (Reihenspaltung durch Monophthongierung vor r, h, w bzw. Dentalen), und zwar in einem völlig unspektakulären Vorgang: In den heutigen Dialekten variiert die Qualität von Diphthongen und Monophthongen hinsichtlich Öffnungsgrad/Zungenhöhe normalerweise immer im Raum. Bei den gut beobachtbaren dialektalen Monophthongierungsprozessen entstehen Monophthonge mit unterschiedlicher Zungenposition bzw. unterschiedlichem Öffnungsgrad. Als Ergebnis der späten Monophthongierung von altdialektalem /aɪ, ɛɪ/ sind z. B. in den Karten des MRhSA für die verschiedenen Teilräume alle Zungenpositionen bzw. Öffnungsgrade zwischen /e:/ und /a:/ belegt (/e:/, /ɛ:/, /æ:/ und /a:/). Dieser Qualität entsprechend ordnen sich die neu entstandenen Monophthonge in den rezenten dialektalen Langvokalsystemen „unter“ bzw. „über“ den älteren schon vorhandenen Monophthongen ein. Nimmt man an, die Monophthongierung von wgerm. *ai − *au habe sich prinzipiell in derselben Weise vollzogen, so ist die Reihenvertauschung beim Übergang vom Spätwestgermanischen zum Althochdeutschen bzw. Altwestdeutschen entstanden, indem in einem Teilraum die neu entstandenen Monophthonge „unterhalb“ der bestehenden Monophthongreihe wgerm. *ē2 − *ō platziert wurden (= althochdeutsches Langvokalsystem) und in einem anderen Teilraum „oberhalb“ (= altwestdeutsches Langvokalsystem). Wenn diese Erklärung zutrifft und das historische Westdeutsch, wie schon Schmidt (1894: 60 u. 70), Moser (1909: 132), Michels (1912: 87), Frings (1916: 2), Brinkmann (1931: 169−189), Bruch (1954: 99−97) und Schirmunski (1962: 230) annahmen, nicht an der althochdeutschen Diphthongierung teilnahm, dann ist der Langvokalismus der rheinischen Dialekte im Wesentlichen durch weitgehende Konstanz über mehr als ein Jahrtausend gekennzeichnet. Gegenüber dem altwestdeutschen Ausgangssystem haben
16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch)
Abb. 16.5: Unterschiedliches Ergebnis der Spaltung von wgerm. *ai − *au im Althochdeutschen und im Altwestdeutschen (Schmidt 2015: 251)
Abb. 16.6: Ein-Schritt-Wandel des altwestdeutschen Langvokalismus zum rezenten Moselfränkischen (Schmidt 2015: 259)
sich die vokalischen Reihen maximal um eine phonetische Stufe weiterentwickelt („EinSchritt-Wandel“). Dabei ist das Ripuarische noch konservativer als das in Abb. 16.6 abgebildete Moselfränkische (partiell fehlende neuhochdeutsche Diphthongierung der Reihe 3). Geht man hingegen davon aus, den rheinischen Dialekten läge das althochdeutsche Langvokalsystem zugrunde, so macht die sprachhistorische Erklärung der Reihenvertauschung eine Annahme komplizierter Umgestaltungsprozesse erforderlich. Um die dialektalen Vokalsysteme aus dem Frühalthochdeutschen abzuleiten, setzt z. B. Wiesinger (2008) für die beiden betroffenen Vokalreihen eine Vielzahl von Reihenschritten an, bei denen mehrfach Vokalreihen durch Diphthongierung, Hebung und Remonophthongierung aneinander vorbeigeführt werden. Abgesehen von den bereits behandelten Besonderheiten lässt sich die Sprachgeschichte des historischen Westdeutsch/Rheinischen mit vier Stichworten charakterisieren: galloromanisches Substrat, Westkeil, Landschaftsbarrieren und Verhochdeutschung.
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2.2. Galloromanisches Substrat Das früheste deutlich fassbare sprachhistorische Faktum unseres Dialektraums ist der Sprachwechsel vom galloromanischen Substrat zum Fränkischen bzw. eine langandauernde germanisch-romanische Zweisprachigkeit. Vor allem in Ortsnamen, Flurnamen und Reliktwörtern haben sich Reste des Galloromanischen (des Lateins oder Altromanischen im Munde der keltischen Bevölkerung im römischen Gallien) vor der fränkischen Land-
Kt. 16.2: Romanische Sprachinseln im Moselraum (Post 2004: 11)
16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch)
nahme in den Dialekten erhalten. Dabei ist dreierlei festzuhalten: 1. Die romanischen Reliktwörter treten praktisch im gesamten Linksrheinischen auf, massiert im Moselraum, gestaffelt abnehmend nach Norden und Süden. Rechts des Rheins finden sie sich nur noch in einem schmalen etwa 10−20 km breiten Streifen (vgl. Kt. 57 Arealdistribution romanischer Reliktwörter in Post 1982: 303). 2. Ein Teil des romanischen Reliktwortschatzes findet sich im gesamten Rheinischen (z. B. Merl(e) ‘Amsel’, Mösch/Müsch ‘Spatz’), ein anderer Teil weist jedoch eine klar differenzierte Arealstruktur auf. Diese Reflexe altromanischer Dialektunterschiede (Lehnworträume) fallen bemerkenswerterweise mit den Isolinien des Rheinischen Fächers zusammen! So entspricht der Dorp/ Dorf-Linie die Grenze zwischen nördlichem Söller (< lat. solarium) und südlichem Speicher (< lat. spicarium) und der dat/das-Linie die Grenze zwischen nördlichem Ponte ‘Fähre’ (< lat. ponto) und südlichem Näue ‘Fähre’ (< lat. navis) (vgl. Post 1985: 11− 13). 3. Auch nach der fränkischen Landnahme haben romanische Sprachinseln im Rheinland über Jahrhunderte weiterbestanden. Man hat Orts- und Flurnamen intensiv daraufhin untersucht, an welchen germanisch-deutschen bzw. altfranzösischen Lautwandelerscheinungen sie entweder teilgenommen oder nicht teilgenommen haben. Die Ergebnisse hat Rudolf Post (2004) in einem Forschungsüberblick zusammengestellt und kartiert.
2.3. Westkeil Die fränkische Landnahme und damit die sprachliche Germanisierung unseres Sprachraums wird für das 5. Jahrhundert angesetzt. Aus welcher Richtung sie erfolgte, ist nicht geklärt. Auffällig ist die nach Osten gerichtete Keilform, mit der das historisch eigenständige Westdeutsch (vgl. Abb. 16.1) zwischen Hoch- und Niederdeutsch platziert ist. Für die verschiedenen Sprachsystemebenen sind Keilformationen unterschiedlicher Größe festzustellen. Die größte Ausdehnung hat der lexikalische „Westkeil“ (vgl. Hildebrandt 1983), es folgt der konsonantische rheinische Fächer, dann der keilförmige Tonakzentraum. Keilformationen werden in der Dialektologie traditionell als Ergebnis eines Vorbruchs in Richtung der Keilspitze interpretiert. Robert Bruch (1954) hat das Luxemburgische und damit das Moselfränkische dem Westfränkischen zugeordnet und „Sprachbewegungen“ von West nach Ost angesetzt. Heinz Engels (1958: Kt. 12) setzt aufgrund der Analyse der Ortsnamen (bes. -ing-Namen) für den Raum von Mosel, Saar und Sauer eine fränkische Besiedlung zunächst von Norden nach Süden (vom Niederrhein über die Eifel und Luxemburg an die obere Mosel), dann nach Osten an.
2.4. Landschaftsbarrieren Die interne Gliederung des historischen Westdeutsch durch die Isoglossenbündel, deren prominenteste Teillinien die Lautverschiebungslinien des Rheinischen Fächers sind, wird herkömmlich mit Landschaftsbarrieren im Zusammenspiel mit spätmittelalterlichen Territorien erklärt. Die Hunsrückbarriere, die Eifelbarriere und die Erftbarriere bzw. -schranke (vgl. Frings 1926: 128−185) sollen als naturräumliche Verkehrshindernisse entstanden sein, die durch die Verkehrsbeschränkungen, die sich aus den territorialen Grenzen ergaben, verstärkt wurden. Sie hätten dann die sprachlichen „Kulturströmungen“ aus dem
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Süden behindert, was zur Anlagerung sprachlicher Gegensätze an diesen Kommunikationsgrenzen geführt haben soll. Dieser Erklärungsansatz dürfte zu schlicht sein. Dabei spielt es weniger eine Rolle, dass etwa eine Erftschranke als naturräumliche Schranke nur schwer nachvollziehbar ist oder dass die Territorialgrenzen z. T. eher schlecht als recht zu den Isoglossenbündeln passen. Sprachdynamische Analysen zur Ausbreitung von rheinfränkischen Dialektformen im 20. Jahrhundert zeigen, dass die Weiterverbreitung an den alten moselfränkischen Isolinien stoppt, obwohl Verkehrsbeschränkungen (Autobahnen) und politische und sonstige externe Grenzen (dasselbe moderne Bundesland) längst keine Rolle mehr spielen. Entscheidender Faktor für die Übernahme oder Nichtübernahme von Dialektformen ist vielmehr die sprachliche Zuordnung als „eigen“ vs. „fremd“ (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 173). Dies würde auch die auf den ersten Blick befremdliche Koinzidenz von vordeutschen Sprachraumgegensätzen mit den Linien des Rheinischen Fächers erklären: Ehemals keltische Bevölkerungsgruppen, deren romanisches Superstrat deutliche areale Differenzen aufweist, haben auch nach dem erneuten Sprachwechsel zum Fränkisch-Deutschen ihre Mesosynchronisierungsgrenzen tradiert bzw. beibehalten.
2.5. Verhochdeutschung Wir müssen also einerseits mit einer Kontinuität der sprachlichen Gliederung des Rheinlands rechnen, die von der vordeutschen Zeit bis zum aktuellen Regiolekt reicht. Dem steht ein sprachlandschaftsübergreifender Prozess gegenüber, den wir als partielle Verhochdeutschung bezeichnen können. Die Dialekte des historischen Westdeutsch haben linguistisch und räumlich partiell an Innovationen teilgenommen, die den hochdeutschen Sprachraum auszeichnen. Die wichtigsten sind die gestaffelt durchgeführte 2. Lautverschiebung (vor dem 7. Jh.), die dialektale Übernahme der neuhochdeutschen Diphthongierung (im Moselfränkischen komplett, im Ripuarischen nur im Auslaut und Hiatus; 15./16. Jh.) und die Übernahme der hochdeutschen Positionierung der Langvokalreihen (Rücknahme der Reihenvertauschung zwischen Nahe und Mosel ab dem 16. Jh.; vgl. die wih-Inseln bei Bad Kreuznach in Kt. 16.1 und Schmidt 2015: 271). Neben diesen basisdialektalen Verhochdeutschungsprozessen stehen vergleichbare Prozesse am anderen Pol des Varietätenspektrums. Auf der Ebene der Schreibsprachen lassen sich ab dem 14. Jahrhundert mehrere Überschichtungsprozesse nachweisen (vgl. Elmentaler 2005). So wurden die autochthonen Schreibungen des südlichen Rheinmaaslandes zunächst „ripuarisiert“ und dann im 16. Jahrhundert von der hochdeutschen Schriftsprache abgelöst (in Köln zwischen 1520 und 1530). Wie früh wir mit auch mündlichen Oberschichtvarietäten rechnen müssen, ist unsicher (vgl. Mihm 2000: 2111), doch kann für die Zeit um 1700 die Entstehung einer „hd. Sprechsprache mit einem Kölner Akzent“ angesetzt werden (Hoffmann & Mattheier 2003: 2336), der eine vergleichbare Entwicklung am nördlichen Niederrhein gegenübergestanden haben dürfte. Auf diesem Hintergrund sieht Elmentaler (2005: 133) die Entstehung der nördlichen Regiolektgrenze: „Aus den oberschichtigen (kleverländisch basierten) Varietäten nördlich der Uerdinger Linie entwickelte sich der Typus der nordrheinischen Umgangssprache, wie sie für das westliche Ruhrgebiet skizziert wurde, aus der südlichen (ripuarisch basierten) Oberschichtvarietät der zwischen Krefeld und Bonn gesprochene ripuarisch-rheinische Regiolekt.“
16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch)
3.
Basisdialektale Raumstruktur
3.1. Phonologie 3.1.1. Außengrenzen und gemeinsame phonologische Merkmale Die Außengrenzen des Rheinischen wurden in den einleitenden Abschnitten bereits beschrieben. Es ist im Norden das Bündel aus Tonakzentgrenze und Uerdinger Linie, das gleichzeitig die Regiolektgrenze bildet, im Süden das Bündel aus dat/das-Linie und Tonakzentgrenze, das zugleich mit der Regiolektgrenze korreliert. Die wichtigsten gemeinsamen phonologischen Merkmale des Rheinischen sind, wie oben behandelt, die distinktiven Tonakzente und die gegenüber den hochdeutschen Dialekten vertauschten Langvokalreihen. Charakteristische gemeinsame phonologische Merkmale sind darüber hinaus die Senkung der hohen Kurzvokale und als konsonantische Merkmale die Nichtokklusivierung (Erhalt der Spirantisierung) von wgerm. *ƀ nach Vokal und Liquid, die Nichtokklusivierung von wgerm. *ǥ und als wichtiges jüngeres Merkmal die Koronalisierung von /ç/. In auffälliger, aber bisher nicht erklärter Parallelität zu den hohen Langvokalen sind die hohen Kurzvokale im Rheinischen recht konsequent gesenkt: /ɪ/ ist dabei in den meisten Fällen zu /e/, auch gerundet zu /ø/, /œ/ und teilweise /o/, /ͻ/ geworden, und besonders im Westen des Moselfränkischen zu /a/ (‘Kind’: kent, kenk, könt, könk, kont, kant; ‘bist’: bes, bös, bas); /ʊ/, /ʏ/ wurden zu /o/, /ø/ bzw. im Entrundungsgebiet zu /e/ (‘Stück’: Schtöck, Schteck). Im Konsonantismus hat das Rheinische mit dem Niederdeutschen und Niederländischen gemeinsam, dass wgerm. *ƀ nach Vokal und Liquid nicht zu b okklusiviert, sondern frikativ geblieben ist: Für ‘lieb / lieber’ hat das Rheinische /le:f/ : /le:və/, während das Rheinfränkische mit /li:p/ : /li:bə/ dem Standarddeutschen entspricht. (Die konsonantische und die vokalische Isoglosse, die hier den rheinischen Stand vom südlicheren trennen, haben fast denselben Verlauf; vgl. Wenker-Atlas: Kt. 177 und MRhSA, 1: Kt. 17.) Im Auslaut und vor Konsonant erscheint *ƀ als stl. f (/kͻrəf/ ‘Korb’, /zɛləfs/ ‘selbst’). Im Moselfränkischen kommt es hier zum Zusammenfall mit f < wgerm. *p (/dͻrəf/ ‘Dorf ’). Ebenfalls wie das Niederländische und Teile des Niederdeutschen (vgl. Elmentaler & Rosenberg 2015: 227−228) hat das Rheinische die Spirantisierung von wgerm. *ǥ bewahrt (vgl. Wenker-Atlas: Kt. 187 Gänse und MRhSA, 4: Kt. 381−391). Die stimmhafte Ausprägung des Frikativs auch im Anlaut macht dabei einen Unterschied zu den nördlich und westlich angrenzenden Dialekträumen aus (rip. /jo:t/ ‘gut’, /jɛjə/ ‘gegen’ − unter Zusammenfall mit /j/ wie in jeder). Daher gilt dieses Merkmal, das auch im Regiolekt noch häufig ist, als ripuarisch-rheinischer Marker. Ein /g/ existiert im Phoneminventar dieser Dialekte nur peripher, mit Beschränkung auf den Inlaut nach Kurzvokal (rip. /ʃnegə/ ‘schneiden’), und auch da spielt eine Opposition zu /j/ fast keine Rolle (vgl. für das Kölnische Heike 1964: 50, Fn. 1). In Lehnwörtern ist anlautendes /g/ in der Regel durch /j/ ersetzt, wie auch in der regionalen Oralisierungsnorm des Hochdeutschen. Über die angeführten altdialektalen Merkmale hinaus ist das heutige Rheinische im Konsonantismus durch die Koronalisierung von /ç/ zu [ɕ] bzw. [ʃ] charakterisiert bzw. durch den Zusammenfall von /ç/ mit /ʃ/ ([ɪɕ], [ɪʃ] ‘ich’ − [tɪɕ], [tɪʃ] ‘Tisch’). Dieses
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Merkmal hat sich, wie u. a. der Vergleich mit Auswandererdialekten zeigt, erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts in mitteldeutschen Städten entwickelt (s. Herrgen 1986: 74− 81, 97−101 u. 227). Linguistische Ursache ist die phonetische Überbesetzung der Reihe der stimmlosen Frikative mit sechs Lauten und die geringe phonologische Belastung der Opposition /ç/ : /ʃ/, bei der es kaum Minimalpaare gibt (Kirche vs. Kirsche; Löcher vs. Löscher …). Diese sprachinternen Faktoren sowie die städtische Normtoleranz − es gab noch keine Standardsprechsprache − führten im natürlichen Sprachwandel zu einer Aufgabe der alten Opposition durch artikulatorische Vereinfachung. Aus den großstädtischen Prestigevarietäten hat sich die Koronalisierung schnell in die umliegenden Dialekte verbreitet und dort den altdialektalen [ç]-Laut verdrängt (vgl. die Zweigenerationenkarten MRhSA, 4: Kt. 346, 349 u. 350 sowie Lenz 2003: 167; Möller 2013: 96). Im Norden reicht sie ziemlich genau bis zur Uerdinger Linie (vgl. Cornelissen 2000: 399), im Süden und Osten umfasst sie das gesamte Mitteldeutsche. Die Koronalisierung von /ç/ ist auch im rheinischen Regiolekt stark präsent. Dementsprechend ist der Unterschied zwischen /ç/ und /ʃ/ (im Standarddeutschen) für rheinische Sprecher heute nicht nur schwierig zu produzieren, sondern auch rezeptiv oft nur mit Mühe oder gar nicht wahrnehmbar.
3.1.2. Binnengliederung 3.1.2.1. Das Südniederfränkische Das Südniederfränkische in der Region zwischen Düsseldorf und Krefeld, Remscheid und Heinsberg (und westlich jenseits der Staatsgrenze) wird, wie in den Kapiteln 1 und 2 ausgeführt wurde, im Norden von der Uerdinger Linie begrenzt. Die eigentliche Uerdinger Linie ist zwar phonologisch unbedeutend, weil sie nur die Einzellexeme ich, mich, dich, auch betrifft, sie bildet aber mit der phonologisch höchst relevanten Tonakzentgrenze und der ebenfalls phonologisch relevanten Grenze der vertauschten Langvokalreihen ein Linienbündel. Im Süden und Westen wird das Südniederfränkische von der Benrather Linie begrenzt, der Hauptgrenze der 2. Lautverschiebung, die bei Benrath, heute einem Stadtteil Düsseldorfs, den Rhein überquert. Sie betrifft zwar nicht das Phoneminventar, wegen ihrer durchgreifenden Bedeutung für die Phonem-/Lexemzuordnung ist sie gleichwohl phonologisch relevant. Phonologisch ist das Südniederfränkische ein echter Übergangsraum: Es weist alle oben behandelten gemeinsamen Merkmale des Rheinischen auf, teilt aber mit dem Niederdeutschen und Niederländischen mit Ausnahme der aufgeführten Einzellexeme die Nichtdurchführung der 2. oder hochdeutschen Lautverschiebung. Nur mit dem Ripuarischen hat es die Beschränkung der neuhochdeutschen Diphthongierung der hohen Langvokale auf den Auslaut und Hiat gemeinsam (/bi:tə/, rip. /bi:sə/ ‘beißen’, aber /beɪ̯ / ‘bei‘) sowie die Tilgung von auslautendem /t/ nach Konsonant: /los/ ‘Lust’. Phonologisch stellt es also ein Rheinisch ohne Lautverschiebung dar. Nach Westen hin setzt sich dieser Dialektraum in den Niederlanden und Belgien fort (Eupener Land, große Teile von Belgisch Limburg und Niederländisch Limburg). Hier ist die Bezeichnung Limburgisch üblich. In den Niederlanden ist das Limburgische offiziell als Regionalsprache anerkannt. Außer im deutschsprachigen Eupener Raum ist in diesen Gebieten das Standardniederländische überdachende Sprache, sodass die kontaktinduzierte Entwicklung des Dialekts und regiolektaler Sprachformen sich deutlich von der im südniederfränkischen Gebiet in Deutschland unterscheidet (vgl. Gerritsen 1999).
16. Historisches Westdeutsch/Rheinisch (Moselfränkisch, Ripuarisch, Südniederfränkisch)
3.1.2.2. Das Ripuarische Das Ripuarische wird im Norden durch die Hauptlinie der 2. Lautverschiebung begrenzt. Im Süden stellt die Diphthongierungsgrenze an der Ahr die phonologisch wichtigste Differenz zum Moselfränkischen dar: Südlich davon ist die neuhochdeutsche Diphthongierung vollständig durchgeführt, auch vor Konsonant, und nicht nur im Auslaut und Hiat wie im Ripuarischen. Diese Grenze fällt weitgehend mit der phonologisch wenig relevanten Dorp/Dorf-Linie zusammen (Verschiebung von wgerm. *p > f nach *l und *r). Bei statistischer Analyse der Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den deutschen Dialekten erscheint das Ripuarische als Kernzone des Rheinischen (vgl. Lameli 2013: 214), was seiner geographischen Lage bzw. den Gemeinsamkeiten nach beiden Seiten hin entspricht, aber auch der historischen Bedeutung des Kölner Spracheinflusses auf das Umland. Dieser wird bei verschiedenen Merkmalen in den konzentrischen, teilweise fast kreisförmigen Arealen um Köln herum sichtbar. Ein solches Bild zeigt auch die Verbreitung des auffälligsten basisdialektalen Merkmals im Konsonantismus, der Velarisierung von Dentalen (älterer Terminus: Gutturalisierung), d. h. der Wandel d/t > g/k und n > ŋ nach historisch hohem Langvokal (mit Kürzung des Vokals: /tsek/, /tsɪk/ ‘Zeit’, /høk/, /hʏk/ ‘heute’, /veŋ/, /vɪŋ/ ‘Wein’) sowie von d/t > g/k nach n (/keŋk/, /keŋɐ/ ‘Kind, Kinder’). In einigen Fällen reicht diese Erscheinung noch bis ins Südniederfränkische und ins nördliche Moselfränkische, in anderen nicht mehr. An den Rändern finden sich auch Kompromissformen mit /kt/ wie /tsɪkt/, /tsekt/ (Raum Jülich, westliche Eifel). Ein charakteristisches ripuarisches Merkmal, das noch das Südniederfränkische einschließt, ist die Tilgung bzw. Assimilation von auslautendem t (besonders auch in Verbformen der 3. Ps. Sg. und im Partizip) nach allen Konsonanten außer l, r und n. Nach m und ŋ kommt es zur Assimilation zu p bzw. k statt zur Tilgung (Hemp ‘Hemd’, singk ‘singt’). Es handelt sich hier offenbar um eine synchrone Tilgungs- bzw. Assimilationsregel, denn in Flexionsparadigmen stehen Formen mit getilgtem bzw. assimiliertem d/t im Auslaut und solche mit erhaltenem d/t vor Schwa im regelmäßigen Wechsel (Sg. Hemp − Pl. Hemder). Innerhalb des Ripuarischen hebt sich vor allem der Westen (Aachener Raum und angrenzend ein kleiner ripuarischer Streifen in Ostbelgien und den Niederlanden) vom übrigen Gebiet ab. Das Westripuarische zeigt sich u. a. in Bezug auf südliche, von Köln her verbreitete Neuerungen als Randgebiet und hat insbesondere im Kasussystem (s. u. Kap. 3.2.) wichtige Gemeinsamkeiten mit dem Niederfränkischen (vgl. die Linie zum Zusammenfall von Dat. und Akk. beim Personalpronomen in Kt. 16.1). Die charakteristische Kurve, die die Benrather Linie nach Westen hin beschreibt (wo sie von einer NordSüd-Grenze zu einer West-Ost-Grenze wird; in Kt. 16.1 außerhalb des Kartenausschnitts), findet sich bei anderen Isoglossen wieder, die hier aber teilweise weiter östlich verlaufen und innerhalb des Ripuarischen den Aachener Raum vom Kölner Raum trennen, z. B. Erhaltung des intervokalischen -d- vs. Kontraktion (vgl. Wenker-Atlas: Kt. 335 müde: Aachener Raum mö vs. Kölner Raum möd) oder die lexemspezifische Assimilation von wgerm. *hs zu -ss (statt -ks) in sechs. Der Übergang vom Ripuarischen zum Südniederfränkischen (weiter westlich bei Eupen anschließend) ist hier also eher schrittweise. Eine Anlagerung der Dialektgrenzen an die neue Staatsgrenze ist dabei auch 100 Jahre nach der Angliederung des Eupener Raums an Belgien nicht feststellbar. Die Benrather Linie verläuft stabil von Norden nach Süden durch Ostbelgien hindurch, wie eine Erhebung 2011/2013 ergeben hat (vgl. Möl-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
ler & Weber 2014). Dabei mag allerdings auch der starke Rückgang des Dialektgebrauchs in dieser Region eine Rolle spielen. Im Zentralripuarischen hebt sich das Stadtkölnische teilweise von den Dialekten der Umgebung („Landkölnisch“) ab; meistens steht es dabei dem Standard näher (z. B. keine Monophthongierung von mhd. ei − öü − ou; /heɪ̯ s/ statt /he:s/ ‘heiß’), oft handelt es sich auch um lexemspezifische Angleichungen an den Standard (z. B. /gro:s/ statt /gru(ə)s/).
3.1.2.3. Das Moselfränkische Das Moselfränkische wird im Norden durch die vollständig durchgeführte neuhochdeutsche Diphthongierung begrenzt, im Süden von dem über den Hunsrück verlaufenden Linienbündel aus der phonologisch und typologisch relevanten Tonakzentgrenze und der dat/das-Linie, die den Sprechern als symbolischer Ausdruck der Sprachraumdifferenzen zum Rheinfränkischen dient. Für das linksrheinische Moselfränkische ist man in der komfortablen Lage, bei der Ansetzung der Raumstrukturen auf neuere Sprachdaten und auf eine quantitative Gesamtauswertung der Dialektlautungen zurückgreifen zu können, die Gewichtungen von Sprachraumgegensätzen erlaubt. Der MRhSA hat zwischen 1978 und 1988 die Dialekte des linksrheinischen Rhein- und Moselfränkischen bei zwei Sprechergenerationen erhoben und in fünf Atlasbänden dokumentiert. Die vier Bände zur Lautlehre wurden inzwischen mit Hilfe einer informationellen „Ontologie“ erschlossen, die in einem sog. Triple Store den 594 kartierten Lauttypen des MRhSA alle relevanten phonetischen Merkmale der IPA-Chart zuordnet, was bei 478 Lautkarten für die 546 erhobenen Basisdialekte ca. 750.000 raumverteilte phonetische Informationen (= Triple) ergibt (vgl. Engsterhold 2018). Die Ontologie ermöglicht u. a. eine statistische Hierarchisierung von Sprachraumgegensätzen mittels schrittweiser Clusteranalyse. Die Ergebnisse solcher Clusteranalysen bestätigen zum Teil die bisherigen Erkenntnisse zur dialektalen Raumstruktur, z. T. bergen sie jedoch auch Überraschungen: 1. Die hierarchisch wichtigste Grenze zwischen den rheinfränkischen und moselfränkischen Lautmerkmalen liegt genau dort, wo sie erwartet werden konnte. So zeigt ein Zweiercluster der Raumverteilung aller phonetischen Merkmale hinsichtlich der Zuordnung zu Lexemen und historischen Bezugslauten, dass der quantitativ wichtigste Gegensatz im Bereich der Tonakzentgrenze und der dat/das-Linie liegt (vgl. die Raumverteilung der Cluster 1 und 2 in Kt. 16.3). 2. Diese phonologische Hauptgrenze des Rheinischen ist nach Süden disjunkt. Im Süden lässt sich quantitativ-statistisch bis einschließlich einer Zwölferclusterung kein Übergangsgebiet zum Rheinfränkischen nachweisen. Dies erklärt, warum bisherige Versuche, südlich dieser Grenze relevante Strukturgrenzen eines Übergangsgebietes nachzuweisen, zu nicht übereinstimmenden und auch wenig überzeugenden Ergebnissen gelangt sind (vgl. Wiesinger 1983: 848−849 und darin Kt. 47.10 mit MRhSA, 5: IX und Kt. 479b Strukturgrenzen im Westmitteldeutschen). 3. Wie das in Kt. 16.3 abgebildete Dreiercluster zeigt, ist die „Umlautgrenze“ (Entrundungsgrenze) der geostatistisch wichtigste Lautgegensatz innerhalb des Moselfränkischen (vgl. die Raumverteilung der Cluster 2 und 3). Nördlich davon treten in den Basisdialekten des gesamten deutschsprachigen Raums palatal gerundete Vokale (/y:/, /ø:/, /ʏ/, /œ/ usw.) und die entsprechenden Diphthonge auf und bilden mit den palatal unge-
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Kt. 16.3: Dreiercluster der Raumverteilung aller phonetischen Merkmale in den Lautkarten des MRhSA
rundeten eine phonologische Opposition: moselfränkisch /petʃə/ ‘Pfädchen’ vs. /pøtʃə/ ‘Töpfchen, Pöttchen’ oder /ə dø:1ɐ de:1ɐ/, was ‘ein dürres Tier’ oder ‘eine dünne Frau’ heißen kann. 4. Nördlich der Hauptgrenze zum Rheinfränkischen weist die Raumstatistik ein kleines Übergangsgebiet aus (nicht abgebildet). Es reicht bis zur Korf/Korb-Linie und hebt sich nur schwach vom übrigen Moselfränkischen ab (negativer „Silhouettenkoeffizient“). Ihm liegt linguistisch-statistisch die wichtigste konsonantische Differenz im Arbeitsgebiet des MRhSA zugrunde. Wie das ebenfalls nicht abgebildete Zweiercluster aller konsonantischen Lautmerkmale zeigt, handelt es sich dabei überraschenderweise um die oben behandelte Erhaltung von wgerm. *ƀ als Frikativ, die das Rheinische vom Rheinfränkischen unterscheidet. 5. Die Geostatistik erlaubt es zudem zu untersuchen, ob das Reliktgebiet in der Westeifel, das sich nach Luxemburg fortsetzt, auch anhand phonologischer Merkmale abge-
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Kt. 16.4: Das Westeifler Reliktgebiet (MRhSA: Zweiercluster Quantitäten bei historischen Langvokalen)
grenzt werden kann. Theodor Frings hatte es 1926 vor allem auf der Basis lexikalischer Reliktformen beschrieben. Wie der Westsaum des Ripuarischen ist es in erster Linie durch morphologische Besonderheiten geprägt (vgl. unten Kap. 3.2.). Allerdings ergibt sich auch aus den Dialektalitätsmessungen von Herrgen & Schmidt (1989) und des MRhSA (4: Kt. 314 Dialektalität) ein „Westeifelniveau“, bei dem der phonetische Abstand der Dialekte zu dem Bezugssystem „Standardlautung“ der höchste im gesamten Atlasgebiet ist. Der einzige phonologische Gegensatz, bei dem sich dieses Reliktgebiet signifikant vom östlichen Moselfränkischen abhebt, ist die Summierung abweichender Verteilungen von /vokalischer Kürze/ und /vokalischer Länge/ (vgl. Kt. 16.4). Für das Südniederfränkische, das Ripuarische und das rechtsrheinische Moselfränkische werden die Grundlagen für solche geostatistisch abgesicherten Binnendifferenzierungen gerade erst geschaffen. An den Universitäten Bonn, Münster, Paderborn und Siegen wurde 2016 mit den Erhebungen des Dialektatlas Mittleres Westdeutschland
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(DMW) begonnen, der als Zweiserienatlas die Dialekte der älteren immobilen und mittleren mobilen Generation des rechtsrheinischen Moselfränkischen, des Ripuarischen, des Niederfränkischen und Westfälischen dokumentieren wird.
3.2. Morphologie 3.2.1. Kasussynkretismen, „Rheinischer Akkusativ“ Als „Rheinischen Akkusativ“ bezeichnet man den Zusammenfall („Synkretismus“) von Nominativ und Akkusativ beim Maskulinum nominaler Wortarten (Personalpronomen, Artikel, substantiviertes und attributives Adjektiv, Relativpronomen und Interrogativpronomen). Wie einige andere Dialektverbände (vgl. Rabanus 2008: 121) hat das Rheinische den auch in der Standardsprache üblichen Kasussynkretismus beim Femininum und Neutrum auf das Maskulinum ausgedehnt. „Normalrheinisch“ ist dabei die Generalisierung der Nominativendung (z. B. ostmoselfrk. Esch hann DER Mann kannt ‘Ich habe den Mann gekannt’; rip. Nemm DER Schirm met! ‘Nimm den Schirm mit!’). In der Deklination des unbestimmten Artikels, des Possessivpronomens und des Adjektivs hat sich im Ripuarischen und Ostmoselfränkischen hingegen die Form des Akkusativs durchgesetzt (mit der Endung -e < en, wegen Erhaltung des Schwa vor apokopiertem n: (e)ne/minge jode Fründ ‘ein/mein guter Freund’ − gegenüber (e)n jot Fründin ‘eine gute Freundin’ mit apokopiertem Schwa). Im Westmoselfränkischen (einschließlich des Luxemburgischen) und im Lothringischen wurde sogar allgemein die Akkusativform auf den Nominativ übertragen: Plaif haj o:wə schto, Kle:nən! ‘Bleib hier oben stehen, Kleiner!’ Hat he:n də Jäns jeschtu:lən? ‘Hat er („ihn“) die Gänse gestohlen?’ Es dat də Boəsch, den auf də Ja:s jəschta:n hat? ‘Ist das der Bursche, der auf der Gasse gestanden hat?’ (MRhSA-Beispiele aus Feuerscheid/Westeifel U‘5; vgl. Rabanus 2008: 122; MRhSA, 5: Kt. 563, 572, 589 u. 618). Auffällig ist diese dialektale Besonderheit vor allem dann, wenn wie in den angeführten Beispielen das -n als altes Akkusativmorph nicht wie üblich apokopiert wurde, sondern als Wirkung der satzphonologischen „Eifler Regel“ erhalten bleibt. (Eifler Regel: Vor einem Vokal sowie h, d, t, ts im Folgewort bleibt auslautendes -n erhalten; vgl. Gilles 2006: 30; MRhSA, 5: Kt. 566). Im Südniederfränkischen und Westripuarischen ist von dem Kasuszusammenfall auch noch der Dativ betroffen (op et Müürche ‘auf dem Mäuerchen’, van der Kop ‘vom Kopf ’, an dä Daach ‘an dem Tag’). Abgesehen von den Pronomina, gibt es wie im Niederländischen bis auf Relikte also gar keine Kasusdifferenzierung mehr (Steins [1921] 1998: 24 konstatiert: „[Damit] ist dem Aachener auch jedes Gefühl für formale Kasusendungen entschwunden.“). Beim Personalpronomen ist von der Kasusdifferenzierung mehr erhalten: Das Moselfränkische und der größte Teil des Ripuarischen unterscheiden dabei noch zwischen Nominativ, Akkusativ und Dativ. Das Südniederfränkische und Westripuarische gehen auch hier eine Stufe weiter und differenzieren wie das Niederländische und das Niederdeutsche nur noch zwischen Subjekt- und Objektkasus (vgl. die Linie zum Zusammenfall von Dat. und Akk. beim Personalpronomen in Kt. 16.1). Die Formen des Objektkasus zeigen dabei wieder den typischen Übergangscharakter dieser Region: In der 3. Ps. handelt es sich wie im Niederländischen um den ehemaligen Dativ (mask. hem, höm), in der 1. und 2. Ps. ist die generalisierte Form jedoch − abweichend von den nördlich
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und westlich angrenzenden Dialekten mit Dativ-Akkusativ-Synkretismus − diejenige des ehemaligen Akkusativs (misch, disch), und zwar in südlicher, lautverschobener Form (Wenker-Atlas: Kt. 287). Die Pronominalformen der 3. Ps. mit h-Anlaut nehmen den gesamten Westen des Rheinischen ein, beim Nominativ (hä, he, hi ‘er’) sogar fast das gesamte Ripuarische.
3.2.2. Pluralbildung beim Substantiv Die Pluralbildung beim Substantiv erfolgt durch die auch in der Standardsprache üblichen Verfahren, nämlich Addition einer Pluralmarkierung (z. B. /vɔ:n/ ‘Wagen; Sg.’ /vɔ:nə/ ‘Wagen; Pl.’ in der Westeifel; /va:xə/ ‘Wagen; Sg.’ /va:xərə/ ‘Wagen; Pl.’ südlich der Ahr), Modifikation eines Vokals oder eines Konsonanten (z. B. durch Umlaut /vɔ:n/ ‘Wagen; Sg.’ /vœ:n/ ‘Wagen; Pl.’ in der Osteifel) und Nullmarkierung (/vɔ:n/ ‘Wagen; Sg.’ /vɔ:n/ ‘Wagen; Pl.’ im östlichen Hunsrück), darüber hinaus aber auch durch den Wechsel des Tonakzents (/ʃda:2n/ ‘Stein’ vs. /ʃda:1n/ ‘Steine’) sowie die im Deutschen ebenfalls nur auf die Dialekte beschränkte Subtraktion (vgl. Girnth 2000: 187−208). Die typologisch sehr seltene Subtraktion (Wegfall phonologischen Materials im Plural) ist durch eine Abfolge rein phonologischer Sprachwandelprozesse entstanden, wobei der häufigste Prozess im Wegfall stammauslautender Konsonanten in intervokalischer Umgebung als Folge von Assimilation und Lenisierung (HUNDE > *HUNE) und anschließende Schwa-Apokope (*HUNE > HUN ‘Hunde’) besteht (vgl. Birkenes 2014: 25−33). Im Unterschied zum Rheinfränkischen, wo rein subtraktive Pluralmarkierungen häufiger belegt sind, ist für das Moselfränkische die Kombination von subtraktiver und z. T. mehrfacher modifikatorischer Markierung typisch, z. B. hon2t ‘Hund; Sg.’ vs. hʏ1n ‘Hund; Pl.’ (Subtraktion + Umlaut + Tonakzentwechsel; vgl. MRhSA, 5: Kt. 550). Die gleichen phonologischen Prozesse, die den subtraktiven Plural verursacht haben, führten im gesamten Rheinischen auch zur Entwicklung eines allerdings seltener belegten subtraktiven Dativs, z. B. lamb ‘Lamm; Nom.’ vs. lam ‘Lamm; Dat.’ (vgl. Birkenes 2014: 56−98).
3.2.3. Verbalflexion Der wichtigste Unterschied der ripuarischen und moselfränkischen Verbalparadigmen zur Standardsprache besteht im Synkretismus der 1. Ps. Sg. mit der 1. und 3. Ps. Pl. Präsens für alle Verbklassen. Es heißt also z. B. Isch jon ‘Ich gehe’; Esch säin möd ‘Ich bin („sein“) müde’ und Mer/Se jon ‘Wir/Sie gehen’; Mia/Se säin möd ‘Wir/Sie sind müde’. Im Unterschied zum Rheinfränkischen liegt allerdings kein verbaler Einheitsplural, sondern ein Zweiformenplural vor, d. h., die 2. Ps. Pl. hat wie in der Standardsprache eine eigene distinkte Form, z. B. Ia säit möd ‘Ihr seid müde’ (vgl. Rabanus 2008: 106− 112; MRhSA, 5: Kt. 484−486 haben). Hinsichtlich des Präteritumschwunds kommt dem Moselfränkischen, dem Ripuarischen und dem Südniederfränkischen ein Übergangsstatus in dem von Süd nach Nord voranschreitenden Sprachwandelprozess zu. Die Perfektexpansion ist weit vorangeschritten, das heißt, die Sprecher differenzieren nicht mehr zwischen Verwendungskontexten des Perfekts und des Präteritums. Allerdings waren nach Ausweis der Orts- und Land-
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schaftsgrammatiken zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sein und haben, Modalverben und weitere starke Verben die alten Präteritumformen noch erhebbar, wobei dies im Moselfränkischen meist nur für 5 bis 30 Verben möglich war, während im Ripuarischen und Südniederfränkischen ein weitgehend vollständiger Präteritumformenbestand belegt war (vgl. die Verblisten bei Fischer 2018: 56−61 u. 72−75 sowie Kt. 11). In der Sammlung Das rheinische Platt, die Aufnahmen und Transkriptionen von teils spontanen, teils vorbereiteten Erzähltexten aus 341 Orten aus dem ganzen Rheinland aus den 1980er Jahren umfasst (vgl. Cornelissen, Honnen & Langensiepen 1989), ist in den ripuarischen Texten zumeist noch das Präteritum (mit allen Verbformen) als Erzähltempus gewählt, in vielen moselfränkischen dagegen vorwiegend das Perfekt, mit Präteritumformen nur bei den Modalverben.
3.2.4. Kongruenzmarker bei Nebensatzeinleitern Das bisher nur für das Bairische und Lothringische belegte Auftreten von morphologischen Kongruenzmarkern nicht nur beim Verb, sondern auch bei Nebensatzeinleitern (vgl. Rabanus, Art. 19 in diesem Band zur morphologischen Exponenz von Wortarten) findet sich neben dem Ostfränkischen (vgl. Harnisch, Art. 12, Kap. 5. in diesem Band) auch im Moselfränkischen. So tritt das s-Suffix für die 2. Ps. Sg. im Stadtdialekt von Mayen/Eifel außer beim Verb auch bei den Konjunktionen, Relativpronomen und interrogativen Nebensatzeinleitern dass, weil, ob, wenn, der, das, wem, wo, wie, wofür, wieso, worin, worauf auf. Es heißt hier etwa: Soo ma, bat-s de maan-s. ‘Sag mir, was du meinst’; Seesch zo, dat-s de et fin-s. ‘Sieh zu, dass du es findest’; Soo ma, ob-s de fähr-s. ‘Sag mir, ob du fährst’; Es dat der Mann, der-s de maan-s. ‘Ist das der Mann, den du meinst?’; Soo ma, besuu-s de dat net wel-s. ‘Sag mir, wieso du das nicht willst.’; Wäil-s de blöd bes. ‘Weil du blöd bist.’
3.3. Syntax Hinsichtlich der Syntax weist das Rheinische nach bisherigem Forschungsstand weniger Besonderheiten auf als hinsichtlich der Phonologie und der Morphologie. In der jüngsten Monographie beschreibt Tim Kallenborn (2019) für das Moselfränkische lediglich sieben syntaktische Variablen. Typisch für die dialektale Syntax ist zudem die vergleichsweise großräumige Verbreitung der Phänomene.
3.3.1. Passivformen Wenigstens in jeweils bestimmter Hinsicht exklusiv westdeutsch/rheinisch sind lediglich das geben- und das kriegen-Passiv sowie der alte am-Progressiv (mit inkorporiertem Objekt), die sog. rheinische Verlaufsform. Am kleinräumigsten im deutschen Dialekt und am klarsten abgegrenzt ist das geben-Passiv. Es beschränkt sich im Deutschen auf das Westmoselfränkische westlich einer Linie Daun (Eifel) − Zell (Mosel) − Saarbrücken
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und setzt sich im Luxemburgischen und in den auf das Moselfränkische zurückgehenden Auswandererdialekten im Banat und im südbrasilianischen Hunsrückischen fort (vgl. Bellmann 1998). Das Passiv wird mit dem aus geben bzw. rhein. ge:we(n) kontrahierten Auxiliar ge:n und dem Partizip II eines Vollverbs gebildet: Dat Bru:t get gebak.‘Das Brot wird gebacken’. Seine Funktion entspricht dem standardsprachlichen Vorgangspassiv mit werden, das in seinen dialektalen Formen auch im östlichen Moselfränkischen und dem Ripuarischen als Passivauxiliar dient (vgl. MRhSA, 4: Kt. 544). Die Grammatikalisierung von geben ist vermutlich erst ab dem 15. Jahrhundert erfolgt (vgl. Nübling 2006: 189). Sie erfolgte in verschiedenen Stufen vom Vollverb über die Kopula mit substantivischem Prädikatsnomen (Er gibt Lehrer.) und die Kopula mit prädikativem Adjektiv (Er gibt alt.) zum Passivauxiliar (zu den Feindifferenzierungen vgl. Lenz 2007). Während die rezente Grenze der geben-Kopula mit prädikativem Adjektiv mit der des gebenPassivs zusammenfällt, finden sich Belege für die geben-Kopula mit substantivischen Prädikatsnomen auch im östlichen Moselfränkischen und außerhalb des Rheinischen (vgl. Bellmann 1998: 255 u. 258−265). Während geben-Passive (GIVE-Verben) sprachtypologisch sehr selten sind (vgl. Lenz 2018), sind Passivformen, die auf „Besitzwechselverben“ mit im Vergleich zu geben umgekehrter Bewegungsrichtung zurückgehen (GET-Verben: kriegen, bekommen, erhalten), weit verbreitet. Im Deutschen werden damit „nicht kanonische“ Passive konstruiert. Im Gegensatz zum kanonischen werden- oder geben-Passiv entspricht dem Subjekt des Passivsatzes im korrespondierenden Aktivsatz kein Satzglied im Akkusativ mit der semantischen Rolle PATIENS (Aktiv: Der Mann schlägt den Hund. Passiv: Der Hund wird geschlagen.), sondern ein Dativ mit den semantischen Rollen REZIPIENT, ADRESSAT oder BENEFAKTIV (Aktiv: Die Schwester leiht dem Jungen das Buch. Passiv: Der Junge kriegt/bekommt das Buch geliehen.). Man spricht daher auch vom Dativoder Rezipientenpassiv. Die Passivauxiliare sind dabei in der folgenden Weise regional und vertikal verteilt: kriegen ist vornehmlich im „westmitteldeutschen“ und niederfränkischen Dialekt verankert, bekommen in den mitteldeutschen und niederdeutschen Regiolekten bzw. im Standard (vgl. Lenz 2013: 219 u. 271). Dabei ist die Grammatikalisierung des kriegen-Passivs in den rheinischen Varietäten am weitesten fortgeschritten. Nur hier erlauben intransitive Dativverben (jemandemDAT helfen) ein kriegen-Passiv (vgl. Atlas zur deutschen Alltagssprache [AdA]: Kt. geholfen kriegen). Nur im Moselfränkischen und im Luxemburgischen tritt es sogar „vereinzelt [bei] monotransitive[n] Verben des Tadelns (z. B. jemandenAKK schimpfen)“ (Lenz 2018: 210) auf: Dau kris jeschannt. ‘Du kriegst geschimpft.’
3.3.2. Rheinische Verlaufsform, am-Progressiv Im Deutschen ist insgesamt seit Langem eine Umschichtung festzustellen, bei der die Tempuskategorie profiliert und die Aspektkategorie abgebaut wurde (vgl. zuletzt Fischer 2018: 308 u. 316). Um Aspektualität, also das zeitliche Profil einer Verbhandlung und ihre Perspektivierung, ausdrücken zu können, entwickeln sich als „Kompensation“ u. a. verschiedene Ausdrucksformen für Progressivität (vgl. Kuhmichel 2016), von denen die rheinische Verlaufsform bzw. der am-Progressiv die wichtigste sein dürfte. Erste Belege für die Verlaufsform liegen für das 16. Jahrhundert vor. Nach dem Befund von Auswan-
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dererbriefen hatte sie im 19. Jahrhundert im rheinischen und niederdeutschen Raum ihren regionalen Schwerpunkt (vgl. Elspaß 2005: 269), nach der Wenker-Erhebung ist sie Ende des 19. Jahrhunderts im gesamten „Westmitteldeutschen“ belegt (vgl. Ramelli 2016: 48). Bei der Grammatikalisierung zu einer echten (periphrastischen) verbalen Ausdrucksform sind zwei Stufen von Bedeutung: Älter und im alten Dialekt räumlich ausgedehnter ist die Form mit sein + am + inkorporiertem Objekt + Infinitiv: (Sie) ist am Plätzchen backen. (Sie) ist am Kartoffeln schälen. Hier steht ein Objekt zwischen am und dem Verb und kann nicht durch Artikel und Attribute erweitert werden. Dieser Typ ist in der Zwirnererhebung der 1950er Jahre für das Moselfränkische, Ripuarische und Westfälische belegt (vgl. Ramelli 2016: Abb. 1). Nach der aktuellen SyHD-Erhebung (Syntax hessischer Dialekte) tritt sie im Dialekt auch in nordwestlichen Räumen Hessens auf (vgl. Kuhmichel 2016: 82). Jünger ist der Typ, bei dem das Objekt links von am steht und bei dem das Objekt durch Artikel und Attribute erweiterbar ist: (Er) ist die neue Wohnung am aufräumen. Dieser Typ ist für den Dialekt in den 1950er Jahren nur für das Ripuarische belegt (vgl. Ramelli 2016: Abb. 1). Diese Form des Progressivs mit der am weitesten fortgeschrittenen Grammatikalisierung ersetzt im rezenten Moselfränkischen im Dialekt der jüngeren Sprecher die alte rheinische Verlaufsform mit inkorporiertem Objekt (vgl. Kallenborn 2019: 147). In den standardnäheren Varietäten dringt sie noch weiter vor und ist in der Alltagssprache inzwischen im gesamten Westsaum der Bundesrepublik belegt (vgl. AdA: Kt. Ich bin die Uhr am Reparieren.).
4. Sprachdynamik 4.1. Entwicklung des Dialekts Bei der Entwicklung des Dialekts sind zwei Prozesse zu unterscheiden, nämlich einerseits die Dynamik des intakten Dialekts, d. h. des Dialekts, den die Sprecher in frühen Phasen der Sprachsozialisation erworben haben, und andererseits die (Nicht-)Weitergabe des Dialekts an die Folgegeneration. Die Entwicklung des intakten Dialekts bis etwa 1985 lässt sich besonders gut im linksrheinischen Moselfränkischen verfolgen, da hier Erhebungen von 1880 (Wenker) und 1980/1985 (MRhSA) verglichen werden können und im Falle des MRhSA direkt vergleichbare Sprachdaten für zwei Generationen vorliegen, die sich zudem hinsichtlich des sozialen Merkmals Mobilität unterscheiden (über 70-jährige Immobile vs. 30−40-jährige Nahpendler). Man kann die Entwicklung bis 1985 als schwache Regionalisierung, als Beginn einer Entwicklung vom Basisdialekt zum Regionaldialekt beschreiben. Die Entwicklung zum Regionaldialekt war im Moselfränkischen schwächer als im Rheinfränkischen oder gar im Bairischen, wo der Dialekt nach wie vor für große Sprechergruppen auch als überörtliches Kommunikationsmittel dient und daher lokale Sonderformen einem stärkeren Abbau unterliegen. Die schwache Regionalisierung lässt sich wie folgt kennzeichnen: Die dialektalen Strukturgrenzen (Grenze zum Rheinfränkischen, Entrundungsgrenze, Grenze der neuhochdeutschen Diphthongierung) bleiben stabil, quantitativ sinkt das Dialektalitätsniveau, gemessen als phonetischer Abstand zum Vergleichswert Standardaussprache, leicht. Es lag 1985 im Mosel-Osteifelraum bei den jungen mobilen Sprechern um 3,8 % unter dem der älteren Generation, im westeifler Reliktraum 6 % niedriger. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen sich
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zwei sehr ähnliche Teilprozesse: 1. „Dialektalitätsgipfel“, also (saliente) lokale (oder sehr kleinräumige) Sonderformen, die von den Nachbardialekten abweichen, werden zugunsten großräumiger Dialektformen abgebaut. 2. Am Rande des westeifler Reliktgebiets werden Reliktformen durch die ostmoselfränkische Normallautung ersetzt (vgl. Herrgen & Schmidt 1989). Wie dieser Prozess verläuft und wie er zu erklären ist, soll an dem auffälligsten und am besten untersuchten Beispiel erläutert werden, dem Abbau der (starken) Zentralisierung: An der Mündung der Ruwer in die Mosel in der Nähe der Großstadt Trier und an der Grenze des westeifler Reliktgebiets waren laut Wenker-Erhebung und einer Ortsgrammatik (Thomé 1908) sehr kleinräumig historische Velarvokale, die in der Standardsprache immer noch Velarvokale ([u:], [o:]) sind, frontiert worden, d. h., sie waren bis zur zentralen ([ɵ:], [ʉ]), manchmal sogar palatalen Artikulationsposition vorverlagert worden (vgl. Drenda 2000: 92−95). Da es sich um Entrundungsdialekte handelt, wurden diese Langvokale ohne Lippenrundung gesprochen. Sie klingen wie stark verdumpfte [y:] oder [ø:]. Diese Laute wurden dann im Dialekt radikal abgebaut, was etwa im Dialekt von Mertesdorf bei Trier zur absolut stärksten Dialektalitätsreduktion zwischen den beiden Aufnahmeserien im Arbeitsgebiet des MRhSA führte. Durch Formantmessungen konnte gezeigt werden, dass dieser Abbauprozess phonetisch als schnelle Rückverlagerung verlief: Bei den ältesten Sprecherinnen (*1898 und *1907), die ihr ganzes Leben im Dorf verbracht hatten, waren die auffälligen Vokale noch in ihrer ursprünglichen zentral-palatalen Qualität nachweisbar (vgl. Herrgen & Schmidt 1986). Bei den ältesten Männern (*1901 und *1904), die regelmäßige Kontakte zur benachbarten Großstadt hatten, waren sie schon deutlich rückverlagert und bei den in den 1950er Jahren Geborenen dann schon so weit mit den standardsprachlichen Velarvokalen zusammengefallen, dass ihre ursprüngliche starke Zentralisierung nur noch messphonetisch, aber fast nicht mehr ohrenphonetisch nachweisbar war. Was diesen Dialektabbau bzw. -umbau so interessant macht, ist die Tatsache, dass die Ursache des Prozesses nicht im Dialekt liegt. Nach allem, was wir wissen, hat der Dialekt an Mosel und Ruwer bis heute keine „Umlaute“, keine gerundeten Palatalvokale, sehr wohl aber der Regiolekt (vgl. Mentz 2006: 86−90). Aufgrund des identischen Artikulationsorts kollidieren die alten stark zentralisierten dialektalen Vokale im Verstehensakt aber mit den „Umlauten“ des Regiolekts. Trotz der Differenz des phonetischen Merkmals Lippenrundung kommt es bei Sprechern des Regiolekts, die den Dialekt nicht beherrschen, zu Missverstehen oder Nichtverstehen: altdialektales [blʉ:t] ‘Blut’ wird mit regionaldialektalem [bly:t] ‘Blüte’ verwechselt, altdialektales [ʀɵ:t] ‘rot’ mit regionaldialektalem [ʀø:t] ‘Röte’. Die Verwendung der altdialektalen Vokale löst bei den Hörern nicht intendierte Lexemzugriffe bzw. scheiternde Lexemzugriffe aus, die zu negativen Rückkopplungen in den Synchronisierungsakten führen. Die Sprecher reagieren mit einer phonetischen Dissimilation der altdialektalen Vokale. Durch diese „Entähnlichung“ wird die phonologische Kollision beseitigt. Dass dieser Prozess so schnell erfolgt ist, hängt damit zusammen, dass Regiolekt und Dialekt kopräsent sind, im Alltag also nebeneinander und in sich überschneidenden Situationen verwendet werden. Aus neurodialektologischen Studien ist bekannt, dass Phonemkollisionen zwischen kopräsenten Varietäten nicht nur bei den Hörern, sondern sogar bei Sprechern, die beide Varietäten beherrschen, mit sprachkognitiven Verarbeitungsschwierigkeiten einhergehen (vgl. Schmidt 2017a: 60−63). Für Aussagen über die Entwicklung des intakten Dialekts, insbesondere eventuellen regionalen Ausgleich, fehlt für das Ripuarische und Südniederfränkische bislang eine dem MRhSA vergleichbare flächendeckende Datengrundlage. Im Ripuarischen ist jedoch
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sicher von einem weit verbreiteten Einfluss des Kölnischen auszugehen. Dessen alte Vorbildfunktion, die schon vor dem 2. Weltkrieg gelegentlich als „Verkölschung“ der angestammten Ortsdialekte beklagt wurde (vgl. Macha 1991: 93), spielt bei wachsender Mobilität und schnell fortschreitendem Dialektabbau im Alltag seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eine noch größere Rolle, da die Kenntnis dialektaler Formen zunehmend mindestens so sehr auf mediale Präsenz des Dialekts (besonders des Stadtkölnischen) zurückgeht wie auf unmittelbaren Kontakt mit Dialektsprechern (aus dem eigenen Ort). Jürgen Macha (1991) hat bei Dialektsprechern an der unteren Sieg eine Reihe von Wenkersätzen neu erhoben (intendierter Ortsdialekt) und mit den Wenkerbögen der entsprechenden Orte sowie mit den kölnischen Grammatiken von Ferdinand Münch (1904) und Wilhelm Müller (1912) verglichen. Er konstatiert einen „kräftigen Einfluß stadtkölnischer Mundartformen“ (Macha 1991: 107). Die Höherbewertung des Stadtkölnischen als „feiner“ und „weniger breit“ als der Basisdialekt anderer Orte im ripuarischen Raum scheint nach Aussagen von Sprechern auch ungebrochen fortzubestehen. Seit den 1980er Jahren haben Entwicklungen wie der „Kölschrock“ und der „alternative Karneval“ zudem für stadtkölnische Formen die assoziative Verknüpfung des Dialekts mit Tradition und Konservativität gelockert, die ansonsten schon durch das Alters- und Stadt-Land-Gefälle im Dialektabbau entsteht und im Ripuarischen noch weiter durch die Rolle des Karnevalsbrauchtums als stabilster Domäne des Dialekts bestätigt wird. Entscheidender als die regionalen Ausgleichstendenzen ist für die Entwicklung der Dialekte im südniederfränkischen und ripuarischen Gebiet der sprunghafte Rückgang von Dialektkompetenz und -verwendung, der ab etwa dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen ist. Verschiedene Untersuchungen zum Ripuarischen haben ergeben, dass es vor allem in den 1960er Jahren zu einem Bruch in der Weitergabe des Dialekts (von den Sprechern als „Platt“ bezeichnet) gekommen ist (Sieburg 1992; Macha 1991; Kreymann 1994). Während bis dahin die Erstsprache der meisten Kinder der Ortsdialekt war, trat an diese Stelle ab diesem Moment intendiertes Standarddeutsch (d. h. zumeist: standardbasierter Regiolekt). Bezeugt ist dabei sogar der Wechsel der Sprache der Kindererziehung innerhalb einer Reihe von Geschwistern (vgl. Sieburg 1992: 320). Kreymann (1994: 192−195) stellt Aussagen von Gewährspersonen des Erp-Projekts (Sprachverhalten in ländlichen Gemeinden) aus den Jahren 1972−1973 (geboren in den 1930er und 1940er Jahren) und Aussagen von deren Töchtern aus seiner Nacherhebung 1992−1993 gegenüber. Danach ist die Elterngeneration im Dorf Erp (20 km südwestlich von Köln) noch in einer fast rein dialektalen Welt aufgewachsen, in der nur der Schulunterricht auf Hochdeutsch stattfand, Gespräche in der Familie und unter Freunden aber durchgehend im Dialekt. Nach Auskunft der Töchter 20 Jahre später wurde in der Folgegeneration in der Familie themenabhängig sowohl in intendiertem Hochdeutsch als auch im Dialekt mit ihnen gesprochen. Darüber hinaus sprachen sie in Kindergarten und Schule normalerweise Hochdeutsch, auch außerhalb des Unterrichts unter Freundinnen (vgl. Kreymann 1994: 275). Für die Töchtergeneration selbst erscheint dann die Weitergabe des Dialekts schon als gänzlich verzichtbare Zusatzleistung, die nicht einmal für die informelle Kommunikation in Familie und Freundeskreis relevant ist und daher auch nicht angestrebt wird (vgl. Kreymann 1994: 268). Dieser Umbruch in der sprachlichen Primärsozialisation schlägt sich in einem Einbruch bei der Dialektkompetenz nieder: Heinz Sieburg (1992: 308) stellt für Fritzdorf bei Bonn fest, dass sich die „Dialektkompetenzwerte für die ab etwa 1967 Geborenen stark reduzieren. Von diesem Zeitpunkt an
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ist davon auszugehen, daß Eltern ihren Kindern Dialektsprachlichkeit nicht mehr aktiv vermitteln.“ Der ripuarische und der niederfränkische Raum gehen bei dieser Entwicklung dem moselfränkischen voraus. In einer Erhebung bei ortskundigen „Experten“ (vgl. Hoffmann & Macha 1985; Macha 1986) gaben Mitte der 1980er Jahre noch fast ¾ der Befragten aus dem Raum Saar-Mosel an, in ihrem Ort betrage der Anteil der Plattsprecher zwischen 76 % und 100 %, im Bergischen Land hingegen schätzten ⅔ diesen Anteil auf 0−25 %. Georg Cornelissen (2008: 103−106) betrachtet die regionale Verteilung des Alters von Gewährspersonen, die im „Nordrhein“-Gebiet noch für Dialektaufnahmen rekrutiert werden konnten. Er kommt danach zu einer Staffelung Bergisches Land (älteste Sprecher) − Niederrhein − zentrales Rheinland − Köln/Eifel (jüngste Sprecher). Der dramatische Einbruch der Dialektweitergabe, der im ripuarischen Erp schon in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgt war, hat aktuell den moselfränkischen Sprachraum erreicht. Für seine Studie zum Erwerb regionalsprachlicher Kompetenz in der Kleinstadtregion Wittlich/Eifel konnte Matthias Katerbow (2013: 201−202) kein einziges Kindergarten- oder Grundschulkind finden, das noch im Dialekt sozialisiert wurde. Für eine andere Studie zur aktiven Beherrschung der Dialektlautung wurden 2014 100 Informanten aus Wittlich in einer geschichteten Stichprobe, die nach Alter und Bildungsabschluss dem Ortsdurchschnitt entsprach, gebeten, Wörtern mit standardsprachlich /ai/ (50 % < mhd. î; 50 % < mhd. ei) in der Dialektlautung wiederzugeben. Während zwei Drittel der über 60-Jährigen hierzu in der Lage waren, sinkt der Wert über die Altersklassen stetig (Altersklasse 50−64: 43 %; Altersklasse 30−49: 14 %). Bei der Altersklasse 18−29 beherrschte dann niemand diese Testvariable für die Dialektphonologie. Es handelt sich dabei um den gravierendsten rezenten Einbruch der Dialektkompetenz, der in zehn untersuchten Kleinstädten aus allen Dialektregionen Deutschlands festgestellt wurde (vgl. Schmidt 2017b: 117−124).
4.2. Vertikale Spektren und ihre Dynamik Die Variation zwischen Basisdialekt und Standard im Ripuarischen ist seit den 1970er Jahren Gegenstand einer Reihe von Untersuchungen gewesen. In dem breit angelegten Bonner Erp-Projekt (vgl. Besch et al. 1981; Hufschmidt et al. 1983) wurden in den Jahren 1971−1974 Sprachaufnahmen von 142 berufstätigen männlichen Einwohnern des Ortes Erftstadt-Erp im Alter zwischen 21 und 66 Jahren gemacht. Es wurden leitfadengesteuerte Interviews und freie Freundesgespräche durchgeführt sowie subjektive Sprachdaten und Sozialdaten erhoben. Dadurch wurde eine systematische Beobachtung des „Herunterfahrens“ dialektaler Merkmale beim einzelnen Sprecher ermöglicht. Die variablenanalytische Auswertung ergibt im Vergleich zwischen den vorwiegend dialektalen Freundesgesprächen und den eher im intendierten Standard bzw. Regiolekt beantworteten Interviews eine starke Abstufung zwischen verschiedenen Merkmalen hinsichtlich der Reduktion der dialektalen Variante (Abbauhierarchie) (vgl. Mattheier 1987). Helmut Lausberg (1993) betrachtet für einen Teil dieses Materials genauer das individuelle Verhalten der Sprecher im Wechsel zwischen den Situationen und kommt zu einer Differenzierung zwischen drei Sprechertypen (die sich hinsichtlich Ausbildung und Berufstätigkeit, Alter und Sprachbewusstsein/-bewertung unterscheiden): a) Sprecher, die vom Dialekt zur Standardsprache (mit Regionalakzent) umschalten („Code-Switcher“), b) Sprecher, die vom Dialekt zu
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einer stärker dialektal interferierten Standardsprache wechseln („Code-Mixer“, die nur bestimmte dialektale Varianten verwenden) und c) Sprecher, die auch in der formellen Situation noch dialektnah sprechen, wenngleich weniger dialektal als im Gespräch unter Freunden („Dialektsprecher“). Im Zusammenhang mit der Sprechertypologie ergibt sich gleichzeitig eine Gruppierung der untersuchten Variablen. Bei einer Reihe von Dialektmerkmalen ist die Spanne zwischen der Verwendung im Gespräch unter Freunden und im Interview bei allen Sprechern relativ groß (je nach Sprechertyp geht der Anteil der dialektalen Variante von der einen zur anderen Situation um bis zu 100 % zurück). Dagegen werden die Koronalisierung von /ç/ und die velare Variante von /l/ von fast allen auch im Interview (mehr oder weniger) weitgehend beibehalten. Eine Abstufung der Spanne zwischen informellem und formellem Gebrauch je nach Sprechertyp stellt sich schließlich vor allem bei zwei Variablen heraus: bei der frikativen vs. okklusiven Variante von standardsprachlichem /g/ und bei dat, wat vs. das, was. Variablenanalytische Untersuchungen ripuarischer Aufnahmen aus der Folgezeit haben diese Gruppierung bestätigt und verfeinert (vgl. z. B. Kreymann 1994; Bhatt & Lindlar 1998; Macha 1991). Die Handhabung der situativen und adressatenbezogenen Varietätenwahl durch ältere dialektkompetente Sprecher hat Macha (1991) untersucht. Er hat bei Handwerksmeistern des Siegkreises, zu denen er ein besonderes Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, das Sprachverhalten im Alltag mit Hilfe drahtloser Mikrophonübertragungen mitgeschnitten (Macha 1991: 196). In dieser bis heute aufschlussreichsten Studie über das Sprachverhalten bivarietärer Sprecher des Rheinischen stellt Macha fest, dass es eine gestufte Varietätenwahl gibt: Primär ist eine adressaten- und situationsbezogene „Aushandlung“ der Varietät: „Die situativen Bedingungen legen […] die Primärtonart fest […]“ (Macha 1991: 209). Bei vertrauten Gesprächspartnern wird z. B. bei Älteren der Dialekt, bei Jüngeren der Regiolekt gewählt. Bei Fremden ist die vermutete oder wahrgenommene Varietätenkompetenz und -präferenz des Gegenübers entscheidend. Nichtrheinländern und Kunden gegenüber, die sich des Regiolekts bedienen, wird der Regiolekt gewählt, „ortsdialektwilligen“ Adressaten gegenüber der Dialekt. Diese „Grundtonart“ kann dann in vielfacher Weise „moduliert“ werden: Ermahnungen an Lehrlinge oder Reaktionen auf Reklamationen können z. B. durch die Verwendung des standardnächsten Regiolekts als „offiziös“ markiert werden, Einschübe und Gesprächspassagen hingegen, in denen der Partner nicht direkt angesprochen wird, können durch die Verwendung des Dialekts abgesetzt werden. Varietätenkontraste können zu komischen Kontrasten oder schlicht spielerisch verwendet werden, als „bedeutungslose Alternanzen“, die keine andere Funktion haben als die souveräne Beherrschung des variativen Spektrums zu signalisieren (Macha 1991: 212−213). Die Kookkurrenz bzw. Nichtkookkurrenz von Varianten in freien Gesprächen mit intrasituativen Sprechlagenschwankungen hat Robert Möller (2013) analysiert. In den untersuchten Gesprächen aus dem Köln-Bonner-Raum ergibt sich, dass die meisten phonologischen Dialektvarianten nur selten im selben Gesprächsabschnitt („kleinräumig“) und praktisch nie im selben Wort mit nichtdialektalen Varianten kombiniert werden (/ʃri:və/ ‘schreiben’ oder /ʃraɪ̯ bm/, nicht */ʃraɪ̯ və/ oder */ʃri:bm/) − Ausnahmen: frikative Variante von /g/ (neben /jɛvə/ ‘geben’ und /ge:bm/ auch häufig /je:bm/, nicht aber */gɛvə/) und dat/wat. Die Variation bei der Koronalisierung und der velaren Variante von /l/, beides besonders schlecht kontrollierbar, zeigt sich demgegenüber relativ unabhängig von der Kombination mit anderen Varianten. Entsprechend der klaren Differenzierung zwischen „Platt“ und „Hochdeutsch“ (bzw. bei Bewusstsein einer nicht vollstän-
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digen Kompetenz: „Hochdeutsch mit Streifen“) im Sprecherbewusstsein werden die meisten Dialektvarianten demnach offenbar als rein dialektal betrachtet und verwendet (soweit sie kontrollierbar sind). Einige Varianten aus dem Dialekt sind dagegen nicht in dieser Weise eingeschränkt. Der ripuarische Regiolekt ist im Wesentlichen nichtdialektal und durch diese wenigen dialektalen Substratmerkmale charakterisiert, wobei diese „Regiolektmerkmale“ kein festes obligatorisches Set bilden, sondern ein implikatives Kontinuum zwischen „tiefem“ und standardnahem Regiolekt darstellen. Entsprechend dem individuellen Repertoire kann die subjektive Einstufung und Verwendung des Regiolekts als intendiertes Standarddeutsch („Hochdeutsch, so wie wir das können“) oder als intendierte Umgangssprache (ggf. mit funktionalem Kontrast zum Standard) jedoch schwanken. Hinsichtlich des Umfangs der Verwendung dialektaler und nichtdialektaler Varianten lässt die global-variablenanalytische und clusteranalytische Auswertung unterschiedliche prototypische Grundmuster erkennen: Die standardfernste Sprachlage, die in den freien Gesprächen (bei einigen der älteren Sprecher) angetroffen wurde, ist dadurch charakterisiert, dass der Anteil der Non-Standard-Realisierungen bei den regiolektalen Merkmalen (spirantisches /g/, dat) bei fast 100 % liegt, bei den rein dialektalen Merkmalen (z. B. /v/, /f/ für standardsprachliches /b/, /d/ statt /t/, dialektaler Vokalismus) im Mittel allerdings schon nur noch um 50 % − das Gespräch oszilliert hier zwischen Dialekt und Regiolekt. Eine zweite Gruppe von (ebenfalls älteren, dialektkompetenten) Sprechern reduziert den Anteil dialektaler Realisierungen bei den typisch dialektalen Merkmalen schon auf etwa 20 %, behält bei den Regiolektmerkmalen dagegen immer noch zu ca. 90 % die Non-Standard-Variante bei (Gespräch vorwiegend im Regiolekt, aber mit größeren Dialektanteilen und standardnahen Einsprengseln). Die von den meisten Sprechern mittleren und jüngeren Alters verwendete Sprachlage ist immer noch durch die regiolektalen Merkmale dominiert, weist jedoch schon fast keine dialektalen Anteile (= keine der rein dialektalen Merkmale) mehr auf. Bei der letzten Gruppe von (jungen) Sprechern sind schließlich über die Koronalisierung (mit starken individuellen Unterschieden) und die frikative Realisierung von /g/ im Auslaut und vor Konsonant (gesacht) hinaus kaum noch regionale Merkmale zu finden (vgl. Möller 2013: 124−129). Im Moselfränkischen ist die Struktur der vertikalen Spektren und ihre Dynamik am besten für die Kleinstadt Wittlich/Eifel erforscht, für die drei einschlägige Monographien vorliegen (Lenz 2003; Kehrein 2012; Katerbow 2013). Nach Alexandra N. Lenz (2003), deren Analyse Roland Kehrein (2012) durch unabhängige Sprachdaten bestätigt, sind in Wittlich zwei regionalsprachliche (Voll-)Varietäten anzusetzen: der Dialekt und der Regiolekt bzw. nichtdialektale regionale Substandard. Den Standard beherrschte keiner der 25 Informanten der Lenz’schen und der vier Informanten der Kehrein’schen Untersuchung. Die Varietätengrenzen stellen individuelle Sprachkompetenzgrenzen dar, die verschiedene Sprecher nicht oder nur mit Mühe überwinden. Sie sind daher durch Hyperformen (Hyperkorrektionen zum Standard oder Hyperdialektismen) gekennzeichnet. Eine Hyperkorrektion, die bei fast allen jüngeren Sprechern auftritt, ist die Überkompensation der Koronalisierung (isch, sischer) durch Formen wie Tich oder Fleich. Innerhalb der beiden Varietäten lassen sich Verdichtungsbereiche bzw. Sprechlagen unterscheiden, die sich durch das Auftreten bestimmter Varianten in bestimmten Situationen, durch den gemessenen Grad der Abweichung vom Standard (= objektives Dialektalitätsniveau) und subjektive Einschätzungen in Hörtests bestimmen lassen. Innerhalb der Varietät Regiolekt/regionaler Substandard lassen sich die Verdichtungsbereiche Regionalakzent, oberer und unterer Substandard unterscheiden, innerhalb der Varietät Dialekt Basisdialekt und
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Regionaldialekt. Der Regionalakzent ist beispielsweise dadurch definiert, dass hier als einzige regionalsprachliche Abweichungen vom Standard die Merkmale Koronalisierung, velare Spirans für -g (z. B. /tax/ ‘Tag’) und einige Sonderfälle vorkommen und ein Dialektalitätswert von 0,3 erreicht wird (= durchschnittlich tritt in jedem dritten Wort ein regionales Lautmerkmal auf). Der Basisdialekt ist dadurch gekennzeichnet, dass zusätzlich zu allen anderen regionalen Varianten nur hier auch wgerm. i2 als /a/, /ʊ/ oder /ɛ/ realisiert wird (z. B. /kant/ ‘Kind’), einzellexematisches up ‘auf ’ auftritt und ein Dialektalitätswert von 1,87 gemessen wird (ungefähr zwei phonetische Abweichungen vom Standard pro Wort) (vgl. Lenz 2003: 250−254; Kehrein 2012: 92). Nach dem Grad der Beherrschung der beiden Varietäten mit ihren insgesamt fünf Verdichtungsbereichen/Sprechlagen und ihrer kommunikativen Nutzung lassen sich verschiedene Sprechertypen unterscheiden: Die wichtigste Unterscheidung ist die zwischen den „Dialektsprechern bzw. dialektloyalen Switchern“ und den „Nicht-Dialektsprechern“. Dialektsprecher fanden sich um die Jahrtausendwende in Wittlich-Stadt nur noch unter den damals älteren Sprechern, im Umland hingegen noch bei allen Generationen. Die Dialektkompetenz war bei diesem Sprechertyp intakt. Es traten fast keine Hyperdialektismen in den Kompetenzerhebungen auf. Im Freundesgespräch verwendeten sie den Regional- oder den Basisdialekt, im Interview mit einer Fremden grundsätzlich den Regiolekt, wobei die allermeisten sich des unteren regionalen Substandards bedienten, einige wenige Jüngere auch des oberen regionalen Substandards oder des Regionalakzents. Die NichtDialektsprecher beherrschten und verwendeten ausschließlich den Regiolekt. Zwischen dem Freundesgespräch und dem Interview mit einer Fremden shifteten die meisten zwischen verschiedenen Verdichtungsbereichen des Regiolekts (Typ „Shifter“). Etwas weniger Informanten zeigten kaum situative Sprachvariation (Typ „Moveless“). Einige jüngere aufstiegsorientierte Städterinnen arbeiteten sich im Interview sprachlich an der Grenze zwischen Regiolekt und Standard ab. Lenz bezeichnet diese Sprechergruppe als „Switcher der Zukunft“ (vgl. Lenz 2003: 395−404 u. 246). Katerbow (2013) hat den Regionalspracherwerb bei der Kindergeneration der Lenz’schen Informanten untersucht (16 Kinder im Vorschul- und Grundschulalter). Alle Kinder aus der Region Wittlich konnten bei der Entwicklung zu einer monovarietären Kompetenz und einem monovarietären Sprachgebrauch beobachtet werden: Den Dialekt erwarb kein Kind, ein Drittel zeigte einen „monovarietär regiolektalen Erwerb“, zwei Drittel einen „monovarietär standardnahen Erwerb“. Die Kinder, die den Regiolekt erwerben, entwickeln zwischen Vorschul- und Grundschulalter die Fähigkeit, regionalsprachliche Varianten situativ gesteuert zu verwenden, wobei sie sich in den Verdichtungsbereichen bewegen, die Lenz als oberen Substandard und Regionalakzent bezeichnet. Den Dialekt verstehen sie nicht. Man könnte sie als „Shifter der Zukunft“ klassifizieren. Die Kinder mit standardnahem Erwerb verstehen den Dialekt nicht, zeigen hinsichtlich regionalsprachlicher Merkmale keinerlei situative Sprachvariation („Moveless der Zukunft“) und verwenden eine Standardsprache, die ganz wenige remanente regionalsprachliche Merkmale aufweist, von denen die Koronalisierung das wichtigste ist (vgl. Katerbow 2013: 466−487). Wie sehr sich die Sprache der Kinder insgesamt dem Standard genähert hat, lässt sich an den alten rheinischen Symbolformen für die Sprachraumdifferenz, den Kleinwörtern dat, wat, et, beobachten. Die Kinder verwenden sie über alle Erhebungssituationen lediglich in einer Häufigkeit, die der ihrer Eltern bei bemühter Standardorientierung entspricht (Gespräch mit fremden Standardsprechern und Übersetzung in Standard; vgl. Katerbow 2013: 501−503). Ein Kind, das den Dialekt vollständig erwirbt und
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theoretisch zum ehemals üblichen Switcher zwischen Dialekt und Regiolekt heranwachsen könnte, konnte Katerbow erst 18 km nördlich von Wittlich in einer bäuerlichen Großfamilie finden, die sich entschieden hat, den Dialekt weiterzugeben. Bemerkenswert ist, dass dieses Kind in seinem sozialen Umfeld keine Kinder hat, bei denen es seine dialektale Kompetenz einsetzen könnte, und nur ungern zur Schule geht (vgl. Katerbow 2013: 473). Für einen lustvollen Gebrauch einer ausgebauten regionalsprachlichen Kompetenz, wie ihn Macha (1991) bei rheinischen Handwerkmeistern beobachtet hatte, werden bei diesem Kind kaum Chancen bestehen.
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Jürgen Erich Schmidt, Marburg (Deutschland) Robert Möller, Liège/Lüttich (Belgien)
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch 1. Einleitung: Areale Abgrenzung und Binnengliederung des westniederdeutschen Raums 2. Zur neuzeitlichen Geschichte der westniederdeutschen Regionalvarietäten und den Möglichkeiten ihrer Erforschung
3. Basisdialektale Raumstruktur 4. Sprachdynamik 5. Die Zukunft der westniederdeutschen Sprachlandschaft 6. Literatur
1. Einleitung: Areale Abgrenzung und Binnengliederung des westniederdeutschen Raums Obwohl heute der Großteil der norddeutschen Bevölkerung im Alltag einen Regiolekt auf hochdeutscher Grundlage verwendet, wird die areale Einteilung der Regionalvarietähttps://doi.org/10.1515/9783110261295-017
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch
ten im westniederdeutschen Raum üblicherweise immer noch anhand der traditionellen niederdeutschen Dialekte vorgenommen. Diese Entscheidung liegt vor allem darin begründet, dass eine klare Abgrenzung dieses Raumes nach außen und eine differenzierte Binnengliederung auf regiolektaler Ebene nicht mehr möglich ist. Viele der traditionellen Isoglossen haben für die im Alltag gesprochenen Regiolekte keine Gültigkeit mehr, so dass auf dieser Ebene Sprachgebrauchsareale von deutlich höherer Reichweite anzusetzen sind. Daher folgt auch der vorliegende Beitrag strukturell der traditionellen Dialekteinteilung und bietet, nach einer kurzen geschichtlichen Hinführung (Kap. 2.), zunächst einen Überblick über die dialektalen Kennmerkmale der westniederdeutschen Regionen (Kap. 3.). Im Anschluss daran wird auf den Wandel der niederdeutschen Dialekte und die Struktur und Dynamik der hochdeutsch basierten Regiolekte eingegangen (Kap. 4.). Als Grenze zwischen dem westniederdeutschen und ostniederdeutschen Dialektraum wird traditionell die Linie des Einheitsplurals der Verben betrachtet, die etwa auf der Höhe Lübecks in Nord-Süd-Richtung verläuft (vgl. Ehlers, Art. 18 in diesem Band zu den ostniederdeutschen Regionalvarietäten). Während die ostniederdeutschen Dialekte den Plural auf -en bilden (wi hebben, ji hebben, se hebben ‘wir haben, ihr habt, sie haben’), weisen die westniederdeutschen Dialekte in der Regel t-Plurale auf (wi, ji, se hebbt). Diese generelle Aussage ist allerdings insofern zu relativieren, als in zwei westniederdeutschen Regionen (Schleswig, Ostfriesland) der Verbalplural ebenfalls auf -en gebildet wird. Nach einer verbreiteten Hypothese hängt diese Erscheinung damit zusammen, dass in den betreffenden Gebieten zunächst friesische bzw. jütische Varietäten gesprochen wurden und das Niederdeutsche erst im 15./16. Jahrhundert adaptiert wurde, wobei die in der mittelniederdeutschen Schriftsprache dominante Flexionsendung -en in die gesprochene Sprache übernommen worden sei (Jørgensen 1954). Eine weitere Ausnahme bildet das Rhein-Maas-Gebiet, dessen nördliche Hälfte hier als Teil des westniederdeutschen Raumes definiert wird. Die rheinmaasländischen Dialekte differenzieren die Personalendungen beim Verbalplural nach gleichem Muster wie das Hochdeutsche und die regionalen niederländischen Dialekte (-en, -t, -en). Unabhängig von diesen Einschränkungen ist die Bedeutung der Dialektgrenze zwischen den westniederdeutschen und ostniederdeutschen Dialekten neuerdings auch durch dialektometrische Untersuchungen (auf der Grundlage einer Reanalyse der Wenker-Daten aus dem späten 19. Jahrhundert) relativiert worden, die darauf hindeuten, dass die Dialekte im nördlichen Teil des Niederdeutschen (Nordniederdeutsch, Mecklenburgisch, Vorpommersch, Mittelpommersch) untereinander hohe Übereinstimmungen aufweisen (Lameli 2016). Die Untersuchungen lassen zudem erkennen, dass das Südrheinmaasländische eng an den mitteldeutschen (ripuarischen) Dialektraum anschließt, so dass Lameli (2013) wie auch Schmidt (2015) von der Existenz eines „westdeutschen“ Sprachraums im Rheinland ausgehen (vgl. Lameli, Art. 7 und Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band). Daran anschließend wird hier nicht, wie sonst meist üblich, die Benrather Linie als Grenzlinie zu den mitteldeutschen Dialekten betrachtet, sondern die Uerdinger Linie (ik-ich-Linie), die das Südrheinmaasländische vom Nordrheinmaasländischen trennt. Mit dem von Mihm (1992) geprägten Terminus Rheinmaasländisch wird zum Ausdruck gebracht, dass die am deutschen Niederrhein gesprochenen Mundarten mit den limburgischen Mundarten auf niederländischer Seite ein gemeinsames Dialektgebiet bilden, basierend auf einer alten Kulturlandschaft (vgl. Elmentaler & Voeste, Art. 3 in diesem Band: Kap. 2.6.). Darüber hinaus sind auch die „nedersaksischen“ Dialekte in den nordöstlichen Provinzen der Niederlande mit den nordniederdeutschen und westfälischen Dialekten verwandt (s. u. Kap. 3.1.1. und 3.1.3.).
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Im Norden entspricht die Außengrenze des Westniederdeutschen der Staatsgrenze zu Dänemark, die zugleich auch die Grenze zwischen der westgermanischen und nordgermanischen Sprachgruppe markiert. Diese Region bildet einen Mehrsprachenraum, in dem Hochdeutsch, Niederdeutsch, Reichsdänisch und Jütisch seit langer Zeit nebeneinander bestehen und einander gegenseitig beeinflusst haben (Fredsted 2009), ähnlich wie das Niederdeutsche an der Westküste Schleswig-Holsteins seit vielen Jahrhunderten im Kontakt mit den nordfriesischen Mundarten steht. Viele Sprecher in diesen grenz- und küstennahen Gebieten sind bis heute mehrsprachig, wobei insgesamt die Zahl der Niederdeutsch-Sprecher die der Sprecher des Jütischen oder Friesischen um ein Vielfaches übertrifft. In Ostfriesland sind die friesischen Varietäten bereits fast vollständig durch das Niederdeutsche verdrängt worden. Lediglich mit dem Saterfriesischen hat sich ein kleines Reliktgebiet der ostfriesischen Sprache in einigen Ortschaften der Gemeinde Saterland im nördlichen Niedersachsen bis heute erhalten können (Fort 2001). Traditionell unterscheidet man im westniederdeutschen Raum drei größere Dialektlandschaften: Nordniederdeutsch (Schleswig-Holstein und nördliches Niedersachsen), Ostfälisch (südliches Niedersachsen, Nordosten von Hessen, nördliches Sachsen-Anhalt) und Westfälisch (nördliches Nordrhein-Westfalen, Nordwesten von Hessen). Hinzu kommt das Nordrheinmaasländische, das im Nordwesten Nordrhein-Westfalens sowie in der niederländischen Provinz Limburg verwendet wird.
2. Zur neuzeitlichen Geschichte der westniederdeutschen Regionalvarietäten und den Möglichkeiten ihrer Erforschung Das 17. und 18. Jahrhundert wird in der Forschung als erste Phase der neuniederdeutschen Sprachperiode betrachtet (auch als „Frühneuniederdeutsch“ bezeichnet, Ahlmann 1991). Die mittelniederdeutsche Schriftsprache ist zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend aufgegeben worden, und in den nun entstehenden niederdeutschen Texten werden neue Dialektmerkmale reflektiert. Ob diese Merkmale Neuerungen darstellen oder bereits weiter zurückreichen, lässt sich aufgrund der bis 1600 recht stabilen mittelniederdeutschen Schreibtradition oft nicht sicher entscheiden. Nur in wenigen Bereichen lassen schon die mittelniederdeutschen Schreibsprachen Rückschlüsse auf das Vorhandensein regionaler Dialektmerkmale zu, wie sie uns aus den rezenten Dialekten bekannt sind (Bischoff 1981). Da sich die meisten mittelniederdeutschen Texte jedoch auf eine gehobene Sprechvarietät beziehen (vgl. Elmentaler & Voeste, Art. 3 in diesem Band: Kap. 2.7.−2.8.), treten manche Lautungen oder Flexionsformen erst ab dem 17. Jahrhundert in Erscheinung. Mit der von Stellmacher (2000: 13) konstatierten „Dialektisierung“ des Niederdeutschen in der Frühen Neuzeit ist somit zunächst keine Weiterentwicklung im Bereich der Mündlichkeit gemeint, sondern die Tatsache, dass viele Dialektmerkmale erst ab dieser Zeit in der Schrift sichtbar werden. Das hängt vor allem mit einer Verlagerung der Domänen des Schreibens in niederdeutscher Sprache zusammen. Während das Mittelniederdeutsche vor allem für die gehobene Schriftkommunikation verwendet wurde (Verwaltung, Recht, Geschichtsschreibung, Literatur), wird das Niederdeutsche ab dem 17. Jahrhundert primär in Gelegenheitsdichtungen und komödiantischen Bauerndramen oder Zwischenspielen gebraucht, denen ein eher geringer literarischer Wert zugeschrieben wird. Die frühneuniederdeutschen Autoren setzen die Dialektmerkmale gezielt ein, um Figuren aus dem ländlichen Milieu oder den städtischen Unterschichten (Knechte, Mägde) als besonders
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch
ungebildet darzustellen. Aus der Perspektive der historischen Regionalsprachforschung sind diese Texte wegen ihrer „Durchlässigkeit“ für Phänomene der dialektalen Mündlichkeit von großem Erkenntniswert (so bereits Lasch 1920). Allerdings werden die Dialektmerkmale in ihrer Form und Intensität in übersteigerter Weise gebraucht. So enthält z. B. der (in der Edition Elmentaler et al. 2018: 45) 21 Zeilen lange Anfangsmonolog des Schauspiels Teweschen Hochtiet (1640) nicht weniger als 33 Wortbelege, in denen Besonderheiten des Bauerndialekts in stilisierter Weise indiziert werden, darunter 19 Belege für Kontraktionen (kmot ‘ich muss’, senck ‘sie mich’, aschet ‘als ich es’), sechs für Assimilationen (ld > l: halen ‘halten’; nd > n: anners ‘anders’), vier für Svarabhakhti (Hamborreger Berecken ‘Hamburger Bierchen’) und vier für intervokalischen Dentalausfall (lien ‘leiden’, weer ‘wieder’, ndt. liden, wedder). Auch wenn solche Schreibungen in starker Verdichtung gebraucht werden, lassen sie doch Rückschlüsse auf die Existenz der entsprechenden Phänomene in den damaligen Dialekten zu. Allerdings werden dabei z. T. auch Merkmale verwendet, die in der jeweiligen Region nicht heimisch sind. So treten die ostfälischen Pronomen auf -k (mick/meck ‘mir, mich’) auch in Texten aus dem nordniederdeutschen Raum auf, in dem eigentlich vokalisch auslautende Formen üblich sind (mi, di). Es gilt also (im Abgleich mit den Dialekten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts) jeweils zu prüfen, welche Schreibformen tatsächlich sinnvoll als Wiedergaben des dialektalen Sprechens in der Entstehungsregion des Textes interpretiert werden können und welche man als stilistische Marker einstufen muss, die symbolisch eine maximale Entfernung von der damals akzeptierten landschaftlichen Hochsprache ausdrücken sollten. Ein eigenes Problemfeld stellt der Kontakt mit dem Hochdeutschen dar, der sich ab dem 16. Jahrhundert intensiviert und zur Herausbildung mündlicher Kontaktvarietäten führt, die als „Mischsprachen“ (Fredsted 2004), „Ausgleichssprachen“ (Mihm 2001) oder „Übergangsvarietäten“ (Stichlmair 2008) bezeichnet wurden. Reflexe des niederdeutschhochdeutschen Sprachkontakts finden sich schon im 16. Jahrhundert in der Verwaltungsschriftlichkeit (Mihm 2003; Stichlmair 2008). Ab dem 17. Jahrhundert treten dann in den oben genannten literarischen Textsorten Figuren auf, denen ein stark niederdeutsch gefärbtes Hochdeutsch in den Mund gelegt wird, z. B. der Kutscher Schmutzo in Loccius’ Schauspiel der freien und unbändigen Jugend 1619 (Kluge 1918: 140, Anm. 1), der Soldat Laban in Rists Perseus 1634 (Martens 2006) oder der Schreiber Blasius in Teweschen Hochtiet 1640 (Weber 2008: 32−34). Diese Sprachausprägung wird im nordniederdeutschen und ostfälischen Raum oft als „Missingsch“ bezeichnet, ein Begriff, der sich wohl aus dem Ausdruck „Meißnisch“ ableitet und somit ursprünglich die Zielvarietät bezeichnete, später aber auf das stark niederdeutsch interferierte Hochdeutsch norddeutscher Sprecher übertragen wurde (Wilcken 2015). In der dramatischen und erzählenden Literatur des norddeutschen Raumes sind solche Figurentypen bis ins 20. Jahrhundert recht populär (43 Missingsch sprechende Figuren werden bei Wilcken 2015: 375−418 vorgestellt). Auch hier handelt es sich um inszenierte Sprechweisen, die den damaligen Sprachgebrauch sicherlich nicht realistisch widerspiegeln, und manche Formen, die z. B. das Prinzip einer hyperkorrekten Lautverschiebung auf die Spitze treiben (Leutze ‘Leute’, Zwibel ‘Zweifel’, zeutsch ‘deutsch’), hat es vielleicht in der Praxis gar nicht gegeben. Dennoch lassen sich aus dem Sprachgebrauch solcher Figuren mit der gebotenen methodischen Vorsicht Rückschlüsse auf lautliche oder grammatische Besonderheiten der gesprochenen Regionalsprachen des 17. bis 19. Jahrhunderts ziehen. Wie Wilcken (2015) zeigen konnte, erlaubt die Analyse von Missingsch-Texten Einblicke in die historischen Vorläufer der heutigen Regiolekte, und zwar nicht nur für den nordnie-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
derdeutschen Raum (Flensburg, Kiel, Hamburg, Bremen), sondern auch für andere westniederdeutsche (ostfälisch: Göttingen, westfälisch: Münster) und ostniederdeutsche Städte (Danzig, Königsberg). Während die areallinguistische Forschung für das Frühneuniederdeutsche auf die Auswertung der genannten „nähesprachlichen“ Textsorten angewiesen ist, kommen ab Mitte des 18. Jahrhunderts mit den ersten Wortsammlungen und Idiotika erste Sekundärquellen hinzu, die einen systematischeren Zugriff auf die niederdeutschen Dialekte bieten (zum Nordniederdeutschen: Richey 1754, Tiling 1767−1771 und Schütze 1800−1806; zum Westfälischen: Strodtmann 1756; zum Ostfälischen: Schambach 1858; eine Edition von 32 kleineren Idiotismensammlungen aus dem westniederdeutschen Raum bietet Haas 1994). Heute wird das Westniederdeutsche durch sechs großlandschaftliche Wörterbücher flächendeckend erfasst (zu Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, dem Mittelelberaum, Westfalen und dem Rheinland), ergänzt durch zahlreiche Regional- oder Ortswörterbücher. Auch wenn Wörterbücher in erster Linie über den lexikalischen Bestand informieren, enthalten sie meist auch differenzierte Angaben zu den grammatischen Eigenschaften der Wörter und zur Verbreitung bestimmter Lautvarianten, so dass sie für die Erschließung früherer Systemzustände der niederdeutschen Varietäten mit herangezogen werden können. Eine systematischere Beschreibung der Dialektsysteme erfolgt dann, zunächst auf Grundlage junggrammatischer Beschreibungsansätze, in den Dialektgrammatiken, die für den niederdeutschen Raum ab dem späten 19. Jahrhundert vorliegen (vgl. Kap. 3.1.1.−3.1.4.). Sie enthalten zumeist im ersten Teil die Darstellung des Laut- und Formensystems (seltener der Syntax) eines Ortsdialekts, im zweiten Teil eine Flächengrammatik, die sich auf areal variierende Einzelphänomene konzentriert, und im dritten Teil einen historischen Abriss, in dem die dialektalen Strukturen mit territorial- und kirchengeschichtlichen Entwicklungen in Verbindung gebracht werden. Ab den 1960er Jahren wurden niederdeutsche Dialekte mithilfe strukturalistischer Verfahren analysiert, mit dem Fokus auf phonologische Strukturen einzelner Dialekte (z. B. Niebaum 1974 zum westfälischen Dialekt in Laer bei Osnabrück) oder auf strukturelle Dialektdifferenzen in größeren Arealen (z. B. Panzer & Thümmel 1971; Teepe 1983). Die jüngere Dialektologie hat sich demgegenüber wieder stärker einer Beschreibung der phonetischen Merkmale zugewandt, wobei in einem variationslinguistischen Kontext die Differenzierung alters- und situationsspezifischer sowie individueller Unterschiede im Dialektgebrauch im Vordergrund steht (z. B. Kehrein 2012). Anders als im Bereich des Wortschatzes werden die niederdeutschen Dialektgebiete durch die Grammatiken nicht vollständig erfasst. So fehlen z. B. systematische Dialektbeschreibungen für den zentralholsteinischen Raum, und die der Dialektbibliografie von Wiesinger & Raffin (1982) beigegebenen Übersichtskarten lassen erkennen, dass die Dichte an Dialektbeschreibungen für den nordniederdeutschen Raum insgesamt deutlich geringer ist als z. B. für Westfalen oder den unteren Niederrhein. Diese Situation hat sich angesichts des starken Rückgangs dialektgrammatischer Publikationen zum Niederdeutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum verbessert. Als übergreifende Darstellung zu den Kennformen der niederdeutschen Dialekte ist der Handbuchartikel von Foerste (1957) nach wie vor unverzichtbar, ebenso wie die strukturalistisch ausgerichtete Darstellung von Wiesinger (1983: zum Westniederdeutschen insbesondere 859 u. 872−880). Einen Kurzüberblick gibt der Beitrag von Schröder (2004). Die einschlägige Forschungsliteratur lässt sich zudem über gezielte Suchabfragen in der Georeferenzierten Online-Bibliographie Areallinguistik (GOBA) recherchieren.
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch
Ein erhebliches Defizit ist im Bereich der niederdeutschen Dialektkartografie zu konstatieren, wie die Übersichtskarte in Niebaum & Macha (2014: 38) deutlich macht. Während der mitteldeutsche und besonders der oberdeutsche Raum durch eine Reihe von relativ aktuellen Dialektatlanten weitgehend abgedeckt werden, wird hier für das Niederdeutsche nur ein älterer Plattdeutscher Wort-Atlas von Nordwestdeutschland angeführt (Peßler 1928), der lediglich 18 Karten enthält und primär volkskundlich ausgerichtet ist. Ergänzen lassen sich allerdings ein großformatiger Atlas der Celler Mundart (Mehlem 1967; s. u. Kap. 3.1.2.) mit 141 Lautkarten sowie die Dialektmonografien, die oftmals Sprachkarten enthalten, wie z. B. für das Nordniederdeutsche die Arbeiten von Horn (1984) mit 96 Karten, Bock (1933) mit 51 Karten, Pühn (1956) mit 31 Karten oder Appel (1994) mit 22 Karten (s. u. Kap. 3.1.1.). Für Schleswig-Holstein ist darüber hinaus ein Dialektatlas in Vorbereitung, der auf der 2012−2014 durchgeführten Fragebogenerhebung Plattdüütsch hüüt basiert (Elmentaler 2012a). Zwei Atlanten, die den aktuellen Stand der niederdeutschen Dialekte erstmals für ein größeres Areal dokumentieren werden, sind derzeit ebenfalls in Vorbereitung. Auf umfassende Neuerhebungen im Bundesland Nordrhein-Westfalen wird sich der Dialektatlas Mittleres Westdeutschland stützen, der im niederdeutschen Raum die westfälischen und rheinmaasländischen Dialekte erfasst. Eine vollständige Kartenpublikation (online) ist für die Jahre 2025−2030 vorgesehen. Der bereits für 2019 geplante zweite Band des Norddeutschen Sprachatlas (NOSA, Elmentaler & Rosenberg i. V.) wird auf diachron-kontrastiven Karten (vgl. Kt. 17.4) den Dialektwandel an 36 Orten im gesamten niederdeutschen Sprachraum dokumentieren, wobei die Ergebnisse der Wenker-Erhebung aus den 1880er Jahren als historischer Vergleichspunkt dienen. Neben den dialektologischen Beschreibungen in Form von Wörterbüchern, Grammatiken und Sprachkarten stehen für die Beschäftigung mit den niederdeutschen Dialekten einige Korpora mit Primärdaten zur Verfügung. Hierzu zählen Dialektaufnahmen aus unterschiedlichen Phasen des 20. Jahrhunderts, die als Grundlage für diachrone Vergleiche dienen können, von dem Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten (1936−1937) über das Zwirner-Korpus (1955−1972) bis hin zu rezenten Dialektaufnahmen aus den Projekten Regionalsprache.de (REDE) und Sprachvariation in Norddeutschland (SiN). An schriftlich erhobenen Dialektdaten stehen neben den Wenkerbögen auch die Fragebögen des (nicht abgeschlossenen) Projekts Niederdeutscher Wortatlas (NWA) zur Verfügung, das im westniederdeutschen Raum durchgeführt wurde (276 Fragen in zwei Erhebungsrunden 1950 bzw. 1965). Auch wenn dieses Projekt primär auf die Erfassung lexikalischer Variation ausgerichtet war, lassen sich die Fragebögen teilweise auch für lautliche bzw. morphologische Phänomene auswerten (vgl. die Karte in Elmentaler 2015: 310). Weitere Merkmale lassen sich über die Analyse von Dialekttexten erfassen (zu deren Quellenwert vgl. Langhanke 2011; Anwendungsbeispiele in Elmentaler 2015).
3. Basisdialektale Raumstruktur Die areale Gliederung des westniederdeutschen Dialektraums wird in Kap. 3.1. zunächst anhand des Bereichs der Lautung beschrieben, da die dialektalen Lautsysteme im Unterschied zu denen auf der Ebene der Morphologie und Syntax kleinräumiger ausdifferenziert sind und am gründlichsten erforscht wurden. Die Ergebnisse zur Morphologie und Syntax der westniederdeutschen Dialekte werden in Kap. 3.2. zusammenfassend behan-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
delt. Ausgeklammert werden die Bereiche Prosodie (Peters, Art. 21 in diesem Band), Lexik (Ruge & Schröder, Art. 24 in diesem Band), Onomastik (Nübling & Schmuck, Art. 26 in diesem Band), Gesprächslinguistik (Lanwer, Art. 27 in diesem Band) und Wahrnehmungsdialektologie (Purschke & Stoeckle, Art. 29 in diesem Band), denen in diesem Handbuch eigene Artikel gewidmet sind.
3.1. Phonologie und Phonetik 3.1.1. Areale Strukturen im Nordniederdeutschen Die Hauptmerkmale der nordniederdeutschen Dialekte werden bei Schröder (2004) wie folgt beschrieben: Das Nordniederdeutsche hebt sich von den anderen Dialektgebieten durch eine starke Reduzierung der phonologischen Unterschiede der langen ê- und ô-Laute (Steen, fleegẹn, Kookẹn, Boom ‘Stein, fliegen, Kuchen, Baum’), die Aspiration anlautender Tenues (thain ‘zehn’), die Lenisierung inlautender Tenues (widẹ ‘weiße’) und durch die weiträumig verbreitete e-Apokope (Fööt ‘Füße’) ab. (Schröder 2004: 49)
Mit Verweis auf die phonologischen Vereinfachungen im Langvokalismus, die Apokopierungstendenzen wie auch die für weite Teile des Nordniederdeutschen typischen Reduktionen im Formensystem (formaler Zusammenfall von Akkusativ und Dativ) spricht Sanders (1982: 84) davon, dass das Nordniederdeutsche insgesamt „fortgeschrittener“ erschiene als die übrigen westniederdeutschen Dialekte: „es ist gewissermaßen das ‚modernste‘ Niederdeutsch“. Andererseits wird betont, dass eine klare Charakterisierung des Nordniederdeutschen schwer falle, da es sich „kaum durch eigene Kriterien, vielmehr meist nur negativ durch seinen Gegensatz zu bestimmten west- oder ostfälischen Eigenarten abgrenzen“ lasse (Sanders 1982: 84): „Was nicht westfälisch und ostfälisch ist, gilt als Nordnds.“ (Stellmacher 2000: 130). Die Schwierigkeit einer eindeutigen dialektologischen Bestimmung liegt auch darin begründet, dass das Nordniederdeutsche mehrere Dialektregionen mit je eigenen Merkmalsprofilen umfasst. Foerste (1957) unterscheidet (von Nord nach Süd und von Ost nach West) sieben Dialektgebiete: in Schleswig-Holstein das „Schleswigische“, „Holsteinische“ und „Dithmarsische“, im nordöstlichen Niedersachsen das „Nordhannoversche“ (Bremerhaven, Hamburg, Lüneburg, Bremen) und im nordwestlichen Niedersachsen das „ostfriesische Niederdeutsch“, das „Oldenburgische“ und das „Emsländische“. Sanders (1982: 83−88), Wiesinger (1983: 880), Goltz & Walker (1990: 40−41) und Stellmacher (2000: 130−146) schließen sich dieser Einteilung weitgehend an, wobei Stellmacher (2000: 120) das Emsländische allerdings als „Übergangsgebiet“ zum Westfälischen einstuft. Die Regionen werden bei Bedarf weiter ausdifferenziert, etwa im Norden durch die Unterscheidung zwischen Zentralholsteinisch, Ostholsteinisch und Südholsteinisch (Stellmacher 2000: 140−142). Nach dialektologischen Kriterien schließen sich auch die unter dem Begriff „Nedersaksisch“ geführten Dialekte einiger niederländischer Provinzen teils dem Nordniederdeutschen, teils dem Westfälischen an. Für eine Sprachkarte des nordniederdeutschen Sprachraums innerhalb Deutschlands vgl. Foerste (1957: 1865−1866), eine detaillierte Karte der Nedersaksische dialecten van Noord- en Oost-Nederland bietet die Webseite Streektaal (unter dem Stichwort „Taalkaarten“).
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch
Die nördlich der Elbe gesprochenen Basisdialekte Schleswigisch, Holsteinisch und Dithmarsisch sind durch das Schleswig-Holsteinische Wörterbuch (Mensing 1927−1935) sowie durch die Orts- und Gebietsgrammatiken von Bock (1933) zum Schleswigischen, Kohbrok (1901) zum Dithmarsischen, Horn (1984) zum südlichen Dithmarsischen und Holsteinischen im Elberaum, Pühn (1956) zum Ostholsteinischen und Heigener (1937) zur Region Lauenburg dokumentiert. Knappe Einblicke in den aktuellen Dialektstand geben die Hefte der Reihe Niederdeutsche Formenlehre (Graf 2007 zum Ostholsteinischen, Jensen 2007 und 2009 zum Schleswigisch-Nordfriesischen, Jensen 2011 zum Dithmarsischen) sowie die Karten aus dem Projekt Plattdüütsch hüüt. Das Schleswigische ist vom Holsteinischen durch mehrere Isoglossen getrennt, die bei Braak (1956) anschaulich dargestellt werden. Auf lautlicher Ebene gilt die spirantische Realisierung des an- und inlautenden g als typisches Merkmal der schleswigischen Dialekte (Chechend ‘Gegend’, das Holsteinische hat hier den Plosiv). Andere Merkmale sind nur in Teilräumen des Schleswigischen verbreitet, etwa in Angeln der Gebrauch der ungerundeten Vokale bei den Verbformen bin, bist, sind (sonst bün, büst, sünd). Die westschleswigischen Dialekte sind durch das Nordfriesische beeinflusst. Das Ostholsteinische weist traditionell in einigen Regionen eine Diphthongierung von wgerm. ô zu au auf (Kauken ‘Kuchen’, zentralholst. Koken/Kouken) und schließt damit an das Mecklenburgische an. Für das Dithmarsische gelten Merkmale wie der intervokalische Dentalausfall (rien < riden ‘reiten’) bzw. der Ersatz des Dentals durch einen Liquid (weller/werrer ‘wieder’) sowie die Realisierung der Derivationssuffixe -ig und -lich und der Negationspartikel nicht mit vokalischem Auslaut (seli ‘selig’, gruli ‘greulich’, ni) als typisch. Die Dialektregionen des Nordhannoverschen (auch als „Nordniedersächsisch“ oder „Nordniederdeutsch im engeren Sinne“ bezeichnet), des ostfriesischen Niederdeutschen, Oldenburgischen und Emsländischen werden durch das Niedersächsische Wörterbuch erfasst (Jungandreas et al. 1965 ff.), der Dialekt von Hamburg (meist ebenfalls zum Nordhannoverschen gerechnet) durch das Hamburgische Wörterbuch (Kuhn et al. 1985−2006). Für die Einzeldialekte wie das ostfriesische Niederdeutsch (Ten Doornkaat Koolmann 1879−1884; Buurman 1962−1975; De Vries et al. 2000), das Emsländische (Schmidt 1998) und Oldenburgische (Böning 1998) liegen auch regionale Wörterbücher vor. Darüber hinaus führt die Bibliografie von Wiesinger & Raffin (1982) für die vier Regionen etwa ein Dutzend größere Orts- und Gebietsgrammatiken an, fast alle aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (z. B. Nordhannoversch: Feyer 1941 und Bollmann 1942; Ostfriesisch: Janßen 1937; Oldenburgisch: Mews 1971; Emsländisch: Schönhoff 1908). Die Dichte an grammatischen Beschreibungen ist für diese Dialekträume deutlich geringer als für das Ostfälische und Westfälische. Hervorzuheben ist ein von Dieter Stellmacher geleitetes Projekt zur Phonologie der niedersächsischen Dialekte, beruhend auf Sprachaufnahmen, die von 1978 bis 1983 mit 158 Gewährspersonen in 79 Untersuchungsorten des nordniederdeutschen und ostfälischen Raumes (bezogen auf das Bundesland Niedersachsen) durchgeführt wurden (Appel 1993). Im Unterschied zu den traditionellen Dialektgrammatiken ging es hierbei vor allem darum, die regionalen Phonemsysteme zu rekonstruieren. Als Stimulus dienten 22 verkürzte Wenkersätze und 619 Einzelwörter. Eine ausführliche Analyse dieses Materials führte Appel (1994) für den Bereich des Konsonantismus (im Anlaut) durch, wobei er neun unterschiedliche Phonemsysteme rekonstruierte (Karte in Appel 1993: 186). Die dabei entstandenen Karten dokumentieren mithilfe komplexer Symbole (Tortendiagramme) auch Auftretenshäufigkeiten verschiedener allophonischer Varianten.
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Als kennzeichnendes Merkmal des Nordhannoverschen wird in der Literatur vor allem das Pronomen jüm ‘ihnen’ angeführt (gegenüber ostfries. hör, oldenb. se, holst. jem) sowie eine starke Tendenz zur Vokalrundung (güstern ‘gestern’, jümmer ‘immer’), die sich allerdings auch im Holsteinischen feststellen lässt. Das ostfriesische Niederdeutsch weist einige der für die „Kolonialgebiete“ typischen Merkmale auf, wie den Einheitsplural auf -en (s. o. Kap. 1.) und die Pronominalform uns (statt us). Es ist zudem durch friesische Substrateinflüsse geprägt, was u. a. an den h-anlautenden Pronomen (hör ‘ihnen, ihr, sie’, hum ‘ihm, ihn’) erkennbar ist (Scheuermann 2001). Im Wortschatz fällt ein starker niederländischer Einfluss auf (butendien ‘außerdem’, dadelk ‘in der Tat’). Letzteres gilt auch für das Emsländische, wo sich die niederländischen Einflüsse teilweise auch auf die Lautung erstrecken (wi bünt ‘wir sind’ statt wi sünd). Das Oldenburgische entspricht nach Sanders (1982: 85) „dem allgemeinen nordniederdeutschen Sprachtyp“. Stellmacher (2000: 134) nennt einige Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem ostfriesischen Niederdeutschen (oldenb. kem ‘kam’ vs. ostfries. kwem/kwam, oldenb. er ‘ihnen’ vs. ostfries. hör) und dem Nordhannoverschen (oldenb. kopen ‘kaufen’ vs. nordhann. köpen, oldenb. moot ‘muss’ vs. nordhann. mutt). Der dem nordniederdeutschen Dialektraum anrainende Teil des Nedersaksischen wird vor allem in den niederländischen Provinzen Groningen und Drente (nördlicher Teil) gesprochen. Aufgrund des wachsenden Einflusses der niederländischen Standardsprache auf die Dialekte dieser Region kann Nedersaksisch heute sprachsystematisch als ostniederländisches Dialektgebiet klassifiziert werden (s. u. Kap. 3.1.3.). Die Forschungslage zum Nedersaksischen ist deutlich günstiger als die zu den nordniederdeutschen Dialekten in Deutschland. So gibt es zum Groningischen (inkl. Nord-Drente) u. a. einen Dialektatlas (Sassen 1967), mehrere Wörterbücher (Ter Laan 1952; Kocks 1996−2000) und ein 1137seitiges sprachgeschichtliches Handbuch (Reker 2016). Einen Überblick über die wichtigsten Sprachmerkmale der nedersaksischen Varietäten mit zahlreichen Karten und Literaturhinweisen gibt das Handboek Nedersaksische taal- en letterkunde (Bloemhoff et al. 2008).
3.1.2. Areale Strukturen im Ostfälischen Einen Überblick über die Kultur, Sprache und Geschichte des ostfälischen Raumes gibt der Band von Föllner, Luther & Stellmacher (2015). Die ostfälischen Dialekte werden vor allem durch das Niedersächsische Wörterbuch (Jungandreas et al. 1965 ff.) abgedeckt, das Elbostfälische wird durch das Mittelelbische Wörterbuch (Bischoff & Kettmann 2002 ff.) mit erfasst. Daneben existieren einige kleinregionale und Ortswörterbücher (Wrede 1960; Zilz 2010) sowie überwiegend ältere Gebiets- (Pahl 1943; Schütze 1953) und Ortsgrammatiken (Löfstedt 1933; Dahlberg 1934/1937). Eine Besonderheit stellt wegen seines Umfangs und seiner Anschaulichkeit der Atlas der Celler Mundart (Mehlem 1967) dar. Dieser Dialektatlas enthält zum einen 75 „Umrißkarten“, die auf der Grundlage der Wenkerdaten von 1879−1887 gezeichnet wurden und den Raum zwischen Hamburg im Norden, Kassel im Süden, Bielefeld im Westen und Magdeburg im Osten erfassen (Mehlem 1967: 1). Daneben wird auf 105 kleinräumigeren Karten die lautliche Variation im Landkreis Celle dokumentiert, basierend auf einer in den 1940er Jahren durchgeführten, direkten Erhebung. Einige neuere, strukturalistisch ausgerichtete Karten zu den Sprachverhältnissen im ostfälischen Raum entstanden im Rahmen des oben genannten Projekts zur Phonologie der niedersächsischen Dialekte (s. o. Kap. 3.1.1.).
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch
Durch seine Lage am Südrand des niederdeutschen Sprachraums hat das Ostfälische starke Affinitäten zu den angrenzenden mitteldeutschen Dialekten und wirkt im Vergleich zum Nordniederdeutschen mit seinen lautlich stark reduzierten Formen deutlich „hochdeutscher“ (Stellmacher 2000: 124). Auffällig sind in diesem Zusammenhang zunächst die Parallelen in der silbischen Wortstruktur. Die Wörter weisen im Ostfälischen wie im Hochdeutschen oftmals eine Kombination von Haupttonsilbe + Nebentonsilbe auf, wie in dem Beispielsatz (leicht modifiziert nach Blume 1980: 320) Hai har|re Käu|e un Pä|re for si|nen Brau|der e|kofft (mit 15 Silben, entsprechend hochdeutsch Er hat|te Kü|he und Pfer|de für sei|nen Bru|der ge|kauft), während im Nordniederdeutschen wegen der starken Apokopierungen und des Präfixschwunds häufig einsilbige Formen gebraucht werden (mit 9 Silben: He harr Köh un Peer för sin Broor kofft). Beim Partizip II gilt insbesondere die Form mit dem Präfix e- als typisch ostfälisch, eine Übergangsform zwischen dem hochdeutschen Präfix ge- und den präfixlosen Formen des Nordniederdeutschen. Ein weiteres Charakteristikum des Ostfälischen, das ebenfalls eine Analogie zu hochdeutschen Sprachmustern erkennen lässt, ist die Realisierung von ‘mir/mich’ und ‘dir/dich’ mit konsonantischem Auslaut (mik, dik bzw. mek, dek), im Unterschied zu den vokalisch auslautenden Pronominalformen mi, di im Nordniederdeutschen. Typisch niederdeutsch ist hierbei allerdings der pronominale Einheitskasus (mik/dik werden sowohl akkusativisch als auch dativisch gebraucht). Im Vokalismus gilt der Gebrauch von Kurzvokalen in offener Silbe (z. B. bei Wörtern mit auslautendem -er, -el, -ich) als besonders typisch, im Unterschied zu tonlangen Vokalen im Nordniederdeutschen (ostfäl. Pepper ‘Pfeffer’, Kettel ‘Kessel’, Könnich ‘König’ vs. nordndt. Peper, Ketel, Könich; Beispiele nach Stellmacher 2000: 125, zur Genese dieses Phänomens vgl. Flechsig 1980). Innerhalb des Ostfälischen werden meist vier Teilregionen unterschieden (Göttingisch-Grubenhagensch, Kern-Ostfälisch, Heide-Ostfälisch, Elbostfälisch), deren Kennmerkmale bei Stellmacher (2000: 124−130) anhand von Beispielen illustriert werden. Eine Überblickskarte bietet Foerste (1957: 1849−1850). Auch die bei Mehlem (1967) abgedruckten „Umrißkarten“ beziehen sich auf den gesamtostfälischen Raum und geben einen detaillierten Einblick in die Gliederung dieser Sprachlandschaft (z. B. die Karte zum Pronomen di/dick/deck auf S. 311 und zu perd/päre ‘Pferde’ [Dat. Sg.] auf S. 303).
3.1.3. Areale Strukturen im Westfälischen Das Westfälische gilt als besonders konservativer Dialekt, der viele Merkmale aus älteren Entwicklungsstufen des Niederdeutschen bewahrt hat. Hierzu zählt im Konsonantismus die Bewahrung der Konsonantenfolge sk, die sich in den übrigen niederdeutschen Dialekten im Allgemeinen zu dem vorderen Frikativ [ʃ] entwickelt hat (westfäl. Disk ‘Tisch’, Flaske ‘Flasche’ vs. nordndt. Disch, Flasch), die spirantische Realisierung des anlautenden g (westfäl. [xraʊt] ‘groß’ vs. nordndt. [ɡro:t]), die stimmlose Aussprache von anlautendem s (westfäl. [ˈsεɡən] ‘sagen’ vs. nordndt. [ˈzεɡən]) und der Gebrauch von g oder w zur Hiattilgung (westfäl. schreggen ‘schreien’, bowwen ‘bauen’ vs. nordndt. schreen, boen/buen). Im Vokalismus können die erhaltenen Kürzen- oder Brechungsdiphthonge als Relikte einer älteren Entwicklungsstufe betrachtet werden, während sich nach Wortmann (1970: 350−351) in den anderen niederdeutschen Dialektregionen tonlange Vokale daraus entwickelt haben (westfäl. Biäke ‘Bach’, Vuegel ‘Vogel’ vs. nordndt. Beke, Vagel). Auf einen älteren Sprachstand verweist auch die im Westfälischen erhaltene Differenzie-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
rung von altlangem und tonlangem a, gegenüber sonst verbreitetem Lautzusammenfall (westfäl. [mɔ:l] ‘Mal’ ≠ [bəˈta:lən] ‘bezahlen’ vs. nordndt. [mɔ:l] = [bəˈtɔ:lən]). Dokumentiert sind die westfälischen Dialekte im Westfälischen Wörterbuch (Kommission für Mundart- und Namenforschung … 1969 ff.) und zahlreichen regionalen und lokalen Wörterbüchern (vgl. die Bibliographie westfälischer Dialektwörterbücher), in mehr als einem Dutzend Gebietsgrammatiken (z. B. Herdemann [1921] 2006 und Kremer 2018 zum Westmünsterländischen; Denkler 2017 zum Münsterländischen; Brandes 2013 zum Südwestfälischen; Brand 1914 zum Ostwestfälischen) und Ortsgrammatiken (z. B. Kaumann 1884 zu Münster; Holthausen 1886 zu Soest; Wix 1921 zu Gütersloh). Einige der Grammatiken enthalten auch umfangreicheres Kartenmaterial (Herdemann [1921] 2006: 77 Karten; Borchert 1955: 75 Karten; Frebel 1957: 68 Karten; Eggert [1921] 2015: 67 Karten; Brandes 2013: 63 Karten). Höreindrücke der westfälischen Mundartlautungen vermittelt der Interaktive Atlas des westfälischen Platt. Die Binnengliederung des westfälischen Sprachraums erfolgt primär anhand von Differenzen in den Langvokalsystemen, wobei die Teilräume je nach Variable unterschiedliche Koalitionen eingehen (die folgenden Beispiele nach Stellmacher 2000: 116). Während z. B. das Münsterländische bei der Realisierung des Langvokals aus wgerm. ō mit dem Westmünsterländischen zusammengeht (Foot ‘Fuß’) und sich vom Ostwestfälischen absetzt (Fout), geht es bei der Realisierung des Kontinuanten aus wgerm. au mit dem Ostwestfälischen zusammen (Braut ‘Brot’) und steht im Kontrast zum Westmünsterländischen (Broot). Im palatalen Bereich gibt es eine Übereinstimmung des Münsterländischen mit dem Ostwestfälischen beim Umlaut von langem ā (Kaise ‘Käse’, gegenüber Keese im Westmünsterländischen/Südwestfälischen), während es bei dem wgerm. ē/eo entsprechenden Vokal mit dem Südwestfälischen zusammengeht (münsterl./südwestfäl. daip vs. ostwestfäl. däip vs. westmünsterl. deep). Die Gliederung des Westfälischen lässt sich anhand der Sprachkarte auf der Webseite der Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens nachvollziehen (vgl. Mundartregionen Westfalens). Ein mit dem Westfälischen verwandter, dem Nedersaksischen zugeordneter Dialekt wird im Süden der niederländischen Provinz Drente, in Stellingwerven (Provinz Friesland), in der Provinz Overijssel sowie in den Regionen Veluwe und Achterhoek (Provinz Gelderland) gesprochen. Für eine Fallstudie zum Phänomen der westfälischen Brechung (= Kürzendiphthonge) in den ostniederländischen Dialekten vgl. Bloemhoff (2009). Zu den komplexen sprachlichen Strukturen der nedersaksischen Varietäten liegen eine Reihe von Publikationen vor. Zwei Sprachatlanten dokumentieren die dialektale Variation in den Provinzen (Süd-)Drente, Overijssel und Gelderland (Entjes & Hol 1973; Entjes 1982). Die Einzeldialekte werden im Handbuch von Bloemhoff et al. (2008) und in den Bänden der Reihe Taal in stad en land beschrieben (Drents: Bloemhoff & Nijkeuter 2004; Stellingwerfs: Bloemhoff 2002; Sallands, Twents und Achterhoeks: Twilhaar 2003; online verfügbar unter ). In jüngerer Zeit entwickeln sich die Dialekte entlang der Grenze allerdings unter dem Einfluss der jeweiligen Standardsprachen so stark auseinander (Smits 2011), dass einige Forscher mittlerweile den Begriff „Nedersaksisch“ vermeiden und die Bezeichnung „Ostniederländisch“ bevorzugen.
3.1.4. Areale Strukturen im Nordrheinmaasländischen Das Rheinmaasländische befindet sich an der Grenze der drei sprachlichen Großräume, die heute als Niederländisch, Niederdeutsch und Hochdeutsch bezeichnet werden. Daher
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch
ist es nicht verwunderlich, dass der westliche (limburgische) Teil dieses Dialektgebiets häufig dem Niederländischen zugeschlagen wird, während die östlichen, am deutschen Niederrhein gesprochenen Dialekte als westlichste Dialektregion des Niederdeutschen oder als nördlichster Ausläufer des mittelfränkischen Dialektverbundes klassifiziert wurden. Der Begriff Rheinmaasländisch impliziert dagegen eine grenzüberschreitende Perspektive, die angesichts der bis in die jüngste Zeit noch erhaltenen Übereinstimmungen der Dialekte beiderseits der niederländisch-deutschen Grenze angemessener erscheint. Im vorliegenden Kontext wird, anknüpfend an das Konzept einer „westdeutschen“ Sprachlandschaft (s. o. Einleitung), nur die Nordhälfte des Rheinmaasländischen als Teil des westniederdeutschen Sprachgebietes betrachtet, während das Südrheinmaasländische wegen seiner starken Bezüge zum Ripuarischen in Schmidt & Möller (Art. 16 in diesem Band) mitbehandelt wird (dort traditionell als „Südniederfränkisch“ bezeichnet). Die traditionell als „Kleverländisch“ bezeichneten Dialekte im Osten des nordrheinmaasländischen Raums werden zusammen mit den übrigen Dialekten im Gebiet der ehemaligen Preußischen Rheinprovinz im Rheinischen Wörterbuch (Müller et al. 1928− 1971) erfasst; einen Überblick über Kleinraum- und Ortswörterbücher gibt die Bibliografie von Schmitt (1988). Die nordlimburgischen Dialekte westlich der Grenze sind (zusammen mit den anderen limburgischen Mundarten) in dem 39 Lieferungen umfassenden Woordenboek van de Limburgse dialecten (Weijnen et al. 1983−2008) beschrieben. Eine umfangreiche und recht aktuelle Übersicht der limburgischen Mundartwörterbücher ist online verfügbar (vgl. Overzicht van Limburgse dialectwoordenboeken). Sprachkarten zum westlichen Teil des Nordrheinmaasländischen finden sich in dem Dialektatlas von Hol & Passage (1966). Auch in dem niederländischen Lautatlas Fonologische Atlas van de Nederlandse Dialecten (FAND) (Goossens et al. 1998−2005) ist der limburgische Sprachraum mit enthalten. Eine Überblickskarte zur rheinmaasländischen Dialektlandschaft bietet Hantsche (1999: 66, nach Mihm 1992). Typische Merkmale der nordrheinmaasländischen Dialekte in Abgrenzung zum östlich anschließenden Westfälischen sind im Vokalismus z. B. die geschlossene Qualität von wgerm. ê/eo und ô (diep ‘tief ’, Kuuk ‘Kuchen’ vs. westfäl. deep/daip, Koken/Kauken), die Senkung von i und u vor Nasal und Konsonant (senge ‘singen’, hondert ‘hundert’ vs. westfäl. singen, hunnert) und häufige Umlautformen (Hüs ‘Haus’ vs. westfäl. Huus). Im Bereich der Flexion sind vor allem der Erhalt des ge-Präfixes beim Partizip II (gebracht vs. westfäl. bracht) und die Differenzierung der Personalendungen (1., 2., 3. Ps.) beim Verbalplural (-en, -t, -en vs. westfäl. Einheitsplural auf -t) auffällig. Gegenüber dem Südrheinmaasländischen ist das Nordrheinmaasländische durch den Erhalt des unverschobenen k in ik ‘ich’ gekennzeichnet (vs. südrhml. ich/ech). Darüber hinaus wird das anlautende g in der Regel als Plosiv realisiert, im Unterschied zur jAussprache im Südrheinmaasländischen (Gott vs. südrhml. Jott), und die Konsonantenverbindung nd wird nicht velarisiert (Kender ‘Kinder’ vs. südrhml. Kenger ‘Kinder’).
3.2. Dialektale Morpho-Syntax innerhalb des westniederdeutschen Raumes Die Flexionsmorphologie und vor allem die Syntax sind in der traditionellen Dialektologie weitaus weniger intensiv untersucht worden als die Lautung. Dies zeigen z. B. die der Bibliografie von Wiesinger & Raffin (1982) beigegebenen Übersichtskarten. So sind
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II. Die Sprachräume des Deutschen
auf Karte 4 für den gesamten westniederdeutschen Raum nur neun Dialektgrammatiken angeführt, die einen ausführlicheren Syntaxteil enthalten, und in der Bibliografie selbst entfallen von den 676 Einträgen in den Kategorien „Niederdeutsche Dialekte: Allgemeines …“, „Westfälisch“, „Ostfälisch“, „Nordniederdeutsch“ und „Niederfränkisch“ nur 4 % auf die Satzlehre (27 Titel), dagegen 46 % auf die Lautlehre/Phonologie (313 Titel). Auch Sprachatlanten zur Morphologie und Syntax der westniederdeutschen Dialekte liegen bislang nicht vor. Der westliche Teil des Rheinmaasländischen wird allerdings in den niederländischen Atlanten Morfologische Atlas van de Nederlandse Dialecten (MAND) (De Schutter 2005−2008) und Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten (SAND) (Barbiers 2005−2008) mit erfasst. Die rheinmaasländischen Gebiete beiderseits der Grenze behandelt der Fränkische Sprachatlas (Goossens 1981−2002). Im Folgenden soll zunächst am Beispiel einer einzigen Großregion (Schleswig-Holstein) exemplarisch dargestellt werden, inwieweit morphologische und syntaktische Phänomene überhaupt raumbildend wirksam sind und wie sich der Faktor Sprachkontakt dabei auswirkt. Anschließend wird auf drei jüngere Fallstudien eingegangen, die sich auf Grundlage unterschiedlicher methodischer Ansätze mit der Syntax westniederdeutscher Dialekte beschäftigen. Eine Dialektgrammatik, die den Bereich der Flexion und Syntax vergleichsweise gründlich behandelt, hat Bock (1933) für den schleswigischen und nordholsteinischen Raum vorgelegt. Auf fünf Karten (Bock 1933: 316−318) wird die Verbreitung des schleswigischen Verbalplurals auf -en gegenüber holst. -t dokumentiert. Dabei zeigt sich, dass die areale Reichweite der Pluralendungen lexemspezifisch variiert; so reicht die Grenze des holst. t-Plurals bei dem Modalverb ‘müssen’ (ji mööt) einige Kilometer weiter nach Norden als bei den Vollverben ‘kneifen’ und ‘kaufen’ (ji kniept, wi kööpt). Anhand des Verbs ‘haben’ weist Bock nach, dass die Grenze auch von der Personalform abhängt; die Grenze für die 1. Ps. Pl. (wi hebbt) verläuft südlicher als die Grenze für die 2. und 3. Ps. (ji/se hebbt). Im Vergleich mit einem anderen morphologischen Merkmal, der schleswigischen Artikelform de beim Akk. Sg. maskuliner Substantive gegenüber holst. den (de Mann vs. den Mann), wird schließlich deutlich, dass die Sprachlinien, die traditionell zur Abgrenzung der beiden Dialekträume herangezogen werden, teilweise weit auseinanderlaufen, denn die holsteinische Variante den ist nur im äußersten Süden des Untersuchungsgebietes in Gebrauch (Bock 1933: 322). Bocks Ergebnisse führen letztlich zur Konstatierung von Übergangszonen, wie sie erst einige Jahrzehnte später von Wiesinger (1983) systematisch angesetzt und kartiert werden. Im Vergleich mit aktuellen Dialekterhebungen kann zudem eine diachrone Dynamik dieser Sprachgrenzen nachgewiesen werden (s. u. Kap. 4.1.2.). Bocks Arbeit ist aus heutiger Perspektive auch insofern aufschlussreich, als er sprachkontaktbedingten Phänomenen besondere Aufmerksamkeit schenkt. Ein für die schleswigischen Dialekte typisches syntaktisches Merkmal, das auf Einflüsse aus dem jütischen Dialekt zurückgeht, ist der Gebrauch einer durch un ‘und’ eingeleiteten Konstruktion, der im Niederdeutschen und Hochdeutschen sonst üblicherweise ein erweiterter Infinitiv entspricht (Dat nützt wenig un sitten un laten it Kopp hangen ‘Es nützt wenig, zu sitzen und den Kopf hängen zu lassen’; vgl. Karte in Bock 1933: 324, Abb. 24; Beschreibung mit Beispielen Bock 1933: 96−100 u. 183−185). Ebenfalls als jütische bzw. dänische Interferenzen beschreibt Bock (1933: 104−107) die im schleswigischen Dialekt mögliche Weglassung des Relativpronomens bzw. der Subjunktion in Kombination mit einer vom nordniederdeutschen Standard abweichenden Wortstellung (dat beste, he kun doon ‘das beste, was er tun konnte’; Ik glööf nich, he kummt vundag ‘Ich glaube nicht, dass er heute kommt’). An der Westküste Schleswig-
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Holsteins lassen sich einige grammatische Formen auf Sprachkontakte mit dem Friesischen zurückführen, etwa beim Personalpronomen der 2. Ps. Pl. (jem/jim/jüm ‘ihr, euch’ gegenüber ji/ju im Osten). Im Ostholsteinischen, vor allem in der Probstei, deuten konsonantisch auslautende Pronominalformen für ‘mir, mich’ (mik, dik statt sonst üblichem mi, di) auf alte ostfälische Einflüsse hin. Die wenigen frühen Arbeiten zur niederdeutschen Syntax beziehen sich auf Ortsdialekte oder kleinere Dialektregionen. Erst in jüngerer Zeit sind ausgewählte syntaktische Muster über größere Areale hinweg untersucht worden, unter Anwendung verschiedener Untersuchungsverfahren. Berg (2013) beschäftigt sich in seiner Studie zur Morphosyntax nominaler Einheiten im Niederdeutschen u. a. mit der arealen Varianz bei der niederdeutschen Kasusflexion (Ik häbb dat lüttke Kind/den lüttken Kind holpen ‘Ich habe dem kleinen Kind geholfen’), beim Prädikatsnomen (Dat is ’n groten Oss/Ossen ‘Das ist ein großer Ochse’), bei der Abfolge von Nominalphrasen (… dat ik dat Book ’n gauen Fründ geven hebb/… dat ik ’n gauen Fründ dat Book geven hebb ‘dass ich das Buch einem guten Freund gegeben habe’) und pronominalen Objekten (Ik gäw sei di morgen/Ik gäw di sei morgen ‘Ich gebe sie dir morgen’), beim Passiv (He wurd holpen/Em wurd holpen ‘Ihm wurde geholfen’) und bei den Pronominaladverbien (Dorin dau ik dat ganze Äten/ Dor dau ik dat ganze Äten in ‘Da hinein tue ich das ganze Essen’). Innovativ ist die Studie insofern, als sie, anders als frühere Arbeiten (Rohdenburg 1993; Appel 2007), ein Korpus mit Aufnahmen von gesprochenem Niederdeutsch zugrunde legt, ergänzt durch Befunde aus schriftlichen Akzeptabilitätstests. Verglichen werden Daten aus drei Orten, die jeweils einem der westniederdeutschen Dialektgebiete zugeordnet sind (Nordniederdeutsch: Emstek, Ostfälisch: Lindhorst, Westfälisch: Bad Laer). In einer vergleichbaren Studie untersucht Weber (2017) den aktuellen Gebrauch der doon-Periphrase im Niederdeutschen (in Verbletztposition [VL]: Wenn Schnee liggen deiht ‘wenn Schnee liegen tut’; in Verbzweitposition [V2]: Hüüt deit Schnee liggen ‘Heute tut Schnee liegen’) anhand eines Korpus gesprochener Sprache (27 Gespräche) und ergänzender Fragebogendaten (87 Fragebögen) in den westniederdeutschen Regionen und im Brandenburgischen. Dabei stellt er fest, dass im gesamten Gesprächskorpus nur 45 Belege für doon-Umschreibungen auftreten, von denen 80 % auf die nordniederdeutschen Dialekte des Oldenburgischen und Nordhannoverschen entfallen (36 Belege), 18 % (7 Belege) auf das Brandenburgische, 2 % (1 Beleg) auf das Ostfälische und kein Beleg auf das Westfälische. Das Phänomen kommt also vor allem in zwei nordniederdeutschen Regionen vor, die noch als besonders dialektstark gelten. Weber vergleicht diese Daten mit 889 älteren Sprachaufnahmen aus dem Zwirner-Korpus (1955−1972), dem DDR-Korpus (1960−1964) und dem Korpus Tonaufnahmen der Vertriebenenmundarten (TAVM, 1962−1965). Hier zeigt sich zwar insgesamt eine deutlich höhere Frequenz an doon-Periphrasen (2371 Belege; im Schnitt enthalten 59 % aller Aufnahmen mindestens einen Periphrasebeleg), zugleich zeichnet sich aber hier schon eine regionale Abstufung ab. Während im Nordniederdeutschen 74 % aller Aufnahmen eine doon-Periphrase enthalten, sind es im Ostfälischen nur 51 % und im Westfälischen nur 27 %. Noch aufschlussreicher ist die areale Verteilung der VL- und V2-Konstruktion, die Weber (im Anschluss an eine Studie von Keseling 1968) erstmals auf der Grundlage eines umfangreichen Korpus gesprochener Sprache nachweist. Während die doon-Periphrase im nordniederdeutschen und ostfälischen Raum vorwiegend in Verbletztsätzen (Nebensätzen) auftritt (jeweils zu mehr als 90 %), dominieren im westfälischen Raum die Belege für die Verbzweitstellung (ca. 65 %).
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Durch die Online-Bereitstellung der großen Dialektkorpora in der Datenbank für gesprochenes Deutsch (DGD2, Mannheim) sowie der 1668 Karten des Sprachatlas des Deutschen Reichs und der rund 50.000 Wenkerfragebögen über REDE (Marburg) ist der Aufwand für quantitative Analysen älterer Dialektbefunde erheblich verringert worden. Dementsprechend greifen auch andere Studien der letzten Jahre auf diese Sprachdaten zurück. Ein Beispiel bietet die Untersuchung von Fleischer (2012) zur Reihenfolge zweier pronominaler Objekte im Wenkersatz Nr. 9 („Ich bin bei der Frau gewesen und habe es ihr gesagt, und sie sagte, sie wollte es auch ihrer Tochter sagen“), die anhand von 6342 Wenkerbögen aus dem niederdeutschen Raum untersucht wird. Fleischer stellt fest, dass für die Pronomenfolge ‘es ihr’ in den Dialektübersetzungen vor allem drei Muster frequent vorkommen: (1) ‘es ihr’ (ndt. et er) mit 44,5 % aller Belege, (2) ‘ihr das’ (ndt. er dat) mit 33,2 % und (3) ‘ihr es’ (ndt. er et) mit 9,8 %. Innerhalb des westniederdeutschen Raums weisen diese syntaktischen Varianten eine areale Verteilung auf: Im Holsteinischen und Dithmarsischen ist vor allem Stellungsvariante (2) belegt, im ostfriesischen Niederdeutsch Variante (3) und in den übrigen Dialekten (Schleswigisch, Nordhannoversch, Ostfälisch, Westfälisch, Oldenburgisch, Emsländisch) Variante (1). Die Auswertung zeigt zugleich, dass die in Variante (2) auftretende Ersetzung des Pronomens ‘es’ durch das Demonstrativum ‘das’ besonders für den holsteinischen und dithmarsischen Raum (und innerhalb des Ostniederdeutschen auch für das nördliche Mecklenburgische) charakteristisch ist, während sie in den übrigen Regionen kaum eine Rolle spielt. Die Untersuchung macht deutlich, dass das Wenkerkorpus auch mehr als 130 Jahre nach seiner Entstehung geeignet ist, neue Erkenntnisse über die areale Strukturiertheit des Niederdeutschen zu generieren.
4. Sprachdynamik Die westniederdeutschen Dialekte sind, wie alle Varietäten, einem stetigen Wandel unterworfen. Innerdialektale Veränderungen, interdialektale Ausgleichsprozesse oder Verschiebungen im Varietätenspektrum hat es sicherlich schon seit dem Mittelalter gegeben. Mit der Verbreitung der neuen Kommunikationsmedien Rundfunk (seit 1923), Fernsehen (seit 1935/1952) und World Wide Web (seit 1989) hat der Einfluss des Hochdeutschen auf die Dialekte deutlich zugenommen. Im Folgenden werden die sprachdynamischen Prozesse im norddeutschen Raum und deren Resultate auf drei Ebenen behandelt: a) Entwicklung der Basisdialekte, b) Entwicklung, Eigenschaften und Verbreitung der Regiolekte, c) Charakteristika der in Norddeutschland gesprochenen Standardsprache.
4.1. Entwicklung der westniederdeutschen Basisdialekte In den traditionellen Dialektgrammatiken werden diachrone Veränderungen zwar immer wieder thematisiert (s. u. Kap. 4.1.3.), aber nicht systematisch erforscht. Denn aus Sicht der klassischen Dialektgeografie sollte es primär darum gehen, die Struktur und areale Verteilung der ältesten noch ermittelbaren Basisdialekte der bäuerlichen Bevölkerung zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund wurden Neuerungen tendenziell als Störfaktoren
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eingestuft. Erst in jüngerer Zeit wurden größere Anstrengungen unternommen, den dialektalen Wandel auf der Basis größerer Korpora genauer zu erfassen. Methodisch bieten sich dafür zwei Möglichkeiten: Real-Time- und Apparent-Time-Analysen. In Real-TimeAnalysen wird der Sprachstand zu verschiedenen Zeitpunkten erhoben und miteinander verglichen, wobei auf unterschiedliche Entwicklungsphasen der niederdeutschen Sprachgeschichte Bezug genommen werden kann. In einer langzeitdiachronischen Perspektive kann der Stand der rezenten niederdeutschen Dialekte mit dem der mittelniederdeutschen (bis 1600) oder frühneuniederdeutschen Zeit (ca. 1600−1800) verglichen werden (zu den Vor- und Nachteilen dieses Vorgehens s. o. Kap. 2.). Für das späte 19. Jahrhundert liegt mit den Wenkerbögen erstmals ein großes Vergleichskorpus für den gesamten deutschsprachigen Raum vor. Es vermittelt systematische Einblicke in die Laut- und Formensysteme, bietet aber wegen der indirekten Erhebungsmethode in manchen Bereichen nur begrenzte Erkenntnismöglichkeiten. Einige phonetische Unterschiede, etwa der Öffnungsgrad der Vokale ([o:] vs. [ɔ:]) oder der Sonoritätsgrad von Konsonanten ([s] vs. [z]) lassen sich aus der Schriftform kaum rekonstruieren. Auch sind syntaktische Untersuchungen nur in engen Grenzen möglich, da die Satzstruktur durch den hochdeutschen Stimulussatz bereits vorgegeben ist. Zudem sind einige relevante Variablen in den Wenkersätzen nicht enthalten. Da dort z. B. kein Wort mit -lich vorkommt, lässt sich die für das Dithmarsische typische Variante -li nicht erfassen. Hier kann ein punktueller Rückgriff auf belletristische Texte weiterhelfen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wohl infolge des großen kommerziellen Erfolgs von Autoren wie Klaus Groth, Fritz Reuter oder John Brinckman, in allen niederdeutschen Regionen produziert wurden. Neben den Wenkerbögen können auch die Fragebögen des NWA-Projekts von 1950/ 1965 ausgewertet werden (s. o. Kap. 2.). Ähnlich wie die schriftlichen Korpora bieten auch die historischen Tondokumente einige Auswertungsmöglichkeiten, die bislang noch kaum genutzt wurden. Während das Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten (1936−1937) wegen der geringen Ortsdichte und der Kürze und mangelnden Spontanität mancher Aufnahmen nur eingeschränkt auswertbar ist, wird durch das Zwirner-Korpus (1955−1972) der gesamte westniederdeutsche Raum mit einem recht dichten Netz qualitativ hochwertiger Aufnahmen abgedeckt. Die Aussagekraft dieses Korpus hat neuerdings Weber (2017) mit seiner Studie belegt (s. o. Kap. 3.2.). Für eine Rekonstruktion des älteren Sprachstandes der westniederdeutschen Dialekte könnten auch die 34 Schallplatten aus der Reihe Niederdeutsche Stimmen (1965−1972) mit Lesungen niederdeutscher Dialekttexte genutzt werden sowie weitere Sprachaufnahmen, die über REDE verfügbar sind (z. B. etwa 3.500 Aufnahmen gesprochener Wenkersätze). Wünschenswert wäre eine zentrale Digitalisierung, Aufbereitung und langfristige Sicherung der verstreuten Sammlungen von Dialektaufnahmen aus verschiedenen westniederdeutschen Regionen, die an Universitätsinstituten oder bei den Wörterbuchstellen aufbewahrt werden. Im Falle von Apparent-Time-Analysen wird auf Grundlage von Neuerhebungen der Sprachgebrauch von Angehörigen unterschiedlicher Generationen miteinander verglichen. Das Verfahren hat sich bereits in mehreren Untersuchungen westniederdeutscher Dialekte als geeignet erwiesen, um Wandelprozesse der letzten Jahrzehnte auf phonetischer Ebene zu erschließen (für Schleswig-Holstein z. B. Wilcken 2013; Kehrein 2012). Grundsätzlich ist mit verschiedenen Ursachen und Formen des dialektalen Wandels zu rechnen. Neben dem internen, ungesteuerten Systemwandel können der interregionale Ausgleich zwischen benachbarten Dialekten und die Orientierung an den standarddeut-
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schen Normen zu Dialektveränderungen führen, aber es sind auch Tendenzen einer Abgrenzung (Dissimilation) gegenüber dem Hochdeutschen und neuerdings auch gezielte sprachpolitische Maßnahmen zur Standardisierung der niederdeutschen Dialekte festzustellen.
4.1.1. Interner, ungesteuerter Systemwandel Langfristige Wandelprozesse in den westniederdeutschen Dialekten sind in der Forschung schon früh herausgearbeitet worden, indem der Sprachstand, wie er sich aus der mittelniederdeutschen oder frühneuniederdeutschen Überlieferung rekonstruieren lässt, mit aktuellen Dialektbefunden abgeglichen wurde (Sarauw 1921−1924; Lasch 1920). Hierzu zählen neben lautlichen Veränderungen vor allem grundlegende Umstrukturierungen im grammatischen System (z. B. Vereinfachung der Kasusflexion, Abbau von Präteritalendungen beim Verb, Wegfall von Gerundiumformen, Abbau des Diminutivs im nordelbischen Raum usw.). Auch durch den Vergleich mit Dialektbeschreibungen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lassen sich solche Wandelprozesse nachvollziehen. Dabei lässt sich in vielen Bereichen ein Abbau lokaler zugunsten regionaler oder überregionaler Varianten nachweisen. Die Kt. 17.1 und 17.2 illustrieren solch einen
Kt. 17.1: Varianz des intervokalischen Konsonanten bei dem Lexem ‘Bruder’ in den Dialekten von Schleswig-Holstein: Wenkerbögen (um 1880)
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Kt. 17.2: Varianz des intervokalischen Konsonanten bei dem Lexem ‘Bruder’ in den Dialekten von Schleswig-Holstein: Fragebogen-Erhebung Plattdüütsch hüüt (2012−2014)
Variantenabbau auf lautlicher Ebene anhand der Realisierung des Wortes ‘Bruder’ in den Dialekten von Schleswig-Holstein. Während im Wenkermaterial (Kt. 17.1, generiert aus 258 Wenkerbögen) neben den dominanten Formen mit intervokalischem (Broder, Brauder usw., 79 %) noch drei weitere Varianten vorkamen (Broler: 10,1 %, Brorer: 7,0 %, Broer: 3,9 %), werden bei der Übersetzungsaufgabe des Projekts Plattdüütsch hüüt (Kt. 17.2, 318 Fragebögen) zu 98,7 % die -Varianten gebraucht, nur in vier Fällen (1,3 %) die Variante (Broler in Norderdithmarschen und Eiderstedt) und kein einziges Mal die Varianten Brorer oder Broer. Ob es sich bei solchen Veränderungen um interne Systemvereinfachungen handelt, um interregionale Ausgleichsprozesse oder um Konvergenzen in Richtung auf das Hochdeutsche, ist nicht immer eindeutig zu unterscheiden (vgl. die folgenden Kapitel).
4.1.2. Wandel durch interregionalen Ausgleich Beim Dialektwandel durch interregionale Ausgleichsprozesse kommt dem Nordniederdeutschen in der jüngeren Zeit eine besondere Rolle zu. Dass es, wie Sanders (1982: 84) feststellt, „im Vergleich mit dem West- und Ostfälischen gemeinhin als ‚das‘ Niederdeutsch“ gilt, hängt wohl damit zusammen, dass in diesem Dialektraum seit Klaus Groth
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die meiste Literatur in niederdeutscher Sprache entstanden ist. So werden auf der Webseite Die niederdeutsche Literatur von Peter Hansen über 1.000 Autoren mit Wohnsitz im nordniederdeutschen Raum angeführt, dagegen nur ca. 200 aus dem ostfälischen und ca. 300 aus dem westfälischen Sprachgebiet. Zudem ist das Nordniederdeutsche medial auch überregional präsent. Blume stellt bereits 1980 fest: „Ostfälisch ist nicht nur ein kaum literarisch verwendetes platt, es ist auch kein medienplatt“ (Blume 1980: 322) und konstatiert eine „offenheit Ostfalens für die rezeption nordns. sprache auch über den bereich von rundfunk und fernsehen hinaus“ (Blume 1980: 324). Das führte z. B. dazu, dass die Niederdeutsche Bühne in Braunschweig ihre Stücke bis heute in nordniederdeutschem Platt aufführt. Doch auch in Schleswig-Holstein lässt sich Dialektwandel beobachten, der als Anpassung an eine nordniederdeutsche Ausgleichsvarietät gedeutet werden kann. Als Beispiel können die Pronominalformen mik, dik, juk angeführt werden, die in der ostholsteinischen Probstei (nordöstlich von Kiel) verbreitet waren und wohl auf den Einfluss ostfälischer Siedler zurückgingen. Im Holsteinischen Idioticon (Schütze 1800−1806, 1: 218) werden dik, mik noch ohne weitere Einschränkung als probsteitypische Varianten angegeben. Etwa 80 Jahre später weist die Wenkerkarte 166 zum Pronomen ‘dir’ in Satz 12 („… Sollen wir mit dir gehen?“) in der Probstei nur noch ein kleines dik/dek-Gebiet aus, das ein halbes Dutzend Orte umfasst. Wiederum vier Jahrzehnte danach stellt Mensing (1927−1935, 1: 717) fest, dass die auf -k auslautenden Varianten in diesem Gebiet „nur noch vereinz. von wenigen sehr alten Leuten gebraucht“ würden. Bei Pühn (1956, 1: 27) und Graf (2007: Kap. 4.1) werden schließlich nur noch die zentralholsteinischen Standardvarianten di/mi angeführt. Auch der im ostholsteinischen Raum stattfindende Rückgang der Diphthonge für wgerm. ō (Kauken ‘Kuchen’, tau ‘zu’) kann durch den Vergleich von historischen Dialektdaten in seinen Grundzügen nachvollzogen werden. Während die Kt. 83 des Sprachatlas des Deutschen Reichs zum Belegwort ‘Kuchen’ den ostholsteinischen Raum trotz bereits verbreiteter Monophthongformen (Koken) noch grundsätzlich als au-Gebiet markiert, kann Pühn (1956, 1: 42 u. 2: Kt. 28) die diphthongischen Formen nur noch in zwei kleineren Teilräumen für insgesamt 19 Orte belegen. Auch dies lässt sich als Anpassung an eine weiter verbreitete nordniederdeutsche Aussprache interpretieren. Nach den Ergebnissen des Projekts Plattdüütsch hüüt (2012−2014) sind die diphthongischen Realisierungen für wgerm. ō allerdings bis heute noch in Resten erhalten; für das Lexem ‘Blume’ können sie in elf ostholsteinischen Orten noch nachgewiesen werden. Im schleswigischen Raum manifestiert sich die Ausrichtung am zentralholsteinischen Dialekt z. B. in einer allmählichen Verschiebung der Grenze des Verbalplurals auf -t nach Norden (die schon bei Braak 1956: 28 angedeutet wird). Kt. 17.3 veranschaulicht diesen Wandel über den Vergleich zweier Zeitschnitte. Die in der Nordhälfte von Schleswig-Holstein gehäuft auftretenden roten Kreissymbole kennzeichnen die Orte, für die im Wenkerbogen die schleswigische Flexionsendung -en angegeben wurde, in den Fragebögen von Plattdüütsch hüüt dagegen die holsteinische Variante -t (se fleegen, meihen, seggen ‘sie fliegen, mähen, sagen’ > se fleegt, meiht, seggt), die offenbar weit ins -en-Gebiet vorgedrungen ist. (Die verstreuten blauen Kreissymbole im holsteinischen Landesteil sind wohl als hochdeutsche Interferenzen zu werten.) Eine vergleichbare Anpassung an den holsteinischen Dialekt hat mit der Ersetzung der schleswigischen Pronominalform et ‘es’ durch die Variante dat stattgefunden (Elmentaler 2015). Im Falle der Expansion holsteinischer Dialektmerkmale ist allerdings heute wohl nicht davon auszugehen, dass sie auf direkten Dialektkontakt mit den Sprechern der
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch
Kt. 17.3: Varianz beim Einheitsplural von Vollverben (1./3. Ps. Pl. Ind. Präs., z. B. fleegen, meiht) in den Dialekten von Schleswig-Holstein: Kontrastkarte aufgrund der Daten von 1880 (Wenkerbögen) und 2012−2014 (Plattdüütsch hüüt)
Nachbarregion zurückgeht. Vielmehr dürfte es sich um eine „vertikale“ Orientierung an dem medial verbreiteten Einheitsniederdeutschen handeln, dem das Zentralholsteinische in hohem Maße entspricht.
4.1.3. Orientierung an der hochdeutschen Standardsprache Der Dialektwandel unter hochdeutschem Einfluss ist in den niederdeutschen Grammatiken und Wörterbüchern vereinzelt thematisiert worden. Dabei wird konstatiert, dass der Gebrauch des Niederdeutschen zurückgehe, mit Verweis z. B. auf neu eingerichtete Eisenbahnstrecken oder auf das Bemühen der Eltern, den Kindern „das Fortkommen in der Schule zu erleichtern“ (Birkenhauer 1921: 3), wobei auch die Stadt-Land-Differenz immer wieder angesprochen wird (Pahl 1943: 12; Brandes 2013: 25−37). Hille (1939: 103) stellt bereits methodenkritisch fest, dass man „ein schiefes Bild“ bekomme, wenn „man im Wortschatz immer gerade altertümliche, oft nur noch wenig gebrauchte Wörter anführen oder Gehörtes wahllos aufzeichnen“ würde, denn „im Wortschatz der Alten und in ihrem übrigen Sprachgebrauch ist manches enthalten, was die Jungen nicht mehr gebrauchen, oft nicht einmal mehr kennen“. Dabei weist er darauf hin, dass auch die norddeutschen Regiolekte ihren Anteil am hochdeutschen Einfluss haben:
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II. Die Sprachräume des Deutschen Dabei handelt es sich keineswegs allein um das schriftsprachliche Hd., wie es der Mundartsprecher in der Schule lernt, in der Zeitung liest und neuerdings täglich im Rundfunk zu hören bekommt, sondern auch die hd. Sprache der Stadt ist Vorbild für viele Neuerungen. (Hille 1939: 103)
Diese Neuerungen werden auch in solchen Dialektgrammatiken, die sich nicht ausführlicher mit kontaktinduziertem Dialektwandel beschäftigen, oftmals am Rande berücksichtigt. So stellt Schönhoff (1908: 24) für das Emsländische fest: „Neuere Lautgesetze (wie z. B. der Schwund des t nach stl. Spiranten) werden häufig unterbrochen, ja gänzlich aufgehoben, der Wortschatz durch hochd. Worte verringert, und die Formenlehre besonders durch Untergehen der alten Adverbien ärmer gestaltet“. Borchert (1955: 9 u. 11) beschreibt für das südliche Emsland einige „vom Schriftdeutschen“ beeinflusste Aussprachevarianten (Kriech ‘Krieg’ statt Kreech, hailig ‘heilig’ statt helig). Bock (1933: 45, 46, 91, 104 u. 162) konstatiert für den schleswigischen Raum die Durchsetzung von hochdeutsch-konvergenten Neuerungen im Niederdeutschen der jüngeren Generation wie die [ʃ]-Aussprache vor l, m, n, w (Schwien ‘Schwein’ statt Swien), kontrahierte Realisierungen von -gen ([fle:n] ‘fliegen’, [zeŋ̩] ‘sagen’ statt [ˈfle:xn̩], [ˈzεxn̩] mit spirantisiertem g), den Gebrauch von haben und sein beim Perfekt nach hochdeutschem Verteilungsmuster (Ik bün wesen ‘ich bin gewesen’ statt älterem Ik hebb wesen ‘ich habe gewesen’), den Gebrauch der Subjunktion ub ‘ob’ (statt älterem um) oder die Durchsetzung von [ʃ] (statt [sk]) im Raum Angeln. Für die nordhannoverschen Mundarten auf der Stader Geest beschreibt Bollmann (1942: 23) die Ersetzung von intervokalischem v (lever ‘lieber’) durch das dem Hochdeutschen analoge b (leber) und verweist darauf, dass sich Mundarten im Umkreis der Stadt Bremen „in Rhythmus und Betonung“ der „hd. Umgangssprache“ angenähert hätten (Bollmann 1942: 21). Weitere Einzelbeobachtungen für den Wandel westniederdeutscher Dialekte unter hochdeutschem Einfluss ließen sich leicht ergänzen. In jüngerer Zeit sind diese Prozesse verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt, da die gesprochenen Dialekte unübersehbare Konvergenzprozesse hin zum (gesprochenen) Standarddeutschen durchlaufen (Fallstudien für die Syntax: Hansen-Jaax 1995, Elmentaler & Borchert 2012; für die Phonologie/Phonetik: Stellmacher 1995, Wilcken 2013). Als markantes Beispiel kann die diachrone Veränderung der Aussprache von anlautendem s-t, s-p („s-pitzer S-tein“) angeführt werden. Kt. 17.4 (aus dem zweiten Band des NOSA, vgl. Elmentaler & Rosenberg i. V.) zeigt den Rückgang der [s]-Variante gegenüber der aus dem Hochdeutschen entlehnten [ʃ]-Realisierung. Während im Wenkermaterial (Dreieckssymbol) in der Mehrzahl der Untersuchungsorte (23 von 36) noch die Variante [s] als alleinige dialektale Form angegeben wird (bei Frage 4 auf der Wenkerbogen-Rückseite), gibt es in den modernen Wenkeraufnahmen aus dem SiN-Projekt (Rautensymbol) keinen einzigen Ort mehr, in dem die traditionelle Variante vorherrscht, und in 13 der 28 Orte, für die Wenkeraufnahmen verfügbar waren, treten ausschließlich Belege für [ʃp, ʃt] auf. Beim spontanen Sprechen schließlich wird [st, sp] kaum noch verwendet. In 18 von 21 Tischgesprächen (Kreissymbol) ist ausschließlich die [ʃ]-Variante belegt. Hier zeigt sich eine deutliche Ausrichtung an der hochdeutschen Aussprache, die sich auch in den norddeutschen Regiolekten weiträumig durchgesetzt hat (vgl. Kt. K14.1 in Elmentaler & Rosenberg 2015: 337). Im Nordrheinmaasländischen richten sich die westlichen Dialekte (im niederländischen Gebiet) zunehmend am Standardniederländischen aus, die östlichen (am deutschen Niederrhein) dagegen am hochdeutschen Standard. Dadurch kommt es z. B. in den limburgischen Dialekten zu einem Abbau des Umlauts (Bükske ‘Büchlein’ > Bukske; Män-
17. Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Nordrheinmaasländisch
Kt. 17.4: Realisierung von sp- und st- mit postalveolarem Frikativ („s-pitzer S-tein“) in den niederdeutschen Dialekten
neke ‘Männchen’ > Manneke, unter Einfluss von nl. boekje, mannetje), während die niederrheinischen Dialekte, gestützt durch das Standarddeutsche, an den Umlautformen festhalten (Cornelissen & Schmitt 1997: 19−20): „Die nordlimburgischen Dialekte werden dabei immer ‚niederländischer‘, die Dialekte östlich der Staatsgrenze immer ‚deutscher‘“ (Cornelissen & Schmitt 1997: 20).
4.1.4. Dissimilation vom Hochdeutschen In einigen Fällen lassen sich in den westniederdeutschen Dialekten Gegenbewegungen erkennen, die auf eine größere Entfernung (Dissimilation) vom Hochdeutschen hinauslaufen. Formen oder Lautungen, die offenbar als besonders charakteristisch für das Niederdeutsche erachtet werden, setzen sich gegenüber solchen Varianten durch, die eine größere Nähe zum Hochdeutschen aufweisen. Als Beispiel hierfür können Veränderungen in den schleswigischen Dialekten angeführt werden, die traditionell einige strukturelle Analogien zum Hochdeutschen aufweisen. So kann die Ablösung des Pronomens et ‘es’ durch dat zwar als Übernahme der holsteinischen Form gedeutet werden (s. o.
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Kap. 4.1.2.), sie bedeutet zugleich aber auch eine Abkehr von einer dem Hochdeutschen analogen Variante (et ≈ es). Ähnlich verhält es sich mit der ehemals in diesem Gebiet gebräuchlichen Wortform Lüde (mit dem zweisilbigen Aufbau strukturell isomorph zu hdt. Leute), die durch einsilbige, vom Hochdeutschen weiter entfernte Varianten (Lüüd, Lüü) verdrängt wird. Ein morphologisches Beispiel ist die Durchsetzung der Partizipialform ween ‘gewesen’, die im Vergleich der Ergebnisse aus Plattdüütsch hüüt mit den Wenkerdaten sichtbar wird. Die einsilbige Form ween ersetzt die schleswigische Form wesen, die eine größere Nähe zur hochdeutschen Form gewesen aufgewiesen hatte.
4.1.5. Dialektwandel durch Sprachstandardisierung vor dem Hintergrund sprachpolitischer Maßnahmen Im Jahr 1999 trat in Deutschland die Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in Kraft, die mehrere norddeutsche Bundesländer verpflichtet, den Gebrauch der „Regionalsprache“ Niederdeutsch in Bildungseinrichtungen, Recht und Verwaltung und in anderen Bereichen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu fördern. Mit der Einrichtung von Niederdeutsch als Unterrichtsfach an einigen Grundschulen in Hamburg (seit 2010) und Schleswig-Holstein (seit 2014) wurde das ältere Konzept der „Sprachbegegnung“ durch das Ziel ersetzt, passive und aktive Sprachkompetenzen im Niederdeutschen zu vermitteln. Die Erarbeitung geeigneter Unterrichtsmaterialien setzt eine bundeslandweite Standardisierung des Niederdeutschen voraus, da die lokale und regionale Dialektvielfalt in der Schule nicht berücksichtigt werden kann (Langhanke 2017). Dadurch kommt es zur Herausbildung einer stark normierten Ausgleichsvarietät, die im Unterricht wie eine Art Fremdsprache vermittelt wird. Mittelfristig führt das zum Abbau kleinräumiger Unterschiede im Bereich der Aussprache, Grammatik und Lexik. Der Rückgang der traditionellen Dialekte wird sich somit durch sprachpolitische Maßnahmen nicht aufhalten lassen. Mit der Standardisierung des Niederdeutschen kann allerdings auch der Versuch einhergehen, exklusive Merkmale des Niederdeutschen gegenüber dem Hochdeutschen zu stärken oder zu reaktivieren, die im gesprochenen Niederdeutschen mittlerweile wenig gebraucht werden. So empfiehlt eine im nordniederdeutschen Raum verbreitete Gebrauchsgrammatik (Thies 2017) an vielen Stellen den Gebrauch „kennzeichnend niederdeutscher“ Formen, die in der Praxis bereits rückläufig sind (doonPeriphrase, gahn ‘gehen’ + Infinitiv zur Kennzeichnung einer inchoativen Aktionsart, doppelte Negation usw., vgl. Elmentaler & Borchert 2012).
4.2. Areale Gliederung und Wandel der Regiolekte Auf der Grundlage der westniederdeutschen Dialekte haben sich seit dem 16. Jahrhundert landschaftliche Ausprägungen des Hochdeutschen herausgebildet, aus denen sich die heutigen Regiolekte (regionalen Umgangssprachen) entwickelt haben (Mihm 2000). Die Regiolekte des norddeutschen Raumes, zu denen im vorliegenden Beitrag auch lokale, städtische Umgangssprachen gerechnet werden, sind bislang weit weniger gut erforscht als die traditionellen Dialekte, da die „mittlere Ebene“ zwischen Dialekt und Standardsprache erst in den 1970er Jahren stärker in den Fokus der Forschung geriet. Dies wieder-
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um ist auch auf die Schwierigkeit zurückzuführen, valide Daten über Regiolekte zu gewinnen, da die klassischen Erhebungsinstrumente (Fragebuch, Übersetzungstest) hierfür nicht geeignet sind. Dementsprechend ist die Datengrundlage zum Stand der norddeutschen Regiolekte bis heute lückenhaft. Regiolektwörterbücher, die in Umfang und Qualität den großlandschaftlichen Dialektwörterbüchern vergleichbar wären, gibt es bislang nicht. Die seit etwa zwei Jahrzehnten populären Wortsammlungen verzeichnen zwar Lexeme, Phrasen und auch grammatische oder lautliche Besonderheiten der jeweiligen Regiolekte oder Stadtsprachen, genügen jedoch nicht den gängigen wissenschaftlichen Standards (Hartmann 2016, mit Bezug auf das Ruhrdeutsche). Die Datenerhebung beruht zumeist auf Introspektion oder kursorischen Beobachtungen, nicht auf systematischen Erhebungsverfahren wie Befragungen oder teilnehmender Beobachtung; es gibt keine klare Abgrenzung von (gesprochener) Standardsprache, Regiolekt und Dialekt; Auftretenshäufigkeiten werden nicht erfasst, so dass oftmals Wörter oder Formen verzeichnet werden, die bereits veraltet sind; situative oder individuelle Unterschiede werden nicht berücksichtigt; es gibt keine klare Verortung der Merkmale im Raum usw. Eine korpusbasierte Regiolektlexikographie, die diese Kriterien erfüllt, ist als Desiderat der Forschung anzusehen (Hartmann 2018). Auch fundierte Regiolektgrammatiken gibt es bislang nicht, sondern allenfalls Untersuchungen zu grammatischen Teilaspekten, wie in Bezug auf das Ruhrdeutsche die Beiträge von Mihm (1982) zum Kasussystem oder Schiering (2002) zur Klitisierung von Pronomen und Artikeln. Im Bereich der Sprachkartografie können die Karten des Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (WDU, Eichhoff 1977−2000) und des Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA, Elspaß & Möller 2003 ff.) herangezogen werden, die sich allerdings größtenteils auf lexikalische Variation, weniger auf syntaktische Muster oder phonetische Phänomene beziehen. Da die Datenerhebung über den Versand von Fragebögen (WDU) bzw. über Online-Befragungen (AdA) erfolgt, können situative, soziale oder individuelle Aspekte des Sprachgebrauchs und Gebrauchshäufigkeiten nicht erfasst werden. Zudem besteht bei Selbsteinschätzungsdaten grundsätzlich die Gefahr einer Dokumentation von Sprachmerkmalen, die eher erinnert als tatsächlich noch verwendet werden. Spontane Sprachaufnahmen liegen dagegen dem 2015 erschienenen ersten Band des Norddeutschen Sprachatlas (NOSA, Elmentaler & Rosenberg 2015) zugrunde, in dem auch die situative und individuelle Variation mit erfasst wird. Aufgrund des hohen Erhebungs- und Bearbeitungsaufwandes ist die Ortsnetzdichte jedoch mit nur 28 Orten im gesamten westniederdeutschen Raum vergleichsweise gering, so dass keine genauen Regiolektgrenzen gezogen werden können. Die dem NOSA zugrunde liegenden Aufnahmen aus dem SiN-Projekt bieten allerdings erstmals ein für den gesamten norddeutschen Raum nach einheitlichen Kriterien erstelltes Untersuchungskorpus für die rezenten Regiolekte. Über die 29 Lautvariablen hinaus, die im NOSA jeweils auf der Grundlage der Redebeiträge einer einzigen Gewährsperson pro Ort untersucht und kartiert wurden, bieten die Tonaufnahmen umfangreiches Material für weitergehende Analysen. Mit den Arbeiten von Vorberger & Schröder (2011) zum Regiolektwandel im intergenerationellen Vergleich, Twilfer (2014) zum geschlechtsspezifischen Gebrauch regiolektaler Merkmale, Scharioth (2015) zum Verhältnis von Regiolektgebrauch und Identitätskonstruktion und Lanwer (2015) zur Funktionalisierung von Regiolektvarianten in der Interaktion liegen bereits erste Anschlussstudien auf der Basis des SiN-Korpus vor. Für historische Vergleiche kann das 1961 erhobene Korpus Deutsche Umgangssprachen: Pfeffer-Korpus herangezogen werden, das zumindest in Teilen
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recht standardferne Sprechweisen dokumentiert, die als Zeugnis der damaligen Regiolekte gelten können. Insgesamt ist der Forschungsstand zu den niederdeutschen Regiolekten noch wenig zufriedenstellend. Relativ gut erforscht ist das Ruhrdeutsche, das teils auf westfälischer, teils auf rheinmaasländischer Dialektgrundlage basiert. Ansonsten liegen, abgesehen von den NOSA-Ergebnissen, nur punktuelle Analysen vor. Da sich die genauen Reichweiten der einzelnen Regiolektlandschaften derzeit noch nicht bestimmen lassen, wird der folgenden Darstellung das traditionelle Gliederungsschema (Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Rheinmaasländisch) zugrunde gelegt.
4.2.1. Nordniederdeutsche Regiolekte Eine Beschreibung der Hauptmerkmale der nordniederdeutschen Regiolekte auf der Basis der Forschungsliteratur und der SiN-Erhebung (12 Orte) bietet die Einleitung zum NOSA (Elmentaler & Rosenberg 2015: 42−47). Bereits Lauf (1996) führt, auf der Basis älterer Tonaufnahmen, etwa 20 Merkmale der nordniederdeutschen und mecklenburgisch-vorpommerschen Regiolekte an, in der Annahme, dass die Unterschiede zwischen ihnen eher gering seien. Sie unterscheidet dabei „gemeinniederdeutsche“ Charakteristika, die für den gesamten niederdeutschen Raum gelten sollten (Lauf 1996: 197−199), von solchen, die sie als spezifisch für das Nordniederdeutsche (unter Einschluss des nördlichen Ostniederdeutschen) ansieht (Lauf 1996: 200−205). Zu letzteren rechnet sie im Vokalismus z. B. die Velarisierung von langem a ([ɡeˈtɔ:n] ‘getan’), die Realisierung von auslautenden Schwa-Lauten als Vollvokal ([ˈhaʊzε] ‘Hause’), der lexemspezifische Gebrauch von Kurzvokal statt standarddeutscher Länge ([nax] ‘nach’), Vokaldehnungen bei e und a ([ɡε:lt] ‘Geld’, [ˈɔmʃta:nt] ‘Umstand’). Im Konsonantismus nennt sie vor allem die Lenisierung von p, t, k (Pabbe ‘Pappe’, bidde ‘bitte’, Degge ‘Decke’). Für einige Merkmale wie die palatalisierte Aussprache des kurzen a ([ˈkæfə] ‘Kaffee’, [ˈkæʊfn̩] ‘kaufen’) oder die Diphthongierung von langem e, o, ö ([ˈze:iɡəl] ‘Segel’, [ɡro:us] ‘groß’) konstatiert Lauf eine begrenzte areale Reichweite (auf den äußersten Norden beschränkt). Die NOSA-Karten bestätigen und präzisieren viele dieser Beobachtungen und belegen areale Verteilungsmuster ausgewählter Variablen in Abhängigkeit von verschiedenen situativen Settings (Tischgespräch, Interview). Ob man von einem einheitlichen nordniederdeutschen Regiolekt ausgehen kann, ist angesichts der Forschungslage kaum zu entscheiden. Für den holsteinischen und nordhannoverschen Raum liegen außer den NOSA-Daten zu je zwei Orten in SchleswigHolstein (Wankendorf, Lütjenburg) und im nördlichen Niedersachsen (Heeslingen, Ottersberg) nur wenige ortsbezogene Studien vor (Auer 1998 zu Hamburg; Lameli 2004 zu Neumünster; Kehrein 2012 zu Alt Duvenstedt bei Rendsburg). Über das sprachliche Spektrum in Oldenburg informiert Lanwermeyer (2011). Für die rezenten Regiolekte im ostfriesischen, emsländischen, dithmarsischen und schleswigischen Raum stehen dagegen bislang nur die Daten der jeweils zwei NOSA-Belegorte zur Verfügung. Sie deuten darauf hin, dass es besonders zwischen den Regiolekten des Nordwestens (Ostfriesisch, Oldenburgisch, Emsländisch) und denen nördlich von Weser und Elbe (Nordhannoversch, Holsteinisch, Dithmarsisch, Schleswigisch) größere Unterschiede gibt, wobei Merkmale wie die Lenisierung von p, t, k, die Assimilation von nd (Kinner ‘Kinder’)
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oder der Schwa-Auslaut bei dem Lexem Kaffee besonders im nordhannoverschen und nordelbischen Raum verbreitet sind. Da es sich jedoch überwiegend um graduelle Unterschiede handelt, erscheint die nordniederdeutsche Regiolektlandschaft dennoch als vergleichsweise homogen. Bei einigen Merkmalen zeigen sich eindeutige diachrone Abbautendenzen, auf die auch Auer, Lameli und Kehrein für ihre jeweiligen Untersuchungsorte hinweisen. Bis auf wenige Reste verschwunden ist die Aussprache [st, sp], die in den Aufnahmen des Pfeffer-Korpus von 1961 noch recht verbreitet war (Elmentaler & Rosenberg 2015: 337− 338, Kt. K14.1 u. K14.2), sowie die Velarisierung von langem a und die apikale rRealisierung des r als apikaler Vibrant [r] (Elmentaler & Rosenberg 2015: 139, Kt. V5.1 u. 303, Kt. K10.1). Dass die nordniederdeutschen Regiolekte im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch deutlich merkmalsreicher gewesen sein müssen als heute, zeigen ältere Analysen von norddeutschem „Missingsch“, wie etwa der Aufsatz von Scheel (1963), der heute kaum noch gebrauchte Lautmerkmale der Hamburger Stadtsprache wie die palatale Realisierung von kurzem a vor r-Verbindungen (stärk ‘stark’), die Realisierung von r vor Konsonant als Frikativ [x] (Sochte ‘Sorte’), die Vokalisierung des l (Meech ‘Milch’), die t-Apokope bei nominalen Stammmorphemen (Nach ‘Nacht’), die t-Epenthese (Sempft ‘Senf ’), die Ersetzung der Affrikate [ts] durch den Frikativ [s] (ßeit ‘Zeit’) oder durch [ʃ] in der Endsilbe -tion ([statˈʃo:n] ‘Station’), die Affrizierung des j (Dschugend ‘Jugend’) oder wortübergreifende Kontraktionen (dascha ‘das ist ja’, krischa ‘kriegst ja’) dokumentiert. Rückläufig sind auch bei Scheel noch verzeichnete morphologische oder syntaktische Besonderheiten wie abweichende Pluralformen (die Koffers, die Äpfeln, die Bröte), possessive Genitive (die Frau ihr Kleid), Abweichungen in der Deklination (Das is n ganz Schlauen, mit die großen Bengels) und Verbflexion (er schiebte Prät., er käuft 3. Ps. Sg. Präs.), die Auslassung von Artikeln (Ich geh nach Schule), bestimmte Typen getrennter Pronominaladverbien (Da denk ich nicht an) und die tun-Periphrase (weil das doch so regnen tut). Wie Wilcken (2015) zeigen konnte, können auch literarische Stilisierungen von „Missingsch“-Varietäten Einblicke in ältere, merkmalsreichere Ausprägungen der nordniederdeutschen Regiolekte geben.
4.2.2. Ostfälische Regiolekte Die Hauptmerkmale der ostfälischen Regiolekte werden im NOSA auf der Grundlage der SiN-Erhebungen (4 Orte) und älterer Untersuchungen zusammenfassend beschrieben, wobei sich eine West-Ost-Differenzierung abzeichnet, die Mihm (2000: 2115) als „braunschweigisch-hannoverische“ vs. „magdeburgische“ Umgangssprache unterscheidet. Der erste, im südlichen Niedersachsen verbreitete Regiolekttyp war bis ins frühe 20. Jahrhundert durch eine Reihe markanter Merkmale charakterisiert, die Blume (1987) für Hannover und Braunschweig beschreibt. Hierzu zählt die zentralisierte Aussprache des a als [ə:] ([ˈjə:ʁə] ‘Jahre’), die Monophthongierung von ei zu [a:] (Zaat ‘Zeit’) und von au zu [ɔ:] ([kɔ:ft] ‘kauft’), die Realisierung von r vor Konsonanten als [x] (Gachten ‘Garten’) und die g-Spirantisierung in der Vorsilbe ge- (jesungen ‘gesungen’). In den 1960er Jahren kommen einige dieser Merkmale noch vereinzelt bei älteren Probanden vor (Elmentaler 2012b für Hannover; vgl. auch Kt. K11.2 in Elmentaler & Rosenberg 2015: 317). Blume (1987: 31) stellt jedoch schon für die 1980er Jahre fest, dass diese Besonderheiten „nur
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noch in den indirekten Spuren ihrer Substratexistenz weiterleben: als leichte lokale phonetische oder lexikalische Färbung des gesprochenen Standarddeutsch, nur für den Kenner hörbar an einigen Wörtern und an einem unnachahmbaren Timbre“. Heutige Sprecher verwenden fast ausschließlich Merkmale mit hoher Reichweite im norddeutschen Raum, wie die g-Spirantisierung im Auslaut (Zeuch ‘Zeug’), die Realisierung von ng als [ŋk] (Ordnunk), die Hebung des langen ä (Keese) und der lexemspezifische Gebrauch von Kurzvokalen statt standarddeutscher Länge ([nax] ‘nach’) (Ikenaga 2018 für Hannover). Aufgrund des Rückgangs der typisch ostfälischen Merkmale lassen sich die Regiolekte dieser Region heute nicht mehr klar von denen des nordniederdeutschen Raumes abgrenzen. Der „magdeburgische“ Regiolekt auf elbostfälischer Basis unterscheidet sich in einigen Punkten markant von denen des südlichen Niedersachsen. Als typisch gelten vor allem niederdeutsche Interferenzmerkmale wie unverschobene Plosive (dat ‘das’, Dochter ‘Tochter’, Zappen ‘Zapfen’) und Monophthonge für wgerm. ai, au (kleen ‘klein’, loofen ‘laufen’), womit der Regiolekt an den des angrenzenden brandenburgischen Raumes anschließt. Zu seinen Besonderheiten gehören traditionell auch Entrundungen (Hiete ‘Hüte’, jreeßer ‘größer’), die anlautende g-Spirantisierung (juut ‘gut’) und der Gebrauch von [s] statt [ts] (ßeit ‘Zeit’). In dem elbostfälischen SiN-Projektort Wegeleben (bei Halberstadt) sind einige der genannten Merkmale (unverschobene Konsonanten, entrundete Vokale) bereits nicht mehr nachweisbar (Elmentaler & Rosenberg 2015: 41−42).
4.2.3. Westfälische Regiolekte Die Hauptmerkmale der westfälischen Regiolekte können auf der Grundlage von acht SiN-Projektorten beschrieben werden (Elmentaler & Rosenberg 2015: 33−38). Auch hier lassen sich, wie für den nordniederdeutschen und den ostfälischen Raum, diachrone Abbautendenzen beobachten. Wagenfeld (1992: 56−76) führt für die Münstersche Stadtsprache in den 1920er Jahren noch Merkmale wie die Assimilation von ld (Schiller ‘Schilder’), die Sonorisierung von f (Höwe ‘Höfe’), die e-Epenthese in dem Pronomen ‘ich’ (iche), den Gebrauch von [s] statt [ts] (ßucker ‘Zucker’), den Erhalt des [s] vor p und t (s-pielen, s-tehen) wie auch vor l, m, n, w (smecken, swimmen) und die Realisierung von als [sx] oder [sk] (wis-chen oder wis-ken ‘wischen’) auf, die heute weitgehend verschwunden sind. Übrig bleiben Sprachformen, die größtenteils eine höhere Reichweite im westniederdeutschen Raum aufweisen, wie die auslautende g-Spirantisierung (Weech ‘Weg’), pf als [f ] (Fingsten), ng als [ŋk] (Dink), die Kontraktion von Auslautsilben (ham ‘haben’, reen ‘reden’), enklitische Pronomen (wollnse ‘wollen sie’), die Hebung von Kurzvokalen in geschlossener Silbe (Kiinder) oder lexemspezifische Vokalkürzen ([bat] ‘Bad’). Einen Sonderfall stellen die Regiolekte im östlichen Teil des Ruhrgebietes dar, die zwar auf westfälischer Grundlage basieren, aber auch eigenständige Merkmale herausgebildet haben (Salewski 1998 und Pittner 2018 für Dortmund). Hervorzuheben sind vor allem die ruhrdeutschen Kennformen dat, wat, et ‘das, was, es’, die in den westfälischen Regiolekten außerhalb des Ruhrgebietes umso seltener vorkommen, je weiter man nach Osten gelangt (Elmentaler & Rosenberg 2015: 36). Darüber hinaus scheint es nur wenige Merkmale zu geben, die eine weitere Binnendifferenzierung der westfälischen Regiolekte erlauben (Elmentaler & Rosenberg 2015: 37−38). Als Spezial-
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fall kann das Ruhrdeutsche auch insofern gelten, als es, anders als andere norddeutsche Regiolekte, schon seit langer Zeit eine starke mediale Präsenz besitzt, ab den 1960er Jahren auf Kabarettbühnen und Fernsehschirmen (Wittkowski 2018), seit etwa drei Jahrzehnten zunehmend in Form von Wörterbüchern und Sprachratgebern (Hartmann 2016) und heute auch auf Merchandising-Artikeln (Tassen, Kühlschrankmagneten) und Internetseiten.
4.2.4. Nordrheinmaasländische Regiolekte Die nordrheinmaasländischen Regiolekte weisen weitgehend dieselben Sprachmerkmale auf wie die des westlichen Ruhrgebietes. Auf der Grundlage verschiedener älterer Arbeiten zum ruhrdeutschen Regiolekt in Duisburg (Mihm 1997; Salewski 1998) lässt sich ein Bild von ihrer Merkmalszusammensetzung gewinnen (Elmentaler & Rosenberg 2015: 28−31). Auf lautlicher Ebene sind das nach Mihm (1997: 21−22) u. a. die unverschobenen Verschlusslaute (dat ‘das’, bisken ‘bisschen’, Mudder ‘Mutter’), die g-Spirantisierung im Auslaut (Berch ‘Berg’, Betruch ‘Betrug’) und Inlaut (sarrich ‘sag ich’), die Vokalisierung oder Tilgung des r vor Konsonanten (Spoat ‘Sport’, staak ‘stark’), [f] statt pf im Anlaut (Fanne), Kontraktionsformen mit enklitischen Pronomen und Dentaltilgung (hasse ‘hast du’) oder Sonorisierung des ehemaligen Auslautkonsonanten ([ˈlazət] ‘lass es’, [ˈɡɪbət] ‘gib(t) es’). Anhand der NOSA-Daten lässt sich das Vorkommen dieser Merkmale für die nordrheinmaasländischen Orte Kranenberg und Uedem bestätigen (Elmentaler & Rosenberg 2015: 31). Der südrheinmaasländische Regiolekt unterscheidet sich dagegen in einigen Hinsichten von dem nordrheinmaasländisch-ruhrdeutschen Regiolektverbund (s. Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band). Die Tendenz zur Entregionalisierung manifestiert sich auch in den nordrheinmaasländischen Regiolekten, einerseits in dem Rückgang einzelner Sprachmerkmale (Okklusion des j: getz ‘jetzt’, Glottisschlag statt Plosiv: [ˈtsεʔl] ‘Zettel’, Kasusverwechslung: Gib mich mal die Flasche, tun-Periphrase: Helga tut Fernsehen gucken) andererseits in einer Individualisierung des Merkmalsgebrauchs − Lautmerkmale wie dat, wat, die vormals von praktisch allen Sprechern der Region im Alltag verwendet wurden, stehen nun als fakultative Ressourcen zur Verfügung, auf man individuell zurückgreifen kann, um seine Verbundenheit mit der Region zum Ausdruck zu bringen (Elmentaler 2008).
4.3. Gesprochenes Standarddeutsch im norddeutschen Raum Während sich die norddeutschen Regiolekte von den niederdeutschen Dialekten durch die klassischen Merkmale des Hochdeutschen (zweite Lautverschiebung, Diphthongierung von ī, ū, ǖ usw.) sicher abgrenzen lassen, ist die Abgrenzung von Regiolekt und gesprochenem Standard grundsätzlich schwierig. In der Forschung wird versucht, verschiedene Sprachlagen im hochdeutschen Spektrum über situative Parameter und über die Variation der Erhebungsmodalitäten zu elizitieren (vgl. Kehrein, Art. 5 in diesem Band). Zur Gewinnung möglichst alltagsnaher Sprachdaten werden Gespräche mit Freunden oder Familienangehörigen in privater, vertrauter Umgebung in Abwesenheit der Exploratoren aufgezeichnet. In der Regel kann hierdurch eine standardferne Sprach-
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lage erfasst werden. Um ein noch spontansprachliches, aber standardnäheres Sprechen zu dokumentieren, werden Einzelinterviews durchgeführt. In der für sie ungewohnten Interviewsituation (mit den Exploratoren in der Expertenrolle) verwenden die meisten Gewährspersonen saliente Regiolektmerkmale weniger häufig, woraus eine im Schnitt etwas merkmalsärmere Sprachlage resultiert, die einer gehobeneren Form des Regiolekts oder einem gesprochenen Regionalstandard entspricht. Um die größtmögliche Annäherung einer Gewährsperson an die Standardaussprache zu erfassen, wird häufig auf standardisierte Tests zurückgegriffen, bei denen vorgegebene Texte oder Wortlisten vorgelesen werden müssen. Unter dieser Bedingung, die eine stärkere Kontrolle der eigenen Aussprache ermöglicht, wird in der Regel eine standardnahe Sprachlage erreicht (Regionalstandard), wobei zu berücksichtigen ist, dass durch die schriftliche Vorlage auch unerwünschte Effekte auftreten können (z. B. häufigere Realisierung der Endsilbe -ig als [ɪk] statt [ɪç] unter dem Einfluss des beim Vorlesen wahrgenommenen Buchstaben , der an- und inlautend meist einen Plosiv repräsentiert). Ein Beispiel für eine Variable, bei der die Variation der Erhebungsmodalitäten zu einer deutlichen Abstufung im Gebrauch regiolektaler Formen geführt hat, bietet die NOSA-Karte zu den regiolektalen Kurzvokalrealisierungen in Wörtern wie [bat] ‘Bad’, [ʃɔn] ‘schon’, [ɡɪpt] ‘gibt’ (Elmentaler & Rosenberg 2015: 148 u. 143, Kt. V6.1). Der durchschnittliche Anteil der regiolektalen Varianten liegt hierbei im Tischgespräch bei 43 %, im Interview bei 27 % und in der Vorlesesituation bei 12 %. Dass die Abstufungen im westniederdeutschen Raum nicht immer so deutlich ausfallen, zeigt die Studie von Kehrein (2012: 275−297) zum Sprachlagenspektrum in Alt Duvenstedt bei Rendsburg. Aus seiner für vier Gewährspersonen durchgeführten phonetischen Abstandsmessung ergibt sich, dass die hochdeutsch basierten Sprachlagen (aus Freundesgespräch, Interview und Vorlesetest) sehr eng beieinander liegen (Diagramm in Kehrein 2012: 284). Mit dem diachronen Wandel im standardnächsten Bereich des spontanen Sprechens („Kolloquialstandard“) befasst sich Lameli (2004) am Beispiel von Neumünster im holsteinischen Dialektgebiet. Lameli vergleicht Stichproben von Tonaufnahmen aus Gemeinderatssitzungen aus zwei Zeitschnitten (1955− 1957 und 1995−1996). Dabei stellt er zwar keine signifikante Verringerung des durchschnittlichen Dialektalitätsniveaus fest, wohl aber einen starken Rückgang der besonders salienten Variante [sp, st] (von 42,0 % auf 2,6 %). Der oben in Kap. 4.2.1.−4.2.4. beschriebene Abbau regionaler Varianten in den Regiolekten dürfte somit auch für die jeweils standardnächsten Sprachlagen gelten. Ebenfalls auf die standardnächsten Sprachlagen bezogen sind die Karten des Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards (AADG), der sich vor allem auf die landschaftliche Aussprachevariation in einzelnen Wörtern (häufig Lehnwörtern) wie Ressource, Baby, Chemie usw. bezieht. Einige Lautkarten bestätigen, dass verschiedene im NOSA beschriebene Regiolektmerkmale auch im norddeutschen Gebrauchsstandard vorkommen, etwa die Hebung des langen ä (Karte später), die Realisierung von als [f] (Karte Pfeffer), die Realisierung von als [ŋk] (Karte Ahnung), seltener auch die geschlossene Realisierung des kurzen i im nordhannoverschen, ostwestfälischen und ostfälischen Raum (Karte ging). Weitere Informationen zur arealen Variation des Standarddeutschen bieten Elspaß & Kleiner (Art. 6 in diesem Band). Im Zusammenhang mit der Frage nach dem gesprochenen Standard im norddeutschen Raum spielt der Diskurs um das angeblich „beste Hochdeutsch“ im Raum Hannover eine besondere Rolle (Blume 1987; Elmentaler 2012b). Wie in Kap. 4.2.2. ausgeführt wurde, wird in Hannover heute in der Tat eine relativ merkmalsarme Varietät gesprochen,
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der jedoch innerhalb des norddeutschen Raumes keine Sonderstellung zukommt, da in allen Regionen eine weitgehende Annäherung des Gebrauchsstandards an die Standardnorm stattgefunden hat.
5. Die Zukunft der westniederdeutschen Sprachlandschaft Bei der Diskussion der Frage, wie sich der Sprachgebrauch im westniederdeutschen Raum in Zukunft weiter entwickeln wird, empfiehlt es sich, zwischen den niederdeutsch und den hochdeutsch basierten Sprachlagen zu unterscheiden. Der Gebrauch der niederdeutschen Dialekte ist seit den 1980er Jahren erheblich zurückgegangen, wie der Vergleich von Repräsentativerhebungen aus den Jahren 1984 und 2007 gezeigt hat (Möller 2008). Die Daten der jüngsten Erhebung von 2016 deuten auf eine gewisse Verlangsamung dieses Abbauprozesses hin (Adler et al. 2016), was möglicherweise mit einem Einstellungswandel und veränderten politischen Rahmenbedingungen zusammenhängt. Vielleicht lässt sich das Niederdeutsche in den dialektstarken Regionen durch sprachpolitische Maßnahmen weiter stabilisieren, allerdings mit den in Kap. 4.1.5. beschriebenen Konsequenzen. Als ein realistisches Szenario kann die Herausbildung großlandschaftlicher niederdeutscher Standardvarietäten mit vereinheitlichter Lautung und Grammatik und einem reduzierten Wortschatz angesehen werden, die vor allem in kulturellen Bereichen Verwendung finden (Theater, Musik, Poetry-Slams usw.). Hierdurch könnte langfristig auch eine Verbindung zum kulturellen Erbe mit der reichen niederdeutschen Überlieferung vor 1600 und der nicht unbedeutenden Literaturtradition seit etwa 1850 gesichert werden. Ob eine in der Schule sekundär erlernte niederdeutsche Standardvarietät dann auch im Alltag gesprochen wird, bleibt abzuwarten. Die niederdeutschen Ortsdialekte mit ihren kleinregionalen Besonderheiten werden durch sprachpolitische Maßnahmen aber nicht bewahrt werden können. Die Entwicklung im Bereich der Regiolekte und des norddeutschen Gebrauchsstandards läuft auf eine generelle Entregionalisierung durch Variantenabbau hinaus, bei einer gleichzeitigen Individualisierungstendenz. Regiolektale Merkmale, die innerhalb einer lokalen Sprechergemeinschaft früher unreflektiert und quasi obligatorisch verwendet wurden, sind heute Gegenstand subjektiver Entscheidungen. Der Einzelne hat die Wahl zwischen einer eher standardnahen Sprechweise oder einem Regiolekt mit salienten Kennformen, die sozialsymbolisch eine besondere Verbundenheit mit der Region ausdrücken. Regiolektale wie standardsprachliche Varianten werden in der Interaktion situations-, adressaten- und themenspezifisch flexibel funktionalisiert. Offen ist derzeit die Frage, inwiefern bei der Entwicklung der norddeutschen Regiolekte und Gebrauchsstandards auch neue Sprachmerkmale hervorgebracht werden, wie es im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Koronalisierung im Rheinland der Fall war (Herrgen 1986). In jüngerer Zeit wurden die sogenannten Ethnolekte wie das Berliner „Kiezdeutsch“ als „neue Dialekte“ beschrieben, mit phonetischen oder grammatischen Merkmalen (Pronomenausfall: Ich geh U-Bahn; veränderte Wortstellung: Danach ich ruf dich an), die sich auch in den Regiolekten von Sprechern ohne Migrationshintergrund nachweisen lassen (Wiese 2012). In einigen Fällen entsprechen diese Merkmale formal solchen Merkmalen, die in den norddeutschen Regiolekten aufgegeben wurden (z. B. apikales [r], [s] statt [ts] oder unflektierte Adjektivformen: Ich frag mein Schwes-
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ter; Wiese 2012: 37, 38 u. 59). Ob diese sprachlichen Neuerungen auch über die bislang eng definierten sozialen Gruppen hinaus Verbreitung finden werden, bleibt abzuwarten.
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Michael Elmentaler, Kiel (Deutschland)
18. Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch 1. Einleitung: der ostniederdeutsche Dialektraum 2. Historische Rahmenbedingungen der sprachlichen Entwicklungen 3. Basisdialektale Raumstruktur
4. Sprachdynamik 5. Zusammenfassung mit Blick auf die regionalsprachlichen Spektren und ihre Arealität 6. Literatur
1. Einleitung: der ostniederdeutsche Dialektraum Als ostniederdeutscher Dialektverband werden traditionell die niederdeutschen Dialekte zusammengefasst, die sich in den ehemals slawischsprachigen Gebieten östlich von Elbe und Saale nach ihrer (nieder)deutschen Eroberung und Besiedlung zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert herausgebildet haben. Diese ostniederdeutsche Dialektlandschaft bildete keine geschlossene Region, sondern gliederte sich in fünf meist großräumige Teilregionen mit je eigener Geschichte und arealer Struktur (Rösler 2003: 2700). Mit Flucht und Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie nach dem Zweiten Weltkrieg sind das ehemals dort gesprochene Ostpommersche und das Niederpreußische untergegangen. Seither begrenzt sich der ostniederdeutsche Dialektraum grob umrissen auf die Regionen zwischen der Elbe im Weshttps://doi.org/10.1515/9783110261295-018
18. Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch
ten, der Ostsee im Norden, der polnischen Staatsgrenze im Osten und einer breiten Übergangszone zum Mitteldeutschen im Süden Brandenburgs. Hier werden bzw. wurden die drei verbliebenen ostniederdeutschen Dialekte Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch und Brandenburgisch (Märkisch) gesprochen. Das in diesen Raum von Westen hineinreichende Elbostfälische gilt als westniederdeutscher Dialekt und wird deshalb in Elmentaler (Art. 17 in diesem Band) behandelt. Als gemeinsames Abgrenzungsmerkmal der ostniederdeutschen Dialekte von den westniederdeutschen wird bis heute meist die Realisierung des verbalen Einheitsplurals auf westliches -(e)t und auf östliches -en zugrunde gelegt. Für das 20. Jahrhundert erscheint dieses Abgrenzungskriterium kaum noch trennscharf (vgl. Kap. 3.2). Lameli (2016) zeigt anhand von computergestützten Re-Analysen der Daten von Georg Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs überdies, dass es grundsätzlich kaum gerechtfertigt ist, die Gegenüberstellung der westniederdeutschen und der ostniederdeutschen Dialekte auf sprachstrukturelle Differenzen zurückzuführen. Umfassende Similaritätsmessungen der Dialektdaten innerhalb des ostniederdeutschen Raums lassen vielmehr im Norden ein zusammenhängendes Dialektareal „Nordostniederdeutsch“ hervortreten, das das Mecklenburgisch-Vorpommersche und das Mittelpommersche umfasst und große strukturelle Übereinstimmungen mit dem westlich angrenzenden „Nordniederdeutschen“ aufweist. Das Brandenburgische stellt demnach wegen seiner starken Bezüge zum Ostmitteldeutschen nicht nur innerhalb des ostniederdeutschen Raums, sondern überhaupt im strukturellen Vergleich mit den anderen niederdeutschen Dialekten einen „Sonderraum“ dar (Lameli 2016: 147). Die traditionelle klassifikatorische Zusammenfassung der ostniederdeutschen Dialekte kann sich daher nur historisch auf die spezifische Siedlungsgeschichte stützen und unterscheidet die Ausgleichsdialekte im östlichen Kolonialgebiet von den Dialekten im niederdeutschen Altland. Aber auch in der jüngeren Geschichte unterlagen die ostniederdeutschen Gebiete vielfach raumübergreifenden politischen und sozialgeschichtlichen Bedingungen, die Einfluss auf die sprachlichen Entwicklungen dort hatten (vgl. Kap. 2). Es erscheint also sinnvoll, die Dynamik dieser Entwicklungen innerhalb des ostniederdeutschen Großraums zusammenfassend bzw. vergleichend darzustellen.
2. Historische Rahmenbedingungen der sprachlichen Entwicklungen Nach den Eroberungen unter Heinrich dem Löwen im Norden und Albrecht dem Bären im Süden der Region setzte im 12. Jahrhundert deren planmäßige Kolonisierung in einer Siedlungsbahn entlang der Ostseeküste und einer zweiten Zuwanderungsbewegung über die Mark Brandenburg ein, die zunächst bis zur Havel und Nuthe gelangte, ein halbes Jahrhundert später bis über die Oder vordrang und sich oderabwärts bis nahe an die Ostseeküste fortsetzte. Das mittelpommersche Gebiet ist also ebenso wie das alte Land Stargard (etwa das spätere Mecklenburg-Strelitz) zunächst von Brandenburg aus kolonisiert worden. Während sich in Mecklenburg und Vorpommern vor allem niederdeutschsprachige Siedler aus Ostholstein und Westfalen niederließen, wurde die Mark Brandenburg in erster Linie von Kolonisten aus dem elbostfälischen Übergangsraum zum Mitteldeutschen besiedelt, es wurden aber auch Niederländer, Flamen, Niederfranken und Westfalen in die Region geholt (Stellmacher 1980: 464; Rosenberg 1986: 102; El-
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II. Die Sprachräume des Deutschen
mentaler & Rosenberg 2015: 56). Die unterschiedliche Herkunft der Siedler hat in den rezenten Dialekten vor allem im Bereich der Wortgeographie sprachliche Spuren hinterlassen (Niebaum 2004: 158−163). Als Folge der zweiteiligen Besiedlung bildeten sich im ostniederdeutschen Raum zwei große Stadtrechtskreise heraus: eine Region lübischen Rechts, die entlang der Ostseeküste bis ins Baltikum reichte, und im Binnenland ein Raum Magdeburger Rechts, der das brandenburgische und mittelpommersche Gebiet einschloss. Die großräumigen Stadtrechtskreise dürften Vereinheitlichungsprozesse auch auf sprachlicher Ebene begünstigt haben (Rösler 2003: 2705). Starke Ausgleichsprozesse innerhalb des sprachlich heterogenen Kolonialgebietes zog aber vor allem der Dreißigjährige Krieg nach sich, für den die ostniederdeutsche Region zum wichtigsten Aufmarsch- und Kriegsschauplatz wurde. Fluchtbewegungen der Bevölkerung und die allmähliche Wiederbesiedlung der weitgehend verwüsteten und entvölkerten Landschaften vor allem durch die Überlebenden aus den Festungsstädten dürfte die großräumige Vereinheitlichung des Niederdeutschen „ebenso wie die Ausbreitung städtischer Ausgleichsvarietäten befördert haben“ (Rosenberg 2017: 30). Während der allmählichen Konsolidierung der territorialen Gliederung im späten Mittelalter haben sich im ostniederdeutschen Raum politische Grenzen von zum Teil bemerkenswerter Stabilität herausgebildet. Seit dem 14. Jahrhundert blieben sowohl die Westgrenze des mecklenburgischen Herzogtums bzw. der mecklenburgischen Herzogtümer als auch die politische Grenze zwischen Mecklenburg und Brandenburg bzw. Preußen im Großen und Ganzen unverändert. Während der Süden des mittelpommerschen Dialektraums seither kontinuierlich im brandenburgisch/preußischen Herrschaftsbereich lag, wechselte die Region Vorpommern mit dem Westfälischen Frieden vom pommerschen in schwedischen Besitz, um später sukzessive Brandenburg bzw. Preußen eingegliedert zu werden: Seit 1720 gehörte Altvorpommern südlich der Peene zu Brandenburg, 1815 wurden die restlichen Gebiete nördlich der Peene preußisch. Diese nördliche Ausdehnung des brandenburgisch/preußischen Einflussbereichs dürfte dazu beigetragen haben, dass der vor allem über den Südosten Brandenburgs und über Berlin vermittelte „Vorbruch des Ostmitteldeutschen“ (Foerste 1954: 2051−2052) schon im späten 19. Jahrhundert bis in die mittelpommersche und vorpommersche Dialektregion ausstrahlen konnte. In der weiteren Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert bis 1918 blieb der mecklenburgische Raum geprägt von ökonomisch und politisch rück- und randständigen kleinstaatlichen Strukturen, während Brandenburg mit seiner Hauptstadt Berlin zum Kernland der europäischen Großmacht Preußen aufstieg, das dann auch zur Zentralmacht im Deutschen Reich wurde. Folgen hatte diese politische und wirtschaftliche Entwicklung vor allem für den Großraum Berlin, der sich mit der 1830 einsetzenden Industrialisierung rasch zu einem metropolen Verflechtungsraum mit einem rasanten Bevölkerungszuwachs entwickelte. 1877 zählte die Stadt bereits eine Million Einwohner, bis 1905 wuchs sie auf zwei Millionen an, von denen nur etwa 40 % ortsgebürtig waren. 18 % der Einwohner Berlins stammten 1907 aus dem Brandenburger Umland, 39,1 % waren als Fernwanderer zugezogen (Elmentaler & Rosenberg 2015: 59). Die entfernteren Regionen der Mark Brandenburg nahmen abgesehen von wenigen Mittelstädten wie Brandenburg/Havel an dieser Entwicklung nicht teil und blieben ein dünnbesiedelter marginaler Raum, der ähnlich wie Mecklenburg von agrarischer Wirtschaft − häufig in Großgrundbesitz − dominiert war. In Mecklenburg arbeiteten noch 1933 38,3 % der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft, nur 21,1 % arbeiteten hier in Industrie und Handwerk, während beispielsweise in Sachsen bereits über 50 % in diesem Sektor beschäftigt waren (Gernentz 1974: 216).
18. Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch
Einen tiefgreifenden Einschnitt in die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur der ostniederdeutschen Region stellte seit 1944 der Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den östlichen deutschen Sprachgebieten dar, der Mecklenburg-Vorpommern weit stärker betraf als alle anderen Gebiete in den alliierten Besatzungszonen. Der Anteil der Zuwanderer an der Gesamtbevölkerung betrug in Mecklenburg-Vorpommern im April 1949 43,3 %. In mehreren Kreisen lag dieser Anteil 1946 zum Teil deutlich über 50 % bis über 58 % der Ortsbewohner (Kossert 2008: 196−197). In Brandenburg betrug der Anteil der Vertriebenen 1949 immerhin knapp 25 % der Bevölkerung, wobei der Nordwesten Brandenburgs und das mittelpommersche Dialektgebiet von der Zuwanderung Ortsfremder weit überdurchschnittlich betroffen waren (Schwartz 2001: 60; Beer 2011: 106, Kt.). Für die weitere sprachliche Entwicklung im ostniederdeutschen Raum sind aber auch eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialpolitischen Veränderungen relevant, die seit der Gründung der DDR 1949 durchgesetzt wurden: Hier ist der forcierte Aufbau von Standorten der Schwerindustrie wie in den mecklenburgischen Seestädten oder im brandenburgischen Eisenhüttenstadt und Schwedt zu nennen. Von wirtschaftlichen Infrastrukturmaßnahmen profitierte dabei wiederum die Hauptstadt Berlin in besonderem Maße. Eine einschneidende Modernisierung traditioneller Wirtschaftsstrukturen bedeutete auch die Kollektivierung und Industrialisierung der landwirtschaftlichen und handwerklichen Produktion, mit der familiäre bzw. lokale Betriebe in ortsübergreifende Großbetriebe überführt wurden. Verbunden waren diese wirtschaftspolitischen Maßnahmen mit einer geförderten starken Binnenmigration von Arbeitskräften aus dem Süden der DDR in den Norden. Im Bildungsbereich ist die Einführung der achtjährigen Grundschulzeit, die Einrichtung ganztägiger Hortbetreuungen und nicht zuletzt die Ablösung der einzügigen Dorfschulen durch „Zentralschulen“ im ländlichen Raum hervorzuheben (Rosenberg 2017: 33−34). Die Deindustrialisierung, die nach der Wiedervereinigung 1989 weite Teile des ostniederdeutschen Raums traf und z. B. allein in der mecklenburgischen Werftindustrie zum Abbau von 40.000 Arbeitsplätzen führte, verstärkte die Strukturschwäche der berlinfernen Regionen (Landeskundlich-historisches Lexikon 2007: 722). Die Arbeitslosenquoten liegen in Mecklenburg-Vorpommern, aber auch in Brandenburg seither deutlich über dem Bundesdurchschnitt (Scharioth 2015: 88; Elmentaler & Rosenberg 2015: 62). Der Pendleranteil an den Arbeitnehmern und die Pendeldistanzen erreichen in Brandenburg wie in Mecklenburg-Vorpommern Spitzenwerte innerhalb der Bundesrepublik. Die Abwanderung insbesondere der jüngeren Bevölkerung aus dem ländlichen Raum ebenso wie aus Klein- und Mittelstädten hat die Bevölkerungsdichte in Mecklenburg-Vorpommern 2013 auf durchschnittlich 69 Einwohner/km2 und in Brandenburg auf 83 Einwohner/km2 sinken lassen. Die beiden Bundesländer sind damit die am dünnsten besiedelten Länder der Bundesrepublik. Dabei nimmt die Bevölkerungsdichte innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns von West nach Ost ab (Westmecklenburg: 73 Einwohner/km2, Vorpommern: 61 Einwohner/km2), in berlinfernen Regionen Nordbrandenburgs sinkt sie sogar auf unter 50 Einwohner/km2 (Rosenberg 2017: 36−37; Elmentaler & Rosenberg 2015: 62). Starke Wanderungsgewinne verzeichnet nur der Großraum Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern nehmen die Bevölkerungszahlen nur in den beiden Oberzentren Rostock und Greifswald zu, während für die gesamte Osthälfte des Bundeslandes und Südwestmecklenburg bis 2020 ein weiterer Bevölkerungsrückgang zwischen 20 % bis über 30 % amtlich prognostiziert wird (Raumentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern
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II. Die Sprachräume des Deutschen
2005). Die Delokalisierung und Kollektivierung der Arbeitswelten, die hohe Mobilität der Bevölkerung, die Abwanderung der jüngeren Generationen und die bildungspolitische Stützung der „Literatursprache“ erschwerten im 20. Jahrhundert die Tradierung lokaler Sprachformen.
3. Basisdialektale Raumstruktur 3.1. Phonologie und Phonetik Für die phonetische Gliederung der ostniederdeutschen Dialektlandschaft sollen hier nur einige der wichtigsten Leitmerkmale herangezogen werden, die die Dialektgeographie vor allem auf der Basis der Erhebungen Georg Wenkers herausgearbeitet hat. Da flächendeckende Dialekterhebungen aus neuerer Zeit bislang fehlen, ist mitunter fraglich, inwie-
Abb. 18.1: Niederdeutsche Dialekte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR: I,3: Mecklenburgisch; I,4: Vorpommersch; I,5: Strelitzisch; I,6: Mittelpommersch; I,7: Nordbrandenburgisch; I,8: Mittelbrandenburgisch; I,9: Südbrandenburgisch; I,1 und I,2: Ostfälisch (Nordwestaltmärkisch, Elbostfälisch). (Kartenausschnitt nach: Schönfeld & Pape 1981: 154)
18. Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch
weit die tradierte dialektgeographische Strukturierung des Raums gegenwärtige Sprachverhältnisse noch abbildet. Insbesondere die ehemals stark differenzierte lautliche Binnengliederung des brandenburgischen Niederdeutsch dürfte nach der weitgehenden Aufgabe der niederdeutschen Dialekte in der Region heute wohl nur noch in Reliktformen zu erfassen sein.
3.1.1. Areale Strukturen im Mecklenburgisch-Vorpommerschen und Mittelpommerschen Als wichtigstes lautliches Kennzeichen zur Abgrenzung des Mecklenburgisch-Vorpommerschen von den niederdeutschen Nachbardialekten wird meist die Hebung der mittelniederdeutschen mittleren Langvokale ê, ö̂, ô vor r genannt (sihr ‘sehr’, hürt ‘hört’, Uhren ‘Ohren’). Die Vokalhebung ist im Westen auch im Übergangsgebiet zum ostholsteinischen Dialektgebiet verbreitet (Gundlach 1988: 425 u. 427), sie bildet im Bereich der Prignitz noch in neuerer Zeit eine klare Abgrenzung des Mecklenburgisch-Vorpommerschen gegenüber dem Nordbrandenburgischen (Dost 1991: 247), reicht aber im Osten bei einigen Lexemen weit in das Nordbrandenburgische hinein, vgl. beispielsweise die Wortschatzkarten für sehr, hört und Ohren im Digitalen Wenker-Atlas (WA) (verfügbar über Regionalsprache.de: WA 159, WA 409, WA 13). Für das Mittelpommersche gilt dagegen als „Leitcharakteristikum“ die Bewahrung der ungehobenen Langvokale im Kontext vor r (Niebaum 1986: 30). Aktuelle Erhebungen deuten darauf hin, dass die Vokalhebung vor r bei niederdeutschkompetenten Sprechern zugunsten der standardnäheren ungehobenen Vokalrealisierungen leicht abgebaut wird, dass aber ein deutlicher West-Ost-Gegensatz zwischen dem Mecklenburgisch-Vorpommerschen und dem Mittelpommerschen weiterhin Bestand hat (Ehlers i. Dr.). Neben der Monophthongierung des mittelniederdeutschen Diphthongs ei, der im Mittelpommerschen wie im Nordbrandenburgischen diphthongisch bewahrt ist (deet vs. deit, dait ‘tut’, Foerste 1954: 2045−2046, Kt. 20), gilt als areales Spezifikum des Mecklenburgisch-Vorpommerschen auch die Diphthongierung der mittelniederdeutschen mittleren Langvokale ê, ö̂, ô in Kontexten, in denen nicht r folgt (laif ‘lieb’, Bäuker ‘Bücher’, Bauk ‘Buch’). Ausgenommen sind von dieser Diphthongierung in der mecklenburgisch-vorpommerschen Dialektlandschaft nur die Insel Rügen und das Strelitzische im ursprünglich über Brandenburg besiedelten Stargarder Land im Südosten. In beiden Regionen hat sich ebenso wie im angrenzenden Mittelpommerschen und Nordbrandenburgischen altes monophthongisches e:, ø:, o: erhalten (Schönfeld & Pape 1981: 156; Herrmann-Winter 2013: 89−92). Außerdem ist das Mecklenburgisch-Vorpommersche durch die im Brandenburgischen weitgehend fehlende Lenisierung intervokalischer Tenues ([ga͡odə] ‘gute’) gekennzeichnet (Schröder 2004: 50; Foerste 1954: 2041). In lautlicher Hinsicht zeichnet sich die mecklenburgisch-vorpommersche Dialektlandschaft durch eine nur geringe Binnendifferenzierung aus, die im 20. Jahrhundert zudem weiterer Vereinheitlichung unterlag. Nur vereinzelte phonetische Merkmale wiesen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine West-Ost-Gliederung auf, die zum Teil mit ehemaligen politischen Grenzen innerhalb des Gebietes korrespondieren bzw. korrespondierten. So deuten die entsprechenden Karten von Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs darauf hin, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wortanlautendes s vor den
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II. Die Sprachräume des Deutschen
Konsonanten l, m, n und w im Stammland Mecklenburg-Schwerin noch überwiegend alveolar realisiert wurde, während in Vorpommern und Mecklenburg-Strelitz ebenso wie in Mittelpommern und Brandenburg bereits die standardgemäße Palatalisierung zu [ʃ] dominierte (z. B. westl. swester ‘Schwester’, smiten ‘schmeißen’, slicht ‘schlecht’ vs. südöstl. schwester, schmiten, schlicht). Die Palatalisierung breitete sich schon in den 1920er Jahren über die Städte in den Westen Mecklenburgs aus, erfasste auch die durch die Standardorthographie zunächst gestützte alveolare Realisierung des s in den Lautkontexten sp und st und ist heute bis auf vereinzelte ländliche Reliktgebiete im gesamten Dialektgebiet vorherrschend (Gundlach 1988: 426; Köhncke 2006: 171; Ehlers 2018). Eine sehr ähnliche west-östliche Raumgliederung weisen die Varianten der Hiattilgung auf, deren Auftreten in Mecklenburg-Vorpommern allgemein auf den hohen Anteil westfälischer Besiedlung zurückgeführt wird. Hier stehen auch nach neueren Darstellungen zur Dialektgeographie dem in Vorpommern und im Südosten Mecklenburgs verbreiteten Hiatklusil -g- (naigen ‘nähen’; schnigen ‘schneien’) im Westen Mecklenburgs die jüngere Form -d- bzw. im äußersten Südwesten Hiatrealisierungen ohne konsonantische Tilgung gegenüber (naiden, schniden; naien, schnien). Abgesehen davon, dass die Verbreitung der Hiattilgung auf -d- schwerpunktmäßig auf Kontexte nach i, ei, eu [i:, α͡ɛ, ɔ͡ø] begrenzt war und insbesondere in Positionen nach u und au [u:, a͡o] auch in Mecklenburg durch den Klusil -g- starke Konkurrenz bekam (bugen ‘bauen’, haugen ‘hauen’), lässt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Aufweichung der west-östlichen Raumstruktur beobachten (Herrmann-Winter 1974: 174; Gundlach 1988: 427). Unter niederdeutschkompetenten Probanden, die nach 1945 in der Umgebung von Rostock geboren wurden, ist die Hiattilgung insgesamt stark rückläufig, dabei erweist sich allerdings auch im Westen Mecklenburgs der Tilgungskonsonant g in einigen Lexemen bzw. Lautkontexten (bugen ‘bauen’, Frugen ‘Frauen’) als recht abbauresistent (Ehlers 2017b). Ebenso wie die früheren phonetischen Unterschiede zwischen dem Niederdeutsch in Mecklenburg einerseits und Vorpommern (und Mecklenburg-Strelitz) andererseits ist innerhalb des Mecklenburgischen die ehemalige west-östliche Raumgliederung der Vokalrealisierungen vor r heute weitgehend verblasst. Im mecklenburgischen Kernland standen sich eine großräumige Region mit Vokalerhöhung vor r und ein westliches Randgebiet gegenüber, in dem die alten Langvokale e:, ø:, o: auch vor r diphthongiert wurden (veir ‘vier’; fäuhren/fäuern ‘fahren’; Schnaur ‘Schnur’ vs. vier, führen, Schnor im Hauptteil Mecklenburgs). In ganz Mecklenburg dominieren heute Varianten mit Vokalhebung, letzte Relikte der noch von Teuchert beschriebenen „westmecklenburgischen Untermundart“ finden sich allenfalls bei Lexemen mit dem Diphthong ɔ͡y (fäuhren) (Teuchert 1942: VII; Köhncke 2006: 167−168).
3.1.2. Areale Strukturen im Brandenburgischen Als ein areales Leitmerkmal des Brandenburgischen gilt im Bereich der Phonetik der palatalisierte Vokal im Demonstrativpronomen und Artikel det [dɛt/dɪt] ‘das’. Bis auf ein kleines südliches Übergangsgebiet zum Nordobersächsischen kennzeichnet das auf niederländische Besiedlung zurückgeführte det/dit die gesamte brandenburgische Dialektlandschaft und hebt sie gegen das entsprechende dat im Ostfälischen, Niedersächsi-
18. Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch
schen, Mecklenburg-Vorpommerschen und Mittelpommerschen ab. Ein gemeinbrandenburgisches Abgrenzungsmerkmal ist auch die Palatalisierung von mnd. a vor nd, die areal unterschiedliche Resultate hat ([ɛnɐn, ęnɐn] ‘anderen’). Für das Brandenburgische ist weiter der Erhalt des mnd. e vor r und Folgekonsonant kennzeichnend, das im angrenzenden Mecklenburgisch-Vorpommerschen ebenso wie im Ostfälischen zu a gesenkt wird ([bɛrç] vs. [barχ] ‘Berg’, zum Zusammenhang dieser vokalischen Kennzeichen Wiesinger 1983: 881). Für das Brandenburgische ist auch die „frühe Hiatdiphthongierung im größten Teil des Gebietes“ (Foerste 1954: 2044) charakteristisch ([ba͡oǝn] ‘bauen’), die im Mittelpommerschen fehlt bzw. der im Mecklenburgisch-Vorpommerschen die Hiattilgung gegenübersteht ([bu:ǝn, bu:gǝn]). Im konsonantischen Bereich ist das Brandenburgische mit Ausnahme der westlichen Altmark großräumig durch die Spirantisierung des anlautenden g gekennzeichnet, das in den niederdeutschen Nachbarmundarten plosivisch artikuliert wird ([ju:t] ‘gut’). Das Brandenburgische zeichnete sich vor seiner weitgehenden Aufgabe in weiten Teilen der ehemaligen Dialektlandschaft im lautlichen Bereich durch eine vergleichsweise kleinräumige Binnendifferenzierung aus, deren dominante Nord-Süd-Struktur mit der traditionellen dialektgeographischen Unterscheidung in nordbrandenburgische, mittelbrandenburgische und südbrandenburgische Dialekte gefasst wurde. Raumstrukturierend wirkte dabei einerseits die unterschiedlich starke Reliktwirkung der niederländischen Besiedlung (vor allem im Mittelbrandenburgischen) und andererseits der von Süden nach Norden abnehmende und durch die Vorbildfunktion Berlins verstärkte Einfluss des Mitteldeutschen. Als wichtigster phonetischer Unterschied ist die „extensive diphthongization“ (Schönfeld 1990: 101) zu nennen, mit der sich das Mittel- und Südbrandenburgische vom monophthongischen Vokalismus des Nordbrandenburgischen und Mittelpommerschen abhebt. Den nordbrandenburgischen Monophthongen e:, o:, ø: stehen südlich einer Linie von Magdeburg bis Angermünde die fallenden Langdiphthonge ͡ i:e, u͡:ǝ und ͡y:ǝ gegenüber, die aus dem Mittelniederländischen erhalten sind ([li͡:ǝf] ‘lieb’, [ku͡:ǝkŋ] ‘Kuchen’, [zy͡:ǝtǝ] ‘süß’ vs. [le:f, ko:kŋ, zø:t]). Foerste (1954: 2044) spricht von „einer Übertragung des diphthongischen Prinzips auf die tonlangen Vokale“ a, o, e, ø: des Mittelniederdeutschen, die in Mittel- und Südbrandenburg ebenfalls als fallende Langdiphthonge realisiert werden ([ɔ͡:a, ɔ͡:ǝ, ɛ͡:a, ɛ͡:ǝ, œ͡:ɛ, œ͡:ǝ, œ͡:a]). Im Südbrandenburgischen werden diese Diphthongierungserscheinungen durch die Hiatdiphthongierung von auslautendem mnd. -ê2, -ô2 und bei Pronomen auch -î, -û erweitert, ([ʃna͡e] ‘Schnee’, [ʃtra͡o] ‘Stroh’, [ma͡e] ‘mir’, [ja͡o] ‘euch’) (Schönfeld 1990: 103; Foerste 1954: 2046). Das Nordbrandenburgische unterschied sich gemeinsam mit dem Mittelpommerschen und dem Mecklenburg-Vorpommerschen vom Mittel- und Südbrandenburgischen ehemals auch durch die Apokope von wortauslautendem -e [ǝ] (nordbrandenburgisch Jäns vs. mittel- und südbrandenburgisch Jänse ‘Gänse’) (Schönfeld 1990: 101; Wiesinger 1983: 884). Nachdem bereits in den 1970er Jahren Flexionsformen auf -e (ne lütte ‘eine kleine’, ne gröttere ‘eine größere’, sei söchte ‘sie suchte’) selbst im Norden Mecklenburgs in standardinterferiertem Niederdeutsch „schon fast selbstverständlich geworden sind“ (Dahl 1974: 358), erscheint fraglich, ob die e-Apokope überhaupt noch als raumgliederndes Merkmal im ostniederdeutschen Raum angesehen werden kann. Als mitteldeutsche bzw. mitteldeutsch beeinflusste Lauterscheinungen größerer Reichweite seien für das Brandenburgische nur die Konsonantenverbindung [ʀʃt] ([vɔʀʃt] ‘Wurst’) genannt, die in Mittel- und Südbrandenburg verbreitet war, aber Nordbrandenburg nicht erreichte, und die Entrundung runder Umlautvokale, die vor allem im Osten
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Südbrandenburgs anzutreffen war, aber auch ins Mittelbrandenburgische und ins Berlinische hineinreichte (Foerste 1954: 2045−2046). Das Südbrandenburgische, das zwischen der ik/ich-Isoglosse und der maken/machen-Isoglosse lokalisiert wird, beschreibt Schönfeld (1990: 102) als ein breite Übergangszone niederdeutsch-mitteldeutscher Interferenzen, in der die brandenburgischen Diphthonge bereits vielfach durch hochdeutsche Monophthonge ersetzt und sogar hochdeutsch verschobene Konsonanten in hybriden Wortbildungen in Gebrauch sind ([bi:sn] ‘beißen’, [bru:χn] ‘brauchen’ statt [bi:tn, bru:kŋ]).
3.2. Dialektale Morpho-Syntax innerhalb des ostniederdeutschen Raumes Die Bildung der Pluralformen der Verben im Präsens Indikativ wird traditionell als das wichtigste Unterscheidungskriterium der westniederdeutschen und der ostniederdeutschen Dialekte angeführt. Im Anschluss an die klassischen Darstellungen von Teuchert (1942: VIII) und Foerste (1954: 1959, 2042) gilt der ostniederdeutsche Einheitsplural, bei dem die Pluralendungen von Vollverben und Modalverben in allen drei Personen auf -(e)n gebildet werden (wi hål-en, ji hål-en, sei hål-en ‘wir/ihr/sie holen/holt’), bis in neuere Publikationen und kartographische Darstellungen hinein als zentrales Charakteristikum, um das brandenburgische ebenso wie das mecklenburgisch-vorpommersche Niederdeutsch nach Westen hin abzugrenzen (Wiesinger 1983: 882; Schröder 2004: 65). Einzelbefunde der neueren Forschungsliteratur deuten jedoch darauf hin, dass nicht nur in den Kontaktzonen zwischen dem West- und Ostniederdeutschen, sondern auch an zentraler gelegenen Ortspunkten eine Verbflexion vorzufinden ist, die der hochdeutschen Flexionsmorphologie entspricht (Gundlach 1988: 426; Schönfeld 1990: 94 u. 114−115). Aktuelle Untersuchungen zur zentralmecklenburgischen Region um Rostock ergeben, dass hier zwar noch auf den historischen Wenkerbögen der ostniederdeutsche Einheitsplural auf -en quantitativ deutlich dominierte. Historische Aufnahmen aus den 1960er und 1990er Jahren zeigen aber ebenso wie das intendierte Niederdeutsch von meist primärsprachlich niederdeutsch sozialisierten Sprechern aus den Geburtsjahrgängen zwischen 1920 und 1939, dass im 20. Jahrhundert in dem Untersuchungsgebiet das überkommene System des ostniederdeutschen Einheitsplurals nahezu restlos zusammengebrochen ist und sich der hochdeutschen Verbalmorphologie angeglichen hat (Ehlers 2018: 322–330). Als morphologische Besonderheit des Mecklenburgisch-Vorpommerschen kann das Diminutivsuffix -ing gelten, das sich mit seiner formalen Bildung ebenso wie mit seiner großen Distributionsfreiheit (lising ‘leise-DIM’; låt man sinning ‘lass nur sein-DIM’) und in seiner überwiegend pragmatischen Verwendung stark von den Diminutivformen anderer niederdeutscher Dialekte abhebt. Im Mittelpommerschen und Brandenburgischen steht dieser Diminutivform das gemeinniederdeutsche Diminutivsuffix -ken gegenüber. In größerräumiger Verbreitung, zum Beispiel auch in Berlin, tritt bzw. trat die mecklenburgische -ing-Form allenfalls lexemgebunden im Regiolekt auf (tschüssing ‘tschüssDIM’, Kinnings ‘Kinder-DIM’) (Ehlers 2011). Wie in den meisten niederdeutschen Dialekten wird das Partizip II bei starken und schwachen Verben im Mecklenburgisch-Vorpommerschen, Mittelpommerschen und Nordbrandenburgischen ohne Präfix gebildet ([mɔkt] ‘gemacht’). Im Mittelbrandenburgischen wird übereinstimmend mit dem angrenzenden ostfälischen Niederdeutsch das Par-
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tizip durch das reduzierte Präfix [ǝ] markiert ([ǝmɔ͡:akt] ‘gemacht’), während im südbrandenburgischen Niederdeutsch das standardnahe Präfix /jǝ/ eintritt ([jǝmɔ͡:akt]), das auch für den großräumigen berlin-brandenburgischen Regiolekt typisch ist. Insbesondere bei Partizipien in attributiver Funktion ist allerdings auch im Mecklenburgischen schon seit den 1970er Jahren ein häufiger Transfer des hochdeutschen Präfix ge- ins Niederdeutsche zu beobachten (z. B. upgewarmten Gräunkohl ‘aufgewärmten Grünkohl’, Dahl 1974: 358; Gernentz 1974: 226). Die Binnengliederung der ostniederdeutschen Dialektlandschaft bildet sich auch in den areal unterschiedlichen Realisierungen der Personalpronomina ab. Beim Personalpronomen der zweiten Person Plural im einheitlichen obliquen Kasus (‘euch’) beispielsweise zeigt der Sprachatlas des Deutschen Reichs für das Mecklenburgisch-Vorpommersche mit klarer Abgrenzung nach Süden und stark mäandernden Isoglossen in den Übergangszonen zum Nordniedersächsischen und Mittelpommerschen die Leitform juch, die Foerste (1954: 2040) auf westfälische Siedler zurückführt. In Mittelpommern, Nordund Mittelbrandenburg tritt an dessen Stelle ju und im Südosten Brandenburgs diphthongiertes jau, das auch in kleinen Teilregionen im äußersten Nordwesten (Nord-Prignitz) und nördlich von Berlin vorherrscht. Für den Großraum Berlin verzeichnet Wenkers Sprachatlas bereits wie in Nordobersachsen standardnahes entrundetes eich (Regionalsprache.de: WA 427 [Akkusativ], WA 395 [Dativ]; Goossens 1983, Kartenanhang: X, Kt. 10). Foerste (1954: 1987, Kt. 4) weist mit Bezug auf die Erhebungen von Georg Wenker darauf hin, dass sich innerhalb der ostniederdeutschen Dialektlandschaft auch die Realisierung des Pronomens der dritten Person Singular Neutrum in nord-südlicher Dimension räumlich ausdifferenziert. In Mecklenburg, Vorpommern und Mittelpommern entspricht demnach − wie in den westlich und östlich angrenzenden Küstenregionen − hochdeutschem es seit dem 18. Jahrhundert die niederdeutsche Form dat. In Nordbrandenburg wird dieses Pronomen mit der charakteristischen Vokalhebung als det bzw. dit realisiert, während in Mittel- und Südbrandenburg als Pronomen der 3. Person Singular Neutrum et dominiert. Fleischer (2011: 86 u. 99) bestätigt neuerdings in einer Re-Analyse von 2000 historischen Wenkerbögen aus dem gesamten deutschen Sprachgebiet für das ausgehende 19. Jahrhundert die Nord-Süd-Gliederung des Merkmals auch innerhalb der ostniederdeutschen Region. Neuere Untersuchungen zu Vorpommern (Rügen) und Mecklenburg dokumentieren, dass im 20. Jahrhundert auch in küstennahen Gebieten zunehmend standardnäheres et in Gebrauch kommt, sich die ehemals recht klare Raumstruktur im Hinblick auf das syntaktische Merkmal des Niederdeutschen also aufzulösen beginnt (Hansen 2017: 132−134; Ehlers 2018: 330–337). Ein weiteres morpho-syntaktisches Merkmal, das sich zumindest in der Vergangenheit innerhalb des ostniederdeutschen Raums areal ausgliederte, ist die Form des obliquen substantivischen Einheitskasus, der unter niederländischer Substratwirkung ausschließlich im brandenburgischen Einflussgebiet auf Basis von Akkusativformen gebildet wird. Den (phonetisch geschwächten) Dativformen des Einheitskasus im MecklenburgischVorpommerschen stehen im Brandenburgischen, Mittelpommerschen und zum Teil im Strelitzischen im Neutrum Singular deutlich unterschiedene Akkusativformen mit dit bzw. dat gegenüber (up den Fell ‘auf dem Feld’, achter’n Hus ‘hinter dem Haus’ vs. up dit/dat Feld, achter’t Hus,) (Foerste 1954: 1989−1992, Kt. 5; Wiesinger 1983: 883−884). Anhand von Sprachaufzeichnungen aus den 1950er und 1960er Jahren (ZwirnerKorpus; Korpus Deutsche Mundarten: DDR) weist Weber (2012) nach, dass auch die
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Stellungsvariation zweigliedriger Verbcluster im Nebensatz im ostniederdeutschen Raum areal gegliedert ist (z. B. weil se mehr Kinner hebben gehabt vs. weil se mehr Kinner gehabt hebben). Nur im Brandenburgischen und Mittelpommerschen ist demnach die Abfolge des finiten und des regierten Verbs im satzfinalen Verbcluster variabel, während im Mecklenburgisch-Vorpommerschen wie im gesamten übrigen niederdeutschen Raum die Letztstellung des finiten Verbs im Nebensatz vorherrscht. Andere morpho-syntaktische Merkmale, deren nord-südliche areale Differenzierung für die gesamte deutsche Dialektlandschaft gut belegt ist (z. B. Stellungsvarianten des Pronominaladverbs, Perfekt/ Präteritum-Alternanz) bringen sich innerhalb der begrenzten ostniederdeutschen Region nicht raumgliedernd zur Geltung.
4. Sprachdynamik 4.1. Entwicklung der niederdeutschen Basisdialekte Der Schriftsprachenwechsel vom (Mittel)Niederdeutschen zu hochdeutschen Schreibvarietäten vollzog sich im ostniederdeutschen Raum in einem diskontinuierlichen Prozess, der räumlich, zeitlich und über verschiedene kommunikative Domänen von Süden nach Norden verlief. Er setzte in Brandenburg mit dem Beginn der Wittelsbacher Herrschaft bereits im frühen 14. Jahrhundert allmählich ein und war dort bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen (Gessinger 2003: 2680−2682). In Mecklenburg ging im 15. Jahrhundert zuerst die herzogliche Kanzlei zur hochdeutschen Schriftlichkeit über, ihr folgten nacheinander die Kanzleien der Residenzstädte, der Landstädte, der Hansestädte bis schließlich mit der Kirche und Geistlichkeit sowie Universität und Schule der Sprachwechsel in öffentlichen Domänen am Ende des 16. Jahrhunderts als abgeschlossen gelten konnte (Rösler 2006). Das Ergebnis dieses Sprachwechsels ist − mit Ausnahme des Südostens Brandenburgs, der unmittelbar von der älteren lateinischen Schriftlichkeit zu ostmitteldeutsch geprägten hochdeutschen Schreibvarietäten übergegangen war (Gessinger 2000: 65) − „eine vergleichsweise stabile mediale Diglossie“ zwischen gesprochenem Niederdeutsch und geschriebenem Hochdeutsch (Rösler 2006: 144). Mit der Verschiebung dieser medialen Diglossie zu einer funktionalen bzw. sozialen geriet die niederdeutsche Mündlichkeit zunächst in den städtischen Oberschichten und seit dem 18. Jahrhundert auch im ländlichen Raum in mündlichen Domänen zunehmend in Konkurrenz zum schriftgestützten und prestigeträchtigen Hochdeutschen. Diese Konkurrenz mündete in einen Prozess fortschreitender Aufgabe des Niederdeutschen auch in mündlich nähesprachlicher Kommunikation. In Brandenburg wurde bereits in den 1990er Jahren „selbst in den ‚klassischen‘ Dialektgebieten des Nordens (der Prignitz und der Uckermark) und des Südwestens (dem Fläming) […] die Mundart nur noch von wenigen und natürlich vor allem von älteren Sprechern gepflegt“ (Berner 1996: 6−7). Der stark abnehmende Gebrauch des Dialekts ging mit einem weitgehenden Verlust an produktiver Sprachkompetenz einher: Die repräsentativen Umfragen des Instituts für niederdeutsche Sprache ergaben, dass auch in den noch vergleichsweise dialektstärksten Randregionen Brandenburgs und des südlichen Mittelpommerns 2007 nur noch 5 % der Befragten angaben, Niederdeutsch aktiv sehr gut oder gut zu sprechen (Möller 2008: 22,
18. Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch
32 u. 33). Bis 2016 ist dieser Anteil in diesen Randgebieten auf nur noch 2,8 % der Befragten weiter zurückgegangen (Adler et al. 2016: 14). Angesichts dieser Zahlenverhältnisse muss konstatiert werden, dass der niederdeutsche Basisdialekt selbst in den berlinfernsten Regionen Brandenburgs heute weitgehend aufgegeben worden ist. In Mecklenburg-Vorpommern konnte dagegen noch bei den flächendeckenden Dialekterhebungen der frühen 1960er Jahre festgestellt werden, dass das Niederdeutsche „wohl in einem Zustand des Übergangs ist, […] aber in Familie und Beruf von vielen, auf dem Lande und in den Kleinstädten von den meisten Einheimischen noch gesprochen wird“, die Kinder sprachen demnach allerdings damals „meist schon hochdeutsch untereinander“ (Gundlach 1966: 173−174). Angesprochen ist hier eine wichtige Veränderung in den Spracherwerbsmustern: Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborenen Mecklenburger erwarben familiär häufig noch das Niederdeutsche als Erstsprache und lernten das Hochdeutsche oft erst in der Schule sprechen. Die später Geborenen erwarben typischerweise als Erstsprache schon das Hochdeutsche und gewannen je nach sprachlichem Umfeld zusätzlich mehr oder weniger fundierte passive oder teilweise auch aktive Kompetenz im Niederdeutschen (Ehlers 2018). Der vor allem in den Folgegenerationen der 1950er Jahre sprunghaft fortschreitende Sprechsprachenwechsel führte in den letzten Jahrzehnten auch in Mecklenburg-Vorpommern zu einem erheblichen Rückgang der Niederdeutschkompetenz in der Bevölkerung. Obwohl das Bundesland heute noch an zweiter Stelle der dialektstärksten Länder Norddeutschlands steht, gaben 2007 nur noch 23 % der repräsentativ Befragten an, über sehr gute oder gute aktive Niederdeutschkompetenz zu verfügen (Möller 2008: 32−33). Bis 2016 ist dieser Anteil der nach Selbsteinschätzung sehr guten und guten Niederdeutschsprecher an der Bevölkerung des Landes weiter auf 20,7 % zurückgegangen (Adler et al. 2016: 13). Der Rückgang in Gebrauch und Kompetenz des Niederdeutschen schreitet also weiter voran, obwohl es „nach einer Zeit offizieller Stigmatisierung der Dialekte“ durch die Bildungs- und Kulturpolitik der DDR (Herrmann-Winter 1994: 458) seit den 1970er Jahren von der Bevölkerung zunehmend positiv beurteilt und für erhaltenswert angesehen wird (Arendt 2010: 209; Scharioth 2015: 308−309). Positive Attribute wie Gemütlichkeit, Vertrautheit, Harmonisierung und Humor, die dem Niederdeutschen von Laien dabei zugewiesen werden, spiegeln seine kommunikative Begrenzung auf nähesprachliche Domänen und bestimmen die Pragmatisierung seines Gebrauchs bei Codeswitching oder Varietätenwechsel zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch beispielsweise in der Betriebssprache der regionalen Landwirtschaft oder sogar in der Industrie (HerrmannWinter 1974: 188; Ehlers 2017a). Der enge Kontakt mit den hochdeutschen Prestigevarietäten Regiolekt und Standard und der jahrhundertelang verbreitete hochdeutsch-niederdeutsche Bilingualismus in weiten Teilen der Bevölkerung bewirkte einen starken Strukturwandel in den Basisdialekten. Vorberger (2015) zeigt anhand von 25 Wenkerbögen aus Brandenburg und dem Umland Berlins, dass der Wandel des Brandenburgischen im ausgehenden 19. Jahrhundert örtlich schon über einzellexematischen hochdeutschen Transfer hinausging und zu teilsystematischen Interferenzen im Bereich der Phonologie und Morphologie vorangeschritten war, sofern nicht überhaupt bereits zu hochdeutscher Matrixsprache mit niederdeutschen Reliktstrukturen übergegangen wurde. Betroffen waren von diesem basisdialektalen Sprachwandel gerade auch konstitutiv niederdeutsche Strukturen wie das präfixlose Partizip II, die niederdeutsche Monophthongie und der unverschobene Konsonantismus. Diachronische Untersuchungen zu Vorpommern (Rügen) und Mecklenburg belegen, dass auch im
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Basisdialekt dieser Region seit dem 19. Jahrhundert die strukturelle Varianz und die Frequenz standardnaher bzw. standardidentischer Varianten im niederdeutschen Sprachgebrauch stark zunahmen (Hansen 2009; Köhncke 2010; Ehlers 2018). Über die in Kap. 3 angeführten Beispiele hinaus seien hier nur die fortschreitende Ablösung der exklusiv niederdeutschen, nicht über lautliche Korrespondenzregeln ableitbaren Lexik (achter) durch standardnahe oder standardidentische Lexeme (hinner, hinder, hinter) genannt. Ferner sei auf den Abbau standardferner Verbalmorphologie (wäs ‘sei’, Imperativ von sien; deer ‘tat’, seer ‘sagte’, Präteritum von daun/doon bzw. seggen) oder die abnehmenden Gebrauchsfrequenzen der Rundung von kurzem [ɪ] (bün ‘bin’, ümmer ‘immer’) verwiesen. Die mehr oder weniger stark ausgeprägte Standardadvergenz erfasst alle sprachlichen Ebenen und geht naturgemäß mit einem Abbau kleinräumiger Varianten einher, der die arealen Strukturen innerhalb der ostniederdeutschen Dialekte ebenso wie ihre strukturelle Abgrenzung von den westlichen Nachbarmundarten einzuebnen beginnt.
4.2. Entwicklung und areale Struktur der Regiolekte Die Übernahme des Hochdeutschen in der Schriftlichkeit beförderte im ostniederdeutschen Raum schon früh die Herausbildung überlokaler Varietäten auch im mündlichen Bereich. In den Städten Mecklenburg-Vorpommerns bildeten sich seit dem 16. Jahrhundert neben niederdeutschen Prestigevarietäten, die sich durch die Bewahrung der monophthongischen Realisierung der mittelniederdeutschen Langvokale ô und ê vom „breiteren“ Landplatt abhoben (Vollmer 2017), schriftnahe Umgangssprachen mit vertikal geschichtetem Grad an niederdeutschen Interferenzen heraus. Nach Schönfeld (1989: 66) führte die soziale und regionale Diffusion der Ausgleichvarietäten der größeren Städte über das Bürgertum kleinerer Nachbarstädte und die städtischen Unterschichten bis auf die Dorfbevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern seit dem 17. Jahrhundert zur Herausbildung einer vergleichsweise standardnahen regionalen Umgangssprache. Bis weit in das 20. Jahrhundert wurde dieser Regiolekt in funktionaler Diglossie neben dem zunächst weiter verwendeten Niederdeutsch gesprochen. Die Herausbildung einer regionalen Umgangssprache in Brandenburg ist dagegen in erster Linie an die sprachlichen Ausgleichsprozesse in dem durch beständige Zuwanderung geprägten politischen Zentrum Berlin gebunden. Hier bildete sich seit dem 16. Jahrhundert unter obersächsischem Einfluss „in einem ständigen Austauschprozeß mit dem niederdeutschen Dialekt und der geschriebenen Sprache“ (Schönfeld 1989: 86) eine städtische Umgangssprache aus. Als vertikal differenzierte Stadtsprache hatte sich diese Varietät bereits im 18. Jahrhundert in Berlin allgemein durchgesetzt, stand aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in bestimmten Stadtteilen bzw. Bevölkerungsgruppen in Diglossiekonstellation zum Niederdeutsch kontinuierlich zuwandernder Menschen aus dem Umland. Rosenberg (1986: 93) spricht vom „Doppelcharakter“ dieser Stadtsprache, die in den standardfernen Ausprägungen sozialsymbolisch als Sprache der städtischen Unterschicht galt, in ihren standardnäheren Ausprägungen zur hauptstädtischen Prestigevarietät wurde. Durch die Ausrichtung der Verkehrs-Infrastruktur auf Berlin und den demographischen Austausch mit der expandierenden Stadt, in der sich politische, kulturelle und ökonomische Macht konzentrierten, wurde Brandenburg im 19. Jahrhundert zur „Peripherie Berlins“ (Gessinger 2003: 2691). Im bis an die Elbe reichenden Einflussbereich
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der Hauptstadt wurde das Niederdeutsche zunehmend von der prestigeträchtigen Stadtsprache Berlins abgelöst, die sich großräumig als vergleichsweise standardferne regionale Umgangssprache Mittel- und Nordbrandenburgs ausweitete. In diesen Regionen übernahm der berlin-brandenburgische Regiolekt nicht nur die kommunikativen Funktionen des ehemaligen niederdeutschen Dialekts, sondern er wird von der Bevölkerung auch als der ortsübliche „Dialekt“ bezeichnet (Berner 2000: 38; Schönfeld 1990: 117). Während das früh hochdeutsch geprägte Südostbrandenburg dem sprachlichen Einfluss Berlins weniger stark unterlag, reicht die „Mehrwertgeltung Berlins“ (Protze 1994: 437) über das preußische Mittelpommern und Vorpommern bis in den äußersten Nordosten des ostniederdeutschen Raumes und prägt auch dort die regionale Umgangssprache. Die unterschiedlichen regionalsprachlichen Entwicklungen im Norden und im Süden des ostniederdeutschen Gebietes ergaben eine im Wesentlichen zweigeteilte areale Struktur auf regiolektaler Ebene. So lassen sich keine übergreifenden sprachlichen Merkmale identifizieren, mit denen sich die beiden Regiolekte des ostniederdeutschen Raums gemeinsam nach außen von den anderen regionalen Umgangssprachen in Norddeutschland abgrenzen ließen. Merkmale, die diese Regiolekte teilen, erweisen sich vielmehr als allgemein norddeutsche Merkmale, die schon Lauf (1996: 197−199) und Mihm (2000: 2113) herausgearbeitet haben und deren Fortbestand in der Gegenwart durch die Erhebungen zum Norddeutschen Sprachatlas größtenteils bestätigt werden (Elmentaler & Rosenberg 2015: 54−55 u. 65): Ebenso wie in den westlich angrenzenden Regiolekten Norddeutschlands sind in den Umgangssprachen des brandenburgischen, mittelpommerschen und mecklenburgisch-vorpommerschen Raums mit z. T. hohen Frequenzen und vergleichsweise geringer situativer Varianz die Hebung von langem ɛ ([me:tçǝn] ‘Mädchen’) und die Beibehaltung alter Vokalkürzen in Einsilbern ([tsʊχ] ‘Zug’, [ʀat] ‘Rad’) in Gebrauch, im konsonantischen Bereich ebenso die Spirantisierung des g im absoluten und gedeckten Wortauslaut ([ve:ç] ‘Weg’, [li:çt] ‘liegt’), die spirantische Realisierung der Affrikate pf im Anlaut ([fɔstǝn] ‘Pfosten’), Konsonantenschwund ([ma] ‘mal’) und besonders die t-Apokope im Wortauslaut ([nɪç] ‘nicht’,) sowie der plosivische Verschluss des wortauslautenden Nasals ng [ŋ] ([dɪŋk] ‘Ding’). Innerhalb des ostniederdeutschen Raumes stehen sich strukturell deutlich unterschieden der berlin-brandenburgische und der mecklenburgisch-vorpommersche Regiolekt gegenüber. Die mittelpommersche Region und zum Teil auch Vorpommern stellen sich dabei als Übergangsregion und Einflusszone des brandenburgischen Regiolekts dar, dessen charakteristischen Merkmale hier vielfach mit von Süd nach Nord abnehmenden Frequenzen den Sprachgebrauch bestimmen (vgl. Abb. 18.2). Der mecklenburgisch-vorpommersche Regiolekt weist durch den berlin-brandenburgischen Einfluss auf Vorpommern eine interne Ost-West-Gliederung auf. Die frequentesten Merkmale des berlin-brandenburgischen Regiolekts sind in informellen und vielfach auch in halbformellen Gesprächssituationen nach aktuellen Erhebungen zum Norddeutschen Sprachatlas: − die g-Spirantisierung im Wort- und Morphemanlaut, die insbesondere beim Präfix ge-
in Brandenburg „nahezu obligatorische Geltung“ (Elmentaler & Rosenberg 2015: 65) hat, hohe Frequenzen aber auch in Mittelpommern und im angrenzenden Südostfalen aufweist. − unverschobenes k in [ɪk] ‘ich’ mit nach Norden abnehmenden Frequenzen auch in Mittelpommern und Vorpommern (Elmentaler & Rosenberg 2015: 215).
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Abb. 18.2: Areale Verteilung regiolektaler Merkmale in den Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Frequenz regiolektaler Merkmale in informellen Tischgesprächen (schwarze Kreissegmente: prozentualer Anteil standarddivergenter Merkmale). Je vier ortsfeste Probandinnen im Alter zwischen ca. 40 und 60 Jahren pro Erhebungsort. (Auf der Basis der Erhebungen zum Norddeutschen Sprachatlas, Bd. 1, Elmentaler & Rosenberg 2015, erstellt mit Regionalsprache.de)
18. Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Brandenburgisch − unverschobenes t in [dɪt] ‘das’, [vat] ‘was’, [ɛt] ‘es’ und Morphem -es. Höchste Ge-
brauchsfrequenzen wiederum in Brandenburg, etwas geringere in Mittelpommern und Vorpommern (Elmentaler & Rosenberg 2015: 199; vgl. Abb. 18.2). − monophthongische Realisierung von standarddeutsch ei, au ([ke:nǝ] ‘keine’, [o:χ] ‘auch’) mit hohen Frequenzen in Brandenburg, deutlich geringeren in Mittelpommern und nur sehr geringen Häufigkeiten noch in Vorpommern (Elmentaler & Rosenberg 2015: 123; vgl. Abb. 18.2). − die in ganz Norddeutschland östlich der Weser verbreitete regiolektale Rundung von kurzem ɪ ([ʃyf] ‘Schiff ’). Sie tritt in Brandenburg und Mittelpommern ähnlich wie im Ostfälischen mit vergleichsweise hohen Frequenzen auf, die sich in geringerem Maße auch noch in Vorpommern finden (Elmentaler & Rosenberg 2015: 167; vgl. Abb. 18.2). Als deutliches Abgrenzungsmerkmal der Regiolekte im brandenburgischen und mittelpommerschen Raum ist die unterschiedliche Realisierung des Vokals in den regiolektalen Äquivalenten von standarddeutschem das zu identifizieren. Während in Brandenburg die schon basisdialektal vorgeprägte Palatalisierung zu [ɪ] (dit, gelegentlich dis) mit Frequenzen von über 90 % dominiert, lässt sie sich im mittelpommerschen Raum nur sehr selten nachweisen (Elmentaler & Rosenberg 2015: 206). Charakteristische Merkmale, mit denen sich der mecklenburgisch-vorpommersche Regiolekt vom brandenburgischen abhebt, sind nach den aktuellen Erhebungen des Norddeutschen Sprachatlas für informelle Gesprächssituationen vor allem: − die Lenisierung der stimmlosen Plosive, insbesondere von p und t in intervokalischer
Position ([bɪdǝ] ‘bitte’, [pabǝ] ‘Pappe’). Das Merkmal tritt im mecklenburgisch-vorpommerschen Regiolekt etwas seltener auf als im angrenzenden Holsteinischen und Nordhannoverschen, hebt sich aber mit Frequenzen von zum Teil über 40 % der Belege (und geringeren Häufigkeiten in Mittelpommern) deutlich vom brandenburgischen Regiolekt ab, wo die Lenisierung nur selten nachzuweisen ist (Elmentaler & Rosenberg 2015: 225; vgl. Abb. 18.2). − Diphthongierung der mittleren Langvokale e, o, ø: ([ze͡:i] ‘See’, [bo͡:udǝn] ‘Boden’, [ʃø͡:in] ‘schön’). Das Merkmal tritt in Mecklenburg-Vorpommern und Mittelpommern ebenso wie in Schleswig-Holstein zwar nur in vergleichsweise geringen Häufigkeiten auf, ist aber in Brandenburg gar nicht zu hören (Elmentaler & Rosenberg 2015: 115). − Realisierung von auslautendem -er als Vollvokal [ɛ] bzw. [ɛ:] ([vi:dɛ] ‘wieder’). Das Merkmal ist in Aufnahmen aus Mecklenburg und Vorpommern mittelmäßig frequent (zwischen 20 % bis 40 % der Belege). Es tritt im westlich angrenzenden SchleswigHolstein etwas seltener auf, ist in Mittelpommern und Brandenburg dagegen kaum nachzuweisen (Elmentaler & Rosenberg 2015: 175; Kehrein 2012: 311). Offensichtlich gehen bestimmte Spezifika der rezenten Regiolekte in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg auf charakteristische Merkmale der dort (ehemals) gesprochenen niederdeutschen Basisdialekte zurück: so etwa die Lenisierung der intervokalischen Tenues im mecklenburgisch-vorpommerschen Regiolekt oder die Vokalhebung in dit im brandenburgischen Regiolekt. Die hier anhand phonetischer Kriterien aufgewiesene areale Zweiteilung der Regiolekte des ostniederdeutschen Raumes, schlägt sich auch auf der Ebene der umgangssprachlichen Lexik nieder. Eine Clusteranalyse der wortgeographischen Zuweisungen in
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Jürgen Eichhoffs Wortatlas der deutschen Umgangssprachen ergibt in der ostniederdeutschen Region ebenfalls einen klaren Nord-Süd-Gegensatz, weist aber die regiolektale Lexik Mittelpommerns und Vorpommerns noch deutlicher als auf phonetischer Ebene dem brandenburgischen Regiolekt zu (Möller 2003: 288). Auf der Ebene der regiolektalen Wortgeographie tritt auch die areale Zugehörigkeit des westlichen Mecklenburg zum benachbarten nordniedersächsischen Großraum deutlich heraus, die sich anhand lautlicher Merkmale ebenfalls gezeigt hatte. Auch in der laienlinguistischen Wahrnehmung besteht eine sehr klar empfundene Grenze zwischen dem brandenburgischen und dem mecklenburgisch-vorpommerschen Regiolekt. Der sprachliche Abstand des mecklenburgisch-vorpommerschen Regiolekts zu den westlich angrenzenden Sprachräumen Schleswig-Holsteins und Niedersachsens wird von befragten Laien als viel geringer eingestuft als der gegenüber Brandenburg (Elspaß & Möller 2003 ff.: 6. Runde, Frage 1, Wabenkarte). Die Tatsache, dass die meisten charakteristischen Merkmale des Berlinischen schon vor über zweihundert Jahren beschrieben worden sind, deutet auf eine „erstaunliche diachronische Konstanz dieser Varietät“ hin (Mihm 2000: 2114). Verschiedene Untersuchungen Schönfelds zum Berlinischen und zum brandenburgischen Regiolekt belegen aber andererseits, dass ehemalige Kennzeichen des Regiolekts im Lauf des 20. Jahrhunderts abgebaut werden bzw. wurden: z. B. die Spirantisierung des g vor Konsonant ([jro:s] ‘groß’), Entrundung von ø, y, ɔ͡y ([ʃe:n] ‘schön’), Realisierung von rst als [ʀʃt] ([dʊʀʃt] ‘Durst’), unverschobenes k im Morphem -chen ([bɪskǝn] ‘bisschen’) (Schönfeld 1989: 124 u. 127; Schönfeld 2001: 44). Schönfelds Vergleiche von Berliner Sprachaufnahmen aus mehreren Sprechergenerationen legen „eine drastische Abnahme der Verwendungshäufigkeit“ auch für bis heute hochfrequente Varianten des Berlinischen nahe (Elmentaler & Rosenberg 2015: 64). Besonders nach der Wiedervereinigung der geteilten Stadt Berlin zeichnet sich in Ostberlin ein Einstellungs- und Sprachgebrauchswandel ab, der im Sinne einer „Orientierung an dem in Westberlin üblichen Sprachgebrauch“ zu einem Abbau bzw. zu enger Gebrauchsbeschränkung der extrem standarddifferenten Varianten des „starken Berlinischen“ führt (Schönfeld 2001: 181). Ob sich ähnliche Entwicklungstendenzen auch in der ganzen brandenburgischen Region durchsetzen, wäre zu untersuchen. Vergleiche heutiger Untersuchungsergebnisse mit empirischen Studien der 1970er Jahre (Dahl 1974; Herrmann-Winter 1979) belegen ebenso wie aktuelle apparent-time-Untersuchungen, dass sich auch der mecklenburgisch-vorpommersche Regiolekt in der jüngeren Vergangenheit stark der Standardsprache annähert. Bei Sprechern, die zwischen 1950 und 1969 in Rostock und Umgebung geboren wurden, treten typische Merkmale des Regiolekts in der gleichen Gesprächssituation zum Teil signifikant seltener auf als bei Personen, die dort zwischen 1920 und 1939 geboren wurden: z. B. velares [ɫ], Lenisierung von intervokalischem t, Diphthongierung der mittleren Langvokale, unverschobenes t in das, dass, was (Ehlers 2018). Dabei werden das velare „Ostsee-l“ und die unverschobenen Reliktwörter dat, wat intergenerational nahezu restlos abgebaut, wodurch sich der mecklenburgische Regiolekt einerseits stärker dem angrenzenden nordniedersächsischen Regiolekt annähert, der das Ostsee-l nicht kannte. Andererseits werden die arealen Unterschiede zum Vorpommerschen stärker konturiert, wo dat und wat frequent in Gebrauch bleiben. Die genannten Abbauprozesse bringen sich in der Großstadt Rostock meist deutlicher zur Geltung als in der kleinstädtischen und ländlichen Umgebung.
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Auch auf morpho-syntaktischer Ebene zeigen sich im Untersuchungsgebiet bei Rostock deutliche intergenerationelle Prozesse der Standardadvergenz: z. B. bei der abnehmenden Frequenz der Distanzstellung von Pronominaladverbien mit konsonantisch anlautender Präposition, beim Abbau der Vergleichspartikel wie im Komparativ und beim zurückgehenden Gebrauch von denn als Temporaladverb (Ehlers 2018). Studien von Kehrein (2012) und Vorberger (2017) belegen, dass auch im vorpommerschen Raum (Stralsund und Rügen) Merkmale des Regiolekts, die dort in den 1970er Jahren noch verbreitet waren (wie z. B. das velare [ɫ] oder die Realisierung von anlautendem j als [ʒ, ʤ] ([ʒʊŋǝ] ‘Junge’)), heute nicht mehr oder kaum noch nachzuweisen sind. Der brandenburgische ebenso wie der mecklenburgisch-vorpommersche Regiolekt nähern sich im 20. Jahrhundert also strukturell dem Standarddeutschen an. Dabei werden bzw. wurden einige ehemals charakteristische Merkmale (z. B. brandenburgische Vokalentrundung, mecklenburgisch-vorpommersches „Ostsee-l“) zum Teil nahezu restlos abgebaut oder standarddifferente Varianten in ihrer Gebrauchsfrequenz deutlich vermindert. Trotz grundsätzlich gleichgerichteter Entwicklungstendenzen hebt sich der brandenburgische Regiolekt in der Anzahl und mit der großen Gebrauchshäufigkeit standarddifferenter Merkmale vom insgesamt standardnäheren mecklenburgisch-vorpommerschen Regiolekt ab. Die Tatsache, dass standardabweichende Varianten wie die Spirantisierung von anlautendem g oder die Monophthongierung von hochdeutschem a͡i und a͡o trotz hoher Salienz von brandenburgischen und mittelpommerschen Probanden selbst im halbformellen Interview mit Unbekannten hochfrequent realisiert werden, deutet darauf hin, dass in diesen Regionen ein „doppelte[r] Normhorizont“ (Elmentaler, Gessinger & Wirrer 2010: 134) wirksam wird. Im Situativitätstest bestätigen Probanden aus Brandenburg ihre Orientierung an einem zweiten, regionalen Normhorizont neben dem überregionalen Standard, wenn sie die genannten Varianten ausdrücklich in halbformellen Situationen (z. B. im Reisebüro) für akzeptabel halten oder im Falle der g-Spirantisierung im Anlaut zum Teil sogar eine Verwendung in der hochformellen Gesprächssituation vor Gericht für situationsadäquat ansehen würden (Elmentaler & Rosenberg 2015: 65, 132 u. 246). Anders als den mecklenburgisch-vorpommerschen Regiolekt zeichnet den brandenburgischen Regiolekt bzw. seine Sprecher damit eine „standarddivergente Grundhaltung“ (Mihm 2000: 2114) aus. Der regionale Normhorizont der Umgangssprache in Brandenburg und Mittelpommern scheint dabei bis heute an die Vorbildwirkung Berlins gebunden zu sein: Probanden aus Mittelpommern, Nord- und Südbrandenburg lokalisieren die bei ihnen verbreitete gSpirantisierung im Wortanlaut in Mental Maps in Raumstrukturen, die sich um die Stadt Berlin zentrieren. Ebenso überlappen sich die Mental Maps zur regionalen Verbreitung der monophthongischen Lexeme keene ‘keine’ und ooch ‘auch’ bei Befragten aus Nordwie Südbrandenburg jeweils am dichtesten in Berlin (Elmentaler & Rosenberg 2015: 133, Kt. V4.4 A-B, 248, Kt. 5.5). Probanden aus Brandenburg bewerten das Berlinische überdies häufiger und einhelliger als „sympathisch“ als Einwohner der Stadt selbst (Plewnia & Rothe 2012: 50 u. 53). Dabei nimmt aber die positive Bewertung des Berlinischen in Brandenburg mit wachsender Entfernung zu Berlin ab (Berner 2000: 39).
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4.3. Sprachliche Folgen der Immigration Vertriebener nach MecklenburgVorpommern und Brandenburg Die weitverbreitete Annahme, es gebe einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der massiven Einwanderung von Flüchtlingen und Vertriebenen nach Norddeutschland und dem beschleunigten Abbau des Niederdeutschen nach 1945 hält einer empirischen Überprüfung nicht stand. Umfangreiche Erhebungen in einer von der Zuwanderung besonders stark betroffenen Region in Nordmecklenburg lassen vielmehr erkennen, dass die als Schulkinder, Jugendliche und junge Erwachsene immigrierten Vertriebenen den niederdeutschen Ortsdialekt ihres neuen Lebensumfeldes vielfach mit hohen aktiven Kompetenzen erworben und im Alltag jahrelang verwendet haben bzw. zum Teil bis heute benutzen. Das Niederdeutsche hat also durch die Einwanderung zumindest kurzfristig an Sprechern gewonnen (Ehlers 2013; für Sachsen-Anhalt vgl. Föllner 2000). Wie die Untersuchungen an niederdeutschkompetenten Zuwanderern aus mittel- und oberdeutschen Dialektregionen in Nordmecklenburg zeigen, weist das ungesteuert als Fremdsprache erworbene Niederdeutsch von Vertriebenen und ihren Nachkommen überdies mitunter archaischere Züge auf als das der gleichalten Alteingesessenen (hier und im Folgenden Ehlers 2018). Standarddifferente Merkmale, die von den niederdeutschkompetenten Zuwanderern und ihren Nachkommen offenbar als besonders typisch niederdeutsch aufgefasst werden (z. B. runder Kurzvokal ʏ in [bʏn] ‘bin’ usw., alveolare Realisierung von s in anlautendem st [st], exklusiv niederdeutsche Lexeme wie achter ‘hinter’, schnacken ‘sprechen’, weckern ‘wem’), werden im L2-Niederdeutsch der Vertriebenen zum Teil deutlich häufiger verwendet als von gleichalten Alteingesessenen, deren Niederdeutsch intergenerationell eher zu standardnäheren und standardidentischen Formen tendiert. Auch auf der Ebene der Regiolekte zeigt sich, dass für die sprachliche Akkulturation der Zugezogenen, die sich in Mecklenburg von Grund auf neues ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital erarbeiten mussten, gerade die Nonstandardvarietäten der Zuwanderungsgebiete Orientierungspole der sprachlichen Anpassung boten. Schon in der Generation der vor 1940 geborenen Zuwanderer lässt sich eine partielle Adaption an die regionale Umgangssprache des Einwanderungsgebietes verzeichnen, die bei Einzelpersonen bis zur hyperfrequenten Übernahme einzelner Merkmale des mecklenburgischen Regiolekts in den eigenen standardnahen Sprachgebrauch führt. Die Angehörigen der nach 1950 geborenen Nachkommengeneration der Vertriebenenfamilien, insbesondere Personen mit zwei zugewanderten Elternteilen, realisieren typische Merkmale des mecklenburgischen Regiolekts (z. B. velares [ɫ], Reliktwörter dat/wat, die Diphthongierung der mittleren Langvokale, Lenisierung von intervokalischem t) im Durchschnitt deutlich häufiger als gleichalte Alteingesessene in derselben Gesprächssituation. Die vielfach hyperfrequente Adaption standarddivergenter Merkmale des mecklenburgischen Niederdeutsch wie des dortigen Regiolekts durch die Vertriebenen und ihre Nachkommen bringt in die sprachlichen Synchronisierungsprozesse vor Ort ein retardierendes Moment ein und dürfte zwischenzeitlich insgesamt eher zur Verlangsamung der laufenden Entregionalisierung des Sprachgebrauchs der Alteingesessenen beigetragen haben. Die extrem niedrige soziale Stellung der immigrierten Vertriebenen hat ebenso wie ihre administrativ gewollte zerstreute Ansiedlung einen außerordentlich raschen Abbau ihrer Herkunftsvarietäten in der Generationsfolge der Einwandererfamilien befördert. Die Basisdialekte der Vertreibungsgebiete sind an die in Mecklenburg geborenen Nachkom-
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men der Zuwanderer überhaupt nur in den wenigen Ausnahmefällen weitergegeben worden, wo Vertriebene derselben Herkunftsregion in kompakten und zahlenstärkeren Siedlungsinseln angesiedelt wurden (Ehlers 2016). Merkmale der Regiolekte der mittel- und oberdeutschen Vertreibungsgebiete prägen zwar zum Teil bis heute die standardnahe Redeweise einzelner 1945/1946 zugewanderter Personen (z. B. Diminutivsuffixe auf -l, Entrundung von y:/ʏ, ø:/œ, stimmlose Realisierung von Anlaut-s), bereits im Sprachgebrauch ihrer Nachkommengeneration sind derartige regiolektale Relikte aber nicht mehr nachweisbar. Die regiolektale Lexik der Herkunftsgebiete (z. B. Karfiol ‘Blumenkohl’, Hader ‘Lappen, Lumpen’) geriet meist bereits in der Einwanderergeneration außer Gebrauch und zum Teil sogar schon in dieser Generation in Vergessenheit. Wo die Nachkommen der Zuwanderer diese Lexeme überhaupt noch kennen, verwenden sie sie nicht in kommunikativer Funktion. Schon in der ersten Generationsfolge der Vertriebenenfamilien ist die Tradierung der Herkunftsdialekte und -regiolekte meist vollständig abgebrochen. Da auch im Sprachgebrauch der alteingesessenen Mecklenburger keinerlei situationsübergreifende Advergenzen an die Herkunftsvarietäten der Zuwanderer erkennbar sind, ist zu erwarten, dass die Herkunftsvarietäten der Vertriebenen im Varietätengefüge des mecklenburgischen Zuwanderungsgebietes keine langfristigen Spuren hinterlassen werden.
5. Zusammenfassung mit Blick auf die regionalsprachlichen Spektren und ihre Arealität Im nordostdeutschen Raum stehen sich heute zwei regionalsprachliche Gefüge sehr unterschiedlicher Struktur gegenüber. Das regionalsprachliche Spektrum in MecklenburgVorpommern umfasst unterhalb des Standards den vor allem von älteren Bevölkerungsgruppen vielfach noch beherrschten und eingeschränkt noch gesprochenen niederdeutschen Basisdialekt sowie eine vergleichsweise standardnahe regionale Umgangssprache. Die Herkunftsvarietäten der vielen zugewanderten Flüchtlinge und Vertriebenen werden im regionalsprachlichen Gefüge Mecklenburg-Vorpommerns überlokal keine dauerhaften Spuren hinterlassen, die massive Zuwanderung dürfte allerdings die Entwicklungsdynamik dieses Varietätengefüges beeinflusst haben. Der mecklenburgisch-vorpommersche Regiolekt hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte strukturell dem Standard angenähert und dadurch an Variationstiefe im standardfernen Spektrum verloren. Die in den 1970er Jahren noch erkennbare Abgrenzung zweier regiolektaler Sprechlagen unterschiedlicher Standardferne, die Dahl (1974: 343−344) als „hochsprachenahes (umgangssprachliches) Hochdeutsch“ und „Hochdeutsch mit niederdeutscher Beimischung (mundartnahe Umgangssprache)“ unterschieden hatte, ist heute noch in marginalen Gebieten wie Rügen erkennbar (Vorberger 2017). Im städtischen Umfeld Stralsunds dagegen ist das regiolektale Spektrum bei jüngeren Sprechern offenbar bereits auf eine einzige standardnahe Sprechlage geringer Variationstiefe reduziert worden (Kehrein 2012). Speziell im vorpommerschen und mittelpommerschen Raum spielt die Übernahme einzellexematischer Merkmale des brandenburgischen Regiolekts (z. B. wat ‘was’, ik ‘ich’, uff ‘auf ’, gloob ‘glaube’) eine wichtige Rolle bei der Ausprägung der standardfernsten regiolektalen Sprechlage.
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Im brandenburgischen regionalsprachlichen Gefüge ist nach der Aufgabe der niederdeutschen Basisdialekte der an der Berliner Stadtsprache orientierte Regiolekt die standardfernste Varietät. Die beträchtliche Variabilität dieses berlin-brandenburgischen Regiolekts gliedert Schönfeld (2001: 44) − jedenfalls für das Berlinische − in die drei Sprechlagen „leichtes Berlinisch“, „mittleres Berlinisch“ und „starkes Berlinisch“, die sich durch die unterschiedliche Gebrauchsfrequenz und Systematizität der charakteristischen berlinischen Merkmale unterscheiden. Auch der berlin-brandenburgische Regiolekt unterliegt in den letzten Jahrzehnten einer Dynamik der Standardadvergenz, dieser Tendenz steht aber ein spezifisch regionaler Normhorizont gegenüber, der die Verwendung der salient standardabweichenden brandenburgischen Umgangssprache selbst in halbformellen und zum Teil sogar in hochformellen Gesprächssituationen adäquat erscheinen lässt. Die unterschiedliche Dynamik der beiden ostniederdeutschen Regionalsprachen, zwischen denen das Mittelpommersche und z. T. auch das Vorpommersche von alters her Übergangszonen bilden, zeitigt gegenläufige Konsequenzen für die areale Gliederung der ostniederdeutschen Sprachlandschaft. Wo die niederdeutschen Dialekte noch gesprochen werden, beginnen sie durch die zunehmende Integration standardnaher und standardidentischer Formen und Strukturen ihre arealen Konturen zu verlieren. Dies betrifft sowohl die ehemals starken Nord-Süd-Gegensätze zwischen dem Mecklenburgisch-Vorpommerschen und den brandenburgischen Dialekten als auch die weniger stark ausgeprägte West-Ost-Binnengliederung innerhalb des mecklenburgisch-vorpommerschen Dialekts. Beim mecklenburgisch-vorpommerschen Regiolekt führt die fortschreitende Advergenz an den Standard zu einer gewissen Entregionalisierung im Sinne einer weiteren Annäherung an die ohnehin schon strukturell ähnlichen Regiolekte Schleswig-Holsteins und Niedersachsens. Dagegen hat die vergleichsweise große Stabilität des brandenburgischen Regiolekts einerseits die Aufrechterhaltung der klaren Abgrenzung gegenüber dem westlichen mecklenburgischen Varietätenraum zur Folge. Durch seine offenbar bis heute andauernde Vorbildwirkung für den mittelpommerschen und vorpommerschen Raum hat sich der areale Geltungsbereich des brandenburgischen Regiolekts andererseits auch auf die östlichen Regionen des nordostniederdeutschen Dialektraumes ausgedehnt.
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Klaas-Hinrich Ehlers, Berlin (Deutschland)
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte 19. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Morphologie 1. Begriffsbestimmungen 2. Flexionsmorphologie 3. Wortbildung
4. Morphologische Merkmale in höheren Sprechlagen der Regionalsprachen 5. Literatur
1. Begriffsbestimmungen 1.1. Systembereich Morphologie Morphologie ist die Lehre von der Bildung der lexikalischen Grundbausteine der Rede (Wortbildung) und ihrer Formveränderlichkeit (Flexionsmorphologie). Die Wörter werden in Abhängigkeit von ihren semantischen Eigenschaften (Bezug auf die außersprachliche Welt), den syntaktischen Relationen zueinander (Rektion, Kongruenz etc.) und den Äußerungsabsichten der Sprecher (z. B. Kennzeichnung der Proposition als „irreal“ oder „vergangen“) flektiert, wobei den Sprachen dazu ein beschränktes Inventar an Kategorien und Merkmalen zur Verfügung steht. Die Domäne der Morphologie i. e. S. ist das Wort. Die Grenze zur Syntax ist die Wortgrenze. Damit gehört zum Beispiel das periphrastische Perfekt (habe gesehen) nicht zur Morphologie i. e. S. Das Perfekt ist morphosyntaktisch, weil es zwar die Flexion einzelner Wörter beinhaltet (flektierte Präsensform des Auxiliars, Partizip II des Vollverbs), das Tempusmerkmal Perfekt aber vom Verhältnis der Wörter zueinander symbolisiert wird.
1.2. Dialekt − Regionalsprache − Literatursprache Die Regionalsprachen, verstanden als Gesamtheit der „Varietäten und Sprechlagen ‚unterhalb‘ der nationalen Oralisierungsnorm“ (Schmidt & Herrgen 2011: 63), haben im deutschen Sprachraum ganz unterschiedliche Spektren (vgl. Ganswindt, Kehrein & Lameli 2015: 441−450), denen auch die Funktionsdomänen unterschiedlich zugeordnet sind. Das Medium aller regionalsprachlichen Register ist aber üblicherweise die Mündlichkeit. Den Regionalsprachen soll daher als Vergleichspunkt und Überdachungsvarietät die „Literatursprache“ gegenübergestellt werden, d. h. die Standardsprache im Schriftmedium mit hohem Formanspruch. Die Dialekte bilden das unterste und standardfernste Register der Regionalsprache mit Varietätenstatus (Schmidt & Herrgen 2011: 59). Als solche repräsentieren sie das Maximum der morphologischen Verschiedenheit von der Literatursprache. Die Gesamtheit der morphologischen Möglichkeiten des Deutschen wird also aus der Kontrastierung von Literatursprache und Dialekten sichtbar, die in https://doi.org/10.1515/9783110261295-019
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Kap. 2. und Kap. 3. vorgenommen wird. Als Dialekte werden auch Sprachinselvarietäten in Mehrsprachigkeitssituationen wie Zimbrisch oder Walserdeutsch berücksichtigt, die kein Teil einer deutschen Regionalsprache sind. Die morphologischen Spezifika der höheren Sprechlagen der Regionalsprache werden in Kap. 4. behandelt.
1.3. Synthetischer und analytischer Sprachbau im Deutschen: Diachronie und Synchronie In seiner Geschichte oszilliert das Deutsche zwischen synthetischem und analytischem Sprachbau. Bei hohem Synthesegrad sind die Exponenten lexikalischer und grammatischer Bedeutungen innerhalb des Wortes konzentriert, was zu morphologisch komplexen Wörtern führt. Bei einem niedrigen Synthesegrad sind die Bedeutungen auf mehrere Wörter verteilt, und die einzelnen Wörter sind morphologisch weniger komplex. Während es für die manchmal getroffene Feststellung einer generellen Abnahme des Synthesegrads in der deutschen Sprachgeschichte keine empirische Basis gibt, sind in einzelnen Teilbereichen des Systems doch klare diachronische Entwicklungsrichtungen sichtbar (vgl. gleichlautend Roelcke 1998: 1005). So zeigt sich abnehmender Synthesegrad etwa in der Reduktion des Kasusausdrucks am Substantiv (vgl. Kap. 2.1.; bei Verlagerung des Kasusausdrucks vom Substantiv auf Artikel und attributives Adjektiv oder gar Ersetzung von Kasusmarkern durch Präpositionen) oder in Synkretismen beim Personen- und Numerusausdruck am Verb (und gleichzeitiger Systematisierung des Gebrauchs der Subjektpronomen). In diesen Fällen gehen morphologische Exponenten am Wort verloren, dieser Verlust wird aber durch zusätzliche Wörter in periphrastischen Konstruktionen kompensiert. Abnehmender Synthesegrad zeigt sich auch im Rückgang der eigentlichen Flexion im Sinne der „Wurzelveränderung“ (nach Schleicher 1858: 4) zugunsten anderer Verfahren wie Addition von Suffixen. Das geschieht etwa im Übergang von Verben aus der starken in die schwache Konjugationsklasse: Vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen hat sich die Zahl der starken, ablautenden Verben fast halbiert (von ca. 330 im Althochdeutschen [Sonderegger 2000: 1189] auf ca. 170 in der neuhochdeutschen Literatursprache [Eisenberg 2006: 185]). Der Synthesegrad der schwachen Verben ist geringer, weil sich die Wortwurzel als Trägerin der lexikalischen Bedeutung vom Affix als Träger der grammatischen Bedeutung (etwa Tempusmerkmal) isolieren lässt, was bei den starken Verben so nicht möglich ist. In den oberdeutschen Dialekten ist der Synthesegrad beim Tempusausdruck besonders gering, weil einerseits das Präteritum geschwunden ist und andererseits die Formen des Partizips II zahlreicher historisch und auch in der neuhochdeutschen Literatursprache ablautender Verben nichtablautende Nebenformen haben oder ganz zur nichtablautenden Bildung übergegangen sind. Ein Beispiel im Zimbrischen von Lusern ist paiʃɒn ‘beißen’, Partizip II gǝpaist (Bacher 1905: 194−195; als Suffix des Partizips II kommt in Lusern ausschließlich das [schwache] -[ǝ]t vor). Für das Südbairische des Passeiertals gibt Lanthaler (1971: 46) noch 140 Verben mit ablautendem Partizip II an, für das Zimbrische von Lusern führen Panieri et al. (2006: 369−373) gerade noch 69 Verben auf. Umgekehrt zeigen sich in der deutschen Sprachgeschichte aber auch Erhöhungen des Synthesegrads. In der Flexionsmorphologie betrifft das etwa die sog. Numerusprofilierung beim Substantiv: einerseits dadurch, dass der Plural überhaupt am Substantiv mar-
19. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Morphologie
kiert wird − vgl. mhd. (das) wort (Sg.) vs. (diu) wort (Pl.) mit nhd. Wort (Sg.) vs. Wörter (Pl.) −, andererseits durch die Verlagerung des Pluralexponenten von der Peripherie (Pluralsuffix) ins Zentrum des Wortes (Umlaut, Tonakzent etc.) − vgl. litspr. Schafe (Pural durch Suffix) mit schwäb. Schääf (Plural durch Umlaut, im Unterschied zum Singular Schoof) (vgl. Kap. 2.1.). Die Zunahme der Komposita auf Kosten von komplexen Nominalphrasen kann ebenfalls als Entwicklung hin zu mehr Synthese betrachtet werden (vgl. Kap. 3.). Dialekte können als die synchrone räumliche Spiegelung dieser zeitlichen Entwicklungen aufgefasst werden: Sie können alte, manchmal althochdeutsche Verhältnisse bewahren, aber auch einen Entwicklungsstand zeigen, der ggf. die Zukunft der Literatursprache repräsentiert (vgl. Rowley 2004: 343). Beide Seiten zeigen sich mitunter in ein- und demselben Dialekt. Zum Beispiel ist das Zimbrische sehr konservativ bzgl. des Erhalts (des Vokalismus) der Neben- und Mittelsilben (z. B. zimbr. hanof, henuf etc. ‘Hanf ’ wie ahd. hanaf; vgl. Zimbrischer und Fersentalerischer Sprachatlas [ZSA]: Kt. 98). Dagegen ist das Zimbrische progressiv beim Abbau der Spezifika des Partizips II starker Verben (Ablaut, Suffix -en, s. o.). Der Zusammenhang von räumlicher und zeitlicher Variation zeigt sich in den Sprachinseldialekten auch dadurch, dass sprachkontaktinduzierter Wandel normalerweise im Rahmen der Strukturen bleibt, die bereits in der deutschen Sprachgeschichte belegt waren (vgl. z. B. Rabanus i. V. zu Possessivkonstruktionen).
2. Flexionsmorphologie Morphologische Kategorien (z. B. Numerus) haben Merkmale (oder Werte, z. B. Plural). Während man davon ausgehen kann, dass Sprecher aller Sprachen über weitgehend vergleichbare semantische Basiskonzepte verfügen (also z. B. Ein-, Zwei- oder Mehrzahligkeit), sind diese Konzepte nicht alle auch als morphologische Kategorien verfügbar (vgl. zu diesem Punkt allgemein Kasper & Werth 2015: 354−355). Im Deutschen können die Merkmale folgender Kategorien morphologische Exponenten haben: Person, Numerus, Kasus, Genus, Tempus, Modus, Definitheit (etwa starke vs. schwache Adjektivflexion), Belebtheit (s. Kap. 2.5.), im Übergangsbereich zur Wortbildung auch Aspekt und Valenz. Insgesamt stimmen Literatursprache und Regionalsprachen in Bezug auf Kategorien, Merkmale und Exponenten in hohem Maße überein, und das schließt ausdrücklich auch Sprachinseldialekte wie Zimbrisch ein. In unserem Zusammenhang stehen allerdings die Stellen im System im Vordergrund, an denen es Unterschiede zwischen Literatursprache und Dialekt bzw. zwischen Dialekten gibt. Diese Unterschiede sind verschiedener Natur: − Von der Bedeutungsseite her gibt es Unterschiede bzgl. der Relevanz von Katego-
rien (Kap. 2.1.) und des Merkmalsinventars der Kategorien und der Synkretismen (Kap. 2.2.). − Von der Formseite her bestehen Unterschiede bzgl. der verwendeten Markertypen (Kap. 2.3.) und der Zuordnung von Markern zu Merkmalen morphologischer Kategorien (Kap. 2.4.). − Zusätzlich gibt es Unterschiede in der Fähigkeit von Wortarten, Exponenten morphologischer Merkmale zu binden (Kap. 2.5.). Nicht alle hier beschriebenen Formtypen haben im heutigen kommunikativen Alltag eine hohe Gebrauchsfrequenz. Im Folgenden wird für die Exemplifizierung der Typen nicht
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Kt. 19.1: Lage der im Artikel genannten Ortsdialekte, vor dem Hintergrund von Wiesingers Dialekteinteilungskarte (leicht modifiziert).
selten auf Datensammlungen aus dem späten 19. Jahrhundert (Wenker) oder dem frühen 20. Jahrhundert (Ortsgrammatiken) zurückgegriffen, in denen die Dialekte eine viel höhere Vitalität hatten als heute. Dessen ungeachtet zeigen diese Daten, was in Dialekten im Unterschied zur Literatursprache möglich ist, auch wenn es im kommunikativen Alltag selten eingesetzt wird. Man kann annehmen, dass die standarddivergenten Typen höherer regionalsprachlicher Sprechlagen, die in Kap. 4. behandelt werden, eine höhere Gebrauchsfrequenz haben. Diese Überlegungen bleiben aber beim gegenwärtigen Forschungsstand spekulativ. Alle im Beitrag genannten Ortsdialekte sind auf der Kt. 19.1 verzeichnet. Sprachdaten, deren Quelle im Text nicht spezifiziert ist, stammen immer aus dem Wenkerbogen des entsprechenden Ortes. Wenkerbögen und Wenkerkarten (WA-Kt.) sind über Regionalsprache.de (REDE) zugänglich.
19. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Morphologie
2.1. Relevanz von Kategorien Nicht alle oben genannten morphologischen Kategorien sind für alle deutschen Varietäten gleichermaßen relevant in dem Sinne, dass Werte der Kategorie morphologisch spezifiziert werden, das heißt am oder im Wort. Deutliche Unterschiede in der Relevanz zeigen sich bei den Verbalkategorien Tempus und Modus. In der Literatursprache haben sowohl die Tempora Präsens und Präteritum als auch die Modi Indikativ und Konjunktiv eigene morphologische Exponenten. Die Grundformen der Verben werden als Präsens und Indikativ klassifiziert. Das Präteritum wird von dieser Basis i. d. R. durch Ablaut oder t-Addition abgeleitet, die Konjunktive vom Präsens- bzw. Präteritalstamm durch Umlaut und/oder e-Epenthese. Diese Verhältnisse charakterisieren im Prinzip auch die meisten mitteldeutschen Dialekte. Im Dialekt von Idar-Oberstein im rheinfränkisch-moselfränkischen Übergangsgebiet kann die Tempusopposition in der 1. Person Plural beim Verb „kommen“ rein durch Ablaut geleistet werden − mǝr komǝ (Präs.) vs. ka:mǝ (Prät.) −, die Modusopposition darauf aufsetzend rein durch Umlaut − mǝr ka:mǝ (Prät. Ind.) vs. kε:mǝ (Prät. Konj.) (ein Konjunktiv Präsens existiert nicht, vgl. Müller-Dittloff 2001: 225−227). Im Niederdeutschen gibt es die Tempusopposition Präsens vs. Präteritum. Eine formale Distinktion von Indikativund Konjunktivformen fehlt dagegen in den meisten niederdeutschen Dialekten, mit Ausnahme der südlichen Randbereiche (vgl. Saltveit 1983: 1225). Üblicherweise werden die niederdeutschen Formen auf der Basis des Präterialstamms heute immer als „Präteritum Indikativ“ klassifiziert, auch wenn sie historisch Konjunktive oder Optative sind (vgl. Foerste 1957: 1787−1788) und − bei starken Verben sehr häufig − Umlaut zeigen. Saltveits Feststellung, dass bei diesen Formen „der zeitliche Inhalt überwiegt“ (Saltveit 1983: 1226), kann empirisch dadurch untermauert werden, dass die Formen auch an Positionen stehen, wo eine konjunktivische Lesart (Potentialis, Irrealis etc.) ausgeschlossen ist, z. B. in Wenkersatz 24 Als wir gestern Abend zurück kamen: Im nordwestniederdeutschen Delmenhorst steht in diesem Kontext kemen mit umgelautetem Stammvokal (s. auch WA-Kt. 346, kam[en]). Im Oberdeutschen ist die Situation komplementär dazu. Im sog. Präteritumschwundgebiet (s. zum Präteritumschwund ausführlich Fischer 2018) werden alle Formen mit Präteritalstamm als „Präteritum Konjunktiv“ interpretiert, auch wenn sie keinen Umlaut haben, wie bereits Schmeller (1821: 317) feststellt: z. B. in Wenkersatz 18 es thäte besser um ihn stehn mit tat (Vokal ohne Umlaut) im mittelbairischen Moosburg an der Isar (s. auch WA-Kt. 280, täte). Im Oberdeutschen gibt es damit die Opposition Indikativ vs. Konjunktiv, und in manchen Varietäten sogar eine differenzierte Verwendung von Konjunktiv Präteritum und Konjunktiv Präsens. Der Konjunktiv Präsens wird im Alemannischen nach Saltveit (1983: 1222) etwa in Wunschformeln wie Vergält s Gott! verwendet, im südbairischen Passeiertal (Kt. 19.1: Moos in Passeier) steht er nach Lanthaler (1971: 39) zum Ausdruck der indirekten Rede: „ēr gęa morgŋ ‚er gehe morgen‘ heißt: er behauptet, morgen zu gehen“. Dagegen erfordert der Vergangenheitsausdruck immer eine periphrastische Konstruktion. Nach Bybee (1985; vgl. Rabanus 2008: 24− 25) erfolgt die Kodierung der Verbalkategorien entsprechend ihrer Relevanz von innen nach außen im Wort: Stärker relevante Kategorien werden eher im Zentrum des Wortes kodiert (durch Modifikation oder Suppletion des Stammes, oder durch stammnahe Affixe), weniger relevante Kategorien eher an der Peripherie (durch weniger stammnahe Affixe oder periphrastische Konstruktionen). In der Literatursprache, wo Tempus und Modus morphologische Exponenten haben, gilt Tempus als relevanter in diesem Sinne,
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
weil die Ablaut-Kodierung des Präteritums der Umlaut-Kodierung des Konjunktivs vorangeht. Im Oberdeutschen ist die Reihenfolge der Relevanz der Kategorien umgekehrt, weil die Symbolisierung des Perfekts durch die obligatorische Verwendung des Auxiliars in der periphrastischen Konstruktion an die Peripherie verschoben ist. Auch die Nominalkategorien Kasus und Numerus haben Relevanzverschiebungen erfahren. In der Geschichte der deutschen Literatursprache werden solche Veränderungen unter den Schlagwörtern „Kasusnivellierung“ und „Numerusprofilierung“ behandelt. Während die Kasusmarker massiv abgebaut worden sind, haben sich für den Plural Affixe herausgebildet, die erstens im Frühalthochdeutschen noch gar nicht existiert haben und die zweitens heute konsequent stammnah und vor -n als letztem verbliebenen Kasusmarker (Dativ) im Plural stehen: So wird zum Beispiel das Stammbildungsmorphem -ir, das in Wörtern wie „Rind“ im Frühalthochdeutschen noch im Singular und Plural vorkommt − vgl. frühahd. hrind (Nom./Akk. Sg.), hrindire (Dat. Sg.), hrindirum (Dat. Pl.) −, als Pluralsuffix -er reanalysiert und vollständig aus dem Singular des Paradigmas eliminiert − nhd. Rind(e) (Dat. Sg.) vs. Rindern (Dat. Pl.) (vgl. Wurzel 1992: 282−285). Numerus ist daher in der modernen Literatursprache relevanter als Kasus. Die höhere Relevanz ist inhaltlich dadurch begründet, dass Numerus auf ein außersprachliches semantisches Basiskonzept (Mehrzahligkeit) bezogen ist und daher die Bedeutung des Referenzobjekts affiziert, „während Kasus eine rein linguistische Kategorie zur Symbolisierung syntaktischer Relationen ist“ (Rabanus 2008: 26). Die deutschen Dialekte gliedern sich dabei grob in die vier Gebiete A−D. (A) In großen Teilen des Niederdeutschen sind die Kasusmarker am Substantiv vollkommen verschwunden. Der Plural wird in erster Linie durch Suffixe markiert. In zweiter Linie erfolgt die Pluralmarkierung durch Umlaut, entweder rein durch Umlaut oder durch Umlaut und Suffix, manchmal optional wie im nordniederdeutschen Buxtehude: hüs(er) (‘Häuser’, vgl. WA-Kt. 465/466, Häuser vs. 373, Hause). Als weitere Pluralexponenten kommen Dehnung und Vokalveränderung vor, z. B. dax (Sg., ‘Tag’) vs. dǭx (Pl.) in Heide in Dithmarschen (Jörgensen 1928/1929: 5), oder Subtraktion (s. Kap. 2.3.). In manchen Fällen, in denen Literatursprache und süddeutsche Dialekte die Numerusopposition rein durch Umlaut ausdrücken, verwenden niederdeutsche Dialekte das Suffix -s ohne Umlaut, z. B. dochters statt Töchter (vgl. Schirmunski [1956] 2010: 485). (B) Im südlichen Niederdeutschen und in Teilen des Mitteldeutschen sind Kasusmarker für den Dativ erhalten. Im Singular handelt es sich meist um -e, etwa im Wenkersatz 38 Die Leute sind heute alle draußen auf dem Felde, realisiert als Felle im nordhessischen Fritzlar (s. dazu die WA-Kt. 524, Felde und 373/374, Hause). Das Dativsuffix steht in dem Gebiet, in dem -e in der Nebensilbe grundsätzlich nicht apokopiert wird (egal ob als Flexionssuffix oder Stammbestandteil). Im Dativ Plural steht -(e)n in einem etwas größeren Gebiet. Zum Beispiel haben auch moselfränkische Dialekte dieses Suffix, z. B. Bitburg mit Leckten im Wenkersatz 40 mit den Leuten (WA-Kt. 543, [Leut]en). Bitburg liegt im Apokopegebiet, der Nominativ Plural des Wortes ist Leckt (WA-Kt. 519, Leute). Im Singular kann der Dativ in diesem Raum durch Tonakzentdifferenzen markiert werden (s. Kap. 2.3.). Der Plural in (B) wird durch Suffixe und/oder Umlaut, im Mittelfränkischen auch durch Tonakzent 1 ausgedrückt. (C) Im südlichen Mitteldeutschen und Oberdeutschen sind die Kasusmarker im Prinzip wie im Niederdeutschen geschwunden. Damit hat nur der Plural morphologische Exponenz am Substantiv. Es handelt sich um Suffix oder Umlaut, wobei die Grammatikalisierung des Umlauts als Pluralmarker hier weiter gegangen ist als in den nördlichen
19. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Morphologie
Dialekten und in der Literatursprache (vgl. zum Anteil des Umlauts an der Pluralmarkierung in den Dialekten Schirmunski 2010: 480−482). Reiner Umlaut als Pluralzeichen steht in zahlreichen Wörtern, die im Ostmitteldeutschen auch oder nur Suffix haben, z. B. schwäb. Schoof (Sg., ‘Schaf ’) vs. Schääf (Pl.) in Biberach an der Riss (Südwestdeutscher Sprachatlas [SSA]: Kt. 3/2.011) oder südbair. tǭg (Sg., ‘Tag’) vs. tāg (Pl.) in Imst in Tirol (im Sg. mhd. ā gehoben zu ō, im Pl. mhd. umgelautetes æ gesenkt zu ā, vgl. Schirmunski 2010: 262−264). Im Vergleich zu den nördlichen Dialekten und der Literatursprache ist die Relevanz des Numerus noch dadurch erhöht, dass der Umlaut ein stammnäherer Marker ist als ein Suffix. (D) In hoch- und höchstalemannischen Dialekten in der Schweiz sind, zumindest nach der älteren Literatur, Kasusmarker in Singular und Plural erhalten. Die walserdeutschen Sprachinseldialekte in Norditalien zeigen auch in rezenten Untersuchungen noch distinkte Kasussuffixe für Genitiv und Dativ, während immer Synkretismus von Nominativ und Akkusativ besteht. Dal Negro (2004: 120−130) berichtet für den Dialekt von Formazza unterschiedliche Suffixe für verschiedene Flexionsklassen, deren Formen sehr nah am althochdeutschen Paradigma sind. Für ‘Tag’: tag (Nom./Akk. Sg.), tagsch (Gen. Sg.), tagø (Dat. Sg.), taga (Nom./Akk. Pl.), tagu (Gen./Dat. Pl.). Hier ist wie im Althochdeutschen die Relevanz des Kasus höher als die Relevanz des Numerus, welcher keinen einheitlichen Marker hat.
2.2. Merkmalsinventar und Synkretismen Für die morphologischen Kategorien haben viele Dialekte andere Merkmalsinventare bzw. andere Merkmalssynkretismen als die Literatursprache. So haben sie fast immer ein im Vergleich zur Literatursprache reduziertes Kasussystem, in dem der Genitiv fehlt. Der Kasus wird, wie eben ausgeführt, mit wenigen Ausnahmen nicht am Substantiv, sondern nur an den Begleitern des Substantivs und am Pronomen symbolisiert. Schnelle Orientierung über die Verteilung der Kasussynkretismen bieten die Karten in Shrier (1965) und deren Überarbeitung in Rowley (2004). Die meisten niederdeutschen Dialekte unterscheiden nur Nominativ und Obliquus, alle anderen Dialekte mindestens drei Kasus. Das gilt auch in Fällen, in denen im Paradigma jeweils nur zwei unterschiedliche Formen zur Verfügung stehen, diese aber in Abhängigkeit vom Genus unterschiedliche Synkretismen bilden, etwa beim bestimmten Artikel im thüringischen Nordhausen: im Femininum de (Nom./Akk.) vs. der (Dat.), im Maskulinum d’r (Nom.) vs. d’n (Dat./ Akk.) (vgl. dazu auch Rowley 2004: 345−346). Bei der kumulativen Personen- und Numerussymbolisierung am Verb gibt es dagegen keine generelle Reduktion der Merkmale in den Dialekten (zu den hochdeutschen Dialekten Süddeutschlands und Frankreichs vgl. die flächendeckende Untersuchung in Rabanus 2008). Im Singular werden, unter Absehung von Präteritopräsentien und stammauslautbedingten Homonymien, wie in der Literatursprache immer drei Personen unterschieden. Im Plural gibt es jede Art von Synkretismus: im Mitteldeutschen, Ostfränkischen, Hochalemannischen und dem größten Teil des Bairischen die mit der Literatursprache übereinstimmende Konfiguration 1./3. vs. 2. Person; im Niederdeutschen, Schwäbischen, Niederalemannischen und Teilen des Rheinfränkischen Einheitsplural; in Teilen des Nord- und Ostschwäbischen die Konfiguration 1. vs. 2./3. Person, für „haben“ etwa hebe (1.) vs. hent (2./3.) in Hagelloch (Tübingen) oder hamr (1.) vs. hant (2./3.) in Unterliezheim
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
(Rabanus 2008: 144−147 u. 171−178); historisch (Wenkererhebung 1887) in einem kleineren Gebiet im nördlichen Schwarzwald 1./2. vs. 3. Person, für „haben“ hen (1./2.) vs. hent (3.) z. B. in Calmbach (bis zur SSA-Erhebung [1986] durch t-Deletion in der 3. Person zur Einheitspluralform hen ausgeglichen; vgl. Rabanus 2008: 139−140 und, ausführlicher, Rabanus 2005: 272−278). Es gibt aber auch Dialekte, die im Plural alle drei Personen formal differenzieren. Dabei ist zu unterscheiden: In Teilen des Mittelbairischen und am Südrand des Oberdeutschen (Höchstalemannisch, Sprachinseln) hat sich das althochdeutsche/mittelhochdeutsche Paradigma mit den unterschiedlichen Suffixen -n und -nt für die 1. und 3. Person erhalten. Ebenfalls im Mittelbairischen, aber auch im Übergang zum Nordbairischen und Ostschwäbischen ist der Dreiformenplural dagegen innovativ dadurch, dass das invertierte Subjektpronomen der 1. Person „wir“ als -ma, -mr klitisiert wurde. So sind die Formen des Plural für „haben“ in Blaibach (Kreis Cham): hama (1.) vs. hats (2.) vs. hamad (3.) (Rabanus 2008: 215−216). In manchen Dialekten ist der numerusübergreifende Synkretismus von 3. Person Singular und 2. Person Plural, der in der Literatursprache nur sporadisch auftritt, systematisch, etwa im südbairischen Passeiertal (Lanthaler 1971: 28).
2.3. Markertypen Abgesehen von fremdsprachigen Mustern wie z. B. der Pluralbildung bei Schemata (griech. σχήματα) − Suffix -a, addiert an einen Stamm, dessen Auslautkonsonant -t im Nominativ Singular fehlt −, die zusammen mit den entsprechenden Lehnwörtern in die gelehrte Literatursprache gekommen sind, finden sich alle Markertypen der Literatursprache auch in den Dialekten. Es handelt sich dabei um additive Marker (v. a. Suffixe, Präfix ge-), Qualitätskontraste im Stammvokalismus (Umlaut, Ablaut) und Suppletion, d. h. die Verwendung verschiedener Wortstämme in Abhängigkeit vom morphologischen Merkmal. Umgekehrt gibt es in den Dialekten allerdings Markertypen, die in der Literatursprache nicht vorkommen. Bei den meisten dieser Typen handelt es sich um das Ergebnis phonologischer Prozesse, die die Apokope unbetonter Nebensilben und damit den Ausfall additiver Marker kompensieren, im Einzelnen (a) Tonakzente, (b) Subtraktion, (c) Sonoritätskontraste bei auslautenden Obstruenten und (d) Quantitätskontraste beim Stammvokal. Diese Typen kommen vor allem im oben (Kap. 2.2.) als (B) bezeichneten Gebiet vor und symbolisieren den Dativ Singular und/oder den Plural. (a) Tonakzente charakterisieren die mittelfränkischen Dialekte. Es handelt sich um unterschiedliche F0-Verläufe auf Stammsilben, die bezeichnet werden als „Tonakzent 1“ oder „Schärfungsakzent“ (mit spitzem F0-Gipfel, relativ kürzer) und „Tonakzent 2“ oder „Trägheitsakzent“ (mit flacherem Verlauf, relativ länger; vgl. zusammenfassend Gilles & Siebenhaar 2010: 796−798). Die Tonakzentopposition ist zur Differenzierung von Kasus und Numerus beim Substantiv hinreichend. Beispiele sind [da:2x] (Sg., ‘Tag’) vs. [da;1x] (Pl.) im moselfränkischen Mayen (Schmidt 1986: 26) und [hu:2s] (Nom., ‘Haus’) vs. [hu;1s] (Dat.) im Kölner Stadtdialekt (vgl. Heike 1983: 1161). Auslöser der Entstehung dieser morphologisch (und vor allem auch lexikalisch) relevanten Distinktionsmöglichkeit war die Apokope der Folgesilbe, die „einen phonetischen Veränderungsprozess ausgelöst [hat], der die Möglichkeit bot, die prätonemischen prosodischen Differenzen zum alleinigen Distinktionsträger auszugestalten“ (Schmidt 2002: 222).
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(b) Subtraktion ist ein ungewöhnliches flexionsmorphologisches Verfahren, weil hier kontraikonisch ein Merkmal einer morphologischen Kategorie (also ein „mehr“) durch die Reduktion des Wortstammes (also ein „weniger“) symbolisiert wird. Subtraktion zum Ausdruck sowohl des Dativs (Sg.) als auch des Plurals kommt zum Beispiel im zentralhessischen Dialekt von Naunstadt vor (nach Birkenes 2014: 31): wālt (Nom. Sg., ‘Wald’; Stamm), wāl (Dat. Sg.; Subtraktion des stammauslautenden Konsonanten), węl (Nom./Akk. Pl.; Subtraktion des stammauslautenden Konsonanten und Umlaut des Stammvokals). Die subtraktiven Formen finden sich vor allem im Westmitteldeutschen, jedoch auch im Ostmitteldeutschen, Westoberdeutschen und Niederdeutschen, aber stets im Apokopegebiet (s. Birkenes 2014, Abb. 5 u. 6). (c) Sonoritätskontraste beim auslautenden Obstruenten als alleiniges Mittel zur Differenzierung von Kasus und Numerus können als Vorstufe der Entwicklung subtraktiver Marker betrachtet werden. Die Stimmhaftigkeit im Plural etwa im ehemaligen Hochpreußischen von Guttstadt (Ostpreußen) − tâk (Sg.) vs. tâg (Pl.; Daten nach Birkenes 2014: 139) − hat sich durch den Schutz von historischem -e erhalten, das dann später apokopiert wurde. Zu dieser Kategorie gehört auch der mittelhessische Rhotazismus im Wortauslaut (šret [Sg., ‘Schritt’] vs. šrer [Pl.], Dingeldein 1983: 1198). (d) Quantitätskontraste beim Stammvokal: Die Überlänge des Stammvokals kann als Kompensation der More des apokopierten -e im Plural verstanden werden, etwa deif (Sg., ‘Dieb’) vs. dēif (Pl.), nach Wiesinger (1983: 829) in Teilen des Nordniederdeutschen und Mecklenburgischen. Diese Typen, die vorstehend als alleinige Exponenten morphologischer Merkmale besprochen wurden, kommen auch in Kombination miteinander und mit Umlaut vor. Schirmunski (2010: 479) zitiert für das Mecklenburgische die Opposition trit (Sg., ‘Tritt’) vs. trêḍ (Pl.) mit einer dreifachen Distinktion von Stammvokalqualität, -quantität und Phonationsgrad des auslautenden Obstruenten. (e) In manchen oberdeutschen Dialekten differenziert die Palatalisierung des -s die 2. und 3. Person Singular Indikativ Präsens von Verben mit -s im Stammauslaut, so etwa im Zimbrischen von Lusern [bɔɐ:ʃt] (‘[du] weißt’) vs. [bɔɐ:st] (‘[er] weiß’; Tyroller 2003: 69). Die Palatalisierung findet als regulärer phonologischer Prozess innerhalb des Suffixes -st der 2. Person statt, nicht aber in der 3. Person, weil hier zwischen Stammauslaut -s und Suffix -t eine Morphemgrenze liegt. Daher ist der Status dieses Merkmals als morphologischer Marker umstritten. (f) In der Geschichte der Dialekte sind mit Reduplikation und Infigierung zwei der heutigen Literatursprache unbekannte additive Prozesse belegt. Für das Zimbrische von Giazza der 1940er Jahre berichtet Schweizer ([1951/1952] 2008: 442) die Reduplikation der Endsilbe zur Symbolisierung des Konjunktivs II, etwa in boutate ‘wollte’, allerdings schon in den 1940er Jahren als optionale Nebenform zu boute. Für das Altniederdeutsche konstatiert Tiefenbach (2000: 1255) „Präsensinfix -n-“ bei „standan ‚stehen‘ (Prät. stōd)“ (Meier & Möhn [2000: 1274] nennen ebenfalls für das Altniederdeutsche das Infix -izur Ableitung kausativer Verben, etwa in biddian ‘bitten’ < beda ‘Bitte’). Diese Marker sind allerdings nicht nur nicht mehr produktiv (was auch für die meisten obengenannten Typen gilt), sondern vermutlich heute nicht einmal mehr als Restformen in den Basisdialekten nachweisbar.
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2.4. Zuordnung von Markern zu Merkmalen Dialekte unterscheiden sich dadurch, dass demselben morphologischen Merkmal unterschiedliche Marker zugeordnet werden. Am Beispiel des Plurals, der am Substantiv mit Ausnahme des oben (Kap. 2.1.) als (D) bezeichneten Gebiets praktisch überall systematisch symbolisiert wird, heißt das zweierlei: Einerseits nutzen manche Dialekte zur Symbolisierung des Plurals Mittel, die anderen Dialekten grundsätzlich nicht zur Verfügung stehen, zum Beispiel Tonakzente, Subtraktion oder das Morphem -s. Andererseits werden auch in den Dialekten gleichermaßen vorhandene Pluralexponenten unterschiedlich zugeordnet, teilweise auch mehrfach, vgl. Berge (WA-Kt. 405/406): Bargen mit -(e)n im nordniederdeutschen Buxtehude, Barge mit -e im ostfälischen Burgdorf und dazwischen im Übergangsgebiet Barg’ns mit -n und -s in Lüneburg. Zur Verteilung der Pluralexponenten im Einzelnen s. Dingeldein (1983).
2.5. Wortarten und morphologische Exponenz Die Dialekte differieren bzgl. der Fähigkeit der Wortarten, Exponenten der Merkmale morphologischer Kategorien zu binden. Wie bereits ausgeführt haben die Substantive in den Dialekten, mit Ausnahme des Gebiets (D), größtenteils keine Kasusexponenten mehr, während die Fähigkeit zur Pluralsymbolisierung größer ist als in der Literatursprache (s. Kap. 2.1.). Bei den Eigennamen haben sich dagegen in oberdeutschen Dialekten Kasusmarker erhalten, die in der Literatursprache geschwunden sind, etwa I han Fritzen gsee im Berner Oberland (Glaser & Bart 2015: 92). Adjektive: Bei den Adjektiven ist nach der Funktion als Attributiv, Prädikativ und Adverbial zu unterscheiden. Attributives Adjektiv, Kasus: Bei insgesamt wie in der Literatursprache nach Genus und Numerus unterschiedlich ausgeprägten Kasussynkretismen sind zwei allgemeine Feststellungen zu treffen: Erstens gibt es generell von Süden nach Norden eine Zunahme der Synkretismen, die im größten Teil des Niederdeutschen zu insgesamt vier kasusneutralen Einheitsformen für drei Genera und den Plural führen (vgl. Jörgensen 1928/1929: 12; Shrier 1965: Kt. 10). Dort kann die Wortart Adjektiv also keine Kasusexponenz binden. Im Süden werden im Prinzip maximal drei Kasusformen differenziert (nicht vier wie in der Literatursprache), und zwar im Alemannischen, wobei in Baden-Württemberg kein Genitiv vorkommt, während in der Schweiz, bei partiellem Erhalt von Genitivformen, meist Nominativ und Akkusativ zusammenfallen, auch im Maskulinum. Zweitens wird aber auch in den im Prinzip formenreichen höchstalemannischen Dialekten der Schweiz in vielen Kontexten das attributive Adjektiv in unflektierter Form verwendet, z. B. in Visperterminen (Wallis) nach bestimmtem Artikel im Wenkersatz 4 Der güöt alt Ma (‘der gute alte Mann’). Genus: Lipold (1983: 1182−1189) beschreibt Genusdifferenzierung im Plural des Paradigmas für verschiedene bairische, alemannische, rheinfränkische und ripuarische Dialekte, allerdings immer unter Bezug auf alte Literatur. Prädikatives Adjektiv: Während hier in der Literatursprache das Adjektiv immer in seiner unflektierten Form steht, treten im Hoch- und Höchstalemannischen Flexionssuffixe als Kongruenzmarker in prädikativer und koprädikativer Funktion auf, z. B. iχ bi afu ālti ‘ich bin schon alt’ in Visperterminen (-i in ālti für Fem.; Wipf 1910: 134), gleiches gilt bis heute in den walserdeutschen Sprachinseln (vgl. Rabanus, Bidese & Dal Negro, Art. 42, Kap. 4.1. in diesem Band). Adverbiales Adjektiv: Bohnenberger
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(1913: 207) berichtet für das Wallis: „Zu umgelauteten Adjektivformen im Positiv gibt es manchfach noch unumgelautete Adverbialbildungen, z. B. […] špāt zum Adjektiv špēt“. Auch hier verfügt das Adjektiv im Dialekt also über eine Exponenz, die der Literatursprache fehlt. Pronomen: Die Literatursprache kennt Belebtheit als morphologische Kategorie bei den Interrogativpronomen: Bei [+belebt] werden Nominativ und Akkusativ unterschieden (wer vs. wen), bei [−belebt] nicht (was). In nordniederdeutschen Dialekten um Otterndorf (Land Hadeln) ist die Belebtheitsopposition [+/−human] bei den Personalpronomen grammatikalisiert: Die Kasusdistinktion zwischen Nominativ und Obliquus in der 3. Person Singular Femininum (se vs. ehr) und 3. Person Plural (se vs. jem) wird nur bei Referenten mit [+human] gemacht. Bei anderen Referenten steht die kasusneutrale Einheitsform se (vgl. im Einzelnen Alber & Rabanus 2011: 32−37). Kardinalzahlen: In manchen Dialekten wird Genuskongruenz wie im Mittelhochdeutschen auch bei Kardinalzahlen größer als „eins“ symbolisiert. Dazu zählen konservative Sprachinseldialekte wie etwa Zimbrisch (vgl. Schweizer 2008: 400; auch beim Zahlwort „beide“, s. ZSA: Kt. 84) und Walserdeutsch (s. Rabanus, Bidese & Dal Negro, Art. 42, Kap. 4.1. in diesem Band), aber auch die zentralhessischen Dialekte (Hasselbach 1971: 103): Bei „zwei“ werden hier dswi (Mask.), dswū (Fem.), dswā (Neutr.) unterschieden. Konjunktionen: Vor allem in bairischen Dialekten treten an Nebensatzeinleiter − vor allem Konjunktionen, aber auch Relativ- und Interrogativpronomen (z. B. „den“, „wer“), sowie Adjektive in Gradkonstruktionen (z. B. „wie schnell“) (vgl. Nübling et al. 2006: 257) − unter bestimmten Umständen Marker zum Ausdruck der Kongruenz mit dem Subjekt, etwa Mittelbairisch für die 2. Person Plural wannts es ins Bett gehts ‘wann ihr ins Bett geht’ (Bayer 2014: 43). Der Status dieser Elemente, Suffix oder Klitikum, ist umstritten. Die größte Verbreitung hat vermutlich -ts für die 2. Person Plural. Weiß (1998: 119) sieht diesen Marker am Nebensatzeinleiter in der 2. Person Plural als obligatorisch an, ebenso wie -st in der 2. Person Singular (was ein Argument für ihre Einstufung als Suffixe wäre), -ma in der 1. Person Plural dagegen nur als fakultativ (vgl. dazu auch Kap. 2.2. oben, -ma als Verbsuffix). Schirmunski (2010: 591) zitiert auch -n für die 3. Person Plural und führt mit wanštau ‘wenn(-st) du’ im moselfränkischen Oberham (Lothringen) einen Beleg für die 2. Person Singular außerhalb des Bairischen an (Schirmunski 2010: 292). Das Phänomen wird unter dem Stichwort als „COMP-Flexion“ intensiv im Rahmen der generativen Grammatik untersucht (vgl. z. B. Weiß 1998: 116− 133; Bayer 2014). In deskriptiver Sichtweise ist bemerkenswert, dass die genannten Suffixe wortartenübergreifend (am Verb und Nebensatzeinleiter) auftreten.
3. Wortbildung Die Wortbildung der Dialekte ist insgesamt schlecht untersucht. Nur wenige Orts- und Landschaftsgrammatiken enthalten Kapitel zur Wortbildung, und in Sprachatlanten fehlt die Wortbildung vollkommen. Daher können hier nur einige Schlaglichter für einzelne Dialektgebiete gesetzt werden. Diminution: Das Gesamtbild der deutschen Dialekte lässt sich für die Diminution der Substantive zeichnen, die einen Grenzfall von Flexion und Derivation darstellt. Beim Diminutivsuffix gibt es grundsätzlich eine Zweiteilung zwischen dem niederdeutsch-
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mitteldeutschen k-Typ und dem oberdeutschen l-Typ, mit zahlreichen Varianten, die teilweise Umlaut der Stammsilbe bewirken. Zusätzliche Typen gibt es im Wallis mit -in und in Mecklenburg-Vorpommern mit -ing (vgl. dazu Schmuck 2009). Hinsichtlich der Verwendung gilt das Nordwestniederdeutsche als „diminutivarm“, während im südlichen Oberdeutschen die Diminutivformen so häufig sind, dass sie „in einigen Fällen die Simplizia verdrängt“ haben (Schirmunski 2010: 551; vgl. im Einzelnen auch Seebold 1983: zur Verteilung der Varianten Kt. 77.1). Im Unterschied zur Literatursprache werden in den meisten Dialekten Singular- und Pluralformen unterschieden, etwa im ostfränkischen Münnerstadt: Mäuerla ‘Mäuerchen’ (-la, Sg.) vs. Öpfellich ‘Äpfelchen’ (-lich, Pl.). Diminutivsuffixe treten in manchen Dialekten wortklassenübergreifend auf. Schirmunski (2010: 552−553) berichtet für das Niederdeutsche die Übertragung von ing- und k-Suffixen auf Adjektive mit adverbialer Funktion − stilling bzw. štileken ‘still’ − und sogar Verben − döning ‘tun’ (Inf., an Kinder gerichtet) −, für das Schwäbische das Auftreten des l-Suffixes u. a. beim Interrogativpronomen ‘was’ − wå̄sǝlǝ − für das Bairische bei ‘wo’ − wo’l. Wie die Literatursprache zeigen auch viele oberdeutsche Dialekte das lSuffix bei der Derivation von Verben, welche damit in manchen Fällen auch eine diminutive Bedeutung annehmen, vgl. etwa „fröšln (in zarten Flocken schneien: zu ‘frieren’)“ im Zimbrischen von Lusern (Schweizer 2008: 639) oder grīnerlu ‘leise vor sich hin weinen’ im Walliserdeutschen von Visperterminen (Wipf 1910: 178). Zum Zusammenhang von diminutivischer, hypokoristischer und onymischer Markierung s. Schmuck (2009). Komposition: In allen Dialekten existieren die schon althochdeutschen und altniederdeutschen „eigentlichen“ Komposita (vgl. Grimm 1878: 389), die durch Zusammenfügung lexikalischer Wurzeln entstanden sind, zwischen denen höchstens ein stammbildendes Suffix steht wie in taga-wërh (Grimm 1878: 393), welches in der Entwicklung zum Neuhochdeutschen in vielen Fällen, aber nicht immer geschwunden ist (Tag[e]werk). Der größte Teil der heutigen Komposita mit Fugenelement ist durch Univerbierung ehemaliger Nominalphrasen mit vorangestelltem Genitivattribut im Frühneuhochdeutschen oder in Analogie dazu entstanden (nach Grimm 1878: 588 „uneigentliche composition“; vgl. zum Frühneuhochdeutschen Wegera & Prell 2000: 1597). Diesen Prozess, der auch die Voraussetzung für die hohe Produktivität mehrgliedriger Komposita schafft (vgl. Nübling et al. 2006: 85), haben die meisten Dialekte nicht im selben Maße wie die Literatursprache durchgeführt. Wipf (1910: 174) schreibt zum Walliserdeutschen, dass „die Wucherung des s in der Kompositionsfuge unterblieben“ ist: Erstglieder mit historischem Genitiv-s kommen „nur in ganz wenigen Fällen vor, die zum Teil entlehnt scheinen: rātshēr“. Auch in den zimbrischen und fersentalerischen Sprachinseldialekten werden die Komposita meist ohne Fugenelement gebildet (vgl. Rowley 1986: 260). Im Zimbrischen von Giazza treten manchmal Komposita mit linksstehendem Grundwort „nach romanischer Art“ (kontaktinduziert) auf, etwa tragar-kxertz ‘Kerzenleuchter’ in Giazza (Schweizer 2008: 578; vgl. ital. portacandele). Insgesamt sind Komposita im Zimbrischen eher selten (vgl. Tyroller 2003: 195). (Ersatzkonstruktionen mit Präpositionalphrasen sind keine Komposita und auch nicht spezifisch für Sprachinseldialekte.)
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4. Morphologische Merkmale in höheren Sprechlagen der Regionalsprachen Die bisherigen Ausführungen bezogen sich auf die Dialekte als eigenständige Vollvarietäten im Sinne von Schmidt & Herrgen (2011: 51). Im kommunikativen Alltag haben die Dialekte in dieser Form vielerorts nur noch eine geringe Bedeutung. In großen Teilen besonders des nord- und mitteldeutschen Raums findet die mündliche Kommunikation meist in höheren Sprechlagen der Regionalsprachen statt, im Regiolekt oder intendierten Standard. In den Projekten REDE (vgl. Ganswindt, Kehrein & Lameli 2015) und SiN (vgl. Elmentaler et al. 2015) ist die phonetisch-phonologische „Restarealität“ höherer Sprechlagen inzwischen flächendeckend und systematisch untersucht worden, umfangreiche Publikationen liegen vor (etwa Kehrein 2012; Elmentaler & Rosenberg 2015). Morphologische Variablen spielen in diesen Untersuchungen aber praktisch keine Rolle. Zunächst können sie schon aus methodischen Gründen oft gar nicht in den Blick geraten, wenn etwa die Vorleseaussprache analysiert wird. Der quasi a priori-Ausschluss der Morphologie aus solchen Untersuchungen könnte auf der Annahme beruhen, dass morphologische Varianten in der Regel klare Korrelate in der (standardsprachlichen) Schriftlichkeit haben − man vergleiche etwa die in der Standardsprache geschriebene Kasusopposition beim Artikel (Nom.) vs. (Dat.) mit der nicht geschriebenen Quantitäts- und Öffnungsgradopposition des Stammvokals in [o:] und [ɔ] (zu Laienverschriftungen von Dialekt vgl. Rabanus 2008: 82−87; Lenz 2010: 103− 104 und auch schon Schirmunski 1930: 184) − und daher besser kontrollierbar sind als phonetisch-phonologische. Man kann daher annehmen, dass sie in höheren Registern der Regionalsprache auch leichter vermieden werden können, und in der gesprochenen Standardsprache erst recht. (Für die Schweiz als Region mit Dichotomie Dialekt-Standard wird allgemein angenommen, dass es im gesprochenen Standard keine dialektalen morphologischen Varianten gibt [vgl. Christen, Hove & Petkova 2015: 387]). Auf der anderen Seite gelten morphologische Varianten aber als wenig salient und müssten, ganz im Gegensatz zum eben Gesagten, in höheren Sprechlagen der Regionalsprache eher erhalten bleiben als saliente phonetisch-phonologische Varianten (vgl. zum Salienzbegriff Lenz 2010; Auer 2014). Tatsächlich hat sich die Debatte um die Salienz aber kaum mit Morphologie befasst. In der grundlegenden Studie zu den schwäbischen Siedlungsmundarten in der Sowjetunion nennt Schirmunski (1930: 119 u. 174) als einziges Merkmal den verbalen Einheitsplural als wenig salientes und daher resistentes „sekundäres Merkmal“. Auer (2014: 14) führt den Synkretismus Nominativ/Akkusativ mit Generalisierung der alten Nominativform an („badischen Akkusativ“) und schreibt, dass er „Gegenstand der expliziten Sprachkritik“ ist, „aber in der eigenen Sprache wie auch der der anderen kaum wahrgenommen“ wird. Siebenhaar (2000: 237−239) wiederum stellt die Relevanz morphologischer Varianten für Identifizierung und Bewertung regionaler Sprachformen heraus (negative Bewertung des Zürichdeutschen in Aarau: „Signifikante Einstellungsunterschiede aufgrund unterschiedlichen linguistischen Verhaltens zeigt sich nur in Bezug auf die Morphologie, die lautlichen Aspekte korrelieren nicht mit Einstellungskonzepten.“ [Siebenhaar 2000: 241]). Zum jetzigen Zeitpunkt, an dem also konzeptionelle Klärung und empirische Vertiefung Desiderate bleiben, lässt sich Folgendes feststellen: Nominalflexion: In den höheren Registern norddeutscher Regionalsprachen finden sich niederdeutsche Pluralsuffixe etwa bei Telẹrß ‘Teller’ und Fingẹrn ‘Finger’ (Schrö-
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der 2004: 80). Außerdem fallen wie im niederdeutschen Dialekt Kasusdistinktionen weg, „indem [auch] im Hochdeutschen der Dativ durch die Akkusativform ersetzt wird“, etwa mit die schwarzen Augen (Schröder 2015: 47−48). Dieses Phänomen findet sich auch in der Schriftlichkeit von Schüleraufsätzen, die ja eigentlich standardsprachlich sein sollten (eigene Datenerhebung an einer Hauptschule in Greifswald, 2004): Formen wie nach den Krieg, bei den Unfall oder mit meinen besten Freund repräsentieren Kasussynkretismus im Paradigma der Artikel und Possessivpronomen, während ein statt einen in Schreib auch mal ein brief auch die Verschriftung einer nur realisationsphonetischen Reduktion sein kann. (Dass der Synkretismus Dativ/Akkusativ als ein solches morphologisches Phänomen den Sprechern durchaus bewusst sein kann, zeigt sich auch in der Untersuchung zum Obersächsischen von Anders [2010: 271, „verwechseln Dativ und Akkusativ“ (Laienbeschreibung des Kasussynkretismus)]). Auch dialektal bedingte Genitiversatzkonstruktionen (vgl. Schröder 2004: 80) kommen bis in die Schüleraufsätze hinein vor: bis Roland seine Mutter ein teuren Brillantring versetzt. Verbalflexion: Für die höheren Sprechlagen der süddeutschen Regionalsprachen werden Reflexe aus den Dialekten für die Pluralexponenten berichtet. Im hochalemannischen Waldshut-Tiengen ist das dialektale Merkmal Einheitsplural in den Situationen Freundesgespräch, Interview und teilweise Notruf belegt (vgl. Kehrein 2012: 152 u. 168−172 [Tabellen]), d. h. im Regiolekt. Nur die jüngsten, knapp 20-jährigen Informanten verzichten in diesen Situationen der freien Rede auf den Einheitsplural (Kehrein 2012: 175 [Tab. 6−16]). In Bayern und in Österreich ist das bairische Suffix -ts der 2. Person Plural „bis in die höchste Substandardebene akzeptabel und […] auch in grundsätzlich standardsprachlicher Konversation durchaus üblich“ (Scheuringer 1990: 343). Das führt dazu, dass sich in der Gegenrichtung dieses Suffix auch in ostfränkischen oder alemannischen Dialekten ausbreitet, in denen -ts als bairisches Suffix gar nicht bodenständig ist, zum Beispiel in der Stadtregion Augsburg (vgl. Rabanus 2008: 178−180 u. 300). Bzgl. des Tempus berichtet Fischer (2018: 106−112), aus der Literatur zum Präteritumschwund ergebe sich, dass die Gebrauchsfrequenz von Präteritumformen im Oberdeutschen bei Nähe zur Standardsprache, höherer Sprachschicht und jüngeren Sprechern zunimmt, ohne dass dadurch Präteritum und Perfekt funktional differenziert verwendet würden. Nach einer stichprobenartigen Auswertung der Interviews des REDE-Projekts (s. o.) kommt Fischer (2018: 307−308) allerdings zum Schluss, dass das Perfekt in allen deutschen Regionalsprachen, im Norden und im Süden, in Bezug auf Gebrauchsfrequenz und Funktionsdomänen expandiert hat.
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Stefan Rabanus, Verona (Italien)
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax 1. Einleitung 2. Syntaktische Strukturen in den deutschen Regionalsprachen
3. Ergebnisse und Forschungsperspektiven 4. Literatur
1. Einleitung Die weit verbreitete Meinung, dass syntaktische Phänomene für lange Zeit nicht im Zentrum des dialektologischen Forschungsinteresses standen, findet sich am Anfang vieler germanistischer dialektsyntaktischer Arbeiten (vgl. Patocka 1993: 400). Daran ist richtig, dass sich insbesondere die Dialektgeographie, die im deutschsprachigen Gebiet durch Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs (WA) etabliert wurde, wenig für syntaktische Phänomene interessierte, wohl deshalb, weil diese lange Zeit „nicht zu den raumbildenden Faktoren“ (Löffler 2003: 116; wörtlich gleich auch bereits Löffler 1974: 132) gezählt wurden. Als weiterer gegen die Syntax sprechender Punkt findet sich häufig die Meinung, dass die dialektale Syntax die Erhebung vor besondere Probleme stelle (vgl. Glaser 2000: 260). Das Bild vom „Stiefkind der Mundartforschung“ (so Schwarz 1950: 118) muss allerdings relativiert werden: Schon früh existieren syntaktische Beschreibungen von Ortsdialekten, u. a. die von Otto Behaghel angeregten Arbeiten von Binz (1888) zu Basel-Stadt und Reis (1891) zu Mainz, aber auch die mehrere Hundert Seiten umfassende Monographie von Schiepek (1899/1908). Darüber hinaus lassen sich aus zahlreichen grammatischen Beschreibungen einzelner Dialekte, in denen die Syntax nicht im Zentrum steht, syntaktisch relevante Informationen gewinnen, wie der Überblick von Henn (1983) zeigt. Gerade eher populärwissenschaftlich orientierte Darstellungen wie Weber (1964) oder Merkle (1975) berücksichtigen anders als stärker wissenschaftlich orientierte Grammatiken nicht selten auch syntaktische Phänomene. Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts legte Oskar Weise eine Reihe vergleichender Arbeiten vor, in denen er die damals bereits bestehende grammatische Literatur sowie Texte auswertete (z. B. Weise 1898, 1917) und gab auch einen ersten Überblick zu dialektsyntaktischen Fragestellungen (Weise 1909); er stellt sich damit im Feld der Dialektsyntax-Forschung als „einsamer Pionier“ (Glaser 2017: 166) heraus. Obwohl also seit dem späten 19. Jahrhundert eine gewisse dialektsyntaktische Tradition existiert, war diese insbesondere auf dem Feld der Dialektgeographie lange Zeit wenig prominent. Dies ändert sich seit den 1990er Jahren: Ab dieser Zeit kann ein eigentlicher „Dialektsyntax-Boom“ konstatiert werden, der sich nicht nur in zahlreichen Einzelarbeiten und dem Thema gewidmeten Sammelbänden (etwa Abraham & Bayer 1993) äußert, sondern auch darin, dass laufende Atlas-Projekte nun syntaktische Fragestellungen einbezogen (vgl. etwa Sprachatlas von Niederbayern [SNiB] 1; Sprachatlas von Mittelfranken [SMF] 7 mit dem Abschnitt zur Syntax Arzberger 2007) und mehrere, speziell der Syntax gewidmete größere Projekte initiiert wurden, so der Syntaktische Atlas der deutschen Schweiz (SADS; vgl. Glaser & Bart 2015) oder das Projekt Syntax https://doi.org/10.1515/9783110261295-020
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hessischer Dialekte (SyHD; vgl. Fleischer, Lenz & Weiß 2015, 2017). Den entsprechenden Entwicklungen in der germanistischen Dialektologie gingen dabei analoge Bemühungen zu niederländischen, englischen und italienischen Dialekten zeitlich teilweise voraus. Der Impuls, sich vermehrt der Syntax zu widmen, wurde einerseits aus Forschungsrichtungen wie der generativen Syntax oder der Sprachtypologie in die Dialektologie hineingetragen (vgl. Kortmann 2010: 839−842), andererseits vermochte die Tatsache, dass syntaktische Phänomene entgegen der (dialektologischen) Erwartung doch raumbildend sein können, auch das Interesse der traditionellen Dialektologie zu wecken (vgl. Glaser 1997: 11−12 und 2017: 165−167 zur Forschungssituation). Im vorliegenden Überblick werden mit Bezug auf das deutschsprachige Binnengebiet einige für die deutschen Regionalsprachen charakteristische syntaktische Konstruktionen diskutiert sowie Ergebnisse und Forschungsperspektiven aufgezeigt. Dabei dürfte allerdings nur schon für die basisdialektale Ebene, bei der die Forschungssituation für manche Regionen in der Zwischenzeit zwar gut ist, für andere Gebiete aber nach wie vor hoher Dokumentationsbedarf besteht, immer noch korrekt sein, dass „die syntaxgeographischen Variablen noch lange nicht alle bekannt sind“ (Glaser 2000: 270). Dies gilt umso mehr auch für regiolektale Varietäten, bei deren Erforschung bisher eher phonologische Variablen im Zentrum stehen. Im Folgenden werden Orts- und Kleinraum-Monographien, Einzeluntersuchungen, (syntaktische) Atlanten und (auf deutschsprachige Orte beschränkte) Sample-Auswertungen der Wenker-Materialien herangezogen. Zur Erstellung des Samples wurde ein Quadrantennetz (Seitenlänge: 18 km) über das von Erhebungen der 40 Sätze Georg Wenkers abgedeckte Gebiet gelegt und aus jedem Quadranten ein (in der Regel der zentralste) Bogen ausgewählt (vgl. Fleischer 2017a: 148–150). Das für den vorliegenden Überblick ausgewertete Sample ist gegenüber Fleischer (2017a) etwas modifiziert; die Karten zeigen über 2.000 Orte und sind auf das deutschsprachige Binnengebiet fokussiert (bestimmte im Sample enthaltene Außensprachinseln werden nicht dargestellt). Die Ergiebigkeit der Wenker-Materialien für syntaktische Fragestellungen wurde erstmals schon in den 1920er Jahren durch Friedrich Maurer aufgezeigt (vgl. Fleischer 2017a: 139). Die Wenker-Materialien (zur Zitation der einzelnen Formulare vgl. Fleischer 2017a: 144, Fußnote 6) haben den Vorteil, dass in ihnen ein für das gesamte deutschsprachige Binnengebiet (und teilweise darüber hinaus) in methodischer wie materieller Hinsicht exakt vergleichbarer Datensatz vorliegt, jedoch den Nachteil, dass zahlreiche für die Syntax interessante Phänomene darin nicht enthalten sind; die mit der Analyse dieser dialektalen Übersetzungen einhergehenden methodischen Probleme sind dagegen beherrschbar (vgl. Fleischer 2017a: 145−147). Da bei syntaktischen Phänomenen die Art der Aufgabenstellung einen klaren Effekt auf die Resultate hat (vgl. u. a. Fleischer, Kasper & Lenz 2012: 28−30), ist eine unter vergleichbaren Bedingungen entstandene und die gleichen sprachlichen Kontexte zeigende flächendeckende Datenbasis besonders wertvoll.
2. Syntaktische Strukturen in den deutschen Regionalsprachen Der folgende Überblick zu syntaktischen Strukturen in den deutschen Dialekten und Regiolekten ist grob in verschiedene grammatische Bereiche gegliedert, wobei die Einteilung in die Phänomenbereiche Verbalsyntax, Nominalsyntax, Wortstellung, Kongru-
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
enzphänomene sowie Satzsyntax und Weiteres rein praktischen Zwecken dient. Angesichts der gerade für bestimmte Konstruktionen und Regionen durchaus erfreulichen Forschungssituation versteht es sich von selbst, dass die Forschungsliteratur nicht gesamthaft aufbereitet werden kann. Aus diesem Grund werden in erster Linie jüngere Arbeiten (die häufig auch die ältere Literatur erschließen) zitiert. Dabei werden eher großräumig verbreitete Phänomene behandelt (vgl. Kap. 3.1.). Die folgende Darstellung bezieht sich primär auf basisdialektale Strukturen, wo entsprechende Informationen vorhanden sind, werden jedoch auch andere Varietäten berücksichtigt. Jenseits der basisdialektalen Ebene werden im Folgenden Auswertungen zur regionalsprachlichen Schicht, wie sie etwa in mehreren Karten des Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (WDU = Eichhoff 1978, 2000) und vor allem des Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA; vgl. Möller & Elspaß 2015) vorliegen, berücksichtigt.
2.1. Verbalsyntax 2.1.1. Tempus: System der Vergangenheitstempora Bereits aus mehreren Karten von Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs geht hervor, dass sich im Süden des deutschen Sprachgebiets das analytisch gebildete Perfekt anstelle des synthetischen Präteritums ausgebreitet hat (vgl. etwa Wenker [1900/1905] 2013: 660 mit WA: Kt. 297 zu tat, Wenker [1901/1903] 2013: 699 mit WA: Kt. 78 zu war, Wenker [1904] 2013: 733 mit WA: Kt. 474 zu kam). Dabei ergeben sich je nach Verb unterschiedliche Verbreitungsmuster und damit areale Staffelungen, wie sie etwa auch Sperschneider (1959: 90, mit Kt. 17) mit Bezug auf einen Kleinraum dokumentiert hat. Fischer (2015, 2018) zeigt auf, dass der Prozess der Perfekt-Ausdehnung durch eine hohe Dynamik gekennzeichnet ist und dass sich der Rückgang des Präteritums in bestimmten Funktionen auch im Norden des Sprachgebiets belegen lässt (zu morphologischen Aspekten dieses Phänomens vgl. Rabanus, Art. 19 in diesem Band). Neben der Ausdehnung des analytischen Perfekts wird in der Literatur auch auf weitere mögliche systemische Konsequenzen, die sich durch den Rückgang des synthetischen Präteritums ergeben, hingewiesen: So findet sich für westmitteldeutsche Varietäten der Hinweis, dass anstelle des Präteritums eines Vollverbs die tun-Periphrase (vgl. Kap. 2.1.5.) Verwendung findet (vgl. Langer 2000: 267−268; Fischer 2001: 141; Stroh 1928: 31; Dingeldein 1994: 295). Darüber hinaus könnte das „doppelte Perfekt“, bei dem das Partizip des Vollverbs mit dem Perfekt des Auxiliars verbunden wird, womit zwei Partizipien auftreten (etwa er hot gemacht gehatt; Reis 1891: 18), teilweise an die Stelle des Plusquamperfekts getreten sein. Dazu würde passen, dass diese Konstruktion vor allem − aber nicht nur − in oberdeutschen Dialekten belegt ist und dort den Ausdruck der Vorvergangenheit übernehmen kann; allerdings kann das doppelte Perfekt auch andere Funktionen aufweisen und wird in bestimmten Kontexten auch im Standard verwendet (vgl. Brandner, Salzmann & Schaden 2016: 15 und dort zitierte Literatur). Auch aus diachroner Sicht scheint es nicht gerechtfertigt, den Präteritumschwund als alleinige Ursache der Entstehung des doppelten Perfekts anzusehen (vgl. BuchwaldWargenau 2012: 73−76).
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2.1.2. Auxiliarwahl bei zusammengesetzten Vergangenheitstempora Bei den Positionsverben sitzen, liegen und stehen wird nach Schirmunski (1962: 575) das Perfekt in den oberdeutschen Mundarten mit sein, in den niederdeutschen Mundarten mit haben gebildet, im Mitteldeutschen findet sich beides. Für liegen lässt sich anhand der Wenkermaterialien teilweise − anhand von Wenkersatz (WS) 24 („[…] da lagen die Anderen schon zu Bett […]“), soweit das Präteritum der Vorlage in ein Perfekt umgesetzt wurde − zeigen, dass sein im oberdeutschen Gebiet dominiert, etwa do san de aundan schau z’ Bett glegn (42477 Grillenberg), haben dagegen vor allem in bestimmten rheinfränkischen und moselfränkischen Gebieten (soweit dort das Perfekt verwendet wird) vorherrscht, etwa do honn die Annere schunn im Bett geläh (15334 Kirchberg). Außerdem lassen sich haben-Belege gehäuft auch für das höchstalemannische Wallis anführen, etwa da heint d’andru scho im Bett glägu (46143 Zwischbergen). Die grundsätzliche areale Verteilung mit einem nördlichen haben und einem südlichen sein wird durch den WDU (Eichhoff 1978: Kt. 125) für sitzen und den AdA (Runde 9: Frage 5b) für stehen für eine umgangssprachliche Schicht bestätigt: In beiden Datensätzen tritt das Auxiliar sein fast nur südlich des Mains auf (mit selteneren haben-Belegen für das Wallis im WDU, aber nicht im AdA). Diese areale Verteilung lässt sich nach Götz (1995: 230), die sich auf Angaben in Grammatiken bezieht, in analoger Weise auch auf standardsprachlicher Ebene beobachten. Auch bei Verben, die semantisch nicht zu den Positionsverben gezählt werden können, dürften areale Unterschiede vorliegen, etwa bei anfangen (vgl. dazu AdA, Runde 4: Frage 1c). Auf die kleinräumig auftretende weitgehende Ausweitung des Geltungsbereichs von haben, die in Gebieten mit möglichen Interferenzen aus dem Dravänopolabischen und Sorbischen festgestellt werden kann, wird hier nicht eingegangen (vgl. jedoch Fleischer, Art. 36 in diesem Band).
2.1.3. Auxiliar werden bei nachzeitiger Referenz In manchen grammatischen Beschreibungen wird explizit thematisiert, dass ein werdenFutur nicht dialektal verankert ist, etwa bei Binz (1888: 72) für eine niederalemannische oder bei Reis (1891: 19) für eine rheinfränkische Mundart. Dagegen wird speziell für bairische Mundarten ein werden-Futur, das im Wesentlichen der aus der Standardsprache bekannten Konstruktion entspricht, beschrieben (vgl. Schiepek 1899: 148−149; Merkle 1975: 51). Dass das werden-Futur auch dialektal auftritt und dabei ein charakteristisches areales Muster aufweist, zeigt eine Sample-Auswertung von WS 2, in dessen ersten Teil ein Präsens mit nachzeitiger Referenz auftritt („Es hört gleich auf zu schneien […]“). Wie Kt. 20.1 aufzeigt, tritt die Periphrase werden + Infinitiv hier gegen die Vorlage vor allem im östlichen Bairischen und im südlichen Ostmitteldeutschen (mit Streubelegen in anderen Gebieten) auf, etwa ’S werd glei auffern zan Schneib’m (44056 Steuerberg).
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
Kt. 20.1: werden + Infinitiv bei nachzeitiger Referenz (Wiedergabe von WS 2)
2.1.4. Periphrase sein + an (+ Artikel) + Infinitiv Die Periphrase sein + an (+ Artikel) + Infinitiv, die in der Literatur u. a. als „am-Progressiv“ oder als „(rheinische) Verlaufsform“ bezeichnet wird, besteht aus einer flektierten Form des Auxiliars sein, die mit an (+ Artikel) + Infinitiv kombiniert wird (ich bin am Arbeiten). Bei dieser gerade in jüngerer Zeit stark beforschten Konstruktion (vgl. u. a. Bhatt & Schmidt 1993; Pottelberge 2004; Kuhmichel 2016, 2017; Ramelli 2016) bereitet neben der exakten arealen Verbreitung vor allem ihr grammatischer Status Probleme: Nicht jede Verbindung von sein + am + Infinitiv muss notwendigerweise eine grammatikalisierte Konstruktion mit einer eindeutig umschreibbaren aspektuell-temporalen Semantik darstellen (vgl. u. a. Kuhmichel 2017: 120−121). Auch zeigen sich je nach Verb (und dessen Semantik) und dem Vorhandensein eines Objekts unterschiedliche Verbreitungen (vgl. Kuhmichel 2017: 131). Aus einer Sample-Auswertung von WS 24, in dessen Vorlage diese Konstruktion enthalten ist („[…] und waren fest am schlafen.“) ergibt sich, dass besonders im Nordwesten und mittleren Westen des deutschsprachigen Binnengebiets diese Konstruktion beibehalten, dagegen im Südosten meist aufgelöst wird, wogegen sich im Südwesten etwas häufiger Belege finden, etwa und sind fescht am Schlofe gsi (46017 Gersau). Dieser Befund darf allerdings nicht überbewertet werden, weil einerseits − bei Vorhandensein der Konstruktion − jeweils die Struktur der Vorlage repliziert wird, andererseits in Dialekten mit Rückgang des Präteritums bei der Umsetzung der Vorlage ein zusätzli-
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
ches methodisches Problem hinzutritt. Dennoch wird der grundsätzliche Befund durch eine Auswertung von WS 38 („Die Leute sind heute alle draußen auf dem Felde und mähen.“) teilweise bestätigt: Hier tritt die Konstruktion an (+ Artikel) + Infinitiv gegen die Vorlage einerseits im westfälischen und mittelfränkischen Gebiet auf, etwa De lüe zint nu alle boeten op het vele an’t meien (20240 Bardel), andererseits auch in der Schweiz, etwa D’Lüt sönd hüt ali off de Wes am Mäje (42821 Rietli). Es bestehen wenig Zweifel, dass die Konstruktion im mittel- und niederdeutschen Westen des deutschsprachigen Gebiets besonders stark verankert ist, außerdem aber auch in der deutschen Schweiz, wo die Konstruktion dialektal, aber auch standardsprachlich in der Pressesprache häufig vorkommt, besonders weit verbreitet ist (Pottelberge 2004: 221; Flick & Kuhmichel 2013: 62; vgl. Kuhmichel 2017: 122−123). Die Tatsache, dass Erweiterungen (ohne Inkorporierung), etwa um volle Objekte, bei dieser Konstruktion in erster Linie in westmitteldeutschen Varietäten auftreten, etwa d’r Pitter is Näl am erinkloppe ‘der Peter ist Nägel am Einschlagen’ (Bhatt & Schmidt 1993: 71), wird als Indiz dafür gesehen, dass die Grammatikalisierung im Ursprungsgebiet der Konstruktion besonders weit vorangeschritten ist und sich von dort ausbreitet (vgl. Flick & Kuhmichel 2013: 59−60; Kuhmichel 2017: 123). Auch für eine umgangssprachliche Schicht lässt sich im gleichen Areal eine besonders weit gehende Verwendung dieser Konstruktion beobachten, wie für die Kontexte ich bin gerade die Uhr am Reparieren (AdA, Runde 2: Frage 18b) und Er ist Äpfel am schälen (AdA, Runde 10: Frage 10c) aufgezeigt werden kann. Dabei zeigt sich beim indefiniten Objekt eine geringere areale Verbreitung der am-Konstruktion. Da sich die Konstruktion auch in der Umgangssprache (u. a. in mehreren AdA-Fragen, vgl. AdA, Runde 10: Fragen 10a−d) und teilweise im Standard belegen lässt, stellt sich allerdings für bestimmte Gebiete die Frage, ob eine Ausbreitung eher auf dialektale oder umgangssprachliche Kanäle zurückgeht. Anhand eines Vergleichs verschiedener AdA-Fragen könnte sich eine sehr rezente Ausbreitung in jüngster Zeit ergeben (vgl. Möller & Elspaß 2015: 529−530), allerdings ist hierbei zu bedenken, dass unterschiedliche Fragekontexte (und eine fluide Population von Gewährspersonen) dokumentiert sind.
2.1.5. tun-Periphrase Die Standardsprache lässt die Periphrase tun + Infinitiv ausschließlich zur Topikalisierung eines Verbs zu, das als flektierte Form nicht im Vorfeld stehen könnte (verstehen tut er wie gewöhnlich nichts; vgl. Duden-Grammatik 2016: 435). Diese Funktion dürfte die tun-Periphrase auch in den meisten deutschen Varietäten erfüllen (vgl. Langer 2000: 269−270; Fischer 2001: 139−140). Dazu passt, dass in den niederdeutschen Dialekten diese Funktion der tun-Periphrase nach Weber (2017: 104) keine charakteristischen arealen Unterschiede zeigt − anders als andere Ausprägungen (vgl. unten). Für einige periphere (u. a. nordöstliche) Varietäten ist als alternative Konstruktion eine seltene Verdoppelung des lexikalischen Verbs belegt, etwa trinken trinkt er nicht (vgl. Fleischer 2008; Freywald 2017: 179−180). Neben der Topikalisierung finden sich in den deutschen Dialekten eine Vielzahl weiterer Verwendungen der tun-Periphrase, deren grammatischer Status und semantische Eigenschaften umstritten sind und in verschiedenen Varietäten unterschiedlich sein dürf-
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
ten (vgl. die Überblicke von Langer 2000 und Fischer 2001). Als mögliche Funktionen kommen in Betracht: − Umschreibung des Präteritums in Gebieten mit nur teilweise erhaltenen synthetischen
Präteritum-Formen (vgl. Langer 2000: 267−268; Fischer 2001: 141): für bestimmte westmitteldeutsche Dialekte wird beschrieben, dass die tun-Periphrase im Präteritum an die Stelle synthetischer Präteritalformen getreten ist (vgl. Kap. 2.1.1.). In ähnlicher Weise findet sich die tun-Periphrase in niederdeutschen Dialekten (mit Ausnahme des Südwestens) im Präteritum, allerdings beschränkt auf Verbletzt-Sätze (vgl. Weber 2017: 241 u. 247). − Umschreibung des Konjunktivs II (vgl. Langer 2000: 266−267; Fischer 2001: 143): diese Funktion scheint vor allem für hochdeutsche Dialekte typisch zu sein, wie sich bereits aus der Analyse von WS 18, in dessen standardsprachlicher Vorlage eine tunPeriphrase in dieser Funktion auftritt („[…] und es thäte besser um ihn stehn.“) ergibt: Nach WA: Kt. 280 (vgl. Wenker [1900/1905] 2013: 661−662) fehlt täte vor allem im Westen des niederdeutschen Gebiets vollständig. Dass diese Funktion der tun-Periphrase im Niederdeutschen nicht verankert ist, bestätigt Weber (2017: 245 u. 247) u. a. anhand von Korpusanalysen. Für die modernen Dialekte Hessens ergibt sich, dass auch das nördliche Nordhessische statt der tun- die würde-Periphrase bevorzugt (vgl. Lenz 2017a: 52). Für eine alltagssprachliche Schicht bestätigen zwei AdA-Fragen (Runde 2: Frage 18c; Runde 3: Frage 8c) eine Verankerung dieser Funktion der tunPeriphrase vor allem im hochdeutschen Gebiet. − Umschreibung habitueller, progressiver oder durativer Vorgänge (vgl. Langer 2000: 268−269; Fischer 2001: 148−149; Kuhmichel 2016: 73−74): hier deutet sich eine weite Verbreitung an, wobei allerdings in Bezug auf verschiedene grammatische Ausprägungen Unterschiede bestehen; mit direktem Objekt im Kontext er tut die Wiese mähen ist die tun-Periphrase etwa im Süden und Zentrum Hessens dominierend (vgl. Kuhmichel 2016: 79−81, mit Karte). Ohne direktes Objekt zeigt sich bei einer Sample-Auswertung von WS 38 („Die Leute sind heute alle draußen auf dem Felde und mähen.“), dass die tun-Periphrase gegen die Vorlage häufiger im Oberdeutschen und besonders häufig im Bairischen (v. a. im Süden) auftritt, etwa Die Leut sein heint olla af dr Wies daus und tian mahn (46319 Wangen/Vanga).
2.1.6. kriegen-/bekommen-Passiv Das kriegen-/bekommen-Passiv, das etwa in er kriegt eine Banane abgenommen vorliegt, ist eine Periphrase mit den Verben kriegen oder bekommen, die es erlaubt, einen in einem Aktivsatz in der Regel im Dativ stehenden Aktanten in den Nominativ zu setzen (vgl. u. a. Glaser 2005 sowie Lenz 2013, 2017b; die in der Literatur ebenfalls zu findende Bezeichnung „Dativ-Passiv“ erklärt sich durch das Auftreten dieses Kasus im Aktivsatz). Dabei lässt sich, in Abhängigkeit von der semantischen Rolle des Subjekts, das kriegenPassiv vor allem im nieder- und mitteldeutschen Gebiet (mit Einzelbelegen auch im Oberdeutschen) nachweisen, wobei sein Kernareal im Westmitteldeutschen und Niederfränkischen zu sehen ist, wo es am stärksten grammatikalisiert erscheint (Lenz 2013: 163; vgl. auch Glaser 2005: 50). Dagegen ist das bekommen-Passiv, bei dem ein anderes Verb grammatikalisiert ist, das aber strukturell sehr ähnliche Eigenschaften zum kriegen-
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Passiv aufweist, vor allem im Niederalemannischen dominant (vgl. Lenz 2013: 258). In der deutschsprachigen Schweiz ist das bekommen-Passiv dagegen kaum dialektal verankert (Glaser 2005: 54).
2.2. (Pro-)Nominalsyntax 2.2.1. Syntax der Artikel Die Artikel zeigen in den deutschen Dialekten mehrere vom Standard abweichende Phänomene, von denen im Folgenden nur zwei behandelt werden (für weitere Phänomene in Zusammenhang mit der Syntax der Artikel vgl. die Auflistung in Glaser 2017: 169). Der definite Artikel findet in zahlreichen Dialekten und Regiolekten anders als im Standard auch bei Eigennamen, in erster Linie Rufnamen, Verwendung (der Hans etc.; vgl. Glaser 2008: 92−94). Werth (2017: 126−135) zeigt auf, dass die Artikelverwendung vor allem im ober- und westmitteldeutschen Gebiet (dort teilweise areal abgestuft) verankert ist, sich darüber hinaus aber durchaus auch im niederdeutschen Gebiet findet (vgl. dazu speziell Werth 2014). Während in ober- und westmitteldeutschen Dialekten der Artikel praktisch immer zur Anwendung kommt, wird dessen Auftreten im Niederdeutschen eher durch semantisch-pragmatische Faktoren gesteuert, wobei er bei Objekten häufiger auftritt (Werth 2017: 350). Dies entspricht dem Befund Bellmanns (1990: 275−276 u. 274 [Karte]) zur umgangssprachlichen Schicht, wonach im Norden des Sprachgebiets der Artikel in weniger Kontexten zur Anwendung kommt als im Süden. Auch eine Karte im WDU (Eichhoff 2000: Kt. 76) und eine AdA-Frage (Runde 9: Frage 2a) bestätigen die generelle Süd-Nord-Divergenz: Demnach ist der Artikel bei Vornamen in einer regiolektalen Schicht fast im gesamten hochdeutschen Sprachgebiet verbreitet. Der indefinite Artikel tritt in bestimmten Mundarten auch bei Kontinuativa und Abstrakta auf, z. B. i driŋ a βɑssa ‘ich trinke (wörtl.: ein) Wasser’ (Glaser 1993: 108). Eine Auswertung von WS 23 („Wir sind müde und haben Durst.“) zeigt, dass diese Konstruktion vor allem im Südosten der deutschen Dialekte verankert ist (vgl. Glaser 2017: 173 u. 392 [Kt.]; Fleischer 2019). In einer alltagssprachlichen Schicht ergibt sich aufgrund einer entsprechenden AdA-Frage (Runde 3: Frage 8d) eine grundsätzlich ähnliche areale Verbreitung, wogegen eine andere AdA-Frage (Runde 10: Frage 7e) ein weniger eindeutiges Bild ergibt.
2.2.2. Possessivstrukturen Der Genitiv ist in fast allen deutschen Dialekten (mit Ausnahme u. a. gewisser höchstalemannischer Gebiete) geschwunden (vgl. z. B. Fleischer & Schallert 2011: 84−87 und dort zitierte Literatur). Bei möglichen Überresten des s-Genitivs, die unter anderem in manchen Dialekten bei Personennamen belegt sind (und bei denen sich die Frage nach ihrer Dialektalität stellt), ist der genaue grammatische Status meist schwierig festzustellen (vgl. Kasper 2017: 305−306). Anstelle des attributiven Genitivs treten in den deutschen Dialekten alternative Konstruktionen auf, von denen der „possessive Dativ“ (dem Vater sein Haus) vielleicht die prominenteste ist (terminologisch ist diese Bezeichnung
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
insofern missverständlich, als die das Possessivpronomen nutzende Konstruktion auch in Dialekten ohne morphologisch eigenständigen Dativ auftritt; vgl. Weiß 2008: 384; Kasper 2017: 301). Wie bereits Weise (1898) und detailliert Henn (1983) aufzeigen, ist diese Konstruktion in deutschen Dialekten weit verbreitet. Dies gilt auch für die Periphrase mittels der Präposition von (vgl. Kasper 2017: 303). Während der „possessive Dativ“ vor allem bei belebtem (bzw. zumindest anthropomorphem) Kernnomen auftritt (vgl. Kasper 2017: 308−309 mit Bezug auf die Dialekte Hessens), ist die von-Konstruktion weniger „von strukturellen und lexikalisch-semantischen Restriktionen betroffen“ (Kasper 2017: 306). Sowohl der possessive Dativ als auch die von-Periphrase lassen sich auch für eine umgangssprachliche Schicht im gesamten deutschsprachigen Gebiet belegen, wie eine WDU-Karte (Eichhoff 2000: Kt. 77) und eine AdA-Karte (Runde 9: Frage 2f) zeigen.
2.2.3. Realisierung des Subjektpronomens Aus verschiedenen grammatischen Beschreibungen deutscher Dialekte geht hervor, dass das Subjektpronomen der 2. Person Singular am linken Rand des Mittelfelds (in der sog. „Wackernagel-Position“) unrealisiert bleiben kann, besonders häufig wird etwa auf das Bairische verwiesen (vgl. z. B. Axel & Weiß 2011: 35−36). Aus einer Auswertung des ersten Teils von WS 12 („Wo gehst Du hin?“) ergibt sich, dass fehlendes Pronomen, wie es etwa in Wo geahst hin (35033 Rauenzell) vorliegt, eine überwiegend im Oberdeutschen und teilweise im südlichen Ostmitteldeutschen verbreitete Struktur darstellt, mit sporadischen Belegen auch außerhalb dieses Gebietes (vgl. Fleischer 2015: 201 u. 505 [Karte]). Abhängig von der Frage, inwieweit klitische Subjektpronomen als Verbalaffixe zu analysieren sind, lassen sich in bestimmten bairischen Varietäten Fälle von fehlendem Subjektpronomen auch in der 2. Person Plural in Zusammenhang mit dem auf eine alte Dualform zurückgehenden Pronomen e(t)s, das teilweise als Verbalendung reanalysiert ist, feststellen, etwa Kints 0̸ net a wengerl af uns wartn (WS 27, 40047 Pemfling; vgl. Fuß & Wratil 2013: 173−175). Dies gilt auch bei der 1. Person Plural, in der das auf das Subjektpronomen zurückgehende -ma teilweise als Verb-Endung reanalysiert wurde und mit dem vollen Pronomen kookurrieren kann, etwa in Heit bleib-ma mia/0̸ daham ‘heute bleib-1PL wir daheim’ (vgl. Fuß & Wratil 2013: 182−183; Beispiel nach Fuß & Wratil 2013: 183). Beim Fehlen des Subjektpronomens scheinen sowohl Zusammenhänge mit Klitisierungserscheinungen (vgl. Fleischer 2015: 206−207) als auch, wie Weiß (2005a), Axel & Weiß (2011) und Fuß & Wratil (2013) argumentieren, mit dem Auftreten verbaler Kongruenzelemente an Konjunktionen (vgl. Kap. 2.4.2.) zu bestehen.
2.2.4. Reflexivpronomen sich bei 1. Person (und 2. Person) Plural Das im Standard auf die 3. Person (Singular und Plural) beschränkte Reflexivpronomen sich − in der 1. und 2. Person treten in reflexiver Bedeutung keine eigenen Pronomen, sondern die entsprechenden Formen des Personalpronomens auf − kann in verschiedenen Dialekten auch bei einem Subjekt der 1. Person Plural erscheinen. Bekannt ist dies für
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bestimmte bairische Dialekte, etwa schau-ma si an füm an ‘schauen wir uns (wörtl.: sich) einen Film an’ (Stangel 2015: 23; vgl. Stangel 2015: 105−114), doch lässt sich diese Konstruktion auch in anderen Gebieten nachweisen (vgl. Schirmunski 1962: 452), etwa zentralhessisch Mer duze sich häi ‘wir duzen uns (wörtl.: sich) hier’ (Fleischer 2017b: 294). In bestimmten nordniederdeutschen und niederpreußischen Dialekten geht die Ausdehnung von sich neben der 1. Person Plural auch auf die 2. Person Plural über (Fleischer 2017b: 292−293); Marti (1985: 98) beschreibt dies auch für bestimmte berndeutsche Mundarten. Eine Ausdehnung auch auf den Singular scheint in deutschen Dialekten dagegen nicht aufzutreten. Eine befriedigende allgemeine Erklärung der Ausweitung von sich auf die 1. (und 2.) Person Plural konnte bisher nicht gefunden werden: Die für manche Varietäten erwägenswerte kontaktinduzierte Erklärung kann etwa für das Zentralhessische nicht einschlägig sein; umgekehrt bietet der in vielen hochdeutschen Varietäten zu konstatierende totale Zusammenfall bzw. die partielle Angleichung der Pronomen man und wir keinen Ansatz für eine Erklärung dieses Phänomens in niederdeutschen Dialekten (vgl. Fleischer 2017b: 290−293).
2.2.5. Ausdruck pronominaler Partitivität Zum Ausdruck pronominaler Partitivität (vgl. etwa Glaser 2008: 89 u. 108 [Karte]; Strobel 2016, 2017) stehen in den deutschen Dialekten verschiedene Strategien zur Verfügung, die sich von der Standardsprache teilweise markant unterscheiden: Neben den auf Genitive von Personalpronomen zurückgehenden, jedoch synchron erstarrten „Partitivformen“ (e)r(e) (Femininum, Plural), etwa eds greisd ər ‘jetzt kriegst du ihrer (d. h. Schläge)’ (Kroh 1915: 123), und sen (Maskulinum, Neutrum), etwa hǫsd dau sən dā̰ šū ‘hast du denn schon davon (z. B. Kaffee, Fleisch)’ (Kroh 1915: 123), und dem Pronomen welch- kommen außerdem eine nicht overt realisierte Form sowie ein- vor, wobei diese unterschiedlichen Strategien arealbildend sind (vgl. Glaser 2008: 108; Strobel 2016: 160, 2017: 221−223). Insgesamt scheint sich die welch-Strategie, die aus dem Norden des deutschen Sprachgebietes stammt und neben dem Niederdeutschen auch für umgangssprachliche Schichten charakteristisch ist, auszubreiten und etwa die „Genitivpartikeln“, die sich u. a. im Westmitteldeutschen (neben südlichen alemannischen und bairischen Gebieten) finden, in der Regel abzulösen (Strobel 2017: 222). Die nicht overt realisierte Strategie erweist sich als charakteristisch für das Alemannische (vgl. Glaser 1993), eindagegen für das Bairische.
2.3. Wortstellung 2.3.1. Abfolge der verbalen Teile in der rechten Satzklammer Die Abfolge der verbalen Teile in der rechten Satzklammer wurde − im Anschluss an Lötscher (1978) und Patocka (1997) − für verschiedene Gebiete intensiv beforscht (nicht selten in einem generativen Rahmen). Allerdings lässt sich eine generelle Übersicht aus mehreren Gründen nur schwer erstellen: So unterscheiden sich Hauptsatz und Nebensatz
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
in Bezug auf das flektierte Verb (das im Hauptsatz in der linken Satzklammer steht und darum für die Abfolge der verbalen Teile in der rechten Satzklammer irrelevant ist) grundsätzlich und verschiedene Konstruktionen bzw. Auxiliare bevorzugen, wie auch aus der historischen Forschung bekannt ist (vgl. Fleischer & Schallert 2011: 169), bestimmte Serialisierungen. Vor allem aber unterscheiden sich 2-Verb-Cluster (dass er heiraten will) und 3-Verb-Cluster (dass er das Buch gelesen haben muss) voneinander. Für die Abfolge im 2-Verb-Cluster mit einem Infinitiv eines lexikalischen und einem Ersatzinfinitiv eines Modalverbs (er hat arbeiten müssen) ergibt sich aus der Übersichtskarte in Patocka (1997: 265, Kt. 4), dass die dem Standard nicht entsprechende Abfolge er hat müssen arbeiten in der Mehrheit des deutschen Binnengebiets dominiert, die dem Standard entsprechende Abfolge dagegen vor allem in Teilen des Bairischen und Ostfränkischen auftritt (vgl. Patocka 1997: 265; zu den in der Karte als unklar markierten westmitteldeutschen Verhältnissen vgl. Dubenion-Smith 2010 u. Weiß & Schwalm 2017: 466, woraus sich ergibt, dass die dem Standard entsprechende Abfolge auch in den westmitteldeutschen Mundarten vorkommt, aber etwa im Osthessischen die umgekehrte Abfolge charakteristisch ist). Bei 3-Verb-Clustern ist die rein kombinatorisch mögliche Vielfalt erheblich größer. Hier zeigt sich, dass die Mittelstellung des finiten Verbs, die gerne als bairisches Charakteristikum zitiert wird (vgl. Weiß & Schwalm 2017: 464), auch in westmitteldeutschen Dialekten, unter anderem besonders im Osthessischen, auftritt (vgl. Dubenion-Smith 2010: 116−117; Weiß & Schwalm 2017: 466). Wie Elspaß & Dürscheid (2017: 96− 99) aufzeigen, finden sich 3-Verb-Cluster mit Mittelstellung des Finitums in deutschen „Gebrauchsstandards“, wie sie durch regional verbreitete Zeitungen repräsentiert sind, vor allem im Südosten, sind allerdings keineswegs auf Österreich beschränkt.
2.3.2. Stellung von Subjekt- und Objektpronomen Ein grundlegender Unterschied zwischen der Standardsprache und zumindest manchen deutschen Dialekten besteht darin, dass die Dialekte über ein wesentlich stärker ausgebautes System klitischer Pronomen verfügen (vgl. Nübling 1992 mit Bezug auf das Berndeutsche). Dabei stellt es eine interessante Frage dar, ob sich erhärten lässt, dass die mittel- und vor allem die oberdeutschen Dialekte eine stärkere Tendenz zur Verwendung klitischer Formen aufweisen als das Niederdeutsche (vgl. Fleischer 2015: 206). Für die im Folgenden beschriebenen Phänomene der Serialisierung pronominaler Subjekte und Objekte gilt, dass sie sich, wenn die dialektalen Systeme eine entsprechende Unterscheidung kennen, in der Regel auf klitische Pronominalformen beziehen. Während in der Standardsprache Personalpronomen am linken Rand des Mittelfelds in der sog. „Wackernagel-Position“ in der Regel in der Abfolge SU > DO > IO auftreten, finden sich in deutschen Dialekten auch alternative Serialisierungen. Das Subjektpronomen kann dem Objektpronomen nachfolgen, wie sich bereits aus einer Analyse des ersten Teils von WS 18 („Hättest Du ihn gekannt!“) ergibt (vgl. Weiß 2015: 132−133, mit Karte): in Hettst’n du kennt (40414 Plattling) tritt das pronominale Subjekt (du) nach dem pronominalen Objekt (’n) auf. Wie Weiß (2015: 131−144) aufzeigt, kommen derartige Abfolgen vor allem in oberdeutschen Dialekten vor, teilweise lassen sie sich auch in mitteldeutschen Varietäten belegen.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Bei pronominalen Objekten tritt die gegenüber dem Standard abweichende Abfolge > DO auf, wie sich etwa aus einer Analyse von WS 9 („[…] und habe es ihr gesagt […]“) ergibt (vgl. Fleischer 2011): in und hob iäs gsogt (42637 Nickelsdorf) steht das pronominale direkte Objekt (=s) nach dem pronominalen indirekten Objekt (iä=). Da sich verschiedene Pronomen bezüglich der relativen Abfolge unterschiedlich verhalten (vgl. Fleischer 2017c: 490−491), können keine generellen Verbreitungsangaben gemacht werden, jedoch gilt insgesamt, dass die Abfolge IO > DO eher für hochdeutsche Dialekte typisch ist. Bei einem indirekten Objekt der 1. Person Singular („mir“), bei dem die Abfolge IO > DO besonders häufig auftritt, lässt sie sich unter anderem in zahlreichen hessischen Dialekten belegen (vgl. Fleischer 2017c: 500, 506 u. 508 [Karten]); bei einem indirekten Objekt der 3. Person Singular Femininum („ihr“), wie es in WS 9 belegt ist, ergibt sich dagegen eine areal stärker eingeschränkte Verbreitung im Oberdeutschen, in Teilen des Moselfränkischen (insbesondere Luxemburgisch), in Teilen des südwestlichen Ostmitteldeutschen, aber auch im Ostfriesischen (vgl. Fleischer 2011: 85 u. 97 [Karten]). IO
2.3.3. Syntax von Pronominaladverbien Während im Standard die sogenannten „Pronominaladverbien“ (Verbindungen aus da(r)-, wo(r)-, hier- + Präposition) inert sind, treten in den deutschen Regionalsprachen eine Reihe alternativer Konstruktionen auf, bei denen die Elemente getrennt (da weiß ich nichts von; Spaltungskonstruktion) oder verdoppelt werden, wobei die verdoppelten Elemente voneinander getrennt (da weiß ich nichts davon; Distanzverdoppelung) oder adjazent (dadavon weiß ich nichts; kurze Verdoppelung) erscheinen können. Auch das Auftreten einer Präposition ohne overte Ergänzung (ich weiß nichts von) ist belegt (vgl. Fleischer 2002, 2017d; Otte-Ford 2016). Aus der Literatur zu den Basisdialekten (Fleischer 2002; vgl. besonders Kt. 1, 4 u. 7), aber auch zur Umgangssprache (vgl. AdA, Runde 1: Fragen 11−12; Runde 2: Fragen 21a−c), ergibt sich, dass die Spaltungskonstruktion eher in den nördlichen (teilweise auch mittleren westlichen) Gebieten verbreitet ist (dies gilt auch für das Auftreten einer Präposition ohne overte Ergänzung), die Verdoppelungskonstruktionen dagegen eher im Süden. Bei der arealen Verbreitung der Konstruktionen spielt der Anlaut der Präposition eine Rolle: Bei vokalisch anlautenden Präpositionen sind die Verdoppelungskonstruktionen weiter verbreitet als bei konsonantisch anlautenden, bei konsonantisch anlautenden Präpositionen dagegen die Spaltungskonstruktion. Allerdings ergeben sich in den Basisdialekten in Abhängigkeit vom Anlaut der Präposition keine sehr bedeutenden Unterschiede (vgl. Fleischer 2002: 378−383). Dagegen ist die Spaltungskonstruktion bei konsonantisch anlautenden Präpositionen in den durch den AdA dokumentierten umgangssprachlichen Registern weiter nach Süden verbreitet als in den Basisdialekten (vgl. dazu auch Otte-Ford 2016: 281 zu Daten des Projekts Regionalsprache.de [REDE] aus Waldshut-Tiengen), wogegen sie bei vokalisch anlautenden Präpositionen nur in wenigen nördlichen Orten belegt ist. Damit ergibt sich für umgangssprachliche Register entweder ein System mit komplementärer Distribution oder aber ein asymmetrisches System, in dem bei konsonantisch anlautenden Präpositionen beide diskontinuierlichen Konstruktionen (Spaltungskonstruktion und Distanzverdoppelung) möglich sind, bei vokalisch anlautenden dagegen nur die Distanzverdoppelung. Für Berlin erweisen sich in Korpusauswertungen zu relativ jungen Tonaufnahmen
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
die ungetrennten Pronominaladverbien als am häufigsten, gefolgt von den Verdoppelungskonstruktionen (vgl. Freywald 2017: 190−191).
2.3.4. Abspaltung trennbarer Verbzusätze in der rechten Satzklammer („Binnenspaltung“) Bei trennbaren Verbzusätzen können anders als im Standard bestimmte verbale Konstituenten, etwa zu-Infinitive, zwischen Präfix und Verb treten, auch wenn das Verb in der rechten Satzklammer steht, etwa a is naekuma un hod a dse schimfn gfanga ‘er ist hineingekommen und hat angefangen zu schimpfen (wörtl.: an zu schimpfen gefangen)’ (Sperschneider 1959: 76). Die Verbreitung dieser als „Binnenspaltung“ (Schallert & Schwalm 2016: 89) bezeichneten Konstruktion ist bisher nicht genauer untersucht, aus verschiedenen Quellentypen ergibt sich jedoch, dass sie auf jeden Fall in einem zentralen Gebiet in bestimmten nördlichen ostfränkischen sowie daran angrenzenden osthessischen, zentralhessischen und rheinfränkischen Dialekten auftritt, mit gelegentlichen Belegen auch in anderen Gebieten (vgl. Schallert & Schwalm 2016: 93−101). Eine Sample-Analyse von WS 3, in dessen standardsprachlicher Vorlage die Binnenspaltung Verwendung fand („[…] daß die Milch bald an zu kochen fängt.“), zeigt, dass in oberdeutschen Dialekten (mit Ausnahme des nördlichen Ostfränkischen) gegen die Vorlage in der Regel Adjazenz zwischen Präfix und Verb hergestellt wird, was den Schluss zulässt, dass diese Konstruktion dort dialektal nicht verankert ist (vgl. Fleischer 2017a: 144−145). Speziell für das Niederdeutsche fehlt jedoch bisher eine eingehende Untersuchung.
2.4. Kongruenzphänomene 2.4.1. Neutrale Formen von Indefinitpronomina bei generischer Referenz Für neutrale Formen von Indefinitpronomina bei generischer Referenz, wie sie sich auch im älteren Neuhochdeutschen feststellen lassen (vgl. Fleischer & Schallert 2011: 119− 120), ist bezüglich ihrer Verbreitung und grammatischen Eigenschaften bisher wenig Genaues bekannt, die Konstruktion wird aber in der dialektgrammatischen Literatur bisweilen beschrieben, etwa Stärbn muäß äs jedäs ‘sterben muss ein jedes’ (Hodler 1969: 282, für das höchstalemannische Lötschental). Laut Steininger (1994: 41, Fußnote 108) kann in einer bairischen Mundart „a jeds ‘ein jedes’ […] eine (erwachsene) Person unbestimmten Geschlechts meinen“ (vgl. auch Schiepek 1908: 487; Merkle 1975: 152). Nach zwei unveröffentlichten Kartenskizzen des Deutschen Wortatlas (DWA; vgl. dazu Birkenes & Fleischer 2017: 361−362) ergibt sich, dass neutrales kein(e)s besonders häufig im nordöstlichen Westmitteldeutschen auftritt (v. a. im nordöstlichen Rheinfränkischen, im südlichen Zentralhessischen, im Osthessischen und im südöstlichen Nordhessischen), teilweise auch in den östlich angrenzenden oberdeutschen und ostmitteldeutschen Gebieten. Darüber hinaus ist neutrales kein(e)s in drei peripheren kleineren Gebieten, und zwar einem südbairischen, einem schlesischen und einem ostpommerschen, belegt. Für jed(e)s und kein(e)s zeigt Leser-Cronau (2018: 202–205) anhand von Auswertungen
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Kt. 20.2: jedes und jeder bei generischer Referenz (Karte aus Leser-Cronau 2018: 204)
von Tonaufnahmen (u. a. Zwirner-Korpus), dass neutrale Formen in mehreren mittelund oberdeutschen Dialektverbänden, jedoch kaum im Niederdeutschen (und westlichen Westmitteldeutschen) belegt sind (wogegen maskuline Formen überall auftreten); vgl. Kt. 20.2.
2.4.2. „Flektierte“ Konjunktionen In bestimmten deutschen Dialekten erscheinen verbale Suffixe auch an Konjunktionen (und anderen Elementen), die einen Nebensatz einleiten, etwa bei der 2. Person Singular im Bairischen: ob=sd ned du des mocha kan=sd ‘ob=2SG nicht du das machen kannst’ (Weiß 2005a: 148; vgl. auch Weise 1907; Harnisch 1989 sowie in Bezug auf morphologische Aspekte Rabanus, Art. 20 in diesem Band). Das Phänomen zeigt sich über die 2. Person Singular auch in anderen Personen, etwa in Ludwigsstadt in der 3. Person Plural das=n=ere six ɒbgsedsd xɒn ‘dass=3PL=ihrer (= welche) sich abgesetzt haben’ (nach Harnisch 1989: 200). Eine ungefähre areale Verbreitung dieses Phänomens anzugeben ist insofern schwierig, als es bei verschiedenen Personen unterschiedlich weit verbreitet ist, wobei bei der 2. Person Singular die weiteste Verbreitung vorliegen dürfte. Dass das Phänomen, wie Weise (1907: 200) angibt, „im Ostfränkischen und in den Nachbarmundarten“ besonders weit verbreitet ist, schließt nicht aus, dass sich ähnliche Erscheinungen auch in
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
anderen Dialekten finden (vgl. den Überblick in Weiß 2005a: 149−153). Außerdem hängt es von der Analyse ab, ob suffigierte Elemente an Konjunktionen, die nicht (ausschließlich) auf verbale Suffixe (wie etwa in der 2. Person Singular =st oder in der 3. Person Plural =n), sondern (auch) auf klitische Subjektpronomen zurückgeführt werden können, mit diesem Phänomen gleichgesetzt werden. Im zürichdeutschen Satz wie t mer du(u) gsäit häsch ‘wie T mir du gesagt hast’ (nach Weber 1964: 156−157; vgl. Weiß 2005a: 157) tritt neben dem vollen Pronomen du(u) nach der Konjunktion wie ein Element t auf, das anders als in den bairischen und ostfränkischen Dialekten weder diachron noch synchron mit der verbalen Endung der 2. Person Singular identifiziert, jedoch mindestens diachron als reduziertes Subjektpronomen analysiert werden kann. Damit stellt sich die Frage, ob auch hier in gleicher Weise wie etwa im Bairischen eine (verbal) flektierte Konjunktion vorliegt.
2.4.3. Mehrfacher Ausdruck der Negation In den meisten deutschen Dialekten treten im Gegensatz zur Standardsprache Mehrfachmarkierungen der Negation auf, wobei sich die Negationsausdrücke − anders als in der Logik − nicht aufheben. Ein terminologisches Problem besteht darin, dass unter den in vielen grammatischen Beschreibungen zu findenden Bezeichnungen „doppelte/mehrfache Negation“ etc. strukturell unterschiedliche Phänomene subsummiert werden: So gibt es einerseits Evidenz dafür, dass in bestimmten westmitteldeutschen Dialekten eine präverbale (klitische) und eine postverbale (freie) Negationspartikel den Ausdruck der Negation gemeinsam leisten können, wie dies auch aus älteren Sprachstufen des Deutschen bekannt ist, etwa dat endōn iχ net ‘das NEG=tue ich nicht’ (Münch 1904: 192). Davon abgesehen spielt mehrfacher Ausdruck der Negation vor allem in Sätzen mit indefiniten Elementen wie kein, niemand, nie, nichts (die meist als „negative Indefinita“ bezeichnet werden) eine Rolle: Diese können einerseits zusammen mit der Negationspartikel auftreten, etwa bair. koa Mensch is ned kema wörtl. ‘kein Mensch ist nicht gekommen’ = ‘kein Mensch ist gekommen’ (Weiß 1998: 167), was in der Literatur in der Regel als „negative doubling“ bezeichnet wird (vgl. Weiß 2017: 450); andererseits können auch mehrere negative Indefinita zusammentreten (niemand hat nichts gesagt = ‘niemand hat etwas gesagt’), was in der Literatur in der Regel als „negative spread“ bezeichnet wird (vgl. Weiß 2017: 450). Dass sich negative doubling und negative spread gegenseitig nicht ausschließen, zeigt etwa bair. Mia hod neamad koa stikl broud ned gschengt wörtl. ‘mir hat niemand kein Stücklein Brot nicht geschenkt’ = ‘mir hat niemand ein Stück Brot geschenkt’ (Weiß 1998: 186). Die drei hier unterschiedenen Konstruktionen weisen unterschiedliche areale Verbreitungen auf: Während die Kombination zweier Negationspartikeln in den deutschen Dialekten schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch marginal aufgetreten sein dürfte (vgl. Fleischer 2017a: 158, Fußnote 17), ist die Kombination der Negationspartikel mit negativen Indefinita areal sicher weiter verbreitet, wobei allerdings diese Konstruktion für bestimmte Dialekte explizit ausgeschlossen wird. So hält etwa Binz (1888: 27) fest, dass eine „Häufung von negativen Begriffen nur dann stattfinden kann, wenn keiner davon die Partikel nit ist […]“, was sich ähnlich auch in Beschreibungen anderer alemannischer Dialekte findet (vgl. Weiß 2017: 451). Die Kombination mehrerer negativer Inde-
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finita dürfte dagegen in den meisten deutschen Dialekten auftreten, wobei besonders das negative Indefinitum kein in Konstruktionen mit mehrfachem Ausdruck der Negation häufig belegt ist (vgl. Weiß 2017: 451). Über die verschiedenen Ausprägungen des mehrfachen Ausdrucks der Negation hinaus könnte sich herausstellen, dass sich verschiedene Regionen auch in Bezug auf die Frequenz voneinander unterschieden. Derartige Unterschiede haben sich etwa bei der Untersuchung mehrfacher Negation in den englischen Dialekten gezeigt (vgl. Kortmann 2010: 851).
2.5. Satzsyntax und Weiteres 2.5.1. Bildung von Fragesätzen Bei der Bildung von Konstituentenfragen existieren, wie Weiß (2013: 770−772) ausführt, teilweise Unterschiede zur Standardsprache, indem in bestimmten Dialekten systematisch eine (in der Regel stark klitisierte) Form von denn auftritt, die als den Fragesatz zusätzlich markierende Partikel analysiert werden kann. Entsprechende Belege zeigen sich u. a. bei einer Sample-Analyse des ersten Teils von WS 12 („Wo gehst Du hin?“), wo etwa die Versionen Wo gehst’n hi (40202 Gangkofen), Wu giehst’n dau höin (12390 Neundorf [bei Schleiz]) oder Wue johst dou’n hen (07710 Rohrbeck) diese Partikel zeigen. Die Belege illustrieren, dass klitisches denn sowohl vor als auch nach dem (sowie
Kt. 20.3: Moduspartikel denn in Fragesatz (WS 12)
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
ohne overt realisiertes; vgl. dazu Kap. 2.2.3.) Subjektpronomen auftreten kann. Wie Kt. 20.3 zeigt, tritt denn vor allem im östlichen hochdeutschen Bereich sowie, daran angrenzend, in einem westmitteldeutschen und südöstlichen niederdeutschen Gebiet auf (andere, teilweise an der gleichen Position auftretenden Partikeln, etwa auch in Wu gehst a hi (36017 Donndorf), werden in der Karte nicht eigens bzw. mit dem Symbol „keine Zielkonstruktion“ wiedergegeben). Entscheidungsfragen werden in den deutschen Dialekten in der Regel nicht anders gebildet als in der Standardsprache. Allerdings wird für periphere südbairische Dialekte eine Fragepartikel a beschrieben, die Entscheidungsfragen einleitet, aber auch in Konstituentenfragen auftreten kann (vgl. Pohl 1989: 64). Diese ist etwa belegt in der Übersetzung des zweiten Teils von WS 12 („sollen wir mit Dir gehn?“) in a sollmr mit dir gehn (44278 Markt Griffen).
2.5.2. Relativsatz-Bildung Die deutschen Dialekte kennen, wie bereits Weise (1917) aufzeigt, eine ganze Reihe von Relativsatz-Strukturen, die im Standard nicht vorkommen (vgl. u. a. Fleischer 2004a, 2004b; Glaser 2017: 170−173). Da einzelne Typen abhängig von der syntaktischen Rolle der jeweils relativisierten Konstituente sind, was allerdings in vielen grammatischen Beschreibungen nicht genügend reflektiert wird, können Angaben zur arealen Verbreitung der verschiedenen Konstruktionen nicht pauschal gemacht werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf zwei in der Standardsprache nicht auftretende Konstruktionen. − Durch wo eingeleitete Relativsätze finden sich bei präpositionalen Relationen − dann
z. B. in Verbindung mit einer je nach Gebiet durch da(r)- eingeleiteten oder allein stehenden Präposition: die Sache, wo ich dir (da)von berichtet habe (vgl. Kap. 2.3.3.) − im gesamten deutschsprachigen Gebiet; für relativisierte Subjekte und direkte Objekte (etwa der Mann, wo kommt; das Geld, wo ich verdiene) gilt dies dagegen wohl nur für die westliche Hälfte des hochdeutschen Gebiets (vgl. Glaser 2017: 172). Eine ähnliche Verbreitung ergibt sich laut AdA (Runde 7: Frage 12c) auch für eine alltagssprachliche Schicht. − Durch was eingeleitete Relativsätze können entweder auf neutrale Bezugsnomen beschränkt sein (hier erweist sich was als neben das oder suppletiv für das stehendes neutrales Relativpronomen) oder aber sich auch auf andere Bezugsnomen beziehen, womit ein generalisiertes Relativum vorliegt (vgl. Fleischer 2004a: 222−224). Während neutrales was in mittel- wie auch niederdeutschen Varietäten weit verbreitet sein dürfte (vgl. Fleischer 2004b: 70−71), zeigt generalisiertes was eine restringiertere, nicht kontingente areale Verbreitung: Diese Variante ist in bestimmten bairischen, südlichen obersächsischen, aber auch ostpommerschen Varietäten belegbar (vgl. Fleischer 2004b: 71). Neutrales was kann auch in standardnäheren Registern belegt werden. Im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) tritt es vorwiegend in direkter Rede und in der Mündlichkeit nahestehenden Textsorten auf (vgl. Fuß, Konopka & Wöllstein 2017: 250−251).
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2.5.3. Verdoppelung der lokalen Angabe bei Präpositionen In grammatischen Beschreibungen oberdeutscher Dialekte wird gelegentlich erwähnt, dass zu einer Präposition ein mit der gleichen Präposition etymologisch verwandtes Adverb mit ähnlicher Semantik hinzutritt und die direktionale oder lokal-statische Angabe aufnimmt, etwa in einer hochalemannischen Mundart in Chräis ie springe ‘in den Kreis hinein springen’, i der Stuben ine ‘in der Stube drin’ (Weber 1964: 267). Wiewohl derartige Konstruktionen im Standard keineswegs ausgeschlossen sind, scheinen sie doch etwa im Alemannischen wesentlich weiter verbreitet zu sein (vgl. Brandner 2008: 367). Dabei hängt es von der Analyse ab, ob in derartigen Strukturen eine komplexe Präpositionalphrase gesehen oder ob das lokale Element als Teil des in der Regel in der rechten Satzklammer stehenden Verbs gedeutet wird. Wie eine Sample-Analyse des ersten Teils von WS 3 („Thu Kohlen in den Ofen […]“) zeigt, finden sich in deutschen Dialekten zwei Typen derartiger Verdoppelungen. Neben der bereits erwähnten Struktur, in der Präposition und Richtungsangabe die Nominalphrase umklammern, etwa Thüa Koin in Oufn eini (20049 Mariazell), können auch beide Elemente links von der Nominalphrase auftreten, etwa Thu Kaule nei in Aufe (34044 Ailringen). Selten auftretende Versionen, in denen das die Richtung angebende Element nicht unmittelbar adjazent zur Präpositionalphrase steht, etwa Tu(a) in Oufn Kuln äni (18192 Gollnetschlag/Klení) oder Leg nei Kuhln in Ufn (17961 Woikowitz) lassen den Schluss zu, dass es sich zumindest in diesen
Kt. 20.4: Verdoppelung der lokalen Angabe bei Präpositionen (WS 3)
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
Fällen nicht um komplexe Präpositionalphrasen handelt. Wie Kt. 20.4 zeigt, treten alle Typen der Verdoppelung vor allem im oberdeutschen, insbesondere im bairischen Gebiet auf, wobei im alemannischen Gebiet nur die die Nominalphrase umklammernde Struktur belegt ist. Daneben finden sich Streubelege jedoch u. a. auch im südlichen Ostmitteldeutschen. Die unter anderem in bestimmten ostfränkischen, thüringischen und obersächsischen Dialekten auftretenden Fälle ehemaliger Richtungsadverbien, die in Funktion einer Präposition auftreten, etwa Thua Kouhle nein Oufe (27163 Massenbuch; zu diesem Phänomen vgl. Harnisch 2004), werden hier als Präpositionen behandelt und nicht mit einem eigenen Symbol kartiert; auch unterschiedliche Bildungen des direktionalen Elements werden nicht berücksichtigt.
2.5.4. Komparationssyntax Bei verschiedenen Vergleichs-Konstruktionen treten in den deutschen Dialekten anstelle des standardsprachlichen als häufig oder dominierend andere Konjunktionen auf, besonders häufig wie; auch die Kombination als wie kann belegt werden (vgl. Jäger 2013: 265−271, 2017, 2018: 288−358, mit mehreren Karten zu unterschiedlichen Subtypen von Vergleichskonstruktionen). Beide Typen finden sich auch in regiolektalen Varietäten, etwa im „Neuhessischen“ (vgl. Dingeldein 1994: 304). Traditionell wird die Kombination als wie als „Kompromissform“ im arealen Übergang zwischen als und wie erklärt, was sich allerdings als wenig plausibel erweist (Jäger 2013: 293). Auch die Erklärung dieser Konstruktion als durch den Einfluss des Standards entstandene „pleonastische hyperkorrekte Form“ (so Dingeldein 1994: 304) erscheint angesichts ihrer basisdialektalen Verankerung wenig wahrscheinlich.
3. Ergebnisse und Forschungsperspektiven 3.1. Raumbildung Aus den behandelten Phänomenen geht eindeutig hervor, dass − etwa gegen Löffler (2003: 116) − auch syntaktische Strukturen arealbildend sein können. Wie Glaser (2017: 173−174; vgl. auch Glaser 2008) ausführt, zeigen sich neben Nord-Süd-Staffelungen, die teilweise im Westen weiter südlich verlaufen als im Osten (Präteritalgrenze, Auxiliarwahl, Artikel bei Eigennamen, Realisierung des Subjektpronomens, Pronominaladverb, Abfolge pronominaler Objekte, Verdoppelung der lokalen Angabe bei Präpositionen), auch Ost-West-Verteilungen (etwa sein + an + Inf., wo-Relativsätze, denn als zusätzlich die Konstituentenfrage markierende Partikel). Nicht selten erweist sich das Bairische als besonders eigenständig (etwa Verwendung von werden als Futur-Auxiliar, indefiniter Artikel bei Massennomen und Abstrakta). Darüber hinaus zeigen auch nicht wenige syntaktische Phänomene areale Kleinräumigkeit bzw. die gleichen Konstruktionen treten areal nicht kontingent auf (etwa sich in der 1. (und 2.) Person Plural). Bestimmte kleinräumige Verbreitungen finden sich auch häufig in peripheren Gebieten (etwa Auxiliar haben bei Positionsverben im höchstalemannischen Wallis, erhaltene partitive Partikeln im Höchstalemannischen und Südbairischen, die Entscheidungsfrage einleitende Frage-
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
partikel a in bestimmten südbairischen Dialekten), was sich je nach Phänomen als Archaismus oder/und Interferenz erweisen könnte. Gerade zu den kleinräumig auftretenden Phänomenen, die im vorliegenden Überblick nicht im Zentrum stehen, „besteht zweifellos weiterer Forschungsbedarf “ (Glaser 2017: 176). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Syntaktische Raumbildung prinzipiell andere Charakteristika aufweist als etwa phonologische (vgl. Kap. 3.4.).
3.2. Unterschiede zwischen Standard und dem Gesamt der Dialekte Festhaltenswert scheint der Punkt, dass sich bestimmte Konstruktionen ubiquitär oder zumindest in sehr vielen, areal weit gestreuten Dialekten des Deutschen (teilweise in unterschiedlicher Ausprägung) belegen lassen, dagegen in der Standardsprache fehlen. Dies gilt etwa für den „possessiven Dativ“ (womit korreliert, dass die Standardsprache, aber nur sehr wenige Dialekte noch einen Genitiv aufweisen), die tun-Periphrase, von einfachen, ungetrennten Pronominaladverbien abweichende Muster, mehrfach ausgedrückte Negationen, aber etwa auch für Relativsatzstrukturen, bei denen sich das standardsprachliche System in keinem deutschen Basisdialekt in exakt der gleichen Weise wiederzufinden scheint (vgl. Fleischer 2004a: 236, 2004b: 80−81). Während also das Gesamt der deutschen Dialekte eine Reihe von frappanten strukturellen Gemeinsamkeiten aufweist (Chambers 2004 spricht in ähnlichem Zusammenhang von „vernacular universals“, die sich allerdings bei englischen Varietäten etwas anders präsentieren), weicht der Standard in signifikanter Weise davon ab. Angesichts der weiten Verbreitung der dialektalen Konstruktionen scheinen weniger die dialektalen als vielmehr die standardsprachlichen Gegebenheiten erklärungsbedürftig. Das Fehlen bestimmter Konstruktionen könnte teilweise auf Standardisierung bzw. Stigmatisierung (vgl. z. B. Davies & Langer 2006) zurückgehen, etwa bei immer wieder kritisierten „pleonastischen“ (und damit „unnötigen“) „Verdoppelungen“, wie sie z. B. im mehrfachen Ausdruck der Negation oder in der tun-Periphrase gesehen werden können. Insgesamt erscheint die Standardsprache gegenüber den Dialekten als ein wenig „natürliches“ System, sowohl in einer typologischen (vgl. dazu etwa Kortmann 2004a: 4−6, 2010: 856) als auch in einer generativ-sprachtheoretischen Perspektive (vgl. dazu etwa Weiß 1998: 1−24, 2005b). Auch aus der Tatsache, dass Dialekte anders als der gerade im Deutschen in seiner Entstehung zunächst ausschließlich schriftlich geprägte Standard grundsätzlich konzeptionell mündliche Sprachsysteme darstellen, werden Erklärungen abgeleitet, was allerdings bei vielen Phänomenen nicht unproblematisch scheint (vgl. z. B. Auer 2004; Lötscher 2004; Fleischer 2010).
3.3. Vertikale Dimension Aus der Diskussion der einzelnen Konstruktionen ging hervor, dass sich (basis-)dialektale Konstruktionen manchmal auch in höheren Registern bis hin zum regionalen Standard wiederfinden (etwa, wie Elspaß & Dürscheid 2017: 96−99 aufzeigen, bei bestimmten Abfolgen verbaler Teile, vgl. Kap. 2.3.1., oder, wie bereits Götz 1995 aufgezeigt hat, bei der Auxiliarwahl; vgl. Kap. 2.1.2.). Auch im hochdeutschen Berlinischen lassen sich auf das Niederdeutsche zurückgehende syntaktische Strukturen feststellen (vgl. Freywald
20. Vergleichende Aspekte der deutschen Regionalsprachen: Syntax
2017: 201). Für viele Konstruktionen fehlen jedoch empirische Untersuchungen zur vertikalen Dimension syntaktischer Variation, wie sie etwa Kallenborn (2019) zum moselfränkischen Raum vorlegt. Dass sich manche in den Dialekten verankerte Strukturen sogar bis in den (regionalen) Standard hinein finden, wurde bisher nur wenig wahrgenommen, lässt jedoch interessante Forschungsfragen aufkommen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Forschung zu den regionalen Spektren bisher fast ausschließlich lautliche Phänomene in den Blick nimmt. Die Frage, inwiefern sich aus der Untersuchung lautlicher Phänomene bekannte Muster in der Syntax wiederfinden und in welcher Beziehung syntaktische Varianten in den Varietäten zwischen den Basisdialekten und dem Standard zu diesen beiden Polen stehen, ist von besonderem Interesse.
3.4. Charakteristik dialektsyntaktischer Variation Ob sich syntaktische Variation im Vergleich zu phonologischen und lexikalischen Variablen grundsätzlich anders verhält (vgl. u. a. Kortmann 2010: 842), wird für die Basisdialekte insofern bejaht, als sich häufig Variationsräume mit Abstufungen und Übergängen, die durch grammatische Faktoren strukturiert sind, ergeben; daneben können jedoch durchaus auch relativ abrupte Übergänge festgestellt werden (Glaser 2017: 176−177; vgl. Seiler 2005; Kortmann 2010: 847−852; Leser 2012). Aus dialektometrischen Untersuchungen ergibt sich bisher kein eindeutiges Bild: Zwar halten Scherrer & Stoeckle (2016: 110) in Bezug auf die deutsche Schweiz fest, dass sich bei der Syntax gegenüber der Phonologie, Morphologie und Lexik am meisten Abweichungen ergeben; dieser Befund kann jedoch auch methodische Gründe haben (vgl. unten) oder auf die zeitliche Differenz zwischen den syntaktischen Daten einerseits und den damit verglichenen phonologischen, morphologischen und lexikalischen Daten andererseits zurückgehen. Es scheint angesichts der bisher zur Verfügung stehenden Daten verfrüht, die Frage zur Charakteristik syntaktischer Variation (die sich auch über die Basisdialekte hinaus stellt) generell beantworten zu wollen. Methodisch wichtig scheint es zu berücksichtigen, dass in dialektsyntaktischen Projekten wie SADS und SyHD im Gegensatz zu älteren Sprachatlanten in der Regel lokale Variation (durch die Berücksichtigung mehrerer Gewährspersonen sowie die Abfragung des gleichen Phänomens in unterschiedlichen grammatischen Kontexten und in verschiedenen Fragetypen) gezielt erhoben wurde, was zumindest teilweise eine Erklärung für die abweichenden Variationsmuster bieten könnte (vgl. Glaser 2014: 38−39; Scherrer & Stoeckle 2016: 121): Gegenüber traditionellen Sprachatlanten liegt eine grundsätzlich andere Datenstruktur vor, die schon aufgrund der Anlage ihrer Erhebung auf intralokale Variation ausgerichtet ist. Wenn sich also bei syntaktischen Phänomenen Übergangszonen und keine klaren Isoglossen zeigen − generell bliebe zu überprüfen, ob sich eindeutige Isoglossen als „a myth of the pre-quantitative age in the study of areal variation in traditional dialectology“ (Kortmann 2010: 853) herausstellen −, liegt dies vielleicht weniger im Untersuchungsgegenstand als vielmehr in der Methode begründet.
3.5. Grammatiktheorie und theoretische Anbindung Wie in Kap. 1. ausgeführt wurde, wurde das Interesse an syntaktischen Phänomenen teilweise aus anderen Disziplinen in die Dialektologie hineingetragen. Damit einher ging
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
eine Aufnahme und Weiterentwicklung sowohl formaler (v. a. generativer, etwa mikroparametrischer) als auch funktionaler Konzepte (etwa im Sinne der Greenberg’schen Sprachtypologie), die das Feld der Dialektsyntax-Forschung weiterhin bestimmen wird. Für sämtliche Theorien, die sprachliche Variation als „core explanandum“ (Kortmann 2010: 841) anerkennen, stellen dialektsyntaktische Daten − nicht zuletzt aufgrund des geschärften methodischen Instrumentariums − eine ideale Basis dar, um theoretische Annahmen empirisch zu überprüfen und realistische Modelle sprachlicher Variation zu entwickeln, insbesondere für Fragen der Abstufung und Gradienz grammatischer Parameter, aber auch für Untersuchungen zur Grammatikalisierung von Konstruktionen im arealen Vergleich, die es erlauben, unterschiedliche Grammatikalisierungsstufen im Raum nachzuvollziehen (vgl. Girnth 2000).
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Jürg Fleischer, Marburg (Deutschland)
21. Satzprosodie in den deutschen Regionalsprachen 1. Einleitung 2. Sprechgeschwindigkeit und Sprechrhythmus 3. Intonation
4. Stimmqualität 5. Perspektiven 6. Literatur
1. Einleitung Zur Satzprosodie werden prosodische Merkmale gezählt, die größere sprachliche Einheiten als das phonologische Wort betreffen wie die Intonationsphrase oder die Äußerungsphrase. Unter einer Regionalsprache wird im Folgenden eine Menge von Varietäten verstanden, die im Sinne von Schmidt & Herrgen (2011: 66) horizontal durch die Strukturgrenzen der Dialektverbände/-regionen abgrenzbar ist und vertikal durch die Differenzen zu den nationalen Oralisierungsnormen der Standardvarietät. Damit wird regionale Variation sowohl im Sinne der klassischen Dialektologie erfasst als auch im Sinne der neueren Regiolekt- und Stadtsprachenforschung. Als deutsch gelten im Folgenden sowohl hoch- als auch niederdeutsche Regionalsprachen. Der Artikel gibt einen Überblick über drei Bereiche der satzprosodischen Variation, die sich den Dimensionen Zeit, Frequenz und Intensität zuordnen lassen: Sprechgeschwindigkeit und Sprechrhythmus (Kap. 2.), Intonation (Kap. 3.) und Stimmqualität (Kap. 4.).
https://doi.org/10.1515/9783110261295-021
21. Satzprosodie in den deutschen Regionalsprachen
2. Sprechgeschwindigkeit und Sprechrhythmus Sprechgeschwindigkeit und Sprechrhythmus sind die wichtigsten Manifestationen der zeitlichen Gestaltung auf Satz- oder Äußerungsebene. Die Sprechgeschwindigkeit ergibt sich aus der Artikulationsrate, die gewöhnlich aufgrund der Silbenzahl pro Zeiteinheit ohne Berücksichtigung von Artikulationspausen berechnet wird, und der Gesamtdauer der Artikulationspausen. Der Sprechrhythmus beruht auf der Gliederung einer Äußerungssequenz in Silben und prosodische Phrasen wie den Fuß oder die phonologische Phrase sowie auf Prominenzrelationen zwischen den Silben und Phrasen, die unter anderem von der Silbenstruktur und der Akzentstruktur abhängen.
2.1. Sprechgeschwindigkeit Frühe Hinweise auf regionale Variation der Sprechgeschwindigkeit im deutschen Sprachraum reichen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. So schreibt Götzinger (1836: 60): „Der Altbaier spricht nicht so lebhaft wie der Schwabe, sondern langsam, aber doch, als solle und müsse er alles mit Gewalt herauspressen. Desto schneller spricht man in den Gebirgsgegenden, aber ohne daß der Grundzug des Bairischen, das Trotzige und Protzige, dadurch verwischt würde“; und zum Tempo des Obersachsen: „Natürlich spricht er auch viel schneller als der Südländer, wiewohl nicht ohne Modulation der Stimme, die in manchen Gegenden sehr bedeutend ist und sich bis zum singenden Heben und Schwellen steigert“ (Götzinger 1836: 90). Einen Nord-Süd-Unterschied beobachtet auch Behaghel (1911: 88): „Der Norddeutsche spricht im allgemeinen rascher als der Süddeutsche. Im Meißnisch-Obersächsischen wird langsamer gesprochen als im Ostfränkischen; das Nordobersächsische steht dem Ostfränkischen näher. Im mittleren sächsischen Vogtland ist das Zeitmaß rascher als im nördlichen. Im Münsterländischen werden die Worte rascher gesprochen als im Emsländischen; aber ihr Anschluß erfolgt nicht so rasch wie in diesem.“ Aussagen zur Sprechgeschwindigkeit finden sich auch in zahlreichen Dialektgrammatiken, insbesondere in den Beiträgen zur Schweizerdeutschen Grammatik, in denen schweizerdeutsche Dialekte global als schnell oder langsam sprechend charakterisiert werden, häufig im Vergleich zu Nachbardialekten (für eine Übersicht s. Löffler 1984). Während sich die meisten frühen dialektologischen Arbeiten mit pauschalen Aussagen zur Sprechgeschwindigkeit begnügen, finden sich bei Schönhoff (1908: 40−41) differenziertere Aussagen. Er macht auf einen Unterschied zwischen der zeitlichen Gestaltung des Emsländischen und des Münsterländischen aufmerksam, der nicht in einem unterschiedlichen globalen Sprechtempo bestehe, sondern darin, dass im Münsterländischen zwischen den einzelnen Wörtern längere Pausen eingefügt würden, wodurch es „zerhackter“ klinge. Dieser Unterschied würde noch dadurch verstärkt, dass wortanlautende Plosive, die im Emsländischen stimmhaft realisiert werden, im Münsterländischen den Stimmton verlieren. Und Baader (1923: 196−203) beobachtet Unterschiede im Redetempo innerhalb des Westfälischen sowie im Vergleich zu benachbarten Dialektregionen und diskutiert diese in Zusammenhang mit Unterschieden in der Anschlusskorrelation und Diphthongierungsprozessen. Ruoff (1973) und Löffler (1984) berichten Ergebnisse quantitativer Auswertungen von Tonaufnahmen aus dem Deutschen Spracharchiv und dem schweizerischen Phono-
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
grammarchiv. Die Sprechgeschwindigkeit (gemessen in Wörtern pro Minute) erwies sich allerdings als sehr variabel. Löffler (1984) diskutiert den Einfluss von Faktoren wie Textsorte, Sprechstil, Mundartfestigkeit, Alter, Geschlecht, und sozialer Hintergrund. Neuere quantitative Untersuchungen zur Sprechgeschwindigkeit liegen zum schweizerdeutschen Sprachraum vor. Die Studie von Hove (2004) zur Pausenstruktur in Gesprächsdaten aus Bern und Zürich lässt aufgrund der geringen Sprecherzahl keine Generalisierungen zu. Leemann & Siebenhaar (2007) stellen in Brig eine höhere Sprechgeschwindigkeit als in Bern fest. Leemann (2009) findet ferner eine hohe Sprechgeschwindigkeit in der Region Zürich, mit der eine große Phrasenlänge einhergeht, die auf die Reduktion von Phrasengrenzen bei schnellem Sprechen zurückgeführt wird. Regionale Variation in der Sprechgeschwindigkeit lässt sich nach Ulbrich (2005: 228) auch bei den nationalen Standardsprachen des Deutschen finden. Bundesdeutsche Nachrichtensprecher lasen Nachrichtentexte schneller als schweizerdeutsche und österreichische. Märchentexte lasen hingegen schweizerdeutsche Nachrichtensprecher am schnellsten. In Nachrichtentexten wiesen schweizerdeutsche und österreichische Sprecher ferner eine höhere Anzahl satzinterner Pausen auf, und die österreichischen Sprecher zusätzlich eine längere Pausendauer.
2.2. Sprechrhythmus Bereits im 17. und 18. Jahrhundert erschienen zahlreiche Erörterungen zu rhythmischen Fragen, allerdings primär im Zusammenhang mit metrischen Analysen literarischer Sprachdenkmäler und der Frage, was eine vorbildliche Aussprache des Schriftdeutschen auszeichnet. Auch eines der frühesten Zeugnisse zur rhythmischen Variation im deutschen Sprachraum lässt noch diese Perspektive erkennen. Bei Mörikofer (1838: 64) heißt es: „So verstößt sich also die schweizerische Accentuation bei der Aussprache des Hochdeutschen nicht nur gegen den allgemeinen Sprachgebrauch, sondern gegen den Organismus der Sprache und gegen die natürlichen Gesetze des Wohlklanges. Mit der mundartlichen Betonung irgend eines literarischen Kunstwerkes geht also eine fortwährende Zerstörung des Rhythmus vor“. Ansonsten beschränken sich Hinweise auf rhythmische Aspekte in älteren Ortsgrammatiken meist auf Prominenzrelationen auf Wortebene (vgl. z. B. Rauh 1925). Beobachtungen zur rhythmischen Gestaltung auf Satz- bzw. Äußerungsebene berichtet Blume (1980: 320), demzufolge die Anzahl der metrischen Senkungen im Ostfälischen größer ist als im Nordniedersächsischen, was zu einem unterschiedlichen Sprachrhythmus beitrage und auf eine stärkere Tendenz zu Apokope und Synkope von Schwa im Norden zurückgehe. Nach Peters (2014a) lässt sich dieser Nord-Süd-Gegensatz im westniederdeutschen Sprachraum in einem Kontinuum zwischen Wort- und Silbensprachlichkeit im Sinne Auers (2001a) verorten. Die umfangreichsten neueren Untersuchungen zur rhythmischen Variation liegen zum schweizerdeutschen Raum vor. Leemann et al. (2012) untersuchten acht schweizerdeutsche Dialekte, je zwei aus dem Südwesten und Südosten (alpine Dialekte) sowie aus dem Nordwesten und Nordosten (midland dialects). Sie fanden rhythmische Differenzen sowohl im Anteil der vokalischen Intervalle pro Satz (%V) als auch in der Standardabweichung der vokalischen und konsonantischen Intervalle pro Satz (ΔV, ΔC). Besonders große dialektale Variation wurde für %V und ΔV festgestellt. Östliche Dialekte
21. Satzprosodie in den deutschen Regionalsprachen
zeigten größere Variabilität in den vokalischen Intervallen als westliche, und nördliche größere als südliche. Zum Nord-Süd-Unterschied dürfte auch der Umstand beitragen, dass die alpinen (höchstalemannischen) Dialekte Vollvokale in unbetonten Nebensilben bewahrt haben. Die gefundenen Unterschiede scheinen allerdings nicht geeignet, um die untersuchten Dialekte in unterschiedliche Rhythmustypen, etwa in akzentzählende und silbenzählende im Sinne von Abercrombie (1967), einzuteilen. Eine solche Zuordnung findet sich bei Moosmüller (1988), die das österreichische Standarddeutsch als akzentzählend charakterisiert, dem Wienerischen aber eine Tendenz zum silbenzählenden Typ zuschreibt. Rhythmisch relevant ist auch die Koordination zwischen Akzent- und Fußstruktur sowie die Markierung von Phrasengrenzen, insbesondere die phrasenfinale Dehnung. Streck (2004) stellt fest, dass Mannheimer Sprecher unakzentuierte Silben am Äußerungsende stärker dehnen als Hamburger Sprecher. Leemann & Siebenhaar (2007) finden in Bern mehr phrasen-finale und phrasen-initiale Dehnung als in Brig.
3. Intonation Intonation umfasst die melodische Gestaltung sprachlicher Äußerungen. Sie wird in Form von Tonhöhenverläufen wahrgenommen, deren wichtigstes akustisches Korrelat die Grundfrequenz (f0) ist. In einigen traditionellen Darstellungen wird der Begriff der Intonation in einem weiteren Sinne verwendet und umfasst neben sprechmelodischen weitere prosodische Eigenschaften, die die Dauer und Intensität betreffen.
3.1. Frühe Auffassungen Bereits in den ältesten Beschreibungen regionaler Variation wurden sprechmelodische Eigenarten unter Rückgriff auf den Topos des „singenden Dialekts“ charakterisiert. Die frühesten Zeugnisse reichen ins 18. Jahrhundert zurück und finden sich gleichermaßen in literarischen Werken und in wissenschaftlichen Abhandlungen (vgl. Zimmerman 1998; Siebenhaar 2012). So schreibt Scheibe (1754: 65−66): „Man bemerke nur das gemeine Volk in Sachsen, insonderheit die gemeine Mundart in Dresden und Meissen, ferner in Schwaben und in Tyrol, wie auch in einigen andern Provinzen. Der Ton der Sprache in allen diesen Gegenden ist in der That so melodisch, so singend, daß es ein leichtes wäre, ihn nachzuschreiben, und Provinzial-Tönchen oder Liederchen daraus zu machen.“ Als singend gelten insbesondere die obersächsischen Dialekte (Biester 1783: 192; Götzinger 1836: 90; Albrecht 1881: X; Socin 1888: 119; Hoffmann 1892: 39; Becker & Bergmann 1969: 47−48; Hundt 1996), die thüringischen (von der Gabelentz 1901: 35), die ripuarischen (Jakob 1992: 170), die schweizerdeutschen (Stalder 1819: 8; Wipf 1908: 21; Vetsch 1910: 38; Schmid 1915: 256; Streiff 1915: 18; Brun 1918: 28; Meinherz 1920: 37; Baumgartner 1922: 22−23; Weber 1923: 30; Hotzenköcherle 1934: 61 u. 64), die österreichischen (Büsching 1769: 372) und allgemein die oberdeutschen (Röder 1791: 31; Götzinger 1836: 36). Einzelne schweizerdeutsche Mundarten werden teilweise auch explizit als nicht-singend gekennzeichnet (z. B. Stalder 1819: 8; Haldimann 1903: 8; Enderlin 1911: 18; Berger 1913: 21; Schmid 1915: 29; Stucki 1917: 43; Henzen 1927: 36;
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Wanner 1941: 17), ebenso das Niederdeutsche in Ostfriesland im Unterschied zum Oldenburger Münsterland (Goldschmidt 1847: 18). Bevorzugt wurden solche Dialekte als singend bezeichnet, die sich durch starke Tonhöhenbewegungen auszeichnen. So schreibt Bremer (1893: 195): Der Tonfall ist mundartlich ausserordentlich verschieden. Man erkennt jede Mundart sofort an ihrem singenden Charakter. Einen solchen hat jede Mundart, wenn man auch hier monotoner spricht als dort. Der Tonfall ist nicht nur insofern verschieden, als die eine Silbe oder der eine Laut hier einen höheren, dort einen tieferen Ton hat als eine andere Silbe, ein anderer Laut; vor allem ist die Grösse der Intervalle ausserordentlich verschieden.
Meist werden Dialekte in anderen Regionen als singend wahrgenommen oder auch in Abgrenzung zur Hoch- oder Standardsprache. So schreibt Jespersen (1904: 237): „Jede Sprache und jeder Dialekt ‚singt‘ auf seine Weise, man hört aber nur die Weise der anderen als Singen. Besonders hören wir, die wir die Einheitssprache sprechen, das Singen in den Dialekten.“ Die Geschichte der dialektologischen Erforschung der Intonation im deutschen Sprachraum reicht bis in das ausgehende 19. Jahrhundert zurück. Die wichtigsten Impulse für diesen Forschungszweig dürften aus mindestens drei Quellen stammen: aus den Sprachatlasunternehmen der klassischen Dialektologie, aus Spekulationen über eine Zweiteilung des deutschen Sprachraums in sprechmelodischer Hinsicht und aus der verbreiteten Ansicht, dass die Intonation zu den verlässlichsten Kennzeichen der regionalen Herkunft der Sprecher zähle. Im Zuge der Arbeiten zum Deutschen Sprachatlas wurde das Fehlen von Darstellungen zur Satzintonation als Defizit beklagt und ein „Intonationsatlas“ gefordert, der analog zur Kartierung segmentaler Merkmale Auskunft über die regionale Verteilung intonatorischer Merkmale geben könnte (Rauh 1925; van de Kerckhove 1948). So entstanden erste Beschreibungen der Intonation einzelner Ortsdialekte und Stadtsprachen, die unter anderem in der Reihe Deutsche Dialektgeographie erschienen sind (z. B. Heilig 1898; Gebhardt 1907; Meynen 1911; Rauh 1925; Bräutigam 1934; van de Kerckhove 1948; Koekkoek 1955; Kufner 1961; Gericke 1963; Frey 1975), sowie dialektvergleichende Studien (Waiblinger 1925; von Essen 1940; Martens 1952; Gabriel 1963; Schädlich & Eras 1969, 1970; Guentherodt 1969, 1971, 1973). Parallel sind in den Beiträgen zur schweizerdeutschen Grammatik und in den Beiträgen zur schweizerdeutschen Mundartforschung zahlreiche Orts- und Regionalgrammatiken zum schweizerdeutschen Raum erschienen, die intonatorische Phänomene berücksichtigen (z. B. Wipf 1908; Vetsch 1910; Enderlin 1911; Berger 1913; Schmid 1915; Streiff 1915; Wiget 1916; Stucki 1917; Brun 1918; Meinherz 1920; Baumgartner 1922; Weber 1923; Henzen 1927; Clauß 1929; Hotzenköcherle 1934; Wanner 1941). Spekulationen über eine Zweiteilung des deutschen Sprachraums in sprechmelodischer Hinsicht sind bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts greifbar, etwa bei Götzinger (1836: 36): Was den Sprachgesang betrifft, so werden die oberdeutschen Mundarten im eigentlichen Sinne gesungen, d. h. es findet bei ihnen ein mannigfacher Wechsel in Höhe und Tiefe, Stärke und Schwäche der Töne statt, ein Anschwellen und Sinken der Stimme, wodurch die Sprache eine weit bedeutendere Modulation für das Ohr darbietet, als die des Niederdeutschen. Letzterer spricht glatt weg, ohne die Stimme immerwährend zu heben und wieder sinken zu lassen. Daher wirft nun der Niederdeutsche dem Oberdeutschen vor, er singe, und der Oberdeutsche dem Niederdeutschen, er rede eintönig.
21. Satzprosodie in den deutschen Regionalsprachen
Mit dem Oberdeutschen dürfte der gesamte hochdeutsche Bereich gemeint sein. Dies wird bei Mörikofer (1838: 11) deutlich: Indem die deutsche Sprache sich in zwei Hauptmundarten scheidet, folgt sie auch in dieser Verschiedenheit der äußern Gestalt des Landes: denn die oberdeutsche Mundart mit ihren vollern Tönen nimmt das deutsche Gebirgsland ein, von den Alpen bis zum Erz- und Riesengebirge, dem Thüringerwalde, der Rhön, dem Taunus und selbst darüber hinaus; das Niederdeutsche oder Plattdeutsche dagegen herrscht, wie es schon die Benennung ausdrückt, im nördlichen Flachlande. Während daher hier der Norddeutsche glatt, tonlos und verschleifend spricht, tönt die Sprache des Süddeutschen rauh, breit und singend.
Gegen Ende des 19. Jahrhundert wurde die Auffassung von der melodischen Zweiteilung weiter präzisiert. So beobachtete Hoffmann (1892: 18) „dass auch der grösste Teil der süddeutschen und schweizerischen Mundarten auf der Haupttonsilbe eine Senkung der Stimme eintreten lasse“. Bremer (1893: §196) vertrat die Auffassung, dass die drei Silben des Wortes arbeiten im einfachen Aussagesatz des Deutschen Hochton, Ebenton (mittlere Tonhöhe) und Tiefton erhalten. In den schwäbisch-elsässisch-schweizerischen Mundarten (also nicht im gesamten Süden!) verhielte es sich umgekehrt. Hier habe die starkbetonte Silbe einen tieferen Ton als die neben- und schwachbetonte Silbe. Populär wurde die Auffassung von der Zweiteilung des deutschen Sprachraumes in der Formulierung von Sievers ([1901] 1912), der behauptete, dass sich im Deutschen „zwei konträre Generalsysteme der Melodisierung“ gegenüberstünden. Wo die einen Sprecher eine hohe Tonlage wählten, wählten die anderen eine tiefe Tonlage, und wo die einen die Tonhöhe steigen ließen, ließen die anderen sie fallen. Laut Sievers lassen sich diese Generalsysteme Sprechern aus dem Norden und dem Süden des deutschen Sprachgebiets zuordnen, während man in den mittleren Regionen wechselhafte Verhältnisse antreffe (Sievers 1912: 62−63). Behaghel (1911: 93−94) und Klinghardt (1923: 23−25) zweifelten Sieversʼ These in ihrer allgemeinen Geltung an. Von Essen (1940) sah die These mit Bezug auf Sprecher aus Brokstedt (nördlich von Hamburg) und Dresden bestätigt. Auch Martens (1952) und Schädlich & Eras (1969, 1970) haben ihre Ergebnisse unter Bezug auf Sievers’ These diskutiert. Neuere Untersuchungen zur Intonation von Stadtsprachen von Gilles (2005) und Peters (2006) stützen die These in der Version von Bremer, aber nicht von Sievers. Tatsächlich verfügt das Freiburgische über ein Intonationssystem, das an eine „Umlegung der Melodien“ denken lässt, und dies dürfte für weitere hoch- und höchstalemannische Dialekte gelten (vgl. Fitzpatrick-Cole 1999; Leemann 2009; Werth 2014). Schließlich dürfte das im 19. Jahrhundert aufkommende Interesse an der regionalen Variation der Intonation durch die Auffassung gefördert worden sein, dass die Intonation zu den verlässlichsten Kennzeichen der regionalen Herkunft eines Sprechers zählt, welches auch beim Gebrauch einer standardnahen Varietät weitgehend erhalten bleibt. Diese Auffassung findet sich bereits bei Götzinger (1836: 34), der behauptet: „der Sprecher jeder Mundart trägt die Eigenthümlichkeit seiner heimatlichen Art auch auf Aussprache und Bewegung des Hochdeutschen über, und so ist es der Sprachgesang vorzüglich, woran man die Mundart und Heimat eines Redenden erkennt, auch wenn derselbe sich sonst aller Formen der Schriftsprache bedient“. Einen ähnlichen Gedanken formuliert von Raumer ([1855] 1863: 118−119): „An diesem Ton [der Sprache] würde man z. B. einen Rheinpfälzer von einem Altbayern sehr leicht unterscheiden, wenn sie auch wirklich die Laute, welche allein wir durch unsere Buchstaben bezeichnen, vollkommen gleichmäßig aussprächen“.
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Die meisten traditionellen Darstellungen konzentrieren sich auf die Erfassung von typischen Tonhöhenverläufen, die häufig in musikalischer Notation oder schematisch wiedergegeben werden. Vereinzelt finden sich auch Hinweise auf den Tonhöhenumfang und die Stimmhöhe. Ein Problem vieler älterer Studien stellt allerdings eine unzureichende Differenzierung zwischen distinktiven Tonhöhenverläufen im Sinne abstrakter Konturen und ihrer phonetischen Realisierung dar (s. Peters 2006: Kap. 2). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass in den älteren Studien Aussagen über regionale Ausprägungen der Sprechmelodie häufig nur im entsprechenden Kapitel zur Wort- oder Silbenprosodie auftreten, in denen die sog. musikalischen Akzente (im Sinne von Sievers 1901) beschrieben werden. Gleichwohl liefern auch diese Kapitel Informationen zur Satzintonation, denn aus heutiger Sicht können diese Akzente als Satzakzente aufgefasst werden, die auf Wortakzentsilben auftreten und phonologisch als Tonhöhenakzente (pitch accents) realisiert werden (vgl. Fuhrhop & Peters 2013: Kap. 7.3).
3.2. Neuere Studien Die moderne Forschung zur regionalen Variation der Intonation zeichnet sich durch eine breitere empirische Datenbasis, den Einbezug experimenteller Methoden und eine zunehmend bessere konzeptuelle Fundierung aus, vor allem im Rahmen der Britischen Schule und der Autosegmentalen Phonologie (Ladd 2008). Die Verbreiterung der empirischen Basis beginnt mit den erwähnten Studien von Martens (1952), Schädlich & Eras (1969, 1970) und Guentherodt (1969, 1971, 1973). Die Studie von Eras & Schädlich zur Frageintonation erfasste rund 400 Ortspunkte auf dem Gebiet der damaligen DDR, kam allerdings aufgrund starker methodischer Einschränkungen zu keiner zuverlässigen regionalen Gliederung. Im Unterschied hierzu konnte Guentherodt (1971, 1973) zur Frageintonation in der Pfalz anhand von Tonaufnahmen aus 62 Orten eine prosodische Isoglosse bestimmen, die die Pfalz in einen nördlichen und südlichen Teil gliedert. Eine Reanalyse dieser Daten in Peters (2006) führte zwar zu einer anderen tonalen Interpretation, hat aber den Verlauf der Isoglosse im Wesentlichen bestätigt. Ein weiteres Beispiel für eine Verbreiterung der empirischen Basis liefert die experimentelle Studie von Garza (1992) zur Kölner Satzintonation in ihrer Interaktion mit dem sog. Schärfungsakzent (vgl. Heike 1962; Gussenhoven & Peters 2004; zur Übersicht Schmidt 1986 und Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band). Seit Ende der 1990er Jahre stützt sich die Mehrzahl der Untersuchungen zur regionalen Variation der Intonation im deutschen und österreichischen Sprachgebiet auf Strukturbeschreibungen im Rahmen der Autosegmentalen Phonologie, die Tonhöhenverläufe durch Sequenzen abstrakter Hoch- und Tieftöne repräsentiert (Ladd 2008; zum Standarddeutschen Grice & Baumann 2002; Peters 2014b). Neuere Untersuchungen zur schweizerdeutschen Intonation stützen sich demgegenüber mehrheitlich auf das CommandResponse-Modell von Fujisaki, in dem globale Tonhöhenverläufe durch die Überlagerung von Phrasen- und Akzentkommandos synthetisch nachgebildet und unter Bezug auf dafür erforderliche Parametersetzungen beschrieben werden (Fujisaki & Hirose 1982; Leemann 2009). Alle diese Untersuchungen konzentrieren sich auf Äußerungsabschnitte, die der Intonationsphrase entsprechen. Studien zur regionalen Variation der makroprosodischen Organisation auf der Ebene von Äußerungsphrasen und prosodischen Paragraphen fehlen weitgehend.
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Der Fokus der meisten neueren Studien zu Ortsdialekten, Stadtsprachen und Regiolekten (z. B. Fitzpatrick-Cole 1999; Selting 2000, 2001; Auer 2001b; Barker 2005; Bergmann 2008; Kleber & Rathcke 2008) liegt auf dem Inventar an Konturen oder ihrer phonetischen Realisierung. Das gilt auch für die meisten vergleichenden Studien (z. B. Atterer & Ladd 2004; Gilles 2005; Peters 2006; Kügler 2007; Leemann & Siebenhaar 2007; Leemann 2009; Gilles 2015; Peters, Hanssen & Gussenhoven 2014, 2015). Zu den wichtigsten Ergebnissen von Gilles (2005) und Peters (2006) gehört, dass sich für alle untersuchten Stadtsprachen phonetische und phonologische Unterschiede feststellen lassen, wobei die Stadtsprachen von Köln, Mannheim und Freiburg stärker vom nördlichen Standarddeutschen abweichen als Hamburg, Berlin, Dresden und München (zur Übersicht s. Peters et al. 2015). Im Falle von Freiburg werden nicht nur fallende Akzente bei neutralen Aussagen in der Position der Hauptakzentsilbe durch steigende ersetzt; auch nach der Hauptakzentsilbe bleibt die Tonhöhe im Freiburgischen bis zur Kopfsilbe des letzten Fußes hoch. Leemann (2009) untersuchte vier Orte als Repräsentanten von vier schweizerdeutschen Großraumdialekten, Brig für die Region Wallis im Südwesten, Chur für Graubünden im Südosten, Bern für die Region Bern im Nordwesten und Winterthur für die Region Zürich im Nordosten. Unterschiede wurden vor allem im Bereich der Phrasierung sowie der Skalierung und dem Timing von Tonhöhenbewegungen gefunden. Späte und lange Anstiege auf Akzentsilben in Bern werden unter anderem auf eine langsamere Artikulationsrate zurückgeführt, wie auch sonst sich ein Teil der Variation der f0-Verläufe als abhängig von parasprachlichen und nichtsprachlichen Faktoren erweist. Generell wird ein Nord-Süd-Gegensatz (Bern, Zürich vs. Wallis, Graubünden) bei lokalen f0Bewegungen im Bereich der Akzentsilben festgestellt, ein Ost-West-Gegensatz (Zürich, Graubünden vs. Bern, Wallis) hingegen eher im globalen f0-Verlauf auf Phrasenebene. Ulbrich (2005) stellt intonatorische Variation auch bei den nationalen Standardvarietäten des Deutschen fest, insbesondere bei der Akzentwahl und der Skalierung. Zum einen zeigt sich die für schweizerdeutsche Dialekte typische Wahl steigender statt fallender Akzente auch im schweizerdeutschen Standard, und zum anderen wird im schweizerdeutschen Standard ein größerer f0-Umfang auf den Akzentsilben beobachtet als im bundesdeutschen und österreichischen Standard.
3.3. Perzeption regionaler Intonation Die Auffassung, dass die Sprechmelodie zu den zuverlässigsten Indikatoren für die regionale Herkunft dient und auch beim Übergang zu standardnäheren Varietäten erhalten bleibt (s. Kap. 3.1.), hat zu einer Reihe experimenteller Untersuchungen angeregt. Schaeffler & Summers (1999) untersuchten die perzeptive Identifizierung von sieben Dialektregionen und Gilles et al. (2001), Peters et al. (2002, 2003) und Teschke (2009) von insgesamt sechs Stadtsprachen anhand von Hörproben, die mittels eines Bandpass-Filters delexikalisiert wurden. Peters et al. (2003) verwendeten zusätzlich standardnahe Sprachproben, die mit regionalen f0-Verläufen resynthetisiert wurden. Resynthetisierte Stimuli erbrachten höhere Erkennungsraten als delexikalisierte Stimuli. Ferner wurden höhere Erkennungsraten in solchen Tests erzielt, in denen die Probanden die Möglichkeit hatten, die Zielvarietät mittels Ausschlussverfahren zu identifizieren, etwa im Vergleich zur eigenen regionalen Varietät oder zur Standardvarietät, womit hier eher Diskriminationsleistungen als Identifikati-
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onsleistungen vorlagen (Peters et al. 2002; Teschke 2009). Die Rolle des sprachlichen Hintergrundwissens zeigte sich auch in dem Befund, dass zugezogene Hamburger, die in einem anderen sprachlichen Umfeld aufgewachsen sind, delexikalisierte Sprachproben aus Hamburg besser identifizierten als gebürtige Hamburger (Peters et al. 2002).
4. Stimmqualität Die wahrgenommene Stimmqualität hängt von der Verteilung akustischer Energie im hörbaren Frequenzspektrum ab. Diese Verteilung beruht auf dem subglottalen Luftdruck, der Art der Stimmgebung (Phonationsmodus) und den Resonanzeigenschaften des Vokaltrakts, die durch die vertikale Position des Kehlkopfes, die Form des Rachenraumes und die Stellung der Artikulatoren in der Mundhöhle bestimmt werden. Anekdotische Hinweise auf die Stimmqualität des Deutschen im Vergleich zu anderen Sprachen und auf Variation innerhalb des deutschen Sprachraums reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Sweet (1877: 98) spricht vom „peculiarly harsh character“ der Schotten und Sachsen, eine Stimmqualität, die Laver (1980: 131) als ventricular voice identifiziert (eine Phonation unter Beteiligung der Taschenfalten oberhalb der Glottis). Und unter Bezug auf die Süddeutschen schreibt Sweet (1877: 211): „I now doubt the necessity of any guttural compression in the formation of the French nasals: their deep tone may be due simply to the greater lowering of the uvula than in South German and American nasality“. Der sich bei Sweet bereits andeutende Nord-Süd-Gegensatz wird bei Catford (1977: 103) präzisiert, der die „harte“ Stimme der Norddeutschen als Beleg ansieht für ein sprachspezifisches laryngales tense setting. Und Esling & Wong (1983: 93) führen den Nord-Süd-Gegensatz im deutschen Sprachraum unter anderem auf eine Hebung bzw. Absenkung des Kehlkopfes zurück, womit die Länge des Rachenraumes verändert wird. Auch lokale Änderungen der Stimmqualität wurden vereinzelt berichtet, die eine sprachliche Funktion übernehmen können, insbesondere an Phrasengrenzen. So beobachtet Ulbrich (2005: Kap. 7) Glottalisierungen am Ende deklarativer Äußerungen häufiger bei bundesdeutschen Nachrichtensprechern als bei den Vergleichsgruppen aus Österreich und der Schweiz. Impressionistische Bemerkungen zur Stimmqualität liefern ferner einzelne Dialektgrammatiken. So finden sich Angaben zum Übergang von der Brust- zur Kopfstimme, d. h. zum Phonationsmodus (Abegg 1911; Hotzenköcherle 1934) oder auch zum Näseln (Wipf 1908; Wiget 1916). Systematische Untersuchungen zur regionalen Variation von Stimmqualität innerhalb des deutschen Sprachraums sind nicht bekannt. Eine Ausnahme bildet die Studie von Peters (2018), in der die Variation der Stimmqualität bilingualer Sprecher des Hoch- und Niederdeutschen im Bersenbrücker Land untersucht wird (zur Variation auf den Britischen Inseln s. Coadou & Rougab 2007). Die Erforschung der regionalen Variation der Stimmqualität kann daher gegenwärtig als eines der größten Forschungsdefizite der deutschen Dialektologie angesehen werden (vgl. Hagen & Boves 1994).
5. Perspektiven Die Erforschung der regionalen Prosodie im deutschen Sprachraum hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, sowohl im Hinblick auf die Datenbasis der Un-
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tersuchungen als auch im Hinblick auf die messtechnische Erfassung prosodischer Variation. Gleichwohl ist unser Wissen noch sehr lückenhaft, sowohl was die erfassten regionalen Varietäten betrifft, als auch in Bezug auf die Verbindung zwischen regionaler, soziolektaler, stilistischer und situativer Variation. Ein Desiderat der Forschung zur intonatorischen Variation ist ferner die makroprosodische Organisation oberhalb der Intonationsphrase, die nicht einmal im Bereich des Standarddeutschen als gut erforscht gelten kann. Große Forschungslücken bestehen außerdem in der Erforschung regionaler Variation des Sprechrhythmus und der Stimmqualität.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte Scheibe, Johann A. 1754 Abhandlung vom Ursprunge und Alter der Musik, insonderheit der Vokalmusik. Altona & Flensburg: Kortische Buchhandlung. Schmid, Karl 1915 Die Mundart des Amtes Entlebuch im Kanton Luzern. Frauenfeld: Huber. Schmidt, Jürgen Erich 1986 Die mittelfränkischen Tonakzente (Rheinische Akzentuierung). Stuttgart: Steiner. Schmidt, Jürgen Erich & Joachim Herrgen 2011 Sprachdynamik: Eine Einführung in die moderne Regionalsprachenforschung. Berlin: Erich Schmidt. Schönhoff, Hermann 1908 Emsländische Grammatik: Laut- und Formenlehre der emsländischen Mundarten. Heidelberg: Winter. Selting, Margret 2000 Berlinische Intonationskonturen: Der ‘Springton’. Deutsche Sprache 28. 193−231. Selting, Margret 2001 Berlinische Intonationskonturen: ‚Die Treppe aufwärts‘. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 20. 66−116. Siebenhaar, Beat 2012 Warum glauben wir, dass Dialektsprecher „singen“? Zur Erforschung der Sprechmelodien in den Dialekten. In Rainer Hünecke & Karlheinz Jakob (Hrsg.), Die obersächsische Sprachlandschaft in Geschichte und Gegenwart, 265−288. Heidelberg: Winter. Sievers, Eduard 1901 Grundzüge der Phonetik, 5. Aufl. Leipzig: Breitkopf & Härtel. Sievers, Eduard 1912 [1901] Über Sprachmelodisches in der deutschen Dichtung. In Eduard Sievers, Rhythmischmelodische Studien, 56−77. Heidelberg: Winter. Socin, Adolf 1888 Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache. Heilbronn: Henninger. Stalder, Franz Joseph 1819 Die Landessprachen der Schweiz oder Schweizerische Dialektologie, mit kritischen Sprachbemerkungen beleuchtet: Nebst der Gleichnisrede von dem verlorenen Sohne in allen Schweizermundarten. Aarau: Sauerländer. Streck, Tobias 2004 Finale Dehnung im Deutschen: Eine kontrastive Untersuchung zu den städtischen Varietäten von Mannheim und Hamburg. Staatsexamensarbeit Universität Freiburg. Streiff, Catharina 1915 Die Laute der Glarner Mundarten. Frauenfeld: Huber. Stucki, Karl 1917 Die Mundart von Jaun im Kanton Freiburg: Lautlehre und Flexion. Frauenfeld: Huber. Sweet, Henry 1877 A handbook of phonetics. Oxford: Clarendon Press. Teschke, Verena 2009 Perzeption prosodischer Merkmale deutscher Regionalsprachen. Sprachwissenschaft 34. 151− 185. Trouvain, Jürgen & William J. Barry (Hrsg.) 2007 Proceedings of the 16th International Congress of Phonetic Sciences, Saarbrücken, Germany, August 6−10, 2007. Ulbrich, Christiane 2005 Phonetische Untersuchungen zur Prosodie der Standardvarietäten des Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland, in der Schweiz und in Österreich. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Vetsch, Jakob 1910 Die Laute der Appenzeller Mundarten. Frauenfeld: Huber
22. Die areale Lexik im Oberdeutschen
679
Waiblinger, Erwin 1925 Tonfall deutscher Mundarten. Vox 11. 43−44. Wanner, Georg 1941 Die Mundarten des Kantons Schaffhausen: Laut- und Flexionslehre. Frauenfeld: Huber. Weber, Albert 1923 Die Mundart des Zürcher Oberlandes. Frauenfeld: Huber. Werth, Alexander 2014 Silbensprachliche Züge im Alemannischen und ihre Reflexe auf die Intonation. In Dominique Huck (Hrsg.), Alemannische Dialektologie: Dialekte im Kontakt, 279−291. Stuttgart: Steiner. Wiget, Wilhelm 1916 Die Laute der Toggenburger Mundarten. Frauenfeld: Huber. Wipf, Elisa 1908 Die Mundart von Visperterminen im Valais. Frauenfeld: Huber. Zimmermann, Gerhard 1998 Die „singende“ Sprechmelodie im Deutschen. Zeitschrift für germanistische Linguistik 26. 1−16.
Jörg Peters, Oldenburg (Deutschland)
22. Die areale Lexik im Oberdeutschen 1. Gegenstandsbestimmung 2. Erforschung der dialektalen Lexik des Oberdeutschen
3. Historische und dynamische Aspekte der Lexik 4. Raumstrukturen 5. Literatur
1. Gegenstandsbestimmung Oberdeutsch ist nach der Einteilung in Wiesinger (1983) die Dialektgruppe, die sich im Süden des deutschen Sprachgebiets von Westen nach Osten erstreckt. Im Westen und Süden wird das Oberdeutsche durch romanischsprachige Sprachgebiete (Französisch, Italienisch, Rätoromanisch, Ladinisch) begrenzt, im Südosten und Osten durch slawischsprachige Sprachgebiete (Slowenisch, Slowakisch, Tschechisch), dazwischen durch Magyarisch. Nach Norden wird das Oberdeutsche vom Mitteldeutschen durch ein breit gestreutes Merkmalbündel abgegrenzt, u. a. die unterschiedlich vollständig durchgeführte Lautverschiebung von p zu pf (Appel > Apfel, Pund > Pfund), unterschiedliche Entwicklungen von ahd. iu/eo oder Diminutivformen (s. Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 118−131; Klausmann 2014: 55−71). Intern gliedert sich das Oberdeutsche in Ostfränkisch, Alemannisch und Bairisch-Österreichisch, die in sich wiederum zusätzlich untergliedert werden. Zur sprachlichen Binnendifferenzierung trägt der Umstand bei, dass das Oberdeutsche sich auf Regionen in vier Staaten (Deutschland, Frankreich, Schweiz, Österreich) mit unterschiedlichen soziolinguistischen Bedingungen für den Dialektgebrauch verteilt. Ausgeklammert bleiben im Folgenden die neueren Entwicklungen auf der Ebene der regionalen Umgangssprachen (s. dazu Möller & Elspaß, Art. 25 in diesem https://doi.org/10.1515/9783110261295-022
680
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Band), ebenso die Verhältnisse in Sprachinseln in Ländern mit romanischen und slawischen Dachsprachen und die oberdeutschen Dialektinseln im Mitteldeutschen. Die historischen Entwicklungen unter regional unterschiedlichen und wechselnden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen haben zu einer starken Binnendifferenzierung der oberdeutschen Dialekte mit Übergangszonen geführt. Ein methodisches Problem stellt der Umstand dar, dass der Dialektwortschatz des Oberdeutschen regional unterschiedlich dicht und unterschiedlich systematisch erfasst ist. Zudem folgen Wörterbücher und Sprachatlanten politischen Grenzen, nicht Dialektgrenzen. Aus Wörterbüchern ist die areale Geltungsweise von Heteronymen nur selten verlässlich rekonstruierbar. All dies erschwert es, die vorhandenen Informationen zu kombinieren und übergreifende areale Strukturmuster zu erkennen. Einen Gesamtüberblick über einzelne ausgewählte Wortbereiche erlaubt lediglich der Deutsche Wortatlas (DWA). Die Vergleichbarkeit wird auch dadurch erschwert, dass die Daten der einzelnen Werke unterschiedlichen Perioden entstammen.
2. Erforschung der dialektalen Lexik des Oberdeutschen Der dialektale Wortschatz des Oberdeutschen wird in Wörterbüchern, Sprachatlanten und lexikalischen Einzelstudien mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Materialgrundlagen dargestellt. Teilweise finden sich auch in Wörterbüchern und in Einzelstudien Sprachkarten.
2.1. Wörterbücher Der Wortschatz der oberdeutschen Dialekte wird in unterschiedlich konzipierten Wörterbüchern dargestellt, die sich in der geographischen Reichweite, der Erfassung historischer Quellen und dem systematischen Detaillierungsgrad der Informationen unterscheiden. Tab. 22.1 gibt einen Überblick über die großlandschaftlichen Wörterbücher, die lexikologisch differenzierten Standards folgen (Reihenfolge von Westen nach Osten). Viele dieser Wörterbücher sind noch nicht abgeschlossen. Einige Wörterbücher erfassen auch mitteldeutsche Dialektgebiete. Der Wortschatz von oberdeutschen Dialekten wird zudem in zahlreichen Handwörterbüchern unterschiedlichen Zuschnitts für einzelne kleinere Dialektregionen und Orte erfasst. Neuere Werke sind: Allgäuer (2008) (Höchst- und Hochalemannisch); Braun (2004) (Nordbairisch); Fritz-Scheuplein et al. (2009) (Ostfränkisch, Rheinfränkisch); Gallmann (2015) (Hochalemannisch, Zürich); Gasser, Häcki Buhofer & Hofer (2010) (Hochalemannisch, Basel); Greyerz & Bietenhard (2008) (Hochalemannisch, Bern); Hutterer, Kainz & Walcher (1987) (südbairisch, Weststeiermark); Post (2010) (Hoch- und Niederalemannisch, Baden); Schatz (1955−1956) (südbairisch, Tirol); Schmutz & Haas (2013) (Höchstalemannisch, Freiburg); Wagner, Klepsch & Willoweit (2007) (Ostfränkisch); Zehetner (2014) (Mittelbairisch, Bayern). Eine Auflistung der Ortswörterbücher für das Mittelfränkische gibt SMF, 1: 6. Eine vollständige Zusammenstellung aller Wörterbücher für das Schweizerdeutsche findet sich online unter .
1985 ff.
1963 ff.
2013 ff.
1913−1940, 1960 ff.
1913−1940, 1960 ff.
1913−1940, 1960−2001
Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ)
Fränkisches Wörterbuch (WBF)
1872−1877
Schmeller ([1827−1837] 1872−1877), Bayerisches Wörterbuch
Bayerisches Wörterbuch (BWB)
1960−1965
1925 ff.
Ende 19. Jh. ff.
Badisches Wörterbuch (BadWB)
Jutz (1955−1965), Vorarlbergisches Wörterbuch
1899−1907
1887−1904
Wörterbuch der elsässischen Mundarten (ElsWB)
1901−1936
1881 ff.
1862 ff.
Schweizerisches Idiotikon (Schweizerdeutsches Wörterbuch, SWB)
Fischer (1904−1936), Schwäbisches Wörterbuch
Publikationszeitraum
Erhebungszeitraum
Name
Fragebogen, direkte Befragung, örtl. Sammler, Literatur
Fragebogen, direkte Befragung, örtl. Sammler, Literatur
Fragebogen, direkte Befragung, örtl. Sammler, Literatur
Fragebogen, direkte Befragung, örtl. Sammler, Literatur
Fragebogen, Literatur, örtl. Sammler
Fragebogen, Literatur, örtl. Sammler
Erhebungsmethoden
Tab. 22.1: Großräumige Dialektwörterbücher im oberdeutschen Sprachgebiet
Ostfränkisch, Nordbairisch, Hessisch
Mittelbairisch, Südbairisch
Nordbairisch, Mittelbairisch
Hochalemannisch
Schwäbisch, Ostfränkisch
Niederalemannisch, Hochalemannisch
Niederalemannisch, Hochalemannisch
Hoch-/ Höchstalemannisch (Schweiz)
Erhebungsgebiet (nach Wiesinger 1983)
Online-Publikation
geplant 10−12 Bde., bisher 4 Bde. u. 8 Lfg. v. Bd. 5, 2.800 S. (Stand 30.04.2017)
geplant 100 Hefte (= ca. 10.000 S.), bisher 2 Bde. u. 6 Lfg. v. Bd. 3, 2.270 S. (Stand 30.04.2017)
2 Bde., 3.048 S.
2 Bde., 1.650 S.
6 Bde. + 1 Nachtragsband, 7.265 S.
geplant 5 Bde., bisher 4 Bde. u. 2 Lfg. v. Bd. 5, 3.210 S. (Stand 31.05.2017)
2 Bde., 860 S.
geplant 17 Bde., bisher 16 Bde. u. 3 Lfg. v. Bd. 17, 17.000 S. (Stand 31.12.2016)
Umfang
22. Die areale Lexik im Oberdeutschen 681
682
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
2.2. Sprachatlanten Neben dem das gesamte deutsche Sprachgebiet erfassenden Deutschen Wortatlas (DWA) dokumentieren Regionalatlanten (Kleinraumatlanten) die basisdialektale Lexik. Nicht berücksichtigt werden in der folgenden Übersicht Atlanten, die keine nennenswerten Informationen zur Lexik bieten, so der Sprachatlas von Nordostbayern (SNOB), der Nordbairische Sprachatlas (Nordb. SA) und Fischers Atlas zur Geographie der Schwäbischen Mundarten (Fischer 1895), oder die nicht die Lexik von Basisdialekten, sondern Umgangssprachen und Regionalsprachen darstellen (Eichhoff 1977−2000 [WDU]; Elspaß & Möller 2003 ff. [AdA]). Auf der Grundlage der Daten zu den regionalen Sprachatlanten wurden zu mehreren Gegenden vereinfachte Übersichtsdarstellungen mit Kommentaren zu den einzelnen Karten erarbeitet, so Christen, Glaser & Friedli (2013 [KSDS]) (Schweizerdeutsch); Klausmann (2012 [KSVL]) (Bodensee-, Südalemannisch, Vorarlberg); Klausmann (2014) (Schwäbisch); Klausmann, Kunze & Schrambke (1997) (Alemannisch in Deutschland); König & Renn (2007 [KSBS]) (Bayerisch-Schwaben); König et al. (2007 [KUSs]) (Ostfränkisch, Rheinfränkisch, Unterfranken); Renn & König (2006 [KBSA]) (Mittelbairisch, Ostfränkisch, Bayern). Online zugänglich sind der Sprechende Sprachatlas von Bayern (König & Renn 2006−2008) und der Sprechende Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben (König & Schwarz 2011−2013). Diese letzteren beiden enthalten auch gesprochene Lautproben zu den einzelnen Ortsbelegen. Sprachübergreifend (für deutsche, französische, italienische, rätoromanische und slowenische Dialekte) sind Daten aus alpinen Dialekten im Projekt VerbAlpina erfasst und online zugänglich gemacht.
1962−1997 1969−1984 1989−2012
2018–2019 1985−2006
1996−2009
2003−2014 2003−2010 2005−2011 1998 ff.
1939−1959 1953−1981 1974−1986
2009–2012 1964−1968, 1971−1977, 1982−1985 1980−1989 1991−1996 1989−1998
1988−1998 1941−1943, 1960
Atlas linguistique et ethnographique de l’Alsace (ALA)
Südwestdeutscher Sprachatlas (SSA)
Sprachatlas von Nord BadenWürttemberg (SNBW)
Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluss des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus (VALTS)
Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben (SBS)
Sprachatlas von Unterfranken (SUF)
Sprachatlas von Mittelfranken (SMF)
Sprachatlas von Niederbayern (SNiB) 1991−1998 1991−1998
Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS)
Sprachatlas von Oberbayern (SOB)
Sprachatlas von Oberösterreich (SAO)
Tirolischer Sprachatlas (Tirol. SA)
1965−1971
2005−2008
Publikationszeitraum
Erhebungszeitraum
Name
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
direkt: Befragung
Erhebungsmethoden
Tab. 22.2: Sprachatlanten mit Karten zur Wortgeographie im Oberdeutschen
167
182
272
196
171
579
214
625
Südbairisch
Mittelbairisch
Mittelbairisch (+ Ostschwäbisch)
473
223
350
279/110
433/128 (Stand 2013)
660/248
938/158
1140/150
932/316
2613/990
1198/405
485/221
510/144
643 (Vollformenkartierung)
1623/991
Anzahl Anzahl Karten Belegorte insgesamt/Anzahl Wortkarten
Nordbairisch − Mittelbairisch 221
Ostfränkisch (+ Mittelbairisch)
Rheinfränkisch, Ostfränkisch
Ostschwäbisch
Hoch- + Höchstalemannisch, Alemannisch-südbairisches Übergangsgebiet
Nordschwäbisch, Rheinfränkisch, Ostfränkisch
Schwäbisch, Mittelalemannisch, Niederalemannisch
Niederalemannisch, Mittelalemannisch
Hoch-/Höchstalemannisch
Erhebungsgebiet (nach Wiesinger 1983)
22. Die areale Lexik im Oberdeutschen 683
684
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
2.3. Einzelstudien Spezialuntersuchungen zur Arealität des mundartlichen Wortschatzes in übergreifenden Darstellungen basieren vor allem auf Erhebungen zum Deutschen Wortatlas (DWA). Viele dieser Untersuchungen sind in den Reihen Deutsche Dialektgeographie (DDG), Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen (DWEB), (Gießener) Beiträge zur deutschen Philologie (BdPh) und Marburger Beiträge zur Germanistik publiziert worden. Erschlossen sind sie in den Bibliographien Deutsche Wortkarte (Siegel 1964, 1974, 1981). Im Vordergrund stehen Heteronymien von einzelnen Begriffen und Konzepten (z. B. ‘Brennnessel’, ‘Hagebutte’, ‘Maiglöckchen’, ‘Stachelbeere’, ‘Stecknadel’, ‘Zaunkönig’, ‘weinen’), aber auch Wortfelder, wie die Bezeichnungen für die Heiratsverwandtschaft (Debus 1958), zu Krankheitsnamen (Hoffmann 1956), Jahreszeitennamen (Tallen 1963) und Insektenbezeichnungen (Schumacher 1955). Die Arbeiten zum Schweizerdeutschen sind in Sonderegger (1962) und Börlin (1987) erschlossen, zu Baden-Württemberg, Vorarlberg und Liechtenstein in Baur (2002). Beispiele für onomasiologische Untersuchungen zum Schweizerdeutschen sind Thurnheer (1938) (Insektenbezeichnungen) und Egli (1930) (Pflanzenbezeichnungen), für Fachwortschatz Rübel (1950) (Viehzucht) und Ott (1970) (Jägersprache). Allgemeinere Aspekte der Wortgeographie behandeln Wiesinger (1988) zum Bairischen und Klausmann (1985, 2002) zum Alemannischen. Im Zusammenhang mit der Raumstruktur des Schweizerdeutschen kommen wortgeographische Aspekte auch in Hotzenköcherle (1984) zur Sprache.
2.4. Wissenschaftsgeschichtlicher Abriss Die dialektologische Lexikographie beginnt wissenschaftsgeschichtlich mit den Idiotismensammlungen des 18. Jahrhunderts, meist kleinere Sammlungen zum eigentümlichen Wortschatz von lokalen Dialekten. Das Interesse am lokalen Wortschatz entwickelte sich mit der Ausdehnung des Geltungsbereichs einer vereinheitlichten überregionalen Literatursprache und der funktionalen Differenzierung von Dialekt und Literatursprache, was auch ein Bewusstsein für das Besondere, Beachtenswerte des dialektalen Wortschatzes weckte. Die vielen zerstreuten kleineren Idiotismensammlungen des 18. Jahrhunderts sind in Haas (1994) gesammelt und kommentiert. Eine frühe eigenständige Publikation im Oberdeutschen ist Praschs Glossarium Bavaricum (Praschius 1694) (Regensburg). Manche größeren Sammlungen zu oberdeutschen Dialekten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts blieben zu ihrer Zeit ungedruckt, fanden aber Berücksichtigung in späteren Wörterbüchern, so das Nürnbergische Idiotikon von Georg Andreas Will (1727− 1798) (Maas 1959) (Nürnberg), das Idioticon Rauracum von Johann Jacob Spreng (1699−1768) (Spreng [1768] 2014) (Basel, Niederalemannisch), das Idioticon bernense und Glossarium helveticum des Berner Samuel Schmid (†1768) (Tobler 1855−1857) (Bern, hochalemannisch) und später der umfangreiche Versuch eines bündnerischen Idiotikons von Martin Tschumpert (1830−1911) (Höchstalemannisch). Größere Dialektwörterbücher publizierten Anfang des 19. Jahrhunderts Ignaz von Sonnleithner (1824) (Wien) und Johann Christoph von Schmid (1831) (Schwäbisch). Einen umfassenden Ansatz zur Erfassung des schweizerdeutschen Wortschatzes entwickelte als Pionier und eigentlicher Begründer der schweizerdeutschen Dialektologie der Luzerner Pfarrer Franz Joseph Stalder (1757−1833) (Stalder 1806−1812, 1994); seine Arbeiten beeinflussten
22. Die areale Lexik im Oberdeutschen
auch Johann Andreas Schmeller und Jacob Grimm. Die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Dialekten in einem heutigen Sinne begründete Johann Andreas Schmeller (1785−1852) mit der Grammatik Die Mundarten Bayerns (Schmeller 1821) und dem Bayerischen Wörterbuch (Schmeller [1827−1837] 1872−1877). Aufgrund umfangreicher Sammlungen von Adelbert von Keller erarbeitete Hermann Fischer sein Schwäbisches Wörterbuch, publiziert 1901−1936 (Fischer 1904−1936). Eine umfassende systematisch gesammelte, historisch fundierte Erfassung des schweizerdeutschen Wortschatzes als Fortsetzung von Franz Joseph Stalders Werk begründeten ab 1862 Friedrich Staub und Ludwig Tobler mit dem Schweizerischen Idiotikon (SWB). Die alemannischen Dialekte Deutschlands und des Elsass wurden einige Jahrzehnte später mit dem Wörterbuch der Elsässischen Mundarten (ElsWB) von Ernst Martin und Hans Lienhard und dem Badischen Wörterbuch (BadWB), begründet von Ernst Ochs, erfasst. Eine vergleichbare lexikographische Publikation für die Dialekte in Bayern (in seinem damaligen Umfang) und Österreich wurde 1911 mit der Gründung der Kommission für Mundartforschung an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien initiiert. Die Sammeltätigkeit wurde durch die politischen Ereignisse im 20. Jahrhundert und den zweiten Weltkrieg immer wieder unterbrochen. Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam eine regelmäßige Publikation der Ergebnisse mit dem BWB und dem WBÖ in Gang. Die Sprachgeographie, begründet durch die Arbeiten von Georg Wenker (WA, s. a. DSA), basiert zunächst auf der indirekten Erhebungsmethode. Dies gilt auch für den unter Walther Mitzka ab 1938 erarbeiteten Deutschen Wortatlas (DWA). Die direkte Methode wurde für die Erforschung kleinräumiger Gebiete angewandt, so von Karl Haag (1860−1946) und Karl Bohnenberger (1863−1951) für das Schwäbische und für die zahlreichen Darstellungen schweizerischer Ortsdialekte, die unter der Leitung des Zürcher Dialektologen Albert Bachmann (1863−1934) entstanden. Auch diese Arbeiten beschränkten sich allerdings weitestgehend auf die Laut- und Formenebenen, auch wenn sie die Grundlagen für die Konzeption späterer Sprachatlanten legten. Weitere Aspekte der Dialektologie des Schweizerdeutschen wie Sachaspekte, Fachsprachen, Sprachwandel, Soziolinguistik, Diglossie wurden nachfolgend in Arbeiten untersucht, die unter der Leitung des Zürcher Dialektologen Rudolf Hotzenköcherle (1903−1976) entstanden und meist in der Reihe Beiträge zur schweizerdeutschen Dialektologie erschienen. Einen wichtigen Schritt für die Darstellung der Sprachgeographie in Sprachatlanten bedeuteten die Atlaswerke des Atlas linguistique et ethnographique de l’Alsace (ALA) und des Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS), welche an den Atlas linguistique de la France (ALF) der Romanisten Jules Gilliéron und Edmond Edmont (veröffentlicht 1902−1910) und den Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS) von Gilliérons Schülern Karl Jaberg und Jakob Jud (veröffentlicht 1928−1940) anknüpften, namentlich hinsichtlich der Methodik (direkte Befragung), des Einbezugs des Sachaspekts und der Volkskunde sowie der Fragemethode. Der SDS war auch innovativ im Transkriptionssystem und in der kartographischen Darstellung mittels einer systematisierten graphischen Gestaltung der Punktsymbole. Der SDS war in der Folge das Muster für zahlreiche spätere Sprachatlanten („Kleinraumatlanten“) wie den SSA und die Regionalatlanten des Bayerischen Sprachatlas (s. auch Scheuringer 2011). Mit der Erarbeitung von Detailinformationen über die geographische Verteilung von Sprachdaten entwickelte sich auch die Diskussion über die historischen und kulturellen Hintergründe dialektaler Raumbildungsmuster. Die Zusammenführung dieser Aspekte in
685
686
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
einer Gesamtschau propagierte die „Bonner Schule“ (Aubin, Frings & Müller [1926] 1966). Für das Alemannische erarbeitete Maurer (1942) grundlegende Erkenntnisse. Rudolf Hotzenköcherle schuf auf der Grundlage der Ergebnisse des SDS die maßgebende Analyse der Raumstrukturen des Schweizerdeutschen mit Blick auf historische und volkskundliche Rahmenbedingungen (Hotzenköcherle 1984). Hotzenköcherle integriert dabei alle Sprachebenen von der Lautebene bis zum Wortschatz. − Zur Geschichte der Erforschung der Sprachgeographie der oberdeutschen Dialekte s. auch Klausmann (2014: 177−184). In eine andere Richtung geht die Forschung mit der Entwicklung der Dialektometrie, vor allem der Berechnung von Dialektähnlichkeiten mithilfe von statistischen Verfahren der Datenverknüpfung. Die Anwendung dieser Methoden wird begünstigt durch die Entwicklung der Verarbeitung digitalisierter Daten. Untersuchungen zum Oberdeutschen, welche u. a. die Lexik einbeziehen, sind Schiltz (1996) für Südbaden und Pickl (2013) für Bayerisch-Schwaben. Eine dialektometrische Auswertung von ausgewählten Karten des SDS präsentieren Scherrer & Kellerhals (2007−2014).
3. Historische und dynamische Aspekte der Lexik 3.1. Dynamik der Lexik in Zeit und Raum Die heutige geographische und lexikalische Struktur der oberdeutschen Lexik ist das Resultat von mannigfaltigen dynamischen Prozessen: spätantike und frühmittelalterliche Wanderungsbewegungen, innersprachlich oder durch Sachwandel motivierte lexikalische Innovationen und deren Diffusion, Sprachkontakte. Diese Prozesse überlagern sich und führen zu historisch vielfältig geschichteten, geographisch vielfach diversifizierten Wortschätzen. Angesichts der bis heute geltenden Gemeinsamkeiten aus dem gemeinwestgermanischen „Erbwortschatz“ und der gemeinsamen Entlehnungen aus der Römerzeit zur Zeit der Antike darf vermutet werden, dass dialektale Unterschiede innerhalb des Oberdeutschen bzw. dessen Vorgängervarianten im frühen Mittelalter ursprünglich eher schwach ausgeprägt waren, wenn auch die geographisch und sachlich eingeschränkten Zeugnisse aus der schriftlichen Literatur des Althochdeutschen diesbezüglich meist keine sicheren Erkenntnisse erlauben. Mit der Ausbreitung der Siedlungsgebiete der Alemannen und Baiern nach Süden hat sich entsprechend auch der Geltungsbereich dieses gemeinsamen Wortschatzes räumlich ausgedehnt. Indizien für frühe areale Unterschiede auch innerhalb des Oberdeutschen sind aber vorhanden. Lexikalische Differenzierung kann in voralthochdeutscher Zeit durch kulturelle Einflüsse aus unterschiedlichen Richtungen bedingt sein. Exemplarisch dafür sind bairische Besonderheiten unter ostgermanischem (gotischem) Einfluss aus Osten und Südosten, so die Wochentagsnamen Ertag ‘Dienstag’ und Pfinztag ‘Donnerstagʼ oder Pfait ‘Hemd’. Beispiel einer Differenz als Reflex einer frühen agronomischen Neuerung und einer daraus folgenden regional differenzierten lexikalischen Innovation ist alemannisch Öhmd (ahd. āmād) vs. Grummet (mitteldeutsch, bairisch) ‘zweiter Grasschnitt’ (Steinhauser 1952). Als alt gelten dürften auch Gegensätze Matte (westalemannisch) statt allgemein Wiese ‘Grasland’ oder Reckholder (alemannisch) gegenüber Kranewit (bairisch) ‘Wacholder’. Illustrativ ist auch die Differenzie-
22. Die areale Lexik im Oberdeutschen
rung der Weinbauterminologie je nach Einflussrichtung. So wurde zur Bezeichnung der Weinpresse, in der die Weintrauben mit den Füßen gestampft wurden, am Oberrhein die Lehnübersetzung Trotte zu lat. calcatura (‘Tretpresse’) gebildet; vom nördlichen Fränkischen drang zusätzlich das fränkische Lehnwort Kelter, ebenfalls aus lat. calcatura, in die oberrheinische Gegend ein, ein Beispiel für die Entwicklung von inneroberdeutschen aus mitteldeutsch-oberdeutschen Gegensätzen. Von Italien wurde andererseits über Tirol das lat. torcula ‘Drehpresse’ in der Lautung Torkel (alem. Torggel, also ohne bzw. nach der althochdeutschen Konsonantenverschiebung) übernommen (wohl verbunden mit einer technologischen Neuerung). Im westschweizerdeutschen Höchstalemannisch schließlich gilt mit Trüel eine Übernahme aus altfrz. trueil (aus lat. torculum) (SDS, 8: Kt. 203). Die weitere regionale lexikalische Differenzierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart ist das Ergebnis fortgesetzter, regional differenzierter lexikalischer Innovationen und deren Diffusion über weitere Räume. Mittelalterliche Entwicklungen sind ansatzweise aus der schriftlichen Überlieferung rekonstruierbar; allerdings sind sie geographisch aufgrund der Quellenlage oft nur schwer präzise zu lokalisieren und durch spätere Entwicklungen in der Regel überlagert worden. Müller (1960) hat spätmittelalterliche Differenzierungsphänomene etwa in den Gegensätzen Balken (alemannisch) − Laden (übrige Gegenden) ‘Fensterladen’, lesen (Westen) − wimme(l)n (Osten) − herbsten (Oberrhein) ‘Weintrauben ernten’ dargestellt. Innovationen sind einerseits durch Sachwandel bedingt. Zu derartigen Innovationen können neue Spezialisierungen bei Handwerksberufen im späten Mittelalter gerechnet werden, die regional unterschiedliche Bezeichnungen erhalten. Entsprechende Gegensätze sind beispielsweise Metzger (alemannisch) − Fleischhäckel/-hacker (bairisch) ‘Fleischverarbeiter’ (Schönfeldt 1965; Wiesinger 1988: 571). Der für das Mittelhochdeutsche bezeugte Gegensatz zwischen pfarrer (bairisch) und liutpriester (alemannisch) (Kunze 1975) ist ein weiteres Beispiel für ältere Wortschatzgegensätze, die später vereinheitlicht wurden, wobei diese Vereinheitlichungen bereits durch Ausgleichsbewegungen in der Schriftlichkeit in Gang gesetzt werden. Stetem Sachwandel sind auch der Hausbau und die Wohnkultur unterworfen. Derartige Neuerungen wurden in der Regel regional unterschiedlich benannt; das führt zu den regionalen Gegensätzen bair. Rauchfang vs. oberalem. Kemi/Chemi (mhd. kemi, aus lat. caminus) ‘Kamin’, wohl aus regional unterschiedlichen Bezeichnungen älterer Vorgängereinrichtungen, oder bei ‘Dachboden’ zu Varianten wie Boden, Bühne, Estrich, metonymisch aus Bezeichnungen anderer Gebäudeelemente, oder bei Schütte, Speicher aus deren Zweck. Auch Behälter für Gegenstände und Kleider (Kasten, Schubladen) erhalten regional unterschiedliche Bezeichnungen (s. z. B. SDS, 7: Kt. 188−193). Unterschiedliche Terminologien beim Bauernhaus hängen oft mit sachlichen Unterschieden zusammen und sind ohne Einbezug der Sachkultur nicht beschreibbar, etwa wenn man die Bedeutungsentwicklung von Lexemen wie Gaden oder Laube darstellen will (zu ›Gaden‹ s. Kap. 3.3., zu ›Laube‹ s. SDS, 7: Kt. 149−151 [Typen von Vorbauten im Obergeschoss]; SBS, 8: Kt. 3 ‘oberer Hausgang’; VALTS, 4: Kt. 133 ‘Klosett’). In der Neuzeit führen neu eingeführte Pflanzen wie Kartoffeln, Mais, Busch- und Stangenbohnen (s. Martin 1963) oder die agronomische Revolution im 18. Jahrhundert mit der Umstellung auf die Stallviehhaltung und der Einführung der systematischen Düngung durch Jauche und Mist mit den entsprechenden baulichen Änderungen des Stalls zu lexikalischen Innovationen mit arealer Variation. Bis ins 20. Jahrhundert resultiert areale lexikalische Varianz aus Innovationen bei Nahrungs- und Genussmitteln, denken wir nur an süßes Kleingebäck,
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Zuckerbonbons, Marmelade. Welcher Sprachebene eine Neuerung in der Gegenwartssprache zuzurechnen ist, hängt von den regional unterschiedlichen Diglossieverhältnissen im Einzelnen ab. Während simsen ‘eine SMS senden’ in Deutschland wohl als überregional alltagssprachlich gelten dürfte, ist schweiz. essemessle klar basisdialektal. International verbreitete technologische Neuerungen und Massenproduktion mit den entsprechenden standardisierten Produktbezeichnungen führen aber allgemein zu sprachlicher Vereinheitlichung. Varianz entsteht auch durch innersprachlich bedingte Innovation. Lexeme, die als formal abweichend oder unmotiviert empfunden werden, können durch neue, besser motivierte Formen ersetzt werden, entweder über „Deformation“ bzw. „assoziative Abwandlung“ (Lötscher 2017) oder durch Bildung neuer, durchsichtiger Wortbildungen. Beispiele dafür sind ‘wiederkäuen’ (ALA, II: Kt. 17; SAO, IV: Kt. 164; SDS, 8: Kt. 27; SMF, 5: Kt. 75; SOB, 5: Kt. 26; SSA, IV: Kt. 5.05; SUF, 4: Kt. 58; Tirol. SA, 3: Kt. 86; VALTS, 4: Kt. 54; Neubauer 1958) oder ‘Schmetterling’ (SDS, 5: Kt. 21; SMF, 5: Kt. 96; SSA, IV: Kt. 4.10; Tirol. SA, 3: Kt. 31; VALTS, 5: Kt. 108). Durch Konventionalisierung von expressiven Ausdruckweisen in der Alltagskommunikation können ebenfalls neue Lexeme entstehen, die gegebene Formen ersetzen, wie die Veränderungen der Bezeichnungen für ‘Zuchtstier’ (s. u. Kap. 3.3.), ‘Hahn’ (SDS, 8: Kt. 94; ALA, II: Kt. 97; SUF, 4: Kt. 93) oder ‘weinen’ (SAO, IV: Kt. 49; SMF, 5: Kt. 35; SNiB, 2: Kt. 84; SOB, 6: Kt. 47; SUF, 5: Kt. 38; SDS, 4: Kt. 97; Glombik-Hujer 1968; Lötscher 2017: 133−138) seit dem Althochdeutschen zeigen. Für viele im Alltag marginale Phänomene ist auch von immer wieder neuen polygenetischen Innovationen auszugehen, so etwa bei wertlosen Pflanzen wie dem Löwenzahn (SDS, 6: Kt. 123; SMF, 5: Kt. 66; SOB, 5: Kt. 127; SSA, IV: Kt. 4.11; SUF, 6: Kt. 19) oder bei wertlosen Abfällen wie dem Apfelbutzen (SDS, 6: Kt. 154; SUF, 6: Kt. 1). Sachwandel und Beeinflussung durch die Standardsprache kann im Basisdialekt auch zu Wortverlust führen, z. B. dadurch, dass in der modernen Landwirtschaft viele alte Geräte nicht mehr gebraucht werden, oder dadurch, dass unter dem Einfluss der Standardsprache differenziertere Bezeichnungsmöglichkeiten des Basisdialekts für Alltagsphänomene verloren gehen. Das gemütliche Zusammensitzen und Plaudern am Nachmittag oder Abend ist ein Thema in vielen Sprachatlanten (s. z. B. SAO, IV: Kt. 106; SDS, 5: Kt. 17; SMF, 5: Kt. 9; SNiB, 2: Kt. 27), die Bezeichnungen sind heute aber vielerorts kaum mehr bekannt, weil auch die Gewohnheit selbst verschwunden ist. Auch Wortverlust kann regional unterschiedlich erfolgen, je nachdem, wie resistent der Gebrauch des Basisdialekts gegenüber Einflüssen aus der Standardsprache ist.
3.2. Kontaktphänomene Sprachwandelphänomene besonderer Art sind Entlehnungen und andere Kontaktphänomene. Im Westen und Süden grenzen oberdeutsche Dialekte seit jeher an romanischsprachige Gegenden. In langdauernden Kontakten haben die Sprecher dieser Dialekte regelmäßig Ausdrücke aus diesen Sprachen übernommen (Hartweg 1983; Jud 1946; Klausmann & Krefeld 1986; Mätzler 1968; Pfister 1997; Schneider 1964; Steiner 1921). Eine erste Phase dieser Übernahmen erfolgte bei der Expansion germanischer Stämme in den alpinen Süden in der Spätantike und im Frühmittelalter. Die germanischsprachigen Einwanderer übernahmen von der ansässigen keltoromanischen bzw. rätoromanischen und ladinischen Bevölke-
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rung eine Reihe von Bezeichnungen für typische alpine Naturerscheinungen und aus der Terminologie der alpinen Alpwirtschaft. Viele dieser Ausdrücke stammen ihrerseits aus vorrömischem Substrat. Diese Ausdrücke sind im südlichen, alpinen Oberdeutsch unterschiedlich weit verbreitet, teils, weil sie unterschiedlich weiträumig oder aus unterschiedlichen Richtungen übernommen wurden, teils, weil sie im Laufe der Zeit zurückgedrängt worden sind. Relativ weite Verbreitung haben Mense/Messe ‘(noch) nicht trächtiges Rind’ (vorröm. *mandia ‘unfruchtbar’), Troie/Treie ‘Viehweglein’ (vorröm. *troju) (hochalemannisch, südbairisch), Brente ‘Milchgefäss’ (vorröm. *brenta), (Back-)multe ‘Backtrog’ (lat. mulctra). Eher im westlichen Alemannischen verbreitet sind Ziger ‘weiße Käsemasse’ (kelt. *tsigros) (alemannisch), Nidel ‘Rahm’ (kelt. *nidlo) (alemannisch), Gumpe/Gunte ‘Pfütze’ (kelt. cumba/cumbeta) (Deutschschweiz, südliches Ostschwäbisch). Eher östliche Schwerpunkte haben Tobel ‘steiles enges Tal’ (rom. tovale ?), Brente ‘Talnebel’, Schotten ‘weiße Käsemasse’ (lat. excocta). Speziell (süd-)bairische Reliktwörter sind Granten ‘Preiselbeere’ (rom. granitta), grameilen ‘wiederkäuen’ (lat. remagulare), Taks ‘Nadelbaumzweig’ (lad. daxia < kelt. *dagisia). Manche Ausdrücke sind als Bezeichnungen von regionentypischen Erscheinungen heute auch in die Standardsprache (teils nur regional) übernommen worden, so Föhn ‘warmer Fallwind aus dem Süden’ (lat. favonius ‘warmer Wind’), Arve ‘Zirbelkiefer’ (vorröm. *arwa), Laui ‘Lawine’ (spätlat. labina), durch Schillers Theaterstück Wilhelm Tell in der missdeuteten Form Lawine vermittelt, Senn ‘Bewirtschafter einer Alp’. Seit dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit wurden aus dem Französischen und Italienischen, wie auch im Deutschen allgemein, viele Wörter übernommen, die der französischen und italienischen Hochsprache angehören. In Grenzregionen wie der Westschweiz, dem Elsass und Tirol wurden derartige Wörter oft im Direktkontakt übernommen. Daneben erfolgten Entlehnungen französischer Ausdrücke auch über den Gebrauch des Französischen als Oberschichtsprache in deutschsprachigen Gegenden. Unter diesen Bedingungen und zuweilen durch eigene Bedeutungsveränderungen sowie mit u. U. zur Unkenntlichkeit veränderter Aussprache entwickelten sie sich zu regional beschränkten spezifischen Eigentümlichkeiten der Basisdialekte, oft eine Form „gesunkenen Kulturguts“: Göller/Goller ‘oberer Teil der männlichen oder weiblichen Kleidung’ (frz. collier), Rüümme ‘Erkältung’ (frz. rhume) (westschweizerdeutsch), Guggum(b)ere ‘Gurke’ (frz. cocombre) (alemannisch, mittelbairisch in Oberösterreich), Blimoo ‘Federbett’ (SOB, 6: Kt. 28) (frz. plumeau), sich trumpiere ‘sich täuschen’ (frz. se tromper) (Elsass, Schweiz), Höflichkeitsfloskeln wie Eggsgüsi ‘entschuldigen Sie!’ (frz. excusez) (schweizerdeutsch), mersi ‘dankeschön’ (frz. merci). Vor allem das Elsass kennt eigenständige Übernahmen aus dem Französischen in der Gegenwart: Kürasch ‘Mut’ (frz. courage), Rümedisse ‘rheumatische Schmerzen’ (frz. rhumatisme), Barrik ‘kräftiger Haarwuchs’ (zu frz. perruque ‘Perücke’), Schambung ‘Schinken’ (frz. jambon). Lokal beschränkte Entlehnungen aus dem Italienischen sind in Regionen mit direktem Kontakt zu italienischsprachigen Regionen in der Nachbarschaft oder aufgrund von Beziehungen der Oberschicht oder von Einwanderungen von Gastarbeitern zu beobachten: Zappi(n)/ Sappi(n) ‘Spitzhacke’ (ital. zappino) (schweizerdeutsch, bairisch), Stattel ‘Schachtel’ (ital. scatola) (bairisch), Garette ‘Schubkarren’ (ital. carretta) (schweizerdeutsch), Trütsche ‘Zopf ’ (ital. treccia) (schweizerdeutsch), Lätsch ‘Schleife, Schlinge’ (ital. laccio) (schweizerdeutsch). In die österreichische Standardsprache aufgenommen worden sind z. B. Fisole ‘grüne Bohnen’ (aus ital. fagiole), Marillen ‘Aprikosen’ (aus ital. armellino).
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In oberdeutschen Regionen mit Kontakt zu slawischen Sprachgruppen, sind auch Wörter aus slawischen Sprachen übernommen worden (Pohl 1992, 1997; Steinhauser 1978). Relativ spärlich sind im Nordostbairischen die Entlehnungen aus dem Tschechischen: Prausbeere ‘Preiselbeere’ (tschech. brusnica), Talken ‘Pfannküchlein’ (tschech. vdolek), Pechsen ‘Obstkern’ (tschech. pecka). Häufiger sind Entlehnungen im Osten Österreichs, so im Wienerischen, von wo aus viele Entlehnungen in die Allgemeinsprache Österreichs übergegangen sind, wie Kren ‘Meerrettich’ (tschech. kren), Powidl ‘Pflaumenmus’ (tschech. powidla), Jausn ‘Zwischenmahlzeit’ (slow. južina). Aus der direkten Zweisprachigkeit Kärntens ergeben sich oft spezifische kärntnerische Entlehnungen wie Tscheafl ‘Schuhe, Sandalen’ (slow. čevlje), Schreapm ‘Becher, kleiner Topf ’ (slow. črpina), zwialn ‘klagen, jammern’ (slow. cviliti). Die Lautformen von Strankerln ‘grüne Bohnen’ (altslow. stronk ‘Schote, Hülse’, slow. strok) und Munkn ‘Speise aus geschrotetem Getreide’ (altslow. monka, slow. moka ‘Mehl’) zeigen eine relativ frühe Übernahme. Auf frühmittelalterliche Kontakte gehen die Reliktwörter slawischen Ursprungs in Osttirol zurück wie Jauch ‘Föhn’ (slaw. jug ‘süd’), Naunitze ‘Hagebutte’ (slaw. jagodnica), Zischge ‘Koniferenzapfen’ (slaw. siška) (Hornung 1964: 159).
3.3. Onomasiologische Fallstudien In der Art und Vielfalt der Heteronymie zu einem Konzept oder einer Sache, wie sie in Wortkarten repräsentiert werden, spiegelt sich, unabhängig von der geographischen Verteilung im Einzelnen, die sprachliche Auseinandersetzung von Sprechergemeinschaften mit dem entsprechenden Phänomen wider (s. dazu für das Schweizerdeutsche Lötscher 2017). Exemplarisch zeigen ‘Zuchtstier’ und ‘Wagenbremse’ zwei verschiedene Entwicklungsmuster unter unterschiedlichen historischen und sachlichen Voraussetzungen. ‘Zuchtstier’: Für die wichtigsten Erscheinungsformen des Rindes, seit alters ein wichtiges Zuchttier in der Landwirtschaft, existieren Benennungen schon aus voralthochdeutscher bis zu indogermanischer Zeit: ahd. kalb ‘junges Rind’, kuo ‘erwachsenes weibliches Rind’, far wohl ursprünglich ‘erwachsenes männliches Rind’ (als Glosse zu lat. taurus), stior wohl ursprünglich ‘Jungstier’ (als Glosse zu lat. taurus, iuvencus, vitulus). Bei ohso ist die ursprüngliche Bedeutung angesichts der unterschiedlichen Verwendungen und Entwicklungen unklar, jedenfalls nicht ausschließlich auf den kastrierten Stier bezogen. Im Althochdeutschen scheint das Wort sowohl das männliche erwachsene Rind wie die Gattung allgemein bezeichnen zu können (althochdeutsche Glossen zu bos, taurus) (vgl. auch die etymologische Herleitung aus idg. *ugh ‘feucht’, ‘befeuchten’, die auf den Stier als Samenspender verweist). Die Benennungen der verschiedenen Erscheinungsformen der Tiere der Rindergattung haben sich im Laufe der Zeit in den oberdeutschen Dialekten unterschiedlich verändert. Für das erwachsene, gebärfähige weibliche Rind ohne besondere Merkmale ist die althochdeutsche Bezeichnung kuo als Etymon, abgesehen von lautlichen Veränderungen, praktisch unverändert weitergeführt worden. Ein Anlass zu lexikalischen Innovationen scheint hier nicht vorhanden zu sein; die bestehende Ausdrucksform genügte stets den kommunikativen Bedürfnissen. Geographisch variable Veränderungen der Heteronymien erfolgten einerseits zur Differenzierung der allgemeineren Konzepte, etwa bei den altersmäßigen Zwischenstufen zwischen Geburt und geschlechtsreifem Alter oder bei Kühen mit besonderen (negativen) Eigenschaften,
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lexikalische Differenzierungen, die in der ältesten Sprache nur rudimentär vorhanden oder wohl nicht generell gebräuchlich waren, aber in der Aufzucht eine wichtige Rolle spielen (s. SDS, 8: Kt. 14−17; SOB, 5: Kt. 19−24). Anderer Natur sind die Veränderungen beim Zuchtstier. Obwohl die Funktion des Tieres in der Rinderzucht, die Haltung und das damit verbundene Konzept stets die gleichen sind, hat sich im Oberdeutschen eine reiche Heteronymie entwickelt (s. ALA, II: Kt. 5; SDS, 8: Kt. 3; SSA, IV: Kt. 5.01; SMF, 5: Kt. 71; SOB, 5: Kt. 12; SUF, 4: Kt. 51; SSA, IV: Kt. 5.01; VALTS, 5: Kt. 98; s. auch KBSA: 212). Der alte Ausdruck Far hat sich (im Unterschied zum Mitteldeutschen) nur in der Ostschweiz resthaft in der Form Pfarr erhalten. Besser etabliert in tendenziell konservativen Gebieten der Schweiz und allgemein in Mittelbayern und im nördlichen Niederalemannischen sind Stier und östlich von Nürnberg Ochse. Daneben finden sich aber in allen Regionen lexikalische Neuerungen. Die Benennungsmotive beziehen sich überwiegend auf die äußerliche Gestalt oder typisches Verhalten, nur in wenigen Fällen auf die Fortpflanzungsfunktion: Bummel, Bummer (mittel- und nordbairisch, Benennungsmotiv ‘dicke, runde Gestalt’), Hummel (nordschwäbisch, oberostfränkisch, mittelbairisch, Benennungsmotiv ‘brummen, dumpf brüllen’), Molle (südostschwäbisch, Benennungsmotiv ‘mollig, dick und weich’, nach KBSA: 213 von der Bezeichnung des kastrierten männlichen Rindes übernommen), Hagen, Hagel, Hägel u. ä. (schwäbisch, bodenseealemannisch, zu einem Stamm germ. *hag- ‘fortpflanzen’), Muni (südlich oberrheinalemannisch, südalemannisch, Benennungsmotiv ‘dumpf brummen’), Murrli (südalemannisch, Benennungsmotiv ‘dumpf brummen’), Muchel (südalemannisch, Benennungsmotiv ‘heimtückisch gebückt stehen’), Bautschi (südalemannisch, zu bautschen ‘stoßen’?). Die Heteronyme sind sachlich nicht notwendige lexikalische Innovationen, sie ersetzen lediglich einen bereits bestehenden Ausdruck für ein unverändertes Konzept. Aufschlussreich ist, dass die Benennungsmotivik mehr auf emotional-affektive Erfahrungen als auf funktionale Eigenschaften Bezug nimmt. Das heißt, die Heteronymie spiegelt eine im Vergleich zu den anderen Erscheinungsformen des Rindes besondere affektive Einstellung zum Zuchtstier. Sie ist ein Beispiel dafür, wie solche Erfahrungen sprachlich variierte Innovationen provozieren. ‘Wagenbremse’: Die fest am Wagen montierte Wagenbremse mit einem Keil, der mit einer Kurbel mit Schraubengewinde an das Rad gepresst werden kann, ist eine technische Innovation gegenüber losen Wagenbremsen, die unter das Rad gelegt werden. Die Heteronymie ist ein Beispiel für die Variationsmöglichkeiten bei der Benennung einer derartigen Sachinnovation und wie bei derartigen Innovationen in vorindustriellen Innovationsphasen regional unterschiedliche Benennungen entstehen (s. SDS, 8: Kt. 166; SMF, 8: Kt. 44; SNiB, 6: Kt. 35; SOB, 5: Kt. 163; SUF, 6: Kt. 58; SSA, IV: Kt. 5.18; SBS, 13: Kt. 88; VALTS, 5: Kt. 158; s. auch KSBS: 304). Grundlage der Benennungen sind in fast allen Fällen metonymische Bezüge auf den Zweck, ein markantes Teil oder eine charakteristische Handhabung der Vorrichtung. Solche metonymischen Benennungsverfahren sind typisch für die Bezeichnung von Instrumenten mit vorgegebenen Funktionen. Der Zweck steht bei (Ge-)Sperre im Vordergrund (nördlicher Schwarzwald, Bodenseealemannisch, mittelbairisch, Benennungsmotiv ‘Räder blockieren’); denkbar ist, dass schon die Vorgängerinstrumente diese Bezeichnung hatten und für die funktionsgleiche Innovation die hergebrachte Bezeichnung übernommen wurde. Mit Spannung (östliches Südalemannisch) wird darauf verwiesen, dass diese Wirkung durch Anspannen der Bremsklötze erreicht wird, bei (Zu-)Treibe, Trieb, Winde wird thematisiert, dass dieses Anspannen durch Zudrehen mit einer Kurbel geschieht. Schleife (ostmittelbairisch),
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Streiche (südlicher Schwarzwald), Schrepfer (südwestliches Mittelbairisch, zu mhd. schrepfen ‘ritzen, kratzen’), Scherre (südostschwäbisch, zu schwäbisch scherren ‘kratzen’) beziehen sich darauf, dass der Bremsklotz beim Andrücken an der Felge reibt. Allerdings könnten auch diese Benennungen schon für die losen, unter das Rad gelegten Keile gegolten haben. Hintergrund ist ein komplexes Assoziationsgeflecht aus Alltagserfahrungen, in dem grobes Reiben mit Hinderung einer Bewegung verknüpft wird. Die dialektale Heteronymie kann in den letzteren Fällen dadurch bedingt sein, dass auch die Ausgangsverben für ‘reiben’, ‘kratzen’, aus denen die Nomina abgeleitet sind, eine areal unterschiedliche Verteilung haben. Ganz anders ist die im Oberrhein- und Südalemannischen (daneben auch nördlich im Rheinfränkischen) verbreitete Bezeichnung Mechanik mit unterschiedlichen Weiterentwicklungen wie Mechaner, Mekaner begründet: Es handelt sich um eine Entlehnung aus dem Französischen (frz. mécanique), die darauf hindeutet, dass die Innovation ursprünglich aus Frankreich eingeführt worden ist. Auch Entlehnungen sind ein häufiges Benennungsverfahren bei importierten technischen Innovationen. Die Bezeichnung ist nicht zufällig in den westlichen deutschen Dialekten verbreitet. Im Schwäbischen ist das Wort zu Micke vereinfacht worden, was wieder zu weiteren Abwandlungen wie Bicke, Wicke(ne) geführt hat. − An vielen Orten sind im Übrigen diese alten Bezeichnungen durch Bremse ersetzt worden als Übernahme aus dem Standarddeutschen bzw. mittelbar aus dem Niederdeutschen und dort aus dem Bergbau, wo es wohl hergeleitet ist aus einer Bedeutung ‘Klemme’.
3.4. Semasiologische Fallstudien Ein einzelnes Etymon kann regional durch unterschiedliche Bedeutungsentwicklungen unterschiedliche Bedeutungen erhalten, was in synchron homonymen Heteronymen resultiert. Die unterschiedlichen Entwicklungen sind in der Regel durch Unterschiede beim Wandel auf Sachebene erklärbar. ›Korn‹: Das bekannteste Beispiel für homonyme Heteronyme ist die regional unterschiedliche Bedeutung von ›Korn‹ (s. SDS, 8: Kt. 192, Kt. 193; SMF, 5: Kt. 96; SOB, 5: Kt. 96; SUF, 4: Kt. 21; Tirol. SA, 3: Kt. 82; König 2015: 202). Auszugehen ist von der Verwendung des Wortes Korn als Kollektivbezeichnung ‘Getreide’, selbst eine Bedeutungsverschiebung von der Bedeutung ‘Samen von grasartigen Nutzpflanzen’ auf die Gesamtheit der Pflanzen, deren Ertrag in Körnerform besteht. Diese Bedeutung wurde wiederum in verschiedenen Regionen auf eine einzelne Art von derartigen Pflanzen eingeengt, vor allem auf Dinkel (so im schweizerischen Mittelland und im östlichen BadenWürttemberg) oder auf Roggen, so am Oberrhein und in mitteldeutschen und bairischen Regionen sowie im Wallis. Es handelt sich um einen regional unterschiedlichen Bedeutungswandel durch Konventionalisierung der alltäglichen stereotypen Denotation zur Bedeutung in Gegenden, wo nur eine einzige Getreideart angebaut wurde und damit nie eine Differenzierungsnotwendigkeit bestand. Die regionalen Unterschiede sind durch unterschiedliche Verbreitung der dominierenden Getreideart bedingt. ›Gaden‹: ›Gaden‹ hat im Zusammenhang mit sachgeschichtlichen Veränderungen verschiedene Bedeutung erhalten (SDS, 7: Kt. 145, Kt. 208−210, Kt. 242; SBS, 8: Kt. C; VALTS, 4: Kt. 126). Im Hintergrund steht die unterschiedliche Entwicklung des Bauernhauses und der dazugehörigen landwirtschaftlichen Gebäude. Das Etymon ist schon im Althochdeutschen als gadum belegt, allerdings fast nur als Glosse zu unterschiedlichen
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lateinischen Ausdrücken und mit unklarem Bedeutungskern. Deutlicher erkennbar ist im Mittelhochdeutschen die Verwendung als Bezeichnung für zweierlei Arten von baulichen Strukturen: einerseits Nebenräume und Räume mit einer speziellen Funktion (Kramladen, Schlafraum, Arbeitsraum), andererseits einzeln stehende kleine Gebäude, ebenfalls mit spezieller Funktion. Die doppelte Bedeutung ‘spezieller Raum’ und ‘spezielles Gebäude’, beides in Abgrenzung von Räumen und Bauten mit allgemeiner oder prototypischer Verwendung, kann zurückgeführt werden auf eine einheitliche Bedeutung ‘Räumlichkeit mit spezieller Funktion, zusätzlich zu einem Hauptgebäude’ bei einer Baukultur mit einräumigen Großhäusern, in denen (An-)Bauten und Nebenräume architektonisch noch nicht klar unterscheidbar waren. Die Entwicklung zur Polysemie erklärt sich aus der Entwicklung des Hausbaus, bei dem einerseits in komplexeren Hausbautypen Nebenbauten mit besonderen Funktionen als einzelne Räume in das Haus integriert wurden, andererseits Räume für besondere Funktionen in getrennte (An-)Bauten ausgelagert wurden. Die heutigen heteronymen dialektalen Verwendungen des Wortes führen die mittelhochdeutsche Polysemie mit zusätzlichen Spezialisierungen fort, so dass zwischen den einzelnen Dialekten markante Bedeutungsunterschiede bestehen. Sie sind u. a. auch als Resultat des Bedürfnisses zu interpretieren, für eine neuartige Art von Räumlichkeiten eine besondere Bezeichnung zu finden; diese Bezeichnungen sind unterschiedliche Spezialisierungen älterer Verwendungen. Einerseits kann Gaden eine Benennung eines speziellen Raums innerhalb des Bauernhauses sein. Im Osten des Hochalemannischen (Ostschweiz, Vorarlberg) und im Südostschwäbischen (Allgäu) wird damit ein Raum im Hauptgeschoss benannt, entweder das Elternschlafzimmer (Vorarlberg, südostschwäbisch, Allgäu) (im traditionellen Bauernhaus ein Raum hinter der großen Stube, deshalb andernorts auch Nebenstube genannt), in der Nordostschweiz und östlich des Arlbergs ein Vorratsraum neben der Küche (nach Hornung 1964 meist auch in Osttirol). Im westlichen schweizerischen Voralpengebiet bezieht sich Gaden dagegen auf das Obergeschoss, teilweise auf das ganze Obergeschoss, vor allem im nur zweistöckigen Haus, wo es effektiv der Dachraum sein kann. Bei einem ausgebauten Obergeschoss ist es auch Bezeichnung für einen (typischerweise) einfachen Schlafraum für das Gesinde oder die Kinder. Im Gotthardgebiet und Teilen des östlichen alpinen Höchstalemannisch ist Gaden demgegenüber die Bezeichnung einer landwirtschaftlichen Baute oder eines Teils davon, einerseits die Bezeichnung des Viehstalls als Teil eines Bauernhauses, daneben aber auch die Bezeichnung eines einzeln stehenden Landwirtschaftsgebäudes, so der einzeln stehenden Stallscheune oder des Heustadels abseits der eigentlichen Landwirtschaftsgebäude. Die Bedeutungsvariationen von Gaden haben immer auch einen Zusammenhang mit den Bezeichnungen der anderen Gebäudeteile und Gebäudetypen eines Bauernhofs und bilden so einen Teil eines Wortfeldes, das regional unterschiedlich strukturiert ist.
4. Raumstrukturen 4.1. Wortgeographie und lexikalische Raumstrukturen Aus der Kombination (Aggregation) von einzelnen Wortkarten lassen sich auf der Basis von regelmäßig wiederkehrenden räumlichen Verteilungsmustern allgemeinere, abstraktere Raumstrukturen rekonstruieren. In der Sprachgeographie sind unterschiedliche Raumstrukturkonzepte und -kategorien entwickelt worden, die sich ergänzen: Grenzen, ge-
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schlossene Teilräume, Mischzonen; diese können nach ihren Formen (Keil-, Trichter-, Fächer- oder Horstbildungen) und diachronen und dynamischen Hintergründen (Schranken, Staffeln) zusätzlich differenziert werden. Als Basis zur Rekonstruktion von Dialekträumen dienen in der Regel die Laut- und die Formengeographie, dies mit Grund: Die Menge der Merkmale ist zahlenmäßig begrenzt, die Variablen bilden untereinander (Teil-)Systeme, die Repräsentativität der einzelnen Variablen für das mittels Datenaggregation konstruierte Muster ist aufgrund dieser Systematizität relativ einfach abzuschätzen. Im Wortschatz dagegen ist, wie immer wieder festgestellt wird, die Menge der Variablen (Konzepte, Sachen) und deren Varianten (Heteronyme) um Dimensionen größer und die einzelnen Variablen sind untereinander nur selten systematisch verknüpft. Da Sprachatlanten beim Wortschatz gezwungenermaßen sehr selektiv sind, ist nicht a priori erkennbar, wie repräsentativ die vorkommenden Wortkarten für ein bestimmtes Raummuster sind. Die folgende Zusammenstellung baut auf den verfügbaren, sachlich und regional ungleichmäßig verteilten Informationen auf und ist als Sammlung von Fallstudien zu verstehen, welche die Übersicht in Hildebrand (1983) ergänzt. Sie schließt überwiegend bei den etablierten dialektalen Raumstrukturen an. Die Frage, wieweit wortgeographische Raumstrukturen mit den laut- und formengeographisch definierten Dialekträumen übereinstimmen, muss dabei aber offenbleiben. Auch auf die Zusammenhänge von Raumstrukturen mit historischen Hintergründen wird nicht eingegangen (s. dazu u. a. Wiesinger 1967, 1999 zum Bairischen, Reiffenstein 1955 zum Salzburger Raum, Hotzenköcherle 1984 zum Schweizerdeutschen).
4.2. Wortgeographische Grenzen und Grenzzonen (Isolexenbündel) Wortgeographische Räume werden durch Grenzzonen in der Form von Bündeln von Wortschatzdifferenzen (Isolexenbündel) geteilt. Die Bündelung erfolgt in der Realität selten in deckungsgleichen Linien, die einzelnen Isolexen verlaufen vielmehr innerhalb einer gewissen Bandbreite oder überschneiden sich. Im Begriff der Grenze als Isolexenbündel soll nicht impliziert sein, dass ein Raum dadurch vollständig durch durchlaufende Isolexen aufgeteilt wird. Es gibt viele Isolexengruppen, die sich nur auf Einzelstrecken bündeln oder in andere Bündel münden. In manchen Fällen stehen einem einzelnen Heteronym auf der anderen Seite streckenweise unterschiedliche Heteronyme gegenüber. Grenzphänomene sind Staffelungen, eine Menge von Isolexen oder Isolexenbündeln, die in einem größeren Raum parallel zueinander verlaufen. In den nachfolgenden Beispielen verweisen die Ziffern auf die Ziffern in Karte 22.1. Die in der Karte eingetragenen Grenzlinien geben ungefähr die Mitte der gestreuten Varianten an. Linie 1 − Rheingrenze/Staatsgrenze zwischen Elsass und Baden. Das Elsass und die Gegend rechts des Rheins gehören historisch einer gemeinsamen Dialektregion an (Oberrheinalemannisch). Der politischen Grenze am Rhein zwischen dem Elsass und Baden entspricht jedoch seit der politischen Trennung in vielen Fällen auch ein Wortgegensatz. Das Elsässische ist einerseits konservativer als das Badische, das stärker von der Standardsprache beeinflusst ist, andererseits assimiliert das Elsässische in vielen Bereichen französische Entlehnungen (Klausmann 1990; Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 70; s. auch Klausmann 1985). Beispiele (westliche Varianten zuerst): Mähre − Stute ‘weibliches erwachsenes Pferd’, reden − schwätzen ‘sprechen’, Sakristan − Mesmer
22. Die areale Lexik im Oberdeutschen
Kt. 22.1: Wortgeographische Grenzzonen und Räume im Oberdeutschen
‘Sakristan’, Schambong − Schunken ‘Schinken’, Krete − Kamm ‘Hahnenkamm’, gelauern − schielen ‘schielen’, Mumps − Wochentölpel/Pfuuser ‘Mumps’ (ALA, I: Kt. 239; SSA, IV: Kt. 1.04). Linie 2 − Schwarzwaldschranke, oberrheinalemannisch-schwäbische Gegensätze (s. Maurer 1942; Baur 1967); Beispiele (westliche Varianten zuerst): Fürtuch − Schurz ‘Schürze’ (SSA, IV: Kt. 3.03), Schor − Mahde ‘Reihe frisch gemähten Grases’ (SSA, IV: Kt. 5.35), Matte − Wiese ‘Grasland’ (SSA, IV: Kt. 5.39), Kleider/Plunder − Hääß ‘Kleider’ (SSA, IV: Kt. 3.01), Schleck(sel) u. ä./Mus/Guts(ele) − Gesälz ‘Marmelade’ (SSA, IV: Kt. 3.10), (Tür-)falle − (Tür-)Schnalle ‘Türklinke’ (SSA, IV: Kt. 4.03), lueg/ lue − kuck ‘schau!’ (SSA, IV: Kt. 1.13), Stickelbohne − Stangenbohne ‘Stangenbohne’ (SSA, IV: Kt. 5.08), mumen/geifern − trielen ‘Speichel rinnen lassen’ (SSA, IV: Kt. 1.17), Welle − Büschel ‘Reisigbündel’ (SSA, IV: Kt. 6.03). Die Isolexen der Schwarzwaldschranke setzen sich in manchen Fällen in der Schweiz fort, allerdings mit sehr unterschiedlichen Grenzverläufen: Die Grenze Matte − Wiese setzt sich nach Südosten fort (SDS, 6: Kt. 93). Die Gegensätze Stangenbohne − Stickelbohne (SDS, 6: 196) und Welle − Büschel (SDS, 8: Kt. 155) setzen sich in der Nordschweiz bis zum Jurakamm oder darüber hinaus ungefähr in der gleichen Richtung fort, südlich dagegen gelten andere Heteronyme. Der Gegensatz Fürtuch − Schurz ist im Schweizerdeutschen durch ein Vordringen von Schoß und zusätzliche andere Heteronyme durchbrochen (SDS, 6: Kt. 155).
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Linie 3 − oberostfränkisch/nordbairisch-nordostschwäbische Gegensätze („Schwäbische Hauptmundartlinie“); Beispiele (nördliche Varianten zuerst): Huhn − Henne ‘Huhn’, aufsetzen − aufbeigen ‘Holz aufschichten’, Kleider − Hääß ‘Kleider’, Deckbett − Zudecke ‘Federbett’ (alle nach Klausmann 2014), Dienstag/Ertag − Aftermontag ‘Dienstag’ (SMF, 5: Kt. 3), Bart/Kinnbart − Kinner ‘Kinn’ (SMF, 5: Kt. 36), Schurzer − Schurz ‘Schürze’ (SMF, 5: Kt. 47), Krabbe/Krahe − Rabe ‘Rabe’ (SMF, 5: Kt. 95). Linie 3a − Beispiele (nördliche Varianten zuerst): eines − etwer ‘jemand’ (SMF, 5: Kt. 10), Tagler/Tagwerker − Tagelöhner ‘Taglöhner’ (SMF, 5: Kt. 18), schleife(r)n − schlurfen/schlarfen ‘schlurfen’ (SMF, 5: Kt. 44), Knoten − Knopf ‘Knoten’ (SMF, 5: Kt. 50), (Mist-)Karren − (Mist-)Bäre ‘einrädriger Karren’ (SMF, 5: Kt. 69), Eiße − Geschwär/Geiße ‘Furunkel’ (SMF, 5: Kt. 15). Linie 4 − Nordbairische Westschranke: oberostfränkisch-nordbairische Gegensätze; Beispiele (nordwestliche Variante zuerst): Spreißel − Spieß ‘Holzsplitter in der Haut’ (SMF, 5: Kt. 40), anziehen − anlegen ‘(sich etwas) anziehen’ (SMF, 5: Kt. 45), Schurzer − Fleck ‘Schürze’ (SMF, 5: Kt. 47), Kloß/Klöß − Knödel ‘Kartoffelkloß’ (SMF, 5: Kt. 52), rupfen − zupfen ‘(Beeren) pflücken’ (SMF, 5: Kt. 67), (Säu-)Beiß − Bär ‘Zuchteber’ (SMF, 5: Kt. 78). Linie 5 − Lechgrenze: schwäbisch-bairische Gegensätze; Beispiele (westliche Variante zuerst): strählen − kämpeln ‘kämmen’ (SBS, 2: Kt. 7), Kirchweih − Kirchtag ‘Kirchweih’ (SBS, 2: Kt. 135), lugg/lua(g) − schau(g) ‘schau!’ (SBS, 2: Kt. 68), Schurz − Fürtuch ‘Schürze der Frau’ (SBS, 2: Kt. 152), haaren − raffen/ropfen ‘raufen’ (SBS, 10: Kt. 16), Bahre/Sarg − Truhe ‘Sarg’ (SBS, 2: Kt. 123), schaffen − arbeiten ‘arbeiten’ (SBS, 2: Kt. 87), Randig/Rande − Ranne/Rahne ‘rote Bete’ (KBSA: 244), kratteln/klettern − kräxeln ‘klettern (auf einen Baum)’ (SBS, 10: Kt. 18), Magd/Mäd − Dirne/Määdlein ‘Dienstmagd’ (SBS, 10: Kt. 174). Viele Isolexen verlaufen in einiger Distanz parallel zum Lech, aber weiter westlich oder östlich, was den ganzen Raum zu einer breiten schwäbisch-bairischen Übergangszone macht. Westlich des Lech verlaufen beispielsweise als „bairische Vorstöße“ im Schwäbischen (westliche Beispiele zuerst) scheiten/spalten/u. ä. − klieben ‘(Brennholz) spalten’ (SBS, 13: Kt. 24), Dille/Diele − Laden ‘dickes Brett’ (SBS, 13: Kt. 44), Ägen/ Angeln/Borsten/u. ä. − Gräten ‘Barthaare der Gerste’ (SBS, 12: Kt. 143), schwätzen − reden ‘sprechen’ (SBS, 2: Kt. 59). Östlich des Lech verlaufen als „schwäbische Vorstöße“ im Bairischen etwa Fronleichnam(s-tag) − Antlass(pfinz)-Tag ‘Fronleichnam’ (SBS, 2: Kt. 134), (aus)gruben − rasten ’ausruhen’ (SBS, 2: Kt. 83), trielen − tremsen/trensen ‘Speichel rinnen lassen’ (SBS, 2: Kt. 43). Arlberggrenze (Linien 6a und 6b): Am Arlberg findet sich ein dichtes Isolexenbündel, das den Arlberg zu einer markanten Grenze macht (Klausmann 2002). Linie 6a − Viele Isolexen am Arlberg setzen Isolexen an der Lechgrenze (Linie 5) fort (Klausmann 2014: 86); Beispiele (westliche Form zuerst): strählen − kämpeln ‘kämmen’ (VALTS, 5: Kt. 20), Randen − Ranen ‘rote Bete’ (VALTS, 5: Kt. 59), Hääß − Gewand ‘Kleider’ (VALTS, 5: Kt. 55), arbeiten − schaffen ‘arbeiten’ (VALTS, 5: Kt. 60). Linie 6b − In manchen Fällen trennen die Isolexen am Arlberg andere Heteronyme als die Isolexen an der Lechgrenze, entweder, weil im westlichen Vorarlberg hochalemannische statt schwäbische oder gemeinalemannische Heteronyme oder weil im östlichen Westtirol spezielle südbairische statt gesamtbairische Heteronyme gelten. Nicht selten handelt es sich dabei um romanische Relikt- oder Lehnwörter, manchmal, in Fällen
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wie ‘Alpenerle’, um spezielle alpine Erscheinungen, die im Voralpengebiet Bayerns nicht vorkommen. Beispiele (westliche Variante zuerst): beig(n)en − leggen ‘(gespaltenes Holz) aufschichten’ (VALTS, 5: Kt. 34), Truse − Lutterne ‘Alpenerle’ (VALTS, 4: Kt. 106), Gürgitsch u. ä. − Faulbeere ‘Eberesche’ (VALTS, 4: Kt. 107), Fatzenettle − Schneuztuch ‘Taschentuch’ (VALTS, 4: Kt. 105a), Hess − Pea(r)tsch ‘Zuchteber’ (VALTS, 4: Kt. 174), verschwellen − technen ‘Fässer dicht machen’ (VALTS, 5: Kt. 16). Bairisch-österreichische Ost-West-Unterschiede (Linien 7–9): Eine Staffel von Isolexenbündeln verläuft im östlichen Teil des bairischen Dialektraums in Österreich. Linie 7 − Deutsch-österreichische Staatsgrenze; Beispiele (westliche Varianten zuerst): Schreiner − Tischler ‘Schreiner’, sich erkälten − sich verkühlen ‘sich erkälten’, Pünkel − Tübel ‘Beule’, Stoppel − Stöpsel ‘Flaschenkorken’ (Wiesinger 1988: Kt. 13). Die Grenze etabliert sich u. a. auch dadurch, dass ursprüngliche grenzüberschreitende Regionalismen in Österreich in die Standardsprache übertreten, in Bayern dagegen durch bundesdeutsche Varianten ersetzt werden und lokal zu basisdialektalen Varianten „absinken“; Ausdrücke wie Erdapfel ‘Kartoffel’, Kren ‘Meerrettich’ oder Topfen ‘Quark’ haben also diesseits und jenseits der Grenze einen anderen soziolinguistischen Status (Scheuringer 1990: 374). Linie 8 − Westbairisch-oberösterreichische Gegensätze (Reiffenstein 1955; Wiesinger 1988); Beispiele (westliche Variante zuerst): Weinbeere − Ribisel ‘rote Johannisbeere’, barfuß − bloßfüßig ‘barfuß’, Gagummer/Gummerer/u. ä. − Umurke/Ungerte/Murke/u. ä. ‘Gurke’, Hagebutte/Arschkitzel/u. ä. − Hetschipetschi ‘Hagebutte’, Pünggel − Tübel, Tüppel ‘Beule’, Brotzeit u. ä./Untern − Jause ‘Zwischenmahlzeit am Nachmittag’ (SAO, IV: Kt. 10), Katarrh/Sucht − Strauke ‘Schnupfen’ (SAO, IV: Kt. 63), gigetzen − stigetzen ‘stottern’ (SAO, IV: Kt. 69), laufen − rennen ‘sich schnell zu Fuß fortbewegen’ (SAO, IV: Kt. 71), Hadern − Fetzen ‘Putztuch’ (SAO, IV: Kt. 117), Imp − Beie ‘Biene’ (SAO, IV: Kt. 192). Linie 9 − Beispiele (westliche Varianten zuerst): Metzger − Fleischhacker ‘Metzger’ (SAO, IV: Kt. 24), Beerl − Zaherl ‘Träne’ (SAO, IV: Kt. 48), zu lang kommen − zu spät kommen ‘zu spät kommen’ (SAO, IV: Kt. 98), kallen − kelzen ‘bellen (vom Hund)’ (SAO, IV: Kt. 145). Südostbairische (bairisch-österreichische) Grenzlinien (Linien 10–13): Linie 10 − Salzburger-Osttiroler/Kärntner Gegensätze; Beispiele (nördliche Variante zuerst): Brambeere − Kratzbeere ‘Brombeere’, Impeere − Himbeere ‘Himbeere’, beiten − warten ‘warten’, Greu(n)gge − Grieben ‘Grieben’ (Reiffenstein 1955), Tauernwind/warmer Wind − Jauch ‘Föhn’ (Hornung 1964: 156). Linie 11 − Mittelbairische-südbairische Gegensätze: Der Übergang zwischen Mittelbairisch und Südbairisch in der Steiermark ist durch eine breite Zone von Staffeln gekennzeichnet. Erwähnt als Beispiel sei das wichtigste Isolexenbündel entlang dem Kamm der Niederen Tauern bis Mürzzuschlag (obersteirische Hauptschranke) (nördliche Variante zuerst): Gang − Laube ‘Hausgang’, (Spritz-, Spreng-, Gieß-)Kannel − (Spritz-, Spreng-)Krug/Amper ‘Gießkanne’, Agrasel − Migetze/Meigetze ‘Stachelbeere’ (Wiesinger 1967). Linie 12 − Weststeirisch-mittelsteirische Gegensätze (westliche Varianten zuerst): Engerling − Brachwurm ‘Engerling’, Kaulquappe − Kochlöffel ‘Kaulquappe’, Graupen − Grängge ‘Speckgriebe’ (Wiesinger 1967: Kt. 12).
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Linie 13 − Oststeirisch-burgenländische Gegensätze (westliche Varianten zuerst): bauen − ackern ‘pflügen’, Erdapfel − Grundbirne ‘Kartoffel’, Möhre − Murke(rl) ‘Karotte’, Hetschepetsch − Hetscherl ‘Hagebutte’ (Wiesinger 1967: Kt. 1 u. 4). Zu weiteren Grenzlinien im Südostbairischen s. Reiffenstein (1955) und Wiesinger (1967). Linie 14 − Hochalemannisch-niederalemannisch/schwäbische Gegensätze (SundgauBodensee-Linie): Die Sundgau-Bodensee-Linie zieht sich als breit gestreutes Bündel von Isolexen vom Sundgau im Süden des Elsass durch den Südschwarzwald und den Hegau bis zur Region nördlich des Bodensees. Vor allem die Region nördlich des Bodensees ist ein breites Schwankungsgebiet zwischen Oberschwäbisch und Bodenseealemannisch ohne klare Konturen (Klausmann 2014: 133−138). Viele Isolexen gelten nur für Teilabschnitte oder nehmen an einem Ende einen anderen Verlauf. Ein Einschnitt findet sich häufig in der Gegend zwischen der Wutach und dem Untersee am Bodensee. Linie 14a − Westlicher Abschnitt der Sundgau-Bodensee-Linie; Beispiele (nördliche Variante zuerst): hoppen − gumpen ‘(herunter-)springen’ (ALA, I: Kt. 205; SSA, IV: Kt. 1.16), trielen − geifern ‘geifern’ (SSA, IV: Kt. 1.17), räupsen − gorpsen ‘rülpsen’ (SSA, IV: Kt. 1.07), lei (mhd. læwe) − leise (mhd. lîse) ‘zu wenig gesalzen’ (SSA, IV: Kt. 3.27), pfetzen − klemmen ‘kneifen’, Wadel − Schwanz ‘Kuhschwanz’ (Schrambke 1997: Kt. 7). Bis zum Bodensee-Obersee verläuft die Isolexe staggsen/stottern − staggeln ‘stottern’ (SSA, IV: Kt. 1.08). Linie 14b − Östlicher Abschnitt der Sundgau-Bodensee-Linie; Beispiel (westliche Variante zuerst): Gluggsi/-er − Hägger ‘Schluckauf ’ (SSA, IV: Kt. 1.06). Linie 14a−14b − Eine Kombination von Heteronymenpaaren stellen die Isolexen von ‘Sommersprossen’ dar, die im Westen im Gegensatz Riselen − Laubflecken und im Osten in einem solchen von Riselen − Märzenriselen (SSA, IV: Kt. 1.04) realisiert werden. Linie 2−14 − Kombinationen von Teilen der Schwarzwaldschranke (Linie 2) und der Sundgau-Bodensee-Schranke (Linie 14); Beispiele (westlich-südliche Varianten zuerst): guck! − lueg! ‘schau’ (SSA, IV: Kt. 1.13), Steckenbohne − Stangenbohne ‘Stangenbohne’ (SSA, IV: Kt. 5.08), Grießbapp − Grießmus ‘Grießbrei’ (SSA, IV: Kt. 3.13), Gertner − Reb-/Gertmesser ‘Haumesser’ (SSA, IV: Kt. 6.04). Linie 15 − Badisch-schweizerische Grenze vom Hochrhein zum Bodensee: Aufgrund der unterschiedlichen Diglossieverhältnisse entwickeln sich zunehmend Gegensätze entlang der politischen Grenze Deutschland-Schweiz an Hochrhein und Bodensee (s. Schifferle 1990). Beispiele (nördliche Variante zuerst): gleich (/glii/) − grad ‘sogleich’, ein wenig (/e weng/) − ein klein (/e chlii/) ‘ein wenig’, schwätzen − reden ‘sprechen’, Bratkartoffeln − Rösti ‘geraffelte, gebratene Kartoffeln’ (allerdings mit sachlichen Unterschieden), Korken − Zapfen ‘Flaschenkorken’.
4.3. Wortgeographische Räume Innerhalb eines Sprachraumes können Teilräume mit lexikalischen Gemeinsamkeiten identifiziert werden. Im Idealfall wird ein Teilraum durch eine kohärente Grenze, z. B. eine zusammenhängende Strecke von Isolexenbündeln umschlossen und von anderen Teilräumen abgegrenzt. Räume haben, da Grenzen in der Regel Zonen bilden, ebenfalls gewöhnlich Übergangszonen zu anderen Räumen. Räume können auch negativ definiert sein: als Teilräume, die in sich wortgeographisch gegliedert sind, nach außen sich aber
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wiederum insgesamt von denjenigen aller anderen Teilräume unterscheiden. Räume gliedern sich in der Regel wieder in Teilräume auf. Je nach Auswahl und Kombination der Variablen kann eine Region gleichzeitig verschiedenen Räumen angehören. Exemplarisch hat das Hotzenköcherle (1984) anhand des Schweizerdeutschen gezeigt: Das schweizerische Alemannische kann west-östlich und nord-südlich in Teilräume gegliedert werden; dazu kommen noch Teilräume wie der Gotthardraum, welche diese Kreuzung nochmals überlagern. Die folgenden Beispiele sind eine lückenhafte Auswahl im Sinne von Fallstudien aufgrund der vorhandenen Literatur. Angesichts der meist sehr unterschiedlichen Geltungsbereiche der kennzeichnenden Wörter werden in der Karte keine Grenzlinien angegeben, sondern mit der Sigle nur das Zentrum des jeweiligen Gebiets. Raum B − Bairisch: Das Bairische wird als wortgeographische Einheit seit Kranzmayer (1960) mittels der sogenannten „Kennwörter“ zu erfassen versucht, Wörter, die spezifische Eigenarten des Bairischen darstellen, da sie in allen Dialekten des Bairischen, nicht aber in den angrenzenden Nachbardialekten vorkommen (s. auch Wiesinger 1988). Als derartige Kennwörter mit einer längeren Geschichte gelten das Etymon Kranewit ‘Wachholder’ mit zahlreichen nachträglichen Abwandlungen und Umdeutungen wie Krawit, Kram(b)ets-/Kramlstaude, Ergetag ‘Dienstag’, Pfinztag ‘Donnerstag’, Kirchtag ‘Kirchweihfest’, tengg ‘links’. Die areale Geltung auch von Kennwörtern verändert sich diachron oft stark, so dass sich in einer rein geographischen Definition der Status einzelner Lexeme als Kennwörter ändern kann. Das sehr alte Kennwort Pfait ‘Hemd’ ist heute im Rückzug begriffen und erscheint synchron als Grenzfall eines für die Gegenwartssprache repräsentativen Kennwortes. Dafür ist aus einer innerbairischen Perspektive das an andern Orten weit verbreitete Fürtuch ‘Schürze’ dadurch zu einem bairischen Kennwort geworden, dass in den schwäbischen und fränkischen Nachbardialekten Schoss oder Schurz gelten. Andere Ausdrücke, die ebenfalls gesamtbairisch gelten und das Bairische heute von den benachbarten Dialekten unterscheiden, sind Odel ‘Jauche’ (KBSA: 226), (An-)Scherzl ‘Brotanschnitt’ (KBSA: 162), brandeln ‘brenzlig riechen’ (KBSA: 153), Topfen ‘Quark’ (KBSA: 160). Raum B-M-N − Mittelbairisch-nordbairischer Übergangsraum: Vor allem in einem mittleren Bereich Bayerns ist die Staffelung der Außengrenzen von Ausdrücken, die wortgeographisch als typisch bairisch erscheinen können, breit gefächert. Bis weit in den Norden, z. T. nördlich von Bayreuth, aber nicht im westlichen Ostfränkischen, gelten (Spül-/Aufwasch-)Hader ‘Spüllappen’ (KBSA: 188; SMF, 4: Kt. 54), Änterer ‘Enterich’ (KBSA: 203). Relativ nördlich, entlang einer Linie Nürnberg − Bayreuth, verläuft die Nordgrenze von Er(ch)tag ‘Dienstag’ (KBSA: 102), (geschnittener) Bär ‘kastrierter Eber’ (KBSA: 210), Halme ‘Getreidestoppeln’ (KBSA: 236). Relativ südlich, entlang einer Linie, die parallel zur Donau und bei Regensburg und Cham verläuft, endet die regionale Geltung für Schnaggl u. ä. ‘Schluckauf ’, Topfen ‘Quark’ (KBSA: 160), schwaiben ‘Wäsche klarspülen’ (KBSA: 174), Staunze/Stanze ‘Stechmücke’ (KBSA: 192), Raanen/Rannen ‘rote Bete’(KBSA: 244) und Reibe ‘Wegbiegung’ (KBSA: 252). Noch weiter südlich endet die Geltung von Dirnlein (Dirndl) ‘Mädchen’ (KBSA: 112), Hutsche ‘Hängeschaukel’ (KBSA: 128), gnagsen, gnagetzen ‘knarren von neuen Schuhen’ (KBSA: 126). Durch diese Überschneidungen von Wortregionen konstituiert sich für das mittlere Bayern in einer Grenzzone zwischen Mittelbairisch und Nordbairisch ein eigener wortgeographischer Raum, der dadurch definiert ist, dass der Wortschatz wortspezifisch zusammengesetzt ist aus Gemeinsamkeiten mit dem Norden und dem Süden.
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Raum RÜ − Rieser Übergangsgebiet: Die Gegend zwischen Jagst und Donau (das Ries) bildet ein Übergangsgebiet zwischen Schwäbisch und Bairisch. Schwäbische Merkmale sind Aftermontag ‘Dienstag’, Hääß ‘Kleidung’, Häcker ‘Schluckauf ’, Schurz ‘Schürze’, Gsälz ‘Marmelade’, bairisch sind Treid ‘Getreide’ (KBSA: 232), Kretze ‘Holzkorb’ (KBSA: 182). Dazu kommen spezifische Besonderheiten dieser Gegend: Schotten ‘Quark’ (SBS, 11: Kt. 69), Schlegel ‘Hanfbreche’ (SBS, 12: Kt. 153), Weller ‘Haumesser für Reisig’ (SBS, 13: Kt. 38), Klui ‘Wollknäuel’ (SBS, 10: Kt. 45), Rumundnum ‘zerkleinerter Pfannkuchen’ (SBS, 10: Kt. 111), Spälter ‘Holzsplitter in der Haut (KBSA: 136) (s. a. Klausmann 2014: 72−77). Räume LR und AF − Lechrain und Außerfern: Einen Wortschatzraum mit vielen Gemeinsamkeiten, u. a. Überlagerungen von schwäbischen und oberbairischen Merkmalen bildet das Gebiet östlich des Lechs zwischen Augsburg und Füssen; in Bezug auf diese Eigenarten schließt sich südlich der Außerfern an (Klausmann 2014: 81−87). Schwäbische Merkmale: ausruhen (SBS, 2: Kt. 83; VALTS, 5: Kt. 13), trielen (SBS, 2: Kt. 43), bafen (Außerfern) (VALTS, 4: Kt. 43) ‘geifern’; bairische Merkmale: Kirchtag ‘Kirchweihfest’, Dirne ‘Magd’, kämpeln ‘kämmen’, Fäcklein ‘Ferkel’; lechrainische Besonderheiten: Schniekel ‘Kinn’ (SBS, 2: Kt. 17), Klotzen ‘Fensterladen’ (SBS, 8: Kt. 25), Balken ‘Fenstersims’ (VALTS, 4: Kt. 129), aufhacken ‘Brennholz spalten’ (VALTS, 5: Kt. 23). Raum B-SO − Oststeiermark, südöstliches Niederösterreich und Burgenland: Grundbirne ‘Kartoffel’, Augenhülle ‘Augenlid’, Getreide ‘Korn’ (Wiesinger 1967: 128). Für weitere Raumstrukturen im Südostbairischen s. Reiffenstein (1955) und Wiesinger (1967). Raum A − Alemannisch: Das Alemannische ist wortgeographisch in sich stark gegliedert (Klausmann, Kunze & Schrambke 1997; Klausmann 2014). Gesamtalemannische „Kennwörter“, die das Alemannische als einheitlichen wortgeographischen Raum abgrenzen würden, gibt es nur wenige (Klausmann 2004). Nach Kleiber (1980) können als solche Kennwörter Öhmd ‘zweiter Grasschnitt’ (ahd. âmat), Lande ‘Gabeldeichsel’, daien ‘wiederkäuen’ und Kauter ‘Täuberich’ gelten. Klausmann (2004) fügt diesen noch räußig ‘brünstig (beim Schwein)’, Kriese ‘Kirsche’, Zistag ‘Dienstag’ und beigen ‘(Holz) aufeinanderstapeln’ hinzu. Alle diese Wörter reichen allerdings entweder weiter als das Alemannische, wie es aufgrund lautlicher und morphologischer Kriterien definiert ist, oder gelten nicht in allen alemannischen Regionen, so dass ihr Status als „Kennwörter“ relativiert werden muss. Der alemannische Raum kann in verschiedene Teilräume gegliedert werden, die wiederum in sich unterteilt werden können. Raum SW − Schwäbisch als übergreifender Raum: Kratten ‘Holzkorb’ (SSA, IV: Kt. 4.09), Hääß ‘Kleid’ (SSA, IV: Kt. 3.01; KBSA: 134), klemmen ‘kneifen’ (SSA, IV: Kt. 1.10), trielen ‘Speichel rinnen lassen’ (SSA, IV: Kt. 1.17), schwätzen ‘reden’. Raum SW-W − Westschwäbisch: Deete ‘Taufpate’ (SSA, IV: Kt. 2.15), Risemen ‘Sommersprossen’ (SSA, IV: Kt. 1.04), Glutzger ‘Schluckauf ’ (SSA, IV: Kt. 1.06), Hummel ‘Zuchtstier’ (SSA, IV: Kt. 5.01), Grundbirne ‘Kartoffel’ (SSA, IV: Kt. 5.24), anbrennen ‘(elektrisches Licht) einschalten’ (SSA, IV: Kt. 4.22). Raum SW-O − Ostschwäbisch: Birling ‘Heuhaufen’ (SSA, IV: Kt. 5.33; SBS, 12: Kt. 71), Riselen (Westen), Ross-/Rosenmuggen (Osten) ‘Sommersprossen’ (SSA, IV: Kt. 1.04; KBSA: 140), Gschnuder, Gschnäuf (Zentrum) ‘Katarrh’ (SSA, IV: Kt. 1.12; SBS, 2: Kt. 16), Hägger, Hescher (Südosten) ‘Schluckauf ’ (SSA, IV: Kt. 1.06; KBSA:
22. Die areale Lexik im Oberdeutschen
146). In einigen Fällen gelten ostschwäbische Lexeme auch im Bodenseealemannischen: jucke ‘(hinunter)springen’ (SSA, IV: Kt. 1.09) Raum A-W + A-S − West- und Südalemannisch: Das Gebiet des Oberrheinalemannischen, Bodenseealemannischen und Südalemannischen, also tendenziell der nicht-schwäbische Raum im Alemannischen, erscheint bei einigen Wortschatzvariablen als ein zusammenhängender wortgeographischer Raum (Raum A-W/S): laufen ‘gehen’, schimpfen ‘tadeln’, trolen, trölen ‘rollen, wälzen’ (s. ElsWB; SWB), lugen ‘schauen’ (SSA, IV: Kt. 1.13), geifern ‘Speichel rinnen lassen’ (SSA, IV: Kt. 1.17; SDS, 4: Kt. 81). Raum A-S − Südalemannisch: Einen eigenen Wortschatzraum mit vielen gemeinsamen Heteronymen bildet das Südalemannische mit der Sundgau-Bodensee-Schranke als Nordgrenze, im Süden oft begrenzt durch das Höchstalemannische: Nüsslisalat ‘Feldsalat’ (Post 2010: 31), gumpen ‘springen’, Halm ‘Axtstiel’ (Klausmann, Kunze & Schrambke 1997: 62; SDS, 8: Kt. 137; VALTS, 5: Kt. 29). Raum R-B − „raurachisch-burgundischer“ Raum: Eine Reihe von lexikalischen Gemeinsamkeiten konstituiert einen wortgeographischen Raum im südwestlichen Teil des Südalemannischen zwischen dem Sundgau, oft mit dem Breisgau, dem Jura bis in das Berner Seeland und Aaretal: gruupe ‘kauern’ (ALA, I: Kt. 115; SDS, 4: Kt. 39), malen/ mäle, mauen/mäuen ‘wiederkäuen’ (ALA, II: Kt. 17; SDS, 8: Kt. 27; SSA, IV: Kt. 5.05), Urschi, Ursi u. ä. ‘Gerstenkorn’(ALA, I: Kt. 247; SDS, 4: Kt. 53; Post 2010: 374), (Grieß-)Bappe ‘Grießbrei’ (SDS, 5: Kt. 193; SSA, IV: Kt. 3.12). Raum CH − Schweizerdeutsch: Das Schweizerdeutsche bildet, oft mit dem Alemannischen in Lichtenstein und Vorarlberg, als Gesamtheit mit sehr vielen eigenen Lexemen einen einheitlichen wortgeographischen Raum, auch wenn die entsprechenden Lexeme selten in Sprachatlanten erscheinen: Beiz ‘(einfaches) Gasthaus’, Pöstler ‘Briefträger’, lismen ‘stricken’, tschutten ‘Fußball spielen’, posten ‘einkaufen’, gäbig ‘praktisch, nützlich, hilfreich’, tüppig ‘schwül’, extra ‘absichtlich’. Zum von anderen Räumen sprachlich abgegrenzten Raum wird das Schweizerdeutsche zunehmend dadurch, dass in der etablierten Diglossie viele traditionelle basisdialektale Ausdrücke bewahrt werden, die in außerschweizerischen Dialekten unter dem Einfluss der Standardsprache und der Regionaldialekte zunehmend verschwinden, etwa losen ‘horchen’, Stege ‘Treppe’, Guttere ‘(bauchige) Flasche’. Auch neuere Erscheinungen als Übernahmen aus spezifisch schweizerischen standardsprachlichen Ausdrücken, oft Entlehnungen aus dem Französischen, finden im Basisdialekt ihren Platz: Bileet ‘Fahrkarte, Führerschein’ (frz. billet), Komfi ‘Marmelade’ (frz. confiture). Zu weiteren dialektalen Kleinräumen im Schweizerdeutschen s. Hotzenköcherle (1984).
4.5. Großräumigkeit − Kleinräumigkeit der Heteronymie Bei der Suche nach übergreifenden wortgeographischen Grenzen und Zonen gerät tendenziell aus dem Blick, dass Wortkarten sehr unterschiedliche Diversitätsgrade (Heteronymenmengen und -dichte) aufweisen können. Im Mittelbairischen beispielsweise besteht bei den bairischen „Kennwörtern“ (dies definitionsgemäß), aber auch bei anderen Begriffen wie ‘pflügen’ (SOB, 5: Kt. 84, ackern), ‘Biene’ (SOB, 5: Kt. 48, Imm[p]e), ‘Nachttopf ’ (SOB, 6: Kt. 29, Nachthafen), ‘Wasserhahn’ (SOB, 6: Kt. 30, Wechsel), ‘Schluckauf ’ (SOB, 6: Kt. 46, Schnackler) u. v. a. m. völlige lexikalische Einheitlichkeit, wogegen bei ‘Heuboden’ (SOB, 2: Kt. 8), ‘Büschel von grobem Reisig’ (SOB, 5: Kt. 77),
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
‘Haumesser’ (SOB, 5: Kt. 78), ‘Aufbewahrungsort für Getreide’ (SOB, 5: Kt. 117) oder ‘Tränkkübel’ (SOB, 5: Kt. 28) eine große Anzahl Heteronyme breit gestreut ist. Abgesehen von den sachlichen und soziologischen Hintergründen derartiger Unterschiede („Verkehrsnähe“ bzw. „Verkehrsferne“ in der Terminologie Kranzmayers 1956: IX; s. auch Lötscher 2017: 363−366) stellt sich die Frage, wieweit stark diversifizierte Wortkarten die Konstruktion von Grenzzonen und wortgeographischen Räumen und überhaupt von Raumtypologien wie jene in Hildebrandt (1983) relativieren oder bestätigen. Auf diese Frage, die selten untersucht wird, gibt es wohl keine allgemein gültige Antwort. Die einzelnen Regionen im Oberdeutschen zeigen unterschiedliche Strukturbedingungen. An der Lechgrenze folgen auch Isolexen, die kleinere Teilräume ausgrenzen, den allgemeineren markanteren Grenzverläufen. Vergleichbar zeigt der ALA für das Elsass fast nur parallele, nord-südlich gestaffelte Isolexen mit west-östlicher Richtung, ein Musterfall für eine einheitlich strukturierte Staffellandschaft, in die sich auch kleinräumige Raumstrukturen fügen. Ganz andere Verhältnisse zeigt für den oberostfränkischen Raum der SMF, dessen Wortkarten vielfach so unterschiedliche Heteronymenverteilungen und Isolexen aufweisen, dass eine übergeordnete Strukturierung des Raums, bei der sich alle Teilräume in eine Gesamtstruktur einordnen lassen würden, nicht ohne weiteres herstellbar ist. So lassen sich Karten wie SMF, 5: Kt. 27 ‘Gerstenkorn am Auge’, SMF, 5: Kt. 44 ‘schlurfen’, SMF, 5: Kt. 59 ‘Pökelgefäß’ oder SMF, 5: Kt. 63 ‘Schultasche’ kaum in die etablierte Einteilung der Sprachräume in Mittelfranken nach SMF, 5: 18 eingliedern. Die Teilregionen des Oberdeutschen unterscheiden sich auch darin, wie heterogen die Heteronymie beim gleichen Inhalt ist. Das Mittelbairische ist lexikalisch sehr häufig ein weitgehend homogener Raum mit einem oder höchstens zwei oder drei Heteronymen für einen Inhalt, wo bei den gleichen Themen die Lexik im Alemannischen und besonders im Südalemannischen areal oft sehr stark diversifiziert ist. Für ‘Jauche’ wird in SOB, 5: Kt. 48 ein einziges Heteronym angegeben, in SDS, 7: Kt. 230 elf Heteronyme, für ‘Schluckauf ’ in SOB, 2: Kt. 46 ein einziges Heteronym, in SSA, IV: Kt. 1.06 ca. acht (wenn die morphologischen Varianten eines Typs zusammengezählt werden), in SDS, 4: Kt. 71 ca. 18; für ‘Katarrh’ finden sich in SOB, 2: Kt. 41 drei Heteronyme, in SSA, IV: Kt. 1.12 ca. drei, in SDS, 4: Kt. 63 ca. 29, wenn man morphologische Varianten zusammenzählt, für ‘Knarren neuer Schuhe’ in SOB, 2: Kt. 25 drei Heteronyme, in SSA, IV: Kt. 3.16 35 Heteronyme, in SDS, 5: Kt. 133 ca. 27, für ‘Zuchtstier’ in SOB, 5: Kt. 12 im Wesentlichen zwei Heteronyme, in SSA, IV: Kt. 5.01 drei, wenn man die Varianten zu Hagen/Hagel als eine Variante zählt, im SDS, 8: Kt. 3 ca. acht. Hintergrund derartiger regionaler Diversitätsunterschiede sind geographische, verkehrsmäßige und politische Strukturunterschiede zwischen den betreffenden Regionen. Mittelbairisch liegt in einer geographisch und verkehrsmäßig offenen, politisch seit langem einheitlichen Region, wogegen die Schweiz eine geographisch kleingekammerte Region mit zahlreichen Verkehrshindernissen ist, deren Teilregionen zudem politisch und kulturell ein stark ausgeprägtes regionales Identitätsbewusstsein haben.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte Sonderegger, Stefan 1962 Die schweizerdeutsche Mundartforschung 1800−1959: bibliographisches Handbuch mit Inhaltsangaben. Frauenfeld: Huber. Sonnleithner, Ignaz von 1824 Idioticon Austriacum, das ist: Mundart der Oesterreicher, oder Kern ächt österreichischer Phrasen und Redensarten, von A bis Z, 2. Aufl. Wien: Wimmer. Spreng, Johann Jacob 2014 [1768] Idioticon Rauracum, oder, Baseldeutsches Wörterbuch von 1768, hrsg. von Heinrich Löffler. Basel: Schwabe. SSA = Steger, Hugo, Eugen Gabriel & Volker Schupp (Hrsg.) 1989−2012 Südwestdeutscher Sprachatlas. Marburg: Elwert. Stalder, Franz Joseph 1806−1812 Versuch eines Schweizerischen Idiotikon mit etymologischen Bemerkungen untermischt, 2 Bde. Aarau: Sauerländer. Stalder, Franz Joseph 1994 Schweizerisches Idiotikon, mit etymologischen Bemerkungen untermischt, samt einem Anhang der verkürzten Taufnamen, hrsg. von Niklaus Bigler (Sprachlandschaft 14). Aarau: Sauerländer. Steiner, Emil 1921 Die französischen Lehnwörter in den alemannischen Mundarten der Schweiz. Wien: Holzhausen & Basel: Wepf. Steinhauser, Walther 1952 Germanische Graswirtschaft und deutsche Wortgeographie. Zeitschrift für Mundartforschung 20. 65−92. Steinhauser, Walter 1978 Slawisches im Wienerischen, 2. Aufl. Wien: Verlag des Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Oesterreichs. SUF = Wolf, Norbert Richard & Sabine Krämer-Neubert (Hrsg.) 2005−2008 Sprachatlas von Unterfranken, 7 Bde. Heidelberg: Winter. SWB = Schweizerisches Idiotikon 1881 ff. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Begonnen von Friedrich Staub und Ludwig Tobler, fortgesetzt von Albert Bachmann. Frauenfeld: Huber / Basel: Schwabe. Tallen, Maria 1963 Wortgeographie der Jahreszeitennamen in den germanischen Sprachen. Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen 2. 159−230. Thurnheer, Margrit 1938 Benennungsmotive bei Insekten, untersucht an schweizerdeutschen Insektennamen. Winterthur (Diss. Zürich). Tirol. SA = Klein, Karl Kurt, Ludwig Erich Schmitt & Egon Kühebacher 1965−1971 Tirolischer Sprachatlas, 3 Bde. (Deutscher Sprachatlas. Regionale Sprachatlanten 3). Marburg: Elwert. Tobler, Titus (Hrsg.) 1855−1857 Schmidt’s Idioticon bernense und Glossarium helveticum. Die deutschen Mundarten 2. 357−372; 3. 80−88, 289−297, 433−449; 4. 13−25, 145−154. Tschumpert, Martin 1880−1896 Versuch eines bündnerischen Idiotikons. Chur: Senti. VALTS = Gabriel, Eugen (Hrsg.) 1985−2006 Vorarlberger Sprachatlas: Mit Einschluss des Fürstentums Lichtenstein, Westtirols und des Allgäus. Bregenz: Vorarlberger Landesbibliothek. VerbaAlpina URL: , letzter Zugriff: 14.06.2018. WA = Wenker, Georg 1888−1923 Sprachatlas des Deutschen Reichs. Marburg: Handgezeichnet. Digitalisat zugänglich unter URL: (→SprachGIS), letzter Zugriff: 14.06.2018. Wagner, Eberhard, Alfred Klepsch & Dietmar Willoweit 2007 Handwörterbuch von Bayerisch-Franken. Bamberg: Fränkischer Tag.
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
709
WBF = Fränkisches Wörterbuch 2013 ff. URL: , letzter Zugriff: 30.06.2017. WBÖ = Kranzmayer, Eberhard, Maria Hornung, Werner Bauer & Ingeborg Geyer 1970 ff. Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften. WDU = Eichhoff, Jürgen 1977−2000 Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, 4 Bde. Bern: Francke / Bern & München: Saur. Wiesinger, Peter 1967 Mundart und Geschichte in der Steiermark. In Ludwig Erich Schmitt (Hrsg.), Beiträge zur oberdeutschen Dialektologie: Festschrift für Eberhard Kranzmayer zum 70. Geburtstag (Deutsche Dialektgeographie 51), 81−184. Marburg: Elwert. Wiesinger, Peter 1983 Die Einteilung der deutschen Dialekte. In Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke & Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.), 807−900. Wiesinger, Peter 1988 Grundzüge der großräumigen bairischen Wortgeographie. In Horst Haider Munske, Peter von Polenz, Oskar Reichmann & Reiner Hildebrandt (Hrsg.), Deutscher Wortschatz, 555−627. Berlin: De Gruyter. Wiesinger, Peter 1999 Dialektgeographie als Kulturgeschichte: An Beispielen aus dem bairischen Dialektraum. In Andreas Gardt, Ulrike Haß-Zumkehr & Thorsten Roelcke (Hrsg.), Sprachgeschichte als Kulturgeschichte, 295−349. Berlin & New York: De Gruyter. Zehetner, Ludwig 2014 Bairisches Deutsch: Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern, 4., überarb. und erw. Aufl. Regensburg: Vulpes.
Andreas Lötscher, Olten (Schweiz)
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen 1. Gegenstandsbestimmung 2. Erforschung der dialektalen Lexik 3. Historische und dynamische Aspekte der Lexik
4. Verbreitungsstrukturen dialektaler Lexik 5. Exemplarische Fallstudien 6. Literatur
1. Gegenstandsbestimmung 1.1. Das Darstellungsgebiet Das Mitteldeutsche, das sich in einem Streifen von etwa 700 km Länge von Ost nach West über das deutsche Sprachgebiet hinzieht, wird nach der Einteilung deutscher Dialekte (Wiesinger 1983) von dem Niederdeutschen im Norden und dem Oberdeutschen im Süden begrenzt. Das Niederdeutsche setzt sich vom Mitteldeutschen dadurch ab, dass es die hochdeutsche Lautverschiebung in keiner Position durchgeführt hat. Nördlich der Isoglossen-Hauptlinie dieser Lautverschiebung finden sich mehrere hochdeuthttps://doi.org/10.1515/9783110261295-023
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
sche Inseln im niederdeutschen Gebiet, etwa im Ostfälischen, um Berlin herum, im Pommerschen und im ehemaligen deutschen Sprachgebiet des Preußischen. Die Lexik dieser Inseln wird in der vorliegenden Darstellung keiner gesonderten Betrachtung unterzogen. Eine slawische Sprachinsel im Osten des Mitteldeutschen wird vom Sorbischen in der Niederlausitz gebildet. Im Süden wird das Mitteldeutsche vom Alemannischen, Ostfränkischen und Bairischen begrenzt. Das so umgrenzte Mitteldeutsche bildet in der Mitte eine stark verengte Raumstruktur, die an ihrer engsten Stelle, zwischen Fulda und Werra, von der Pund-Pfund-Isoglosse in West- und Ostmitteldeutsch geteilt wird. Zum Mitteldeutschen gehören auch das im ehemaligen deutschen Sprachgebiet liegende Schlesische und die außerhalb Deutschlands gesprochenen Mundarten Luxemburgs, Ostbelgiens und Lothringens. Die Lexik dieser Gebiete wird hier nur am Rande behandelt, und zwar nur, wenn sie mit den angrenzenden Gebieten des Deutschen im Zusammenhang steht.
1.2. Ziele und Aufgaben Der basisdialektale Wortschatz des Darstellungsgebietes in seiner heutigen arealen und sprachsoziologischen Situierung ist das Ergebnis von komplexen Entwicklungen, an denen neben unterschiedlichen sprachlichen Substraten (Romanisch im Westen, Slawisch im Osten) auch Migrationen von Bevölkerungsgruppen (Völkerwanderung, mittelalterliche deutsche Ostkolonisation) mitgewirkt haben. Dazu kamen im Laufe der Sprachgeschichte Sprachströmungen und Sprachveränderungen unterschiedlichster Art. Einer flächendeckenden systematischen Darstellung dieses basisdialektalen Wortschatzes und vor allem einer Herausarbeitung von markanten Raumstrukturen innerhalb des Wortschatzes stehen hier methodische und sprachstrukturimmanente Hemmnisse entgegen. Von methodischer Seite ist das Fehlen eines hinreichend umfangreichen und flächendeckend einheitlich erhobenen sowie synchronen Datenkorpus in Anschlag zu bringen. Denn trotz der umfangreichen dialektlexikalischen Sammlungen, welche sich in den großlandschaftlichen Wörterbüchern des Untersuchungsgebietes realisieren und vereinzelter regionaler Sprachatlanten mit Wortkarten, kann mit diesem Ausgangsmaterial keine lückenlose und umfassende Darstellung geleistet werden, besonders, wenn man dialektometrische Verfahren heranziehen wollte, welche auf mathematisch-statistischen Algorithmen basieren (vgl. Goebl 1984, 2010; Lausberg & Möller 1996/1997; Köhler 2005; Möller 2001; Keymeulen 2013). Lediglich die ca. 200 Karten des Deutschen Wortatlasses (DWA) bieten eine weitgehend synchron erhobene und das ganze deutsche Sprachgebiet überdeckende Datenbasis, wobei jedoch zu bedenken ist, dass eine Anzahl von 200 Items im Vergleich zu dem Bestand von Zehntausenden Items in den zugrunde liegenden Mundarten nicht unbedingt als repräsentativer Ausschnitt gelten kann. Ein weiteres Hemmnis einer raumsystematischen Kategorisierung lexikalischer Einheiten ist sprachstrukturimmanent. Denn anders als in der Phonologie oder Morphologie, deren Inventar an Beschreibungsobjekten relativ überschaubar ist und bei denen kategorial vergleichbare Phänomene in der Regel im Raum gleiche Verbreitungsstrukturen aufweisen, besteht das Lexikon aus Zehntausenden von Einheiten und jede dieser Einheiten verteilt sich individuell im Raum und nur selten lassen sich Kongruenzen zu lautgeographischen Strukturen erkennen (vgl. Wiesinger 2005: 1108). Die Lexik mit
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
ihrer im Vergleich zu Phonologie und Morphologie weitgehend offenen Struktur entzieht sich daher einer lückenlosen Darstellung ihrer Raumstruktur. So basieren auch neuere Untersuchungen zu dialektalen Strukturen, wie z. B. Lameli (2013) ausschließlich auf Daten der lautlichen und morphologischen Ebene. Die hier folgende Darstellung zur arealen Lexik des Mitteldeutschen kann daher neben der Darstellung der Erforschung und Dokumentation mundartlicher Lexik sowie historischer und dynamischer Aspekte lediglich exemplarisch einige Verbreitungsstrukturen arealer Lexik herausstellen und dazu einige Fallstudien darbieten. Die rezente Dynamik des arealsprachlichen Lexikons bleibt dabei ausgeklammert, sie wird in Möller & Elspaß (Art. 25 in diesem Band) gesondert behandelt.
2. Erforschung der dialektalen Lexik Die Erforschung und Dokumentation der arealen Lexik zeigt sich im Untersuchungsgebiet in einer Fülle von Publikationen, die grob in Wörterbücher, Sprachatlanten und lexikalische Einzelstudien eingeteilt werden können. Dabei ist eine scharfe methodische Trennung zwischen diesen Gruppen nicht immer möglich, denn auch einige Wörterbücher tangieren mit zahlreichen Sprachkarten die Darstellungsweise der Sprachatlanten, wohingegen einige Sprachatlanten nicht nur Karten präsentieren, sondern in ihrem Dokumentationsteil interpretatorische oder sprachhistorische Erklärungen in Textform liefern. Auch lexikalische Einzelstudien bedienen sich häufig der Sprachkarte.
2.1. Wörterbücher Der Wortschatz des Mitteldeutschen wird in zahlreichen syntopischen und diatopischen Wörterbüchern (s. Kt. 23.1) erfasst, deren Methoden, Darstellungsweisen und Zeitstellungen deutlich differieren. Tab. 23.1 stellt die diatopischen, großlandschaftlichen Wörterbücher, welche in ihrem Hauptgebiet mitteldeutsche Dialekte behandeln, in der Folge von West nach Ost dar. Von den hier aufgeführten Werken ist das Hessen-Nassauische Wörterbuch (HNWb) noch nicht abgeschlossen. Daneben existieren großlandschaftliche Wörterbücher, die mit einem kleineren Randbereich ebenfalls in das Mitteldeutsche hineinragen: das noch nicht abgeschlossene Westfälische Wörterbuch (1973 ff.), das mit dem südlichsten Zipfel, dem Siegerländischen, in das Mitteldeutsche reicht. Die Lexik dieses Gebietes ist jedoch schon im Siegerländer Wörterbuch (Heinzerling & Reuter [1932–1938] 1968) dokumentiert. Ebenfalls noch nicht abgeschlossen ist das Badische Wörterbuch (1927 ff.), dessen Arbeitsgebiet im Nordwesten mit süd- und rheinfränkischen Mundarten in das Mitteldeutsche hineinragt. Auch das noch in der Sammel- und Aufbereitungsphase stehende Fränkische Wörterbuch (WBF, früherer Projektname: Ostfränkisches Wörterbuch) umfasst in seinem Arbeitsgebiet mitteldeutsche Mundarten. Eine Auswahl der Lexik dieses Gebietes, zusammen mit 30 Wortkarten bietet vorläufig das Handwörterbuch von Bayerisch-Franken (2007). Im Osten ragt das Arbeitsgebiet des Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs (BBW 1968−2001) mit dem Südmärkischen und auch das Gebiet des Schlesischen Wörterbuchs (1963−1965) in das Mitteldeutsche hinein.
711
1950−1977 1909 1965−1998 1965−2010 1927 ff. 1966−2006 1994−2003
1935−1950
1898−1909
1913−1964
1925−2000
1912−1934
1907−1966
1955−1977
Luxemburger Wörterbuch (LuxWb)
Dt.-Lothringisches Wörterbuch (Follmann [1909] 1986)
Pfälzisches Wörterbuch (PfWb)
Südhessisches Wörterbuch (ShWb)
Hessen-Nassauisches Wörterbuch (HNWb)
Thüringisches Wörterbuch (ThWb)
Obersächsisches Wörterbuch (WOS)
Publikationszeitraum 1923−1971
Erhebungszeitraum
Rheinisches Wörterbuch (RhWb) 1904−1935
Name
Direkterhebungen, Fragebögen, Literatur, örtl. Sammler
Fragebögen, Literatur, örtl. Sammler
Fragebögen, Literatur, örtl. Sammler
Fragebögen, Literatur, örtl. Sammler
Fragebögen, Literatur, örtl. Sammler
Einsendungen örtl. Sammler
Literatur, örtl. Sammler
Fragebögen, Literatur, örtl. Sammler
Erhebungsmethoden
Tab. 23.1: Großräumige Dialektwörterbücher im behandelten Sprachgebiet
obersächsisch, südmärkisch
thüringisch
hessisch, westfälisch
rheinfränkisch
rheinfränkisch
rheinfränkisch, moselfränkisch
moselfränkisch
nieder-, mittel-, rheinfränkisch
Erhebungsgebiet (nach Wiesinger 1983)
2619
3862
bisher 1403
5226
5039
571
2068
7266
Gesamtanzahl Seiten
75
138
bisher 109
675
420
−
−
208
Anzahl Sprachkarten
712 III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
Kt. 23.1: Großlandschaftliche Dialektwörterbücher im Mitteldeutschen und angrenzenden Gebieten
Der Wortschatz des Mitteldeutschen wird daneben in zahlreichen syntopischen Wörterbüchern erfasst, also Dokumentationen, die den Wortschatz eines einzigen Ortes dokumentieren. Umfangreichere Werke aus dieser Gruppe stellen das sechsbändige Frankfurter Wörterbuch (1971−1985) oder der dreibändige Neue kölnische Sprachschatz (Wrede [1956−1958] 2010) dar. Die syntopische Dialektlexikographie des Rheinlandes ist erschlossen in den Bibliographien von Schmitt (1988) und Hoffmann (1994), die der Pfalz und Umgebung bei Post ([2000] 2016). Für die eben genannten und übrigen mitteldeutschen Gebiete können bibliographische Angaben zur dialektalen Lexik über die Georeferenzierte Online-Bibliographie Areallinguistik (GOBA) gewonnen werden.
2.2. Sprachatlanten Sprachatlanten, die Bereiche des Mitteldeutschen abdecken, interessieren hier nur, wenn sie auch in nennenswertem Umfang die Lexik berücksichtigen. Daher scheiden in dieser Übersicht der Mittelrheinische (MRhSA) und Luxemburgische (LuxSA) Sprachatlas wie auch das Thüringen betreffende Kartenwerk von Spangenberg (1993) aus, weil sie als Laut- und Formenatlanten konzipiert sind. Auch Atlanten, die Alltags- oder Umgangssprachen dokumentieren (HSA 1991, 2010; WDU; AdA; Protze 1997), werden nicht berücksichtigt, da sich der Schwerpunkt dieses Artikels auf die basisdialektale Lexik konzentriert. Neben dem das gesamte deutsche Sprachgebiet erfassenden Deutschen Wortatlas (DWA), dokumentieren die folgenden Regionalatlanten Teile der basisdialektalen Lexik des mitteldeutschen Sprachgebiets:
713
2013–2016 1977 2014 1930 2005−2008 1961−1965 1965−1967
2011−2013 1967−1971 2008−2009 1928 1991−1996 1929−1950 1876−1965
Siegerländer Sprachatlas (SolauRiebel & Vogel 2013–2016)
Atlas linguistique […] de la Lorraine germanophone (ALLG)
Wortatlas für Rheinhessen, Pfalz und Saarpfalz (Drenda 2014)
Wortatlas des Kreises Wetzlar (Wenzel 1930)
Sprachatlas von Unterfranken (SUF)
Thüringischer Dialektatlas (Hucke 1961−1965)
Schlesischer Sprachatlas (Bellmann 1965)
1981−1994 2000
1900−1970
Fränkischer Sprachatlas (FSA)
Publikationszeitraum
Rheinischer Wortatlas (Lausberg & 1996 Möller 2000)
Erhebungszeitraum
Name
indirekt Fragebogen direkt: Tonaufnahmen
indirekt: Fragebogen
direkt: Befragung
direkt: Befragung
indirekt: Fragebogen
direkt: Befragung
direkt: Befragung
indirekt: Fragebogen
Auswertung vorhandener Korpora
Erhebungsmethoden
Tab. 23.2: Sprachatlanten mit Karten zur Wortgeographie im Erhebungsgebiet
schlesisch
thüringisch
rheinfränkisch, ostfränkisch
hessisch
rheinfränkisch
rheinfränkisch, moselfränkisch
moselfränkisch
nieder-, mittel- und rheinfränkisch
nieder-, mittel- und rheinfränkisch
Erhebungsgebiet (nach Wiesinger 1983)
4500/226
ca. 2200/40
182/863
ca. 500/104
150/138
109/937
32/155
491/90
>3000/33
Anzahl Belegorte/ Sprachkarten
714 III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
2.3. Einzelstudien Spezialuntersuchungen zur Arealität des mundartlichen Wortschatzes in übergreifenden Darstellungen basieren vor allem auf Erhebungen zum DWA. Viele dieser Untersuchungen sind in den Reihen Deutsche Dialektgeographie (DDG), Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen (DWEB), (Gießener) Beiträge zur deutschen Philologie (BdPh) und Marburger Beiträge zur Germanistik publiziert worden. Erschlossen sind sie in den Bibliographien Deutsche Wortkarte (Siegel 1964, 1974, 1981). Meist werden in diesen Studien die Heteronymiken einzelner Begriffe (z. B. ‘Brennnessel’, ‘Hagebutte’, ‘Maiglöckchen’, ‘Stachelbeere’, ‘Stecknadel’, ‘Zaunkönig’ u. a.) dargestellt, aber auch Wortfelder, wie die Bezeichnungen für die Heiratsverwandtschaft (Debus 1958), zu Schmerz, Pein und Weh (Hoffmann 1956), oder zu den Jahreszeitennamen (Tallen 1963). Daneben existieren Studien zu bestimmten Lexikbereichen, von denen die nahezu enzyklopädisch ausgerichtete Arbeit von Reichmann (1966) über den Wortschatz der Siegerländer Landwirtschaft und Haubergswirtschaft genannt sei.
2.4. Wissenschaftsgeschichtlicher Abriss Die Beschäftigung mit der arealen Lexik setzt im 17. und in größerem Umfang im 18. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit der Herausbildung einer deutschen Gemeinsprache ein, durch die das Interesse an den regionalen, nicht der allgemeinen Schriftsprache angehörigen Wortschatzelementen geweckt worden war. Es ist die Zeit der sogenannten „Idiotismen-Sammlungen“, die in mehr oder weniger vorwissenschaftlich-laienhafter Methode Provinzialismen aus den unterschiedlichsten deutschsprachigen Regionen dokumentieren. Sie sind in der Dokumentation von Walter Haas (1994) vorbildlich gesammelt, kommentiert und dokumentiert. Aus dem mitteldeutschen Bereich sind darin insgesamt 42 Sammlungen publiziert, wobei eine deutliche Asymmetrie zwischen Dokumentationen aus dem Ost- und Westmitteldeutschen erkennbar ist. So finden sich aus dem Westmitteldeutschen nur zehn Sammlungen und zwar: Gegend von Koblenz, Trier, Moseldepartement, Grafschaft Saarwerden-Lothringen, Pfalz (drei Sammlungen), Oberhessen, Gießen und Hanau. Demgegenüber stehen 32 Sammlungen aus dem Ostmitteldeutschen, mit 22 Beiträgen zum Schlesischen, vier zum Hennebergischen, einem zum Thüringischen, einem zum Südharz (Thüringisch), einem zur Grafschaft Hohenstein (Thüringisch), einem zum Obersächsischen, einem zu Anhalt-Köthen (Obersächsisch) und einem zur Oberlausitz. Eine wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtete Beschäftigung mit der arealen Lexik beginnt im Oberdeutschen mit Schmellers Bairischem Wörterbuch (Schmeller [1827− 1837] 1872–1877) und Hermann Fischers Geographie der schwäbischen Mundart (Fischer 1895). Für die sprachliche Arealgliederung des Mitteldeutschen und darüber hinaus des gesamten deutschen Sprachgebietes gewinnt die aus der junggrammatischen Tradition herausgewachsene „Marburger dialektologische Schule“ ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts große Bedeutung, wenn auch zunächst nur für die Laut- und Formengeographie. Wortgeographische Ergebnisse entstehen dabei nur zufällig, etwa bei der Übersetzung des Wortes Pferd in die ortstypische Mundart, die neben den dialektalen Formen zu Pferd auch solche zu Ross, Gaul und Hengst erbrachte (Deutscher Sprach-
715
716
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
atlas [DSA]: Kt. 8). Erst unter Walther Mitzka rückte ab 1938 die Wortgeographie stärker in den Marburger Fokus. Die Erhebung zu dem von ihm begründeten DWA nach der indirekten Methode in mehr als 48.000 Orten dauerte bis 1942, die Publikation erfolgte zwischen 1951 und 1980. Ausgehend von diesen Erhebungen entstanden, wie schon in Kap. 2.3. angedeutet, eine Vielzahl von Veröffentlichungen. Die Erforschung der sprachgeographischen Raumgliederung im Mitteldeutschen wurde daneben durch die „Bonner Schule“ betrieben, die zusammen mit Historikern und Volkskundlern Sprach- und Kulturräume untersuchten (vgl. Cox & Zender 2008). Programmatisch hierfür war die Publikation Aubin, Frings & Müller ([1926] 1966) Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden, in der Theodor Frings den Abschnitt „Sprache“ verfasste. Konstituierend für die rezenten Dialektgrenzen seien nach den Forschungen der „Bonner Schule“ nicht alte Stammessiedlungsgebiete oder geographische Gegebenheiten, sondern die spätmittelalterlichen Territorialgrenzen, z. B. die Grenzen der Bistümer Mainz, Trier oder Köln. Die Wortgeographie wird hierbei ebenso einbezogen wie auch die Lautgeographie. Theodor Frings hat diesen Bonner kulturmorphologischen Ansatz auch nach seinem Weggang von Bonn nach Leipzig weiter verfolgt (z. B. Frings 1933, [1948] 1957) und auch andere Forscher haben diesen Ansatz aufgegriffen, so Friedrich Maurer (1929), der ihn auf den hessischen Sprachraum überträgt. Die weitgehend monokausale Erklärung von Dialektgrenzen als Reflexe spätmittelalterlicher Territorialgeschichte hat wegen der doch sehr atomistischen Betrachtungsweise und ihren subjektiven Auswahlprinzipien sprachlicher Merkmale nicht zu überzeugen vermocht (vgl. Cox & Zender 2008: 163). Die atomistische Betrachtungsweise einzelner lexikalischer Phänomene wurde teilweise, wie oben schon erwähnt, durch Untersuchungen einzelner Wortfelder überwunden und in eher strukturelle Bahnen gelenkt. In welchem Maße strukturelle Wortgeographie möglich ist, hat mit zahlreichen Untersuchungen aus Belgisch-Limburg Jan Goossens in seiner Strukturellen Sprachgeographie (Goossens 1969) aufgezeigt. Allerdings sind für das Mitteldeutsche bisher keine räumlich umfassenderen Studien struktureller Wortgeographie erschienen. Ansätze zu einer umfassenderen Wortschatzanalyse nach Sachgruppen in großlandschaftlichen Wörterbüchern des Mitteldeutschen finden sich für das Pfälzische Wörterbuch (PfWb) (vgl. Post 1986, 1998) und im Synonymenregister des Südhessischen Wörterbuchs (ShWb, VI: H1−H84). Eine einzelwortübergreifende Analyse von Strukturen dialektaler Lexik ermöglichen quantifizierende Verfahren, wie sie Werner H. Veith (1971, 1979) mit der Isoquantorenmethode beschreibt, die auch in seiner Publikation zum Wortschatz des Schlesischen (Veith 1979) zur Anwendung kommt. Dialektometrische Verfahren in Bezug auf die Verbreitung dialektaler Lexik existieren für das Rheinland. Hier haben Lausberg & Möller (1996/1997) und Möller (2001) auf der Basis von 80 Wortkarten aus dem Rheinischen Wörterbuch (RhWb) mit mathematischen Verfahren Ähnlichkeiten (Zusammenhalt) und Unterschiede (Trennlinien) ermittelt und kartographisch dargestellt (Flächen-, Wabenkarte). Die Ergebnisse stimmen in großen Zügen mit den Erkenntnissen der traditionellen Dialektgeographie überein (Macha, Lausberg & Elspaß 2005: 1155−1157).
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
3. Historische und dynamische Aspekte der Lexik 3.1. Kontaktphänomene Die areale basisdialektale Lexik des Mitteldeutschen zeigt deutliche Spuren früheren Sprachkontakts, besonders von vordeutschen sprachlichen Substraten. Dies sind im Westen römerzeitliche Sprachrelikte und im Osten solche der slawischen Bevölkerung vor der mittelalterlichen Ostexpansion des Deutschen. Die Einwirkungen frühen Sprachkontakts aus der Romania auf die Lexik des Gesamtdeutschen sind in großen Zügen in den Bänden der Germania Romana (Frings [1932] 1966; Müller & Frings 1968) abgehandelt. Für das Westmitteldeutsche dann in der Arbeit von Post (1982), in welcher der romanische Einfluss auf die Lexik der rheinischen Mundarten nach diachronen, diastratischen und diatopischen Aspekten dargestellt und mit zahlreichen Wortkarten erläutert wird. Anhand von quantifizierenden Methoden werden dabei Reliktwortkonzentrationen herausgearbeitet, die als Reflexe der mittelalterlichen moselromanischen Sprachinsel gedeutet werden. Neben den im gesamten deutschen Sprachgebiet integrierten frühen romanischen Lehnwörtern wie z. B. Ziegel, Minze, Pfeil, Fenster finden sich andere, die sich nur im westlichen Mitteldeutschen erhalten haben und die als spezifisch rheinische Romanismen gelten können, wie z. B. Mösch(e)/Mesch ‘Spatz’ (lat. muscio), Merl(e) ‘Amsel’ (lat. merula), Drof/Dräf ‘Tragebalken’ (lat. trabem) oder Päsch ‘Wiese’ u. a. (lat. pascuum). Daneben finden sich in den Mundarten kleinräumig verbreitete Romanismen, besonders am Westrand und im Moselraum, die ebenfalls als Reliktwörter der Römerzeit gelten, wie z. B. Peipel ‘Schmetterling’ (lat. papilio), Gimme ‘Fruchtknospe’ (lat. gemma) oder Pülpes ‘Hahnenfuß’ und ähnl. Pflanzen (lat. pulli pes), Oost ‘Ernte’ (lat. augustus). Slawische lexikalische Integrate in den ostmitteldeutschen Mundarten sind u. a. in den Arbeiten von Hans Holm Bielfeldt (1963, 1985) und in der Slavoteutonica von Günter Bellmann (1971) namhaft gemacht. Einige Slawismen wie Grenze (slaw. granica), Gurke (poln. ogurek), Peitsche (slaw. bičĭ), Quark (niedersorb. twarog) und Jauche (slaw. jucha) sind heute in die Standardsprache vorgedrungen, in den Mundarten stehen ihnen jedoch zahlreiche nichtslawische Heteronyme entgegen. So ist Quark nur in den Mundarten östlich von Leipzig (Bellmann 1971: Kt. 35) flächendeckend gebraucht und Jauche nur östlich der Linie Elbe-Saale, wo westwärts dann Heteronyme wie Adel, Sudel, Sutte, Strotze, Pfuhl, Gülle, Lache u. a. gelten (Bellmann 1971: Kt. 52). Daneben existieren in den ostmitteldeutschen Mundarten eine Vielzahl von slawischen Reliktwörtern, die sich oft nur in kleineren Gebieten erhalten haben. Die Situierung zahlreicher Slawismen wie (Back-)Dese ‘Backtrog’ (altsorb. děža), Mauke ‘Brei’ (sorb. muka) oder Bäbe ‘Aschkuchen’ (slaw. baba) im größeren Umfeld der heute noch bestehenden sorbischen Sprachinsel in der Lausitz deutet auf einen allmählichen Rückzug des ehemals sorbischen Sprachgebietes hin.
3.2. Dynamik der Lexik Wie in der Standardsprache, so unterliegt auch der Wortschatz nichtstandardsprachlicher Systeme einem permanenten Wandel. Für den Bereich der rezenten umgangssprachlichen
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
arealen Lexik wird dies ausführlich in Möller & Elspaß (Art. 25 in diesem Band) thematisiert, wobei hier auf verschiedene Atlaswerke zurückgegriffen werden kann, bei denen unterschiedliche Erhebungszeiträume einen Vergleich ermöglichen, durch den u. U. dynamische Strukturen erkannt werden können. Für die Basisdialekte gibt es jedoch keine den gesamten Sprachraum erfassenden, zeitlich voneinander abgesetzten Kartenwerke, die eine solche Betrachtungsweise ermöglichten. Jedoch lassen sich auch synchrone Kartenbilder zur Interpretation dynamischer Sprachprozesse heranziehen. So können Keil-, Trichter-, Fächer- oder Horstbildungen als Ergebnisse sprachdynamischer Entwicklungen gedeutet werden. Die Verbreitung eines Wortes in mehreren voneinander abgegrenzten Inseln lässt auf ein ehemals zusammenhängendes Verbreitungsgebiet deuten, dessen Restgebiete noch erhalten geblieben sind, z. B. Docksal ‘Orgelbühne’ im Rheinland (RhWb, VI: Kt. 4) oder Barte ‘Beil’ in Thüringen (Hucke 1961−1965: Kt. 22, Textteil 123). Die polyzentrische Expansion des standardsprachlich gestützten Verbs wiehern auf Kosten zahlreicher kleinräumig verbreiteter Heteronyme hat Hildebrandt (1983: 1363, Kt. 82.21) kartographisch eindrucksvoll herausgestellt. Doch nicht nur in Sprachkarten, sondern auch in zahlreichen Hinweisen der großräumigen Dialektwörterbücher, welche sich auf den Wortgebrauch beziehen, lassen sich sprachdynamische Erkenntnisse gewinnen. Vergleicht man z. B. die Angaben zu dem Stichwort seltsam im ShWb (V: 989), HNWb (III: 576), ThWb (V: 1187) oder Obersächsischen Wörterbuch (WOS, IV: 204), so finden sich stets Angaben, dass in der älteren Mundart noch die Bedeutung ‘nicht häufig, selten’ bezeugt ist, die jedoch unter dem Einfluss der Standardsprache zunehmend von ‘sonderbar, eigentümlich’ zurückgedrängt wird. Verdrängung durch standardsprachliche Synonyme erfolgt auch bei Schnur, Schnürche, die durch das synonyme Wort Schwiegertochter abgelöst werden, wobei der Ablösungsprozess durch Polysemiefurcht (‘Schwiegertochter’ vs. ‘Bindfaden’) beschleunigt worden sein dürfte (Debus 1958: 24). Eine besondere Dynamik im basissprachlichen Dialektlexikon ergibt sich durch Veränderungen der Sachkultur, weil zahlreiche Sachen und Tätigkeiten aus der alten ländlich-bäuerlich-handwerklichen Welt, des täglichen Lebens oder der Mode in der alltäglichen Kommunikation keine Rolle mehr spielen und mit diesen Sachverhalten auch die zugehörigen Bezeichnungen schwinden. Beispiele hierfür: Molter/Multer ‘Mahllohn des Müllers in Natura’, das in den westmitteldeutschen und thüringischen Wörterbüchern als veraltet belegt ist. Das RhWb (V: 1249) gibt dazu an „das Wort ist nach den Belegen allgemein gewesen; heute [1941] ist das Wort mit der Sache durchaus veraltet und wird als alte Seltenheit weiter überliefert“. Auch rözen, rösten ‘den Flachs durch Einwirkung von Feuchtigkeit mürbe machen’ gerät als altes Wort des Flachsanbaus und der Flachsverarbeitung (mhd. rœʒen) mit dem Verschwinden der Sache außer Gebrauch.
3.3. Funktionale Aspekte der Lexik Die basisdialektale Lexik wird in nennenswertem Umfang durch funktionale Sonderaspekte geprägt, wie sie sich besonders in koarealen Fach- und Sondersprachen manifestieren. Als alte basisdialektal geprägte Fachsprachen können exemplarisch die Winzer-, Fischer- oder Imkersprache gelten. Für das Studium von Wortraumstrukturen in der Winzersprache kann der Wortatlas der kontinentalgermanischen Winzerterminologie (WKW)
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
herangezogen werden. Für die mitteldeutsche Weinbauterminologie ist eine in vielen Beispielen erkennbare Sonderstellung der moselländischen gegenüber der rheinfränkischen Wortgeographie erkennbar, die vor allem durch einen stärkeren Anteil von Fachwörtern keltisch-romanischer Herkunft (z. B. glinnen ‘Trauben nachlesen’ < gall. glennare; Bäschöff ‘Rückentraggefäß zum Transport der Trauben’ < gall. bascauda) geprägt ist. Die rheinfränkische Winzersprache wiederum weist stärkere Bezüge zu den ostfränkischen, mitteldeutschen und schlesischen Weinbaugebieten auf (Veith 1971: Kt. 35). Nur kleinräumig erforscht ist die Lexik der Fischer- (Hübner 1984) oder Imkersprache (Herrmann-Wünzer 1937). Eine Sonderstellung bezüglich ihrer Lexik nehmen die Sondersprachen ein, welche Bestandteile des historischen Rotwelschen, des Sintes-Romanes oder der hebräischen Komponente des Jiddischen enthalten. Für das Rheinland sind sie in der Zusammenstellung von Honnen (2000), für das restliche Mitteldeutsche über die Bibliographie von Schuppener (2002) zu erschließen. Beispiele für diese Sondersprachen als Händler- oder Musikantensprachen sind das Hennese Fleck am Niederrhein, das Carlsberger Lotekorisch in der Pfalz, das Gießener Manisch in Hessen, das Hundeshagener Kochum in Thüringen oder die Erzgebirgische Fatzersprache.
4. Verbreitungsstrukturen dialektaler Lexik 4.1. Lexikalische Isoglossen im Mitteldeutschen Untersuchungen zur Dialektgeographie zeigen häufig, dass sich in bestimmten Bereichen Isoglossen bündeln und so markante Sprachscheiden signalisieren. Oft werden dafür die Bezeichnungen Schranken, Scheiden oder Barrieren verwendet und so finden sich in der Literatur zu den mitteldeutschen Dialekten etwa die Erft-, die Ahr- und Eifelschranke im Rheinland, die Hunsrück-Barriere, die Selz-Lauterschranke, die Pfälzerwaldschranke, die Main-Rhein-Schranke, die Odenwaldschranke, die Rennsteigschranke/Thüringerwaldschranke, die Frankenwaldschranke, die Vogtlandschranke u. a. Diese Sprachschranken wurden meist anhand lautlicher Kriterien, selten jedoch auch unter Hinzuziehung lexikalischer Phänomene ermittelt. Es liegt allerdings bisher keine das gesamte Mitteldeutsche umfassende Untersuchung vor, welche die Korrespondenz von Isophonen und Isolexen genauer untersucht. Lediglich für das Rheinland wurden Daten einer systematischen Auswertung von 80 Wortkarten des RhWb (Möller 2001) mit den traditionellen Lautlinien der Dialekteinteilung verglichen und dabei Folgendes festgestellt: „Beim Vergleich dieser wortgeographischen mit der traditionellen lautgeographischen Einteilung besteht insofern Übereinstimmung, als sich im Bereich der Isophone des ‚Rheinischen Fächers‘ […] auch massiert Isolexe finden. Dies gilt für die ‚Uerdinger‘ und ‚Benrather Linie‘, und insbesondere für die dorp/dorf-Linie oder ‚Ahrschranke‘. Allerdings existieren auch Abweichungen vom lautgeographischen Einteilungsparadigma, die lexikalische Dialektstruktur ist insgesamt kleiner gekammert.“ (Macha, Lausberg & Elspaß 2005: 1157). Für einen Spezialbereich der Lexik, nämlich die Flurnamen, hat Hans Ramge (1987) im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Hessischen Flurnamenatlasses Namenräume quantifizierend erfasst und dabei für den hessischen Raum drei Namenscheiden heraus-
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Kt. 23.2: Isolexenbündel im Bereich mitteldeutscher Sprachschranken
gearbeitet: die Odenwald-Scheide, die Main-Taunus-Scheide und die Mittelhessische Namenscheide. Da Flurnamen in der Regel auf Appellativen basieren, handelt es sich bei den so ermittelten Namenräumen auch um Worträume. Wie weiter unten dargestellt, gibt es signifikante lexikalische Entsprechungen zu Ramges Mittelhessischer Namenscheide, die übrigens in groben Zügen die Trennlinien zwischen dem Zentralhessischen und dem Nord- und Osthessischen markiert. In Kt. 23.2 sind zu einigen der in den bisherigen Dialektbeschreibungen beschriebenen Schranken korrespondierende Isolexenbündel eingezeichnet, welche aufzeigen, dass sich die Lexik in Ansätzen an den durch Isophone und Isomorphe konstituierten Sprachräumen orientieren kann, wenn auch viele andere Isolexe sich nicht in das bisherige Gliederungsmuster einfügen. Die Nummerierung der Isolexe auf der Karte verlaufen von West nach Ost. Bei den Aufzählungen werden die nördlich bzw. westlich der Isolexe bezeugten Formen zuerst genannt.
Die Ahr-Schranke (Dorp-Dorf-Linie) (1) (2)
jramm / heis(er) ‘heiser’ (Lausberg & Möller 2000: Kt. 29; RhWb, III: Kt. 18; DWA, 20: Kt. 8) Erpel / Grumper ‘Kartoffel’ (Lausberg & Möller 2000: Kt. 1; RhWb, IV: Kt. 9; DWA, 11: Kt. 5)
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
(3) (4)
Schnuut / Zuut ‘Ausguss der Kanne’ (Lausberg & Möller 2000: Kt. 35) Öllisch / Zwiebel ‘Zwiebel’ (Lausberg & Möller 2000: Kt. 2; RhWb, IX: Kt. 8)
Weitere Isolexe in diesem Bereich: Knetsch / Batz, Grotz ‘Kerngehäuse des Apfels’; kallen / schwätzen; arbeiten / schaffen; rein / sauber; Schoss / Schublade; Kall / Kan(d)el ‘Dachrinne’; Trecker / Bulldogg.
Die Hunsrück-Schranke (dat-das-Linie) (5) (6) (7) (8)
wan, scholch / verlech(er)t ‘leck, vom Fass’ (RhWb, IX: Kt. N24) Schleiter / Schliwwer ‘Splitter’ (Lausberg & Möller 2000: Kt. 39; RhWb, VII: Kt. 34) Hohn, Huhn / Hinkel ‘Henne’ (Lausberg & Möller 2000: Kt. 75; RhWb, III: Kt. 24; DWA, 15: Kt. 8) (sauern) Kappes / Sauerkraut ‘Sauerkraut’ (DWA, 17: Kt. 11)
ferner: petschen / petzen ‘kneifen’; Schmand / Rahm ‘Sahne’; Gruschel / Druschel ‘Stachelbeere’.
Die Pfälzerwald-Schranke (gebroch-gebroche-Linie) (9) (10) (11) (12)
Schulter / Achsel ‘Schulter’ (PfWb: Kt. 7) spauzen / spauchen, spauen ‘spucken, speien’ (PfWb: Kt. 356) Seule / Ahle ‘Pfriem’ (PfWb: Kt. 9; DWA, 12: Kt. 9) Wale / Wiege, Wage ‘Kinderwiege’ (PfWb: Kt. 394)
ferner: Augenhaar, Äberhaar / Augenbraue ‘Braue’; Goot / Gettche, Gettel ‘Patin’; Händsche / Hänsching ‘Handschuh’; Gelzer / Kastrierer ‘Schweinekastrierer’; nur südlicher Bereich: Grummet / Amet ‘zweiter Grasschnitt’; Brennessel / Sengnessel ‘Brennnessel’; Kolte / Lääfel ‘grüne Schale der Walnuss’; Spinneweb / Spinnenest ‘Spinnwebe’.
Mittelhessische Scheide (Trennlinie zwischen Zentral- und Nord-, Osthessisch) (13) (14) (15) (16)
Mämm / Euter, Dütz ‘Kuheuter’ (HNWb, II: Kt. 31; DWA, 19: Kt. 2) Moltwurf / Maulwurf ‘Maulwurf ’ (HNWb, II: Kt. 36; DWA, 3: Kt. 9) Mucke / Docke, Ferkelsau ‘Mutterschwein’ (HNWb, II: Kt. 45; DWA, 7: Kt. 3) Pfudel / Sutte(r), Strotze, Trotze ‘Jauche’ (HNWb, III: Kt. 31)
ferner: Augendeckel / Lid; gelt(e) / nicht wahr; pfetzen / kneipen; sauber / rein; Rinde / Schale.
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West-ostmitteldeutsche Scheide (Pund-Pfund-Linie) (17) (18) (19) (20)
Anke / Genick (DWA, 4: Kt. 8) Döte / Patin (DWA, 4: Kt. 20) Winkuff / Leikauf ‘Kauftrunk’ (Hucke 1961−1965: Kt. 30) Zäute, Zotte / Schnappe, Schnapfe ‘Ausguss am Topf ’ (Hucke 1961−1965: Kt. 35)
ferner: Strickstock / Stricknadel; Kopfweh / Kopfschmerzen; Schlüsselblume / Himmelsschlüssel; dinsen / zerren ‘ziehen’; Küfer / Böddeker, Büttner; Gaul / Pferd; Düppen / Topf; Schreiner / Tischler; Kappe / Mütz; Werktag / Wochentag.
Ilm-Saale-Grenze (nhd. Diphthongierungsgrenze) (21) Schere / Gabeldeichsel ‘Einspännerdeichsel’ (DWA, 8: Kt. 3 und 4) (22) Kartoffel / Erbern, Ärbern ‘Kartoffel’ (DWA, 11: Kt. 4 und 5) (23) dies Jahr / heire, heier ‘dieses Jahr’ (DWA, 16: Kt. 6) ferner: Quetsche / Pflaume; Rabe / Krahe, Krähe.
Vogtland-Erzgebirge-Schranke (24) Brotschrank / Almer ‘Brotschrank’ (WOS, I: Kt. Brotschrank) (25) Glucke, Klutsche / Brut-, Brüthenne ‘Glucke’ (DWA, 15: Kt. 6) (26) Meerretch, -ratch / Kren, Kran ‘Meerrettich’ (DWA, 17: Kt. 5) ferner: sich erkälten / sich verkühlen; Erbern, Ärbern / Ardäppel, Erdäppel ‘Kartoffel’; Schnürsenkel / Schuhbändel; Esse / Rauchfang ‘Schornstein’.
Südmärkisch-niederlausitzisches Übergangsgebiet (27) (28) (29) (30) (31)
Bettlaken / Betttuch ‘Laken für das Bett’ (DWA, 22: Kt. 5) Färsenkalb / Motschen-, Kühkalb ‘weibliches Kalb’ (DWA, 7: Kt. 1) Stachelschwin / Igel, Ichel ‘Igel’ (DWA, 13: Kt. 3) Padde / Frosch ‘Frosch’ (DWA, 13: Kt. 2) Rotkohl / Rotkraut ‘Rotkraut’ (DWA, 17: Kt. 9)
ferner (mit Fortsetzungen ins Nordobersächsische): dies Jahr / heier, heire; Kaff / Spreu, Sprau; Päde / Quecke; Schere / Gabeldeichsel; Schornstein / Esse.
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
4.2. Typen arealer Lexik Reiner Hildebrandt lexhat anhand der Karten des DWA eine Typologie der arealen lexikalischen Gliederung deutscher Dialekte herausgearbeitet (Hildebrandt 1983), in der er zehn Haupttypen (1. Nord-Süd, 2. Nord-Mitte-Süd, 3. Westkeil, 4. Nord-Süd mit Westkeil, 5. Nord-Süd mit West-Südostentsprechung, 6. Nord-Mitte-Süd mit Westkeil, 7. Ostkeil, 8. Südostbereich, 9. Nordwest-Südostentsprechung, 10. Südwestbereich) vorstellt, wobei er jeder Hauptentsprechung zwischen 4 und 31 Kartenthemen mit teilweise stark variierenden Schwingungsbreiten der jeweiligen Isolexe zuordnet. Nach Hildebrandt ließen sich so mehr als die Hälfte der Karten des DWA zu seiner raumtypologischen Klassifizierung heranziehen, während die restlichen sich „einer solchen Raumtypologie zunächst entziehen“ (Hildebrandt 1983: 1333). Auffallend ist, dass der bei Hildebrandt prominent auftretende „Westkeil“ sich weitgehend mit dem von Lameli (2013: 211−212) erarbeiteten Gliederungssystem deckt, das auf 383 Einzelvarianten aus dem Wenker-Material basiert. Nicht bei Hildebrandt berücksichtigt sind Verbreitungsstrukturen, welche aus den unterschiedlichen Arealgrößen bestimmter lexikalischer Phänomene resultieren. So finden sich im DWA Karten, die in bestimmten Bereichen extrem kleinräumig parzellierte Verbreitungsstrukturen aufweisen, denen in anderen Bereichen der gleichen Karte großräumige Strukturen gegenüberstehen. In der Regel zeigen die westdeutschen Bereiche der Wortkarten im Gegensatz zum Osten eine eher kleinkammerige Struktur. Als Beispiele hierfür können die DWA-Kt. Klempner (DWA, 9: Kt. 2), Töpfer (DWA, 9: Kt. 6 und 7), Wagenmacher (DWA, 9: Kt. 8 und 9), Hagebutte (DWA, 11: Kt. 3 und 3), Stachelbeere (DWA, 11: Kt. 10), Kreisel (DWA, 12: Kt. 5 und 6), Peitsche (DWA, 12: Kt. 8), Star (DWA, 15: Kt. 12) oder wiehern (DWA, 19: Kt. 13) gelten. Die großräumigeren Strukturen im Osten können darauf zurückgeführt werden, dass diese Gebiete erst seit dem 12. Jahrhundert deutschsprachig wurden und dass sich während und nach der Ansiedlung deutscher Siedler sprachliche Ausgleichsprozesse vollzogen haben. Diese in der Lexik ersichtlichen Phänomene korrespondieren auch mit Ähnlichkeitsrelationen aufgrund lautlicher und morphologischer Gegebenheiten, wie sie Lameli (2013: 114−116) herausgearbeitet hat. Dennoch finden sich auch im Osten kleinräumig-komplexe lexikalische Strukturen, die teilweise darauf zurückzuführen sind, dass die Besiedelung des deutschen Ostens aus verschiedenen Gegenden und über verschiedene Stationen erfolgte. So finden sich in der ostmitteldeutschen Lexik niederfränkisch-niederländische Komponenten wie Päde ‘Quecke’ < rhein.-nl. Padem, Pettem, Peen; Else ‘Erle’ < nl. Els oder Wendrich ‘männliche Ente’ < rhein.-limburgisch Wenderich. Das im Südschlesischen isoliert bezeugte spilla gehn ‘nachbarliche Besuche machen’ (Bellmann 1965: Kt. II, 88) findet seine Entsprechungen im hessisch-thüringischen spellen/spillen gehen (HNWb, III: 660; ThWb, V: 1339). Lexikalische Beziehungen zum Ostfränkischen und Baierischen finden sich vor allem am Südrand des Ostmitteldeutschen mit Wörtern wie Kren ‘Meerrettich’, Samstag ‘Sonnabend’, Binder ‘Böttcher’, Erdäpfel ‘Kartoffel’, Schmetten ‘Rahm’, Paradeiser ‘Tomate’, Schwamm ‘Pilz’ oder greinen ‘weinen’.
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5. Exemplarische Fallstudien 5.1. Semasiologische Fallstudie Die Karten des DWA und die der Kleinraumatlanten bieten, sofern es sich um die Lexik handelt, in der Regel Karten, in denen die Bezeichnungen für den abgefragten Sachverhalt kartographisch dargestellt werden (onomasiologische Karten). Nur in wenigen Fällen sind bisher Bedeutungskarten (semasiologische Karten) zur deutschen Lexik publiziert worden, z. B. für Korn, das in verschiedenen Gegenden Deutschlands die Bedeutungen ‘Getreide’, ‘Roggen’, ‘Gerste’, ‘Hafer’, ‘Weizen’ oder ‘Dinkel’ haben kann (Goossens 1969: Kt. 27). Zusammenfassend zu den Darstellungen von Schumacher (1955) und Mitzka ([1954] 1968) soll hier die Semantik von Mücke schwerpunktmäßig für die mitteldeutschen Mundarten erörtert werden. Die biologische Vielfalt der Zweiflügler-Insekten findet in den Bezeichnungen innerhalb der deutschen Mundarten nur insoweit eine Differenzierung, als dass die verschiedenen Arten in der alltäglichen Kommunikation eine Rolle spielen. In fast allen Mundarten werden dabei drei Gruppen sprachlich unterschieden: die Fliegen (Muscidae), darunter besonders die Stubenfliege (Musca domestica), die Mücken, vor allem die Stechmücken (Culicidae) mit der Gemeinen Stechmücke (Culex pipiens) und die Bremsen (Tabanidae), z. B. die Viehbremse (Tabanus bromius) oder die Regenbremse (Haematopota pluvialis). Nach den Bezeichnungen für alle diese Arten wurde bei den Erhebungen für den DWA gefragt und die Antworten wurden in den Kt. Die Fliege (DWA, 1: 5), Die Mücke (DWA, 1: 11) und Die Viehbremse (DWA, 5: 12) in Kartenform veröffentlicht. Auf der Kt. Die Fliege finden sich im überwiegenden Teil Fliege bzw. die mundartlichen Repräsentationen Flieg, Fliech, Fleeg, Fleig, Fluig, Floig usw., doch im Rhein-, Mosel-, Ostfränkischen, Nordschwäbischen, Niederalemannischen und davon abseits im Emsland Formen zu Mücke wie Mügge, Mick, Migg, Meck, Möck und mit oberdeutscher Umlauthinderung Muck, Mugg, Mucke, Mugge (wie Bruck−Brücke, Rucken−Rücken). Dazu noch eine kleinere Insel mit Schnoke in Rheinhessen und der Nordpfalz sowie eine Breme-Insel südlich von Nürnberg. Die Kt. Die Mücke zeigt vereinfacht folgendes Bild: Mücke in seinen mundartlichen Varianten herrscht im gesamten Sprachgebiet vor, jedoch unterbrochen von Gebieten mit Schnake/Schnoke im Rheinund Ostfränkischen, Thüringischen, Schwäbischen und Niederalemannischen. Ein kleines Gebiet in Rheinhessen und der Nordpfalz kennt Bodhammel. Schließlich existiert noch ein Gebiet mit Stau(n)z(e) im Bairischen sowie ein Gö(l)sse-Gebiet in Österreich. Für die Semantik von Mücke und Schnake lassen sich in der Kombination der DWA-Kt. Die Fliege und Die Mücke im Westmitteldeutschen mehrere Gebiete herausarbeiten (s. Kt. 23.3): (1) (2) (3) (4) (5)
Mücke ‘Stechmücke’ / Fliege ‘Stubenfliege’ Mücke ‘Stechmücke’ / Mücke ‘Stubenfliege’ Schnake ‘Stechmücke’ / Mücke ‘Stubenfliege’ Bodhammel ‘Stechmücke’ / Schnake ‘Stubenfliege’ Schnake ‘Stechmücke’ / Fliege ‘Stubenfliege’
Als Ursache für das gänzliche Fehlen der Bezeichnung Fliege in Teilen des Westmittelund Westoberdeutschen wurde Homonymiefurcht erwogen, weil in Teilen dieses Gebie-
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
Kt. 23.3: Die Semantik von Mücke und Schnake im südwestlichen Mitteldeutschen
tes die Pluralformen von Fliege und Floh, nämlich [fli:(ǝ)] lautlich zusammengefallen seien (Goossens 1969: 111). Bei Betrachtung der Formen in den einschlägigen Mundartwörterbüchern ist dieser Zusammenfall jedoch nur in wenigen Mundarten zu beobachten. Die Polysemie von Mücke im Gebiet (2) wird teilweise dadurch umgangen, dass in vielen Orten zur Unterscheidung der Stechmücke von der Stubenfliege differenzierende Zusätze vorangestellt werden, z. B.: scheele Mück(e), blinde Mück(e), Büsmück oder Stechmück.
5.2. Onomasiologische Fallstudie Inwieweit onomasiologisch orientierte Sprachkarten über die im DSA dokumentierten Themen hinaus anhand der vorliegenden großlandschaftlichen Dialektwörterbücher gewonnen werden können, soll im Folgenden an einem Beispiel untersucht werden. Vom Anspruch dieser Wörterbücher, den dialektalen Wortschatz ihrer Arbeitsgebiete in phonetischer, semantischer und sprachgeographischer Hinsicht hinreichend zu dokumentieren, sollte solches auch möglich sein. Doch begegnen hierbei praktische Probleme, was einerseits die Belegdichte und andererseits die Anordnung der Lemmata betrifft. Denn die hier herangezogenen Wörterbücher erlauben nicht den unmittelbaren systematischen Zu-
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griff auf die Inhaltsseite der Wörter (signifié) sondern nur auf die Ausdrucksseite (signifiant), welche in der alphabetischen Anordnung der Lemmata hervortritt. Sucht man nun in diesen Wörterbüchern die Bezeichnungen zu bestimmten Begriffen oder Sachverhalten (z. B. für ‘das schmerzende Prickeln, wenn unterkühlte Hände oder Füße plötzlich in die Wärme kommen’) so gibt es keinen systematischen Zugriff, sondern man muss mit viel Scharfsinn suchen. Bei dem im Folgenden gewählten Beispiel, nämlich die mundartlichen Bezeichnungen für ‘Linkshänder’, ist der Einstieg über link(s) möglich, von wo man weiter verwiesen wird. Alle Bezeichnungen für Linkshänder enthalten eine Komponente mit der Bedeutung ‘link(s)’, wobei neben der vorherrschenden Bezeichnung link(s) auch Synonyme wie schlinks (ahd., mhd. slinc ‘link’, nl. slinks ‘links’), schlimm (mhd. slim ‘schief, verkehrt’), lurz, lurtsch (mhd. lurz ‘link’) oder lucht (mnd. lucht ‘link’) aufweisen. Dabei kann schlinks im Westmoselfränkischen als schlenks bzw. schlanks und lucht im Bergischen als lout realisiert werden. Dabei werden Bezeichnungen für den Linkshänder einerseits durch deadjektivische Ableitungen (Linker, Linkser, Lurzer, Lurtschert, Schlenkser, Schlinksert, Schlammer [=Schlimmer] u. a.) und andererseits durch Komposition mit dem ‘link(s)’ bedeutenden Element als Bestimmungswort (Linkstatsche, Lurtschpot, Loutsfaust, Linkstaps u. a.) gebildet. Das Grundwort besteht in einem großen Teil der Fälle aus affektiv aufgeladenen, pejorativen Bezeichnungen für ‘Hand’ wie Pfote (ma. -pot, -pote, -put, -pout, -fote), Tatsche (‘Tatschhand’) (ma. -datsch(e), -dädsche, -dotsch(e), -totsch(e)), Tatze, Patsche (‘Patschhand’), Patt (frz. patte ‘Pfote’),
Kt. 23.4: Bezeichnungen für ‘Linkshänder’ nach den Angaben großlandschaftlicher Wörterbücher in den mitteldeutschen Mundarten
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen
Tapps, Täppisch, Klaue, Flutsch, Futsch, Faust u. a. Daneben auch auf abschätzig gebrauchte Personennamen -michel, -peter, pit. Diese Benennungen zeigen, dass Linkshändigkeit in der Regel als das Unnormale, Verkehrte gesehen wurde. Diese Einstellung wird in allen mitteldeutschen Mundarten sichtbar. Was die Erarbeitung einer Kt. ‘Linkshänder’ anhand der großlandschaftlichen Wörterbücher betrifft, so kann mit ihnen nur ein gewisser Überblick gewonnen werden, wobei das RhWb mit der Kt. links (RhWb, V: Kt. 10) und das PfWb und ShWb mit den Kt. Linkshänder (PfWb, IV: Kt. 280; ShWb, IV: Kt. 29) relativ flächendeckende Aussagen ermöglichen. Beim HNWb und den übrigen ostmitteldeutschen Wörterbüchern sind jedoch nur punktuelle Aufschlüsse möglich.
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729
730
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte LuxSA = Bruch, Robert 1963 Luxemburgischer Sprachatlas: Laut- und Formenatlas, herausgegeben von Ludwig Erich Schmitt. Für den Druck vorbereitet von Jan Goossens (Deutscher Sprachatlas, Regionale Sprachatlanten 2). Marburg: Elwert. LuxWb = Luxemburger Wörterbuch 1950−1977 Im Auftrag der Großherzoglich Luxemburgischen Regierung herausgegeben von der Wörterbuchkommission, auf Grund der Sammlungen, die seit 1925 von der Luxemburgischen Sprachgesellschaft und seit 1935 von der Sprachwissenschaftlichen Sektion des Großherzoglichen Instituts veranstaltet worden sind, 5 Bde. Luxemburg: Buchdruckerei P. Linden. Macha, Jürgen, Helmut Lausberg & Stephan Elspaß 2005 Die Wortschatzentwicklung im Mittelfränkischen. In David Alan Cruse, Franz Hundsnurscher, Michael Job & Peter Rolf Lutzeier (Hrsg.), 1152−1159. Maurer, Friedrich 1929 Sprachschranken, Sprachräume und Sprachbewegungen im Hessischen. Hessische Blätter für Volkskunde 28. 43−109. Mitzka, Walther 1968 [1954] Homonymie und Gemeinschaftsnamen in deutscher Wortgeographie. In Walther Mitzka, Kleine Schriften zur Sprachgeschichte und Sprachgeographie, 399−410. Berlin: Walter de Gruyter. Möller, Robert 2001 Rheinische Wortgeographie − dialektometrische Kartenauswertung. Dialectologia et Geolinguistica 9. 35−54. MRhSA = Bellmann, Günter, Joachim Herrgen & Jürgen Erich Schmidt 1994−2002 Mittelrheinischer Sprachatlas, 5 Bde. Tübingen: Niemeyer. Müller, Gertraud & Theodor Frings 1968 Germania Romana II: Dreißig Jahre Forschung romanische Wörter (Mitteldeutsche Studien 19.2). Halle: Niemeyer. PfWb = Pfälzisches Wörterbuch 1965−1998 Begründet von Ernst Christmann, fortgeführt von Julius Krämer, bearbeitet von Rudolf Post unter Mitarbeit von Josef Schwing und Sigrid Bingenheimer, 6 Bde. Wiesbaden & Stuttgart: Steiner. Post, Rudolf 1982 Romanische Entlehnungen in den westmitteldeutschen Mundarten: Diatopische, diachrone und diastratische Untersuchungen zur sprachlichen Interferenz am Beispiel des landwirtschaftlichen Sachwortschatzes (Mainzer Studien zur Sprach- und Volksforschung 6). Wiesbaden: Steiner. Post, Rudolf 1986 Zettel und EDV: Methodische und praktische Probleme beim Einsatz von EDV in einem laufenden Dialektwörterbuchunternehmen. In Hans Friebertshäuser (Hrsg.), Lexikographie der Dialekte: Beiträge zu Geschichte, Theorie und Praxis (Reihe Germanistische Linguistik 59), 115−123. Tübingen: Niemeyer. Post, Rudolf 1998 Möglichkeiten der elektronischen Strukturierung, Vernetzung und Verfügbarmachung von lexikographischen Daten bei der Arbeit am Pfälzischen Wörterbuch. In Rudolf Grosse (Hrsg.), Bedeutungserfassung und Bedeutungsbeschreibung in historischen und dialektologischen Wörterbüchern (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse 75, Heft 1), 211−220. Leipzig: Hirzel. Post, Rudolf 2016 [2000] Dialekt-Wortschatzsammlungen in der Pfalz und ihrer Nachbarschaft. In Rudolf Post, Kleines pfälzisches Wörterbuch: Pfalz und Kurpfalz, 4. Aufl, 175−179. Neckarsteinach: Edition Tintenfass.
23. Die areale Lexik im Mitteldeutschen Protze, Helmut 1997 Wortatlas der städtischen Umgangssprache: Zur territorialen Differenzierung der Sprache in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen (Mitteldeutsche Forschungen 114). Köln u. a.: Böhlau. Ramge, Hans 1987 Flurnamen zwischen Rhein und Main: Vorläufige Beobachtungen zu hessisch-pfälzischen Namenräumen. In Wolfgang Kleiber (Hrsg.), Symposium Ernst Christmann (Mainzer Studien zur Sprach- und Volksforschung 11), 101−119. Wiesbaden: Steiner. Reichmann, Oskar 1966 Der Wortschatz der Siegerländer Landwirtschaft und Haubergswirtschaft, 2 Bde. (Deutsche Dialektgeographie 48). Marburg: Elwert. RhWb = Rheinisches Wörterbuch 1928−1971 Herausgegeben und bearbeitet von Josef Müller. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde und des Provinzialverbandes der Rheinprovinz. Auf Grund der von J. Franck begonnenen, von allen Kreisen des Rheinischen Volkes unterstützten Sammlung, 9 Bde. Bonn & Berlin: Fritz Klopp. Schlesisches Wörterbuch 1963−1965 Bearbeitet von Walther Mitzka, 3 Bde. Berlin: De Gruyter. Schmeller, Johann Andreas 1872−1877 [1827−1837] Bayerisches Wörterbuch, zweite, mit des Verfassers Nachträgen vermehrte Ausgabe, bearbeitet von Georg Karl Frommann, 2 Bde. München: Oldenbourg. Schmitt, Eva-Maria 1988 Mundartwörterbücher des Rheinlandes: Eine Bibliographie. Köln: Rheinland Verlag. Schumacher, Theo 1955 Studien zur Bedeutungsgeographie deutschmundartlicher Insektennamen (Beiträge zur deutschen Philologie 5). Gießen: Wilhelm Schmitz. Schuppener, Georg 2002 Bibliographie zur Sondersprachenforschung (Sondersprachenforschung 6). Wiesbaden: Harrassowitz. ShWb = Südhessisches Wörterbuch 1965−2010 Begründet von Friedrich Maurer. Nach den Vorarbeiten von Friedrich Maurer, Friedrich Stroh und Rudolf Mulch bearbeitet von Rudolf Mulch und Roland Mulch, 6 Bde. Marburg: Elwert. Siegel, Elli 1964 Deutsche Wortkarte 1890−1962: Eine Bibliographie (Beiträge zur deutschen Philologie 33). Gießen: Schmitz. Siegel, Elli 1974 Deutsche Wortkarte 1963−1970: Eine Bibliographie (Fortsetzung) (Beiträge zur deutschen Philologie 40). Gießen: Schmitz. Siegel, Elli 1981 Deutsche Wortkarte 1971−1978: Eine Bibliographie (Ergänzung) (Beiträge zur deutschen Philologie 40a). Gießen: Schmitz. Solau-Riebel, Petra & Petra M. Vogel 2013−2016 Siegerländer Sprachatlas (SiSAL). URL: , letzter Zugriff: 15.09.2016. Spangenberg, Karl 1993 Laut- und Formeninventar thüringischer Dialekte (Thüringisches Wörterbuch Beiband). Berlin: Akademie Verlag. SUF =Wolf, Norbert Richard & Sabine Krämer-Neubert (Hrsg.) 2005−2008 Sprachatlas von Unterfranken, 7 Bde. Heidelberg: Winter. Tallen, Maria 1963 Wortgeographie der Jahreszeitennamen in den germanischen Sprachen. In Ludwig Erich Schmitt (Hrsg.), Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen 2: Festschrift Walther Mitzka, 159−230. Gießen: Schmitz.
731
732
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte ThWb = Thüringisches Wörterbuch 1966−2006 Bearbeitet unter Leitung von Karl Spangenberg, fortgesetzt von Wolfgang Lösch, weitergeführt von Susanne Wiegand, 6 Bde. Berlin: Akademie Verlag. Veith, Werner H. 1971 Die lexikalische Stellung des Nordschlesischen: In ostmittel- und gesamtdeutschen Bezügen: Unter besonderer Berücksichtigung der Weinbauterminologie (Mitteldeutsche Forschungen 66). Köln u. a.: Böhlau. Veith, Werner H. 1979 Isoquantoren: Ein methodisches Hilfsmittel zur historiolinguistischen Rekonstruktion des Sprachenkontakts. In Irmengard Rauch & Gerald Carr (Hrsg.), Linguistic Method: Essays in Honor of Herbert Penzl, 265−284. The Hague u. a.: Mouton. WBF = Fränkisches Wörterbuch 2012 ff. URL: , letzter Zugriff: 02.05.2019. WDU = Eichhoff, Jürgen 1977−2000 Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, 4 Bde. Bern: Francke. Bern & München: Saur. Wenzel, Walter 1930 Wortatlas des Kreises Wetzlar und der umliegenden Gebiete: Text- und Kartenband (Deutsche Dialektgeographie 28). Marburg: Elwert. Westfälisches Wörterbuch 1973 ff. Herausgegeben von der Kommission für Mundart- und Namenforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Neumünster: Wachholtz. Wiesinger, Peter 1983 Die Einteilung der deutschen Dialekte. In Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke & Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.), 807−900. Wiesinger, Peter 2005 Historische Grundlagen und Voraussetzungen der gegenwärtigen deutschen Wortgeographie. In David Alan Cruse, Franz Hundsnurscher, Michael Job & Peter Rolf Lutzeier (Hrsg.), 1108− 1137. WKW = Wolfgang Kleiber (Hrsg.) 1990−1996 Wortatlas der kontinentalgermanischen Winzerterminologie, bearbeitet von Sigrid Bingenheimer, Mathias Gotschy, Manfred Halfer, Wolfgang Kleiber, 6 Bde. Tübingen: Niemeyer. WOS = Wörterbuch der obersächsischen Mundarten 1994−2003 Bearbeitet von Gunter Bergmann, Ingrid Eichler, Dagmar Helm, Isolde Neumann, Horst Weber, Lothar Wezel, Hartmut Wittkowski, Ingrid Wittkowski, 4 Bde. Berlin: Akademie Verlag. Wrede, Adam 2010 [1956−1958] Neuer kölnischer Sprachschatz. Köln: Greven.
Rudolf Post, Gabsheim (Deutschland)
24. Die areale Lexik im Niederdeutschen
733
24. Die areale Lexik im Niederdeutschen 1. Gegenstandsbestimmung 2. Erforschung der dialektalen Lexik 3. Historische und dynamische Aspekte der Lexik
4. Verbreitungsstrukturen dialektaler Lexik 5. Fallstudie: Bezeichnungen des Holunders 6. Literatur
1. Gegenstandsbestimmung 1.1. Das Darstellungsgebiet Das niederdeutsche Sprachgebiet wird im Norden, Westen und Osten durch die Nationalsprachen Dänisch, Niederländisch und Polnisch begrenzt, im Süden durch die hochdeutschen Dialekte. In der Grenzregion zum Dänischen ist ein Kontaktraum mit Niederdeutsch, Friesisch, Dänisch und Südjütisch neben der deutschen Standardsprache entstanden (Wilts 1978: 158). Im Westen fungiert mittlerweile die Staatsgrenze, die zugleich die Grenze zwischen den überdachenden Standardsprachen Niederländisch und Deutsch darstellt, auch als niederdeutsche Sprachgrenze, so dass das historische Dialektkontinuum zwischen niederländischen und niederdeutschen Dialekten unterbrochen ist (vgl. Kremer 1979: 158; Smits 2011: 297−298). Nach Osten schließt sich das Polnische östlich der Oder an, wo bis 1945 auch die Regionen Hinterpommerns und Ostpreußens zum niederdeutschen Sprachraum gehörten. Südlich der niederdeutschen Dialekte erstreckt sich der hochdeutsche Sprachraum. Als Kriterium zur Abgrenzung von Hochdeutsch und Niederdeutsch gilt die Durchführung der Zweiten oder Hochdeutschen Lautverschiebung. Unter wortgeographischer Perspektive ist zum Hochdeutschen ein „breites gestaffeltes Übergangsgebiet“ zu konstatieren, „das aber auch Linienbündel aufweist, die teilweise mit wichtigen Lautgrenzen übereinstimmen“ (Schönfeld 2005: 1175). Im niederdeutschen Sprachgebiet fungiert das Hochdeutsche als überdachende Standardsprache und wird − mit norddeutschen Merkmalen durchsetzt − ebenfalls als (gesprochene) Umgangssprache verwendet, so dass man im Norden eine Konkurrenzsituation Hochdeutsch − Niederdeutsch mit unterschiedlichen Domänen vorfindet.
1.2. Ziele und Aufgaben Wesentliche Bezugspunkte für eine Darstellung der arealen Lexik des Niederdeutschen sind die Wortschatzdokumentationen in den Wörterbüchern (Kap. 2.1.), deren Tradition ins 18. Jahrhundert zurückreicht (Kap. 2.4.), in geringerem Umfang auch − über den Deutschen Wortatlas (DWA) hinaus − die regionalen Atlanten (Kap. 2.2.) sowie monographische Abhandlungen (Kap. 2.3.). Die Dynamik des Lexikons schlägt sich insbesondere in Kontaktformen nieder (Kap. 3.1.), wobei die Advergenz zum Hochdeutschen die neuere Entwicklung bestimmt (Kap. 3.2.). Eine besondere Rolle spielen im lexikalischen Bereich die Fachsprachen (Kap. 3.3.), die mit den Sprachen der Fischer, Windmüller, Reepschläger, Landwirte sowie des Deich- und Sielwesens ein überwiegend regionsspezifisches Berufsprofil hervortreten lassen. Wie an Beispielen zu zeigen sein wird, verweihttps://doi.org/10.1515/9783110261295-024
734
III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
sen die lexikalischen Verbreitungsstrukturen ebenso auf historische Schichtungen wie auf Übergangsräume zu den angrenzenden Sprachlandschaften (Kap. 4. und 5.).
2. Erforschung der dialektalen Lexik Die dialektale Lexik des Niederdeutschen ist bereits in mehreren Überblicksdarstellungen zusammenfassend behandelt worden (v. a. Schönfeld 2005; Niebaum 2002, 2004; Schophaus 1983). Darüber hinaus ist die areale Verteilung im Untersuchungsgebiet durch eine Reihe von zumeist großräumigen Wörterbüchern dokumentiert, die im 20. Jahrhundert gegründet und teilweise fertiggestellt wurden (s. Tab. 24.1). Nur wenige Sprachatlanten berücksichtigen in einem nennenswerten Umfang die niederdeutsche Lexik (s. Tab. 24.2), da die areal differenzierenden Kartenwerke des norddeutschen Raums primär auf phonetische und morphologische Eigenheiten zielen.
2.1. Wörterbücher Die Bearbeitungsgebiete der großlandschaftlichen deutschen Dialektwörterbücher sind sprachlich nicht homogen, sondern können stark divergente dialektale Großräume umfassen (z. B. Niedersächsisches Wörterbuch [Nds.Wb.], Mittelelbisches Wörterbuch [Mittelelb.Wb.]). Zudem sind Überschneidungen der Bearbeitungsgebiete zu konstatieren, in größerem Ausmaß etwa zwischen dem Westfälischen Wörterbuch (Westf.Wb.) und dem Nds.Wb. sowie vom Pommerschen Wörterbuch (Pomm.Wb.) mit dem Mecklenburgischen Wörterbuch (Meckl.Wb.), dem Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch (BBWb.) und dem Preußischen Wörterbuch (Preuß.Wb.). Daneben werden mit dem Südmärkischen im BBWb. und mit dem Thüringischen und Anhaltischen im Mittelelb.Wb. mitteldeutsche Dialektgebiete erfasst. Im Preuß.Wb. ist neben dem Niederpreußischen auch das Hochpreußische dokumentiert.
Kt. 24.1: Erhebungsgebiete großräumiger Wörterbücher (aus Friebertshäuser 1983: 1287; schraffiert: in zwei Wörterbüchern berücksichtigte Gebiete)
Darstellungszeitraum Ende 19. Jh.− 2. Hälfte 20. Jh.
Mitte 18. Jh.− 2. Hälfte 20. Jh.
vereinzelt ab 1700; bes. 1840− ca. 1930 auch mnd.; 17. Jh.–2. Hälfte 20. Jh. auch mnd.; 17. Jh.–2. Hälfte 20. Jh.
Erhebungszeitraum
1922/1927− 2. Hälfte 20. Jh.
1935− 2. Hälfte 20. Jh.
1902− ca. 1930
1917− ca. 1985
1926− ca. 1970
Name
Westfälisches Wörterbuch (Westf.Wb.)
Niedersächsisches Wörterbuch (Nds.Wb.)
SchleswigHolsteinisches Wörterbuch (Schl.-H.Wb.)
Hamburgisches Wörterbuch (Hamb.Wb.)
Mecklenburgisches Wörterbuch (Meckl.Wb.)
1937−1992, Nachtrag 1998
1956−2006
1927−1935
seit 1953 (2017: Bd. 11 bis snir)
seit 1969 (Beiband), 1. Lieferung 1973 (2017: Bd. 3 bis luttersk)
Publikationszeitraum
Fragebögen, örtl. Sammler, Direkterhebung, Literatur, Einsendungen
örtl. Sammler, Direkterhebung, Literatur, Einsendungen
örtl. Sammler, Literatur, Einsendungen
Fragebögen, örtl. Sammler, Direkterhebung, Literatur, Einsendungen
Fragebögen, örtl. Sammler, Direkterhebung, Literatur, Einsendungen
Erhebungsmethoden
bisher vollständig 8 Bde. = 4361 S.
bisher vollständig 3 Bde. = 2213 S.
Bände Seiten
MecklenburgischVorpommersch (Mecklenburgisch)
Nordniederdeutsch (Hamburgisch)
8 Bde. = 4735 S.
5 Bde. = 2665 S.
Nordniederdeutsch 5 Bde. = (Schleswigisch, Dithmarsisch, 2646 S. Holsteinisch)
Nordniederdeutsch (Ostfriesisch, Oldenburgisch, Nordhannoversch), Westfälisch (Emsländisch), Ostfälisch (Heideostfälisch, Kernostfälisch, GöttingischGrubenhagensch)
Westfälisch
Untersuchungsgebiet (vgl. Wiesinger 1983; Schröder 2004)
53
0
0
93
20 (Bd. 1)
Anzahl Sprachkarten
Tab. 24.1: Großlandschaftliche Dialektwörterbücher im niederdeutschen Sprachgebiet (Anordnung nach Erhebungsgebieten von West nach Ost; werden lediglich Teilgebiete eines Dialektraums erfasst, sind diese in Klammern angegeben)
24. Die areale Lexik im Niederdeutschen 735
Darstellungszeitraum 1. Hälfte 20. Jh. (vereinzelt hist. Belege)
19. Jh.−Mitte 20. Jh.
20. Jh.
bes. 20. Jh.
Erhebungszeitraum
1935−1958
1939−1964
1925−1939 (Archivverlust), 1948− ca. 1967
1911−1944 (Archivverlust), 1952−1960
Name
Mittelelbisches Wörterbuch (Mittelelb.Wb.)
BrandenburgBerlinisches Wörterbuch (BBWb.)
Pommersches Wörterbuch (Pomm.Wb.)
Preußisches Wörterbuch (Preuß.Wb.)
Tab. 24.1 (fortgesetzt)
Fragebögen, örtl. Sammler, Direkterhebung, Literatur
Erhebungsmethoden
1936−1944 bis Fingernagel) 1974−2005
seit 1997 (2017: Bd. 2 bis sörreher)
Fragebögen, örtl. Sammler, Literatur
Fragebögen, örtl. Sammler, Direkterhebung, Literatur, Einsendungen
1968/1976−2001 Fragebögen, örtl. Sammler, Direkterhebung, Literatur
seit 2002 (2017: Bd. 3 bis Samt)
Publikationszeitraum
Niederpreußisch, Hochpreußisch
MecklenburgischVorpommersch (Vorpommersch), Mittelpommersch, Ostpommersch
Brandenburgisch
Brandenburgisch (Nord-, Mittelbrandenburgisch), Ostfälisch (Elbostfälisch), Thüringisch (Nordthüringisch), Obersächsisch (Anhaltisch)
Untersuchungsgebiet (vgl. Wiesinger 1983; Schröder 2004)
160
27
Anzahl Sprachkarten
6 Bde. 3665 S.
417
bisher 40 vollständig 1 Bd. = 854 S.
4 Bde. 2536 S.
bisher vollständig 2 Bde. = 1343 S.
Bände Seiten
736 III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
24. Die areale Lexik im Niederdeutschen
Die großlandschaftlichen Wörterbücher zielen auf eine umfassende Dokumentation des dialektalen Wortschatzes innerhalb der Region. Neben einem kulturhistorisch-volkskundlichen Interesse (Meckl.Wb., Schl.-H.Wb., Hamb.Wb.) und einer dadurch motivierten enzyklopädischen Darstellung rückt die Dokumentation arealer Variation in den Blick und führt zur Aufnahme von Dialektkarten, die neben lexikalischen auch lautliche und grammatische Differenzen verzeichnen (Pomm.Wb., Nds.Wb., Westf.Wb.). Die areale Verbreitung der Lexeme und ihrer Varianten ist i. d. R. durch die Nennung von Belegorten bzw. -räumen innerhalb der Wörterbuchartikel gekennzeichnet. Zusätzliche Lautund/oder Wortkarten in größerer Zahl kommen seltener vor (Preuß.Wb., BBWb., Nds.Wb.).
2.2. Sprachatlanten Die wenigen auf das Niederdeutsche bezogenen (kleinräumigen) Sprachatlanten verfügen im Vergleich mit den Kleinraumatlanten des Mittel- und Oberdeutschen über deutlich weniger wortgeographische Karten. Im Plattdeutschen Wortatlas von Nordwestdeutschland (Peßler 1928) werden auf lediglich 19 Karten ausschließlich Begriffe rund um das Bauernhaus berücksichtigt. Die umfassendste Beleggrundlage bietet der Atlas der Celler Mundart (Mehlem 1967), in dem die Daten im Vergleich mit dem Befund des Deutschen Sprachatlasses (DSA) dargestellt werden und diesen ergänzen und präzisieren sollen. Neueren Datums sind der Sprachatlas für Rügen und die vorpommersche Küste (Herrmann-Winter 2013) sowie der digitale Interaktive Sprachatlas des westfälischen Platt (ISA), der aktuell 13 Wortkarten bietet (Stand: 2017) und diese auch auditiv wahrnehmbar macht. Der Dialektatlas Westmünsterland − Achterhoek − Liemers − Niederrhein (Cornelissen, Schaars & Sodmann 1993) stellt die Verhältnisse im deutsch-niederländischen Grenzgebiet vergleichend dar. Ausschließlich die lautliche und morphologische Ebene behandelt der aktuelle Norddeutsche Sprachatlas (NOSA) (Elmentaler & Rosenberg 2015) und ist daher in der folgenden Tabelle nicht berücksichtigt.
737
Publikationszeitraum 1993
seit 2013 (digital)
1967 1928
2013
Erhebungszeitraum
1991−1994
seit 2011
1943−1964
1907−1926
1962−2006
Name
Dialektatlas Westmünsterland − Achterhoek − Liemers − Niederrhein (DWALN) (Cornelissen, Schaars & Sodmann 1993)
Interaktiver Sprachatlas des westfälischen Platt (ISA)
Atlas der Celler Mundart (Mehlem 1967)
Plattdeutscher Wortatlas von Nordwestdeutschland (Peßler 1928)
Sprachatlas für Rügen (Herrmann-Winter 2013)
direkte Befragung, Tonaufnahmen
direkte Befragung
direkte Befragung
direkte Befragung, Tonaufnahmen
indirekt: Fragebögen
Erhebungsmethoden
Mecklenburgisch-Vorpommersch (Vorpommersch)
Nordniederdeutsch, MecklenburgischVorpommersch, Westfälisch, Ostfälisch
Ostfälisch (Heide-, Kernostfälisch)
Westfälisch (Münsterländisch, Süd-, Ostwestfälisch)
Niederrheinisch, Nedersaksisch, Westfälisch (Westmünsterländisch)
Untersuchungsgebiet (vgl. Wiesinger 1983; Schröder 2004)
127 / 50, davon 31 Wortkarten
105 / 19 Wortkarten
182 / 105, davon 15 Wortkarten
67 / 43, davon 13 Wortkarten (Stand: 24.07.2018)
60 / 58, davon 47 Wortkarten
Anzahl Belegorte / Sprachkarten, Wortkarten
Tab. 24.2: Sprachatlanten mit Wortkarten (Anordnung der Erhebungsgebiete von West nach Ost; werden lediglich Teilgebiete eines Dialektraums erfasst, sind diese in Klammern angegeben)
738 III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
24. Die areale Lexik im Niederdeutschen
2.3. Einzelstudien Neben den Studien, die auf Karten des Deutschen Wortatlasses (DWA) beruhen und das niederdeutsche Sprachgebiet mitberücksichtigen, sind Einzelstudien zur arealen Struktur einzelner Dialektlandschaften, z. T. mit umfangreicherem wortgeographischem Kartenwerk, zum Westniederdeutschen (Schüwer 1978), zur Stader Geest (Bollmann 1942), zum Weser-Hunte-Raum (Warnecke 1939), zum westfälisch-ostniederländischen Grenzgebiet (Kremer 1979), zu Westfalen (Foerste 1958), zum Raum zwischen Benrather und Uerdinger Linie (Heffels 1935), zum südniedersächsischen Raum (Seidensticker 1964), zum Südhannoverschen (Dahlberg 1941), zu Brandenburg (Bretschneider 1981, vornehmlich nach Sachgruppen orientiert), zum Elbe-Saale-Gebiet (Bischoff 1935), zum mitteldeutsch-niederdeutschen Interferenzraum östlich der mittleren Elbe (Stellmacher 1973) und zum Land Stargard (Blume 1932) erschienen. Für die Analyse spezifischer Wortschatzbereiche sind neben den dialektgeographischen Untersuchungen zum Bereich „Haus und Hof“ (Peßler 1928; Warnecke 1939; Schüwer 1978 zur Terminologie des Ackerwagens) die Studien zu Tier- und Pflanzenbezeichnungen zu nennen. In der Regel handelt es sich um nach unterschiedlichen Kategorien (systematisch, alphabetisch) angelegte, teils durch worthistorische Angaben und Hinweise zur Heteronymik ergänzte Wortsammlungen (zu Pflanzenbezeichnungen Huntemann 1931; Lehmann 1939; zu Tierbezeichnungen Heffels 1935). Eine umfängliche Untersuchung der Vogelbezeichnungen in Schleswig-Holstein und Mecklenburg verdeutlicht die Zusammenhänge von Benennungsmotiven und kulturalen wie ökologischen Bedingungen (Strathmann 2008, 1: 23). Eine Darstellung der Bezeichnungen für den Böttcher im niederdeutschen Raum (Witte 1982) verbindet schließlich das Material des DWA mit historischen Daten.
2.4. Wissenschaftsgeschichtlicher Abriss Die lexikographische Erschließung arealer Wortschätze lässt sich in drei Phasen einteilen. Im 18. Jahrhundert stehen die Sammlungen von landschaftlichen Idiotismen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Bereits in dieser Phase offenbart sich ein antiquarisches Interesse, das in der zweiten Phase im 19. Jahrhundert ins Zentrum rückt und durch landschaftsgebundene Sammlungen dem drohenden Verlust des dialektalen Wortschatzes begegnen will. Die frühe großlandschaftliche Lexikographie in der dritten Phase ist zunächst stark von volkskundlichen Interessen geprägt. Später wird, einhergehend mit einer Linguistisierung der Lexikographie, in den entstehenden großlandschaftlichen Wörterbüchern verstärkt auf die areale sprachliche Variation abgehoben (Pomm.Wb., Nds.Wb., Westf.Wb.). Die areale Lexikographie beginnt im ausgehenden 17. Jahrhundert mit der Herausgabe von Idiotismensammlungen (zu den gedruckten niederdeutschen Idiotica vgl. Niebaum 1986, 2004: 175; Schröder 2013; zum gesamten Sprachraum Haas 1994), die sich überwiegend in den Dienst der „Spracharbeit“, der gezielten Kultivierung der deutschen Sprache, stellen oder juristischen Zwecken dienen sollen. Andere Sammlungen werden mit sprachnormierendem Ziel angelegt, um Fehler im Hochdeutschen zu vermeiden (vgl. Haas 1994: 8).
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Die im 19. Jahrhundert entstehenden Wörterbücher nehmen Abschied vom Prinzip des Idioticons und erheben den Anspruch, den gesamten dialektalen Wortschatz eines Raumes zu versammeln (zuerst Kosegarten 1856). Unter Berufung auf Jacob und Wilhelm Grimm sind wesentliche Ziele die Erschließung historischer Schriftzeugnisse (z. B. Klöntrup 1824: III) oder insgesamt der älteren Sprach- und Kulturverhältnisse inklusive der Erforschung der Etymologie (z. B. ten Doornkaat-Koolman 1879: V). Weitere Anliegen sind es, dem Aussterben der Sprache zu begegnen (Danneil 1859: IV) und zusätzlich den Ausbau des Niederdeutschen als Literatursprache zu befördern (Schambach 1858: VI u. XIII). Die dritte Phase wird von den großlandschaftlichen Wörterbüchern mit sprachgeographischem Anspruch und kulturhistorisch-volkskundlicher Ausrichtung dominiert (vgl. Kap. 2.1.). Neueste Entwicklungen zielen auf die digitale Aufbereitung von Wörterbüchern (vgl. Hildenbrandt & Moulin 2012; Peters 2012), wobei für die großlandschaftlichen Wörterbücher bisher erst die Retrodigitalisierung des Hamb.Wb. vorgenommen wurde und die Erarbeitung von Online-Wörterbüchern lediglich punktuell erfolgt ist (vgl. Platt-WB).
3. Historische und dynamische Aspekte der Lexik 3.1. Kontaktphänomene Der Einfluss von Kontaktsprachen auf das Niederdeutsche lässt sich seit der ältesten Zeit nachweisen (zum Einfluss auf das ältere Niederdeutsch vgl. insgesamt Niebaum 2002). Die intensivsten Sprachkontakte sind für das Niederländische zu verzeichnen (de Smet 1983). Nahkontakte spielen in Westfalen (vgl. Kremer 2014), vor allem durch die in den Niederlanden arbeitenden Tagelöhner in der Grafschaft Bentheim, im Klever Land sowie in Ostfriesland eine Rolle, so dass Ponten (1968: 593) „geschlossene niederländische Sprachkerne“ in diesen Regionen zu erkennen vermag. Niederländische Kolonisten hinterließen sprachliche Spuren sowohl in der Mark Brandenburg (Frings & Lerchner 1966; Teuchert [1944] 1972) als auch in den Marschlanden um Bremen und Hamburg herum sowie in Ostholstein. Hier sind vor allem die Wortschatzdomänen Wasserbau und Bodenkultivierung betroffen. Weitere Domänen niederländischer Entlehnungen, die über das Niederdeutsche auch ins Hochdeutsche vermittelt wurden, sind Seefahrt und Handel, z. B. boie, kombüse, makler (de Smet 1983: 741). Teilweise gelangten durch Vermittlung des Niederländischen auch romanische oder arabische Wörter in das Niederdeutsche (Ponten 1968: 597). Das Plautdietsche der Mennoniten, die ursprünglich aus Friesland stammen, weist durch seine lange wechselhafte Kontaktgeschichte neben niederländischen Bestandteilen auch altpreußische, polnische, russische, ukrainische und jiddische Einflüsse auf (Peters 1968: 642−643), hinzu kommen englische (Thiessen 1963) und spanische Kontaktformen in Nord- und Südamerika. Als weitere wesentliche Kontaktsprachen sind Französisch und Englisch hervorzuheben. Französisch wurde im 17. und 18. Jahrhundert als „À-la-Mode-Sprache“, auch über die Vermittlung durch das Hochdeutsche, ins Niederdeutsche aufgenommen. Weitere Entlehnungen kamen durch die französische Besetzung im 19. Jahrhundert hinzu (Mentz 1897: 9). Für den französischen Einfluss auf das Niederdeutsche des Landes Hadeln
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rekonstruiert Kämpfert (1997) die seit dem Mittelalter andauernde Kontaktgeschichte und stellt die Ergebnisse in einem umfangreichen Wörterbuch zusammen. Englische Entlehnungen begegnen bereits seit dem 13. Jahrhundert vor allem im Wortschatzbereich der Seefahrt, z. B. boot, dock, lotse, die weiter in das Hochdeutsche gelangten (vgl. Stanforth 1968: 539). Durch direkten Kontakt sind friesische (bake ‘Landmarke, Feuerzeichen’; vgl. Niebaum 2002: 824; Spenter 1983) und dänische (Hyldgaard-Jensen 1983: 674) wie auch ostseeslawische Elemente (döns ‘heizbare Stube’, gurke; vgl. Kaestner 1983: 696−706) in das Niederdeutsche eingegangen. In Pommern wurden während der Schwedenherrschaft schwedische Wörter aufgenommen (z. B. ankerstock ‘Vollkornbrot, Pumpernickel’, linjon ‘Preiselbeere’, spann ‘Eimer’; vgl. Naumann 2004: 3286). Einige Jiddismen weist Stern (2000) nach. Schließlich ist seit dem 17. Jahrhundert hochdeutscher Einfluss virulent geworden und hat auch zum Import von Lehnwörtern aus anderen Sprachen beigetragen (z. B. aus dem Französischen; vgl. oben).
3.2. Dynamik der Lexik Hinsichtlich der dynamischen Entwicklung der Lexik ist eine horizontale von einer vertikalen Perspektive zu unterscheiden. Einerseits verändert sich der räumliche Geltungsbereich einzelner Lexeme oder Lexemgruppen, andererseits nähert sich der Wortschatz sukzessiv der Standardsprache an. Unter horizontaler Perspektive ist vor allem die Verbreitung von Entlehnungen aus dem Niederländischen und dem Mitteldeutschen zu nennen (vgl. Kap. 3.1. und 4.). Unter vertikaler Perspektive hat die lexikalische Entwicklung bereits seit einer Reihe von Jahrzehnten zur Advergenz zum Hochdeutschen geführt. Diese Dynamik lässt sich am Datenmaterial des Projekts Sprachvariation in Norddeutschland (vgl. Elmentaler et al. 2015) ablesen. Bei der Übersetzung der Wenkersätze werden hochdeutsche Formen gewählt, z. B. affe statt aap, flasche statt buddel, schwester statt süster, wiese statt wisch, lernen statt lehren, schmelzen statt oplieden, am meisten statt am mehrsten, sonst statt anners, schon statt al, sehr statt ganz, nur statt man, wie statt wo (Sprecherin NH-OTT01, Vergleichsformen aus Wenkerbogen 47292; vgl. Schröder 2015: 45). Ein Großteil hochdeutscher Entlehnungen im Bereich der Autosemantika dient zur Schließung lexikalischer Lücken. Als ihre Domänen sind die moderne Technologie, die Medien sowie politische, religiöse und erzieherische Institutionen zu nennen (vgl. Reershemius 2004: 111). Bei den Synsemantika ist ebenfalls ein hoher Anteil hochdeutscher Entlehnungen augenfällig. Dies betrifft Interrogativadverbien (warum, wie, wieso, wo), Pronomina (wer, wen, jeden, alles, ich, uns, selber), Konjunktionen (aber, ob, obwohl, sondern, weil, wie) und Gesprächspartikeln (z. B. nein, genau) (Schröder 2015: 45; mit ähnlichen Befunden Hansen-Jaax 1995: 172; vgl. bereits Lasch 1918: 8). Zudem zeigt sich, dass im Niederdeutschen häufig die Variante bevorzugt wird, die ein Pendant im Hochdeutschen hat, und das exklusive niederdeutsche Synonym vermieden wird, so dass auch dadurch die Advergenz-Tendenzen unterstützt werden (vgl. dazu Hansen-Jaax 1995: 169−170). Weitere Formen der Wortschatzdynamik bilden der Verlust wie auch die Erschließung von Domänen. Offensichtlich ist der Verlust von Fachwortschätzen im Wandel vom Mittelniederdeutschen zum Neuniederdeutschen beispielsweise im Rechts- und Verwaltungsbereich (z. B. mnd. del ‘Gerichtspartei’, vörsprake ‘Fürsprecher’, schelden ‘Widerspruch
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einlegen’). Auf der anderen Seite werden neue Domänen erschlossen, bspw. durch niederdeutsche Rundfunknachrichten (vgl. Möhn & Goltz 1999). Hier sind Übersetzungslösungen gefragt, um aktuelle Lücken im Lexembestand zu schließen.
3.3. Funktionale Aspekte der Lexik In älteren Arbeiten zur dialektalen Fachsprache (vgl. Hahn 1983) liegt das Hauptaugenmerk auf einer möglichst kompletten Erfassung des Fachwortschatzes, oftmals ergänzt durch sprachhistorische Hinweise (z. B. zur Sprache der Zimmerleute Saß 1927, der Landwirtschaft Niekerken 1935). Neuere Studien widmen sich kontaktsprachlichen Phänomenen oder dem sprachlichen Wandel. Dabei kommt den Fächern, die ein regionsspezifisches Berufsprofil hervortreten lassen, eine besondere Rolle zu. Fachsprachen wie die des Deich- und Sielwesens an der ostfriesischen Nordseeküste zeigen niederländischen Einfluss durch die Migration niederländischer Deichbaumeister nach Ostfriesland (Beckmann 1969: 373). Der dialektale Fachwortschatz der Müller und Mühlenbauer (Möhn 1986; Meier 1998) ist ebenfalls durch das Niederländische geprägt. Mit wachsender Entfernung von den Niederlanden verringert sich jedoch die Ausbreitungsdynamik der fachsprachlichen Importe, und es werden Benennungen − etwa aus dem Fachwerkbau − auf mühlentechnische Neuerungen übertragen (Möhn 1986: 157). Ausgleichstendenzen zwischen den regionalen Ausprägungen entlang des Flusses, die sich auf niederdeutscher Basis vollziehen, kennzeichnen die Sprache der Elbschiffer (Kettmann 1959/1961, 1998). Demgegenüber weist die Sprache des Reepschlägerhandwerks, die auf norddeutsche Küstenstädte konzentriert ist, kaum auswärtige Einflüsse auf (Eichhoff 1998: 1041; vgl. auch Eichhoff 1968). Der Wortschatzwandel, der mit Neuerungen innerhalb des Faches einhergeht, zeigt sich sowohl am Beispiel des Fischereiwesens (Goltz 1984) als auch am Beispiel der Landwirtschaft (Ruge 1995). An der Sprache des Fischereiwesens wird erkennbar, dass einer Abnahme von Metaphern eine komplexere Gestaltung der Wortstrukturen mit einer höheren Anzahl mehrgliedriger Komposita und expliziter Ableitungen gegenübersteht (Goltz 1984: 332−333). Insgesamt lässt sich ein „Übergang von der regional, sozial und funktional begrenzten Fachmundart zu einer überregionalen Fachsprache mit regionalen Versatzstücken“ konstatieren (Goltz 1984: 333). Dabei stehen den Wortschatzausschnitten, die einem übergreifenden maritimen Sprachgebrauch zuzuordnen sind, Formen gegenüber, die sich auf lokale Eigenheiten, z. B. Gewässerverhältnisse, beziehen (Goltz 1998: 1043). Dieselben Tendenzen zeigen sich im generationsspezifischen Sprachgebrauch der Landwirte. Auch hier wird deutlich, dass mit traditionellen Arbeitstechniken verbundene Bezeichnungen verschwinden (z. B. melkenreck ‘Trocknungsgerüst für Melkgeräte’, melkdouk ‘Milchtuch’) und ein neuer Fachwortschatz mit spezifischen Wortbildungsmustern entsteht (z. B. dreewegehohn ‘Dreiwegehahn’, fischgrätenmelkstand ‘Melkanlage, bei der die Standplätze der Kühe im Fischgrätenmuster angeordnet sind’), wodurch auch hier eine Annäherung an die deutsche fachlich geprägte Standardsprache (Ruge 2000: 141) bewirkt wird.
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4. Verbreitungsstrukturen dialektaler Lexik Hildebrandt (1983) folgend, lässt sich im generell homogenen niederdeutschen Sprachraum ein nordwestliches Gebiet von einem Südsaum abheben, der sich im Osten vom Ostfälischen ausgehend über das Südmärkische in den hinterpommerschen Sprachraum erstreckt (= Raumtypen A und B). Eine zweite sich abzeichnende Linie trennt den nordwestlichen Rand ab (= Raumtypen C−F). In beiden Fällen handelt es sich um lexikalische Variationsräume, bedingt durch die Kontakte zum Mitteldeutschen und zum Niederländischen. Dennoch ist bei vielen von Hildebrandt genannten Beispielen eine rauminterne Variation gegeben. Heteronyme werden von ihm gebündelt dargestellt, um generelle Konturen abzubilden, z. B. wird bei Raumtyp A im nördlichen Raum nachmahd, ettgrön, gramm(e)(n) zusammengefasst, im südlichen Raum grummet, amahd/öhmd (vgl. Hildebrandt 1983: 1383; DWA, 1: Kt. 7; 14: Kt. 1: „Zweiter Grasschnitt“), so dass die weitere Binnengliederung verdeckt bleibt. Vorschläge für die Differenzierung von Wortarealen im Niederdeutschen weisen je nach Dominantsetzung von Isoglossen eine unterschiedliche Körnung und Struktur auf. Schönfeld (2005: 1176−1178) erkennt die lautbezogene Gliederung dialektologischer Großräume auch in der Lexik wieder, verweist aber zusätzlich auf Übereinstimmungen mit angrenzenden (nichtniederdeutschen) Sprachlandschaften. Als Beispiel für eine großräumige lexikalische Gliederung des Westniederdeutschen können die Benennungen für den ‘hakenförmigen Fortsatz am Sensenblatt’, ostfäl. angel, westfäl. hamm(e), emsländisch-südoldenburgisch heckel/hekel, nordndt. arn (Foerste 1957: 1833; Kt. bei Foerste 1960: 11) gelten. Im Westniederdeutschen lässt sich eine Unterscheidung in eine West- und eine Osthälfte anhand der Isoglossen der Bezeichnungen für das ‘Pflugmesser’ (westl. kolter, östl. sek) treffen. Dem entsprechen die unterschiedlich entwickelten Formen der Bezeichnungen für ‘Kupfer’ (westl. koper, östl. kopper) und ‘Pflaume’ (westl. prume, östl. plume [DWA, 17: Kt. 7]) und ebenso die Verbreitung der Homonyme pütte, m. (westl.) und pütte, f. (östl.) als Bezeichnungen für den ‘Brunnen’ (vgl. Niebaum 2004: 153). Alle diese Isoglossen bilden ein breites Bündel westlich der Weser („Weserschranke“, vgl. Schophaus 1983: 186) und bilden westniederdeutsch-rheinische sowie ostniederdeutschmitteldeutsche Zusammenhänge ab. Nord-Süd-Gegensätze beruhen sowohl auf der Expansion nordniederdeutscher Wörter nach Süden als auch auf der Expansion mitteldeutschen Wortschatzes nach Norden. Die Nord-Süd-Expansion wird am Lexem wuddel/wortel ‘Möhre’ sichtbar. In den Reliktgebieten im Südwestfälischen und Südostwestfälischen bleibt maure/mauem mit altem Kürzenbrechungsdiphthong erhalten (DWA, 11: Kt. 6: „Mohrrübe“). Ein ganz ähnliches Bild bietet die Verbreitung von nördl. imme, pogge und südl. bi(ni), forsk für ‘Biene’, ‘Frosch’ (Niebaum 2004: 155−156; Schophaus 1983: 188; vgl. Nds.Wb., 9: 686, Kt. „Frosch“ mit weiteren Heteronymen, u. a. ütze und hüpper im südlichen Ostfälischen). Wesentlich stärker ausgeprägt ist eine Expansion aus dem mitteldeutschen Gebiet Richtung Norden. Die „Hannoversche Schranke“ zeigt ein Isoglossenbündel, das die mitteldeutschen Wortschatzeinflüsse im Norden begrenzt (südl. storch, königin, hus vs. nördl. abär, wiesen, tun ‘Storch’, ‘Bienenkönigin’, ‘Bienenstand’; vgl. Seidensticker 1964: 5−12 und Kt. 1; Niebaum 2004: 155; Schophaus 1983: 187 und Kt. 15).
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An der Oberweser haben sich zudem keilförmige Wortareale gebildet, die auf dem Vordringen des mitteldeutschen Wortschatzes beruhen, z. B. gul vs. perd ‘Pferd’, wise vs. wische ‘Wiese’, (ge)leise vs. tra(de)n ‘Wagenspur’ (vgl. Niebaum 2004: 154; Schophaus 1983: 187 und Kt. 14, 15). Eine ähnliche Entwicklung zeigt die Verbreitung von Fleischer, das sich an der Elbe von Süden aus nach Norden in das Schlachter/SchlächterGebiet ausdehnt (DWA, 9: Kt. 3). Den westlichen Rand kennzeichnet die auch von Hildebrandt identifizierte niederländisch-niederdeutsche Kontaktzone mit westlichen Importen (z. B. flieder ‘Sambucus nigra’ [DWA, 3: Kt. 7], enten ‘Bäume veredeln’; vgl. Niebaum 2004: 157; zu flieder vgl. unten Kap. 5.). Im Ostniederdeutschen sind nach Foerste nord-südliche Gegensätze im Mecklenburgischen zu erkennen, z. B. kütik vs. harrik ‘Hederich’, tram vs. sprat ‘Leitersprosse’, trad vs. lies ‘Wagenspur’, arnbier vs. austköst ‘Erntefest’ (Foerste 1957: 1875), ebenso ostwestliche, wobei das Westmecklenburgische Gemeinsamkeiten mit dem Nordniederdeutschen aufweist, z. B. sod vs. wraus ‘ausgestochenes Rasenstück’, klap vs. schof/bund ‘Bund Stroh’, sle vs. äg ‘stumpf ’ (Foerste 1957: 1877). Im Ostmecklenburgischen macht sich − ebenso wie im Mittelpommerschen − zudem brandenburgischer Einfluss geltend. Insgesamt spiegeln die Wortareale im Ostniederdeutschen die mittelalterlichen Siedlungsbahnen, indem ein niederländisch basierter märkischer Wortschatzraum abgehoben werden kann, der sich bis ins Mittelpommersche erstreckt (vgl. Teuchert 1972: 479− 482). Beispiele sind wätern ‘Vieh tränken’ (Teuchert 1972: 372), pütten ‘Ziehbrunnen’ (Teuchert 1972: 276−281 und Kt. 26), piermade, pieratz ‘Regenwurm’ (Teuchert 1972: 362, Kt. 49; vgl. Niebaum 2004: 160; Schophaus 1983: 192). Diese Tendenzen führen zugleich zu einer Trennung zwischen dem west- und dem ostniederdeutschen Areal an der Elbe. Im Gegensatz zu Hildebrandts Befund, der vordergründig einen einheitlichen Wortschatzraum suggeriert, zeigt sich eine stärkere Varianz im Niederdeutschen. Insbesondere anhand der Wörterbuchdaten lassen sich Muster ausfindig machen, die von einer großen Einheitlichkeit (junge, gestern, träne) bis zu kleinräumiger Differenziertheit reichen (vgl. die Tier- und Pflanzenbezeichnungen mit ihrer reichen Synonymik, z. B. die Bezeichnungen für den Löwenzahn [vgl. Nds.Wb., 7: 617−618] oder für die Bachstelze [vgl. Nds.Wb., 1: 75−76; Preuß.Wb., 4: 679]). Typische Raumstrukturen sind durch die genannten Isoglossenbündel und keilförmigen Verbreitungsgebiete gegeben. In der Regel spiegeln sie sprachliche Kontakte (v. a. zum Niederländischen und zum Mitteldeutschen) und Siedlungsbewegungen (in Brandenburg und Mittelpommern), teilweise aber auch innersprachliche Expansionserscheinungen (vom Nordniederdeutschen nach Süden).
5. Fallstudie: Bezeichnungen des Holunders Anhand der Bezeichnungen für den Holunder (Sambucus nigra) können unter onomasiologischer Perspektive diachrone Schichtungen und Kontaktphänomene, wie sie in Kap. 4. bereits generell angesprochen sind, als musterbildende Faktoren noch einmal exemplarisch herausgestellt werden. Unter semasiologischer Perspektive sollen die Polysemie der Bezeichnungen sowie die Ausbildung homonymer Formen im Mittelpunkt
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stehen, um die Interdependenz onomasiologischer und semasiologischer Strukturen sichtbar zu machen. Die auf der Kt. „Holunder“ des DWA (3: Kt. 7) verzeichneten Befunde können durch die entsprechenden Artikel und Karten der großlandschaftlichen Dialektwörterbücher sowie durch die Ergebnisse kleinräumiger Wortstudien ergänzt und präzisiert werden.
5.1. Onomasiologische Perspektive Für den Holunder (Sambucus nigra) weist der norddeutsche Raum zahlreiche heteronyme Benennungen auf, wobei insbesondere allhorn/ellhorn, fleeder/fledder, holder/holunder, keilken/keitschen/kisseken und büssenholt mit Varianten und Komposita zu nennen sind (vgl. Kt. 24.2: DWA, 3: Kt. 7; König 2015: 212). Das Areal von allhorn/ellhorn, nach Foerste (1962: 22) ein „ausschließlich englischniederdeutsche[s] Wort“, erstreckt sich als breiter Streifen von Dithmarschen und Osthol-
Kt. 24.2: „Holunder“ (DWA, 3: Kt. 7)
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stein (Schl.-H.Wb., 1: 100 u. 1040−1041) im gesamten nordhannoverschen Dialektgebiet und den anschließenden Teilen des Oldenburgischen und Ostwestfälischen (Westf.Wb., 1: 115) bis zur mitteldeutschen Sprachgrenze (vgl. Nds.Wb., 1: 281−282 mit Kt. alhörn/ älhörn). In einer kleinen Enklave am Südufer des Frischen Haffs begegnen die Varianten alorn und alore (Preuß.Wb., 4: 625−626 mit Kt.), die mit heideostfäl. allhorn in Verbindung gebracht werden können (vgl. Mitzka [1943] 1968: 162). Holunder gilt im südlichen Übergangsgebiet des Niederdeutschen zum mitteldeutschen Sprachraum mit der südwestfälischen Variante höllerte (Nds.Wb., 6: 471 u. 525; Westf.Wb., 2: 276). An der Oberweser trennt ein schmaler Keil, in dem mitteldeutsch basiertes holunder vorherrscht, ein westliches allhorn- und ein östliches keilken/kissekenGebiet (vgl. unten) und umspielt die westfälisch-ostfälische Grenze („Weserschranke“; vgl. oben). Im Osnabrücker Raum erstreckt sich ein hollern-Areal zwischen fleeder im Westen und allhorn im Osten. Im Ostfälischen gilt in einem kleinen Gebiet nördlich von Helmstedt um Calvörde höldern als Leitform. Darüber hinaus ist holder in weiten Teilen des Osnabrücker Raums und im Ostfälischen belegt (Nds.Wb., 6: 471). Holunder ist im Ostfälischen allgemein und auch im Brandenburgischen neben der Leitform fleeder/flieder verbreitet (vgl. BBWb., 2: 701−702 mit Kt.; Mittelelb.Wb., 2: 201−202 mit Kt.), verstreut auch in Pommern (Pomm.Wb., 1: 1172). Im gesamten preußischen Dialektgebiet wird allgemein holunder gebraucht (Preuß.Wb., 2: 1033). Im Schleswigischen wird in einem Reliktgebiet hill bzw. hilleboom (Schl.-H.Wb., 2: 794) durch dänischen Einfluss (hyld) gestützt. Die aus dem Niederländischen stammende Bezeichnung fleeder/fledder dominiert in einer Grenzregion zu den Niederlanden von Ostfriesland bis in den niederfränkischen Sprachraum. In Folge der Kolonisation durch niederländische Siedler seit dem 13. Jahrhundert dringt die Bezeichnung in den Elbmarschen und in Holstein in das allhorn/ ellhorn-Gebiet vor. Im Holsteinischen durchzieht sie (v. a. in Komposita wie fleederbeere) in einem schmalen Streifen das ellhorn-Gebiet bis ins Schleswigische. Fleeder verbreitet sich auch im nordhannoverschen Raum (Nds.Wb., 4: 624) und verdrängt in Mecklenburg die Formen allhorn/elder (vgl. Meckl.Wb., 2: 978; Teuchert 1972: 214−215). Das östliche fleeder-Gebiet erstreckt sich vom Mecklenburgischen und Brandenburgischen (vgl. BBWb., 1: 129−130; BBWb., 2: 701−702 mit Kt.) über Pommern (v. a. Vorpommern; vgl. Pomm.Wb., 1: 823−824) bis nach Preußen (außer Samland und Ostgebiet) und etabliert sich dort, auch mit entsprechenden Komposita, neben allgemeinem holunder (Preuß.Wb., 2: 88; 4: 625−626 mit Kt.). Die durch Nutzung des Holunderholzes als Bastelmaterial motivierte Bezeichnung büssenholt (vgl. Reetz 1948: 79) wird vor allem im Münsterländischen verwendet, ebenso in einem kleineren Gebiet im südwestfälischen Hochsauerland (Westf.Wb., 1: 1554). Streubelege kennzeichnen einen östlichen Übergangsraum, in dem büssenholt und hüorlerten nebeneinander stehen (DWA, 3: Kt. 7). Begrenzt auf den ostfälischen Sprachraum sind die wahrscheinlich aus dem Slawischen stammenden Benennungsvarianten vom Typus kalken (besonders um Hannover), keilken (besonders im Nordostfälischen), kisseken (besonders im Südostfälischen) und keitsch(k)en im Elbostfälischen (vgl. Reetz 1948: 50−53; Seidensticker 1999: 75−83; Nds.Wb., 7: 176−177 u. 257). Im Osten bildet der Elbe-Ohre-Verlauf eine scharfe Wortgrenze gegenüber fleeder (Mittelelb.Wb., 2: 201−202 mit Kt.), in westlicher Richtung überschreiten keilken/kisseken-Varianten die Weser nicht, wohingegen im Nordosten keit-
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schen vereinzelt im benachbarten flidder-Gebiet auftritt. Als weitere Entlehnung aus dem Slawischen begegnet in Pommern vereinzelt bäs (vgl. Pomm.Wb., 1: 225).
5.2. Semasiologische Perspektive Häufig werden die Bezeichnungen des Holunders (Sambucus nigra) auf andere Pflanzen übertragen, die ihm optisch ähneln. Allgemein verbreitet ist fleeder für den im 16. Jahrhundert aus Südeuropa eingeführten Gemeinen Flieder (Syringa vulgaris). Attribuierungen sorgen teilweise für eine Unterscheidung, z. B. falsch, schwart, will, witt fleeder für den Holunder (Pomm.Wb., 1: 823; BBWb., 1: 129−130) und spaansch (Meckl.Wb., 2: 978), blag (Pomm.Wb., 2: 823), echt (BBWb., 1: 129), fien fleeder (Hamb.Wb., 2: 108) für den Gemeinen Flieder (vgl. auch Reetz 1948: 93−94). In der Regel aber treten beide Bedeutungen auch ohne Attribute im selben Raum nebeneinander auf, für König (2015: 213) ein Indiz für das fehlende Bedürfnis, Nicht-Nutzpflanzen zu unterscheiden. Im Brandenburgischen, Pommerschen und Preußischen werden Formen von fleeder/fledder für den Wacholder (Juniperus communis) verwendet (vgl. Mittelelb.Wb., 1: 991−992; BBWb., 2: 131; Pomm.Wb., 1: 823−824; Preuß.Wb., 2: 89). Darüber hinaus werden nur sehr vereinzelt weitere Pflanzen durch eine Form von fleeder benannt, in Hamburg der Ahorn (Acer) und die Geißfuß-Pflanze (Aegopodium podagraria) (wille fleeder; Hamb.Wb., 2: 108), im brandenburgischen Kreis Potsdam die Gewöhnliche Traubenkirsche (Padus avium) (BBWb., 2: 131), in Danzig (nur mit Beleg aus dem Jahr 1853) der Falsche Jasmin (Philadelphus coronarius) (Preuß.Wb., 2: 89). Als allhorn/allhörn wird auch der Ahorn im Hamburgischen, im Nordhannoverschen, im Ostwestfälischen und im Norden des Ostfälischen bezeichnet (Hamb.Wb., 1: 91; Nds.Wb., 1: 269−270 mit Kt.; Westf.Wb., 1: 116). Im südlichen Dithmarschen und im Weser-Elbe-Raum begegnet die Variante ellhorn für den Ahorn (DWA, 1: Kt. 1; Mitzka 1950: 32−35 und Kt.). Diese Homonyme sind durch den formalen − bereits im Mittelalter belegbaren − Zusammenfall der Varianten von ahorn und allhorn entstanden (vgl. Mitzka [1954] 1968: 402−403). Die Form ellern wird neben dem Holunder sowohl für den Ahorn als auch für die Erle verwendet (Mitzka 1950: 35−36; Schl.-H.Wb., 1: 1041). Auch holder mit seinen Varianten steht vereinzelt für den Gemeinen Flieder (Mittelelb.Wb., 2: 199) und für den Wacholder (Westf.Wb., 3: 276; BBWb., 2: 695; Mittelelb.Wb., 2: 199; Pomm.Wb., 1: 1172; Mitzka [1954] 1968: 403; vgl. DWA, 3: Kt. 13). Im Ostwestfälischen wird holder auch als Bezeichnung für den Ahorn gebraucht, vereinzelt ebenso in der Variante hallöllerte für den Wilden Schneeballstrauch (Westf.Wb., 2: 276). holunder gilt für den Flieder auch im Ostfälischen (Nds.Wb., 6: 525). Wie bei fleeder dürfte auch hier einerseits die Ähnlichkeit der benannten Pflanzen für die Übertragung gesorgt haben, andererseits ein Zusammenfall der Formen wie bei allhorn. Die Bezeichnungen keiseken und keitschen werden nur vereinzelt für den Ahorn im Oberweserraum (DWA, 1: Kt. 1) und für den Wacholder sowie für die Vogelbeere im Elbostfälischen (Mittelelb.Wb., 2: 451−452) verwendet. Wie bei den anderen Bezeichnungen für den holunder kann hin und wieder auch büssenholt für den Gemeinen Flieder und für den Wacholder stehen (Westf.Wb., 1: 1554).
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5.3. Zur Verschränkung von onomasiologischer und semasiologischer Perspektive Am Beispiel der Bezeichnungen für den Holunder lässt sich das Zusammenspiel von Heteronymie, Polysemie und Homonymie beobachten. Die Betrachtung der Heteronyme erlaubt es, diachrone Wortschichten voneinander abzuheben. Diese werden durch Kontaktformen bestimmt, die sowohl durch Entlehnungen (fleeder) als auch durch Reliktformen (keitschen) zugleich die Besiedlung des Sprachraumes widerspiegeln. An den Heteronymen lassen sich die großen Dialekträume wiedererkennen: Das Nordniederdeutsche, in dem die Formen von allhorn/ellhorn weitgehend Geltung besitzen, das Westfälische mit einem niederländisch beeinflussten Westsaum (fleeder) und einer Binnendifferenzierung, bei der ein kernmünsterländischer Raum (büssenholt), ein südwestfälisches (höllerte) und ein ostwestfälisches (allhorn) Gebiet voneinander abgehoben werden können, wobei Letzteres auf nordniederdeutsche Zusammenhänge weist, und das Ostfälische mit den slawischen Reliktformen (keilken u. a.). Der ostniederdeutsche Raum zeigt sich als recht homogen, hier dominiert die Bezeichnung fleeder, die auf die niederländische Herkunft der Siedler hindeutet. Somit bestätigen sich auch die bereits diskutierten Isoglossenbündel mit der Weser und der Elbe als strukturierende Grenzen und dem mit dem Niederländischen eng verbundenen Westsaum. Südlicher Einfluss entlang der Weser wird durch nach Norden ausgreifendes holunder deutlich. Das Nebeneinander der Bezeichnungen im selben Raum verweist auf ein geringes Bedürfnis einer präzisen Bezeichnung. Auch unter semasiologischer Perspektive wird deutlich, dass der Bedarf an genauer Differenzierung zwischen einzelnen Pflanzen nicht ausgeprägt ist. Neben Übertragungen der Bezeichnung auf eine andere, ähnlich aussehende Pflanze (fleeder, holler) kommt es zum Zusammenfall formal ähnlicher Bezeichnungen für verschiedene Pflanzen (Holunder, Ahorn, Wacholder) im selben Gebiet (vgl. dazu die Kt. 24.3 und 24.4), schließlich auch zu analogen Übertragungen (z. B. fleeder für Wacholder), wodurch die Tendenz zur Generalisierung von Pflanzenbezeichnungen hervortritt.
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Kt. 24.3: „Alhorn/Älhörn“ (Sambucus nigra) (Nds.Wb., 1: 281−282)
Kt. 24.4: „Ahörn/Ähörn“ (Acer) (Nds.Wb., 1: 269−270)
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
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Jürgen Ruge, Hamburg (Deutschland) Ingrid Schröder, Hamburg (Deutschland)
25. Die rezente Dynamik im arealsprachlichen Lexikon 1. Gegenstandsbereich 4. Gesamtgliederungen des arealsprachlichen 2. Kontinuitäten und Diskontinuitäten arealer Lexikons im Bereich der Alltagssprache Lexik zwischen Dialekten und 5. Das Problem der Kodifizierung Standardsprachen standardsprachlicher Lexik in arealer 3. Die rezente Dynamik in arealsprachlichen Perspektive Wortschätzen im Vergleich von Sprachatlanten 6. Literatur
1. Gegenstandsbereich Während die Artikel von Lötscher (22), Post (23) und Ruge & Schröder (24) in diesem Band den Schwerpunkt auf die dialektalen Wortschätze legen, steht im vorliegenden https://doi.org/10.1515/9783110261295-025
25. Die rezente Dynamik im arealsprachlichen Lexikon
Artikel die areale Lexik, die nicht notwendigerweise dem basisdialektalen Wortschatz entspricht, im Vordergrund. Die Darstellung erfolgt entsprechend in einem die traditionellen Dialekträume überspannenden Zugriff. Im vorliegenden Abschnitt sollen Definitionen und Begriffsklärungen zum Gegenstandsbereich gegeben werden, zunächst zu „Variation“ und „Wandel“, dann zum Begriff der „(nicht-dialektalen) Arealität“. Die Dynamik im arealsprachlichen Lexikon zeigt sich in dessen Variation und Wandel. Sprachvariation liegt vor, wenn zur Realisierung einer sprachlichen Funktion mehr als eine sprachliche Form verwendet wird, z. B. Samstag und Sonnabend als Bezeichnungen für den ‘Wochentag vor dem Sonntag’; Sprachwandel liegt vor, wenn sich die Zuordnungen zwischen sprachlichen Funktionen und sprachlichen Formen über die Zeit verändern (nach Pickl 2013: 39). Bezogen auf Lexik und Bedeutung können sich die Zuordnungen in zweierlei Hinsicht ändern und im einen Fall zu Bedeutungswandel (z. B. merkwürdig: ‘bemerkenswert, bedeutsam’, 17.−19. Jh., zu ‘seltsam, verwunderlich’, ab 19. Jh.), im anderen Fall zu lexikalischem Wandel (z. B. ‘bemerkenswert, bedeutsam’: merkwürdig, bis 18. Jh., zu bemerkenswert, ab 18. Jh.) führen. Variation ist Voraussetzung für Wandel, auch wenn nicht jede Variation zu Wandel führt. Mit Weinreich, Labov & Herzog (1968: 100−101) kann Sprachvariation als Schlüssel zur Erforschung von Sprachwandelprozessen betrachtet werden. Diatopische bzw. areale Variation − beide Termini werden hier synonym verwendet − ist ein generisches Phänomen, das nicht nur Dialekte betrifft, sondern weit darüber hinaus bis in standardsprachliche Varietäten reicht (s. Geeraerts 2010: 822). Wortatlasprojekte wie der Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (WDU), der Wortatlas der städtischen Umgangssprache (WSU) oder der Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) arbeiten meist onomasiologisch. Dabei muss sichergestellt sein, dass ein bestimmtes Konzept Ausgangspunkt der Betrachtung ist (z. B. ‘Wochentag vor dem Sonntag’) und die zu ermittelnden Varianten genau dieselbe Bedeutung haben. Wörterbücher zur arealen Variation, wie etwa − zumeist populärwissenschaftliche − Wörterbücher zu regionalen Alltags- oder Umgangssprachen (z. B. Schlobinski 1993; Sedlaczek 2011) oder das Variantenwörterbuch des Deutschen (VWB), sind dagegen grundsätzlich semasiologisch angelegt, d. h. sie sind alphabetisch nach Wortformen angeordnet, deren Bedeutungen erläutert werden (Geeraerts 2010: 824). Ein nicht triviales Problem bei der Erhebung arealer lexikalischer Variation stellt die Tatsache dar, dass eine vollständige Synonymie von Varianten nicht immer sichergestellt ist. So weisen Gewährspersonen bei Umfragen darauf hin, dass z. B. die Frage nach einem ‘kleinen Brot aus Weizenmehl’ zu verschiedenen Wörtern führen kann, die jeweils verschiedene Formen des Gebäcks bezeichnen. Oder es können mit verschiedenen Bezeichnungen für ein Gemüse wie Rotkohl, Rotkraut und Blaukraut verschiedene Zubereitungsweisen zusammenhängen, die tatsächlich die Farbgebung beeinflussen (s. König, Elspaß & Möller 2015: 209). Zur Erforschung des arealen Lexikons, das − wie oben formuliert − nicht notwendigerweise dem dialektalen Wortschatz entspricht, gibt es gegenwärtig zwei Ansätze: Der erste Ansatz gründet auf Versuchen, im sogenannten „vertikalen“ Spektrum dialektale Varietäten von „Regiolekten“ oder „regionalen Umgangssprachen“ (i. S. v. Zwischenvarietäten) zu isolieren, die wiederum von Standardvarietäten abgegrenzt werden. Auf solchen Modellen aufbauend wird entweder die Dynamik innerhalb dieser (nicht-dialektalen) Varietäten oder zwischen ihnen untersucht. Sieht man einmal von terminologischen Problemen ab − „Umgangssprache“ wurde und wird sehr verschieden verwendet (vgl. Bichel 1973) −, so sieht sich dieser Ansatz mit einer grundsätzlichen konzeptionellen und forschungsprak-
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
tischen Schwierigkeit konfrontiert: Eine Abgrenzung diatopischer Varietäten auf einer diastratischen Ebene, die für alle Regionen der deutschsprachigen Gebiete umfassend gelten soll, ist aufgrund der sehr verschieden gelagerten Sprachkonstellationen zwischen Dialekt und Standard in den deutschsprachigen Ländern kaum möglich (vgl. die Modellierungen in Schmidt 1998: 167−174 und Auer 2005 sowie die kurze Diskussion in Löffler 2005: 21−23). Der andere Ansatz besteht in dem Versuch, unter bewusstem Verzicht auf diastratische Schichtenmodelle den funktionalen Bereich der „Alltagssprache“ zu erfassen und Variation und Wandel in diesem Bereich zu beschreiben. „Alltagssprache“ wird dabei verstanden als Gesamtheit der Sprachformen, „die Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen in der Alltagskommunikation verwenden“, also „im sozialen und funktionalen (,Nähe‘-)Bereich des Privaten, des spontanen Gesprächs unter Freunden, Verwandten oder Bekannten oder auch im informellen Austausch unter nicht näher Bekannten aus demselben Ort, etwa im örtlichen Lebensmittelgeschäft“ (Möller & Elspaß 2014: 122). Alltagssprache kann in diesem Sinne auch dialektale Varietäten umfassen. In der Deutschschweiz, Liechtenstein und verschiedenen Regionen in Mittel- und Süddeutschland sowie in Österreich und Südtirol bilden Dialekte bis heute die ortsübliche Sprache des Alltags. In vielen anderen Gebieten prägen inzwischen jedoch Varietäten „jenseits“ der Ortsdialekte die Alltagssprache; gerade in Städten sind sie seit der Konsolidierung der Standardvarietäten immer stärker von diesen beeinflusst worden. Auf die sprachlichen Verhältnisse in den Städten konzentriert sich die Forschung zur areal differenzierten alltagssprachlichen Lexik seit ihren Anfängen. Suchte der Indogermanist Kretschmer zu Anfang des 20. Jahrhunderts für seine Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache aber noch die „Gemeinsprache der Gebildeten“ (Kretschmer 1918: 10) zu erfassen, so interessieren sich die einschlägigen germanistischen Projekte seit den 1970er Jahren für den Sprachgebrauch der gesamten städtischen Bevölkerung (vgl. WDU; Wortgeographie der städtischen Alltagssprache in Hessen [WSAH]; WSU; AdA). Da der Terminus „Umgangssprache“ (wie er von WDU und WSU oder auch von Mihm 2000 oder Hartmann 2005 verwendet wird) gerade in lexikographischer Hinsicht mehrdeutig erscheint − er wird wahlweise als Bezeichnung für eine diastratische Varietät oder für eine Stilschicht gebraucht − soll im Folgenden dem vergleichsweise eindeutigeren Terminus „Alltagssprache“ (wie ihn WSAH und AdA im Titel führen) der Vorzug gegeben werden.
2. Kontinuitäten und Diskontinuitäten arealer Lexik zwischen Dialekten und Standardsprachen Wie auch das VWB ausweist, ist die deutsche Lexik bis in den Standard hinein heute immer noch reich an diatopischer Variation. Die „Vertikalisierung des Varietätenspektrums“ (Reichmann 1988) im Zuge der langsamen Standardisierung der deutschen (Schrift-)Sprache ab dem 16. Jahrhundert hat sich zwar gerade in der Lexik besonders augenfällig in einer „Vertikalisierung des Variantenspektrums“ manifestiert: Bei koexistierenden landschaftlichen Heteronymen ist sehr oft eine der Varianten zur Standardvariante „aufgestiegen“ oder „erhoben worden“, durch Übernahme in den anderen Regionen oder auch durch eher willkürliche Setzungen von Lexikographen (vgl. unten Kap. 5.), während die übrigen Varianten dann als rein dialektal oder auch noch regiolektal betrachtet werden
25. Die rezente Dynamik im arealsprachlichen Lexikon
und in formellem Gebrauch durch den als standardsprachlich geltenden Ausdruck ersetzt werden (etwa ripuarisch-dialektal Mau durch Ärmel oder rheinfränkisch-regiolektal Schnorres durch Schnurrbart). In einer Reihe von Fällen hat sich die diatopische Variation jedoch auch im standardsprachlichen Gebrauch in formellen Situationen erhalten. Bekannte Beispiele für solche bis in den Standard fortbestehenden Situationen landschaftlicher Heteronymik sind etwa (wie schon genannt) Samstag/Sonnabend, verschiedene Bezeichnungen von Handwerksberufen (Tischler/Schreiner, Fleischer/Metzger/Schlachter) oder Bezeichnungen aus dem Bereich Lebensmittel und Kulinarik (Brötchen/Semmel/Weck(le)/ Mütschli, Pfannkuchen/Eierkuchen/Palatschinke(n)/Omelett(e)). Weniger bekannt in ihrer diatopischen Verteilung sind etwa Vorhang/Gardine/Store (AdA: Runde 4; VWB), Zollstock/Meter/Doppelmeter/Meterstab/Zollstab (AdA: Runde 5; VWB) oder Eszett/scharfes S (AdA: Runde 7; VWB). Die Frage ist hier zum einen, was diese Fälle von denjenigen unterscheidet, bei denen sich nur eine einzige Variante im Standard durchsetzt, und zum anderen, ob sich die Situation im Regiolekt und in der Standardsprache geradlinig auf die dialektale Heteronymik zurückführen lässt oder ob Veränderungen zu beobachten sind. Gut zu verfolgen sind solche Entwicklungen für Begriffe, bei denen parallele Karten zu Dialekten und zur rezenten − großenteils regiolektalen − Alltagssprache vorliegen sowie areale Angaben zu den Standardvarietäten existieren. Dialektkarten liefern der Deutsche Wortatlas (DWA) (mit Datenerhebungen aus den Jahren 1939 bis 1942) und regionale Dialektatlanten, Daten zur (regiolektalen) Alltagssprache der WDU (Datenerhebungen 1970/80er Jahre), der AdA (Datenerhebungen seit 2002), Leemann et al. 2018 (Datenerhebung 2015−2016) sowie regionale Erhebungen wie der WSAH und der WSU. Für standardsprachliche Daten ist das VWB einschlägig, dessen Angaben sich insbesondere auf Belege aus „Modelltexten“ stützen, also einen in relativ formeller Situation akzeptierten „Gebrauchsstandard“ wiedergeben (s. VWB: XIII, LXIV, mit Daten „vorwiegend aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts“, s. VWB: 859). Dabei wird deutlich, dass es durchaus vorkommt, dass die dialektale Heteronymik sich im Wesentlichen unverändert im Regiolekt und teilweise auch im Standard wiederfindet. Teilweise lässt sich dies damit erklären, dass über das betreffende Konzept normalerweise nur im Nähebereich kommuniziert wird: Bei Bezeichnungen für (nicht käuflich erwerbbare) Gegenstände/Konzepte des familiären Alltags sind die Chancen für eine Erhaltung der diatopischen Variation größer als bei Bezeichnungen für Handelswaren, so gibt es für den ‘Brotanschnitt’ (AdA: Runde 10) oder den ‘Apfelrest’ (AdA: Runde 11) immer noch eine große Zahl von oft kleinräumigen Heteronymen. Des Weiteren spielt offenbar auch die jeweilige Arealverteilung eine Rolle: Insbesondere eine annähernd gleichgewichtige großräumige Verbreitung scheint eine andauernde Koexistenz der Varianten auch in standardnäheren Sprachlagen zu begünstigen. Das ist etwa bei Bezeichnungen von Handwerksberufen zu sehen. So sind die dialektalen Hauptvarianten Metzger, Schlachter, Fleischer und Fleischhacker (DWA, 9: Kt. 4) alle noch in der Alltagssprache gebräuchlich (AdA: Runde 2) − und zwar in einer großenteils ähnlichen, wenn auch nicht ganz gleichen räumlichen Verteilung (s. u.) − sowie nach dem VWB auch als standardsprachlich einzustufen. Dasselbe gilt bei Schreiner/Tischler. Auch hier ist im Groben die Verteilung der beiden Hauptvarianten, die die DWA-Karte zeigt (DWA, 9: Kt. 5; vgl. auch Lötscher, Art. 22 in diesem Band, Kommentar zu Abb. 22.1; Post, Art. 23 in diesem Band, Kommentar zu Kt. 23.2), ungefähr dieselbe wie die in den Karten für den alltagssprachlichen Gebrauch in den 1970er Jahren (WDU, 1: 20) und
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2013 (AdA: Runde 10). In den Letzteren erscheinen, verglichen mit den Dialektvarianten, nur die niederdeutschen Formen von Tischler bzw. Tischer (Discher) an die ursprünglich ostmitteldeutsche Form angepasst, nämlich mit initialem T- und dem Ableitungssuffix -ler. Die Alltagssprache bewahrt allerdings nicht alle lexikalischen Varianten der Dialektkarte: So ist die schon im DWA nur sehr kleinräumig im Nordwesten verzeichnete Variante Temmermann in der WDU-Karte nur noch als einzelne Zweitmeldung in der Form Zimmermann verzeichnet, in der AdA-Karte gar nicht mehr. Die 1996/1997 erhobene Karte des Rheinischen Wortatlas (RWA: 51) zeigt für den Dialekt dagegen noch Zimmermann (Temmermann) als Hauptvariante am nördlichen Niederrhein. Hier mag man zur Erklärung anführen, dass eine Differenzierung zwischen den Handwerken angestrebt ist, die in dieser Region dialektal nicht gemacht wird (vgl. Rheinisches Wörterbuch [RhWb], 9: 795). Allerdings zeigt sich dieselbe Entwicklung auch in einer Reihe von anderen Fällen: Während das Nebeneinander großräumig verteilter dialektaler Varianten in der Alltagssprache (und teilweise in der Standardsprache) erhalten bleibt, werden kleinräumige Varianten − besonders nördlich des Mains − durch eines der großräumigeren Heteronyme ersetzt. So sind Samstag und Sonnabend auf dialektaler Ebene nicht die einzigen Varianten: Am Niederrhein und weiter nördlich (westlich der Weser) gilt nach der DWA-Karte sowie auch noch nach der RWA-Karte (RWA: 40) im Dialekt Sater(s)tag; in den Karten für die Alltagssprache ist hiervon nur noch eine einzige Zweitmeldung (WDU, 1: 41) bzw. gar nichts mehr (AdA-Pilotprojekt, s. Elspaß 2005: 43) übrig. Bei Kartoffel/Erdapfel ist außer diesen beiden Varianten (nach dem VWB die einzig standardsprachlichen) in der Alltagssprache (s. AdA: Runde 9) vor allem im Rheinfränkischen noch die Variante Grundbirne häufig, bei einer im Großen und Ganzen gegenüber dem Dialekt wenig veränderten räumlichen Verteilung dieser drei Varianten. Überhaupt nicht erscheinen dagegen die kleinräumigeren Varianten Nudel (vor allem Brandenburg) und Erpel (Niederrhein und westliches Westfalen − auch nach der RWAKarte ist Letztere noch uneingeschränkt die dialektale Normalvariante im nördlichen Rheinland). Gut ist der Abbau kleinräumiger Varianten schließlich auch bei Streichholz/ Zündholz zu sehen: Die Alltagssprache (zumindest nach der AdA-Karte, Runde 4) kennt wie die Standardsprache (s. VWB) nur diese beiden Bezeichnungen; in den Dialekten jedoch waren (DWA, 3: Kt. ohne Nummer, S. 38) bzw. sind (RWA: 38) im nord- und westmitteldeutschen Raum noch zahlreiche weitere, kleinräumiger verbreitete Varianten üblich: Fixfeuer, -holz, Schwefel/Schwegel, (Feuer-)Span, (Riet-)Sticken, Streifhölzl usw. In der in den 1970er Jahren erhobenen WDU-Karte (WDU, 2: 75) sind davon noch hier und da vereinzelte Meldungen übrig. Die Reihe der Beispiele macht deutlich, dass es besonders oft norddeutsche bzw. niederdeutsche Varianten sind, die in der Alltagssprache nicht mehr verwendet werden. Dabei spielt teilweise wohl auch noch das Problem der Transposition niederdeutscher Lautformen bei der Verwendung in den hochdeutsch basierten norddeutschen Regiolekten eine Rolle. Beispiele wie die ‘Streichholz’-Karten zeigen jedoch, dass kleinräumige Dialektvarianten auch im mittel- und oberdeutschen Raum alltagssprachlich außer Gebrauch geraten. Im oberdeutschen Raum halten sich aber immerhin auch kleinräumige Varianten noch in der Alltagssprache, wie etwa das in Schwaben übliche Wort Flaschner und das badische Blechner (ggü. Klempner/Spengler), das bayerisch-schwäbische Kar (ggü. Bräter/Reine) oder die verschiedenen Bezeichnungen für ‘bunte Glaskugeln (als Spielzeug)’: Marmel(i) im Westen der Deutschschweiz, Chlüüre in der Ostschweiz, Schusser in Altbayern und z. T. Franken, Spicker in Südtirol (ggü. sonst vereinheitlich-
25. Die rezente Dynamik im arealsprachlichen Lexikon
tem Murmel oder Klicker). Ausschlaggebend sind hier neben der regional unterschiedlichen Dialektnähe der Alltagssprache (vgl. die Karte zur „mittleren Reichweite“ der jeweiligen örtlichen Varianten im WDU-Material in Möller 2003: 267 oder die Karte in Dingeldein 2005: 1150 zur „Standardsprachlichkeit, Umgangssprachlichkeit und Dialektalität des Wortschatzes der städtischen Alltagssprache um 1990“ in Hessen) auch Aspekte wie „regionale Identität“ (etwa in Verbindung mit bestimmten Traditionen und Bräuchen) oder die Kontinuität kleinräumiger Bezeichnungen auch über die Alltagsschriftlichkeit (z. B. durch Kochrezepte, Aufschriften bei Handwerksbetrieben etc.). In einigen Fällen mag nur eine scheinbare Kontinuität zwischen dialektalem, regiolektalem und standardsprachlichem Wortschatz vorliegen. So kommt es nämlich auch vor, dass die landschaftliche Heteronymik in der überregionalen Gemeinsprache zur semantischen Differenzierung genutzt wird. Schon in Fällen wie Rabe/Krähe ist die sachliche Differenzierung in den Dialekten weniger klar als die regionale (synonym in RWA: 85, vgl. auch Deutsches Wörterbuch [DWB], 11: 1969). Hier unterscheidet aber z. B. schon Adelung klar nach der Größe der Arten, wie es auch heute standardsprachlich üblich ist (Adelung 1811, 2: 1742). In anderen Fällen macht sich offenbar der Handel, der bei Produktbezeichnungen mit der landschaftlichen Heteronymik umgehen muss, die Koexistenz regionaler Heteronyme in dieser Weise zunutze. So sind Harke und Rechen nach dem DWB wie nach dem Duden Deutsches Universalwörterbuch [DUW] Synonyme mit unterschiedlicher regionaler Geltung, wie auch die Karte des WDU (1: 13) ausweist. Regional werden aber − etwa in Artikelbeschreibungen des Fachhandels − verschiedene Bedeutungen angesetzt (Harke als ‘Werkzeug für die Lockerung und fürs Glätten des Bodens’, Rechen dagegen als ‘Werkzeug zum Zusammenholen von Laub etc.’ o. ä.). Ähnliches gilt für Quark und Topfen, die nach DUW sowie nach den Karten von WDU (4: 30) und AdA (Runde 9) regional verteilte Bezeichnungen desselben Milchprodukts sind, aber von Herstellern nebeneinander zur Differenzierung von Produkten mit unterschiedlichem Fettgehalt verwendet werden. Solche Bedeutungsunterscheidungen machen Laien dagegen in ihrer Alltagsbegrifflichkeit oft nicht mit. Anders sind die klaren Kartenbilder, die sich bei entsprechenden Erhebungen zeigen, kaum zu deuten. Dennoch gilt es − wie oben (s. Kap. 1.) schon am Beispiel Rotkohl, Rotkraut und Blaukraut illustriert − bei der Interpretation von erhobenen Daten zur arealen Differenzierung des Wortschatzes mögliche semantische Differenzierungen zu berücksichtigen. Es muss bei Untersuchungen zu lexikalischer Variation entweder gewährleistet sein, dass tatsächlich Synonymie vorliegt, oder es muss bei solchen Analysen die semantische Variation systematisch einbezogen werden (vgl. Geeraerts 2010: 826).
3. Die rezente Dynamik in arealsprachlichen Wortschätzen im Vergleich von Sprachatlanten 3.1. Methodisches Nachdem die Sammlung von Kretschmer (1918) über mehr als ein halbes Jahrhundert die einzige diatopisch vergleichende Quelle zur Lexik der nichtdialektalen städtischen Alltagssprache war, kam es in den 1970er und 1980er Jahren fast gleichzeitig zu mehre-
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ren größeren Erhebungen im Rahmen von Atlasprojekten zur städtischen Alltagssprache: WDU, WSU (für ein feinmaschigeres Netz nur auf dem Gebiet der damaligen DDR), WSAH für Hessen. Methodisch ähnelt die Erhebung des WSU stark der des WDU: Es handelte sich um indirekte, großenteils schriftliche Erhebungen bei ca. zwei Informanten pro Ort aus der jüngeren Bevölkerung, die nach dem üblichen Gebrauch am Ort in informellen Situationen gefragt wurden. Die WSAH-Erhebung wurde mit einem direkten Verfahren durchgeführt. Die Informanten wurden dabei nicht nach dem ortsüblichen, sondern nach ihrem eigenen Gebrauch gefragt. Die Formulierungen für die vorzustellende Situation (in einem Gespräch „mit Freunden, Nachbarn und Verwandten“, WSAH: 10) und insbesondere für die Varietät („ganz gleich, ob diese Form dann Hochdeutsch oder Dialekt/Platt ist“, WSAH: 10) entsprechen freilich auch hier recht genau denen des WDU. Diese Erhebungen liegen mittlerweile etwa 40 Jahre zurück, also eine gute Generation. In der Zwischenzeit ist vielerorts die Weitergabe des Dialekts an die Nachkommen − sofern sie noch stattfand − eingebrochen. Die Mobilität hat weiter zugenommen; insbesondere hat sich nach dem Ende der DDR die Ost-West-Mobilität schlagartig vergrößert. Darüber hinaus stieg mit der Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs bzw. der Anteil der Sprecher mit höherer Schulbildung. Es ist also höchst interessant, die Ergebnisse der damaligen Erhebungen mit denen jüngerer Erhebungen zu vergleichen, wie etwa jenen des AdA (mit mehr oder weniger jährlichen Erhebungsrunden ab 2003; für Nordrhein-Westfalen vgl. auch Cornelissen 2002). Die AdA-Erhebungen folgen methodisch genau den WDU-Erhebungen. Die GrundFragestellung an die Gewährspersonen, die sich auf Angaben zum ortsüblichen Sprachgebrauch richtet, ist fast identisch (AdA: „Bitte geben Sie bei den folgenden Fragen jeweils an, welchen Ausdruck man in Ihrer Stadt normalerweise hören würde − egal, ob es mehr Mundart oder Hochdeutsch ist.“; WDU: „Wir möchten gern wissen, was wir wirklich normalerweise hören würden, wenn wir Ihre Stadt besuchen könnten, einerlei, ob es mehr Dialekt oder Hochdeutsch ist.“). In einer Reihe von Fällen sind darüber hinaus zum Zweck des direkten real time-Vergleichs bewusst dieselben Einzelfragen gestellt worden (vgl. schon die Pilotstudie von Elspaß 2005, mit Erhebungen von 2002). Da die Zahl der Informanten des AdA ungleich höher ist als die der älteren Erhebungen und die Daten flexibel gefiltert werden können, kann die Streuung über verschiedene Altersgruppen außerdem für Vergleiche zwischen den Angaben von Informanten verschiedenen Alters, also für apparent-time-Untersuchungen, genutzt werden. Bei einigen Fragen nach der Gebräuchlichkeit bestimmter Ausdrücke wurde neben „üblich“ und „unüblich“ außerdem auch die Option „neuerdings üblich“ angeboten, also speziell nach Wandel (aus Informantensicht) gefragt (Näheres zur Methodik in Möller & Elspaß 2015: 521−526). Ganz rezent ist schließlich auch eine Online-Erhebung von 2015 nach dem Muster des AdA mit einer Reihe von Fragen, die in früheren AdA-Erhebungen bereits gestellt wurden, mit überwiegend jungen Informanten (s. Leemann et al. 2018). Auch diese bietet sich für Vergleiche in real wie in apparent time an, wenngleich hier wieder − wie im WSAH − nach dem eigenen Sprachgebrauch der Informanten gefragt wurde. Tab. 25.1 stellt die genannten Sprachatlanten und deren Rahmendaten in einer Übersicht dar.
indirekte „Experten“Befragung
1987
1988
1997
1981−1985
1980−1984
1976−1993
v. a. 1994−1996 2010 (2/3 der Daten; insgesamt 6 Jahre)
2002 ff.
2015
Nelde, Wortatlas der deutschen Umgangssprachen in Belgien
Wortgeographie der städtischen Alltagssprache in Hessen (WSAH)
Wortatlas der städtischen Umgangssprache (WSU)
Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens (ALRH)
Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA)
Leemann et al. 2018
2018 (online 2016)
2003 ff.
direkte Befragung, zwischen 1940 und 1960 geb. Sprecher
1977−1978 (Bd. 1−2), 1993 (Bd. 3), 2000 (Bd. 4)
1971−1976 (Bd. 1−2), Ergänzungen bis 1992 (Bd. 3−4)
Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (WDU)
(in)direkte Befragung
direkte und indirekte „Experten“- Befragung
direkte Befragung, zwischen 1940 und 1960 geb. Sprecher
direkte „Experten“Befragung
direkte und indirekte „Experten“- Befragung, Sprecher der jüngeren und mittleren Generation
indirekte „Experten“Befragung
1918
1909−1915
Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache
Erhebungsmethoden
Erhebungszeitraum Publikationszeitraum
Name
402 (Bd. 1−2) 404 (Bd. 3−4)
173
Anzahl Belegorte
296
61
zusammenhängendes deutschsprachiges Gebiet (ohne Elsass-Lothringen)
zusammenhängendes deutschsprachiges Gebiet
240
100/97
168/122
60/60
267/227
−
Anzahl Karten insgesamt/ Anzahl Wortkarten
22.828 Orte
24/24 (mit 51 Ausschnittskarten)
kartiert: 487 ca. 500/ca. 400 (allerdings kein (Stand Anfang vorgegebenes 2018) Ortsnetz)
ländliches Gebiet Hessens 91
Gebiet der ehemaligen DDR
Gebiet des Bundeslandes Hessen
deutsches Sprachgebiet 47 Belgiens (insg. 6 Gebiete)
Gebiete der ehemaligen BRD, DDR, der deutschsprachigen Gebiete der Schweiz und Südtirols sowie Österreich
deutschsprachiges Gebiet Europas (Ortsliste S. 28− 35)
Erhebungsgebiet
Tab. 25.1: Sprachatlanten mit Karten zur Wortgeographie der deutschen „Umgangs“-/Alltagssprache
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
3.2. Reduktion der Variantenvielfalt durch Rückgang kleinräumiger Varianten Als Haupttendenz ist ganz deutlich, dass die Reduktion der Variantenvielfalt, die im Vergleich von Dialekt und Alltagssprache zu beobachten ist, auch in der Entwicklung der Alltagssprache in den letzten Jahrzehnten weitergeht. Dies war angesichts der oben angeführten Veränderungen hinsichtlich Dialektkompetenz und Mobilität nicht anders zu erwarten. Schon in der Erhebung von Elspaß (2005) hat sich im Vergleich zum Stand des WDU deutlich gezeigt, dass in den 25 Jahren dazwischen eine Reihe eher kleinräumig verbreiteter Varianten in der Alltagssprache durch großräumigere ersetzt worden waren, besonders − aber nicht ausschließlich − im niederdeutschen und mitteldeutschen Raum. An einigen Beispielen aus dem Bereich „Bezeichnungen für Nahrungsmittel“ kann diese Tendenz aufgezeigt werden: Für ‘kleine, zum Frühstück gegessene Weizenbrötchen’ (WDU, 2: Fragebogen) hatte sich schon bis 2002 (s. AdA-Pilotrunde) das Wort Brötchen gegen Rundstück in Schleswig-Holstein durchgesetzt, im Berliner Raum die Variante Schrippe und in Thüringen und Sachsen Semmel bereits weitgehend verdrängt, und auch im westoberdeutschen Gebiet von Wecken/Weckle hatte sich Brötchen verbreitet. Eine neuere AdA-Erhebung, die zehn Jahre später erfolgte und der nun auch Abbildungen beigegeben waren, bestätigt im Wesentlichen das neuere Raumbild für die Bezeichnungen dieser Backware (s. AdA: Runde 9). Ähnlich verhält es sich etwa mit den Bezeichnungen für die Früchte des Strauchs mit dem botanischen Namen Vaccinium. Bickbeere (nach WDU, 2: 96, noch ein relativ großes Areal in Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Niedersachsen), Waldbeere (im Rheinland und in Westfalen) und Wähle (südlich der Mosel) sind inzwischen (AdA: Runde 11) fast ganz durch Heidelbeere und Blaubeere (nebeneinander) abgelöst worden, während Moosbeere in Tirol, Schwarzbeere in Franken, Österreich und Südtirol sowie die Schweizer Varianten He(r)ti, Höibeeri u. ä. (letztlich Formen von Heidelbeere) noch üblich sind. Ähnlich zeigt sich im Fall von ‘Kartoffelbrei’ eine beinahe vollständige Verdrängung der im WDU (2: 67) in Schleswig-Holstein noch fast ausschließlich verzeichneten regionalspezifischen Variante Kartoffelmus durch die großräumig verbreiteten Bezeichnungen Kartoffelbrei und -püree (AdA: Runde 9). Die kleinräumige mecklenburgische und sächsische Variante Muskartoffeln ist in Sachsen ebenfalls von Kartoffelbrei verdrängt worden; in Mecklenburg hat jedoch ein regionaler Ausgleich stattgefunden (s. dazu auch Kap. 3.3.): Hier wurde von Vorpommern Stampfkartoffeln übernommen. Bei Begriffen für Dinge ohne Handelswert aus dem familiären Kontext, wo die Variation typischerweise kleinräumiger und stabiler ist (vgl. Lötscher 2017: 261−262), ergibt sich ein gespaltenes Bild: Bei den Bezeichnungen für Kinderspiele, die traditionell als typische Beispiele für diese Kategorie gelten, zeigt sich teilweise ebenfalls eine drastische Reduktion der Variantenvielfalt. So sind z. B. bei ‘Purzelbaum’ in der AdA-Karte (Runde 9) von den zahlreichen regionalen Heteronymen, die in der WDU-Karte (3: 24) noch verzeichnet sind, nur noch wenige von Purzelbaum abweichende Einzelmeldungen übrig (s. Abb. 25.1). Auch beim ‘Fangenspiel’ zeigt der Vergleich mit den Karten aus dem WDU (1: 49) und WSAH (WSAH: Kt. 105) bzw. WSU (WSU: 207), dass in den letzten 35 Jahren offenbar in großem Umfang regionale Bezeichnungen dieses Spiels von Fangen verdrängt worden sind. Und ebenso hat Murmel (WDU, 1: 50; AdA: Runde 10) nördlich der Mainlinie alle anderen Bezeichnungen für die bunten Glaskugeln zum Spielen ersetzt, außerdem auch im Südwesten und ansatzweise sogar in Bayern
Abb. 25.1: Varianten für ‘Purzelbaum’ in der deutschen Alltagssprache im Vergleich WDU − AdA
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
(vgl. oben Kap. 2.). Eine Erklärung für die rezente schnelle Homogenisierung gerade bei den Kinderspielen könnten die geänderten Verhältnisse in der Art der Kinderbetreuung sein, aufgrund derer „klassische“ Spiele immer weniger gespielt werden und auch Kinderspiele und deren Bezeichnungen nicht mehr nur rein lokal-familiär tradiert werden.
3.3. Stabilität der Heteronymik Es ist jedoch nicht grundsätzlich so, dass es − selbst bei Begriffen aus der Nähe-Kommunikation − in der Alltagssprache keine anhaltend kleinräumige Variation mehr gibt. Anders als die Kinderspiele zeigen etwa die Bezeichnungen für den ‘Apfelrest’ (vgl. WDU, 2: 97; AdA: Runde 11) und für den ‘Brotanschnitt’ (vgl. WDU, 2: 57; AdA: Runde 10) durchaus die erwartete weitgehende Erhaltung der Variantenvielfalt. Häufiger ist andauernde Stabilität der Heteronymik allerdings bei großräumigem Kontrast weniger Varianten. Dies gilt auch noch für die rezente Entwicklung der Alltagssprache, insbesondere für die Gegensätze zwischen dem Norden und dem Süden des deutschsprachigen Gebiets (Näheres dazu unten in Kap. 4.). So hat sich das Gegenüber von Junge und Bub an der Mainlinie zwischen WDU (1: 1) und AdA (Runde 1) überhaupt nicht verändert. Stabilität über die letzten 30 bis 40 Jahre hin zeigt sich daneben in vielen anderen Fällen mit einer Zwei- oder Dreiteilung des Sprachgebiets, etwa bei Harke/Rechen (vgl. WDU, 1: 13; AdA: Runde 10) oder bei Mücke/Schnake/Gelse (vgl. WDU, 2: 101; AdA: Runde 11). Solche großräumigen Verteilungsmuster sind allerdings auch dadurch noch häufiger geworden, dass verbliebene lokal beschränkte Varianten in den vergangenen Jahrzehnten in der Alltagssprache außer Gebrauch geraten sind. So ist etwa, um wieder Varianten aus dem Bereich der Gemüsebezeichnungen anzuführen, das kleine rheinische Breitlauch-Gebiet, das in den 1970er Jahren an der Grenze zwischen den Hauptvarianten Lauch im Süden und Porree im Norden noch existierte (s. WDU, 2: 91), in der AdAKarte (s. Runde 2) völlig verschwunden. Interessant ist besonders, dass auch rezente Entwicklungen nicht unbedingt nur in Richtung überregionaler Homogenität gehen. Bei der Ablösung von kleinräumig(er)en Varianten geht es nach wie vor nicht allein um Übernahmen aus einem allgemein anerkannten Standard. Vielmehr spielen immer noch auch horizontale Ausgleichsprozesse eine Rolle. Aufschlussreich ist dabei, welche neuen Arealgrenzen sich ergeben (und evtl. grenzbildende Faktoren erkennen lassen). Ein gutes Beispiel dafür, dass es beim Abbau von Varianten zunächst einmal zur Änderung von Arealkonfigurationen kommt und nicht zur vollständigen Homogenisierung, ist etwa Möhre/Mohrrübe/Karotte: Während die Karte des WDU (2: 89) für die 1970er Jahre noch weitgehend die Verteilung der dialektalen Varianten wiedergibt (s. DWA, 11: Kt. 6), ist von der WDU-Karte zur AdA-Karte (Runde 9, erhoben 2012) ein räumlich gestaffelter Homogenisierungsprozess zu beobachten. So ist das Verbreitungsgebiet von Wurzel, das sich vor 40 Jahren noch über fast den gesamten Nordwesten sowie im Osten auch über ganz Mecklenburg-Vorpommern erstreckte, stark geschrumpft, und zwar auf das noch stärker niederdeutsch geprägte Gebiet von Schleswig-Holstein bis hinunter auf die Höhe von Hamburg und Bremerhaven. Dieses Gebiet hebt sich damit jetzt von den südwestlich und östlich angrenzenden Regionen ab; dort ist nicht eine einzige andere Variante an die Stelle von Wurzel getreten, sondern jeweils die angrenzende, im Westen also Möhre, im Osten Mohrrübe. In Österreich ist Möhre wie gelbe Rübe dagegen fast vollständig von Karotte verdrängt worden, das sich so beinahe als national einheitliche („absolute“) Variante etabliert hat − aller-
25. Die rezente Dynamik im arealsprachlichen Lexikon
dings nicht österreich-„spezifisch“ ist, da es sich auch im Rhein-Main-Gebiet weiter ausgebreitet hat und auch in andern Gebieten Deutschlands üblich geworden ist.
3.4. Konsolidierung von Heteronymik durch aktuelle politische Grenzen Dass sich Varianten zunehmend als nationale Varianten herausprofilieren, indem sich die Arealgrenzen an die Staatsgrenzen anlagern, ist charakteristisch für die rezente Entwicklung (vgl. auch die Arbeiten zur „Grenzdialektologie“, s. etwa Smits, Art. 35 in diesem Band). So hat sich im Südwesten die Form Beiz (‘(kleine) Gaststätte, Trinklokal’) zwischen den 1970er Jahren (WDU, 1: 32) und 2006/7 (AdA: Runde 4) zu einer spezifischen Schweizer Variante entwickelt: In der Schweiz hat Beiz sich gegenüber Spunte und Pinte deutlich durchgesetzt. Dagegen ist diese Variante in Baden-Württemberg, wo sie zur Zeit der WDU-Erhebung noch als allgemein üblich gemeldet war, fast verschwunden. Die verwandte bayerisch-schwäbische Bezeichnung Boiz sowie die bayerische Variante Boaz(n) (in der WDU-Karte noch häufig) tauchen auf der AdA-Karte fast nicht mehr auf, und auch das in Österreich ehedem weit verbreitete Wort Beis(e)l ist offenbar rückläufig. Ein anderes prägnantes Beispiel für die Entwicklung von regionalen dialektalen Varianten zu nationalen Varianten in Regiolekt und/oder Standardsprache sind die Wörter für die ‘gestrickte Kopfbedeckung’ (s. Abb. 25.2). Die dialektale Verteilung (DWA, 12: Kt. 7), zeigt eine Dreiteilung des Sprachraums: Mütze im Norden Deutschlands, Kappe im Südwesten und in der Schweiz, Haube (bzw. Haubn) in weiten Teilen des Ostens von Österreich und teilweise in Bayern. Nach der AdA-Karte (Runde 8) hat sich dies in der Alltagssprache deutlich verändert: Im Südwesten Deutschlands, genau bis zur Schweizer Grenze, hat sich Mütze stark ausgebreitet und dominiert vielfach schon über Kappe, während in der Schweiz nur Kappe gilt. In Bayern ist ebenfalls zu sehen, dass genau bis zur deutsch-österreichischen Grenze Mütze neben Haube steht, während sich in Teilen Österreichs eine Tendenz zur Ausbreitung von Haube auf Kosten von Kappe abzeichnet. Es ist stark anzunehmen, dass horizontaler und vertikaler Sprachkontakt gleichermaßen an diesem Prozess der Herausbildung nationaler Varianten im arealsprachlichen Lexikon beteiligt sind: Zum einen kanalisieren die Staatsgrenzen, auch wenn sie heute keine echten Barrieren mehr sind, dennoch weiterhin die horizontalen Kontakte, z. B. im Rahmen des Ausbildungswesens (was bei zunehmender Dauer des Schulbesuchs von wachsender Bedeutung ist), des öffentlichen Verkehrs (der für pendelnde Schüler relevant ist, also gerade für Sprecher in einer wichtigen Phase des Wortschatzerwerbs), des Vereinswesens usw. Zum anderen sind auch die Sprachvorbilder, insbesondere in den Medien, beiderseits der Grenzen nicht dieselben, solange die Medien ebenfalls noch überwiegend national organisiert sind. Teilweise sind die jeweiligen Varianten in den nationalen Wörterbüchern oder in amtlichen Verlautbarungen erfasst und werden in Schulen gelehrt bzw. akzeptiert oder nicht. Nationale Varianten entstehen naturgemäß auch im Bereich der Verwaltungssprache, wenn bestimmte Institutionen bzw. institutionelle Begebenheiten und Prozesse nationalspezifisch benannt werden. Das betrifft zum einen Dinge, die verschieden sind, aber eine ähnliche Funktion haben (und vom VWB etwa als Synonyme erfasst sind), wie z. B. Bundestag (Deutschland) ggü. Nationalrat (Österreich) ggü. Kammer (Schweiz) usw., zum anderen tatsächlich gleichbedeutende Dinge, z. B. Führerschein (Deutschland) ggü. Lenkerberechtigung (Österreich) und Führerausweis (Schweiz) für das ‘amtliche Dokument, das zum Fahren eines motorisierten Fahrzeugs berechtigt’.
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Abb. 25.2: Varianten für ‘gestrickte Kopfbedeckung’ in der deutschen Alltagssprache im Vergleich DWA − AdA
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25. Die rezente Dynamik im arealsprachlichen Lexikon
Solche Benennungsspezifika gelten in den deutschsprachigen Ländern und Gebieten nicht nur für nationale Territorien, sondern sind aufgrund der föderalen Systeme der drei großen deutschsprachigen Länder auch in Bezug auf einzelne Bundesländer und Kantone anzutreffen. Dies ist besonders augenfällig in Bezeichnungen aus dem Schulwesen (s. AdA: Runde 5; Leemann et al. 2018: 79−81): Die ‘angekündigte Schulprüfung’ heißt in Bayern Schularbeit, in den übrigen deutschen Bundesländern und Stadtstaaten dagegen Klassenarbeit (für weitere Beispiele s. Elspaß & Kleiner, Art. 6 in diesem Band) − im Amtsdeutsch wie in der Alltagssprache. In der Schweiz heißt diese Art der Prüfung allgemein Prüfung (alltagssprachlich Prüfig u. ä.), im Kanton Bern aber Probe. Auch das Kartenbild für den ‘(meist) gepflasterten Bereich für Fußgänger neben der Straße’ mit einer auffälligen arealen Distribution nach Staats- wie Bundesländergrenzen mag durch amtssprachliche Regelungen mitbedingt sein: Während in Bayern (wie in Österreich) Gehsteig gilt, ist in Baden-Württemberg neben Trottoir (wie in der Schweiz) Gehweg üblich (s. WDU, 1: 30; AdA: Runde 11).
3.5. Konsolidierung von Heteronymik durch mentale Grenzen Eine „systematische“ Verlagerung von Arealgrenzen ist jedoch nicht nur in der Anlagerung an Staats- oder Bundesländer- bzw. Kantonalgrenzen zu finden, sondern gelegentlich auch in Veränderungen, die auf eine raumbildende Wirkung von historischen, heute rein mentalen Grenzen schließen lassen. So spiegeln auch rezente Arealgrenzen teilweise historische, aber weiterhin anhaltend stereotypisierte regionale Gegensätze wider wie den zwischen Rheinland und Westfalen (Federmappe ggü. Schul-Etui, AdA: Runde 4; Reibekuchen vs. Reibeplätzchen, WDU, 2: 68; AdA: Runde 7; vgl. auch Elspaß 2016: 371−373), den zwischen Baden und Schwaben (Knäusle u. ä. ggü. Riebele, WDU, 2: 58; AdA: Runde 10; Blechner ggü. Flaschner, WDU, 1: 21; AdA: Runde 10; vgl. auch Elspaß & Möller 2014: 128) oder den zwischen Vorarlberg (teilweise mit Tirol) gegenüber der Mitte und dem Osten Österreichs (Kappe ggü. Haube, (Heft-)Klammerer ggü. Klammermaschine, beide AdA: Runde 8; Stuhl ggü. Sessel, AdA: Runde 10 u. a.). Gelegentlich können auch kleinräumige Varianten dank eines identifikatorischen Werts erhalten bleiben. So erklärt sich wohl die Tatsache, dass die Variante Brosamen in einer ansonsten großräumigen Verteilung Krümel/Brösel (plus Brösmeli als spezifische Schweizer Variante, vgl. WDU, 1: 58; AdA: Runde 10) in einem deutlich kleiner gewordenen, nunmehr schwäbischen Kernareal (im WSAH: Kt. 12 dagegen sogar noch in Hessen verzeichnet) offenbar sehr einhellig als üblich gilt. Ähnliches lässt sich für das Wort Mutschekiebchen (AdA: Runde 9) annehmen, das sich in einer weitgehend vereinheitlichten Marienkäfer-Landschaft als lokale Variante im Süden von Sachsen-Anhalt und angrenzend in Thüringen und Sachsen erstaunlich gut gehalten hat, während z. B. Junikäfer und Maikäfer, die in der WSAHKarte (WSAH: Kt. 88) noch dominieren, fast oder ganz spurlos verschwunden sind. Im Fall der nach wie vor stabilen Verwendung des aus dem Sorbischen entlehnten Plinse(/Plinz) (ggü. Eierkuchen u. a.) in der Lausitz, dem Siedlungsgebiet der Sorben in Deutschland, spielt sicher auch eine soziolinguistisch begründete Identifikation mit der ethnisch-sprachlichen Zugehörigkeit eine Rolle. Einen besonderen Fall der (Nach-)Wirkung ehemaliger politischer Grenzen auf die Bildung lexikalischer Areale sowie der Bewahrung von spezifischen Varianten aufgrund
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identifikatorischer Momente stellt das ostdeutsche Gebiet dar. Die Erhebungen für den WDU haben noch zur Zeit der DDR stattgefunden, ein spezifischer Sprachgebrauch dieses Gebiets wird in den WDU-Karten allerdings nur in sehr wenigen (und dafür bekannten) Fällen wie Plaste erkennbar (vgl. auch Elspaß 2005: 11). Gut ein Jahrzehnt nach dem Ende der DDR hat Elspaß (2005) jedoch in verschiedenen Karten einer Neuerhebung von 2002 ein neues Hervortreten des ostdeutschen Raums festgestellt, so bei Sonnabend, was nach der WDU-Karte (1: 41) noch als allgemein norddeutsche Variante einzustufen war, nach der Neuerhebung jedoch als überwiegend ostdeutsch (Elspaß 2005: 11−13, 42−43). In weiteren jüngeren Karten des AdA bestätigt sich, dass es − eventuell auch noch nach dem Ende der DDR − zu inner-ostdeutschen bzw. nach Osten und Westen getrennten Vereinheitlichungsbewegungen gekommen ist. Das ist zum einen in Karten zu bisher noch nicht kartierten Bezeichnungsvarianten zu sehen, wie z. B. zur familiären Anrede von Mutter und Vater, in der Mutti und Vati als typische − wenn auch nicht spezifische − Anredeformen im Osten erscheinen (Elspaß 2005: 13−14, 46−47), oder zum ‘Bürogerät, mit dem man mit U-förmigen Klammern Papierbögen heftet’, bei der sich Klammeraffe (ggü. westdeutsch Tacker) als spezifisch ostdeutsche Variante erweist. Zum anderen lassen sich solche Bewegungen im Vergleich mit Karten aus dem WDU und dem WSU feststellen. Während etwa die auf die ostdeutschen Länder (ohne Berlin) beschränkte Verbreitung der schon erwähnten Variante Plaste (ggü. Plastik, AdA: Runde 2) Kontinuität zeigt, lassen sich in verschiedenen Kartenpaaren deutliche Veränderungen erkennen. So hat sich als Bezeichnung für den ‘Apfelrest’ (AdA: Runde 11) die Variante Apfelgriebsch nach Norden hin auf das gesamte ostdeutsche Gebiet ausgedehnt, unter Verdrängung von Kerngehäuse (in den Karten des WDU, 2: 97 und WSU: 258 in Ostdeutschland noch häufig), wohingegen Kerngehäuse im Norden von Westdeutschland jetzt klarer dominiert (außer im Raum Hannover und weiter östlich, wo ebenfalls Griebsch häufig ist). Bei der Bezeichnung für ‘Berliner Pfannkuchen/Krapfen’ zeigt die Karte des WDU (2: 61) in Thüringen noch eine Reihe von Kräppel-Meldungen; nach der Karte des AdA (Runde 4) hat sich jedoch die spezifisch ostdeutsche Bezeichnung Pfannkuchen (ohne Berliner) auch dort nun voll durchgesetzt (s. Abb. 25.3). Auch bei den Bezeichnungen für ‘Bürgersteig’ (WDU, 1: 30; WSU: 215 ggü. AdA: Runde 11) hat sich der Ost-West-Gegensatz in der deutschen Nordhälfte im zeitlichen Vergleich, vor allem zum WDU, stärker herausgebildet (während in der Südhälfte, wie oben gesehen, schon vorher ein scharfer Ländergegensatz bestand): Im Osten hat sich Gehweg über das alte Gebiet in Sachsen und Thüringen hinaus stark nach Norden bis zur Ostsee ausgebreitet, während Fußweg im Westen, in der WDU-Karte noch häufig, praktisch verschwunden ist und jetzt (als nunmehr zweite ostdeutsche Variante) nur noch in Sachsen und Sachsen-Anhalt vorkommt. Schließlich passt auch, um ein letztes Beispiel anzuführen, die Entwicklung der Bezeichnungen für den ‘Handwerker, der Fleisch verarbeitet’ in dieses Bild. Hier ist eigentlich auch mit Faktoren zu rechnen, die unabhängig von der Verteilung im Raum eine Variante begünstigen und eine andere benachteiligen: Das ostmitteldeutsche Fleischer ist durchsichtig (und im Vergleich zum österreichischen Fleischhauer/-hacker weniger einseitig auf bestimmte Tätigkeiten bezogen) und außerdem die offizielle Bezeichnung dieses Handwerks in Deutschland. Das norddeutsche Schlachter/Schlächter dagegen ist in Bezug auf die Tätigkeit zunehmend irreführend und im übertragenen Sinn stark negativ. Was der Vergleich der Karten des WDU (1: 19) und des AdA (Runde 2) zeigt, ist jedoch nicht einfach eine allgemeine Ausbreitung von Fleischer, insbesondere auf Kosten von Schlachter/Schlächter, sondern eine nach Regio-
Abb. 25.3: Varianten für ‘Berliner Pfannkuchen’ in der deutschen Alltagssprache im Vergleich WDU − AdA
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nen differenzierte Entwicklung: Das Schlachter-Areal hat sich in Westdeutschland jedenfalls bis zur AdA-Erhebung ziemlich unverändert gehalten, mit gleich bleibenden Einsprengseln von Fleischer im Süden bzw. an den Grenzen zu Metzger und Fleischer. Eine allgemeine Durchsetzung von Fleischer nicht nur auf Kosten des kleineren SchlächterAreals in Vorpommern und Brandenburg, sondern auch durch Verdrängung von Schlachter, zeigt sich dagegen im Nordteil von Ostdeutschland.
3.6. Andere Faktoren Anders als in den bisher dargestellten Fällen kommt auch die Auflösung etablierter großräumiger Gegensätze vor, anscheinend besonders dann, wenn (nur) eine der Varianten als Produktbezeichnung verwendet wird. Dies wird z. B. gut deutlich im Fall von Apfelsine/Orange und -saft. Während in den 1970er Jahren noch eine klare Nord-Süd-Verteilung von Apfelsine vs. Orange bestand (WDU, 1: 95), zeigt die AdA-Karte (Runde 2, erhoben 2004/2005) im Norden fast flächendeckend ein Nebeneinander beider Varianten; in einigen Gebieten dominiert Orange sogar schon. Aufschlussreich ist nun besonders der Vergleich mit der Karte Orangensaft (eine Sache, die Sprechern des Deutschen in der Regel als abgepacktes und beschriftetes Produkt begegnet): Hier kommt die Variante Apfelsinensaft (außerhalb von Ostbelgien) überhaupt nicht vor. Auch die zunehmende Verbreitung von Möhre in Deutschland und Karotte in Österreich und Deutschland steht im Zusammenhang damit, dass nur diese beiden Varianten als Produktbezeichnungen auf Verpackungen erscheinen, wobei in Deutschland Möhre und Karotte üblich sind, in Österreich überwiegend nur Karotte. Karotte ist auch in Deutschland häufiger geworden, sowohl in der Gegend des kleinen angestammten rheinfränkischen Karotte-Areals als auch verstreut in anderen Regionen (vgl. auch Elspaß 2005: 14−16 zur ersten Neuerhebung von 2002). Die steigende Verbreitung von Varianten wie Orange, Karotte oder auch Grapefruit (mit einer Zunahme gegenüber Pampelmuse, vgl. WDU, 3: 52 und AdA: Runde 3) sowie (Kartoffel-)Püree (vgl. WDU, 2: 67 ggü. AdA: Runde 9) stützt auf den ersten Blick die Annahme, Varianten mit phonologischen und graphophonemischen Fremdheitsmerkmalen würden von Handel und/oder Sprechern als „feiner“ bevorzugt. Dies scheint jedoch nicht grundsätzlich zu gelten. Jedenfalls hat Portemonnaie sein Verbreitungsgebiet zwischen den Erhebungen für den WDU (3: 15) und den AdA (Runde 8) gegenüber dem süddeutschen Geldbeutel nicht verändert, und bei Porree ist im Gegenteil sogar eine Verdrängung durch Lauch zu beobachten, das in den 1970er Jahren (s. WDU, 2: 91) nur im Südwesten üblich war (bis einschließlich des Moselfränkischen und Hessischen sowie Bayerisch-Schwabens), ca. 30 Jahre später (s. AdA: Runde 2) jedoch südlich des Mains schon überall dominierte und auch im Norden bis nach Schleswig-Holstein hin häufig gemeldet wurde. In jedem Fall machen es solche variantenbezogenen Faktoren noch schwieriger zu ermitteln, ob bei Verschiebungen in großräumigen Verteilungen in der Regel eine Tendenz des Vordringens der nördlichen Varianten nach Süden zu erkennen ist oder umgekehrt (wie im Fall Lauch). Eine Übernahme großräumiger nord- und mitteldeutscher Varianten in Süddeutschland (eher als in Österreich und der Schweiz) ist durchaus anzutreffen − im Einklang mit der verbreiteten Einschätzung, die norddeutsche Alltagssprache sei standardnäher und damit „korrekter“. So zeigt sich etwa bei Kartoffel/Erdapfel
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(DWA, 11: Kt. 6 im Vergleich zu AdA: Runde 9) eine Ersetzung von Erdapfel durch Kartoffel vor allem in Teilen Bayerns (s. Abb. 25.4). Noch deutlicher wird eine Expansion der nördlichen Variante im Fall Streichholz/Zündholz: Nicht nur sind die kleinräumigen dialektalen Bezeichnungen in der Alltagssprache von Streichholz abgelöst worden; darüber hinaus hat sich auch Streichholz gegenüber Zündholz von der DWA-Karte (3: Kt. ohne Nummer, S. 38) über die WDU-Karte (2: 75) bis hin zur AdA-Karte (Runde 4) stetig nach Süden ausgebreitet. Diese rezente Expansion nördlicher Varianten in den süddeutschen (und sogar österreichischen) Raum ist bekannt und wird im süddeutsch-österreichischen Raum mit Verweis auf die regionale (bzw. nationale) sprachliche Identität teilweise beklagt. Der umgekehrte Fall kommt allerdings auch vor: So ist z. B. das südliche Knödel im Westen Deutschlands bis ganz in den Norden vorgedrungen (vgl. WDU, 2: 66 mit AdA: Runde 9), zumindest in Form einer starken Zunahme von entsprechenden Streumeldungen neben Kloß (während diese in Ostdeutschland umgekehrt aus Sachsen verschwunden sind, sodass die AdA-Karte dort homogen Klöße zeigt), und hat sich etwa in Baden gegen das früher dort dominierende Kloß durchgesetzt. Hier mag wieder eine sachspezifische Besonderheit dahinterstehen, nämlich eine Höherbewertung der süddeutsch-österreichischen Küche. Sehr auffällig ist die Süd-Nord-Bewegung allerdings auch zumindest in zwei Fällen von Funktionswörtern, nämlich bei den Modalpartikeln eh und halt, die sich auf Kosten von sowieso (vgl. WDU, 3: 56 ggü. AdA: Runde 1) bzw. eben (WDU, 2: 103 ggü. AdA: Pilotprojekt und Runde 9) fast im gesamten Norden ausgebreitet haben (s. Abb. 25.5). Anzunehmen ist hier ein „verdecktes Prestige“ der süddeutschen Varianten, die als „lockerer“, „wärmer“ usw. empfunden werden, gerade wegen der im Vergleich größeren Standardnähe der norddeutschen Regiolekte (s. Elspaß 2005: 16−20). Entsprechend dem grundsätzlichen Widerstreit der Faktoren Ökonomie und Expressivität im Sprachwandel ist − gerade bei jüngeren Sprechern − im Zuge der zunehmenden überregionalen Vernetzung und Kommunikation allgemein nicht nur mit der Verdrängung regionaler Ausdrücke durch verbreitetere oder als standardsprachlich angesehene Varianten zu rechnen. Es begegnen − im Gegenteil − auch Übernahmen ursprünglich regional begrenzter Ausdrücke aufgrund eines solchen verdeckten Prestiges, wegen ihres (vorübergehenden) Neuigkeitswerts oder einfach infolge individueller überregionaler Kontakte. Dies zeigt sich etwa in real time im Vergleich der WDU- und AdA-Karten zum ‘Gruß beim Betreten eines Geschäfts (am Nachmittag)’ am Beispiel der Ausbreitung der Variante Moin: Nach Ausweis der WDU-Karte (1: 47) war sie in den 1970er Jahren noch weitgehend auf Schleswig sowie Nord- und Ostfriesland beschränkt, laut AdAKarte (Runde 2) war sie 2004/5 schon in ganz Schleswig-Holstein und im Norden Niedersachsens üblich und gilt heute als „typisch norddeutsch“. Eine kontrastive Kartierung der AdA-Daten zur temporalen Verwendung von direkt (Karte mit allen Daten: AdA: Runde 7) von unter vs. ab 30-jährigen Informanten weist − im Sinne einer apparent time-Deutung − ebenfalls eine deutliche Zunahme der Verbreitung aus. Auch bei den nach „unüblich“, „üblich“ und „neuerdings üblich“ differenzierenden Fragen des AdA zeigen die „neuerdings üblich“-Meldungen (wobei die subjektive Wahrnehmung der Informanten mit besonderer Vorsicht zu behandeln ist) nicht selten eine im Vergleich zu „üblich“ und „unüblich“ breitere überregionale Streuung (vgl. z. B. die Karte zur Verwendung von brutal als Verstärkungspartikel, Runde 4).
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Abb. 25.4: Varianten für ‘Kartoffelfrucht’ in der deutschen Alltagssprache im Vergleich DWA − AdA
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Abb. 25.5: Varianten für Modalpartikeln halt/eben … in der deutschen Alltagssprache im Vergleich WDU − AdA
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4. Gesamtgliederung des arealsprachlichen Lexikons im Bereich der Alltagssprache Was die Gesamtgliederung des Sprachraums betrifft, haben sich in der Clusteranalyse von 224 AdA-Karten (s. Abb. 25.6) und der Faktorenanalyse von 245 Karten der AdAErhebungsrunden 7−10 (s. Pickl & Pröll, Art. 30 in diesem Band, Abb. 30.7) wie schon in den Untersuchungen von Durrell (1989) und Möller (2003) zum WDU-Material − trotz der unterschiedlichen dialektometrischen Herangehensweisen − übereinstimmend zwei Dinge gezeigt: Die dominierenden Gegensätze in der alltagssprachlichen Lexik verlaufen zum einen im Bereich der Staatsgrenzen − wobei die bayerisch-österreichische Grenze nach Pickl et al. (2019: 47, Abb. 2, u. 48, Abb. 3; vgl. auch Pickl & Pröll, Art. 30 in diesem Band, Abb. 30.7) jedoch zurücktritt. (Ein bayerisch-österreichisches Übergangsgebiet findet sich auffälligerweise auch auf Karten zur subjektiven Einschätzung der Ähnlichkeiten regionaler Alltagssprache durch Laien, vgl. AdA: Runde 6 „Wabenkarte“.) Zum anderen zeigen alle Karten zur Gesamtgliederung des alltagssprachlichen Wortschatzes klare Gegensätze im Bereich der „Mainlinie“, vgl. etwa Abb. 25.6 (nach Möller 2012: 106; nach Lang 2008): Auf der letzten Stufe der Analyse bilden die blauen und die orange-rot-rosafarbenen Punktsymbole jeweils einen großen Cluster. Wie auch die weitere Untergliederung des süddeutschen Raums entspricht diese Hauptgrenze einer Nord-Süd-Gliederung der alltagssprachlichen Lexik nicht recht der dialektalen Raumgliederung, wo der tiefgreifendste Nord-Süd-Gegensatz ja erheblich weiter nörd-
Abb. 25.6: Clusteranalyse von 224 AdA-Karten
Abb. 25.7: Clusteranalyse der Wenker-Daten (Lameli 2013: 186)
25. Die rezente Dynamik im arealsprachlichen Lexikon
lich zwischen niederdeutschen und hochdeutschen Dialekten verläuft (vgl. Abb. 25.7: Clusteranalyse der dialektalen Wenker-Daten, aus Lameli 2013: 186). Dagegen stimmen sowohl die Nord-Süd-Grenze als auch die Untergliederung des süddeutschen Raums genauer mit der rezenten politisch-administrativen Gliederung überein. Dies ist nicht unplausibel angesichts der vergleichsweise geringeren Stabilität bzw. schwachen sprachsystematischen Verankerung der Lexik und der oben erwähnten, nach wie vor wirksamen Kanalisierung des vertikalen und horizontalen Varietätenkontakts durch politisch-administrative Grenzen (etwa durch Verwaltungseinheiten, Schulsysteme, Verkehrsverbünde sowie länderspezifisch organisierte Medien, die eine jeweils länderintern ausgleichende und auf die jeweiligen Oberzentren hin orientierende Wirkung entfalten). Jedoch lässt sich die Bedeutung der Mainlinie in der Gliederung der alltagssprachlichen Lexik nicht allein mit den hier verlaufenden aktuellen Ländergrenzen begründen. Durrell (1989: 104) hat die Mainlinie mit der Südgrenze des Norddeutschen Bunds von 1867−1871 in Beziehung gesetzt, die freilich mit der Reichsgründung auch politisch irrelevant wurde. Offenbar hat sich in diesem Bereich jedoch (zumindest) seit den politischen Diskursen über die Begrenzung des preußischen Machtanspruchs nach Süden eine mentale Grenze zwischen „süddeutsch“ und „norddeutsch“ etabliert, die über die Zuordnung von Wörtern als „eigen“ vs. „fremd“ auch sprachlich wirksam bleibt − und umgekehrt wieder über Sprache erlebbar und symbolisierbar ist.
5. Das Problem der Kodifizierung standardsprachlicher Lexik in arealer Perspektive Die erwähnte relativ geringere Stabilität der Lexik ergibt sich dadurch, dass der Wortschatz einer Sprache ein vergleichsweise offenes System ist (gegenüber dem relativ geschlossenen System der Grammatik). Bedingt durch den Wandel der Lebenswelt mit entsprechend neuen bzw. veränderten Bezeichnungsbedürfnissen ändert sich die Lexik stetig, in quantitativer Hinsicht durch Vermehrung und Verminderung des Lexembestands, in „qualitativer“ Hinsicht durch Wortbildungswandel und durch Bedeutungswandel (s. die Übersicht in Munske 2005: 1387). Erforscht ist der quantitative Wandel am besten und aussagekräftigsten im Bereich der Schrift- bzw. Standardsprache. Allerdings sind jegliche Zählungen des Wortbestands bzw. seines Zuwachses in diesem Bereich problematisch „bezüglich des nicht scharf abgrenzbaren Wortschatzes der Hochoder Schriftsprache gegenüber der Umgangs- oder Sprechsprache und gegenüber den Mundarten“ (Sonderegger 1979: 237). In der lexikographischen Praxis tritt diese Schwierigkeit bei allgemeinsprachlichen Wörterbüchern wie dem DUW offen zu Tage durch Stilmarkierungen wie „ugs.“, eine Markierung, die auch längst (und teilweise überwiegend) schriftsprachlich übliche Wörter wie (jdn.) abkanzeln, Bauchladen, blümerant, (eine Sache) einfädeln oder Job betrifft, oder „landsch.“, womit regionale wie auch standardsprachliche Varianten wie Knust/Ranft, Brotzeit, drei viertel acht oder Weichsel(-kirsche/-baum) belegt werden. Aber auch in der Praxis des VWB, bestimmte Varianten als „Grenzfall des Standards“ zu markieren, wird diese Schwierigkeit deutlich; als „Grenzfall des Standards“ wurde eine Variante eingestuft, wenn diese „zwar eine gewisse Gebrauchsfrequenz in den Korpora mindestens eines Zentrums aufwies, aber im Hinblick auf stilistische oder varietätenlinguistische Aspekte in Standardkon-
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texten als ‚markiert‘ einzustufen war“ (VWB: XIV). Während die Gebrauchsfrequenzen in Texten, die als „standardsprachlich“ klassifiziert wurden, nach dem Konzept des „Gebrauchsstandards“ (vgl. Elspaß & Kleiner, Art. 6 in diesem Band) messbar sind, werden hier mit Blick auf eine stilistische und varietätenlinguistische Einschätzung wieder stärker subjektive Urteile der Wörterbuchschreiber ins Spiel gebracht. Ein weiteres Problem der Kodifizierung standardsprachlicher Lexik in arealer Perspektive ist die diatopische Markierung standardsprachlicher Varianten. Legion sind in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern wie dem DUW 1) fehlende diatopische Markierungen bei klar nur areal begrenzt verwendeten Varianten, wie z. B. Möhre, Federmäppchen, Eierkuchen, Portemonnaie/Geldbeutel, Frikadelle, Reißnagel/Reißzwecke, Schlappen (nur als „ugs.“ markiert)/Latschen (nur „ugs.“) oder bolzen (nur „ugs.“), 2) fehlende Buchungen großregional gebräuchlicher standardsprachlicher Varianten, wie z. B. Meterstab, Fleischküchle, Weckmann/Stutenkerl, Groschen/Zehnerl/Zehnerle (für ‘10-CentStück’), und 3) Fälle ungenügender arealer Kennzeichnungen von Varianten, entweder durch zu großräumige Angaben, wie z. B. bei schnacken: „norddeutsch“, Vesper: „süddeutsch“, ratschen: „süddeutsch, österreichisch“, oder durch zu kleinräumige Angaben, wie z. B. bei fad(e) (i. S. v. ‘reizlos, langweilig’): „österreichisch“, halt (Modalpartikel): „besonders süddeutsch, österreichisch, schweizerisch“. Das VWB ist das erste Wörterbuch, das sich eine auf einem areal diversifizierten Korpus gründende Kodifizierung zum Ziel gesetzt hat. Dass es schon nach zwölf Jahren einer Neubearbeitung bedurfte (die erste Auflage des VWB stammt von 2004), macht die gegenwärtige Dynamik des arealsprachlichen Lexikons bis in die standardsprachlichen Varietäten hinein deutlich. Die stetige Vergrößerung von Korpora der Standardsprache und auch deren zunehmende areallinguistische Diversifizierung werden regelmäßige Aktualisierungen in der Zukunft weiter erleichtern.
6. Literatur AdA = Elspaß, Stephan & Robert Möller 2003 ff. Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA). URL: , letzter Zugriff: 30.04.2019. Adelung, Johann Christoph 1811 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, 4 Bde. Wien: Bauer. URL: , letzter Zugriff: 30.04.2019. ALRH = Dingeldein, Heinrich 2010 Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens, unter Mitarbeit von Christoph Hallerstede, Michael Kusch & Marisé Vidal (Hessische Sprachatlanten. Kleine Reihe 4). Tübingen: Francke. Auer, Peter 2005 Europe’s Sociolinguistic Unity, or: A Typology of European Dialect / Standard Constellations. In Nicole Delbecque, Johan van der Auwera & Dirk Geeraerts (Hrsg.), Perspectives on Variation (Trends in Linguistics 163), 7–42. Berlin: Mouton de Gruyter. Bichel, Ulf 1973 Problem und Begriff der Umgangssprache in der germanistischen Forschung (Hermaea N. F. 32). Tübingen: Niemeyer. Cornelissen, Georg 2002 Muster regionaler Umgangssprache: Ergebnisse einer Fragebogenerhebung im Rheinland. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 69(3). 275−313.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte Leemann, Adrian, Stephan Elspaß, Robert Möller & Timo Grossenbacher 2018 „Grüezi, Moin, Servus!“ Wie wir wo sprechen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Löffler, Heinrich 2005 Wie viel Variation verträgt die deutsche Standardsprache? Begriffsklärung: Standard und Gegenbegriffe. In Ludwig M. Eichinger & Werner Kallmeyer (Hrsg.), Standardvariation: Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? (IDS-Jahrbuch 2004), 7−27. Berlin & New York: De Gruyter. Lötscher, Andreas 2017 Areale Diversität und Sprachwandel im Dialektwortschatz: Untersuchungen anhand des Sprachatlas der deutschen Schweiz (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 169). Stuttgart: Steiner. Mihm, Arend 2000 Die Rolle der Umgangssprachen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann & Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte: Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2), 2107−2137. Berlin & New York: De Gruyter. Möller, Robert 2003 Zur diatopischen Gliederung des alltagssprachlichen Wortgebrauchs: Eine dialektometrische Auswertung von Jürgen Eichhoff: Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (Bd. 1−4; 1977, 1978, 1993, 2000). Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 70(3). 259−297. Möller, Robert 2012 Der Sprachgebrauch „bei uns“ − Arealbildung in Karten des Atlas zur deutschen Alltagssprache, objektive Grenzen und subjektive Räume. In Sandra Hansen, Christian Schwarz, Philipp Stoeckle & Tobias Streck (Hrsg.), Dialectological and Folk Dialectological Conceps of Space: Current Methods and Perspectives in Sociolinguistic Research on Dialect Change, 96−118. Berlin & Boston: De Gruyter. Möller, Robert & Stephan Elspaß 2014 Zur Erhebung und kartographischen Darstellung von Daten zur deutschen Alltagssprache online: Möglichkeiten und Grenzen. In Fabio Tosques (Hrsg.), 20 Jahre digitale Sprachgeographie, 121−131. Berlin: Humboldt-Universität, Institut für Romanistik. URL: , letzter Zugriff: 30.04.2019. Möller, Robert & Stephan Elspaß 2015 Atlas zur deutschen Alltagssprache. In Roland Kehrein, Alfred Lameli & Stefan Rabanus (Hrsg.), Regionale Variation des Deutschen − Projekte und Perspektiven, 519−540. Berlin & Boston: De Gruyter. Munske, Horst Haider 2005 Wortschatzwandel im Deutschen. In David A. Cruse, Franz Hundsnurscher, Michael Job & Peter Rolf Lutzeier (Hrsg.), 1385−1398. Nelde, Peter H. 1987 Wortatlas der deutschen Umgangssprachen in Belgien (WDU Ergänzungsreihe 1). Hrsg. v. d. Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit in Brüssel unter Leitung v. Peter H. Nelde. Bern: Francke. Pickl, Simon 2013 Probabilistische Geolinguistik: Geostatistische Analysen lexikalischer Variation in BayerischSchwaben (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 154). Stuttgart: Steiner. Pickl, Simon, Simon Pröll, Stephan Elspaß & Robert Möller 2019 Räumliche Strukturen alltagssprachlicher Variation in Österreich anhand von Daten des „Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA)“. In Lars Bülow, Ann Kathrin Fischer & Kristina Herbert (Hrsg.), Dimensionen des sprachlichen Raums: Variation − Mehrsprachigkeit − Konzeptualisierung (Schriften zur deutschen Sprache in Österreich 45), 39–59. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Reichmann, Oskar 1988 Zur Vertikalisierung des Varietätenspektrums in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen. In Horst Haider Munske, Peter von Polenz, Oskar Reichmann & Reiner Hildebrandt (Hrsg.),
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Robert Möller, Liège (Belgien) Stephan Elspaß, Salzburg (Österreich)
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
26. Areale Variation in den deutschen Familiennamen 1. Familiennamen als sprachhistorische Quelle 2. Familiennamen als Zeugen mittelalterlicher arealer Variation
3. Familiennamen als Zeugen ausgestorbener Berufe bzw. ihrer Bezeichnungen 4. Ausblick 5. Literatur
Die deutschen Familiennamen sind bis ins Spätmittelalter zurückreichende fossilierte, d. h. auf mehreren sprachlichen Ebenen erstarrte Bezeichnungen für Menschen. Diese Ausdrücke konservieren auch sprechsprachliche Züge, u. a. erkennbar an sog. Satznamen (Lachnit, Rürup, Schwingenschlögl). Familiennamen bilden eine unersetzliche und leicht zugängliche Quelle für die historische Phonologie, Morphologie und Lexik. Dabei erlaubt die heutige Verbreitung frequent vorkommender Familiennamen durchaus Rückschlüsse auf das mittelalterliche Vorkommen der entsprechenden Lexeme.
1. Familiennamen als sprachhistorische Quelle Familiennamen sind wichtige, jahrhundertealte Sprachfossilien und damit auch Relikte einstiger Dialektalität von beträchtlicher diachroner Tiefe. Wenngleich die Entstehung und Festwerdung der Familiennamen innerhalb Deutschlands stark zeitversetzt erfolgte (von Süden nach Norden, von Westen nach Osten), so besteht weithin Konsens darüber, sie um 1500 als fest zu betrachten, d. h. seitdem waren sie über Generationen hinweg erblich und unveränderlich. Im Südwesten Deutschlands war dieser Zustand schon zwei bis drei Jahrhunderte früher erreicht. Damit sind Familiennamen, grob gesagt, mindestens 500 Jahre alt, eher älter. Entstanden sind sie über sog. Beinamen als (sich sukzessive verfestigende) Namenzusätze, die die damals geringe Identifikationsleistung der Rufnamen kompensierten, indem nun beide Namenteile zusammen die Personenidentifikation leisteten. Primär bedingt durch intrafamiliale Nachbenennung, aber auch durch die Benennung nach Heiligen, war Gleichnamigkeit bei den Rufnamen ab dem Spätmittelalter ein onomastisches Dauerproblem: Der Name als genuines Referenzmittel (fester Designator) für ein bestimmtes Objekt (Person) genügte nur selten dieser Funktion. Durch vielfache Rufnamenmodifikationen (z. B. Johannes > Hans, Hennes, Jenn, Jens, Jänichen, Ja(h)nke, Henning, Schanen etc.) und -kombinationen (Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart) wurde der Gleichnamigkeit schon früh entgegengewirkt. Langfristig haben sich jedoch die Familiennamen durchgesetzt, die schließlich zur festen Zweinamigkeit geführt haben. Die einstmaligen Namenzusätze charakterisierten die betreffende Person nach verschiedenen Merkmalen (z. B. Beruf, Herkunft, Wohnort, Vater, auffälligen Eigenschaften) und entstammen der gesprochenen Sprache. Da bei ihrer Entstehung noch keinerlei sprachliche Standardisierung vorlag, konservieren sie selbstverständlich den Dialekt ihrer Sprecher. Daher erlauben nur gründliche sprachhistorische und dialektale Kenntnisse ihre Deutung. Sobald diese Namen erblich wurden, verloren sie ihre Motiviertheit, d. h. ihre Semantik erlosch, während der Wortkörper erstarrte und über Generationen hinweg patrilinear (über die männliche Linie) weitergereicht wurde. Namen sind i. d. R. frühere Lexehttps://doi.org/10.1515/9783110261295-026
26. Areale Variation in den deutschen Familiennamen Tab. 26.1: Die fünf wichtigsten Motivgruppen heutiger Familiennamen Motivgruppen
Enthaltenes sprachliches Material
Beispiele
1
Patronyme
Rufnamen
Hans, Hannemann, Hennes, Jenn, Jentsch, Ja(h)nke, Jansen, Schanen (< Johannes)
2
Berufsnamen
Appellative, oft Wortbildungen
Becker, Beck, Pfister(er); Pfannkuch, Weißbrod, Bretzl, Spitzweg (aus dem Backgewerbe)
3
Wohnstättennamen
Appellative (Präpositionen, Artikel), oft Wortbildungen
Andersick, Klinksie(c)k, Scharnhorst, Rinklake, Hambrock, Söder, Pütter, Dümpelmann, van der Kolk (in/an Sümpfen)
4
Herkunftsnamen
Toponyme
Köllner, von Cölln, Kölsch, Kölling, Cölnermann (aus Köln)
5
Übernamen
Adjektive, Substantive, Syntagmen (mit Verben, Adverbien, Partikeln etc.)
Groß(e), Groth(e), Klein, Kurz, Grob, Klotz, Klump(e), Feist, Dürr/Dörr, Megerle, Schmeling (nach Körperstatur)
me (oder auch andere Namen), die im Zuge ihrer Proprialisierung desemantisierten. Familiennamen lassen sich heute fünf sog. Motivgruppen zuordnen. Tab. 26.1 listet, geordnet nach ihrem Anteil am deutschen Familiennameninventar (also gemäß der Bottom-up-Methode nach Farø & Kürschner 2007), diese Motivgruppen, das darin enthaltene sprachliche Material und einige Beispiele auf (mehr in Kunze 2004; Debus 2009; Nübling, Fahlbusch & Heuser 2015: 144−160; Nübling & Schmuck 2015; Heuser & Schmuck 2016). Da Familiennamen, wie Tab. 26.1 ausweist, mehrheitlich aus erstarrten Appellativen (und Adjektiven) bestehen, konservieren sie zahlreiche dialektale Merkmale lexikalischer, morphologischer und phonologischer Art. Auf graphematischer Ebene spiegeln sie historische Schreiblandschaften wider. Dies veranlasst Nübling & Schmuck (2015), sie als „Fenster zur historischen Dialektologie“ zu betrachten (zur „Namengeographie als historische Hilfsdisziplin“ und Quelle für kulturhistorische Forschungen s. Kunze 1996a). Noch heute sind ca. 85 % der Familiennamen weitgehend ortsfest, d. h. dort zu finden, wo sie einst entstanden sind (kleinräumige Migration nicht eingerechnet). Das bedeutet, dass die heutige Familiennamenverbreitung valide Aussagen zu historischen Dialektlandschaften erlaubt (s. Dammel & Schmuck 2008, 2009), ja sogar historische Isoglossen sichtbar zu machen vermag (s. die historische Diminutivgrenze in Nübling & Schmuck 2015: 653−656). In diesem Beitrag soll dies anhand der r-Metathese, an der Formvarianz der l-Diminutivsuffixe sowie an konservativen Lexemen (Wortlandschaften am Beispiel des Fleischers) demonstriert werden (Kap. 2.). Von lexikalischen Archaismen zu unterscheiden sind Nekrotismen, d. h. ausgestorbene Appellative und Adjektive (möglicherweise auch Morpheme), die in Familiennamen fossiliert sind und noch die einstige Arealität erkennen lassen (Kap. 3.). Die zugrundegelegten Familiennamendaten bestehen aus den Telekom-Anschlüssen von 2005. Dabei handelt es sich um das einzige repräsentative Familiennamenkorpus. Dieses wurde im Rahmen des 10-jährigen DFG-Projekts Deutscher Familiennamenatlas (DFA) ausgewertet und in sechs Bänden publiziert (s. eingehend Kunze & Kunze 2002; Nübling & Kunze 2005; Kunze & Nübling 2007; Nübling & Schmuck 2015; DFA 1−6).
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
2. Familiennamen als Zeugen mittelalterlicher arealer Variation 2.1. Historische Phonologie am Beispiel der r-Metathese Phonologische Isoglossen sind traditionell Gegenstand der Dialektologie. Sie sind im Deutschen Sprachatlas (1927−1956) und verschiedenen Regionalatlanten gut dokumentiert. Letzteres gilt aber nicht flächendeckend für das gesamte deutsche Gebiet und auch nicht für alle Phänomene gleichermaßen. Dass Familiennamen eine äußerst ergiebige Quelle repräsentieren, um dialektologische Lücken, wie sie etwa für das Niederdeutsche gelten, zu füllen, haben Dammel & Schmuck (2009) anhand des intervokalischen dSchwunds (z. B. Schröder/Schröer) (s. auch DFA 2: Kt. 100−112) und Nübling & Schmuck (2015) am Beispiel der Spirantisierung von intervokalischem b (b/v-Isoglosse, z. B. leben/leven) gezeigt. In beiden Fällen treten die in der Appellativik nur unscharf sich abbildenden Grenzverläufe in den Familiennamen deutlich hervor. Im Falle der Varianz b/v wird die Isoglosse zusätzlich durch entsprechende, nur in der Onymik greifbare Sprosskonsonanten (sog. Hiatustilger) in Patronymen wie Debus/Teves (< Matthias, Matthäus) abgesichert. Neben der Erschließung solcher dialektologisch schlecht erfasster Phänomene liegt das besondere Potential der Familiennamengeographie in der sich eröffnenden diachronen Vertiefung, worauf erstmals Kunze & Kunze (2003) am Beispiel der e-Apokope hingewiesen haben. Ihr Vergleich der dialektalen oberdeutschen Apokopegrenze (nach der Karte müde/müd im Deutschen Sprachatlas 1927−1956, s. König 2005: 159) mit der entsprechenden onymischen, auf Basis zahlreicher deadjektivischer (z. B. Lange/Lang) und desubstantivischer (z. B. Hesse/Hess) Namen ermittelten Grenze zeigt, dass beide Isoglossen im Rheinland divergieren, sich die Apokopegrenze hier also nach Norden hin bis ins Münsterland verschoben hat, wohingegen im restlichen Verlauf beide Grenzen konvergieren und von diachroner Kontinuität zeugen. Familiennamen als Quelle für die historische Phonologie behandeln ausführlich die DFA-Bände 1−2 (Graphematik/ Phonologie). Im Folgenden wird exemplarisch die r-Metathese herausgegriffen. Zu den Reflexen der Zweiten Lautverschiebung in der Onymik s. Kunze (1998), zur Entrundung palataler Vokale (Müller/Miller) und ihren Folgeerscheinungen (Hess/Höss) s. Dammel & Schmuck (2008). Im Falle der in den Dialekten nur lückenhaft überlieferten und, je nach Lexem, stark divergierenden Verbreitung der r-Metathese in Wörtern wie Brunnen/Born, Kruste/Korste ermöglichen einzig onymische Daten zuverlässige Rückschlüsse auf die historische Ausdehnung dieses Lautwandels. Die Umstellung von r ist schon um 700 im Altenglischen, im 9. Jh. auch im Altsächsischen belegt. Auf Basis der Siedlungs- und Flurnamen mit Brunnen/Born hat Küppersbusch (1931) ihre Ausdehnung ausgehend vom Westniederdeutschen nach Osten und Süden bis ins gesamte Westoberdeutsche nachgezeichnet, ebenso die anschließende Gegenbewegung ausgehend vom (von diesem Lautwandel nicht erfassten) Bairischen ab dem 14. Jh. (zur Ausdehnung im Südwesten s. auch Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas [HSS] I: 211−213, II: Kt. 113). Heute verläuft die dialektale Brunn/Born-Grenze durch das Mitteldeutsche, im Osten meist nördlich der Mainlinie, im Westen zwischen dem Rhein- (Typ Brunn) und Moselfränkischen (Typ Born). Typ Brunn ragt keilförmig rheinaufwärts und expandiert nach Norden und Westen (s. König 2005: Kt. 68). Auch in den Familiennamen ist das Lexem zahlreich belegt. Die Datenbankabfrage aller Namen ≥ 100 Tokens ergibt einschlägige 74 Types/48.266 Tokens, hierunter 16 Simplizia und Derivate (24.320 Tokens) und 58 Komposita (23.946
26. Areale Variation in den deutschen Familiennamen
Kt. 26.1: r-Metathese in Familiennamen mit Brunn/Born (Komposita)
Kt. 26.2: r-Metathese in Familiennamen mit Brunn/ Born (Simplizia/Derivate)
Tokens). Bei ersteren handelt es sich um Namen nach der Wohnstätte für jemanden, der an einem Brunnen bzw. einer Quelle wohnt (Typ Brunn, Brunner/Born, Borner); bei letzteren überwiegen Herkunftsnamen zu gleichlautenden Siedlungen für den Zugezogenen (z. B. Stein-, Kaltenbrunner/Schönborn, Weißenborn). Die Karten zeigen die Verbreitung der Formen mit r-Metathese gesondert nach Komposita (Kt. 26.1) vs. Simplizia/ Derivaten (Kt. 26.2) (s. auch Dammel & Schmuck 2009: Kt. 1−8; DFA 2: Kt. 377−380). Wie die Kartenbilder illustrieren, repräsentieren Familiennamen je nach Benennungsmotiv und der jeweils zugrunde liegenden Namenbasis − deappellativisch vs. detoponymisch (vgl. auch Tab. 26.1) − unterschiedliche Altersschichten: Die überwiegend detoponymischen, auf Siedlungsnamen basierenden Komposita auf Kt. 26.1 lassen noch die maximale Ausdehnung im 14. Jh. erkennen, dokumentieren also einen älteren Stand. Die unmittelbar der Appellativik entstammenden Simplizia und Derivate (Benennung nach Wohnstätte ‘am Brunnen’) tradieren einen jüngeren Stand und affirmieren die Ausdehnung des Lautwandels um ca. 1500 nach Küppersbusch (1931), als die r-Metathese im Oberdeutschen schon wieder zurückgedrängt war und nur noch im Mittel- und Niederdeutschen galt (Kt. 26.2). (Zu -dorf/trup s. DFA 2: Kt. 381−383, zu Andres/Anders Kt. 384−385, zu Christ/Kirst Kt. 386−390, zu -brecht/-bert Kt. 391−398.)
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
2.2. Historische Morphologie am Beispiel von Diminutivsuffixen In Dialektatlanten nur rudimentär erfasst sind − mit Ausnahme der Diminutivsuffixe (hierzu s. u.) − unterschiedliche Wortbildungsareale. Auch hier liefern die Familiennamen wertvolle Hinweise auf die Verbreitung einzelner (heute z. T. nicht mehr existenter) Bildungsmuster. Bei Nomina agentis konkurrieren im Althochdeutschen noch die älteren Formen ahd. -il (> mhd. -el) und ahd. -o (> mhd. -e > -0̸) mit ahd. -man und ahd. -āri (> mhd. -ære > nhd. -er). Diese historische Varianz und die vielfältigen Ablösungsprozesse reflektieren Berufs- und Übernamen wie Beck/Becker ‘Bäcker’, Kauf/Käufl/Käufer/Kaufmann ‘Kaufmann, Händler’ bzw. Zank/Zankl/Zänker für den Streitsüchtigen (s. DFA 3: Kt. 38−72; zu Fleischmann/Fleischer s. Kap. 2.3.). Distinkte onymische Wortbildungsareale kristallisieren sich für die Suffixe -0̸/-mann/-er bei Namen nach der Wohnstätte (z. B. Linde, Lindemann, Lindner) heraus, mit Typ Linde im Westmitteldeutschen, Typ Lindemann im West-/Nordniederdeutschen und Typ Lindner im restlichen Gebiet (s. DFA 3: Kt. 134−154). Auch in Hinblick auf die verschiedenen onymischen Suffixe ergeben sich klare Raumbilder, z. B. bei Patronymen mit -sen (Schleswig-Holstein) vs. -s (Nordwestdeutschland) und -0̸ (übriges Gebiet) in Namen wie Petersen/Peters/Peter (s. Kunze 2004: 78−79; DFA 3: Kt. 88−92). Ein besonders klares Profil verleiht der deutschen Dialektlandschaft die Formvarianz der Diminutivsuffixe. Exemplarisch wird im Folgenden die Verbreitung der l-Suffixe herausgegriffen. Diminutivsuffixe sind in Familiennamen hochfrequent. Sie treten sowohl in Kombination mit appellativischen als auch mit onymischen Basen auf und können ganz unterschiedlich motiviert sein: l-Suffixe fungieren als patronymisches (Peterle, Schmiedel für den Sohn), als hypokoristisches (Rufnamenvariante Hänsel neben Hans) oder als Nomen agentis-Suffix (Höpfl für den Hopfenbauern). Sie entstammen auch dem Normalwortschatz (Bächle für jmd. wohnhaft am „Bächle“, d. h. an einem kleinen Bach). Im Unterschied zur Appellativik mit einem heute diminutivarmen Norden sind Diminutive in der Onymik flächendeckend vertreten und reflektieren das breite Spektrum dialektaler Formen. Eine Abfrage aller Namen mit l-haltigem Suffix ≥ 1.000 Tokens ergibt nach Abzug nicht einschlägiger Fälle (Teufel, Würfel) trotz der sehr hohen Tokenschwelle noch 122 verschiedene Namen mit insgesamt 267.819 Tokens (für k-haltige Suffixe ergeben sich 53 Namen mit 125.368 Tokens). Als frequente Suffixe (mit ≥ 1.000 Tokens pro Name belegt) erscheinen in Familiennamen analog zu den Dialekten -el/-le/-l (Merkel, Eberle, Seidl), überraschenderweise auch standardsprachliches -lein (Eberlein). Nur marginal in den Familiennamen vertreten und daher nicht kartiert ist südwestdt. -li (keine Namenbelege ≥ 1.000 Tokens). Stattdessen ist onymisch noch altes -lin erhalten (Sütterlin < Sutter, Bürklin < Burk[hard]), das sich dialektal zu -le weiterentwickelt hat (zu -le/-lin s. HSS II: Kt. 120−124; Kunze 1993: Kt. 2; DFA 3: Kt. 203). Um die Verbreitungsareale der häufig vertretenen Varianten -el/-le/-l/-lein abzubilden, wurden hierfür jeweils die zehn häufigsten Patronyme kartiert und mit der entsprechenden Dialektkarte kontrastiert (s. Kt. 26.3− 4) (für die Erstellung der Dialektkarten zu den l-Diminutivsuffixen sowie zur Heteronymik von ‘Fleischer’ [Kt. 26.6] danken wir herzlich Georg Drenda). Beide Kartenbilder sind − trotz der zeitlichen Diskrepanz − auf den ersten Blick erstaunlich deckungsgleich: l-haltige Suffixe konzentrieren sich jeweils im Oberdeutschen und Teilen des Mitteldeutschen. Die größten Areale bilden alem. -le vs. bair. -l. Im Ostmitteldeutschen und Teilen des westmitteldeutschen-westoberdeutschen Über-
26. Areale Variation in den deutschen Familiennamen
Kt. 26.3: Areale Verbreitung l-haltiger Diminutive in den deutschen Familiennamen
Kt. 26.4: Areale Verbreitung l-haltiger Diminutive in den deutschen Dialekten (nach König 2005: 157)
gangsgebiets gilt -el. Abweichungen offenbaren sich beim Vergleich beider Kartenbilder für das Ostfränkische/Nordbairische, wo dialektales -la onymischem -lein (< ahd. -(i)līn) gegenübersteht, eine Kombination aus ahd. ilo/-ila+-īn. Standardsprachliches -lein hat heute keine dialektale Entsprechung, weshalb nur vermutet werden kann, dass in den Familiennamen das frühneuzeitliche Ursprungsgebiet dieser Suffixkombination hervortritt (zu -lein s. auch Dräger & Kunze 2009; DFA 3: Kt. 196−198). Weitere Divergenzen betreffen die Grenze zwischen schwäb. -le und bair. -l, die in den Familiennamen leicht westlich verläuft, was diachron auf Ausdehnung von -le nach Osten hindeutet (Kunze & Kunze 2003: 166, Kt. 57). Markanter ist die historisch weiterreichende Verbreitung von -el, das in der Onymik im Ostmitteldeutschen noch vorherrscht, in den Dialekten aber durch jüngeres -chen verdrängt wurde. Auch sind die vielen verstreuten Vorkommen von -el im Niederdeutschen nicht allein auf Migration („Verrauschung“) zurückzuführen, sondern zeugen von der historischen Verbreitung l-haltiger Suffixe auch in diesem Gebiet, bevor diese durch das sich ab dem 9. Jh. von Nordwesten her ausbreitende Suffix -ke(n) (und Varianten) verdrängt wurden. Dieser Ablösungsprozess wurde auf Basis von Rufnamenbelegen plausibilisiert (Tiefenbach 1987), zusätzliche Evidenz für die frühere Verbreitung l-haltiger Diminutive im Norden liefern die Familiennamen. Dementsprechend verläuft die onymische Grenze zwischen k-/l-Diminutiven deutlich nördlicher als die heutige dialektale Grenze (s. hierzu Nübling & Schmuck 2015: 653−656). Eine umfassende Auswertung der Familiennamendaten im Hinblick auf die Distribution der Diminutivsuffixe mit umfangreichem Kartenmaterial leistet DFA 3: Kt. 155−220, zu -le/
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
-l/-el s. auch Kunze & Kunze (2003: Kt. 55), zu k-haltigen Suffixen s. Dammel & Schmuck (2008).
2.3. Historische Lexik (Heteronymie zu ‘Fleischer’) Historische Dialektalität wird besonders stark in der Lexik der Familiennamen konserviert. Wie DFA 5 (Berufs- und Übernamen) in zahlreichen Kartenkomplexen dokumentiert, erlauben die Familiennamen Rückschlüsse auf die Wortgeschichte der areal stark variierenden Berufsbezeichnungen (Deutscher Wortatlas [DWA] IX: Kt. 1 Böttcher, Kt. 2 Klempner, Kt. 3 Schlächter, Kt. 4 Fleischer, Kt. 5 Tischler, Kt. 6−7 Töpfer, Kt. 8− 9 Wagenmacher; König 2005: 192−197). Dies wird im Folgenden am Berufsfeld ‘Fleischer, Schlachter’ illustriert. In den rezenten Dialekten gilt im Ostoberdeutschen und Westmitteldeutschen Metzler bzw. Metzger, das schon im Mittelhochdeutschen aus mlat. macellarius bzw. mazicarius ‘Fleischhändler’ entlehnt wurde. Die standardsprachliche, aus Fleischhauer kontrahierte Form Fleischer ist ursprünglich ostmitteldeutsch. Im gesamten niederdeutschen Gebiet gilt heute Schlachter, das etymologisch mit (tot)schlagen verwandt ist und anfänglich wohl den überwiegend auf dem Land tätigen Hausschlachter bezeichnete (Kunze 2004: 112−113; DWA IX: Kt. 4). Ein anderes Bild offenbaren die Familiennamen: Fleischer erscheint übereinstimmend im Ostmitteldeutschen, aber abweichend auch im Ostoberdeutschen, hier in Form der morphologischen Variante Fleischmann. Der Typ Metzler, Metzger beschränkt sich in den onymischen Daten auf das Westoberdeutsche und das südliche Westmitteldeutsche, gilt hier also noch in einem deutlich kleineren Areal (vgl. Kt. 26.5−6; s. auch DFA 5: Kt. 54). Die Bezeichnung Schlachter/Schlächter ist jünger und aus diesem Grund in den Familiennamen selten und daher nicht kartiert (s. aber DFA 5: Kt. 56). Der Vergleich beider Verbreitungsbilder macht die Wortgeschichte sichtbar: Die Bezeichnung Metzler, Metzger ist seit dem Spätmittelalter im Südwesten stabil, expandiert nach Norden und Osten und verdrängt zum Neuhochdeutschen im Ostoberdeutschen Fleischmann. Die ursprünglich ostmitteldeutsche Kontraktionsform Fleischer (belegt ab Ende des 14. Jh.) wird in seiner Ausdehnung erstmals in den Familiennamen greifbar. In spätmittelalterlichen Urkunden des 12.−15. Jh. steht dem südwestlichen Typ Metzler, Metzger im Ostmitteldeutschen, wie auch im gesamten Norden, noch die Vollform Fleischhauer (mhd. vleischhouwer, mnd. vlēshouwer) gegenüber, die später im Ostmitteldeutschen durch Fleischer und im Niederdeutschen durch Knochenhauer (mnd. knōkenhouwer) abgelöst wurde (Schönfeldt 1965; Kunze 2004: 112; Ebner 2015: 203). Fleisch- bzw. Knochenhauer sind, wie auch Beinhauer (< mhd. bein, mnd. bēn ‘Knochen’), nur noch in der Onymik präsent. Die in Familiennamen konservierte Lexik reflektiert die Verbreitung früher üblicher Lexeme, sie erlaubt auch Rückschlüsse auf die oft hochgradige Ausdifferenzierung von Berufszweigen. Von frühen Spezialisierungen im Fleischerhandwerk zeugen heutige Familiennamen wie Sulzer, Sülzer ‘Sülzenmacher’ (zu möglichen Konkurrenzen s. DFA 5: 166), Wurster ‘Wurstmacher’ und Kuttler, Kuttelwascher, Küttel-/Köttelwesch ‘Kaldaunenwäscher, Hersteller von Kutteln’ (zur Heteronymik von ‘Fleischer’ s. auch Nölle-Hornkamp 1992: 150−165; Braun 1976 zu ‘Flei-
26. Areale Variation in den deutschen Familiennamen
Kt. 26.5: Heteronymik für ‘Fleischer’ in den deutschen Familiennamen
Kt. 26.6: Heteronymik für ‘Fleischer’ in den deutschen Dialekten (nach König 2005: 196)
scher’, ‘Bäcker’, ‘Tischler’; zur Ausdifferenzierung des Berufsfelds ‘Bäcker’ s. Casemir 2009; Heuser & Schmuck 2016; zu ‘Müller’ Heuser & Schmuck 2014).
3. Familiennamen als Zeugen ausgestorbener Berufe bzw. ihrer Bezeichnungen Familiennamen zeigen nicht nur alte Dialektlandschaften auf, sie künden auch von Lexemen (inkl. Wortbildungs-/Flexionsverfahren und Schreibkonventionen), die heute ausgestorben sind − entweder weil das (Dialekt-)Wort nicht überdauert hat oder weil es das dahinterstehende Konzept (zumindest in dieser Form) nicht mehr gibt. Illustriert wird dies anhand früherer Bezeichnungen für den Tierkastrator und Ausübende von Heilberufen (Lachner, Bader, Schröpfer).
3.1. Nonnenmacher und Gölzenleuchter: Tierkastratoren Um von Nutzvieh mehr Fleisch zu gewinnen und/oder hormonell verursachte Geschmacksveränderungen zu verhindern, kastriert man für die Mast vorgesehene Nutztiere. Früher war dies Aufgabe von darauf spezialisierten (und wenig angesehenen) Tierkastratoren, die vor allem Schweine (Eber und Säue) und Rinder verschnitten haben (DFA 5: 116−125; Kunze 2004). Kt. 26.7 gilt der verschnittenen (Mast-)Sau: Im West-
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Kt. 26.7: Kastratoren von Säuen
mitteldeutschen (Saarland) dominiert der Typ des Gölzenleuchters (< mhd. gelze, galze ‘verschnittene Sau’ und mhd. līhten ‘kastrieren’), im Alemannischen dagegen der Typ Nonnenmacher und Nonnenmann (analog zu mhd. münchen, frnhd. mönchen ‘kastrieren’, wörtlich ‘zum Mönch machen’), basierend auf der Metapher der keuschen Klosterfrau. Phonologische Dialektismen sind zahlreich vorhanden (z. B. Nunne/Nonne, Gölze/ Gelze), sie wurden jedoch aus Darstellungsgründen zusammengefasst, da hier nur die Lexeme (Typen) von Interesse sind. Andere Heteronyme wurden nicht kartiert: Im Niederdeutschen etwa kommt der Typ des Püttschneiders (< ndt. putt ‘Ferkel’) vor, im Raum Kerpen-Bielefeld der des Mohrenstechers (< mhd. mōre ‘Zuchtsau’). Zu weiteren Varianten und deren Verbreitung s. DFA (5: 116−125); Steffens (2013: 146−146). Für den kastrierten Eber gilt vor allem im Bairischen der Typ Berschneider und Berstecher (< mhd. bēr ‘Eber’) mit lautlichen Varianten (s. DFA 5: 116−117). In einem Nest in und um Darmstadt konzentriert sich der (hyper)latinisierte Name Castritius.
3.2. Lachner, Bader und Stöber: Heilkundige Im späten Mittelalter gab es gelehrte Ärzte und ungelehrte (unstudierte), handwerklich ausgebildete Heilkundige, z. B. die sog. Bader (oder Beder), Stüber, Stöver bzw. Bad-
26. Areale Variation in den deutschen Familiennamen
stübner, die neben der Unterhaltung warmer Bäder (als Prophylaxe gegen Krankheiten) auch Aderlasser, Schröpfer, Barbiere und Wundärzte waren (DFA 5: 542−557). Diese Berufe und ihre Bezeichnungen sind heute weitgehend obsolet. Kt. 210 im DFA 5 weist einen Nord/Süd-Gegensatz zwischen Bader im Süden und Stöber/Stöver im Norden aus (Stüber streut in ganz Deutschland). Das Kompositum Badstübner konzentriert sich im südlichen Erzgebirge (Vogtland). Aderlasser wurden auch als Schröpfer/Schrepfer, Lesser und Köpfer/Köpper (nach dem Aufsetzen der Schröpfköpfe) bezeichnet, jeweils mit ausgeprägter Arealität (s. DFA 5: Kt. 212). Der Name Lachner (dominant in Bayern) ist mehrdeutig (Herkunftsname zu Siedlungen namens Lachen oder Wohnstättenname zu Lache ‘Tümpel’), dürfte aber auch das alte Wort für den ‘Arzt’, mhd. lāchenære, fortsetzen (vgl. schwed. läkare ‘Arzt’). Auch der akademische Arzt kennt mit Sundmacher (um Hannover) und Medick (südliches Erzgebirge/Fichtelgebirge) dialektale Varianten, die heute unüblich geworden sind.
4. Ausblick Im deutschen Familiennameninventar sind unzählige Dialektwörter und -strukturen sedimentiert, die noch nicht systematisch gehoben wurden. Außer den hier skizzierten Berufen sind auch Landschaften, Bodenformationen, Vegetationsverhältnisse und Siedlungsplätze reich in den Familiennamen überliefert. So sind allein Dutzende von Bezeichnungen für Sümpfe und Wasserstellen in den Familiennamen gebunden. Hier eröffnen sich noch zahlreiche Forschungsfelder nicht nur für die Dialektologie, sondern auch für nicht-linguistische Disziplinen wie die Geographie, die Kulturanthropologie und die Siedlungs- und Migrationsgeschichte. Nicht zu vergessen ist der gesamte Bereich der Graphematik, der noch nicht ausgewertet ist, u. a. deshalb, weil meist nicht zu entscheiden ist, ob eine bestimmte Schreibung ein phonetisches bzw. phonologisches Korrelat hat oder ob es sich um pure Allographie handelt. In jedem Fall lassen die Familiennamen historische Schreiblandschaften erkennen. So nehmen Schreibungen mit Doppelkonsonanz nach Liquid (oder Nasal) wie bei Wolf/Wolff bzw. Wulf/Wulff nach Ausweis der Familiennamen nach Norden hin stark zu und konzentrieren sich im Nord- und Ostniederdeutschen. Dass hier eine generelle Präferenz für Doppelgraphien bzw. Konsonantenballungen vorherrscht, unterstreichen ebenfalls gehäuft auftretende Schreibungen mit und in Namen wie Schulz/Schultz, Holz/Holtz bzw. Frank/Franck (s. DFA 2: Kt. 78−80 , Kt. 219−223 , Kt. 285−290 und DFA (1 u. 2) zu weiteren historischen Schreibarealen).
5. Literatur Braun, Wilhelm 1976 ‘Bäcker’, ‘Fleischer’, ‘Tischler’: Wortschatzuntersuchungen im Bereich des Handwerks am Beispiel konkurrierender Berufsbezeichnungen. In Joachim Dückert (Hrsg.), Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der lexikalischen Ebene (1470−1730), Bd. 2: Untersucht an ausgewählten Konkurrentengruppen, 55−119. Berlin: Akademieverlag. Casemir, Kirstin 2009 Familiennamen aus Berufsbezeichnungen: Namengebung und Namenmotivation am Beispiel des Bäckergewerbes. In Karlheinz Hengst & Dietlind Krüger (Hrsg.), 165−191.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte Dammel, Antje & Mirjam Schmuck 2008 Der Deutsche Familiennamenatlas (DFA): Relevanz computergestützter Familiennamengeographie für die Dialektgeographie. In Stephan Elspaß & Werner König (Hrsg.), Sprachgeographie digital: Die neue Generation der Sprachatlanten (Germanistische Linguistik 190−191), 73−104; 254−260 (Karten). Hildesheim u. a.: Olms. Dammel, Antje & Mirjam Schmuck 2009 Familiennamen und Dialektologie. In Karlheinz Hengst & Dietlind Krüger (Hrsg.), 271−296. Debus, Friedhelm 2009 Die Entstehung der deutschen Familiennamen aus Beinamen. In Karl-Heinz Hengst & Dietlind Krüger (Hrsg.), 85−108. Deutscher Sprachatlas auf Grund des Sprachatlas des Deutschen Reichs von Georg Wenker (DSA) 1927−1956 Hrsg. von Ferdinand Wrede, Walther Mitzka & Bernhard Martin. Marburg (Lahn): N. G. Elwert’sche Verlagsbuchhandlung. DFA = Deutscher Familiennamenatlas 2009−2017 Hrsg. von Konrad Kunze & Damaris Nübling. Bd. 1: Graphematik/Phonologie der Familiennamen: Vokalismus, Bd. 2: Graphematik/Phonologie der Familiennamen: Konsonantismus, Bd. 3: Morphologie der Familiennamen, Bd. 4: Familiennamen nach der Herkunft und Wohnstätte, Bd. 5: Familiennamen nach Beruf und persönlichen Merkmalen, Bd. 6: Familiennamen aus Rufnamen. Berlin & Boston: De Gruyter Mouton. Dräger, Kathrin & Konrad Kunze 2009 Familiennamen und Sprachgeschichte: Familiennamengeographie als Ansatzpunkt für sprachgeschichtliche Rekonstruktionen. In Karlheinz Hengst & Dietlind Krüger (Hrsg.), 211−244. DWA = Deutscher Wortatlas 1951−1980 Hrsg. von Walther Mitzka & Ludwig Erich Schmitt. 22 Bde. Gießen: Schmitz. Ebner, Jakob 2015 Wörterbuch historischer Berufsbezeichnungen. Berlin & Boston: De Gruyter Mouton. Farø, Ken & Sebastian Kürschner 2007 Et databasemøde mellem Jensen och Müller: Om kontrastiv antroponomastisk metodik. Tijdschrift voor Skandinavistiek 28(2). 105−126. Hengst, Karlheinz & Dietlind Krüger (Hrsg.) 2009 Familiennamen im Deutschen: Erforschung und Nachschlagewerke: Jürgen Udolph zum 65. Geburtstag zugeeignet, Halbband 1: Deutsche Familiennamen im deutschen Sprachraum. Leipzig: Universitätsverlag. Heuser, Rita & Mirjam Schmuck 2014 Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands (DFD): Werkstattbericht und erste Ergebnisse am Beispiel der Komposita mit -müller. Beiträge zur Namenforschung 49(4). 377− 412. Heuser, Rita & Mirjam Schmuck 2016 Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands: Möglichkeiten und Perspektiven der digitalen Familiennamenlexikographie. In Anja Lobenstein-Reichmann & Peter O. Müller (Hrsg.), Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation, 131−156. Berlin & Boston: De Gruyter Mouton. HSS = Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas 1979 Aufgrund von Urbaren des 13. bis 15. Jahrhunderts, hrsg. von Wolfgang Kleiber, Konrad Kunze & Heinrich Löffler. Bd. I: Text, Bd. II: Karten. Bern & München: Francke. König, Werner 2005 dtv-Atlas Deutsche Sprache, 15. Aufl. München: dtv. Küppersbusch, Emil 1931 Born und Brunnen: Studien zur r-Metathese. Teuthonista 8. 55−94. Kunze, Konrad 1993 Zur Rekonstruktion der Wortgeschichte in und um Vorarlberg anhand von Familiennamen. Montfort: Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 45. 48−62.
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Damaris Nübling, Mainz (Deutschland) Mirjam Schmuck, Mainz (Deutschland)
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
27. Gesprächslinguistische Aspekte der arealen Varietäten des Deutschen 1. Einleitung 2. Das Gespräch als Analysegegenstand: theoretische und methodische Aspekte
3. Dialekt-Standard-Variation im Gespräch: ein Forschungsüberblick 4. Desiderata und Forschungsperspektiven 5. Literatur
1. Einleitung Die Auseinandersetzung mit gesprächslinguistischen Aspekten im Rahmen der Dialektologie wirft zunächst die Frage auf, ob bzw. inwiefern sprachliche Interaktion überhaupt einen relevanten dialektologischen Forschungsgegenstand darstellt. Traditionellerweise interessiert sich die Dialektologie für sprachliche Variation im Raum und nicht für sprachliche Variation in Handlungskontexten. „In […] sprachgeographischen Diskursen spielt […] [die] Handlungsdimension traditionell eine bestenfalls marginale Rolle“ (Lameli 2015: 63). Es lässt sich jedoch zum einen konstatieren, dass sich Dialektologie und Gesprächslinguistik von jeher ein und denselben Objektbereich teilen, nämlich die (vor allem mündliche) Alltagssprache: „Was ist denn Dialekt anderes als eben die Sprache des Alltags“ (Haas 2011: 17)? Zum anderen erweist es sich im Rahmen der dialektologischen Forschung zunehmend als konsensfähig, dass − wie es schon der Junggrammatiker Hermann Paul postuliert hatte − die soziale Interaktion (in Pauls Terminologie „der Verkehr“; Paul [1880] 1995: 59) als ein zentraler sprachraumbildender Faktor gelten kann (Auer & Hinskens 2008; Schmidt & Herrgen 2011: 19−39; Lameli 2015). Der Analyse (mündlicher) Alltagsinteraktionen kommt daher deutlich mehr als der Status einer ergänzenden Erkenntnisquelle zu. Vor allem im Hinblick auf die Untersuchung sprachlicher Variation in der sog. Vertikalen, d. h. mit Blick auf Variationsphänomene im Spektrum zwischen Dialekt und Standard und diesbezüglichen arealen Unterschieden, ist einem gesprächslinguistischen Zugriff eine besondere Relevanz zuzuschreiben (Lanwer 2015, i. V.). Die Untersuchung konversationeller Sprachvariation stellt zudem forschungsgeschichtlich vermutlich den initialen Berührungspunkt von Dialektologie und Gesprächslinguistik dar (Gumperz 1994), weshalb auch der vorliegende Beitrag einen primären Fokus auf Forschungsarbeiten legt, die sich mit Dialekt-Standard-Variation im Gespräch befassen. In Kap. 2. werden zu diesem Zweck zunächst verschiedene Konzepte und Methoden vorgestellt und diskutiert, die für die Fokussierung sprachlicher Variation im Gespräch als besonders relevant erscheinen. In Kap. 3. wird anschließend eine Überblicksdarstellung von Studien geliefert, die sich der Untersuchung von Variation auf der Achse zwischen Dialekt und Standard aus einer (jeweils mehr oder weniger) gesprächslinguistischen Perspektive widmen. In Kap. 4. werden schließlich sich abzeichnende Desiderata formuliert sowie weitere (potenzielle) Berührungspunkte von Dialektologie und Gesprächslinguistik thematisiert.
https://doi.org/10.1515/9783110261295-027
27. Gesprächslinguistische Aspekte der arealen Varietäten des Deutschen
2. Das Gespräch als Analysegegenstand: theoretische und methodische Aspekte Das Gespräch kann als „der quasi natürliche Ort für Gesprochene Sprache“ (Schwitalla 2001: 897) gelten. Für die germanistische Linguistik ist das Gespräch daher im Kontext der Gesprochene-Sprache-Forschung initial als Analysegegenstand erschlossen worden. Begünstigt wurde der analytische Zugang zu Gesprächen nicht zuletzt auch durch technische Fortschritte in der Aufnahme- und Speichertechnik (Schwitalla 2001: 897). Was sich in den 1960er/70er Jahren zunächst vor allem als methodische Erschließung eines bis dahin wenig beachteten Objektbereichs darstellt, wächst sich in unterschiedlichen Zweigen der Gesprächslinguistik in der weiteren Entwicklung zunehmend zu einer interaktionstheoretisch fundierten Revision des linguistischen Gegenstandsverständnisses aus (Hausendorf 2001). Einigkeit herrscht in diesem Zusammenhang dahingehend, dass die Sprache des Gesprächs als ein Phänomenbereich sui generis gelten kann, was zu spezifischen Anforderungen mit Blick auf die Gegenstandserschließung führt. Analysen sind letztlich immer − wie es Hausendorf ([1992] 2004: 30) formuliert − „auf Interaktion als eine übergeordnete Basisform sozialer Organisation“ verwiesen. Weiterführend notiert er programmatisch: „Wer diesen Verweis ignoriert oder übersieht, behandelt ein Phänomen, das in solcher Zurichtung in der sozialen Wirklichkeit nicht vorkommt“ (Hausendorf 2004: 31). Für die Analyse von Sprachvariation im Gespräch scheinen vor allem die drei Aspekte Situiertheit (im Unterschied zu Situativität), Kontextualisierung und Sequenzialität von zentraler Bedeutung.
2.1. Situiertheit vs. Situativität Für die Gesprächslinguistik allgemein stellt der im Gespräch situierte Sprachgebrauch den zentralen Forschungsgegenstand dar. Vor allem in der Konversations-/Gesprächsanalyse kann es als eine zentrale Grundannahme gelten, dass die Bedeutungskonstitution in der Interaktion „als ein situiert und integriert zu erforschender Prozess“ (Deppermann 2002: 14) zu begreifen ist. Die Gesprächssituation wird − bei allen definitorischen Unklarheiten − immer als für die Interagierenden relevanter interpretativer Rahmen und damit zugleich auch als für die linguistische Analyse relevante Bezugsgröße angesehen (vgl. u. a. Deppermann & Spranz-Fogasy 2001: 1148). Der dabei jeweils applizierte Situationsbegriff changiert zwischen „fallbezogener Einzigartigkeit und typikalischer Allgemeinheit“ (Deppermann & Spranz-Fogasy 2001: 1157). Frühe Arbeiten aus dem Bereich der Gesprochene-Sprache-Forschung bemühen sich vor allem um die Bestimmung von Parametern zur Beschreibung bspw. verschiedener Redekonstellationen (vgl. u. a. Steger et al. 1974), um auf dieser Basis Gesprächstypen zu rekonstruieren. Derartige Typologien sind vereinzelt auch frühen dialektologischen Arbeiten zur Dialekt-Standard-Variation zugrunde gelegt worden (vgl. Stellmacher 1977). Es zeigt sich jedoch in der Forschungspraxis zumeist, dass Parametrisierungen von Gesprächen nur selten zu eindeutigen Klassifizierungen führen. Nicht unwesentlich scheint dabei, dass sich zahlreiche Parameter, wie bspw. der Formalitätsgrad eines Gesprächs oder die Symmetrie, d. h. die Gleichberechtigung der Gesprächspartner z. B. hinsichtlich der Ergreifung des Rederechts in der
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Regel nicht über ein Gespräch hinweg konstant verhalten, sondern sich als variabel erweisen (vgl. u. a. Lindemann 1990). Im Bereich der Konversations-/Gesprächsanalyse wird Situation bzw. Kontext (der in der Regel als umfassender begriffen wird als die Situation; vgl. u. a. Auer 1996: 16−19) daher immer auch als Resultat lokaler Herstellungsleistungen der Interagierenden verstanden (Deppermann & Spranz-Fogasy 2001: 1159). Eine entsprechende Sichtweise schlägt sich methodisch in der akribischen, an der sequenziellen Entfaltung eines Gesprächs orientierten Beschreibung einzelner Interaktionsepisoden nieder (vgl. Kap. 2.3.). Der Aspekt der Situationstypik wird dabei zuweilen zwar in Form bspw. von kommunikativen Gattungen (Luckmann 1995; Günthner & Knoblauch 1994), wie bspw. konversationelles Erzählen, ins Spiel gebracht, die grundlegende Idee eines flexiblen und reflexiven Kontexts (Auer 1992: 21) jedoch nicht aufgegeben: Die Interpretation eines sich entfaltenden Handlungsgeschehens als Instanz einer spezifischen kommunikativen Gattung wird als im Gespräch fortlaufend interaktiv ausgehandelter Interpretationsrahmen für das lokale Handlungsgeschehen begriffen. Auch wenn ein entsprechendes Situations- bzw. Kontextverständnis in dialektologischen Untersuchungen zum Deutschen bereits an verschiedener Stelle aufgegriffen worden ist, sind damit verbundene methodologische Implikationen im dialektologischen „Mainstream“ bisher nur wenig reflektiert worden. Es kann wohl nach wie vor als eines der grundlegendsten methodologischen Postulate gelten, dass die Situation als extralinguistischer Parameter begriffen werden kann, der − wie es Mattheier (1980: 91) bereits in den 1980er Jahren formuliert − „eher und direkter als soziale Schichten oder Gruppen Einfluß auf die Verwendung von verschiedenen Sprachen oder Varietäten zu haben“ scheint. Diesem Credo folgend wird sprachliche Variation auch in aktuellen Studien zur Dialekt-Standard-Variation vorwiegend als situativ bedingt angesehen und die Situativität des Sprachgebrauchs damit als entscheidender variationssteuernder Faktor angesetzt, der sich als soziolinguistische Variable isolieren und in ortspunktbezogenen Studien im Hinblick auf die Ermittlung verschiedener Varietäten im jeweiligen vertikalen Spektrum operationalisieren lässt. Der methodologische Kerngedanke ist der, dass der Grad der auditiven Selbstbeobachtung (audio monitoring; Labov [1972] 1991: 208) in Abhängigkeit vor allem vom Formalitätsgrad einer von außen definierbaren Situation variiert und dass dies unmittelbaren Einfluss auf die Wahl der sprachlichen Mittel hat. Auf entsprechenden methodologischen Prämissen beruhende Arbeiten ermöglichen es zwar, in großen Datensamples mittels quantitativer Verfahren Profile der Verteilung sprachlicher Varianten in Korrelation mit dem Parameter Situation zu ermitteln (für einen Forschungsüberblick zum Deutschen vgl. Kehrein, Art. 5 in diesem Band). Korrelativ ausgerichtete Untersuchungen setzen allerdings zum einen ungeprüft voraus, dass die vom Forscher von außen an die Daten herangetragenen Situationsdefinitionen (bspw. formell vs. informell) mit denen der untersuchten Akteure übereinstimmen (Auer 1986a: 23). Zum anderen wird die interaktions-inhärente Dynamik der „ständigen wechselseitigen Redefinition der Kommunikationssituation“ (Scheutz & Haudum 1982: 297) gänzlich ausgeblendet (vgl. auch Gilles 2003: 205). John J. Gumperz lastet korrelativen Untersuchungen daher an, „die Interaktion als vermittelnde Kraft [zu eliminieren] und […] stattdessen die Existenz einer direkten, normativen Beziehung zwischen Sprachverwendung und sozialen Kategorien“ (Gumperz 1994: 617) zu postulieren. Aus soziologischer Richtung ist diese Herangehensweise bereits in den 1960er Jahren von Erving Goffman massiv kritisiert worden, der ebenfalls „vor einer bloß korrelativen
27. Gesprächslinguistische Aspekte der arealen Varietäten des Deutschen
Verbindung von sprachlichen und sozialen Variablen warnt und stattdessen für die soziale ‚Situation‘ des sprachlichen Handelns als Untersuchungseinheit plädiert“ (Bergmann 1991: 303). Die soziale Situation kann mit Goffman (1964: 135) zunächst als eine Art Grundkonstellation der zwischenmenschlichen Begegnung beschrieben werden, die als „environment of mutual monitoring possibilities“ basale Ausgangsbedingungen für soziale und damit auch für sprachliche Interaktion schafft. Die Situation ist gemäß dieser Definition kein objektiv greifbarer Faktor, der den Grad der Selbstbeobachtung sozialer Akteure steuert, sondern zunächst einmal eine Ökologie, die Potenziale zur reflexiven Wahrnehmungswahrnehmung bereitstellt und damit die Möglichkeit zur Etablierung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus eröffnet (vgl. auch Hausendorf 2003). Diese Potenziale lassen sich für die Face-to-face-Situation zwar bspw. in Form der körperlichen Anwesenheit sozialer Akteure sowie mit Blick auf verschiedene Formationen der räumlichen Ausrichtung der betreffenden Akteure (Kendon 1990: 209−237 u. a.) durchaus objektiv erfassen. Zum einen können aber auch Anwesenheit und räumliche Ausrichtung der Interagierenden unter normalen Bedingungen als veränderlich gelten. Zum anderen wird alles, was auf dieser basalen Kopräsenz der Akteure aufbaut, wie bspw. der Einstieg in eine fokussierte Interaktion (Goffman 1963: 24 u. a.; siehe auch Goodwin 1981 sowie Kendon 1990), die Übernahme/Zuweisung bestimmter sozialer Rollen (Auer 1992: 27), die Indizierung spezifischer Handlungstypen (action formation; Schegloff 2007: 7−12 u. a.) oder die (alternierende) Übernahme/Zuweisung von Sprecher- bzw. Hörerrolle (turn-taking; Sacks, Schegloff & Jefferson 1974), durch spezifische Verhaltensweisen und darauf gerichtete interpretative Zuschreibungen der Akteure fortlaufend interaktiv hergestellt (vgl. auch Auer 1986a: 27−41). Situation erscheint in dieser Sichtweise nicht als etwas von außen Auferlegtes, sondern als etwas von innen Erzeugtes, als etwas, „what conversation analysis would like to call an ‚interactive achievement‘: socially constructed in the course of the interaction” (Hausendorf 2003: 252).
2.2. Kontextualisierung Vor dem Hintergrund einer Theorie, die Situation bzw. Kontext als von sozialen Akteuren interaktiv ausgehandelt begreift, geraten kommunikative Mittel zur Herstellung, Aufrechterhaltung oder Modifikation von Kontext in den Blick, die mit Gumperz (1982: 131−140) auch als contextualization cues beschrieben werden können. „Die Strategien, mittels derer […] Teilnehmer [Kontext] konstruieren“ werden auf diese Weise „ein eigenständiges Thema der Forschung“ (Auer 1986a: 24). Die kommunikativen Mittel, die dabei in den Fokus geraten, sind potenziell vielgestaltig. Auer (1986a: 24) nennt als Beispiele neben Gestik, Mimik und Prosodie u. a. auch Varietäten- oder Sprachwahl. Arbeiten vor allem aus dem Bereich der Interaktionalen Soziolinguistik Gumperz’scher Prägung zeigen für ganz unterschiedliche Sprachgebrauchskonstellationen auf, dass u. a. auch sprachliche Variation zwischen verschiedenen Varietäten/Sprachen als Kontextualisierungsressource funktionalisiert wird (für eine Überblicksdarstellung vgl. Knöbl 2012: 69−71). Erste Beobachtungen, die auf eine entsprechende Funktionalisierung von Sprachvariation hindeuten, finden sich in den 1970er Jahren bei Blom & Gumperz (1972). Blom & Gumperz dokumentieren im Rahmen ihrer Untersuchungen zu sprachlicher Variation im norwegischen Hemnesberget, wie Interaktanten innerhalb ein und derselben interaktiven Episode zwischen den im sprachlichen Repertoire verfügbaren Varietäten
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Ranamål (Dialekt) und Bokmål (Standard) flexibel hin und her wechseln und entsprechende Wechsel konversationell bedeutungsvoll einsetzen. Die dabei häufig indizierten Kontextmerkmale (institutionell vs. nicht institutionell) beruhen − so Blom & Gumperz − auf durch Gebrauchsregularitäten gestützten Assoziationen zwischen den verschiedenen Varietäten auf der einen und jeweils spezifischen Handlungszusammenhängen auf der anderen Seite. Blom & Gumperz schlagen daher eine Unterscheidung zwischen situational und metaphorical code-switching vor, um einerseits eine gewisse Situationsbezogenheit der Code-Wahl in Rechnung zu stellen, aber andererseits auch die im Rahmen konversationeller Variationspraktiken lokal, d. h. für den Moment aktivierten Situationsassoziationen beschreibbar zu machen. Die Unterscheidung zwischen situativem und metaphorischem Code-Switching ist in der Forschungsliteratur verschiedentlich aufgegriffen, allerdings durchaus auch kritisch diskutiert worden. Während Machas (1991: 200) kritische Notiz, der Gumperz’sche Terminus metaphorical sei ein mit „vagediffuser Bedeutung aufgeladene[r] Begriff “, primär terminologischer Natur ist, betrifft Auers (1984a) Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar deutlich substantiellere Aspekte. Vor allem impliziere die Unterscheidung einen zumindest in Teilen nach wie vor eher statischen Situationsbegriff, der einem Verständnis von Kontext als flexible und reflexive Größe, wie es maßgeblich von Gumperz selbst geprägt worden ist, grundsätzlich entgegenstehe (Auer 1984a: 92). Bereits in Discourse strategies beschreibt Gumperz (1982: 59−99) unter dem neutraleren Terminus conversational code-switching jedoch konversationelle Funktionen sprachlicher Variation, wie bspw. Wiederholung (reiteration) oder Hervorhebung von (Teil-)Äußerungen (message qualification), die nicht primär im Zusammenhang mit „metaphorischen“ Bezügen auf (vermeintlich) situative Wechsel interpretierbar sind, sondern erst einmal aufgrund lokal, d. h. zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gespräch aufgebauter Kontraste eine Einheit ganz allgemein mit „besondere[r] interpretative[r] Bedeutsamkeit“ (Gumperz 1994: 623) versehen. Unter rein strukturellen Gesichtspunkten kann konversationelles Code-Switching mit Gumperz (1982: 59) definiert werden als „the juxtaposition within the same speech exchange of passages of speech belonging to two different grammatical systems or subsystems.“ Diese formal-strukturelle Definition benennt einen Umstand, der für die Analyse von sprachlicher Variation im Gespräch von zentraler Bedeutung ist: Im Fall von konversationellem Code-Switching treten passages of speech in der laufenden Interaktion unmittelbar nebeneinander, die zu verschiedenen sprachlichen Systemen oder Subsystemen gehören bzw. auf diese verweisen. Es sind letztlich bestimmte linguistische „surface characteristics“ (Gumperz 1982: 86) einer Äußerungsfolge, Äußerung oder Teiläußerung, die diese für die Interaktionsteilnehmer als Instanz einer Varietät/Sprache X im Kontrast zur der bisher als Normallage (Kallmeyer & Keim 1994: 167−169) verwendeten Varietät/Sprache Y erkennbar und den auf diese Weise aufgebauten Kontrast als solchen interpretierbar machen (Lanwer i. V.). Neben konversationellem Code-Switching, das sich als ein abrupter Wechsel in der Regel gleich mehrerer kookkurrierender Merkmale charakterisieren lässt, werden für den Phänomenbereich der Dialekt-Standard-Variation im Deutschen auch Verfahren des Code-Shifting beschrieben (vgl. vor allem Auer 1984b, 1986b, 1990: 211−219). Die Ersetzung des Terminus Switching durch den des Shifting verweist − anders als häufig angenommen − nicht auf einen geringen strukturellen Abstand der beteiligten Varietäten/Sprachen, sondern auf eine spezifische Form der prozessualen Entfaltung des Kontextualisierungsverfahrens. Auer (1984b: 4−5), der den Begriff in die dialektologische Forschung eingeführt hat, beschreibt Code-Shifting als einen „all-
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mählichen, interaktiv bedeutungsvollen Übergang von dialektfernerer zu dialektnäherer oder von standardfernerer zu standardnäherer Sprechweise […].“ Konversationelles Code-Shifting ist somit als eine Art diskursfunktionales Hinübergleiten in einem Formenkontinuum zu begreifen, bei dem peu à peu Varianten der einen Varietät durch Varianten einer anderen ersetzt werden. Es finden sich jedoch durchaus Beobachtungen in der Forschungsliteratur, die grundlegende Zweifel an dem Konzept des Kontinuums vor allem aus Sicht der für die Analyse funktionaler Sprachvariation relevanten Teilnehmerperspektive aufkommen lassen. Auer (1986b: 119) selbst weist darauf hin, dass allgemein von einer Art Grundvariation auszugehen ist, die „nicht lokal interpretierbar [ist] und folglich auch nicht für den Fortgang der Konversation (diskurs-)funktional“ sein kann. Selting (1989: 210) geht entsprechend davon aus, dass Interaktanten sich in ihrem Sprachgebrauch ausgehend von einer Art „Referenzvarietät“ (im Sinne einer sprachlichen Normallage) auf gegenüber der Referenzvarietät markierte Pole zu bewegen und dass diese Referenzvarietät sowie die kontrastierenden Pole „als typisierte und dennoch dynamische Konstrukte zugrunde gelegt bzw. ‚angesteuert‘“ werden. Ähnlich weisen auch Kallmeyer & Keim (1994: 143) darauf hin, dass es in Untersuchungen zu konversationeller Sprachvariation stets aus der vorliegenden Gesamtvariation „die Fälle mit symbolischer Bedeutung herauszufiltern“ gilt. Das Funktionieren konversationeller Sprachvariation setzt letztlich immer voraus, dass für die Interagierenden erkennbare und relevante Distinktionsmerkmale im Spiel sind (vgl. ähnlich auch Gumperz 1982: 84−86). Sprachliche Alternanzen müssen, um diskursfunktional aufgeladen werden zu können, für die jeweiligen Akteure gewissermaßen salient und pertinent, d. h. bemerkbar und handlungsrelevant (Purschke 2011) sein. Zugleich erneuert die Nutzung sprachlicher Kontraste im Rahmen von Kontextualisierungsverfahren die Pertinenz der verwendeten Merkmale (Lanwer i. V.). Aus analytischer Perspektive stellt sich daher immer die Frage, „ab wann ‚code-noise‘ zum ‚code-switch‘“ (Knöbl 2012: 40) wird. Verhältnismäßig leicht zu erfassen sind sprachliche Kontrastierungspraktiken im Spiegel konversationeller Effekte im Zusammenhang mit sog. Stilisierungsverfahren (vgl. u. a. Birkner & Gilles 2008; Günthner 2002: 69−72; Lanwer 2011a). Der Einsatz arealer Varietäten im Rahmen von Stilisierungsverfahren erfolgt häufig unter Verwendung stereotypischer (nicht selten auch aufgrund massenmedialer Verbreitung überregional bekannter) Formmerkmale, um ein Reden mit „fremder Stimme“ zu kontextualisieren, das die inszenierte Figur bspw. mit bestimmten sozialen Attributen, wie „einfach gestrickt“ oder ländlich, ausstattet. Dabei spielen in der Regel immer Verfahren der affektiven Positionierung (Du Bois 2007: 142−147) zum Gesagten und/oder zur inszenierten Figur eine Rolle (vgl. Günthner 2002 u. a.). Birkner & Gilles (2008) sprechen in diesem Zusammenhang auch von Dialektstilisierung. Stilisierungen, wie sie sich in der Face-toface-Interaktion aber bspw. auch in Bühnenprogrammen von Stand-up-Comedians finden, richten sich jedoch i. d. R. weniger auf (im traditionellen Sinne) dialektale, sondern vor allem auf regiolektale Formeninventare. Die zwecks Stilisierung realisierten sprachlichen Merkmale treten dabei zum einen häufig gemeinsam mit prosodischen Kontextualisierungsmitteln, vor allem mit Veränderungen der Sprechstimme auf, die die inszenierte Rede von der eigenen absetzen. Zum anderen sind die stilisierten Varietäten in vielen Fällen nicht Teil des „own habitual repertoire“ (Rampton 2009: 149) der stilisierenden Akteure, weshalb entsprechende Kontrastierungspraktiken zuweilen auch als crossing bezeichnet werden.
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Deutlich schwieriger als die Analyse von Code-Switching-Verfahren im Rahmen von Stilisierungen gestaltet sich die Ermittlung von Wechseln zwischen Varietäten, die Teil ein und desselben habituellen Repertoires einer Person bzw. Personengruppe sind. Die einen Code-Switch konstituierenden Kontraststrukturen sind hier für Außenstehende nicht immer ohne Weiteres erkennbar und treten zudem in der Regel ohne begleitende Modulationen stimmlicher Parameter o. Ä. auf. Zugleich entziehen sich vor allem die formalen Strukturen von Kontextualisierungsverfahren häufig der Möglichkeit zur Bewusstmachung durch die involvierten Akteure selbst (Gumperz 1982: 61), was einen observativ-rekonstruierenden Zugriff bei allen damit verbundenen Problemen des „‚Fremdverstehens‘ durch einen, der Interaktion enthobenen wissenschaftlichen Beobachter“ (Macha 1991: 200) als unumgänglich erscheinen lässt. Die Analyse konversationeller Sprachvariation, verstanden als „altering linguistic elements so as to contextualize talk in interaction“ (Nilep 2006: 1), bedarf − wie es bereits Auer (1984a: 22) einfordert − einer doppelten Rekonstruktion, die sich zum einen auf die Ermittlung potenzieller Kontraststrukturen richtet und zum anderen interaktive Prozesse in ihrer sequenziellen Entfaltung nachzeichnet, um die Funktionalisierung sprachlicher Kontraste im Prozess der Interaktion ermitteln bzw. nachweisen zu können. „[T]he analyst must observe discourse itself, and recover the salience of a linguistic form as code from its effect on discourse interaction“ (Nilep 2006: 17). Eine solche doppelte Rekonstruktion erweist sich als besonders relevant, wenn die mutmaßlich beteiligten Varietäten strukturell sehr ähnlich und/oder in ihrer Konstitution bzw. mit Blick auf die relevanten Kontraststrukturen in der bisherigen Forschung nicht systematisch auf empirischer Basis beschrieben worden sind. So verhält sich bspw. die Variante /dat/ ‘das’ im Sprachgebrauch im westmünsterländischen Raum nicht koimplikativ (Berruto 2004: 190) im Hinblick auf die Realisierung anderer lauthistorisch als niederdeutsch einzuordnender Varianten wie bspw. /ik/ ‘ich’ oder auch /dat/ ‘dass’ (Hettler, König & Lanwer 2011: 129−134; Lanwer 2015: 242−249). Die Variante /dat/ ‘das’ ist hier − im Unterschied zu /ik/ − Bestandteil einer stark merkmalsreduzierten regiolektalen Varietät (Lanwer 2015: 271− 275), in der die Varianten /das/ und /dat/ mit der Bedeutung ‘dass’ zudem mehr oder weniger frei alternieren. Eine voranalytische Interpretation von /dat/ als Dialektmarker läuft daher ebenso wie eine generalisierende Interpretation von /das/ als Standardmarker fehl und führt ggf. sogar zu funktionalen Überinterpretation im Gesprächsverlauf vermeintlich aufgebauter Kontraste (vgl. auch Lanwer i. V.).
2.3. Sequenzialität und Sequenzanalyse Aus gesprächslinguistischer Perspektive wird Sprachvariation zu einem Phänomen, das sich vor allem auf einer diskursiv-prozessualen Mikroebene sinnvoll beschreiben lässt. Dies stellt einerseits die Tauglichkeit einer statischen und objektiv greifbaren Situation als korrelative Größe in Frage und ruft andererseits die sequenzielle Geordnetheit von Gesprächen als analytische Richtschnur auf den Plan. Soziale Interaktion muss als eine in Prozessen wechselseitiger Abstimmung hervorgebrachte Form sozialer Ordnung begriffen werden (Garfinkel 1967 u. a.). Auch das Gespräch − als maßgeblich verbal fundierte Form der Interaktion − wird daher nur unter der Berücksichtigung seiner sequen-
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ziellen Geordnetheit adäquat beschreibbar. Der Begriff „sequenziell“ bezieht sich dabei auf den Umstand, dass „einzelne Handlungen […] als Teil einer übergeordneten Handlungssequenz wahrgenommen und […] erst dadurch verständlich [werden], dass man sie in Bezug zu einer solchen Sequenz setzt“ (Imo 2013: 69). Der sequenzielle Erwartungsrahmen, den eine Äußerung aufbaut, bildet einen „lokalen Interaktionskontext, in den die jeweils nachfolgende Äußerung eingebettet ist und mit dessen Hilfe sich deren Sinn und Handlungscharakter bestimmen lässt“ (Bergmann 2007: 56). Äußerungen erzeugen immer „eine mehr oder weniger starke normative Erwartung im Hinblick auf die angemessene, vom Rezipienten zu wählende Nachfolgeäußerung“ (Bergmann 2007: 56). Eine Äußerung als Teil einer Äußerungssequenz ist damit immer potenziell an die Projektion einer Vorgängeräußerung, d. h. an durch diese hervorgerufene Erwartung im Hinblick auf den Interaktionsfortgang, rückgebunden (retraktiv) sowie selbst hinsichtlich der Realisierung einer bestimmten Folgeäußerung vorausweisend (projektiv). So verweist bspw. die Pointe einer konversationellen Erzählung zum einen zurück auf das sog. story preface (Sacks 1971: 310), in dem eine Art Erzählversprechen formuliert wird, das mit der eigentlichen Erzählung, dem telling eingelöst werden soll. Zugleich macht die Pointe eine folgende Evaluation durch die Koaktanten (eine sog. response sequence) erwartbar, die das Erkennen der Pointe und damit schließlich das Einlösen des initialen Versprechens ratifiziert. Linguistische Untersuchungen von sprachlichen Äußerungen im Gespräch haben vor allem mit Blick auf funktionale Beschreibungen entsprechende Einbettungsrelationen analytisch in Rechnung zu stellen. Für die Analyse konversationeller Dialekt-Standard-Variation ist diese Sichtweise in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Der erste Punkt ist der, dass die in der Interaktion mit Blick auf die Code-Wahl aufgebauten und fortlaufend aktualisierten „prospektive[n] Normalformenerwartung[en] […] eine zentrale Bezugsgrundlage bei der intersubjektiven Bedeutungskonstitution“ (Knöbl 2012: 10) darstellen, vor deren Hintergrund sich das Kontrast- und somit auch das Funktionspotenzial sprachlicher Variation überhaupt erst entfaltet. Konversationelles Code-Switching generiert sein kontextualisierendes Potenzial in Form eines Erwartungsbruchs hinsichtlich der strukturellen Gestaltung sprachlicher Äußerungen. Dieser Erwartungsbruch wird nun − und das ist der zweite und bedeutendere Punkt − nur unter Einbeziehung der sequenziellen Einbettung in das Handlungsgeschehen sinnvoll interpretierbar. Entsprechend spricht sich auch Auer (1995: 119) für einen sequenzanalytischen Zugriff aus: „Obviously, it requires a sequential account of language choice in which the language chosen for one speech activity must be seen against the background of the language choice in the preceding utterance.“ Konversationelles Code-Switching lässt sich unter Rückgriff auf eine von Auer (1992) vorgeschlagene Typologie als ein internes, nicht-peripheres Kontextualisierungsverfahren beschreiben, das durch den lokalen Aufbau sprachlicher Kontraste singulär ein Diskursfragment heraushebt und mit besonderer Bedeutung belegt. Intern sind entsprechende Verfahren, da die beteiligten sprachlichen Varianten, die auf die verschiedenen dahinterliegenden Bezugssysteme (bspw. Dialekt vs. Standard) verweisen, der kontextualisierten Einheit selbst anhaften. Als nicht-peripheres Kontextualisierungsverfahren kann konversationelles Code-Switching gelten, da die durch die Verwendung bestimmter sprachlicher Merkmale hervorgehobene Einheit als Ganze als Instanz einer spezifischen Varietät/Sprache interpretierbar wird. Singulär ist die Kontextualisierung durch CodeSwitching, da es sich hierbei um eine kurzzeitige interpretative Relevantsetzung der
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Code-Wahl an einer spezifischen Stelle im Gesprächsverlauf handelt, während bspw. die Wahl einer Normallage als rekurrentes Kontextualisierungsverfahren zu beschreiben wäre, das fortlaufend Hinweise auf eine globalere Situationsinterpretation liefert, die durch das lokale Auftreten eines Code-Switchings durchbrochen werden kann. CodeWechsel weisen dabei − wie es Auer (1995: 120) anmerkt − eine gewisse Affinität zu bestimmten sequenziellen Kontexten wie bspw. parenthetischen Einschüben oder Reparaturen auf. Es sollten daher die Sequenzstrukturen, in denen Code-Wechsel auftreten, und die Funktionen, die dem alternierenden Formengebrauch in diesem Zusammenhang zugeschrieben werden können, analytisch unterschieden werden. So kann bspw. eine Reparaturoperation wie in der im Beispiel „Online-Bewerbung“ zitierten Episode (transkribiert nach GAT2; Selting et al. 2009), in der der Sohn (SO) den Bericht seiner Mutter (MU) über den Stand seiner Bewerbung um einen Ausbildungsplatz konversationell bearbeitet, auch ohne den in Zeile 16 auftretenden Code-Wechsel realisiert werden. Beispiel „Online-Bewerbung“: Auszug aus einem Familiengespräch aus Nordbrandenburg (MU = Mutter, VA = Vater, TO = Tochter und SO = Sohn) (Beispiel aus Lanwer [2011b: 41−50 bzw. 2015: 310−314])
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MU:
VA: TO: MU: TO: MU: TO: SO:
MU: SO:
MU:
UND ähdAImler chrysler hat_a sich GLAUB_ich− ÄHM, ONline bewOrben; (1.28) ALS(0.11) äh jA so als [AUS]weisch− [HM ]− !ACH! [sO: ], [JA::], un_dEnn als meSCHAniker oder wat? mEchaTROniker. ach dit hAb_ik ja jetz_ [um ersten MAL jehört ],
jA das GING [bloß ], [!ACH!]es GING gAr nich, bei bEI (.) merCEdes, aber dIt ha_doch FÜNFhundertmal ä:h [bei der] Onlinebewerbung ABjekackt, [ach SO ]-
Es wäre wohl inadäquat, hier Reparatur als Funktion des Wechsels auszuweisen. Durch die Wiederholung der die Reparatur einleitenden Teiläußerung nein dit JING doch gAr nich? (Z. 15) mit das GING gAr nich? (Z. 16) und den in diesem Zusammenhang auftretenden Code-Wechsel zwischen Regiolekt und (regionalem) Sprechstandard erfährt die Teilstruktur jedoch eine Markiertheit, deren interpretativer Gehalt vor dem Hintergrund der dispräferierten Fremdinitiierung und -durchführung der Reparatur (Schegloff, Jefferson & Sacks 1977; Schegloff 2000) durch den Sohn (SO) erkennbar und erklärbar wird.
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Entsprechende Funktionszusammenhänge lassen sich nur im sequenziellen Nachvollzug des Interaktionsgeschehens aufdecken. Genau das leistet ein sequenzanalytischer Zugriff, wie er in der Konversations-/Gesprächsanalyse verfolgt wird (Deppermann 2008: 49−51). Das aus der Konversationsanalyse stammende Verfahren der Sequenzanalyse ist als „die Methodisierung der Idee einer sich im Interaktionsvollzug reproduzierenden sozialen Ordnung“ (Bergmann 2007: 55) zu begreifen, das eine prozessuale Rekonstruktion des lokalen Handlungsvollzugs ermöglicht. Ziel sequenzanalytischer Untersuchungen ist es, interaktive Mechanismen der Konstruktion sozialer Wirklichkeit in ihrem prozessualen Vollzug bzw. in ihrer sequenziellen Geordnetheit nachzuvollziehen und auf diese Weise sog. Ethnomethoden der Sinnkonstitution zu rekonstruieren (vgl. hierzu u. a. Bergmann 2001: 921). Der Begriff der Ethnomethode geht auf Garfinkel (1967 u. a.) zurück, dessen Aufmerksamkeit „den ‚Methoden‘, d. h. ‚Praktiken‘ der Sprecher bei der intersubjektiven Konstitution von Wirklichkeit in alltäglichen Interaktionen“ (Knöbl 2012: 62) gilt. Dieser letztlich phänomenologischen Grundausrichtung „liegt die Vorstellung zugrunde, dass im Vollzug alltäglicher Handlungen Methoden zur Anwendung kommen, mittels derer die gerade ablaufenden Handlungen und Handlungssituationen als ‚Zeichen-und-Zeugnisse-einer-sozialen-Ordnung‘ erkennbar und als sinnhaft organisierte Ereignisse beschreibbar, erzählbar und erklärbar gemacht werden“ (Bergmann 2001: 921). Ein wesentliches Merkmal der Sequenzanalyse ist daher „die Verpflichtung des Interpreten, sich immer auf gleicher Höhe mit dem tatsächlichen Interaktionsgeschehen zu bewegen“ (Bergmann 2007: 55). Die Analyse lokaler Kontrastierungspraktiken setzt allerdings generell Wissen über eine globale Strukturiertheit sprachlicher Repertoires voraus, da andernfalls nicht das lokale Vorkommen einzelner Alternanten als Indikator für einen Varietätenwechsel bewertet werden kann. Analysen müssen sich immer auf Referenzkonfigurationen beziehen, die − wenn diese empirisch fundiert sein sollen − bspw. auf der Basis des Sprachgebrauchs innerhalb eines analysierten Gesprächs rekonstruiert werden können, was allerdings bedeutet, dass „die Beschreibung aufgrund des aus der ganzen Episode zusammengestellten Corpus der lokalen Interpretationsleistung“ (Auer 1984b: 32) der untersuchten Akteure voraus ist. Schwerwiegender ist allerdings der Umstand, dass Analysen zugleich immer hinter das habitualisierte Bezugswissen der Interagierenden zurückfallen (vgl. Auer 1984b: 31−32), was ggf. ein Vorgreifen rechtfertigt.
3. Dialekt-Standard-Variation im Gespräch: ein Forschungsüberblick Mit Blick auf Phänomene der Dialekt-Standard-Variation im deutschsprachigen Raum liefert Schwitalla (2012: 47−53) einen ausführlichen Funktionskatalog, der sich mit den von Gumperz (1982: 75−84) beschriebenen Funktionen von konversationellem CodeSwitching weitestgehend in Deckung bringen und insgesamt zwei Typen von Kontextualisierungsverfahren erkennen lässt: Zum einen ist Variation auf der Dialekt-Standard-Achse häufig Teil sog. Positionierungsverfahren. Die Kontrastbildung ist in entsprechenden Fällen mit der Kontextualisierung einer bestimmten Haltung gegenüber einer Proposition einer (ggf. auch rekonstruierten) Äußerung und/oder einer (sozialen) Person oder Personengruppe und/oder einem (sozialen) Ereignis etc. verbunden. Dabei spielen in der Regel
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auch sozio-konnotative Aspekte eine Rolle. Zum anderen dienen Kontrastbildungen häufig auch allein der Koordination des Handlungsgeschehens, indem durch lokal aufgebaute sprachliche Kontraste einzelne Diskursfragmente hervorgehoben werden, was Gumperz (1982: 79) auch als message qualification bezeichnet, die bspw. den Anfang oder den Abschluss eines übergeordneten Sequenzmusters markieren oder eine Art Richtungswechsel im Interaktionsgeschehen im Sinne eines change of footing (Goffman 1979) anzeigen. Sprachliche Variation ist jedoch auch im Rahmen von Positionierungsverfahren im Zusammenhang mit Veränderungen des footing zu sehen. Kontrastierungspraktiken dienen letztlich allgemein stets in irgendeiner Weise als Kontextualisierungsmittel zur Koordination des Interaktionsgeschehens, da jeweils die lokalen Interpretationsleistungen der Gesprächsteilnehmer durch variative Anzeigepraktiken geleitet werden. Für den deutschsprachigen Raum liegen für unterschiedliche Dialektregionen zahlreiche Studien vor, die sich mit Dialekt-Standard-Variation im Gespräch befassen. Nicht alle Arbeiten sind jedoch für einen gesprächslinguistisch orientierten Überblick von gleicher Relevanz. Insgesamt lassen sich grob drei Typen unterscheiden: − Typ (a): Das Augenmerk liegt primär auf strukturell-korrelativen Beschreibungen
sprachlicher Variation. Nur ergänzend werden ausschnitthafte Einblicke in die (häufig neben anderen Datentypen) analysierten Gesprächsdaten geliefert, um an ausgewählten Beispielen funktionale Zusammenhänge aufzuzeigen. Gesprächslinguistische Analysekategorien und -methoden kommen dabei nur bedingt zum Einsatz (vgl. bspw. Möller 2013). − Typ (b): Der primäre Fokus gilt der Analyse sprachlicher Variation im Gespräch aus einer explizit gesprächslinguistischen, häufig konversationsanalytischen Perspektive. Im Vordergrund steht die Ermittlung und Beschreibung von Funktionszusammenhängen. Die funktionalen Analysen folgen grundsätzlichen gesprächslinguistischen, in der Regel sequenzanalytischen Prinzipien. Ziel dabei ist vor allem die Aufdeckung von Funktionszusammenhängen. Dialektologische Strukturbeschreibungen dienen dabei lediglich als analytisches Hilfsmittel zur Aufschlüsselung und Systematisierung lokal ermittelter Variationsphänomene (vgl. bspw. Denkler 2007, 2011). − Typ (c): Das Interesse gilt ebenfalls primär der Analyse von Sprachvariation im Gespräch. Es wird dabei jedoch der strukturellen und funktionalen Analyse ein gleicher oder zumindest ähnlicher Stellenwert zugeschrieben. Auf der einen Seite werden potenzielle Kontrastmittel analytisch rekonstruiert und die Ergebnisse den funktionalen Analysen zugrunde gelegt. Auf der anderen Seite werden funktional ausgerichtete Einzelfallanalysen auf die Strukturbeschreibungen rückbezogen und bspw. die interpretative Relevanz einzelner sprachlicher Kontraste als Indiz für die emische Distinktivität der betreffenden Merkmalsoppositionen, d. h. für die Unterscheidbarkeit für die Akteure, gewertet. Die funktionalen Analysen verpflichten sich auch hier gesprächslinguistischen, zumeist sequenzanalytischen Prinzipien (vgl. bspw. Auer 1984a, 1986b; Kallmeyer & Keim 1994; Knöbl 2011, 2012; Lanwer 2011b, 2015). Nur Arbeiten, die Typ (b) oder (c) entsprechen, behandeln die Sprache des Gesprächs als Sprachgebrauch in einem spezifischen Ereignis sozialer Interaktion unter Berücksichtigung der damit verbundenen Konstitutionsprinzipien. Nur in Arbeiten des Typs (c) wird dabei der Ansatz einer doppelten Rekonstruktion verfolgt, der strukturellen und funktionalen Aspekten eine gleiche Relevanz zuschreibt (vgl. Kap. 2.2.).
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Kt. 27.1: Gesprächslinguistische Arbeiten zur Variation zwischen Dialekt und Gebrauchsstandard im deutschsprachigen Raum (Übersichtskarte für Deutschland, Österreich und die Schweiz)
Es lassen sich jedoch freilich nicht alle Arbeiten zu Dialekt-Standard-Variation im Gespräch, die in irgendeiner Weise mit Gesprächsdaten arbeiten, eindeutig einem der beschriebenen Typen zuordnen. Die Typologie bietet vielmehr eine grobmaschige Heuristik zur Eingrenzung der für diesen Forschungsüberblick relevanten Studien. Im Weiteren werden vor allem Ergebnisse aus Studien vorgestellt, die sich den Typen (b) oder (c) zuordnen lassen. In Teilen werden die Ausführungen um Ergebnisse aus Studien des Typs (a) angereichert. In der Übersichtskarte in Karte 27.1 sind alle Regionen, für die bereits Studien des Typs (b) oder (c) vorliegen, grau schattiert (die Darstellung der Regionen ist an Wiesingers (1983: 830) Kernregionen orientiert). Wenn rekonstruierbar, sind außerdem die jeweils untersuchten Ortspunkte (weiße Punkte) eingetragen. Wenn es sich um Studien zu städtischen Zentren oder Großregionen handelt, ist ausschließlich das jeweilige Zentrum (der betreffenden Großregion) (schwarze Punkte) kartiert. Die Übersicht beschränkt sich aufgrund der aktuellen Forschungslage auf Deutschland, Österreich und die Schweiz. Die folgende Überblicksdarstellung ist in ihrer Systematik an einer grobgliedrigen sprachgeographischen Zweiteilung des deutschsprachigen Raumes in Nieder- und Hochdeutsch orientiert. Die jeweiligen Forschungsergebnisse zu den bisher untersuchten Teilregionen werden mit einem primären Fokus auf funktionale Aspekte
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wiedergegeben. Vereinzelt wird jedoch auch auf methodische Aspekte eingegangen. Zwecks einheitlicher terminologischer Gliederung der involvierten Variationsspektren wird stark vereinfachend auf die in der Dialektologie etablierte und für die hier verfolgten Zwecke hinreichende Begriffstrias Dialekt − Regiolekt − Standard zurückgegriffen, auch wenn diese in den zitierten Studien häufig so nicht verwendet wird. Der Begriff des Standards ist mit Blick auf die in den verschiedenen Studien beobachteten Variationspraktiken allerdings nur im Sinne eines jeweils regionalen Kolloquial- oder Gebrauchsstandards adäquat anwendbar (vgl. hierzu auch die Diskussion in Lanwer i. V.). Für eine nähere Beschreibung der jeweils konstitutiven Kontrastmerkmale sei auf die Ausführungen in den jeweils zitierten Studien verwiesen.
3.1. Niederdeutscher Raum Für den niederdeutschen Sprachraum liegt eine ganze Reihe gesprächslinguistisch ausgerichteter Studien vor, die sich vorwiegend mit Wechseln zwischen Dialekt und Regiolekt/ Standard befassen. Vereinzelt finden sich aber auch Untersuchungen, die primär Variation im oberen Bereich der Vertikalen in den Blick nehmen. Die Untersuchungen beziehen sich hinsichtlich der berücksichtigten Kontraststrukturen allesamt vorrangig auf die Lautebene. Die regionale Streubreite gesprächslinguistisch ausgerichteter Arbeiten ist eher gering. Die Karte zeigt eine deutliche Bündelung im westlichen Teil des niederdeutschen Raumes. Diese ist in erster Linie den Forschungsarbeiten im Projekt Sprachvariation in Norddeutschland (SiN) zuzuschreiben. Im Rahmen des Projektes sind zwar im gesamten norddeutschen, d. h. niederdeutschen Raum zahlreiche Sprachaufnahmen u. a. auch von Tischgesprächen unter Familienmitgliedern und/oder Freunden gemacht worden (vgl. u. a. Elmentaler et al. 2015). Diese wurden am Projektstandort Münster in erster Linie für den westfälischen und niederfränkischen Raum unter verschiedenen gesprächslinguistischen Fragestellungen untersucht (vgl. hierzu auch die Beiträge in Denkler & Lanwer i. V.). Insgesamt finden sich jedoch Studien zum brandenburgischen, nordniederdeutschen, niederfränkischen und westfälischen Raum sowie zu verschiedenen städtischen Zentren und Großregionen. Im Folgenden werden zunächst die verschiedenen Untersuchungen zum ländlichen Raum für die in Karte 27.1 erfassten Regionen behandelt. Im Anschluss werden die Ergebnisse der Studien zu städtischen Großräumen zusammengefasst.
3.1.1. Nordniederdeutsch Zum nordniederdeutschen Raum liegen (jedoch nicht zuletzt auch aufgrund der weiten arealen Erstreckung des bei Wiesinger dialektgeographisch zusammengefassten Gebiets) zahlreiche Untersuchungen vor, die zumindest in Teilen einen − allerdings in unterschiedlichem Maße − gesprächslinguistischen Ansatz verfolgen. Die früheste Untersuchung ist die Studie von Stellmacher (1977) zur gesprochenen Sprache in Niedersachsen. Der Arbeit liegen neben fragebogenbasierten Erhebungen zum Basisdialekt zahlreiche Aufnahmen verschiedener Gesprächstypen zugrunde, die allesamt in der Ortschaft OsterholzScharmbeck erhoben wurden. In einem relativ kurzen Abschnitt werden u. a. auch Fälle
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konversationeller Sprachvariation analysiert, die alle von einer hochdeutsch-basierten Normallage in Richtung Niederdeutsch verlaufen (vgl. Stellmacher 1977: 155−163). Insgesamt kann Stellmacher für Wechsel vom Hochdeutschen ins Niederdeutsche verschiedene Funktionen ermitteln, die sich mit den von Gumperz und Schwitalla herausgearbeiteten Funktionskatalogen weitestgehend decken. Analysen zum Nordniederdeutschen, die auch Wechsel ausgehend vom Dialekt als Normallage belegen, finden sich bei Reershemius (2004). In einer Studie zum Niederdeutschen im ostfriesischen Campen untersucht Reershemius das niederdeutsch-hochdeutsche Variationsspektrum im niederdeutschen Dialekt erstsozialisierter Gewährspersonen, die eine hochdeutsche Varietät erst als L2 erworben haben. In einem eigenen Kapitel wird das Vorkommen von L2-Elementen in niederdeutscher Kommunikation untersucht. Neben Interferenzerscheinungen auf den unterschiedlichen Strukturebenen geraten dabei auch diskursfunktionale Wechsel in den Blick. Am Beispiel vor allem von Erzählsequenzen werden Funktionen wie bspw. Redewiedergabe oder die Hervorhebung evaluierender Diskurseinheiten illustriert (Reershemius 2004: 105−110; vgl. auch Reershemius 2001). Sprachliche Variation im Rahmen konversationeller Erzählungen nehmen auch Hettler, König & Lanwer (2011) in den Blick, die im Kontext einer individuenzentrierten Untersuchung u. a. auch das Variationsspektrum einer ostfriesischen Sprecherin aus Hinte analysieren. Die Untersuchung basiert auf im Rahmen des SiN-Projektes erhobenen Sprachdaten und bezieht sich in Teilen auch auf die Tischgespräche (Hettler, König & Lanwer 2011: 134−138). Die sowohl strukturellen als auch funktionalen Analysen des Gesprächsmaterials zeigen, dass sich die Sprecherin in der untersuchten Interaktionsepisode vorwiegend im Dialekt bewegt, ihren Sprachgebrauch aber punktuell in Richtung Regiolekt/Standard verschiebt. Dabei legt die Sprecherin einen insgesamt relativ strikten Gebrauch entweder rein dialektaler oder rein nicht-dialektaler (vor allem lautlicher) Merkmalskombinationen an den Tag. Verschiebungen zwischen entsprechenden Merkmalskombinationen treten an sequenzstrukturellen Schlüsselstellen auf und fungieren als eine Kontextualisierungsressource, die vor allem handlungsstrukturierend eingesetzt wird, was am Beispiel der Behauptung des Rederechts im sequenziellen Rahmen einer konversationellen Erzählung aufzeigt wird.
3.1.2. Niederfränkisch Mit Blick auf sprachliche Variation im Gespräch liegen − bei Ausklammerung von Untersuchungen zum Ruhrdeutschen (s. u.) − zum niederfränkischen Raum lediglich zwei Studien vor. In einer diatopisch-kontrastiv angelegten Arbeit zu Sprachgebrauchsregularitäten in drei norddeutschen Spracharealen (vgl. die Ausführungen zum Westfälischen und Brandenburgischen) nimmt Lanwer (2015) u. a. sprachliche Variation in (im Kontext des SiN-Projektes erhobenen) Tischgesprächen aus dem niederfränkischen Raum in den Blick. Lanwer (2015: 174−231) kann im Rahmen eines methodischen Zugriffs, der quantitative Kookkurrenz- und qualitative Sequenzanalysen miteinander verbindet, für die SiN-Daten aus dem nordniederfränkischen Kranenburg zeigen, dass die untersuchten Gewährspersonen in der Interaktion ein tendenziell dreigliedriges Variationsspektrum aktivieren und sich in der Regel − ausgehend von einer mittleren regiolektalen Varietät − sowohl in Richtung Standard als auch in Richtung eines tieferen Regiolekts bewegen, „um auf diese Weise episodeninterne Kontraste von diskursfunktionaler Relevanz zu
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
erzeugen“ (Lanwer 2015: 338). Dabei werden jedoch einerseits nicht alle verfügbaren Kontrastpotenziale systematisch ausgeschöpft. Andererseits lassen sich durchaus interindividuell unterschiedliche Variationsbreiten erkennen (Lanwer 2015: 192−193). Die Funktionalisierung von Kontraststrukturen dient vorwiegend der Konturierung von Sequenzmustern. Vereinzelt scheinen jedoch auch sozio-konnotative Aspekte durch. So finden sich bspw. Hinweise darauf, dass standardsprachliche Merkmale „mit einer Art Korrektheit im Ausdruck sowie − auf sozialer Ebene − mit einer gewissen Konformität und Angepasstheit oder gar Normtreue in Verbindung gebracht werden“, während regiolektale Merkmale „mit Assoziationen wie Gemütlichkeit und sozialer Nähe verknüpft sind“ (Lanwer 2015: 228). Hinweise auf sozio-konnotative Aspekte des Dialektgebrauchs liefert auch die Untersuchung von Droste (2017), der ebenfalls auf der Basis von SiN-Aufnahmen u. a. aus dem niederfränkischen Raum am Beispiel einer Dialektstilisierung und einer sich anschließenden evaluativen Aushandlungssequenz auf den Dialekt bezogene Bewertungsstrukturen sequenzanalytisch offenlegen kann. In der analysierten Episode treten intersubjektiv konfligierende Evaluationen im Spannungsfeld zwischen einer dem niederfränkischen Dialekt einerseits zugeschriebenen Komik und einem andererseits attestierten praktischen Nutzen im Arbeitsalltag (bspw. im Kontakt mit niederländischen Kunden) zu Tage.
3.1.3. Westfälisch Zum Sprachgebrauch im westfälischen Raum findet sich eine ganze Reihe gesprächslinguistischer Studien. Die früheste Arbeit stammt von Johannlükens (1989), der sich in einer Studie zur Dialekt-Standard-Variation im Osnabrücker Raum (die genauen Untersuchungsorte werden nicht genannt) mit strukturellen und funktionalen Aspekten sprachlicher Variation im Gespräch befasst. Johannlükens kommt zunächst auf der Basis einer quantitativen Auswertung ausgewählter sprachlicher Variablen zu dem Schluss, dass sich „[d]ie Orientierung am Gesprächspartner […] als Richtschnur für die Varietätenwahl“ (Johannlükens 1989: 100) erweist. Er deutet jedoch an anderer Stelle an, dass partnerbezogene Wechsel zum einen eine Art Gruppenzugehörigkeitsgefühl indizieren und zum anderen durchaus auch zwecks Selektion des (primären) Adressaten einer Äußerung und somit als Adressatenspezifizierung beschrieben werden können (Johannlükens 1989: 106). Die weiteren Detailanalysen einzelner Interaktionsepisoden liefern weitere Evidenz für die Funktionalität lokaler Wechsel bspw. zum Ausdruck von Emphase oder zur Inszenierung fremder Rede. Außerdem zu nennen sind hier die Arbeiten von Denkler (2007, 2011) zum Münsterländischen bzw. zum Westmünsterländischen. Denkler (2007) untersucht Erzählsequenzen in Alltagsinteraktionen aus dem münsterländischen Horstmar-Leer und kann beobachten, dass Wechsel zwischen niederdeutschem Dialekt und hochdeutschem Regiolekt/Standard in der Regel der sequenziellen Einbettung bzw. Konturierung konversationeller Erzählungen dienen (vgl. Denkler 2007: 187). Mit Blick auf sozialsymbolische Konnotationen scheinen die beteiligten Varietäten hingegen durch die Interagierenden in der Regel uninterpretiert zu bleiben. Gleiches kann Denkler (2011) in einer späteren Studie auch für das Westmünsterland feststellen. Im Rahmen einer sequenzanalytischen Untersuchung von Gesprächsmitschnitten aus einem Friseursalon im westmünsterländischen Heiden kommt Denkler zu
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dem Ergebnis, dass Codewechsel zwischen Hoch- und Niederdeutsch auch hier „in erster Linie der Kontrast- und Reliefbildung [dienen]. Das Einbringen sprachspezifischer Assoziationen lässt sich nur in wenigen Beispielen nachweisen“ (Denkler 2011: 165). Ähnliches können Hettler, König & Lanwer (2011: 129−134) anhand von Analysen von Gesprächsdaten aus dem SiN-Korpus für das Sprachverhalten einer einzelnen Sprecherin aus dem westmünsterländischen Südlohn zeigen, die Code-Switching zwischen Dialekt und Regiolekt/Standard ebenfalls im Rahmen einer Erzählpassage gesprächsstrukturierend einsetzt (vgl. außerdem König & Lanwer 2008). Beobachtungen zur Regiolekt-Standard-Variation finden sich in Lanwer (2015: 231–275). Lanwer kann zeigen, dass sich in den von ihm analysierten Tischgesprächen aus dem westmünsterländischen Ort Heiden (ebenfalls aus dem SiN-Korpus) ein dreigliedriges Varietätenspektrum bestehend aus Dialekt, Regiolekt und Standard abzeichnet − wenngleich der Dialekt in den untersuchten Daten eine nur marginale Rolle spielt. Die strukturellen Analysen fördern ein Set potenzieller Kontraststrukturen zu Tage, die nur in Teilen als kontrastive Mittel im Rahmen von Kontextualisierungsverfahren eingesetzt werden. In der Kombination der strukturellen und funktionalen Analysen lassen sich schließlich zwei opponierende Varietäten (Regiolekt und Standard) ermitteln, die sich nur aufgrund eines minimalen Sets funktional genutzter Merkmalsoppositionen unterscheiden. Die Sequenzanalysen ausgewählter Beispiele zeigen, wie die Interagierenden episoden-interne Wechsel sowohl vom Regiolekt in Richtung Standard als auch vom Standard in Richtung Regiolekt vollziehen. Entsprechende Wechsel decken mehr oder weniger die gleichen Funktionen ab, wie sie für Variationsphänomene zwischen Dialekt und Regiolekt/ Standard beschrieben werden. Der Aspekt der Sozialsymbolik scheint zudem auch hier eine eher nachgeordnete Rolle zu spielen. So werden bspw. sowohl Wechsel vom Regiolekt in Richtung Standard als auch Wechsel in die entgegengesetzte Richtung genutzt, um Pointen Nachdruck zu verleihen. Im Vordergrund scheint also letztlich allein der erzeugte Kontrast zu stehen. Basierend auf Analysen von Privatgesprächen aus der Umgebung von Warstein kann Lammert (2018) für das Südwestfälische feststellen, dass Varietätenwechsel zwischen hochdeutschem Standard/Regiolekt und niederdeutschem Dialekt hier in der sozialen Interaktion ebenfalls als Kontextualisierungsverfahren zu gesprächsorganisatorischen Zwecken, aber darüber hinaus bspw. auch zur Beziehungsgestaltung eingesetzt werden und somit tendenziell auch sozio-konnotative Aspekte eine Rolle spielen.
3.1.4. Mecklenburgisch-Vorpommersch Zum Mecklenburgisch-Vorpommerschen findet sich lediglich eine Studie von Dahl (1974), die auf der Basis von Gesprächsdaten aus Rostock und Umgebung u. a. auch funktionale Aspekte von Dialekt-Standard-Variation beleuchtet. Die Untersuchung von Dahl stellt mit Blick auf den deutschsprachigen Raum vermutlich die erste empirische Arbeit zu Dialekt-Standard-Variation im Gespräch dar. Der Analyseansatz von Dahl ist ein in erster Linie kontaktlinguistischer. Es stehen allgemein Kontaktphänomene im Spannungsfeld zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch im Fokus. Dahl unterscheidet dabei zwischen Interferenz und Alternanz als „zwei Typen der Sprachschichtenmischung“. Eine Alternanz liegt nach Dahl (1974: 77) immer dann vor, „wenn sprachliche
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Systeme bzw. Subsysteme in der Rede nacheinander wechseln […].“ Die Charakterisierung erinnert stark an Gumperz Definition von konversationellem Code-Switching bzw. nimmt diese im Grunde vorweg. Die Untersuchung von Alternanzen erfolgt allerdings nur in einem nicht sonderlich umfassenden Teilkapitel und zudem nicht auf der Basis einer irgendwie an den Handlungsstrukturen orientierten, rekonstruierenden Detailanalyse. Dahl (1974: 376−379) beschreibt sowohl für Wechsel vom niederdeutschem Dialekt in Richtung eines hochdeutschen Regiolekts/Standards als auch für Wechsel, die in die entgegensetzte Richtung verlaufen, Funktionen wie bspw. den Ausdruck von Emphase. Außerdem stellt Dahl eine gewisse Partnerorientierung der Code-Wahl fest und dokumentiert darüber hinaus vor allem für Wechsel vom Hochdeutschen ins Niederdeutsche, dass „Redeteile, die spontane Äußerungen sind und die der Sprecher mehr zu sich selbst als zum Gesprächspartner spricht, in der Sprache gesprochen [werden], die dem Sprecher am vertrautesten ist“ (Dahl 1974: 378).
3.1.5. Brandenburgisch Der Sprachgebrauch im brandenburgischen Raum ist bisher nur ganz vereinzelt unter gesprächslinguistischen Gesichtspunkten beleuchtet worden. Zu nennen sind hier die Arbeiten von Lanwer (2011b, 2015) sowie die Untersuchung von Droste (2017). Zumindest indirekte Hinweise auf gesprächsfunktionale Aspekte vertikaler Sprachvariation finden sich außerdem bei Schönfeld (1974: 135), der auf das Vorkommen kommunikativbedeutungsvoller Wechsel zwischen Dialekt und Regiolekt vor allem bei jüngeren Interagierenden verweist, allerdings keine empirischen Belege hierfür liefert. In der Studie von Lanwer (2015) ist das Brandenburgische nur ein Teilareal im (ehemals) niederdeutschen Raum, für das die regionale Alltagssprache unter strukturellen und funktionalen Gesichtspunkten analysiert wird. Für den brandenburgischen Raum kann Lanwer (2015: 275−335) auf der Basis von Aufzeichnungen von SiN-Gesprächen aus dem nordbrandenburgischen Gransee aufzeigen, dass die Interagierenden auf ein zweigeteiltes Variationsspektrum zurückgreifen und die sich zwischen Regiolekt und Standard aufspannenden Kontraststrukturen weitgreifend interaktiv-bedeutungsvoll einsetzen. Es bleiben aber auch Kontrastpotenziale ungenutzt, die zugleich deutliche Variationsprofile im Generations- sowie im Geschlechtervergleich erkennen lassen (Lanwer 2015: 299−302). In einem sequenzanalytischen Zugriff wird an ausgewählten Beispielen aufgezeigt, dass ein beträchtlicher Teil der strukturell ermittelten Kontrastpotenziale genutzt wird, um in der Interaktion vor dem Hintergrund einer regiolektalen Normallage lokale Wechsel zu konstituieren, die häufig rein gesprächsstrukturierende Funktion haben, aber vereinzelt auch auf weiterführende sozio-konnotative Interpretationsmöglichkeiten hindeuten. Vor allem im regionalen Vergleich zeigt sich, dass sich in den brandenburgischen Daten noch die „deutlichsten Hinweise auf eine gewisse Assoziation der Varietät des regionalen Gebrauchsstandards mit Hoch- und/oder Schriftsprachlichkeit“ (Lanwer 2015: 340) finden. In gewisser Weise komplementär zu den Ergebnissen in Lanwer, die ausschließlich Variation im Spannungsfeld zwischen Regiolekt und Standard dokumentieren, verhält sich die Untersuchung von Droste. Droste (2017) kann − ebenfalls auf der Basis von Gesprächsmaterial aus dem SiN-Projekt − für den brandenburgischen Raum am Beispiel von inszenierter Rede aufzeigen, dass auch der niederdeutsche Dialekt im sprachlichen
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Alltag durchaus noch eine Rolle spielt. Der sequenzanalytische Zugriff ermöglicht es Droste lokal im Gespräch aufgebaute Kontraste und darauf bezogene ethnokategoriale Varietäten-Etikettierungen (bspw. „Platt“ oder „Hoogdüütsch“) zu rekonstruieren.
3.1.6. Städtische Zentren und Großregionen Hinsichtlich des Sprachgebrauchs in (ehemals) niederdeutschen Städten finden sich drei Studien, in denen funktionale Aspekte sprachlicher Variation im Gespräch Gegenstand der Analyse sind. Für das Berlinische liefern Dittmar & Schlobinski (1988) eine Reihe von Einzelfallanalysen, die das Akkommodationsverhalten in der Interaktion mit Fremden in seiner prozessualen Entfaltung dokumentieren. Dittmar & Schlobinski können u. a. zeigen, dass ein Wechselspiel zwischen gegenüber den Koaktanten konvergentem und divergentem Sprachverhalten strategisch genutzt wird: In einem Gespräch zwischen zwei zugezogenen Westdeutschen und einem alteingesessenen Ost-Berliner können sie beobachten, dass Wechsel vom Berlinischen in Richtung Standard Hilfsbereitschaft signalisieren, während Verschiebungen zurück ins Berlinische genutzt werden, um sich bspw. von den Fremden abzugrenzen und aus dem Gespräch auszusteigen (Dittmar & Schlobinski 1988: 161−166). Schlobinski (1988) kann am Beispiel einer Talk-Show aufzeigen, wie Richard von Weizsäcker (der damalige regierende Bürgermeister von Berlin) Wechsel zwischen eher dialektal-berlinischen und eher standardsprachlichen Redeabschnitten in strategischer Weise einsetzt. Schlobinski (1988: 91−95) geht dabei ausführlicher auf strukturelle Aspekte ein, indem er seine Untersuchung an Ergebnisse einer quantitativen Korpusanalyse zum informellen Sprachgebrauch in Berlin rückbindet. Die Ergebnisse werden u. a. als Argumentationsgrundlage zur Erklärung beobachteter „Verletzungen“ von Kookkurrenzregeln genutzt. Es wird davon ausgegangen, dass Varianten, die generell mit geringerer Konsistenz im Berlinischen verwendet werden, auch im Rahmen von Code-Switching-Verfahren weniger erwartbar und das Ausbleiben entsprechender Realisierungen somit weniger markiert sei. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass vor allem hochfrequente Merkmale zwecks Kontrastierung eingesetzt werden. Schlobinski (1988: 94) spricht hier von einem Favorisierungsprinzip, das das Kookkurrenzprinzip außer Kraft setzen könne. Insgesamt kommt Schlobinski (1988: 99) zu dem Befund, dass von Weizsäcker „sich des Tricks des Wechselns in die Berliner Varietät“ bedient, um gesichtsbedrohende Äußerungen der Koaktanten abzuwehren. Die Wechsel indizieren dabei zum einen „Distanz zum Angreifer“, zum anderen sammelt von Weizsäcker durch den Gebrauch des Berlinischen „Pluspunkte beim anwesenden und virtuellen Publikum, indem er sich als schlagfertig erweist, also jene Eigenschaft als Selbstbild vermittelt, die von Berlinern am positivsten mit ihrer Varietät assoziiert ist.“ Die Relevanz der Assoziation von berlinischen Merkmalen auf der einen und der Eigenschaft der Schlagfertigkeit auf der anderen Seite kann auch Lanwer (2011a) im Rahmen einer Untersuchung zu Stilisierungsverfahren belegen. Auf der Basis einer kleinen Kollektion von Beispielen aus privaten Tischgesprächen und Fernsehinteraktionen wird herausgearbeitet, dass „das Berlinische vor allem mit Witz bzw. Humor, Direktheit (sowohl positiv als auch negativ bewertet) und Proletariat assoziiert [wird] und unter Rückbezug auf diese Assoziationen als stilistische Ressource zur Indizierung einer unernsten Gesprächsmodalität oder zur Inszenierung eines spezifischen Sozialtypus eingesetzt [wird]“ (Lanwer 2011a: 125).
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Aufschlüsse über Variationspraktiken in der städtischen Großregion des Ruhrgebiets liefert eine areal-kontrastiv ausgerichtete Untersuchung von Salewski (1998a, 1998b), die das sprachliche Repertoire älterer Bergleute aus Duisburg (Niederfränkisch) und Dortmund (Westfälisch) vergleicht. Im Rahmen ihrer Studie analysiert Salewski (1998a: 124−205 und 1998b) u. a. auch Code-Shifting-Phänomene in den von ihr erhobenen Interviewdaten. Vor dem Hintergrund ausführlicher struktureller Untersuchungen des verfügbaren Formenrepertoires, die bspw. auch die Ermittlung von Implikationsbeziehungen zwischen verschiedenen sprachlichen Varianten umfassen, kann Salewski unter Rückgriff auf eine von Auer entwickelte Skalierungsmethode (vgl. Kap. 3.2.4.) aufzeigen, dass die Gewährspersonen aus beiden Städten ein flexibles Variationsverhalten an den Tag legen, das „als eine Art ‚Modulation‘ innerhalb des Variablen-Kontinuums“ (Salewski 1998a: 203) beschrieben wird. Mit Blick auf funktionale Aspekte kann Salewski vor allem konversationell bedeutsame Verschiebungen vom Standardpol in Richtung Regiolekt nachweisen (vgl. Salewski 1998a: 136−202). In ähnlicher Weise kommt auch Selting (1983) im Rahmen einer Untersuchung von Gesprächsmitschnitten einer Hörerkontaktsendung zu dem Schluss, dass Sprecher des Ruhrdeutschen das sprachliche Oszillieren im nicht-dialektalen Teilspektrum der Vertikalen als stilistische Ressource nutzen.
3.2. Hochdeutscher Raum Für den hochdeutschen Raum liegen sowohl für Deutschland als auch für Österreich und die Schweiz einige gesprächslinguistisch orientierte Studien vor. Auch hier beziehen sich die Analysen mehr oder weniger ausschließlich auf lautliche Variation. Ein Großteil der Arbeiten zum Hochdeutschen kommt aus dem bundesdeutschen Raum. Die regionale Abdeckung ist allerdings − wie es die Karte in Karte 27.1 zeigt − nicht besonders gut. Es finden sich Untersuchungen vor allem zum Westmittel- und Westoberdeutschen. Verschiedene Beobachtungen vor allem zum oberdeutschen Raum lassen sich Schwitalla (2010) entnehmen. Die Ausführungen beziehen Gesprächsausschnitte aus unterschiedlichen Teilregionen mit ein, die vorrangig an der Universität Würzburg verfassten studentischen Qualifikationsarbeiten entnommen sind, die hier nicht systematisch berücksichtigt werden konnten. Für die Deutsch-Schweiz liegen vor allem die Ergebnisse des Forschungsprojektes Gesprochene Standardsprache im Deutsch-Schweizer Alltag vor, in dessen Rahmen Notrufgespräche aus dem gesamten deutschsprachigen Gebiet u. a. mit Blick auf gesprächsfunktionale Aspekte analysiert wurden. Das Ortsnetz der Studie ist in der Übersichtskarte allerdings nicht erfasst (siehe hierzu die Übersichtskarte in Christen et al. 2010: 34). Mit Blick auf sprachliche Variation in Österreich finden sich nur fragmentarische Beobachtungen vor allem zum Sprachgebrauch in Wien. Im Weiteren werden zunächst die verschiedenen Untersuchungen zum ländlichen Raum für die in Karte 27.1 erfassten Regionen wiedergegeben. Abschließend werden die Ergebnisse der Studien zum städtischen Raum zusammengefasst.
3.2.1. Ripuarisch Für den ripuarischen Raum liegen die Arbeiten von Macha (1991), Möller (2013) und Birkner & Gilles (2008) vor, die jeweils mit Gesprächsdaten arbeiten und u. a. funktio-
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nale Aspekte lokaler Kontrastierungspraktiken in den Blick nehmen. Vor allem die Untersuchung von Macha zum Variationsverhalten rheinischer Handwerksmeister liefert detaillierte Einblicke in Facetten variativer Praktiken „in vivo“. Macha analysiert im Rahmen seiner Studien u. a. Aufzeichnungen aus dem Berufsalltag der untersuchten Gewährspersonen aus den drei Ortschaften Siegburg, Eitorf und Windeck. An ausgewählten Beispielen illustriert Macha (1991: 201−216) zunächst, dass Interagierende sich in ihrem Sprachverhalten an situativen Parametern unterschiedlicher Handlungskonstellationen im Berufsalltag orientieren. Zugleich stellt Macha aber fest, dass auch innerhalb entsprechender Konstellationen Varietätenwechsel auftreten, „die weitaus weniger dem sprachlichen Unvermögen der Sprecher entspringen als vielmehr einem bilingualen Möglichkeitsraum“ (Macha 1991: 209). Die situativen Bedingungen legen − so Machas Schlussfolgerung − „zwar programmatisch die Primärtonart fest, Modulationen der angeschlagenen Tonart sind jedoch zugelassen und möglich.“ Unbeachtet bleibt allerdings, dass auch die sich im Vergleich verschiedener Interaktionsereignisse abzeichnenden Varietätenwechsel als Kontextualisierungshinweise zu verstehen sind, die Teil des Herstellungsmodus der betreffenden Aktivitäten sind (vgl. Kap. 2.3.). Die von Macha (1991: 210−216) schließlich als Kontextualisierungshinweise beschriebenen Wechsel illustrieren ein breites Funktionsspektrum von Code-Switching-Verfahren, die in der Regel vom Dialekt in Richtung Regiolekt/Standard verlaufen und bspw. Äußerungen oder Teiläußerungen wie bspw. Pointen beim konversationellen Erzählen hervorheben. Außerdem kann Macha Wechsel beobachten, die auf eine gewisse „‚vis comica‘ der Standardsprache“ (Macha 1991: 216) und somit auf sozio-konnotative Aspekte hindeuten. Ähnliche Beobachtungen macht auch Möller (2013), dessen Forschungsinteresse jedoch primär der quantitativen Ermittlung vertikaler Strukturen des Varietätenspektrums gilt. Neben den ausführlichen, vor allem auf Merkmalskookkurrenzen abzielenden Strukturanalysen werden aber auch Code-Switching-Verfahren und daran gekoppelte Funktionen untersucht, um auf diese Weise ein Differenzbewusstsein in Bezug auf bestimmte Kontraststrukturen zu belegen. Anhand einer ganzen Reihe kleiner Beispiele aus den untersuchten informellen Gesprächen illustriert Möller (2013: 228−231) sowohl rein gesprächsstrukturierende als auch zusätzlich sozio-konnotativ (bspw. bei der Redewiedergabe) aufgeladene Verwendungen. Funktionale Wechsel lassen sich zudem − so Möller − in beide Richtungen, d. h. vom Regiolekt in den Standard und vice versa, beobachten. Sequenzstrukturelle Aspekte werden im Rahmen der funktionalen Analysen allerdings nicht berücksichtigt. In der Regel werden ohne Rückgriff auf gesprächslinguistische Analysekategorien und Darstellungsformen analytisch nicht wirklich gestützte Funktionszuordnungen vorgenommen. Die aufgeführten Beispiele lassen zudem aufgrund des nicht mitgelieferten sequenziellen Kontextes auch das Kontrastpotenzial zur Vorgängeräußerung häufig nicht erkennen. Eindeutig sequenzanalytisch ausgerichtet ist hingegen die Untersuchung von Birkner & Gilles (2008) zu Stilisierungsverfahren im Reality-Fernsehen. Am Beispiel von Big-Brother-Daten untersuchen Birkner & Gilles Stilisierungen einer mutmaßlich regiolektal-ripuarischen Varietät, die sie allerdings etwas irreführend als „Dialektstilisierungen“ bezeichnen (siehe hierzu Kap. 2.2.). Sie kommen infolge der Analyse mehrerer Fallbeispiele zum Schluss, dass „Dialektstilisierungen in hohem Maße zur Sozialtypisierung funktionalisiert werden“ (Birkner & Gilles 2008: 127). Teil der Stilisierung sind u. a. auch prosodische Merkmale der anvisierten Varietät.
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3.2.2. Rheinfränkisch Neben den Studien zur Mannheimer Stadtsprache (s. u.) liegt zum Rheinfränkischen lediglich die Untersuchung von Ramge (1978) vor. Ramge analysiert das Variationsverhalten saarländischer Lehrkräfte innerhalb des Schulunterrichts sowohl an Stadt- als auch an Landschulen. Im Anschluss an eine ausführliche Darstellung der strukturellen Unterscheidungsmerkmale der beteiligten Varietäten wendet sich Ramge spezifischen kommunikativen Funktionen des Dialektgebrauchs zu (Ramge 1978: 211−220). Ramge verfolgt dabei − jedoch ohne Bezug zur Konversationsanalyse − einen im Grunde sequenzanalytischen Ansatz und geht davon aus, dass „die kommunikative Funktion einer Äußerung“ mitbestimmt wird durch „deren Position im Interaktionsprozeß und die Art und Weise, in der die Äußerung sprecherisch realisiert wird“ (Ramge 1978: 211). Für Wechsel in Richtung des dialektalen Pols kann Ramge in detaillierten Einzelfallanalysen insgesamt sieben Funktionen herausarbeiten, die sich auf die zwei Funktionsklassen der reinen Gesprächsstrukturierung (bspw. Wechsel zwischen Teilaktivitäten) einerseits und der zusätzlichen Aktivierung sozio-konnotativer Deutungsmuster (bspw. Redewiedergabe oder Ausdruck sozialer Nähe) andererseits verteilen, die aber im Rahmen der Unterrichtssituation spezifische Effekte haben.
3.2.3. Schwäbisch Zum Schwäbischen liegen vor allem die Untersuchungen von Knöbl zum Sprachgebrauch in der Kleinstadt Erbach vor. In Knöbl (2006) werden am Beispiel ausgewählter Interaktionsepisoden Variationspraktiken von Gemeinderatsmitgliedern beschrieben. Knöbl (2006: 71) kann hier zeigen, dass Wechsel ausgehend vom Standard in Richtung einer dialektalen Varietät mit Blick auf die Identitäts- und Beziehungsgestaltung sowie zwecks Steuerung der Interaktionsmodalität (bspw. ernst vs. unernst) eingesetzt werden. Knöbl (2012; vgl. auch Knöbl 2010, 2011) dokumentiert die Ergebnisse einer umfassenderen ethnographisch-soziolinguistisch ausgerichteten Arbeit zur Sprachvariation in einer Schulklasse. Die Analysen stützen sich auf Aufnahmen von Unterrichtsstunden und Pausengesprächen. Den durchgeführten Analysen episodeninterner Wechsel gehen ausführliche Strukturanalysen zu den linguistischen Profilen der Interagierenden voraus. Die sequenzanalytischen Untersuchungen fördern für Schülerschaft und Lehrkräfte jeweils eigene Variationspraktiken zutage (Knöbl 2012: 188−257). Im Variationsverhalten einer Lateinlehrerin lässt sich für Verfahren des Code-Switchings ein weitgefächertes Funktionsspektrum erkennen, das Funktionen wie Gestaltung der Interaktionsmodalität oder die Hervorhebung einzelner Diskursfragmente umfasst. Es lassen sich jedoch keine festen Kopplungen von Form und Funktion feststellen. „Code-Switching wird von der Lehrerin vielmehr als flexible Ressource bei der Bearbeitung verschiedener institutionell relevanter Aufgaben und Anforderungen der Interaktionskonstitution gebraucht“ (Knöbl 2012: 254). Code-Switching-Verfahren erzeugen in den untersuchten Daten durch eine lokale Zunahme dialektaler Merkmale vor dem Hintergrund einer standardsprachlichen Normallage Kontraste, die zunächst lediglich eine Andersartigkeit des Sprechens signalisieren und auf diese Weise Inferenzangebote generieren. Die angestoßenen Interpretationsverfahren charakterisiert Knöbl als offen. Neben derartigen Code-Wechseln lässt sich im
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Sprachverhalten der betreffenden Lehrerin eine weitere Variationspraktik erkennen, bei der sie den „standardsprachlichen Kontinuumsbereich ihres Formenrepertoires für den Kontrastaufbau nutzt“ (Knöbl 2012: 254). Für entsprechende Variationspraktiken lassen sich spezifische Funktionen ausmachen, die Knöbl als Aufmerksamkeitssteuerung und Absicherung der Verstehbarkeit beschreibt. Ein vergleichbares Variationsverfahren kann Knöbl auch bei einem weiteren Lehrer beobachten. Für die Schülerschaft kann Knöbl schließlich ein insgesamt deutlich anders gelagertes Variationsverhalten feststellen. Zunächst lässt sich innerhalb der Schülerschaft eine interindividuell relativ homogene Normallage ausmachen, die sich als „eine mehr oder weniger stabile Mischung aus hauptsächlich standardsprechsprachlichen Formen und bestimmten Dialektvarianten“ (Knöbl 2012: 256) und somit wohl als Regiolekt charakterisieren lässt. Diese regiolektale Varietät wird von den Schülern relativ konstant und konsistent gebraucht, was in der Lehrer-Schüler-Interaktion zu einer mangelnden „Reziprozität der Code-Wahl“ führt. Lokale Wechsel, die sich laut Knöbl (2012: 240) als Code-Shifting beschreiben lassen, finden sich vor allem in Schüler-Schüler-Interaktionen. Diese erfolgen zumeist in Richtung einer stärker regiolektal/dialektal geprägten Sprechweise, können vor allem sozial-symbolisch interpretiert werden und sind bspw. auch Bestandteil von Stilisierungsverfahren, wie sie auch Günthner (2002 u. a.) dokumentiert. Günthner (2002: 72) stellt auf der Basis einer Untersuchung von nicht näher lokalisierbarem Datenmaterial aus Baden-Württemberg allgemein die Tendenz fest, dass „Wechsel in die Standardvarietät zur Markierung von Formalität, von Distanz, ja auch von Arroganz, scheinbarer Vornehmheit und pedantischem Verhalten eingesetzt werden, während der Wechsel in eine stärkere Dialektvarietät […] häufig eingesetzt [wird], um eine Figur als provinziell, langsam oder dümmlich-naiv zu stilisieren.“ In einem Fallbeispiel werden in diesem Zusammenhang schwäbische Merkmale als Kontextualisierungsressource eingesetzt. Interessant ist dabei, dass die realisierte Redewiedergabe in der von Günthner zitierten Episode mit der adverbialen Bestimmung „in BREITESTEM SCHWÄBISCH“ (Günthner 2002: 70) eingeleitet wird, sodass hier eine Ethnokategorie mit Blick auf sprachstrukturelle Eigenarten und Bewertungsstrukturen als VarietätenEtikett rekonstruierbar wird. Der Wechsel in eine Varietät, die nicht Teil des eigenen habituellen Repertoires ist, zielt hier − so Günthner (2002: 70−71) − darauf ab, „die zitierte Figur von den anwesenden Personen abzugrenzen und ihre Rede als dissonant zu markieren.“ Sprachvariation ist hier also Teil eines affektiven Positionierungsverfahrens. Ähnliche Beobachtungen zum Einsatz von Dialekt-Standard-Variation im Rahmen von Positionierungsverfahren finden sich auch bei Keppler (1994: 123).
3.2.4. Mittelbairisch (Deutschland) Zum Mittelbairischen auf bundesdeutschem Gebiet findet sich in der gesprächslinguistisch ausgerichteten Forschungsliteratur nur eine Einzelfallanalyse bei Auer (1984b), die auch in Auer (1986b) aufgegriffen wird. Bei dem analysierten Gesprächsmaterial handelt es sich um einen Mitschnitt eines Telefongesprächs zwischen zwei Antiquitätenhändlern, von denen nur einer als Sprecher des Mittelbairischen − „mit wenigen, leichten bair.schwäbischen Transfers“ (Auer 1984b: 6−7) − ausgewiesen wird. Eben dieser Sprecher steht im Fokus der von Auer durchgeführten Analysen, die auf einen sequenzanalyti-
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schen Nachvollzug der Funktionalisierung von sprachlicher Variation im Dialekt-Standard-Spektrum abzielen. Die strukturelle Rekonstruktion sprachlicher Alternanzen basiert auf über die gesamte Interaktion ermittelten Kontraststrukturen, die auch (allerdings introspektiv gewonnene) Implikations- und Kookkurrenzbeziehungen zwischen Varianten verschiedener sprachlicher Variablen in Rechnung stellen und schließlich in Form einer äußerungsbezogenen Skalierung von Alternativen mit den Sequenzanalysen rückgekoppelt werden. Anhand von zwei Ausschnitten wird einmal ein Fall einer „allmähliche[n] Bewegung von Dialekt- zu Standardpol“ und einmal ein Fall einer „schrittweisen Annäherung an den Dialekt“ (Auer 1984b: 14) illustriert. Mit Blick auf das kontextualisierende Potenzial der beobachteten Code-Shifting-Passagen konstatiert Auer (1984b: 64), dass das Shifting dazu beiträgt „den Übergang zwischen einer rituell-beziehungsbezogenen zu einer darstellend-geschäftlichen Interpretation der Äußerungen […] zu betonen und mit zu ermöglichen.“ Sprachliche Variation übernimmt hier eine gesprächsorganisierende Funktion, die aber vermutlich auf sozio-konnotative Potenziale hinsichtlich der Beziehungsgestaltung (soziale Nähe vs. soziale Distanz) zurückgreift.
3.2.5. Niederalemannisch Für das niederalemannische Areal liegt − wie auch für das Mittelbairische − lediglich eine Einzelfallanalyse von Auer (1984b) vor. Gegenstand der Analyse ist hier ein Gespräch zwischen „einem badisch-alemannisch sprechenden Verwaltungsbeamten und einem standardsprechenden Unternehmer“ (Auer 1984b: 7). In der Analyse wird das Sprachverhalten des Verwaltungsbeamten fokussiert. Die Beschreibung folgt dabei demselben Schema, wie es für die Untersuchung des mittelbairischen Sprechers im vorherigen Absatz bereits skizziert worden ist. Auer kann auf diese Weise Mechanismen der strategischen Nutzung von Variationsspielräumen in einem institutionellen Kontext aufzeigen. Mit Blick auf die strukturelle Ebene illustriert Auer zunächst am Beispiel von zwei Episoden, dass sich Bewegungen auf der Dialekt-Standard-Achse beobachten lassen, die das eine Mal von einer „mitteldialektalen Sprechweise“ (Auer 1984b: 19) in Richtung Standard verlaufen und das andere Mal ausgehend von einer rein dialektalen Äußerungssequenz in Richtung des mittleren Dialektniveaus. Der Sprecher bedient sich also jeweils unterschiedlicher Teilausschnitte des verfügbaren sprachlichen Repertoires. In beiden Fällen kann Auer im Rahmen eines sequenzanalytischen Zugriffs auch funktionale Zusammenhänge ausmachen. Im ersten Beispiel geht das Variationsverhalten − so Auer (1984b: 20−21) − „mit dem Übergang zwischen einer kooperativen zu einer legalistisch-unkooperativen“ Handlungssequenz einher. Im zweiten Beispiel verläuft die Variation parallel „zur Beruhigung der Interaktion nach einer sehr antagonistischen Phase […].“
3.2.6. Hoch- und Höchstalemannisch (Deutschschweiz) Ausführliche Analysen zu sprachlicher Variation in der Deutschschweiz finden sich bei Christen et al. (2010). Den Untersuchungen liegen Aufzeichnungen von Notruftelefonaten aus der gesamten Deutschschweiz zugrunde. Im ersten Teil ihrer Studie nehmen Christen
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et al. (2010: 52) eine explizit gesprächslinguistische Perspektivierung des Sprachgebrauchs der untersuchten Polizeibeamten ein, um die auftretenden Variationsphänomene nicht lediglich „als blosses Faktum zur Kenntnis zu nehmen“. Die Beispielanalysen scheinen allerdings weniger auf eine sequenzielle Rekonstruktion des Handlungsgeschehens ausgelegt zu sein, sondern haben eher illustrativen Charakter. Im Rahmen der Dokumentation der funktionalen Analysen wird zwischen Gesprächen mit Autochthonen und Gesprächen mit Allochthonen differenziert. In Gesprächen mit Autochthonen dient dominant der jeweilige Dialekt als Normallage (Christen et al. 2010: 65) und somit als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund der lokale Einsatz standardsprachlicher Strukturen sein diskursives Funktionspotenzial entfaltet. Anhand zahlreicher Beispiele werden vor allem rein gesprächsorganisatorische Funktionen wie bspw. die Verwendung standardsprachlicher Diskursmarker, deren gesprächsstrukturierende Funktion durch den Code-Wechsel zusätzlich hervorgehoben wird (Christen et al. 2010: 75−80), illustriert. Für den Einsatz sprachlicher Variation im Rahmen von Verfahren der Redewiedergabe werden zusätzliche interpretative Aspekte mit Blick auf die Indizierung von Fremdheit angenommen. Christen et al. (2010: 84) gehen davon aus, dass aufgrund der herrschenden Diglossiesituation „die Standardsprache bei der Wiedergabe der Rede einer dritten Person immer auch als Stilisierung dafür [fungiert], dass es sich um eine Allochthone handelt […].“ Ebenfalls mit Bezug auf die Deutsch-Schweizer Diglossiesituation, vor allem mit Blick auf die mediale Diglossie werden Wechsel erklärbar, die ein unmittelbares Verschriften nach sich ziehen. Ein Wechsel zur Standardsprache − so die Hypothese − „kann als unausgesprochene Aufforderung zum Aufschreiben der Information dienen“ (Christen et al. 2010: 66−67). In Gesprächen mit Allochthonen zeichnet sich ein strukturell und funktional betrachtet nur leicht anders gelagertes Ensemble von Variationspraktiken ab. Zunächst spielt sprachliche Variation hier bereits im Rahmen der Gesprächseröffnung eine zentrale Rolle, da die Wahl der den Grundton des Gesprächs bestimmenden Normallage nicht wie in den Gesprächen zwischen Autochthonen per default auf den Dialekt fällt (Christen et al. 2010: 105−121). In diesem Zusammenhang erweist sich u. a. der varietätenbezogene Signalwert von Grußformeln als relevante Koordinationsressource im Hinblick auf die initiale Code-Wahl. Kontrastierungspraktiken im weiteren Gesprächsverlauf entfalten sich dann entweder vom jeweiligen Dialekt in Richtung Standard oder ausgehend vom Standard in Richtung des Dialekts. Hinsichtlich der konversationellen Bedeutsamkeit von Wechseln in Richtung Standard werden verschiedene Funktionszusammenhänge, wie die Verständnissicherung oder die Distanzierung vom Anrufer beschrieben (Christen et al. 2010: 126).
3.2.7. Städtische Zentren und Großregionen Mit Blick auf den bundesdeutschen Raum finden sich verschiedene Studien zu konversationeller Dialekt-Standard-Variation im städtischen Raum. Einen explizit interaktionsanalytischen Zugang verfolgen die im Rahmen des Projektes Kommunikation in der Stadt durchgeführten Untersuchungen zum Sprachverhalten in Mannheim. Verschiedene Teilstudien liefern mikrosoziologische Einblicke in Regularitäten des Sprachgebrauchs in unterschiedlichen Lebenswelten innerhalb des Mannheimer Stadtgebiets. Kallmeyer & Keim (1994) nehmen bspw. das Sprachverhalten einer Gruppe älterer Frauen aus der westlichen Unterstadt in den Blick. Auf der Basis detaillierter Sequenzanalysen, die sich
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methodisch explizit an Arbeitsweisen der Konversationsanalyse orientieren, werden − im Anschluss an ausführliche strukturelle Analysen potenzieller Kontraststrukturen − funktionale Aspekte in den Blick genommen. Mit Blick auf phonologische Variation auf der Dialekt-Standard-Achse können Kallmeyer & Keim (1994: 143) beobachten, dass „sozialsymbolische phonologische Variation“ in dem von ihnen untersuchten Gesprächsmaterial insgesamt häufig ist, „und zwar nicht nur bei der Redewiedergabe, sondern auch in Kommentaren und narrativen bzw. beschreibenden Äußerungen.“ Es lässt sich jedoch kein stabiles Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen sprachlichen Varianten bzw. Variantenbündeln und sozialer Bedeutung ausmachen. Vielmehr können sprachliche Kontraste je nach Verwendungszusammenhang eine unterschiedliche Funktionalisierung erfahren (Kallmeyer & Keim 1994: 236). Sprachliche Variation auf der Dialekt-Standard-Achse wird zudem − auch ohne sozio-konnotative Bezüge − allein „zur Strukturierung von komplexen Äußerungen und zur Gesprächsorganisation eingesetzt“ (Kallmeyer & Keim 1994: 143). Die untersuchten Sprecherinnen greifen dabei auf ein jeweils „unterschiedlich weites Spektrum auf der Achse Dialekt-Standard“ (Kallmeyer & Keim 1994: 143) zurück. Sehr ähnliche Beobachtungen finden sich auch bei Bausch (1994, 1998), der Sprachvariation im Rahmen von Klatschaktivitäten von Jugendlichen aus MannheimNeckarau untersucht. Bausch (1998: 139) stellt u. a. fest, dass Wechsel in Richtung Standard genutzt werden, um ganze Erzählepisoden sequenziell herauszustellen. Ebenfalls Einblicke in das Variationsverhalten in Mannheim liefern die Untersuchungen zur sprachlichen Variation in Schlichtungsgesprächen von Henn-Memmesheimer, die gemeinsam mit Eggers ein Verfahren entwickelt, das es ermöglicht sprachliche Alternanzen auf der Dialekt-Standard-Achse im prozessualen Verlauf unter Rückgriff auf quantitative Methoden nachzuzeichnen. Henn-Memmesheimer & Eggers (2000: 134−136) können auf diese Weise zwar systematisch aufzeigen, dass episodenintern variierende Standarddivergenzen im Sprachgebrauch der untersuchten Gewährspersonen sich auf wechselnde Handlungskonstellationen projizieren lassen. Aussagen darüber, inwiefern sprachliche Kontraste selbst zur Sequenzierung des Gesprächs beitragen, ermöglichen die Analysen allerdings nicht. Einen Zugriff, der gerade solche Analysen möglich macht, wählt hingegen Auer (1990) im Rahmen seiner phonologischen Untersuchungen zum Konstanzer Repertoire. Auer geht hier methodisch in gleicher Weise vor wie in den bereits behandelten Fallstudien zum Mittelbairischen und Niederalemannischen. Im Anschluss an ausführliche Untersuchungen der verfügbaren lautlichen Kontraststrukturen wird im Rahmen eines sequenzanalytischen Zugriffs überprüft, inwiefern diese diskursfunktional eingesetzt werden. Auer kann beobachten, dass verschiedene Variablengruppen in unterschiedlicher Weise in lokale Kontrastierungspraktiken eingebunden werden, die sowohl abrupte Wechsel (Code-Switching) als auch kontinuierliche Übergänge (Code-Shifting) konstituieren. Entsprechende Variationspraktiken lassen sich sowohl vom Dialekt in den Standard als auch vice versa feststellen. Mit Blick auf funktionale Aspekte kann Auer (1990: 204−211) zahlreiche Fälle beobachten, die im Zusammenhang mit Verfahren der Redewiedergabe auftreten. Hierbei scheinen auch sozio-konnotative Aspekte, wie bspw. die Assoziation von Standardsprachlichkeit und Schrift, eine Rolle zu spielen. Es finden sich aber auch Beispiele, in denen Kontrastierungspraktiken mit Blick auf die Beziehungsgestaltung oder zur Verdeutlichung von Äußerungsteilen im Rahmen von Reparaturverfahren eingesetzt werden (Auer 1990: 211−219). Auch für Österreich und die Deutschschweiz liegen zumindest in Ansätzen gesprächslinguistisch ausgerichtete Studien vor, die sich auf den Sprachgebrauch im städtischen
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Raum konzentrieren. Für Österreich finden sich allerdings nur fragmentarische Befunde bei Moosmüller (1989), die sich der Untersuchung phonologischer Variation in Wiener Parlamentsdebatten widmet. Sie kann feststellen, dass Parlamentarier Wechsel in den Dialekt funktional einsetzen, um Argumente eines Antagonisten in der Diskussion herunterzuspielen, indem sie durch den Gebrauch des Dialekts eine „difference in political seriousness“ (Moosmüller 1989: 175) signalisieren, was nicht zuletzt auch auf an den institutionellen Rahmen gebundene sozio-konnotative Assoziationen beruht (Moosmüller 1989: 174). Mit Blick auf die Deutschschweiz finden sich zwei Arbeiten zum Baseldeutschen. Die Arbeit von Hofer (1997) ist in erster Linie auf die Durchführung einer strukturellen Repertoireanalyse hin angelegt. Es werden aber auch anhand von zwei längeren Episoden aus Unterrichtsgesprächen Formen konversationell bedeutungsvoller Sprachvariation einmal eines Schülers und einmal einer Lehrerin exemplifiziert. Es geht dabei allerdings nur bedingt um Variationsphänomene im Sinne von Code-Switching auf der Dialekt-Standard-Achse. Für den Sprachgebrauch des exemplarisch analysierten Schülers wird zwar eine Stilisierungssequenz beschrieben, in der − neben prosodischen Merkmalen (Sprechstimme, -tempo etc.) − vermutlich auch lautliche Variation im vertikalen Spektrum zum Einsatz kommt. Die Beschreibungen sind hier jedoch wenig explizit. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass der Sprecher „lautlich von seiner Normallage ab[weicht]“ (Hofer 1997: 238), um eine spezifische Figur sprachlich zu inszenieren. Rückschlüsse auf die Strukturiertheit des Baseler Repertoires werden vor dem Hintergrund der lokalen Analysen nicht gezogen. Etwas anders gelagert ist die Untersuchung von Bürkli (1999), die im Rahmen eines individuenzentrierten Ansatzes berufsbegleitende Aufnahmen von Angestellten eines Baseler Großbetriebes untersucht. In diesem Zusammenhang werden auch Formen und Funktionen von Dialekt-Standard-Variation im Gespräch in den Blick genommen. Interessant sind hier vor allem die Beobachtungen zu den Interaktionen mit dialektkompetenten Koaktanten, für die Bürkli (1999: 350−365) feststellen kann, dass obligatorisch der Dialekt als Normallage gewählt wird, von der die Gewährspersonen in verschiedenen Handlungszusammenhängen in Richtung Standard abweichen. Dabei lassen sich sowohl abrupte Wechsel als auch allmähliche Übergänge beobachten, die lokal funktionalisiert werden, um bspw. Äußerungen oder Äußerungsteile hervorzuheben oder − wie es auch Christen et al. (2010) für die Deutschschweiz feststellen − auf Schrift Bezug zu nehmen.
4. Desiderata und Forschungsperspektiven Der vorliegende Übersichtsartikel ist − wie einleitend angemerkt − in seiner Grundausrichtung auf die Diskussion theoretischer und methodischer Aspekte der Analyse von sprachlicher Variation im Gespräch sowie auf die Zusammenschau von Forschungsergebnissen im betreffenden Feld fokussiert. Der theoretisch-methodische Überblick zeigt, dass sich in der einschlägigen Literatur durchaus konzise Überlegungen zur Modellierung von Dialekt-Standard-Variation im Gespräch abzeichnen. Der Forschungsüberblick lässt erkennen, dass bisherige Forschungsarbeiten einen reichen Fundus an empirischen Beobachtungen zum Thema bereithalten, die darauf hindeuten, dass der funktionale Einsatz sprachlicher Variation auf der Dialekt-Standard-Achse in allen bisher untersuchten Arealen und Städten unabhängig von den jeweils verfügbaren Kontrastmitteln, regelhaft
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vorkommt und ähnlichen Mechanismen folgt. Im arealen Vergleich zeichnen sich nur bedingt Unterschiede mit Blick auf die funktionale Nutzung arealspezifischer Kontrastpotenziale ab. Es finden sich in Studien zu allen bisher untersuchten Spracharealen Hinweise auf die beiden zu Beginn von Kap. 3. skizzierten Funktionstypen der Positionierung und Gesprächsstrukturierung. Augenfällig ist dabei jedoch, dass sozio-konnotativen Aspekten sprachlicher Variation im hochdeutschen Raum ein tendenziell größerer Stellenwert zuzukommen scheint. Mit Blick auf Aspekte der Positionierung stechen hier besonders Stilisierungspraktiken im Zusammenhang mit Verfahren der Redewiedergabe heraus. Die Ergebnisse der Studien zum Deutschschweizer Raum deuten außerdem auf die interpretative Relevanz einer assoziativen Verbindung von Sprechstandard und Schriftlichkeit hin, die in den übrigen Regionen nicht in der Weise hervortritt. Entsprechende Beobachtungen lassen sich ggf. auf unterschiedliche regionale Sprachkontakthistorien und/oder unterschiedliche Stadien der Entdiglossierung zurückführen, die sich in (zumindest in Teilen) arealspezifischen Variationspraktiken niederschlagen. Es liegen allerdings bisher zum einen noch nicht annähernd flächendeckende Befunde vor. Zum anderen sind die referierten Ergebnisse ausgehend von durchaus unterschiedlichen theoretischen und methodischen Annahmen auf der Basis teilweise sehr unterschiedlicher Datengrundlagen generiert worden. Während Untersuchungen zum niederdeutschen Raum nahezu ausschließlich Gesprächsdaten aus der privaten Sphäre zugrunde legen, finden sich für den hochdeutschen Raum vor allem auch Studien zu institutioneller Kommunikation. Es finden sich zudem nach wie vor kaum Arbeiten, die ein Bemühen um eine konsequente Zusammenführung von Struktur- und Funktionsanalyse erkennen lassen, wie sie für eine adäquate Rekonstruktion bedeutungstragender Variationspraktiken in sozialen Interaktionen für relevant erachtet werden kann. Für die weitere Entwicklung des Forschungsfeldes innerhalb der Dialektologie wäre es sicher zuträglich, wenn sich in zukünftigen Untersuchungen eine größere theoretisch-methodische Homogenisierung erreichen ließe. Dabei sollte vor allem auch der reflektierte Umgang mit in die Dialektologie importierten Konzepten und Methoden aus der Gesprächslinguistik eine zentrale Rolle spielen. So hat sich zwar das konversationsanalytische Instrument der Sequenzanalyse in verschiedenen Studien als geeignetes Mittel zur Rekonstruktion von auf sprachlicher Kontrastbildung im Dialekt-Standard-Spektrum beruhenden Kontextualisierungsverfahren bewährt. Für die Dialektologie stellt die Beobachtung lokaler Kontrastierungspraktiken unter Einbezug einer diskursfunktionalen Perspektive daher sicher ein durchaus probates Mittel dar, um Unterscheidungsmerkmale von Varietäten auf der Basis der Analyse spontansprachlicher Daten aus einer emischen Perspektive zu rekonstruieren (Auer 1986b: 99, 1990: 190; Knöbl 2012: 40 sowie Lanwer 2015: 62−68). Unter methodologischen Gesichtspunkten ergibt sich allerdings das Problem, dass ein gesprächslinguistischer Zugriff, der Sprachvariation als lokales Kontextualisierungsverfahren erfassen und beschreiben will, zwangsläufig eine Annäherung an die Innenperspektive der Interaktanten erfordert, während areal-kontrastive Analysen die Verteilung sprachlicher Varianten im Raum klassischerweise aus der Außenperspektive des Analysanden erfassen, was zu Kategorisierungen führen kann, die sich mit denen der Sprachteilhaber nur bedingt decken (Haas 2011). Neben Untersuchungen zu sprachlicher Variation im Gespräch lassen sich schließlich noch mindestens drei weitere Teilbereiche ausmachen, in denen ein Austausch zwischen Gesprächslinguistik und Dialektologie sich bisher zumindest in Ansätzen als fruchtbar erwiesen hat und sich auch weiterhin als fruchtbar erweisen könnte. Zu nennen sind hier
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die Bereiche der Prosodie- (vgl. Peters, Art. 21 in diesem Band) und der Grammatikforschung. Besonders der letzte Bereich ist gegenwärtig noch weitestgehend unerschlossen. Es liegt aber durchaus auf der Hand, dass einerseits die gesprächslinguistische Grammatikforschung bspw. im Rahmen der Interaktionalen Linguistik (Selting & Couper-Kuhlen 2000) oder der Interaktionalen Konstruktionsgrammatik (Deppermann 2011; Imo 2014, 2015) von einer arealkontrastiven Perspektive profitieren könnte, wie es u. a. die Analysen von Knöbl (2014) zum Gebrauch indefiniter Referenzformen zeigen. Andererseits könnten sich aber auch Studien bspw. im Bereich der Dialektsyntax (vgl. Fleischer, Art. 20 in diesem Band) sowohl in der Konzeptualisierung des Gegenstandes als auch mit Blick auf die applizierten Analysemethoden von gesprächslinguistischen Arbeiten inspirieren lassen.
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Jens Philipp Lanwer, Münster (Deutschland)
28. Medien und areale Sprachvariation des Deutschen 1. Einleitung 2. Mediale Umfelder 3. Gebrauchsmuster
4. Schlussfolgerungen und Ausblick 5. Literatur
1. Einleitung Das Verhältnis zwischen dialektalem Sprachgebrauch und medialer Kommunikation wird seit den 1980er Jahren in der Dialektologie, der Sozio- und Medienlinguistik untersucht. Zur Abgrenzung des Gegenstandsbereichs wird im Folgenden mit einem Medienverständnis gearbeitet, das über die herkömmlichen journalistischen Massenmedien hinausreicht, aber privat-interpersonale Kommunikation ausschließt. Zentrales Bestimmungselement des medialen Kommunikationsraums im Sinne dieses Beitrags ist die Ausgestaltung kommunikativer Angebote für eine medial hergestellte Öffentlichkeit. Der damit aufgespannte Bogen reicht von journalistischen Textsorten über Mediengespräche, Werbetexte und Spielfilme bis hin zu Blogs und Chat-Kommunikation, während die interpersonale Interaktion über SMS, WhatsApp und ähnliche Plattformen ausgeschlossen wird. Ebenfalls weit aufgefasst wird der Bereich der arealen Sprachvariation bzw. des dialektalen Sprachgebrauchs (die beiden Termini werden hier synonym verwendet), der Sprachformen unterschiedlicher Beschaffenheit und Komplexität umfasst. Ziel dieses Beitrags ist es, den damit abgesteckten Gegenstandsbereich nach zwei Dimensionen, d. h. nach medialen und sprachstrukturellen Aspekten, theoretisch und analytisch zu strukturieren. Dementsprechend werden in einem ersten Schritt (Kap. 2) die für dialektalen Sprachgebrauch relevanten medialen Umfelder abgesteckt. In einem zweiten Schritt (Kap. 3) werden Gebrauchsmuster, Formen und Verschriftungsstrategien areal geprägter Sprachvariation untersucht. In einem früheren Handbuchartikel zu diesem Thema kommt Straßner (1983) zu dem Ergebnis, dass dialektaler Sprachgebrauch in den Massenmedien und der Werbung insgesamt spärlich präsent ist und vorhersehbare Verteilungen und Funktionen aufweist. Mehr als 30 Jahre später weist die Situation Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Auch gegenwärtig gilt der Befund, dass dialektal geprägtes Sprechen und Schreiben in den https://doi.org/10.1515/9783110261295-028
28. Medien und areale Sprachvariation des Deutschen
Massenmedien Deutschlands (anders jedoch für die Schweiz) nicht als unmarkierte Basissprache fungiert, sondern eine pragmatisch und soziolinguistisch markierte Wahl darstellt, die metasprachliche Reflexion über Zusammenhänge zwischen Sprache und Identität nach sich zieht. Andererseits hat sich die Medienlandschaft in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert. Meilensteine dieser Entwicklung sind u. a. die Einführung des dualen Rundfunksystems, die Ausdifferenzierung von Medienangeboten und die Herausbildung der digitalen Öffentlichkeit. Auf sprachlich-kommunikativer Ebene geht der Strukturwandel des Mediensystems mit Tendenzen der Informalisierung und Dialogisierung einher, die sich u. a. in der interaktiven Einbeziehung der Zuschauer, in der sprachlichen Inszenierung von Informalität, Vertrautheit und Spontaneität und nicht zuletzt im gesteigerten Anteil umgangs- und nonstandardsprachlicher Sprech- und Schreibstile manifestiert (vgl. u. a. Androutsopoulos 2014; Burger 1996; Burger & Luginbühl 2014; Betz 2006; Luginbühl 2012; Wyss 2015). Diese Wandeltendenzen führen aufs Ganze betrachtet zu einer gesteigerten Hör- und Sichtbarkeit sowie textsortenspezifischen Vervielfältigung areal geprägten öffentlichen Sprachgebrauchs. Während die Dominanz geschriebener und gesprochener Standardsprache (zumindest für Deutschland) nach wie vor unangefochten bleibt, entstehen auch zahlreiche Nischen und handlungsfunktional motivierte Anlässe für dialektalen Sprachgebrauch verschiedenen Umfangs. Für die Deutschschweiz zeichnet sich dagegen eine eigenständige Entwicklung ab, der zufolge sich die „diamediale Verteilung der Varietäten“ (Eichinger 2007: 2) auflöst, und der Dialekt sich auch für die schriftbasierte Nähekommunikation zunehmend als „Matrix(schrift)sprache“ (Christen, Tophinke & Ziegler 2005) etabliert. Die fachlichen Zugänge zum Gegenstandsbereich haben sich in den letzten 30 Jahren ebenfalls gewandelt. In der älteren Forschung wurden formale Einschränkungen des dialektalen Sprachgebrauchs in Medien, Film und Werbung untersucht und explizit oder implizit als „unecht“ oder „künstlich“ gegenüber dem „authentischen“ Dialektgebrauch der privat-persönlichen Mündlichkeit eingestuft (so u. a. Straßner 1983: 1514, 1986: 323). Für die zunehmende Abkehr der neueren soziolinguistischen Forschung von bewertenden Haltungen dieser Art sind zwei Momente ausschlaggebend: die Vervielfältigung der medialen Erscheinungsformen und -kontexte einerseits, das theoretisch in Frage gestellte Authentizitätsprimat des nichtmedialen Dialektgebrauchs andererseits (Birkner & Gilles 2008; Bucholtz 2003; Coupland 2001; Johnstone & Baumgardt 2004). Fest steht, dass medialer Dialektgebrauch verschiedene Entsprechungen zum jeweiligen empirisch dokumentierten gesprochenen Dialekt aufweisen kann (Mesthrie 2005). Dieses strukturelle Verhältnis wird jedoch nicht mehr zum Gradmesser sprachlicher Authentizität und Güte erhoben, und die Überprüfung der Merkmalstreue des medialen Dialektgebrauchs stellt nicht länger das wichtigste Forschungsanliegen dar. Stattdessen wird gefragt, wie Dialektalität in die komplexen Rahmenbedingungen massenmedialer Kommunikation eingefasst wird und welche pragmatischen Funktionen sie dort leistet, indem sie beispielsweise Figurenkontraste in einer fiktionalen Welt mit konstituiert. Richtungsweisend für diese Wende sind Konzepte der Stilisierung und Performanz, die in der interaktionalen und sozialstilistischen Soziolinguistik entwickelt werden (Hinnenkamp & Selting 1989; Coupland 2001). In diesem theoretischen Rahmen wird regional geprägte Sprache als Ressource für die Inszenierung regionaltypischer sozialer Identitäten untersucht. Der Fokus verlagert sich von der Beschreibung der Dialektstrukturen selbst zu den durch Dialektgebrauch markierten bzw. indexikalisierten sozialen Aktivitäten und
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Typen. Damit wird der strategische und reflexive Charakter medialen Dialektgebrauchs in den Mittelpunkt gerückt.
2. Mediale Umfelder 2.1. Printmedien Geschichtliche Fakten zum Dialektgebrauch in deutschsprachigen Zeitungen werden in Straßner (1983) ausführlich referiert. Nach der Durchsetzung der Schriftsprache in der Presse im 18. Jahrhundert wird Dialekt im 19. Jahrhundert als stilistische Ressource wiederentdeckt und seitdem in einem recht engen Rahmen verwendet, der sich Straßner zufolge bis zu den 1970er Jahren nicht markant verändert hat. Nach wie vor findet sich Dialektales im Lokalteil, im Feuilleton und in Karikaturen. Diese beschränkte Distribution belegen auch Burger & Luginbühl (2014) für den gesamten deutschsprachigen Raum. Ihnen zufolge ist Dialekt in der Zeitung ein „deutlich erkennbarer Sonderfall“ (Burger & Luginbühl 2014: 383), der vorzugsweise in pragmatisch salienten Textbausteinen wie Schlagzeilen, Zitaten und festen Formeln bzw. Redewendungen auftaucht (vgl. auch Luginbühl 2012 sowie Wyss 2015: 400−402 zu den sprachideologischen Implikationen dieser randständigen Dialektverwendung). Die in diesem eng abgesteckten Rahmen entfaltete Gebrauchsvarianz lässt sich z. B. daran ablesen, ob bestimmte Zeitungskolumnen komplett in einem Dialekt bzw. einer Regionalsprache verfasst sind oder nur einzelne Textbausteine bzw. Äußerungen, und wie letztere textsortenspezifisch eingebettet sind. Die umfangreiche Arbeit von Arendt (2010) untersucht den Gebrauch des Niederdeutschen in der Ostseezeitung, die regelmäßig Artikel zum Thema „Plattdeutsch“ publiziert und in Plattdeutsch verfasste Rubriken unterhält. Betz (2006) stellt in regionalen und überregionalen Zeitungen der frühen 2000er Jahre sowie in Vergleichskorpora von 1965 und 1982 eine mikrodiachrone Zunahme dialektaler Wörter und Ausdrücke fest und verortet dieses Ergebnis im Kontext der allgemeinen Tendenz der Mediensprache hin zu mehr Mündlichkeit, wobei Dialektformen primär in der Boulevardpresse belegt sind. Ähnliche Tendenzen beschreibt Ziegler (2012) hinsichtlich des Gebrauchs nonstandardsprachlicher Formen in einem Korpus deutscher Printmedien von 1995 bis 2010, d. h. in regionalen und überregionalen Tageszeitungen und in der Boulevardpresse und dort vor allem in Interviewpassagen und Schlagzeilen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Wyss (2015) mit Blick auf Schweizer Printmedien.
2.2. Rundfunk In Deutschland findet Dialektales bereits in der Frühphase des Hörfunks seinen Platz. So dokumentiert z. B. Straßner (1983) den Gebrauch des Niederdeutschen im Radio der 1920er und 1930er Jahre in Hamburg und Bremen. Die damals einsetzende Tradition des Dialektgebrauchs im öffentlich-rechtlichen Rundfunk setzt sich bis heute fort, allerdings mit erkennbaren regionalen Unterschieden. Ein aktueller Vergleich zeigt, dass die Präsenz dialektaler Angebote im öffentlich-rechtlichen Rundfunk regional unterschiedlich ausgeprägt ist. So findet man Anfang 2017 im Angebot des Norddeutschen Rund-
28. Medien und areale Sprachvariation des Deutschen
funks (NDR) sieben verschiedene Niederdeutsch-Sendungen, darunter eine humoristische Wochenschau (Week op Platt, NDR Welle Nord). Der Bayerische Rundfunk bietet regionalsprachliche Angebote wie u. a. bayerische Comedy und Dokumentarfilme über Mundartforschung. Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) sendet zum Thema Sächsisch Lesungen und Kabarett (Sächsische Hausfrauen unter sich, Humor im Osten). Beim Hessischen Rundfunk finden sich unter dem Stichwort „Hessisch“ jedoch keine Treffer. Vergleiche wie dieser deuten darauf hin, dass Dialektangebote im Rundfunk auf eine regional unterschiedliche institutionelle Unterstützung (die rechtlich nur für das Niederdeutsche gegeben ist) zurückgreifen, aber auch den regional unterschiedlichen Beliebtheitsgrad deutscher Dialekte reflektieren. Eine auf ganze Medienangebote fokussierte Analyse muss jedoch ergänzt werden durch die Untersuchung der interaktionalen Dialektverwendung, die vor allem in bestimmten Fernsehgenres und -formaten eine ungleich größere Dynamik aufweist. In Mediengesprächen, Talk- und Realityformaten aller Art ist areale Variabilität nicht nur Element einer senderspezifischen Angebotsstrategie, sondern auch eine interaktionale Ressource einzelner teilnehmender Akteure. Das interaktionale Potenzial dialektalen bzw. regional geprägten Sprachgebrauchs ist seit den 1980ern belegt (z. B. Selting 1983) und wird in mehreren neueren Beiträgen gesprächsanalytisch untersucht. Christen (2002) stellt in einer Untersuchung der Partnerwahlsendung Swissdate fest, dass Mundart in den Redebeiträgen der Gäste die unmarkierte Wahl ist, während die Moderatorin die Variation zwischen Mundart und Hochdeutsch nutzt, um regionale und kulturelle Deutungsschemata zu kontextualisieren (s. auch Christen 2014). Soukup (2012, 2015) untersucht die Dialektverwendung in der österreichischen Polit-Talkshow Offen gesagt (2004−2005) und belegt diese u. a. in direkten Zitaten, Zwischenrufen und Kommentaren sowie negativen Wiederaufnahmen. Birkner & Gilles (2008) unterscheiden zwei Spielarten der Dialektstilisierung in deutschen Reality- und Comedy-Sendungen − eine „konversationelle“ in Interaktionen unter Laien im Reality-Fernsehen und eine „massenmediale“ in Kontexten professioneller Medienperformance wie Talk und Comedy. Beide weisen gemeinsame sprachliche Kernmerkmale auf und greifen auf Traditionen öffentlich-medialer Inszenierung zurück, unterscheiden sich aber in den Aktivitäten und Modalitäten, mit denen der Dialektgebrauch verknüpft wird, und im Maß der Stilisierung der sprachlichen Form. Im Rundfunk der deutschen Schweiz erlangt Mundart den Status der Basisvarietät, die in mehreren Bereichen des Medienangebots durchgehend und pragmatisch unmarkiert gebraucht wird, wobei jedoch eine hohe Varianz nach Sender und Sendung zu verzeichnen ist (vgl. Burger & Luginbühl 2014: 390−406). So weisen das erste und zweite Programm des Schweizer Rundfunks und Fernsehens (SRF) die ganze Bandbreite zwischen Mundart als institutioneller Stimme und stilistischem Einzelelement auf. Förderliche Faktoren für die mediale Mundartverwendung sind kommerzielle Anbieter und die Orientierung der Medienangebote an einem regionalen Publikum sowie an Kindern und Jugendlichen. Die Wahl der Textsorte und die Orientierung an Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit sind diesen Faktoren untergeordnet (vgl. Burger & Luginbühl 2014: 398−406).
2.3. Werbemedien Werbetexte sind bereits seit den 1930er Jahren (Straßner 1986) ein Paradebeispiel für die mediale Inszenierung von Dialekt zum Zweck seiner Bindung an Produkte und Anbieter.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Dialektales in Werbetexten ist im gesamten deutschsprachigen Raum dokumentiert, von der Deutschschweiz (Christen 2004) über das Ruhrgebiet (Ziegler, Eickmans & Schmitz 2017) bis nach Norddeutschland (Freese & Launert 2004). Straßner (1986) stellt einen Zusammenhang zwischen Dialektgebrauch und Reichweite eines Werbetextes her. In Werbeanzeigen beschränkter Reichweite ruft der Dialekt zur Identifikation mit dem Produkt bzw. den Anbietern auf, in solchen mit überregionaler Reichweite authentisiert der Dialektgebrauch die beworbenen Produkte. Die bisher umfangreichste Forschungsarbeit liefert Christen (1985), die 225 Werbespots aus der deutschen Schweiz auf Formen und Funktionen der gesprochenen Mundart quantitativ auswertet. Typische Kontexte für den Mundartgebrauch sind Dialogszenen, der Spotanfang und dramatisierte Spotteile, während Kommentare und Slogans eher in der Standardvarietät realisiert werden. In Kurzspots ist der Mundartanteil deutlich höher als in Normalspots, was als Hinweis auf die Funktion der Aufmerksamkeitssteuerung durch Mundart gedeutet werden kann. Typische Produktkategorien für Mundartwerbung sind u. a. Haushalt und Banken, für die Standardvarietät hingegen Körperpflege, Freizeit, Getränke und Autos. Diese Verteilung ist offenbar anders als in Deutschland, wo werblicher Dialektgebrauch eine engere produktspezifische Distribution aufweist. In der Schweiz sprechen Alte und Kinder in Werbespots ausnahmslos Mundart, bei den Frauenstimmen ist Mundart häufiger als bei Männerstimmen, allerdings sind − selbst in der deutschen Schweiz der 1980er Jahre − prestigereiche Werbeprodukte an die Standardvarietät gekoppelt.
2.4. Digitale Kommunikationsformen Das Aufkommen digital vermittelter Kommunikationsformen seit Ende der 1990er Jahre verändert radikal die Zugangsbedingungen zum öffentlichen Sprechen und Schreiben und erweitert den Medienraum für areal markierten Sprachgebrauch. In Homepages, Blogs, Videoplattformen, Foren, Chat-Räumen und sozialen Netzwerken kann dialektal markierte geschriebene und gesprochene Sprache als Gestaltungs- und Interaktionsressource herangezogen werden. Schon seit den 1990er Jahren ist im Internet eine rege Aktivität in der nicht-akademischen Dokumentation und Thematisierung von Dialekten ersichtlich (Hofer 2004), die sich u. a. an der Erstellung von Dialektkarten durch Laien (vgl. die Website www.dialektkarte.de), der Gründung von Dialekt-Fangruppen auf Facebook (so z. B. für das Schwäbische) und den zahlreichen Dialektvideos auf der Videoplattform YouTube zeigt. Hier ist allerdings mit Übergangsformen zu rechnen, die sich einer klaren Trennung von privat und öffentlich entziehen, so dass der Dialektgebrauch in netzöffentlichen Räumen aufgrund der Vielzahl und der außerinstitutionellen Ansiedlung der Kommunikatoren (Videoproduzenten und Kommentierenden) viel schwieriger zu verorten und zu klassifizieren ist. In der deutschsprachigen Forschung sind seit den frühen 2000er Jahren vor allem Chat-Kanäle (s. u.), daneben auch Diskussionsforen (Reershemius 2010), Weblogs (Tophinke 2008), YouTube-Videos und ihre Kommentare (Androutsopoulos 2012, 2013) sowie Soziale Netzwerke (Arendt 2012; Reershemius 2016) erforscht. In einer Untersuchung von (heute nicht mehr aktiven) dem Niederdeutschen gewidmeten Diskussionsforen kommt Reershemius (2010) zum Schluss, dass Niederdeutsch mehr thematisiert als tatsächlich gebraucht wird und dass die dort ausgetragenen Diskurse ausgesprochen normativ verlaufen und von wenigen (selbst ernannten) Spezialisten beherrscht werden,
28. Medien und areale Sprachvariation des Deutschen
die normierend und korrigierend eingreifen. Reershemius (2016) untersucht 51 Facebook-Gruppen zum Thema Niederdeutsch über mehrere Monate hinweg. Die Ergebnisse zeigen, dass soziale Netzwerke durchaus Gelegenheiten zum Niederdeutschgebrauch in kreativer translingualer Abwechslung mit anderen Varietäten bieten. Einen regen Dialektgebrauch auf der Videoplattform YouTube dokumentiert Androutsopoulos (2012, 2013). Für mehrere deutsche Dialekte sind zahlreiche Videos in unterschiedlichen Genres verfügbar. Am Beispiel des Berlinischen findet man auf YouTube u. a. inszenierte „Dialektlektionen“, Laienaufführungen eines bekannten Dialektgedichts, Dialektsynchronisationen massenmedialer Inhalte, Comedy-Aufnahmen, Werbeclips mit stereotypischen Berliner Figuren, Selbstaufnahmen Jugendlicher und eine amateurhafte Dialekt-Dokumentation unter dem Stichwort „Dialektatlas“. Bei den konversationellen Formen digitaler Kommunikation stechen insbesondere Chat-Kanäle als Räume des Dialektgebrauchs hervor. Dialektgebrauch passt zum bereits gut erforschten Hybridstatus der Chat-Kommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die als Auslotung des nähesprachlichen Pols auf dem konzeptionellen Kontinuum verortet wird (Siebenhaar 2006a, 2006b). Viele Kanäle im Internet Relay Chat (IRC) sind nach spezifischen Städten oder Regionen benannt und verstehen sich als Plattformen für lokale bzw. regionale Kommunikation. Beispiele sind die IRC-Kanäle #berlin (Franke 2006), #hamburg und #bremen (Christen, Tophinke & Ziegler 2005), #koeln (Tophinke 2002), #mannheim (Androutsopoulos & Ziegler 2003, 2004; Ziegler 2005), #switzerland (Aschwanden 2001) und #swissonline (Christen, Tophinke & Ziegler 2005) sowie für die deutsche Schweiz u. a. #aargau, #zuerich und #bern, #graubuenden und #wallis (Siebenhaar 2006a, 2006b, 2006c). Diese Fallstudien arbeiten mit zumeist kleinen Datenmengen und kombinieren quantitative und qualitative Analysen, in denen einerseits die tatsächlich verwendeten Dialektmerkmale katalogisiert und mit dem gesprochenen Dialekt verglichen, andererseits ihre lokal-interaktionalen Funktionen bzw. Kontextualisierungsleistungen rekonstruiert werden. Es sind regionale Unterschiede entlang des Nord-Süd-Gefälles belegt, so dass in Chat-Kanälen aus dem süddeutschen Raum mehr Dialektmerkmale vorkommen als in norddeutschen Chatkanälen, während in deutschschweizer und österreichischen Chatkanälen die Mundartverwendung generell als unmarkierter Sprachgebrauch angesehen wird. Auch dort gibt es allerdings Unterschiede nach der Reichweite eines Kanals (Siebenhaar 2005, 2006a, 2006b, 2006c; Christen, Tophinke & Ziegler 2005; Franke 2006). Auf der Basis einer vergleichenden Auswertung mehrerer regionalspezifischer und überregionaler Chatkanäle in der deutschen Schweiz weist Siebenhaar eine altersspezifische Präferenz für Mundartformen nach, so dass Chatter mittleren Alters zur Verwendung des geschriebenen Standards neigen, wogegen Jüngere und auch Ältere mehr Mundart verwenden. Eine ähnliche Verteilung ist bezüglich Regionalität festzustellen: In regionalen Kanälen wird Mundart bevorzugt, bei #wallis wird sogar ein Fortbestehen kleinräumiger Merkmale festgestellt, hingegen sind im überregionalen Flirtkanal #flirt40plus Mundart und Hochdeutsch gleichmäßig im Gebrauch. Auch nach Christen (2004) und Christen & Ziegler (2006) ist in schweizerdeutschen „Prominentenchats“ der geschriebene Standard sogar die unmarkierte Form. Dort, wo beide Varietäten vertreten sind, zeigt Siebenhaar (2006a, 2006c) Praktiken des CodeSwitching in der jeweiligen Situation/Interaktion. Die Präferenz ist mitunter handlungsgesteuert, so dass beispielsweise Begrüßungs- und Verabschiedungssequenzen einen höheren Mundartanteil aufweisen (ähnlich Christen 2004) als der restliche Chat.
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3. Gebrauchsmuster Im Folgenden wird zunächst eine dreiteilige Klassifizierung vorgeschlagen, die sowohl den relativen Umfang areal geprägten Sprachgebrauchs in einem medialen Kommunikationsereignis als auch die damit einhergehenden kommunikativen Funktionen arealer Variation erfasst. Dementsprechend kann areal geprägte Sprache als Basissprache, Code oder Emblem fungieren (Androutsopoulos 2010). Ähnliche Unterscheidungen finden sich in der Dialektpragmatik und Kreolistik (Mattheier 1980; Mair 2003).
3.1. Areale Varietäten als Basissprache Mit Basissprache ist die Varietät gemeint, in der ein Medienbeitrag vollständig bzw. größtenteils verfasst ist bzw. die für ein Kommunikationsereignis als normal, unmarkiert gesetzt ist. Christen (2004) und Wyss (2015) sprechen von einer unmarkierten Dialektverwendung. Diesbezüglich unterscheiden sich die Verhältnisse grundlegend zwischen Deutschland bzw. Österreich einerseits und der deutschen Schweiz andererseits. Die Schweizer Verhältnisse dokumentieren Burger & Luginbühl (2014: 390−394), die den hierfür oft verwendeten Terminus „mediale Diglossie“ durch „funktionale Diglossie“ ersetzen. Bereits seit den späten 1980er Jahren rückt man in der deutschen Schweiz vom Ideal des gesprochenen Hochdeutsch ab, und eine regionale Färbung bei Moderatoren wird zunehmend toleriert. Diese Tendenz reicht in den 2010er Jahren so weit, dass gesprochenes Hochdeutsch im Fernsehen nur noch in Enklaven vorkommt, während das Gros mundartlich realisiert wird. Mit „funktionaler Diglossie“ erfassen Burger & Luginbühl den Umstand, dass die Varietätenwahl im (öffentlich-rechtlichen) Rundfunk mit der redaktionellen Vorlage zusammenhängt: Gibt es diese, so wird Hochdeutsch gewählt, andernfalls Mundart. Die herkömmliche mediale Diglossie wird auf der medial grafischen Seite aufgelöst, da geschriebene interpersonale oder öffentliche Texte im Netz mundartlich realisiert werden. Diese Vormachtstellung der Mundart bedeutet auch, dass ihr Kontextualisierungspotenzial gegenüber der Standardvarietät eingeschränkt bzw. aufgegeben wird. Dagegen ist medialer Dialektgebrauch in Deutschland u. a. dadurch gekennzeichnet, dass Dialekt hier grundsätzlich nicht als Basisvarietät fungiert. Ausnahmen gehen in zwei Richtungen: Die erste umfasst klar abgegrenzte Angebotsbereiche, die dialektale Enklaven in einem standarddeutschen Rahmen bilden, beispielsweise Dialektkolumnen und Plattdeutsch-Sendungen (s. o.), die bei ihren lokalen Publika sehr beliebt sein können. Die zweite ist in YouTube-Videos zu finden, sofern sie komplett in einem Dialekt dargeboten werden (s. o.). In beiden Fällen liegt eine eng umgrenzte Normalisierung von Dialekt als Basisvarietät vor. Zu untersuchen wäre, inwiefern bestimmte Rundfunksender einen regionalen Akzent bei ihren Nachrichtensprechern und Moderatoren zulassen und Regionalität dadurch normalisieren, was beispielsweise bei privat-kommerziellen Radiosendern in Bayern oder Baden-Württemberg denkbar wäre.
3.2. Areale Varietäten als Code Das hier zugrunde gelegte Code-Verständnis lehnt sich an die soziolinguistische Konzeption von Code-Switching an, die auch auf bi- bzw. multidialektale Konstellationen ange-
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wendet worden ist (Gumperz 1994). Schlüsselaspekt ist der rhetorisch intendierte bzw. interaktional bedeutsame Dialektgebrauch in einer kommunikativen Konstellation, in der auch andere Codes bzw. Varietäten eingesetzt werden. Codes fungieren als Kontextualisierungshinweise, d. h. sie ermöglichen die Interpretation sprachlicher Handlungen im Hinblick auf u. a. die Absichten des Sprechers, den Status des Sprechakts, die Adressierung, die interaktionale Modalität usw. In weiterem Bezug auf die soziolinguistische Code-Switching-Theorie kann der Gebrauch des Dialekts als metaphorischer oder situativer Codewechsel beschrieben werden. Einen situativen Wechsel in den Dialekt stellt beispielsweise der Dialektgebrauch in O-Tönen in Nachrichtensendungen dar (vgl. bereits Straßner 1983: 1519). Zusammen mit anderen Hinweisen wie z. B. Inserts ermöglicht er Schlüsse auf die regionale und/oder soziale Herkunft des Sprechers und kontrastiert dabei mit der redaktionell gewählten Varietät, über die der Regionalsprecher keine Kontrolle hat. Der Wechsel in den Dialekt ist insofern situativ, als der O-Ton ein Fragment aus einer anderen Sprechsituation (Interview mit Augenzeugen oder Experten) darstellt und in die Situation des Berichtens (d. h. die Nachrichtensendung) hineinmontiert wird. Ähnlich einzustufen sind kurze, dialektal geprägte Beiträge in Spielfilmen und Serien, in denen ein regional gefärbter Code einer Nebenfigur zugeordnet wird, deren Sprechweise mit der anderer Figuren kontrastiert. In der Krimiserie Tatort (deutscher Fernsehsender: ARD) helfen schon seit den 1970er Jahren „lokale Zungenschläge die wechselnden Schauplätze zu charakterisieren“ (Straßner 1983: 1521; Schneider 2012). Ähnliches lässt sich für die konventionellen Dialekt-Textsorten beobachten, die im Kontext des Medienangebotes als dezidierte Dialektsituationen gelten. Was die Beispiele gemein haben ist, dass sie auf einzelne Sprecher bzw. Sprechsituationen zugeschnittene Dialektverwendungen vorführen und diese als für eine bestimmte Lebenswelt natürlich bzw. offensichtlich positionieren, während sie im Gesamttext mit Sprechweisen anderer Milieus und Mentalitäten kontrastieren. Areale Varietäten als mediale Codes können durchaus eine symbolische Würdigung lokaler Sprache und Identität bedeuten, wie es auch Richardson & Meinhof (1998) für das Sächsische im Lokalfernsehen beschreiben, auch wenn sie nicht zur institutionellen Stimme werden. Allzu oft sind die Sprecher des areal markierten Codes Laien und Nicht-Journalisten, Nebenfiguren und insofern keine Protagonisten. Ein wiederholter Codewechsel kann sogar konstitutiv für ganze Sendungen sein. Burger & Luginbühl (2014: 403−406) dokumentieren „gemischte Sendungen“ in der deutschen Schweiz, in denen durch wechselnde Konstellationen von Reportern und Gästen ständig zwischen Standard und Dialekt gewechselt wird. Beispielsweise ist die Anmoderation auf Hochdeutsch, Interviews sind normalerweise in der Mundart, aber mit Nichtschweizern auf Hochdeutsch. Ein anderes Muster ist der Wechsel zwischen Anmoderation in Mundart, Filmbericht auf Hochdeutsch, Studiogespräch wieder in Mundart. Trotz dieser empirisch beobachteten Varianz wird die sprachideologisch strukturierte Verteilung von Mundart für Spontanes und Insider, Standard für Vorgefertigtes und Außenseiter durchgehend eingehalten. Metaphorische Codewechsel in eine areal geprägte Varietät finden typischerweise in einzelnen Beiträgen oder kurzen Dialogsequenzen mit baldiger Rückkehr in die Basisvarietät des Kommunikationsereignisses statt und mobilisieren stereotype Dialektbedeutungen. In einer von Soukup (2012, 2015) analysierten Polit-Fernsehdiskussion gibt ein Teilnehmer die Stellungnahme einer Ministerin dialektal wieder, was nach Soukup offensichtlich nicht dokumentarisch verstanden werden kann, weil in Österreich eine geschriebene amtliche Stellungnahme zwingend in Standarddeutsch verfasst wird. Dialekt kon-
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trastiert hier mit dem Standard der umgebenden Rede und kontextualisiert die bewertete Haltung durch Evozierung geteilter soziokultureller Schemata bzw. Stereotype. Ähnliches gilt, wenn Harald Schmidt vorübergehend eine lokale Figur stilisiert (Birkner & Gilles 2008), wenn eine Moderatorin in den Nonstandard wechselt, um einen Anrufer zum Erzählen zu animieren (Selting 1983), wenn ein Politiker in einer Talkshow in den Stadtdialekt wechselt, um sein Verständnis lokaler Probleme zu unterstreichen (Schlobinski 1988), wenn Gäste einer Nachmittags-Talkshow bei Aufregung in ein regionales Register shiften (Burger & Luginbühl 2014: 387−389) oder wenn Chatter von ihrem umgangssprachlich geprägten Schreibstil zu markanten Dialektformen wechseln, um lokale soziale Typen zu vergegenwärtigen (Androutsopoulos & Ziegler 2003; s. auch Franke 2006; Reershemius 2016). Wie die Beispiele zeigen, kommen areale Varietäten in verschiedenen Sorten von Mediengesprächen sowohl punktuell als auch rekurrent als mediale Codes vor. Hier bieten sich detaillierte Analysen mit Kategorien des konversationellen Code-Switching an.
3.3. Areale Varietäten als Emblem Emblematischer Dialektgebrauch impliziert einen minimalen Umfang areal markierter Sprachmittel, die im spezifischen Gebrauchskontext eine soziokulturelle Aufladung als Sinnbild sozialer bzw. regionaler Gruppen oder Positionierungen aufweisen. Arealitätsembleme sind nicht medienspezifisch eingeschränkt und auch außerhalb der journalistischen Massenmedien zu finden, beispielsweise auf Schildern, Plakaten, Aushängen und Stickern im öffentlichen Raum (Reershemius 2010; Ziegler, Eickmans & Schmitz 2017). Typisch für den emblematischen Einsatz areal geprägter Sprache sind bestimmte Sprachmittelkategorien in spezifischer Platzierung. Arealitätsembleme sind oft Eigennamen, darunter auch Städte- oder Regionennamen, weiterhin Sprichwörter oder Phraseologismen, die propositional oder etymologisch mit einer bestimmten Region verbunden sind, schließlich auch einzelne Lexeme mit ähnlichem semantisch-etymologischem Profil. Emblematisch wirken sie erst in Kookkurrenz mit einem metasprachlichen Diskurs, der das gesellschaftliche Wissen um die durch das Emblem signalisierten sozialen Kategorien oder Identitäten herstellt, sowie oft in Kombination mit anderen rhetorischen Ressourcen. Ein Beispiel ist der Ausdruck mia san mia, der beispielsweise in einer Sportreportage parenthetisch eingeschoben wird, um die selbstbewusste Haltung des FC Bayern zu kommentieren. Dabei liegt der semantisch-funktionale Fokus auf der Ausdrucksseite, nicht auf der Inhaltsseite, d. h. die dialektale Form selbst wirkt kommentierend. Ein zweites Beispiel ist die Realisierung des Stadtnamens „Hamburg“ mit spirantisierter Aussprache bzw. in der geschriebenen Variante Hamburch, die in der Hansestadt in zahlreichen Textsorten in der Presse, der Werbung und im Stadtmarketing eingesetzt wird, oft in Kombination mit anderer stereotypisierter Stadtlexik wie der Grußformel moin. Ein drittes Beispiel ist der bei der österreichischen Nationalratswahl 2006 von der rechtspopulistischen FPÖ eingesetzte Slogan Daham statt Islam. Hier konstruiert die monophthongierte Variante des Lokaladverbs eine lokale Stimme, die dem Feindbild Islam in rhetorisch wirksamer Reimform gegenübergestellt wird. Was den emblematischen Charakter einer areal markierten sprachlichen Form ausmacht, ist also nicht zwingend ihre
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„tiefe“ Dialektalität, sondern die Kovarianz eines für lokale bzw. regionale Identität relevanten Zeichens mit lokal markierter Phonologie bzw. Graphie. Eine Konsequenz der emblematischen Verwendung ist die Loslösung einzelner Dialektvorkommen vom Kookkurrenzsystem arealer Varietäten. Arealitätsembleme sind gewissermaßen von Erwartungen struktureller Regelhaftigkeit befreit und stattdessen offen für hybride Kombinationen mit Indexikalen aus anderen semiotischen Teilsystemen. Der pragmatische Witz ihrer medialen Rekontextualisierung besteht häufig gerade in der plastischen Kombination heterogener Indexikale in Gestalten, die kraft ihrer visuell hervorgehobenen und daher pragmatisch salienten Stellung als Überschriften, Produktnamen, Logos, Slogans usw. funktionieren. Erst die neuere soziolinguistische Forschung nimmt diese Gebrauchsdynamik in den Blick und rahmt diese Phänomene theoretisch so ein, dass sie nicht bloß als „unecht“ oder „inauthentisch“ eingestuft werden. Ganz im Gegenteil funktionieren Dialektembleme nach einer grundsätzlich differenten semiotischen Logik als das in sich geschlossene, strukturierte Dialektsprechen bzw. -schreiben.
3.4. Dialektmerkmale und Verschriftung Der Befund eines „reduzierten“ oder gar „gekünstelten“ Dialektgebrauchs in den Medien ist − wie bereits angeführt − eine rekurrente Aussage in der Forschungsliteratur. Aus den bisherigen Ausführungen geht deutlich hervor, dass dieser Befund nicht für „die Medien“ schlechthin verallgemeinert werden darf, sondern stets in spezifischen Sprachgebrauchskonstellationen zu überprüfen ist. Teilweise resultiert dieser Eindruck vermutlich aus einer nichtkontinuierlichen Dialektverwendung, wie sie in den oben beschriebenen Gebrauchsmodi des Codes und vor allem des Emblems vorliegt, bei denen schlicht nicht genug areal markiertes Sprachmaterial produziert wird, um seine strukturelle Merkmalskomplexität beschreiben zu können. Ein anderer Teil dieses Eindrucks hängt vermutlich mit der sprachideologisch strukturierten Präferenz medialer Angebote für wenige, weiträumige, gut erkennbare Leitmerkmale zusammen. Birkner & Gilles (2008) halten fest, dass Dialektstilisierungen im Fernsehen fast ausschließlich mit solchen phonetisch-phonologischen Merkmalen arbeiten, die als weniger salient gelten („sekundäre Dialektmerkmale“ in der Terminologie Schirmunskis 1962). Es handelt sich also nicht um genuine Realisierungen dialektaler Lautmerkmale, sondern um phonetische Modifikationen bzw. einzelne Substitutionen standardsprachlicher durch dialektale Segmente, die teilweise sogar auf spezifische lexemgebundene Merkmale beschränkt werden. Koronalisierung und l-Velarisierung sind in diesem Kontext Leitmerkmale, die prosodisch von der umgebenden standardnahen Umgangssprache deutlich abgesetzt sind. Die dort belegte dialektale Aussprache von Köln entspricht dem hier vorgestellten Gebrauchsmuster des Dialektemblems. Insgesamt ist in Reality-Formaten und Comedy eine „Dialektalisierung des Standardgebrauchs“ zu verzeichnen, die mit nur einigen wenigen Dialektmerkmalen auskommt. In anderen Studien sind allerdings mehr Dialektmerkmale belegt. Androutsopoulos & Ziegler (2003) weisen für den IRC-Chatkanal #mannheim insgesamt neun Merkmale des Mannheimer Stadtdialekts nach, die meisten kommen jedoch selten vor. Androutsopoulos (2012) findet in YouTube-Videos zum Berlinischen mehrere nahezu kategorisch vorkommende Merkmale des Berliner Stadtdialekts, u. a. die /g/-Spirantisierung, die Monophthongierung von /au/ (auch > ooch) und /ai/ (mein > meen) sowie
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die Verwendung der Funktionswörter wat, dat, det, icke. YouTube-Videos, die das Berlinische sozial (und zwar durchaus positiv konnotiert) inszenieren, weisen diese Kernmerkmale des Berliner Stadtdialekts in großer Dichte auf. Insgesamt zeigt die hier durchgeführte Sekundäranalyse, dass mediale Kommunikation geringer Reichweite in der Tendenz mehr und über einzelne Sprecher und Situationen hinweg gleichmäßiger verteilte Dialektmerkmale aufweist als solche größerer, beispielsweise nationaler oder länderübergreifender, Reichweite. Korrelationen dieser Art sollten eingehender untersucht werden. Mit dem gesamtgesellschaftlichen Aufschwung privat-informeller digitaler Schriftlichkeit entstehen große Datenmengen an geschriebenem Dialektgebrauch jenseits der bekannten Domänen der Pressetextsorten und Mundartliteratur. Die Schriftlichkeit von Laien und die Abwesenheit normativer Kontrollinstanzen begünstigen vielfältige Dialektverschriftungsvarianten, die in der bundes- und vor allem schweizerdeutschen Forschung auf der Basis von öffentlichen und privaten Daten untersucht werden. Zentrale Fragestellung ist das Verhältnis zwischen Dialektverschriftung und orthographischen Regeln. Den (philologisch ungeschulten) Schreibenden geht es nicht um eine dokumentarische oder philologische Vollständigkeit der Dialektverschriftung, sondern um die visuelle Markierung von Dialektalität in Abgrenzung zum standardsprachlichen Schriftbild. An bundesdeutschen Daten erarbeitet Tophinke (2002, 2008) Verschriftungsstrategien regionalsprachlicher Merkmale im Chat-Kanal #koeln sowie in Weblogs. Formen wie , oder funktionieren dort als Abweichungen, das orthographische Regelwerk bleibt dabei die maßgebliche Bezugsgröße. Mit Blick auf schweizerdeutsche Daten unterscheidet Christen (2004) drei Spielarten der Dialektverschriftung: Standard-DialektIsomorphie (keine graphische Differenz), intendierte Dialektschreibung (z. B. für ) und expressive Radikalschreibungen ( für ). Christen belegt die Ausbildung von Routinen bei Dialektschreibern, die regelmäßig chatten. Siebenhaar (2005) weist Reflexe der sprachgeographischen Verteilung in der Verschriftung der flektierten Form „haben“ nach. Seine Chat-Befunde überlagern sich mit Ergebnissen des Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS), was die klare Verortung des Chattens in der konzeptionellen Mündlichkeit belegt. Siebenhaar zeigt weiterhin, dass Unterschiede der Lautquantität weniger konsequent verschriftet werden als Unterschiede der Lautqualität. Müller (2011) untersucht Verschriftungsstrategien in Schweizer SMS, die in der Aargauer Zeitung abgedruckt sind und stellt fest, dass Konsonanten überwiegend standardnah, Vokale jedoch lautnah verschriftet werden. Dies erklärt Müller damit, dass im Vokalsystem größere Unterschiede zum Standarddeutschen vorlägen. Weitere Untersuchungen der Dialektverschriftung in der deutschen Schweiz werden in den letzten Jahren im Rahmen des Verbundprojekts Sms4Science durchgeführt, allerdings sprengen sie aufgrund der privat-interpersonalen Natur der Daten den hier abgesteckten Rahmen (Dürscheid & Stark 2013; Felder 2015; Grünert 2011).
4. Schlussfolgerungen und Ausblick Der Forschungsüberblick zeigt, dass sich in den letzten Jahren neue Verwendungskontexte für areal geprägten Sprachgebrauch herausgebildet haben, in denen nicht mehr „Alte für Alte“ schreiben, wie dies für die Dialektliteratur gilt, sondern auch Jugendliche und junge
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Erwachsene dialektal geprägte Ausdrucksformen verwenden, und zwar als eine Ressource unter anderen (vgl. Christen & Ziegler 2008: 7−8). Diese Entwicklung ist unter soziolinguistischen Gesichtspunkten interessant, weil sie die bisherigen Annahmen über den Rückgang der Dialekte relativiert, die davon ausgehen, dass die Dialektkompetenz der jüngeren Generation sukzessive abnimmt. Aber auch unter funktional-pragmatischen Gesichtspunkten ist diese Entwicklung aufschlussreich, weil sie zeigt, dass der Dialektgebrauch neue Funktionen hinzugewinnt, d. h. dass er als indexikalische Ressource (Eckert 2014: 44) verwendet wird, um Interpretationsräume mit Bezug auf Sprecheridentitäten oder Diskursverständnisse aufzurufen. Dementsprechend zielen diese spezifischen Instanziierungen von Dialekt auch nicht auf eine empirisch akkurate Dokumentation ab, sondern auf das indexikalische Potenzial, das mit der Verwendung dieser Formen im Kontrast zu standardsprachlichen Formen verknüpft wird. Bereits in der Produktion und Performanz medialer Texte und Gespräche richtet sich die Handhabung dialektaler Merkmale nach unterstellten Verständlichkeitsgrenzen. Basisdialektale und kleinräumig verteilte Dialektmerkmale scheinen daher für massenmedial disseminierte Produkte weniger geeignet als großräumig verteilte und bekannte Merkmale, die von nicht spezifizierbaren Empfängern im gesamten deutschsprachigen Raum besser erkannt, sprachlich verstanden und mit bestehendem soziolinguistischem Wissen assoziiert werden können. Insofern konstituieren selbst kleinräumig verteilte Dialektformen interpretative Zusammenhänge, indem sie es Rezipienten ermöglichen, öffentliche Botschaften durch Anschluss an eigenes soziolinguistisches Wissen zu erschließen. Die empirische Erforschung dieser Zusammenhänge stellt ein Desiderat dar.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte len Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 171), 347−374. Stuttgart: Steiner.
Jannis Androutsopoulos, Hamburg (Deutschland) Evelyn Ziegler, Essen (Deutschland)
29. Perzeptionslinguistik arealer Sprachvariation im Deutschen 1. Zeit für ein Fazit 2. Ansatzpunkte und Entwicklung perzeptionslinguistischer Forschung im deutschsprachigen Raum 3. Methodische Zugänge zur Perzeptionslinguistik
4. Hauptergebnisse perzeptionslinguistischer Forschung zum Deutschen 5. Impulse für die Weiterentwicklung der Perzeptionslinguistik 6. Literatur
1. Zeit für ein Fazit Die perzeptionslinguistische Forschung zum Deutschen befindet sich an einem interessanten Punkt: In den letzten 35 Jahren hat sie, ausgehend von ersten Studien (z. B. Mattheier 1983; Kremer 1984; Herrgen & Schmidt 1985) und im Anschluss an internationale Vorarbeiten der „folk linguistics“ (zu frühen internationalen Studien vgl. Preston 1999; Long & Preston 2002), die Wahrnehmung und Bewertung sprachlicher Variation im deutschen Sprachraum mit Hilfe verschiedener methodischer Mittel und in variierenden Hinsichten zu einem eigenständigen Zugang innerhalb der Variationslinguistik entwickelt. Dabei hat sich besonders die Kombination unterschiedlicher perzeptions- und variationslinguistischer Verfahren als gewinnbringend erwiesen, um die Entstehung, Struktur und Dynamik subjektiver Konzeptualisierungen von Sprachräumen zu analysieren (z. B. zuletzt Schiesser 2017; Schwarz & Stoeckle 2017). Die Vielzahl vorliegender Studien und Ergebnisse ermöglicht es mittlerweile, ein Bild arealer Sprachvariation aus Sicht der Sprecher.innen selbst zu zeichnen, das die klassisch variationslinguistischen Analysen entscheidend ergänzt. Zugleich unterliegt die Perzeptionslinguistik (PL) zum Deutschen dabei spezifischen dialektologischen Voraussetzungen, theoretischen Prägungen und methodischen Zugängen, die sie gegenüber der internationalen Forschung kennzeichnen. Ein erster Überblick über perzeptionslinguistische Forschung im deutschsprachigen Raum liegt mit den Beiträgen in Anders, Hundt & Lasch (2010) vor, ebenso mit Hundt (2018) eine Synopse und Literaturübersicht des Themengebiets. Allerdings scheint es, als sei die anfängliche Welle der Begeisterung für perzeptionslinguistische Themen vorerst abgeflaut. Größere Forschungsprojekte, in denen PL Teil des Untersuchungsdesigns war, sind abgeschlossen (z. B. Ländere n: Die Urschweiz als Sprach(wissens)raum, Christen et al. 2015; Sprachvariation in Norddeutschland, Elmenhttps://doi.org/10.1515/9783110261295-029
29. Perzeptionslinguistik arealer Sprachvariation im Deutschen
taler et al. 2015; Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien, Hundt, Palliwoda & Schröder 2017), die meisten einschlägigen Dissertationen liegen vor; und mit wenigen Ausnahmen wie dem SFB Deutsch in Österreich. Variation − Kontakt − Perzeption (Budin et al. 2018) sind derzeit keine größeren neuen Vorhaben anhängig. Insofern bietet dieser Text Anlass, ein erstes Fazit perzeptionslinguistischer Forschung zum Deutschen zu ziehen. Im Folgenden wollen wir zunächst die Entstehung und thematischen Leitlinien einer PL zum Deutschen aufzeigen (Kap. 2.). Darauf aufbauend werden wir verschiedene methodische Zugänge zur PL diskutieren (Kap. 3.) und im Anschluss die wichtigsten Forschungsergebnisse aus dem deutschen Sprachraum zusammentragen (Kap. 4.). Zum Abschluss sollen Perspektiven für die weitere Forschung aufgezeigt werden (Kap. 5.).
2. Ansatzpunkte und Entwicklung perzeptionslinguistischer Forschung im deutschsprachigen Raum Auch wenn der eigentliche Beginn perzeptionslinguistischer Untersuchungen zum Deutschen in den 1980er Jahren erfolgt, liegt mit Büld (1939) eine sehr frühe Studie zu laienlinguistischen Konzepten vor, in der Sprachraumwahrnehmungen und Sprachspott im nördlichen Westfalen gesammelt werden. Auf Basis von Bewertungen zu sprachlichen Auffälligkeiten entsteht zudem die erste Sprachraumkarte perzeptiver Grenzziehungen für das Deutsche. Damit nimmt die Untersuchung bereits viele Arbeitsgebiete der heutigen PL vorweg. Schwerpunkte perzeptionslinguistischer Forschung zum Deutschen betreffen in erster Linie − − − −
die perzeptionslinguistische Struktur des deutschen Sprachraums, den Zusammenhang von linguistischen und perzeptiven Grenzen, die Struktur sprachbezogener Wissenskonzepte insgesamt sowie die Rolle regionaler Merkmale für die Wahrnehmung und Bewertung von Sprache.
Darüber hinaus besteht ein enger Zusammenhang zwischen perzeptionslinguistischen Fragestellungen und der Erforschung von Spracheinstellungen, da in beiden Fällen handlungsbezogene Urteile (und daraus hervorgehende Konzepte) zu sprachlichen Phänomenen in der Alltagswelt thematisiert werden. Im Unterschied zur Einstellungsforschung, die vor allem den Bewertungsaspekt in den Vordergrund rückt, stellt die PL jedoch vorrangig auf die Struktur des individuellen Wissens über sprachliche Variation ab. In der dialektologischen Literatur finden sich bereits früh Hinweise auf die Bedeutung laienlinguistischer Konzepte. So konstatiert beispielsweise Moser (1954: 102): „Das Volk hat sein eigenes Bild von den Sprachräumen und den Sprachgrenzen, welches das objektive der Wissenschaft oft bestätigt und das bis jetzt noch zu wenig systematisch betrachtet wurde.“ Und auch nach Hammarström (1967: 210) sind „[d]ialektale Unterschiede einer Sprache […] diejenigen regionalen Unterschiede einer Sprache, die von den Sprechern als solche aufgefasst werden“. In der Konsequenz fordert Mattheier (1985) eine eigenständige „Dialektologie der Dialektsprecher“, die sich vor allem mit den individuellen Wissensbeständen der Sprecher.innen befasst. In ähnlicher Weise betonen Wirrer (1987; „Laienlinguistik“) und Brekle (1985; „Volkslinguistik“) die Thematisierung metasprachlicher Wissensbestände von Sprecher.innen als gesellschaftliche (und wissen-
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
schaftliche) Praxis. Mattheier (1994) verweist auf das generelle Problem der Übertragung laienlinguistischer Konzepte auf linguistische Klassifikationen, und Anders (2010: 17− 19) verortet in ihrer Dissertation die „Wahrnehmungsdialektologie“ als eigenständige Teildisziplin im Rahmen einer Typologie dialektologischer Zugangsweisen. Purschke (2011: 311) weist darauf hin, dass perzeptive Variationslinguistik „nicht nur über einen eigenständigen theoretisch-methodischen Zugriff verfügt, sondern daneben auch über ein spezifisches Erkenntnispotential“, das die linguistisch-systemische Analyse sprachlicher Variation erweitert und ergänzt. Dennoch plädiert er dafür, die PL nicht als eigenständige Teildisziplin, sondern als komplementären Zugang zum selben Gegenstand zu verstehen. Dies zeigt sich bereits in der ersten Welle perzeptionslinguistischer Studien, in denen die Wahrnehmung und Bewertung sprachlicher Variation vorrangig mit dem Ziel erhoben werden, ergänzende Evidenz für linguistisch-strukturelle Analysen zu liefern. So untersucht Mattheier (1983) im Rahmen des Erp-Projektes subjektive Einschätzungen zu Sprachproben, die unterschiedliche Sprechlagen auf der Dialekt-Standard-Achse repräsentieren, mit Hilfe eines skalenbasierten Tests. Die Beurteilungen werden zu soziodemographischen Faktoren in Bezug gesetzt, mittels derer zum Einen individuelle Unterschiede im Differenzierungsvermögen analysiert, zum Anderen auf eine je sprechergruppenspezifische Gliederung des Dialekt-Standard-Spektrums in drei (bis vier) Varietäten geschlossen wird. In ähnlicher Weise nutzen Herrgen & Schmidt (1985) skalenbasierte Beurteilungen von Einzelsätzen zur Bestimmung der subjektiven Auffälligkeit remanenter Dialektmerkmale. Mittels konstruierter Sätze soll so die „Hörerurteils-Dialektalität“ der Testmerkmale ermittelt und der sogenannten „Systemkontrast-Dialektalität“, also dem systemischen Status der getesteten Varianten, gegenübergestellt werden. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Dialektalitätsbeurteilungen durch Hörer.innen unabhängig von der systemischen Relevanz der untersuchten Merkmale sind und damit eine eigenständige Größe darstellen. Daneben finden sich zu dieser Zeit Studien, in denen die geographischen Aspekte des individuellen Wissens im Vordergrund stehen. So zeigt Kremer (1984) am Beispiel der deutsch-niederländischen Grenze, dass Sprecher.innen konzeptuell zwischen den niederländischen und den deutschen Orten differenzieren und somit der Staatsgrenze die Rolle einer Sprachraumgrenze zuschreiben. Dabei findet eine Methode Verwendung, die als „Pfeilchenmethode“ (vgl. z. B. Weijnen 1946) bekannt geworden ist und die sprachliche Gemeinsamkeiten und Differenzen ausgehend vom Wohnort der Befragten kartiert. In vergleichbarer Weise erhebt Diercks (1988) räumliche Konzeptualisierungen („mental maps“) zu niederdeutschen Varietäten in Schleswig-Holstein in einem skalenbasierten Test, der neben sozialen Zuschreibungen zu vier basisdialektalen Sprachproben auch raumbezogene Urteile abfragt (Fremdheit, Entfernung zum Erhebungsort und Himmelsrichtung). Die Ergebnisse liefern Hinweise darauf, wie Sprecher.innen Gruppenzugehörigkeit und soziale Bewertungen auf Basis sprachlicher Ähnlichkeit und Differenz konstruieren. In den 1990er Jahren gibt es demgegenüber kaum Studien zur PL des Deutschen, wenn auch laienlinguistische Äußerungen über Sprache vereinzelt Eingang in stärker soziolinguistisch und am Sprachwissen interessierte Arbeiten finden (vgl. etwa Häcki Buhofer 1994; Antos 1996 oder Ziegler 1996). Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang die Studie von Christen (1998), in der Prototypikalitätseffekte in Bezug auf laienlinguistische Raumkonzepte und dialektale Selbstbezeichnungen in der Deutschschweiz untersucht werden. Dabei erweisen sich administrative Kategorien auf kantonaler Ebene als entscheidender Ankerpunkt für mentale Repräsentationen dialektaler Varia-
29. Perzeptionslinguistik arealer Sprachvariation im Deutschen
tion. Darüber hinaus findet sich die Studie von Dailey-OʼCain (1999) zu subjektiven Raumkonzepten, in der die Auswirkungen der binnendeutschen Teilung anhand von Bewertungen zu 34 vorgegebenen Regionen ermittelt werden, wobei die Ergebnisse auf einen Zusammenhang zwischen den Beurteilungen sprachlicher Korrektheit/Sympathie und dem ehemaligen deutsch-deutschen Grenzverlauf hindeuten, die Proband.innen aber größere dialektale Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland als zwischen Ost und West annehmen (vgl. ebenso Stickel & Volz 1999). Einen deutlichen Aufschwung erlebt die PL zum Deutschen seit den 2000er Jahren, sowohl was die Menge an Arbeiten als auch was die thematische Vielfalt der Untersuchungen anbelangt. Zum Einen finden sich hier Studien, die sich mit der Verortung individueller Sprachraumkonzepte auf Kartengrundlage („mental maps“; vgl. Stoeckle 2014: 26−82) befassen, um so die Struktur des Sprachraumwissens der Sprecher.innen zu rekonstruieren. Dabei werden je nach Studie unterschiedliche Arten von Grundkarten verwendet, von einer Blankokarte (Hofer 2004) über verschiedene Grundkarten mit je einem visuellen Stimulus (z. B. Bundesländergrenzen, Städte, Höhenrelief; Lameli, Purschke & Kehrein 2008) bis hin zu Karten, die eine Kombination unterschiedlicher Informationen vorgeben (Stoeckle 2010). Zudem finden dabei neben der Lokalisierung und Benennung von Dialektarealen je unterschiedliche Aspekte des sprachraumbezogenen Wissens Berücksichtigung, darunter individuelle Kartierungsstrategien (Anders 2008; Hundt 2010), die Korrespondenz von laienlinguistischen Grenzkonzepten mit linguistischen und außersprachlichen Faktoren (Auer 2004; Hohenstein 2017) oder die zusätzliche Verortung akustischer Stimuli im Generationenvergleich (Lameli 2009) bzw. mittels eines Online-Ratespiels (Palliwoda 2011). Montgomery & Stoeckle (2013) diskutieren technische Herausforderungen für die Analyse handgezeichneter Dialektkarten mit Hilfe von geographischen Informationssystemen (GIS). Einen zweiten Schwerpunkt bilden demgegenüber Arbeiten, die mit akustischen Stimuli arbeiten, die auf Bewertungsskalen (zwischen Standard und Dialekt) eingeschätzt (z. B. Lenz 2003; Lameli 2004) oder zusätzlich regional zugeordnet (z. B. Purschke 2008; Schaufuß 2015) werden sollen. Häufig findet dabei eine modifizierte Version des Tests von Herrgen & Schmidt (1985) Verwendung, mittels dessen Einschätzungen zur perzeptiven Dialektalität kurzer Sprachproben erhoben werden, um so die subjektive Strukturierung des Dialekt-Standard-Kontinuums abzuleiten oder die interregionale Erkennbarkeit von Regionalakzenten und/oder Basisdialekten zu testen (z. B. Kehrein 2009). Kennetz (2010) verwendet ein ähnliches Verfahren im Anschluss an Preston (1989), um Sprachraumkonzepte in Bezug auf Korrektheit und Gefallen beurteilen zu lassen. Einen Sonderfall in diesem Zusammenhang bildet die Studie von Purschke (2010a), der die Bewertung und Verortung von Sprachproben mit Imitationen hessischer Dialekte verbindet, die zudem auf Authentizität im Hörerurteil hin getestet werden. Einen dritten Schwerpunkt perzeptionslinguistischer Forschung seit den 2000er Jahren bilden Studien, die sprachbezogenes Wissen in Bezug auf unterschiedliche konzeptuelle Bestandteile oder Assoziationen untersuchen. Dabei werden entweder sprachliche Merkmale in Verortungsaufgaben (Kehrein 2012), Assoziationstests (Lameli 2012), Zuordnungen von Dialektkonzepten zu graphischen Mustern (Berthele 2006; Spiekermann 2010) oder sprachliche Dialektattribuierungen (Christen 2010) untersucht. Damit liefern diese Studien Hinweise auf die Komplexität und semantische Strukturierung individueller Sprachraumkonzepte.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Neben den Einzelstudien findet sich seit 2010 zudem eine Reihe einschlägiger Dissertationen, in denen PL den Hauptgegenstand des Untersuchungsdesigns darstellt. Häufig werden in diesen Arbeiten unterschiedliche perzeptionslinguistische Ansätze kombiniert, um so die Struktur des sprachraumbezogenen Wissens am Beispiel des Sächsischen zu untersuchen (Anders 2010), Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen linguistischen und perzeptiven Grenzen im Mitteldeutschen herauszuarbeiten (Purschke 2011) oder subjektive dialektale Kleinräume im alemannischen Südwesten Deutschlands zu bestimmen (Stoeckle 2014). Mit diesen Arbeiten sind für die PL zum Deutschen zudem wichtige theoretische Modellierungen, methodische Vereinheitlichungen und empirische Befunde für die weitere Entwicklung gewonnen, beispielsweise für die Analyse der bayerischösterreichischen Staatsgrenze als perzeptive und konzeptuelle Grenze (Kleene 2017). Darüber hinaus erfolgt im Rahmen des Kieler Projekts Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien erstmals der Versuch einer flächendeckenden Erhebung des individuellen sprachraumbezogenen Wissens zu den deutschen Regionalsprachen (Hundt 2010). Aus insgesamt 26 Orten im gesamten deutschen Sprachraum liegen Daten vor, die mit einer Kombination unterschiedlicher Verfahren („mental maps“, Merkmalsnennungen, Einstellungen, saliente Merkmale, Verortung von Sprachproben) das ganze Spektrum perzeptionslinguistischer Methoden zur Anwendung bringen. Leider konnten durch Probleme bei der Akquise von Teilnehmer.innen nur für einen Teil der geplanten Ortspunkte Daten gesammelt werden. Die Ergebnisse des Projekts sind in mehreren Beiträgen (z. B. Hundt, Palliwoda & Schröder 2015a, 2015b) und einem Sammelband publiziert (Hundt, Palliwoda & Schröder 2017) und bieten vielfältige Einblicke in die semantische Komplexität und individuelle Bedingtheit von Sprachraumkonzepten. In den letzten Jahren rückt verstärkt die Rolle von Einzelmerkmalen für Wahrnehmung, Bewertung und Wandel von Varietäten in den Blick (z. B. Elmentaler, Gessinger & Wirrer 2010; Guntern 2011; Kiesewalter 2014; Palliwoda & Schröder 2015; Hettler 2018). Besonders die kontextuelle Auffälligkeit („Salienz“) und soziopragmatische Relevanz („Pertinenz“; vgl. Purschke 2014) sprachlicher Merkmale für die Organisation gesellschaftlicher Praxis wird in diesem Zusammenhang verstärkt diskutiert. Eine Übersicht über die deutschsprachige Diskussion zur Salienz liegt mit den Beiträgen in Christen & Ziegler (2014) vor. Darüber hinaus wird in jüngsten Arbeiten die enge Verflechtung von Sprachbewertung und Sprachwandel als Ausdruck der soziokulturellen Orientierung von Sprecher.innen in der Lebenswelt insgesamt in den Blick genommen (z. B. Heblich, Lameli & Riener 2015; Neumann & Schröder 2017; Purschke 2018).
3. Methodische Zugänge zur Perzeptionslinguistik Die PL ist von einer Vielfalt empirischer Verfahren geprägt, die unterschiedliche methodische Zugänge zum individuellen Sprachraumwissen abbilden. Dazu gehören die Arbeit mit „mental maps“ (der sog. „Draw a map“-Task; Preston 1989), die Bewertung von Sprachproben auf Skalen (in Bezug auf unterschiedliche Qualitäten wie Korrektheit, Schönheit, Dialektalität oder mit Hilfe Semantischer Differentiale), die geographische Verortung von Sprachproben (karten- oder skalenbasiert), die Bewertung der sprachlichen Auffälligkeit von Einzelmerkmalen sowie die Arbeit mit Konzepten, die genannt (z. B. Christen 2010), in Gruppen sortiert (sog. „pile sort“-Methode; z. B. Schröder
29. Perzeptionslinguistik arealer Sprachvariation im Deutschen
2017), zu Bildtypen zugeordnet (z. B. Berthele 2006) oder auf Skalen bewertet (z. B. Siebenhaar 2000) werden sollen. Dabei handelt es sich in allen Fällen um experimentelle Verfahren (Purschke 2011: 77−80), die Urteile von Sprecher.innen zu bestimmten Phänomenen ihrer Alltagswelt in einem bestimmten Modus (stimulusbasiert, wissensorientiert), mit Hilfe spezifischer Mittel (graphisch, akustisch, konzeptuell) und in Bezug auf einen festgelegten Fokus (Konzeptstrukturen, Wissensdomänen) erheben. In einem programmatischen Artikel entwickelt Preston (2010: 5) eine Klassifikation perzeptionslinguistischer Methoden, indem er diese in Bezug auf den gewählten Modus („production“) und Wissenstyp („regard“) unterscheidet: „On the production side, I will distinguish between research modes that have submitted linguistic samples to respondents (external) from those that have not (internal). On the regard side, I will distinguish between research modes that have used techniques that elicit a respondent’s declarative knowledge of language (conscious) or that responses to language were being sought (subconscious or implicit).“ Demgegenüber sortiert Purschke (2011: 89−151) die Forschungslandschaft der PL nach den Aspekten der Bewertung sprachlicher Variation in Bezug auf die konzeptuellen („perzeptive Distinktheit“), pragmatischen („interaktionelle Akzeptabilität“) und sozialen („situative Signifikanz“) Aspekte des individuellen Sprachraumwissens. Da letztere Einteilung thematisch motiviert ist und erstere auf der aus methodologischer Sicht problematischen Kategorie „Bewusstheit“ aufbaut (v. a. weil sie keine methodischen Unterscheidungen, sondern empirisch schwer fassbare kognitive Routinen abbildet), beschränken wir uns im Folgenden auf eine kurze Diskussion perzeptionslinguistischer Methoden auf Basis methodischer Kriterien, nämlich dem gewählten Mittel, Modus und Fokus der Studien. Eine ergänzende Diskussion methodischer Probleme der PL findet sich in Hundt (2018). a) Mittel: In Bezug auf die Mittel perzeptionslinguistischer Methoden lassen sich drei unterschiedliche Typen unterscheiden, nämlich hinsichtlich des hauptsächlichen Mediums der Wissensaktivierung (Stimulus): graphische, akustische und konzeptuelle Verfahren. Graphische Verfahren bezeichnen dabei methodische Ansätze, die im weitesten Sinne bildbasiert oder mit visuell wahrnehmbaren Stimuli arbeiten. Dazu gehört in der PL vor allem die Arbeit mit verschiedenen Arten von Grundkarten, in die Proband.innen Sprachraumkonzepte eintragen, auf denen sie Sprachproben verorten oder den Kommunikationsradius ihres eigenen Dialekts verzeichnen. Aber auch die Abbildungen unterschiedlicher Formtypen, denen die Befragten Varietätenkonzepte zuordnen sollen (Berthele 2006), gehören in diese Gruppe. Als akustische Verfahren können demgegenüber all jene Ansätze bezeichnet werden, die auf der Verwendung von Sprachproben unterschiedlicher Art fußen, seien es kurze Ausschnitte freier Rede, deren Dialektalität eingeschätzt werden soll, konstruierte standardsprachliche Sätze, in die einzelne Regionalismen eingebettet wurden, oder Sequenzen, deren akustische Parameter technisch manipuliert wurden (z. B. bei Werth 2011). Im Mittelpunkt konzeptueller Ansätze stehen demgegenüber Verfahren, die den Befragten in erster Linie abstrakte Konzepte vorlegen, zumeist in Form sprachlicher Labels, zu denen Wissen aktiviert, Bewertungen abgefragt oder die nach bestimmten Qualitäten (z. B. Ähnlichkeit, Schönheit) sortiert werden sollen. b) Modus: Die Frage nach dem Modus perzeptionslinguistischer Methoden betrifft sodann die Unterscheidung von Verfahren, die gerichtete Urteile zu präparierten Stimuli erheben, und solchen, die primär zuhandene Wissensbestände der Proband.innen aktivieren und abfragen. Die Motivation für stimulusbasierte Verfahren, egal ob sie kartenbasiert, mit Sprachproben oder einfachen Labels arbeiten, besteht vor allem darin, eine
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einheitliche (Eichung), vergleichbare (Objektivierung) und messbare (Quantifizierung) Grundlage für die Abfrage sprachraumbezogenen Wissens zu schaffen. Auf diese Weise können gezielt bestimmte Aspekte des Sprachwissens erhoben werden, sei es in Bezug auf die Salienz von Einzelmerkmalen oder die Verortung von Sprachräumen. Allerdings werden mit diesem Vorgehen große Bereiche des alltagspraktisch relevanten Wissens durch den experimentellen Zugang ausgeblendet. Zudem zeigt sich bei stimulusbasierten Verfahren eine starke Wechselwirkung zwischen der Art, Anordnung und Detailliertheit der Stimulusinformation und den Antworten der Befragten, beispielsweise in Reihenfolgeeffekten durch die Abfolge von Sprachproben bei Hörtests oder Kartenexperimenten mit Grundkarten, die verschiedene Arten geographischer Information enthalten. Demgegenüber zielen wissensorientierte Verfahren in erster Linie auf eine Aktivierung zuhandener Wissensbestände ohne gezielte Verwendung präparierter Stimuli. Dies erfolgt zumeist in Form offener Fragen (in Fragebögen oder als Teil von Interviews), etwa nach bekannten Sprachräumen, auffälligen Merkmalen für eine Region oder prototypischen Sprecher.innen für Varietäten. All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie zwar die aktivierten Wissensbestände der Befragten weniger stark begrenzen, damit aber die Kontrolle über die Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Messbarkeit der Antworten weitestgehend preisgeben. Zudem ist bei wissensorientierten Verfahren die lebensweltliche Bindung und semantische Struktur der aktivierten Konzepte häufig unklar: So lässt sich zeigen, dass junge Sprecher.innen des Deutschen mit dem Konzept „Dialekt“ vor allem regiolektale oder sogar regionalakzentale Sprechweisen verbinden, wohingegen ältere (dialektkompetente) Sprecher.innen basisdialektale Sprechweisen adressieren. Allerdings trifft dieser Umstand eingeschränkt auch auf stimulusbasierte Verfahren zu, etwa bei Assoziationstests; zudem gibt es bei der Arbeit mit Hörproben Fälle, in denen Proband.innen Merkmale in Sprachproben als auffällig identifizieren, die in der betreffenden Aufnahme gar nicht vorkommen (Anders 2010). Generell hängen die Antworten der Proband.innen perzeptionslinguistischer Studien in hohem Maße von der Struktur, Dichte und Tiefe des individuellen sprachbezogenen Wissens ab, ebenso wie von den Quellen, aus denen es hervorgeht (z. B. direkte vs. medial vermittelte Erfahrung). Dies zeigt sich deutlich in Form von sog. „Näheeffekten“ bei Kartenexperimenten oder in der Unterscheidungsgenauigkeit der Befragten bei der Arbeit mit Sprachproben (die jeweils auch vom geographischen Detailwissen der Befragten abhängen): Sprecher.innen verfügen über detaillierte, scharf abgrenzbare Konzepte vor allem in Bezug auf Phänomene, die zentraler Bestandteil ihres lebensweltlichen Erfahrungshorizonts sind („Nahbereich“; Hundt 2018), wohingegen periphere Aspekte der Erfahrungswelt und medial vermitteltes Wissen („Fernbereich“) stärker in Form stereotyper, unscharf begrenzter Konzepte vorliegen. c) Fokus: Der Unterscheidung von Nahbereich und Fernbereich entspricht aus methodischer Sicht zum Einen die Aktivierung unterschiedlicher semantischer Bestandteile komplexer Konzeptstrukturen durch den Einsatz verschiedener Stimuli. Dies kann beispielsweise anhand unterschiedlich detaillierter Grundkarten in Kartenexperimenten erfolgen (z. B. Nahbereich: Region, Übergangsbereich: Bundesland, Fernbereich: ganz Deutschland), für die in der PL auch die Termini Mikro-, Meso- und Makrokartierung verwendet werden. Ebenso kann diese Unterscheidung auf akustische (basisdialektal, regiolektal, regionalakzental) oder konzeptuelle Stimuli (Bezeichnungen für den Ortsdialekt, die Sprechweise der Region und den sprachlichen Großraum) angewendet werden. Auf diese Weise lassen sich die Strukturkomponenten von Sprachraumkonzepten ermit-
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teln, etwa am Beispiel des Konzepts HESSISCH (Purschke 2011: 210−213). Zum Anderen existiert eine Reihe von Ansätzen, in denen weniger die semantischen Strukturen von Konzepten als vielmehr die Wissensbasis im Vordergrund steht, die zur Strukturierung des sprachbezogenen Wissens beiträgt. Dies betrifft beispielsweise die Verwendung unterschiedlicher Typen von Grundkarten bei „mental maps“-Experimenten (Lameli, Purschke & Kehrein 2008), mit denen je spezifische Orientierungsmuster auf der Karte elizitiert werden können, die unterschiedliche soziokulturelle Domänen sprachraumbezogenen Wissens spiegeln (z. B. geographisch, politisch, topographisch, sozial). Die Kombination unterschiedlicher methodischer Modi und Mittel ermöglicht es zudem, individuelle Sprachraumkonzepte sowohl in Bezug auf ihre Strukturkomponenten als auch ihre Wissensbasis zu untersuchen, wie es beispielsweise Anders (2010) für das OBERSÄCHSISCHE oder Kleene (2017) für das BAIRISCHE gezeigt haben.
4. Hauptergebnisse perzeptionslinguistischer Forschung zum Deutschen Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse der PL zum Deutschen zusammengetragen. Der Menge und Vielfalt einschlägiger Arbeiten wird diese knappe Darstellung kaum gerecht; dennoch kann sie dazu dienen, das spezifische Erkenntnispotential der PL in Bezug auf die Untersuchung arealer Sprachvariation aufzuzeigen. Da der deutsche Sprachraum bislang nicht in seiner Gesamtheit einer umfassenden perzeptionslinguistischen Analyse unterzogen wurde und die verfügbaren Ergebnisse aus Studien sehr unterschiedlichen Zuschnitts stammen (Untersuchungsgebiet, Gegenstand, Rolle der PL innerhalb der Studie, eingesetzte Methoden), nehmen wir bei der Darstellung zwangsläufig Vereinfachungen vor. Zudem kaschiert eine Überblicksdarstellung gewissermaßen das zentrale Charakteristikum perzeptionslinguistischer Untersuchungen: die individuelle Prägung des regionalsprachlichen Wissens. a) Perzeptionslinguistische Struktur des deutschen Sprachraums: Aus holistischer Sicht ist der deutsche Sprachraum in der Wahrnehmung seiner Sprecher.innen geprägt von einer begrenzten Menge großräumiger Sprachraumkonzepte. Für Deutschland sind dies BAIRISCH, BERLINERISCH, HESSISCH, HOCHDEUTSCH, KÖLSCH, NORDDEUTSCH, SÄCHSISCH, SCHWÄBISCH (Lameli, Purschke & Kehrein 2008); für Österreich orientieren sich die Konzepte vor allem an den Bundesländern (Kleene 2015), für die deutschsprachige Schweiz an Kantonen (Christen 1998), für Südtirol an der alpinen Topographie (Schwarz & Stoeckle 2017). Diese Konzepte sind Teil des zuhandenen Wissensvorrats vieler Sprecher.innen und stehen in Zusammenhang mit einer Reihe außersprachlicher Prägefaktoren, darunter geographische Lage, politische Zugehörigkeit (v. a. Bundesländer bzw. Kantone), mediale Präsenz, kulturelle Verankerung, historische Bindung, biographische Bedeutung oder geometrische Position in Bezug auf das Gesamtgebiet. Je nach Konzept können dabei einzelne Faktoren dominieren, etwa für NORDDEUTSCH, das vor allem durch seine geographische Lage (im Norden Deutschlands) bestimmt ist, oder HOCHDEUTSCH, das neben einer kulturell-stereotypen (Raum Hannover) eine stark biographische Prägung haben kann (im Sinne einer unmarkierten Eigensprechweise). Sprachlich sind mit diesen Konzepten grobe, häufig von medialen Inszenierungen (z. B. Comedians) geprägte Vorstellungen von regioakzentalen oder re-
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giolektalen Sprechweisen verbunden, die anhand weniger auffälliger Merkmale erkannt und in Imitationen evoziert werden können. Dabei lässt sich für Deutschland ein doppeltes Gefälle in Bezug auf die wahrgenommene Dialektalität feststellen: Je südlicher und/ oder östlicher eine Sprechweise angesiedelt ist, umso dialektaler wird sie in Hörtests bewertet. Für Österreich lässt sich Vergleichbares aufgrund fehlender Studien bislang nicht zeigen. In der Schweiz prägt demgegenüber vor allem die je typische Regionalität der Dialekte den individuellen Wissenshorizont (Christen et al. 2015). Generell belegen viele Arbeiten eine starke Abhängigkeit des regionalsprachlichen Wissens vom individuellen Lebensmittelpunkt, von Erfahrungswissen und Alter: So verfügen Sprecher.innen häufig über eher kleinräumig organisierte, detaillierte und eher dialektgespeiste Konzepte der Sprechweisen ihrer eigenen Region (Twilfer 2012). Dies gilt besonders für Österreich und die Schweiz, wo die Dialekte noch stärker in der Alltagswelt präsent sind. Der Generationenvergleich illustriert zudem den Makrotrend der Sprachdynamik im Deutschen: Während das Sprachraumwissen der älteren Sprecher.innen noch stärker von dialektalen Sprechweisen und kleinräumigen geographischen Bezügen geprägt ist, dominieren bei der jüngeren Generation standardnähere Sprechweisen − die allerdings häufig mit dem Etikett „Dialekt“ versehen werden − und Bezugnahmen auf Regionen (Lameli 2009; Stoeckle 2014). b) Zusammenhang von linguistischen und perzeptiven Grenzen: In einer Reihe von Studien konnten Gemeinsamkeiten und Diskrepanzen zwischen linguistisch-systemischen und individuell-perzeptiven Grenzziehungen gezeigt werden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang zunächst die Aufwertung von Nationalgrenzen zu Sprachgrenzen in der Wahrnehmung der Sprecher.innen (Auer 2004; Palliwoda 2017), sowohl an der deutschniederländischen Grenze, wo sich das ehemalige Dialektkontinuum schon seit längerem infolge divergierender überdachender Standardsprachen linguistisch auseinanderentwickelt (Hohenstein 2017), als auch in Regionen, in denen die Staatsgrenze auf dialektaler Ebene kaum ausgeprägt ist (Bayern/Österreich; Kleene 2017). Daneben bestimmen nationalstaatliche Grenzen zunehmend den Wissenshorizont der Sprecher.innen: So können etwa Proband.innen aus dem alemannischen Dreiländereck keine Dialekträume auf der jeweils anderen Seite der Grenze differenzieren (Stoeckle 2014). Grenzen sind in der Wahrnehmung der Sprecher.innen vor allem dann stabil, wenn sie mit regionalsprachlichen Grenzen koinzidieren, so zwischen dem Moselfränkischen und Rheinfränkischen (Purschke 2011), oder sich an außersprachlichen (z. B. politischen oder konfessionellen) Grenzen orientieren. Letzteres zeigt sich in besonderer Weise an der ehemaligen deutschdeutschen Grenze, für die in einer Reihe von Studien der Status der politischen Grenze als konzeptuelle (nicht aber regionalsprachliche) im Sinne einer „Mauer in den Köpfen“ untersucht wurde (Palliwoda 2014; Harnisch 2015; Sauer 2018). Als besonders ertragreich in Bezug auf die Rolle individueller Sprachraumkonzepte für den sprachlichen Wandel erweisen sich Fälle, in denen politische Grenzziehung, regionalsprachliche Dynamik und konzeptuelle Abgrenzung sich widersprechen, etwa im Fall Thüringisch/ Obersächsisch (Purschke 2011): Zwar nehmen viele Probanden hier eine konzeptuelle Abgrenzung zwischen beiden Sprachräumen vor, die sich an der Bundeslandgrenze orientiert, allerdings können regiolektale Sprachproben aus beiden Regionen von den Befragten nicht sicher differenziert werden, und auch die soziokulturelle Orientierung der Proband.innen (Beruf, Heirat) weist über die jeweilige Raumgrenze hinaus ins Nachbargebiet.
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c) Struktur sprachraumbezogener Konzepte: Die semantische Komplexität und Struktur des sprachraumbezogenen Wissens wurde bislang vor allem in Bezug auf das HESSISCHE (Purschke 2010b, 2011) und OBERSÄCHSISCHE (Kehrein 2012; Anders 2010) untersucht. Eine Zusammenschau der bisherigen Ergebnisse liefert Kiesewalter (2018: 31−48). Es zeigt sich, dass regionalsprachliches Wissen individuell in Form komplexer semantischer Konzepte repräsentiert ist, die je nach Herkunft, Alter, regionalsprachlicher Kompetenz und Erfahrungswissen der Befragten mehrere aktivierbare, semantisch distinkte Teilstrukturen aufweisen, die auf verschiedene lebensweltliche Bezugsräume gerichtet sind (großregional, kleinregional, lokal) und sich aus unterschiedlichen Wissensbasen speisen (vgl. Hundt 2017). Je nach Konzeptebene und individuellem Wissenshorizont sind diese Konzepte durch spezifische Strukturkomponenten (semantische Charakteristik, prototypische Vertreter, abhängige Teilkonzepte) geprägt. Für das HESSISCHE beispielsweise kann eine großregionale Konzeptebene für alle Befragten nachgewiesen werden, die sich am Bundesland Hessen als geographischem Bezugspunkt, der Stadt Frankfurt als kulturellem Prototyp und (stereotypen) sprachlichen Merkmalen aus dem Rhein-Main-Gebiet orientiert. Kleinregionale und lokale Konzeptebenen sind dagegen vor allem für (ältere) Befragte aus der Region nachweisbar und stärker von kleinräumigen Bezügen geprägt (Städte, Regionen, Topgraphie), ebenso wie durch regiolektale bis dialektale sprachliche Repräsentanten, die direktes Erfahrungswissen bedingen. Neben den individuellen Wissensfaktoren hängt die Ausprägung und Nachweisbarkeit solcher semantischer Strukturen in hohem Maße von der Einrichtung des experimentellen Settings sowie den verwendeten Stimuli ab, durch die bestimmte Teilbereiche des regionalsprachlichen Wissens gezielt aktiviert werden. Hinweise auf individuelle Konzeptstrukturen (bzw. ihr Fehlen) liefern in diesem Zusammenhang auch „Fehlkategorisierungen“, also z. B. Zuweisungen von Sprachproben zu bestimmten Regionen auf Basis von Einzelmerkmalen, die für mehrere Sprachräume typisch sind, und „Ausweichstrategien“, also etwa das pauschale Ableiten von regionalen Sprachräumen ausgehend von Einzelstädten (Kehrein, Lameli & Purschke 2010). d) Rolle regionaler Merkmale für die Wahrnehmung und Bewertung von Sprache: Eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung und Bewertung sprachlicher Variation spielen in der PL des Deutschen Einzelmerkmale, sog. Regionalismen. Es lässt sich zeigen, dass es einen Bestand überregional auffälliger (salienter) und soziopragmatisch bedeutsamer (pertinenter) Regionalismen gibt, die von Sprecher.innen wahrgenommen, als nichtstandardsprachlich bewertet und mit sozialen Zuschreibungen versehen werden, z. B. für das Mittelbairische (Kiesewalter 2014), Norddeutsche (Gessinger 2017; Hettler 2018), Neuhessische (Kiesewalter 2011) und Schweizerdeutsche (Guntern 2011). Die Auffälligkeit und Bewertung dieser Regionalismen hängt dabei stark von der Herkunft der Befragten sowie ihrer regionalsprachlichen Prägung ab: So kann Kiesewalter (2018) für die wichtigsten Regionalismen aus dem Nordniederdeutschen, Obersächsischen und Mittelbairischen zeigen, dass Proband.innen über regionsspezifische Bewertungshorizonte verfügen und dabei zwischen regionseigenen und -fremden Merkmalen unterscheiden. Weiterhin lassen sich differenzierte Bewertungshorizonte für Sprecher.innen etwa in Bezug auf die situative Angemessenheit und sprachliche Korrektheit standarddivergenter Merkmale nachweisen (Elmentaler, Gessinger & Wirrer 2010). Dass dabei merkmalsbezogenes Sprachwissen oft erstaunlich gut mit wissenschaftlichen Beschreibungen übereinstimmt, belegt der Vergleich von Sprachatlasdaten mit laienlinguistischen Verortungen von Merkmalen (Stoeckle 2014). Weiterhin zeigt sich, dass Spre-
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cher.innen ihr Wissen über regionstypische Einzelmerkmale gezielt nutzen, um ihre eigene Gruppenidentität zu konstruieren und diese von denen anderer Sprecher.innengruppen abzugrenzen (Schiesser 2017). Damit rücken diese Studien vor allem die Bedeutung von Pertinenzurteilen für sprachliches Handeln in der Lebenswelt in den Mittelpunkt.
5. Impulse für die Weiterentwicklung der Perzeptionslinguistik Die Zusammenschau zentraler Ergebnisse belegt, dass sich die PL zum Deutschen seit ihren Anfängen zu einem vitalen, methodologisch eigenständigen Arbeitsbereich der Variationslinguistik entwickelt hat, der für die Untersuchung der Struktur und Dynamik regionalsprachlicher Systeme eine entscheidende Erweiterung der Analyseperspektive bedeutet. Erst in der Zusammenschau von klassisch variationslinguistischen und perzeptionslinguistischen Studien zeigt sich, in welchem Ausmaß die Wahrnehmung und Bewertung sprachlicher Variation individuellen Sprachgebrauch und sprachliche Dynamik des Deutschen beeinflussen. Ein erster Ansatzpunkt für weitere Studien könnte deshalb darin bestehen, stärker auf die lebenspraktische Bedeutung individueller Sprachraumkonzepte und Wissensbestände einzugehen, besonders dahingehend, wie sich das Wissen über sprachliche Variation und ihre soziokulturelle Bedeutung im alltäglichen Handeln der Sprecher.innen niederschlagen. Weitere mögliche Impulse für eine Weiterentwicklung und Vertiefung der PL zum Deutschen betreffen etwa − eine stärkere theoretische Rahmung empirischer Studien, gerade in Bezug auf die
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psychologischen, soziologischen und philosophischen Grundlagen von Wahrnehmung, Bewertung und Handeln; die Überprüfung, Standardisierung und Erweiterung des Methodenspektrums, besonders hinsichtlich der verwendeten Mittel (Stimulusart, Kartierungsgrundlage etc.); eine empirische Untersuchung der regionalsprachlichen Binnengrenzen des Deutschen zur Überprüfung der sprachlichen Makrodynamik; landesweite Studien für Österreich und die Schweiz ebenso wie Studien zu Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet, die zudem neben regionalsprachlicher Variation auch Aspekte von regionaler Mehrsprachigkeit und Migration in den Blick nehmen; eine stärkere Einbeziehung medialer Repräsentationen sprachlicher Variation, sei es in Bezug auf stereotypisierte Inszenierungen von Dialekt in der Werbung oder die Rolle von Regionalismen für die Konstruktion und Aushandlung von Identitäten und Sprachpraxis im Internet; eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit den Erkenntnismöglichkeiten der PL und ihren vielfältigen Wechselwirkungen mit linguistisch-systemischen Analysen.
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Christoph Purschke, Esch-sur-Alzette (Luxemburg) Philipp Stoeckle, Wien (Österreich)
30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen
30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen 1. Geostatistik: Definitionen und Abgrenzungen 2. Technischer Überblick 3. Resultate
4. Synthese 5. Literatur
1. Geostatistik: Definitionen und Abgrenzungen Der Raum ist die zentrale Variationsdimension der Dialektologie. Wie keine andere Dimension gibt er eine Topologie, d. h. eine relationale (An-)Ordnung von sprachlichen Erhebungspunkten, zu einem großen Grad vor und wird durch ebenfalls im Raum verortbare nicht-sprachliche Gegebenheiten weiter strukturiert. Für die reine Dokumentation räumlicher Variation ist die absolute Positionierung der Sprachdaten im Raum zunächst ausreichend. Die Beschreibung und Erklärung geolinguistischer Verteilungen erfordert jedoch die Berücksichtigung ihrer relativen räumlichen Anordnung, da räumliche Nähe wesentlich für die Ausbreitung sprachlicher Varianten und damit auch für die Ausbildung von Varietäten ist. Methoden, die sprachliche Belege quantitativ aufgrund ihrer räumlichen Anordnung miteinander in Beziehung setzen und dadurch zu statistisch fundierten Aussagen gelangen, gehören zur linguistischen Geostatistik, die durch die Berücksichtigung des geographischen Raums bei der statistischen Auswertung der Daten gekennzeichnet ist. Der Mehrwert streng geostatistischer Verfahren ist es, den geographischen Raum als Größe direkt in Berechnungen zu den Daten mit einbeziehen zu können. Abzugrenzen hiervon sind strenggenommen Verfahren, die ebenfalls statistisch auf der Grundlage räumlich verteilter Daten arbeiten, aber die räumliche Verteilung selbst nicht für die Analyse heranziehen. Hierzu zählt z. B. die in der Dialektometrie weit verbreitete Clusteranalyse (s. Kap. 2.2.), bei der die Rauminformation erst im Zuge der Kartierung der Ergebnisse relevant wird. Zwischen Arbeiten, die in diesem engeren Sinn geostatistischer Natur sind, und solchen, die Geoinformation lediglich zur Kartierung nutzen, kann dennoch mitunter keine klare Grenze gezogen werden, da mit ihnen oft ein ähnliches Erkenntnisinteresse verbunden ist. Der Terminus „geostatistisch“ wird so − unscharf − auch für Techniken verwendet, die ohne Einbezug geographischer Relationen mittels statistischer Verfahren auf Dialektdaten operieren. Aus diesem Grund unterscheiden wir in dieser Überblicksdarstellung zwischen geostatistischen Methoden in einem engeren und einem weiteren Sinne. Geostatistisch im engeren Sinne sind solche Verfahren, bei denen die geographische Anordnung der Belegdaten in ihre Analyse eingeht; geostatistisch in einem weiteren Sinne sind hingegen jene Methoden, die geographisch verteilte Daten statistisch, aber intern lageunabhängig analysieren und deren Ergebnisse sich gegebenenfalls kartieren lassen.
https://doi.org/10.1515/9783110261295-030
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2. Technischer Überblick 2.1. Geostatistik im engeren Sinne Zentraler Punkt geostatistischer Verfahren im engeren Sinne ist es, Informationen unter Einbeziehung ihrer räumlichen Distanz zu verarbeiten. Dies kann zunächst rein deskriptiven Zwecken dienen: Setzt man räumliche Distanzen mit dialektalen Unterschieden in Beziehung, indem man sie etwa ähnlich wie Séguy (1971) gegeneinander in ein Koordinatensystem einträgt, erhält man ein Bild davon, in welcher Weise sprachliche (Un-) Ähnlichkeit durch die geographische Entfernung konditioniert ist. Meist zeigt sich ein logarithmisches Verhältnis, d. h. besonders bei geringen Entfernungen kann zunächst eine starke Abnahme der Ähnlichkeit konstatiert werden, bei größeren nimmt die Ähnlichkeit nur noch langsam ab. Nerbonne (2009: 191) berechnet etwa für seinen Datensatz aus dem Phonetischen Atlas Deutschlands (PAD, vgl. Göschel 1992) eine Korrelation von r = 0,56 zwischen logarithmischer geographischer Distanz und akkumuliertem phonetischem Abstand (Abb. 30.1). Das Quadrat dieses Wertes (r 2 = 0,31) gibt an, wie groß der Anteil an rein geographisch konditionierter Sprachvariation in einem Datensatz ist − und im Umkehrschluss auch, wie viel Variation auf andere Wirkursachen oder den Zufall zurückgeführt werden muss. Eine weitere Messgröße, die den Einfluss der Geographie auf die sprachliche Variation misst, ist die sogenannte räumliche Autokorrelation. Diese bezieht sich auf den Umstand, dass räumliche Nähe meist mit sprachlicher Ähnlichkeit einhergeht. Konkret beschreibt die räumliche Autokorrelation, wie stark ähnliche Werte einer Variablen im
Abb. 30.1: Die sogenannte „Séguy-Kurve“ mit Daten des Phonetischen Atlas Deutschlands (aus: Nerbonne 2009: 191)
30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen
Raum geballt sind − je höher bzw. niedriger der Wert, desto stärker ist die Tendenz zur Ballung hoher Werte bzw. niedriger Werte; bei Werten um Null sind die Werte zufällig im Raum verteilt. Zu unterscheiden sind hier globale Autokorrelationsmaße (wie etwa Moran’s I), die einen Wert für die Gesamtvariation auf einer Karte angeben, und lokale die für jeden Ort einer Karte einen Wert Autokorrelationsmaße (wie etwa Getis-Ord G*), i der lokalen Kohäsion liefern und so im Resultat Auskunft über signifikante Ballungen von hohen (Hotspots) oder niedrigen Werten (Coldspots) geben (vgl. z. B. Grieve, Speelman & Geeraerts 2011; Lameli 2013; Grieve 2016; Stoeckle 2016). Ähnlich wie lokale Autokorrelationsmaße resultieren auch die Verfahren der Dichtebzw. Intensitätsschätzung in einer räumlichen Glättung der Ausgangsdaten. Der Unterschied zwischen Dichte- und Intensitätsschätzung besteht darin, dass erstere die räumliche Ballung (Dichte) von punktuell auftretenden, nicht weiter unterspezifizierten Einheiten (z. B. Varianten) schätzt, während bei der Intensitätsschätzung bereits graduelle Werte (z. B. relative Variantenhäufigkeiten an einem Ort) die Grundlage für die Berechnung der Intensität dieser graduellen Auftretenswerte bilden. Dichte- bzw. intensitätsschätzende Verfahren bieten sich an, wenn die vorhandene Datenlage aus irgendwelchen Gründen unzureichend ist, etwa, weil sie Lücken aufweist oder ihre Granularität nicht feinkörnig genug ist. Durch die Schätzung von lokalen Auftretenswahrscheinlichkeiten auf der Grundlage der räumlichen Verteilung der Belege können so Schwächen ausgeglichen, Lücken aufgefüllt oder das quantitative Verhältnis multipler Varianten an einem Ort zueinander eingeschätzt werden. Statt die eigentlichen Belege wiederzugeben, gibt die Intensitätsverteilung einer Variante an, aus welcher zugrunde liegenden räumlichen Wahrscheinlichkeitsverteilung sie vermutlich resultieren. So lässt sich die statistisch gesehen relativ geringe Validität von Einzelbelegen ausgleichen: Ein einzelner Beleg ist unsicher, er kann durch eine Vielzahl von Störfaktoren (individuelle Eigenheiten der befragenden oder der befragten Person, Fehler in der Datenerhebung, -aufbereitung oder -verarbeitung etc.) verzerrt sein − dass aber eine für ein potentielles Kippen der Analyseergebnisse ausschlaggebende Menge der Belege fehlerhaft ist, geschieht nur bei starken systematischen Fehlerquellen, die sich auch anderweitig manifestieren würden. Die Intensitätsschätzung validiert die Einzelbelege durch ihre räumliche Abhängigkeit; der Einzelbeleg wird als Zufallsstichprobe aus einer zugrunde liegenden arealen Verteilung betrachtet (vgl. Rumpf et al. 2009). Aus der Intensitätsschätzung resultierende Karten der den Daten zugrunde liegenden geschätzten Wahrscheinlichkeiten, sogenannte Intensitätskarten (seien sie nun räumlich kontinuierlich oder nicht), geben jeweils das Intensitätsfeld einer einzelnen Variante an (siehe Abb. 30.2 für ein Beispiel anhand einer lexikalischen Variante im Bayerischen Sprachatlas (BSA)). In Auswertungen, die auf Daten aus Sprachatlanten basieren, sind solche Varianten normalerweise von einem Kartenthema, das auf Variablenebene angesiedelt ist, abhängig. (Davon gibt es nur wenige Ausnahmen: Hahn & Siebenhaar (2016) nutzen zur geostatistischen Verarbeitung und Kartierung von Sprechtempo und Reduktionen im Standarddeutschen (aus Daten der Deutsch heute-Erhebung, siehe Elspaß & Kleiner, Art. 6 in diesem Band) direkt phonetische Messwerte statt nominalskalierter Atlasdaten.) Die Intensitätsfelder verschiedener Varianten können in einer Karte vereinigt werden, indem man kombinierte Intensitätskarten erstellt, die die Intensitätsfelder aller zu einer Variablen verzeichneten Varianten enthält. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen, z. B. in Form einer gradierten Flächenkarte, bei der an jedem Untersuchungsort oder an jedem Punkt im Raum die Variante verzeichnet ist, die dort die dominante
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Abb. 30.2: Rohvorkommen (links) und Intensitätsschätzung der Variante Sau (Mitte) sowie Kombinationskarte aller Varianten (rechts) zur Variable Sau im Bayerischen Sprachatlas
(d. h. die wahrscheinlichste) ist, wobei die Farbintensität den Grad der Dominanz angibt. Eine solche Darstellung kommt einer statistisch überarbeiteten, epistemisch plausibleren Fassung einer Variablenkarte gleich, wie sie in herkömmlichen Dialektatlanten z. B. als Punktsymbolkarte zu finden wäre.
2.2. Geostatistik im weiteren Sinne Geostatistische Verfahren im weiteren Sinne sind solche, die die Daten mehrerer Varianten oder Variablen in irgendeiner Form ohne Rückgriff auf ihre geographische Anordnung aggregieren oder zueinander in Beziehung setzen. Dazu wird die komplexe (hochdimensionale) Variation aus vielen Einzelvarianten in einer abstrakteren (niedrigdimensionalen) Gestalt gefasst. Als Startpunkt entsprechender quantitativer Verfahren innerhalb der Dialektologie wird gemeinhin Haag (1898) gesehen. Er kombiniert als erster nicht einfach nur eine Vielzahl an Variantenisoglossen in einer einzigen Karte, um durch ihre Bündelung und Staffelung Varietätengrenzen und Übergangsgebiete erfassen zu können, sondern zählt systematisch sprachliche Unterschiede zwischen benachbarten Orten. Séguy (1971) systematisiert diese aggregative Methode und führt dafür den Terminus Dialektometrie ein; um Dialektunterschiede (d. h. sprachliche Distanzen) zu bestimmen, wird für eine größere Menge an Variablen ausgezählt, wie oft sich die jeweils belegten Varianten von Nachbarort zu Nachbarort unterscheiden. Goebl (1982) zählt erstmals Unterschiede unter allen Ortspaaren, nicht nur unter benachbarten, führt so die Ort × Ort-Distanzmatrix (bzw. ihre Umkehrung, die Ähnlichkeitsmatrix) in die Dialektometrie ein und erweitert sie u. a. um verschiedene Möglichkeiten, die mit der Matrix anfallende Menge an paarweisen sprachlichen Distanzen zu analysieren und davon abgeleitete Werte zu kartieren. Weitere Innovationen umfassen die Clusteranalyse, mit der die Belegorte auf der Grundlage ihrer paarweisen sprachlichen Distanzen einem Klassifizierungsalgorithmus unterzogen werden können.
30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen
Das Clustern von Orten zu Dialektgebieten, basierend auf ihrer aggregierten Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit (erfasst in Form einer Distanzmatrix der Orte), hat sich seitdem zu einem Standardverfahren der Dialektometrie entwickelt und ist in der Anwendung immer wieder verbessert worden (vgl. etwa Heeringa 2004). In der am häufigsten verwendeten Familie von Algorithmen, der sogenannten hierarchischen Clusteranalyse, werden zunächst so viele Cluster wie Orte mit je einem enthaltenen Ortspunkt definiert. In der Folge werden jeweils sukzessive diejenigen beiden Cluster zusammengefasst, die die größte Ähnlichkeit bzw. die geringste Distanz zueinander haben, so dass in jedem Schritt die Gesamtzahl der Cluster um 1 sinkt. An einem bestimmten, festgelegten Punkt wird das Verfahren abgebrochen, und die erhaltenen Cluster werden als Klassifikationslösung der Clusteranalyse verwendet, indem die Cluster als − meist zusammenhängende − Dialektgebiete interpretiert und kartiert werden (s. z. B. Abb. 30.5, Kap. 3.2.). Die Frage, an welchem Punkt abgebrochen wird, und damit, wie viele und welche Cluster sich ergeben, ist nicht eindeutig zu beantworten. Mitunter ergeben sich durch die Wahl der Clusterzahl deutlich unterschiedliche Lösungen (vgl. Pickl & Pröll 2019). Da die Ergebnisse der Clusteranalyse häufig wenig stabil sind − d. h. relativ kleine Änderungen in der Datenbasis können relativ große Konsequenzen im Resultat der Analyse nach sich ziehen −, werden mittlerweile vermehrt Methoden zur Stabilisierung der Ergebnisse verwendet, die durch Wiederholung der Analyse mit je leicht veränderten Ausgangsdaten zu robusteren Resultaten führen. Methodisch unterschiedlich, aber im Ergebnis ähnlich geschieht dies etwa beim bootstrapping clustering und beim noisy clustering (vgl. Nerbonne et al. 2008). Die Sicherheit der Zuordnung zu einem Cluster, d. h. die Häufigkeit, mit der sie beim wiederholten Durchführen der Analyse auftritt, wird durch einen Prozentwert ausgedrückt, was effektiv zu einer unscharfen Zuordnung führt (daher wird der Terminus fuzzy clustering als Überbegriff für solche Verfahren verwendet; vgl. Nerbonne et al. 2011). Konträr zu diesem Verfahren, das aus aufsummierten Ähnlichkeiten scharfe Gebiete (mit scheinbar eindeutigen, scharfen Grenzen) gewinnt, steht die Multidimensionale Skalierung (MDS), die aus derselben Art von aggregierten Daten, d. h. aus Distanzmatrizen, keine Dialektgebiete, sondern Kontinua ermittelt. Hierfür wird versucht, die Ortspunkte in einem niedrigdimensionalen Raum abzubilden, so dass die darin resultierenden Distanzen möglichst genau den paarweisen Distanzen der Matrix entsprechen. Je weniger Dimensionen die MDS-Lösung aufweisen soll, umso größer werden die Abweichungen von den originalen Distanzen, und umso geringer ist der Anteil an erklärter Variation. Üblich ist etwa die Reduktion auf zwei Dimensionen, da sich die ermittelten Distanzen so in Form eines Koordinatensystems auf einer Druckseite oder einem Bildschirm darstellen lassen. Mit Embleton (1993) findet MDS Eingang in die Dialektometrie; Nerbonne, Heeringa & Kleiweg (1999) generieren erstmals dreidimensionale Lösungen, um die drei Dimensionen auf die drei Bestandteile Rot, Grün und Blau des RGB-Farbraumes zu mappen, so dass ihre Kartierung in Form von Farbtönen möglich ist. In den resultierenden Karten sind sich Orte sprachlich näher, die sich farblich ähnlicher sind, und umgekehrt (s. z. B. Abb. 30.6, Kap. 3.2.). Der entstehende Eindruck ist der eines räumlichen Kontinuums, wobei durchaus Anomalien wie Bruchkanten, die als Dialektgrenzen im Kontinuum interpretiert werden können, möglich sind. Ein weiterer Vorteil ist, dass der Anteil an erklärter Variation etwas höher ist als bei zweidimensionalen Lösungen.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Mit Blick auf die Struktur der Ergebnisse zwischen Clusteranalyse (Dialektgebiete) und MDS (Kontinua) liegen zwei Verfahren, die nicht auf der Grundlage einer Distanzmatrix operieren, sondern auf den unaggregierten Originaldaten: Hauptkomponentenanalyse (PCA) und Faktorenanalyse (FA). Bei ihnen haben die Ergebnisse meist die Struktur überlappender, unscharfer und mitunter diskontinuierlicher Dialektgebiete, so dass sowohl kategoriale Unterschiede wie bei der Clusteranalyse als auch Gradualitäten wie bei MDS erfasst werden (s. z. B. Abb. 30.4, Kap. 3.1.). FA und PCA unterscheiden sich sowohl in Bezug auf ihren theoretischen Unterbau als auch auf ihre interne Arbeitsweise, sie liefern jedoch häufig sehr ähnliche Ergebnisse. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber den distanz- bzw. matrixbasierten Verfahren besteht darin, dass nicht nur dominante Strukturen, wie sie sich in den aggregierten Distanzen widerspiegeln, erfasst werden, sondern auch nicht-dominante, latent vorhandene Muster, die nur eine geringe Zahl von Variablen betreffen und erst bei einem tieferen Blick sichtbar werden. Wie bei Clusteranalyse und MDS muss auch bei PCA und FA die Zahl der Kategorien bzw. Dimensionen gewählt werden. Im Fall der PCA spricht man von (Haupt-)Komponenten, im Fall der FA von Faktoren. Im Unterschied zu Clusteranalyse und MDS hat jedoch die Wahl der Komponenten bzw. Faktoren ab einer bestimmten kritischen Zahl nur sehr geringen Einfluss auf das Gesamtergebnis, da die hinzukommenden Dimensionen jeweils nur einen geringen Teil der Gesamtvariation abbilden. Bereits Werlen (1984) nutzt FA zu dialektologischen Zwecken, allerdings nicht raumbezogen, sondern (analog zur ursprünglichen Entwicklung und Nutzung innerhalb der Psychologie) als Instrument zur Auswertung von Sprechereinstellungen; PCA wurde unseres Wissens erstmals von Hyvönen, Leino & Salmenkivi (2007) dialektkartographisch eingesetzt, d. h. zur synoptischen Darstellung der räumlichen Verteilung der Hauptkomponenten von finnischen Daten. Leino & Hyvönen (2009) vergleichen die räumlichen Ergebnisse von PCA und FA − ebenfalls anhand von finnischen Daten − mit denen anderer multivariater Modelle und empfehlen FA als Default-Methode, u. a. da sie sich als weniger empfindlich gegenüber Störungen in den Daten erweist. Beide Verfahren sind relativ neu im Bereich der Dialektometrie, erfreuen sich aber wachsender Beliebtheit.
3. Resultate Aus Platz- und Effizienzgründen stellen wir im Folgenden vor allem Ergebnisse aus der jüngeren Forschungsliteratur dar, um den aktuellen Stand der Erkenntnisse über den sprachräumlichen Aufbau des deutschsprachigen Gebiets auf geostatistischer Basis wiederzugeben. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass diese jüngeren Arbeiten an ältere anknüpfen und auf sie aufbauen, ohne die sie nicht denkbar wären. Zu nennen sind hier u. a. die Arbeiten von Putschke & Hummel (1990), Hummel (1993a, 1993b), Schiltz (1996) und Kelle (2001).
3.1. Studien zu Teilregionen des deutschsprachigen Raums Geostatistische Analysen zum bundesdeutschen alemannischen Raum wurden im Rahmen des DFG-Projekts Phonologischer Wandel am Beispiel der alemannischen Dialekte
30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen
Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert durchgeführt. Schwarz (2015) präsentiert mittels Kriging interpolierte Karten zu Gebrauchshäufigkeit und Innovativität vs. Konservativismus im Vokalismus − Datenbasis sind spontansprachliche Daten der Erhebungen des Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA), ergänzt durch Aufnahmen des Badischen Wörterbuchs (vgl. http://portal.uni-freiburg.de/sdd/forschung/fsbw/badischwb) und einige Zwirner-Aufnahmen (vgl. http://agd.ids-mannheim.de/ZW--_extern.shtml). Streck (2012) und Streck & Auer (2012) zeigen anhand dieses Materials mit aggregativen Methoden, dass auch spontansprachliche Daten regional differenziert sind. Der Einsatz verschiedener Typen von Clusteranalysen erzeugt in der Synthese unterschiedlich klar abgegrenzte Räume, die mit älteren Gliederungen verglichen werden: Entgegen älteren Darstellungen findet sich kein schwäbisch-fränkisches Übergangsgebiet, ein südfränkisch-oberrheinalemannischer Gegensatz zeichnet sich nur sehr schwach ab. Das früher angesetzte „Oberrheinalemannisch“ muss neu definiert werden, mit fließenden Übergängen im Süden und Südosten. Es wird nahegelegt, in Bezug auf spontansprachliche Daten das Konzept und die Bezeichnung „Bodenseealemannisch“ aufzugeben; adäquater ließe sich die anzutreffende Variation mittels der Großareale Schwäbisch, Hochalemannisch und Niederalemannisch fassen, die generell breite und heterogene Übergangsbereiche zeigen. Pickl (2013) und Pröll (2015) bieten detaillierte Analysen des alemannisch-bairischen Kontaktraums (basisdialektal), wie er durch den Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben (SBS) erfasst wurde. (Zentrale Ergebnisse des DFG-Projekts Neue Dialektometrie mit Methoden der stochastischen Bildanalyse, in dessen Rahmen die Arbeiten entstanden, sind in Pröll et al. (2015) zusammengestellt.) Unter Rückgriff auf raumstatistische Kennwerte für Komplexität, Kompaktheit und Homogenität von kombinierten Intensitätskarten zeigt Pickl (2013), dass sich im Wortschatz auffällige Groß- oder Kleinräumigkeit der Variantengebiete bestimmter semantischer Bereiche finden; ein Zusammenhang zwischen Gebrauchsfrequenz der Lexeme und der Größe ihrer Variantengebiete zeigt sich dagegen nicht. Pröll (2015) nutzt dieselben Kenngrößen, um das Verhältnis von Lexik, Phonologie und Morphologie im Ganzen zu untersuchen. Während Phonologie und Morphologie sich nicht signifikant unterscheiden, weichen die Lexikkarten raumstatistisch ab und sind in Bezug auf die „Eindeutigkeit“ ihrer Raumverteilung weniger spezifisch. Vermutlich ist dies zumindest teilweise durch die deutlich höhere Durchschnittszahl an Varianten pro Karte, die durch eine hohe Zahl an Mehrfachbelegen pro Ort entsteht, bedingt (vgl. Pröll 2015: 133−141). Mit einer Faktorenanalyse der Verteilungen von 12.341 lexikalischen Formen (Varianten von 735 SBS-Karten) zeigt Pickl (2013) neben dominanten größeren Dialekträumen wie Allgäuerisch, Nordostschwäbisch, Mittelbairisch etc. erstmals schwächere, nicht-dominante und in den Daten latent vorhandene Strukturen (wie etwa urbane Zentren, sozioökonomische Bezugsräume oder Exploratorenphänomene), die mit Verfahren, die auf eine Distanzmatrix aufbauen, nicht erfasst werden können (Abb. 30.3). Insbesondere stellt sich heraus, dass die früheren Einzugsgebiete der Marktorte einen nachweisbaren Effekt auf die Verbreitung sprachlicher Formen hatten. Außerdem zeigt sich ein Städte- oder Urbanitätseffekt, der umso mehr zum Tragen kommt, je größer die Bevölkerungszahl an einem Ort ist, und der mit standardnahen Formen assoziiert ist. Auch Exploratoreneffekte lassen sich identifizieren (ähnlich wie bei Mathussek 2014, s. u.) und quantitativ beziffern. Auch Pröll (2015) verwendet Faktorenanalysen von insgesamt 2.155 SBS-Karten, um die räumlichen Verhältnisse der verschiedenen linguistischen Ebenen zu vergleichen.
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Abb. 30.3: Fünf von 20 Faktoren der Wortgeographie des SBS (vgl. Pickl 2013: 257−261). Von links nach rechts: Allgäuerisch (11,5 %), Nordostschwäbisch (9,2 %), Mittelbairisch (4,5 %), Einzugsgebiet Marktort Memmingen (0,6 %), Urbanität (0,6 %). Die Prozentwerte repräsentieren den durch den jeweiligen Faktor erklärten Anteil an der Gesamtvariation
868 III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen
Abb. 30.4: Dominante Faktoren des SBS (Pröll 2015: 144, 208). Der insgesamt erklärte Anteil an der Gesamtvariation beträgt 59,9 %
Hierbei bestätigt sich, dass bei aller grundlegenden Ähnlichkeit der Raumstrukturen dennoch Spezifika (etwa feinere Untergliederungen sowie schärfere oder breitere Übergangsgebiete) einzelner Teilsysteme existieren. Die Strukturen der Gesamtvariation werden sowohl mittels ihrer dominanten Faktoren (wie in Abb. 30.4 kartiert) als auch ihrer
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latenten Variation erfasst (wie in Abb. 30.3 oben): Durch ersteres werden in Kontinuität zur traditionellen Dialektologie Varietätengebiete (hier als Bündel kookkurrierender Varianten konzeptionalisiert) ermittelt, mitsamt ihrer räumlichen Unschärfe und inneren Heterogenität. Durch letzteres wird auch die in anderen Verfahren bislang unterdrückte nicht-dominante Variation pro Ort sichtbar gemacht. In weiteren Darstellungsschritten erlaubt dies eine minuziöse Darstellung der Kombination arealer Faktoren (also eines individuellen „Varietätenprofils“) für jeden einzelnen Ort. Im Fall Bayerisch-Schwabens bestätigen sich die Annahmen über den scharfen Grenzbereich zwischen Ostalemannisch und Mittelbairisch, während die Übergangsgebiete innerhalb der Großmundarten breite Kontinua darstellen. Schwächere Faktoren stellen wiederum die Bedeutung einzelner historisch bedingter Kommunikationsräume sowie den Einfluss der Bevölkerungsdichte/ Urbanität heraus. Mathussek (2014) vergleicht traditionell-dialektgeographische mit wahrnehmungsdialektologischen und dialektometrischen Raumaufteilungen ihres mittelfränkischen Untersuchungsraums. Als Daten dafür dient ihr der Sprachatlas von Mittelfranken (SMF), aus dem sie 517 Items (jeweils nur Erstbelege) auswählt. Bei einer Clusteranalyse mittels GabMap (vgl. Nerbonne et al. 2011) zeigt sich bemerkenswerterweise, dass die resultierenden Cluster stark mit den Erhebungsgebieten einzelner Exploratoren zusammenhängen. Es stellt sich heraus, „dass sich in den Daten des SMF solche Mundarten insgesamt am ähnlichsten sind, die von einem Explorator erhoben wurden − (relativ) unabhängig davon, ob sich die Ortsmundarten tatsächlich auch sprachlich besonders ähnlich sind oder nicht“ (Mathussek 2014: 218). Die Ursache dafür wurde vor allem auf individuelle Unterschiede in der Verwendung von Diakritika in der Teuthonista zurückgeführt. Da dieses Ergebnis ein unerwünschtes Artefakt mit Ursprung in der Methode der Datenerhebung darstellt, das den Blick auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand, nämlich die räumliche Variation der Dialekte, verstellt, wurde die Analyse mit „vereinfachten“ Daten − d. h. unter Elimination der meisten Diakritika − wiederholt. Bei einer AchtCluster-Lösung verschwinden die meisten unmittelbar erkennbaren Exploratoreneffekte, einer der Cluster deckt sich aber nach wie vor mit einem Explorationsgebiet. Im Vergleich der dialektometrischen mit den traditionellen und den wahrnehmungsdialektologischen Raumdifferenzierungen stellt Mathussek fest, dass sich die Übereinstimmungen „als überraschend hoch“ (Mathussek 2014: 249) erwiesen, was für eine weitgehende Robustheit der Ergebnisse aus den drei Bereichen spricht. Für eine synoptische Gesamtdarstellung griff Mathussek aber trotzdem „meist auf die traditionellen Grenzen zurück, weil perzeptuelle Grenzen weit weniger fest und dialektometrische Grenzen teilweise aufgrund des Exploratoreneinflusses unsicher waren“ (Mathussek 2014: 250).
3.2. Länder- oder gesamtsprachgebietsweite Studien Geostatistische Auswertungen zum hoch- und höchstalemannischen Raum innerhalb der Schweiz liegen vor allem zum Material des Syntaktischen Atlas der Deutschen Schweiz (SADS, vgl. Glaser 2006) vor, der im Rahmen des Projekts SynMod: Modellierung morphosyntaktischer Raumbildung im Schweizerdeutschen am Universitären Forschungsschwerpunkt Sprache und Raum der Universität Zürich weiterverarbeitet wurde. Anhand dieser Daten prüfen Jeszenszky & Weibel (2014) das Fundamental Dialectological Pos-
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tulate einer Korrelation zwischen linguistischem und geographischem Abstand. Dabei zeigt sich, dass es regionale Unterschiede in der Korrelation zwischen linguistischem und geographischem Abstand gibt. Auf lokaler Ebene ist − was in Anbetracht der alpinen Topographie plausibel ist − die Reisezeit ein klar besserer Prädikator für linguistische Distanz zwischen zwei Orten, während euklidische Abstände dazu neigen, kleinräumige Dialektunterschiede zu unterschätzen. Durch Jeszenszky & Weibel (2015, 2016) werden darüber hinaus Methoden vorgestellt, mit denen sich der Übergangsbereich von Einzelvarianten messen und mittels trend surface analysis und Regressionsanalyse modellieren lässt, um beispielsweise besser zwischen scharfen Isoglossen und sanften Übergangszonen zwischen den Verbreitungsgebieten von Varianten unterscheiden zu können. Stoeckle (2016) ermittelt (für 57 Variablen des SADS) die lokale Autokorrelation (Hot-Spot-Analyse, Getis-Ord G*). Dabei zeigt sich, dass der Nordosten der deutschsprai chigen Schweiz in Bezug auf Variation relativ homogen ist, im Gegensatz zur Zentralschweiz und der Peripherie des Gebietes in den Kantonen Freiburg und Graubünden; ihr hoher Variationsgrad ist mutmaßlich auf ihren Status als transitorische sowie mit viel Sprachkontakt konfrontierte Gebiete zurückzuführen. Scherrer & Stoeckle (2016) kombinieren 68 SADS-Datensätze mit 282 digitalisierten Datensätzen (64 zur Lexik, 100 zur Phonologie, 118 zur Morphologie) des Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS), um Vergleiche zwischen linguistischen Ebenen durchführen zu können. Dazu werden die beiden Datenquellen auf ein gemeinsames Ortsnetz von 377 Orten vereint, pro Ort werden jeweils die für die Publikation der Atlanten ausgewählten Varianten genutzt, die Originalkarten werden teils in Arbeitskarten neu systematisiert. Abb. 30.5 zeigt die Ergebnisse von Clusteranalysen (Ward) aller vier Ebenen: Die geographischen Muster ähneln sich untereinander teils stark und bestätigen ältere Annahmen zur Ost-West- sowie Nord-Süd-Unterteilung der Deutschschweiz. Trotz dieser klaren Evidenz, dass syntaktische Variation keine grundsätzlich anders geartete areale Verbreitung hat, offenbaren sich dennoch Unterschiede im Raummuster zwischen Syntax einerseits und Lexik, Phonologie und Morphologie andererseits: Der Vergleich der Korrelationen der vier Ebenen untereinander bestätigt diesen Eindruck. Die Autoren legen nahe, dass dies sowohl mit Spezifika syntaktischer Variation an sich als auch der unterschiedlichen Herkunft beider Teildatensätze zu tun haben könnte (die Erhebungszeitpunkte weichen mehrere Jahrzehnte voneinander ab, der SDS wurde direkt, der SADS indirekt erhoben). Möller (2003) unterzieht die Daten von Jürgen Eichhoffs (1977−2000) Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (Bd. 1−4) einer dialektometrischen Auswertung und präsentiert für verschiedene Städte im deutschsprachigen Raum Ähnlichkeitsprofile, die einen Einblick in die sprachräumliche Gliederung der deutschen Umgangssprachen geben. Als Überblicksdarstellung zeigt er das Ergebnis einer Clusteranalyse, die synoptisch die Ergebnisse der beiden Clusteralgorithmen complete linkage und average linkage mit unterschiedlichen Clusterzahlen wiedergibt, indem in eine Karte Linien mit unterschiedlicher Strichstärke eingetragen werden, die angibt, „mit dem wievielten Zusammenfassungsschritt die entsprechende Trennung aufgehoben wird“ (Möller 2003: 287). Als markanteste Trennlinie ergibt sich hier die „Mainlinie“, deren Relevanz für die umgangssprachliche Lexik bereits Durrell (1989) herausgestellt hat, gefolgt von den Staatsgrenzen und einer − allerdings deutlich nach Süden verschobenen − Grenze zwischen dem hochdeutschen und dem niederdeutschen Raum. Im kleineren Maßstab ist hier u. a. bemerkenswert,
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Abb. 30.5: Hierarchische Clusteranalysen zur deutschschweizer Lexik (links oben), Phonologie (rechts oben), Morphologie (links unten) und Syntax (rechts unten), aus Scherrer & Stoeckle (2016: 108)
dass vor allem im Süden Bundeslandgrenzen zum Teil relevanter zu sein scheinen als die bekannten Mundartgebiete. Auch sonst gibt es teils größere, teils kleinere Abweichungen vom gewohnten dialektgeographischen Bild. Eher als mit der „traditionellen, phonologisch und morphologisch begründeten Dialektgliederung […] stimmt das Bild dieser [wortgeographisch-umgangssprachlichen] Karte dagegen mit der rezent(er)en politischen Gliederung überein, insbesondere mit den Staatsgrenzen im Süden, zum großen Teil mit der heutigen Länder-Einteilung und teilweise noch besser mit den Verhältnissen im 19. Jahrhundert bzw. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (Möller 2003: 290). Nerbonne (2009, 2010) untersucht die Daten des Phonetischen Atlas Deutschlands (PAD) mit dialektometrischen Methoden. Bei der Clusteranalyse ermittelt er zunächst neun räumlich zusammenhängende Gebiete, was als Hinweis auf die geographische Kohäsion („geographic cohesion“; Nerbonne 2010: 484) verstanden wird. In der Folge verwendet er einen Bootstrapping-Algorithmus, um die Ergebnisse zu stabilisieren („Stable Clustering“; Nerbonne 2010: 485). Die entsprechende Karte (aus Nerbonne et al. 2008) ergibt − abgesehen von der klaren Niederdeutsch-Hochdeutsch-Grenze − kein besonders klares Bild. Auch in einem MDS-Plot zeigt sich dieser Unterschied; interessanterweise tritt diese Grenze in einer entsprechenden MDS-Karte (Abb. 30.6, links) nicht klar sicht-
30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen
Abb. 30.6: MDS-Karten zu aggregierten Ausspracheunterschieden im PAD (Nerbonne 2010: Karte 2406)
bar hervor, was die Beschränkung dieses − mittlerweile recht populären − Visualisierungsverfahrens illustriert. Nerbonne (2010: 491) weist darauf hin, dass „MDS is very sensitive to scale“. Um dies zu demonstrieren, führt er das gleiche Verfahren mit nur einem nördlichen Ausschnitt des Untersuchungsgebiets durch und erhält eine Karte, die ungleich mehr Details sichtbar macht als derselbe Ausschnitt aus der Gesamtkarte (Abb. 30.6, rechts). Die Ergebnisse von MDS sind also deutlich davon abhängig, welches Gebiet man zugrunde legt. Lameli (2013; vgl. auch Art. 7 in diesem Band) verwendet historische Dialektdaten zu den heutigen Landkreisen der Bundesrepublik Deutschland, die aus Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs (vgl. https://regionalsprache.de/dsa.aspx) stammen, und unterzieht sie einer detaillierten dialektometrischen Auswertung. Er arbeitet extensiv geostatistisch, indem er den meisten seiner kartographischen Auswertungen eine Signifikanzprüfung auf räumliche Autokorrelation zur Seite stellt. Hierfür wählt er dieselben 66 Variablen aus Phonetik/Phonologie und Morphologie aus, die bereits Wrede (1937) zur Dialektklassifikation verwendet hat, um „eine direkte Vergleichbarkeit zu den bestehenden Arbeiten des Deutschen vorzunehmen, indem explizit dieselben Kriterien zur Definition des Sprachraums angesetzt werden, die auch schon im Zuge qualitativer Beschreibungen zum Zuge gekommen sind“ (Lameli 2013: 28). Dreh- und Angelpunkt der Analysen ist eine über den Paarvergleich von Landkreisen anhand von sprachlichen Merkmalen ermittelte Ähnlichkeitsmatrix („SIM-Daten“), die die Grundlage für die verschiedenen Auswertungen darstellt. Lameli untersucht also in erster Linie die sprachlichen Beziehungen unter den
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Landkreisen Deutschlands. Mit einer Karte „globaler Similarität“, in der pro Landkreis der durchschnittliche Similaritätswert zu allen anderen Landkreisen abgebildet ist, zeigt Lameli, dass vor allem im Nordwesten Deutschlands (unabhängig von dialektalen Großräumen) und im schwäbischen Raum Dialekte vorkommen, die allen anderen relativ unähnlich sind, während es z. B. im ostmitteldeutschen, bairischen und im rheinfränkischen Raum Dialekte gibt, die zu allen anderen besonders viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese durchschnittliche Ähnlichkeit interpretiert Lameli als „kommunikative Reichweite“ (Lameli 2013: 88), so dass ostmitteldeutschen Regionen und in geringerem Maß ostfränkischen, ostoberdeutschen und rheinfränkischen eine deutlich größere kommunikative Reichweite zukommt als z. B. ost- und westfälischen, mittelfränkischen, zentralhessischen oder schwäbischen. Auf Basis wiederholter Clusteranalysen mit jeweils leicht veränderten Daten, die er ähnlich wie Nerbonne (2010) einem stabilisierenden Bootstrapping unterzieht, gelangt er zu einem neuen Gliederungsvorschlag der Dialektlandschaft innerhalb Deutschlands („SIM-Modell“), das in einigen zentralen Punkten von bisherigen Einteilungen abweicht. So deuten die Ergebnisse der Clusteranalysen darauf hin, dass Mittel- und Niederfränkisch eine Einheit bilden, die auf taxonomisch höherer Ebene anzusiedeln ist als das Mitteldeutsche, sodass Lameli anstatt der üblichen Einteilung in Nieder- und Hochdeutsch (seinerseits bestehend aus Mittel- und Oberdeutsch) eine Dreiteilung in Niederdeutsch, „Westdeutsch“ und Hochdeutsch vorschlägt (vgl. auch Lameli, Art. 7 und Schmidt & Möller, Art. 16 in diesem Band). Letzteres zerfällt dabei weiter in Mittel- und Oberdeutsch, mit dem Unterschied, dass Westdeutsch weder Teil des Mitteldeutschen noch des Hochdeutschen ist. Die geostatistische Herangehensweise wird um sozio- und ökostatistische Aspekte erweitert, indem die dialektalen Daten nicht nur mit der jeweiligen geographischen Nachbarschaft, sondern auch mit Daten zu ökonomischen und sozialen Charakteristika wie Gehaltsstruktur und Konfessionalität, politischen Strukturen und vor allem zur rezenten Binnenmigration in Beziehung gesetzt werden. In einer multifaktoriellen Regressionsanalyse stellt sich heraus, dass die dialektalen Distanzen die aus den übrigen Faktoren herleitbaren Beziehungen zwischen Regionen so kondensiert abbilden, dass sie dazu geeignet sind, die Migration innerhalb Deutschlands zu einem großen Teil erklären zu können. Für sich allein genommen haben jedoch historische Verwaltungsgrenzen den größten Effekt. Trotzdem zeigt sich gerade aufgrund der zeitlichen Lücke zwischen Dialektdaten und Migrationsdaten, dass die dialektalen Raumverhältnisse eine Art kulturelles Gedächtnis abbilden, das historische Einflüsse bewahrt, die ihrerseits durch sie mittelbar bis heute nachwirken können. Weiterhin liegen erste Auswertungen mehrerer Erhebungsrunden des Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA, vgl. Elspaß & Kleiner, Art. 6 sowie Möller & Elspaß, Art. 25 in diesem Band) vor (vgl. Pickl & Pröll 2019). Hier stehen großregionalere Sprachformen im Vordergrund, der Schwerpunkt liegt − auch bedingt durch die indirekte Erhebung mittels Online-Fragebögen − auf lexikalischer Variation. Abb. 30.7 beinhaltet eine FA auf Basis der Erhebungsrunden 7 bis 10 (mit einem für die Auswertung reduzierten Belegnetz von 934 Orten). Die Ergebnisse (Abb. 30.7) zeigen eine klare Nord-SüdTeilung innerhalb des bundesdeutschen Raumes (vgl. wiederum „Mainlinie“) sowie eine ebenso klare Ausgliederung der Deutschschweiz. Hierbei wird insbesondere deutlich, um wie viel großräumiger die Variantenbündel alltagssprachlicher Variation in Relation zu der der Basisdialekte sind. Übergangszonen gestalten sich breiter, klare Kontinua werden sichtbar: So gehen die Faktoren für den bayerisch-österreichischen (Faktor 3,
30. Ergebnisse geostatistischer Analysen arealsprachlicher Variation im Deutschen
Abb. 30.7: FA von 245 AdA-Variablen an einem reduzierten Ortsnetz von 934 Orten mit Querschnitt von Schweinfurt nach Bozen
grün) und den süddeutschen Raum (Faktor 2, blau) über eine Strecke von annähernd 500 Kilometer fließend ineinander über (hier verdeutlicht mittels eines Querschnitts von Schweinfurt bis Bozen) und weisen vor allem in Bayern einen breiten Überlappungsbereich auf, innerhalb dessen sie fast gleich stark vertreten sind. Hinzu kommen schwächere, latente Faktoren u. a. für Bairisch innerhalb Bayerns (Faktor 7) und (Süd-)Tirol (Faktor 14). Der in Mittel- und Norddeutschland klar dominierende Faktor 1 zieht sich latent auch durch den Süden, mit stärkeren Ausschlägen in städtischen Regionen.
4. Synthese Zum momentanen Stand der linguistischen Geostatistik sind synoptische Darstellungen, in denen mehrere Einzelstudien zu einer Metadarstellung kombiniert werden, noch Zukunftsmusik: Die unterschiedlichen methodischen Zugänge sind zum einen von ihrem Interessensschwerpunkt unterschiedlich gelagert und zum anderen in ihrer Darstellungs-
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tiefe und der Form ihrer Ergebnisse zu divergent, um sinnvoll zu einem stimmigen Gesamtbild verwoben werden zu können. Diese bislang methodisch individuellen Verfahren zeigen dennoch klare gemeinsame Entwicklungslinien: So mehren sich etwa über das vergangene Jahrzehnt hinweg die Studien, die die Instabilität von aggregativen Verfahren überwinden und etwa durch Permutationsverfahren zu robusteren Ergebnissen gelangen (siehe oben, Abschnitt 2.2); das rasche Wachstum von Prozessorgeschwindigkeiten bedingt, dass auch große Korpora auf handelsüblichen Bürorechnern mit immer rechenintensiveren Verfahren analysiert werden können.
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Simon Pickl, Salzburg (Österreich) Simon Pröll, München (Deutschland)
31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online 1. Einleitung 2. Internetbasierte Dialektologie und Regionalsprachenforschung
3. Überblick: Plattformen und Anwendungen 4. Literatur
1. Einleitung Im Zuge der Digitalisierung des Arbeits- und Forschungsalltags wurde in den letzten Jahren eine Reihe von internetbasierten Plattformen und Anwendungen geschaffen, die den dialektologischen Forschungsprozess revolutionieren. Die Erhebung, Organisation, Analyse, Publikation und Rezeption von Sprachdaten und ihre wissenschaftliche Interpretation sind heute ohne elektronische Datenverarbeitung und das Kommunikationsnetzwerk Internet nicht mehr vorstellbar. Dieser Artikel gibt einen Überblick über aktuelle, internetbasierte Publikationen und Anwendungen der Dialektologie und Regionalsprachenforschung zum Deutschen und informiert über deren Inhalte und Möglichkeiten. Zunächst wird eine Systematik vorgestellt, mit der verschiedene Typen von Plattformen und Programmen hinsichtlich der Anwendungsmöglichkeiten unterschieden werden können. Diese werden im Anschluss anhand von ausgewählten Beispielen erläutert und diskutiert. Abschließend werden die https://doi.org/10.1515/9783110261295-031
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
momentan verfügbaren, internetbasierten Plattformen und Anwendungen in einer tabellarischen Übersicht zusammengefasst.
2. Internetbasierte Dialektologie und Regionalsprachenforschung Seit Anfang 2000 ist eine Zunahme von Internetseiten mit dialektologischen Daten und Anwendungen zu verzeichnen: Die Bearbeitung des Digitalen Wenker-Atlasses (DiWA) begann im Jahr 2001, zwei Jahre später starteten der Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) und der Digitale Verbund von Dialektwörterbüchern. Die Dialektologie ist − wie die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung insgesamt − im Zeitalter der Digital Humanities angekommen. Heute haben sich Internetplattformen zu einem zentralen Element der regionalsprachenbezogenen Forschung und Lehre entwickelt. Internetseiten werden genutzt, um Erhebungsdaten und Forschungsergebnisse für die Fachwelt und die interessierte Öffentlichkeit verfügbar zu machen − z. B. in Form von Sprachkarten, Sprachaufnahmen, Erhebungsformularen, Bibliographien oder Volltexten. Internetbasierte Publikationen von Forschungsergebnissen haben eine Reihe von Vorteilen: Sie unterliegen hinsichtlich Umfang und Farbdarstellung nicht denselben Restriktionen wie traditionelle Print-Publikationen und stellen somit eine kostengünstige Alternative dar. Gleichzeitig kann eine internetbasierte Publikation sukzessive um neue Inhalte und Funktionen ergänzt werden. Des Weiteren können neben Bildern auch Tonaufnahmen und Filme sowie Animationen in Publikationen eingebunden werden. Durch die Verknüpfungsmöglichkeit des Hypertextes lassen sich zudem unterschiedliche Datentypen zu einem multimedialen System zusammenführen: Texte, Bilder, Quellenverweise, bibliographische Angaben, Tonaufnahmen, linguistische Informationen, geographische Informationen, Erhebungsformulare, Metadaten zu linguistischen Daten (Korpus, Informant/in, Explorator/in) können miteinander verknüpft werden. Aus der Nutzerperspektive ist zudem vorteilhaft, dass diese Plattformen in der Regel kostenlos genutzt werden können und damit jedem Interessierten zur Verfügung stehen.
2.1. Typisierung der Plattformen und Anwendungen Internetbasierte Plattformen und Anwendungen bieten unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten. Dabei variiert der Grad der Interaktivität, d. h. der Grad an individualisierter Auswahl der zu rezipierenden Inhalte. Die Möglichkeiten reichen von der einfachen „Rezeption“ eines medial digitalisierten Inhalts (z. B. einer gescannten und online gestellten Sprachkarte) bis hin zur „Produktion“ von eigenen Inhalten: der Aufbereitung und Analyse von eigenen Daten (z. B. in Form einer online erstellten Sprachkarte). Es lassen sich vier Typen hinsichtlich der Möglichkeiten der Nutzer/innen unterscheiden: Internetseiten des ersten Typs ermöglichen die Rezeption der Inhalte, die von der Art der Präsentation strukturiert wird (Typ A Rezeption). Ein Beispiel stellt der internetbasierte Sprechende Sprachatlas von Bayern dar.
31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online
Abb. 31.1: Internetbasierte Forschungsplattformen
Plattformen, die die Inhalte annotieren, erlauben in der Regel Such- und Filteroptionen, mit denen eine Auswahl von Inhalten vorgenommen und die Rezeption der Inhalte selbst strukturiert werden kann (Typ B Selektion). Ein Beispiel dafür ist der Digitale Verbund von Dialektwörterbüchern des Wörterbuchnetzes. Darüber hinaus bieten einige Anwendungen die Möglichkeit, individuelle Analysen der systemeigenen, annotierten Inhalte anzufertigen. Die Such- und Filteroptionen erlauben eine spezialisierte und individualisierte Auswahl. Die zu rezipierenden Inhalte werden erstmalig und damit schöpferisch zusammengestellt und stellen bereits eine erste Analyse der systemeigenen Daten dar (Typ C Analyse). Ein Beispiel für diesen Typ ist die Anwendung SyHD-query des Atlasprojektes Syntax hessischer Dialekte (SyHD). Der vierte Typ erlaubt zudem die Verarbeitung und Analyse von eigenen Daten (Typ D Produktion), wie z. B. das REDE SprachGIS des Forschungsprojektes Regionalsprache.de (REDE). Hier können die Nutzer/innen selbsterhobene Daten und Auswertungen in das System einspeisen. Der Grad der Interaktivität ist bei Typ D entsprechend am höchsten. Während die Nutzer/innen bei Internetseiten des Typs A nur als Leser/innen bzw. Hörer/innen auftreten, werden sie zunehmend zu Autor/innen eigener Inhalte. Abb. 31.1 ordnet die Typen der internetbasierten Forschungsplattformen entlang des Kontinuums „geringer vs. hoher Grad der Interaktivität“ an. Von den beschriebenen Typen zu unterscheiden ist die Möglichkeit, das Internet als Kommunikationsmedium zur Erhebung von regionalsprachlichen Daten zu nutzen. Bei den internetbasierten Erhebungsinstrumenten unterscheiden wir drei Typen: Typ E1 Fragebogenversand und -download, Typ E2 onlinebasierte Fragebogenerhebung und Typ E3 interaktive Programme für mobile Endgeräte.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte E1 – Fragebogenversand und -download Fragebogen stehen als Datei online zum Download zur Verfügung und werden per Briefpost oder E-Mail-Anhang zurückgeschickt. z. B. Plattdüütsch hüüt
E2 – onlinebasierte Fragebogenerhebung Fragebogenformulare werden online aufgerufen und ausgefüllt.
E3 – interaktive Programme für mobile Endgeräte Die Eingabe, Bewertung und/oder Lokalisierung von Sprachdaten erfolgt über eine App.
z. B. Atlas zur deutschen Alltagssprache
z. B. Dialäkt Äpp, Lingscape
Abb. 31.2: Internetbasierte Erhebungsinstrumente
Für einige internetbasierte Erhebungsinstrumente dient das Internet als Kanal, um den Fragebogen für (potenzielle) Informant/innen verfügbar zu machen. Die Informant/innen laden den Fragebogen dann eigenständig herunter, füllen ihn analog aus und senden diesen ein. Mit diesem Verfahren arbeitet z. B. das Projekt Plattdüütsch hüüt (vgl. Elmentaler 2012). In anderen Projekten werden die Umfragen direkt online durchgeführt, so z. B. im Projekt Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) (siehe Möller & Elspaß, Art. 25 in diesem Band). Bei den Programmen für mobile Endgeräte handelt es sich um Apps für Smartphones oder Tablets. Über die Apps können die Nutzer/innen Sprachdaten bewerten, eigene Formen einsprechen oder auch Bilddateien mit einer Karte verknüpfen. Beispiele sind vor allem die Voice Äpp (vgl. Leemann et al. 2015b) und die App Lingscape (vgl. Purschke 2016). Im Folgenden werden die unterschiedlichen Typen der internetbasierten Forschungsplattformen und Erhebungsinstrumente anhand von Beispielen erörtert. Dabei gehen wir auch auf die konkreten Nutzungsvorgänge ein, um beispielhaft aufzuzeigen, wie die Organisation und Präsentation der Daten die jeweiligen Nutzungsabläufe und -möglichkeiten bedingen. Damit möchten wir auf die Vor- und Nachteile verschiedenartiger Konzeptionen hinweisen und somit Orientierung für künftige Projekte anbieten. Anwendungen, die im Internet als Download zur Verfügung stehen, jedoch lokal betrieben werden − wie z. B. die Anwendung GeoLing (siehe Pickl & Pröll, Art. 30 in diesem Band) − finden keine Berücksichtigung.
2.2. Internetbasierte Forschungsplattformen 2.2.1. Typ A − Rezeption Ein Beispiel für Internetseiten des Typs A ist der Sprechende Sprachatlas von Bayern. Das Internetangebot umfasst ca. 120 Karten aus dem Kleinen Bayerischen Sprachatlas (KBSA), die mit Sprachaufnahmen aus 70 Orten verknüpft wurden. Die Kartenauswahl erfolgt über ein Register, das die Karten nach sieben verschiedenartigen Gruppen wie z. B. „Mensch und Gesellschaft“, „Haus und Haushalt“, aber auch „Vokale“ oder „Verb“ anordnet. Die Kartenansicht kann in Bezug auf die Basiskarte variiert werden (z. B. Anzeige von Regierungsbezirken). Zudem ist die automatisierte Abspielfunktion „Sprachrouten“ integriert, mit der für einen Dialektraum nacheinander die verfügbaren
31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online
Sprachaufnahmen zur Karte abgespielt werden. Die Karten zeigen die Variantenverteilung in Form von Leitformenräumen und enthalten „Play-Symbole“, über die sich die entsprechenden Aufnahmen des Kartenlemmas abspielen lassen. Die Nutzer/innen können demnach über die Navigationsleiste eine Karte auswählen und sich dann per Klick „durch den Raum hören“. Durch die Internetpublikation werden hier Kartenbild und Sprachaufnahme multimodal zusammengeführt. Dies verschafft einen deutlichen Mehrwert im Vergleich zur Buchpublikation des KBSA. Das Internet dient hier in der Darbietung der Karten und der Verknüpfung mit den Sprachaufnahmen als ein multimodaler, medialer Publikationsort. Dabei sind Datenpräsentation und -auswahl statisch. Die Rechercheoptionen entsprechen denen von Buchpublikationen (Inhaltsverzeichnis, Sachregister); Auswahlfilter über linguistische Kategorien oder eine Freitextsuche sind nicht vorhanden. Die Rezeption wird durch die vorgegebene Präsentation der Inhalte strukturiert, wobei die Sprachaufnahmen in individueller Auswahl angehört werden können. Ähnlich funktionieren u. a. auch die Internetauftritte des Sprachatlas Salzburg und des Sprechenden Sprachatlas der Altmühl-Jura-Region, die ebenfalls einen kartenbasierten Zugriff auf Sprachaufnahmen ermöglichen. Der große Vorteil solcher Angebote zeigt sich in dem hürden- und kostenfreien Zugriff. Durch den einfach strukturierten Aufbau können analoge Rezeptionsweisen erfolgreich eingesetzt werden; auch linguistische Kenntnisse sind zur Nutzung nicht erforderlich. Dies macht den Sprechenden Sprachatlas von Bayern zu einem auch für linguistische Laien attraktiven Online-Angebot.
2.2.2. Typ B − Selektion Der Digitale Verbund von Dialektwörterbüchern ist Teil des Wörterbuchnetzes (vgl. Moulin & Hildenbrandt 2012). Im Zentrum steht die Digitalisierung, Vernetzung und Online-Publikation des Rheinischen Wörterbuchs, des Pfälzischen Wörterbuchs, des Wörterbuchs der deutsch-lothringischen Mundarten und des Wörterbuchs der elsässischen Mundarten. Diese als Buchpublikationen erschienenen Wörterbücher wurden retrodigitalisiert, d. h. die Wörterbucheinträge wurden manuell abgetippt und in die dem System zugrundeliegende Datenbank eingespeist, in der sie nun als Volltextdigitalisate zur Verfügung stehen. Darüber hinaus wurden die Einträge auch konzeptionell digitalisiert, indem umfangreiche Relationen zwischen den einzelnen Artikeleinträgen und weiteren Materialien erstellt wurden. Zum einen wurden die Wörterbucheinträge untereinander verlinkt, zum anderen wurden Verweise zu externen Angeboten eingefügt. Neben den Wörterbucheinträgen umfassen die digitalisierten Dialektwörterbücher auch Abbildungen und Karten, die jeweils mit den entsprechenden Einträgen verknüpft sind. Der Zugriff auf die Wörterbucheinträge erfolgt zunächst über die Suchmaske des Wörterbuchnetzes, in der über ein Freitextfeld zugleich in allen zur Verfügung stehenden Wörterbüchern (Dialektwörterbücher, historische und weitere Wörterbücher) gesucht werden kann oder aber die einzelnen Dialektwörterbücher direkt angewählt werden können. Dabei handelt es sich sowohl um eigene Angebote des Trier Center for Digital Humanities als auch um externe Wörterbücher und Quellen, auf die lemmabasiert verlinkt wird. Die Dialektwörterbücher werden über eine graphische Benutzeroberfläche bedient. Diese erlaubt zum einen den Zugriff auf Metadaten und -texte (bibliographische
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Angaben, Vorworte, Kommentare) und zum anderen auf die Wörterbucheinträge. Die Einträge sind über eine Stichwortsuche, eine Buchstabenleiste sowie über eine erweiterte Suchfunktion suchbar. Das Artikelfenster zeigt als Hauptfenster Wörterbuchartikel an. Ein weiteres Fenster informiert in mehreren Reitern über die Artikelgliederung und die Artikelvernetzung (im Wörterbuch eingetragene Verweise sowie automatisch erzeugte Rück- und Querverweise). Die Benutzeroberfläche ermöglicht das Blättern, Suchen und Springen sowohl innerhalb der Verbundwörterbücher, als auch zu externen Angeboten wie dem Südhessischen Wörterbuch. Die Such- und Navigationsmöglichkeiten sowie die Verlinkungsmarken erlauben eine dynamische und selbst strukturierte Rezeption. Online basierte, kostenfreie Wörterbücher sind aus Nutzerperspektive eine enorme Bereicherung. Sie sind ökonomisch in der Benutzung und stets verfügbar. Damit erfüllen sie die Anforderungen des sich im Wandel befindlichen Arbeits- und Studierverhaltens, bei dem feste Arbeitsorte und konventionelle Bibliotheksbestände in ihrer Bedeutung abnehmen. Der Digitale Verbund von Dialektwörterbüchern ist von 2003−2006 als DFG-Projekt entstanden und wurde dann im Trier Center for Digital Humanities verstetigt. Dies erlaubt eine kontinuierliche Wartung und den sukzessiven Ausbau. Die Weiterentwicklung der digitalen Lexikographie ist ein Ziel des neu gegründeten Zentrums für digitale Lexikographie der deutschen Sprache (ZDL), das ein digitales Informationssystem zum deutschen Wortschatz vorbereitet, welches sowohl regionale als auch historische Varietäten des Deutschen berücksichtigen wird. Bei der varietäten- und sprachenübergreifenden Lexikographie kommt immer auch die Frage nach den Basiseinheiten auf, über die eine Verknüpfung von Wörterbucheinträgen verschiedenartiger Lexika erfolgen soll. Interessante Vorschläge, wie eine einheitliche Strukturierung von Lexemen verschiedener Sprachen und Varietäten erarbeitet werden kann, macht die Anwendung VerbaAlpina, in der die Einträge nach unterschiedlichen Kriterien annotiert und ausgewählt werden können (u. a. „Konzept“, etymologischer „Basistyp“, „morpho-lexikalischer Typ“).
2.2.3. Typ C − Analyse Gedruckte Sprachkarten, aber auch im Internet als Bilddateien zur Verfügung stehende Sprachkarten haben den Nachteil, dass auf die kartierten Daten selbst nicht zugegriffen werden kann; so können u. a. auch keine statistischen Analysen durchgeführt werden (vgl. Kunst & Barbiers 2010: 401−402). Diese Eigenschaften sind vor allem für quantitative Fragestellungen nachteilig, weshalb im Kontext des Projekts Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten (SAND) auch eine dynamische, internetbasierte Datenbankanwendung entwickelt wurde: der Dynamische Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten (DynaSAND) (vgl. Kunst & Barbiers 2010). Damit kann direkt auf die umfangreich annotierten Erhebungsdaten des SAND zugegriffen werden. Mithilfe einer Suchund Filtermaske lässt sich ein Subset von Erhebungsdaten auswählen, kombinieren und typisieren. Über ein kartographisches Werkzeug können dann Karten dynamisch erstellt und individuell gestaltet werden. Damit stehen die Erhebungsdaten des SAND für die aktuellen und künftigen Forschungsinteressen der Nutzer/innen zur Verfügung. Für die deutsche Dialektologie hat das Projekt Syntax hessischer Dialekte (SyHD) dieses Prinzip übernommen und den Zugriff auf die Erhebungsdaten über die online-
31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online
basierten Anwendungen SyHD-maps, SyHD-stats und SyHD-query geöffnet (vgl. Fleischer, Lenz & Weiß 2015). Das Modul SyHD-maps ist ein dynamisches Präsentationssystem, in dem Karten zu den Erhebungsdaten nach vorausgewählten Parametern individuell visualisiert werden können. Gegenüber dem SyHD-atlas, in dem jeweils feste Visualisierungen der Erhebungsfragen als Bilddateien online publiziert und umfangreich kommentiert wurden, eröffnet SyHD-maps individuellere Gestaltungsmöglichkeiten der vorstrukturierten, systemeigenen Datensätze. Das Modul SyHD-stats ist ein dynamisches Auswertungssystem, das den Zugriff auf Erhebungsdaten in Form von Tabellen und Diagrammen ermöglicht. Die Auswertung der Erhebungsdaten erfolgt quantitativ, jedoch nicht raumbezogen. Die Daten lassen sich mithilfe verschiedener Diagrammtypen und Farbformate visualisieren. Zusätzlich ist die Anzeige und Ausgabe der Daten in Tabellenform möglich. Hierbei können auch anonymisierte Sozialdaten und die originalen Wortlaute der Informantenantworten angezeigt und exportiert werden. SyHD-query stellt schließlich als dynamisches Abfragesystem das interaktivste Modul der SyHD-Onlinepublikation dar. Hier ist es möglich, individuelle Auswertungsanfragen zu stellen, die dann mithilfe von SyHD-maps oder SyHD-stats visualisiert werden können. Diese Auswertungen werden in einem eigenen Benutzerkonto als „Profile“ angelegt und gespeichert. Für jedes Profil werden die Parameter der Auswertung, also die unterschiedlichen Kriterienkonstellationen festgelegt, nach denen schließlich die Kartierung oder die statistische Auswertung erfolgen soll. Zur Auswahl stehen zum einen die soziolinguistischen Eigenschaften der Informant/innen (u. a. aus den Kategorien Geschlecht, Alter, Beruf, eingeschätzte Dialektkompetenz) und zum anderen die Erhebungsphänomene und -methoden sowie die typisierten Antworten der Erhebungen. Die Auswahl erfolgt frei und individuell. Anschließend lassen sich die Ergebnisse der Suchanfrage über SyHD-maps oder SyHD-stats darstellen. SyHD-query erlaubt damit den Nutzer/innen, auf die gesamten Erhebungsdaten des Projekts zuzugreifen und diese für eigene Fragestellungen zu nutzen. Dadurch können sie individuelle und innovative Forschungsfragen entwickeln und Analysen durchführen (= Typ C). Die SyHD-Plattform stellt damit eine vollständige Publikation der Projektdaten dar und liefert darüber hinaus eine Oberfläche, die einen nutzerfreundlichen und individualisierten Zugriff auf diese Daten ermöglicht.
2.2.4. Typ D − Produktion Im Rahmen des Projekts Regionalsprache.de (REDE) ist das sprachgeografische Informationssystem REDE SprachGIS entstanden, das den Zugriff auf umfangreiche Datenbestände unterschiedlicher Medientypen kartenbasiert ermöglicht (vgl. Ganswindt, Kehrein & Lameli 2015: 427−430). Kernbestand des Systems sind die aus dem Projekt Digitaler Wenker-Atlas (DiWA) hervorgegangenen Digitalisate der Erhebungsformulare (ca. 50.000 „Wenkerbogen“) und der Sprachkarten des von Georg Wenker begründeten Sprachatlas des Deutschen Reichs sowie Sprachaufnahmen der Wenkersätze aus verschiedenen Korpora und die Georeferenzierte Online-Bibliographie zur Areallinguistik (GOBA) (zu DiWA siehe auch Rabanus, Kehrein & Lameli 2010; Lameli, Purschke & Rabanus 2015). Im Zuge des REDE-
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Projekts wurden diese Kernbestände kontinuierlich und umfangreich erweitert, so dass das REDE SprachGIS heute insgesamt über 8.500 Karten aus 29 Sprachatlanten, mehr als 6.000 Sprachaufnahmen der Wenkersätze und ca. 25.000 Literaturtitel umfasst. Die Sprachkarten stehen entweder als georeferenzierte Bilddateien (Rasterkarten) zur Verfügung oder werden dynamisch aus Datenbanken erstellt (Vektorkarten). Letzteres Verfahren wird z. B. bei der erstmaligen Publikation des Kleinen Niederländischen Sprachatlas (KNSA) und des Sprachatlas des Projekts Syntax des Alemannischen (SynAlm) verwendet. Neben Sprachkarten umfasst das REDE SprachGIS auch eine Reihe von interpretativen Karten (wie z. B. Dialekteinteilungen) und außersprachlichen Karten (z. B. historische oder politische Karten). Die Literaturtitel der GOBA werden kontinuierlich um aktuelle Publikationen ergänzt, diese werden verschlagwortet und georeferenziert. In das REDE SprachGIS wurde bereits eine Reihe von Daten integriert, die aus älteren, abgeschlossenen Projekten stammen. Die fortschreitende technische Entwicklung führt schnell dazu, dass Datenbestände nach Abschluss eines Projektes nicht mehr gewartet werden können und sich der Zugriff erschwert. Die Integration in das REDE SprachGIS ermöglicht dahingegen eine nachhaltigere Verfügbarkeit und zentrale Publikation. Der Zugriff auf die verschiedenartigen Inhalte des REDE SprachGIS erfolgt über die Kartenansicht: Hier können mithilfe des Kartensuche-Werkzeugs beliebig viele Karten als Ebenen übereinandergelegt und überblendet werden. Mithilfe des Recherchewerkzeugs lassen sich über verschiedene Suchstrategien (Umkreissuche, Suchworteingabe, Kategorienfilter etc.) alle weiteren Inhalte (u. a. Sprachaufnahmen, Literaturtitel, Wenkerbogen) ansteuern und in die Kartenansicht laden bzw. ansehen oder abspielen. Die zahlreichen Such- und Filteroptionen erlauben dabei eine Vielzahl von individualisierten Suchanfragen, vgl. die folgenden Beispiele für Recherchefragen: Tab. 31.1: Recherchebeispiele im REDE SprachGIS
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Beispiele für Recherchefragen
Werkzeugauswahl und Aktion
„Zeige mir alle Karten des Sprachatlas des Deutschen Reichs zu Lauten, die auf mhd. ô zurückgehen.“ „Zeige mir alle Wenkerbogen im 20 kmUmkreis des Ortes Marburg.“
Auswahl „mhd. ô“ im historischen Register des Kartensuche-Werkzeugs, Atlas-Auswahl
20 km-Radius-Umkreissuche in der Wenkerbogensuche des Recherche-Werkzeugs mit Klick auf den Ortspunkt „Marburg“ „Zeige mir alle Sprachaufnahmen der Sprachaufnahmensuche des Recherche-Werkzeugs, Situation Leseaussprache Nordwind & Sonne Auswahl von Korpus, Lemma und Situation in den für das Wort Sonne aus dem REDESuchoptionen Neuerhebungskorpus.“ „Zeige mir alle Dialektgrammatiken für das Literatursuche des Recherche-Werkzeugs, Auswahl Moselfränkische.“ „Moselfränkisch“ und „Grammatik“ im Schlagwortfilter
Die Treffer der Suchanfragen werden in Listenform angezeigt. Sie lassen sich anschließend ansteuern (Abspielen der Sprachaufnahmen, Ansicht der Wenkerbogen), filtern, in eine Karte laden oder in Tabellenformat exportieren. Neben dem kartenbasierten Zugriff stehen für die Recherche von Wenkerbogen, Sprachaufnahmen und GOBA-Titeln auch Kataloge mit entsprechenden Suchmasken zur Verfügung. Mit diesen komplexen Such-
31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online
Abb. 31.3: Unterschiedliche Visualisierungen von importierten Datensätzen im REDE SprachGIS (am Beispiel der Realisierung von nach Angabe auf den Wenkerbogen-Rückseiten für Baden und Württemberg; Datenauswertung durch Philipp Spang)
möglichkeiten bietet das REDE SprachGIS eine individualisierte Zusammenstellung und eigene Analyse der im System zur Verfügung stehenden Daten. Je nach der konkreten Nutzung steht das REDE SprachGIS sowohl für die einfache Rezeption von digitalisierten Sprachkarten als auch für die komplexe Selektion zur Verfügung, die eigene Analysen des präsentierten Inhalts erlaubt. Darüber hinaus kann es als Werkzeug genutzt werden, um eigene Karten zu erstellen. Dafür steht neben einem Importwerkzeug ein Visualisierungswerkzeug zur Verfügung, das neben verschiedenen Diagramm- und Symbolisierungstypen auch die Möglichkeit zur Datenaggregation bietet. Es lassen sich u. a. Kreis- und Säulendiagramm-Karten, Punkt-Symbol-Karten und Choroplethen-Karten erstellen (vgl. Abb. 31.3). Erweiterte Funktionen ermöglichen die Bearbeitung des importierten Datensatzes. Auf diese Weise erstellte Karten können im System gespeichert und veröffentlicht werden. Die Karten sind dann über die Kartensuche oder auch permanente URL-Links zugänglich. Die Kartenansichten lassen sich als Bilddateien exportieren. Neben dem Datenimport ist es auch möglich, über verschiedene Zeichenwerkzeuge eigene Kartenbilder zu zeichnen. Hierfür können Kartenelemente frei erstellt werden (Zeichenwerkzeug) oder systemeigene Kartenelemente (z. B. Orte, Flüsse, politische Räume, Dialekt- oder Erhebungsräume) in eine eigene Karte geladen und beliebig gestaltet sowie mit linguistischen Informationen versehen werden. Mithilfe des Werkzeugs Geometrische Operationen lassen sich Kartenelemente umfangreich bearbeiten (z. B. in Schablonen umwandeln, in ein Netz aus Planquadraten umwandeln). Die Gestaltung der Kartenelemente erfolgt über das Style Editor-Werkzeug, mit dem neben Symbol, Größe, Farbe und Deckkraft auch die Labels der Kartenelemente bearbeitet werden können. Kartenelemente einer Karte lassen sich als Ortsnetz speichern und als Tabelle exportieren. Somit können die Systemdaten für den eigenen Forschungsprozess kreativ genutzt werden und z. B. als Grundlage für eigene Erhebungen oder Auswertungen dienen. Die Kartierung ist nicht auf den deutschen Sprachraum begrenzt, sondern rund um den Globus möglich. Mit diesen Möglichkeiten ist das REDE SprachGIS zugleich ein Werkzeug für die Erhebung, Auswertung, Analyse und Publikation eigener Daten und stellt damit ein Bei-
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spiel für Typ D dar. Der Grad an Interaktivität ist hier am höchsten: Neben der individuellen Analayse von auf der Plattform zur Verfügung gestellten Inhalten können Nutzer/ innen auch eigene Daten ins System importieren. Die zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten zur Recherche und Kartenerstellung machen das REDE SprachGIS zu einem mächtigen, aber auch komplexen Werkzeug. Zahlreiche Hilfestellungen (Werkzeughilfen, Anleitungen, Schnelleinstiege, Workshops) erleichtern die Anwendung und unterstützen neue wie fortgeschrittene Nutzer/innen.
2.3. Internetbasierte Erhebungsinstrumente Zusätzlich zu den Rechercheplattformen und Analyseinstrumenten der Typen A−D sind in den letzten Jahren einige Online-Erhebungsinstrumente entstanden, die z. T. im Web, zum Teil über Smartphones Daten für verschiedene Forschungsprojekte sammeln. Diese Erhebungsinstrumente nutzen das Internet als Kommunikationsmedium zu den Teilnehmern. Das sogenannte Crowdsourcing bietet eine ganz neue Möglichkeit, große Datenmengen innerhalb sehr kurzer Zeit und mit relativ geringem Arbeitsaufwand zu erheben. Einige Online-Erhebungsinstrumente werden im Folgenden kurz vorgestellt. Hierbei wird unterschieden zwischen Anwendungen, die das Internet als Kanal nutzen (Typ E1), solchen, die darüber hinaus auch online publizieren (Typ E2) sowie interaktiven Programmen (Typ E3) (siehe Abb. 31.2).
2.3.1. Typ E1 − Fragebogenversand und Download Das Projekt Plattdüütsch hüüt (vgl. Elmentaler 2012) nutzt das Internet als Kanal, um potenziellen Gewährspersonen Materialien zur Verfügung zu stellen. In drei Fragerunden à 21 Aufgaben zu grammatischen Konstruktionen des Niederdeutschen wurden Daten von Plattsprecher/innen erhoben. Die Fragebogen wurden online als bearbeitbare pdfDateien bereitgestellt und konnten von den Gewährspersonen am PC ausgefüllt und per Briefpost zurückgeschickt werden. Diese Art der Datenerhebung ist aus Forscherperspektive in der Vorbereitung wenig zeit- und kostenintensiv; darüber hinaus können in relativ kurzer Zeit größere Datenmengen gesammelt werden. Allerdings müssen die Daten bei dieser Methode noch manuell in eine Datenbank überführt werden. Da bei diesem Projekt die wichtigste Gewährspersonengruppe die der über 60-Jährigen ist und in dieser Altersgruppe viele mit der Nutzung des Internets wenig vertraut sind, wurden zusätzlich zur online-Erhebung auf Wunsch auch gedruckte Fragebogen per Briefpost verschickt. So konnte gewährleistet werden, dass diese wichtige Altersgruppe im Projekt nicht fehlt und die über 60-Jährigen Gewährspersonen konnten den Fragebogen über ein vertrautes Medium bearbeiten. Der Sprachatlas soll in gedrucktem Format publiziert werden.
2.3.2. Typ E2 − Onlinebasierte Fragebogenerhebung Der Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) ist hinsichtlich der Organisation und Präsentation der Karten ein Beispiel für Typ A; hinsichtlich seiner Datenerhebung ist er
31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online
jedoch ebenso ein Beispiel für ein internetbasiertes Erhebungsinstrument (vgl. Möller & Elspaß 2015). Bisher sind per Online-Fragebogen Daten aus fast 500 Ortspunkten in Deutschland, Österreich, der deutschsprachigen Schweiz, Südtirol, Ostbelgien und Luxemburg erhoben worden. Es werden verschiedene Methoden zur Datenabfrage genutzt: u. a. Benennungsaufgaben (Bild oder Beschreibung), Antwortauswahl, Freitextantwort und Bewertungsaufgaben. Zum Teil ist bei der Beantwortung eine Mehrfachauswahl möglich. Die Erhebung per Onlinebefragung hat den großen Vorteil, dass sie wenig kostenintensiv ist und in kurzer Zeit sehr viele Daten liefern kann. Allerdings ist auch die Informantenstruktur durch diese Art der Erhebung beeinflusst: mit Internetumfragen werden i. d. R. nicht alle Altersgruppen erfasst, die Antworten sind vor allem für die Sprache der mittleren und jüngeren Generation repräsentativ (siehe auch Möller & Elspaß 2015: 522). Dieser Faktor muss bei der Datenauswertung ggf. berücksichtig werden. Für die Gewährspersonen ist das Ausfüllen der Fragebögen zugleich spannend und informativ. Darüber hinaus wird ihnen durch die Onlinepublikation der Ergebnisse die Möglichkeit gegeben, ihren eigenen Beitrag zur Regionalsprachenforschung nach Fertigstellung der Karten jederzeit anzuschauen und zu verfolgen.
2.3.3. Typ E3 − Interaktive Programme Es handelt sich hierbei um Applikationen, die für verschiedene Betriebssysteme (iOS, Android) auf dem Smartphone installiert werden können. Die Apps sind sowohl für Nutzer/innen als auch für die Anbieter gewinnbringend: die Nutzer/innen erhalten Informationen zu Dialekten und Regionalsprachen und haben gleichzeitig die Möglichkeit, das Forschungsvorhaben zu unterstützen. Die Anbieter profitieren zum einen von der großen Datenmenge, die ihnen zur Bearbeitung und Analyse zur Verfügung steht. Zum anderen werden Forschungsfragen und -ergebnisse im Sinne einer sich öffnenden Sprachwissenschaft an die interessierte Öffentlichkeit kommuniziert. Dies fördert den gesellschaftlichen Diskurs über regionales Sprechen und Mehrsprachigkeit und trägt zur Rechtfertigung der wissenschaftlichen Disziplin bei. Auch auf einen gewissen „Spaßfaktor“ für die Nutzer/innen wurde bei der Entwicklung der Apps geachtet. Sie haben unterschiedliche Funktionen, wie die Einordnung der Nutzerherkunft durch Teilnahme an einem Quiz, Erkennung der Dialektherkunft durch das Einsprechen von Tonbeispielen oder das Hochladen von Fotos zur Erforschung visueller Mehrsprachigkeit im Raum. Für den deutschsprachigen Raum sind derzeit folgende Apps auf dem Markt: Dialäkt Äpp; Voice Äpp; Grüezi, Moin, Servus; Deutschklang und Lingscape.
2.3.3.1. Dialäkt Äpp; Voice Äpp; Grüezi, Moin, Servus und Deutschklang Alle in diesem Kapitel vorgestellten Apps bauen auf dem gleichen Grundkonzept auf: Die Apps wurden zum einen entwickelt, um Sprachwandelprozesse untersuchen zu können, zum anderen, um Populationsdaten für die forensische Phonetik zu sammeln (vgl. Leemann et al. 2016).
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Die Dialäkt Äpp (Kolly & Leemann 2015) und die Voice Äpp (Leemann et al. 2015b) sind speziell für die deutschsprachige Schweiz entwickelt worden. In der Dialäkt Äpp wählen die Nutzer/innen für 16 Wörter ihre dialektalen Aussprachevarianten aus. Diese werden ihnen orthographisch und in der IPA-Lautschrift präsentiert. Die App ordnet die Nutzer/innen so dem wahrscheinlichsten Herkunftsort zu. Sie können ebenfalls ihre eigene Aussprache dieser Wörter aufnehmen. Die Aufnahmen werden dann in einer interaktiven Karte in der App vernetzt. Mit den Daten kann ein direkter Vergleich mit Karten aus dem Sprachatlas der Deutschen Schweiz (SDS) gezogen und somit Sprachwandel sichtbar gemacht werden. Voice Äpp ist eine Weiterentwicklung der Dialäkt Äpp (vgl. Kolly et al. 2014). Für die Verortung der Sprecherherkunft wählen die Nutzer/innen nicht aus orthographisch dargebotenen Möglichkeiten für die Aussprache der 16 Wörter, sondern sprechen sie selbst direkt ins Smartphone ein. Die App nutzt automatische Spracherkennung, um die Herkunft der Sprecher/innen einzuordnen. Die automatische Spracherkennung der Voice Äpp basiert unter anderem auf Daten, die mit der Dialäkt Äpp gewonnen werden konnten. Darüber hinaus ermittelt die App einige sprecherspezifische Parameter wie z. B. den Pitch. Aus diesen Parametern erstellt die App ein individuelles Stimmprofil für die Nutzer/innen. Dieses kann mit den Daten aller anderen Nutzer/innen verglichen werden, sodass sie einen Eindruck davon erhalten, wie ihre Sprechweise im Vergleich zu anderen Nutzer/innen ist (z. B. schneller als der Durchschnitt o. ä.). Zusätzlich bietet die App einen „Infotainment-Bereich“. Mit Hilfe der über die App ermittelten Daten können die verschiedenen Stimmparameter untersucht werden. Diese Daten sind eine wichtige Grundlage für die forensische Phonetik, da durch eine ausreichende Menge an Populationsdaten Aussagen darüber möglich sind, ob die Stimme eines Sprechers/einer Sprecherin im Vergleich zur restlichen Population eines Landes besonders auffällig ist, beispielsweise hinsichtlich der Grundfrequenz, der Sprechgeschwindigkeit oder des Rhythmus. Grüezi, Moin, Servus (Leemann et al. 2015a) und Deutschklang (Leemann 2016) sind Pendants zu Dialäkt Äpp und Voice Äpp, die den gesamten europäischen deutschsprachigen Raum abdecken. Die gewonnenen Daten von Grüezi, Moin, Servus (Stand November 2016: Daten von rund 800.000 Nutzer/innen) lassen einen Vergleich mit dem Wörterbuch der deutschen Umgangssprachen (WDU) zu und können somit − ebenso wie die Daten aus der Dialäkt Äpp − Sprachwandelprozesse aufzeigen. Deutschklang ist als bundesdeutsches Pendant zur Voice Äpp entstanden. Die Nutzer/innen können ihre Aussprache für zwölf vorgegebene Sätze aufnehmen. Hierfür sind sie aufgefordert, so zu sprechen, wie sie mit Freunden aus ihrem Herkunftsort entspannt sprechen würden. Die Aufnahmen werden dann in der interaktiven Karte verlinkt, in der sich alle Nutzer/innen „durch den Raum hören“ können. Die Daten sind ebenso wie die Daten aus der Voice Äpp für die forensische Phonetik von großer Wichtigkeit, um Populationskorpora zu erstellen. Die Daten der beschriebenen Apps werden zurzeit in einer Datenbank zusammengeführt, in der sie für weitere Forschungsvorhaben genutzt werden können. Über eine Nutzeroberfläche wird Nutzer/innen der Zugriff auf die App-Korpora (Audio- und Vorhersagekorpora) und die Metadaten (z. B. Geschlecht, Alter, Herkunft) ermöglicht, die dann für eigene Analysen zur Verfügung stehen.
31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online
2.3.3.2. Lingscape Die App Lingscape wurde im Rahmen des luxemburgischen Projekts zur Linguistic Landscape, das sich in erster Linie als ein citizen science-Projekt versteht, entwickelt und dient als Werkzeug, um zum einen auf die Diversität und Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum hinzuweisen und um zum anderen Daten zum öffentlichen Schreiben zu erheben (vgl. Purschke 2016, 2017). Zurzeit steht die Datensammlung im Vordergrund: Die Nutzer/innen laden in der App Fotos von Schildern, Graffitis, Stickern etc., die ihnen im öffentlichen Raum begegnen, hoch. Sie lokalisieren diese und fügen weitere Informationen (u. a. die benutzten Sprachen) und Kommentare hinzu. Alle Fotos werden in eine interaktive Karte gespeichert, in der sie für alle Nutzer/innen zur Verfügung stehen. In dieser Karte sind auch liveAnalysen des Materials möglich; weitere Analyse- und Kartierungsfunktionen sind in Vorbereitung. Lingscape umfasst außerdem eine „Projekt-Funktion“, in der Nutzer/innen eigene Forschungsprojekte in Lingscape realisieren können. Geplant ist darüber hinaus die Auswertung der Sprachdaten über Programme zur automatisierten optischen Zeichenerkennung, Sprachidentifizierung und inhaltlichen Auswertung sowie die Anwendung geostatistischer Verfahren. Dank einer Kooperation mit dem luxemburgischen Erziehungsministerium soll Lingscape auch als Lernwerkzeug in luxemburgischen Grundschulen eingesetzt werden, um Kinder für die kulturelle Diversität ihrer Lebenswelt zu sensibilisieren. Internetbasierte Erhebungsinstrumente bieten (nicht nur) in der Regionalsprachenforschung die Möglichkeit, große Datenmengen von sehr vielen Nutzer/innen schnell und effizient zu erheben. Durch das direkte Überführen der Daten in Datenbanken können sehr schnell Forschungsergebnisse erzielt und die Daten für weitere Forschungsvorhaben genutzt werden. Ein Problem, das sich aus dem Erheben von Daten via SmartphoneApps und Onlineumfragen ergibt, ist die Verzerrung, die sich durch die besondere Sozialstruktur der Nutzer/innen ergibt. Hauptsächlich betrifft das die Alters- und Bildungsverteilung. Die vorgestellten Smartphone-Apps werden überwiegend von jüngeren Nutzer/ innen zwischen 16 und 40 Jahren und von Menschen mit relativ hohen Bildungsabschlüssen genutzt. Dies bedeutet besonders für eine gleichmäßige Verteilung von Populationsdaten, dass diese (zumindest zurzeit) nicht gegeben ist.
2.4. Diskussion Die Digitalisierung der Forschungs- und Kommunikationsprozesse hält große Chancen für die moderne Dialektologie und Regionalsprachenforschung bereit. Die Vorteile und umfangreichen Möglichkeiten der Digital Humanities liegen auf der Hand: Forschende können kostenfrei und standortunabhängig auf zahlreiche Datenbestände und umfangreiche Materialien zugreifen und die verfügbaren Werkzeuge für eigene Zwecke nutzen. Die Internetseiten und Anwendungen stellen eine große Bereicherung dar und sollten entsprechend von der Scientific Community genutzt und gefördert werden. Um Synergieeffekte zu nutzen, sollten Kooperationen zwischen verschiedenen Projekten angestrebt und gestärkt werden.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Die „Digitale Dialektologie“ steht allerdings auch vor großen Herausforderungen. Das brisanteste Thema ist die Nachhaltigkeit der online angebotenen Inhalte. Plattformen müssen kontinuierlich gewartet und aktualisiert werden. Um einen dauerhaften Zugriff auf die Daten über eine Benutzeroberfläche zu gewährleisten, müssen die beteiligten Programme und Skripte stets in aktuellen Versionen betrieben werden. Findet eine Wartung der nötigen Software nicht mehr statt, werden die Daten unlesbar und gehen für die Scientific Community verloren. Daher ist eine langfristige Verstetigung von Plattformen z. B. als Innenhaus-Projekte von wissenschaftlichen Akademien, Zentren für Digital Humanities oder Hochschulrechenzentren in jedem Fall erstrebenswert. Bei der Vorstellung der verschiedenen Typen von onlinebasierten Angeboten ist bereits deutlich geworden, dass mit einem Mehr an Interaktivität und Funktionalität auch die Komplexität der Anwendungen steigt. Funktionalität und Benutzungsfreundlichkeit (usability) müssen in Balance sein, damit die Anwendungen und Plattformen überhaupt nutzbar sind und ihren Zweck erfüllen können. Diese Aspekte sollten bereits bei der Planung von neuen Projekten Berücksichtigung finden.
3. Überblick: Plattformen und Anwendungen Onlinebasierte Plattformen und Anwendungen Adresse (URL) (letzter Zugriff: 26.04.2019) Überregionale Angebote Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards (AADG)
Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA)
Datenbank für Gesprochenes Deutsch (DGD)
Deutschklang
Zugriff über App-Stores
Digitaler Wenker-Atlas
Digitales Familiennamenwörterbuch
Grüezi, Moin, Servus
Zugriff über App-Stores;
Lingscape
Zugriff über App-Stores;
Regionalsprache.de
Syntax hessischer Dialekte (SyHD)
Angebote zu niederdeutschen Varietäten Bochumer Korpus der gesprochenen Sprache im Ruhrgebiet
Das Brandenburg-Berlinische Spracharchiv (BBSA)
Plattdüütsch hüüt
31. Regionalsprachliche Forschungsergebnisse online Onlinebasierte Plattformen und Anwendungen Adresse (URL) (letzter Zugriff: 26.04.2019) Angebote zu mitteldeutschen Varietäten Digitaler Verbund von Dialektwörterbüchern (im Wörterbuchnetz)
Hessen-Nassauisches Wörterbuch (im Landesgeschichtlichen Informationssystem Hessen [LAGIS])
Infolux − Fuerschungsportal iwwert d’Lëtzebuergescht
Schnëssen-App – Är Sprooch fir d’Fuerschung!
Zugriff über App-Stores;
Siegerländer Sprachatlas
Südhessisches Wörterbuch (im Landesgeschichtlichen Informationssystem Hessen [LAGIS])
Angebote zu oberdeutschen Varietäten Bayerische Dialektdatenbank (BayDat)
Bayerisches Wörterbuch (BWB)
Deutsche Dialekte im Alpenraum
Dialäkt Äpp
Zugriff über App-Stores;
Dialektologisches Informationssystem von Bayerisch-Schwaben (DIBS)
Fränkisches Wörterbuch (WBF)
OöTon – Audiothek oberösterreichischer Dialekte
Schweizerisches Idiotikon
Sprachatlas Salzburg
Sprachatlas von Baden-Württemberg
Sprechender Sprachatlas der Altmühl-JuraRegion (Sprache im Fluss)
Sprechender Sprachatlas von BayerischSchwaben (mit angrenzendem Oberbayern)
Sprechender Sprachatlas von Bayern
Sprechender Sprachatlas von Niederbayern und Tiroler Dialektarchiv
VerbaAlpina
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte Onlinebasierte Plattformen und Anwendungen Adresse (URL) (letzter Zugriff: 26.04.2019) Voice Äpp
Zugriff über App-Stores
Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ): WBÖ-Online und Lexikographische Informationssystem Österreich (LIÖ)
Angebote zu deutschen Sprachinseln / Minderheitensprachen Audioatlas Siebenbürgisch-Sächsischer Dialekte (ASD) DoM – Deutsch im östlichen Mitteleuropa
Kleiner Dialektatlas von Ostbelgien und den angrenzenden Gebieten in Deutschland
Linguistic Atlas of Kansas German Dialects
padutch.net − A website dedicated to the documentation of the Pennsylvania Dutch language
Texas German Dialect Project
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32. Sprachraum, Gemeinschaft, Handeln
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Hanna Fischer, Marburg (Deutschland) Juliane Limper, Marburg (Deutschland)
32. Sprachraum, Gemeinschaft, Handeln 1. Einleitung 4. Empirische Annäherungen an den 2. Sprachgemeinschaft als Gemeinschaft gleich Handlungsbezug gerichteten Handelns 5. Schlussbemerkung 3. Die Dialektologie im sozio-kulturellen Diskurs 6. Literatur
1. Einleitung Die engeren Zusammenhänge von Sprache, hier Regionalsprache, Sprachgemeinschaft und Handeln sind noch immer eher unzureichend erforscht, obgleich sie seit den Anfangstagen der Dialektologie und erst recht seit Aufkommen der Soziolinguistik im Bewusstsein der Forschenden fest verankert sind. Während sich insbesondere seit den 1980er Jahren das Wissen über die Dialekte und dialektnahen Varietäten drastisch vermehrt hat, ist die Frage nach den kulturhistorischen und sozialen Bedingungen, in die regionalsprachliche Variation im Allgemeinen sowie die konkrete Gliederung des Sprachraums im Besonderen eingebettet sind, zunehmend in den Hintergrund getreten. Die Ergebnisse, auf die hier in den Facheinführungen zurückgegriffen wird, entspringen einer Forschungstradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und nach 1945 nur sporadisch in empirischen Studien substantiiert wurde. Mehrere Gründe können dafür verantwortlich gemacht werden, wie eine stark strukturalistische Prägung der Dialektologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder auf soziolinguistischem Feld die Abkehr von den teils ideologisch und politisch aufgeladenen und methodisch mitunter https://doi.org/10.1515/9783110261295-032
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verabsolutierten Interpretationen der kulturraumbezogenen Forschungsansätze während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus methodologischer Warte ist auf das Fehlen eines objektiv angelegten Analyseinstrumentariums hinzuweisen. Lange Zeit war es ein stark interpretativer Charakter, der die extralinguistische Methode, so ein frühes Etikett, prägte. Erkennbar deutlich hat sich in den vergangenen Jahren jedoch das Interesse an der Inbezugnahme von sprachlichen und nicht-sprachlichen Raummustern verstärkt, womit auch neue methodische Ansätze Einzug gehalten haben, um die früheren Arbeiten entweder zu reanalysieren oder mit neuen Fragestellungen neue Erkenntnisse über die lebensweltlichen Bedingungen der Sprecherinnen und Sprecher zu erzielen. Dieser Beitrag führt daher mit Schwerpunkt auf der deutschen Sprachlandschaft zunächst in frühe Arbeiten kurz ein, um ihnen jüngere Ansätze gegenüberzustellen. Das folgende Kapitel 2 ordnet vor diesem Hintergrund den Gegenstand in einen eher allgemein gehaltenen Diskussionsrahmen ein. Mit Kapitel 3 wird eine Einteilung der vorliegenden sozio-kulturellen Arbeiten in zwei Phasen vorgenommen. Ausgangspunkt ist die traditionelle Fokussierung auf den Sprachraum als primäre Bezugsgröße des wissenschaftlichen Diskurses (Phase 1), der sich zur Gegenwart hin auf die Sprachgemeinschaft als eigentlichem Diskursgegenstand neu ausrichtet (Phase 2). Auf dieser Neuausrichtung aufbauend bietet Kapitel 4 einen vertiefenden Einblick in jüngere Arbeiten zum Zusammenhang von sprachlicher Variation und außersprachlichen, hier politischen und ökonomischen Handlungsaspekten, womit eine verstärkt integrative Sicht auf die Einbettung regionaler Varietäten in die historisch gewachsene soziale Lebenswelt der Menschen möglich wird. Hier deutet sich in besonderem Maße ein erweitertes Erkenntnisinteresse an, das nicht nur linguistisch, sondern vor allem soziologisch anzusetzen ist. Ziel des Beitrages ist es vor diesem Hintergrund, die Einbettung der Sprachräume in ein Gesamt historischer und rezenter gesellschaftlicher Bedingungen und Handlungen wenigstens ein Stück weit zu konkretisieren.
2. Sprachgemeinschaft als Gemeinschaft gleich gerichteten Handelns In seiner Theorie des sozialen Handelns definiert Luckmann (1992: 4) das menschliche Handeln als eigentlich konstitutiven Faktor der Gesellschaft: „Handeln […] ‚macht‘ Gesellschaft.“ Definitionen sozialer Gruppen greifen vor diesem Hintergrund immer auf Gemeinschaften solcher Individuen zurück, die sich durch ein gemeinsames, d. h. hier gleichgerichtetes Handeln auszeichnen. Das gilt konsequenterweise auch für Sprachgemeinschaften, worauf z. B. schon Bloomfield (1933: 42) hingewiesen hat: „A speech community is a group of people which interact by means of speech“. Für Bloomfield stellt die Sprachgemeinschaft, da sie auf der für ihn maßgeblichen höheren kognitiven Fähigkeit des Menschen basiert (dem Sprechen), sogar den wichtigsten Typ aller sozialen Gemeinschaften dar, der zudem Parallelen zu beispielsweise ökonomisch, politisch oder kulturell definierbaren Gruppen aufweist (vgl. Bloomfield 1933). Während über den ersten Punkt diskutiert werden kann (zur Problematisierung des Begriffs vgl. Raith 2004), besteht an dem zweiten Punkt, der Koinzidenz sprachlicher und nicht-sprachlicher Handlungsoptionen, kaum Zweifel. Hierzu hebt Coseriu (1974: 53) etwas allgemeiner hervor, dass „das Systematische [i. e. das auf das Sprachsystem Bezogene; A. L.], das
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Kulturelle, das Soziale und das Geschichtliche zusammenfallen“. Was aber die konkreten Reichweiten dieser Kategorien, d. h. „die Grenzen der verschiedenen systematischen, kulturellen, sozialen und geschichtlichen Strukturen“ (Coseriu 1974: 53; Hervorhebung im Original) anbelangt, so ist ihre Koinzidenz keine notwendige Bedingung sozialer Gemeinschaften. Es ist also eher mit einer relationalen und weniger mit einer absoluten Beziehung zu rechnen, eher mit Vagheit und Offenheit von Grenzbereichen anstatt der Konkretheit von Grenzlinien. Anhand der kulturorientierten Arbeiten der Dialektologie kann man sich solche historisch gewachsenen Beziehungen leicht vor Augen führen, so etwa bei Maurer (1942: Kt. 48), der ausgewählte Dialektvarianten des badisch-schwäbischen Kontaktraums mit den historischen Territorien in dieser Region in engere Verbindung bringt. Während im westlichen Teil seiner Karte ein beinahe vollständiger Zusammenfall der Isoglossen mit dem Territorium Alt-Württemberg festzustellen ist, lässt sich Vergleichbares im Osten nicht nachvollziehen. Es liegt also im Sinne Coserius eine partielle Koinzidenz der sprachlichen und geschichtlichen Strukturen vor. Zudem lässt sich die Konsolidierung von Räumen durch ähnlich ausgerichtetes Handeln in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen feststellen. Wie in anderen Regionen auch, so fallen die Territorialgrenzen im süddeutschen Raum des frühen 20. Jahrhunderts oftmals mit Konfessionsgrenzen zusammen (cuius regio, eius religio), Konfessionsgrenzen bilden häufig Heiratsgrenzen usw. Es ist, um es moderner zu fassen, „through the practice of routines, over time and on a mass scale, at the level of the both individual and institutions, that ‚places‘ and ‚regions‘ emerge“ (Britain 2010: 79). Wie angedeutet betreffen diese Routinen immer nur einen Teil des kulturell bedingten oder Identität stiftenden Handlungsspektrums, so dass eine absolute Gleichsetzung von Sprache und allen übrigen sozialen Handlungsoptionen zum Scheitern verurteilt ist. Dennoch bildet Sprache, hier Dialekt, einen wesentlichen Aspekt der kulturellen Identität (vgl. jüngst Scharioth 2015). Chambers & Trudgill (1998: 100) setzen diesen Zusammenhang schon auf der Ebene des einzelnen sprachlichen Zeichens an, indem sie aus dialektologischer Sicht die Grenze dialektaler Variantenverteilungen als Indikator einer spezifischen lokalen Kulturausprägung definieren, die auch ein gewisses Gemeinschaftsempfinden stärkt: „In a broad sense, isoglosses may be thought of as one aspect of the local culture of the region which they delimit, in so far as a distinctive regional speech contributes to a sense of community“. Es bedarf folglich des Placemakings, des konstruktivistischen Schritts hin zu einem gemeinsamen geographischen Referenzbereich, in dem sich die Individuen als Angehörige der Kultur- bzw. Sprachgemeinschaft einordnen können und auch tatsächlich einordnen, wie z. B. die jüngeren perzeptionslinguistischen Arbeiten teils sehr klare places und regions in der Konzeptualisierung des Sprachraums durch linguistische Laien aufzeigen (vgl. z. B. Stöckle 2014). Dabei kann es sich durchaus um solche Referenzpunkte wie z. B. die ehemalige innerdeutsche Staatsgrenze handeln, die in der BRD des 21. Jahrhunderts im Normalfall gar nicht sichtbar ist, aber konzeptuell noch immer nachwirkt (vgl. Auer 2004; Palliwoda i. Dr.). Häufig handelt es sich bei den places und regions aber auch um materiell fassbare Komplexe, z. B. Siedlungen, denen dann als Städten eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird. Werlen (2008: 279) stellt diesbezüglich aus der Sicht des Sozialgeographen heraus: „Physisch-materielle Gegebenheiten weisen […] keine Wirkkraft für subjektive und sozialkulturelle Gegebenheiten auf. Subjektive und sozial-kulturelle Bedeutungen werden materiellen Dingen auferlegt, ohne dass sie zu Bestandteilen der Materie werden. Räumliche
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Gegebenheiten können folglich lediglich als Medien der Orientierung alltäglichen Handelns verstanden werden.“ Das hat zur Konsequenz, dass die traditionelle Sicht auf Sprache im Raum eine Simplifizierung darstellt, die Gefahr läuft, den Sprecher und die Sprechergruppen als handelnde Menschen zu vernachlässigen. Auer (2013: 5) erkennt hierin ein veritables Problem und fordert daher empirische Studien und Theoriebildungen „that bring back the speaker as a major factor in geolinguistic variation“. Auer bewegt sich damit im Umfeld der jüngeren Soziolinguistik amerikanischer Prägung, die mit Eckert (2012) eine dritte Welle der Variationslinguistik ansetzt. Sprachliche Homogenität am Ort, wie sie in der Dialektologie aus methodologischen Gründen vielfach konstruiert wurde, weicht hier einem Konzept dynamischer Heterogenität, bei dem die Sprachteilhaber einzelnen Sprachvarianten je nach Sprachsituation unterschiedliche soziale Bedeutungen beimessen. Auf diese Weise bilden sich für einzelne sprachliche Zeichen indexikalische Felder aus (vgl. Eckert 2008), die je nach situativer Erfordernis funktional bestimmten und ideologisch teils unterschiedlich ausgerichteten Ordnungsmechanismen folgen („indexical order“, vgl. Silverstein 2003). Sprachliche Variation konstituiert aus dieser Warte „a social semiotic system capable of expressing the full range of a community’s social concerns. And as these concerns continually change, variables cannot be consensual markers of fixed meanings; on the contrary, their central property must be indexical mutability.“ (Eckert 2012: 94). Während z. B. die Soziolinguistik unter Prägung der frühen Labov’schen Arbeiten Sprache im sozialen Kontext einordnet und damit eine kategoriale Passung oder statische Bedingtheit impliziert, setzen jüngere Arbeiten die Handlungsoptionen der Menschen zentral, was zu einer stärker dynamisch angelegten Konzeption führt. Für den deutschsprachigen Raum hat z. B. Glauninger (2012) in Erweiterung von Peirce mit dem Konzept der Metasoziosemiose die Komplexität solcher Vorgänge auf der Objekt- und Metaebene beschrieben. Damit sind verschiedene, oben bereits angesprochene Grundpositionen in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Die Herausforderung besteht für die Sprachgeographie zukünftig darin, diese i. d. R. lokal operierenden semiotischen Ansätze mit den sprachlichen wie nicht-sprachlichen Kommunikationspraktiken auf regionaler Ebene, d. h. bezogen auf sprachgeographisch definierbare soziale Gruppen, in Einklang zu bringen und damit „das Räumliche […] als Dimension des Handelns“ (Werlen 2008: 279) zu entschlüsseln. Welche Implikationen sich daraus ergeben können, hat Lameli (2015) am Beispiel eines salienten Einzelphänomens, dem sog. Lambdazismus im mitteldeutschen Raum, durchgespielt. Eine aus solchen Ansätzen resultierende Theoriebildung zum Zusammenwirken von Sprachräumen, Gemeinschaft und Handeln ist gesamtlinguistisch anzulegen. Im Sinne Eckerts (2012: 97−98) hat sie „speakers not as passive and stable carriers of dialect, but as stylistic agents“ zu behandeln. Dabei wäre auch die Frage der sozialen und kulturellen Selbstverortung zu diskutieren. Hierin liegt eine wesentliche Quelle des individuellen Handlungsentwurfs (vgl. Schütz & Luckmann [1979] 1984), der dann zu einem spezifischen Resultat (Handeln) führt. Wenn auch Ansätze mit teils unterschiedlichen und teils sehr speziellen Schwerpunkten verfügbar sind, ältere (z. B. Simmel [1903] 1983) wie jüngere (z. B. Purschke 2018), so liegt eine ausgefertigte umfassende Theorie bislang nicht vor. Für den Moment ist daher schon viel gewonnen, wenn man sich im Folgenden einige der wichtigsten vorliegenden empirischen Erträge vor Augen führt.
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3. Die Dialektologie im sozio-kulturellen Diskurs 3.1. Grundlinien im 19. und 20. Jahrhundert: Primat des Sprachraums Ein Bewusstsein für die soziale Differenziertheit der Dialekte ist so alt wie die Dialektologie selbst. Bekanntermaßen berichtet schon Schmeller in seiner Darstellung der bairischen Dialekte „von der gemeinen l ä n d l i c h e n Aussprache“, „von jener der Bürgerclasse in S t ä d t e n “ und „von der Aussprache der G e b i l d e t e r n “ (Schmeller 1821: 21; Sperrung im Original). Dieser synchronen Beschreibung steht die Frage nach der diachronen Entwicklung der Dialekte zur Seite, womit der Fokus von der sozialen auf die kulturelle Dimension verschoben wird. Hier ist über weite Strecken des 19. Jahrhunderts eine sich in den Dialekten äußernde historische Kontinuität der germanischen Stämme geradezu dogmatisch prominent. In dem Moment aber, in dem größere Datensammlungen in den Blick geraten, stellt sich eine neue Sichtweise ein. In seiner schwäbischen Erhebung gelangt z. B. Fischer (1895: 84−85) zur Auffassung, dass in bestimmten Regionen die Grenzen der alten Herzogtümer, der Bistümer sowie die Grenzen der Konfessionen mit den Sprachgrenzen zusammenfallen. Insbesondere die alten politischen Grenzen äußern sich als wichtige Sprachscheiden, „weil der Verkehr über die Grenze zu gering war, um dem jenseits gegebenen Vorbild einen Einfluss auf die andere Seite zu gestatten“ (Fischer 1895: 84). Die Festigkeit der Regionen kann für Fischer (1895: 87) „nur von der verkehrshemmenden Wirkung solcher politischen Grenzen herrühren“. Auch für Haag (1900: 140−141) stellt sich im Westoberdeutschen die Erkenntnis ein, dass „[f]ast sämtliche Sprachgrenzen […] mit politischen Verkehrsschranken, alten und neuen, zusammen[fallen]“, die Territorien also sprachraumbildend wirken und auf eine einigermaßen gesicherte Stabilität von bis zu 300 Jahren zurückblicken. Ähnliches erkennt Wenker ([1889−1890] 2013), der darüber hinaus im kulturgeschichtlichen Sinn schließlich die Forderung nach einer „erklärenden Dialekt-W i s s e n s c h a f t “ erhebt (Wenker [1895] 2013: 955; Sperrung im Original). Wrede ist es schließlich, der wie Wenker auf der Grundlage der Daten zum Sprachatlas des Deutschen Reichs (Wenker 1888/1889−1923) eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung der Dialektologie formuliert, die er argumentativ auf das von ihm so benannte „soziallinguistische Moment“ zurückführt: „Es [i. e. das soziallinguistische Moment; A. L.] umfaßt alle die sprachlichen Erscheinungen und Wandlungen, bei deren Erklärung das Individuum im Stich läßt, wo vielmehr allein das Aufeinanderwirken vieler Individuen in Betracht kommt, wo mannigfache Kultureinflüsse und alle möglichen Verkehrsakte, wo vor allem Bevölkerungsmischungen zu Grunde liegen.“ (Wrede [1903] 1963: 310−311). Aus diesem, im Kern die junggrammatische, d. h. naturwissenschaftlich orientierte Haltung kontrastierenden Ansatz entwickelt sich in der deutschen Dialektologie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein breit angelegter und äußerst produktiver Forschungsschwerpunkt (vgl. z. B. die Bände der Buchreihe Deutsche Dialektgeographie [DDG]. In anderen Philologien wurden z. T. konträre Ansichten vertreten und andere Wege eingeschlagen, worauf hier nicht eingegangen werden kann). Unter den Bezeichnungen der extralinguistischen Methode, der Kulturraumforschung oder der Kulturmorphologie haben die entsprechenden Studien Eingang in die Fachbücher gefunden. Einen wesentlichen Schub erhalten die jeweiligen Forschungsansätze durch die häufig interdisziplinär angelegten Arbeiten von Frings (vgl. v. a. Aubin, Frings & Müller 1926). Die Grundidee dahinter ist, Geschichte, im Eigentlichen Regionalgeschichte, als Erklärungs-
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mittel von Variation, Wandel und Stabilität der regionalen Varietäten nutzbar zu machen. Faktoren der Sprachveränderung sind vor diesem Hintergrund außersprachlich angesetzt, sei es im Kontakt von Germanen und Römern in der Rheingegend oder den sprachlichen Mischungen mittelalterlicher Siedlerströme im Osten Deutschlands. Sprachliche Stabilität, konzeptuell an den Begriff der Sprachgrenze angelegt, wird vor allem mit der territorialen Gliederung in Verbindung gesehen, die neben den schon angesprochenen Verkehrsbedingungen eigene Verwaltungsstrukturen, Rechtsausformungen und anderes mehr bedingt. Insgesamt ist die Argumentationsbasis auf der Makroebene gelagert, wobei Sprachgemeinschaft nicht nur sekundär in konkreten Handlungszusammenhängen begriffen ist (z. B. Heirat), sondern primär, beinahe positivistisch, als Äußerung außersprachlicher Effekte und Prozesse der Sprachgeschichte. Die Menschen existieren so gesehen in den ihnen vorgegebenen Grenzen, unter denen Sprachgrenzen eine von mehreren Äußerungsformen menschlichen Daseins darstellen. Eine Zusammenschau der entsprechenden Leistungen liefert Bach in seiner Deutschen Mundartforschung. Bach (1950: 62−63) ist es auch, der vor diesem Hintergrund sogar eine Gleichsetzung des von Haag (1900) eingeführten Begriffs der sprachlichen Kernlandschaft mit dem Begriff der Kulturlandschaft vollzieht, wobei hier neben den administrativen Belangen vor allem auch an Brauchtum und Sagenstoff, aber auch an Handwerkstechniken oder Kleidung gedacht ist. Zwar wurde es versäumt, eine eigenständige Theorie der Zusammenführung von Sprachentwicklung im sozio-kulturellen Gefüge vorzulegen, wie weit jedoch die Sichtweise gedieh, zeigt sich an Bachs (1950: 63) weitgehend unberücksichtigt gebliebener konstruktivistischer Auseinandersetzung mit dem Raumbegriff: Die ‚Räume‘, von denen hier die Rede ist, sind […] unmittelbar n i c h t a l s R ä u m e i m g e o g r a p h i s c h e n S i n n e aufzufassen; es sind eigentl. im Raum und durch ihn aufgegliederte Menschengruppen mit ihren einheitlich gestalteten oder gestaffelten Sprechhandlungen, Begriffen und anderen Gemeinschaftsgütern (Baugedanken, Kleidersitten usw.). Die ‚Räume‘ der Sprach- und weiterhin der Kulturgeographie sind also nicht in der Natur vorhanden […], sondern haften vielmehr nur am Menschen und seiner geistigen Welt; es sind soziologische, nicht geographische Gebilde. (Sperrung im Original)
Bach trifft hier bereits den Ton einer modernen Sozialgeographie. Gleichgerichtete Handlungen der Menschen in den Regionen basieren so gesehen auf ggf. tradierten Abstraktionsprozessen. Bach identifiziert damit nicht nur die Relevanz mentaler Repräsentationen sprachlicher und außersprachlicher Sachverhalte, die auf die Sprachebenen wie auch die Äußerungsformen der übrigen sozialen und kulturellen Praktiken rückwirken. Vielmehr überwindet er zugleich die lange für vorrangig ausschlaggebend gehaltene Abhängigkeit der Sprachgrenzen von den Verkehrsräumen, indem er ‚Verkehr‘ „sozialpsychologisch“ umwertet (Bach 1950: 65) und an die Erfahrungen und Bewertungen der Sprachteilhaber anbindet. In der Folge bleibt diese Definition jedoch ohne stärkeren Widerhall. Ganz im Gegenteil liest sich Bachs Feststellung aus aktueller Warte wie die Schlussbemerkung des kulturorientierten Ansatzes, der in der Folge zunehmend an Bedeutung verliert. Denn insgesamt konnte das Vorgehen, Sprache auf die kulturellen Praktiken der Menschen zu beziehen, aufgrund der nur eingeschränkten Deckung der Phänomene nur so lange erfolgreich sein, bis es in eine atomistische Vergleichsroutine mündete. Dieser Punkt war erreicht, als mit dem − gerade auch von sprachwissenschaftlicher Seite angeregten und geförderten − Atlas der Deutschen Volkskunde (ADV) ein umfangreicher Bezug der
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sprachlichen und nicht-sprachlichen Phänomene ermöglicht und also die Gleichgerichtetheit der Praktiken belegt werden sollte. Als der ADV Ende der 1930er Jahre erscheint, stellt sich in der Folge angesichts der ausbleibenden Koinzidenzen jedoch Ernüchterung, ja Enttäuschung ein (vgl. Cox & Zender 1998: 169). Erleichtert hat die anschließende Vernachlässigung dieses Forschungszweigs dann auch, dass die einschlägigen Arbeiten über die engeren Fachgrenzen hinaus in ihrer letzten Phase zwischen den 1920er und 1950er Jahren in einer nationalistischen Diskussion instrumentalisiert wurden (vgl. Knobloch 2010), so dass dann womöglich auch unter dem Eindruck einer Abwertung des Kulturgedankens nach 1968 andere, nämlich vorrangig sprachsystemische Schwerpunkte umso leichter gesetzt werden konnten. Aus eher methodologischer Warte fällt zudem das Fehlen eines klaren Analysesettings ins Gewicht, weswegen von strukturalistischer Seite aus die Umwertung des Explanationsanspruchs (z. B. Mitzka 1952: 169) zur eher deskriptiv motivierten Begründung von Variantenreichweiten (z. B. Goossens 1969: 18) leicht gelingen konnte. Heute weiß man jedoch, dass die frühen Ansätze durchaus einen wichtigen Kern getroffen haben. So unternimmt Pickl (2013) in seiner dialektometrischen Arbeit zu BayerischSchwaben auf lexikalischer Ebene eine statistische Prüfung prominenter sprachräumlicher Bedingungsfaktoren und bestätigt dabei im Wesentlichen die in der traditionellen Dialektologie gefundenen Ergebnisse: Flüsse sind nur ausnahmsweise sprachraumabbildend, wie z. B. im Fall des Lechs; politische Grenzen erweisen sich dort signifikant als sprachraumabbildend, wo sie mit alten Territorialgrenzen zusammenfallen, z. B. an der Grenze zum Regierungsbezirk Mittelfranken, der partiell mit dem Herzogtum Pfalz-Neuburg und der Grafschaft Oettingen koinzidiert. Damit ist immerhin für ein prominentes Teilgebiet des deutschen Sprachraums der statistische Nachweis erbracht, dass die um 1900 formulierten Grundannahmen der territorialen Abhängigkeit durchaus zutreffen. Das Ergebnis ist insofern wichtig, weil es nicht, wie in früheren Arbeiten, auf der Grundlage der Koinzidenz einzelner Isoglossenverläufe mit historischen Grenzen erbracht wurde, sondern in einer intersubjektiven Analyse lokaler Massendaten. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht weiter verwunderlich, dass der sozio-kulturelle Ansatz in der Publikation der Sprachatlanten bis heute fortwirkt. Bis heute ist es gängige Praxis, so wie es schon Fischer (1895) unternommen hatte, den Sprachkarten historische Interpretationshilfen voranzustellen. Auch mit Blick auf aktuellere außersprachliche Handlungsweisen bieten die Sprachatlanten Vergleichsmöglichkeiten. Ein Beispiel liefert der Mittelrheinische Sprachatlas (MRhSA) durch Informationen zum Aufkommen von Einpendlern, mit denen die rezente Dynamik des Raumes in den Blick gerät. Der Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben (SBS) fokussiert in verstärktem Maß die Sprecherperspektive durch zahlreiche Karten, die Antworten auf spezifische Fragen zu außersprachlichen Sachverhalten liefern, wie etwa, wohin die Informanten fahren, wenn sie sagen, sie fahren in die Stadt (SBS, Bd. 1: Kt. 14). Solche Informationen bedienen das Interesse nach außersprachlicher Erklärung für historische Stabilität auf der einen Seite und für rezenten Wandel auf der anderen. Sie dokumentieren zudem eine veränderte wissenschaftliche Perspektive auf die sozio-kulturellen Bedingungen, indem sie neben der distanzierten Makroperspektive zugleich die sprecherzentrierte Mikroperspektive einnehmen. Die bisweilen schematische Betrachtung des Sprachraums weicht damit einer integrativen Analyse der Sprachgemeinschaften, die kulturelle Prägungen ebenso berücksichtigt wie spezifische Handlungen der Sprecherinnen und Sprecher.
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3.2. Perspektivenwechsel im 21. Jahrhundert: Primat der Sprechenden und der Sprachgemeinschaft Bisher ist deutlich geworden, dass die Konstituierung der Sprachräume, wie letztlich aller irgendwie definierbaren Räume, auf den Konstruktionen der Sprecherinnen und Sprecher aufbaut. Vor diesem Hintergrund lässt sich argumentieren, dass die Festigkeit von Sprachräumen immer auch mit einer gewissen Festigkeit der mentalen Repräsentationen dieser Räume einhergeht. Während etwa Bach hier noch interpretativ vorgeht, setzen heute gleich mehrere Forschungsarbeiten explizit an solchen Repräsentationen analytisch an. Besonders aufschlussreich ist es zu beobachten, in welchem Verhältnis die Repräsentationen zu sich verändernden Sprachverhältnissen stehen. Das Projekt Frontière linguistique au Rhin Supérieur (FLARS, vgl. Auer et al. 2015) liefert hierfür ein Beispiel. Für FLARS werden an 43 Orten des deutsch-französischen Grenzraums Erhebungen sowohl zur sprachlichen Kompetenz als auch zur spezifischen Sicht der Informanten auf die sprachliche Situation durchgeführt. Auf sprachlicher Ebene deuten die bislang vorliegenden Ergebnisse auf Divergenzprozesse in den alemannischen Varietäten entlang der Staatsgrenze hin. Damit ist also in gewisser Hinsicht eine Bestätigung der alten Annahme von der Relevanz politischer Grenzen festzustellen. Unter Berücksichtigung der traditionellen Studien könnte angeführt werden, dass auch dieser Grenzraum historisch gewachsen ist (Baden vs. Elsass), allerdings würde dies an einem wichtigen Punkt vorbeiführen. Tatsächlich ist die Grenze zwar alt, aber die Divergenzprozesse sind neu (vgl. Auer et al. 2015: 323). Zu begründen ist dies über sich aktuell verändernde Konzeptualisierungen des Grenzraums. Während die Region früher als ein zusammenhängender Sprachraum wahrgenommen wurde (was er z. B. nach der Einteilung von Wiesinger [1983] um 1900 auch ist), zeigen jüngere Sprechende nun eine andere Wahrnehmung des Raums. Für sie handelt es sich um separate Sprachräume in Deutschland und Frankreich. Damit wird die psychologische Komponente als Faktor der Sprachraumbildung unmittelbar greifbar. Die Autoren gehen davon aus, „dass die Nationalstaaten mit ihren nationalen Standardvarietäten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das von diesen überdachte Staatsgebiet faktisch und ideologisch vollständig erreichen und auch in der mündlichen Sprache der ‚peripheren‘ (zentrumsfernen) Gebiete ihre Wirkung entfalten“ (Auer et al. 2015: 325). Die sprachlichen Divergenzprozesse sind dergestalt als kognitive Nachwirkung der historischen Staatenbildung zu verstehen. Referenzpunkt der Sprachteilhaber in der Region sind folglich nicht mehr die regionalen Sprachsysteme, sondern die überdachenden Standardsprachen in Deutschland und Frankreich. Die Folge dieser kognitiven Neuausrichtung, die im Kern eine Neubewertung der geographisch verteilten Gemeinschaften als Sprachgemeinschaften darstellt, ist eine neue Grenzbildung des Sprachraums entlang der politischen Grenze. Sprachraum, Sprachgemeinschaft und Sprachhandeln sind auf diese Weise aufs Engste verknüpft.
4. Empirische Annäherung an den Handlungsbezug Das voranstehende Beispiel des FLARS-Projekts wurde ausgewählt, weil es das Zusammenwirken von außersprachlichen Bedingungen, mentalen Erschließungen und sprachlichen Handlungen in einer sich aufgrund dieser Faktoren ausdifferenzierenden
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Sprachgemeinschaft verdeutlicht. Ergänzend sollen in diesem Kapitel nun zwei umfassendere Analysen bzw. Analyseserien zu außersprachlichen Handlungsoptionen vorgeführt werden, die in besonderem Maße geeignet sind, die Relevanz und die Tragweite des Zusammenwirkens von Sprachräumen, Sprachgemeinschaften und konkreten nichtsprachlichen Handlungsparametern zu verdeutlichen. Das erste Beispiel ist den Zusammenhängen von Sprachgemeinschaften und politischem Handeln gewidmet. Hierfür wird auf die sprachliche Situation in den USA zurückgegriffen, wo die bislang umfassendste Analyse dieser Art vorgelegt wurde. Im Kern lässt sich hier die in der deutschen Tradition gefestigte Sicht auf den Zusammenhang zwischen Sprachgemeinschaften und Territorien auf einer historisch anders gelagerten Ebene betrachten und zugleich fortführen. Das zweite Beispiel setzt an Zusammenhängen von Sprachgemeinschaften und ökonomischem Handeln an und nimmt jüngere Entwicklungen in der BRD in den Blick. Da es sich um Disziplinen übergreifende Neuansätze handelt, wird der inhaltlichen Beschreibung etwas mehr Platz eingeräumt.
4.1. Sprachräume, Einstellungen und politisches Handeln in den USA Im dritten Band seiner Principles of Linguistic Change wirft Labov (2010: 208−235) u. a. die Frage nach den historischen und sozialen Bedingungen auf, unter denen Sprache existiert bzw. Sprachwandel sich vollzieht (vgl. auch Labov 2012). Im Blick hat Labov dabei die North/Midland-Grenze, das ist jener östliche Teil der USA, von dem aus die historischen Siedeltrecks nach Westen hin ihren Anfang nahmen. Linguistisch stellt diese Grenze eine besonders stabile Scheide vor allem lexikalischer, aber auch phonologischer Kontraste dar. Eine Eigenart ergibt sich daraus, dass sich nördlich im System der Kurzvokale ein aktueller Sprachwandelprozess gegen das Standardamerikanische vollzieht. Nach Labov verstärkt dieser Northern Cities Shift nicht nur die sprachliche Eigenständigkeit des Nordens, sondern er verschärft geradezu eine vorhandene soziale Differenzierung zwischen dem Norden und der Mitte/Süd-Region, die sich bis in die Zeit der Besiedelung Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. So sind im Einklang mit der Sprachgrenze − ganz nach Art der extralinguistischen Methode − z. B. Nord−SüdDifferenzen in den Techniken des Hausbaus und der Holzverarbeitung festzustellen. Zudem lässt sich zeigen, dass die Transportrouten dieser Region in einer West−Ost-Richtung angelegt wurden und eine die beiden Regionen verbindende Nord−Süd-Route lange Zeit fehlte, so dass sich auch sprachliche Ausgleichsprozesse eher entlang geographischer Breite denn Länge vollzogen haben. Dass sich damit einhergehend auch die soziale Abgrenzung der nördlichen und südlichen Gemeinschaften, der Yankees und der Southerners, verstärkt hat, ist ein weiterer Befund, der sich vor allem in das soziallinguistische Paradigma einordnen lässt (vgl. auch die nördlichen und südlichen Kontrahenten im Sezessionskrieg). Das traditionelle dialektologische Terrain verlässt Labov mit einem Analyseansatz, der die sprachlichen Unterschiede auf konkrete Einstellungen und Handlungsweisen bezieht, die in diesen Regionen beobachtbar sind. Labov (2010: 219−220) bezieht sich dabei zunächst auf eine in der Politikwissenschaft erarbeitete Differenzierung politischer Haltung, für die eine klare räumliche Differenzierung nachgewiesen werden konnte. Auffälligerweise sortieren sich Schwerpunkte zweier Gruppen, die sog. Moralisten und Individualisten, recht genau entlang der North/Midland-Grenze: Die nördliche Gruppe setzt
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verstärkt die Fürsorgepflicht des Staates zentral und sieht dessen Aufgabe darin, den Menschen ein gutes Leben zu sichern; die südliche Gruppe tendiert hingegen zu einer utilitaristischen Sichtweise, nach der sich der Staat nicht zu stark in die privaten Belange des Einzelnen einmischen sollte. Ausgehend von diesem attitudinalen Unterschied ist es naheliegend, dass sich weitere Einstellungsdifferenzen nachweisen lassen, die Labov in der unterschiedlichen politisch-liberalen Haltung findet und die sich in den US-Präsidentschaftswahlen des Jahres 2004 ganz konkret äußern. Während also im bisherigen Verlauf sozio-kulturelle und attitudinale Phänomene fokussiert wurden, so tritt mit dem Wahlverhalten nun ein tatsächliches Handeln in den Vordergrund. Über eine Regressionsanalyse gelingt es Labov (2010: 224) zu zeigen, dass neben der Größe der Städte die Zugehörigkeit zur Dialektlandschaft signifikant zur Erklärung des Wahlverhaltens beiträgt, und zwar besser beiträgt, als es die Klassifikation nach Bundesstaaten vermochte. Demnach ist in den nördlichen Dialektgebieten eine eindeutige Präferenz für den demokratischen Kandidaten festzustellen. Der Effekt zeigt sich ähnlich, so Labov (2010: 224), auch für das Jahr 2000, für das Jahr 2008 ist er hingegen abgeschwächt. Einen Hinweis darauf, dass es sich um eine historisch gewachsene Einstellung handelt, erbringt eine genauere Betrachtung davon, in welchen Staaten die Todesstrafe umgesetzt oder nicht umgesetzt wird. Wieder sind es die Staaten des nördlichen Dialektgebiets, in dem die liberale Haltung, in diesem Fall die Ablehnung der Todesstrafe, begegnet, und zwar schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Zugleich spiegelt sich in den beiden Regionen eine unterschiedliche Haltung zur Sklaverei (Norden = contra) wie auch zur religiösen Strenge (Süden = pro). Bemerkenswert ist, abermals mit Bezug auf das Wahlverhalten der US-Amerikaner, ein Befund, den Labov an der Abstimmung zum amerikanischen Bürgerrechtsgesetz 1964 (Civil Rights Act) festmacht, das die Rechte der Afroamerikaner fundamental stärken sollte. Indem Labov (2010: 234) die Wahlstimmen des Repräsentantenhauses nach ihrer Provenienz separiert, wird deutlich, dass vorrangig nicht die Parteizugehörigkeit das Wahlverhalten erklärt (Demokraten vs. Republikaner), sondern die Zugehörigkeit zum Süden oder zum Norden. Die Sprachverteilungen bilden damit das Wahlverhalten besser ab als die eigentliche Parteizugehörigkeit. Labov (2010: 208) schließt aus alledem auf „long-standing ideological oppositions on a national scale“, die noch heute das sprachliche wie das nicht-sprachliche Handeln beeinflussen. Damit ist Sprache in ein dynamisches Gesamt an kulturellen, sozialen und politischen Ansichten und Handlungsweisen eingeordnet und letztlich eines unter vielen Äußerungsmitteln der Menschen in den betrachteten Regionen. Labov (2010: 235) führt aus: „As long as these ideological differences persist, speakers may be more likely to align their productions towards those around them who share their own identity and world-view. And along the linguistic and cultural border, they may be less likely to accommodate to others whom they perceive as holding different or hostile views.“ Damit greift er ein typisches Ingroup/Outgroup-Schema auf, das letztlich eine Vielzahl sozialer Handlungen erklärt. Deutlich ist auch, dass die einzeln angesprochenen nicht-sprachlichen sozialen Bedingungen bzw. Handlungen keine kausale Erklärkraft für das sprachliche Phänomen besitzen. Es handelt sich vielmehr um Parallelphänomene, die hier einer spezifischen räumlichen Ausprägung folgen. Methodologisch verdeutlicht dies, dass neben den gemeinhin in soziolinguistischen Arbeiten analysierten lokalen Faktoren auch solche Faktoren im wissenschaftlichen Diskurs berücksichtigt werden müssen, die historisch breiter angelegt sind und über eine größere historische Tiefe verfügen. In gewisser Weise ist Labov damit als Soziolinguist der ersten Stunde zu den Wurzeln der Dialektolo-
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gie zurückgekehrt. Er geht aber zugleich über sie hinaus, indem er den ideologischen Gehalt in der Sprache selbst verortet und damit das sprechende Individuum zentral setzt. Damit rückt zugleich der semiotische Wert der Sprache in den Vordergrund, der im geschilderten historischen Verlauf wichtigen Anteil an der selbsterhaltenden Kraft des, wenn man es so nennen möchte, sozialen Systems zukommt.
4.2. Sprachräume, Mobilität und ökonomisches Handeln in der BRD Nach den voranstehenden Äußerungen erstaunt nicht, dass sich Zusammenhänge, wie sie Labov auf politischer Ebene aufzeigt, auch in anderen Dimensionen des menschlichen Daseins beobachten lassen. Insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften wurden in den vergangenen Jahren mehrere Arbeiten vorgelegt, die sich dem Zusammenhang von Sprache und ökonomischen Faktoren widmen und von Ginsburgh & Weber (2011) unter dem Etikett The Economics of Linguistic Diversity gefasst werden. Ein solcher Zusammenhang ist nachvollziehbar, wenn berücksichtigt wird, dass sowohl Sprache als auch ökonomisches Handeln im weiteren Sinn kommunikative Systeme bilden. Muss dies für die Sprache in einem sprachwissenschaftlichen Handbuch nicht eigens herausgestellt werden, so bedarf die kommunikationstheoretische Fundierung ökonomischen Handelns näherer Ausführung. Im einfachsten Fall kann ökonomisches Handeln als StimulusResponse-Modell beschrieben werden: Jemand bietet etwas an, ein anderer nimmt dieses an oder auch nicht. Auf einer erweiterten Ebene ließe sich in ein solches Modell ein strategisches Moment einbinden: Jemand überlegt, was zu tun ist, damit ein anderer das Angebot annimmt; der Andere überlegt, was mit dem Angebot bezweckt ist. Akerlof & Kranton (2000) haben auf ähnlichen Erwägungen aufbauend ein Modell entwickelt, das Identität − hier verstanden als „a person’s sense of self“ (Akerlof & Kranton 2000: 715) − als zentralen Faktor des ökonomischen Handelns aller an einer Interaktion beteiligten Aktanten ausweist. An die oben gebotenen Überlegungen zur sprachlichen Einbettung lässt sich dies direkt anbinden. In den einschlägigen Arbeiten wird Sprache u. a. als Indikator kultureller Identität genommen, wobei geprüft wird, inwieweit die durch Sprache gespiegelte kulturelle Identität den ökonomischen Austausch unterstützt. Es fällt auf, dass hier lange Zeit nur Sprachenrelationen zwischen Staaten operationalisiert wurden. Für die Bedeutung dieser Arbeiten kann auf eine Meta-Analyse von Egger & Lassmann (2012) hingewiesen werden. Die Autoren evaluieren 81 wissenschaftliche Arbeiten, in denen insgesamt 701 Sprachen in Regressionsanalysen auf ihren Einfluss auf internationale Handelsströme geprüft wurden. Das Ergebnis ist eindeutig: Weisen die Staaten der Handelspartner dieselbe Sprache auf (offizielle Sprache oder gesprochene Varietät im mehrsprachigen Kontext), erhöht sich das Handelsaufkommen im Durchschnitt um 44 %. Einen Schritt weiter geht hingegen eine Serie von aufeinander bezogenen Publikationen, die das ökonomische Handeln in der BRD mit der räumlichen Verteilung der historischen Dialekte in systematische Verbindung bringt. In einer ersten Studie analysieren Falck et al. (2012) das Migrationsverhalten der Menschen in der BRD. Grundlage sind alle Binnenumzüge der Jahre 2002−2006 auf der Ebene der deutschen Landkreise. Der Studie liegt die Annahme zugrunde, dass jede Person einer Region, in der sie sesshaft ist, einen spezifischen Wert beimisst. Dieser Wert lässt sich über zwei Faktoren bestimmen, und zwar (1) die ökonomische Qualität der Region (z. B. Gehaltsstrukturen, Be-
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schäftigungsrate, Preisniveau) und (2) die subjektive Beziehung zur Region. Damit steht einem ökonomischen Faktor ein emotionaler gegenüber. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass die beiden Faktoren einander beeinflussen. Darauf aufbauend wird ein Gravitätsmodell aufgestellt, in dem beide Faktoren berücksichtigt sind. Migration wird dabei als eine Funktion der Summe der spezifischen ökonomischen Charakteristika im Ausgangs- und Ziellandkreis, addiert um die pekuniären und emotionalen Kosten eines Umzugs, verstanden. Während die ökonomischen Charakteristika über landkreisspezifische Kennwerte operationalisiert werden, werden die pekuniären Kosten über die geographische Distanz und die Reisezeit zwischen den Landkreisen bemessen. Als Näherungsmittel an die nur schwer definierbaren emotionalen Kosten werden dialektale Ähnlichkeiten zwischen den Landkreisen gewählt (vgl. Lameli 2013). Die Annahme ist dabei nicht, dass die Menschen ihr Umzugsverhalten nach den Dialekten ausrichten, sondern vielmehr, dass die Dialektregionen als Proxy für Regionen kultureller Ähnlichkeit genommen werden können. Zudem wurden in separaten Analysen zahlreiche weitere Faktoren erwogen, die potenziell ebenfalls als Proxy für kulturelle Ähnlichkeiten fungieren oder weitere Einflüsse auf das Umzugsverhalten ausmachen können (z. B. historische Territorien, Grade der Urbanität, industrielle Struktur, Konfessionsgrenzen, politische Grenzen, BRD vs. DDR, Bodenqualität, Höhenunterschiede, Alter, Geschlecht). Im Ergebnis belegen die Autoren einen signifikanten Einfluss der dialektalen Ähnlichkeit zwischen Ausgangsort und Zielort auf das Migrationsverhalten. Rechnet man die dabei auch von der geographischen Distanz erklärten Umzüge heraus, so bleibt noch immer ein signifikanter Effekt sichtbar. Was die übrigen Einflussfaktoren anbelangt, so sind insbesondere die historischen Territorien herauszustellen, deren bereits im 19. Jahrhundert erkannter Einfluss auch heute noch signifikant nachwirkt. Aber auch die modernen politischen Grenzen (v. a. Bundesländer) tragen wie nicht anders zu erwarten zur Erklärung des Migrationsverhaltens bei. Ein relevanter Unterschied zwischen historischen und rezenten Dialektdaten besteht hingegen nicht. Falck et al. (2012: 237) schließen aus diesen Ergebnissen auf „intangible cultural borders […] that impede economic exchange. These intangible borders […] are enormously persistent over time; they have been developed over centuries, and so they are likely to be there also tomorrow.“ Dieses Ergebnis ist insofern wichtig, als es erstmals in einer Massenanalyse eine signifikante Anbindung von sprachlichen und außersprachlichen Handlungen belegt. Dabei lassen sich noch weitere Ergebnisse erzielen. Es ist z. B. bekannt, dass vor allem gut ausgebildete und dabei risikobereite Personen zu Umzügen über lange Distanzen neigen (vgl. Jaeger et al. 2010). Über eine Auswertung von 994 Personen, deren soziale, wirtschaftliche und verhaltensbezogene Daten über das sog. sozioökonomische Panel (SOEP, vgl. Wagner, Frick & Schupp 2007) erfasst sind, können Bauernschuster et al. (2014) nachweisen, dass genau dieser Personenkreis die durch die Dialektdaten angezeigten Kulturräume signifikant häufig überschreitet. Die Dialektdaten erklären dieses Verhalten statistisch sehr viel besser als z. B. die geographische Distanz. Das bedeutet, dass die Mobilität in den Regionen zu einem erheblichen Teil an den Faktor Bildung gebunden ist, dann aber vor allem an die Einstellung der Menschen. Für die Sprachgeographie ergeben sich daraus zwei Erkenntnisse. Erstens lassen sich bestimmte Personengruppen definieren, die zur Festigkeit der Sprachlandschaften beitragen. Da Migration einen entscheidenden Faktor für die sprachliche Mischung in den Regionen bzw. zwischen den
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Regionen darstellt, liegt hier zweitens ein wichtiger Hinweis auf die außersprachliche Bedingung für Prozesse des Sprachwandels vor. Während diese Studien im privaten Bereich ansetzen, setzt eine der Folgestudien explizit am Wirtschaftssektor an. Lameli et al. (2015) analysieren in ähnlicher Untersuchungsanlage wie Falck et al. (2012) den Einfluss der Dialektähnlichkeit auf den Binnenhandel in Deutschland. Grundlage sind alle Handelsbewegungen von Gütern aus 24 Gütergruppen zwischen den Jahren 1995 bis 2004 in 101 deutschen Verkehrsbezirken (> 4 Mio. Beobachtungen). Auch hier hat die Dialektähnlichkeit einen signifikanten Einfluss, steht allerdings individuell betrachtet hinter dem Faktor „Reisezeit“ zurück. Aus der Studie geht klar hervor, dass beim Handel zwischen den Regionen die kulturelle Ähnlichkeit, gespiegelt über die Dialektähnlichkeiten, abermals eine wichtige Rolle spielt. Am Beispiel des Verkehrsbezirks Augsburg fokussiert die Studie den Zusammenhang. Signifikante Handelsbezüge liegen von Augsburg aus in erhöhtem Maß ausschließlich im schwäbischen Gebiet vor, nicht im bayerischen. Dies korrespondiert nahezu perfekt mit den für Augsburg feststellbaren sprachlichen Ähnlichkeitsbezügen. Ähnliches zeigt eine aktuelle Studie (Seitz et al. 2017) mit Blick auf das Risikoverhalten deutscher Banken, womit also nun ein strikt finanzorientiertes Handeln in den Blick fällt. Auch hier liegt eine signifikante Abhängigkeit von der dialektalen Ähnlichkeit vor, die sich durch keinen anderen Faktor erklären lässt. Offensichtlich orientieren sich die Entscheidungsträger in den Banken in ihrem Handeln, z. B. in der Frage, wie hoch sie ihre Risikoeinlagen ansetzen, an anderen Banken und dabei wiederum präferiert an solchen, die in einer möglichst ähnlichen Dialektregion angesiedelt sind. Was sich hier zeigt, ist ein besonderes Vertrauen in die Entscheidungsträger des eigenen Sprach- bzw. Kulturraums und damit abermals ein signifikantes Ingroup-Verhalten. Die Beispiele ließen sich erweitern. Was hier jedoch bereits deutlich wird, ist Folgendes: Handlungen sind zunächst abhängig von individuellen Bedingungen, d. h. z. B. konkreten Lebensumständen und Einstellungen. Darüber hinaus bestehen in den Handlungen der Menschen aber auch kulturelle Prägungen, die sehr viel weiter reichen als gemeinhin angenommen wird. Insbesondere die hier erwähnten explizit wirtschaftlich orientierten Handlungsweisen verdeutlichen dies, indem sie die kulturelle Prägung nicht positivistisch auslegen, sondern in ihrer dynamischen Struktur erfassen. Wie sich zeigt, wägen die Menschen − ob bewusst oder unbewusst − rationale und emotionale Aspekte sehr wohl ab und bringen sie, wie z. B. im Fall des Vertrauens im Bankensektor, in subjektiven Einklang. Sprache bildet dabei einen außerordentlich wichtigen Entscheidungsfaktor, wie bei näherer Betrachtung der Mikroebene deutlich wird (z. B. in der Laborstudie von Heblich, Lameli & Riener 2015). Bisweilen wurde die Sprachperzeption − ähnlich wie bei Labov − sogar als ausschlaggebender Faktor der beschriebenen ökonomischen Korrelationen ausgelegt (Schmidt 2014). In signifikant vielen Fällen ist dabei die individuelle Definition, besser Konstruktion, der eigenen Gemeinschaft (Ingroup) leitend, mit der ein gesteigertes Vertrauen verbunden ist. Insofern bilden die schon früh erkannten und oben beschriebenen partiellen Koinzidenzen der geographisch definierbaren Handlungsräume den Ausdruck einer individuell wie sozial relevanten Identitätsbildung (zu deren Einordnung innerhalb der Parameter von Nähe und Distanz vgl. Kehrein & Fischer 2016).
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5. Schlussbemerkung Wie deutlich wurde, treffen Menschen in unterschiedlichen Regionen aus einer Vielzahl an sprachlich und nicht-sprachlich fundierten Handlungsoptionen erstaunlich häufig ähnliche Entscheidungen, was sprachgeographisch zu teils erheblichen räumlichen Schnittmengen führt, die nicht selten mit einer komplexen Verflechtung historischer Kontinuitäten in Verbindung stehen. Damit lassen sich spezifische geographische Aktionsräume ausweisen, die weit über die rein sprachliche Dimension hinausreichen und eine Vielzahl an Handlungsoptionen umfassen. Aus Sicht der Luckmann’schen Handlungstheorie (1992: 5) zeigt sich hier der Umstand, dass das „Gebiet des Handelns […] von einem gesellschaftlichen ‚Zaun‘ umgeben“ ist und dabei „trotzdem […] vom einzelnen (von seinem Willen, seinen Interessen, mit seinem Wissen) gestaltet“ wird, so dass der Zaun also, um im Bild zu bleiben, durchaus überwindbar ist, aber eben dennoch einen anscheinend günstigen Orientierungspunkt liefert. Zugleich ist in der Handlungsfreiheit die grundsätzliche Wandelbarkeit der räumlichen Relationen in Abhängigkeit von tradierten oder initiierten Abstraktionsprozessen, d. h. von identitäts- oder kulturbezogenen Konstruktionen, angelegt, wie sie am Beispiel des deutsch-französischen Grenzgebiets angesprochen wurde. In diesem Zusammenhang sind auch die Korrelationen zwischen politischem und sprachlichem Handeln bemerkenswert, da sie angesichts der vergleichsweise jungen Geschichte der USA verdeutlichen, in welch kurzer Zeitspanne sich die synchron sozialen Identitäten als diachron kulturelle Identitäten festigen können. Was Eckert (2012) für die sprachliche Variation bestimmt, nämlich ein semiotisches System zu sein, das geeignet ist, die sozialen Belange einer Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen, gilt so gesehen für alle hier angesprochenen sozialen Variationsphänomene, und zwar nicht nur im individuellen Kontakt, sondern auch für (sprach)geographisch definierbare Gruppen. Umgekehrt bietet diese Variabilität den Menschen aber überhaupt erst die Möglichkeit, sich in konkreten kulturellen Bezügen zu verorten. Wie ebenfalls deutlich wurde, zeigt sich die Dialektologie für diese Zusammenhänge schon in der frühen Phase sehr offen, ist dabei allerdings bisweilen zu stark an den Raum- bzw. Grenzbegriff gebunden. Erst durch die − methodisch verstärkt intersubjektive − Berücksichtigung des kognitiv erschließenden und sozial handelnden Individuums lässt sich die Tragweite der Bezüge erahnen und die gegenseitige Abhängigkeit von Sprachraum, Gemeinschaft und Handeln schärfen. Zugleich wird dabei deutlich, dass der sprachgeographische Zugang nur eine begrenzte Möglichkeit bietet, nicht nur zum Verständnis einer übergeordneten sprachlichen, d. h. variationsgebundenen Auslastung sozialer Relationen, sondern zum sozialen Handeln insgesamt. Es wäre daher sehr wünschenswert, wenn sich die Sprachgeographie für Disziplinen übergreifende Ansätze in Zukunft noch stärker öffnete.
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Alfred Lameli, Freiburg i. Br. (Deutschland)
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache 1. Einleitung 2. Sprache, Modalität und Variation 3. Variation in Gebärdensprachen
4. Variation in DGS 5. Zusammenfassung 6. Literatur
1. Einleitung Menschen stehen für die Kommunikation zwei unterschiedliche Modalitäten zur Verfügung (wir ignorieren in diesem Beitrag die Schriftsprache als dritte Modalität). Neben der lautlich-auditiven Modalität von Lautsprachen gibt es die visuell-gestische Modalität von Gebärdensprachen. Beide Modalitäten nutzen ähnliche grammatische Strukturen, die sich im Laufe der Zeit auf eine ähnliche Weise wandeln und deren Verwendung in ähnliche sozio-kulturelle Kontexte eingebettet ist. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass in beiden Modalitäten auch eine vergleichbare linguistische Variation zu finden ist. Auch wenn bisher vergleichsweise wenige repräsentative empirische Studien zur Variation in Gebärdensprachen vorliegen, so zeigen schon die bisherigen Untersuchungen, dass Gebärdensprachen ein ähnlich großes Variationspotential aufweisen wie Lautsprachen. Die linguistische Variation betrifft dabei wie in Lautsprachen nicht nur das Lexikon, sondern alle Ebenen der Grammatik, also Phonologie, Morphologie und Syntax, sowie die kommunikative Interaktion. Die meisten Arbeiten zu regionaler und sozialer Variation liegen dabei zur Amerikanischen Gebärdensprache (ASL) vor, neuere Arbeiten erweitern die Perspektive nun auf andere Gebärdensprachen wie die Britische Gebärdensprache (BSL) oder die Australische Gebärdensprache (Auslan). Auch zur Variation in der Deutschen Gebärdensprache (DGS) liegen erste Untersuchungen vor, die teilweise schon das neue Hamburger DGS-Korpus als Datengrundlage nutzen, teilweise aber auch auf eigenen Datenerhebungen beruhen. https://doi.org/10.1515/9783110261295-033
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
In diesem Artikel werden wir an ausgewählten Beispielen regionale und soziale Variation in der DGS beschreiben. Dabei werden wir sowohl Beispiele lexikalischer wie auch grammatischer Variation diskutieren. Zudem werden wir kurz auf die grundlegende Frage eingehen, welchen Einfluss die sprachliche Modalität und der soziolinguistische Hintergrund der Sprechergemeinschaft (in diesem Fall die besondere linguistische Situation gehörloser Menschen in Deutschland) auf die linguistische Variation in Gebärdensprachen haben. Der Artikel ist wie folgt aufgebaut: Im nächsten Kapitel gehen wir kurz auf einige modalitätsspezifische und soziolinguistische Besonderheiten von Gebärdensprachen ein, die einen Einfluss auf die linguistische Variation haben könnten. Kap. 3. befasst sich dann mit dem Variationspotential von Gebärdensprachen und zeigt anhand ausgewählter Beispiele typologische Unterschiede zwischen Gebärdensprachen (Makrovariation) und regionale und soziale Variation innerhalb von Gebärdensprachen (Mikrovariation). Kap. 4. stellt dann ausführlich einige Beispiele für regionale und soziale Variation in DGS auf lexikalischer, phonologischer und syntaktischer Ebene vor. Dabei werden wir vor allem neuere Studien diskutieren, die das Hamburger DGS-Korpus als empirische Grundlage nutzen. In Kap. 5. fassen wir die wichtigsten Ergebnisse dieses Übersichtsartikels zusammen und halten einige Perspektiven für die zukünftige Forschung fest. Die gebärdensprachlichen Beispiele werden wie folgt wiedergegeben: Gebärden werden in Kapitälchen angegeben, IX steht für die Indexgebärde, die unter anderem eine pronominale Funktion hat, POSS steht für ein Possessivpronomen. Tiefergestellte Indizes repräsentieren Punkte im Gebärdenraum. „1“ verweist dabei auf den Signer, „2“ auf den Adressaten und „3a/b“ auf dritte Personen, die typischerweise rechts und links auf der horizontalen Achse im Gebärdenraum verortet werden. „IX1“ ist demnach eine Indexgebärde, die auf den Signer verweist und normalerweise mit „ich“ in die deutsche Lautsprache übersetzt werden kann.
2. Sprache, Modalität und Variation Gebärdensprachen sind wie Lautsprachen vollständige natürliche Sprachen mit einem komplexen grammatischen System mit spezifischen Regeln und Beschränkungen auf allen Ebenen der Grammatik. So können Gebärden in kleinere phonologische Parameter wie Handform, Handstellung und Bewegung zerlegt werden. Darüber hinaus unterliegt die Artikulation von Gebärden spezifischen phonologischen Regeln. Für größere Einheiten gelten entsprechende prosodische Beschränkungen an den Schnittstellen zur Syntax und Semantik. In der Morphologie finden wir ähnliche Prozesse der Flexion und Komposition wie in Lautsprachen. Hierzu gehören beispielsweise Reduplikation, Kongruenz und Klassifikatoren. Auf der syntaktischen Ebene gibt es sprachspezifische Beschränkungen für Wortstellung, Koordination und Subordination und Satztypen (vgl. auch Kap. 3.1.). Ein umfassender Überblick über die einzelnen Bereiche findet sich in Sandler & Lillo-Martin (2006), Pfau, Steinbach & Woll (2012) und Quer et al. (2017). Als natürliche Sprachen haben Gebärdensprachen demnach dieselben grundlegenden formalen und funktionalen Eigenschaften wie Lautsprachen und lassen sich mithilfe derselben Kategorien beschreiben und analysieren. Da Gebärdensprachen aber in einer anderen Modalität produziert und wahrgenommen werden als Lautsprachen, haben sie auch
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
einige modalitätsspezifische Eigenschaften. Hinzu kommt, dass Gebärdensprachen in fast allen Gesellschaften eine besondere Art von Minderheitensprachen sind, die oftmals nicht offiziell anerkannt und mit Vorurteilen belegt sind. Auch die besondere soziolinguistische Situation hat Einfluss auf die Struktur und Verwendung von Gebärdensprachen. Im Folgenden werden wir vor dem Hintergrund sprachlicher Variation kurz den Einfluss der Modalität und soziolinguistischer Faktoren auf die Grammatik und Verwendung von Gebärdensprachen diskutieren. Die Besonderheiten der visuell-gestischen Modalität zeigen sich vor allem in drei Bereichen (Meier 2002; Aronoff, Meir & Sandler 2005). Erstens haben Gebärdensprachen gestische Grundlagen und interagieren auf eine besonders interessante Weise systematisch mit manuellen und nicht-manuellen Gesten (Goldin-Meadow & Brentari 2017). Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Gebärdensprachen dieselbe Modalität nutzen wie die Gestik. Daher können Gebärdensprachen gestische Elemente integrieren und grammatikalisieren (Pfau & Steinbach 2011). Zweitens nutzen Gebärdensprachen den dreidimensionalen Gebärdenraum nicht nur zum Ausführen von Gebärden, sondern auch für die Realisierung unterschiedlicher grammatischer, semantischer und pragmatischer Merkmale. Dazu gehören Tempus, Plural, Kongruenz, Anaphern, Informationsstruktur, Redewiedergabe und topographische Relationen zwischen Entitäten. Und drittens lassen sich in Gebärdensprachen unterschiedliche manuelle und nicht-manuelle Artikulatoren wie die Hände, der Oberkörper, der Kopf und das Gesicht gleichzeitig nutzen, um verschiedene Bedeutungsaspekte simultan zu realisieren. In soziolinguistischer Hinsicht lässt sich zunächst festhalten, dass Gebärdensprachen in sehr vielen Gesellschaften − auch in Deutschland − Minderheitensprachen sind, sehr häufig sogar ohne den Status einer offiziell anerkannten Minderheitensprache. Ausnahmen sind so genannte shared sign languages, die in kleinen Gesellschaften mit einem überdurchschnittlich hohen Vorkommen von Gehörlosigkeit von fast allen Mitgliedern dieser Gesellschaft als alltägliches Mittel der Kommunikation verwendet werden (Nyst 2012). DGS ist in Deutschland zwar im Behindertengleichstellungsgesetz als eigenständige Sprache anerkannt (vgl. § 6 Gebärdensprache und andere Kommunikationshilfen), nicht aber als offizielle Minderheitensprache, obwohl sie in Deutschland von mehr Menschen als Erstsprache verwendet wird als die offiziell anerkannten Minderheitensprachen Dänisch und Sorbisch. Ein weiterer wichtiger Aspekt für die soziale Stellung von Gebärdensprachen ist, dass die hörende Mehrheit der Gesellschaft in vielen Ländern nur sehr wenig Kenntnis von und Wissen über Gebärdensprachen hat, dafür aber oft umso mehr negative Vorurteile gegenüber Gebärdensprachen. Zwangsläufig spielten Gebärdensprachen in schulischen Kontexten über lange Zeit keine zentrale Rolle, weder als Unterrichtssprache, noch als Unterrichtsgegenstand (Plaza-Pust 2012). Im Mittelpunkt der schulischen Bildung von gehörlosen Kindern stand über lange Jahre eine orale Erziehung mit dem Ziel der Vermittlung von Kompetenzen in der jeweiligen Laut- und Schriftsprache. Gehörlose Menschen sind daher eine besondere bimodale bilinguale Minderheit in einer hörenden lautsprachlich orientierten Mehrheitsgesellschaft. Nicht selten leben gehörlose Menschen in einem hörenden familiären Umfeld, das über keine oder nur wenig Kenntnisse der entsprechenden Gebärdensprache verfügt. Gehörlose Menschen sehen sich deshalb oft gezwungen, in einer Sprache zu kommunizieren, die sie nicht natürlich erwerben können. Hinzu kommt, dass die meisten gehörlosen Kinder hörende Eltern haben und aus diesem Grund in den ersten Jahren keinen ausreichenden gebärdensprachlichen Input erhalten.
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
Diese besondere soziolinguistische Situation führt dazu, dass Gebärdensprachen bestimmte Eigenschaften von jungen Kreolsprachen aufweisen (Aronoff, Meir & Sandler 2005). Zwei weitere soziolinguistische Eigenschaften vieler Gebärdensprachen sind, dass es zum einen mit wenigen Ausnahmen keine Standardvarietät gibt (Schermer 2003, 2016). Dies gilt insbesondere auch für DGS (Hillenmeyer & Tilmann 2012; Jaeger & Heßmann 2016; Jaeger 2017). Damit zusammen hängt zum anderen auch, dass es bisher keine verbreitete und im Alltag genutzte Schriftsprache für Gebärdensprachen gibt (Frishberg, Hoiting & Slobin 2012). Zusammenfassend können wir festhalten, dass Gebärdensprachen in linguistischer Hinsicht trotz vieler Gemeinsamkeiten einige interessante modalitätsspezifische Besonderheiten aufweisen, die sie von Lautsprachen unterscheiden. Aus soziolinguistischer Perspektive teilen sie sich viele Eigenschaften mit lautsprachlichen Minderheitensprachen, haben aber aufgrund ihrer spezifischen Erwerbs- und Verwendungsbedingungen einen besonderen Status. Welchen Einfluss haben diese beiden Besonderheiten nun auf die linguistische Variation? Die modalitätsspezifischen Besonderheiten von Gebärdensprachen wurden in der Literatur oft als Argument angeführt, dass Gebärdensprachen grundsätzlich weniger Variation aufweisen als Lautsprachen, da alle Gebärdensprachen ähnliche räumliche, gestische und simultane Eigenschaften aufweisen (Newport & Supalla 2000; Aronoff, Meir & Sandler 2005; Perniss, Pfau & Steinbach 2007a). Die soziolinguistischen Besonderheiten von Gebärdensprachen weisen in eine andere Richtung: Die besondere Erwerbssituation, die bimodalen bilingualen Signergruppen, die fehlende Standardisierung, das Fehlen eines Schriftsystems und die räumliche Distribution sprechen für ein großes Potential an sozialer und regionaler Variation in Gebärdensprachen. Im nächsten Kapitel werden wir kurz einige ausgewählte Studien zu den beiden Dimensionen der Variation, die typologische Makrovariation zwischen Gebärdensprachen und die regionale und soziolinguistische Mikrovariation innerhalb von Gebärdensprachen vorstellen und dabei zeigen, dass entgegen der Annahme, Gebärdensprachen zeigten nur wenig Variation, auf beiden Ebenen ein großes Variationspotential belegt ist. In Kap. 4. werden wir dann daran anschließend Beispiele der Mikrovariation in DGS auf allen Ebenen der Grammatik ausführlicher vorstellen.
3. Variation in Gebärdensprachen In diesem Kapitel gehen wir zuerst kurz auf neuere typologische Studien zur Makrovariation ein (Kap. 3.1.). Diese Studien zeigen, dass das linguistische Variationspotential von Gebärdensprachen größer ist als lange Zeit angenommen. Im Anschluss daran diskutieren wir dann verschiedene Studien zur regionalen und sozialen Mikrovariation in Gebärdensprachen (Kap. 3.2.).
3.1. Makrovariation in Gebärdensprachen Wie oben erwähnt ging die Gebärdensprachlinguistik lange Zeit davon aus, dass Gebärdensprachen aufgrund der im vorherigen Kapitel diskutierten modalitätsspezifischen grammatischen Besonderheiten weniger typologisches Variationspotential auf der Ma-
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kroebene, also zwischen einzelnen Gebärdensprachen, aufweisen als Lautsprachen. Neuere typologische Studien zeigen hingegen, dass sich Gebärdensprachen durchaus auf allen Ebenen der Grammatik unterscheiden. Am offenkundigsten ist die typologische Variation im Lexikon. Selbst stark ikonische Gebärden unterscheiden sich teilweise erheblich zwischen den einzelnen Gebärdensprachen. Bei nicht ikonisch motivierten Gebärden sind die Unterschiede ähnlich groß wie in Lautsprachen. Ein weiterer Bereich, in dem eine große Variation zwischen einzelnen Gebärdensprachen dokumentiert ist, sind die Zahlsysteme der einzelnen Gebärdensprachen (Steinbach 2012; Zeshan et al. 2013). Auch in der Grammatik ist mittlerweile auf unterschiedlichen Ebenen Variation zwischen einzelnen Gebärdensprachen beschrieben. So gibt es auf phonologischer Ebene beispielsweise Variation im Inventar der Handformen, in der Verfügbarkeit markierter Handformen oder bei der Verwendung von Mundbildern und Ausführungsstellen. In der Morphologie gibt es Unterschiede bei Klassifikatoren, die eine Klasse von Objekten repräsentieren (sogenannte entity classifier), in der Flexion und in der Derivation. Für die Syntax ist Variation zwischen Gebärdensprachen bei der Wortstellung (ASL ist beispielsweise eine SVO-Sprache, DGS dagegen eine SOV-Sprache), bei der Bildung von Relativsätzen (kopfintern, kopfextern und korrelativ) oder bei der Grammatikalisierung und Verwendung von Kongruenzauxiliaren attestiert (Perniss, Pfau & Steinbach 2007b; Pfau 2012; Zeshan 2012; zu Kongruenzauxiliaren vgl. auch Kap. 4.3.). Die beiden breit angelegten typologischen Studien in Zeshan (2004a, 2004b) zeigen zudem große Variation bei der Bildung von Interrogativsätzen und bei der Syntax der Negation. Im Fall der Negation lassen sich unter anderem zwei Typen von Gebärdensprachen feststellen: manuell dominante Gebärdensprachen und nicht-manuell dominante Gebärdensprachen (Zeshan 2004b). Bei Gebärdensprachen mit manuell dominanter Negation ist die manuelle Negationsgebärde obligatorisch. Die nicht-manuelle Negation, die in vielen (aber nicht allen) Gebärdensprachen durch ein Kopfschütteln realisiert wird, ist dagegen optional und kann deshalb wegfallen. Ein Beispiel dafür ist die Italienische Gebärdensprache (LIS). Nicht-manuelle Gebärdensprachen wie DGS zeigen das entgegengesetzte Muster: Hier ist die nicht-manuelle Negation obligatorisch, während die manuelle Negation in vielen Kontexten nicht verwendet wird. Zudem zeigen sich im Bereich der Negation Unterschiede in den Negationsgebärden und im syntaktischen Skopus der nicht-manuellen Negation. Bei der Bildung von Interrogativsätzen gibt es Variation bei der Verwendung von prosodischen nicht-manuellen Fragemarkierungen wie dem Anheben oder Absenken der Augenbrauen, die sich sowohl in der Art wie auch im syntaktischen Skopus unterscheiden können. Eine weitere Quelle der Variation sind Fragepartikeln, die zum einen nicht in allen Gebärdensprachen zu finden sind und sich zum anderen in Form und syntaktischer Distribution unterscheiden. Darüber hinaus gibt es wie auch in Lautsprachen Gebärdensprachen mit sehr differenzierten Fragewortparadigmen (wie beispielsweise DGS) und Gebärdensprachen mit nur sehr wenigen Fragewörtern (wie beispielsweise die IndoPakistanische Gebärdensprache, IPSL). Eine letzte Dimension der Variation im Bereich der Interrogativsätze ist die syntaktische Positionierung der Fragewörter (Zeshan 2004a).
3.2. Mikrovariation in Gebärdensprachen Im Bereich der Mikrovariation lässt sich ein ähnliches Variationspotential finden wie auf der Ebene der Makrovariation. Regionale und soziale Variation ist auf allen Ebenen der
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
Grammatik und des Lexikons belegt. In ihrem Übersichtsartikel stellen Schembri & Johnston (2012) vor allem Studien zu ASL, Auslan, BSL und der Neuseeländischen Gebärdensprache (NZSL) vor, vier Gebärdensprachen, die hinsichtlich regionaler und sozialer Variation vergleichsweise gut untersucht sind. Dabei lassen sich im Lexikon die eindeutigsten Beispiele linguistischer Variation in Gebärdensprachen feststellen und systematisch mit Faktoren wie Region, Alter, Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder einem spezifischen Bildungshintergrund in Verbindung bringen. Dabei spielen allerdings nicht alle Faktoren in allen Gebärdensprachen eine ähnlich starke Rolle. Neben lexikalischer Variation gibt es auch Beispiele phonologischer, morphologischer und syntaktischer Variation. Im Folgenden werden wir einige ausgewählte Beispiele lexikalischer und grammatischer Variation in anderen Gebärdensprachen vorstellen und in diesem Zusammenhang auch auf einen wichtigen Faktor für das Entstehen und Verbreiten von unterschiedlichen Varietäten innerhalb von Gebärdensprachen eingehen, und zwar die Etablierung von Gehörlosenschulen an unterschiedlichen Orten eines Landes. Regionale lexikalische Variation ist ein mittlerweile gut untersuchtes Phänomen, das für unterschiedliche Gebärdensprachen belegt ist, neben den oben genannten vier Gebärdensprachen ASL, Auslan, BSL und NZSL auch für die Französische Gebärdensprache (LSF, Moody 1983), LIS (Radutzky 1992; Geraci et al. 2011), die Südafrikanische Gebärdensprache (SASL, Penn 1992), und IPSL (Jepson 1991; Woodward 1993; Zeshan 2000). So lassen sich für BSL beispielsweise in verschiedenen Regionen erhebliche Unterschiede in den Gebärden für Zahlen und Farben finden (Sutton-Spence, Woll & Allsop 1990). In Auslan lassen sich für die gleichen semantischen Felder in den Regionen Nord und Süd ebenfalls Unterschiede in der Gebärdenverwendung feststellen (Johnston 1998). Der Umfang der lexikalischen Variation, d. h. die Frage, ob sich die Variation nur auf einige ausgewählte semantische Felder beschränkt oder ob es sich um grundlegende lexikalische Unterschiede zwischen den Varietäten handelt, unterscheidet sich dabei zwischen den einzelnen Gebärdensprachen zum Teil erheblich. Wie schon erwähnt spielt die Etablierung eines Schulsystems für Gehörlose eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Verbreitung von Varietäten in den einzelnen Ländern. In England und Australien entstanden Gehörlosenschulen sukzessive im 19. und 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Teilen des Landes. In Großbritannien gab es in diesem Zusammenhang keine zentralisierte Ausbildungsstätte für Gehörlosenpädagogen, die Gebärdensprache im Unterricht verwenden wollten, sodass die notwendigen Gebärden häufig ad hoc gemeinsam mit Schülern entwickelt wurden. Zwei weitere Faktoren für das Entstehen von Varietäten sind die bereits beschriebene geringe Anzahl an gehörlosen Muttersprachlern aufgrund der besonderen familiären Situation gehörloser Kinder und die Tatsache, dass Gebärdensprachen im Unterricht für lange Zeit nicht als primäre Unterrichtssprachen erwünscht oder sogar verboten waren. Aus diesem Grunde entwickelten die gehörlosen Kinder untereinander in den Pausen und auf dem Schulhof ihr Vokabular stetig weiter. Dies hatte zur Folge, dass in den einzelnen Schulen weitestgehend voneinander unabhängige Varietäten entstanden. Diese Art der Sprachentwicklung lässt sich auf die meisten europäischen Länder übertragen, sodass sich regionale Varietäten häufig an den Standorten von Gehörlosenschulen festmachen lassen (zu DGS siehe Kap. 4.). Im Vergleich zu den regionalen Unterschieden in Gebärdensprachen wie BSL und Auslan wird das Lexikon in ASL als stärker standardisiert beschrieben (Valli, Lucas & Mulrooney 2005). So stellten Lucas, Bayley & Valli (2001) in einer Studie zur lexika-
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lischen Variation von 34 Ausdrücken fest, dass 27 eine Variante zeigten, die an allen sieben Erhebungsorten auftauchte. Diese Gemeinsamkeiten im Lexikon begründen Lucas und Kollegen mit der Entstehung der Gehörlosenschulen an den Erhebungsorten: Alle Gehörlosenschulen an den sieben Standorten hatten direkte oder indirekte Verbindungen mit der ersten Gehörlosenschule in den USA, der American School for the Deaf in Hartford, Connecticut, in der gehörlose Absolventen zu Lehrern ausgebildet wurden, die dann in die ganze USA geschickt wurden, um neue Schulen zu gründen. Ein ähnliches Muster lässt sich auch in der ehemaligen Sowjetunion feststellen, in deren früheren Mitgliedsstaaten bis heute noch die Russische Gebärdensprache (RSL) oder eine Varietät davon verwendet wird (Davidenko & Komarova 2012). Dies lässt sich auf die staatlich organisierte Errichtung von Gehörlosenschulen und eine zentralisierte Lehrerausbildung in Moskau und Sankt Petersburg zurückführen, von wo aus die Lehrer dann in die einzelnen Länder geschickt wurden. In ihrer Studie zu lexikalischer Variation in den Ländern Armenien, Georgien, Tadschikistan, Aserbaidschan, Kirgisien und Usbekistan war in allen Ländern bis auf Armenien ein minimal von der RSL abweichendes Lexikon vorzufinden, sodass Davidenko & Komarova zu dem Schluss kamen, dass es sich bei den in diesen Ländern verwendeten Sprachen immer noch um minimale regionale Varietäten der RSL handelt und nicht um eigenständige Gebärdensprachen. Ein weiterer interessanter Zusammenhang von lexikalischer Variation und Gehörlosenschulen existiert in Irland, wo sich die lexikalische Variation älterer Gehörloser am Geschlecht festmachen lässt (Le Master & Dwyer 1991). Dieser Zusammenhang entstand dadurch, dass über ein Jahrhundert lang Mädchen und Jungen in Dublin getrennt voneinander beschult wurden, sodass sich unabhängige Lexika entwickeln konnten, die heutzutage trotz der Zusammenlegung der Schulen zumindest zum Teil weiter beibehalten werden (Leeson & Grehan 2004). Eine gegenläufige Tendenz zur Entwicklung schulbezogener Varietäten bilden Standardisierungsbestrebungen, die in einigen Gebärdensprachen zu finden sind. Durch die Standardisierung einer Gebärdensprache wird die an Schulen gebundene lexikalische Variation wieder abgeschwächt. Ein Beispiel dafür sind die Niederlande, wo fünf unterschiedliche regionale Varietäten dokumentiert sind (Schermer 2004). Allerdings wurde im Zusammenhang mit der politischen Anerkennung der Niederländischen Gebärdensprache (NGT) und der Ausbildung von Gebärdensprachdolmetschern und Gehörlosenpädagogen von Seiten des Staates die Entwicklung eines standardisierten Lexikons eingefordert, was unter anderem dazu führte, dass die regionale Variation im Lexikon von NGT im Laufe der Zeit kleiner wurde (Schermer 2003). Neben dem Lexikon ist auch in der Grammatik von Gebärdensprachen Variation zu finden. Drei der umfassendsten Studien zu phonologischer Variation und Sprachwandel in ASL, Auslan (Schembri et al. 2009) und NZSL (Kennedy et al. 1997) untersuchten die Variation in der Ausführung der Parameter Ausführungsstelle (für alle drei Gebärdensprachen) und Handform (nur für ASL). Exemplarisch soll hier ein Ausschnitt der ASLStudie ausführlicher vorgestellt werden, in der Daten von 207 gehörlosen Muttersprachlern (sogenannte native signer) und Gehörlosen, die ASL in einem jungen Alter erworben hatten (sogenannte early learner signer) an sieben unterschiedlichen Orten in den USA erhoben und analysiert wurden (Lucas, Bayley & Valli 2001). Die Informanten wurden drei verschiedenen Altersgruppen zugeordnet und bestanden zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen, Weißen und Afro-Amerikanern, und zwei unterschiedlichen sozialen Schichten (Arbeiterklasse und Mittelschicht). Die phonologische Variation unterschiedli-
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
cher Gebärden wurde im Hinblick auf diese Faktoren untersucht. Dabei stellte sich beispielsweise heraus, dass bestimmte Handformen, die in einigen Regionen favorisiert wurden, in anderen Regionen durch andere Handformen ersetzt wurden. Gleichzeitig hatten das Alter, die soziale Schicht und der ethnische Hintergrund einen Einfluss auf die Verwendung von Handformen. Im Hinblick auf die Ausführungsstelle wurde bei 2594 ASL-Tokens untersucht, inwiefern Gebärden, die in ihrer Grundform an der Stirn oder in der Nähe der Stirn ausgeführt werden, auch tiefer (also beispielsweise an der Wange) ausgeführt werden können und welche Faktoren diese Variation in der Ausführungsstelle beeinflussen. Dabei wurde festgestellt, dass jüngere Gehörlose, Männer und nicht-muttersprachliche Gehörlose die tiefer ausgeführten Gebärden bevorzugt verwendeten. Zusätzlich gab es regionale und ethnische Unterschiede bei der Distribution der Ausführungsstellen (Lucas et al. 2001; Lucas, Bayley & Valli 2001; Lucas & Bayley 2010). Studien zu (morpho)syntaktischer Variation in Gebärdensprachen sind bis heute eher rar gesät. Eine größere Studie zu LIS untersuchte die Position von Fragewörtern in WFragen (Geraci et al. 2015). Gebärdensprachen unterscheiden sich von Lautsprachen in Bezug auf die Position der Fragewörter systematisch dahingehend, dass diese in vielen Gebärdensprachen bevorzugt in satzfinaler Position stehen. Zudem können sie auch insitu, verdoppelt in satzinitialer und satzfinaler Position und zum Teil auch nur am Satzanfang produziert werden. Im Gegensatz dazu ist in den meisten Lautsprachen eine satzinitiale oder eine in-situ-Position der Fragewörter der Normalfall. In ihrer Korpusstudie untersuchten Geraci et al. (2015), welche sozialen Faktoren die Präferenz der Position der Fragewörter in LIS beeinflussen. Die Ergebnisse zeigen, dass ältere Gehörlose (mit hohem Bildungsabschluss) die satzinitiale Position − die auch in der italienischen Lautsprache verwendet wird − bevorzugen, während jüngere Gehörlose (ebenfalls mit hohem Bildungsabschluss) Fragewörter eher in satzfinaler Position verwenden. Anscheinend liegt dabei ein Grammatikalisierungsprozess vor, der eine Loslösung vom Einfluss der italienischen Lautsprache beinhaltet und möglicherweise mit der Emanzipierung Gehörloser in Italien und einem stärkeren Bewusstsein für die Verwendung der Gebärdensprache einhergeht.
4. Variation in DGS Für DGS wurde, wie für andere Gebärdensprachen auch (s. Kap. 3.), immer wieder die Rolle von Gehörlosenschulen für die Entwicklung regionaler Varietäten hervorgehoben (Hillenmeyer & Tilmann 2012). In einer empirischen Studie zum Zusammenhang von regionalen Varietäten und den drei Gehörlosenschulen in Sachsen (Leipzig, Chemnitz und Dresden) stellen Eichmann & Rosenstock (2014) fest, dass auch für DGS eine Korrelation zwischen Schulen und regionalen Varietäten belegt ist (vgl. auch Jaeger & Heßmann 2016). Die Studie zeigt allerdings auch, dass diese Korrelation schwächer wird. Als Gründe dafür führen die Autorinnen Veränderungen im Bildungssystem wie die Abschaffung von Internaten und die Einrichtung inklusiver Schulen an. Ein weiterer Grund für diese Entwicklung könnte die breite Verwendung neuer Medien bei jungen Gehörlosen sein. Dies führt einerseits zu einer Abnahme der regionalen Variation in jüngeren Generationen und andererseits zu größeren Unterschieden zwischen jüngeren
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und älteren Signern. Bei der Stärkung der linguistischen Unterschiede zwischen den Generationen spielt auch die politische und gesellschaftliche Anerkennung von Gebärdensprache im Laufe der letzten Jahrzehnte eine zentrale Rolle. Die immer größer werdende Akzeptanz von Gebärdensprachen und das neue Interesse an DGS führte dazu, dass jüngere Signer ein größeres Sprachbewusstsein und damit auch ein größeres Selbstbewusstsein für die Gebärdensprache entwickelt haben und sich DGS damit mehr und mehr von einem starken lautsprachlichen Einfluss emanzipieren konnte. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nur wenige breit angelegte empirische Studien zu regionaler und sozialer Variation in der DGS. Die umfangreichsten Datenerhebungen beschäftigen sich mit regionaler lexikalischer und phonologischer Variation. Syntaktische Variationen sind im Gegensatz dazu kaum untersucht. Hillenmeyer & Tilmann (2012) erwähnen eine regionale Variation in der Verwendung der Tempusmarkierer KOMMEN (Futur) und GEWESEN (Präteritum). Während der Futurmarkierer KOMMEN im Norden und Westen Deutschlands nicht gebräuchlich zu sein scheint, wird der Präteritumsmarkierer GEWESEN vor allem im Norden verwendet. Ein wesentlicher Grund für das Fehlen empirischer Studien zur Variation in DGS ist die Schwierigkeit bei der Erhebung, Annotation und Auswertung repräsentativer Daten. Auch wenn das Erstellen gebärdensprachlicher Korpora immer noch unvergleichlich viel mehr Arbeit bedeutet als das Erstellen vergleichbarer laut- und schriftsprachlicher Korpora, so sorgen neue technische Möglichkeiten mittlerweile für erhebliche Verbesserungen in diesem Bereich. Mit dem Hamburger DGS-Korpus liegt nun erstmals ein repräsentatives wissenschaftliches Korpus vor, das auch neue Einblicke in die Variation in DGS bieten wird (DGS-Korpus Hamburg). Im Rahmen des von der Akademie der Wissenschaften in Hamburg geförderten Korpusprojekts wurden über 500 Stunden Videomaterial von 330 Informantinnen und Informanten aufgenommen. Das Korpus enthält sehr unterschiedliche Textsorten, die unter anderem nacherzählte Geschichten, freie Diskussionen oder Wegbeschreibungen umfassen (Hanke et al. 2009, 2010). Ein wesentlicher Aspekt bei den Aufnahmen war auch die Dokumentation regionaler Varietäten und unterschiedlicher Altersgruppen. Aus diesem Grund wurden die Daten von vier Altersgruppen in dreizehn unterschiedlichen Regionen aufgenommen. Komplettiert wird die Datenerhebung durch ein interaktives Online-Feedback-Tool, das es ermöglicht, gezielt zusätzliche Daten zur regionalen Verteilung von Gebärden zu sammeln (Groß et al. 2015; Langer et al. 2016). Da mittlerweile eine Basisannotation eines ausgewählten Teilkorpus vorliegt, lässt sich nun auch erstmals die lexikalische und phonologische Variation in DGS beschreiben. Darüber hinaus gibt es auch schon eine erste korpusbasierte Studie zur syntaktischen Variation in DGS, die anhand von ausgewählten Daten aus dem DGS-Korpus Variationen in der Wortstellung untersucht (Macht 2016). Im Folgenden werden wir die Ergebnisse einzelner Studien hinsichtlich lexikalischer, phonologischer und syntaktischer Variation ausführlicher vorstellen.
4.1. Variation im Lexikon Variation im Lexikon der DGS kann zum einen regional und zum anderen in Bezug auf das Alter festgemacht werden, wobei die regionale Variation nicht nur mit der geographischen Verteilung, sondern wie oben schon erwähnt vor allem auch mit der Verteilung
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
Abb. 33.1: Unterschiedliche Gebärden für „Montag“. Die Farben in Klammern markieren die regionale Verteilung der jeweiligen Gebärde auf der Karte in Abb. 34.2 unten (Langer et al. 2016) − © DGS-Korpus Hamburg
von Gehörlosenschulen in Deutschland in Verbindung gebracht werden kann. Auf der einen Seite gibt es eine relativ große überregionale Übereinstimmung von Gebärden mit hohem ikonischen Anteil wie zum Beispiel ESSEN, SCHLAFEN oder HAUS, die auf die starke ikonische Beziehung zwischen Form und Bedeutung zurückgeführt werden kann. Auf der anderen Seite gibt es sehr große regionale Unterschiede in den semantischen Feldern für Zahlen, Wochentage, Monatsnamen, Farben und Familienangehörige (Hillenmeyer & Tilmann 2012: 249 u. 250; König et al. 2012; Jaeger & Heßmann 2016). Wie im vorherigen Kapitel erwähnt, sind regionale Varianten in diesen semantischen Feldern auch für andere Gebärdensprachen belegt. Breit angelegte empirisch lexikographische Untersuchungen fehlen allerdings bisher für die meisten Gebärdensprachen. Auch für die DGS steht eine umfassende lexikographische Untersuchung noch aus, allerdings gibt es erste korpusbasierte Untersuchungen zu regionalen Verwendungen einzelner semantischer Felder wie Farbgebärden (Langer 2012), Gebärden für Wochentage (Langer et al. 2016) oder Funktionswörter wie den Konnektor ODER, das Modalverb WOLLEN und den Temporalausdruck JETZT (Hanke et al. 2017). Ein illustratives Beispiel für das lexikalische Variationspotential in DGS sind die sieben unterschiedlichen Gebärden für Montag, die in Abb. 33.1 aufgeführt sind. Die zugehörige Karte, die die regionale Verteilung der einzelnen Gebärden zeigt, ist in Abb. 33.2 abgebildet. Die Karte zeigt die gebärdensprachlichen Varianten von „Montag“ hinsichtlich ihrer regionalen Verteilung. Es lassen sich für die Verteilung der unterschiedlichen Varianten relativ klare dialektale Unterschiede in den Regionen Süd, Ost, Nordost und West feststellen. Zudem gibt es Regionen, in denen mehrere Varianten verwendet und akzeptiert werden. Während im Süden vor allem MONTAG5 verwendet wird, ist im Westen und Norden die Variante MONTAG3 gebräuchlich. Im Nordosten und in der Mitte Deutschlands
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Abb. 33.2: Regionale Verteilung der unterschiedlichen Gebärden für „Montag“ aus Abb. 33.1 oben. Auswertung von insgesamt 144 Korpustoken und 108 Feedback-Antworten von 131 unterschiedlichen Informanten (Langer et al. 2016) − © DGS-Korpus Hamburg
wird MONTAG1 verwendet und im Osten MONTAG10. Die anderen Varianten sind eher selten zu finden. MONTAG9 kommt im Wesentlichen in der Mitte Deutschlands vor und im Nordwesten. MONTAG4 und MONTAG8 sind dagegen als Varianten nur im Südwesten belegt. In Abb. 33.3 sind exemplarisch drei unterschiedliche Gebärden (GRÜN2, GRÜN3 und GRÜN9A) für das Konzept „grün“ in ihrer regionalen Verteilung dargestellt. Die Variante GRÜN2 ist eine einhändige Gebärde, die mit der F-Handform ausgeführt wird und eine schräge, wiederholte Auf- und Abwärtsbewegung beinhaltet. GRÜN3 ist ebenfalls eine einhändige Gebärde, bei der die Flachhand mit der Handfläche nach unten von rechts nach links mit einer Fingerbewegung am Kinn entlang bewegt wird. Die Variante GRÜN9A schließlich ist eine Zweihandgebärde, bei der beide Hände in Y-Handform vor dem Körper, mit der Handfläche nach unten eine kurze Bewegung mit Kontakt an der Brust vollziehen. Bei der Darstellung der regionalen Verteilung der Gebärden fällt auf, dass die Gebärde GRÜN9A (gelb) ausschließlich im Süden Deutschlands, die Gebärde GRÜN2 (blau) vornehmlich im Westen und die Gebärde für GRÜN3 (rot) mit wenigen Ausnahmen vor allem im Norden Deutschlands verwendet wird. Wie Langer (2012) beschreibt, können Ausnahmen durch unterschiedliche Faktoren wie Herkunftsort, aktueller und früherer Wohnort sowie Ort der Beschulung entstehen, die individuell variieren und dadurch die Sprachverwendung beeinflussen können. Eine andere Verteilung liegt bei den einzelnen Gebärden für „Frau“ vor. Hier gibt es eine Hauptvariante, die in fast allen Regionen Deutschlands verwendet wird. Die restlichen 11 Varianten finden hingegen nur in einzelnen Regionen Verwendung (Hanke et al. 2017).
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
Abb. 33.3: Regionale Verteilung der unterschiedlichen Gebärden für „grün“ (Langer 2012) − © DGSKorpus Hamburg
Altersbezogene lexikalische Variation ist zum einen für die Ausbildung eigenständiger lexikalischer Varianten, die sich von der lautsprachlichen Struktur der Konzepte emanzipieren, wie zum Beispiel SCHWERHÖRIG und ARBEITSLOS, beschrieben (Hillenmeyer & Tilmann 2012: 263), zum anderen aber auch für die Entwicklung neuer Lexeme zur Vermeidung homonymer Formen in jüngeren Generationen. So verwenden beispielsweise ältere Gehörlose im Süden eine manuell identische Gebärde für „oder“ und „Schwester“, die sich nur durch das Mundbild unterscheidet. Je jünger die Gehörlosen sind, desto weniger Verwendungen sind für diese Gebärde für „oder“ belegt. Stattdessen setzt sich bei jüngeren Signern in den süddeutschen Regionen entweder eine für diese Regionen spezifische Gebärde für „oder“ durch oder es wird eine der beiden überregional zu findenden Gebärden für „oder“ verwendet (Hanke et al. 2017). Bisher haben wir dargestellt, wie ein bestimmtes semantisches Konzept (zum Beispiel eine Farbe) in den unterschiedlichen Regionen lexikalisch realisiert wird. Abschließend möchten wir noch kurz die umgekehrte Frage stellen und untersuchen, welche semantischen Konzepte eine bestimmte Gebärde in unterschiedlichen Regionen realisieren kann. In DGS kann ein und dieselbe Gebärde teilweise sehr unterschiedliche Konzepte ausdrücken. Die einzelnen Konzepte werden dabei teilweise durch ein entsprechendes Mundbild unterschieden (vgl. auch nächstes Kapitel). Interessanterweise gibt es in diesem Bereich auch regionale Variation. Die Gebärde in Abb. 33.4 (abgeknickte flache Hand vor dem Kinn) kann beispielsweise für die folgenden Konzepte verwendet werden: „genug“, „Wasser“, „Hund“, „Februar“ und „Essig“. Für die einzelnen Konzepte gibt es wiederum in bestimmten Regionen alternative Gebärden.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Abb. 33.4: Gebärde, die für unterschiedliche semantische Konzepte verwendet wird, vgl. Abb. 33.5 (Groß et al. 2015) − © DGS-Korpus Hamburg
Abb. 33.5: Semantische Konzepte der Gebärden in Abb. 33.4, rot = wird von mindestens einer Person benutzt; blau = wird nicht benutzt, ist aber mindestens einer Person bekannt; grau = unbekannt; weiß = keine Informationen vorhanden (Groß et al. 2015) − © DGS-Korpus Hamburg
Interessant ist nun, dass die regionale Verteilung der Konzepte nicht einheitlich ist, wie die Karten in Abb. 33.5 zeigen. Während die ersten beiden Konzepte in weiten Teilen Deutschlands mit dieser Gebärde verbunden werden, sind die Bedeutungen „Hund“ und „Februar“ stark regional eingeschränkt. Die Bedeutung „Essig“ scheint sogar nur noch zum passiven Wissen einiger Signer im Süden und Norden zu gehören, wird aber mit dieser Gebärde nicht mehr aktiv realisiert.
4.2. Variation in der Phonologie Neben den manuellen Parametern Handform, Orientierung, Ausführungsstelle und Bewegung spielen in Gebärdensprachen auch nicht-manuelle Artikulatoren wie Oberkörper, Kopf und Gesicht eine zentrale Rolle. Eine wichtige nicht-manuelle Komponente in DGS ist das sogenannte Mundbild. Mundbilder sind Lehnelemente aus der umgebenden Laut-
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
Abb. 33.6: HamNoSys-Notation der unterschiedlichen Varianten der Gebärde © DGS-Korpus Hamburg
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BLAU
(Langer 2012) −
sprache und werden vor allem mit Nomen, Adjektiven und Verben verwendet (Boyes Braem & Sutton-Spence 2001). In manchen Varietäten der DGS werden manuell identische Gebärden alleine durch das Mundbild unterschieden. Ein Beispiel sind die Zweihandgebärden für POLITIK, VORBEREITEN und METHODE, die in bestimmten Varietäten der DGS manuell identisch sind und sich nur durch das Mundbild unterscheiden. Die Beispiele von phonologischer Variation lassen sich anhand der vorliegenden Studien in zwei Gruppen einteilen: Regionale Variation von Gebärden hinsichtlich der Parameter Handform und Bewegung sowie Variation in Bezug auf die Verwendung von Mundbildern. Bezüglich des Mundbilds lässt sich zusätzlich regionale Variation von altersspezifischer Variation abgrenzen. Die Veränderung von Handform und Bewegung als Zeichen regionaler Variation in der Phonologie wird in Hillenmeyer & Tilmann (2012) beschrieben. Als Beispiel hierfür führen sie die Zahlgebärden EINS und ZWEI an, deren Handform sich in der Ausführung in Süd- und Norddeutschland unterscheidet. Im Süden wird die Gebärde für EINS mit einem ausgestreckten Daumen gebärdet. Bei ZWEI kommt der Zeigefinger hinzu. Im Gegensatz dazu wird im Norden EINS mit einem ausgestreckten Zeigefinger (sogenannte Indexhand) gebärdet. ZWEI wird dann mit einem ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger gebärdet. Beispiele für Variation des phonologischen Merkmals Bewegung lassen sich in den Gebärden für die Zahlen 11 bis 19 und auch in den Gebärden für 20, 30, 40 usw. finden. Während im Süden die Gebärde ELF mit einer kurzen Bewegung des Handgelenks nach vorne produziert wird, wird dieselbe Gebärde im Norden mit einer kreisförmigen Bewegung der Hand gebildet. In Langer (2012) werden exemplarisch am Konzept für „blau“ sieben unterschiedliche Gebärdenvarianten dargestellt, die sich nur hinsichtlich der Handform oder Form, Größe und Art der Bewegung unterscheiden. Die einzelnen Gebärden sind in Abb. 33.6 in den Glossen des Hamburger Notationssystems (HamNoSys) dargestellt. Die Glossen zeigen die minimale phonologische Variation, die es zwischen zwei benachbarten Varianten gibt. Die ersten beiden Gebärden unterscheiden sich zum Beispiel nur in dem Merkmal ein- vs. zweihändig und die dritte Gebärde von der zweiten im Merkmal Handform. Eine
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ähnliche minimale Variation liegt auch bei den anderen Paaren vor. Dies bedeutet, dass es sich bei (a) bis (g) nicht um echte lexikalische Varianten handelt, sondern um jeweils minimale phonologische Varianten derselben zugrundeliegenden Gebärde. Die Verwendung des Mundbilds beim Gebärden unterscheidet sich vor allem zwischen den Altersgruppen. Ältere Signer verwenden mehr und deutlicher artikulierte Mundbilder. Außerdem verwenden sie für unterschiedliche Konzepte häufiger manuell identische Gebärden, die sich nur durch das Mundbild unterscheiden (s. Kap. 4.1. für ein Beispiel), während bei jüngeren Signern eine Tendenz dahingehend zu beobachten ist, dass aus der Lautsprache entlehnte Mundbilder weniger zentral für die Bildung lexikalischer Gebärden sind. Aus diesem Grund verwenden sie weniger Mundbilder und dafür mehr manuell unterschiedliche Gebärden, um verschiedene Konzepte auszudrücken (Hillenmeyer & Tilmann 2012: 264). Die unterschiedliche Verwendung von Mundbildern hat möglicherweise mit Unterschieden im Schulunterricht und dem zunehmenden gebärdensprachlichen Bewusstsein jüngerer Signer zu tun. Ein besonders interessanter Fall einer regionalen Variation von Mundbildern ist die Verwendung des Mundbilds am Beispiel des Kongruenzauxiliars PAM (Person Agreement Marker, Rathmann 2003 und Kap. 4.3. für eine ausführliche Beschreibung von PAM in DGS). In einer korpusbasierten Studie wurden 30 Informanten aus dem Hamburger DGS-Korpus hinsichtlich der syntaktischen Position des Auxiliars und der Verwendung des Mundbilds ausgewertet (zur syntaktischen Variation vgl. Kap. 4.3.). Neun Signer kamen dabei aus der Region Ost, zehn aus der Region West, sechs aus der Region Nord und fünf aus der Region Süd. Hinsichtlich des Mundbilds wurden regionale Unterschiede zwischen allen vier untersuchten Regionen gefunden. Während in den Regionen Nord und Süd in 50 % der Fälle noch das ursprüngliche Mundbild /auf/ das Auxiliar begleitet, ist dies in den Regionen Ost und West nur noch in einem Drittel aller Fälle zu beobachten. Ein weiterer Unterschied betrifft die Ausbreitung des Mundbilds der adjazenten Gebärde (normalerweise das Prädikat) auf das Auxiliar. In den Regionen Nord, Süd und Ost breitet sich das Mundbild dieser Gebärde in einem Drittel aller Fälle über das Auxiliar aus. Im Gegensatz dazu findet die Ausbreitung des Mundbilds im Westen in zwei Drittel aller Fälle statt. Die Ausbreitung des Mundbilds des Prädikats auf das Auxiliar könnte für eine phonologische Klitisierung des Auxiliars an das adjazente Prädikat sprechen, ein Prozess, der in ähnlicher Form auch in Lautsprachen zu beobachten ist. Ein weiterer Bereich phonologischer Variation sind unterschiedliche Register des Gebärdens. In formellen Registern sind ein größerer Gebärdenraum und ein genaueres Ausführen der Gebärde zu beobachten. In eher informellen Registern wird demgegenüber ein kleinerer Gebärdenraum verwendet. Außerdem können Gebärden phonologisch modifiziert werden. Bestimmte Zweihandgebärden werden nur mit der dominanten Hand ausgeführt, die Handform ist variabler und weniger präzise, und Mundbilder können durch Mundgestik, einer modalitätsspezifischen Form der nicht-manuellen Artikulation, ersetzt werden (Hillenmeyer & Tilmann 2012: 265 u. 266.).
4.3. Variation in der Syntax: Das Kongruenzauxiliar
PAM
Repräsentative empirische Studien zur Variation in der Syntax von DGS liegen bisher kaum vor. Dies hat unter anderem mit der fehlenden Annotation von Korpora auf der syntaktischen Ebene zu tun, die eine Korrelation von regionalen oder sozialen Merkma-
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
len mit bestimmten syntaktischen Strukturen ermöglichen würde. Darüber hinaus gibt es bisher auch keine gezielten Fragebogenstudien zur syntaktischen Variation, da solche Studien in Gebärdensprachen im Vergleich zu ähnlichen Studien in Lautsprachen unvergleichbar viel aufwändiger wären. Interessanterweise wurde schon früh eine Variation in der Stellung des oben schon erwähnten Kongruenzmarkierers PAM erwähnt (Pfau & Steinbach 2007), die nun in einer ersten umfassenden Korpusstudie belegt werden konnte (Macht 2016, 2018). Im Folgenden werden wir zuerst kurz die Grundlagen der Kongruenzmarkierung in Gebärdensprachen erläutern, bevor wir näher auf die Variation in der Stellung des Kongruenzmarkierers eingehen. In Gebärdensprache wird Kongruenz zwischen dem Verb und dem Subjekt und Objekt durch Modifikation der phonologischen Merkmale Bewegung und/oder Orientierung realisiert. Wie in Beispiel (1) illustriert, beginnt die Ausführung der Gebärde BESUCHEN an dem Raumpunkt, der mit dem Diskursreferenten des Subjekts verbunden ist (in diesem Fall 3a, einem Raumpunkt im ipsilateralen Bereich des Gebärdenraums, vgl. linkes Bild in Abb. 33.7), und endet an dem Raumpunkt des Objekts (1, also dem Oberkörper des Signers, vgl. rechtes Bild in Abb. 33.7). Die Orientierung der Hand ist dabei ebenfalls vom Subjekt zum Objekt ausgerichtet, wie in Abb. 33.7 gut zu sehen ist. (1)
GESTERN POSS1 MUTTER IX3a 3aBESUCHEN1
‘Gestern besuchte mich meine Mutter.’
Abb. 33.7: Bewegung und Handstellung des Kongruenzverbs BESUCHEN in Beispiel (1). Das linke Bild zeigt den Anfang der Ausführung der Gebärde, das rechte Bild das Ende − © SignLab Göttingen
Eine modalitätsspezifische Besonderheit von Gebärdensprachen ist, dass nicht alle Verben Kongruenz mit dem Subjekt und Objekt realisieren können. Neben den sogenannten Kongruenzverben wie BESUCHEN, GEBEN oder HELFEN gibt es auch sogenannte einfache Verben wie MÖGEN, KENNEN oder KAUFEN, deren Bewegungs- und Orientierungsmerkmale lexikalisch spezifiziert sind. Aus diesem Grund ist eine Modifikation der Merkmale zur Realisierung von Kongruenz mit dem Subjekt und Objekt nicht möglich (Mathur & Rathmann 2012). Viele Gebärdensprachen haben allerdings einen Weg gefunden, diese Kongruenzlücke zu schließen, und zwar mit Hilfe sogenannter Kongruenzauxiliare (Sapountzaki 2012). In DGS wird bei einfachen Verben der oben schon erwähnte Kongruenzmarkierer PAM eingefügt, um die Kongruenz mit dem Subjekt und Objekt overt zu realisieren. Dies ist in Beispiel (2) mit dem einfachen Verb MÖGEN illustriert. PAM ist hier ein Auxiliar, das wie in Abb. 33.8 gezeigt ebenfalls durch Modifikation der Bewegungs- und Orientierungsmerkmale Kongruenz mit dem Subjekt und Objekt ausdrückt, in diesem Beispiel
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allerdings in umgekehrter Richtung, da das 1. Person-Pronomen ist und der neue Lehrer (3. Person) Objekt. (2)
IX1
Subjekt des Satzes
IX1 NEU LEHRER MÖGEN 1PAM3a
‘Ich mag den neuen Lehrer.’
Abb. 33.8: Kongruenzmarkierung mit dem Kongruenzauxiliar PAM in Beispiel (2). Das linke Bild zeigt den Anfang der Ausführung der Gebärde, das rechte Bild das Ende − © SignLab Göttingen
In DGS hat sich das Kongruenzauxiliar aus dem Nomen PERSON entwickelt. Dabei handelt es sich um einen modalitätsspezifischen Grammatikalisierungspfad von einem Nomen zu einem Hilfsverb, der in den phonologischen, syntaktischen und semantischen Eigenschaften des Nomens begründet ist (Pfau & Steinbach 2007; Steinbach 2011; Pfau & Steinbach 2013). Pfau & Steinbach (2007: Fußnote 14) haben in ihrer typologischen Studie der Grammatikalisierung von Kongruenzauxiliaren schon darauf hingewiesen, dass das DGS Auxiliar PAM in unterschiedlichen syntaktischen Positionen auftreten kann. Während bestimmte Signer eine satzfinale Positionierung des Auxiliars wie in Beispiel (2) oben bevorzugen, präferieren andere Signer eine Position zwischen dem Subjekt und dem Objekt wie in (3) (Rathmann 2000, 2003). (3)
HANS3a 3aPAM3b MARIA MÖGEN
‘Hans mag Maria.’ Dieser informelle Befund war der Ausgangspunkt der ersten Korpusstudie zu syntaktischer Variation in DGS in Macht (2016). Grundlage der Studie war das Hamburger DGS-Korpus. In der Studie wurden, wie in Kap. 4.2. schon erwähnt, Daten von 30 jüngeren Signern (aus den beiden Altersgruppen 18 bis 30 und 30 bis 45) aus vier Regionen ausgewertet. Jüngere Signer wurden deshalb ausgewählt, da bei ihnen davon auszugehen ist, dass der oben erwähnte Grammatikalisierungsprozess des Kongruenzauxiliars am weitesten fortgeschritten ist. Insgesamt wurden in der Studie 347 Vorkommen des Kongruenzauxiliars analysiert. Die Ergebnisse sind aufgeteilt nach Regionen in Abb. 33.9 dargestellt. Die Auswertung der Daten zeigt, dass sich in DGS eine regionale Variation in der Wortstellung des Kongruenzauxiliars PAM finden lässt. Hierbei lässt sich für die Region Süd ein Unterschied zu den anderen drei Regionen (West, Ost, Nord) feststellen. Während im Westen, Osten und Norden PAM in drei Vierteln aller Fälle in postverbaler Position verwendet wird, ist die Verwendung von PAM im Süden flexibler: PAM wird im Süden zu ungefähr gleichen Teilen in post- und präverbaler Position verwendet.
33. Regionalsprachliche Merkmale in der Deutschen Gebärdensprache
Abb. 33.9: Syntaktische Position des Kongruenzauxiliars
PAM
in DGS nach Regionen
Interessanterweise gibt es eine zweite Tendenz, die allerdings nicht dialektal bedingt ist: Die konkrete Wortform des Auxiliars beeinflusst ebenfalls die syntaktische Positionierung. Wenn PAM mit einem 1. Person Objekt kongruiert, sind beide Abfolgen (präund postverbal) gleichermaßen belegt. Kongruiert PAM hingegen mit einem Objekt in der 2. oder 3. Person, dann ist eine klare Tendenz hin zur postverbalen Person zu beobachten.
5. Zusammenfassung Wir haben gezeigt, dass Gebärdensprachen ebenso wie Lautsprachen über ein großes Variationspotential im Lexikon und auf allen Ebenen der Grammatik verfügen. Die Variation hat dabei auch eine regionale und eine soziale Dimension. Darüber hinaus sind auch situative Varianten wie Register belegt (Schembri & Johnston 2012; Hillenmeyer & Tilmann 2012). In dieser Hinsicht unterscheidet sich Variation in Gebärdensprachen nicht von Variation in Lautsprachen. Trotzdem gibt es Unterschiede in der Art und im Ausmaß der Variation, die mit den linguistischen Eigenschaften der visuell-gestischen Modalität und dem spezifischen soziolinguistischen Status von Gebärdensprachen als besondere Minderheitensprachen in vielen Ländern zu tun haben. Die linguistischen Eigenschaften der visuell-gestischen Modalität führen dazu, dass in manchen Bereichen der Grammatik und des Lexikons das Variationspotential geringer ist. Der soziolinguistische Status von Gebärdensprachen hat unter anderem zur Folge, dass Schulen eine besondere Funktion bei der Entstehung und Verbreitung von linguistischen Varietäten zukommt. Hinzu kommt, dass Gebärdensprachen als nicht standardisierte und oftmals nicht offiziell anerkannte Minderheitensprachen zum einen eine große linguistische Flexibilität aufweisen
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und zum anderen auf eine besonders interessante Art und Weise mit den umgebenden Lautsprachen modalitätsübergreifend interagieren. Zukünftige breit angelegte Korpus-, Fragebogen- und Langzeitstudien werden mehr Aufschluss über die linguistischen Parameter und die regionalen und sozialen Dimensionen der Variation in DGS, das Verhalten von Signern in unterschiedlichen kommunikativen Situationen, den Einfluss anderer Gebärdensprachen wie ASL auf DGS und den Wandel der einzelnen Varietäten der DGS geben.
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Claudia Macht, Hamburg (Deutschland) Markus Steinbach, Göttingen (Deutschland)
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
34. Der Erwerb arealer Sprachvariation 1. Einleitung 2. Forschungsgegenstand
3. Aspekte der Variation 4. Literatur
1. Einleitung Als areale Sprachvariation kann man die Variation sprachlicher Merkmale in einem bestimmten Gebiet auffassen, das über das normal-pragmatische situative Maß hinaus arealspezifisch von Variation geprägt ist, und zwar durch den sozialen Gebrauch verschiedener Varietäten, beispielsweise in einer der Arten von Diglossie. Als areale Sprachvariation lässt sich aber auch die geographische Abfolge von regional-arealen Varianten − aggregiert in Varietäten − betrachten, die sich beispielsweise als Kantons- oder Ländermundarten „aneinanderreihen“, deren Unterschiedlichkeit und implizierte soziale Bewertungen ebenfalls erworben werden (müssen). Beide Typen der arealen Sprachvariation müssen von den Sprechenden individuell und sozial erlernt werden und insofern hat areale Sprachvariation stets einen Erwerbsaspekt. Nimmt man eine Abgrenzung von geographischen und situativen Faktoren vor, so blendet man die gegenseitigen Funktionalisierungen aus: Eine geographische Variante kann situativ wahrgenommen und/oder eingesetzt werden, genauso wie eine situative Variante eine geographisch unterschiedene Gruppe von Sprechern kennzeichnen kann (z. B. die hochdeutsche Aussprache zwecks Markierung im schweizerdeutschen Kontext; vgl. dazu die Funktionalisierungen der Deutschschweizer Dialekte im Film und die Verwendung bestimmter Kantonsmundarten für die Typen des Bösewichts, des Geizhalses etc.). Barbour und Stevenson, welche die Abgrenzung geographische vs. soziolinguistische Variation vereinfachend vornehmen, betonen jedoch gleichzeitig die Ausmaße und Abstufungen der Variationen im Deutschen: „Variation hat mit geographischen Gegebenheiten zu tun, wird aber auch von situationsgebundenen Faktoren und dem Verhältnis zwischen den Sprechenden beeinflusst. Sie kann als ein Merkmal aller natürlichen Sprachen betrachtet werden. Was die Variation des Deutschen so ungewöhnlich macht, sind ihre erstaunlichen Ausmaße und vielfältigen Abstufungen“ (Barbour & Stevenson 1998: 3). Der Erwerb arealer Sprachvariation als kognitive Fragestellung ist im Vergleich zu soziolinguistischen Fragestellungen zur Variation (vgl. z. B. Barbour & Stevenson 1998; Löffler 1985) und inzwischen auch zur strukturellen lexikalischen und grammatischen Variation (vgl. Dürscheid & Elspaß 2015; Elspaß & Dürscheid 2017) spärlich und wenig aktuell untersucht. Darüber hinaus sind bestehende Studien aufgrund der sehr spezifischen regionalsprachlichen Situationen und Bedingungen hinsichtlich der Generalisierbarkeit der Ergebnisse stark eingeschränkt (vgl. schon Häcki Buhofer 1998). Neuere Arbeiten stammen von Katerbow (2013), der am Beispiel des Moselfränkischen die regionalsprachliche Variation untersucht, die ihrerseits durch die Kommunikationsnetzwerke des Kindes und den Erwerb von pragmatischer Kompetenz zur situativen Differenzierung bedingt ist, sowie von Ender und Kaiser (Ender & Kaiser 2009, 2014; Ender 2017). Der vorliegende Beitrag kann deshalb nur punktuell Forschungsergebnisse darstellen und dokumentiert implizit − vor allem regional gesehen − viele Forschungslücken. Es wird versucht, die Forschungslage vor dem Hintergrund der für die Linguistik relevanten https://doi.org/10.1515/9783110261295-034
34. Der Erwerb arealer Sprachvariation
Fragen zur Funktionalität und Bewusstheit von Varianten zu verstehen. Untersucht und theoretisch modelliert wird die Funktionalität der Variation wie „Zitieren“ und „Markierung“ seit einiger Zeit (vgl. schon Werlen 1988; Christen 2000: 255; ferner Christen et al. 2010). Nicht „konversationelle“, „grundlose“ Variantenverwendung wird theoretisch tendenziell als defizitäre Nichtunterscheidung aufgefasst und deswegen als vergleichsweise uninteressantes Forschungsthema bewertet bzw. kaum untersucht.
2. Forschungsgegenstand Die psycholinguistische Seite, zu der auch der kindliche Spracherwerb gehört, ist für die verschiedenen Sprachsituationen des Deutschen in sehr unterschiedlichen Bedingungen zu untersuchen. Wenn man (nur schon) von den Situationen zum Spracherwerb des Deutschen in Österreich, Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz ausgeht, so sind folgende unterschiedliche Konstellationen gegeben: In der Deutschschweiz (wie auch im österreichischen Vorarlberg) besteht eine diglossische Sprachsituation, in der man sich entscheidet, entweder Standardsprache oder Dialekt zu sprechen, und kein Kontinuum verwendet. Dies wird in Deutschland und im übrigen Österreich anders gehandhabt, insofern SprecherInnen auf einer kontinuierlichen Skala variieren. Man kann die intermediäre Varietät mit dem traditions- und facettenreichen Begriff der Umgangssprache bezeichnen, die es in diesem Sinne folglich in diglossischen Situationen nicht gibt. Was weitere Unterschiede zwischen den Sprachsituationen betrifft, so wählen Deutschschweizer Eltern wohl kaum eine hochdeutsche Primärsozialisation, sprechen also kaum je mit ihren Kindern Hochdeutsch, wie das deutsche und österreichische elterliche Bezugspersonen auch als DialektsprecherInnen tun (können), wenn sie denken, dass sich damit die Bildungs- bzw. schulischen Chancen ihrer Kinder verbessern (vgl. Macha 1994; Penzinger 1985, 1994; Moosmüller & Vollmann 1994; Scholten 1988). Allerdings lernen auch Deutschschweizer Kinder Hochdeutsch schon vor der Schule in ungesteuertem Erwerb (vgl. Häcki Buhofer & Burger 1998; zur Infragestellung der Darstellung Vorarlbergs als diglossischem Raum bzw. zur Frage, ob das Kontinuum sich auch in herkömmlich diglossischen Situationen zunehmend herausbildet, vgl. Ender & Kaiser 2014). Je nach regionaler Situation, in der eine Varietät oder zwei Varietäten des Deutschen erworben werden, und je nachdem, ob es sich um kindlichen oder erwachsenen Spracherwerb handelt (der wiederum schulisch gesteuert oder ungesteuert bzw. kombiniert erfolgt), kann mit Variation Unterschiedliches bezeichnet werden: die „normale“ soziolinguistische Variation zwischen Registern, die Variation, welche für eine areal-diglossische Sprachsituation typisch ist, oder auch die Variation zwischen arealen Varianten, die geographisch aneinander anschließen. Areale Sprachvariation schließt sowohl den Erwerb von Merkmalen einer bundesdeutschen Sprachvariante durch österreichische Kinder als auch den Erwerb von Dialektmerkmalen durch primär standardsprachlich aufwachsende bundesdeutsche Kinder ein. Aber auch der kindliche Dialekt-Standarderwerb in der deutschen Schweiz gehört dazu (vgl. Häcki Buhofer & Burger 1998). Ein weiteres Teilthema stellt die Dialekt-Standard-Variation im Zweitspracherwerb dar. Auch dieser Aspekt ist für das Deutsche in der Forschung nach allgemeiner Auffassung bis heute stark vernachlässigt worden. Soweit der Erwerb von Varianten bei Kindern im Zweitspracherwerb überhaupt untersucht ist, liegt der Fokus auf dem Diglossie-
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
Erwerb von Kindern mit einer dritten Sprache als Erstsprache bzw. der Frage, ob und wie fremdsprachige Kinder über die Mischung zu funktionalen Verteilungen vorstoßen (vgl. Suter Tufekovic 2008; s. Kap. 3.3). Die aus Laiensicht bzw. der schulpädagogischen Perspektive naheliegende Frage nach der kognitiven Belastung durch diglossische und areale Variation im Zweitspracherwerb bzw. möglicher pädagogischer Komplexitätsreduktion wird in der Fachwissenschaft − angesichts der außereuropäisch vergleichsweise als unproblematisch wahrgenommenen Mehrsprachigkeitsverhältnisse − nicht ernst genommen bzw. wenig erforscht. Man untersucht also nicht oder nur ungern, wie sich Fehler und Fehlerreduktion im Zweitspracherwerb bei gleichzeitigem Erwerb von Dialekt und Standardsprache entwickeln (vgl. jedoch Katerbow 2013). In Bezug auf den Erwerb bei Erwachsenen werden typischerweise Fallstudien bevorzugt (vgl. z. B. Zeiter 2016), weil Untersuchungen mit Gruppen der Schwierigkeit unterliegen, dass die Situationen der nicht mehr schulpflichtigen Erwachsenen viel diffiziler zu typologisieren sind als diejenigen der Kinder, die durch den Verlauf des Erstspracherwerbs und durch den Einfluss der Schule und der Peergroup einheitlicher bestimmbare Bedingungen aufweisen. Die Faktoren, die den ungesteuerten Spracherwerb einer erwachsenen Person beeinflussen, sind sehr individuell, und es fällt schwerer, gleichartige Gruppen mit gleichartigen Voraussetzungen und Einflüssen zu bilden. Daher wählen Fallstudien zu Erwachsenen einen eher sprachbiographischen Zugang bzw. stützen sich auf Interviews und sind damit auf die Einzelperson bezogen. Natürlich kommt bei solchen komplexen Fragestellungen der Methodenkombination besondere Bedeutung zu, weshalb man mit Vorteil auch Sprachgebrauchsaufnahmen analysiert.
3. Aspekte der Variation 3.1. Ungesteuerter bzw. gesteuerter Erwerb bei Kindern und bei Erwachsenen Der gesteuerte Erwerb in der Schule wird von Schmidlin & Franceschini (vgl. Art. 38 in diesem Band) behandelt. Was den ungesteuerten Erwerb betrifft, so beruhen Ergebnisse dazu größtenteils auf systematischen Beobachtungen, weil die Verwendung von Varianten sowohl Kindern als auch Erwachsenen oft wenig bewusst ist und folglich relativ schlecht in Interviews erfragt werden kann, nicht zuletzt weil ihre Thematisierung eine detaillierte Analysefähigkeit voraussetzt (vgl. dazu auch Ender & Kaiser 2014 über die apparent discrepancy zwischen der subjektiven Kategorisierung der Befragten und den linguistischen Beobachtungen). Katerbow (2013) untersucht die lautliche Variation bei Kindern zwischen knapp vier und zehn Jahren und bearbeitet mit dieser Pilotstudie eine Schnittstelle zwischen Psycholinguistik und Variationslinguistik, die nach wie vor vernachlässigt wird. Als Methode verwendet er die Variablenanalyse und die phonetische Abstandsmessung (vgl. Herrgen et al. 2001). Die Kategorien für die beobachteten Lautungen sind „standardsprachliche“, „regionalsprachliche“, „hyperdialektale“, „inexplizite“ und „erwerbssprachliche“ Varianten. Die erwerbssprachliche Variation, worunter der Autor entwicklungsbezogene Fehler versteht, nimmt erwartungsgemäß mit zunehmendem Alter ab. Varietätenkontraste festi-
34. Der Erwerb arealer Sprachvariation
gen sich ab ca. sechs Jahren. Der Autor kann bestätigen, dass die Sprachvariation auch bei Kindern situativ, also von der Kommunikationssituation abhängig ist. Häcki Buhofer & Burger (1998) zeigen anhand von zahlreichen Beobachtungen in verschiedensten Situationen die Besonderheiten dieses kindersprachlichen Hochdeutschs auf, diskutieren die Stellung des spezifischen Spracherwerbstyps zwischen Erst- und Zweitspracherwerb und begründen eine Theorie des ungesteuerten vorschulischen Hochspracherwerbs in der aktuellen Situation einer diglossischen Gesellschaft. Konkret wird der Umgang mit den Varianten des hochdeutschen Varietätensystems untersucht. Zusätzlich werden viele einzelne Beobachtungen des Sprachgebrauchs als Ausdruck kindlicher Strategien dargestellt. Die verwendeten Varianten können bei einem Großteil der Fälle als systematischer Umgang mit dem weiteren Varietätensystem beschrieben werden. Die Studie zeigt auf, dass und wie Kinder im Kindergarten- bzw. frühen Primarschulalter mit schweizerdeutschem Hintergrund Hochdeutsch bereits ungesteuert erwerben und schweizerdeutsche Strukturen und Wörter teilweise mittels Transformationsregeln (also Strategien eines Zweitspracherwerbs) ins Hochdeutsche überführen. Weil sich jedoch die beiden Varietäten nicht in jeder Hinsicht auf gleiche Weise ähnlich oder unähnlich sind bzw. weil es auch gleiche Aspekte der Varietäten gibt, kommen zusätzlich Strategien eines kontextuell abgestützten Erstspracherwerbs zur Anwendung. Insgesamt nehmen Fluktuationsphänomene − das Importieren von schweizerdeutschen Elementen ins Hochdeutsche − erwartungsgemäß ab. Dabei geht die frühere und bessere Beherrschung der adäquaten Varianz bei den Kindern auf Kontakt- und Konsumsituationen zurück: Hochdeutschsprechende Bezugspersonen in der Umgebung, hochdeutsche Medien sowie Qualität und Quantität des Konsums fördern bis zu einem gewissen Grad Bekanntschaft und Lernerfolg (vgl. Häcki Buhofer & Burger 1998). Wie umfassend ein wie großer Teil der Bevölkerung variiert, ist eine empirische Frage, die mittels Beobachtungen zu klären und anhand von Befragungen und sprachbiographischen Zugängen zu untersuchen ist, wobei die dadurch gewonnenen Aussagen wiederum durch Aufnahmen zu ergänzen sind. Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen lässt sich fragen, wie einheitlich sie mit ein und derselben Form umgehen, die zu einer Varietät (beispielsweise einem Dialekt) gehört, also beispielsweise mit der baseldeutschen Vokaldehnung wie in Baasel. Die Variation kann von 0−50 % zugunsten der traditionell lokalen Form oder von 51−100 % zugunsten einer nicht lokalen Form reichen. Bei Jugendlichen ist feststellbar, dass sie im Erstsprachdialekt heterogener sprechen als Erwachsene. So realisierten beispielsweise jugendliche StudienteilnehmerInnen aus Basel weniger Dehnungen als die Erwachsenen. Das heißt, sie verwendeten sowohl gedehnte als auch nicht gedehnte Formen und benutzten daher eines der Merkmale seltener, welches die Dialekte der Nordwestschweiz von den meisten anderen Deutschschweizer Dialekten unterscheidet und welches die Dialekte der Nordwestschweiz mit dem Standarddeutschen sowie den elsässischen und badischen Dialekten gemeinsam haben (vgl. Hofer 1997; Häcki Buhofer 1998). In der Schule werden nicht nur die Sprachvarietäten erworben, die offizielles Lehrund Lernziel darstellen, sondern es ergibt sich durch die Peergroup auch eine Fokussierung auf einen regional bestimmten, informellen Sprachgebrauch. Die sogenannte Jugendsprache bildet hierbei nur einen kleinen Teil. Was den Erwerb des Umgangs mit verschiedenen Dialekten betrifft, so spielt die Ortsmundart für Deutschschweizer Kinder und Jugendliche immer noch eine zentrale Rolle. Viele Kinder werden in ihrer Sozialisation mit verschiedenen schweizerdeutschen Dialekten konfrontiert, beispielsweise weil
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
in vielen Fällen die Eltern verschiedene Dialekte sprechen. Dennoch lernen sie meist eine Ortsvariante, allerdings ohne alle herkömmlichen Spezialitäten und nicht mit Bezug auf alle Merkmale (vgl. Häcki Buhofer 1998; auch Christen 1997: 362). Durch den Umgang mit sozialen Situationen, in denen „fremdgesprochen“ wird, ist die Variantentoleranz im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung zwangsläufig größer geworden. Die Zahl der ortspunktbestimmenden Merkmale hat abgenommen, während jedoch die regionale Fokussierung in der Schulzeit durch die Peers als Teil der Sozialisierung noch immer stattfindet. Die Spracherwerbssituation in der Deutschschweiz ist insofern vergleichbar mit der süddeutschen und der österreichischen Spracherwerbssituation − auch wenn man bei den beiden letzteren von einem Dialekt-Standard-Kontinuum spricht und nicht von einer Diglossiesituation (vgl. jedoch Macha 1994: 34−35, der von der Spracherwerbssituation in der deutschen Schweiz als „singulärer Erscheinung“ spricht). Zum Umgang von nicht-deutschsprachigen Kindern mit einem deutschen Varietätengefüge liegen einige Studien vor (Gyger 2005; Landert 2007; Suter Tufekovic 2008; Häcki Buhofer et al. 2007). Einen ganzen Komplex von Analysen und Forschungsberichten über den Hochdeutscherwerb von mehrsprachigen Kindern hat Gyger erarbeitet, die u. a. einen vierjährigen Schulversuch Standardsprache im Kindergarten sprachwissenschaftlich begleitet hat, der 2005 abgeschlossen wurde. Dabei sollte die Frage beantwortet werden, ob und inwiefern sich eine Umstellung auf Standardsprache in Kindergärten mit einem hohen Anteil fremd- und mehrsprachiger Kinder (d. h. mehr als 75 %) empfiehlt. Das Projekt Standardsprache im Kindergarten (2001−2005) führte zu folgenden Resultaten: Die Ergebnisse zur mündlichen Kompetenz ergeben kein eindeutiges Bild hinsichtlich einer positiven Auswirkung der Standardsprache auf den Zweitspracherwerb an sich. Die Sprachtests belegen vergleichbare Sprachfähigkeiten bei mehrsprachigen Kindern in schweizerdeutschen bzw. hochdeutschen Kindergärten. „Die spontanen Sprachproben hingegen ergeben bei der Versuchsgruppe mit Standardsprache im Kindergarten eine stärkere Zunahme an Sprechfreude und Wortschatz als bei der Vergleichsgruppe mit Mundart im Kindergarten“ (Gyger 2005: 8). Interessant ist die Schlussfolgerung, dass die Lehrkräfte Entscheidungshilfen bei der Verwendung von Vokabular aus dem Bereich der Grenzfälle des Standards sowie einen hochdeutschen Alltags-, Affektund Vulgärwortschatz benötigen: Von Finken ‘Hausschuhe’ bis zu Schnuder ‘Rotz’ muss eine vertretbare Variante gewählt werden können. Immer wieder wird gefragt, ob die Sprachsituation in der Deutschschweiz, also eine Diglossiesituation mit zwei funktional verteilten Varietäten, eine besondere Schwierigkeit im Spracherwerb von Kindern nichtdeutscher Erstsprache darstelle. Häcki Buhofer, Schneider & Beckert (2007) gehen von folgendem Hintergrund aus: Bisherige Studien, welche sich dem Hochdeutscherwerb von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen in der Deutschschweizer Diglossiesituation gewidmet haben, konstatieren im besseren Fall spezifische Erwerbsbedingungen − die angesprochene Diglossiesituation − und spezifische lernersprachliche Phänomene. Im problematischeren Fall werden den Erwerbsbedingungen unbesehen erhöhte Anforderungen zugeschrieben und bei Mehrsprachigen allgemein geringere Kompetenzen vermutet. Dies geschieht ungeachtet der Dauer des Besuchs einer deutschsprachigen Schule und ungeachtet all der Faktoren, die − unter dem Konzept der Resilienz zusammengefasst − eine positive Schutzfunktion übernehmen können.
34. Der Erwerb arealer Sprachvariation
Ergeben sich also aus der Diglossiesituation besondere Anforderungen, Schwierigkeiten oder Probleme für jene, die Deutsch als Zweitsprache lernen? Oder ist eine Diglossiesituation ein weit verbreiteter Aspekt einer global gesehen „normalen“ Sprachsituation, die sich im Verlauf des Spracherwerbs bewältigen lässt, ohne zu Auffälligkeiten zu führen? Wenn es um den frühen gesteuerten Fremdsprachenerwerb oder um bilingual aufwachsende Kinder geht, hat die Wissenschaft die kognitive Überbelastung zurückgewiesen. Sollte die durch die Lebenssituation gegebene Ausbildung von zweisprachigen Kompetenzen eine Hürde darstellen, die nicht alle Kinder nehmen können? Die Diglossiesituation der Deutschschweiz hat ihre Besonderheiten (und ist dennoch kein Sonderfall). Weder hat die Schweizer Varietät kein Prestige (wie es für die Low Variety gemäß klassischer Definition charakteristisch sein soll) noch trifft eine mediale Verteilung − Hochdeutsch geschrieben, Schweizerdeutsch gesprochen − generell zu. Auch wird Hochdeutsch nicht nur gesteuert in der Schule erworben (vgl. zu Konzept und Erwerbsprozessen Häcki Buhofer & Burger 1998). Die bisher für die deutschsprachige Schweiz vor allem untersuchten Altersgruppen sind Kinder im Kindergarten- und im frühen Schulalter. Der Hochdeutscherwerb von Kindern in der Deutschschweiz war in den vergangenen 15 Jahren verschiedentlich Gegenstand größerer Projekte. Dabei hat sich gezeigt, dass die Kinder schon im Vorschulalter über zum Teil erstaunliche passive, aber auch aktive Kenntnisse des Hochdeutschen verfügen und dass die Primarschule viel zu wenig mit diesem Vorwissen rechnet(e). Diese Kenntnisse werden „ungesteuert“, also z. B. durch Medienkonsum oder Kontakt mit muttersprachlich Hochdeutsch sprechenden Personen erworben. Die emotionale Distanz der DeutschschweizerInnen zum gesprochenen (nicht zum geschriebenen) Hochdeutschen wird − gegenläufig zur ungesteuerten Entwicklung − während und in den ersten zwei Primarschulklassen durch allgemeine Sozialisationsprozesse und gegen die Intention der Lehrpersonen erworben (vgl. Häcki Buhofer & Burger 1998). An die Studien von Häcki Buhofer und Burger knüpft die Studie von Landert (2007) an. Sie untersucht die Problematik jedoch in einem speziellen und aktuellen Umfeld: im Zusammenhang mit dem QUIMS-Projekt (Qualität in multikulturellen Schulen, d. h. Schulen mit mindestens 50 % Anteil an Fremdsprachigen). In solchen Kindergärten und Schulen bietet sich Hochdeutsch als Umgangssprache auch bei kleinen Kindern an. Es zeigt sich, dass die Kinder aus dem Kindergarten, in dem Hochdeutsch gesprochen wird, flüssiger, reichhaltiger und in längeren Texten sprechen. Allerdings ist ihr Hochdeutsch formal nicht besser. Lexikalisch sind Kinder der ersten Primarklasse durch ungesteuertes Lernen schon wesentlich weniger dialektnah als Kindergartenkinder. Interessant aber sind hier die Auffälligkeiten bei den mehrsprachigen Kindern in dieser frühen Phase der institutionellen Erziehung. Diese weisen im Gegensatz zu den muttersprachlich deutschen Kindern Verstöße gegen die Kongruenzregeln, Auslassungen von obligatorischen Artikeln sowie Kasusfehler auf. Sie verwenden auch besonders häufig die periphrastische Konstruktion tun + Infinitiv. Ein erwerbstheoretisch interessanter Befund ist der, dass die Kinder mit fremdsprachigem Hintergrund stärker lexikalisch lernen, da sie nicht in gleicher Weise wie die muttersprachlich deutschen Kinder auf ein System von TransferRegeln zurückgreifen können. Die Sprachbiographien einzelner Kinder, welche die Arbeit abrunden, zeigen wenigstens tendenziell, dass für die Kinder eine positive Einstellung der Eltern und der Lehrkräfte zum Hochdeutschen für den Erwerb förderlich ist. Dabei haben die fremdsprachigen Kinder offensichtlich einen problemloseren Zugang zum Hochdeutschen. Die individuel-
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len Sprachprofile illustrieren des Weiteren, wie komplex die Spracherwerbsbedingungen besonders der mehrsprachigen Kinder sind und zeigen, dass der Einfluss der familiären, sozialen und medialen Umgebung kaum überschätzt werden kann. Die äußerst differenzierte Analyse ermöglicht erstmals eine vorsichtige Einschätzung der Wirksamkeit des Schulversuchs Hochdeutsch auch im Kindergarten aus linguistischer Perspektive. Es bestehen jedoch kaum mehr Zweifel, dass bei allen berechtigten Wünschen nach Förderung des Schweizerdeutschen im Kindergarten bei ein- und mehrsprachigen Kindergruppen das Hochdeutsche ebenso einen Platz im Rahmen der institutionellen Förderung bereits im Kindergarten einnehmen wird. Häcki Buhofer, Schneider & Beckert (2007) sind mit Blick auf die Kompetenzen, Einstellungen und Gewohnheiten bezüglich des Schreibens und Sprechens in der Diglossiesituation von mehrsprachigen Jugendlichen zu folgenden Ergebnissen gelangt: Bezüglich der literalen Aktivitäten in der Freizeit lässt sich eine situativ bedingte Verwendungsweise der Varietäten konstatieren. Dabei zeigen sich zwischen Ein- und Mehrsprachigen keine Unterschiede: Bei den meisten bildet nebst dem Hochdeutschen auch der Dialekt Lese- und Schreibsprache. Die Wahl der Varietät hängt mit einer Anpassung an die Varietät der KommunikationspartnerInnen und mit der jeweiligen Textsorte oder Textlänge zusammen. Die schriftliche Kommunikation mit KollegInnen über neue Medien (MSN, SMS) ist dialektdominiert. Demgegenüber findet nicht-kommunikatives Schreiben, wie beispielsweise das Verfassen von Geschichten, überwiegend in der Hochsprache statt. Ansonsten bietet sich das Bild einer relativ heterogenen, indes personenbezogen stabilen Verwendungsweise: Schriftliche Kommunikation mit Erwachsenen, Tagebuchschreiben und Briefeschreiben finden personenabhängig relativ konsequent auf Hochdeutsch oder im Dialekt statt. Was das Sprechen anbelangt, weisen die Mehrsprachigen eine insgesamt häufigere Verwendung der Hochsprache auf, welche in gewissen Situationen an die Stelle des von Einsprachigen verwendeten Dialekts tritt. Die Antwort auf die Frage, ob Mehrsprachigkeit einen Risikofaktor darstellt, insbesondere was den Erwerb des (standardsprachlichen) Lesens und Schreibens in einer Diglossiesituation betrifft, ist den Autoren zufolge mehrschichtig und bedarf einiger Differenzierungen. Zunächst gilt es zu fragen: Risikofaktor bezüglich was? Möglicherweise und nach allgemeiner Auffassung lassen sich schriftliche Schülertexte unter dem Aspekt der Rechtschreibung und der Grammatik so analysieren, dass bei Mehrsprachigen, welche erst kurz eine deutschsprachige Schule besuchen und Deutsch als Zweitsprache lesen und schreiben lernen, Defizite aufgezeigt werden. In einem späteren Lernalter sind in der verwendeten Stichprobe diesbezüglich kaum mehr Unterschiede festzustellen. Nimmt man allerdings pragmatisch-funktionale Dimensionen des Schreibens als Bewertungsnorm, dann lassen sich bereits in einem jüngeren Lernalter, erst recht aber später, kaum mehr Unterschiede zwischen Texten von Ein- und Mehrsprachigen ausmachen. Im Anschluss an diesen Befund stellt sich natürlich die Frage, welche Norm denn die gültige sein solle. Der Beitrag plädiert nicht für die „Abschaffung“ von Rechtschreibung und Grammatik als Bewertungsmaßstab für schriftliche Texte, vertritt aber die Ansicht, dass diejenigen Normen ergänzt (und dadurch in ihrem Gewicht verringert) werden sollten, die für das alltägliche Schreiben, wie es im beruflichen Alltag vieler Menschen vorherrscht, maßgeblich sind. Selbstverständlich muss in der obigen Argumentation mitbedacht werden, dass in vielen Berufen hohe Anforderungen an die literalen Kompetenzen gestellt werden. Nur indem man die Anforderungen anders definiert, wird man Jugendliche nicht auf solche
34. Der Erwerb arealer Sprachvariation
Berufe vorbereiten. Jedoch darf bei der Beurteilung literaler Leistungen im schulischen Unterricht die für die literale Sozialisation wichtige Dimension der als sinnvoll erlebten Einbettung von Schriftlichkeit im eigenen Leben nicht vernachlässigt werden, weil sonst, gerade bei risikobehafteten Jugendlichen, die Motivation für das Lesen und Schreiben gefährdet wird. Rechtschreibung und Grammatik sind nicht das Ziel eines schriftlichen Textes, sondern allenfalls Mittel zum Zweck. Und: Lesen geschieht nur ausnahmsweise mit dem Ziel, knifflige Fragen über das Gelesene zu beantworten. In vielen Lesesituationen stehen ganz andere Motive im Vordergrund. Diese darf die Schule nicht ausblenden, wenn sie bei den SchülerInnen eine habituelle Lesepraxis aufbauen will. Und dass gelesen und geschrieben wird, ist enorm wichtig, denn Lesen und Schreiben lernt man ein gutes Stück weit durch Lesen und Schreiben. In Modellen, die den Lernprozess konzeptualisieren, versucht man, die Variation tendenziell zu reduzieren. Der Grund dafür liegt in der befürchteten größeren kognitiven Beanspruchung und der pädagogischen Angst vor Mischphänomenen und Misch-Codes, die kein lernerisches Durchgangsstadium darstellen, sondern fossilisieren (vgl. Gyger passim). Ob die verschiedenen arealen Varietäten jeweils auseinandergehalten werden können oder nicht, ist in vielen Fällen eine empirisch nicht entschiedene und daher interpretationsbasierte Frage mit gegensätzlichen Auffassungen darüber, ob das Kind in der Lage ist, die Varietäten auseinanderzuhalten, oder ob der Wechsel funktional ist, weil in der einen Varietät ein Wort fehlt, das der anderen entnommen werden kann. Mischphänomene gelten aber traditionell als defizitäres Sprechen, wenn sie nicht bewusst und funktional sind (vgl. Suter Tufekovic 2008: 252). Bei Erwachsenen zögert die Forschung allerdings etwas stärker, das so zu sehen.
3.2. Erwachsene Erwachsene, die Formen der arealen Sprachvariation erwerben, sind oft in einer Zweitspracherwerbssituation, sie erwerben also die Variation einer Zweitsprache, die durch zwei Varietäten gekennzeichnet ist. Ender (2017) stellt solche Erwerbsprozesse anhand von englischsprachigen Personen in der deutschen Schweiz dar. Sie zeigt an drei Modellpersonen, wie sie gelernt haben, mit der arealen Varietätensituation umzugehen: Sie tun dies sehr unterschiedlich. Im Ergebnis differieren sie stark zwischen sprachlichem Mischen und einer Orientierung am Hochdeutschen bzw. haben sie die unterschiedlichen Varietäten nah am zielsprachlichen Sprachgebrauch erworben (wohlverstanden innerhalb von rund 20 Jahren). Wie sich diese Unterschiede erklären lassen, kann ohne Untersuchungen zu individuellen Unterschieden der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, der individuellen Sprachverarbeitung und der individuellen Sprachbegabung, die offensichtlich eine große Bandbreite aufweisen kann, nicht dargelegt werden. Aus dem, was erst- oder zweitsprachlernende Erwachsene an arealen Varianten kennen und verwenden, kann man schließen, was sie gelernt haben müssen, aber leider nicht, wie sie es gelernt haben. Insofern als sich die Lernergebnisse stark unterscheiden, kann man davon ausgehen, dass auch Lernprozesse sehr unterschiedlich sind, ja individuell sein müssen. Aus welchen Gründen, bleibt jedoch mangels Forschungsergebnissen bisher ungeklärt, und es lassen sich bloß Vermutungen über Faktoren (z. B. die Stärke des Assimilationswunsches) anstellen (vgl. Ender 2017), wobei dieser Faktor jedoch nicht empirisch untersucht wird.
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III. Die arealen Varietäten des Deutschen: Übergreifende Aspekte
3.3. Reflexion/Metakommunikation/Wissen/Bewusstheit Sprachverhalten und Wissen in den jeweils verschiedenen Aspekten lassen sich nur analytisch sauber trennen. Denn zum einen ist es nicht so, dass das Sprachverhalten auf dem Sprachwissen aufbaut, sondern − zumindest beim kindlichen Spracherwerb − eher umgekehrt. Andererseits wird Sprachbewusstheit und Sprachwissen zwar fortschreitend erworben, auch in Abhängigkeit vom Schulunterricht, aber nicht immer in derselben „Vollständigkeit“ und auch nicht immer in Übereinstimmung mit dem realen Sprachverhalten. Reflexion, Wissen usw. werden über Interviews oder spontane metakommunikative Äußerungen zugänglich, deren Grundlage bzw. Vorform oder emotionale Seite sich als unterschiedliche Einstellungen äußern. Auf die Frage, wie mehrsprachige Kinder im Primarschulalter lernen, was Schweizerdeutsch und Hochdeutsch ist, gibt die Studie von Suter Tufekovic (2008) Antwort. Die jüngeren mehrsprachigen Kinder − ErstklässlerInnen − wussten zum Teil nicht, was Schweizerdeutsch und Hochdeutsch bedeutet und konnten die Varietäten noch nicht differenzieren und benennen. Die älteren Kinder − DrittklässlerInnen − wussten alle von den beiden Sprachformen, konnten sie aber nicht immer richtig unterscheiden und benennen. Mit der Aufenthaltsdauer in der Schweiz haben ihre Kenntnisse sehr wenig zu tun. Im Unterschied zu den Kindern, die Hochdeutsch auf der Basis des Schweizerdeutschen als Varietät der Erstsprache lernen, benützen mehrsprachige Kinder „verhochdeutschte“ und „verschweizerdeutschte“ Wörter in ihren Erzählungen. Manchmal tun sie das bewusst, weil ihnen das Wort in der entsprechenden Varietät nicht bekannt ist, und manchmal stellen diese Wörter auch einfach Varianten von Lernervarietäten dar. „Punktuelle“ Code-Fluktuationen werden häufig von Kindern benutzt, deren Deutsch sich noch auf einer tiefen Anfängerstufe befindet. Bei den Code-Switchings sind konversationelle und bilinguale zu beobachten (Suter Tufekovic 2008: 295−296).
Konversationelle Code-Switchings grenzen Nebenäußerungen, aber auch „direkte Rede“ der Bildfiguren ab. Bilinguale Code-Switchings beziehen die Erstsprache der Kinder mit ein. Der Variantengebrauch hängt zudem mit der Ähnlichkeit der Sprachen zusammen. Entlehnungen werden eher zwischen ähnlichen Sprachen vorgenommen, auch bzw. gerade wenn beides Fremdsprachen sind (foreign language principle) (vgl. Suter Tufekovic 2008: 287). Diese Ähnlichkeit muss ja aber wahrgenommen werden. Auch Kinder, die in einer Hochdeutsch-Klasse eingeschult werden, verwenden zusätzlich zum Hochdeutschen den Dialekt, was zeigt, „dass der (außerschulische) Kontakt mit dem Dialekt bereits ausreicht, um Mischphänomene hervorzubringen“. Suter Tufekovic zufolge „lassen [sie] sich nicht vermeiden und gehören zu einer normalen Lernervarietät − schließlich sollen die Kinder ja auch lernen mit beiden Varietäten umzugehen“ (Suter Tufekovic 2008: 297). Andererseits hängen Mischphänomene möglicherweise mit dem Sprachdifferenzbewusstsein zusammen (vgl. Suter Tufekovic 2008: 255−256), wobei jedoch mangelhafte Sprachdifferenzierung (scheinbar) nicht unbedingt auf fehlendes Sprachdifferenzbewusstsein hindeuten muss. Mischphänomene können verschiedene Hintergründe haben und werden terminologisch verschieden gefasst, je nach Systematik und Bewusstheit, die dahinterstehen: entweder als Fusion (wenn die beiden Sprachen nicht auseinandergehalten werden) oder als Code-Mixing (wenn die beiden Sprachen getrennt, aber nicht zielgerichtet auf die InteraktionspartnerInnen abgestimmt sind) (nach Suter Tufekovic 2008: 253). „Beim Zweitspracherwerb, der verzögert stattfindet, spricht man nicht mehr von Fusion, wenn die Spra-
34. Der Erwerb arealer Sprachvariation
chen unsystematisch und nicht auf die Zuhörenden ausgerichtet werden“ (Suter Tufekovic 2008: 253), sondern von Code-Fluktuation, im Unterschied zu Code-Switching (bewusster Sprachwechsel), als aus mangelndem Sprachbewusstsein erfolgte Vermischung. „Den Sprachlernenden gelingt es (meistens), mit zunehmendem Sprach(differenz)bewusstsein die Sprachen auch beim Sprechen auseinanderzuhalten. In diglossischen Sprachgemeinschaften findet sich zudem ein Mischphänomen, das aus einem allmählichen ‚Abdriften‘ von der einen in die andere Sprache (oder Sprachvarietät) besteht“ (Code-Shifting, vgl. Suter Tufekovic 2008: 253; ältere Studien vgl. Häcki Buhofer 1989; Häcki Buhofer & Studer 1993; Häcki Buhofer et al. 1994; Häcki Buhofer 2000). Vor der Jahrtausendwende konnte man noch sagen, dass Erwachsene in der Deutschschweiz gegenüber dem Sprechen des Hochdeutschen eher negativ eingestellt waren und sich diese Einstellung über das schulische Umfeld und die außerschulische Sozialisation auf die zunächst noch unbelasteten Kinder übertrug (vgl. Häcki Buhofer 1998; Häcki Buhofer & Burger 1998). Daraus haben sich funktionale Differenzierungen ergeben, insofern Hochdeutsch dem Ausdruck von Ernsthaftigkeit, Normierung und Formalität eines Anliegens diente. Inzwischen hat sich die Einstellung vieler SprecherInnen gegenüber dem Hochdeutschen aufgrund sozialer Kontakte und aktiver Lebensabschnitte in anderen deutschsprachigen Gebieten doch so weit verändert, dass man in Bezug auf informelle Situationen nicht mehr durchgehend von einer negativen Einstellung sprechen kann (vgl. Häcki Buhofer 2017).
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34. Der Erwerb arealer Sprachvariation
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Annelies Häcki Buhofer, Basel (Schweiz)
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt 35. Die deutschen Regionalsprachen im Grenzkontakt 1. 2. 3. 4.
Gegenstandsbestimmung Grenzkontakt mit der Germania Grenzkontakt mit der Romania Grenzkontakt mit der Slawia-Magyaria
5. Grenzkontakt innerhalb des deutschen Sprachraums 6. Literatur
1. Gegenstandsbestimmung Die (deutsche) Grenzdialektologie ist eine Disziplin, die thematisch-inhaltlich schwerpunktmäßig auf institutionelle Grenzen ausgerichtete sprachwissenschaftliche Studien vereint und als variationslinguistische Teildisziplin verstanden werden kann, weil sie sich mit u. a. (ethno-)dialektologischen, soziolinguistischen, kontakt-/konfliktlinguistischen und diachronen Fragestellungen auseinandersetzt. Diese Fragestellungen konzentrieren sich grundlegend auf die sprachliche Bedeutung physischer und/oder politischer Trennungslinien. Dabei hat die variationslinguistische Grenzforschung eine Entwicklung vollzogen, die sich mit zwei konzeptuellen Auffassungen der breiten sozialwissenschaftlichen Grenzforschung deckt: Die variationslinguistisch thematisierten „Grenzen“ sind einerseits lineare Realitäten („facts on the ground“, Agnew 2013: 315) und andererseits mentale Konstrukte („artifacts of dominant discursive processes“), wie sie etwa in laienlinguistischen Studien hinterfragt werden. Letztere Auffassung geht auf G. Simmels Erkenntnis aus 1908 zurück, dass (National- wie Fremd-)Sprachen von der Raumauffassung der Sprecher und von gesellschaftlicher Gruppenbildung, für die Ab- und Ausgrenzungen konstitutiv sind, mitbestimmt werden (vgl. Auer 2005; s. u.). Bemerkenswert ist, dass nicht sämtliche Dialektgrenzen im Fokus der Grenzdialektologie stehen. Gelegentlich beschäftigt sie sich mit bisher nicht nachgewiesenen Sprachgrenzen und ihr Ausgangspunkt ist in vielen Fällen gerade deren historische Abwesenheit (Pickl 2016). Die Grenzdialektologie, wie sie hier definiert wurde, richtet sich nicht prinzipiell auf Dialektgrenzen innerhalb von bzw. zwischen traditionellen Dialekträumen ‒ als Isoglossen(-bündel) (vgl. Kremer & Niebaum 1990b) ‒, sondern primär auf Dialekte an (oftmals territorialen) Grenzen, die durch ihre Randlage, die sie strukturell bzw. pragmatisch als Peripherie vom Zentrum unterscheidet, zusammengefasst werden können. Diese Perspektive ermöglicht aufschlussreiche Rückschlüsse auf den dynamischen Status der traditionellen mundartlichen Isoglossen. Die Dynamiken zwischen Varietäten eines Diasystems geben Einblick in die Beschaffenheit und die gegenseitigen Verhältnisse der beteiligten Varietäten. Die grenzüberschreitende Dialektforschung stellt in diesem Zusammenhang eine für die Variationslinguistik ergiebige Disziplin dar, denn die besonderen strukturellen Verhältnisse vieler benachbarter Grenzdialekte ermöglichen es, anhand grundsätzlich ähnlicher Varietäten auf regionalsprachlicher Ebene und „[d]urch ihre Kontrastlage an der ‚Stoßkante‘ zweier Standardsprachen“ (Kremer & Niehttps://doi.org/10.1515/9783110261295-035
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
baum 1990a: 8) das Transferenzpotenzial zweier übergeordneter, (sub-)standardsprachlicher Varietäten zu ermitteln. Die sich intensivierenden (De-)Standardisierungsprozesse schlagen auch auf die Grenzvarietäten durch − und insbesondere dann, wenn unterschiedliche Standardsprachen (mit unterschiedlich gefestigten Umgangssprachen) beteiligt sind, wie vielerorts entlang der nationalen Grenzen. Die Standardsprachen verdanken ihren Status den an nationale Traditionen gebundenen Institutionen wie dem Unterrichtswesen oder den Medien. Sie bewirken eine Dominanz der (Sub-)Standardvarietäten, die Sprachwandel bzw. -wechselprozesse in den Regionalsprachen auslöst und zu grenzbedingter Divergenz führt. Ebenfalls mit der im Ursprung nationalstaatlichen Ideologie und Praxis des 19. Jahrhunderts verknüpft ist der lineare Charakter der territorialen Grenzen (und die punktuelle Divergenz), die einst breitere Grenzräume waren und Kontakt- und Übergangszonen bildeten. Abgesehen von (vertikalen/horizontalen) sprachinternen Entwicklungen wird die grenzbedingte Dialektdynamik häufig mehr von einem einstellungsbezogenen Eingrenzungsprozess (mit Grenzen als geistigen Konstrukten und der Entfremdung Anderer) gesteuert als von den realen politischen Grenzen mit ihrer potenziell kommunikationshemmenden Wirkung (vgl. Auer 2004). Jede (institutionelle) Grenze, die inzwischen kein Hindernis für soziale Kontakte mehr darstellt, an der sich aber sprachliche Divergenz belegen lässt, ist ein Beweis dafür, dass nicht nur Verkehrsgrenzen Sprachgrenzen kreieren. Grenzen ‒ auch bereits verschwundene wie die badisch-württembergische Grenze ‒ können eine kognitive Abgrenzung auslösen, wobei jeder Grenzübertritt die Grenze weiter konsolidiert. Über diesen mentalen Prozess nehmen institutionelle Grenzen indirekt auch Einfluss auf das Verhalten der Sprecher und auf die Entwicklung von Sprachvarietäten. Er ist teilweise auch damit verknüpft, dass die sozialen Kontakte weniger tiefgreifend und nachhaltig geworden sind: Grenzübergreifende familiäre Bande haben ab-, flüchtige Kontakte etwa im touristisch-kommerziellen Kontext haben zugenommen (vgl. Auer 2013). Diese Grenzdynamik sorgt für mehr divergierende Sprachdynamik. Dieser Artikel behandelt sämtliche Kontaktstellen des Deutschen, die mit politischen, primär staatlichen Grenzen zusammenfallen. Der deutsch-friesische, -rätoromanische oder -sorbische Sprachkontakt wird aufgrund des Fehlens einer institutionellen Grenze zwischen den jeweiligen Arealen ausgeklammert. Den unterschiedlichen Forschungsständen zum Trotz wird wiederholt empirisch nachgewiesen, dass an politischen Grenzen, die sprachlich zusammenhängende Räume durchqueren, die sprachliche Heterogenität infolge von horizontaler Divergenz zunimmt ‒ was diese Grenzen auch als Sprachgrenzen konsolidiert. Potenziell wird diese Dynamik von kon-/advergierenden Prozessen in den jeweiligen Arealen der beiderseitigen Regionalsprachen ausgelöst. Die belegten Divergenzen sind jedenfalls nicht nur sprachlich-struktureller, sondern auch pragmatischer, soziolinguistischer sowie attitudinaler Natur.
2. Grenzkontakt mit der Germania 2.1. Deutsch-dänischer Grenzkontakt Infolge einer über 500 Jahre andauernden Immigration ist der Einfluss des Deutschen auf das Dänische um ein Vielfaches größer als umgekehrt, was in einem Niederdeutsch-
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anteil am dänischen Wortschatz von bis zu 25 % resultiert, obwohl auch etliche hochdeutsche Entlehnungen in die Sprache Eingang gefunden haben. Gerade das alte Herzogtum Schleswig, das die Grenzregion bildet, blickt auf eine lange mehrsprachige Geschichte zurück. Unter den heutigen dänischen Dialekten sticht Südjütisch durch seine Koexistenz mit (und Transferenz aus) dem Nieder- und später auch Hochdeutschen hervor. Mehr noch als die ländlichen Mundarten lassen die Stadtdialekte ein hohes Maß an (lexikalischer) Transferenz erkennen. An der erst 1920 festgelegten deutsch-dänischen Grenze divergieren die beiderseitigen südjütischen Mundarten unter dem Einfluss einer südjütischen Sub- bzw. der dänischen und deutschen Standardvarietät. Die Bruchstelle war vor 25 Jahren jedenfalls noch nicht deutlich erkennbar ‒ aber unabwendbar. Südjütisch ist in Deutschland heute nahezu verschwunden, aber anhand der beiden regionalen Kontaktvarietäten Nordsleswigsønderjysk (DK) und Südschleswigdänisch (D) zeigt Fredsted (2009), wie sich das Südjütische weiterentwickelt hätte, wenn es die Grenzziehung und das damit einhergehende Ende der deutschen Interferenz nicht gegeben hätte: Abgesehen vom neuen (niedrigeren) soziolinguistischen Stellenwert der beiden Minderheitensprachen ergeben sich Konvergenz- (DK) bzw. Advergenzdynamiken (D) unter standarddeutscher Interferenz. Sie werden ihrerseits wiederum soziolinguistisch durch den Bilingualismus der heutigen Sprecher verstärkt, was sich zudem in frequentem Code-Switching äußert.
2.2. Deutsch-niederländischer Grenzkontakt Bis zum 20. Jahrhundert existierte zum niederländischen Areal hin keine scharfe Grenze (abgesehen von natürlichen Barrieren), sondern eine Nord-Süd-orientierte Übergangszone im Dialektkontinuum. Noch 1968 berief sich Goossens zur Abgrenzung und Definition des Niederländischen auf Weinreichs Konzept des Diasystems und die damit verbundene These der standardsprachlichen Überdachung. Es musste mangels sprachstruktureller Kriterien von einer prinzipiell soziolinguistischen Voraussetzung ausgegangen werden. Die heute vorhandenen reichen Forschungserträge belegen einen eindeutigen, divergierenden Einfluss der Grenze auf die lokalen Varietäten: Die Staatsgrenze nahm im letzten halben Jahrhundert zusätzlich die Gestalt einer Dialektgrenze an. Der sprachliche Motor dieser Entwicklung ist in beiden Ländern in der Standardvarietät zu suchen − wobei zuletzt die Transferenz (sub)standardsprachlichen Materials das benötigte linguistische Kriterium für die Definition der niederländischen (und deutschen) Dialekte liefert (vgl. Smits 2011). Breite Kreise der ostniederländischen Bevölkerung sind erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Standard- oder eine intermediäre Regionalsprache übergegangen. Trotz der den niederländischen Sprachraum kennzeichnenden Diaglossie und der bi-/multivarietären Kompetenz der Sprecher erweisen sich bestimmte Dialekt(gebiet)e resistenter als andere (Vriezenveen nahe Bentheim oder Nord- und Mittellimburg). In Deutschland trifft das niederländische vertikale Kontinuum auf die inzwischen labile niederdeutsch-hochdeutsche Diglossie, die größtenteils dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass die Dialektkompetenz- und Dialektgebrauchswerte entlang der Grenze auf der niederländischen Seite merklich höher liegen, obwohl die Tendenz beiderseits sinkend ist. Die ostniederländischen Regionalsprachen sind stark von Strukturverlust betroffen, obwohl z. B. verschiedene grammatische Bereiche unterschiedliche Abbaustärken aufweisen. Ihre niederdeutschen Pendants sind eher dem Dialektschwund infolge
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
eines niederdeutsch-hochdeutschen Sprachwechsels ausgesetzt (vgl. Hohenstein 2016), der schon um den Ersten Weltkrieg, d. h. früher als der ostniederländische Sprachwechsel, anzusetzen ist. Die gegenwärtige Dominanz der (sub-)standardsprachlichen Varietät im westniederdeutschen Areal bewirkt (nicht zuletzt bei jüngeren Sprechern) nun allerdings auch diaglossisch anmutende Abbauprozesse. Die Grenze zu den Niederlanden verläuft von Emden bis Aachen. Der gegenwärtige nördliche Teil, eine alte territoriale Grenze von Emden bis zum Niederrhein, trennt Grenzlandbewohner, „die zwar dicht beieinander stehen, einander aber den Rücken zukehren“ (Kremer 2005: 27). Diese Haltung hat Kremers wegbereitende wahrnehmungsdialektologische Pfeilmethodenstudie visualisiert, die die Staatsgrenze als subjektive Dialektgrenze präsentierte. Die rückläufige Perzeption grenzübergreifender dialektaler Verwandtschaft führt überdies zum Gebrauch der Standardsprache als Kommunikationsmittel im Grenzverkehr, während der traditionell dafür geeignete Dialekt nur noch selten verwendet wird. Die strukturellen Folgen der Dialektdynamik zeichnen sich in einem Zeitabschnitt von lediglich zwei bis drei Generationen ab: Die phonetischen Levenshtein-Distanzen von acht Dialekten in der Grafschaft Bentheim und neun umliegenden niederländischen Grenzmundarten zeigen nur Advergenz zur überdachenden Standardsprache (jedoch in variierender Intensität) in den letzten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts. Der jüngere südliche Teil der Staatsgrenze trennt Limburg vom Rheinland und existiert erst seit der niederländisch-preußischen Grenzrevision nach dem Wiener Kongress. Goossens (1998: 49) stellte fest: „die niederrheinischen Dialekte Deutschlands werden immer deutscher, die angrenzenden Mundarten der Niederlande immer niederländischer.“ Später wurden jedoch komplexere Verhältnisse und nicht immer gleich orientierte Dynamiken sichtbar. Nicht überall konvergieren die Mundarten mit der standardsprachlichen Ebene: „recent developments in Limburg show […] a range of ‚intermediate‘ varieties […] depending on social and discourse contexts“ (Cornips 2013: 394). Die belgisch-deutschen politischen und kultursprachlichen Grenzen sind auch höchstens 200 Jahre alt und waren daher im Ansatz nicht dialektologisch sichtbar: Mit der niederländisch-deutschen Sprachgrenze in Altbelgien-Nord (Ostbelgien), ihrem südlichsten und lediglich „theoretischen“ Teil seit dem Sprachwechsel zum Französischen, fällt kein wichtiges Isoglossenbündel zusammen. Bezugnehmend auf das Diasystem und die belgische Sprachenpolitik schließt Vandermeeren (2009) nicht auf Divergenz oder einen Rückzug der Dialekte, sondern auf einen onomasiologischen Sprachwechsel: Westlich der sog. niederländisch-deutschen Sprachgrenze, in Flandern, gilt der südniederfränkische Dialekt als niederländisch; die Nachbarmundarten im wallonischen Altbelgien-Nord können aufgrund der französischen Überdachung nicht eindeutig zugeordnet werden. Cajot & Beckers (2006: 155) ergänzen: „Das Südniederfränkische ist ein rezeptiver Dialektraum, der ripuarischen wie westniederfränkischen Neuerungen ausgesetzt wurde, die allmählich […] verebben.“ Im Vergleich zu den luxemburgisch- und belgisch-deutschen, altbelgisch-luxemburgischen sowie -neubelgischen Sprachgrenzen liefert die niederländisch-deutsche und -(alt)belgische Grenze schon die meisten lexikalischen Divergenzbelege, die das dortige Dialektkontinuum beeinträchtigen.
2.3. Deutsch-luxemburgischer Grenzkontakt An der deutsch-luxemburgischen Grenze treffen zwei Diasysteme mit nah verwandten Standardvarietäten, Deutsch und Luxemburgisch, aufeinander. Dass neben dem im Aus-
35. Die deutschen Regionalsprachen im Grenzkontakt
bau begriffenen Luxemburgischen auch Deutsch und Französisch (z. T. eigene) standardsprachliche Domänen bedienen, dürfte die direkte Interferenz mit der Mundart reduzieren (insofern das starke Levelling noch dialektale Differenzierung erlaubt) und die Zurückführung der genauen dialektalen Sprachdynamik komplizieren. Es verhindert aber nicht, dass der Aufbruch des moselfränkischen Dialektkontinuums an der Grenze infolge standardsprachlicher Advergenz ‒ zum Standarddeutschen jedenfalls hauptsächlich auf der deutschen Seite und insgesamt besonders in den Bereichen der Lautung und der Lexik ‒ auch hier belegt werden kann: „Die Grenze Luxemburgs zu Deutschland verhält sich […] nicht anders als etwa die Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden oder Deutschland und Lothringen oder dem Elsass“ (Gilles 2009: 186−187). Die moderne strukturelle und soziolinguistische Entwicklung der (binnen-)deutschen Regionalsprachen, auch der Grenzdialekte, nimmt daher kaum einen Einfluss auf die angrenzenden luxemburgischen Pendants, so verwandt sie typologisch auch sein mögen. Der homogenetische Ursprung des jetzigen Standards Luxemburgisch und der benachbarten moselfränkischen Regionalsprachen vermag auch nicht über den gegenwärtig recht unterschiedlichen Stellenwert dieser Varietäten hinwegzutäuschen. Zu den Folgen der jüngeren Entwicklungen gehört, dass sich das Luxemburgische, auf Grundlage eines westmoselfränkischen Dialekts und in einem Prozess des Dialektausgleichs und Sprachausbaus zugleich, dem deutschen Diasystem entzieht (Divergenz in Sprachgebrauch und -struktur), während sich auf der deutschen Seite die vertikal überlagernden lokalen und regionalen Varietäten einander angleichen (Konvergenz), selbstverständlich unter deutscher Überdachung (Advergenz). Dieser Unterschiede bewusst, setzen deutsche Grenzbewohner in Luxemburg eher das Standarddeutsche als den Dialekt als Kommunikationsmittel ein, was von LuxemburgerInnen mehrheitlich als angemessen bewertet wird (Sieburg & Weimann 2014). Die Spitzenposition des Standards im deutsch-luxemburgischen Kontakt ist vergleichbar mit der des deutsch-niederländischen, hat aber teilweise eigene soziolinguistische Erklärungen (vgl. Identität, Mehrsprachigkeit).
3. Grenzkontakt mit der Romania 3.1. Deutsch-französischer Grenzkontakt In sprachpolitischer Hinsicht trennen die belgische Frankofonie und das binnendeutsche Sprachgebiet nur wenige Kilometer Staatsgrenze, weil die neun belgischen Gemeinden der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) nahezu die ganze Grenzstrecke säumen. Es lassen sich geringfügige Abweichungen der (neu-)deutschbelgischen Dialekte (Eupen− Malmedy−St. Vith) von ihren bundesdeutschen Nachbarn verzeichnen, die im Wesentlichen auf französischen Spracheinfluss und die Nichtbeteiligung an binnendeutschen Sprachdynamiken zurückgehen. In der jüngeren Generation sowie im nördlichen Teil der DG (Eupen) wird in der Regel ein regionaler Substandard gesprochen, der sich an die rheinische Umgangssprache anlehnt, aber nicht frei von französischer (lexikalischer) Transferenz ist. Im Saar-Lor-Lux-Raum sind die moselfränkischen Mundarten durch eine unterschiedliche Überdachung getrennte strukturelle und pragmatische Wege gegangen. Der Hintergrund in pragmatischer Hinsicht ist, dass der französische Grenzraum von einem starken
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Dialektschwund (stärker in Lothringen als im Elsass) unter dem Einfluss einer prestigeträchtigen Hochsprache geprägt ist, der in der Folge den Zusammenfall der französischdeutschen Dialektgrenze mit der Staatsgrenze herbeiführt. Sprachstrukturell betrachtet scheint im ostlothringischen Apach im Dreiländereck kein Dialektwandel unter standardsprachlicher Interferenz vorzuliegen, was Hoffmann (1990) auf einen jähen, generationsbedingten Dialektschwund schließen lässt. Im Dialekt des benachbarten Schengen (L) halten sich der französische und deutsche Einfluss die Waage, und hier ist gerade die Mischung von Transferaten beiderlei Ursprungs kennzeichnend. Für die mosel-/rheinfränkischen Regionalsprachen im Saarland bestätigen mehrere Studien (insbesondere lexikalische und morphosyntaktische) standardsprachliche Transferenz. Zwischen Karlsruhe und Basel stellt der Oberrhein auch eine Wort- und Sprach(gebrauchs)grenze dar. Er trennt das wortgeographisch als Reliktlandschaft erscheinende Elsässische, dessen Dialekte einem großräumigen horizontalen Ausgleichsprozess unterworfen sind, von den phonologisch mit der deutschen Umgangssprache konvergierenden badisch-alemannischen Dialekten. Die prominenteste laut- und wohl auch wortgeographische Beobachtung zum Grenzverlauf der lokalen Dialekträume, als Rheinstaffel bekannt, deckt eher noch (ältere) Nord-Süd-Bewegungen entlang der linksrheinischen Ill auf. In grenzüberschreitender West-Ost-Richtung jedoch haben Straßburg oder Colmar einen jahrhundertelangen elsässisch-badischen Austausch bewirkt, und auch weitere unmittelbar am Rhein gelegene Ortschaften bildeten eine phonologisch (und in geringerem Maße lexikalisch) nachweisbare Einheit. Besonders in jüngerer Zeit stellt der Rhein eine Wortgrenze dar, nicht zuletzt infolge von (1) ausschließlich linksrheinischer Interferenz aus dem Französischen, mit dem die Dialekte in einem labilen Diglossieverhältnis stehen, und (2) rechtsrheinischer Interferenz aus der deutschen Umgangssprache. Die Folgen des Dialektverlusts für den elsässischen Sprachgebrauch werden etwa in den CodeSwitching-Studien von Gardner-Chloros (1991) beschrieben. Ein Sprachwechsel geht mit der für das Elsässische bescheinigten lautlichen Resistenz einher, während das von der deutschen Umgangssprache ausgehende Interferenzpotenzial die Voraussetzung für einen intensiveren Dialektabbau am rechten Rheinufer schafft. Die Folgen des Dialektverlusts für die Dialektwahrnehmung sieht Finger (2002) im Unvermögen, vor allem der Elsässer, die Verwandtschaft ihres Dialekts mit seinem deutschen Pendant zu erkennen (vgl. Auer et al. 2015). Als grenzübergreifendes Kommunikationsmedium wird die Regionalsprache lediglich noch als Brückensprache zum Standarddeutschen eingesetzt. In der Schweiz, im romanisch-germanischen Übergangsgebiet gelegen, fällt die deutsch-französische Grenze kaum mit Kantonsgrenzen zusammen. Der Rhein bei Basel schafft lediglich eine Senke und stellt auch prinzipiell keine Dialektgrenze dar. Jedoch hat sich das sprachliche Repertoire beiderseits des Flusses seit dem 19. Jahrhundert unterschiedlich entwickelt: Diaglossie auf der deutschen und Diglossie auf der schweizerischen Seite sowie die bereits skizzierte exoglossische Diglossiesituation im Südelsass. Diese pragmatischen Bruchlinien zwischen Arealen mit jeweils divergentem standardsprachlichen Status blieben selbstverständlich nicht ohne Wirkung auf die Regionalsprachen und deren Perzeption.
3.2. Deutsch-italienischer Grenzkontakt Die deutsch-italienische Sprachgrenze in Südtirol folgt vom Westen her der schweizerischen und danach der historischen österreichischen Grenze bis südlich von Meran, wo-
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nach sie mit keinen Staatsgrenzen mehr koinzidiert. In diesem offiziell zweisprachigen Gebiet kann nach dem Überschreiten der Grenze nur von einem partiellen Standardsprachenwechsel die Rede sein. Die standhaltende Diglossie der lokalen deutschen Standardvarietät mit dem südbairischen Dialekt verhinderte aber nicht die Transferenz von standardsprachlichen Italianismen. Sie hat nach der Angliederung Südtirols an Italien rasant zugenommen, obwohl hier Italienisch und Ladinisch immer schon präsent waren. Die tirolischen Dialekte bilden ursprünglich ein grenzüberschreitendes Areal, in dem sich lediglich Ost-West-Unterschiede − etwa eine alemannische Kontaktzone im Westen − abzeichnen. Mit der Staatsgrenze fallen (über weite Strecken) keine Isoglossen zusammen. Mall & Plagg (1990) aber beobachten zwei Entwicklungen, die den südtirolspezifischen Charakter der (Verkehrs-)Dialekte erhöhen und somit die Staatsgrenze zur Sprachgrenze machen: (1) die erwähnte italienische Transferenz (obwohl sie sich, zumal im Oberland, außerhalb des Lexikons in Grenzen halten dürfte) und (2) eine Varietätenkonvergenz, die zum Ausbau einer regionalen Umgangssprache führt. Diese Dynamik tritt aber zugleich als relativ schwach oder verzögert in Erscheinung wegen der geringeren Sprechermobilität und der Präsenz des Italienischen in der überlokalen Kommunikation, die sonst vom Dialekt mit seinem identitätsstiftenden Symbolwert geprägt ist. Lanthaler (2001) allerdings weist eine Koinéisierung im syntaktischen und lexikalischen Bereich nach, in der ein Ausgleichsdialekt mit regionalen Lautvarianten entsteht. Die steigende Mobilität sowie die Entstehung von (umgangssprachlichen wie dialektalen) Südtiroler Prestigevarietäten bringt Konvergenzprozesse in Gang. Zu einer pragmatischen Grenze zwischen Nord- und Südtirol dürfte die ältere, quasi diglossische funktionale Stabilität der Mundart führen, so dass „Nordtiroler im Süden als arrogant empfunden werden, weil sie − nach den sprachpragmatischen Regeln Südtirols − ein der Situation unangemessen ‚hohes‘ Sprachregister wählen“ (Moser 1982: 90). Andererseits weist Harnisch (2010) auf eine jüngere, aber parallele pragmatische Divergenz hin: im Kontakt mit Nordtirolern wirken Südtiroler potenziell genauso anmaßend, wenn sie ihre Standardvarietät auf die binnendeutsche ausrichten, mit der sie infolge des Tourismus in der Region in engerem Kontakt stehen.
4. Grenzkontakt mit der Slawia-Magyaria Die Folgen des deutsch-slawischen Kontaktes im Rahmen des postulierten mitteleuropäischen Sprachbundes sind aufseiten der slawischen Varietäten generell besser beschrieben als für die deutsche Sprache, so dass es scheint, als hätte der Sprachkontakt vorwiegend deutsche Transferenz bewirkt (vgl. Nübler 2009) − und nicht umgekehrt, wie z. B. Wiesinger (1990) für die historische österreichische Einflusssphäre konstatiert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg bilden die Staatsgrenzen Deutschlands und Österreichs zu Polen, Tschechien und der Slowakei die Grenze zwischen dem Deutschen und den westslawischen Varietäten. Dies dürfte erklären, dass die Folgen des grenzbedingten Sprachkontakts nur eingeschränkt erforscht sind, vor allem in grenzüberschreitenden Studien.
4.1. Deutsch-slowenischer Grenzkontakt Während ursprünglich viele Siedlungsinseln (bis hin zu einem „geschlossenen slowenischen Siedlungsgebiet“, Pohl 2009: 119) zu verzeichnen waren und um 1850 die Nord-
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grenze des slowenischen Sprachgebietes zwischen Hermagor und Lavamünd (Kärnten) teilweise noch weit nördlicher der heutigen nationalen Grenze verlief, hat sich in den letzten Jahrhunderten eine deutsch-slawische Sprachgrenze herausgebildet, deren Verlauf die Zurückdrängung der slowenischen Mundarten durch das Deutsche (besonders im 20. Jahrhundert) zeigt und deren kontaktsprachliches Kerngebiet die Grenze zu Österreich darstellt. Die jetzige steirisch-slowenische Grenze bildet spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg die Nordgrenze der slowenischen Dialekte. Nördlich der kärntnerisch-slowenischen Grenze werden sie nicht länger flächendeckend und nur als Minderheitensprache neben Deutsch gesprochen. Die deutsch-slawische Grenze ist insoweit eine wahre Sprachgrenze, als es neben den deutschen und slowenischen Mundarten keine Mischvarietät „Windisch“ gibt. Dies bedeutet aber nicht, dass die Mittelkärntner deutschen Mundarten sprachkontaktbedingt keinen Einfluss des Slowenischen aufweisen würden: Die Folgen des Sprachkontakts sind auf allen sprachsystemischen Ebenen erkennbar. Deutsche Dialektisoglossen liegen in der Regel trotzdem im rechten Winkel zur Staatsgrenze ‒ wobei fraglich ist, ob sie (s. Pohl 2007: Kt. 8) diese Richtung jenseits der Grenze immer noch einhalten. Im gleichen Sinne wäre nach der Entwicklung des von Neweklowsky (1990) postulierten und beschriebenen (kärntner-)deutsch-(kärntner-)slowenischen Sprachenbundes unter dem Aspekt einer ihn spaltenden Staatsgrenze zu fragen.
4.2. Deutsch-ungarischer Grenzkontakt Mehrere Siedlungswellen sowie eine jahrhundertelange Zugehörigkeit zum dominantdeutschsprachigen Österreich waren für den großen Einfluss des (Ober-)Deutschen verantwortlich, der vor allem auf die gesprochenen ungarischen Varietäten (die einem kontaktinduzierten Purismus weniger ausgesetzt waren) durchschlägt. Die burgenländisch-deutschen Regionalsprachen ihrerseits enthalten verhältnismäßig wenig ungarische Transferate. Allerdings ist die ausgeprägte ethnisch-sprachliche Pluralität der zeitlich weit zurückgreifenden Kontaktzone Burgenland-Westungarn für die nicht unproblematische linguistische Grenzziehung verantwortlich. Überdies stehen die ungarischen ostdonau- und südbairischen Grenzdialekte unter dem Einfluss der nah verwandten Wiener Regionalvarietät und zudem fielen bei der österreichisch-ungarischen Grenzfestlegung nach dem Ersten Weltkrieg noch deutschsprachige Grenzräume an Ungarn. Ausgerechnet die schon lange Zeit existierende deutsch-ungarische Zweisprachigkeit in der Grenzregion gefährdet nach Wiesinger (1983) die deutschen Regionalsprachen. Es ist daher die Frage, inwieweit die Siedlungen entlang der Grenze ihre deutsche Identität auch dialektal bewahrt haben und, nicht zuletzt, wie sich gerade in dieser regen Kontaktzone eine vierzig Jahre lang undurchlässige politische Grenze sprachlich ausgewirkt hat. Nach Imre (1977) sind die benachbarten Dialekte des Südburgenlandes auch − und gerade − in der Zeit des Eisernen Vorhangs für etliche Lehnwörter verantwortlich, die direkt von den Mundarten ins Ungarische der Oberen Wart eingingen.
4.3. Deutsch-slowakischer Grenzkontakt Insbesondere die slowakische Alltagssprache und die Mundarten enthalten viele Lexeme (österreichisch-)deutschen Ursprungs, ohne dass dies den Sprechern bewusst ist. Die
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Mehrheit der Entlehnungen in den slowakischen Dialekten ist deutschen Ursprungs und bairische Relikte finden sich noch etwa in der Südwestslowakei. Die auch anderswo beobachtete Tendenz des mundartlichen Funktionsverlustes jedoch spiegelt sich auch hinsichtlich des deutschen Lehngutes in den slowakischen Regionalsprachen wider: Ihre Verwendung durch jüngere Generationen ist stark rückläufig und (anachronistisch) konnotiert. Die heutige österreichisch-slowakische Staatsgrenze folgt der March (Morava), die bereits in früheren Zeiten die Sprachgrenze bildete. Bratislava und seine Umgebung jedenfalls waren als deutsch-slowakisch-ungarisches Mischgebiet noch bis zum Ersten Weltkrieg mehrheitlich deutschsprachig (vgl. Wiesinger 1990).
4.4. Deutsch-tschechischer Grenzkontakt Der deutsch-tschechische Sprachkontakt, im mitteleuropäischen Sprachbund der engste deutsche Kontakt mit allen größeren slawischen Sprachen, hat eine jahrhundertealte Geschichte starker Verflechtung. Trotz der Asymmetrie war nicht immer das Deutsche − d. h. seine Dialekte (besonders im 17. und frühen 18. Jahrhundert) und regionalen Schriftvarietäten − die Gebersprache, was in den an den tschechischen Sprachraum grenzenden bairischen, fränkischen und sächsischen Regionalsprachen Spuren hinterließ. Bachmann (2015) zeigt, wie etliche Isoglossen im westböhmischen Raum auf die deutsch-tschechische Grenze zulaufen und somit die Existenz langlebiger grenzüberschreitender Dialektverbände nahelegen. Eine langfristige Auswirkung des Zweiten Weltkriegs und des Eisernen Vorhangs war (etwa in der südböhmischen/-mährischen Dialektregion), dass die tschechisch-deutsche Sprachgrenze infolge der Auswanderung der deutschsprachigen Bevölkerung erstmals seit dem 12. Jahrhundert mit der Staatsgrenze koinzidierte und auch der Dialektkontakt abbrach. Mundartliche Erhebungen in Nord- und Westböhmen legen den Schluss nahe, dass sich auch die Grenzen der ehemaligen grenzüberschreitenden mundartlichen Großlandschaften des Mittel- und Nordbairischen, Ostfränkischen, Obersächsischen und Schlesischen ohne sprachliche Misch- oder Übergangszone zur politischen Grenze hin verlagert haben.
4.5. Deutsch-polnischer Grenzkontakt Deutsch dürfte jene Sprache sein, aus der das Polnische (unter Berücksichtigung nicht nur der Standardvarietät, sondern auch der Dialekte und Fachsprachen) in einem mehr als tausendjährigen Kontakt am meisten geschöpft hat. Diese These hielt sich bis ins Jahr 1893. Ihre Verifizierung allerdings ist durch die starke Integration des nieder-/hochdeutschen Lehngutes im Polnischen und wegen einer gelegentlich vorliegenden vermittelten Entlehnung (z. B. über Tschechisch) problematischer. Die polnischen Transferate im Deutschen sind dagegen zahlenmäßig weitaus geringer. Der Einfluss des Deutschen wirkt auch in den polnischen Regionalsprachen stark nach, einschließlich der Dialekte entlang der heutigen Staatsgrenze. Dieser Grenzraum zeichnet sich heute durch eine sprachliche Diskontinuität aus. Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten Millionen Deutschsprachige in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, von denen Schlesien und Pommern schon seit dem Mittelalter von nieder- und hochdeutschen Siedlern bewohnt waren. In-
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
folge der Aussiedlungspolitik und des starken Einflusses, den die offizielle Amtssprache seitdem auf die Varietäten deutschstämmiger Polen ausübt, sind diese Minderheitensprachen für die junge und jüngere Generation nicht nur zu Fremdsprachen geworden, sondern gibt es in grenznahen Regionen gar keine Dialekte mehr (Jańczak 2015).
5. Grenzkontakt innerhalb des deutschen Sprachraums 5.1. Deutsch-schweizerischer Grenzkontakt Nicht die deutsch-französische oder -schweizerische Staatsgrenze, sondern die sog. Schwarzwaldschranke (auf der Grundlage der neuhochdeutschen Diphthongierung) ist über weite Strecken die bedeutendste Sprachgrenze im deutschen Südwesten und trennt das Alemannische vom Schwäbischen. Die Wortgeographie des Alemannischen zeigt andere, jedoch ebenfalls nicht an Staatsgrenzen gebundene Areale. Die Rheingrenze bildet also nirgendwo eine „alte“ Dialektgrenze. In pragmatischer Hinsicht hingegen stellt die deutsch-schweizerische Staatsgrenze eine Sprachgrenze dar, indem die Sprachgebrauchsmuster, insbesondere unter Berücksichtigung der Regionalsprachen, auf beiden Seiten recht verschieden sind: Diaglossie (mit schwindendem Dialektgebrauch) trifft auf Diglossie (mit einer als fremd empfundenen H-Varietät). Den Sprechern ist der unterschiedliche nachbarliche Sprachgebrauch bewusst, was sich etwa in der verbreiteten Wahrnehmung der Staatsgrenze als Dialektgrenze äußert (vgl. Stoeckle 2014). Schifferle (1990), auch Bezug nehmend auf weitere Studien, beschreibt, wie die unterschiedlichen Systeme ohne Übergangsgebiet abrupt an der Grenze aufhören, aber auch, wie die Gegensätze durch binnendeutsche vertikale Transferenzen und horizontale schweizerische Ausgleichsbewegungen auch im phonetisch-phonologischen, syntaktischen und lexikalischen Bereich zunehmen und in grenzbezogener Dialektdivergenz resultieren. Subjektiv wie objektiv gesehen stellt die Staatsgrenze daher eine deutliche Dialektgrenze dar (Hansen-Morath & Stoeckle 2014). Pragmatischer Natur ist weiter die Grenze zwischen Liechtenstein und Österreich, mit einer ähnlich trennenden Wirkung wie die der deutsch-schweizerischen. Mediale Diglossie ohne Umgangssprache als dritte Größe kennzeichnet Liechtenstein (und das St. Galler Rheintal in der Schweiz), während im benachbartet österreichischen Vorarlberg trotz ähnlicher Dialektgenetik Diaglossie vorherrscht. Da jedenfalls die liechtensteinischen Mundarten in allen Bereichen auch standarddeutscher Interferenz ausgesetzt sind, stellt sich die Frage nach der Auswirkung ebendieser Dynamik auf die Sprachgrenzen.
5.2. Deutsch-österreichischer Grenzkontakt Von den wichtigsten Isoglossen in der deutsch-österreichischen Kontaktzone verlaufen viele in Nord-Süd-Richtung, etwa die alemannisch-bairische Grenze zwischen Schwaben-Vorarlberg und Oberbayern-Tirol oder die west-/ostbairische Grenze in Oberösterreich. Auch die ost-west-orientierte mittel/südbairische Grenze sowie die Isoglossen der jeweiligen Übergangszonen überqueren die Staatsgrenze eher als mit ihr zusammenzufallen. Wie an der Ostgrenze Österreichs gilt auch für die Grenze zu Deutschland, dass hier
35. Die deutschen Regionalsprachen im Grenzkontakt
aufgrund der engen Beziehungen zwischen beiden Territorien eine klare Sprachgrenze schlicht nicht zu erwarten ist. Für Scheuringer (1990: 372) ist die Staatsgrenze daher „von eher bescheidenem Einfluß“ auf die Dialekte. Dass sich die untersuchten Dialektgebiete (Werdenfelser Land, Tiroler Unterinn, Innviertel u. a.), die infolge der endgültigen Grenzziehung sprachhistorisch gesehen jeweils zum jenseits der Grenze liegenden Dialektareal gehören, als mehr oder weniger resistent erweisen, legt eine sprachliche Auswirkung politischer − auch historischer − Gebilde nahe. Trotz der im Vergleich etwa zur deutsch-schweizerischen Konstellation tatsächlich bescheideneren Dialektdivergenz nehmen die Gemeinsamkeiten beiderseits der Grenze (in der Lautung oder der Lexik) auch hier ab, etwa unter dem unterschiedlichen Einfluss der städtischen Umgangssprachen Münchens und Wiens (vgl. Auer 2005). Bülow, Schifferer & Dicklberger (2015) gehen davon aus, dass dieser urbane Einfluss nun auch grenzüberschreitend wirkt, genauso wie die nationalen Medien, die ebenfalls jenseits der Staatsgrenze (lexikale) Konvergenz in der Alltagssprache bewirken. Erste Ergebnisse aus zwei niederbayrisch-oberösterreichischen Grenzorten zeigen eine Korrelation zwischen sprachlicher Konvergenz und einer Sprachkontakt garantierenden Sprechermobilität. Eine grenzbildende Divergenz lässt sich jedoch in dem Befund erahnen, dass lediglich im deutschen Sample die Performanz der jüngeren Generation (15−25 J.) standardsprachlicher ausgerichtet ist als die der älteren Generation (50−60 J.). Obwohl der Inn als Grenzlinie noch als „Achse“ Altbayerns gelten kann, werden doch grenzbedingte Divergenzen, etwa infolge bairisch-österreichischer Konservatismen, erkennbar. Auch zur Verortung subjektiver Dialektgrenzen wird die nationalstaatliche Grenze zu Deutschland ‒ und interessanterweise vereinzelt auch zur Schweiz ‒ von österreichischen 20- bis 34-Jährigen herangezogen (vgl. Kleene 2015). Wie stark die grenzbedingte Divergenz nun auch auf anderen Ebenen als der (sub)standardsprachlichen (wegen der plurizentrischen Dynamik) in Erscheinung treten wird, sollen die zahlreichen in Bearbeitung befindlichen Studien zur Sprachdynamik im bayrisch-österreichischen Grenzraum ausweisen.
5.3. Deutsch-deutscher Grenzkontakt Die Wirkung der ehemaligen Staatsgrenze zwischen der DDR und der BRD auf die anliegenden (stellenweise gleichen) Dialekte wurde vor der Wende nicht erforscht. Kurz danach wurde die Sprachdynamik bereits aus einer Divergenzperspektive beschrieben, aber blieb über weite Strecken doch lange unerforscht (vgl. Radtke 2006). Im Gegensatz zu vielen der bereits besprochenen Grenzen war diejenige zwischen den beiden deutschen Staaten 40 Jahre lang nahezu undurchdringlich ‒ und sie beeinflusst in ihrer Ganzheit nachhaltig nicht nur die Dialektstruktur, sondern auch die beiderseitige laienlinguistische Einschätzung der Dialektähnlichkeit. Harnisch (2015: 233) führt diese Divergenz (an der thüringisch-bayrischen Grenze) entweder auf voneinander autonome Dialektdynamiken in den angrenzenden Arealen oder auf einen unterschiedlichen Dialektabbau zurück: Die […] besondere Ausprägung von „Grenze“ (relativ kurze Dauer, absolut hoher Abriegelungsgrad) hat einerseits horizontale Divergenz auf der Ebene der Basisdialekte erzwungen (sprachschichtentreue Umorientierung ins offene Hinterland) und andererseits unterschiedliche staatliche
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt und gesellschaftliche Räume mit voneinander abweichenden Politiken hervorgebracht, innerhalb deren sich unterschiedliche Grade vertikaler Kon- bzw. Advergenz von Dialekten, Substandardund Standardvarietäten herausbilden konnten (sprachschichten-untreue Orientierung an ‚höheren‘ Sprachstufen). Das hat da, wo diese politischen Räume aneinander stießen, wiederum horizontale Divergenz (nämlich von Räumen mit unterschiedlich starken Kon- bzw. Advergenzen) hervorgebracht.
Unterschiede in der Dialektstruktur sowie -funktion in demselben Grenzgebiet beobachtet auch Fritz-Scheuplein (2004), jedoch schließt sie daraus nicht auf einen großen Effekt der ehemaligen Grenze auf die Sprachsituation, was im Auswertungsverfahren begründet liegen dürfte. Aus der Lage im Grenzgebiet zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen (vgl. Sauermilch 2016) wird ersichtlich, dass (1) die innerdeutsche Grenze wohl einen divergierenden Einfluss hat und (2) es von der jeweiligen Variablen abhängt, ob sich eine grenzbedingte Divergenz oder das traditionelle Dialektkontinuum manifestiert. Perzeptuell hat die innerdeutsche Grenze eine verhältnismäßig stärkere Wirkung auf die Einstellung der Sprecher zum geographischen (und politischen) Gegenüber ausgeübt als andere (national)staatliche Grenzen. Der Eiserne Vorhang existiert daher in Deutschland, so weisen mehrere Studien nach, als mentale Trennungslinie weiter (vgl. Palliwoda 2014).
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
36. Minderheitensprachen im deutschen Sprachgebiet 1. 2. 3. 4.
Definition und Abgrenzung(sprobleme) Germanisch Romanisch Slavisch
5. 6. 7. 8.
Romani Ungarisch Überblick Literatur
1. Definition und Abgrenzung(sprobleme) Der folgende Überblick befasst sich mit denjenigen sprachlichen Minderheiten im deutschen Sprachgebiet, die als „vorindustriell“ bzw. „vormodern“ bezeichnet werden können, da sie vor oder spätestens im 19. Jahrhundert entstanden (für die durch Arbeitsmigration entstandenen Minderheiten und deren Varietäten, wie sie vor allem für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch sind, vgl. Wiese & Freywald, Art. 37 in diesem Band; das in Kap. 4.5. behandelte Ruhrgebietspolnische stellt als durch Arbeitsmigration im Rahmen der Industrialisierung entstandene Varietät einen Grenzfall dar). Dabei werden Sprachminderheiten, die eher urban geprägt sind und deren Dokumentationssituation problematisch ist, etwa das Tschechische in Wien (vgl. dazu Wiesinger 1990: 521), nicht behandelt. Die Darstellung beschränkt sich auf Minderheiten, die sprachlich in der Neuzeit noch feststellbar sind. Historische Sprachen, die spätestens im Mittelalter untergegangen sind, wie etwa das Polabische (ohne Dravänopolabisch; vgl. Kap. 4.1.) oder das Moselromanische (vgl. Kramer 1992: 24−43), werden nicht behandelt, obwohl davon auszugehen ist, dass sie vor ihrer Aufgabe in soziolinguistischer Hinsicht viele Gemeinsamkeiten mit modernen Sprachminderheiten (etwa asymmetrischer Bilingualismus, beschränkte Domänen der Minderheitensprache etc.) aufwiesen. Ebenfalls nicht berücksichtigt wird das Niederdeutsche, das seit dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen als Regionalsprache anerkannt ist. Die Darstellung ist auf sprachliche Minderheiten in den Gebieten der drei heutigen Staaten Bundesrepublik Deutschland, Österreich und Schweiz beschränkt. Historische Minderheitensprachen des Deutschen Reichs, etwa das Französische im Südwesten und Westen (vgl. z. B. Berschin 2006 zu Elsass-Lothringen; Pabst 1999 zum Wallonischen um Malmedy) oder das Polnische, Kaschubische und Litauische in den östlichen Gebieten (vgl. dazu u. a. Glück 1979; Jasiński 1999), bleiben ebenso außer Betracht wie zahlreiche in der Donaumonarchie gesprochene Sprachen. Für die offiziell viersprachige Schweiz mit den damit einhergehenden eigenen Phänomenen (vgl. etwa Pedretti 2000) wird nur das Rätoromanische näher betrachtet (vgl. Kap. 3.1), obwohl auch in Bezug auf die italienischsprachige Schweiz immer wieder erwogen wird, ob eine Minderheitensituation vorliegt (vgl. u. a. Pedretti 2000: 289−293; Lurati 2000; sowie generell zur soziolinguistischen Situation des Italienischen in der Schweiz die einschlägigen Artikel in Moretti et al. 2016 und Moretti et al. 2017). Insbesondere in Bezug auf die Situation des Italienischen in den Bündner Südtälern lassen sich teilweise ähnliche Konstellationen wie beim Rätoromanischen feststellen (vgl. u. a. Pedretti 2000: 289−290; Picenoni 2008a, 2008b). https://doi.org/10.1515/9783110261295-036
36. Minderheitensprachen im deutschen Sprachgebiet
Die hier behandelten „Minderheitensprachen“ sind hinsichtlich ihrer Herkunft und ihrer soziolinguistischen Situation sehr heterogen; deshalb wird im Folgenden die Sprachfamilie, denen die behandelten Sprachen angehören, als Gliederungskriterium gewählt. Da die Forschungssituation und die Verfügbarkeit von (u. a. statistischem) Material zu den hier behandelten Sprachminderheiten äußerst unterschiedlich ist, lassen sich gewisse Ungleichmäßigkeiten in der Darstellung nicht vermeiden. Dabei wird für diejenigen Sprachminderheiten, bei denen die Forschungssituation besonders prekär ist, ein vergleichsweise höherer Aufwand betrieben. Diejenigen Sprachminderheiten, die durch den Standard eines angrenzenden Nationalstaats überdacht sind (etwa Dänisch in Schleswig, Slovenisch in Kärnten), werden etwas weniger ausführlich dargestellt als Sprachminderheiten, für die keine Standardvarietäten existieren oder die über eigene Standardvarietäten verfügen. Wo entsprechende Literatur zur Verfügung steht, wird jeweils kurz auf mögliche sprachliche Reflexe der Minderheitensprachen in deutschen (Kontakt-)Varietäten hingewiesen. Dagegen bleiben sprachliche Interferenzen in den Minderheitensprachen, die in der Regel wesentlich zahlreicher sind, außer Betracht. Wo entsprechende Daten zur Verfügung stehen, werden zur Illustration Beispiele aus den Erhebungen der 40 Sätze Georg Wenkers als der für viele Gebiete ältesten flächendeckenden sprachlichen Erhebung herangezogen (zur Zitation einzelner Formulare vgl. Fleischer 2017a: 8−10).
2. Germanisch 2.1. Ostfriesisch Das ursprünglich zwischen Lauwers und Weser (teilweise auch nordöstlich der Weser) verbreitete Ostfriesische hat seit dem ausgehenden Mittelalter zahlreiche Gebiete verloren: Bis ins 17./18. Jahrhundert sind noch Reste des Friesischen im Harlingerland und im Land Wursten schriftlich dokumentiert (vgl. Niebaum 2001: 436−437), im 19. und 20. Jahrhundert wurden nur noch die Varietäten der Insel Wangerooge (vgl. dazu Versloot 2001; Niebaum 2001: 437) und das Saterfriesische, das wohl außerhalb des ursprünglich friesischen Sprachgebiets liegt (vgl. Fort 2004: 77, 2001: 409), gesprochen. Nur das im Nordwesten des Landkreises Cloppenburg in den Orten Scharrel, Ramsloh, Strücklingen und Sedelsberg verbreitete Saterfriesische hat sich bis ins 21. Jahrhundert erhalten. Mitte der 1990er Jahre wurde eine Anzahl von ca. 2.250 Saterfriesisch-Sprechern errechnet (vgl. Stellmacher 1998: 27; Fort 2004: 89, 2001: 410; Stellmacher 2008: 171); ca. 15 Jahre später schätzt Tröster-Mutz (2011: 463) die Anzahl der Sprecher auf zwischen 1.000 und 2.000. Das Saterland war über Jahrhunderte hinweg aufgrund der umgebenden Moore schwer zu erreichen (vgl. Fort 2004: 77, 2001: 409; Tröster-Mutz 2011: 463). Darüber hinaus waren die katholischen Saterfriesen von den benachbarten Niederdeutsch-Sprechern konfessionell getrennt. Allerdings heirateten Niederdeutsch sprechende Frauen aus dem Emsland und dem Oldenburger Münsterland ins Saterland ein (vgl. Fort 2004: 91). Bis ins 20. Jahrhundert ist von einer soziolinguistischen Situation der asymmetrischen Dreisprachigkeit auszugehen, in der das Saterfriesische Alltags- und Familiensprache war, das Niederdeutsche im Umgang mit fremden Händlern und Kaufleuten, aber auch mit Lehrern und Geistlichen und außerhalb des Saterlands verwendet und innerhalb der
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saterfriesischen Gemeinschaft auch von eingeheirateten Frauen und anderen Zugezogenen gesprochen wurde (vgl. Fort 2004: 86 u. 91−92), während das Hochdeutsche abgesehen von offiziellen Kontexten kaum eine Rolle spielte. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute das Hochdeutsche seine Position stetig aus, wobei ein Grund dafür in der Integration zahlreicher Flüchtlinge gesehen wird (vgl. Fort 2004: 87). Die Weitergabe des Saterfriesischen an die nächste Generation wurde weitgehend gestoppt (vgl. Fort 2001: 410; Tröster-Mutz 2011: 463): Für die 1990er Jahre ergab eine soziolinguistische Befragung (vgl. Stellmacher 1998, 2008), dass nur 33 % der Sprecher das Saterfriesische von ihren Eltern erworben hatten (vgl. Fort 2004: 90). Im Rahmen dieser Befragung zeigte sich auch, dass im Saterland am häufigsten Hochdeutsch verwendet wurde und dass Kenntnisse des Niederdeutschen weiter verbreitet waren als des Saterfriesischen; unter Männern waren Saterfriesisch-Kenntnisse häufiger als unter Frauen (61 % gegenüber 39 %), wobei die Saterfriesisch-Kenntnisse umso stärker zurücktreten, je jünger die Generation ist; am besten hält sich das Saterfriesische im zentralen Ort Ramsloh (vgl. Fort 2004: 89−90; Stellmacher 2008: 171−173). Saterfriesisch war während Jahrhunderten eine fast nur mündlich tradierte Sprache und verfügt über keinen allgemein verbreiteten schriftlichen Standard (vgl. Fort 2000: 166). Die bestehende saterfriesische Literatur verwendet unterschiedliche Orthographien. Es bleibt abzuwarten, ob Bemühungen, die Stellung des Saterfriesischen in Kindergarten und Schule zu verbessern (vgl. Fort 2000: 166; Tröster-Mutz 2011: 464 sowie den Erfahrungsbericht von Evers 2010), zu einer längerfristigen Revitalisierung führen können. Für das ostfriesische Niederdeutsch sind zahlreiche mögliche Substrateinflüsse zusammengestellt worden, wobei es sich in erster Linie um aus dem Friesischen stammende Lexeme handelt (vgl. u. a. Remmers 1994, 1995, 1996; Scheuermann 2001; Reershemius 2004: 18−23), etwa laien ‘blitzen’ (Remmers 1995: 244; vgl. Scheuermann 2001: 445). Mögliche lautliche und grammatische Einflüsse, wie sie Remmers (1994: 152− 156) erwägt, sind demgegenüber auf jeden Fall wesentlich weniger zahlreich. Mögliche saterfriesische Interferenzen im Niederdeutschen scheinen dagegen nicht beschrieben zu sein. Saterfriesische Interferenzen im Hochdeutschen, die über allgemein norddeutsche Merkmale, die sich in ähnlicher Weise auch im Niederdeutschen finden, hinausgehen würden, lassen sich nach Fort (1997: 1789) nicht feststellen.
2.2. Nordfriesisch Das dialektal stark zersplitterte Nordfriesische ist vermutlich erst im Mittelalter durch Auswanderung aus weiter südlich gelegenen Gebieten entstanden (vgl. Århammar 2001a: 313, 2001b). Es war im 19. Jahrhundert auf Helgoland, den nordfriesischen Inseln (ohne Pellworm und Nordstrand; hier erfolgte bereits im 18. Jahrhundert Sprachwechsel zum Niederdeutschen, nachdem nach einer Sturmflut 1634 zahlreiche Immigranten vom Festland zugezogen waren; vgl. Århammar 1976: 60) und dem gegenüberliegenden Festland verbreitet. Auch auf Eiderstedt ist zunächst mit einer nordfriesischen Präsenz zu rechnen, dort begann es jedoch bereits im 16. Jahrhundert zu schwinden (vgl. Århammar 1976: 59−60). Häufig wird davon ausgegangen, dass die beiden dialektalen Gruppen Inselnordfriesisch und Festlandnordfriesisch verschiedenen Siedlungsströmen entsprechen (vgl. Århammar 2001b). Die meisten nordfriesischen Gebiete kamen nach dem deutsch-dänischen Krieg 1864 zu Preußen und dann zum Deutschen Reich (Helgoland, das zuvor zu Groß-
36. Minderheitensprachen im deutschen Sprachgebiet
britannien gehört hatte, erst 1890). In im Jahr 1920 durchgeführten Abstimmungen entschieden sich die nordfriesischen Gebiete für den Verbleib bei Deutschland. Neben den zwei Gruppen Inselnordfriesisch und Festlandnordfriesisch werden traditionellerweise insgesamt zehn nordfriesische Dialekte unterschieden (vgl. etwa Hofmann 1956: 80; Århammar 1968: 295−296, mit Kt.; diese etwa auch in Århammar 1976: 56; Walker & Wilts 2001: 285), von denen heute bereits mehrere vor allem im Süden des Festlandes verschwunden oder besonders stark bedroht sind. Die Anzahl aktiver Sprecher wird zu Beginn der 2000er Jahre auf zwischen 8.000 und 10.000 oder zwischen 6.000 und 7.000 geschätzt (vgl. Walker 2001: 267), wobei Fering-Öömrang, die auf den Inseln Föhr und Amrum verbreitete inselnordfriesische Varietät, mit ca. 2.000−2.500 über die meisten Sprecher verfügt, gefolgt vom Mooring, der festlandnordfriesischen Mundart von Risum-Lindholm und Niebüll mit ca. 1.500−2.000 Sprechern. Mit Ausnahme des Westens der Insel Föhr wird das Nordfriesische heute kaum noch an die nächste Generation weitergegeben. Die soziolinguistische Situation der verschiedenen nordfriesischen Gebiete ist uneinheitlich: Dadurch, dass das Nordfriesische im Nordosten an das dänische Sprachgebiet grenzt, ist in historischer Zeit neben dem Niederdeutschen und Hochdeutschen auch mit einer Präsenz des Südjütischen, d. h. der südlichen dänischen Dialekte des Festlands, und der dänischen Standardsprache zu rechnen. Besonders starke dänische Einflüsse lassen sich in den Mundarten von Sylt, Föhr und Amrum sowie im Norden des Festlands (Wiedingharde) feststellen (vgl. Walker & Wilts 2001: 284). Für das 20. Jahrhundert werden für die Wiedingharde Fälle von Viersprachigkeit (Nordfriesisch, Niederdeutsch, Hochdeutsch, Jütisch) berichtet (vgl. Århammar 1976: 66; Spenter 1977; Walker 2001: 269), für die meisten übrigen Gebiete ist zunächst mit einem Nebeneinander von Nordfriesisch, Niederdeutsch und Hochdeutsch zu rechnen. Nur auf Helgoland scheint das Niederdeutsche weniger weit verbreitet gewesen zu sein, sodass schon in älterer Zeit ein Nebeneinander von Helgoländer Friesisch und Hochdeutsch anzunehmen ist (vgl. Århammar 1976: 64). Generell ist von einer langen Tradition der Mehrsprachigkeit auszugehen, wobei eine Hierarchisierung und asymmetrische Verteilung der Kompetenzen nach der Implikationsskala Friesisch > Niederdeutsch > Hochdeutsch zu beobachten ist (vgl. Walker 2001: 269): Sprecher des Nordfriesischen haben Kompetenzen im Niederdeutschen und Hochdeutschen, aber nicht notwendigerweise umgekehrt; Sprecher des Niederdeutschen haben Kompetenzen im Hochdeutschen, aber nicht notwendigerweise umgekehrt. In jüngerer Zeit weicht die traditionelle Mehrsprachigkeit jedoch zunehmend einer hochdeutschen Einsprachigkeit (vgl. z. B. Carstensen 2000 für die Wiedingharde). Aufgrund der starken dialektalen Zersplitterung existiert keine einheitliche nordfriesische „Standardsprache“. Die Verständigung über verschiedene nordfriesische Sprachgebiete hinweg geschah in älterer Zeit bei stark voneinander abweichenden Dialekten über das Niederdeutsche (vgl. Hofmann 1956: 79; Århammar 2001a: 313). In moderner Zeit verfügen die Dialekte von Föhr-Amrum (Fering-Öömrang) sowie von Risum-Lindholm und Niebüll (Mooring) über eine dominierende Stellung. Bemühungen um nordfriesischen Schulunterricht gab es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, allerdings verfügen die wenigsten Gebiete über eine länger anhaltende entsprechende Tradition (zur Stellung des Nordfriesischen im Schulwesen zu verschiedenen Epochen vgl. die entsprechenden Abschnitte in Pech 2012). Ab den 1970er Jahren kam es hier zu einem beachtlichen Ausbau (vgl. Steensen 2002). Seit dem Schuljahr 2005/2006 gehen die Anzahl
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Schüler und Schulstandorte jedoch zurück (vgl. Holm, Meyer & Frank 2011: bes. 115 [Tab.]; Pech 2012: 262). Es scheint − vielleicht mit Ausnahme von Föhr − zweifelhaft, ob der erfolgte Ausbau zu einer dauerhaften Revitalisierung führen kann (vgl. Århammar 2000: 153−154). Nordfriesische Interferenzen sind unter anderem im Niederdeutschen Eiderstedts, dessen Vokalismus von Rogby (1967; vgl. zum friesischen Substrat bes. 234−243) ausführlich untersucht wurde, in Form von friesischen Reliktwörtern festzustellen (vgl. Århammar 2001a: 328−329), etwa Schüürschöt ‘Libelle’ (Århammar 2001a: 329). Darüber hinaus ist das auf Föhr (v. a. Wyk und Nieblum) gesprochene Niederdeutsche durch zahlreiche nordfriesische Interferenzen geprägt, die sich teilweise auch auf grammatische Phänomene erstrecken (vgl. Århammar 2001a: 329−332; vgl. schon Bremer 1886). So kann etwa die für das Nordfriesische typische Verschränkung von (gespaltenen) Pronominaladverbien, bei denen die Präposition zwischen Verbpräfix und Verbstamm steht, wie sie in Ham skal diar orntelk ammägung wörtl. ‘man muss da ordentlich um-mitgehen’ = ‘man muss ordentlich damit umgehen’ (Hoekstra 2006: 1) vorliegt, auch im Föhrer Niederdeutschen nachgewiesen werden: Wor hätst du dat denn uth bi halet von Daag wörtl. ‘wo hast du das denn aus bei geholt heute’ = ‘was hast du denn heute ausgefressen?’ (Århammar 1975: 50, mit Fußnote 28). Demgegenüber lassen sich im Hochdeutschen, von (älteren) Friesisch-Muttersprachlern abgesehen, wenig eindeutig friesische Interferenzen beobachten (vgl. Århammar 2001a: 348−349), allerdings werden auch für diese Varietät phonologische (etwa bei der r-Realisierung) und grammatische Interferenzen berichtet, beispielsweise die für das Nordfriesische typische ProgressivPeriphrase mit einem Positionsverb, etwa ich sitze hier die ganze Zeit auf dich zu warten (Århammar 2001a: 349). Ob sich derartige Interferenzen im regionalen Deutsch längerfristig halten, bleibt zu untersuchen.
2.3. Dänisch Große Teile der Landschaft Schleswig waren im Mittelalter zunächst dänischsprachig, wobei bereits in vormoderner Zeit dem Deutschen etwa dank seiner Verwendung in den Städten ein höherer Status als dem Dänischen zukam (vgl. Søndergaard 1997: 1770). Im 19. Jahrhundert kam es zu einem massiven Sprachwechsel vom Dänischen zum (Nieder-)Deutschen auf lokaler Ebene, der in Angeln konsequenter und schneller verlief als auf der mittelschleswigschen Geest (vgl. Dyhr 1990a: 36), sodass mit Bock (1933) für die entsprechenden Regionen von einem niederdeutschen Substrat gesprochen wird. Im Kirchspiel Viöl (dän. Fjolde) existierte bis vermutlich in die 1940er Jahre hinein eine bereits von Wenker ([1889] 2013: 6) identifizierte, ans Niederdeutsche und Friesische angrenzende, vom binnendänischen Gebiet in der Schlussphase ihrer Existenz isolierte Gemeinschaft, die einen südjütischen (dän. sønderjysk) Dialekt sprach (vgl. u. a. Bjerrum & Bjerrum 1974), während südlich der 1920 festgelegten Grenze südjütische Dialekte wohl in den 1970er Jahren weitgehend verschwanden bzw. durch südjütische Ausgleichsvarietäten oder standardnähere Formen des Dänischen ersetzt wurden (vgl. Dyhr 1990a: 36; Pedersen 2003: 134−135; Höder i. V.). Beim Südjütischen handelt(e) es sich ursprünglich um den südlichsten Teil des binnendänischen Gebietes, wobei allerdings im Fall von Viöl zeitweise eine dänischsprachige Insel im deutschen Sprachgebiet vorlag.
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Die dänische Hochsprache war in Südschleswig bis zum 19. Jahrhundert kaum verbreitet; erst in der Periode zwischen den beiden Schleswigschen Kriegen (1851−1864), als das Gebiet zu Dänemark gehörte, wurden Versuche unternommen, das Reichsdänische einzuführen, was allerdings keine nachhaltigen Effekte hatte (vgl. Søndergaard 1997: 1771−1772). Der Schutz und die rechtliche Stellung der dänischen Minderheit in Deutschland (und der deutschen Minderheit in Dänemark) sind in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 festgehalten (vgl. Søndergaard 1997: 1772). In der Folge erlangte das Standarddänische in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gewisse Präsenz, vor allem im Rahmen eines gut organisierten dänischsprachigen Bildungssystems (vgl. Kühl 2008: 34−37; zur Stellung des Dänischen im Schulwesen zu verschiedenen Epochen vgl. die entsprechenden Abschnitte in Pech 2012), weshalb es als eine „Institutionssprache“ bezeichnet werden kann (vgl. Søndergaard 1997: 1773−1774). Der Erwerb des Dänischen geschieht gegenwärtig überwiegend im Rahmen des dänischen Bildunssystems (vgl. Pedersen 2009: 309). Neben den heute verschwundenen jütischen Dialekten und dem Reichsdänischen besteht mit dem Südschleswigdänischen eine weitere Varietät, die bei relativ großen individuellen Verschiedenheiten im Vergleich mit den südjütischen Dialekten nah am dänischen Standard ist, jedoch − gerade auch sprecherabhängig − mehr oder weniger zahlreiche deutsche Interferenzen aufweist (vgl. Dyhr 1990a: 36−38; Pedersen 2003: 128−129; Kühl 2008: 48−54; Fredsted 2009: 11−13). Belastbare Zahlen zur Größe der dänischen Minderheit existieren nicht (vgl. Søndergaard 1997: 1769). Ein Bekenntnis zur dänischen Minderheit ist nicht an Sprachkenntnisse oder an das alltägliche sprachliche Verhalten gebunden, weshalb gelegentlich der Begriff der „Gesinnungsminderheit“ (Søndergaard 1997: 1770; Kühl 2004: 325 u. 328), die sich nicht durch objektive sprachliche oder kulturelle Kriterien feststellen lässt, Verwendung findet. In den niederdeutschen Mundarten Südostschleswigs lassen sich zahlreiche Interferenzen aus den ehemals dänischen Mundarten feststellen. Diese beziehen sich nicht nur auf den Wortschatz, wie beispielsweise die von Bock (1933: 190−199) diskutierten Lexeme zeigen, etwa (af-)sysl̥ n, bəsysl̥ n ‘häusliche Arbeiten verrichten’ (Bock 1933: 198 mit 328 [Abb. 30]) − dieses Lexem lässt sich nach Höder (2016: 300), der als Bedeutung ‘[mit etwas Unwichtigem] beschäftig sein’ angibt, auch noch im regionalen Hochdeutsch finden −, sondern lassen sich auch auf grammatischer Ebene feststellen: Am bekanntesten sind durch und eingeleitete Infinitivkonstruktionen, die den dänischen Zusammenfall von at ‘zu’ und og ‘und’, die lautlich identisch realisiert werden, kalkieren und dänische Wortstellung zeigen: ig hef lusd un lōbm̥ vex wörtl. ‘ich habe Lust und laufen weg’ = ‘ich habe Lust wegzulaufen’ (Bock 1933: 107 u. 324 [Abb. 24]; vgl. auch Andersen 1899: 156−158; Laur 1975; Dyhr 1990b: 397−398; Hoekstra 2009; Höder 2016: 303− 305). Die gleiche Konstruktion wird auch für die hochdeutsche Umgangssprache berichtet, etwa es ist nicht leicht und werden fertig ‘es ist nicht leicht, fertig zu werden’ (nach Andersen 1899: 156) oder es ist gut, und haben was, und schneiden ab ‘es ist gut, etwas zu haben, um abzuschneiden’ (nach Laur 1975: 299).
2.4. (West)Jiddisch Spätestens im Hochmittelalter kommt es zu dauerhaften Ansiedlungen jüdischer Gemeinden im deutschen Sprachgebiet. Dabei ist umstritten, welche gesprochene Sprache die
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jüdischen Einwanderer zunächst mitbrachten: Eine Schicht relativ alter Lexeme im Jiddischen, möglicherweise auch strukturelle Einflüsse, lassen an eine romanische Sprache denken (vgl. Fleischer 2018: 263−265), doch werden auch andere Möglichkeiten diskutiert. Mit der Entstehung jüdischer Gemeinden im deutschen Sprachraum etabliert sich eine westgermanische Varietät als deren gesprochene Sprache. Während für das Mittelalter und die beginnende Neuzeit unklar und stark umstritten ist, ob und inwiefern sich diese Varietät, was ihre germanischen Bestandteile betrifft, vom jeweils koterritorialen Deutsch unterschied, lässt sich spätestens ab der Neuzeit anhand expliziter Aussagen von Zeitgenossen und aufgrund verschiedener schriftlich festgehaltener Reflexe des Westjiddischen feststellen, dass die jüdische Bevölkerung im deutschsprachigen Gebiet teilweise eine eigene, vom koterritorialen Deutschen verschiedene Varietät als mündliches Kommunikationsmittel verwendet. In der wissenschaftlichen Literatur wird diese seit dem 20. Jahrhundert meist als „Westjiddisch“ bezeichnet, was sich aufgrund der feststellbaren sprachlichen Beziehungen zum Ostjiddischen rechtfertigen lässt (vgl. Fleischer 2014). Dagegen bezeichneten die Sprecher ihre Varietät in der Regel als „JüdischDeutsch“. Dies gilt teilweise auch für die wissenschaftliche Literatur, wobei mit verschiedenen Benennungen auch unterschiedliche Positionen in Bezug auf die Entstehung des Jiddischen verbunden sein können (vgl. Fleischer 2018: 240−243). Im Rahmen der Assimilation und Urbanisierung des deutschsprachigen Judentums seit dem späten 18. Jahrhundert wurde das Westjiddische in vielen Gebieten zugunsten deutscher Varietäten aufgegeben. Allerdings war es im 19. Jahrhundert bei der älteren Generation in ländlichen Gemeinden sicher noch präsent. Zumindest in Spuren hielt es sich an der Peripherie des deutschsprachigen Gebiets bis ins 20. Jahrhundert. Dies gilt etwa für Ostfriesland (vgl. Reershemius 2007), für die Schweiz und das angrenzende Südbaden (vgl. Fleischer 2005) und das Elsass (vgl. Zuckermann 1969; Schäfer 2014) sowie für das Burgenland (vgl. Schäfer 2017b). Direkte sprachliche Zeugnisse des Westjiddischen fehlen in vielen Gebieten. Deshalb stellen sekundäre Zeugnisse, etwa die Figurenrede jüdischer Charaktere in Theaterstücken (vgl. Schäfer 2017a), eine wichtige Quelle zum historischen Westjiddisch dar. Das Westjiddische unterschied sich vom Deutschen nicht nur dahingehend, dass für bestimmte Bereiche Lexeme aus dem Hebräischen (und teilweise Aramäischen) verwendet wurden, sondern auch in phonologischer Hinsicht, etwa dahingehend, dass einem mhd. ei und ou ein /a:/ entspricht. Zwar findet sich diese Entwicklung auch in deutschen Dialekten, jedoch ist sie dort regional wesentlich weniger weit verbreitet als im Westjiddischen (vgl. Fleischer 2018: 255−256 und 257 [Kt.]). Auch in grammatischer Hinsicht lassen sich Merkmale anführen, in denen sich das Westjiddische von den meisten deutschen Varietäten (inklusive den jeweils koterritorialen Dialekten) unterscheidet (vgl. Fleischer 2014), etwa in Bezug auf die Nicht-Unterscheidung von Ortsruhe und Richtung in der Kasussetzung nach Präposition (vgl. Fleischer & Schäfer 2012). Während das Westjiddische in der Regel verschwand, bevor es in einer sprachwissenschaftlich befriedigenden Weise dokumentiert werden konnte, lässt sich in deutschen Varietäten ein mittelbarer Einfluss des Westjiddischen bis heute feststellen: Lexeme aus dem Hebräischen gelangten über die Vermittlung des Westjiddischen ins Deutsche, sowohl in die Basisdialekte (vgl. u. a. Stern 2000) als auch in die Umgangssprache (vgl. u. a. Althaus 2003), etwa Massel ‘Glück’ (Stern 2000: 128−129; Althaus 2003: 128) oder Maloche ‘(schwere) Arbeit’ (Stern 2000: 126−127; Althaus 2003: 124−125). Da sich viele dieser Lexeme auch im Ostjiddischen in einer ähnlichen Form finden, ist
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allerdings in Gebieten, in denen ab dem 19. Jahrhundert mit einer ostjüdischen Präsenz zu rechnen ist (dies gilt vor allem für Städte), die genaue Quelle dieser Lexeme nicht in jedem Fall sicher zu eruieren. Lokal beschränkt übernahmen deutsche Sondersprachen zahlreiche ursprünglich hebräische Lexeme aus dem Westjiddischen, etwa in Rexingen in Württemberg (vgl. z. B. Matras 1991) oder in Schopfloch in Franken (vgl. z. B. Klepsch 2004: 22−28). Die Anzahl hebräischstämmiger Lexeme in diesen Sondersprachen geht bedeutend über die allgemein(er) verbreiteten Lexeme hinaus.
3. Romanisch 3.1. Rätoromanisch (Bündnerromanisch) Das Rätoromanische ist in verschiedenen Teilen des Kantons Graubünden im Südosten der Schweiz verbreitet. Die alternative Bezeichnung „Bünderromanisch“ erlaubt eine Differenzierung vom Dolomiten-Ladinischen und Friaulischen, die in der Romanistik ebenfalls als rätoromanisch klassifiziert werden; im allgemeinen Sprachgebrauch in der Schweiz hat sich diese Bezeichnung jedoch nicht durchgesetzt. Das Bünderromanische ist dialektal stark differenziert und weist ein stellenweise unterbrochenes Verbreitungsgebiet auf, das an verschiedenen Stellen das deutsche und italienische Sprachgebiet berührt. Es existieren fünf verschiedene regionale Schriftnormen, die meist als „Idiome“ bezeichnet werden (vgl. Liver 2010: 44). Dabei geht die schriftsprachliche Tradition im Engadin (Puter und Vallader) bis ins 16., im Vorderrhein (Sursilvan) bis ins 17. Jahrhundert zurück, ist also historisch gewachsen und gefestigt; dagegen sind die mittelbündnerischen Schriftidiome Sutsilvan und Surmiran erst Entwicklungen des 20. Jahrhunderts (vgl. Kristol 1989: 814). Heute sind Sursilvan und Vallader am vitalsten, Surmiran nimmt eine Mittelstellung ein, gefolgt vom Puter, wogegen das Sutsilvan praktisch verschwunden ist (vgl. Liver 2010: 45). Seit dem Mittelalter geht das Sprachgebiet des Rätoromanischen kontinuierlich zurück, wobei der Sprachwechsel zum Deutschen, in der Literatur zum Rätoromanischen meist als „Germanisierung“ bezeichnet, zunächst über das Rheintal voranschritt (in der heutigen Kantonshauptstadt Chur war Rätoromanisch bis ins 15. Jahrhundert noch präsent, doch fungierte diese Stadt nie als rätoromanisches Zentrum; vgl. Liver 2010: 78). Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts gerät das Rätoromanische auch durch aus dem Wallis ausgewanderte Walser, die sich zunächst auf unbesiedelten Höhen niederließen, sich aber in der Folge auch talwärts ausbreiteten, unter Druck (vgl. Liver 2010: 79). Ab der frühen Neuzeit lässt sich die jeweils geltende areale Verbreitung des Rätoromanischen anhand historischer Quellen ziemlich gut nachvollziehen (vgl. Trümpy 1955: 31−35). Nach den statistischen Erhebungen 2010−2014 beträgt die Anzahl an Personen mit Rätoromanisch als Hauptsprache ca. 40.000, was ca. einem halben Prozent der Schweizer Gesamtbevölkerung entspricht (vgl. Bundesamt für Statistik 2016: 21). Langfristig geht das Rätoromanische in absoluten, vor allem aber in relativen Zahlen zurück: Während in der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts noch eine Mehrheit der Kantonsbevölkerung rätoromanischsprachig war, hat Graubünden in der Volkszählung von 1860 erstmals eine deutschsprachige Mehrheit (vgl. Liver 2010: 83). Auf die gesamte Schweizer Bevölkerung bezogen nimmt das Rätoromanische zwischen 1910 und 2010 von einem auf ein
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halbes Prozent ab (vgl. Bundesamt für Statistik 2016: 19). In der Volkszählung von 2000, in der anders als in früheren Befragungen nach der am besten gesprochenen Sprache und nach der im Privat- und Berufsleben hauptsächlich gesprochenen Sprache gefragt wurde, gaben 27.000 Personen an, Romanisch am besten zu beherrschen, und 38.000, Romanisch im Privat- und Berufsleben hauptsächlich zu verwenden (dies entspricht, auf Graubünden hochgerechnet, 14,5 % bzw. 21,6 % der Kantonsbevölkerung; vgl. Grünert 2008a; Liver 2010: 46). Eine rätoromanische Mehrheit existiert heute mit 56 % bzw. 57 % nur noch in den Bezirken Inn und Surselva; ca. ein Drittel der rätoromanischen Bevölkerung lebt heute außerhalb des traditionellen rätoromanischen Sprachgebiets (vgl. Bundesamt für Statistik 2016: 21). Der Rückgang des Romanischen ist, zumindest in bestimmten Gebieten, eher eine Frage des relativen Anteils als der absoluten Zahlen: Durch Zuwanderung aus deutsch- und italienischsprachigen Gebieten und durch ein exogames Heiratsverhalten geht der relative Anteil des Bündnerromanischen in den traditionell rätoromanischen Gebieten zurück (vgl. Kristol 1989: 819−823). In deutsch-rätoromanisch gemischten Partnerschaften wird das Rätoromanische vor allem in Gemeinden mit einer starken rätoromanischen Präsenz verwendet, ansonsten dominiert Deutsch (vgl. Cathomas 2008: 122). Für die jüngere Zeit ist davon auszugehen, dass Rätoromanisch-Sprecher immer zweisprachig sind (vgl. Liver 2010: 69). Allerdings ist das Gefüge der verschiedenen Varietäten kompliziert: Deutsch wird von Rätoromanisch-Sprechern in der für die deutschsprachige Schweiz typischen Diglossie von Dialekt und Standardsprache verwendet. Ebenso steht der rätoromanische Ortsdialekt in einem diglossischen Verhältnis zum jeweiligen Schriftidiom, weswegen Kristol (1989: 816) die soziolinguistische Situation als eine „doppelte Diglossie“ charakterisiert. Dazu kommt als fünfte Varietät in jüngerer Zeit noch Rumantsch Grischun (vgl. unten). Auf kantonaler Ebene wurde das Rätoromanische zusammen mit dem Italienischen in den Verfassungen von 1880 und 1892 dem Deutschen formell gleichgestellt; 1938 wurde das Rätoromanische in einer nationalen Volksabstimmung mit überwältigender Mehrheit zur vierten Landessprache (neben Deutsch, Französisch und Italienisch) erklärt (vgl. Liver 2010: 83−84). Das Rätoromanische genießt damit besonderen Schutz (zur rechtlichen und institutionellen Stellung des Rätoromanischen vgl. Gross 2004: 38−47; Grünert 2008b). Es verfügt über einen institutionalisierten Status, der sich unter anderem im Wirken der „Lia Rumantscha“, die sich um die Belange des Rätoromanischen kümmert, manifestiert (vgl. Gross 2004: 84−91; Lechmann 2005). Trotz der in gewissen Gebieten langen schriftsprachlichen Tradition und des offiziellen Status (der sich unter anderen auch in rätoromanischen Fernseh- und Radiosendungen und in verpflichtendem rätoromanischen Schulunterricht äußert) geht es allerdings stetig zurück. Dabei stellt es ein Problem dar, dass die fünf „Idiome“ untereinander teilweise schwer verständlich sind und die verschiedenen Regionen über eine ausgeprägte Eigenständigkeit verfügen, was dazu führt, dass Rätoromanen unterschiedlicher Gebiete miteinander auf Deutsch kommunizieren (vgl. Cathomas 2008: 120). Aus den genannten Gründen wird seit 1982 versucht, eine alle Dialektgebiete überdachende Norm, das von Heinrich Schmid (1921−1999) konzipierte Rumantsch Grischun, zu etablieren (vgl. Kristol 1989: 815; Liver 2010: 70−74). Ziel war es, „jene Sprachform zu finden, die am ehesten ohne grössere Anstrengung in ganz Romanischbünden verstanden werden könnte und an der alle Hauptregionen möglichst gleichmässig beteiligt sind.“ (Schmid 1989: 76). Trotz zunehmender Verbreitung des Rumantsch Grischun, etwa in der
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eidgenössischen und kantonalen Verwaltung, im Schulunterricht und in Printmedien (vgl. Gross 2004: 93−95), ist die zuweilen als künstlich empfundene neue Schriftsprache nach wie vor umstritten (vgl. Gross 2004: 95−99; Cathomas 2008: 131−138; Liver 2010: 74). Für die deutschen Mundarten des Rheintals, die auf ehemals romanischem Gebiet gesprochen werden, wird generell diskutiert, inwieweit sich in bestimmten Strukturen romanischer Einfluss manifestiert; dabei lassen sich sowohl zur Norm gewordene Strukturen (mit Weinreich 1953: habitualisierte Interferenzen) als auch Interferenzen im Deutschen von Rätoromanisch-Sprechern feststellen (vgl. Willi & Solèr 1990: 461−464; vgl. auch Solèr 1997: 1885). Eindeutig auf das Bünderromanische zurückgehender Substrateinfluss ist in Varietäten, die durch kurze Zeit zurückliegenden oder angehenden Sprachwechsel gekennzeichnet sind, besonders evident. So dokumentiert Cavigelli (1969) für die deutsche Varietät von Bonaduz zahlreiche romanische Interferenzen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen, etwa beim Fehlen der Affrikate /pf/ (vlųmα ‘Pflaume’; Cavigelli 1969: 346), bei der Übertragung des romanischen -s-Plurals auf Lexeme, die im (Schweizer-)Deutschen keinen -s-Plural kennen, etwa Sg. gablα − Pl. gablαs ‘Gabel(n)’ (Cavigelli 1969: 379) oder bei der Stellung des Verbs im Nebensatz, dem wie im Hauptsatz noch nominale Konstituenten folgen können, etwa węn į han kha hųŋər wörtl. ‘wann ich habe gehabt Hunger’ = ‘als ich Hunger gehabt habe’ (Cavigelli 1969: 506). Auf lexikalischer Ebene lassen sich ebenfalls zahlreiche romanische „Reliktwörter“ aus verschiedenen Sachbereichen feststellen (vgl. die Verzeichnisse in Cavigelli 1969: 512− 546), etwa dāšα ‘Tannenzweige’ (Cavigelli 1969: 531). Auf das Rätoromanische gehen auch manche phonetische Eigenheiten des Schweizerdeutschen von Rätoromanen, wie sie schon Weinreich (1953: 15−17) diskutiert, zurück. Allerdings gilt für in Chur lebende Rätoromanisch-Sprecher, dass sie sich „insgesamt nicht auffallend von Einsprachigen unterscheiden“ (Cathomas 1977: 167). Dennoch sprechen sie insgesamt „wohl (etwas) anders Deutsch als die Deutschsprachigen“ (Cathomas 1977: 167).
3.2. Französisch und Okzitanisch protestantischer Immigranten Besonders nach der 1685 erfolgten Aufhebung des Edikts von Nantes, das seit 1598 eine gewisse Religionsfreiheit zugesichert hatte, teilweise aber auch schon früher, verließen zahlreiche Protestanten Frankreich und Savoyen. Hugenotten und Waldenser wurden in protestantischen Gebieten Deutschlands (v. a. Württemberg, Hessen-Kassel und Brandenburg-Preußen) angesiedelt, womit galloromanische Varietäten nach Deutschland gelangten (vgl. Kramer 1992: 71−95; Kiefner 1993; Glück 2002: 158−201). Der Zustrom war teilweise beträchtlich: In Berlin und Kassel machte die jeweilige hugenottische Kolonie um 1700 ca. 20 % der lokalen Bevölkerung aus (vgl. Glück 2002: 171). In ländlichen Gebieten sollten teilweise Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges durch gezielte „Peuplierung“ ausgeglichen werden (vgl. Glück 2002: 160). In Städten assimilierte sich die hugenottische Bevölkerung sprachlich in der Regel im Verlauf einiger Generationen, wobei am Französischen als Sakralsprache und seiner schriftlichen Verwendung, etwa in gemeindeinternen Dokumenten, in der Regel länger festgehalten wurde als in der mündlichen Domäne: Hier deutet sich schon früh ein Sprachwechsel zu deutschen Varietäten als Muttersprache an (vgl. Böhm 2010). Spätestens um 1750 muss der Sprachwechsel „in vollem Gange“ gewesen sein (Glück 2002:
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185). Dabei ist davon auszugehen, dass sich das Französische bei höheren sozialen Schichten länger hielt (vgl. Glück 2002: 190). In ländlichen Gebieten wurden französische und okzitanische Varietäten dagegen teilweise bis ins 19. und in letzten Ausläufern bis ins 20. Jahrhundert tradiert (zu Hessen vgl. z. B. Milléquandt 1969; Overbeck 2011, i. V.; zu Württemberg vgl. Rösiger 1883; Boger & Vogt 1930; Hirsch 1963, 1983). Die teilweise neu angelegten ländlichen Siedlungen bildeten bis zum endgültigen Verschwinden galloromanische Außensprachinseln im deutschsprachigen Gebiet. Dabei war, soweit sich dies rekonstruieren lässt, die soziolinguistische Situation neben Kontakten zum Deutschen durch ein Nebeneinander verschiedener galloromanischer Varietäten geprägt: Neben hochfranzösischer Schrift- und Sakralsprache spielten als gesprochene Varietäten französische und okzitanische Dialekte eine Rolle. Bei den Württemberger Waldensern erhielt sich ein okzitanischer Dialekt in letzten Resten bis in die 1920er Jahre (als eindeutig okzitanisch erweist sich diese Varietät etwa dadurch, dass lat. -cc- als Affrikate erscheint, z. B. im Wort für ‘Kuh’, lat. vacca, franz. vache: vatšo; Boger & Vogt 1930: 476). Allerdings zeigt die Tatsache, dass es kaum noch möglich war, zusammenhängende Texte zu erheben, dass die Sprache damals kurz vor der endgültigen Aufgabe stand (vgl. dazu Hirsch 1983). Die Varietäten Hessens scheinen, zumindest in den wenigen erhaltenen Zeugnissen, eher französisch geprägt, was teilweise im Widerspruch zur meist südlichen Herkunft steht. Im Fall von Louisendorf (bei Frankenberg) stammten die Hugenotten ursprünglich aus der Gegend von Die (vgl. Milléquant 1969: 197), was okzitanische Formen erwarten lässt. Die im 20. Jahrhundert festgehaltenen gesprochenen Formen in dieser Gemeinde sind allerdings eindeutig französisch (für lat. -cc- etwa erscheint nach Sprunkel 1964: 71 ein Frikativ, z. B. im Wort für ‘Kuh’: [vɔ:ˈʃë]; vgl. auch die Form Wache aus WS 37 des Wenkerbogens 30136 Louisendorf). Dies lässt die Frage aufkommen, ob hier überhaupt eine Fortsetzung der von den Glaubensflüchtlingen mitgebrachten gesprochenen galloromanischen Varietät oder eher eine „Liebhabersprache“ (Overbeck i. V.) vorliegt. Berichten über den Erhalt des Französischen als gesprochener Sprache bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und den entsprechenden Materialien ist mit Vorsicht zu begegnen (vgl. Glück 2002: 198). Wie Overbeck (2011) aufzeigt, lässt sich die (ehemalige) Präsenz des Okzitanischen in Hessen aber immerhin in Spuren feststellen. Eine gewisse Sonderposition unter den hessischen Siedlungen zeigt Friedrichsdorf im Taunus. Hier waren als gesprochene Varietäten französische Dialekte aus der Picardie und der Champagne vertreten (vgl. Marmier 1901: 9). Diese große, wirtschaftlich prosperierende Ansiedlung leistete sich eine Infrastruktur, die sich begünstigend auf den Erhalt des Französischen, etwa als Sakralsprache, auswirkte. Die Geistlichen, teilweise auch die Lehrer, wurden von außerhalb rekrutiert (meist aus der französischen Schweiz, vgl. Marmier 1901: 6) und sprachen „ein besseres Französisch“ als die übrigen Gemeindemitglieder (Marmier 1901: 10). Das Standardfranzösische genoss in Friedrichsdorf einen besonders hohen Status (vgl. Marmier 1901: 10−15). Ob bzw. wie stark sich die Varietäten der galloromanischen Protestanten in Deutschland in sprachlichen Interferenzen niederschlugen, ist deshalb schwierig festzustellen, weil sich französische Einflüsse im Deutschen auch über zahlreiche andere Kanäle manifestieren und somit der genaue Entlehnungsweg meist schwierig zu klären ist (vgl. Kramer 1992: 160): Neben Entlehnungen im Rahmen der „alamode-Epoche“ (vgl. z. B. Polenz 2013: 85−115), die zunächst bei höheren gesellschaftlichen Schichten beginnen, sind hier auch Kontakte im Rahmen von militärischen Ereignissen, vor allem Truppen-
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Einquartierungen, zu nennen (vgl. z. B. Schoof 1906: 67), aber auch Arbeitsmigration nach und Rückkehr von Frankreich (vgl. Stein 1990: 193). Trotz dieser methodischen Schwierigkeit ist es auffällig, dass sich zahlreiche französische Entlehnungen, die teilweise in anderen Gebieten unbekannt sind, sowohl im Berlinischen (vgl. Kramer 1992: 158−159; Schmidt 1992: 154; Glück 2002: 177) als auch im nördlichen Hessen (vgl. Schoof 1906; Stein 1990), feststellen lassen, also in Gebieten mit einer hohen hugenottischen Präsenz. Dies gilt etwa in Berlin für Botten ‘grobe Schuhe’ (Schmidt 1992: 154) oder in der Schwalm für babilər ‘Schmetterling’ (Schoof 1906: 71 u. 347).
4. Slavisch 4.1. Dravänopolabisch Bis zum 18. Jahrhundert wurde im Hannoverschen „Wendland“ (dieser Name verweist auf eine ehemals slavische Bevölkerung) eine westslavische Varietät gesprochen, die in schriftlichen Dokumenten (v. a. zeitgenössische Wortlisten) festgehalten ist (vgl. u. a. die in Olesch 1989 zusammengefassten Aufsätze; Polański 1993). Diese als Dravänopolabisch bezeichnete Sprache, die den letzten Überrest des ehemals wesentlich weiter verbreiteten Polabischen darstellt, wurde aus antiquarischem Interesse zu einem Zeitpunkt aufgezeichnet, als ihr baldiges Verschwinden absehbar war. Strukturelle Besonderheiten der deutschen Mundarten des Wendlands erklärte schon Wenker durch slavisches Substrat, etwa den h-Ausfall (Und statt Hund, Aus statt Haus; vgl. Wenker [1889] 2013: 21). Die spätere Forschung hat weitere Besonderheiten der deutschen Mundart des Wendlandes, bei denen es sich um Fälle möglicher Substratwirkungen des Dravänopolabischen auf das Niederdeutsche handelt, zusammengetragen (vgl. Diels 1914; Selmer 1918: 28−33; Wesche 1969; Wiesinger 2004: 265−270). Die gegenüber anderen niederdeutschen Mundarten unerwarteten Genera wie etwa dat Melk ‘die Milch’ (WS 3, 22794 Satemin) zeigen vielleicht das Dravänopolabische Genus des entsprechenden Lexems, eher aber Unsicherheiten im Umgang mit dem Artikel beim Wechsel von einer Sprache ohne Artikel zum Niederdeutschen (vgl. Wiesinger 2004: 267−268; vgl. auch Diels 1914: 30; Selmer 1918: 28; Wesche 1969: 269). Bei der Verwendung von haben statt sein als Perfekt-Auxiliar (etwa WS 5: Ee at […] störrm ‘er ist gestorben’, WS 9: Ick äf bi dee Fru west ‘ich bin bei der Frau gewesen’, 22794 Satemin; vgl. Wenker [1900/1903] 2013: 616 mit Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs [WA]: Kt. 65; Wenker [1905] 2013: 772 mit WA: Kt. 122) könnte sich mittelbarer Dravänopolabischer Einfluss manifestieren, indem beim Sprachwechsel das häufigere der beiden deutschen Perfekt-Auxiliare generalisiert wurde (vgl. Wiesinger 2004: 269; vgl. auch Wesche 1969: 270). Auch zahlreiche lexikalische Besonderheiten, die allerdings nicht immer zweifelsfrei auf das Dravänopolabische zurückzuführen sind, wurden durch Selmer (1923: 12−23) zusammengetragen.
4.2. Sorbisch Das in der Lausitz verbreitete Sorbische, das in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen als Minderheitensprache offiziellen Status genießt, stellt den Rest einer in älterer
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Zeit weiter verbreiteten westslavischen Sprache dar, die in sich dialektal stark zersplittert ist. Außer voneinander stark abweichenden lokalen Dialekten existieren nebeneinander eine nieder- und eine obersorbische Standardsprache, die über eine jeweils eigene Tradition verfügen (vgl. Stone 1993). Dabei ist der obersorbische Standard, der eine längere Geschichte aufweist, weiter ausgebaut als der niedersorbische (vgl. Faßke 1997: 1793− 1794). Im Fall des Obersorbischen ist außerdem eine weitere Varietät im einzigen heute noch vitalen Gebiet, dem des „katholischen Dialekts“ nordwestlich von Bautzen bzw. östlich von Kamenz, zu finden, die als „Umgangssprache“ charakterisiert wird: Sie entstand aus der obersorbischen Standardsprache, weist jedoch zahlreiche Interferenzen bzw. Substratwirkungen aus dem Dialekt auf (vgl. Scholze 2008: 32). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist von insgesamt ca. 70.000 Sprechern auszugehen, wobei die sorbischsprachige Bevölkerung nur noch in den obersorbischen Gebieten mit katholischer Bevölkerung eine − dort fast ungefährdet erscheinende − Mehrheit bildet (vgl. Faßke 1997: 1793). Aufgrund einer ausgeprägt germanisierenden Politik nach dem Wiener Kongress geriet das Sorbische bereits während des 19. Jahrhunderts unter starken Druck; schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist nach Faßke (1997: 1792) von durchgehender sorbischdeutscher Zweisprachigkeit auszugehen. Dieser Druck verschärfte sich unter dem Nationalsozialismus noch weiter (zu Verfolgungen in der NS-Zeit vgl. die Dokumentation von Zeitzeugen von Bott-Bodenhausen 1997). In der DDR wurde das Sorbische zwar in Sachsen durch das „Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung“ und eine entsprechende Verordnung in Brandenburg besser gestellt (zur rechtlichen Stellung des Sorbischen seit 1815 vgl. Pastor 1997), unter anderem durch die Einführung von Sorbisch als Unterrichtssprache und -gegenstand (zur Stellung des Sorbischen im Schulwesen vgl. Pech 2012). Dennoch ging die Bedeutung des Sorbischen − unter anderem aufgrund des Zuzugs deutschsprachiger Flüchtlinge und Arbeitskräfte im Rahmen der Industrialisierung und der Kollektivierung der Landwirtschaft, die dazu führten, dass der relative Anteil des Sorbischen bei absolut gesehen stabilen Zahlen teilweise drastisch zurückging − in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stetig zurück (Faßke 1997: 1792−1793; vgl. z. B. Pech 2003 und Norberg 1996: 151 zu einem Ort in der Niederlausitz). Die Domowina, eine 1912 gegründete Organisation der sorbischen Minderheit, beschäftigte sich in der DDR im Vergleich zu anderen Belangen eher wenig mit Fragen der sorbischen Sprache und ihrer Verwendung (Elle 2010: 174; vgl. Norberg 1996: 159− 160), wiewohl der Rückgang des Sorbischen durchaus mit Sorge wahrgenommen wurde (vgl. Elle 2010: 163−174; zur Sprachpolitik in der DDR vgl. Elle 1995). Die in (ehemals) sorbischen Gebieten gesprochenen deutschen Varietäten bzw. die deutschen Varietäten von Sorbisch-Muttersprachlern sind teilweise stark durch sorbische Interferenzen gekennzeichnet (vgl. Bronisch 1862; Michalk & Protze 1967: 21−29, 1974: 33−100; Stone 1989; Norberg 1996: 95). Dabei ist das „Neulausitzische“, was das Deutsche betrifft, eher umgangssprachlich als basisdialektal geprägt (vgl. Michalk 1990: 439). Wie im Dravänopolabischen wird /h/ weggelassen (vgl. Kap. 4.1.), aber auch hyperkorrekt gesetzt (vgl. Michalk & Protze 1967: 25−26, 1974: 39−40; Michalk 1990: 440); beide Phänomene treten bereits in den Wenker-Materialien auf, etwa Wer at mir mein Kurb mit Fleisch weggenummen? (WS 19, 07437 Steinitz) oder Thug Kohlen hin Hofen (WS 3, 07437 Steinitz; vgl. Stone 1989: 137−140). Das Reflexivpronomen sich wird in verschiedenen Konstruktionen verwendet, die sorbisch beeinflusst sein könnten (vgl. Michalk & Protze 1974: 94; Stone 1989: 143−144), etwa in es hört sich gleich auf zu
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schneinen (WS 2, 08787 Creba). Bei haben anstelle von sein als Perfekt-Auxiliar, etwa in at er ethaut = ‘ist er geschmolzen’ (WS 25, 07757 Neuzauche; vgl. WA: Kt. 367) könnte sich mittelbarer Einfluss des Sorbischen, das keine Variation bei der Wahl des Perfekt-Auxiliars kennt, manifestieren (vgl. Stone 1989: 142−143); dieses Phänomen findet sich in ähnlicher Weise auch als mögliche Substratwirkung des Dravänopolabischen (vgl. Kap. 4.1.). Negationskongruenz, wie sie Bronisch (1862: 137) und Michalk (1990: 434) beschreiben, lässt sich ebenfalls mit dem Sorbischen in Verbindung bringen. Diese Struktur ist allerdings auch in älteren Sprachstufen und deutschen Dialekten, für die slavische Interferenzen unwahrscheinlich sind, belegbar. Allerdings findet sich Negationskongruenz auch in Kontexten, in denen sie in deutschen Varietäten ohne Kontakt zum Slavischen nicht auftritt, wie eine vergleichende Analyse von WS 39 („[…] der braune Hund thut dir nichts.“) zeigt: Die durch der braune Hund thut dir nischt nich (08972 Cantdorf) repräsentierte Negationskongruenz findet sich in dieser Weise in deutschen Varietäten, für die Negationskongruenz an sich durchaus beschrieben wird, nicht (vgl. Fleischer 2017b: 155−159, mit 391 [Kt.]). Für die Strukturierung eines lexikalischen Feldes lässt sich die neulausitzische Nicht-Unterscheidung zwischen ‘Fuß’ und ‘Bein’, die obersorb. noha bzw. niedersorb. noga entspricht, nennen; sie manifestiert sich etwa in Übersetzungen von WS 8, dessen Vorlage „Die Füße thun mir sehr weh […]“ lautet, z. B. in Beejne thun mich sehre weh … (08622 Burk; vgl. Stone 1989: 144; WA: Kt. 107; DSA: Kt. 8).
4.3. Burgenlandkroatisch Seit dem 15. oder 16. Jahrhundert kam es nach den Ottomanischen Kriegen zur Ansiedlung kroatischer Bevölkerung im Gebiet des heutigen Burgenland (und in Teilen des angrenzenden Niederösterreich), ebenso auch im angrenzenden Westungarn, in der südwestlichen Slowakei und im südlichen Tschechien (vgl. Neweklowsky 1978: 19 u. 264− 266; Szucsich i. V.). Beim Burgenlandkroatischen handelt es sich um Außensprachinseln des Kroatischen, die kein geschlossenes Gebiet bilden. Während das Kroatische in Niederösterreich im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschwand, wird es im Burgenland bis heute gesprochen. Die Anzahl Kroatischsprachiger nimmt im Verlauf des 20. Jahrhunderts ab; Ende des 20. Jahrhunderts ist von weniger als 20.000 Sprechern auszugehen (vgl. Pohl 1997: 1806; vgl. auch Neweklowsky 1997: 1823). Die kroatischen Ansiedlungen in Österreich sind durch eine große dialektale Heterogenität gekennzeichnet, wobei von den drei für das Kroatische üblicherweise angesetzten Dialektgruppen die čakavischen Dialekte, die in Nord- und Mittelburgenland gesprochen werden, in der Mehrheit sind; im Süden finden sich auch kajkavische und štokavische Dialekte (vgl. Neweklowsky 1969, 1978: 346−347 mit Kt.). Eine kontinuierliche literarische Tradition existiert seit dem 18. Jahrhundert und damit schon früher als im binnenkroatischen Raum (vgl. Neweklowsky 1997: 1822; Tornow 2003: 297− 298). Die im Burgenland verwendete, auf den burgenländischen čakavischen Dialekten basierende Schriftsprache gehört einer anderen Dialektgruppe an als der in Kroatien übliche štokavische Standard. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde allerdings die Orthographie dem Kroatischen angenähert (vgl. Neweklowsky 1997: 1824; Tornow 2003: 296). Dadurch kommt es zu einer gewissen Überdachung durch das in Kroatien verwendete Standardkroatische.
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Die soziolinguistische Situation ist heute durch durchgehende Zweisprachigkeit der Kroaten geprägt, in der Vergangenheit, als die Staats- und Schulsprache noch Ungarisch war (bis 1921; vgl. Kap. 6.), war Dreisprachigkeit verbreitet (vgl. Neweklowsky 1997: 1823). Kroatisch hat im Burgenland einen gewissen Schutzstatus, unter anderem in der Schule (vgl. Boeckmann 1993). Zwar wird das Kroatische selten tatsächlich unterrichtet (vgl. Neweklowsky 1997: 1824). Dennoch wirkt sich der kroatische Unterricht positiv auf die Erhaltung des Kroatischen aus (vgl. Wedral 1993: 271). Während deutsche Interferenzen im Burgenlandkroatischen zahlreich sind, lassen sich nach Neweklowsky (1997: 1824−1825) keine kroatischen Interferenzen in deutschen Varietäten beobachten. Dies kann mit der Sprachinsel-Situation und mit dem höheren Prestige des Deutschen (und Ungarischen) in Zusammenhang gebracht werden. Immerhin lassen sich mit Wiesinger (1990: 521−522) einige wenige kroatische Entlehnungen anführen, etwa Kara ‘Schläge’ (Wiesinger 1990: 521).
4.4. Kärntner Slovenisch Von einer im Mittelalter weiteren Verbreitung ausgehend verringerte sich das Gebiet des Slovenischen im heutigen Österreich auf das südliche Kärnten und Teile der Steiermark (vgl. Kronsteiner 2016a: 1241), wobei die Anzahl Slovenischsprachiger in der Steiermark im Vergleich zu Kärnten wesentlich geringer war (vgl. Stone & Priestley 1992: 85). Die hier gesprochenen slovenischen Dialekte gehören zum slovenischsprachigen Binnengebiet und finden ihre direkte Fortsetzung auf der slovenischen Seite der Grenze. Die in Österreich verbreiteten Dialekte des Slovenischen sind in sich heterogen und werden verschiedenen Dialektgruppen zugerechnet (vgl. u. a. Pohl 1989: 18; Stone & Priestley 1992: 89 und 88 [Kt.]). In öffentlichen Kontexten wird der gleiche slovenische Standard wie in Slovenien verwendet. Dieser ist etwa auch in bestimmten Schulen Unterrichtssprache und -gegenstand (vgl. Kronsteiner 2016b: 1259). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ging die Anzahl Slovenischsprachiger stetig zurück, Ende des 20. Jahrhunderts ist von einer Sprecherzahl von ca. 15.000 Slovenischsprachigen in Kärnten auszugehen (vgl. Pohl 1997: 1806, 1989: 17). Eine 1920 in Südkärnten durchgeführte Volksabstimmung bestimmte den Verbleib dieses Gebiets bei Österreich, wobei den in Österreich verbleibenden Minderheiten im Vertrag von Saint-Germain bestimmte Rechte, etwa zum Schutz ihrer Sprache, zuerkannt wurden (vgl. Stergar 2016: 1410). Auch ca. 40 % der slovenischsprachigen Bevölkerung stimmten für den Verbleib bei Österreich, was zu innerslovenischen Kontroversen zwischen „Nationalisten“ und „Assimilationisten“ (die sich in der Regel durch die Eigenbenennung als „slovenisch“ bzw. „windisch“ identifizierten) und zu einem in den 1920er und 1930er Jahren sehr aufgeheizten politischen Klima führte (vgl. Pohl 1997: 1801). Das Verhältnis zwischen deutschen und slovenischen Bevölkerungsteilen ist bis heute nicht spannungsfrei, wie sich etwa anhand des „Kärntner Ortstafelstreits“ zeigt (vgl. dazu aus juristischer Perspektive Pirker 2010). In den südlichen deutschen Mundarten Kärntens lassen sich nach Pohl (1988, 1989: 21) und Neweklowsky (1990: 485−495) slovenische Interferenzen feststellen, etwa bei der Vereinfachung der Affrikate /pf/ zu einem einfachen Frikativ wie in fe:fà(r) ‘Pfeffer’ (Pohl 1989: 30) oder beim Fehlen des expletiven Pronomens es wie in in Su:mer do:nert oft ‘im Sommer donnert es oft’ (Pohl 1989: 63, 1988: 296; Neweklowsky 1990: 489).
36. Minderheitensprachen im deutschen Sprachgebiet
Auch zahlreiche Lexeme unterschiedlichen Alters treten auf, wie die Zusammenstellungen von Pohl (1988: 296−302, 1989: 77−82), Neweklowsky (1990: 493−495) und Wiesinger (1990: 519−520) zeigen, etwa Wedriza ‘schaffartiges hölzernes Gefäß’ (vgl. Pohl 1989: 81).
4.5. Ruhrgebietspolnisch Mit der Industrialisierung wanderten zahlreiche polnischsprachige Arbeiter Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in das Ruhrgebiet ein. 1910 betrug die polnischsprachige Bevölkerung im Ruhrgebiet nach Kleßmann (1978: 261) über 280.000 (wobei in dieser Zahl „Masuren“ nicht eingeschlossen sind; vgl. unten). Insofern, als die meisten polnischsprachigen Arbeiter aus den Ostprovinzen Preußens stammten, handelt es sich bei dieser Arbeitsmigration um Binnenwanderung. Wiewohl statistische Angaben aufgrund der Anlage der Zählungen problematisch sind, da sie oft bestrebt waren, den nichtdeutschen Anteil zu minimieren (vgl. Belzyt 1998: 12−16), dürfte der Anteil polnischer Bevölkerung in manchen Ortschaften des Ruhrgebietes zeitweise über 20 % betragen haben (diese Zahl bei Menge 1985: 225), in immerhin sechs Städten sogar zwischen 25 % und 49 %, etwa in Bottrop (Menge 1985: 229). Allerdings setzte vor allem nach dem Ersten Weltkrieg eine Abwanderung ein, teilweise in den neugegründeten polnischen Staat, überwiegend jedoch nach Frankreich (vgl. Kleßmann 1978: 161−166), wodurch sich die Anzahl der Ruhrgebietspolen verringerte. Herkunft und Identität der Ruhrgebiets-„Polen“ waren verschiedenartig: Die von der preußischen Statistik vorgenommene, sprachlich wenig bedeutende Differenzierung zwischen „Polen“ und „Masuren“, die zu jeweils für sich betrachtet kleineren Minderheiten führte, hat ihre Berechtigung insofern, als die „Masuren“ in der Regel protestantisch und Preußen gegenüber loyal, die „Polen“ dagegen katholisch und national eingestellt waren (vgl. Belzyt 1998: 20−21). Dies dürfte sich in unterschiedlichem sprachlichem Verhalten (schnellere Assimilation der Masuren gegenüber den Polen) ebenso niedergeschlagen haben wie bei der Entscheidung, nach dem Ersten Weltkrieg im Ruhrgebiet zu bleiben oder abzuwandern. Sichtbares Relikt des Ruhrgebietspolnischen sind die zahlreichen auf das Polnische zurückgehenden Familiennamen (vgl. Rymut & Hoffmann 2006, 2010). Darüber hinaus wird ein sprachlicher Einfluss des Polnischen auf die deutschen Varietäten des Ruhrgebiets oft behauptet, gerade auch in Laienkonzeptionen (vgl. Menge 1985). Eindeutig polnische Einflüsse sind jedoch wenig zahlreich, etwa Motteck ‘Hammer’ (Menge 1985: 238); sie dürften sich auf wenige lexikalische Entlehnungen beschränken. Darüber hinausgehende strukturelle Einflüsse sind unsicher. Stone (1989: 144) erwägt slavischen Einfluss in Bezug auf die Strukturierung eines lexikalischen Feldes: Um Bochum wird nach Ausweis des Sprachatlas des Deutschen Reichs für ‘Fuß’ das Lexem Bein verwendet (vgl. Wenker [1897] 2013: 420; WA: Kt. 107; DSA: Kt. 8), was slavischen Strukturen entspricht (etwa dem polnischen noga, das sowohl ‘Fuß’ als auch ‘Bein’ bedeutet) und auch aus dem Neulausitzischen bekannt ist (vgl. Kap. 4.2.). Allerdings bestehen für einen polnischen Einfluss chronologische Probleme: Wenkers Daten wurden zwischen 1879 und 1888 erhoben (in der Rheinprovinz hauptsächlich 1884/1885; vgl. Fleischer 2017a: 18−20), die Hauptmasse der polnischen Einwanderung ins Ruhrgebiet setzte jedoch erst
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
nach den 1880er Jahren ein: 1890 beträgt die polnische Bevölkerung im Ruhrgebiet erst etwas über 30.000, nimmt dann aber bis 1900 auf über 130.000 zu (Zahlen nach Kleßmann 1978: 261).
5. Romani Die Einwanderung von Romani sprechenden Gruppen ist für Südosteuropa seit dem 14., für Mitteleuropa seit dem 15. Jahrhundert bezeugt (vgl. Boretzky & Igla 2004: 9). Das zu den indoiranischen Sprachen gehörende Romani ist in moderner Zeit über weite Teile Europas verbreitet und dialektal stark gegliedert (vgl. Matras 2002: 5−13; Boretzky & Igla 2004: 16−26; Matras 2005, 2011: 258). Für unser Gebiet relevant sind vor allem die als „Sinti“ u. ä. bezeichneten Dialekte der von Boretzky & Igla (2004: 18) „nördliche Konglomeration“ genannten Dialektgruppe, die auch in Frankreich, Großbritannien, Skandinavien sowie in Teilen Italiens und der Iberischen Halbinsel verbreitet ist. Die in Deutschland verbreitete Varietät wird von den Sprechern als Romenes, Romnes o. ä. bezeichnet, in Österreich ist auch die Bezeichnung Sintitikes verbreitet (vgl. Halwachs 1999: 126; Igla 2005: 23). Sinti wird außerhalb des deutschen Sprachgebiets auch in Frankreich, Italien, Slowenien und Ungarn gesprochen (vgl. Igla 2005: 23). Umgekehrt sind mit dem im Burgenland gesprochenen Roman (vgl. Boretzky & Igla 2004: 21; Halwachs 1999: 121) und dem Lovara, das vor allem in Wien verbreitet ist (vgl. Boretzky & Igla 2004: 22; Halwachs 1999: 122), zwei weitere Dialektgruppen vertreten, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert dokumentiert und ansonsten vor allem in den angrenzenden Gebieten Ungarns und der Slowakei beheimatet sind. (Die erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in deutschsprachigen Staaten auftretenden weiteren RomaniGruppen bleiben hier außer Betracht.) Romani-Varietäten sind in ihrer Anwendung in der Regel beschränkt auf die familieninterne Kommunikation; Sprecher des Romani sind immer zwei- oder mehrsprachig (vgl. Matras 2011: 258). Genauere Angaben zum Erhalt und soziolinguistischen Status scheinen für die Varietäten in Deutschland nicht vorzuliegen. Nach Holzinger (1993: 10), der sich auf Hameln, Köln und Hildesheim bezieht, wird Romani als Erstsprache erworben, Deutschkenntnisse sind erst bei Jugendlichen und Erwachsenen vorhanden und durch Interferenzen aus dem Romanes geprägt. Fehlende Forschung in Deutschland ist teilweise darauf zurückzuführen, dass der Beschäftigung mit der Sprache durch Außenstehende mit Misstrauen begegnet wird (vgl. Holzinger 1993: 5; Matras 1998a: 16, 2015: 290). Aufgrund der Verfolgungen im Nationalsozialismus, in die Universität und Wissenschaft vielfach verstrickt waren, herrschen gegenüber wissenschaftlichen Institutionen besondere Vorbehalte. Eine Weitergabe der Sprachkenntnisse an Außenstehende soll explizit nicht erfolgen (vgl. Awosusi 2011: 26). In Österreich konnte sich dagegen trotz ebenfalls vorhandener NS-Verstrickungen seitens der Wissenschaft (vgl. Halwachs 1999: 115− 117) eine gewisse Forschung etablieren. In soziolinguistischer Hinsicht ist für die österreichischen Varietäten festzustellen, dass sich in den jüngeren Generationen zunehmend Deutsch verbreitet und Kenntnisse in den Romani-Varietäten verschwinden (vgl. Halwachs 1999: 128). Dies liegt auch daran, dass das Romani als „stigmatisierte Intimvariante“ als Hindernis für soziale Integration und sozialen Aufstieg wahrgenommen wird (Halwachs 1999: 128−129). Am besten erhalten scheint Romani im Burgenland zu sein,
36. Minderheitensprachen im deutschen Sprachgebiet
vor allem in eher ländlichen Kontexten (vgl. Halwachs 1999: 130−131). Ob die seit den 1990er Jahren laufenden Anstrengungen zur Kodifizierung und Didaktisierung der österreichischen Romani-Varietäten (vgl. dazu Halwachs 1999: 132−141) langfristig den drohenden Sprachtod abwenden können, bleibt abzuwarten. In deutsche Sondersprachen, die als Jenisch oder Rotwelsch bezeichnet werden (vgl. Siewert 1996 [mit unpaginierter Kt.] zur arealen Verbreitung), fanden teilweise Lexeme aus dem Romani Eingang, wobei das Manische in Gießen (vgl. Lerch 1976; vgl. auch Matras 1998b: 220−224) diesbezüglich wohl eine Spitzenstellung aufweist: Lerch (1976: 149) zählt über 400 auf das Romani zurückgehende Lexeme, was ca. 70 % des sondersprachlichen Wortbestands ausmacht. Ob die Romani-Lexeme in Jenisch-Varietäten auf Sprachwechsel ehemals Romani sprechender Gruppen (etwa beim Übergang zu einer sesshaften Lebensweise) oder auf Kontakte zwischen Deutsch und Romani sprechenden Gruppen zurückgehen, ist eine Frage, die nicht generell beantwortet werden kann (vgl. Matras 1998b: 205−207). Dem Jenischen bzw. Rotwelschen entsprechende Varietäten lassen sich in unterschiedlichen europäischen Umgebungen beobachten, sie werden teilweise unter dem Begriff des „Para-Romani“ gefasst (vgl. Matras 1998a). Wohl über Vermittlung durch das Jenische haben sich wenige Lexeme aus dem Romani auch in andere deutsche Varietäten verbreitet, etwa Zaster (< Saster ‘Metall’) und Bock (im Sinne von ‘Lust’; < bokh ‘Hunger, Appetit’; vgl. Matras 1998b: 198, 2002: 250).
6. Ungarisch Bereits im Hochmittalter ist eine ungarische Bevölkerung in Teilen des heutigen Burgenlands nachgewiesen. Zur Befestigung der ungarischen Westgrenze angesiedelt (davon legen Ortsnamen mit dem Element -wart bzw. dem ungarischen Äquivalent -ór/-őr Zeugnis ab, etwa Oberwart, ungar. Felsőőr), bedeuteten diese Siedlungen ursprünglich eine westliche Ausdehnung des geschlossenen ungarischen Sprachgebiets. Sie wurden aber seit dem 16. Jahrhundert durch die Entvölkerung dazwischen liegender Gebiete nach den Ottomanischen Kriegen vom übrigen ungarischen Sprachgebiet abgeschnitten (vgl. Pohl 1997: 1802). In der Dialektologie des Ungarischen werden sie in der Regel als Sprachinseln angesehen (vgl. z. B. Imre 1971: 366−368; Kiss 2001: 269). Neben diesen ältesten ungarischen Siedlungen entwickelte sich seit dem frühen 18. Jahrhundert auch eine ungarische Bevölkerung im Norden des heutigen Burgenlands (vgl. Holzer & Münz 1997: 1828). Während Jahrhunderten war die Sprache der Eliten im heutigen Burgenland das Ungarische. Zwischen 1867 und 1921 war Ungarisch Staatssprache (vgl. Holzer & Münz 1997: 1833), auch die deutschsprachige Bevölkerung verfügte häufig über Ungarisch-Kenntnisse (vgl. Baumgartner 1993: 216). Nach der Gründung der neuen administrativen Einheit Bundesland Burgenland 1921, die Teil Österreichs wurde, verschlechterte sich die Stellung des Ungarischen (vgl. Baumgartner 1993: 221−262; Csiszár 2011: 5−6). Besonders in den nördlichen neuzeitlichen Gemeinden begann bereits in den 1920er und 1930er Jahren ein Sprachwechsel zum Deutschen (vgl. Holzer & Münz 1997: 1831), wogegen sich das Ungarische in den mittelalterlichen Siedlungen besser hielt und noch lange eine lokale Mehrheit bildete, etwa in Oberwart/Felsőőr (vgl. Szépfalusi et al. 2012: 47). Geschwächt wurde die Stellung des Ungarischen im Burgenland durch Auswanderung in den benachbarten, nun unabhängigen ungarischen Staat. Betrug die ungarische
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Bevölkerung noch 26.000 im Jahr 1910, war sie bereits 1923 auf ca. 15.000 und im Jahr 1934 auf ca. 10.500 gesunken (vgl. Holzer & Münz 1997: 1830). Nach dem Zweiten Weltkrieg geht das Ungarische weiter stetig zurück (vgl. Baumgartner 1993: 228−232), wie etwa die Zahlen von Gal (1979: 26) für Oberwart zeigen. Das Burgenlandungarische verfügt in seiner Gemeinschaft selbst über ein niedriges Prestige (vgl. Csiszár 2011: 3). Ab den 1950er und 1960er Jahren lässt sich ein zunehmender Sprachwechsel zum Deutschen beobachten (vgl. Csiszár 2011: 8). In soziolinguistischer Hinsicht galt für Oberwart in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass im Rahmen durchgehender Zweisprachigkeit Ungarisch nur von einer bäuerlichen Schicht verwendet wird (vgl. Gal 1979: 129). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist laut statistischen Angaben von ca. 6.500 Sprechern auszugehen (vgl. Csiszár 2011: 2; dagegen gehen Pohl 1997: 1806 von ca. 5.000 und Gal 2008: 220 von ca. 6.000 Ungarisch-Sprechern im Burgenland aus). Obwohl Ungarisch in bestimmten Schulen als Unterrichtsfach angeboten wird (vgl. Boeckmann 1993; Gal 2008: 220−221; Csiszár 2011: 3), trägt dies wenig zur Stärkung des Ungarischen bei (vgl. Wedral 1993). Aktuell ist das Burgenlandungarische innerhalb seiner Sprachgemeinschaft „a language used primarily by old people when addressing old people“ (Csiszár 2011: 9). Obwohl Ungarisch im nachmaligen Burgenland zwischen 1867 und 1921 Staatssprache war, lassen sich Interferenzen des Ungarischen auf deutsche Varietäten des Burgenlandes nur sehr beschränkt feststellen (vgl. Holzer-Münz 1997: 1833). Nach Wiesinger (1990: 527−528) finden sich in burgenländisch-deutschen Dialekten insgesamt ca. 60 lexikalische Entlehnungen aus dem Ungarischen, etwa Lekwa ‘Marmelade’ (Wiesinger 1990: 528). Zu möglichen Einflüssen des Ungarischen auf die deutschen Varietäten spezifisch in Orten mit (ehemals) hoher ungarischer Präsenz scheinen genauere Untersuchungen zu fehlen.
7. Überblick Tab. 36.1 fasst Angaben zur Entstehung, zum gegenwärtigen Status und zur Frage der standardsprachlichen Überdachung der hier behandelten Minderheitenvarietäten zusammen. Dabei sind die Angaben zur Entstehung insofern problematisch, als zwischen „autochthon“ und „zugewandert“ nicht immer eine klare Abgrenzung möglich ist: Die Bestimmung des Burgenlandungarischen als „autochthon“ trotz der historisch dokumentierten gezielten Ansiedlung bedeutet, dass diese Gruppierung schon zu einem frühen Zeitpunkt feststellbar ist und in den entsprechenden Orten zunächst keine deutschsprachige Bevölkerung anzutreffen war. Dagegen wird das Burgenlandkroatische hier als „Migrationsvariante“ angesehen, weil eine gezielte Ansiedlung zu einem Zeitpunkt stattfand, als auch bereits mit einer deutschen Präsenz im entsprechenden Gebiet zu rechnen war. Für alle hier diskutierten Sprachminderheiten gilt, dass sie, wenn sie nicht bereits zu existieren aufgehört haben, eine zu wenig Optimismus Anlass gebende Zukunftsprognose haben. Für die sechs hier relevanten Minderheitenvarietäten, auf die Salminen (2007: 222−223) in seinem Überblick zu bedrohten Sprachen in Europa eingeht (Saterfriesisch, Nordfriesisch, Niedersorbisch, Obersorbisch, Burgenlandkroatisch, Rätoromanisch), gilt, dass ihr Gefährdungslevel nach der von Krauss (2007) vorgeschlagenen Terminologie als „severely endangered“ (Saterfriesisch, Nordfriesisch, Niedersorbisch) bzw. als „definitively endangered“ (Obersorbisch, Burgenlandkroatisch, Rätoromanisch; vgl. Krauss
36. Minderheitensprachen im deutschen Sprachgebiet
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Tab. 36.1: Minderheitensprachen im deutschen Sprachgebiet: Überblick Sprache
Entstehung
Status
Standard
Ostfriesisch Nordfriesisch Südjütisch Westjiddisch
autochthon autochthon autochthon Migration (Mittelalter) autochthon
rückläufig rückläufig rückläufig/ausgestorben ausgestorben
− − Standarddänisch −
rückläufig
Migration (17. Jh.)
ausgestorben
fünf „Idiome“, Rumantsch Grischun (Französisch)
autochthon autochthon
ausgestorben rückläufig
Migration (15./ 16. Jh.) autochthon Migration (19. Jh.) Migration (Mittelalter) authochthon
rückläufig
Rätoromanisch Galloromanisch (Hugenotten) Dravänopolabisch Sorbisch Burgenlandkroatisch Kärtner Slovenisch Ruhrgebietspolnisch Romani Burgenlandungarisch
rückläufig ausgestorben ?/rückläufig (Österreich)
− obersorbischer und niedersorbischer Standard Burgenlandkroatischer Standard Standardslovenisch − −
rückläufig
Standardungarisch
2007: 5) angegeben wird. Sprachwechsel zum Deutschen lässt sich teilweise, wo entsprechende Zeugnisse zur Verfügung stehen, bereits in der frühen Neuzeit feststellen, er beschleunigte sich jedoch markant im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei bleiben die autochthonen Minderheiten in der Regel länger bei der traditionellen Sprache als die durch Migration entstandenen. Insgesamt zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei den traditionellen deutschen „Basisdialekten“, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts ebenfalls vielerorts durch standardnähere Formen des Deutschen ersetzt werden. Bei den Minderheitenvarietäten in urbanen Regionen erweist sich der Wechsel in der Regel als schneller, etwa im Fall des Ruhrgebietspolnischen, was auch bei den deutschen Dialekten in ähnlicher Weise gilt. Dabei erscheint es irrelevant, ob die entsprechenden Sprachminderheiten durch den Standard einer angrenzenden Nationalsprache überdacht sind (Dänisch, Slovenisch, Ungarisch), ob eigene Standards existieren (Rätoromanisch, Sorbisch, Burgenlandkroatisch) oder ob keine Standardform vorliegt. Die beiden geographisch durch eine weite Ausdehnung gekennzeichneten Minderheitensprachen, Westjiddisch und Romani, scheinen sich von den über ein geographisch engeres Gebiet definierten Sprachminderheiten nicht grundsätzlich zu unterscheiden. Allerdings ist die Quellenlage bei diesen beiden Varietäten besonders prekär.
984
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
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Jürg Fleischer, Marburg (Deutschland)
37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken im multilingualen urbanen Raum 1. Der mehrsprachige urbane Raum: Jugendsprache im Kontext sprachlicher Vielfalt 2. Verflechtungen von „Kiez-lekt“ und Dialekt/ Regionalsprache
3. Sprachliche Einstellungen 4. Diskussion der Ergebnisse 5. Literatur
1. Der mehrsprachige urbane Raum: Jugendsprache im Kontext sprachlicher Vielfalt Deutschland ist ebenso wie andere europäische Länder heute durch eine breite kulturelle und sprachliche Vielfalt charakterisiert, die ihre Wurzeln in Immigration, generell angestiegener internationaler Mobilität und Globalisierung hat. Dies zeigt sich insbesondere im urbanen Raum, der sprachlich durch Sprechergemeinschaften geprägt ist, in denen Mehrsprachigkeit mittlerweile die Regel ist: Ein großer Anteil der Sprecher/innen wächst selbst mehrsprachig auf, und auch solche mit zunächst einsprachig deutschem Hintergrund kommen im Alltag häufig mit anderen Sprachen in Kontakt. Zur sprachlichen Diversität trägt eine große Bandbreite unterschiedlicher Herkunftssprachen bei, die in Folge von Immigration, insbesondere im 20. und 21. Jahrhundert, nach Deutschland gelangt sind. Dies vollzog sich in erster Linie nicht oder nicht nur in Form standardnaher https://doi.org/10.1515/9783110261295-037
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Sprache, sondern ganz wesentlich auch in Form unterschiedlicher regionaler Herkunftsdialekte und umgangssprachlicher Stile. Ebenso gehen im Bereich des Deutschen dialektale und regiolektale Varianten in die urbane Sprachvielfalt ein. Hierunter fallen zum einen solche, die durch Binnenmigration, mit Sprecher/inne/n aus anderen Dialektregionen Deutschlands, hinzugekommen sind (etwa oberdeutsche Dialekte in Berlin). Zum anderen ist der traditionelle lokale Stadtdialekt ein wichtiger Teil der Sprachlandschaft, der dabei als urbaner Dialekt typischerweise auch historisch schon regelmäßig mehrsprachige Einflüsse aufgenommen hat. Historisch gesehen sind mehrsprachige urbane Räume in Europa nicht neu, und auch global gesehen ist dies eher der Normalfall. Nach aktuellen Schätzungen ist gegenwärtig über die Hälfte der Weltbevölkerung mehrsprachig (Grosjean 2010), viele Länder etwa Afrikas und Asiens weisen z. T. mehrere hundert lokale Sprachen auf, und in den urbanen Räumen findet sich dort eine sprachliche Vielfalt, die die Europas weit übertrifft, mit hochdiversen Metropolen, die z. T. auf eine lange Geschichte zurückblicken. Städte sind − in Europa ebenso wie auf anderen Kontinenten − schon immer ein Magnet für Immigration gewesen und haben vom Zuzug neuer Bewohner/innen sowohl aus ländlichen Gebieten derselben Region als auch aus anderen Regionen und Ländern profitiert, die eine Fülle unterschiedlicher Dialekte und Sprachen mit sich brachten (für eine Übersicht vgl. Mackey 2005). Bekannte historische Beispiele sind frühe Metropolen wie Bombay, Dar es Salaam, Alexandria oder Konstantinopel, von denen viele ihren multikulturellen und mehrsprachigen Charakter bis heute erhalten haben (Gupta 2000). So beschreibt etwa die englische Schriftstellerin Lady Mary Wortly Montagu, die im 18. Jahrhundert in Konstantinopel lebte, als ihr Ehemann dort Botschafter war, die Stadt als „Turm zu Babel“ (O’Quinn & Heffernan 2012: Letter 41), und Thomas Coryat, ein Reiseschriftsteller, berichtet bereits im frühen 17. Jahrhundert über Venedig, man könne dort „heare all the languages of Christendome, besides those that are spoken by the barbarous Ethnickes” (Dursteler 2012: 47). Im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa war Mehrsprachigkeit Alltag, ein nicht weiter bemerkenswerter Aspekt des täglichen Lebens (Putzo 2011; Classen 2013). Zu den unterschiedlichen Dialekten und Herkunftssprachen im urbanen Raum kam Latein als Sprache von Religion und Bildung hinzu, und die weit verbreitete Mehrsprachigkeit wurde noch dadurch verstärkt, dass die Söhne von Kaufleuten und (männliche) Studenten normalerweise längere Zeit für Ausbildung und Studium im Ausland verbrachten. Studentensprachen als Vorgänger moderner Jugendsprache zeigten daher oft Sprachkontakteinflüsse, zumindest in Form lexikalischer Entlehnungen (Mihm 2001). Interessanterweise wies die deutsche Studentensprache des 18./19. Jahrhunderts zudem regionale Einflüsse auf, vor allem aus den nord- und mitteldeutschen Dialekten, die sich wegen des großen Gewichts der dortigen Universitäten ausbreiteten und regionenübergreifend verwendet wurden. Dies betraf sowohl die Lexik (z. B. flott für ‘hübsch, munter’) als auch die Phonologie (z. B. gemeen für ‘gemein, schlecht’) und Morphosyntax (etwa der s-Plural, z. B. in Jungens) (vgl. Nail 1988). Ein modernes Beispiel für eine solche Verbreitung könnte das Wort Digga sein, das als nominale Anredeform aus Dicker vermutlich aus dem Hamburger Raum stammt und sich von dort über Hip-Hop und Rap wegen der zentralen Rolle, die die Hamburger Musikkultur hierfür in Deutschland spielt, seit einigen Jahren überregional jugendsprachlich ausbreitet. Die große Dominanz einer einzigen Landessprache und der hiermit verbundene „monolinguale Habitus“, den wir heute in Europa finden (Gogolin 1994), sind somit ein
37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken
historisch relativ junges Phänomen, ein Erbe der Nationalstaatenbildung, die eine nach Bommes & Maas (2005: 182) „counter-factual ideological construction“ im Sinne von „ein Land, eine Nation, eine Sprache“ mit sich brachte, die heute immer noch eine wichtige Rolle für das Selbstbild der meisten europäischen Länder spielt (für eine historische Übersicht vgl. Vogl 2012). Der monolinguale Habitus ist typischerweise verknüpft mit der sog. „Standardsprachideologie“ (Milroy & Milroy 1999): einer Sicht, die eine spezifische Varietät, die Standardsprache, als Zentrum einer solchen Nationalsprache konstruiert und damit die Einschränkung auf Einsprachigkeit/Monoglossie und sprachliche Homogenität auch auf die Ebene sprachlicher Varietäten überträgt. Die Standardsprache wird hierbei als homogenes, unveränderliches und in seiner Reinheit zu schützendes sprachliches Erbe angesehen, das anderen Varietäten überlegen sei. Während regionale Dialekte in diesem Konstrukt grundsätzlich als nachgeordnet erscheinen, findet sich dennoch oft eine Perspektive auf sie, die vergleichbar zur Standardsprachideologie als „NORM-Dialekt“-Ideologie beschrieben werden kann in Anlehnung an das von Chambers & Trudgill (1980) eingeführte Akronym für nonmobile older rural males: Es handelt sich hier um eine Sicht auf Dialekte, die diese als abgrenzbare, unveränderliche Varietäten ansieht, die von äußeren Einflüssen rein zu halten seien und entsprechend in authentischer Form primär von alteingesessenen, nicht-mobilen älteren Sprechern in homogenen ländlichen Gebieten gesprochen würden. Vor diesem Hintergrund werden neuere urbane Kontakt-Dialekte, die sich im Kontext mehrsprachiger Sprechergemeinschaften entwickeln, in der öffentlichen Wahrnehmung oft abgelehnt und nicht als legitimer Teil des deutschen Varietätenspektrums akzeptiert (Wiese 2015). Diese Dialekte, im Fall von Deutschland das sog. „Kiezdeutsch“, sind jedoch linguistisch besonders interessant, da sie durch den sprachlich diversen Kontext und ihren Ursprung in jugendsprachlichen Praktiken besonders dynamisch sind und beispielsweise neuere Entwicklungen des Deutschen besonders leicht aufnehmen und ausbauen (Wiese 2013; Walkden 2017; zur Subsumtion urbaner Kontakt-Dialekte unter den herkömmlichen Dialektbegriff vgl. Wiese 2013; Wiese et al. 2014). Jugendsprachliche Praktiken in diesen Kontexten können auf einer Vielfalt sprachlicher Kompetenzen aufbauen, die neue Kontaktdialekte wie Kiezdeutsch ebenso wie andere umgangssprachliche und formellere Stile und Varietäten im Deutschen und in unterschiedlichen Herkunftssprachen umfasst und durch Code-Switching, sprachliche Bricolage und horizontale Mehrsprachigkeit charakterisiert ist. Der urbane Raum mit seiner hohen sprachlichen Diversität und seiner alltäglichen Mehrsprachigkeit bringt somit ein Stück sprachlicher Normalität nach Europa zurück.
2. Verflechtungen von „Kiez-lekt“ und Dialekt/Regionalsprache Ein besonders interessanter, bislang jedoch noch wenig erforschter Aspekt jugendsprachlicher Praktiken im mehrsprachigen urbanen Raum ist die Verflechtung mit traditionellen lokalen Dialekten und Regiolekten. Wir stellen im Folgenden zunächst eine exemplarische Fallstudie zur sprachlichen Situation in Berlin vor und blicken dann auf andere urbane Zentren, sowohl im deutschsprachigen Raum als auch in vergleichbaren urbanen Kontexten in Europa, am Beispiel von Dänemark.
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
2.1. Fallstudie Berlin In Berlin können jugendsprachliche Praktiken neben dem Standarddeutschen der Schule auf den traditionellen Berliner Dialekt sowie auf eine Fülle unterschiedlicher Herkunftssprachen zugreifen, etwa das Türkische, Arabische, Kurdische oder Russische. Diese mehrsprachigen Einflüsse verflechten sich mit dem regionalen Berliner Dialekt insbesondere in innerstädtischen Wohngebieten wie Wedding, Kreuzberg und Nord-Neukölln: Diese Viertel sind einerseits durch einen hohen Anteil von Bewohner/inne/n mit Migrationshintergrund charakterisiert, die in der Familie neben dem Deutschen oft noch eine andere Herkunftssprache pflegen, und erhalten andererseits als traditionelle Arbeiterviertel das Berlinische als informelle Alltagssprache lebendig. Dieses sprachliche Miteinander zeigt sich auch visuell im öffentlichen Raum, etwa in Liebesbotschaften Jugendlicher, wie man sie auf Parkbänken, Spielplätzen oder an Mauern findet. Abb. 37.1 illustriert dies mit Beispielen von einer Mauer in der Nähe einer Kreuzberger Sekundarschule: Hier stehen, nur wenige Meter voneinander entfernt, eine Liebesbotschaft, die ein türkisches Kosewort (Aşkım ‘meine Liebe’) integriert, wie es für Kiezdeutsch charakteristisch ist, und eine, in der phonologische und morphologische Merkmale des Berliner Dialekts verwendet werden (ick als 1. Person Singular Personalpronomen; Zusammenfall von Akkusativ- und Dativform bei dir). Die im Folgenden vorgestellte Fallstudie untersucht am Beispiel Berlins, ob dieses Mitund Nebeneinander von traditionellem Dialekt (hier: Berlinisch) und neuem, multiethnischem Dialekt im urbanen Raum (Kiezdeutsch) auch zur Aufnahme regionalsprachlicher Elemente in jugendsprachliche Praktiken im multiethnischen Kontext führt. Die Datengrundlage hierfür bildet das KiDKo (KiezDeutsch-Korpus), ein Korpus, das Spontandaten aus Gesprächen Berliner Jugendlicher in informellen Peer-group-Situationen versammelt, die auf Selbstaufnahmen der Sprecher/innen basieren (Wiese et al. 2012; Rehbein et al. 2014). Das Hauptkorpus, KiDKo/Mu, umfasst Daten von 17 Ankersprecher/inne/n und ihren Gesprächspartner/inne/n aus einem multiethnischen und mehrsprachig geprägten Bezirk, Berlin-Kreuzberg. Die Jugendlichen repräsentieren eine Sprechergruppe, wie sie für Kiezdeutsch typisch ist: Alle Ankersprecher/innen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen und sprechen somit Deutsch als Muttersprache oder sehr frühe Zweitsprache, viele von ihnen beherrschen daneben auch noch eine weitere Familien- oder Heritage-
Abb. 37.1: Kreuzberger Liebesbotschaften mit türkischen Lehnwörtern und mit Berlinisch-Merkmalen (Wiese 2014 ff.)
37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken
Sprache (Türkisch, Arabisch, Kurdisch), einige sind einsprachig deutscher Herkunft. Entsprechend finden sich, wie eine Reihe früherer Studien gezeigt hat, in den Daten unter anderem charakteristische Kiezdeutschmerkmale wie etwa Koronalisierungen von [ç] zu [ɕ] bzw. [ʃ], der Gebrauch bloßer Nomen in Lokalangaben, nichtkanonische Besetzungen der linken Satzperipherie oder die Integration neuer Partikeln (vgl. etwa Wiese 2012, 2013). (1) gibt einige Beispiele aus KiDKo/Mu (Hier und im Folgenden markieren Versalien Hauptakzente, „(-)“ kurze Pausen, „=“ Klitisierungen. Wenn die Äußerung von jemand anderem als dem/der jeweiligen Ankersprecher/in stammt, ist zusätzlich zur Sigle die betreffende Sprecherabkürzung angegeben. In den Sprechersiglen geben die ersten beiden Stellen das Teilkorpus an [Mu/Mo], die letzten beiden Stellen identifizieren Geschlecht [W/M] und Familien-/Heritage-Sprache [A − Arabisch, D − Deutsch, K − Kurdisch, T − Türkisch].): (1a) bei UNS (-) die meisten waren OSTsee [MuH17MA] (1b) JE:de zweite minute LEHmann hatte den ball (-), die waren MITtelfeld [MuH11MD] (1c) isch HASse dieses mädschen, wallah [SPK 101 in MuH9WT] KiDKo/Mu hat einen Umfang von rund 228.000 Tokens. Es wird ergänzt durch ein kleineres Vergleichskorpus, KiDKo/Mo, das analoge Daten aus Gesprächen Jugendlicher in Berlin-Hellersdorf versammelt, aus einem Wohngebiet, das hinsichtlich sozioökonomischer Parameter dem von KiDKo/Mu entspricht, jedoch stärker monoethnisch und einsprachig deutsch geprägt ist. KiDKo/Mo umfasst Daten von 6 Ankersprecher/inne/n und ihren Gesprächspartner/inne/n und hat einen Umfang von rund 105.000 Tokens. Die Sprechergruppe ist durchgehend einsprachig deutsch aufgewachsen und verwendet in den informellen Gesprächen, die im Korpus repräsentiert sind, unter anderem Merkmale des Berlinischen, wie etwa die Spirantisierung von [g] zu [j] bzw. [ɣ], unverschobenes [k] und [t] bspw. in ick oder wat, die Rundung vorderer ungespannter Vokale, die monophthongische Realisierung von [aw] als [o:] bzw. [u] oder die Aufspaltung von Pronominaladverbien. (2) illustriert dies mit zwei Auszügen aus KiDKo/Mo (im ersten Beispiel ist das abgespaltene Adverb durch Topic-Drop im Vorfeld gelöscht): (2a) kannst=e ooch nüscht FÜR (2b) hauptsache, ick hab da wat DRUFjequatscht
[MuH17MA Mo05WD] [MuH11MD Mo04MD]
Interessanterweise finden sich einige dieser Merkmale auch im multiethnischen Hauptkorpus KiDKo/Mu, über ein- und mehrsprachige Hintergründe hinweg, etwa Spirantisierung oder die Verwendung von ick statt ich − ein Hinweis darauf, dass Kiezdeutsch in Berlin auch regionalsprachliche Einflüsse aufnimmt; vgl.: (3a) (3b) (3c) (3d) (3e)
die sah aus wie ein APfel und desWEjen wat zum HÖRN ick gehe FUßball gucken ich glob, dit geht dreinhalb STUNden ungefähr bei [Name] weeß ick, wusst=ck=s janz jeNAU
[MuH2WT] [MuH17MA] [MuH9WT] [MuH11MD] [SPK 101 in MuP6MD]
Umgekehrt findet sich mitunter auch koronalisiertes isch (statt ich oder ick) im berlinisch gefärbten Sprachgebrauch der monolingualen Sprechergemeinschaft aus KiDKo/Mo:
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
(4a) alter, isch fühl mich so (-) so KLEIN HIER (4b) da möscht =sch nicht in lange HOse rumrenn
[MoH1MD] [SPK102 in Mo05WD]
Der quantitative Vergleich der Vorkommnisse von ick vs. isch vs. ich in den beiden Teilkorpora liefert ein interessantes Muster: In KiDKo/Mu tritt die Form ick 88 Mal auf, dies stellt aber nur 1 % der Formen des Personalpronomens 1. Ps. Sg. Nom. (stdspr. ich) dar, während 3.752 Mal, d. h. in über einem Drittel der Fälle, die Form isch gewählt wird. In KiDKo/Mo findet sich dagegen 836 Mal, d. h. in über einem Viertel der Fälle ick, dagegen nur 67 Mal, das sind 2 % der Fälle, isch. Der Unterschied zwischen den beiden Teilkorpora erweist sich im χ2-Test als hochsignifikant (p < 0,0001; χ2 = 3235,9). Die spiegelbildliche Verteilung wird deutlich, wenn man sich die für die verschiedenen Korpusgrößen auf Vorkommnisse pro 10.000 Tokens normalisierten Häufigkeiten ansieht: Tab. 37.1: Normalisierte Häufigkeiten für ick/isch/ich (Vorkommnisse pro 10.000 Korpus-Tokens) ick isch ich gesamt
KiDKo/Mu
KiDKo/Mo
2 106 154 262
55 4 157 216
Wie die Tab. 37.1 zeigt, ist die Gesamtzahl der Vorkommnisse von ich, ick und isch in den beiden Teilkorpora relativ ähnlich − mit etwas höheren Fallzahlen in KiDKo/Mu − und die Anzahl der kanonischen Formen nahezu identisch, die Verteilung der nichtkanonischen Fälle auf ick bzw. isch dagegen gegensätzlich. Die Darstellung der Verteilungen im Diagramm verdeutlicht dies:
Abb. 37.2: Verwendung von ick, isch und ich im Kiezdeutsch- und Berlinisch-Kontext (normalisierte Häufigkeiten, pro 10.000 Korpus-Tokens)
Hier zeigt sich eine stärkere Tendenz zur Verwendung nichtkanonischer Varianten in der multiethnischen Sprechergemeinschaft, darunter auch die regionalsprachliche, berlini-
37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken
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sche Form ick, jedoch mit deutlich höherer Frequenz das kiezdeutsch-typische isch. In den Variantenreichtum, der sich in Kiezdeutsch grundsätzlich aus der SprachkontaktDynamik speist, gehen hier somit auch regionale Formen außerhalb des Standarddeutschen ein. Neben phonologischen werden auch einige morphologische Charakteristika des Berlinischen in den Kiezdeutsch-Kontext aufgenommen. So finden sich Beispiele für die Verwendung pronominaler Varianten, die der Dativ- anstelle der Akkusativform des Standarddeutschen entsprechen, nicht nur in KiDKo/Mo (5), sondern auch in KiDKo/ Mu (6): (5a) ick wollt ma ja mit SPK77 treffen (5b) hab ma wieder UMgedreht so
[SPK55 in Mo05WD] [SPK102 in Mo18MD]
(6a) HEUte ich wird meine zigaRETten mitbringen und frag ihr [MuH11MD] (6b) ob sie mir entSCHULdigen kann [MuH25MA] (6c) da warn rischtisch viele um mir RUM [MuP1MK] Auf lexikalischer Ebene fällt beispielsweise der Gebrauch von wa auf. Diese typisch berlinische äußerungsfinale tag question bzw. Vergewisserungspartikel ist nicht auf KiDKo/Mo beschränkt, sondern tritt auch in KiDKo/Mu auf: (7)
er hatte doch immer ANGST vor ihm, wa?
[MuP1MK]
Ein Beispiel für die Aufnahme genereller norddeutscher dialektaler Merkmale ist die Verwendung des nominalen s-Plurals, insbesondere anstelle des standarddeutschen Nullplurals in KiDKo/Mu, deutlich etwa in Zigeuners (MuH9WT) oder Opfers (Funde bei mehreren Sprecher/inne/n: MuH11MD, MuH19WT, MuH9WT, MuP1MK). Ein besonders interessanter Fall ist das Auftreten nichtkanonischer Stammvokale in flektierten Verbformen. Für das Berlinische ist etwa für Verben mit Stammvokal e [e:, ɛ] im Infinitiv der Gebrauch von e auch in der 2./3. Ps. Sg. und im Imperativ beschrieben, z. B. er esst oder Les! anstelle des standarddeutschen e/i-Wechsels, also isst, lies, und ähnlich ein Beibehalten des Infinitiv-Vokals statt standarddeutscher Umlautung, z. B. det fangt an statt fängt (Schönfeld 1992: 247). Sowohl in KiDKo/Mo als auch in KiDKo/ Mu finden sich solche Verwendungen, allerdings im kiezdeutschen Kontext weitaus häufiger: 2 Belegen in KiDKo/Mo (8) stehen 14 in KiDKo/Mu gegenüber (9) und (10): (8a) TREFF dich doch gleich um neun mit UNS (8b) TRET mich doch nich immer
[Mo05WD] [X2xxx in Mo05WD]
(9a) hier REde, (-) äh ESS! (9b) wenn du mit CHIPS esst
[SPK1 in MuP1MK] [MuH12MD]
(10a) du laufst mit SCHLAMpe (10b) das LAdet nur
[O2xxx in MuH9WT] [MuH12MD]
Dieser zunächst überraschende Befund einer häufigeren und weitergehenden Verwendung des regionalsprachlichen Musters im Kiezdeutsch-Kontext könnte auf die größere
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Dynamik der Sprachkontaktsituation hinweisen: Wir haben es hier aus Sicht des gegenwartsdeutschen Flexionssystems mit einem Ausgleichsprozess zu tun, der zur Aufgabe der personenanzeigenden Vokalwechsel im Singular führt. Ein solcher Vorgang der Personennivellierung (zugunsten einer Numerusprofilierung) ist aus verschiedenen Dialekten des Deutschen bekannt (etwa aus dem Bairischen, vgl. Merkle 1986) und hat in der Geschichte des Deutschen verschiedentlich stattgefunden, etwa in den Pluralformen der starken Verben im Übergang vom Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen (vgl. Nübling & Dammel 2004). Die Entwicklung im Kiezdeutschen (und Berlinischen) reflektiert damit eine Tendenz, die grundsätzlich im sprachlichen System angelegt ist, und solche Tendenzen werden von einem sehr dynamischen, in einen sprachlich hochdiversen Kontext eingebetteten Dialekt wie Kiezdeutsch vermutlich besonders vorangetrieben. Wir finden hier zudem auch Belege dafür, dass der Ausgleich in verschiedene Richtungen erfolgen kann, d. h. nicht nur in den Formen der 2./3. Ps. Sg., sondern auch in der 1. Ps. Sg. (ganz parallel z. B. zum Bairischen, Merkle 1986): (11) ich nimm=s mal EINfach MIT
[MuH3WT]
Neben regionalen finden sich auch überregionale dialektale und allgemein umgangssprachliche Formen in beiden Teilkorpora. Ein Beispiel ist der „possessive Dativ“, der sowohl in KiDKo/Mo (12) als auch in KiDKo/Mu (13) auftritt: (12) für meiner SCHWESter ihrn geburtstag
[SPK55 in M05WD]
(13a) in (-) andere leute ihren KOPF (13b) DEM seine mutter
[MuH9WT] [MuP6MD]
Beispiel (13a) ist besonders interessant, da hier im kiezdeutschen Kontext die Nominalphrase akkusativisch markiert zu sein scheint (andere Leute), wo eine Dativform erwartet würde. Dies könnte auf eine spezifisch berlinische Form des „possessiven Dativs“ hinweisen, die den oben bereits erwähnten Akkusativ/Dativ-Zusammenfall aufnimmt. Entsprechende Hinweise auf einen „possessiven Akkusativ“ im Berlinischen finden sich z. B. in Schönfeld (1992: 244) sowie in einem berlinischen Gesprächstranskript in Schlobinski (1987: 251) (vgl. auch Freywald 2017). Die Struktur in (13a) könnte allerdings auch auf andere nichtkanonische Muster der Kasusmarkierung im Kiezdeutschen zurückgehen, etwa eine mögliche Formen-Generalisierung zu -e (vgl. Auer 2013; Wiese & Pohle 2016). Zusammengenommen ergibt sich damit aus dieser Fallstudie ein differenziertes Bild regionalsprachlicher Merkmale in mehrsprachigen urbanen Sprechergemeinschaften: Im Sprachgebrauch Berliner Jugendlicher im Kiezdeutsch-Kontext finden sich Merkmale des Berlinischen sowohl auf phonologischer als auch auf morphologischer und morphosyntaktischer Ebene, dies jedoch oft mit einer niedrigeren Frequenz als in einer vergleichbaren, aber stärker einsprachig deutschen Sprechergemeinschaft (allerdings könnte hier auch eine Rolle spielen, dass in Ostberlin der Berliner Dialekt generell häufiger und in stärkerer Ausprägung vertreten ist, vgl. Schlobinski 1987, 2015; ein Vergleich mit Jugendsprache in anderen Westberliner Stadtvierteln, wie etwa Zehlendorf, könnte daher womöglich Parallelen zu Kreuzberg aufweisen). Entwicklungstendenzen des sprachlichen Systems, wie sie etwa Ausgleichsprozesse in den Flexionsformen betreffen, können im mehrsprachigen Kontext demgegenüber weiter ausgebaut werden.
37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken
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2.2. Andere urbane Zentren innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raums In diesem Kapitel ziehen wir einen Vergleich zur Verflechtung von Kiezdeutsch und lokalem Stadtdialekt in anderen Dialektgebieten. Wir beschränken uns dabei auf Mannheim, Stuttgart und Saarbrücken. Da solche Verflechtungen nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt sind, stellen wir anschließend einige Ergebnisse aus aktuellen Studien zum Verhältnis von Multiethnolekt und traditionellem Dialekt in urbanen Zentren Dänemarks vor.
2.2.1. Mannheim Am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, sind sprachliche Merkmale und linguistische Repertoires einer mehrsprachigen, vorwiegend türkisch/deutsch geprägten Mädchengruppe im multiethnischen Mannheimer Stadtteil Jungbusch eingehend untersucht worden (vgl. z. B. Kallmeyer & Keim 2003; Keim 2007). Ein Befund ist, dass die Mädchen (die „türkischen Powergirls“) den lokalen rheinfränkischen Dialekt beherrschen und in spezifischen Situationen verwenden. Wie der kurze Ausschnitt in (14) veranschaulicht, realisieren sie dabei die typischen Dialektmerkmale, wie z. B. monophthongische Realisierung von Diphthongen (im Bsp. aa ‘auch’, raache ‘rauchen’), n-Apokope (im Bsp. schbiele ‘spielen’), Entrundung vorderer Vokale (im Bsp. kenne ‘können’), intervokalische Lenisierung der [t]-Fortis (im Bsp. zigaredde ‘Zigarette’), weitgehender Zusammenfall von [ç] und [ʃ] zu einem palatalisierten [ʃ]-Laut sowie das Verbflexiv [ʃ] für 2. Ps. Sg. Präs. (im Bsp. will=sch ‘willst’) (vgl. Keim 2007: 435). Daneben treten lexikalische dialektale Elemente auf, wie die Interjektion hajo und die tag question gell. (14a) TE: hajo: ma kenne zigaredde raache gehe (14b) TE: jetz schbie:le ma tavla: odda so: [türk. tavla ‘Backgammon’] will=sch aa noch=n middagsschlo:f mache ME: hajo: (14c) HA: des is do=normalerweise ein faul gell * dass du mein stein zuerschd triffschd (Keim 2007: 442, 441 u. 257; Transkription leicht vereinfacht, H. W. & U. F.) Obwohl die „Powergirls“ den Mannheimer Stadtdialekt benutzen, identifizieren sie sich doch nicht damit, er dient vielmehr ganz überwiegend als Mittel zur Distanzierung, z. B. um sich über Personen lustig zu machen, die nicht zur eigenen Peer-group gehören, wie z. B. Betreuer/innen und Lehrer/innen, aber auch über die deutsche Mehrheitsgesellschaft schlechthin, von der sich die Mädchen oft ausgegrenzt fühlen. Auch im Gespräch untereinander kann der Wechsel in den Dialekt einen Angriff oder eine Anschuldigung markieren (vgl. Keim 2007: 252−254, 257−258 und Bsp. (14c) oben). Der Dialekt ist für ludischen Gebrauch oder Provokation reserviert (oft mit dem Effekt der Ironisierung), wir haben es hier also mit Code-Switching zu tun. Die ethnolektale Sprechweise, das Mannheimer Kiezdeutsch also, das die Mädchen untereinander verwenden, wenn sie nicht uneigentlich oder ironisierend sprechen, besitzt dagegen zahlreiche typische Kiezdeutscheigenschaften (Entlehnungen aus den Heritage-Sprachen, bloße Nominalphrasen,
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
V1-Deklarativsätze usw.). Sie weist dabei aber auch einige wenige mannheimerische Merkmale auf (parallel zum Berliner Kiezdeutsch, s. o.). So finden sich in Keims (2007) Transkripten gelegentlich die dialektalen Formen odda ‘oder’, Vadder ‘Vater’ und gell, außerdem n-Apokope (hätt misch totlache könne; Keim 2007: 389) und die Negationspartikel net (wobei jedoch die Form nischt überwiegt). Relativ häufig ist des als regionalsprachliche Realisierungsform des Definitartikels/Demonstrativpronomens Neutrum das. Im Gegensatz zum funktionalen Switchen in den Dialekt kann hier von einer leichten regionalen Färbung gesprochen werden.
2.2.2. Stuttgart Zum alemannischen Sprachgebiet liegen erste Untersuchungen zu mehrsprachigen Jugendgruppen in Stuttgart vor (Auer 2013; Siegel 2014, 2018). Einflüsse des Schwäbischen sind Auer (2013) zufolge im Sprachgebrauch dieser Jugendlichen, der zahlreiche Kiezdeutschmerkmale auf allen grammatischen Ebenen aufweist, kaum zu beobachten. Auer nennt lediglich sporadische Verwendungen der Negationspartikel net und des [ʃ]Flexivs für 2. Ps. Sg. Präs. im verbalen Flexionsparadigma (z. B. bisch, sagsch usw.). Dabei ist jedoch im Auge zu behalten, dass die zugrunde liegenden Daten aus Gruppeninterviews stammen, die mit erwachsenen, Peer-group-fremden Explorator/inn/en geführt wurden (Siegel 2018) (im Gegensatz dazu handelt es sich bei den Daten aus Berlin, Mannheim und Saarbrücken um ungesteuerte Gespräche der Jugendlichen untereinander). Ganz parallel zu den Ergebnissen der Mannheimer Studie werden auch in den Stuttgarter Daten dialektale Elemente zur Kontextualisierung oder auch Distanzierung eingesetzt. Auer verweist auf ihren oft „ironische[n], zitathafte[n] Charakter“ (2013: 27). Auch die Ergebnisse aus Stuttgart weisen darauf hin, dass regionalsprachliche Merkmale in den Kiezlekt integriert werden, dass die Verwendung des Ortsdialekts jedoch distanzierenden, ironisierenden Charakter hat.
2.2.3. Saarbrücken Etwas anders als in Berlin, Mannheim und Stuttgart stellt sich die Situation in mehrsprachigen Jugendgruppen in Saarbrücken dar. Hier scheint der traditionelle rheinfränkische Stadtdialekt mit dem Multiethnolekt zu verschmelzen. Die In-group-Sprache von Jugendlichen, die in multiethnisch geprägten Saarbrücker Stadtvierteln leben, wie z. B. in Malstatt, Burbach und auf der Folsterhöhe, weist − nach Ausweis der derzeit verfügbaren Daten − typische phonologische und morphologische Merkmale des Rheinfränkischen auf. Die folgenden Gesprächsausschnitte machen die dialektalen bzw. regionalsprachlichen Einflüsse in der Saarbrücker Kiezdeutschvariante deutlich. Den Beobachtungen liegen Transkripte zugrunde, die im Rahmen eines studentischen Seminarprojekts im Wintersemester 2010/2011 an der Universität des Saarlandes entstanden sind. Es handelt sich um Aufnahmen, die während der Proben zu einem Filmprojekt mit dem Titel Spot on Malstatt angefertigt wurden. Beteiligt sind vier mehrsprachige Mädchen bzw. junge Frauen im Alter von 13 bis 16 Jahren, die sich in dem Film mit sozialen Problemen und negativen (diskriminierenden) Alltagserfahrungen in ihrem Stadtteil Malstatt auseinan-
37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken
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dersetzen. Da die Daten aufgrund des geringen Umfangs nicht als repräsentativ gelten können, sind die folgenden Beispiele lediglich illustrativer Natur. Die Gesprächssequenzen in (15) und (16) enthalten typische Kiezdeutschmerkmale, z. B. die Vokativpartikel Alda und den Ausruf Jackpot! als Kommentar zu einer erfolgreichen Aktion oder einem erfreulichen Ereignis (vgl. (15), Z. 16) sowie Entlehnungen aus den Heritage-Sprachen der Jugendlichen (z. B. arab./kurd. kahba ‘Hure, Schlampe’, vgl. (15), Z. 08). Darüber hinaus finden sich u. a. bloße Nominalphrasen (z. B. in (16) GEB mir fünfa [einen „Fünfer“ = Haschischmenge für fünf Euro]; ’sch gebb dir geBAUda [einen „Gebauten“ = einen Joint] und die Partikel lass in direktiver Funktion (vgl. lass die abfubben [= ausrauben] in (15), Z. 09): (15) 08 09 10 11 12 13 14 15 16 (16) 123 124 125 126 127
S1:
S2: S3: S1: S2: S1: S2: S1: S2: S1: S2:
scheiß aufs anrufen (.) alda (-) kuck ma (-) da kommt eine deutsche KAHba lass die ABfubben (.) alda a:lles klar (.) alda KUMM her, du GIBs deine SAchen her ((schreit)) blöde FOtze EY SCHREI NET ALDA! alda (-) die hat (--) [scheiß auf den schlüssel] ey (-) JACKpot (.) alda GEB mir fünfa (---) isch hab käh fünfa (.) ich hab nur zehna ei (-) gib mir zehna ’sch gebb dir geBAUda unn EIN fünfa alles klar (--)
Die Daten der Saarbrücker Kiezdeutschsprecherinnen enthalten zugleich auch typische Merkmale des Saarbrücker Dialekts, insbesondere auf morphologischer und (morpho-)phonologischer Ebene, z. B. kumm (stddt. komm) in (15), Z. 11, n-Apokope (Steitz 1981: 234) (z. B. mir wolle nur was zu rauche), Ausfall von /g/ in sagen (Steitz 1981: 252) (vgl. der hat nur dei name gesaat; saa deinem bruder) und das Verbflexiv [ʃ] für 2. Ps. Sg. Präs. (Steitz 1981: 253) (z. B. hasch was zum rauchen?; wen willsch du anrufen?). Lexikalische Elemente sind z. B. die im Saarbrücker Dialekt hochfrequente turninitiale Diskurspartikel ei bzw. ei joo (vgl. (16), Z. 125), schwätze für reden (in den Daten belegtes Beispiel: alda was schwätscht du) und die Negationspartikel net (stddt. nicht) (vgl. ey, schrei net alda in (15), Z. 13). Im Unterschied zu den Stuttgarter und Mannheimer Ausprägungen von Kiezdeutsch liegt hier kein Code-Switching vor. Der lokale Dialekt wird offenbar nicht für spezielle Funktionen eingesetzt, etwa um bestimmte (Out-group-)Gesprächspartner/innen zu adressieren oder um potentiell face-bedrohende Sprechhandlungen abzuschwächen. Vielmehr sind Dialekt- und allgemeine Kiezdeutschmerkmale gleichermaßen konstitutiv für den Saarbrücker Multiethnolekt. Bemerkenswert ist auch, dass die Verwendung des Dialekts nicht als Ausdruck der Geringschätzung bzw. Ironisierung von Dialektsprecher/ inne/n oder als Mittel der uneigentlichen Rede dient.
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
2.2.4. Urbane Räume in Dänemark Neue multiethnolektale Sprechweisen in Dänemark weisen ganz ähnliche strukturelle Merkmale auf wie Kiezdeutsch, z. B. veränderter Genusgebrauch im Vergleich zur Standardvarietät, Verbdrittstrukturen anstelle von Verbzweit u. Ä. (Quist 2000). Sie sind dabei stets Teil eines größeren linguistischen Repertoires. So weist Quist (2008: 58) darauf hin, „that multiethnolect can not be understood in isolation from the dialectal and social space in which it is used and has developed“. In aktuellen Studien zur Interaktion von Dialekt und Multiethnolekt in Århus und Odense hat sich gezeigt, dass jugendliche Sprecher/innen in den dortigen multiethnischen Wohnvierteln Gellerup (Århus) und Vollsmose (Odense) Eigenschaften des lokalen Dialekts in ihre multiethnische Sprechweise integrieren, so z. B. Merkmale des Århuser Dialekts, wie die Realisierung von -or als -år (z. B. skjårte statt skorte ‘Hemd’, trår statt tror ‘ich glaube’) oder die Ersetzung der Endung -ed durch -et (Quist et al. 2015). Diese Integration erfolgt jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Während in Vollsmose der Dialektanteil gering ist, hat Christensen (2012) in Gellerup festgestellt, dass mehrsprachige Jugendliche sogar stärker und öfter Dialektmerkmale verwenden als Jugendliche in eher monoethnisch geprägten Wohngebieten in Århus. Hierbei könnten linguistische, aber auch kulturelle bzw. kulturhistorische Faktoren eine Rolle spielen. Dass multiethnolektale und dialektale Merkmale in Gellerup tatsächlich zusammengehören, lässt sich daran ablesen, dass in Situationen, in denen multiethnolektales Sprechen bewusst vermieden wird, auch keine dialektalen Merkmale realisiert werden (Quist et al. 2015). Eine solch enge Verflechtung von Multiethnolekt und lokalem Dialekt wie in Århus scheint gesamteuropäisch betrachtet kein Sonderfall zu sein. So hat z. B. Evers (2016) in ihrer Studie festgestellt, dass mehrsprachige Sprecher/innen im Norden von Marseille in ihrem von arabischer Lexik und Phonologie geprägten Multiethnolekt in großem Umfang typische Merkmale des Stadtdialekts Marseillais aufnehmen (so dass traditionelle Dialektsprecher/innen dies sogar als „übertriebenes Marseillais“ einstufen). Innerhalb Deutschlands sind es z. B. die Saarbrücker Daten, die in eine ähnliche Richtung weisen.
3. Sprachliche Einstellungen Die Einstellungen gegenüber der Verwendung regionalsprachlicher Merkmale in multiethnolektaler Jugendsprache, sowohl innerhalb der Sprechergemeinschaft als auch von außen, sind bislang nur wenig erforscht. In KiDKo/Mu finden sich einige metasprachliche Äußerungen, die auf eine grundsätzlich positive Einstellung der jugendlichen Sprecher/ innen gegenüber dem lokalen Dialekt, Berlinisch, hinweisen; vgl. den folgenden Gesprächsausschnitt zwischen einer Ankersprecherin mit der Heritage-Sprache Türkisch (MuH19WT) und ihrer Freundin (SPK1) (Unterstreichung zeigt gleichzeitiges Sprechen an): (17) SPK1:
ich find berlinern irgendwie COOL (-), aber irgendwie (hab) (isch) (unverständlich) MuH19WT: früher hab isch auch oft so geREdet (-), GANZ früher, da hab isch auch ein auf VOLL berLIner getan so
37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken
1007
SPK1:
ich so AUCH, ich sagte sogar „WEEß ick nisch“ (-) oder „off KEEN fall“ MuH19WT: „weeß ICK do net“ SPK1: na, „NET“ is KEIN berlinern MuH19WT: ja, alles so MISCHmasch Die Verwendung von net durch die Ankersprecherin wird durch SPK1 hier als „kein berlinern“ eingestuft. Die Reaktion auf diese Korrektur („alles so Mischmasch“) weist darauf hin, dass Berlinisch als Teil des lokalen Varietätenspektrums in den Sprachgebrauch aufgenommen und mit anderen sprachlichen Ressourcen zu einem eigenen, integrativen Stil kombiniert werden kann. Wie der folgende Ausschnitt − aus dem Gespräch einer anderen Ankersprecherin mit türkischer Heritage-Sprache (MuH9WT) mit ihren Freundinnen − illustriert, ist manchen Sprecher/inne/n Berlinisch auch als Sprachgebrauch in der Familie vertraut: (18) SPK 103: SPK 101: SPK 103: MuH9WT: SPK 103: SPK 101: SPK 103: MuH9WT: SPK 103:
„icke MICke“ (--) „icke war jestern (-) (im) LI:dL“ (--) „hör UFF damit! (-) wat SOLL die scheiße? hör UFF da, hör UFF damit hier!“ „um FÜMwe bist=e zu HAUse.“ „du bist um FÜMwe zu HAUse. KEEne minute später. sonst vergehst=e morgen ne: raus. hast ma verSTANden?“ [lacht] (unverständlich) deine MUTter so? ’hmhm ihre MUTter immer (-) „um ÖLfe, um NEUne, um FÜMwe.“ isch LIEbe dis. „SECHse, SIEme, ACHte.“
Berlinisch ist hier offensichtlich Teil der vielfältigen sprachlichen Ressourcen, die den Sprecher/inne/n im mehrsprachigen urbanen Raum zur Verfügung stehen. Es wird z. T. auch in den Familien gesprochen und kann positiv besetzt sein. Grundsätzlich können regionalsprachliche Merkmale zum Ausdruck lokaler Verankerung dienen und damit Zugehörigkeit signalisieren. In diesem Sinne äußert sich etwa der Comedian Bülent Ceylan in einem Interview (vgl. auch Keim 2007 zu ähnlichen Äußerungen der Mannheimer „Powergirls“): (19) „Ich werde ja auch manchmal gefragt: Bist du Türke oder Flüchtling? Darauf sage ich nur: Ich bin Monnemer [= Mannheimer], du Depp!“ (Bülent Ceylan, Interview mit dpa, 07.01.2016) Die Verwendung des regionalen Dialekts unterstreicht hier die Selbstpositionierung als Teil der lokalen Gemeinschaft, der traditionell-deutschen Binnengruppe. Eben diese Ingroup-Markierung kann auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft auch negative Reaktionen gegenüber dem Gebrauch regionalsprachlicher Merkmale auslösen, und zwar, wenn Sprecher/innen nicht als zugehörig akzeptiert werden. Eine solche Ausgrenzung kann letztlich zur Vermeidung regionalsprachlicher Varianten durch die betroffenen Sprecher/ innen führen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Feststellung der Sprecherin-
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
nen in (17) oben, dass sie „früher“ auch stark Berlinisch gesprochen hätten, was impliziert, dass sie es zur Zeit des Gesprächs, d. h. im Alter von 16−17 Jahren, nicht mehr taten. Möglicherweise werden regionalsprachliche Merkmale im Kindes- und jüngeren Jugendalter zunächst stärker verwendet und später dann zurückgedrängt, wenn Sprecher/ innen ihre soziale Identität im Zusammenspiel von gesellschaftlicher Eigen- und Fremdpositionierung etablieren. Dies könnte insbesondere für mehrsprachige Sprecher/innen in Deutschland gelten, die von der Mehrheitsgesellschaft eine alloethnische Ausgrenzung erfahren (ähnlich Hambye 2016 für Belgien; Røyneland 2016 für Norwegen; in Norwegen, wo der Dialektgebrauch ein vergleichsweise hohes Prestige besitzt, finden sich neben dezidiert negativen, ausgrenzenden Reaktionen auch positive Wertungen, wenn Einwanderer lokale Dialekte erwerben). Die „wir/sie“-Dichotomien, die hier durch die Konstruktion traditioneller regionaler Dialekte als Eigentum der lokalen Binnengruppe realisiert werden, können auf der anderen Seite zur Ablehnung jugendsprachlicher Multiethnolekte als Teil des dialektalen Varietätenspektrums führen. Das Zitat in (20), einer E-Mail aus einem Zusatz-Korpus des KiDKo entnommen (KiDKo/E), das Einstellungen in der öffentlichen Diskussion erfasst, illustriert dies für Kiezdeutsch: (20) Ihre Feststellung „Bayerisch wird auch nicht als der gescheiterte Versuch angesehen, Hochdeutsch zu sprechen“, ist ein dreister Versuch, ein Stück deutscher Kultur mit Ihrem so heiß geliebten „Kiezdeutsch“ zu vermischen. Der Bayrische, Hessische oder Schwäbische Dialekt entwickelte sich auf deutschem Boden und wurde von Menschen eines Kulturkreises gepflegt. Das so genannte „Kiezdeutsch“ wird von Ausländern wie Türken und anderen Menschen aus dem arabischenvorderasiatischen Kulturraum nach Deutschland hereingetragen und hier verbreitet. Ihre Anbiederei bei Türken und sonstigen Moslems in Berlin wollen wir Deutsche nicht mittragen und ich bitte Sie, dieses von Ihnen so hoch geschätzte Kulturgut mit dem Namen „Kiezdeutsch“ nicht weiterhin als deutsches Sprachgut zu verbreiten. [KiDKo/E, E-Mail, 19.02.2012] Die Analyse des öffentlichen Diskurses zu Kiezdeutsch zeigt solche Äußerungen als typisch für ein zentrales Moment der sprachideologischen Konstruktion der Sprecher/ innen als die „Anderen“ auf (Wiese 2015, 2018): Auf der Basis alloethnischer Zuschreibungen werden Kiezdeutsch-Sprecher/innen hier als nicht-deutsch konstruiert und damit von einer „wir“-Gruppe ausgeschlossen, die die alleinige Eigentümerschaft deutscher Dialekte für sich beansprucht.
4. Diskussion der Ergebnisse Zusammenfassend lässt sich sagen, dass jugendsprachliche Praktiken im mehrsprachigen urbanen Raum (in Deutschland etwa Kiezdeutsch) grundsätzlich dialektale bzw. regionalsprachliche Merkmale aufweisen. Über Regionen hinweg sind bei den Sprecher/inne/n Kompetenzen im lokalen Dialekt nachweisbar. Nach Ausweis der derzeitigen Datenlage finden sich Beispiele für die unmarkierte Verwendung von Dialekt auf allen grammatischen Ebenen ebenso wie im lexikalischen Bereich (insbesondere bei Diskurspartikeln).
37. Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken
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Dies spricht möglicherweise für eine Dialektverwendung als Act of Identity. In diese Richtung weisen insbesondere die Ergebnisse der Studien in Marseille (Evers 2016) und Århus (Quist et al. 2015) und eventuell Saarbrücken. In allen Untersuchungsgebieten ist eine hohe Identifikation mit dem Wohnort und mit dem eigenen Viertel zu verzeichnen. Gleichzeitig ist aber zumindest in einigen der untersuchten urbanen Räume auch eine Distanzierung vom lokalen Dialekt und insbesondere von dessen traditionellen Sprecher/ inne/n zu beobachten. Die Verwendung ausgeprägter dialektaler bzw. regionalsprachlicher Merkmale dient oft als Mittel zur Ironisierung und Distanzierung, etwa von erwachsenen einsprachigen Personen im sozialen Umfeld, aber auch von den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft schlechthin. Hierzu liegen allerdings bislang nur wenige Studien vor. Zur Vermeidung dialektaler oder regionalsprachlicher Muster bei mehrsprachigen Kiezdeutsch-Sprecher/inne/n nach dem Kindesalter könnte möglicherweise führen, wenn sie wiederholt ethnisch-soziale Ausgrenzung als „nicht-deutsch“ erfahren haben und ihnen von der Mehrheitsgesellschaft die Legitimation als authentische Sprecher/innen des Deutschen und die (Mit-)Eigentümerschaft für deutsche Dialekte abgesprochen wird; auch hier stehen systematische Untersuchungen, die auch sprachbiographische Entwicklungen der Sprecher/innen einbeziehen, jedoch noch aus (s. jedoch Keim 2007, 2012). Interessant für künftige weitere Untersuchungen ist auch die mögliche Integration kiezdeutscher Merkmale in den traditionellen regionalen Dialekt von Jugendlichen im eher einsprachig geprägten Umfeld. Erste Schlaglichter auf dieses Phänomen wirft unser Vergleich von isch/ick/ich (Kap. 2.1.) in Berlin, der auf einen Gebrauch aller drei Varianten bei beiden Sprechergruppen hinweist, also sowohl der standardnahen (ich) als auch der regional-dialektal geprägten (ick) als auch der multiethnolektalen (isch). Diese Befunde zeigen somit nicht nur den Gebrauch regionalsprachlicher Merkmale im Multiethnolekt, sondern auch in der umgekehrten Richtung den Gebrauch multiethnolektaler Merkmale im regional-dialektalen Sprachgebrauch Jugendlicher und deuten damit auf interessante Muster wechselseitiger Integration hin, die für weitere Dialektregionen noch zu untersuchen wären.
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
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38. Komplexe Überdachung I: Schweiz 1. Sprachpolitische Aspekte und gesetzliche Rahmenbedingungen 2. Repertoires im deutschen Varietätenspektrum: Diglossie und Plurizentrik
3. Diglossie und mehrsprachige Praxis: Vielfalt der Kontaktzonen und -situationen 4. Bildungspolitische Herausforderungen der komplexen Überdachung 5. Literatur
1. Sprachpolitische Aspekte und gesetzliche Rahmenbedingungen In den Sprachkulturen eine Balance zu finden, liegt in der Tradition der schweizerischen föderalistischen Konkordanzkultur. Von den 26 Kantonen sind drei offiziell deutschfranzösisch zweisprachig (Bern/Berne, Fribourg/Freiburg, Valais/Wallis). Der Kanton Graubünden ist dreisprachig (deutsch, italienisch, rätoromanisch). Bei einer rund 8,3 Mio. zählenden Wohnbevölkerung (Bundesamt für Statistik [BfS] 2017a) deklarierten 2015 63 % der Befragten Deutsch/Schweizerdeutsch als ihre Hauptsprache, 22,7 % Französisch, 8,1 % Italienisch und 0,5 % Rätoromanisch, 23,3 % andere Sprachen (Mehrfachnennungen möglich). 1970−2000 veränderten sich diese Anteile zu Ungunsten des Deutschen um zwei Prozentpunkte, im selben Ausmaß zugunsten von Französisch, während Italienisch 4,5 % Sprecher verlor und Rätoromanisch 0,3 %. Im gleichen https://doi.org/10.1515/9783110261295-038
38. Komplexe Überdachung I: Schweiz
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Zeitraum nahmen Nicht-Landessprachen um 4,8 % zu (BfS 2017b). Heute weist mehr als ein Drittel der Wohnbevölkerung einen Migrationshintergrund auf, davon wurde ein Fünftel in der Schweiz geboren. Es gibt über 870.000 Schweizer Doppelbürger (BfS 2017b: 7−10). Die Anzahl der Fremdsprachen, die von Erwachsenen angegeben werden, erreicht im schweizerischen Durchschnitt 2,0 (im deutschen Sprachgebiet der Schweiz 2,2). Europaweit liegt die Schweiz diesbezüglich nach Luxemburg und Holland an dritter Stelle. Am häufigsten werden Französisch und Englisch genannt. Die Anzahl genannter Fremdsprachen korreliert positiv mit hoher Bildung (Werlen, Rosenberger & Baumgartner 2011). Für das Selbstverständnis der Schweiz hat die Mehrsprachigkeit im Verlauf des letzten Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewonnen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht (Niederhauser 1997; Duchêne & Heller 2011). Die Mehrsprachigkeit ist in der Bundesverfassung (BV) verankert: „Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch“. In der Gesamtrevision der BV von 1999 wurden ein Artikel über die individuelle Sprachenfreiheit eingeführt (Art. 18 BV) und Rätoromanisch zur Teilamtssprache des Bundes aufgewertet (Art. 70 BV; Wyss 1997). Ferner wird festgehalten: „Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen“. Betont wird die Rücksicht auf die „angestammten sprachlichen Minderheiten“, für deren Erhaltung und Förderung Unterstützung zugesagt wird. Die Bedeutung der Sprachenfrage als nationales Element der Kohäsion verdeutlicht auch das 2007 verabschiedete Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (SpG). Es soll „die Viersprachigkeit als Wesensmerkmal der Schweiz stärken“ und „den inneren Zusammenhalt des Landes festigen“. Das Vorherrschen einer Landessprache in der Bevölkerung bestimmt die Zugehörigkeit einer Gemeinde zu einem Sprachgebiet (= Territorialprinzip, ius soli). Die so gezeichneten Sprachgrenzen sind über die Zeit sehr stabil geblieben (Knecht & Py 1997: 1864; Niederhauser 1997: 1838−1839). Eine weitere Folge des Territorialprinzips ist, dass die öffentlichen Schulen einsprachig sind und die anderen Landessprachen als Fremdsprachen gelehrt werden (s. Kap. 4.). Eine Landessprache genießt somit nur in ihrem eigenen Sprachgebiet vollen Schutz. In den o. g. rechtlichen Rahmenbedingungen werden weder Dialekte noch historische Minderheitensprachen wie Jiddisch oder Romanes erwähnt. Letztere werden jedoch in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen berücksichtigt (ECRM 2002). Die nationalen Medien (mit 17 Radio- und sieben Fernsehprogrammen) werden dezentral in den vier Sprachgebieten produziert, mit viel Aufmerksamkeit auf die je angrenzenden Sprachräume (Niederhauser 1997: 1839). Bestimmte deutschsprachige Sendungen bzw. Teile davon (Krimis, Interviews, politische Diskussionen) werden auch auf Schweizerdeutsch produziert. Sie werden, versehen mit Untertiteln, z. T. ins Ausland exportiert. Weiteres zum Varietätengebrauch in den Deutschschweizer Medien s. Kap. 2.1.3. Untersuchungen zum alltäglichen Zusammenleben zwischen Deutsch- und Französischsprachigen zeigen, dass eingespielte pragmatische Praktiken bestehen (Windisch, Froidevaux & Efionayi-Mäder 1994; Werlen 2000: 43−97). Dennoch werden in den Medien regelmäßig Kontroversen in Bezug auf sprachbildungspolitische Fragen und in Bezug auf den Gebrauch von Schweizerdeutsch mit Anderssprachigen ausgetragen. Zu letzterem Punkt war die Diskussion in den 1980er und 1990er Jahren besonders intensiv. Die wachsende Bedeutung des Englischen hat seit den 1990er Jahren wirtschaftliche und utilitaristische Argumente in die Sprachendiskussion eingeführt (s. Kap. 4.). Die
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
wirtschaftlich-politischen Machtzentren der Schweiz sind in der Deutschschweiz konzentriert (Zürich, Basel, Bern), wobei sich seit Beginn des Jahrhunderts die französischsprachige Schweiz − rund um Lausanne und Genf − als Wissens- und Innovationszentrum entwickelt. Obwohl sie formal kein EU-Mitglied ist, bildet die Schweiz (seit Jahren unter den innovativsten Ländern) durch das Wissen im Umgang mit sprachlicher Vielfalt europäisches Leben im Kulturkontakt auf ihre eigene Weise ab.
2.
Repertoires im deutschen Varietätenspektrum: Diglossie und Plurizentrik
2.1. Die Entwicklung der Diglossie und der Diglossieforschung in der Deutschschweiz seit 1982 2.1.1. Zur Stabilität der Deutschschweizer Sprachsituation Standarddeutsch (von Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprechern meist Hochdeutsch oder Schriftdeutsch genannt) wird in der Deutschschweiz vorwiegend als Schriftsprache und mündlich vor allem in formellen, öffentlichen Situationen verwendet (z. B. in der Kommunikation in Bildungsinstitutionen, im National- und Ständerat, in der Kirche, im überregionalen Radio und Fernsehen, vor Gericht) sowie adressatenspezifisch gegenüber Nichtdialektsprechern, während von Sprecherinnen und Sprechern aller sozialen Gruppen und Bildungsschichten im Alltag ein lokaler Dialekt (auch Mundart oder Schweizerdeutsch genannt) gesprochen wird. 1990 gaben im Rahmen der Volkszählung 66,4 % der in der Deutschschweiz wohnenden befragten Personen an, nie oder nur selten Standardsprache zu sprechen (Löffler 1997: 1856). Der Gebrauch des Schweizerdeutschen als einziger Sprachform des deutschen Diasystems ist allerdings im Abnehmen begriffen (Lüdi & Werlen 2005: 36). Auch innerhalb der genannten formellen, öffentlichen Situationen werden je nach individueller Gesprächskonstellation und Situationsspezifik durchaus beide Varietäten verwendet (Christen 2002; Berthele 2004: 115; Oberholzer 2014). So gaben in der Volkszählung 2000 56,1 % der sich in Ausbildung befindlichen Antwortenden (812.776) über alle Ausbildungsstufen hinweg an, in ihrer Ausbildungsstätte sowohl Schweizerdeutsch als auch Standardsprache zu verwenden (Werlen 2004: 14). Für nicht-formelle, nicht-öffentliche Kommunikationssituationen bleibt die pragmatische Norm des Dialektgebrauchs rigide (Berthele 2004: 128). Anders als in den weitgehend entdiglossierten Gebieten des deutschen Sprachraums ist der Dialektgebrauch per se in der Deutschschweiz nicht sozial markiert. Die mündliche Standardsprachkompetenz ist hingegen vor allem in Bezug auf die Flüssigkeit des Sprechens durchaus sozial stratifiziert. In der Regel verwenden höher Gebildete in ihrem beruflichen Alltag häufiger die Standardsprache und sind darin besser geübt (Werlen 2004: 15). Die Dialekte selbst weisen sozial bedingte Gebrauchsunterschiede auf (z. B. Siebenhaar 2002; Hofer 2002: 76−80). Das Modell der Überdachung trifft in struktureller und funktionaler Hinsicht (Darquennes, Art. 40 in diesem Band: Kap. 3.) insofern für die Deutschschweizer Diglossie zu, als die Sprecherinnen und Sprecher in formellen und öffentlichen Situationen (oder
38. Komplexe Überdachung I: Schweiz
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gegenüber Nichtdialektsprechern) die genetisch verwandte Standardsprache verwenden. Konvergenzentwicklungen von den Dialekten zur Standardsprache, die Überdachungssituationen generell zugeschrieben werden, sind im Falle der Deutschschweizer Diglossie jedoch vorwiegend auf die Lexik beschränkt und haben keine regionalen, mehr oder weniger standardnahen Umgangssprachen hervorgebracht, wie dies für Standard-DialektKontinua sonst typisch ist. Eine Überdachung der einzelnen Dialekte durch eine großräumige Ausgleichsvarietät liegt also nicht vor. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Varietätenverwendung allerdings deutlich dynamisiert und zu einem Übergang von einer medialen (Kolde 1981) zu einer von kommunikativen Nähe- und Distanzfaktoren und daher multifaktoriell geprägten Diglossie geführt (adressatenspezifisch, oral/literal, stilistisch). Dennoch ist die Deutschschweizer Diglossie insgesamt relativ stabil geblieben. Daher sind auch ältere Arbeiten zur Verteilung der beiden Sprachformen noch immer relevant, z. B. Sieber & Sitta (1984) oder Löffler (1997). Aus Sprechersicht stehen die Nützlichkeit der Standardsprache und der Identitätswert der Dialekte in der Deutschschweiz in einem Konkurrenzverhältnis, das die Diglossie bislang nicht zu entstabilisieren vermochte (Snow 2013: 74). Falkner (1998: 8) sieht gerade in den einander widersprechenden Stabilitätskriterien den Garanten für die Stabilität der Deutschschweizer Diglossie: „[…] [E]ine Aufgabe von L [low variety, d. h. Dialekt, R. S.] käme einer nationalen Selbstaufgabe gleich, während man befürchtet, dass eine Aufgabe von H [high variety, d. h. Standardsprache, R. S.] die deutschschweizerische Kultur in einen Dornröschenschlaf versetzt.“ Die Stabilität ist aber nicht zuletzt mit dem „Willen zur Diglossie“ der Sprecherinnen und Sprecher zu erklären (Petkova 2012: 137; s. auch Haas 2004) und ihrer stärkeren horizontalen Normorientierung an der Sprechermehrheit. Gesellschaftlich-ständische Unterschiede werden von der Bildungselite nicht etwa durch Standardgebrauch im Alltag markiert, sondern durch Stratifizierungen innerhalb der Dialekte. Unseres Erachtens überbewertet wird die Erklärung der Stabilität der Deutschschweizer Diglossie durch den Abgrenzungswillen von Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der so genannten geistigen Landesverteidigung (s. Haas 2000: 85). Auf der kommunikativen Mikroebene zeigt sich die relative Stabilität der Deutschschweizer Diglossie in Interaktionsverläufen. Selbst wenn, wie neuere Untersuchungen zum Code-Switching und zur Code-Hybridisierung zeigen (Petkova 2016; Christen 2014), strukturelle Übergangsbereiche zwischen den Varietäten feststellbar sind, gibt es aus Sprechersicht kein Kontinuum, sondern es kommt zum „gefühlten“ Codewechsel, wenn es die Situation oder die Adressatenspezifik erfordern (Sieber 2001).
2.1.2. Zur theoretischen Modellierung der Deutschschweizer Sprachsituation Es lassen sich einzelne tragfähige Argumente dafür finden, bei der Deutschschweizer Sprachsituation von Bilingualismus zu sprechen. Bspw. sind neben der Standardsprache auch die Dialekte strukturell voll ausgebaut, da die Standardlexik und bis zu einem gewissen Grad auch die standardsprachliche Syntax in die Dialekte aufgenommen werden können (Sieber & Sitta 1986: 21; Ris 1990). Auch Werlen (1998) argumentiert für Zweisprachigkeit als Beschreibungsmodell und präzisiert, dass es sich im Falle der deutschen Varietäten in der Deutschschweiz um eine asymmetrische Zweisprachigkeit handelt (Werlen 1998: 26; s. auch Hägi & Scharloth 2005). Die Dialekte werden primär
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gesprochen, die Standardsprache primär geschrieben und beide Varietäten gelesen und gehört. Jedoch lassen sich auch Argumente nennen, um bei der Deutschschweizer Sprachsituation von einer Diglossie im Sinne Fergusons (1959) zu sprechen, die den Gebrauch zweier genetisch nah verwandter Varietäten in der gleichen Gesellschaft sowie die Verteilung der Varietäten aufgrund funktionaler und nicht sozialer Kriterien umfasst (zur Problematik der Abstandsmessung s. Petkova 2012; Berthele 2004; Werlen 1998; Haas 2004; Schmidlin 2011: 11−22; zur gegenseitigen Verstehbarkeit s. Petkova 2012: 128−129). Konsens herrscht mittlerweile darüber, dass Fergusons Modell von 1959 manche Merkmale der Deutschschweizer Sprachsituation gut erfasst (z. B. literarische standardsprachliche Tradition, Standardisierung der high variety, Stabilität des parallelen Varietätengebrauchs, s. Berthele 2004), jedoch einige Inkongruenzen aufweist: 1. Es gibt keine genetische Abstammung der low von der high variety (Häcki Buhofer & Burger 1998: 15), wie es von Ferguson für Diglossiesituationen typischerweise postuliert wurde, denn Schweizerdeutsch entwickelte sich nicht aus der Standardsprache und ist in Bezug auf einzelne Merkmale sogar die ältere der beiden Sprachformen mit separaten Entwicklungslinien. 2. In der Deutschschweiz genießen die Dialekte für den kommunikativen Nahbereich ein höheres Prestige als die Standardsprache (und nicht einfach nur covert prestige wie sonst üblich für low varieties, s. Petkova 2012: 129−130). 3. Die Dialekte können auch in Bereichen verwendet werden, die in der prototypischen Diglossie Domänen der Standardsprache sind, so z. B. im privaten Schriftverkehr (Christen 2004). 4. Es gibt sprachstrukturelle Bereiche, in denen die Dialekte eine höhere Komplexität aufweisen als die Standardsprache. Ein Beispiel ist die Verbdoppelung von choo ‘kommen’ und weiterer Verben in Kurzform („I chume cho ässe.“ ‘Ich komme essen.’, Lötscher 1993). 5. Die Standardsprache wird in der Deutschschweiz von Vorschulkindern nicht ausschließlich gesteuert, sondern auch ungesteuert erworben (Häcki Buhofer et al. 1994; Häcki Buhofer & Burger 1998). Die soeben genannten Inkongruenzen mit Ferguson 1959 sowie die Tatsache, dass in bestimmten Situationen auf beide Varietäten zurückgegriffen wird (Petkova 2012: 146), lassen das ansonsten prominent diskutierte Diglossiekonzept in manchen Dimensionen in Richtung Bilingualismus kippen. Die zahlreichen Faktoren, die die Varietätenwahl beeinflussen können, bündelt Christen (2010) in die drei Hauptfaktoren Adressat, Diskurs und Situation, wodurch sich die Dynamik der Varietätenverwendung in konkreten Handlungskontexten teilweise erklären lässt. Unter dem Begriff heavy Code-mixing diskutiert Petkova (2016) schließlich multiples CodeSwitching in liminalen Kontexten, in denen sich die Sprecher von der Zuweisung kommunikativer Funktionen zu den beiden Varietäten lösen und sich in dieser Hinsicht flexibel zeigen. Gerade was die Lexik anbelangt, führt der flexible Gebrauch der Varietäten dazu, dass systemlinguistisch nicht (mehr) trennscharf zwischen Standardsprache und Dialekt unterschieden werden kann (Christen 2012).
2.1.3. Varietätenkontakt und -dynamik in den Medien und in der direkten Arbeitskommunikation Durch die parallele sowie situativ, adressatenspezifisch und diskursiv gesteuerte Verwendung der Varietäten und das Code-Switching (oder Shifting, Hybridisierung, Mixing, s. Petkova 2016; Christen 2000), durch ihre strukturelle Nähe und gegenseitige, vor allem lexikalische Durchlässigkeit (Haas 2004: 92) stehen Dialekte und Standardsprache in
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engem Kontakt (Oglesby 1992). Dieser Flexibilität innerhalb der Varietäten ist bei den folgenden Bemerkungen zur Dynamik des Varietätengebrauchs Rechnung zu tragen (s. auch Kap. 4. zur Diglossie in der Schule). Morphologisch und phonologisch ist die Varietätenzugehörigkeit trotz des engen Varietätenkontakts weitgehend stabil (Haas 2004: 92; Christen 2009: 146−147). Selbst Äußerungen, die lexikalisch und syntaktisch eindeutig standardsprachlich sind, werden als Dialekt kategorisiert, sobald sie phonologisch-morphologisch angepasst sind (Berthele 2004; Hove 2008). Das kann bis zu einer phonetisch in den Dialekt umgesetzten Standardsprache führen (zu den dadurch erzeugten Registerunterschieden s. Werlen 1998: 31; Christen 2000: 256 spricht dabei von einem dialektalisierenden Zugriff auf die Standardsprache). Im Bundesgesetz über Radio und Fernsehen (RTVG) von 2006 (Stand 01.01.2017) heißt es: „In wichtigen, über die Sprach- und Landesgrenze hinaus interessierenden Informationssendungen ist in der Regel die Standardsprache zu verwenden“. Abgesehen von dieser Vorgabe werden die Varietäten in den einzelnen Sendemandaten im Deutschschweizer Radio und Fernsehen keineswegs konsequent vorgeschrieben. Die Sprachwahl ist nur einer von vielen Bestandteilen des Sendungskonzeptes und hängt vom Thema, den beteiligten Personen, dem anvisierten Zuschauer- und Zuhörersegment und weiteren Faktoren ab. Zieht man sämtliche Radio- und TV-Sender der Deutschschweiz in Betracht, ist seit den 1980er Jahren eine Zunahme des Dialektgebrauchs feststellbar. Es gibt aber auch Pendelbewegungen. Zwischen 1970 und 1988 verdoppelte sich der Anteil des Dialekts von 33 % auf 66 % (Fricker 1988), war aber bis 1991 wieder rückläufig (Löffler 1997). Einzelne Sender (z. B. Radio SRF 2 als Kultursender oder Radio SRF 4 News) sowie die Nachrichtenformate aller Sender sind seit 2007 konsequenter standardsprachlich als vorher. Vorübergehende Zunahmen des Dialektgebrauchs in den Medien gehen auf neue Sendeformate sowie eine Informalisierungstendenz zurück (Haas 2004: 85). Havel (2012) errechnet für den hörerstärksten Radiosender SRF 1 einen Dialektanteil von 80 % und für den Fernsehsender SRF 1 einen Dialektanteil von 50 %. Einen Überblick über die Varietätenwahl in Deutschschweizer Medien bieten Burger & Luginbühl (2014: 383−403). Was die Varietätenwahl für literarisches Schreiben anbelangt, besteht die Deutschschweizer Dialektliteratur spätestens seit Kurt Marti (1921−2017) nicht mehr hauptsächlich aus idyllisch heimatverbundenen Texten, sondern öffnet sich den Strömungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur insgesamt und erlebt seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts einen Aufschwung (Schmid 2016). Durch den Gebrauch der sozialen Medien, die eine konzeptionell mündliche Kommunikationsform nahelegen, wird der private Schriftverkehr vor allem von der jüngeren Generation zunehmend dialektal realisiert (Dürscheid, Wagner & Brommer 2010; Christen 2004). In einem internationalen Basler Chemieunternehmen beobachtete Bürkli (1999) individuell sehr unterschiedlich frequentes Code-Switching, wobei die unmarkierte Option der Dialekt ist und der Wechsel in die Standardsprache primär adressatenabhängig erfolgt. Als flexible Sprecher erweisen sich auch Polizisten (Christen et al. 2010), die im Polizeinotrufdienst im Gespräch mit allochthonen Anrufern die Standardsprache präferieren. Zur Verwendung der Varietäten in der Kirche ergab eine Rekrutenbefragung 1985, dass 64 % erwarteten, dass in der Kirche im Dialekt gepredigt wird (Schläpfer, Gutzwiller & Schmid 1991). Auch heute ist die Varietätenwahl von Pfarrpersonen situationsund adressatenorientiert, wie Oberholzer (2014) aufzeigt. In den Dialekt gewechselt wird bspw. bei Mitteilungen, Taufen, Markierungen eines Bibeltexts als Zitat, als Schlusssignal nach dem Segen oder in Abhängigkeit von der beruflichen Rolle (Liturge, Ge-
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meindearbeiter, Pfarrperson, s. Oberholzer 2014: 224). Löffler (1997: 1858) konstatiert für die Parlamente unterschiedliche Handhabungen, wobei im National- und Ständerat sowie in den zweisprachigen Kantonen Standardsprache dominiert, auf Kantons-, Stadtund Gemeindeebene aber auch der Dialekt vorkommt.
2.2. Schweizer Standarddeutsch 2.2.1. Lexikalische und grammatische Helvetismen Die Besonderheiten der Deutschschweizer Standardsprache sind ausführlich beschrieben und diskutiert worden (z. B. Ammon 1995; Ammon et al. 2004; Ammon, Bickel & Lenz 2016; Bickel & Landolt 2012; Schmidlin 2011; s. auch Elspaß & Kleiner, Art. 6 in diesem Band). Umstritten ist, ob die Variation der deutschen Standardsprache als plurizentrisch oder als pluriareal zu fassen sei (Elspaß & Niehaus 2014; Scheuringer 1996). Aufgrund aktueller empirischer Befunde (Schmidlin 2011; Niehaus 2016; Kleiner 2015) trifft der Begriff nationale Varietät und damit das plurizentrische Beschreibungsmodell für das Schweizerhochdeutsch mit seinem kleinen Areal (im Vergleich zu den Standardvarietäten in Deutschland und Österreich, wo nationale Unterschiede von regionalen Unterschieden überlagert werden) am ehesten zu. Das Schweizerhochdeutsch zeigt sich als diejenige Varietät der deutschen Standardsprache, die am meisten Eigenheiten aufweist. Während in der Deutschschweiz veröffentlichte Texte durchschnittlich auf jeder Seite bis zu zwei Varianten enthalten, enthalten österreichische Texte ungefähr eine Variante pro Seite und Texte aus Deutschland eine Variante auf jeder zweiten Seite (zur Berechnung und Korpusauswahl s. Schmidlin 2011: 147 u. 152−179). Zahlreiche lexikalische Varianten wie Stimmbürger oder Souverän gehen auf die schweizerische Form der Demokratie und des Parlamentarismus zurück (Löffler 1997; Haas 2000: 102−104). Morphologische Unterschiede sind teilweise durch ihre französischen und italienischen Entsprechungen zu erklären, z. B. Deklaration (frz. déclaration, ital. dichiarazione statt Deklarierung, s. Löffler 1997). Für weitere Befunde zu morphologischen Unterschieden s. das Projekt Variantengrammatik des Standarddeutschen (Dürscheid, Elspaß & Ziegler 2015). Haas (2000 und passim) unterscheidet lexikalische Helvetismen wie Falle (bundesdt. Klinke), parkieren (bundesdt. parken), Traktandenliste (bundesdt. Tagesordnung); semantische Helvetismen, wenn in der Schweiz eine spezifische Bedeutung eines im deutschen Sprachraum gebräuchlichen Worts auftritt, z. B. Busse (bundesdt. Bußgeld); Frequenzhelvetismen, wenn bestimmte Ausdrücke in der Schweiz besonders häufig vorkommen, z. B. angriffig (gemeindt. draufgängerisch). Dieser Typologie hinzuzufügen sind die von Ammon (1995) als unspezifisch bezeichneten Varianten, die, im Gegensatz zu den spezifischen, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in bestimmten Regionen Deutschlands und Österreichs vorkommen (z. B. allfällig). Die Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher gegenüber den Helvetismen sind trotz ihrer hohen Frequenz und standardsprachlichen Kodifizierung ambivalent (Schmidlin 2011; Davies et al. 2017).
2.2.2. Zur Aussprache und Konvergenzentwicklung des Schweizerhochdeutschen Am stärksten landestypisch bzw. regional geprägt sind Aussprache und suprasegmentale Eigenschaften der Standardvarietäten. Als prototypisch schweizerisch wahrgenommen
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werden ach- statt ich-Laut, apikaler r-Laut, affrizierte k-Laute oder Assimilationen wie Gopfried (Gottfried). Sieber (2001) spricht von Merkmalen des „Ratsherrendeutsch“ im eidgenössischen Parlament, die aber im Rückgang begriffen seien. Nach wie vor charakteristisch für das Schweizerhochdeutsch dürften aber eine im Vergleich zum Norddeutschen weniger staccatohaft wirkende Aussprache sein, die durch die Abwesenheit von Glottalstopp und Auslautverhärtung sowie durch größere Intonationskurven (Stock 2000) entsteht, ferner die Tendenz zur Erstsilbenbetonung, nicht-reduzierte Endsilben, stimmlose Lenes und generell eine stärker ausgeprägte Silbensprachlichkeit. Viele Deutschschweizer Sprecher weisen eine im Vergleich zu deutschen und österreichischen Sprechern geringere Sprechspontaneität und Sprechgeschwindigkeit auf. Zu weiteren Besonderheiten der Aussprache des Schweizerhochdeutschen, seien sie allein im laienlinguistischen Urteil stereotypisiert oder tatsächlich empirisch als frequent belegbar, s. Guntern (2011), Ulbrich (2005), Hove (2002), Krech et al. (2010), Elspaß & Kleiner (Art. 6 in diesem Band). Eine orthoepische Norm gibt es für das Schweizerhochdeutsch nicht, wohl aber Richtlinien der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender (Geiger et al. 2006). In der Mediensprache haben sich im letzten Jahrzehnt Konvergenzen gegenüber einer von manchen Sprecherinnen und Sprechern als „deutschländisch“ empfundenen Aussprache beobachten lassen. So ist am Radio SRF 2 die Aussprache der Standardsprache bei einigen Moderatoren (auch im Falle eines Deutschschweizer Hintergrunds) nicht mehr immer als Schweizerhochdeutsch erkennbar (Werlen 2004). Offen ist, ob der Wandel der Aussprachepraxis ein supranationales Phänomen oder eine zunehmende Orientierung an der nord-/mitteldeutschen Praxis ist (Herrgen 2015; Kleiner 2015).
3. Diglossie und mehrsprachige Praxis: Vielfalt der Kontaktzonen und -situationen Vor dem in Kap. 1. und 2. dargestellten Hintergrund erscheint die Schweizer Sprachsituation als eine multi-diglossische, mit qualitativ unterschiedlichen Diasystemen. Es treffen aufeinander: 1. die deutsche Überdachung der Dialekte durch die (schweizerische) Standardsprache; 2. die französisch residuale Überdachung eines verschwindenden dialektalen Substrats durch die französische Standardsprache; 3. die italienische Überdachung eines lombardischen Dialekts durch (regional geprägtes) Standarditalienisch. In territorialem Kontakt mit allen steht allein das deutschsprachige Gebiet. Die romanischen (= lateinischen) Gebiete untereinander sind nicht in direktem Kontakt − mit Ausnahme des dreisprachigen Kantons Graubünden, wo Italienisch und Rätoromanisch in territorialem Kontakt stehen. Neben dem offiziellen Bild der viersprachigen Schweiz zeigt sich ein mehrsprachiges mit vielfältigen Kontaktsituationen: Durch innere Migration (Lüdi 1992) sind Landesprachen auch in den anderen Landesteilen präsent (als L1 oder L2). Migration und Globalisierung prägen vorab die städtischen Sprachenlandschaften: Aktuell geben rund 21 % der Bevölkerung keine der vier Landessprachen als ihre Hauptsprache an. Sechs von zehn Erwachsenen sprechen regelmäßig mehr als eine Sprache. Am Arbeitsplatz ist Schweizerdeutsch am meisten verbreitet (66 %), gefolgt von Deutsch (34 %), Französisch (29 %, mit leichter Zunahme in den letzten 10 Jahren), Englisch (19 %), Italienisch (9 %).
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Zuhause sprechen 60 % der ständigen Wohnbevölkerung (ab 15 Jahren) schweizerdeutsch, 23 % französisch, 10 % deutsch, 8 % italienisch und 5 % englisch (BfS 2017c). Durch die Zunahme von Sprachkontaktsituationen hat sich auch die Sichtweise auf die Sprachenlandschaft seit den 1990er Jahren von der viersprachigen zur mehrsprachigen Schweiz hin gewandelt (Widmer et al. 2004; Haas 2010). Heute hat sie auch den offiziellen Diskurs erreicht: Der Internetauftritt der Bundesverwaltung (Schweizerische Eidgenossenschaft) hat eine Seite zu „Mehrsprachigkeit“, mit der Erklärung: „Die Schweiz setzt sich aus vier Sprachregionen zusammen, doch ein grosser Teil der Bevölkerung spricht mehrere Sprachen.“ Zudem ist unter der Rubrik „Sprachen und Dialekte“ zu lesen: „Die in der Schweiz am weitesten verbreitete Sprache ist Schweizerdeutsch, unter diesem Oberbegriff ist eine grosse Vielfalt alemannischer Dialekte zusammenfasst [sic!].“ Mit dem Hinweis „Für den Schriftverkehr bedient man sich der hochdeutschen Sprache“ wird zudem die diglossische Situation angedeutet. Die Landessprachen weisen unterschiedliche Prestiges auf, die in Kontaktsituationen jedoch nicht immer gleichermaßen wahrgenommen werden: Wirtschaftlich und aufgrund der hohen Sprecherzahl geht das Primat an Deutsch (mit einem hohen Binnen-Prestige der Dialekte), gefolgt von Französisch, das besonders mit kulturellem Prestige verbunden wird. Im Sinne von sozialem Kapital spielen Rätoromanisch und auch Italienisch eine geringe Rolle, was sich u. a. darin zeigt, dass sie als unterstützungsbedürftige Minderheitensprachen behandelt werden. Für Forschungsaktivitäten zum Status von untereinander sehr variierenden Gebärdensprachen s. Boyes Braem, Haus & Shores (2012).
3.1. Sprachkontakt Deutsch-Französisch Als einziges Sprachgebiet der Schweiz kennt die französischsprachige Schweiz (auch Romandie genannt) praktisch keine innere Mehrsprachigkeit mehr: die primären, mehrheitlich galloromanischen Dialekte werden nur noch residual gesprochen (Volkszählung 1990: 1,43 %, Lüdi et al. 1997). Der Einfluss des Deutschen auf das Französische in der Romandie wird als gering eingeschätzt und wurde früher überbewertet (Knecht & Py 1997: 1867). Als Germanismen gelten einige Verbfügungen mit Präpositionen wie im Deutschen (bspw. attendre sur quelq’un ‘auf jemanden warten’) oder der am Deutschen orientierte Gebrauch von déjà ‘schon’ als Partikel. Auf lexikalischer Ebene sind etwa hydrant, witz, zwieback zu nennen (Thibault & Knecht 1997). Unausweichlich sind Lehnübersetzungen. Dabei sind Dubletten das sichtbarste Phänomen, das in einem mehrsprachigen Staatswesen aufkommt und als produktives Muster der Wortbildung dient (bspw. frz. conseil fédéral, dt. Bundesrat). Ansonsten ist das Französisch der Romandie an der zentralistischen französischen Norm orientiert. Der früher gefürchtete Einfluss des Deutschen scheint auch in der öffentlichen Diskussion kein prominentes Thema mehr zu sein (Pöll 1998: 33−24). Umgekehrt ist der Einfluss des Französischen auf das Deutsche und Schweizerdeutsche ausgeprägter, was mit dem kulturellen Prestige der französischen Sprache zusammenhängt und früher auch auf technische Neuerungen zurückzuführen war. Standardsprachlich anerkannte Helvetismen sind bspw. der/das Perron (‘Bahnsteig’), das Trottinett (‘Tretroller’), merci (‘danke’), Pneu (‘Reifen’) (Ammon, Bickel & Lenz 2016). Häufiger als etwa in Deutschland sind auf das Französische zurückgehende Ausdrücke auch in
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nähesprachlichen Registern gebräuchlich: etwa reparieren (‘flicken’), blockieren (‘unterbinden’), kalkulieren (‘berechnen’), rar (‘selten’). Nach der Studie von Kolde (1981) zum Sprachkontakt in den zweisprachigen Städten Biel/Bienne und Fribourg/Freiburg konnte Brohy (1992: 295) nachzeichnen, wie der Erwerb der jeweils anderen Sprache auch außerhalb der Schule stattfindet. Hodel (2006) weist nach, dass ein Jahr Sprachaufenthalt in der Romandie rund vier Jahre Fremdsprachenunterricht aufwiegt. Fuchs (1998) untersucht die Sichtbarkeit der je anderen Sprache im zweisprachigen Kanton Wallis. Schnidrig (1998) gibt Beispiele für kreatives CodeSwitching im Walliserdeutsch mit dem Französischen und dem Italienischen. Lüdi et al. (1994) zeigen in ihren Untersuchungen zur Binnenwanderung in der Schweiz ebenfalls Praktiken des Code-Switching und der (teils ungelenkten) Sprachaneignung (auch von schweizerdeutschen Dialekten) durch Französischsprachige auf und dokumentieren vielfältige Formen bilingualen Aufwachsens von Kindern. Zur unterschiedlichen identitären Integration beider Kulturen bei Zuzügern in Basel s. auch Lüdi (1995). Die Einstellung der Französischsprachigen gegenüber dem Sprachgebrauch der Deutschschweizer ist von Unverständnis für die Diglossie geprägt (Franceschini 2013; Cichon 1998; Schläpfer, Gutzwiller & Schmid 1991): Den Romands fällt es schwer zu verstehen, wie schweizerdeutsche Dialekte eine default-Varietät sein können: Dialekt wird mit Rückständigkeit konnotiert. Im Extremfall gilt der Dialektgebrauch als Zeichen geringer Bildung (Windisch, Froidevaux & Efionayi-Mäder 1994). Es treffen somit monozentrisch und normativ ausgerichtete Spracheinstellungen des französischen Kulturraums (Singy 1997) auf einen ausgeprägten Varietätenstolz auf schweizerdeutscher Seite. Hinzu kommt, dass in der Romandie die deutsche Standardsprache gelehrt wird. Die Kommunikation kann erschwert werden, wenn Deutschschweizer im Sprachkontakt mit Romands Schweizerdeutsch sprechen.
3.2. Sprachkontakt Deutsch-Italienisch Die italienischsprachige Schweiz (Svizzera italiana: Kanton Tessin und vier italienischsprachige Täler Graubündens) kennt eine diglossische Situation (lombardischer Primärdialekt und italienische Standardsprache), die sich von der Deutschschweiz unterscheidet: Der Gebrauch von italienischem Dialekt nimmt generell ab (Moretti 1999), korreliert mit hohem Alter der Sprecherinnen und Sprecher und peripheren Wohnorten. Er wird mit Praktiken des Code-Switching und Code-Mixing in die italienische Standardsprache eingebunden, vor allem in informellen Kontexten. Es handelt sich um eine in den Domänen stark überlappende Diglossie (auch Dilalie genannt, Berruto 1987). Gleichzeitig ist ein Revival des italienischen Dialektes unter Jugendlichen zu verzeichnen, die ihn nicht in der Familie, sondern erst in der peer group lernen (Moretti 2014: 237; Lüdi & Werlen 2005: 87). Bedingt durch die wirtschaftlichen Beziehungen ist die Beherrschung von Deutsch und Französisch in der italienischsprachigen Schweiz unabdingbar. Dem trägt auch das Schulsystem Rechnung: Als einziger Kanton führt das Tessin Deutsch und Französisch vor Englisch ein. Dem Sprachverhalten in bilingualen Familien geht die Studie von Moretti & Antonini (2000) nach. Die in der italienischsprachigen Schweiz übliche Standardsprache kann als ein polyzentrischer Pol des ansonsten schwach polyzentrisch ausgebauten Italienischen gelten
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(Franceschini 2014). Die Eigenheiten des Italienischen im Tessin sind nicht, wie vor einigen Jahrzehnten befürchtet, auf eine Germanisierung der italienischen Schweiz zurückzuführen (Berruto & Burger 1987). Vor allem in der Lexik sichtbar, sind sie der Notwendigkeit geschuldet, im helvetischen Staatsgefüge parallele Terminologien zu verwenden, was in Dubletten oder Tripletten sichtbar wird. So bspw. dt. Bundesrat, ital. consiglio federale, frz. conseil fédéral. Viele Scheinentlehnungen haben Deutsch als Gebersprache. Die Gesetzestexte werden auf Bundesebene zuerst auf Deutsch und Französisch verfasst, dann ins Italienische übersetzt (Bielawski 2016). Im Gegensatz zu den Romands mussten die Tessiner das Angebot an Hochschulbildung bis 1995 außerhalb ihres Sprachgebietes nutzen. Anfang der 1990er Jahre schlossen fast 50 % der Tessiner Studenten ihr Studium in Zürich ab (Niederhauser 1997: 1845). Eine Tessiner Universität (Università della Svizzera Italiana) wurde erst 1995 gegründet, eine Fachhochschule (SUPSI-Scuola Professionale della Svizzera Italiana) 1997. Das Tessin ist eine Tourismusregion und sieht sich allgemein mit vielen Deutschsprachigen konfrontiert. Zudem gibt es Ansiedlungen Deutschsprachiger, die das Tessin als Alterssitz wählen (rund 10 % der Wohnbevölkerung des Kantons): Früher noch mit Ängsten vor der Germanisierung des Tessins verbunden, wird der direkte Einfluss dieser Bevölkerungsgruppe seit den 1990er Jahren als gering eingeschätzt (Bischofsberger 1997: 1873). Zu komplexen Sprachkontakten mit Italienisch kommt es in der Deutschschweiz nicht allein aufgrund der inneren Migration (Lüdi et al. 1994), sondern vor allem durch die Immigration aus Italien seit Mitte des letzten Jahrhunderts. Die zweite (nunmehr dritte) Generation wächst bilingual heran und kann als gut integriert gelten. Italienisch war noch bis in die 1990er Jahre die am meisten verbreitete Immigrantensprache. Sie wurde von anderen Immigrantengruppen (von der iberischen Halbinsel, aus dem ex-jugoslawischen Raum) als lingua franca (von Berruto 1991 Fremdarbeiteritalienisch genannt) genutzt. Unter Deutschsprachigen wird Italienisch (auch) ungesteuert erworben, als Resultat des Kontakts mit Migranten, was als Kontaktitalienisch beschrieben wurde (Franceschini 1999). Diese seltene Erwerbsrichtung − eine Mehrheit eignet sich ungesteuert eine Minderheitensprache an − wurde als Prozess der Sprachadoption beschrieben. Kontaktitalienisch wird in informellen Gesprächen unter Deutschsprachigen verwendet (bei Jugendlichen und Erwachsenen), wird aber auch im Stadtbild sichtbar, in der Werbung, bis hin zur Bezeichnung (semi)offizieller Institutionen: So heißt bspw. der 1960 gegründete Elternverein für Menschen mit Behinderung Insieme (ital. ‘gemeinsam’); der Name einer Bäckereikette ist Panissimo, mit dem produktiven Suffix -issimo; produktiv ist auch -eria, so etwa in Ticketeria als Bezeichnung von (Fahr)kartenschaltern (Blass 2012; Franceschini 2002).
3.3. Sprachkontakt Deutsch-Rätoromanisch Rätoromanisch (Bünderromanisch, Romanisch, Rumantsch) ist seit jeher von Sprachkontakt mit dem deutschen und italienischen Sprachraum geprägt: in Graubünden als Passland, nach Norden und Süden offen. Es wird in einer Minderheit von Gemeinden autochthon verwendet. Letztere entscheiden frei über Schul- und Amtssprache (Grünert 2015). Ohne städtisches Zentrum, bei stetiger Abwanderung aus Berggemeinden, mit einem
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nicht mehr zusammenhängenden Sprachgebiet, letztlich sprachlich vom Deutschen überdacht, ist Rätoromanisch im Sprachschwund begriffen (Furer 2005). Jugendliche wachsen jedoch immer noch bilingual auf (mit Deutsch) und zeigen Sprachloyalität für beide Varietäten, mit Tendenz hin zum Deutschen (Grünert et al. 2008: 387−389; Coray 2009; Solèr 1997: 1880, 1998: 152). Über ein Drittel der Sprecher lebt außerhalb des Kantons (Holtus 1989: 855; Solèr 1997: 1879). Im dreisprachigen Kanton Graubünden können Rätoromanischsprachige bei Italienischsprachigen auf rezeptive Kompetenzen bauen, was bei Deutschsprachigen nicht möglich ist (Solèr 1997: 1883). Rätoromanisch kannte lange keine endogene Überdachung. In den 1980er Jahren wurde die Einheitssprache Rumantsch Grischun kreiert (Schmid 1989; Darms 2006; Grünert 2015). 2001 wurde sie zur kantonalen Amtssprache erhoben, ab 2007 in einem Teil der rätoromanischsprachigen Schulen als Alphabetisierungssprache eingeführt. Für die Evaluation dieses Prozesses s. Berthele & Lindt-Bangerter (2011). Rumantsch Grischun überdacht nun auf einer zusätzlichen Ebene die rätoromanischen Varietäten. Man kann diese Situation als Zwischen-Überdachung bezeichnen. Rätoromanisch ist seit jeher sehr aufnahmefähig − was für seine Vitalität spricht − und von Kontaktphänomenen geprägt (Willi & Solèr 1990). Bezeichnungen für technische und kulturelle Neuerungen werden aus dem Deutschen entlehnt (kreativ auch in der Literatur, s. Riatsch 1998). Bei Dubletten legt sich „über eine ältere, vom Italienisch geprägte Phase […] mehr und mehr eine deutsche Lehnschicht“ (Kristol 1985: 120). Oftmals ist die Gebersprache nicht eindeutig auszumachen: so koexistieren pro’gram ( waarä), in beiden Fällen mit Dehnung des vorhergehenden Vokals. Ebenfalls charakterisierend ist die Bewahrung von endsilbischer Vokalqualität, die eine wichtige Rolle bei der Endflexion spielt. Im Dialekt von Issime gibt es zudem eine Art von Vokalharmonie (Zürrer 1999: 148−153), durch die sich unbetonte Silben dem Endungsvokal anpassen, so dass Wortformen in der Flexion beachtlichen Schwankungen unterworfen sind: bruder ‘Bruder’, brudara ‘Brüder’, bruduru ‘Brüdern (Dat.)/Brüder (Gen.)’. Morphologie: Walserdialekte sind durch eine reiche Endflexion gekennzeichnet, die dazu beigetragen hat, grammatische Kategorien formal differenziert zu bewahren, was im Bereich der nominalen Morphologie besonders offensichtlich ist. Traditionelle Sprecher von Formazza differenzieren z. B. in t schtuba ‘in die Stube’ von in der schtubu ‘in der Stube’, auch im Fall von Lehnwörtern: in der gabbiu ‘im Käfig’ (Nom.: gabbia ‘Käfig’). Der Genitiv ist relativ gut bewahrt, besonders bei Possessivangaben mit Personennamen (tsch Tunisch ‘des Tonis’, tsch attä ‘des Vaters’, mit schwacher Flexion) und bei (festen) Temporalangaben (äs tagsch ‘eines Tages’, der jaru ‘vor Jahren’). Der Bereich der Flexion ist in Walserdialekten (wie teilweise auch in anderen konservativen Mundarten des Höchstalemannischen) breiter als in der Standardsprache. Besonders interessant ist die Flexion des prädikativen Adjektivs, die drei Genera und zwei Numeri unterscheidet: der chäs éscht götä ‘der Käse ist gut (Sg. Mask.)’, schmalz éscht nit göts ‘Schmalz ist nicht gut (Sg. Neutr.)’, äs sén schwarzu ksé un rotu ‘es waren schwarz (Pl. Fem.) und rot (Pl. Fem. = Kirschen)’, wér si alti ‘wir sind alt (Pl. Neutr.)’. Die starke Flexion der Adjektive weist also Genus-Markierung auch im Plural auf. Und diese Mor-
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pheme (Mask. -0̸, Fem. -u, Neutr. -i) wurden analogisch auch auf Zahlwörter (von „vier“ bis „neunzehn“) übertragen: drizä ‘dreizehn (Mask.)’, féru ol fifu ‘vier oder fünf (Fem.)’, zächni ‘zehn (Neutr.)’. Im Bereich der Verbalmorphologie ist die Bewahrung (und die Produktivität) des Rückumlauts bemerkenswert, der bei jan-Verben zusammen mit der Flexion des Partizips auftritt und resultativen Charakter (Zustandspassiv) vergibt: schi sén färbranti ksé ‘sie waren verbrannt’ im Gegensatz zu he-wär de schträtscha färbrent ‘wir haben dann Lappen verbrannt’. Das Phänomen des flektierten Partizips ist aber viel verbreiteter und betrifft unter anderem auch die aktive Form von Handlungsverben, um die Vollständigkeit der Handlung auszudrücken; in solchen Fällen ist die Endung erstarrt (-sch): wé-wär de he khértutsch khäbä ‘als wir denn fertig gehirtet hatten’. In den ausgestorbenen Dialekten von Salecchio und Agaro war auch das Präteritum bewahrt, gestützt durch ein völlig ausgebautes Rückumlaut-System. Wie Frei (1970) für Salecchio ausführlich dokumentiert, spielte Aspekt bei diesem Dialekt noch eine wichtige Rolle. Präsens und Perfekt drücken Imperfektivität und Perfektivität in der Gegenwart aus, Präteritum und Plusquamperfekt markieren diesen Gegensatz in der Vergangenheit: Wiär wassun in fivi im huis, hattun älli gliich roots haar ‘wir waren zu fünft im Hause und hatten alle gleiches rotes Haar’; un tumnaa had-i priellut ‘darauf hatte ich geweint’ (Frei 1970: 317). Syntax: Es herrscht starke Variation, und zwar in Bezug auf alle wichtigen Merkmale, die die italoromanische Syntax von der des Deutschen unterscheiden. Die Verbzweitstellung kommt praktisch nie mit Nominalphrasen oder starken Subjektspronomina vor: dopu min aju isch nemme kangut eweg ‘danach ist meine Mutter nicht mehr weggegangen’ (Rimella), un dana éch bé äso äs böbje ksé ‘und dann bin ich so ein Kind gewesen’. Dagegen ist die Inversion mit Klitika obligatorisch: dana bén-i da fertik ‘danach bin ich da fertig’. Die postverbale Stellung für Klitika ist für die meisten Walserdialekte erstarrt, so dass andere Möglichkeiten wie die Klitisierung am Komplementierer eher selten werden (wen-i bé in Tuffald ksé ‘als ich in Tuffwald war’), während Verb-Subjekt die häufigste Struktur in allen Kontexten wird: hewer gmachut as sölti allz ‘wir haben [haben-wir] ein bisschen alles gemacht’ (Issime), wen si-wär in Gurfälu kgangä ‘als wir in Gurfälu gegangen sind’. In der Folge sind Klitika in verschiedenen Varietäten zu Personalendungen grammatikalisiert worden und andere selbstständige Pronomina entstanden (Dal Negro 2004: 170−178): und schiandru chomuntsch alzit ‘und sie [sie anderen] kommen [sie] immer’ (Rimella). Die Asymmetrie zwischen Haupt- und Nebensatz ist in einigen Dialekten praktisch verschwunden (Issime: wénn hewer gmachut z buddinh ‘als wir Blutwurst gemacht haben’), während die Endstellung des infiniten Verbs bei komplexen Prädikaten überall fester zu sein scheint: éch hä ä mal brotjé kmachut ‘ich habe einmal Brotje gemacht’. Jedoch ist in einigen Dialekten, die früh in Kontakt mit romanischen Varietäten getreten sind, nur eine begrenzte Anzahl von Wortarten (Klitika, Partikeln, Negationswörter, wenige Adverbien) geblieben, die eingeklammert sein können. Alle anderen Konstituenten werden ausgeklammert (Bauen 1978): sén génh gsinh doa ‘[sie] sind immer da gewesen’ (Issime), ha-wer nuwa alzit schpalt tittschu ‘wir haben immer nur Deutsch gesprochen’ (Rimella). Schnittstelle SyntaxLexikon: Alle Walserdialekte haben Konnektoren (Konjunktionen, Subjunktionen, Diskursmarker), die aus den benachbarten Sprachen oder Mundarten entlehnt worden sind und die entweder in Konkurrenz oder in Komplementarität zu den ererbten Funktionswörtern treten: parka er haje hebet hunger ‘weil [valsesianisch parcà, ital. perché] wir
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hungrig gewesen sind’ (Rimella), però schi sén féri zämä ksé ‘aber [ital. però] sie sind immer zusammen gewesen’. Lexikon: Wie zu erwarten ist, spiegelt die lexikalische Schichtung der Walserdialekte ihre Geschichte und die Geschichte ihrer sprachlichen und kulturellen Umgebung wider (vgl. Fazzini & Cigni 2004; Antonietti, Valenti & Angster 2015). Während der größte Teil des Grundwortschatzes allen Varietäten gemeinsam ist und auf das Mittelhochdeutsche zurückgeht, ergeben die zahlreichen Entlehnungen ein viel differenziertes Bild. Ältere Lehnwörter stammen eher aus dem Galloromanischen (Frankoprovenzalisch und teilweise Französisch) und dem Galloitalienischen (piemontesischen und lombardischen Dialekte), jüngere Lehnwörter eher aus dem Italienischen, zum Beispiel: putidschir ‘Küche’ (Issime, Frankoprovenzalisch potadzé), kadrjegu ‘Stuhl’ (Macugnaga, nach dem norditalienischen Typ cadrega), diga ‘Damm’ (Formazza, ital. diga). Dagegen sind Entlehnungen aus dem Neuhochdeutschen sehr selten und fast nur in Gressoney zu finden, wo die Hochsprache eine Rolle spielt oder gespielt hat (im Gegensatz zu den anderen Walser-Gemeinschaften), z. B. wäschmaschin ‘Waschmaschine’. Neubildungen sind in allen Varietäten belegt und bezeugen eine Produktivität im Bereich der Wortbildung, die bis vor kurzer Zeit sehr reich war: s. z. B. Formazza und Gressoney zitgereis ‘Uhr’, auch in der Variante zikkreis, mit Assimilation und Verlust der semantischen Transparenz. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Archaismen, etwa atto ‘Vater’, aju ‘Mutter’ (Rimella), ettru/echi ‘Onkel von mütterlicher oder väterlicher Seite’, gade ‘Stall’, fiirhüs ‘Küche’.
4.2. Soziolinguistische Situation Man nimmt an, dass es heute noch 1.200 Sprecher gibt, die über irgendeine Kompetenz in einem Walserdialekt verfügen. Der Rückgang der Sprecherzahl ist auf drei Hauptgründe zurückzuführen: Untergang von alpinen Dörfern, die im Laufe des 20. Jh. wie auch anderswo verlassen wurden (Salecchio); progressiver (vgl. Giacalone Ramat 1979 für Gressoney) oder kompletter (Ornavasso) Sprachersatz durch romanische Varietäten, besonders bei größeren und reicheren Gemeinden, die relativ früh massive Einwanderungen erlebt haben; demographische Schrumpfung in ärmeren Gebieten (Rimella). Als Resultat laufen absolute Sprecherzahl und Anteil der Sprecher an der Bevölkerung des Ortes nicht unbedingt parallel und üben nicht unbedingt die gleiche soziolinguistische Wirkung aus: Z. B. verfügen die zwei valsesianischen Gemeinden Rimella und Alagna über je ungefähr 100 Sprecher. Das bedeutet aber 90 % der Bevölkerung von Rimella und nur knapp ein Fünftel derjenigen von Alagna. Daher ist nur in Rimella Walserdeutsch noch üblich. Nach der UNESCO-Vitalitätsskala sind Walserdialekte in Italien den Stufen 3, definitely endangered, und sogar 2, severely endangered (d. h. nur die Generation der Großeltern kann die Sprache noch sprechen) zuzuordnen. Mehrsprachigkeitskonstellationen und Repertoires: Man unterscheidet Walserdialekte in „einfachen“ und „überlasteten“ Sprachrepertoires (Dal Negro 2002). Im zweiten Fall ist die Walserminderheit in eine andere, größere Sprachminderheit eingebettet (frankoprovenzalische Varietäten) und mit zwei Standardsprachen (Italienisch und Französisch) konfrontiert. Eine weitere soziolinguistische Variable besteht darin, ob Walserdeutsch mit romanischen Varietäten seit Jahrhunderten im engen Kontakt steht (wie in Rimella oder Issime) oder nicht (wie in Formazza oder Gressoney). Das freie Gespräch in Rimella ist wegen des alten Sprachkontakts durch die gleichzeitige Aktivierung von Walser-
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deutsch und Valsesianisch geprägt (ma es isch nemme cui tempi da ‘aber es sind nicht mehr jene Zeiten da’; Kode-Mischung, Valsesianisch unterstrichen). In Formazza, wo der Kontakt jünger ist, werden dagegen eher Sprachwechsel-Strategien angewandt, die schlussendlich zum Sprachersatz führen: A: béscht méds? ‘bist du müde?’ K: e dai, abbastanza ‘na ja, genug’ (italienisch). Was allen (heutigen) Repertoires gemeinsam ist, ist die Abwesenheit der (deutschen) Standardsprache, während es bei Grenzgemeinschaften manchmal noch eine beschränkte Kompetenz in Schweizerdeutschen Dialekten gibt (z. B. Formazza).
4.3. Sprachplanung Die geographische und sprachliche Uneinheitlichkeit hat bis vor kurzer Zeit jede gemeinsame Bemühung zur Sprachplanung verhindert. Eine gemeinsame Ausbausprache wäre im Falle des Walserdeutschen undenkbar. Sprachplanungsversuche (zum Beispiel beim Ausbau des Wortschatzes in Alagna) sind selten und in ihrem Wirkungsbereich sehr lokal geblieben. In den letzten Jahrzehnten haben jedoch alle Walser-Gemeinschaften an der „Internationalen Vereinigung für Walsertum“ teilgenommen, was ein kulturelles (und teilweise sprachliches) gemeinsames Bewusstsein verstärkt oder neu aufgebaut hat. Im Rahmen des Gesetzes zum Schutz der Sprachminderheiten (s. Kap. 1.) sind in allen Walser-Gemeinden sog. Sprachschalter eingerichtet worden, was zur Koordination der Aktivitäten geführt hat. Aus dieser Zusammenarbeit ist das Projekt einer gemeinsamen Orthographie entstanden, die Arbeiten im Rahmen der sprachlichen und kulturellen Dokumentation (wie den kleinen Sprachatlas Piccolo Atlante Linguistico dei Walser Meridionali [PALWaM], Antonietti, Valenti & Angster 2015) und gemeinsame didaktische Materialien ermöglichen könnte. In der Sprachdidaktik beschränkt man sich meist darauf, Schülern ihre sprachliche und kulturelle Herkunft bewusst zu machen. Versuche, die Sprache als Kommunikationsmittel zu vermitteln, finden in Abendkursen für Erwachsene statt. Beides hat aber keine Auswirkung auf den Erhalt der Sprache.
5. Deutsch als Fremdsprache Deutsch als Fremdsprache hat in Italien Bedeutung vor allem im Bereich Wissenschaft und Kultur sowie Wirtschaft, Tourismus und Politik. Letzteres gilt vor allem im Norden, wo in der Regel Dependancen deutscher, österreichischer und schweizerischer Unternehmen sind und Touristen aus diesen Ländern wegen der räumlichen Nähe auch zum Kurzurlaub kommen (z. B. Gardasee). Umgekehrt sind vor allem Deutschland als Arbeitsmarkt und die deutschen Metropolen (v. a. Berlin) für die italienische Jugend attraktiv. Deutschland gilt zudem − trotz gelegentlicher Kritik von Politikern, etwa wegen der deutschen Austeritätspolitik − in weiten Kreisen der Bevölkerung als Modell für ein funktionierendes Staats- und Gesellschaftssystem. Trotzdem leidet Deutsch als Fremdsprache auch in Italien an der Dominanz des Englischen, der Konkurrenz des Spanischen als globaler Sprache und neu eingeführten Fremdsprachen wie Chinesisch oder Arabisch. Besonders negativ wirkt sich aus, dass neuerdings bei besonders stundenintensivem Eng-
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lischunterricht in der Schule (ital. inglese potenziato) überhaupt auf eine zweite Fremdsprache verzichtet werden kann (vgl. Foschi Albert & Hepp 2010: 1695). Förderlich für das Interesse an Deutsch als Fremdsprache sind dagegen folgende Faktoren: − Deutsch hat wegen Südtirol unter den zahlreichen Minderheitensprachen Italiens eine
ganz besondere Stellung. Sie bringt mit sich, dass deutsche Muttersprachler auch in zentralen Institutionen des italienischen Staates vertreten sind und ein Dienst wie etwa die Webseite zur Beantragung des italienischen Reisepasses zweisprachig ItalienischDeutsch ist (und nicht Englisch). − Historische Verbindungen und geographische Nähe haben zum Modellversuch Trentino trilingue geführt (seit 2014). Die Autonome Provinz Trient verfolgt hier das ambitionierte Ziel, schon ab dem Kindergarten neben Italienisch Deutsch (und Englisch) nicht nur zu unterrichten, sondern auch Fachunterricht in diesen Sprachen durchzuführen (Content and language integrated learning, CLIL). − Deutsche Kulturmittlerorganisationen sind sehr stark engagiert. Zum Beispiel ist Italien das Land in West- und Südeuropa mit der größten DAAD-Förderung (Individualund Projektförderung; s. DAAD-Jahresbericht 2015, 86). Die wissenschaftlichen Kontakte finden nicht ausschließlich in deutscher Sprache statt, aber trotzdem dienen Forschungsaufenthalte in Deutschland und Kooperationen mit deutschen Wissenschaftlern letztlich auch der Verbreitung der Sprache. (Anm.: Kap. 1., 2., 5. werden von Stefan Rabanus, Kap. 3. von Ermenegildo Bidese, Kap. 4. von Silvia Dal Negro verantwortet.)
6. Literatur Alber, Birgit 2015 Die deutschen Sprachinseln der Zimbern und Fersentaler in Norditalien: Konservativität, Innovation und Kontakt im Lautsystem. In Rainer Schlösser (Hrsg.), Sprachen im Abseits: Regional- und Minderheitensprachen in Europa, 19−45. München: AVM. Alber, Birgit & Marta Meneguzzo 2016 Germanic and Romance onset clusters: how to account for microvariation. In Ermenegildo Bidese, Federica Cognola & Manuela C. Moroni (Hrsg.), Theoretical Approaches to Linguistic Variation, 25−51. Amsterdam & Philadelphia: Benjamins. Antonietti, Federica, Monica Valenti & Marco Angster (Hrsg.) 2015 Piccolo Atlante Linguistico dei Walser Meridionali. Aosta: Tipografia Valdostana. Bacher, Josef 1905 Die deutsche Sprachinsel Lusern. Innsbruck: Verlag der Wagner’schen Universitäts-Buchhandlung. Bauen, Marco 1978 Sprachgemischter Mundartausdruck in Rimella (Valsesia, Piemont). Bern: Haupt. Bertagnolli, Judith 1994 Das „unfeine“ Hochdeutsch in Südtirol: Mit der Auswertung einer soziolinguistischen Spracherhebung in Bozen. Diplomarbeit Universität Wien. Bidese, Ermenegildo 2008 Die diachronische Syntax des Zimbrischen. Tübingen: Narr. Bidese, Ermenegildo & Alessandra Tomaselli 2018 Developing pro-drop: The case of Cimbrian: In Federica Cognola & Jan Casalicchio (Hrsg.), Null Subjects in Generative Grammar, 52–69. Oxford: Oxford University Press.
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Stefan Rabanus, Verona (Italien) Ermenegildo Bidese, Trient (Italien) Silvia Dal Negro, Bozen (Italien)
43. Deutsch als Minderheitensprache in Osteuropa
43. Deutsch als Minderheitensprache in Osteuropa 1. Kurzer historischer Abriss 2. Pluriglossie und Sprachwechsel 3. Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet
4. Sprachpolitische Aspekte 5. Literatur
1. Kurzer historischer Abriss 1.1. Die Ausgangslage Bei der deutschen Besiedlung im Osten lassen sich grob zwei Siedlungswellen unterscheiden: Die frühe Besiedlung im Mittelalter und die Besiedlung im 18. und 19. Jahrhundert. Die erste Siedlungswelle begann im 10. Jahrhundert und dauerte bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Die Wanderbewegungen gingen dabei in die Gebiete von Böhmen, Mähren, Schlesien, Ostpommern und Ostpreußen, die heute auf den Staatsgebieten von Tschechien, der Slowakei und Polen liegen, sowie nach Siebenbürgen und die Zips, Teile des heutigen Rumäniens. Außerdem entstanden sog. hospes-Siedlungen in Ungarn, die heute zum Großteil der Slowakei angehören. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den Siedlungsgebieten, die direkt an das deutsche Sprachgebiet angrenzten und in denen sich autochthone deutsche Mundarten (wie Böhmisch, Schlesisch, Ostpommersch etc.) ausbildeten, und den Gebieten, die isoliert vom Mutterland sog. „Sprachinseln“ bildeten. In den letzteren Gebieten entstanden Ausgleichsdialekte (wie etwa das „Siebenbürger Sächsische“), die sich selbstständig weiterentwickelten. Im Baltikum kam es dagegen nicht zu einer flächenmäßig größeren deutschen Bauernansiedlung. Hier bildeten die Deutschen seit dem 12. Jahrhundert das Bürgertum in den Städten, Großgrundbesitzer und die adelige und kirchliche Oberschicht des Landes. Diese entwickelten keine eigenen Dialekte, sondern sprachen bis zum 17. Jahrhundert Niederdeutsch und danach Hochdeutsch (vgl. Riehl 2008, 2017; Protze 1995). Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert setzte eine zweite Siedlungswelle nach Osten ein, die sich von der ersten dadurch unterschied, dass sie das Ergebnis einer geplanten Siedlungspolitik war. So gab es etwa eine königlich-ungarische Siedlungsverordnung, das „Impopulationspatent“ (1689), das den Abschluss von Siedlungsverträgen regelte (vgl. Gottas 1995: 19). Im Rahmen der sog. „inneren Kolonisation“ innerhalb des Königreichs Österreich-Ungarn sind die drei wichtigsten Ansiedlungsgebiete das Banat, die Batschka und die „Schwäbische Türkei“, die heute auf den Gebieten von Rumänien, Serbien und Ungarn liegen. Die sog. „äußere Kolonisation“ wurde von der Zarin Katharina II. angeregt, die auch eine gezielte Siedlungspolitik verfolgte, und umfasst die Besiedlung von Gebieten in Russland und der heutigen Ukraine (v. a. das Wolgagebiet, Wolhynien, St. Petersburg und das Schwarzmeergebiet) (vgl. Riehl 2008, 2017). In vielen dieser Sprachinseln trafen Siedler aus unterschiedlichsten Regionen Deutschlands und Österreichs aufeinander, und es kam zu Ausgleichs- oder Mischmundarten (z. B. Donauschwäbisch in Ungarn oder Wolgadeutsch in Russland, vgl. Gehl 2000; Berend 2011). Die deutsche Ostsiedlung ist von einer sehr wechselvollen Geschichte geprägt, die sich auch auf den Erhalt der deutschen Sprache auswirkt. Dabei spielt vor allem die https://doi.org/10.1515/9783110261295-043
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
wechselnde politische Zugehörigkeit eine Rolle. Die heutige Sprachsituation ist allerdings auf die Auswirkungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen.
1.2. Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg Mit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Situation grundlegend: Alle deutschen Siedler im europäischen Teil der damaligen UdSSR wurden nach Kriegsausbruch 1941 nach Sibirien und Mittelasien deportiert, und nach Kriegsende wurden aus den Staatsgebieten von Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn über 90 % der dort siedelnden Deutschen zwangsausgesiedelt oder vertrieben. Dies hatte zum einen zur Konsequenz, dass sich in den nun frei werdenden Gebieten Sprecher der Mehrheitsgesellschaft ansiedelten, zum anderen, dass deutschsprachige Personen aus unterschiedlichen Dörfern in Kontakt kamen, wodurch es zu einer erneuten Dialektmischung kam (vgl. Blankenhorn 2008: 61). Eine weitere Folge war die Zunahme interethnischer Ehen, in denen die Kinder das Deutsche nur noch passiv beherrschten. D. h., der Sprachgebrauch verschiedener Dialekte und Sprachen verlagerte sich, und es kam zu Sprachwechselprozessen. Dies wurde dadurch verstärkt, dass die deutsche Sprache in Folge des Krieges nicht nur einen völligen Prestigeverlust erlitt, sondern teilweise sogar verboten war und der soziale Aufstieg der Minderheiten an die vollkommene Beherrschung der Landessprache gebunden war. Viele Deutschsprachige gingen daher auch in der familiären Kommunikation zur Landessprache über und gaben das Deutsche nicht mehr an die Kinder weiter. Auch wenn die primäre Sozialisation noch im Dialekt erfolgte, wurde durch die sekundäre Sozialisation die Landessprache zur dominanten Varietät. In vielen Gebieten wurde erst ab den 1970er Jahren Deutschunterricht für die Minderheiten angeboten, allerdings meist in Form von Unterricht in Deutsch als Fremdsprache (s. u.). Nach 1990 kam es allerdings zu einer Wiederbelebung des Deutschen mit verstärktem Unterricht und neugegründeten kulturellen Institutionen und Verbänden (s. u. Kap. 4.1.). Allerdings erfolgte parallel dazu eine massenhafte sog. „Spätaussiedlung“, im Zuge derer bereits in den 80er Jahren Deutsche aus Rumänien und in den Jahren 1990 bis heute etwa 4,5 Mio. Deutsche aus Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland (oder nach Österreich) übersiedelten. Diese Faktoren führen dazu, dass die deutsche Sprachgemeinschaft in vielen Gebieten in Auflösung begriffen ist. In Tab. 43.1 wird ein Überblick Tab. 43.1: Überblick über die Sprecherzahlen vor 1945 und heute Land
Vor 1945
Heute (Stand 2013)
Tschechien Polen Slowakei Ungarn Rumänien Serbien Kroatien Slowenien Ukraine Russ. Föderation
2.809.000 2.288.400 150.000 477.000 550.000 500.000 (Gesamtzahl Jugoslawien)
40.000 300.000 4.690 185.696 36.900 4.064 2.902 (2001) 1.628 (2002) 33.302 500.000
880.000 1.400.000
43. Deutsch als Minderheitensprache in Osteuropa
über den Stand vor 1945 und den heutigen Stand der Sprecherzahlen in den jeweiligen Ländern gegeben (gerundete Zahlen = geschätzte Zahlen des Auswärtigen Amtes, genaue Angaben nach Volkszählungen, vgl. Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten). Allerdings sind die Zahlen unter Vorbehalt zu verstehen: Die meisten Personen, die sich zur deutschen Minderheit bekennen, beherrschen die Sprache allenfalls passiv oder als Fremdsprache.
2. Pluriglossie und Sprachwechsel Aus den Ausführungen in Kap. 1. ist erkennbar, dass in den deutschen Siedlungen Osteuropas je nach Lage und Alter der Siedlung ganz unterschiedliche Konstellationen vorhanden sind: In einigen Regionen trafen schon in früheren Jahrhunderten verschiedene Sprachpaarungen aufeinander. In vielen Gebieten der ehemaligen österreich-ungarischen Monarchie ist neben der Siedlersprache Deutsch und der jeweiligen Landessprache auch das Ungarische stark vertreten (etwa in der heutigen Slowakei, Rumänien und der Westukraine). Hinzu kommt, dass in manchen Regionen auch ein Varietätenspektrum innerhalb dieser Sprachen besteht, das von Basisdialekt über Regiolekt bis hin zur Standardsprache reichen kann. Dadurch entsteht bisweilen eine komplexe pluriglossische Situation, die auch aufgrund der historischen Veränderungen in den einzelnen Generationen unterschiedlich ist und dabei Sprachwechselprozesse zu beobachten sind. In einem Anfang der 2000er Jahre durchgeführten Forschungsprojekt (vgl. Eichinger, Plewnia & Riehl 2008) wurden in Bezug auf diese Sprachwechselprozesse vier Generationen unterschieden: Generation I umfasst die Vorkriegsgeneration, d. h. vor 1930 Geborene, die auch noch die deutschsprachige Schule besuchen konnten. Als Generation II folgt die Kriegsgeneration mit den Geburtsjahren 1930−1950, eine Generation, die das Deutsche als Standardsprache nicht mehr erwerben konnte, aber in der Regel den Dialekt von den Eltern gelernt hat. Die zwischen 1950 bis 1975 Geborenen bilden Generation III, eine Generation, die häufig auch als die „stumme Generation“ bezeichnet wird, weil viele Sprecher aufgrund der Repressalien gegen die Minderheit kein Deutsch mehr gelernt haben und daher meist nur noch passive Kompetenzen haben. Generation IV bilden schließlich die Personen, die nach 1975 geborenen wurden und damit die Möglichkeit hatten, von der Wiederbelebung der deutschen Sprache nach 1990 (in Schulen, Universitäten oder bei Reisen und Aufenthalten in deutschsprachigen Ländern) zu profitieren. Im Folgenden sollen nun die pluriglossische Situation und die Sprachwechselprozesse anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es sich immer nur um jeweils eine bestimmte Region in den jeweiligen Ländern handelt, denn durch die unterschiedlichen Besiedlungswellen und ständig wechselnden Zugehörigkeiten kann man nicht von einer einheitlichen Situation in einem bestimmten Staatsgebiet (aus heutiger Sicht) ausgehen. Exemplarisch werden hier Siebenbürgen (Rumänien), Oberschlesien (Polen), die Schwäbische Türkei (Ungarn) und Transkarpatien (Ukraine) angeführt, die sich jeweils durch unterschiedliche Geschichte, politische Situation und eine unterschiedliche Sprachkonstellation in Bezug auf das Dialekt-Standard-Kontinuum auszeichnen.
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
2.1. Siebenbürgen (Rumänien) Siebenbürgen gehört mit zu den ältesten Sprachinseln in Osteuropa. Die deutsche Besiedlung reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück. Das Gebiet gehörte lange Zeit zum Königreich Ungarn, verfügte aber über eine eigene Verwaltung und galt als sog. „Nation“ unter gewählten Richtern („Königsrichtern“) und einem vom König ernannten Grafen („Sachsengrafen“). 1542 gelangte das Fürstentum Siebenbürgen unter osmanische Herrschaft und war ab 1691 Teil des österreichisch-ungarischen Kaiserreiches. Seit 1918 ist Siebenbürgen ein Teil von Rumänien. Der Erhalt der deutschen Sprache über eine so lange Zeit ist vor allem zwei Umständen geschuldet: Die Siebenbürger Sachsen besaßen bis ins späte 19. Jahrhundert (wenn auch mit zunehmenden Einschränkungen) ihr Recht auf Selbstverwaltung und hatten stets eine Verbindung zum deutschsprachigen Raum, die sich etwa auch darin äußerte, dass zahlreiche siebenbürgisch-sächsische Studenten an europäischen Universitäten studierten, ein Großteil in Wien (vgl. König 1996). Die Selbstverwaltung begünstigte auch die kirchliche und kulturelle Entwicklung: Mit dem Übergang zur evangelischen Konfession (1542−1550) entstand eine eigene deutschsprachige Volkskirche und ein eigenes konfessionelles (und daher deutschsprachiges) Schulwesen (vgl. Bottesch 2008: 334). Daneben entwickelte sich auch eine eigene literarische Tradition (vgl. Dingeldein 2006: 59). Der in Siebenbürgen gesprochene Basisdialekt, das sog. „Siebenbürger Sächsische“ ist eine Ausgleichsmundart, die im Wesentlichen westmitteldeutsche Züge (aus dem Ripuarischen und Moselfränkischen) aufweist. Allerdings ist im Bereich des Vokalismus eine sehr hohe Varianz zwischen den einzelnen Ortsdialekten zu verzeichnen, und im Wortschatz gibt es eine Reihe von Elementen aus anderen Gegenden des deutschen Sprachraums (vgl. Rein 1999; Bottesch 2008: 353). Neben dem Siebenbürger Sächsischen bestehen noch einige Dialektinseln im Raum Großpold, in denen das sog. „Landlerische“, ein bairisch-österreichischer Dialekt gesprochen wird (vgl. Bottesch 2008: 355). Durch das erwähnte durchgängige deutsche Schulsystem hat sich eine Standardvariante des Deutschen in Rumänien herausgebildet, die sich einerseits an das österreichische Deutsch anlehnt, andererseits aber auch einige Übernahmen aus den Dialekten oder aus dem Rumänischen zu verzeichnen hat. Charakteristisch ist hier im lautlichen Bereich das markant vibrantische alveolare /r/, das selbst im Wort- und Silbenauslaut deutlich artikuliert wird. In offenen Vor- und Endsilben wird statt /ə/ ein offenes /ɛ/ artikuliert. Sprecher der älteren Generation zeigen auch noch viele Erscheinungsformen der Entrundung (vgl. Bottesch 2008: 359). Im Bereich der Lexik sind neben Entlehnungen aus dem Rumänischen (s. u.) Regionalismen wie Aufboden ‘Dachboden’, Hattert ‘Feldflur’, Schmutzkorb ‘Mülleimer’ oder obschon ‘obwohl, obgleich’ zu finden (vgl. Scheuringer 2012: 58). Der deutschen Standardsprache steht das Standardrumänische gegenüber, das in den Medien, in Schule und Verwaltung und in der Alltagssprache Verwendung findet. Die Sprachkompetenzen in den jeweiligen Sprachen und Varietäten sind in Tab. 43.2 dargestellt. Grundsätzlich handelt es sich hier allerdings um eine vereinfachte Darstellung, die den größten Teil der Sprecher abdeckt. Individuelle Sprecherbiographien können natürlich davon abweichen. Wie aus der Tab. 43.2 ersichtlich, wird in den drei ältesten Generationen ein deutscher Dialekt gesprochen, in der Regel das Siebenbürgisch-Sächsische (in einigen Dörfern auch ein bairisch-österreichischer). In der Regel verfügt die vierte Generation nur noch über passive Kompetenzen in diesem Dialekt. Als gesprochene Standardsprache fungiert
43. Deutsch als Minderheitensprache in Osteuropa
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Tab. 43.2: Veränderungen im Sprachgebrauch in Siebenbürgen (nach Generationen) Generation I * vor 1930
Generation II * 1930−1950
Generation III * 1950−1975
Generation IV * nach 1975
Basisdialekt
Ortsmundart
Ortsmundart
Ortsmundart
(passive Kompetenz)
Regionaldialekt
Siebenbürger Sächsisch
Siebenbürger Sächsisch
Siebenbürger Sächsisch
(Siebenbürger Sächsisch passiv)
Gesprochener Standard
Regionaldeutsch (Ungarisch)
Regionaldeutsch (Ungarisch)
Regionaldeutsch
Regionaldeutsch
Geschriebener Standard
Standarddeutsch (Rumänisch)
Standarddeutsch Rumänisch
Standarddeutsch Rumänisch
Standarddeutsch Rumänisch
unter den Angehörigen der ersten beiden Generationen ein Regionaldeutsch, d. h. eine von Regionalismen und einigen Sprachkontaktphänomenen geprägte Umgangssprache, die die gesprochene distanzsprachliche Varietät darstellt, sowie eventuell das Ungarische. Die dritte und vierte Generation bedient sich vor allem des Regionaldeutschen. Bezüglich der schriftlichen Standardsprache lässt sich feststellen, dass in allen vier Generationen das Standarddeutsche und das Rumänische Verwendung finden, in der ersten Generation jedoch überwiegend Deutsch. Es zeigt sich also, dass die Tatsache, dass das Deutsche weiter als Schulsprache fungiert, eine erhebliche Auswirkung auf den Erhalt des Deutschen als Standardsprache hat. Gründe für die Aufgabe des Dialekts in der vierten Generation sind eher darin zu sehen, dass die Eltern den Dialekt nicht mehr an die Kinder weitergeben, weil sie möchten, dass diese perfekt bilingual aufwachsen (mit Deutsch und Rumänisch). Damit wird die komplexe polyglossische Situation in der jüngeren Generation reduziert (vgl. Riehl 2017).
2.2. Oberschlesien (Polen) Das deutsch besiedelte Gebiet in Oberschlesien (Wojewodschaft Śląsk/Schlesien und Wojewodschaft Opole/Oppeln) zählt wie Siebenbürgen zur frühen Siedlungswelle und wurde in seinem westlichen Teil bereits im 13. Jahrhundert besiedelt, der östliche Teil wurde allerdings von der mittelalterlichen deutschen Ansiedlung nicht in gleichem Maße erfasst (Lasatowicz & Weger 2008: 147). Das Gebiet zeichnet sich durch eine sehr wechselhafte staatliche Zugehörigkeit aus: anfangs im Besitz polnischer Herzöge, 1335−1526 unter böhmischer Herrschaft, dann Teil des Habsburger Reiches und ab 1740 Teil Preußens. Oberschlesien blieb auch nach 1921 aufgrund der Volksabstimmung noch bis zum Kriegsende Teil des Deutschen Reiches, was sich auch auf die Sprachsituation der ältesten Generation auswirkt. Ähnlich wie in Siebenbürgen gibt es in Oberschlesien einen regionalen Standard, der von einigen phonetischen und morphologischen Besonderheiten und auch von Einflüssen des Polnischen geprägt ist: So findet man auch hier Entrundung von [ø] und [y] und Kürzung von Langvokalen. Prosodische Merkmale sind anekdotisch belegt (vgl. Lassatowicz & Weger 2008: 160), aber nicht empirisch nachgewiesen.
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt Tab. 43.3: Veränderung in der Sprachkompetenz in Oberschlesien (nach Generationen) Generation I * vor 1930
Generation II * 1930−1950
Generation III * 1950−1975
Generation IV * nach 1975
Basisdialekt
Oberschlesischdeutsche Ma.
(Oberschlesischdeutsche Ma.)
Regionaldialekt
Schlonsakisch
Schlonsakisch
Schlonsakisch
Schlonsakisch
Gesprochener Standard
Regionaldeutsch (Polnisch)
Regionaldeutsch Polnisch
(Regionaldeutsch) Polnisch
Polnisch
Geschriebener Standard
Standarddeutsch (Polnisch)
Polnisch
Polnisch
Deutsch als Fremdsprache; Polnisch
Die oberschlesische Mundart ist eine eigene autochthone Mundart, die aufgrund der Zugehörigkeit des Gebiets zum Deutschen Reich Ende des 19. Jahrhunderts im Sprachatlas des Deutschen Reichs als solche verzeichnet ist. Die Mundart ist dokumentiert im Schlesischen Sprachatlas, der von Günther Bellmann auf der Grundlage der Wenkerbögen, Tonbandaufnahmen mit Vertriebenen, die zwischen 1962 und 1965 erhoben wurden, und einer Fragebogenerhebung in den Jahren 1963−1964 herausgegeben wurde (vgl. Bellmann 1967 sowie den Überblickstext auf Regionalsprache.de [REDE]). Das Oberschlesische zählt zu den ostmitteldeutschen Mundarten und zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Zusammenfall von ā und ō (schōf ‘Schaf ’) sowie ō und ū (grūs ‘groß’). Weitere Eigenheiten sind die Bewahrung der Geminaten (fol-la ‘fallen’, aim top-pe ‘einem Topf ’). Vom benachbarten Obersächsischen und dem Nordwestböhmischen unterscheidet sich das Schlesische durch die Bewahrung des Stimmtones bei Plosiven und Frikativen (vgl. Haussdorf 1954; Bellmann 1967). Interessanterweise wird die ursprüngliche Mundart in der ältesten Generation kaum mehr gesprochen. Vor allem in den Städten war man ähnlich wie in Niederschlesien schon früh zum Standarddeutschen übergegangen, sodass die gebräuchlichere Form eine standardnahe Varietät war und auch bei einer Reihe von Sprechern die einzige deutsche Varietät ist, die sie heute noch sprechen. Von Seiten der Kontaktsprache stehen dem deutschen Diasystem ebenfalls zwei Varietäten des Polnischen gegenüber. Neben der polnischen Standardsprache, die als gesprochene Variante meist nur von jüngeren Sprechern verwendet wird, wird das sog. „Schlonsakische“ (poln. po ślónsku, dt. auch „Wasserpolnisch“ genannt) gesprochen. Dabei handelt es sich um eine Kontaktvarietät, die vor allem im Lexikon eine Vielzahl von Germanismen (je nach Basismundart 2 %−10 %) sowie einige tschechische Wörter enthält (vgl. Kamusella 2013). Wie in Tab. 43.3 dargestellt, zeigt sich hier eine völlig andere Situation als in Siebenbürgen: In Oberschlesien hat der polnisch basierte Regionaldialekt, das Schlonsakische, eine stark identitätsstiftende Funktion und wird daher auch in der jungen Generation der deutschstämmigen Schlesier immer noch verwendet. Wie bereits erwähnt, weist diese Varietät starke Einflüsse des Deutschen (v. a. im Wortschatz) auf. Der deutsche oberschlesische Dialekt wird allenfalls von den Sprechern in der zweiten Generation noch verwendet, es überwiegt aber hier der Gebrauch des Regionaldeutschen (s. o. Kap. 2.1.).
43. Deutsch als Minderheitensprache in Osteuropa
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Als geschriebene Sprache beherrscht auch hier nur die älteste Generation noch das Standarddeutsche, die aufgrund der Zugehörigkeit der Region zum Deutschen Reich die deutsche Schule besuchen konnte (vgl. Kneip 1999: 250). Die jüngeren Generationen schreiben auf Polnisch, es sei denn, sie haben Deutsch als Fremdsprache gelernt.
2.3. Schwäbische Türkei (südöstliches Transdanubien, Ungarn) In der sog. „Schwäbischen Türkei“, einem Gebiet im Süden Ungarns mit dem Zentrum Pécs/Fünfkirchen (auch Branau genannt, nach der Verwaltungseinheit), befindet sich heute die größte Gruppe der Ungarndeutschen. Im Gegensatz zu den ersten beiden beschriebenen Gebieten wurde die Schwäbische Türkei erst im Zuge der zweiten Siedlungswelle im 18. Jahrhundert besiedelt. Die Siedler stammten vor allem aus südlichen und westlichen Teilen Deutschlands, überwiegend aus Lothringen, aus dem Elsass, aus der Pfalz, Hessen, Schwaben und aus dem Schwarzwald. Heute gliedert sich das Gebiet in einen hessischen und einen fuldischen Binnenraum. Der sog. „fuldische Sprachraum“ (benannt nach den Stift-Fuldaern) zeichnet sich durch eine starke r-Vokalisierung (vgl. Wuest ‘Wurst’, Stien ‘Stirn’) und durch den Erhalt des ge-Präfixes im Infinitiv nach Modalverben (ich kon getrenk ‘ich kann trinken’) aus (vgl. Wild 2003). Einem Ausgleich der Mundarten auf dem Lande stand die prestigeträchtige bairisch-österreichisch geprägte Umgangssprache der Städte gegenüber. Dennoch entwickelte sich neben den sehr unterschiedlichen Ortsdialekten auch ein Regionaldialekt als Ausgleichsvarietät zwischen schwäbischen, rheinfränkischen und hessischen Mundarten, das sog. „Donauschwäbische“. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Standarddeutsch österreichischer Prägung in den Schulen gelehrt und von der Intelligenzschicht auch verwendet (vgl. Knipf-Komlósi 2008: 288), aber es entwickelte sich keine eigene Standardsprache wie etwa in Rumänien. Als Kontaktsprache steht diesem Sprachengefüge des Deutschen die ungarische Standardsprache gegenüber, die auch über ein hohes Prestige verfügt. Die Sprachkompetenzen in den verschiedenen Generationen stellen sich wie folgt dar (vgl. Tab. 43.4):
Tab. 43.4: Veränderung in der Sprachkompetenz in der Schwäbischen Türkei (nach Generationen) Generation I * vor 1930
Generation II * 1930−1950
Generation III * 1950−1975
Ortsmundart
Ortsmundart (teilweise passiv)
(Ortsmundart, passive Kompetenz)
Regionaldialekt Donauschwäbisch
Donauschwäbisch (teilweise passiv)
(Donauschwäbisch, passive Kompetenz)
Gesprochener Standard
„nobles Deutsch“ (Ungarisch)
Ungarisch
Ungarisch; (Deutsch als Fremdsprache)
Ungarisch; (Deutsch als Fremdsprache)
Geschriebener Standard
Standarddeutsch (österreich.)
Ungarisch
Ungarisch
Standarddeutsch (Deutsch als Fremdsprache); Ungarisch
Basisdialekt
Generation IV * nach 1975
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Ähnlich wie in Oberschlesien wird die Ortsmundart auch in Ungarn nur noch von den ersten beiden Generationen beherrscht, wobei auch hier bereits in der zweiten Generation teilweise nur passive Kenntnisse zu verzeichnen sind (vgl. Knipf-Komlósi 2011: 50). Anders als in Oberschlesien wurde in Ungarn bereits in den 1960er und 1970er Jahren ein Sprachunterricht für die Minderheit zunächst außerhalb des regulären Curriculums, dann im regulären Unterricht angeboten. Diejenigen in der dritten Generation, die über gute Deutschkompetenzen verfügen, haben diese in der Regel durch einen seit den 1980er Jahren effektiven Minderheitenunterricht und durch Auslandsaufenthalte erworben (vgl. Knipf-Komlósi 2008: 291). Auch viele Sprecher der vierten Generation konnten bereits eine der zahlreichen Nationalitätenschulen besuchen und sprechen Deutsch als Fremdsprache teilweise mit sehr hoher Kompetenz. Dennoch funktioniert die Kommunikation in der Familie und mit den Großeltern auf Ungarisch, da diese die deutsche Standardsprache in der Nähekommunikation mit den Enkeln nicht verwenden, weil es sich dabei um eine Distanzsprache handelt. In jüngster Zeit kommt es allerdings durch Initiativen der ungarndeutschen Verbände und Privatinitiativen auch zu einigen Wiederbelebungsversuchen der Dialekte in den jüngsten Generationen (Generation IV und V) (vgl. z. B. Jäger-Manz 2007: 276−280). Als Schriftsprache beherrscht nur noch die älteste Generation das (österreichische) Standarddeutsch, die zweite und dritte Generation verwenden Ungarisch, die jüngeren Generationen beherrschen teilweise auch Deutsch als Fremdsprache in der schriftlichen Form aus dem Schul- oder universitären Kontext.
2.4. Transkarpatien Die heute noch bestehenden deutschen Siedlungen in der Region Transkarpatien im Westen der Ukraine (200 km südlich von Lviv) gehen auf den Beginn des 18. Jahrhunderts zurück und zeichnen sich dadurch aus, dass über die Generationen verteilt eine sehr heterogene Pluriglossie herrscht. Diese ist einerseits aus der Tatsache, dass es sich bei Transkarpatien um einen multiethnischen Raum handelt, und andererseits aus der bewegten Geschichte im 20. Jahrhundert zu erklären: Bis 1918 gehörte das Gebiet zur österreichisch-ungarischen Monarchie, im Anschluss bis 1938 zur Tschechoslowakischen Republik. Während des Zweiten Weltkrieges kam Transkarpatien kurzzeitig zu Ungarn und wurde im Anschluss Teil der Sowjetrepublik Ukraine der UdSSR. Seit 1991 gehört Transkarpatien zur Republik Ukraine. Durch diese historischen Veränderungen kam die deutsche Minderheit mit vielen verschiedenen Kontaktsprachen in Berührung. Die in der Region gesprochenen Dialekte sind mittelbairischen (salzburgischen) und oberostfränkischen Ursprungs und werden mit dem Sammelnamen „Schwobisch“ bezeichnet. Sie sind aber ebenfalls Mischmundarten, die lautliche Besonderheiten aus den mittelbairischen und fränkischen Ausgangsmundarten zeigen (oberostfränk. Monophthongierung von mhd. ei zu ā [hās ‘heiß’, glāne ‘kleine’], bair. Diphthongierung von ō zu ǭų [grǭųß ‘groß’, rǭųd ‘rot’], e-haltiger Sekundärumlaut im Gegensatz zum Bairischen [šwęr ‘schwer’, lęr ‘leer’]). Aus dem Bairischen dominieren dagegen die hochfrequenten Dualformen es und enk und die frikativische Endung der 2. Person Plural s (vgl. Wildfeuer 2013: 117−118). Daneben weisen die Mundarten eine Reihe von Lehngut aus dem Ungarischen, Ukrainischen (bzw. Russischen), Rumänischen und Slowakischen auf (vgl. Melika 2002; Hvozdyak 2008: 109).
43. Deutsch als Minderheitensprache in Osteuropa
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Im Gegensatz zu Siebenbürgen und Oberschlesien gibt es auch hier keinen eigenen regionalen Standard. Die bei Hvozdyak (2008: 103) beschriebenen Interferenzen in schriftlichen Dokumenten der Sprachinselsprecher sind idiosynkratischer Natur, ebenso die bei Riehl (2006) dokumentierte gesprochene „distanzsprachliche Varietät“ einer Sprecherin der ältesten Generation. Diese zeigt typische Transfererscheinungen aus dem dialektalen Substrat im Bereich der Phonetik (Entrundung, Spirantisierung von /g/ im Auslaut, Diphthongierung von /ō/ zu /ou/ und /ē/ zu /ei/) und Morphologie (Abbau der Kasusflexion) sowie Einflüsse der Kontaktsprachen analog zu den Basisdialekten (vgl. Riehl 2006: 194−195). Ein Ausgleichsdialekt fehlt ebenfalls, dieser wird durch das Ruthenische (s. u.) ersetzt. Den deutschen Varietäten stehen nun einige weitere Sprachen und Varietäten gegenüber: Ukrainisch, Russisch, Ungarisch und Slowakisch. Für das Diasystem des Ukrainischen stehen zwei Varietäten zur Verfügung: Standard-Ukrainisch und Ruthenisch (bzw. Russinisch), ein ukrainischer Regionaldialekt, der auch von der deutschen Minderheit im Gesprochenen als Ausgleichsdialekt verwendet wird. Die Sprachkompetenzen im Varietätengefüge verteilen sich nun in Transkarpatien wie folgt: Tab. 43.5: Veränderung im Sprachgebrauch in Transkarpatien (nach Generationen) Generation I * vor 1930
Generation II * 1930−1950
Generation III * 1950−1975
Generation IV * nach 1975
Basisdialekt
deutscher Dialekt Bair./Fränk.
deutscher Dialekt Bair./Fränk.
deutscher Dialekt Bair./Fränk.
(passive Kompetenz)
Regionaldialekt/ -sprache
Ruthenisch
Ruthenisch
Ruthenisch
Ruthenisch
Gesprochener Standard
Regionaldeutsch Ungarisch (Slowakisch)
Regionaldeutsch Mischvarietät/ (Ungarisch)
Ukrainisch (Ungarisch)
Ukrainisch
Geschriebener Standard
Standarddeutsch (Ukrainisch)
Ukrainisch Russisch
Ukrainisch Russisch
Deutsch als Fremdsprache; Ukrainisch
Wie Tab. 43.5 zeigt, sprechen die ersten drei Generationen als Basisdialekt einen bairischen oder fränkischen Dialekt, in welchem die vierte Generation jedoch nur noch über passive Kenntnisse verfügt. Als Regionalsprache bzw. -dialekt wird von allen vier Generationen das Ruthenische bzw. Russinische gesprochen. Große Unterschiede zwischen den Generationen zeigen sich bezüglich der gesprochenen Standardsprache. Während die erste Generation Regionaldeutsch, Ungarisch und eventuell noch Slowakisch spricht, verwendet die nachfolgende zweite Generation eine regionaldeutsche Mischvarietät und eventuell noch das Ungarische. Die dritte Generation gebraucht (neben einigen Fällen mit Ungarisch) vor allem Ukrainisch, welches als einzige gesprochene Standardsprache der vierten Generation fungiert. Im schriftlichen Medium wurde und wird von der ersten Generation der Siedler noch das Standarddeutsche und in Ausnahmefällen das Ukrainische verwendet. Schon die zweite Generation gebraucht als Schriftsprache nur noch das Ukrainische und Russische, ebenso wie die dritte Generation. In der vierten Generation
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
wird vor allem Ukrainisch als schriftliche Standardsprache verwendet, jedoch besteht für diese Gruppe die Möglichkeit, die deutsche Standardsprache in der Schule als Fremdsprache zu erwerben.
3. Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet 3.1. Die einzelnen Sprachformen des Deutschen: Sprachlagengefüge Wie aus Kap. 2. ersichtlich wurde, weisen die beschriebenen Gebiete eine sehr unterschiedliche Art von Sprachwechsel- oder Spracherhaltsprozessen auf. Hierfür können unterschiedliche Gründe angeführt werden. Zunächst nimmt Einfluss, dass die deutsche Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Staaten (bis auf Rumänien) nicht mehr institutionalisiert war und deswegen die deutsche Standardsprache als Dachsprache des Dialekts verloren ging. Hier bildet Oberschlesien insofern eine Ausnahme, weil sich hier schon sehr früh ein regionaler Standard als gesprochene Verkehrssprache durchgesetzt hatte. Daher beherrschen dort fast alle Sprecher ab der zweiten Generation eine standardnahe Varietät. Dennoch unterscheidet sich diese Minderheit von der in Siebenbürgen, da dort das Deutsche in Schule, Kirche, Medien und Vereinen immer institutionalisiert war. Weiter spielt eine Rolle, dass in den meisten Regionen die Träger der deutschen Standardsprache (Priester, Lehrer und Journalisten) abwanderten, während sie gerade in Siebenbürgen blieben. Auch der Kontakt zum deutschsprachigen Raum ist sehr unterschiedlich: er bestand in den Grenzgebieten bis zur Errichtung des Eisernen Vorhangs und ist seit dessen Fall wieder sehr aktiv und war auch in Siebenbürgen über die Jahrhunderte immer vorhanden. Insgesamt führten diese unterschiedlichen Voraussetzungen dazu, dass in den meisten Gebieten, in denen noch deutschsprachige Minderheiten leben, nur noch ein deutscher Dialekt als Reliktvarietät erhalten ist. Lediglich in Rumänien ist noch eine hohe Kompetenz im Deutschen als L1 auch in der jüngeren Generation vorhanden, was auf das deutsche Schulsystem und den Erhalt einer Standardvarietät zurückzuführen ist. In Ungarn entsteht im Gegensatz dazu eine hohe Zweitsprachkompetenz im Deutschen durch das System der Nationalitätenschulen (s. dazu unten Kap. 4.2.). Im Folgenden soll nun ein Blick auf Sprachveränderungsprozesse im Deutsch der Minderheiten geworfen werden, und zwar auf Transfer und Sprachvereinfachung.
3.2. Sprachkontakterscheinungen Wie in allen Sprachkontaktgebieten ist bei den deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa ein Transfer aus den Umgebungssprachen festzustellen. Am häufigsten ist auch hier die Übernahme aus den Kontaktsprachen (vor allem der Landessprache) auf der Ebene des Wortschatzes. Dieser sog. „lexikalische Transfer“ geschieht dabei meist bei Wörtern aus dem Gebrauchswortschatz, bei Sachmodernismen (Wörtern für Dinge aus der neuen Lebenswelt) und bei technischen Neuerungen, die es zur Zeit der Auswanderung nicht gab: z. B. ukrainischdt. Awtobus, Ekonomist, ungarndt. Községháza ‘Gemeindehaus’, tschechiendt. Statek ‘Staatsgut’, rumäniendt. Cerere ‘Antrag’. Allen diesen Sprachen sind außerdem Bezeichnungen der sozialistischen Arbeitswelt gemeinsam: Bri-
43. Deutsch als Minderheitensprache in Osteuropa
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gadier, Kollektiv, Kolchos (Diese und die folgenden Beispiele stammen, wenn nicht anders erwähnt, aus dem Korpus des Projektes Form und Gebrauch des Deutschen in Mittel- und Osteuropa, vgl. Eichinger, Plewnia & Riehl 2008). Zwar kommen diese lexikalischen Übernahmen in allen Sprachgemeinschaften vor, es gibt dennoch große Unterschiede je nach Intensität des Sprachkontakts in der Häufigkeit der Übernahmen (sowohl qualitativ als auch quantitativ), vgl.: (1)
und sind dann ins Gebirge und haben dort gewohnt in dieser stinna, wie man sagt, diese Schafhütten. (Bsp. Rumänien)
(2)
Ich hab gearbeit in der Ziegelsawod [‘Ziegelfabrik’], alle drei Smena [‘Schichten’]. Und dann die Kinder waren in dem Sadik [‘Kindergarten’], in der Jasli [‘Krippe’]. Wo sollt die sprechen? (Bsp. Russland)
(3)
Unser unoka is an dr egyetem in Pest, sie werd közgazdász. [‘Unsere Enkelin ist an der Universität in Budapest, sie wird Ökonomin.’] (Bsp. Ungarn)
Beispiel (1), das aus Siebenbürgen stammt, ist typisch für die deutschen Minderheiten in Rumänien und zeigt, dass die Sprecher Wörter aus der Umgebungssprache nicht nur selten verwenden, sondern diese häufig auch − besonders im monolingualen Sprachmodus (vgl. Grosjean 2008: 40) − übersetzen. Die Beispiele (2) und (3) aus Russland bzw. Ungarn weisen dagegen eine hohe Zahl von lexikalischen Übernahmen aus den Umgebungssprachen auf. Diese Häufigkeit findet sich besonders bei Sprechern der jüngeren Generationen. Wie in Kontaktkonstellationen üblich (vgl. Matras 1998, 2009; Heine 2016), sticht auch in der deutschen Sprache in Osteuropa die Übernahme von Diskursmarkern aus den Umgebungssprachen ins Auge. Dabei werden vor allem einsilbige Partikeln transferiert, die oft die Funktion der Häsitationsmarkierung haben und Progression oder Endmarkierung anzeigen, wie in den folgenden Beispielen: (4)
Vot, wie mir dort hinkame, warn noch alte Leit. (Bsp. Russland, vot ‘also’)
(5)
Hát, wenn sie wechseln, aber nicht alle wechseln. (Bsp. Ungarn, hát, ‘also’)
(6)
und mir konntn dann nicht mehr weg, no - sind ma da gebliebn (Bsp. Tschechien, no ‘ja, also’)
(7)
Lustig, lustig waren die Keechinnen, tak. (Bsp. Ukraine, tak ‘ja, genau’)
Nach Matras (1998, 2009) haben diese Diskursmarker (in Matrasʼ Terminologie utterance modifiers) eine gestenhafte Funktion und werden daher schneller entlehnt als Partikeln mit einer lexikalischen Bedeutung wie etwa russ. konecno ‘natürlich’, tschech. jezesmaria ‘du liebe Güte’, ungar. szerintem ‘meiner Ansicht nach’. Diese Tatsache ist nun nicht allein durch die strukturellen Eigenschaften von Diskursmarkern erklärbar, sondern durch ihre jeweilige pragmatische Funktion. Während die gestenhaften Partikeltypen die Funktion der Dialogsteuerung übernehmen (Häsitationsmarkierung oder Progression bzw. Endmarkierung), haben die Partikeln mit einer lexikalischen Bedeutung eine bewertende Funktion. Im Extremfall kann es dazu kommen, dass Sprecher den Inhalt einer Äußerung in L1 darstellen, die Steuerung der Interaktion oder auch die
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Bewertung der Aussage dagegen in L2 vornehmen (vgl. Knipf-Komlósi 2011: 167; Riehl 2014: 27). Eine Reihe weiterer Entlehnungen befindet sich auf der Ebene der Semantik. Im Gegensatz zu den oben genannten Beispielen wird dabei kein fremdes Wortmaterial übernommen, sondern die Wörter bekommen eine zusätzliche Bedeutung: (8)
So wie auch Televisor: was übergeba die? Alles in Wind! (Bsp. Russland, russ. peredat' ‘übergeben, senden’)
(9)
Ich sag Russisch und sie überführt. (Bsp. Russland, russ. perevodit' ‘überführen, übersetzen’)
Neben den lexikalischen Übernahmen kommt es auch zum Transfer von Strukturen. Beispielsweise werden Reflexivkonstruktionen der Kontaktsprachen auf das Deutsche übertragen. Dabei treten häufig 1:1-Übersetzungen auf, vgl.: (10) Man kann sich die Worte nicht so schnell finden. (Bsp. Russland, russ. Ne najdeš' sebe tak bystro slov.) (11) der Vater hat sich mit dem Pfaffen begegnet (Bsp. Ukraine, ukrain. bat’ko zustrivs’a z popom) Im Bereich der Morphosyntax kommt es zur Generalisierung des generischen Reflexivpronomens sich in den Gebieten, die mit slawischen Sprachen in Kontakt stehen: (12) Du hast ja keine Zeit, zum lustig zu machen sich. (Bsp. Russland, statt: dich) (13) Ihr müsst sich schreiben gleich. (Bsp. Tschechien, statt: euch) Ein weiteres Beispiel ist die Bildung von Infinitivkonstruktionen ohne zu, analog zu den slawischen Sprachen: (14) Ich hab alles verstanden, aber ich hab mich sehr geschämt reden (Bsp. Tschechien) (15) […] da habe ich sie geladen zu uns kommen (Bsp. Ukraine) Die Übertragung von morphosyntaktischen Mustern ist ein typisches Phänomen bei mehrsprachigen Sprechern und entspricht der allgemein im Sprachkontakt festzustellenden Tendenz, dass Sprachen im Kontakt eine Wort-für-Wort-Übersetzbarkeit anstreben. Normalerweise sind diese Konstruktionen aber eine hybride Form: Die Sprecher verwenden einige Schlüsselmerkmale der Modellkonstruktion und übertragen diese auf das Deutsche. Matras (2009: 241−243) bezeichnet das als pivot matching. Hier bemerkt man, dass derartige Konstruktionen wesentlich häufiger in der zweiten oder dritten Generation auftreten.
3.3. Sprachvereinfachungsprozesse und Spracherosion Ein weiteres Phänomen, das häufig nur indirekt mit dem Einfluss der Umgebungssprache zu tun hat und eher auf den reduzierten Gebrauch der deutschen Sprache zurückzuführen
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ist, sind Sprachvereinfachungsprozesse (zur Diskussion vgl. Riehl 2015). Diese finden sich vor allem in der zweiten und dritten Generation der Sprecher. Diese Vereinfachungsprozesse betreffen zum einen den Bereich der Morphologie: Hier werden Formen vereinfacht oder der Formenreichtum reduziert. Zum anderen betrifft das den Bereich der Syntax. Dabei werden vor allem Varianten in der Wortstellung abgebaut. Beispielhaft für den Bereich der Morphologie ist der Abbau der Kasusmarkierung, besonders der Verlust der Dativmarkierung und ihr Ersatz durch Akkusativmarker: (16) Nur in die Kirche mit meine Kameradinnen (Bsp. Ukraine) (17) […] von die zwanzig Kilo noch Hälfte − dann waren mir bei die Bauern arbeitn (Bsp. Tschechien) (18) Mei Vadder hat auch viel gewusst von Regime, den Stalin un alles. (Bsp. Russland) Beim Abbau der Dativmarkierung ist die Reduktion besonders bei Nominalphrasen festzustellen: Der Abbau beginnt in der Regel in Präpositionalphrasen im Plural und im Femininum und dehnt sich allmählich auch auf Maskulina und Neutra aus. Dabei ist aber ein item-bezogener Gebrauch festzustellen: je frequenter die Konstruktion ist, desto zielsprachenkonformer ist sie (Bsp. in der Schule) (vgl. Riehl 2010; Rosenberg 2016). Bei den Personalpronomina dagegen ist der Abbau noch nicht soweit fortgeschritten, da diese resistenter gegen den Abbau sind als Substantive oder Artikel. Rosenberg (2003: 309) erklärt das damit, dass Pronomina als ganzheitlich lexikalisierte Formen (sog. full listed items) gespeichert sind, frequenter sind und oft belebte Referenten bezeichnen. Im Bereich der Syntax lässt sich ebenfalls ein Sprachvereinfachungsprozess beobachten, nämlich der Abbau der Satzklammer, vgl.: (19) […] die Kinder haben kaufen können Möbel. (Bsp. Ukraine) (20) keiner hatte gehabt nur ein Rad. (Bsp. Polen) Diese Form der Sprachvereinfachung ist allerdings wesentlich seltener als der Kasusabbau. Die Konstruktion scheint gegen Abbauprozesse relativ robust zu sein. Zahlenmäßig häufiger findet sich der Abbau der Verbendstellung in Nebensätzen, hier vor allem bei Temporalsätzen: (21) Wenn ich war noch klein, aber wenn sie war gekomm meine Großmutter […]. (Bsp. Ukraine) (22) und wenn ma sind in Geschäft kommen […]. (Bsp. Tschechien) (23) Wie wir kommen nach Kasachstan, war Schnee. (Bsp. Russland) Durch den Abbau der Verbendstellung reduzieren bilinguale Sprecher syntaktische Komplexität: Die Speicherung von Varianten wird reduziert, indem man in der Wortstellung nicht mehr zwischen Haupt- und Nebensatz unterscheiden muss. Gleichzeitig besteht aber hier viel stärker als in der Morphologie die Möglichkeit den anderen Code zu kopieren, sodass möglichst viele syntaktische Muster in einem gemeinsamen Speicher
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angesiedelt werden können. Damit erleichtern sich bilinguale Sprecher das Handhaben zweier Sprachsysteme (vgl. Riehl 2014: 119).
3.4. Code-Switching und Sprachmischung Ein typisches Merkmal mehrsprachiger Sprecher ist es, dass sie in Gesprächen untereinander innerhalb des Gesprächs und manchmal sogar innerhalb eines Satzes die Sprache wechseln (= Code-Switching). Darunter soll der Wechsel zwischen zwei (oder mehr) Sprachen oder Varietäten im Sinne von Alternation verstanden werden, während das Inserieren von einzelnen Wörtern (wie in Bsp. (1)−(3)) als Transfer bezeichnet wird (vgl. Riehl 2014: 35−41). Code-Switching in mehrsprachigen Gemeinschaften hat oft diskursstrategische Gründe und erzielt einen kommunikativen Effekt. Häufig wird diese Strategie angewandt, um ein wörtliches Zitat auf diese Weise zu markieren: (24) Ah, die verstehn des nich mehr uhm un die sagn: mit mondtál mama [‘was hast du gesagt, Oma?’] (Bsp. Ungarisch; aus Néhmet 2010: 119, Transkription leicht verändert) In diesem Fall handelt es sich um einen sog. „Kontextualisierungshinweis“ (contextualisation cue), d. h. ein Signal, das einen Wechsel des Gesprächskontextes ankündigt. Sprecher wechseln auch häufig die Sprache, wenn sie eine persönliche Einstellung oder Bewertung zum Ausdruck bringen wollen: (25) Schauen Sie, drei Mädchen, jak bulo zikawo! [ukrain. ‘Wie interessant war es doch!’] (Bsp. Ukraine) Dies ist dadurch erklärbar, dass verschiedene Ebenen der Kommunikation (Referenz, Bewertung, Steuerung der Interaktion) parallel nebeneinander verlaufen. Da Bewertungen auf einer anderen, metakommunikativen Ebene liegen, läuft diese im Sinne einer inner speech oft in der dominanten Sprache ab (vgl. oben die Erläuterungen zur Diskurssteuerung). Auch andere metakommunikative Äußerungen, etwa Kommentare zur Sprache, werden häufig durch Code-Switching in die andere Sprache zum Ausdruck gebracht. In folgendem Beispiel fällt der Sprecherin die richtige Perfektform von ziehen nicht ein und sie kommentiert dies auf Tschechisch: (26) Is Mama gestorben un mir sin dann in Kladruby, ted' neumim řìct česky [‘jetzt kann ich nicht auf Tschechisch (gemeint ist ‚Deutsch‘) sagen’] − ein/einz ziegen zogen (Bsp. Tschechien) Eine dieser Funktionen kommt besonders bei Sprechern von Sprachminderheiten vor, die eine unvollständige Kompetenz in ihrer Erstsprache erworben haben. Hier wechseln Sprecher in die andere Sprache, wenn sie Schwierigkeiten haben, das, was sie sagen möchten, in der Sprache der Interaktion auszudrücken:
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(27) KS: Wir haben die Fische - sortirovat' [= ‘sortieren’] wie? CR: sortiert. KS: in die Käste uflege alles. Gesaulzn haben mer immer. Der Winter habn mer zamoraživali i ukladyvali v jaščiki, letom solili i na nitki nanizyvali, vot ėto byla naša rabota. […] [‘zum Gefrieren gebracht und in die Kisten gelegt, im Sommer haben wir gepökelt und auf die Fäden aufgereiht, so das war unsere Arbeit’] (Bsp. Russlanddeutsch) Vor allem Sprecher der zweiten und dritten Generationen, die keine so hohe Kompetenz mehr im Deutschen haben, bedienen sich sehr häufig dieser Mischformen, die jüngeren Sprecher, die meist eine Kompetenz im Deutschen als Fremdsprache aufweisen, switchen dagegen eher weniger. Je nach Kompetenz kommen dann umgekehrte Formen vor, d. h. der Sprecher spricht überwiegend die Landessprache, inseriert aber deutsche Wörter und deutsche Phrasen. Damit entstehen verschiedene Formen von Mischvarietäten, die typisch für Sprachminderheiten sind (vgl. Knipf-Komlósi 2012; Riehl 2017).
4. Sprachpolitische Aspekte 4.1. Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen Auch die rechtliche Stellung ist in den unterschiedlichen Gebieten sehr verschieden. Allerdings ist die deutschsprachige Gruppe fast in allen Ländern Osteuropas als nationale Minderheit anerkannt. Je nach Rechten, die nationalen Minderheiten zugestanden werden, äußert sich dies dann in unterschiedlichen Ausprägungen und Sprachregelungen. So ist etwa in Polen in den Gemeinden mit mindestens 20 % deutscher Bevölkerung Deutsch als zweite Amtssprache anerkannt und die Ortsnamen werden in Deutsch angegeben. Ähnliches gilt auch für Rumänien und Ungarn. Alle deutschsprachigen Gruppen in den oben erwähnten Ländern (s. Tab. 43.1) sind durch verschiedene Verbände und meist einen Dachverband vertreten. Auch hier unterscheiden sich die Rumäniendeutschen von den übrigen deutschen Minderheiten in Mittelost- und Osteuropa. Das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR) ist die zentrale Selbstorganisation der Minderheit und wird nach dem rumänischen Parteiengesetz wie eine politische Partei behandelt. Dieses Sonderrecht garantiert dem DFDR auch einen Abgeordnetensitz im rumänischen Parlament. Auch der Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) hat einen Abgeordneten im polnischen Parlament (vgl. Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten). In Ungarn gibt es seit 2014 sog. „Nationalitätenfürsprecher“, die für die Belange von Minderheiten eintreten, und seit 2018 ist die Minderheit erstmals mit einem Abgeordneten im Parlament vertreten. Die jeweilige Sichtbarkeit und Anerkennung der Minderheitenvertretungen (etwa in Rumänien und Ungarn) führt auch dazu, dass die Minderheiten eine eigene Identität als Rumäniendeutsche oder Ungarndeutsche ausbilden, die auch die jüngeren Sprecher übernehmen (vgl. Huber 2015). Für die anderen Minderheitengebiete gilt das meistens eher eingeschränkt auf die Region bezogen, d. h. ihre Identität konstatiert sich als „Schlesier“, „in der Ukraine lebender Deutscher“ o. ä. (vgl. Riehl 2016).
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Neben den Minderheitenvertretungen gibt es in der Regel auch verschiedene Kulturverbände wie etwa den Verband Wiedergeburt in der Ukraine und in Russland (und Nachfolgestaaten der Sowjetunion). In Westsibirien wurden 1992 zwei Nationalrajons, Asowo im Bezirk Omsk und Halbstadt in der Altai-Region, gegründet, da zu der Zeit die deutschsprachige Bevölkerung dort eine Mehrheit bildete. Da in der Folgezeit sehr viele aussiedelten, sind heute nur noch etwa 10 % der Bevölkerung deutscher Herkunft (vgl. Rosenberg 2016). Wie bereits erwähnt, ist auch das Schulsystem in den jeweiligen Minderheiten unterschiedlich: In Rumänien existiert ein ausgebautes Netz an deutschsprachigen Schulen (im Schuljahr 1913/14: 61 allgemeinbildende Schulen mit deutschsprachigen Abteilungen und 21 Lyzeen mit deutschsprachigen Klassen mit insgesamt 22.800 Schülern), die inzwischen zu über 90 % von rumänischstämmigen Schülern besucht werden (vgl. Bottesch 2008: 347). Das hängt zum einen mit der langen Tradition des deutschsprachigen Schulwesens zusammen, das bereits seit 1850 auch für Angehörige nicht-deutscher Muttersprache offen war (vgl. König 1996), sowie dem Prestige der deutschen Sprachgruppe und den mit dem Deutschen verbundenen wirtschaftlichen Vorteilen. In den rumänischen Schulen wird Deutsch als erste oder zweite Fremdsprache gelehrt, es gibt landesweit etwa 50 Schulen, die auch Klassen mit bilingualem (CLIL) oder intensivem Deutschunterricht anbieten. Allerdings stellt hier ein großes Problem der Lehrermangel dar: Die schlechte Bezahlung und der niedrige soziale Status des Lehrerberufs führt dazu, dass die Absolventen der Germanistik sich eher für einen Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft entscheiden (vgl. Cosma & Koch 2014). In Ungarn gibt es seit 1982 sog. „Nationalitätenschulen“, entweder mit erweitertem Deutschunterricht (DaM bzw. DaN = 3−4 Wochenstunden) mit Nationalitätenkunde bzw. der Möglichkeit noch weitere Fächer auf Deutsch zu unterrichten (CLIL) oder bilingualem Unterricht, der paritätisch abläuft (d. h. 50 % der Wochenstunden auf Deutsch) (vgl. Müller 2010, 2013). Nach diesem Modell gibt es derzeit 40 Grund- und Mittelschulen und acht Nationalitätengymnasien und es wird auch eine Lehrerausbildung für Deutsch als Minderheitensprache an der ELTE Budapest und an der Universität Pécs angeboten. Auch in Ungarn verbinden sich mit dem Deutschen wirtschaftliche Vorteile. Deswegen werden die ungarndeutschen Minderheitenschulen auch von den Angehörigen der Mehrheitsnation oder anderer Minderheiten in Ungarn besucht. In Oberschlesien gibt es mittlerweile ebenfalls einige Schulen mit bilingualen Zügen. Im Schuljahr 2015/16 boten fünf Gymnasien, elf Grundschulen und sieben Kindergärten eine bilinguale Ausbildung an (vgl. Internetportal der Deutschen in Polen). In den übrigen Gebieten gibt es nur sporadisch Schulen mit erweitertem Deutschunterricht, etwa in der Slowakei oder in Westsibirien.
4.2. Stellung des Deutschen als Fremdsprache und neue Mehrsprachigkeit In den Gebieten, in denen ein bilinguales Schulsystem besteht, hat das Deutsche als Fremdsprache mehr Gewicht. Traditionell hat Deutsch als Fremdsprache in Mittel- und Osteuropa einen hohen Stellenwert, vor allem in Polen, Ungarn und Tschechien, und ist dort auch durch eine Vielzahl von germanistischen Instituten vertreten. In Minderheiten-
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gebieten selbst bestehen germanistische Institute vor allem in Opole/Oppeln und Nysa (Oberschlesien), Pécs/Fünfkirchen (Ungarn), Sibiu/Hermannstadt und Cluj/Klausenburg (Rumänien), Prešov (Slowakei) sowie Ostrava (Tschechien). Weitere Universitäten wie die ELTE Budapest beschäftigen sich sehr stark mit der Minderheitenthematik (s. u.). Im Auftrag der Bundesregierung unterstützt das Goethe-Institut deutsche Minderheiten in Mittel-/Osteuropa sowie in Zentralasien durch kulturelle und bildungspolitische Maßnahmen. Insgesamt 13 Institute sind mit zahlreichen Maßnahmen, Projekten und Programmen daran beteiligt (vgl. Goethe-Institut). Im letzten Jahrzehnt sind nun einige Entwicklungen zu verzeichnen, die sich durchaus positiv auf das Weiterleben der deutschen Sprache in diesen Gebieten auswirken: In den Grenzgebieten in Tschechien, Oberschlesien und Westungarn entwickelt sich ein neues Pendlertum, das sich nicht nur in einer Arbeitsmigration sondern auch in einem Bildungstransfer äußert: So schicken etwa Eltern aus Westungarn ihre Kinder auf Schulen in Österreich. Weiter gibt es in den letzten Jahren eine Reihe von „Rücksiedlern“ aus deutschsprachigen Ländern, Angehörige der Minderheit, die nach 1990 ausgesiedelt sind und nun nach ihrer Pensionierung wieder in die alte Heimat zurückkehren und sich dort sehr für die deutsche Sprache engagieren. Auch viele Arbeitsmigranten kehren wieder in die Heimat zurück und deren Kinder haben häufig in Deutschland oder Österreich die Schule besucht. Außerdem wächst in osteuropäischen Ländern der Prozentsatz an bilingualen Familien mit einem deutschsprachigen Elternteil, der aus einem deutschsprachigen Land stammt. Damit wächst aber auch der Bedarf an bilingualen Schulen und der Förderung der deutschen Sprache. Völlig neue Möglichkeiten der Vernetzung über Grenzen hinweg bieten die neuen Medien. So können E-Mailkontakte oder Kontakte über verschiedene Formen von social media mit Verwandten oder Freunden in den deutschsprachigen Ländern, die Verwendung der deutschen Sprache und damit die neue Mehrsprachigkeit zusätzlich fördern. Es zeigt sich also, dass aufgrund der neuen Mobilität und der Öffnung der Grenzen sowie durch die neuen Medien sich neue Möglichkeiten für die deutsche Sprache in den Gebieten der deutschen Minderheiten ergeben. Diese Sprachdynamik und der Einfluss verschiedener Varietäten und Varianten stellt die Sprachinsel- und Sprachkontaktforschung vor neue Herausforderungen.
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Claudia Maria Riehl, München (Deutschland)
44. Deutsch als Minderheitensprache in Nordamerika
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44. Deutsch als Minderheitensprache in Nordamerika 1. 2. 3. 4.
Einleitung Pennsylvania Dutch Plautdietsch Hutterisch
5. Amisches Schweizerdeutsch und Amisches Elsässerdeutsch 6. Zusammenfassung 7. Literatur
1. Einleitung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Status von fünf Herkunftsvarietäten (heritage varieties) des Deutschen, die in Nordamerika, im Besonderen in den USA und Kanada, aktiv verwendet werden. Dabei handelt es sich um Pennsylvania Dutch (Pennsylvaniadeutsch, Pennsylvania German), das von den meisten Altamischen (Old Order Amish) und Pferd-und-Kutsche-fahrenden Altmennoniten (Old Order Mennonites) gesprochen wird; Plautdietsch (Mennonite Low German) hauptsächlich von Altkolonier-Mennoniten (Old Colony Mennonites) gesprochen; Hutterisch (Hutterite German) gesprochen von Hutterern; und Amisches Schweizerdeutsch (Amish Swiss German) und Amisches Elsässerdeutsch (Amish Alsatian German), die von kleinen Untergruppen der Amischen gesprochen werden. Alle fünf Sprechergemeinschaften sind endogame konservative christliche (genauer anabaptistische) Gruppen, deren Mitglieder ein gewisses Maß an sozialer Distanz zu ihren englischsprachigen Nachbarn wahren. Wie unten dargelegt, stellt der sozioreligiöse Inselcharakter dieser Gruppen einen zentralen Aspekt dar, um die soziolinguistische Vitalität ihrer dem Deutschen verwandten Sprachen zu erklären. Den statistischen Informationen der American Community Survey als Teil der USamerikanischen Volkszählungsbehörde (United States Census Bureau) von 2016 zufolge haben fast 45 Millionen Amerikaner, ca. 14 % der gesamten Einwohner der USA, angegeben, deutsche Vorfahren zu haben. Damit liegt die Angabe einer deutschen Abstammung höher als bei allen anderen ethnischen Gruppen in den USA. Amerikaner, die sich selbst als irischstämmig identifizieren, machen 10 % der Befragten aus, während weitere 7 % eine englische Herkunft angaben (vgl. United States Census Bureau). Allerdings spricht nur ein geringer Anteil der 45 Millionen Nachfahren von deutschsprachigen Einwanderern eine Varietät des Deutschen. Die Daten der American Community Survey von 2011 legen nahe, dass nur drei Zehntel Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung im Alter von fünf Jahren und älter Deutsch zu Hause sprechen (vgl. Language Use in the United States). Ähnliche Zahlen finden sich für Kanada. Die Daten der kanadischen Volkszählung von 2011 zeigen, dass sich 3.203.300 kanadische Einwohner, etwa 9 % der gesamten Bevölkerung, mit deutscher Volkszugehörigkeit bezeichnen (vgl. Statistics Canada). In demselben Jahr gaben ca. 430.000 (13 % aller deutschen Kanadier) an, dass Deutsch ihre Muttersprache sei (vgl. Historica Canada). Während diese Anteile höher als die vergleichbaren statistischen Daten für Amerikaner deutscher Abstammung sind, zeigen andere Daten der kanadischen Regierung, dass Deutschkanadier bei der Sprachbewahrung den drittletzten Platz bei den 22 größten nicht englisch- oder französischsprachigen Einwanderergruppen einnehmen (vgl. Census of Population). Obwohl die USA und Kanada das Ziel für Millionen von Einwanderern aus dem deutschen Sprachraum waren, ist es offensichtlich, dass es die Norm ist, zur Mehrheitshttps://doi.org/10.1515/9783110261295-044
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
sprache (Englisch) zu wechseln. Das klassische „Drei-Generationen-Modell“ des Sprachwechsels von nicht-englischsprachigen Einwanderern und ihren Nachkommen in den USA wurde in der Mitte der 1960er Jahre von Joshua A. Fishman (Fishman 1966; Fishman & Hofman 1966) aufgestellt. Diesem Modell zufolge behalten Einwanderer der ersten Generation in der Regel ein gewisses Maß an Wissen ihrer Herkunftssprache bei, wenn sie als Erwachsene ankommen, während ihre Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit bilingual aufwachsen, aber erst im Erwachsenenalter Englisch häufiger benutzen. In der dritten Generation, bei den Enkelkindern der Einwanderer, ist der Sprachwechsel üblicherweise vollkommen vollzogen. Fishmans Drei-Generationen-Modell trifft auf viele, vor allem heutige, deutschamerikanische und deutschkanadische Familien zu, im Besonderen auf solche, deren Vorfahren im 20. Jahrhundert nach Nordamerika gekommen sind und sich in städtischen Gebieten niedergelassen haben. Historisch bedingt gab es in den USA viele deutschsprachige Gemeinschaften, die nicht Fishmans Drei-Generationen-Modell entsprachen und nicht an traditionelle anabaptistische Gruppen wie denen, die in diesem Artikel besprochen werden, angegliedert waren. In diesen Gemeinschaften, die ähnlich den anabaptistischen Gruppen überwiegend ländlich lebten, lernten die Nachfahren von Einwanderern Varietäten des Deutschen über die dritte Generation hinaus, offenbar jedoch nicht weiter als die fünfte Generation. Eine dieser bemerkenswerten Gemeinden war Freistadt, die erste deutsche Siedlung in Wisconsin, einem US-Staat im Mittleren Westen, in dem das deutsch-amerikanische Erbe demographisch am stärksten ausgeprägt ist. Freistadt wurde 1839 von altlutherischen Emigranten aus Hinterpommern gegründet. Fast ein Jahrhundert später lernten noch die Ururenkel der ersten Siedler Deutsch. Heute gibt es jedoch keine Freistadter mehr, die fließend Deutsch sprechen und nach 1940 geboren wurden. Mit dem Altern der letzten Generation der Deutschsprecher ist ihre Herkunftssprache zunehmend moribund. Im ländlichen Mittleren Westen sowie in Texas gibt es noch viele historisch begründete deutsche Gemeinden, in denen Sprecher mit der Herkunftssprache Deutsch leben, allerdings sind diejenigen, die es noch fließend sprechen, in jedem Fall betagt (siehe Eichhoff 1971; Louden 2009, 2011; Wilkerson & Salmons 2008 zum Deutschen in Wisconsin; Boas 2009 zum Texasdeutschen; Wildfeuer 2017 zu deutschböhmisch-bairischen Minderheiten). Die fünf in Kap. 1 besprochenen mit Deutsch verwandten Sprachen sind bemerkenswert vor dem Hintergrund der deutsch-amerikanischen und deutsch-kanadischen Geschichte. Jede befindet sich in einem stabilen soziolinguistischen Zustand, wird aktiv von allen Gemeindemitgliedern verwendet und regulär als Erstsprache erworben. Außerdem nehmen die Gemeinden, in denen diese Sprachen gesprochen werden, exponentiell zu. Die größte dieser Gemeinden, die Altamischen, in denen hauptsächlich Pennsylvania Dutch und, von zwei Minderheiten, Amisches Schweizerdeutsch und Amisches Elsässerdeutsch gesprochen wird, wachsen derzeit mit einer Rate von 2,6 % pro Jahr. Damit ist ihre Wachstumsrate mehr als dreimal so hoch wie die der gesamten USA (0,7 %) und mehr als doppelt so hoch wie jene Kanadas (1,2 %), die in etwa so hoch ist wie die globale Wachstumsrate von 1,13 % (vgl. Amish Population Profile 2016). Obwohl die anabaptistischen Gruppen, die Pennsylvania Dutch, Plautdietsch, Hutterisch, Amisches Schweizerdeutsch und Amisches Elsässerdeutsch sprechen, wenig bis keinen regelmäßigen Kontakt miteinander haben, hauptsächlich weil sie in unterschiedlichen Gebieten der USA und Kanada leben, ähneln sich ihre soziolinguistischen Umstände. Die mit Deutsch verwandten Herkunftssprachen dienen als ihr bevorzugtes
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mündliches Verständigungsmittel in ihren jeweiligen Gemeinden, während Englisch mit Außenstehenden gesprochen wird. Englisch wird hingegen beim Lesen und Schreiben verwendet, auch innerhalb der Gemeinde. Außerdem wird eine archaische Form des Standarddeutschen im Gebet gebraucht, da es die Sprache der Lutherischen Bibelübersetzung, die alle benutzen, und der Gebets- und Gesangsbücher ist. Obwohl der produktive Gebrauch des Standarddeutschen stark eingeschränkt ist im Vergleich zu den deutschstämmigen Herkunftssprachen und Englisch, hat Deutsch die Funktion der HVarietät in einer diglossischen Situation, während die Herkunftssprache die L-Varietät darstellt. Tatsächlich korreliert die Erhaltung der hier besprochenen fünf mit Deutsch verwandten Sprachen mit der kontinuierlichen Verwendung einer Form des Standarddeutschen für religiöse Zwecke. Bevor die jeweilige soziolinguistische Situation der fünf deutschen Herkunftsvarietäten besprochen wird, sind ein paar Bemerkungen über die Geschichte der anabaptistischen Bewegung angebracht. Die Wurzeln der heutigen christlichen Gruppen, die sich als Anabaptisten (auch: Täufer) identifizieren, führen zurück nach Mittel- und Nordwesteuropa des frühen 16. Jahrhunderts. Am 21. Januar 1525 hat sich eine Gruppe reformgesinnter Christen, die Einwände gegen die Praxis der Kindertaufe hatten, in Zürich gegenseitig wiedergetauft, wodurch sie den Unmut der örtlichen religiösen Autorität auf sich gezogen haben und als häretische Wiedertäufer oder Anabaptisten bezeichnet wurden. Trotz ernsthafter Verfolgung breitete sich die Anabaptistenbewegung Richtung Norden nach Deutschland und Tirol und vor allem nach Flandern und in die Niederlande aus, wo der friesisch geborene Vertreter der Täufer Menno Simons (1496−1561) besonders bedeutend war. Seine Anhänger wurden als „Mennisten“ oder „Mennoniten“ bezeichnet. Schweizer Anabaptisten waren gemeinhin als „Schweizer Brüder“ oder „Schweizer Täufer“ bekannt, obgleich die Bezeichnung „Mennoniten“ schließlich auch auf sie ausgeweitet wurde. Im Jahr 1693 wurde eine konservative Splittergruppe der Schweizer Brüder unter Leitung des Berner Jakob Ammann (1644−zwischen 1712 und 1730) als „Amische“ bekannt. Die meisten Sprecher der hier besprochenen fünf deutschen Herkunftsvarietäten führen ihre Abstammung auf die europäischen Gebiete zurück, in denen die Anabaptistenbewegung stark war. Die Mehrheit der heutigen Sprecher des Pennsylvania Dutch, also Mitglieder von amischen oder altmennonitischen Kirchen, sind überwiegend Nachfahren von ethnischen Schweizern, die die Schweiz im 16. und 17. Jahrhundert Richtung Norden, vor allem in Gebiete beidseitig des Rheins, wie das Elsass und die Pfalz, verlassen haben. Diese Schweizer Anabaptisten kamen im 18. Jahrhundert in das koloniale Pennsylvania. Die Migrationsgeschichte von Plautdietsch sprechenden Altkoloniern ist besonders komplex. Die meisten sind Mennoniten flämischer, niederländischer und friesischer Herkunft, die im 16. Jahrhundert zunächst in nordöstliche deutsche Gebiete abwanderten und von dort im 18. Jahrhundert weiter nach Osten in das Russische Reich übersiedelten. Daher werden Altkolonier oft auch als „Russlandmennoniten“ (Russian Mennonites) bezeichnet. Im späten 19. Jahrhundert setzten die Migrationen nach Nord- und Südamerika ein. Der hutterische Zweig der Anabaptistenbewegung begann im 16. Jahrhundert in Tirol, von wo die meisten Anhänger nach Mähren und später weiter nach Osten, einschließlich in Gebiete des Russischen Reichs (der heutigen Ukraine), vertrieben wurden. Dort kamen sie auch in Kontakt mit Plautdietsch sprechenden Mennoniten. Die Hutterer begannen ebenfalls im späten 19. Jahrhundert in die USA und nach Kanada auszuwandern. Die sogenannten Schweizer Amischen, von denen eine
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Gruppe Amisches Schweizerdeutsch spricht und eine andere Amisches Elsässerdeutsch, sind ethnisch eng verwandt mit den Vorfahren der Pennsylvania Dutch sprechenden Amischen und Mennoniten, allerdings sind sie Nachfahren von Einwanderern nach Nordamerika im 19. Jahrhundert, von denen sich die meisten westlich von Pennsylvania, vor allem im Bundesstaat Indiana, niederließen.
2. Pennsylvania Dutch Die gemeinhin als Pennsylvania Dutch bekannte Sprache ist die älteste und am weitesten verbreitete mit Deutsch verwandte Varietät, die in Nordamerika gesprochen wird. Ihre Entwicklung geht zurück auf die Migration von etwa 81.000 Deutschsprechern aus dem westmittel- und südwestdeutschen Sprachraum nach Pennsylvania im 18. Jahrhundert. Als distinkte Varietät existierte Pennsylvania Dutch bereits vor der Wende zum 19. Jahrhundert. Da Pennsylvania Dutch heutzutage beinahe ausschließlich von Personen gesprochen wird, die sehr traditionellen anabaptistischen Gruppen, vor allem den Amischen und Altmennoniten, angehören, sind Beobachter oft überrascht, dass die meisten Sprecher des Pennsylvania Dutch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts keine Anabaptisten waren. Tatsächlich waren ca. 95 % der Gründungsmitglieder der Pennsylvania Dutch sprechenden Bevölkerung Teil der lutherischen und reformierten Kirchen, sogenannte „Kirchenleute“ (church people, nonsectarians). Die übrigen 5 % stellten die anabaptistischen und pietistischen Sekten („Sektenleute“, plain people, sectarians), einschließlich der Amischen und Mennoniten, dar. In soziolinguistischer Sicht verband alle Gruppen des Pennsylvania Dutch, neben ihrer volkssprachlichen „Mudderschprooch“, die Verwendung des Deutschen als Sprache der Religion (vgl. Louden 2016: 63−71). Wie eingangs erwähnt, wachsen traditionelle anabaptistische Gruppen, die deutschstämmige Sprachen in Nordamerika weiterhin erhalten, exponentiell. Sprecher des Pennsylvania Dutch, Amische und Altmennoniten, bilden die größte Gruppe. Im Jahr 2017 überschritt die amische Bevölkerung die Marke von 318.000 verteilt auf 31 US-Bundesstaaten und drei kanadische Provinzen (vgl. Amish Population Profile 2017). Pferd-und Kutsche-fahrende Mennoniten alter Ordnung (Old Order [„Team“] Mennonites) leben in etwa zehn US-Bundesstaaten und der kanadischen Provinz Ontario sowie in einer geringen Anzahl in Belize. Ihre Bevölkerungszahl wird auf zwischen 60.000 und 80.000 im Jahr 2008/2009 geschätzt (vgl. Wikipedia). Der erfolgreiche Erhalt des Pennsylvania Dutch stand schon immer in Korrelation mit dem Landleben und der eingeschränkten sozialen Mobilität der Sprecher. Der typische aktive Pennsylvania Dutch-Sprecher lebt und arbeitet in einer ländlichen Gemeinde, die von anderen Pennsylvania Dutch sprechenden Familien umgeben ist, hat eine begrenzte Schulbildung und verfolgt einen ländlich bezogenen Lebensunterhalt wie z. B. Landwirtschaft oder Handwerk. Ebenso wichtig für die Förderung des anhaltenden Gebrauchs des Pennsylvania Dutch ist das Heiraten innerhalb der Gemeinde. Mischehen im linguistischen Sinne, in der einer der Partner Englischsprecher ist, führen in der Regel zu einem Wechsel zum Englischen, nahezu sicher unter den Kindern der Familie. Bereits im 19. Jahrhundert war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine Person, die mit Pennsylvania Dutch aufgewachsen war, aber in eine städtische Gegend zog, eine höhere Ausbildung verfolgte oder Angestellte wurde, öfter Englisch als ihre Muttersprache sprechen
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würde. Die Assimilation von Pennsylvania Dutch sprechenden Kirchenleuten (nonsectarians) in die gesellschaftliche Mehrheit, einschließlich und besonders durch Ehen mit Nicht-Pennsylvania-Dutch-Sprechern, hat fast zur Auslöschung ihrer Sprache geführt. Amische und Altmennoniten, die gesamtheitlich in ländlichen Gegenden leben und aus religiösen Gründen die Distanz zur Englisch sprechenden sozialen Mehrheit wahren, indem sie die Verwendung von Technik und Schulbildung einschränken, sowie konfessionsgebundene Ehen eingehen, führen den Erhalt des Pennsylvania Dutch mühelos fort (vgl. Louden 2016: 50−53). Pennsylvania Dutch ähnelt strukturell und lexikalisch am meisten den deutschen Dialekten der Vorderpfalz, im Besonderen den Varietäten in und um Mannheim (vgl. Louden 2016: 13−18; siehe auch Buffington 1939, 1970; Christmann 1950; Haag 1956; Veith 1968). Das Lautinventar und die phonologische Struktur des Pennsylvania Dutch sind weiterhin stark vom Pfälzischen geprägt, wobei viele Sprecher eher das englische retroflexe [ɹ] verwenden als das historische deutsche Zungenspitzen-r [r]. Die Derivationsund Flexionsmorphologie des Pennsylvania Dutch sind kaum vom Sprachkontakt mit Englisch beeinflusst. Ähnliches gilt auch für die Syntax. Beispielsweise verbleiben Grundwortstellung und Satzstruktur wie im Pfälzischen: im Gegensatz zum Englischen ist Pennsylvania Dutch grundsätzlich eine OV-Sprache mit einer Asymmetrie zwischen Hauptsätzen mit Verbzweitstellung und Nebensätzen mit Verbfinalstellung. Im Vokabular des Pennsylvania Dutch wird der Einfluss des Englischen jedoch deutlich. Schätzungsweise 10 % bis 15 % des pennsylvaniadeutschen Wortschatzes leitet sich aus dem Englischen ab. In Anbetracht der Tatsache, dass alle Sprecher des Pennsylvania Dutch zweisprachig sind, ist diese Höhe relativ bescheiden (vgl. Louden 2016: 28−49). Im Vergleich dazu hat circa ein Viertel des Vokabulars des europäischen Standarddeutschen einen „Migrationshintergrund“, d. h. es besteht aus Lehnwörtern anderer Sprachen wie z. B. aus dem Lateinischen, Griechischen, Französischen und neuerdings dem Englischen. Alle Varietäten des Pennsylvania Dutch sind untereinander verständlich − trotz der geringen Variation, die sich hauptsächlich in der Lexik und in geringerem Umfang in phonetischen und syntaktischen Unterschieden äußert. Die Hauptparameter der Variation sind die Gruppenzugehörigkeit und die Geographie. In Hinblick auf ersteres finden sich Unterschiede in den Varietäten der Amischen und Altmennoniten, die mit Mitgliedern anderer Kirchen keine Mischehen eingehen. Innerhalb der Amischen gibt es wiederum aufgrund von Gruppenbarrieren ein gewisses Maß an linguistischer Variation. Die ultratraditionellen Swartzentruber Amisch, die nur sehr eingeschränkt mit anderen amischen Gruppen interagieren, behalten die Verwendung des Dativs bei, der in anderen Varietäten des Pennsylvania Dutch konfessioneller Gruppen verloren gegangen ist. Weiterhin finden sich auch regionale Unterschiede zwischen Amischen und Altmennoniten. Im Falle der Amischen ist der Hauptparameter der Variation binär, aufgeteilt zwischen Gemeinden, die in Lancaster County/Pennsylvania leben oder mit ihm in Verbindung stehen, gegenüber amischen Gemeinden im Mittleren Westen, die eine historische Verbindung mit Ohio haben (vgl. Keiser 2012). Unter den Altmennoniten bestehen die Hauptunterschiede, vor allem im lexikalischen Bereich, zwischen denjenigen, die in Ontario leben, d. h. den Nachkommen von Einwanderern aus Pennsylvania um 1800, und ihren Glaubensgenossen in den USA (vgl. Burridge 1989). Wie oben erwähnt korreliert der erfolgreiche Erhalt aller mit Deutsch verwandten Varietäten der konservativen Anabaptistengruppen in Nordamerika einschließlich Pennsylvania Dutch mit dem kontinuierlichen Gebrauch einer Form des Standarddeutschen
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als Sprache der Religion, die gemeinhin als „Hochdeitsch“ bezeichnet wird. Genauer gesagt benutzen alle Gruppen die Lutherische Übersetzung der Bibel im Gottesdienst sowie deutschsprachige Gebets- und Gesangbücher, die hauptsächlich in das 16., 17. und 18. Jahrhundert datieren. Die Amischen benutzen beispielsweise weiterhin den sogenannten Ausbund, dessen erste Auflage im Jahre 1564 erschienen ist. In Pennsylvania Dutch sprechenden Gruppen, wie etwa den Amischen, wird die Kenntnis des Standarddeutschen zum Lesen, Rezitieren oder Singen (und Verstehen) ihrer religiösen Texte als unabdingbar verstanden, um ein vollwertig funktionales Mitglied der Gemeinde zu sein. Es wird hingegen nicht erwartet, dass Amische und Altmennoniten eigenständig schriftliche Texte produzieren oder mündlich auf Standarddeutsch kommunizieren. Selbst Prediger halten ihre Predigten nicht auf Hochdeitsch, sondern auf Pennsylvania Dutch, das von Zitaten deutschsprachiger Texte durchsetzt ist. Den eingeschränkten Gebrauch des Deutschen unter Gläubigen reflektieren die Lehrmaterialien für das Deutsche, das in amischen und altmennonitischen Gemeindeschulen Verwendung findet. Diese bestehen größtenteils aus reproduzierten Fibeln und Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts, in denen Kindern das Lesen und Rezitieren von überwiegend biblischen Texten gelehrt wird. Heute sind ein paar modernere Lehrbücher (herausgegeben von Glaubensgenossen) verfügbar, deren Inhalt jedoch weiterhin auf der deutschsprachigen Bibel, Gebets- und Gesangbüchern und einfachen Texten ähnlicher Art, wie sie auch in den traditionellen Lehrbüchern zu finden sind, basiert. Pädagogische Materialien für den deutschen Sprachunterricht, die in amerikanischen und kanadischen Schulen, die sich am Standarddeutschen des heutigen Europa orientieren, benutzt werden, sind in amischen und altmennonitischen Gemeindeschulen im Wesentlichen nicht vorhanden (vgl. Louden 2016: 331−341). Der Status des Deutschen innerhalb der Gemeinden ist ungewöhnlich für Auswärtige, die Kenntnis des modernen Hochdeutschen haben oder sogar Muttersprachler aus Europa sind, da das Hochdeitsche ein schriftliches Medium ist, welches jedoch verhältnismäßig frei von präskriptiven Normen ist. Schulmaterialien vermitteln Kindern sicherlich eine „korrekte“ Rechtschreibung deutscher Wörter, doch in Ausnahmefällen, wenn Glaubensgenossen etwas auf Standarddeutsch schreiben, werden selbst grundsätzliche Rechtschreibregeln und -normen nicht eingehalten. Der folgende Satz, der einem Handbuch für amische Prediger entnommen ist, zeigt dies deutlich. Die Absicht des anonymen Autors an die Leser ist es, den Wert des weiteren Gebrauchs des Deutschen im amischen religiösen Leben hervorzuheben (Louden 2016: 335). Da das diese sprache eine der schönsten, wortreichsten und vollkommensten, unter allen sprachen ist und nach am meisten die Muttersprache, da wollen wir, Amishe Leute, mehr fleiß a−wenden sie auf−halten.
Ungeachtet zahlreicher Abweichungen dieses Satzes von der Erwartungshaltung, was ein in einer modernen Standardvarietät des Deutschen ausgebildeter Sprecher in Hinblick auf Orthographie, Zeichensetzung und Grammatik produzieren sollte, ist dieser Satz trotzdem für einen Leser mit einem rezeptiven Wissen des Deutschen verständlich. Lediglich dieses rezeptive Wissen ist in der soziolinguistischen Ökologie der Amischen und Mennoniten alter Ordnung erforderlich. Die Hauptsprache der Amischen und Altmennoniten für produktive Schriftlichkeit ist Englisch, das auch das alleinige Unterrichtsmedium in ihren Gemeindeschulen bildet (vgl. Louden 2016: 341−352). Persönliche Briefe, Einkaufslisten, Tagebücher sowie Poe-
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sie und andere literarische Texte werden von den Gläubigen in Englisch verfasst. Für nicht-amische oder -altmennonitische Sprecher des Pennsylvania Dutch (nonsectarians) lässt sich eine lange Tradition nachverfolgen, Prosa und Poesie sowohl mundartlich als auch zu einem gewissen Grad auf Deutsch zu verfassen, vor allem im 19. Jahrhundert. Diese Volksliteratur wurde jedoch nur selten von Amischen und Altmennoniten verfasst. Heutzutage fällt es vielen Amischen und Altmennoniten schwer, Texte dieser Art zu lesen, da sie es nicht in der Schule gelernt haben. In dieser Hinsicht ähnelt die soziolinguistische Situation der Sprecher des Pennsylvania Dutch derjenigen der Sprecher des Schweizerdeutschen, deren Alphabetisierung im Standarddeutschen besser ist als in ihren dialektalen Varietäten. In den letzten Jahren ist ein kleiner Anstieg der Anzahl der im Pennsylvania Dutch geschriebenen Texte zu verzeichnen. Allerdings geht dies fast ausnahmslos auf Initiativen von Muttersprachlern zurück, die eng verbunden mit, aber keine Mitglieder von Gemeinden alter Ordnung sind. Das namhafteste Beispiel ist die Übersetzung der Bibel ins Pennsylvania Dutch, Di Heilich Shrift, die 2013 vollendet wurde. Sie wurde von einem Ausschuss von Muttersprachlern aus Ohio angefertigt. Dieser Ausschuss wurde von Henry D. Hershberger organisiert und geleitet, der in einer amischen Familie aufwuchs, als Erwachsener jedoch einer fortschrittlicheren Kirche beitrat und als Linguist und Bibelübersetzer in der Wycliffe Global Alliance Karriere machte. Mitglieder der Old-Order-Gruppen haben den Erhalt ihrer mit Deutsch verwandten Mudderschprooch (ein Konzept, das sowohl einheimisches Pennsylvania Dutch als auch Hochdeitsch umfasst) als ein essentielles Symbol ihrer soziospirituellen Identität erkannt. Weder Amische noch Altmennoniten würden bestreiten, dass das Wissen einer Form von Deutsch notwendig für die eigene Erlösung sei, jedoch erkennen sie Zweisprachigkeit als ein unverzichtbares Erfordernis für die Mitgliedschaft in ihren Kirchen an. Die Verbindung zwischen Spracherhalt und der Identität der Amischen und Altmennoniten ist so stark, dass die Prognose vertretbar ist, dass, solange diese Gruppen bestehen, die Zukunft des Pennsylvania Dutch als vitale Sprache gesichert ist.
3. Plautdietsch Die Einwanderungsgeschichte der Menschen, die Plautdietsch sprechen, gehört zu den komplexesten der Täufergruppen. Die meisten Sprecher des Plautdietsch führen ihre Abstammung auf Niederländisch und Friesisch sprechende Anabaptisten zurück, die bereits Mitte des 16. Jahrhunderts begannen, in das Weichseldelta Polens, später Preußen, auszuwandern. Für etwa 200 Jahre sprachen diese Mennoniten Sprachen, die sie aus Nordwesteuropa (Varietäten des Niederländischen/Flämischen, Friesischen und vielleicht auch Niedersächsischen) mitgebracht hatten, sowie Niederländisch als Sprache der Religion. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, kurz vor ihrer Migration in das südliche Russland (heutige Ukraine) auf Einladung Katharina II., hat sich ein Sprachwechsel hin zu einem Dialekt des Niederpreußischen vollzogen. Gleichzeitig wurde Niederländisch als sakrale Sprache durch das Hochdeutsche ersetzt. Diese gesprochene ostniederdeutsche Mundart − mit niederländischen und möglicherweise friesischen Einflüssen − bildete die historische Basis für das Plautdietsch. Es gibt zwei große Subvarietäten des Plautdietsch, die historisch mit zwei mennonitischen Hauptsiedlungen in Russland assoziiert werden: Chortitza (gegründet im Jahr 1789) und Molotschna (gegründet im Jahr 1804) (vgl. Moelleken 1987, 1992; Siemens 2012).
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Die erste Gruppe Plautdietsch sprechender Mennoniten wanderte zwischen 1873 und 1884 von Russland nach Kanada und in die USA aus. Während dieser Zeit ließen sich ca. 8.000 russische Mennoniten in Manitoba nieder und 13.000 siedelten in US-Territorien/ Bundesstaaten des Mittleren Westens um (Minnesota, Dakota-Territorium, Nebraska, Kansas und Oklahoma, später auch Zentralkalifornien; vgl. Keel 2006). Zwischen 1922 und 1930 brach eine zweite große Einwanderungswelle von Russland auf, von denen sich die meisten (21.000) in Kanada niederließen; eine kleinere Anzahl emigrierte nach Mexiko und Paraguay. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten weitere 12.000 Mennoniten von Europa nach Kanada und Lateinamerika aus (vgl. Krahn, Bender & Friesen 1989; Mennonite Historial Society of Canada). Seit den 1920er Jahren begannen Plautdietsch sprechende Mennoniten von Manitoba in das nördliche Mexiko abzuwandern infolge von Maßnahmen kanadischer Provinzialverwaltungen, die die Freiheit der Mennoniten ihre Gemeindeschulen zu führen, beeinträchtigten. Schätzungsweise ein Drittel der mennonitischen Bevölkerung von Manitoba sowie weitere aus der angrenzenden Provinz von Saskatchewan brachen in dieser Zeit von Kanada nach Mexiko auf (vgl. Moelleken 1987: 154). Einige Jahrzehnte später siedelten mexikanische Mennoniten auch in andere Teile Lateinamerikas über, darunter Belize, Bolivien, Brasilien und Paraguay (vgl. hierzu auch Eller-Wildfeuer & Wildfeuer, Art. 45 in diesem Band). Für das Jahr 2015 wird geschätzt, dass 64.455 Mitglieder von Altkolonier-Kirchen in Nord-, Mittel- und Südamerika leben − die Nachkommen der Einwanderer der „alten“ Chortitza-Siedlungen in Russland. Sogenannte Altkolonier stellen die größte Gruppe der Plautdietsch-Sprecher dar. Angesichts der Tatsache, dass einerseits die Mitgliedschaft in Täuferkirchen Erwachsenen vorbehalten und andererseits die Anzahl der Familienmitglieder in den meisten traditionellen Gruppen wie den Amischen verhältnismäßig groß ist, kann man die Anzahl der Kirchenmitglieder vorsichtig verdoppeln. Damit erreicht man eine vertretbare Schätzung der Gesamtzahl an Plautdietsch-Sprechern auf dem amerikanischen Doppelkontinent von beinahe 130.000 Sprechern, von denen etwa je ein Drittel in Kanada und Mexiko leben. Die Anzahl der Plautdietsch-Sprecher in den USA, beruhend auf den Informationen der Kirchenmitgliedschaft der Mennonitischen Weltkonferenz (vgl. Mennonite World Conference), ist mit 2.500 bis 3.000 deutlich geringer. Andere Schätzungen liefern Gesamtzahlen von etwa 11.000 Sprechern in Kansas und Texas (vgl. Keel 2006; Burns 2016: 12). So wie die Migrationsgeschichte der Plautdietsch sprechenden Mennoniten komplexer ist als die der heutigen Pennsylvania Dutch sprechenden Täufergruppen, ist auch die zeitgenössische soziolinguistische Situation der Plautdietsch-Sprecher differenzierter als die der Amischen und Altmennoniten. Innerhalb der Old-Order-Gruppen stehen Pennsylvania Dutch und Englisch in einer stabilen Beziehung zueinander und alle Mitglieder verfügen über eine passive Kompetenz des Hochdeitschen. Diejenigen, die in amischen oder altmennonitischen Familien aufwachsen und sich gegen den Beitritt in die Kirche ihrer Eltern entscheiden oder der Kirche beitreten und sie anschließend wieder verlassen, finden sich später oft in fortschrittlicheren Täuferkirchen. In diesen Gemeinden wird Englisch als Sprache des Gottesdienstes verwendet, wodurch typischerweise eine Abkehr von Pennsylvania Dutch als Alltagssprache begünstigt wird. Wenn man Gruppen alter Ordnung mit den größten Plautdietsch sprechenden Gemeinden, den Altkoloniern, vergleicht, findet man einige Gemeinsamkeiten, aber auch wichtige Unterschiede. Zunächst korreliert, ähnlich den Old-Order-Gruppen, die Vitalität der Herkunftssprache Plautdietsch stark mit der Verbindung zur Altkolonier-Gemeinschaft. Ebenso wie Pennsylvania Dutch ein integraler Teil der sozioreligiösen Identität der Ami-
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schen und Altmennoniten ist, spielt Plautdietsch eine ähnliche Rolle für die Altkolonier. Die Zukunft beider deutschstämmiger Herkunftssprachen ist solange gesichert wie die Sprechergruppen gedeihen − wie es der momentane Stand ist. Die exponentielle Wachstumsrate der Altkolonier ist vergleichbar mit jener ihrer Pennsylvania Dutch sprechenden Glaubensgeschwister. Eine weitere Parallele zwischen Plautdietsch- und Pennsylvania Dutch-Sprechern stellt der passive Erhalt einer deutschen Varietät als sakrale Sprache dar. Diese Varietät nennen die Altkolonier „Hüagdietsch“. Sowohl Hochdeitsch als auch Hüagdietsch sind strukturell und soziolinguistisch aus historischer Perspektive gesehen verwandt und unterscheiden sich von der heutigen nhd. Standardsprache in wesentlichen Merkmalen. Ein Hauptunterschied zwischen Altkoloniern und den Old-Order-Gruppen steht im Zusammenhang mit den Kenntnissen der jeweiligen Sprache des Landes, in dem sie leben. Wie oben erwähnt ist die Beziehung zwischen Pennsylvania Dutch und Englisch weitgehend stabil: die meisten Amischen und Altmennoniten sprechen, lesen und schreiben Englisch auf dem Niveau eines monolingualen Muttersprachlers. Die bilinguale Situation der Altkolonier ist weniger einheitlich. Im Allgemeinen ist es wahrscheinlicher, dass Altkolonier, die in Kanada oder den USA leben, Englisch beherrschen als dass ihre Glaubensgenossen in Mexiko oder anderen Teilen Lateinamerikas Spanisch sprechen. Vor allem für Frauen der Altkolonier, deren Interaktionen mit Spanischsprechern weitaus eingeschränkter sind als die von Männern, ist eine beinahe Einsprachigkeit in Plautdietsch verbreitet. Der Unterschied zwischen Altkolonier-Gemeinden in Nord- und Lateinamerika ist eine direkte Folge der größeren geographischen und sozialen Isolierung der Altkolonier in Mexiko und anderen spanischsprachigen Ländern im Gegensatz zu denen in Kanada und den USA. Ein wichtiger Ausdruck der relativen Isolierung der Altkolonier in Ländern wie Mexiko, Bolivien und Paraguay hängt mit der Ausbildung ihrer Kinder zusammen. Traditionelle Altkolonier Lateinamerikas betreiben weiterhin Gemeindeschulen, die mennonitische Schulen im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts zum Vorbild haben. Die Unterrichtssprache ist (namentlich) Hüagdietsch, Unterrichtsmaterialien beschränken sich auf Fibeln, mennonitische Katechismen und die Bibel. Die didaktische Methodik ist im Wesentlichen das Auswendiglernen. Spanisch findet sich nicht im schulischen Curriculum. Ein Hauptgrund für den Aufbruch der Altkolonier südwärts von Kanada in den 1920er Jahren war ihr Wunsch, ihr traditionelles Unterrichtssystem, das sich grundlegend von den englischsprachigen Schulen der Amischen und Altmennoniten in den USA und Kanada unterscheidet, beizubehalten. Da sie erkannt haben, dass es Verbesserungspotenziale in ihren traditionellen Schulen gibt, heißen interessanterweise manche Altkolonier-Gruppen in den letzten zwei Jahrzehnten amische und altmennonitische Lehrerinnen in ihren Siedlungen willkommen, damit sie als Lehrerinnen arbeiten und die einheimischen Lehrkräfte ausbilden. Dies bedeutet, dass bilinguale (Pennsylvania Dutch/ Englisch) nordamerikanische Lehrerinnen so gut Hüagdietsch gelernt haben, dass sie in Altkolonier-Schulen arbeiten können; sie haben auch zwangsläufig etwas Plautdietsch gelernt (vgl. Old Colony Mennonite Support 2011). Die Plautdietsch sprechenden Mennoniten Kanadas und Nordamerikas sind progressiver als die traditionellsten Altkolonier Lateinamerikas, was sich in besseren Sprachkenntnissen des Englischen widerspiegelt. Plautdietsch sprechende Kinder in Nordamerika gehen meistens auf Schulen, einschließlich Gemeindeschulen, in denen in Englisch unterrichtet wird, und die Interaktion zwischen Mennoniten und monolingualen Englisch-
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sprechern ist insgesamt häufiger. Viele ihrer Kirchen sind nun dazu übergegangen, Englisch anstelle von Deutsch im Gottesdienst zu benutzen. Dies ist in vielen Fällen auch mit dem Verlust des Plautdietsch als Alltagssprache einhergegangen, ähnlich dem Übergang vom Pennsylvania Dutch zum Englischen unter Nicht-Amischen und -Mennoniten alter Ordnung. Ein wichtiger Faktor, der geholfen hat, den weiteren Gebrauch des Plautdietsch in Kanada und den USA zu fördern, war hingegen die Migration einiger Altkolonier und verwandter Gruppen aus Mexiko und anderen Orten Lateinamerikas zurück nach Norden, vor allem in die kanadischen Provinzen Manitoba und Ontario, in den Westen von Texas (z. B. Seminole/Texas; vgl. Burns 2016: 23−25) und ins südwestliche Kansas (z. B. Garden City/Kansas). Mennonitische Migranten nach Nordamerika werden oft mit progressiveren Täuferkirchen in Zusammenhang gebracht, eingeschlossen denen, die Englisch benutzen, wodurch eine klare Tendenz besteht, dass jüngere kanadisch und US-amerikanisch geborene Mennoniten zum Englischen wechseln. Dagegen finden sich in den letzten Jahrzehnten andere Kirchen in Bolivien, Paraguay und Mexiko mit einer engen Verbindung zu Personen mit altkolonialen Hintergründen sowie eine gewisse Anzahl in Kanada und Mexiko, die aktiv Plautdietsch im Gottesdienst und in der Gottesverehrung sowie in der Öffentlichkeitsarbeit verwenden. Ein bemerkenswertes Beispiel stellt der Ekj-Ran-Evangeliumsdienst (‘Ich Renne’ I Run; vgl. Square one world media) dar, geleitet vom Bolivianer Eduard Giesbrecht, der populäre YouTube- und Radioprogramme in Plautdietsch produziert. Die Missionierung stellt dabei einen wichtigen Faktor für die Förderung des Erhalts von Plautdietsch auf dem amerikanischen Doppelkontinent, einschließlich − bis zu einem gewissen Grad − in Kanada und den USA, dar. Dies hat auch dazu beigetragen, den Status des Plautdietsch als schriftliches Medium zu erhöhen. Wie oben erwähnt, war die Schriftlichkeit im Pennsylvania Dutch bei Amischen und Altmennoniten schon immer begrenzt. Abgesehen von Materialien der Zeugen Jehovas, die an Leute mit amischem und altmennonitischem Hintergrund gerichtet sind, gibt es keine bedeutenden Öffentlichkeits- und Missionarsprogramme auf Pennsylvania Dutch, wie es bei Plautdietsch-Sprechern der Fall ist. Im Gegensatz zum Pennsylvania Dutch hat das Plautdietsch einen signifikanten Zuwachs als schriftliches Medium genossen, nicht nur auf dem amerikanischen Kontinent, sondern auch in Deutschland. Seit dem Ende der Sowjetunion sind Tausende russischer Mennoniten in die Bundesrepublik ausgewandert, mit einer starken Konzentration nördlich von Detmold. Plautdietsche Literatur von kanadischen und deutschen, oft in Russland geborenen, Autoren genießt ein Maß an kommerziellem Erfolg. Die enger werdenden Verbindungen zwischen kanadischen und deutschen Mennoniten, die teilweise durch die Migration russischer Mennoniten nach Kanada über die Bundesrepublik unterstützt wurden, haben den Status des Plautdietsch in beiden Ländern gestärkt. In gleicher Weise wie sich die Pennsylvania Dutch und Plautdietsch sprechenden Anabaptisten voneinander in Hinblick auf die Anfertigung von und den Bedarf an in ihrer Muttersprache geschriebener Literatur unterscheiden, differenziert der Status des Standarddeutschen die beiden Gruppen. Wie bereits erwähnt setzen sowohl Täufer alter Ordnung als auch Altkolonier (heutzutage hauptsächlich jene, die in Lateinamerika leben) eine standardnähere Varietät des Deutschen für gottesdienstliche Zwecke ein, Hochdeitsch bei den Amischen und Altmennoniten und Hüagdietsch bei ihren aus Russland eingewanderten Glaubensgenossen. Pennsylvania Dutch-Sprecher als Gruppe haben keine Verbindung zu modernen Standardvarietäten, die im deutschsprachigen Europa benutzt werden: ihre Be-
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dürfnisse der Lese- und Schreibfähigkeit werden vollkommen vom Englischen und Hochdeitsch abgedeckt. Sprecher des Plautdietsch, andererseits, haben Zugang zu schriftlichen Medien in Deutsch. Das namhafteste Medium stellt dabei die Zeitung Die Mennonitische Post dar, die vom Mennonite Central Committee im Jahr 1977 in Steinbach/Manitoba gegründet wurde. Dreißig Jahre später wird ihre Leserschaft auf 40.000 Mennoniten in Kanada, den USA und Lateinamerika geschätzt (vgl. Steinbachonline.com). Außerdem gibt es deutschsprachige elektronische Medien für Plautdietsch sprechende Mennoniten, die nur von fortschrittlicheren Gemeindemitgliedern abgerufen werden können, da die Benutzung des Internets in den meisten traditionellen Altkolonier-Gruppen verboten ist. Eine dieser Webseiten, Infomenonitas, die in Mexiko betrieben wird, enthält Nachrichten, die auch für Leser in Kanada und den USA von Interesse sind, angesichts der engen familiären Verbindungen zwischen Mennoniten in Mexiko und Gemeinden nördlich der US-mexikanischen Grenze. Ein Vergleich des Standarddeutschen der Webseite mit seinem europäischen Gegenstück zeigt, dass es trotz Unterschieden deutlich näher am europäischen Standard ist als die seltenen deutschen Schriftstücke von Pennsylvania Dutch-Sprechern; vgl. das folgende Beispiel einer Anzeige eines mexikanischen Mennoniten J. P. aus Campo (‘Siedlung’) 87, in der er Mitfahrgelegenheiten nach Texas und Kansas anbietet: J. P. Campo 87 tut Menschen fahren nach Seminole and Kansas, und auch Sachen. Er kommt die Menschen auch holen. Nach Stets [< engl. „(United) States“] fährt er am Mittwoch. Hat Insurance für die Mitfahrer.
Die heutige, etwas aktivere Schriftkundlichkeit des Standarddeutschen bei Plautdietsch sprechenden Mennoniten ist zum Teil ein Erbe der Erfahrung ihrer Vorfahren in Russland an der Wende zum 20. Jahrhundert im Sinne einer Form des Widerstands gegen Russifizierungsbemühungen seitens der kaiserlichen Verwaltung seit den 1870er Jahren (vgl. Penner 2009: 78−82). Standarddeutsch erreichte im frühen 20. Jahrhundert ein so hohes Prestige, dass manche mennonitischen Eltern in Russland und Kanada ihre Kinder in Standarddeutsch und nicht in Plautdietsch erzogen. Dasselbe Phänomen konnte auch bei lutherischen Niederdeutsch sprechenden Gemeinden in Wisconsin und dem Mittleren Westen der USA in demselben Zeitraum beobachtet werden (vgl. Louden 2011).
4. Hutterisch Eine dritte wichtige Herkunftsprache des Deutschen in Nordamerika ist die Sprache einer weiteren Täufergruppe, der Hutterer. Obwohl sie viele christliche Grundlehren der Amischen und Mennoniten teilen, leben die Hutterer im Gegensatz zu anderen Täufergruppen in Gütergemeinschaft in einzelnen Siedlungen, die Bruderhöfe genannt werden. Ihre Bezeichnung stammt von ihrem Tiroler Anführer, Jakob Hutter (1500?−1536). Hutterer beschreiben ihre Sprache oft als Form des Tirolerischen, wo ihre Bewegung begann. Die Hutterer wanderten allerdings bereits in den 1520er Jahren nordöstlich nach Mähren ab, wo sie bis 1621 lebten. Zu diesem Zeitpunkt zogen sie aufgrund massiver Verfolgungen weiter Richtung Osten nach Siebenbürgen, wo sich ihre Zahl schließlich deutlich verringerte. In den 1750er Jahren wurden mehrere Hunderte Lutheraner aus dem österreichischen Kärnten nach Siebenbürgen deportiert. Viele von ihnen schlossen sich dort der hutterischen Bewegung an. Der sprachliche Einfluss der Deutschsprecher aus Kärnten
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
war so signifikant, dass das heutige Hutterisch den Kärntner Dialekten am ähnlichsten ist und nicht mehr dem Tirolerischen ähnelt (Rein 1977: 216−267). Die Hutterer zogen in den 1770er Jahren weiter in das Russische Reich, wo sie in Kontakt mit Plautdietsch sprechenden Mennoniten kamen. Diese Kontakte hatten keine sprachlichen Auswirkungen, da es so gut wie keine Mischehen zwischen diesen Mennoniten und den Hutterern gab. Sie waren jedoch wichtig, um die Abwanderung der Hutterer nach Nordamerika in den 1870er Jahren zu fördern. Zwischen 1874 und 1879 sind alle Hutterer von Russland nach Amerika aufgebrochen. Dort haben sie drei Hauptsiedlungen im Dakota-Territorium gegründet, von denen die drei Hauptgruppen der Hutterer heute abstammen: die sogenannten „Schmiedeleut“, „Dariusleut“ und „Lehrerleut“. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg konnten die Hutterer beachtlichen Wohlstand und Wachstum genießen. Das Jahr 1918 markiert jedoch eine Wende ihrer Geschichte, als vier junge Hutterer eines Bruderhofes im Bundesstaat Süddakota gewaltsam in die US-Armee eingezogen wurden. Als Pazifisten weigerten sie sich, die Uniform zu tragen und den Befehlen ihrer Vorgesetzten zu folgen, wodurch sie vor das Militärgericht gestellt und zu einer Haftstrafe verurteilt wurden. Zwei von ihnen starben im Militärgefängnis in Kansas. Daraufhin siedelten alle US-amerikanischen Hutterer (mit Ausnahme einer Siedlung) nach Alberta und Saskatchewan in Kanada um. In den 1930er Jahren gründeten Hutterer erneut Bruderhöfe südlich der kanadischen Grenze. Heute leben schätzungsweise drei Viertel der Hutterer in Kanada, genauer in den Provinzen Alberta, Saskatchewan, Manitoba und British Columbia. Die übrigen 25 % leben in den US-Bundesstaaten Nord- und Süddakota, Montana, Minnesota und Washington. Die aktuellste Schätzung der gesamten hutterischen Bevölkerung beläuft sich auf 45.000. Ihre Geburtenrate lässt sich mit der der Amischen, Altmennoniten und Altkolonier vergleichen. Die verhältnismäßig hohe Rate in Verbindung mit dem geringen Abgang aus der Gruppe sichert ein rapides Wachstum der Sprecher des Hutterischen (Hutterian Brethren). Einen wichtigen Wendepunkt der Dokumentation des Hutterischen bildet die Studie von Rein aus dem Jahr 1977, die die Ergebnisse seiner Feldforschung in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren über die Sprache der Schmiedeleut-Hutterer in Süddakota darlegt. Rein identifizierte drei unterschiedliche Sprachschichten des Hutterischen: Grundhutterisch, Predigthutterisch und Standardhutterisch. Grundhutterisch und Predigthutterisch standen in einem diglossischen Verhältnis zueinander (Grundhutterisch = L-Varietät, Predigthutterisch = H-Varietät), während Standardhutterisch eine Zwischenform war, die linguistische Merkmale beider Sprachen, Grundhutterisch und Predigthutterisch, teilte, vergleichbar mit dem Regiolekt im heutigen deutschsprachigen Europa. Das Schriftdeutsch, eine vierte, geschriebene Varietät, war ein weiterer Teil der hutterischen soziolinguistischen Mischung wie sie Rein beschrieben hat (s. Abb. 44.1). Rein (1977: 301) merkt an, dass sich die beiden Hauptvarietäten der hutterischen Diglossie, Grundhutterisch (L) und Predigthutterisch (H), strukturell und soziolinguistisch unterscheiden. Grundhutterisch geht offensichtlich auf das Kärntnerische zurück, während sich das Predigthutterisch auf das sogenannte „Habanische“ zurückführen lässt, eine Form des Deutschen, das in Mähren (in der heutigen Slowakei) gesprochen wurde, wo die Hutterer zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 18. Jahrhunderts lebten (vgl. Rein 1977: 226−241). Auf der Grundlage von Reins Rekonstruktion umfasst das Habanische, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Slowakei ausstarb, wahrscheinlich Elemente des Ostmitteldeutschen, weshalb schlüssig ist, dass Predigthutterisch die
44. Deutsch als Minderheitensprache in Nordamerika
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Abb. 44.1: GH = Grundhutterisch; H = Hutterisch; LW = englische Lehnwörter; PH = Predigthutterisch; SD = Schriftdeutsch; SH = Standardhutterisch; SS = hutterische Schriftsprache; USE = USEnglisch (aus Rein 1977: 147)
H-Varietät darstellt. Aus soziolinguistischer Perspektive variieren die Sprecher des Grund- und Predigthutterischen in Abhängigkeit von Geschlecht und Alter. Rein konnte beobachten, dass in den 1960er und 1970er Jahren Grundhutterisch am häufigsten von Frauen und Kindern gesprochen wurde. Die Männer, die per definitionem alle formalen Führungsrollen unter den Hutterern übernehmen, waren die alleinigen Sprecher des Predigthutterischen. Reins Standardhutterisch, die Varietät zwischen Grund- und Predigthutterisch, wurde deswegen auch mehr mit erwachsenen Männern als mit Frauen und Kindern assoziiert (vgl. Rein 1977: 309−311). In den frühen 2000er Jahren führte die österreichische Linguistin Lorenz-Andreasch eine Untersuchung über die Schmiedeleut-Hutterer in Manitoba durch, die auf Reins früherer Studie aufbaut (Lorenz-Andreasch 2004). Lorenz-Andreasch konnte zeigen, dass Reins Einteilungen in Grundhutterisch und Predigthutterisch inzwischen zum von ihr sogenannten Alltagshutterischen zusammengefallen waren. Das Alltagshutterisch dient als diglossische L-Varietät in Abhängigkeit zur H-Varietät des Kirchenhutterisch (Church Hutterisch), die Reins Predigthutterisch entspricht, Lorenz-Andreasch stellt weiterhin fest, dass das soziolinguistisch am Rande stehende Schriftdeutsch bei den Schmiedeleut durch das moderne (europäische) Standarddeutsch ersetzt wurde (vgl. Lorenz-Andreasch 2004: 86−96). Interessanterweise haben sich die Alters- und Geschlechtsunterschiede, die Rein für die Verwendung des Grundhutterischen (Frauen und Kinder) gegenüber dem Predigt- und Standardhutterischen (Männer) herausgestellt hatte, heutzutage weitgehend ausgeglichen. Das heutige mundartliche Alltagshutterisch (LVarietät) ist die dominante mündliche Alltagssprache der Hutterer unabhängig von Alter und/oder Geschlecht. Das Kirchenhutterisch (H-Varietät) wird immer noch gelernt, da es die maßgebliche sakrale Sprache ist. Allerdings ist sein Wissen vor allem passiv, d. h. Hutterer können Kirchenhutterisch lesen, singen und rezitieren, aber äußerst selten selbst Aussagen oder Texte in dieser Sprache produzieren. In dieser Hinsicht ist Kirchenhutterisch dem Hochdeitsch der Pennsylvania Dutch-Sprecher und dem Hüagdietsch der Kolonier-Mennoniten ähnlich. Mit der sichtbaren Schwächung des aktiven Gebrauchs des Kirchenhutterischen geht die zunehmende Wichtigkeit des Englischen (Lorenz-Andreasch 2004: 100−102) und des europäischen Standarddeutschen einher. Die verbesserte Sprachfertigkeit des Englischen unter den Hutterern stellt eine weitere soziolinguistische Parallele zu den Pennsylvania Dutch und Plautdietsch sprechenden Amischen und Mennoniten in den USA und Kanada dar. Einen wichtigen Einflussfaktor für die gesteigerte Rolle des Englischen in der hutterischen soziolinguistischen Ökologie, vor allem unter den fortschrittlicheren Schmiedeleut-Hutterern, bildet ihr Schulsystem. Herkömmlicherweise folgten die Hutterer, wie auch die russischen Mennoniten,
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
einem traditionellen Curriculum, das sich fast ausschließlich auf zwei Aspekte richtete: (a) Sprachwissen des Deutschen zu erlangen, um die Bibel und andere religiöse Texte lesen, singen und verstehen zu können, (b) Grundkenntnisse der Arithmetik zu vermitteln. Während die meisten traditionellen Altkolonier in Teilen Lateinamerikas (vor allem Mexiko und Bolivien) noch diese Art der Schulen betreiben, unterrichten ihre Glaubensgenossen in Nordamerika, einschließlich der Hutterer, ihre Kinder primär auf Englisch. In den meisten hutterischen Bruderhöfen werden Kinder von zertifizierten nicht-hutterischen Lehrkräften der örtlichen öffentlichen Schulbezirke unterrichtet. Das Curriculum folgt, mit wenigen Anpassungen entsprechend der hutterischen religiösen Werte, den Vorgaben des örtlichen Schulbezirks. Die traditionellsten hutterischen Gruppen, vor allem die Lehrerleut, beschränken die formale Schulbildung auf die Grundschule. In anderen Gruppen, vor allem den fortschrittlichsten Schmiedeleut-Hutterern, hingegen gehen die Kinder auch auf weiterführende Schulen und manche sogar auf Hochschulen. In Manitoba gibt es ein eigenes Programm an der Brandon University, um Hutterer zu Lehrern für ihre Gemeindeschulen auszubilden. Der Hauptteil des hutterischen Schultages wird auf Englisch unterrichtet, doch jede Siedlung beschäftigt einen meist männlichen Lehrer als Deutschlehrkraft. Eine Stunde vor und eine Stunde nach dem englischen Schultag wird auf Deutsch unterrichtet mit dem Fokus auf der Förderung von Grundkenntnissen des Standarddeutschen der Bibel und anderer religiöser Texte und der hutterischen Geschichte. Wie in amischen und altmennonitischen Schulen ist die Haupterwartung, dass die Schüler eine gute passive Kenntnis des Deutschen erlangen (vgl. Janzen & Stanton 2010: 179−196). Hutterisch ist hauptsächlich ein mündliches Medium, da die schriftlichen Bedürfnisse der Hutterer durch Englisch und Deutsch gedeckt werden. Vor kurzem haben einige Hutterer begonnen, eigene Werke in ihrer Herkunftssprache zu verfassen. Die bekannteste Vertreterin ist Linda Maendel, eine hutterische Frau aus Manitoba. Im Unterschied zu den meisten Hutterern hat Maendel eine tertiäre pädagogische Ausbildung im Fach Deutsch erhalten und war dafür auch in Deutschland. Sie ist Autorin mehrerer Kinderbücher in Hutterisch, Deutsch und Englisch und führt einen Blog (Hutt-Write Voice). Maendel und andere fortschrittliche Hutterer haben außerdem mit einem Übersetzer/ Linguisten der Wycliffe Global Alliance zusammengearbeitet, um hutterische Sprachtexte zu produzieren (vgl. World Alive). Derzeit wird an einer Audio-Bibel auf Hutterisch gearbeitet.
5. Amisches Schweizerdeutsch und Amisches Elsässerdeutsch Innerhalb der Amischen gibt es eine Untergruppe, die als „Schweizer Amische“ (Swiss Amish) bekannt ist. Diese Amischen, die heute überwiegend im US-Bundesstaat Indiana leben, sind Nachfahren von Einwanderern aus der Schweiz und dem Elsass der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich damals im amerikanischen Mittleren Westen, vor allem in Ohio und Indiana, niederließen. Die Schweizer Amischen umfassen eigentlich zwei linguistische Untergruppen. Die größere der beiden Gruppen, deren größte Siedlung in der Nähe der Stadt Berne in Adams County/Indiana ist, spricht eine Form des Berner Schweizerdeutsch (Amisches Schweizerdeutsch). Ihre Vorfahren stammen aus den Berner und Jura Regionen der Schweiz. Die zweite Gruppe, die vor allem in einem benach-
44. Deutsch als Minderheitensprache in Nordamerika
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barten Landkreis von Adams County, nämlich Allen County/Indiana lebt, setzt sich aus Nachfahren von amischen Einwanderern aus dem Elsass zusammen und spricht immer noch eine Form des Elsässer Niederalemannischen (Amisches Elsässerdeutsch). Mit dem Stand von 2017 waren die Gemeinden in Adams und Allen County die fünft- und zehntgrößten amischen Siedlungen in Nordamerika mit einer geschätzten Einwohnerzahl von jeweils 8.595 und 3.190 (vgl. Amish Studies). In Anbetracht der Tatsache, dass es noch weitere kleinere Siedlungen, in denen Schweizer Amische leben, verteilt über die USA gibt, könnte man die Anzahl der Sprecher des Amischen Schweizerdeutsch vorsichtig auf 10.000 schätzen und Sprecher des Amischen Elsässerdeutsch auf 4.000, oder anders ausgedrückt auf jeweils 3 % und 1 % der gesamten amischen Bevölkerung Nordamerikas. Trotz ihrer geringen Zahl im Verhältnis zur Pennsylvania Dutch sprechenden Mehrheit der Amischen deuten alle Anzeichen auf eine stabile Erhaltungssituation hin. Schweizeramische Kinder lernen weiterhin die jeweilige deutschstämmige Sprache ihrer Gemeinde, also Amisches Schweizerdeutsch oder Amisches Elsässerdeutsch, und die Gesamtwachstumsrate kann sich mit der größerer amischer Gemeinden messen (mit einer Verdoppelung alle zwanzig Jahre). Als linguistische Minderheiten innerhalb der größeren Sprechergruppe des Pennsylvania Dutch sind die Schweizer Amischen aktiv dreisprachig (Amisches Schweizerdeutsch bzw. Amisches Elsässerdeutsch, Pennsylvania Dutch, Englisch) mit zusätzlichen passiven Kenntnissen des Hochdeitsch. Eine wichtige Folge der Mehrsprachigkeit der Schweizer Amischen ist die Einführung von aus dem Pennsylvania Dutch abgeleiteten Merkmalen in das Amische Schweizerdeutsch und das Amische Elsässerdeutsch, die zu historischen westmitteldeutschen Dialektalismen in grundlegend alemannischen Varietäten führen (vgl. Humpa 1996; Fleischer und Louden 2011 zum Amischen Schweizerdeutsch; Thompson 1994 zum Amischen Elsässerdeutsch). Der Sprachkontakt in die andere Richtung, vom Amischen Schweizerdeutsch/Amischen Elsässerdeutsch zum Pennsylvania Dutch, wurde bislang jedoch nicht dokumentiert, da nur wenige Muttersprachler des Pennsylvania Dutch die Sprachen der Schweizer Amischen Gruppen erwerben. Die soziolinguistische Situation der Schweizer Amischen entspricht im Wesentlichen der der Pennsylvania Dutch sprechenden Amischen. Der Hauptunterschied ist, dass Schweizer Amische eine mündliche Fertigkeit des Pennsylvania Dutch über ihre Herkunftssprachenvarietäten hinaus haben. Wie bei anderen Amischen sind die Schweizer Amischen kompetent und aktiv lese- und schreibkundig im Englischen, das Unterrichtssprache in ihren Schulen ist, und haben passive Kenntnisse des Hochdeitsch für gottesdienstliche Zwecke. Ein Unterschied zwischen den Schweizer Amischen und den übrigen amischen Gruppen hängt mit der Produktion von Texten in ihrer Mundart zusammen. Wie oben erwähnt, existiert eine geringe, aber steigende Zahl an Texten, vor allem der Bibel, in Pennsylvania Dutch, die von Amischen und/oder für Amische und Altmennoniten geschrieben werden. Im Gegensatz dazu gibt es keine organisierten Bemühungen auf Amisch Schweizerdeutsch oder Amisch Elsässerdeutsch zu schreiben.
6. Zusammenfassung Die Migration von Deutschsprechern weit über Mitteleuropa hinaus hat in vielen Teilen der Welt, einschließlich Osteuropa, Zentralasien, Afrika, Australien und Ozeanien und Nord- und Südamerika, ein vielfältiges Vermächtnis hinterlassen. In vielen Gebieten
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
deutschsprachiger Siedlungen sind ihre Varietäten heutzutage gefährdet, wie es die (missliche) Lage vieler kleiner Minderheitensprachen, sowohl indigener als auch Herkunftssprachen, überall auf der Welt ist. Die hier besprochenen fünf deutschstämmigen Sprachen bilden jedoch nennenswerte Ausnahmen dieser Tendenzen. Aufgrund ihrer hohen symbolischen Bedeutung als Kennzeichen ausgeprägter sozio-religiöser Gruppenidentitäten sind sie äußerst lebendig. Der Umstand, dass sie vor allem in der mündlichen Kommunikation genutzt werden, ohne einen institutionalisierten Rückhalt (z. B. durch die Regierung oder das Bildungswesen) zu haben, schadet ihnen in keiner Weise. Solange sie diese soziolinguistische Bedeutung beibehalten und ihre Sprechergemeinden weiter exponentiell wachsen, steht diesen Sprachen eine strahlende Zukunft bevor. Obwohl diese verschiedenen Gruppierungen von Anabaptisten, die noch diese Sprachen verwenden, ausgenommen der Schweizer und anderer Amische, wenig bis keinen Kontakt aufgrund ihrer Ansiedlung in verschiedenen Gebieten der USA und Kanadas zueinander haben, teilen sie etliche soziolinguistische Merkmale. Das wichtigste davon ist die Verwendung einer Form des („Hoch-“)Deutschen als sakrale Sprache, die als diglossische H-Varietät in ihren Gemeinden dient. Die konservative anabaptistische Diglossie unterscheidet sich jedoch deutlich von der Situation des heutigen Standarddeutschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Formen des „Hochdeutschen“ der Amischen, Altmennoniten, Altkolonier und Hutterer sind zum Großteil frei von präskriptiven Normen jeglicher Art, vor allem solcher Normen, die aus dem deutschsprachigen Europa stammen. Für deutsche Muttersprachler aus Europa ist die Vorstellung, dass eine Sprachgemeinschaft eine nicht-normierte Form des Standarddeutschen benutzt, paradox. Man muss allerdings beachten, dass die Wurzeln der Sprachen der Anabaptisten in ein deutschsprachiges Europa des 16., 17. und 18. Jahrhunderts zurückreichen, also lange vor dem Aufkommen einer relativ kodifizierten Form des geschriebenen (und später gesprochenen) Standarddeutschen. Obwohl es nicht richtig ist, traditionelle anabaptistische Gruppen Nordamerikas des 21. Jahrhunderts als in der Zeit stehengebliebene Relikte eines Europas vor der Aufklärung zu verstehen, muss ihre diglossische Situation als konservativer charakterisiert werden, als es der Fall in der übrigen deutschsprachigen Welt ist. Insgesamt bemerkenswert ist der Erfolg dieser Gruppen, einen Mittelweg zwischen Tradition und Fortschritt in allen Aspekten ihrer Kultur, einschließlich der Sprache, gestärkt durch einen außerordentlich starken christlichen Glauben, zu verfolgen.
Dank Für die Übersetzung dieses Beitrags ins Deutsche bin ich Ricarda Scherschel (PhilippsUniversität Marburg) sehr dankbar.
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Mark L. Louden, Wisconsin (USA)
45. Deutsch als Minderheitensprache in Mittelund Südamerika 1. Vorbemerkungen 2. Gesamtsituation der komplexen Überdachung: Die multilinguale Situation 3. Auswahl einer prototypischen Situation und Beschreibung des sprachlichen Repertoires
4. Sprachpolitische und soziolinguistische Aspekte, sprachliche Vitalität 5. Deutsch als Fremdsprache in Mittel- und Südamerika mit einem Fokus auf Brasilien 6. Ausblick 7. Literatur
1. Vorbemerkungen Aus der Vielzahl an deutschsprachigen Siedlungen (in denen Deutsch den Status einer Minderheits-, jedoch keiner staatlichen Amtssprache innehat, siehe Ammon 2015: 299) https://doi.org/10.1515/9783110261295-045
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
in Mittelamerika (Belize, Puerto Rico) und Südamerika (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Paraguay, Peru, Uruguay, Venezuela) findet eine Beschränkung auf folgende statt: Mennoniten (Belize/Mittelamerika), Hunsrücker (Brasilien/Südamerika) und Deutschböhmen (Brasilien/Südamerika). Die Wahl dieser drei Gruppen betrachten die Verfasser als sinnvoll, da damit sowohl nieder- und mittel- als auch oberdeutsche Varietäten Berücksichtigung finden und neben einem Schwerpunkt auf Südamerika auch der mittelamerikanische Raum thematisiert wird. Es werden sowohl „religiös konstituiert[e] deutsch(sprachig)[e] Minderheiten“ (Ammon 2015: 369) als auch nicht-religiöse thematisiert. Zunächst werden die historischen und aktuellen Bedingungen dreier Minderheitensprachen in Belize und Brasilien geschildert. In Kap. 2 wird exemplarisch und prototypisch die sprachliche Situation der oberdeutschen Minderheitensprache in Brasilien vorgestellt, bevor im nächsten Punkt soziolinguistische und soziopolitische Faktoren erörtert werden. Die Beschreibung der Deutsch-als-Fremdsprache-Situation in Brasilien schließt den Beitrag.
2. Gesamtsituation der komplexen Überdachung: Die multilinguale Situation 2.1. Deutsch in Mittelamerika − Mennoniten in Belize Mennoniten gehören (neben den Amischen und den Hutterern) zu deutschsprachigen Minderheiten, die sich in erster Linie durch religiöse Zusammengehörigkeit identifizieren. Es handelt sich jeweils um Täuferbewegungen, die eine Erwachsenentaufe praktizieren und die ihren Ursprung in den protestantischen Reformationsbewegungen in Europa haben, einen Pazifismus praktizieren und in relativer Abgeschlossenheit leben (siehe Ammon 2015: 381). Die Mennoniten sind in zwei Hauptgruppen zu differenzieren: Einerseits die Pennsylvania German (eine mitteldeutsche Varietät) sprechenden „Schweizer Brüder“, woraus auch die Amischen hervorgegangen sind, und andererseits die „Russland-Mennoniten“, die Plautdietsch (eine niederdeutsche Varietät) sprechen. Auf Letztere konzentrieren sich die folgenden Ausführungen (siehe Ammon 2015: 381). Die mennonitische Historie ist durch zahlreiche Migrationsbewegungen gekennzeichnet. Um 1540 verließen Mennoniten das niederländische Flandern und Friesland und zogen ins Weichsel-Nogat-Delta, von wo sich 900 Mennoniten 1788 nach Russland aufmachten, um dort ein Jahr später die erste Kolonie namens Chortitza zu errichten (siehe Ammon 2015: 382; Steffen 2006: 16). Chortitza wird auch als „Alte Kolonie“ bezeichnet, in Abgrenzung zur „Neuen Kolonie“ in Molotschna, deren Gründung auf 1804 datiert werden kann (siehe Steffen 2006: 17 u. 29). Als die Regierung Russisch als Unterrichtssprache in den mennonitischen Schulen und Militärdienst forderte, wanderten ab 1873 konservative Mennoniten nach Nordamerika aus (siehe Kaufmann 1997: 59; Ammon 2015: 382). Die Belizer Mennoniten ließen sich nach der Emigration aus Kanada zunächst in Mexiko nieder (vor allem in Chihuahua und Durango) und wanderten dann nach Belize aus (siehe Steffen 2006: 19). Belize wurde bis 1973 als „British Honduras“ bezeichnet, 1981 wurde der Staat unabhängig (siehe Ammon 2015: 383). 1957 wurde zwischen den Mennoniten und der damaligen britischen Kolonie Honduras ein Vertrag geschlossen, der Sondergenehmigungen in Bezug auf die soziale, politische
45. Deutsch als Minderheitensprache in Mittel- und Südamerika
Abb. 45.1: Siedlungsgebiete der Mennoniten in Belize
und wirtschaftliche Situation enthielt (siehe Steffen 2006: 20). Bis zum Jahr 1966 kamen circa 200 Familien und insgesamt 2.700 Personen nach Belize (siehe Steffen 2006: 21). Im aktuellen Ethnologue (2016) wird eine Zahl von 9.360 Plautdietschsprechenden für den Cayo- und den Orange Walk-Distrikt (die im Westen und Nordwesten des Landes liegen und in denen sich die betreffenden Mennonitenkolonien befinden) genannt, der sprachliche Status der Sprechergemeinschaft wird als „vigorous“ (‘lebhaft, vital’) bezeichnet. Ammon (2015: 302) klassifiziert die Mennoniten in Belize als eine deutschsprachige Minderheit mit religiöser Identität, die in insgesamt sechs Kolonien differenziert werden kann (vgl. Abb. 45.1: Little Belize, Shipyard, Blue Creek, Spanish Lookout, Upper Barton Creek und Springfield) und die sich hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Interessen, der sprachlichen Situation und der kulturellen Ausprägung deutlich unterscheiden (siehe Steffen 2006: 174). Diese Unterschiede werden nachfolgend anhand zweier konträrer Gruppierungen (Blue Creek und Shipyard) verdeutlicht. Die ersten Mennoniten siedelten ab 1958 in Shipyard. Sie sind zu den Altkoloniern zu zählen, die zu den „konservativsten mennonitischen Gruppen“ gehören, explizit den Kontakt zur Außenwelt gering halten und als Transport- und Fortbewegungsmittel nach wie vor die Pferdekutsche verwenden, „da ihnen das Fahren von motorisierten Autos oder Lastkraftwagen untersagt ist“ (Steffen 2006: 29). Dennoch sind die Altkolonier auf „Gewinnmaximierung“ ausgerichtet (Steffen 2006: 172).
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Blue Creek wurde ebenfalls 1958 von mennonitischen Auswanderern aus dem mexikanischen Chihuahua etabliert, war zu Beginn ebenfalls altkolonischer Glaubensrichtung und verfügte „zunächst [über] die gleiche Gesellschaftsordnung wie Shipyard und Little Belize und die gleichen Sitten und Gebräuche […]“ (Steffen 2006: 32). Aufgrund von Differenzen über von einigen Siedlern mitgebrachte motorisierte Hilfsmittel kam es zur Separation innerhalb der Gemeinde, was dazu führte, dass die konservativen Altkolonier entweder nach Shipyard zogen oder nach Bolivien emigrierten. In Blue Creek entstand dann 1966 die Gemeinschaft der „Evangelical Mennonite Mission Conference“ (Steffen 2006: 33). Befreit von den Zwängen der Altkolonier kam es zu einer anhaltenden wirtschaftlichen Prosperität, die aber keineswegs eine vollständige Assimilation der Mennoniten nach sich zog. Ein Effekt der Öffnung der Kolonie ist sicherlich auch, dass der Besitz und Gebrauch von TV-Geräten, Radios, Computern und dem Internet erlaubt sind (siehe Steffen 2006: 33−34). Die präsentierten Kolonien teilt Steffen in differierende „Gesellschaftstypen“ ein: Die Altkolonier in Shipyard tituliert er als „societés froides“, die ihr Augenmerk „auf die Bewahrung der gegenwärtigen Verhältnisse“ richten (Steffen 2006: 175). Im Gegensatz dazu findet man in Blue Creek die „societé chaude“, in der „die wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderung und Entwicklung“ durchaus intendiert ist und intensiviert wird (Steffen 2006: 175−176). Die beiden Gesellschaftstypen verhalten sich auch hinsichtlich ihrer „polyglossischen Situation“ (Steffen 2006: 173) unterschiedlich: In Blue Creek ist in der älteren Generation Plautdietsch nach wie vor die Umgangssprache. Als Schriftsprache wird „eine archaische Form“ des Hochdeutschen verwendet (Steffen 2006: 24), die als Sprache des Gottesdienstes jedoch längst vom Plautdietschen verdrängt wurde, „da die hochdeutsche Sprache nicht mehr als integraler Bestandteil der Religion gesehen wird“ (Steffen 2006: 176). In der jungen Generation fungiert neben dem Plautdietschen bereits das Englische als Umgangssprache. Als Schulsprache wurde das Hochdeutsche bereits durch das Englische substituiert. In Shipyard hingegen ist die Domänenverteilung Plautdietsch als Low- und Hochdeutsch als High-Varietät in der älteren Generation wohl konstant. Dies wird durch den Sachverhalt gestützt, dass es für viele „die einzige Sprache ist, die sie beherrschen“ (Steffen 2006: 177). Allerdings befindet sich das Plautdietsche durch den Sprachkontakt mit dem Spanischen in einem Entlehnungsprozess, der zu sprachlichen Innovationen führt (siehe Steffen 2006: 177). Schulsprache ist nach wie vor das Hochdeutsche, „welches den Schülern allerdings wie eine Fremdsprache vorkommen muß, da sie bis zum Schulalter kaum Kontakt mit der Sprache haben“ (Steffen 2006: 88). Der überwiegende Teil der jüngeren Generation verfügt über eingeschränkte Kenntnisse im Hochdeutschen, weshalb dieses als „Dummy High, d. h. als dysfunktionale Hochsprache, gekennzeichnet“ ist (Steffen 2006: 178). Die kontaktsprachliche Situation in Belize gestaltet sich aufgrund des Neben- und Miteinanders heterogener Bevölkerungsgruppen komplex (siehe Steffen 2006: 1). Belize ist das einzige Land Südamerikas, in dem Englisch die offizielle Landessprache ist. Daneben existieren laut Ethnologue (2016) Belize Kriol Englisch, das von Steffen (2006: 94) als die „inoffizielle Landessprache Belizes“ bezeichnet wird, drei indigene Sprachen (Kekchí, Mopán Maya, Yucatec Maya), Spanisch und Garifuna, das auch als „Black Carib“ bezeichnet wird.
45. Deutsch als Minderheitensprache in Mittel- und Südamerika
1157
Die für die vorgestellten mennonitischen Kolonien relevanten Kontaktsprachen sind Englisch, Spanisch und das Belize Kriol (siehe Steffen 2006: 180). Der Einfluss der englischen Sprache, obwohl es die einzige offizielle Landessprache ist, ist in den Mennonitenkolonien durchaus divergent. Während in Blue Creek das Englische bereits als Schul- und teilweise auch als Gottesdienstsprache verwendet wird, hat es in der Altkoloniersiedlung Shipyard nur marginale Bedeutung. Gegenüber dem Spanischen herrscht in den Kolonien durchaus eine „utilitaristische Werthaltung“ (Steffen 2006: 181), wobei hinsichtlich der Sprachkompetenz durchaus genderspezifische Unterschiede vorhanden sind. In Shipyard beispielsweise ist Sprachkompetenz im Spanischen in erster Linie bei den Männern existent (siehe Steffen 2006: 92). In den Belizer Mennonitenkolonien ist das Plautdietsche nach wie vor zweifelslos die „gemeindeübergreifende Umgangssprache“, die sich in den einzelnen Kolonien jedoch unterschiedlich entwickelt, da „das Spanische stärkere Spuren in den nördlichen Kolonien hinterläßt, während der Einfluß des Englischen deutlicher in den zentralbelizischen Kolonien festzustellen ist […]“ (Steffen 2006: 182).
2.2. Deutsch in Südamerika − Brasilien 2.2.1. Hunsrücker Das „brasilianisch[e] Kolonisationsgesetz“ von 1820 sowie die Verfassung von 1824 ermöglichten die (auch nicht-katholische) Einwanderung aus deutschsprachigen Gebieten, und es wurden ausgehend von São Leopoldo Regionen der südbrasilianischen Staaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná und Espírito Santo bevölkert (Ammon 2015: 369). Die ersten Gründungen werden als die „Alten Kolonien“ bezeichnet, woraus Tochterkolonien bzw. -gründungen hervorgingen (siehe Altenhofen 2016: 106 u. 108). Um einen raschen Sprachwechsel zum Portugiesischen zu bewirken, fokussierte die Regierung „eine Politik der ethnisch gemischten Ansiedlung“ (Ammon 2015: 369; siehe dazu auch Altenhofen 1996: 68−69). Heutzutage kann man davon ausgehen, dass in Brasilien circa zwei bis fünf Millionen Deutschstämmige, darunter 600.000 bis 1.500.000 deutschsprechende Personen anzutreffen sind (siehe Grabarek 2013: 206; Ammon 2015: 373). Ammon (2015: 373) erwähnt allerdings, dass derartige Zahlenangaben generell mit Vorsicht zu behandeln sind, da die letzte verlässliche Volksbefragung auf 1950 zu datieren ist. Als dominierende deutschsprachige Gruppe innerhalb Brasiliens gelten zweifelslos die Hunsrücker. Neben diesen existieren auch noch „schwäbischalemannische, bairisch-österreichische, westfälische und pommerische“ Sprechergruppen (Ammon 2015: 371). Ammon (2015: 371) verweist darauf, dass „Hunsrücker“ (auch „Riograndenser Hunsrücker“) von ihm als „Pars pro toto“-Bezeichnung für alle „autochthonen Deutsch(sprachig)en in Südbrasilien“ verwendet wird. Das Hunsrückische ist als „Koine“ zu charakterisieren (Altenhofen 1996: 5, 2016: 104), „deren dialektale Merkmale auf die rhein- und moselfränkische Basis der deutschen Urheimat zurückzuführen sind.“ Der Terminus „Hunsrücker“ wird in Rio Grande do Sul „delokutiv durch dritte Personen“ verwendet (Altenhofen 1996: 5). Der Hunsrücker hingegen benennt sich selbst als „Daitscher“ (Altenhofen 1996: 5). In den Alten Kolonien Rio Grande do Suls allerdings fungiert der Terminus „Hunsrückisch“ (oder auch „Hunsbucklisch“) noch bisweilen als Selbstbezeichnung (siehe Altenhofen 2016: 116).
1158
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Abb. 45.2: Siedlungsgebiete der Hunsrücker in Südbrasilien
Das hunsrückische Siedlungsgebiet konzentriert sich in Brasilien in erster Linie auf die bereits erwähnten Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná und Espírito Santo (siehe Ammon 2015: 372) und ist auf Abb. 45.2 ersichtlich. Die Mehrheit der Hunsrücker lebt zentriert in Dörfern, die jedoch kein konformes Siedlungsgebiet bilden (siehe Ammon 2015: 373). Allerdings sollten die als „Kolonien“ klassifizierten Siedlungsgebiete und -gemeinschaften Uniformität suggerieren (Ammon 2015: 373). Das hunsrückische Sprachgebiet ist vielmehr durch Verstreutheit (siehe Steffen & Altenhofen 2014: 35) gekennzeichnet, was die Entstehung von „Fami(lio)lekten“ bewirkte, die dann auch die Grundlage für Sprachausgleich bildeten (Altenhofen 1996: 345). Es kann daher von einem „Archipel“ gesprochen werden, welcher „durch identische Strukturen und Bräuche sowie eine gemeinsame Sprache zusammengehalten“ wird (Steffen & Altenhofen 2014: 56). Ein Merkmal des Hunsrückischen ist, dass es einen enormen sprachlichen Unterschied zum Standarddeutschen aufweist und dass es sich um eine deutschbasierte Minderheitensprache handelt (siehe Steffen & Altenhofen 2014: 37). Steffen & Altenhofen sprechen daher auch von der „Souveränität des Dialekts“, von einer „Prävalenz der Mündlichkeit“ und von einer „doppelten Alietät“ (Steffen & Altenhofen 2014: 37), einer doppelten Abgrenzung sozusagen, was bedeutet, dass Hunsrückisch sich sowohl von der sprachlichen Umgebung in Brasilien unterscheidet als auch von den Dialekten in Deutschland, aus denen es hervorgegangen ist. Der erwähnten „Prävalenz der Mündlichkeit“ ist allerdings entgegenzusetzen, dass im Projekt ESCRITHU basierend auf dem Standarddeutschen Regeln zur Verschriftlichung des
45. Deutsch als Minderheitensprache in Mittel- und Südamerika
1159
Hunsrückischen entwickelt wurden. ESCRITHU (siehe Pupp Spinassé 2016: 88) ist ein Teilprojekt des Großprojekts ALMA-H (Atlas Linguístico-Contatual das Minorias Alemãs na Bacia do Prata − Hunsrückisch). Als Beispiel für die Verschriftlichung des Hunsrückischen im wissenschaftlichen Kontext dient die Hunsrickisch Red fo die Sprocherechte von Altenhofen & Frey (2006). Die multilinguale Situation, in der die Hunsrücker sich sprachlich bewegen, ist komplex und wird von Altenhofen (1996: 26) als „Varietätennetzwerk“ bezeichnet, welches durch mindestens acht Kontaktkonstellationen determiniert ist. Diese Konstellationen sind nach Altenhofen (1996: 26) die mosel- und rheinfränkische Varietätengrundlage, das Latein als wohl primäre Kontaktsprache, das Französische (womit die Varietäten im Ursprungsland in Kontakt standen), die portugiesische Varietät in Rio Grande do Sul, eine Ausprägung des „lokale[n] Hochdeutsch“, weitere Varietäten des Deutschen, die in der Umgebung gesprochen werden (wie zum Beispiel Schwäbisch, DeutschböhmischBairisch, Westfälisch), weitere Einwanderersprachen (wie Polnisch, Italienisch) und zuletzt auch die Kontaktsprachen der indigenen Bevölkerung, wenngleich deren Einfluss sicherlich marginal ist. Ziegler beschreibt die sprachliche Situation, in der ein prototypischer Hunsrücker sich befindet, als „soziales Kontinuum“ mit den jeweiligen Polen Hunsrücker Varietät und portugiesische Standardsprache (beziehungsweise eine Ausprägung davon) (Ziegler 1996: 83). In der Mitte dieses Gefüges befindet sich das so genannte „Misturado“, welches die Funktion einer Umgangssprache innehat und durch eine Vielzahl an „portugiesischen Interferenzen“ gekennzeichnet ist (siehe Ziegler 1996: 73 u. 83). Ein anschauliches Beispiel hierfür ist: „De Man hat de mulo mit de rehle durch de banhado in das potrea ketockt. (Der Mann hat den Esel (portug. a mula) mit der Peitsche (portug. o relho) durch den Sumpf (portug. o banhado) auf die Weide (portug. o potreiro) getrieben (portug. tocar))“ (Ziegler 1996: 73). In Bezug auf das Sprachenrepertoire erwähnt Pupp Spinassé (2016: 96), dass zahlreiche ältere Personen Defizite im Portugiesischen hätten bzw. eine deutliche Präferenz vorläge, auch bei ausgeprägter Sprachkompetenz im Portugiesischen, Hunsrückisch zu kommunizieren. Ziegler geht zudem davon aus, dass die Standardvarietät zwar von nahezu allen Hunsrückern verstanden wird, jedoch nicht fehlerfrei geschrieben bzw. gesprochen werden kann (siehe Ziegler 1996: 47). Altenhofen charakterisiert die Domänenverwendung des Portugiesischen und der Hunsrücker Varietät folgendermaßen: „Das Ptg. [Portugiesische] wurde zum Symbol der Stadt, der höheren Schicht, des Wissens, der Schule, der Nationalität und der jüngeren Generation. Das Hrs. [Hunsrückische] wird im Gegensatz dazu wachsend mit der Sprache der ländlichen Gegenden, der Herkunft, der Familie, der Gruppensolidarität und der älteren Generation assoziiert.“ (Altenhofen 1996: 73). Die beschriebene Domänenteilung wird ebenfalls von Ammon (2015: 376) erwähnt, der anführt, dass keine verlässlichen Daten vorliegen, wie viele Kinder heutzutage noch Hunsrückisch als Primärsprache erlernen (siehe Ammon 2015: 374). Dass die Familie für den Erhalt des Hunsrückischen vor allem in den ländlichen Regionen als eine Art „sprachliches Refugium“ fungiert, attestiert Altenhofen (2016: 126) auch für die rezenten Verhältnisse. Allerdings konnte in Interviewsituationen, die auf Hunsrückisch abliefen, beobachtet werden, dass Erwachsene mit Kindern und Jugendlichen auf Portugiesisch kommunizieren (siehe Altenhofen 2016: 126).
1160
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
2.2.2. Deutschböhmen „Deutschböhmen“ ist ein Terminus, der impliziert, dass die entsprechenden Personen deutsch(sprachig)er Abstammung waren und in einem Territorium siedelten, welches zum heutigen Westtschechien gehört. Nachfahren dieser Deutschböhmen, die eine oberdeutsche Varietät (genauer einen nordmittelbairischen Mischdialekt) sprechen, leben noch heute im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Catarina, vor allem in der Stadt São Bento do Sul (zur weltweiten Verbreitung dieser Gruppe siehe Wildfeuer 2016). Da die Herkunftsorte der bairischen Ansiedler von Saõ Bento diesseits und jenseits der bayerischen Ostgrenze lagen (siehe Blau 1958: 10), meint Deutschböhmen in diesem besonderen Falle auch einige Personen bayerischer Abstammung. Die Siedlungsgeschichte der so genannten Deutschböhmen beschreibt Blau (1958: 7−8) wie folgt: „Erst 1873 begann die Hamburger Ansiedlungsgesellschaft mit der Besiedlung des Hochlandes von Sao [sic!] Bento, die die ersten Kolonisten baierischen Volkstums nach Südamerika brachte; […] die nächste baierische Ansiedlung Dreizehnlinden [Treze Tílias] unter dem österreichischen Minister Thaler kam erst 1933, […].“ 1873 machten sich 26 Deutschböhmen auf den Weg nach Brasilien (siehe Blau 1958: 17), 1876 kamen weitere 300 Auswanderer aus Bayern und dem Böhmerwald hinzu (siehe Blau 1958: 96). Einer Ansiedlungsliste São Bentos für die Jahre 1874−1878 nach betrug der Anteil von Personen aus dem Böhmerwald und Bayern insgesamt 225, was einem Prozentsatz von 46,2 % entspricht. Die Deutschböhmen und ihre Varietät waren von Anfang an im Kontakt mit weiteren bairischen und norddeutschen Varietäten, dem Pommerischen, dem Polnischen, dem Brasilianischen, dem Französischen und auch dem Tschechischen (siehe Blau 1958: 46). Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurden 1914 alle Schulen mit deutscher Schulsprache unverzüglich geschlossen, und es entstanden Schulen mit portugiesischer Unterrichtssprache. Diese konnten anfänglich jedoch nur geringe Akzeptanz verzeichnen. Hingegen war die früher praktizierte Variante, Portugiesisch in deutschen Schulen zu unterrichten, erfolgreicher, da damit eine sprachliche Basis gelegt worden war, die im alltäglichen Umgang mit Portugiesisch Sprechenden dann vertieft werden konnte (siehe Blau 1958: 101). Ab 1938 verschärfte sich die Lage zunehmend, und es kam zu einer Verbannung der deutschen Sprache aus dem öffentlichen Leben, die laut Blau auch zur Folge hatte, dass das Deutsche nicht mehr an Jüngere tradiert wurde (siehe Blau 1958: 105). Ganz so hoffnungslos zeigt sich die Lage aktuell nicht. Von den Verfassern durchgeführte Interviews mit deutschböhmischen Nachfahren aus Saõ Bento stellen unter Beweis, dass es durchaus noch zahlreiche kompetente Sprecher auch innerhalb der mittleren Generation gibt. Die Zahl kann laut Aussage von Informanten alleine in Saõ Bento auf ca. 700 bis 1.000 geschätzt werden, und es scheint wohl auch so zu sein, dass es noch einige wenige jüngere Sprecherinnen und Sprecher gibt (siehe hierzu auch EllerWildfeuer 2016). 2007 und 2011 führten die Verfasser mit insgesamt drei Informanten, die die Herkunftsorte ihrer Vorfahren in Tschechien besuchten, Befragungen in Form von sprecherbiographischen Interviews durch. Das sprachliche Repertoire der interviewten Personen besteht aus einer Ausprägung der deutschen Varietät und der portugiesischen Sprache. Ihre deutsche Varietät bezeichnen sie als „Bairisch“ oder auch „Boarisch“ und sie sind stolz darauf, diese noch zu schnattern (‘sprechen’). Bei den Befragten fand, mit Ausnahme einer Informantin, die mit ihrem Mann nach wie vor Deutschböhmisch spricht und die Varietät auch an ihre Kinder tradierte, eine
45. Deutsch als Minderheitensprache in Mittel- und Südamerika
Abkehr von der einstigen Primärsprache hin zum Portugiesischen statt. Die drei Befragten verfügen nach wie vor über ausgeprägte Kompetenzen im Deutschböhmischen. An ihre Kinder haben zwei der drei Befragten die Varietät nicht tradiert. Ein Sohn, der bei der Befragung 2007 anwesend war, verfügt lediglich über passive Sprachkompetenz.
3. Auswahl einer prototypischen Situation und Beschreibung des sprachlichen Repertoires Im Folgenden wird anhand der deutschbasierten Minderheitensprache der Deutschböhmen in São Bento (Santa Catarina) die sprachliche Situation konzise dargestellt. Exemplarisch wird ein Ausschnitt eines Interviews, das im September 2007 durchgeführt wurde, transkribiert wiedergegeben. Der befragte Sprecher A. B. wurde 1949 in São Bento in eine deutschböhmische Familie hineingeboren und wohnt bis heute dort. Seine Vorfahren sind nach seiner Auskunft um 1870 aus dem östlich des Künischen Gebirges (Královský Hvozd) liegenden Hammern/Hamry (Okres Klatovy, Tschechien) nach Brasilien ausgewandert. Er benutzt nach eigenen Angaben die deutschböhmische Varietät noch gelegentlich in der Kommunikation mit seiner Ehefrau und mit Geschwistern. Seine Kinder dagegen haben die Minderheitensprache nicht mehr erworben. Folgende Ausschnitte aus dem etwa halbstündigen Interview geben einen Einblick in die deutschböhmische Minderheitensprache und in die aktuelle Situation der Sprachverwendung vor Ort. Auf eine enge phonetische Transkiption wird an dieser Stelle verzichtet. Das Interview wurde mit dem Transkriptionstool EXMARaLDA transkribiert und annotiert (die Abkürzung A. B. steht für die Gewährsperson, N. E. für Nicole Eller-Wildfeuer, A. W. für Alfred Wildfeuer, K. für Kommentare und Ü. für eine Übertragung ins Standarddeutsche). Einzelne für den Argumentationsgang relevante Belege werden nach den Konventionen von IPA transkribiert.
3.1. Transkription eines freien Gespräches mit Gewährsperson A. B. [1] 1 [03:04.1]
2 [03:07.3]
A. W. [v] Und ähm iats vo enk enkane kinna (--) kinna de (–) no Boarisch oda wochsn de dann Ü. [v]
Und ähm jetzt von euch, euere Kinder,
können die noch Bairisch oder wachsen die dann
…
3 [03:12.5]
[2] (1,9) mia […] hätt mas ea a so ament sogoa
A. B. [v] A. W. [v] (.) nur no mit Portugiesisch af Ü. [v] K. [k]
nur noch mit Portugiesisch auf?
Wir hätten es ihnen so vielleicht sogar anfänglich Geräusche im Hintergrund, Teile schwer verständlich
1161
1162
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
[3] 4 [03:16.6]
A. B. [v] (.) glernd und homa Ü. [v]
gelernt und haben,
5 [03:17.5]
6 [03:19.3]
homas ea willn lerna
(--) owas schlecht (.) is
haben es ihnen wollen lernen,
aber das Schlechte ist,
[4] 7 [03:20.7]
A. B. [v] waa (.) d nachbarn Ü. [v]
weil die Nachbarn
8 [03:21.9]
9 [03:23.7]
10 [03:25.0]
(--) und nachand is d schul
(---) da unterricht
(--) und television
und nachher ist die Schule,
der Unterricht
und Television
[5] 11 [03:26.5]
12 [03:29.3]
A. B. [v] (.) und alles wei ma song (.) des is alles af Portugiesisch Ü. [v]
und alles, wie wir sagen, das ist alles auf Portugiesisch.
(---) da äh von uns Da äh von uns
[6] 13 [03:31.8]
14 [03:32.8]
A. B. [v] (.) da älterner hods no a weng gwisst Ü. [v]
der Ältere hat es noch ein wenig gewusst,
owa eitzand hod eas scho voglernt aber jetzt hat er es schon vergelernt,
[7] 15 [03:34.3]
A. B. [v] (–) volernt
16 [03:34.9]
17 [03:36.1]
wei mia hama a (.) i han a
(.) scho ungefähr zwanzg johr wos ma
Ü. [v]
verlernt,
wie wir haben auch, ich habe auch schon ungefähr zwanzig Jahre, was man
K. [k]
Sprecher verbessert sich. Sprecher setzt neu an.
[8] …
A. B. [v] nimmer Ü. [v]
nicht mehr
18 [03:38.1]
19 [03:40.3]
20 [03:42.3]
(--) gschnodert hod die Bairische ne (---) weil die eltern san (.) weggfolln ne geschnattert hat die Bairische, nicht?
Weil die Eltern sind
weggefallen, nicht?
45. Deutsch als Minderheitensprache in Mittel- und Südamerika
1163
[9] 21 [03:43.4]
A. B. [v]
…
22 [03:47.9]
(0,9) und (–) de meistn hätzadogs schnodern Portugiesisch ne
(---) is schlechd mhm
N. E. [v] Ü. [v]
Und die meisten heutzutage schnattern Portugiesisch, nicht?
Ist schlecht
[10] …
23 [03:50.0]
24 [03:51.1]
25 [03:53.6]
A. B. [v] zun holtn ne N. E. [v] mhm
mh
A. W. [v]
(–) ja ja
(---) eitz wenns aber wenns enk es
auf der stroß treffts
Ja, ja.
Jetzt wenn ihr, aber wenn euch ihr
auf der Straße trefft,
Ü. [v]
zum halten, nicht?
[11] 26 [03:55.0]
27 [03:56.2]
A. W. [v] iatz de andern wird dann no Ü. [v]
jetzt, die anderen, wird dann noch,
wird do no a weng mh Boarisch gredt oder is dann wird da noch ein wenig Bairisch geredet oder ist dann
[12] 28 [03:58.2]
A. B. [v]
29 [03:58.9]
30 [04:00.1]
31 [04:01.4]
mia rema mia
af a so af da straß
und af de andern
Wir reden, wir
auf so auf der Straße
und auf die anderen,
A. W. [v] eher Portugiesisch Ü. [v]
eher Portugiesisch?
Sprecher setzt neu an.
K. [k]
[13] 32 [04:02.0]
33 [04:04.0]
34 [04:06.6]
A. B. [v]
wenn ma si so begegnd mit epan ne
(1,1) rema fei nur Portugiesisch
nur wenn
Ü. [v]
wenn man sich so begegnet mit jemanden, nicht,
reden wir bloß nur Portugiesisch.
Nur wenn
[14] …
35 [04:08.6]
36 [04:09.8]
A. B. [v]
ma mit da famili zamghemand
(--) weil mia samma
(---) acht (.) briada
Ü. [v]
wir mit der Familie zusammenkommen,
weil wir sind
acht Brüder,
1164
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
[15] 37 [04:11.3]
A. B. [v] N. E. [v]
38 [04:11.7]
39 [04:14.3]
(.) san drei deandla (--) und finf boum
(---) wenn ma (.) hinter da famili
sind drei Mädchen und fünf Buben.
Wenn wir unter der Familie
mhm
Ü. [v]
[16] A. B. [v]
…
40 [04:17.2]
41 [04:19.1]
42 [04:21.1]
zamghemand
(---) nahand rema awel
(---) nahand rema (–) deitsch mhm
N. E. [v] Ü. [v]
zusammenkommen, dann reden wir allweil,
dann reden wir Deutsch.
[17] A. B. [v]
43 [04:21.7]
44 [04:22.5]
45 [04:25.1]
nahand rema die
(--) die sprach no wos ma glernt hamand vo dahoam (.) ne (–) mhm
A. W. [v] Ü. [v]
Dann reden wir die
die Sprache noch, was wir gelernt haben von daheim, nicht?
[18] 46 [04:25.7]
47 [04:26.9]
48 [04:27.8]
A. B. [v]
weng dem woaß mas no a weng
weil wenn des ned waar
dad mas gor nim (.)
Ü. [v]
Wegen dem weiß man es noch ein wenig,
weil wenn das nicht wäre,
täte man es gar nimm-, Sprecher setzt neu an.
K. [k]
[19] …
49 [04.29.7]
A. B. [v] beinah gor nimma wissn ne
K. [k]
51 [04:31.6]
(1,2) waal
mia sama a grouße famili samma in acht
Weil
wir sind eine große Familie, sind wir in acht,
mh
N. E. [v] Ü. [v]
50 [04:29.9]
beinahe gar nicht mehr wissen, nicht?
Sprecher verbessert seine Äußerung.
45. Deutsch als Minderheitensprache in Mittel- und Südamerika
1165
[20] …
52 [04:35.5]
53 [04:37.6]
A. B. [v] (–) acht (–) ne (–) mei älterner bria (.) bruader hod (1,1) seksasechzg johr
54 [04:40.3]
und mei
N. E. [v] mhm Ü. [v]
acht, nicht?
K. [k]
Mein älterer Brü-, Bruder hat
sechsundsechzig Jahre
Sprecher setzt neu an.
langer s-Anlaut
und meine
[21] …
A. B. [v]
55 [04:42.8]
jingste schwesda hod zwoaravierzg johr
57 [04:45.0]
(.) und samma no alle lema no alle
(--) und
mhm
N. E. [v] Ü. [v]
56 [04:43.1]
Schwester hat zweiundvierzig Jahre.
Und sind wir noch alle, leben wir noch alle. Und alle
[22] …
58 [04:47.6]
59 [04:49.4]
60 [04:51.3]
A. B. [v]
alle johr mach ma a alle johr ned
(--) mia homa drä
(--) drä johr wos ma
(--) unser
Ü. [v]
Jahre machen wir, alle Jahre nicht,
wir haben dre-,
drei Jahre, was wir
unser
[23] …
61 [04:52.9]
62 [04:54.8]
A. B. [v]
fest
(–) gmocht hamand a so hinter da familie
(–) nahand kemma alle bria(da)
Ü. [v]
Fest
gemacht haben so unter der Familie,
dann kommen alle Brüder. -da von briada kaum verständlich
K. [k]
[24] A. B. [v]
…
63 [04:57.1]
i han sogar bildln mit
(–) i kant enks zoing
64 [04:57.4]
ja (–)
N. E. [v]
de meng ma no seng
A. W. [v] Ü. [v] K. [k]
65 [04:57.9]
Ich habe sogar Bilder mit.
Ich könnte euch es zeigen.
Die möchten wir noch sehen
1166
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
[25] 66 [04:58.3]
67 [04:59.4] 68 [04:59.9] 69 [05:00.1]
(.) ja
A. B. [v] N. E. [v] ja (.) de meng ma seng
(1,6) i wird holn owa mh
nachher.
Ü. [v]
Ja, die möchten wir sehen.
i hols ja (–) gern
A. W. [v] nachand Ü. [v]
70 [05:02.5] 71 [05:02.9]
ja Ja.
Ich werde holen. Aber
ich hole sie.
Ja.
[26] 72 [31:13.4]
A. W. [v] Oans (.) oa frag hama na (–) und zwar Ü. [v]
Eins, eine Frage haben wir noch – und zwar:
K. [k]
Lachen im Hintergrund
73 [31:16.1]
74 [31:17.9]
(--) wias (–) es dahoam sagts
(–) zu
Wie ihr daheim sagt
zu
[27] A. B. [v]
75 [31:18.0]
76 [31:19.6]
äh
(---) mada irda micha pfinsta (.) fräta samsta und sunnta
A. W. [v] de wochadagsnam Ü. [v]
die Wochentagsnamen?
Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag.
Bereits dieser kurze Ausschnitt zeigt sprachliche Besonderheiten, die konkret auf eine bairisch geprägte Minderheitensprache hinweisen, vor allem auf die nordmittelbairische Übergangszone, wie sie bis heute im Herkunftsgebiet der deutschböhmischen Siedler im östlichsten Bayern und angrenzenden Westböhmen greifbar ist.
3.2. Lautliche Charakteristika Typisch für viele auf bairischen Varietäten basierende Minderheitensprachen sind der Erhalt bzw. die Weiterentwicklung der historischen Protodiphthonge ie, üe, uo, die in der Standardsprache und zahlreichen weiteren Varietäten des Deutschen rezent monophthongisch realisiert werden. Der ausgeprägte Mischcharakter des Deutschböhmischen zeigt sich dabei in der wortweise unterschiedlichen Weiterentwicklung dieser Protodiphthonge. So existieren neben der für mittelbairische Varietäten konstitutiven Realisierung von ie und üe als /iɐ̯/und von uo als /uɐ̯/ auch die in der traditionellen dialektologischen Literatur als gestürzte Diphthonge bezeichneten nordbairischen /ɛɪ̯ / (für die Protodiphthonge ie und üe) und /ɤʊ̯/ (für historisches uo). Belege für den aus sprachgeschichtlicher Perspektive konservativen Erhalt bzw. in diphthongischer Form weiterentwickelter Phoneme stellen folgende Formen dar:
45. Deutsch als Minderheitensprache in Mittel- und Südamerika
(1)
[b̥ruɐ̯dɐ] ‘Bruder’
(2)
[b̥riɐ̯dɐ] ‘Brüder’
(3)
[βɛɪ̯ ] ‘wie’
(4)
[b̥ɤʊ̯m] ‘Buben’
1167
Wie in dieser kurzen Auflistung ersichtlich, kommen neben den mittelbairischen Diphthongen /uɐ̯/ und /iɐ̯/ auch die nordbairischen Varianten /ɤʊ̯/ und /ɛɪ̯ / vor. Diese wortweise unterschiedliche rezente Realisierung belegt den aus lautlicher Sicht deutlichen Mischcharakter der Varietät und rechtfertigt die Zuordnung der deutschböhmischen Minderheitensprache São Bentos zur nordmittelbairischen Varietätengruppe, die im Binnenraum bis heute vergleichbare lautliche Strukturen aufweist. Weiterhin charakteristisch ist für diese Gruppe von Minderheitensprachen die Weiterentwicklung des Protodiphthongs ei zu /oɐ̯/ oder /oɪ̯ /. Auch hier zeigt sich erneut der nordmittelbairische Mischcharakter der Minderheitensprache, da neben mittelbairischen /oɐ̯/ nordbairisches /oɪ̯ / belegbar ist: (5)
[βoɐ̯s] ‘weiß’ (1. und 3. Person Singular von wissen)
(6)
[d̥soɪ̯ ŋ] ‘zeigen’
Auf ein relativ kleines Gebiet im Binnenraum weist die Monophthongierung ehemaliger Langvokale hin, die bis heute im bayerisch-tschechischen Grenzraum nachweisbar ist und auch in der Aufnahme mit dem Sprecher A. B. mehrmals auftaucht: (7)
[d̥rɛ:] ‘drei’
(8)
[hɛtsɐd̥ɔ:ɡ̥s] ‘heutzutage’
Aus moderner binnenbairischer Perspektive ist bemerkenswert, dass die rezent als Kennlautung für große Teile des Bairischen zu betrachtende sogenannte l-Vokalisierung in der brasilianischen Variante nicht greifbar ist. Postvokalisch bleibt der Lateral durchgehend konsonantisch erhalten. Es ist davon auszugehen, dass zur Zeit der Auswanderung der Deutschböhmen nach Brasilien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Vokalisierung des Liquids im Auswanderungsgebiet noch nicht etabliert war: (9)
[ʃu:l] ‘Schule’
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
(10) [ɛ:ltɐn] ‘Eltern’ (11) [ho:ltn] ‘halten’ Ebenfalls typisch für bairischbasierte Minderheitensprachen ist die Hebung von a in gewissen lautlichen Umgebungen (a-Verdumpfung). Dieser Lautwandel ist auch für das Deutschböhmische in Brasilien anhand verschiedener Lexeme belegbar: (12) [hɔ:d̥] (er) ‘hat’ (13) [ɡ̥ʃnɔ:d̥ɐd] ‘geschnattert’ (im Sinne von ‘gesprochen’) (14) [ho:ltn] ‘halten’
3.3. Lexikalische Charakteristika Im Bereich der Lexik zeigt die Minderheitensprache ebenfalls deutlich ihre Zugehörigkeit zur bairischen Varietätengruppe. Entsprechende Kennformen bzw. Kennwörter finden sich bereits in dem kurzen Transkript (zu den bairischen Kennwörtern in deutschböhmischen Minderheitensprachen siehe Wildfeuer 2017). Das ehemalige Dualpronomen enk ‘euch’ (mit pluralischer Bedeutung) taucht darüber hinaus mehrmals in den aufgezeichneten Gesprächen auf. Auch das Lexem Deandla ‘Dirnlein, Mädchen (Pl.)’ ist vor allem im Bairischen belegt. Dies gilt ebenso für die im Binnenbairischen heute meist ausgestorbenen Bezeichnungen Ne:l ‘Ahne, Großvater’ und Na:l ‘Ahne, Großmutter’ (nicht in obiger Transkriptionsauswahl abgedruckt) der Gewährsperson A. B. und ganz besonders für die heute nur mehr in konservativen Ausprägungen des Bairischen existierenden Wochentagsnamen Irda ‘Ertag, Dienstag’ und Pfinsta ‘Pfinztag, Donnerstag’, die ebenfalls im Interview mit A. B. erhoben werden konnten. Auffällig ist das inzwischen im Binnenraum fast gänzlich verschwundene hinter im Sinne von ‘unter’ (siehe hierzu Schmeller 1872/1877, Bd. 1: Sp. 1745).
3.4. Sprachkontaktphänomene Neben den bairischen Spezifika zeigen sich einige Sprachkontaktphänomene, vor allem im Bereich der Lexik. Exemplarisch soll hier zuerst der Beleg Schneidossi der Gewährsperson A. B. (nicht im obigen Transkript) herausgestellt werden. Das Lexem stellt eine hybride Bildung aus bairisch Schnei ‘Schnee’ und portugiesisch doce ‘Süßigkeit’ dar und bezeichnet ein bei den Deutschböhmen in der Weihnachtszeit beliebtes Süßgebäck mit Puderzucker.
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Der Sprecher A. B. verwendete zudem das portugiesische Lexem prefeito anstelle einer auf Bürgermeister basierenden deutschen Variante und thematisiert dies folgendermaßen: (15) mia hama o durt des scho glernt von unserne Eltern, des is da prefeito, ne? Aber des is auf Portugiesisch prefeito. […] Aber mia hama des scho a so glernt und hamma des mid dem richtinga Nam vo wos a prefeito is nimmer glernt (Wir haben ja dort das schon gelernt von unseren Eltern, das ist der prefeito, nicht? Aber das ist auf Portugiesisch prefeito. […] Aber wir haben das schon so gelernt und haben das mit dem richtigen Namen von was ein prefeito ist nicht mehr gelernt) Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass sich in der vorliegenden Aufnahme keine Codeswitching-Phänomene zeigen. Dies weist darauf hin, dass die Gewährsperson A. B. über eine ausgeprägte Kompetenz in der Minderheitensprache verfügt und somit ein kompetenzgesteuertes Codeswitching (referential function nach Appel & Muysken 1987: 118− 121) unterbleiben kann.
4. Sprachpolitische und soziolinguistische Aspekte, sprachliche Vitalität Vor allem in Bezug auf die Varietäten der Hunsrücker scheint sich auf den Spracherhalt negativ auszuwirken, dass innerhalb der Sprechergruppe tendenziell eine abwertende Einstellung bezüglich der eigenen Varietät vorherrscht, vor allem im Vergleich zur deutschen Standardsprache. Pupp Spinassé (2016: 83 u. 85) konnte im Rahmen ihrer Untersuchung zum Hunsrückischen aufzeigen, dass die Sprechenden ihre eigene Varietät „als schlechtes Deutsch“ bezeichnen. Die Autorin hält hierzu prägnant fest: „Als Varietät deutscher Herkunft wird das Hunsrückische im Allgemeinen ständig mit dem Standarddeutschen aus Deutschland verglichen. Was davon abweicht, wird für »Fehler« gehalten. Der Entwicklungsprozess der Sprache, ihre internen Regeln und ihre Systematizität in der Phonetik-Phonologie, in der Syntax sowie in der Wortbildung werden nicht berücksichtigt − und sie wird auf »falsches«, »schlechtes« Deutsch reduziert.“ (Pupp Spinassé 2016: 87). Die Varietät der Hunsrücker hat somit − zumindest teilweise − einen eher negativen Status. Zu dieser Einschätzung gelangt auch Ammon (2015: 370). Allerdings ist das obige Zitat insofern einzuschränken, als Pupp Spinassé (2016: 96) im Rahmen ihrer Befragungen von Sprechern zu dem Ergebnis kommt, dass 88 % der Befragten auf die Frage, welche Sprache sie am schönsten finden, mit „Hunsrückisch“ antworteten. Wenn auch im Vergleich zur Standardsprache das Hunsrückische als tendenziell minderwertig eingeschätzt wird, so hat die allergrößte Mehrheit der Sprecher durchaus ein positives Bild der eigenen Minderheitensprache. Es scheint hier ein generelles Problem dachloser Minderheitensprachen (zu denen wir tendenziell das Hunsrückische zählen) durchzuscheinen, indem die deutschbasierte Varietät nicht mehr durch die mediale und schulische Präsenz einer deutschen Standardsprache gestützt wird und in der Folge einen Prestigeverlust erleidet. Ähnliches ist auch aus anderen deutschsprachigen Siedlungen belegt.
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Hierzu kann exemplarisch auf die Untersuchung von Huffines (1988: 68) zum Pennsylvania German und auf Salmons (1986: 160) generell zum Deutschen in den USA hingewiesen werden. Der Verlust einer standardnahen Varietät als Dachsprache hat seine Ursache im Nationalisierungsprozess Brasiliens unter Präsident Getúlio Vargas ab den 1930er Jahren, der auf eine portugiesische Einsprachigkeit abzielte (vgl. Pupp Spinassé 2016: 85). Der Schulunterricht in Deutsch wurde eingestellt, die Varietäten wurden somit zunehmend dachlos. Ammon (2015: 370) hält hierzu fest: „1938 (nach manchen Quellen schon 1937), bei Beginn der Politik des Estado Novo, die offiziell bis 1945 dauerte, wurden − in ganz Brasilien − ca. 1.300 deutsche Privatschulen, 2.000 Vereine, 70 Zeitungen und Periodika, sowie jeglicher Deutschunterricht verboten […].“ Für das Hunsrückische kommt erschwerend hinzu, dass seitdem kaum eine schriftsprachliche Tradition existiert. Erst durch das Projekt ESCRITHU wurden in den letzten Jahren Regeln zur Verschriftung zur Verfügung gestellt (siehe Pupp Spinasé 2016: 88). Ob dies zu einer Aufwertung des positiven Selbstbilds gegenüber der eigenen Minderheitensprache führen kann, werden zukünftige sprachbiografische und soziolinguistische Studien herausfinden müssen. Deutlich positiv dürften sich − neben der oben kurz angesprochenen Entwicklung von ESCRITHU − didaktische Projekte auswirken, die die deutschbasierte Minderheitensprache für den Erwerb der Standardsprache nutzen. Pupp Spinassé (2016: 86) hat hierzu das Projekt Methodische Aspekte des Deutschunterrichts in multilingualen Kontexten Portugiesisch-Hunsrückisch (Ens-PH) entwickelt. Dabei soll neben der Nutzbarmachung der deutschbasierten Minderheitensprache auch die Einstellung zur eigenen Sprache positiv gestärkt werden. Dies geschieht unter anderem durch eine Fokussierung auf eigenständige Entwicklungs- und Entlehnungsprozesse im Hunsrückischen. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass die Unterstützung einer positiven Einstellung gegenüber der eigenen Minderheitensprache dadurch erfolgt, dass das Hunsrückische auch als Brücke beim Deutschlernen fungieren kann. Das didaktische Projekt ist deutlich kontrastiv ausgerichtet und daher gut anschlussfähig an das seit einigen Jahren auch in Deutschland verbreitete Konzept der „Inneren Mehrsprachigkeit“ im Schulunterricht. Spracherhaltend wirkt sich auf die Varietäten zudem aus, dass nach Ammon (2015: 374) bei den Hunsrückern immer noch eine Tendenz zur Endogamie besteht, sodass das Deutsche als Familiensprache zum Teil weiterexistiert. Außerdem bestehen bis heute dörfliche Sprachgemeinschaften in abgelegenen Gebieten (siehe Ammon 2015: 374− 375). Ammon (2015: 376) berichtet zudem von seiner Beobachtung, dass in einigen Rathäusern im Gebiet der Hunsrücker eine Kommunikation auf Deutsch möglich ist. Dagegen findet das Deutsche als Sprache der Liturgie kaum mehr Verwendung (siehe Ammon 2015: 376). In Bezug auf deutschsprachige Printmedien ist die Versorgung der Hunsrücker als sehr dürftig einzustufen. Eine eigene Tages- oder Wochenzeitung existiert nicht mehr. Die Deutsche Zeitung (mit Sitz in São Paulo) ist eine brasilienweite Monatszeitung. Dies stellt im Vergleich zu früher einen starken Schwund des Zugangs zu deutschsprachigen Printmedien dar. Zudem weist die jüngere Generation der Hunsrücker eine stark eingeschränkte Lesekompetenz in Bezug auf das Deutsche auf (siehe Ammon 2015: 377). Ammon (2015: 378) erwähnt zwar die Zunahme kultureller Aktivitäten, beklagt jedoch gleichzeitig das Fehlen „an zugkräftigen kulturellen und sprachpflegerischen Verbänden.“ Zudem „fehlen prominente überregionale Meinungsführer, die den Zusammen-
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halt fördern könnten“. Auch besteht seiner Ansicht nach nur wenig Kontakt zu deutschsprachigen Ländern und eine wenig entwickelte Kontaktaufnahme durch Tourismus (Ammon 2015: 378−379). Zusammenfassend kann zu den Hunsrückern festgehalten werden, dass einerseits eine noch relativ große Anzahl an Sprechern vorhanden ist und die Varietät teilweise noch einen wichtigen Status als mündliche Familiensprache innehat, andererseits die tendenzielle Dachlosigkeit − in Verbindung mit einem eher negativen Prestige des Dialekts im Vergleich zur Standardsprache − sich kontraproduktiv auf den Erhalt des Hunsrückischen auswirkt. Ob bei den Deutschböhmen São Bentos ein mit den Hunsrückern vergleichbares, tendenziell negatives Selbstbild vorherrscht, wurde bisher nicht gezielt erforscht. Bei den von den Verfassern des vorliegenden Beitrags geführten Interviews tauchte nur an einer Stelle eine dahingehend interpretierbare Aussage auf. Auf die Frage, ob ihr deutschlernender Enkelsohn auch Bairisch lernt, antwortet die 2011 interviewte, deutschböhmische Sprecherin E. S. folgendermaßen: (16) Na:, Bairisch moin i is für eahm zu schlecht ‘Nein, Bairisch meine ich ist für ihn zu schlecht’ Ähnlich wie das Hunsrückische ist das Deutschböhmische als tendenziell dachlose Varietät einzustufen. Auch hier ist der Zugang zu den Printmedien deutlich eingeschränkt (eine Ausnahme stellt eventuell die brasilianische Monatszeitung Deutsche Zeitung aus São Paulo dar). Eine gewisse Präsenz des Deutschen ist durch kulturelle Einrichtungen gegeben. So existiert in São Bento z. B. eine deutschböhmische Tanzgruppe. Weitere Aktivitäten mit deutschem Hintergrund, wie z. B. das jährlich stattfindende Schlachtfest und Bauernball, nennt die offizielle Internetseite. Aus sprachpolitischer Perspektive und auch in Bezug auf den Erhalt oder Verlust der deutschbasierten Minderheitensprachen ist zudem das Konzept der Spracharchipele (siehe Steffen & Altenhofen 2014) tragfähig. Dieses Konzept, das im Folgenden kurz skizziert wird, trifft sowohl auf die Hunsrücker Brasiliens als auch auf die Mennoniten Belizes zu. Für die Deutschböhmen São Bentos hat es unserer Ansicht nach jedoch keine Gültigkeit. Ein Merkmal zahlreicher Minderheitensprachen, auch deutschbasierter in Mittel- und Südamerika, ist die Beobachtung, dass die Gemeinschaften nicht geschlossen nebeneinander siedeln, sondern sich über ein größeres Gebiet verstreuen und die jeweiligen Varietäten nicht durchgehend räumlich nebeneinander existieren. In Fortführung bzw. Erweiterung eines traditionellen Sprachinsel-Begriffs halten hierzu Steffen & Altenhofen (2014: 39) für die Hunsrücker Brasiliens und die Mennoniten Belizes Folgendes fest: „Die Sprachgemeinschaften haben vielmehr den Charakter eines Archipels, also einer Vielzahl zusammenhängender Inseln, zwischen denen verschiedene Formen von Kommunikation stattfinden.“ Als kohäsionsstiftend betrachten Steffen & Altenhofen (2014: 45) z. B., dass Mitglieder verschiedener Mennonitensiedlungen in Belize sich gegenseitig besuchen, um Handel zu betreiben und dabei Plautdietsch sprechen. Dabei bleibt die Kommunikation nicht auf Belize beschränkt, sondern reicht bis nach Paraguay und in die USA (siehe Steffen & Altenhofen 2014: 47). Auch für die Hunsrücker bestätigen sie Ähnliches, indem sie festhalten, dass „durch die Migration und Ausdehnung der Hunsrückergruppe typi-
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
sche Produkte und im Gefolge die Sprache sich ausdehnten und sozusagen einen TeutoRiogradenser Kulturraum über die brasilianischen Grenzen hinaus bis nach Misiones (Argentinien und Paraguay) entwickelten“ (Steffen & Altenhofen 2014: 45). Es ist somit von möglicherweise intakten Verflechtungen auszugehen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass die Kommunikation dabei nicht auf die Mündlichkeit beschränkt bleibt, sondern auch die Schriftlichkeit erfasste, die zwar meist in Standarddeutsch erfolgte, diese jedoch durchaus mit Varianten der Minderheitensprachen durchsetzt ist, wie Steffen & Altenhofen (2014: 49−50 u. 53) anhand von Briefen feststellen konnten. Dieses Konzept der „Distanzkommunikation“ (Steffen & Altenhofen 2014: 48) greift für die Hunsrücker und Mennoniten, jedoch nicht für die Gruppe der Deutschböhmen. Ein Spracharchipel konnte sich aufgrund des sehr begrenzten Raums der Ansiedlung in und um São Bento nicht entwickeln. Im Vergleich zu den Hunsrückern und den Deutschböhmen ist die Versorgung der Mennoniten mit Printmedien deutlich ausgebauter. Sie haben eigene Zeitungen bzw. Zeitschriften, z. B. in Belize Der Leserfreund. Darüber hinaus existieren panamerikanische Zeitschriften wie z. B. Das Blatt, Die Mennonitische Post und Gemeinde unter dem Kreuz des Südens (siehe Ammon 2015: 393). Auch ist in den meisten Siedlungen Zugang zu Radiosendern möglich (siehe Ammon 2015: 392). Zudem ist vielfach eine Überdachung durch eine standardnahe Varietät, das sogenannte „Mennonitenhochdeutsch“ (von den Sprechern auch als „Hüegdeutsch“ bezeichnet), vor allem im religiösen Kontext, gegeben (siehe Ammon 2015: 382 u. 388; Steffen 2006: XLI). Generell spielt das Deutsche bzw. eine Varietät davon eine bedeutende Rolle in der Religionsausübung (siehe hierzu Kap. 2.1.). Dies ist in Bezug auf den Spracherhalt ein nicht zu unterschätzender Faktor. Kritisch für den Erhalt des Deutschen sieht Ammon (2015: 393) die „unterentwickelten Schulen, mit − im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft − deutlich kürzerer Schulpflicht […]. Deutsch wird dann nur als Fach und für die religiöse Erziehung gebraucht“. Kontakt zu Deutschsprachigen außerhalb der Täufergruppe ist nach Aussage von Steffen (2006: 57−58) bewusst limitiert um „äußere Einflüsse von der Gemeinschaft fernzuhalten“. Auch die bei den Mennoniten vorherrschende Endogamie begrenzt den Einfluss von außen und ist als spracherhaltend zu bewerten. Für den Erhalt der Sprache der Mennoniten ist nach Steffen & Altenhofen (2014: 57) jedoch vor allem die Wirksamkeit des Spracharchipels relevant: „Dass sich das Hunsrückische und das Plautdietsche in Lateinamerika überhaupt bis ins 21. Jahrhundert hinein gehalten haben, liegt aber unseres Erachtens weniger an der Rückbindung ans sprachliche Mutterland, sondern mehr an den Verbindungen innerhalb des Archipels.“ Überträgt man die Stufen der Vitalitätsskala der UNESCO-Arbeitsgruppe zum Atlas of the World’s Languages in Danger, ergibt sich nach unserer Ansicht folgende Verteilung: Für das Hunsrückisch in Brasilien ist Stufe 4 (unsafe) anzunehmen, zumindest in dörflichen Gemeinschaften, wo die Varietät tatsächlich noch Familiensprache ist: „Most but not all children or families of a particular community speak their language as their first language, but it may be restricted to specific social domains (such as at home where children interact with their parents and grandparents).“ (UNESCO 2003: 7). Das Deutschböhmische dürfte im Vergleich zum Hunsrückischen in seinem Bestand deutlich mehr gefährdet sein, was einerseits daran liegt, dass die Sprecherzahl nur einen Bruchteil der Zahlen des Hunsrückischen erreicht und die Weitergabe an die jüngste
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Generation fast gänzlich zum Erliegen kam. Wir gehen deshalb von einer Vitalität aus, die zwischen der Stufe 3 (definitively endangered) und Stufe 2 (severely endangered) einzuordnen ist: Definitively endangered (3): The language is no longer being learned as the mother tongue by children in the home. The youngest speakers are thus of the parental generation. At this stage, parents may still speak their language to their children, but their children do not typically respond in the language. Severely endangered (2): The language is spoken only by grandparents and older generations; while the parent generation may still understand the language, they typically do not speak it to their children. (UNESCO 2003: 8)
Die Plautdietsch sprechenden Mennoniten in Belize sehen wir in Bezug auf ihre sprachliche Vitalität auf Stufe 5 (stable yet threatened), die folgendermaßen definiert ist: „The language is spoken in most contexts by all generations with unbroken intergenerational transmission, yet multilingualism in the native language and one or more dominant language(s) has usurped certain important communication contexts.“ (UNESCO 2003: 7).
5. Deutsch als Fremdsprache in Mittel- und Südamerika mit einem Fokus auf Brasilien Einen radikalen Einschnitt für den Gebrauch der deutschen Sprache im öffentlichen Kontext in Brasilien stellte, wie bereits unter Kap. 4. angeführt, die Politik des Estado Novo unter Präsident Getúlio Vargas (1930−1945) dar (Ammon 2015: 370). Bereits 1937 wurde das Portugiesische zur alleinigen Unterrichtssprache deklariert und 1942 wurde das Deutsche komplett aus dem öffentlichen Leben verbannt (siehe hierzu Kaufmann 2003: 30−31). Die von Vargas praktizierte Sprachenpolitik fokussierte mit Ausnahme des Portugiesischen alle Sprachen in Brasilien (siehe Ammon 2015: 370). Seit 1961 ist Deutsch als Fremdsprache (DaF) an den Schulen wieder erlaubt, „das alte Niveau deutschsprachiger Institutionen [wurde jedoch] bei weitem nie wieder erreicht“ (Ammon 2015: 370). Dass die „Nachwirkungen der Politik des Estado Novo“ (Kaufmann 2003: 32) bis heute greifbar sind, ist an der gegenwärtig praktizierten Fremdsprachenpolitik des brasilianischen Staates ersichtlich. Vom ersten bis zum achten Schuljahr („primäre Schulphase“) ist lediglich Portugiesisch (mit Ausnahme der Sprachen der indigenen Minderheiten) als Schulsprache erlaubt, erst ab der fünften Klassenstufe wird „der Unterricht in mindestens einer modernen Fremdsprache […] obligatorisch […]“ (Kaufmann 2003: 32). Prinzipiell wäre auch für die „sekundäre Schulphase“ vom neunten bis zum elften Schuljahr Unterricht in einer weiteren modernen Fremdsprache verpflichtend, sofern dies von der Schule finanziell realisiert werden kann (siehe Kaufmann 2003: 32). Die Entscheidung über die Fremdsprache obliegt zwar der jeweiligen Schule, jedoch fällt die Wahl in den meisten Fällen auf Englisch oder Spanisch (siehe Ammon 2015: 1038). In Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná wird in den deutschsprachigen Gebieten meist ab der fünften Klasse (bisweilen aber auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt) bis zur achten Klasse Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, von der neunten bis zur elften Klasse jedoch Englisch (siehe Kaufmann 2003: 32).
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Im hunsrückischen Siedlungsgebiet existieren derzeit circa 250 staatliche Schulen, Deutsch fungiert jedoch in keiner der Schulen als Unterrichtsprache, und im Unterricht wird auch keine Differenzierung zwischen Deutsch-als-Fremdsprache-Lernenden und Deutsch-als-Erstsprechenden (wenn auch in Form einer Varietät) vorgenommen (siehe Ammon 2015: 375 und das unter Kap. 4. angeführte Projekt von Pupp Spinassé 2016: 86). Einen positiven Impuls für die Entwicklung von Deutsch als Fremdsprache hat sicherlich der Marktwert der deutschen Sprache durch die zahlreichen Niederlassungen von deutschen Firmen in Brasilien (siehe Ammon 2015: 370). Diesen Sachverhalt bestätigt auch Hess-Lüttich (2013: 17), indem er ausführt, dass an brasilianischen Schulen und auch Hochschulen basierend auf „ökonomischer [und] nostalgischer Motivation“ ein zunehmendes Interesse an der deutschen Sprache und an der Germanistik generell zu verzeichnen ist. Ammon (2015: 1040), der die Zahl der DaF-Lernenden und -Studierenden für den Zeitraum von 1985 bis 2010 untersuchte, attestiert eine (gewisse) Stabilität. Der Brasilianische Deutschlehrerverband/Associação Brasileira de Associações de Professores de Alemão (ABraPA) bemüht sich ebenfalls um eine Förderung von DaF und Germanistik (siehe Ammon 2015: 1042). Zudem interessiert sich in den Regionen mit deutschsprachigen Minderheiten (trotz des Sprachwechsels zur Mehrheitssprache) die jüngere Generation für DaF (siehe Ammon 2015: 1038). Diese Beobachtung ist auch auf die Nachfahren der Deutschböhmen zu übertragen, wo zahlreiche Jüngere DaF erlernen. Für die Ausbildung von Deutschlehrerinnen und -lehrern stehen (im Gebiet der Hunsrücker) immerhin fünf Universitäten zur Wahl, zwei in Porto Alegre, eine in São Leopoldo und zwei weitere (siehe Ammon 2015: 376). Germanistik als Studienfach existiert in Brasilien an insgesamt 16 Universitäten (siehe Ammon 2015: 1039). Darüber hinaus gibt es unter anderem auch sieben Goethe-Institute, ein Goethe-Zentrum, vier deutsche Auslandsschulen und zahlreiche PASCH-Schulen, so genannte Partnerschulen von deutschen Schulen (siehe Ammon 2015: 1041). Nach Aussage von Pupp Spinassé (2014: 13) ist Deutsch an Schulen, Universitäten und auch in Sprachkursen „eine der meistgelernten Sprachen in Brasilien […]“.
6. Ausblick Die in den vorausgehenden Kapiteln näher vorgestellten deutschsprachigen Gruppen in Mittel- und Südamerika stellen − wie bereits einleitend dargelegt − nur einen kleinen Ausschnitt der Deutschsprachigkeit in dieser Region dar. Zahlreiche weitere deutschsprachige Siedlungen und deren system- und soziolinguistischen Verhältnisse sind bisher wenig erforscht. Exemplarisch kann hier unter anderen auf deutschsprachige Gruppen in Argentinien, Brasilien, Chile, Peru und Venezuela verwiesen werden, die noch nicht ausführlich im Zentrum des Forschungsinteresses standen. So wissen wir z. B. noch eher wenig zur aktuellen sprachlichen Situation der Wolgadeutschen in der Provinz Buenos Aires (Argentinien), des Launa-Deutschen/Laguna-Deutschen in der Gegend um den Llanquihue-See (Chile), der Bukowina-Deutschen (hierunter vor allem Deutschböhmen) in Paraná (Brasilien) oder der Alemannisch sprechenden Siedler in Colonia Tovar (Venezuela).
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Nicole Eller-Wildfeuer, Regensburg (Deutschland) Alfred Wildfeuer, Augsburg (Deutschland)
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46. Deutsch als Minderheitensprache in Afrika
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Afrikaans und Englisch die wichtigsten Kontaktsprachen, was sich unter anderem auch in grammatischen und lexikalischen Parallelen der jeweiligen deutschen Varietäten niederschlägt. Nichtsdestoweniger gibt es grundlegende Unterschiede, z. B. hinsichtlich der sprachpolitischen Gegebenheiten, dem historischen Hintergrund und der weiteren Kontaktsprachen. Aus diesem Grund werden die beiden Staaten im Folgenden getrennt behandelt. Außer in diesen beiden Ländern spielt Deutsch in Afrika (abgesehen vom Fremdsprachenunterricht) keine nennenswerte Rolle (vgl. Böhm 2003: 503 und 611). In den ehemaligen deutschen Kolonien − das heutige Namibia ausgenommen − zeigt sich der sprachliche Einfluss mitunter noch in (zum Teil) deutschsprachigen Ortsnamen wie z. B. dem kamerunischen Lolodorf, geht aber kaum darüber hinaus (vgl. z. B. Ammon 2014: 359; Stolz & Warnke 2015). „Entscheidend für die Besonderheit Namibias war, dass es − begünstigt durch Klima, Größe des Landes, geringe Bevölkerungsdichte und nicht allzu große Entfernung zu Deutschland − bevorzugte ‚Siedlungskolonie‘ wurde, im Gegensatz zu den übrigen ‚Ausbeutungskolonien‘“ (Ammon 2014: 359). In den folgenden Kapiteln wird die multilinguale Situation in Südafrika und Namibia unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Minderheitensprache beschrieben (Kap. 1.1. und 1.2.). Thematisiert werden dabei sprachpolitische Gegebenheiten, historische Zusammenhänge sowie die aktuelle Vitalität der deutschen Minderheitensprache. Daran anschließend werden am Beispiel Namibias die linguistische Variabilität der deutschsprachigen Minderheit in den Fokus genommen und die sprachlichen Repertoires dargestellt (Kap. 2.). Diese sind besonders auch unter der Perspektive von Spracheinstellungen interessant. Kap. 3. ist schließlich dem Thema Deutsch als Fremdsprache gewidmet.
1.1. Deutsch im multilingualen Südafrika Die Republik Südafrika ist durch ein außerordentlich hohes Maß an Viel- und Mehrsprachigkeit geprägt. Diesem Umstand trägt die Verfassung von 1996 Rechnung, indem sie elf Sprachen zu gleichberechtigten Amtssprachen erklärt (Republic of South Africa 1996). Tab. 46.1 gibt einen Überblick über die Verbreitung der elf Sprachen zuzüglich der südafrikanischen Gebärdensprache. Die Daten sind dem aktuellen Census entnommen (Statistics South Africa 2011). Dargestellt sind die Antworten auf die Frage nach der im Haushalt am häufigsten gesprochenen Sprache. Im öffentlichen Raum kommt Englisch und Afrikaans eine bedeutende Rolle zu. Diese beiden Sprachen waren während der Zeit der Apartheid die einzigen offiziellen Amtssprachen und werden noch immer als Lingua Franca verwendet. Zu den SprecherInnen, die Afrikaans oder Englisch als Sprache im Haushalt verwenden, kommen also zahlreiche SüdafrikanerInnen, die eine dieser Sprachen oder beide als Zweit- oder Drittsprache beherrschen und im öffentlichen Raum verwenden. Afrikaans- oder Englischkenntnisse sind nach wie vor in vielen Situationen notwendig oder zumindest von Vorteil, sodass de facto noch keine Gleichberechtigung der elf Amtssprachen erreicht ist, obwohl diese theoretisch von der Verfassung gewährleistet wird (vgl. hierzu auch Mmusi 1998 und Frydman 2011: 180−181).
1178
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt Tab. 46.1: Sprachen in Südafrika (Statistics South Africa 2011) Häufigste Sprache im Haushalt
Anzahl der SprecherInnen
Anteil (in %)
IsiZulu IsiXhosa Afrikaans English Sepedi Setswana Sesotho Xitsonga SiSwati Tshivenda IsiNdebele Other Sign language
11.587.374 8.154.258 6.855.082 4.892.623 4.618.576 4.067.248 3.849.563 2.277.148 1.297.046 1.209.388 1.090.223 828.258 234.655
22,7 16,0 13,5 9,6 9,1 8,0 7,6 4,5 2,5 2,4 2,1 1,6 0,5
Das Deutsche ist in Tab. 46.1 unter „Other“ mit anderen Minderheitensprachen zusammengefasst. Diese Sprachen sind den elf Amtssprachen untergeordnet, genießen aber politischen Schutz, der in der Verfassung von 1996 verankert ist: (5)
A Pan South African Language Board established by national legislation must– (a) promote, and create conditions for, the development and use of– (i) all official languages; (ii) the Khoi, Nama and San languages; and (iii) sign language; and (b) promote and ensure respect for– (i) all languages commonly used by communities in South Africa, including German, Greek, Gujarati, Hindi, Portuguese, Tamil, Telegu and Urdu; and (ii) Arabic, Hebrew, Sanskrit and other languages used for religious purposes in South Africa.
Während Afrikaans massiv als Lingua Franca verwendet wurde und heute nicht nur Erstsprache von Nachfahren niederländischsprachiger Einwanderer ist (vgl. hierzu auch den Census; Statistics South Africa 2011), wird Deutsch (abgesehen von Fremdsprachenkenntnissen) beinahe ausschließlich von Nachfahren deutschsprachiger Einwanderer gesprochen. Diese stammten mehrheitlich aus dem niederdeutschen Sprachraum, weshalb zunächst auch Niederdeutsch in Südafrika gesprochen wurde, das dann aber zugunsten von Hochdeutsch zurückgedrängt wurde (de Kadt 1998: 7). Die heutigen Mitglieder der deutschsprachigen Minderheit sind in der Regel mindestens dreisprachig. Vor allem in ländlichen Gebieten beherrschen Deutschsprachige neben Afrikaans und Englisch oft auch IsiZulu (de Kadt 2002: 150). Dass sich der linguistische Kontext je nach Region unterscheidet, spiegelt sich auch in verschiedenen Ausprägungen der deutschen Minderheitensprache in Südafrika wider: There is a general awareness that a number of different varieties of South African German exist, with the differences depending largely on their linguistic context. Wartburg German (together with other versions spoken in Southern KwaZulu-Natal) has been largely influenced by English, whereas the German spoken in Northern KwaZulu-Natal (e.g. Vryheid) shows massive transfer from
46. Deutsch als Minderheitensprache in Afrika
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Afrikaans. People in Wartburg are aware that their variety is somewhat different: ‚We laugh about the way the others speak,‘ was said on several occasions, with reference to speakers from Northern KwaZulu-Natal. (de Kadt 2000: 75)
Die genaue Anzahl an Deutschsprachigen lässt sich nur schwer bestimmen. Der CensusFragebogen von 2011 (Statistics South Africa 2011) erlaubte nur eine der in Tab. 46.1 dargestellten Antwortmöglichkeiten. Deshalb sind zu vielen südafrikanischen Minderheitensprachen keine aktuellen Census-Zahlen verfügbar. Bei der Census-Befragung von 1991 gaben etwa 30.000 TeilnehmerInnen Deutsch als wichtigste Sprache im Haushalt an, darunter allerdings auch zahlreiche nur kurzzeitig in Südafrika lebende Deutsche (de Kadt 1998: 2). Bei der Interpretation dieser Daten muss darüber hinaus berücksichtigt werden, dass die Mehrsprachigkeit der Befragten bei dieser Art der Befragung nicht in allen Fällen abgebildet wird. So ist anzunehmen, dass einige SüdafrikanerInnen Deutsch zwar beherrschen, dies aber bei der Befragung zugunsten einer anderen im Haushalt gesprochenen Sprache nicht angegeben haben. Unter Berücksichtigung dessen kommt de Kadt (1998: 2−3) zu der Schätzung von 30.000 bis 60.000 in Südafrika lebenden Deutschsprachigen (vgl. zu diesem Thema auch Bodenstein 1993: 118−119). Die Zahl der Deutschsprachigen ist rückläufig. Ob ein Sprachwechsel stattfindet oder bereits stattgefunden hat, hängt mit verschiedenen historischen, gesellschaftlichen und geographischen Faktoren zusammen. So sind aus historischer Perspektive zwei wichtige Phasen der Emigration aus Europa zu unterscheiden. Bereits 1652 begleitete eine Reihe von Deutschsprachigen den niederländischsprachigen Jan van Riebeeck, der die Kapkolonie gründete. In den folgenden Jahrzehnten wanderten daraufhin zahlreiche Deutschsprachige gemeinsam mit Französisch- und Niederländischsprachigen dorthin aus. „Man schätzt, daß über die Hälfte der weißen Siedler im Kapgebiet am Ende des 18. Jahrhunderts deutscher Herkunft war“ (de Kadt 1998: 1). Innerhalb dieser Gruppe wurde die deutsche Sprache allerdings aufgegeben. Niederländisch war die einzige Amtssprache, was in Kombination mit zahlreichen Ehen zwischen Deutsch- und Niederländisch- bzw. Afrikaanssprachigen zum Sprachwechsel führte (Bodenstein 1993: 115−116; de Kadt 1998: 1−2). Im Gegensatz dazu wurde die deutsche Sprache mehrheitlich beibehalten in einer Minderheit, die auf die zweite wichtige Einwanderungsphase Deutschsprachiger zurückgeht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründeten mehrere Missionsgesellschaften Siedlungen im heutigen KwaZulu-Natal, dem östlichen Kapgebiet und im südöstlichen Teil des heutigen Transvaal. In den Gemeinden wurden Kirchen und Schulen erbaut, in denen das Deutsche verwendet und aktiv gepflegt wurde (vgl. Bodenstein 1993: 117−118; de Kadt 1998: 2; Böhm 2003: 611−612). In diesen Gemeinden wurde das Deutsche über Generationen hinweg beibehalten. Dabei spielte die Kirche eine besonders wichtige Rolle (vgl. z. B. Stielau 1980: 3; de Kadt 2000: 75; Franke 2008: 185–214). Noch heute gibt es deutschsprachige Kirchengemeinden. Da die Zahl der Gemeindemitglieder sinkt, wird der Gottesdienst aber immer häufiger auch in Englisch oder Afrikaans angeboten (Böhm 2003: 614−615). Nach wie vor sind die Deutschsprachigen vor allem im Osten des Landes zu finden, den die Missionare im 19. Jahrhundert besiedelten. Inzwischen leben aber die meisten Deutschsprachigen in den Städten der Region, z. B. in Johannesburg. Die deutschsprachige Community setzt sich hier zusammen aus Nachfahren der damaligen Siedlerfamilien, die aus beruflichen Gründen die ländlichen Gegenden verlassen haben, im 20. Jahrhun-
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
dert ausgewanderten Deutschsprachigen und nur kurzfristig, aus beruflichen Gründen, im Land lebenden sogenannten Expats. (Darüber hinaus gibt es auch in Kapstadt eine relativ große Gruppe an Expats. Vgl. de Kadt 1998: 3). Während für letztere ein Sprachwechsel kein Thema ist, ist bei den anderen beiden Gruppen die Wahrscheinlichkeit, dass Deutsch in naher Zukunft aufgegeben wird, relativ hoch (de Kadt 1998: 3−4). Etwas weniger hoch ist die Sprachwechsel-Wahrscheinlichkeit auf dem Land. In einigen Siedlungen − vor allem in KwaZulu-Natal − stellen Nachfahren der SiedlerInnen aus dem 19. Jahrhundert einen verhältnismäßig großen Teil der Bevölkerung. Im Gegensatz zu den Städten vollzieht sich das gesellschaftliche Leben hier zum Teil noch auf Deutsch. Nichtsdestoweniger sinkt auch hier die Anzahl an Deutschsprachigen. Wenn nicht beide Elternteile deutschsprachig sind, sprechen Kinder in der Regel Afrikaans und/oder Englisch. Auch ein Umzug aus ländlichen Siedlungen in eine Stadt zieht häufig einen Sprachwechsel nach sich (de Kadt 1998: 2−4). Neben der Kirche gehört die Schule zu den zwei wichtigsten Domänen außerhalb der Familie, in denen mitunter noch Deutsch gesprochen wird und die zum Erhalt der deutschen Minderheitensprache beitragen. In Südafrika gibt es vier Schulen, die aus Deutschland finanzielle und personelle Unterstützung erhalten. Diese befinden sich in Hermannsburg, Johannesburg, Pretoria und Kapstadt. In Hermannsburg wird Deutsch als Unterrichtssprache in den Klassen 1 bis 4 angeboten sowie daran anschließend das Fach Deutsch als Muttersprache (DaM). In den anderen drei Schulen wird Deutsch durchgängig als Unterrichtssprache angeboten, und das deutsche Abitur kann erworben werden. An allen vier Schulen werden sowohl südafrikanische Staatsangehörige (mit unterschiedlichen Erstsprachen) als auch Kinder von deutschsprachigen Expats unterrichtet. Darüber hinaus gibt es fünf private Primarschulen, an denen DaM unterrichtet wird. Diese werden ebenfalls finanziell aus Deutschland unterstützt − allerdings in geringerem Umfang. In erster Linie werden diese Privatschulen durch die deutschsprachige Community in Südafrika finanziert. Schließlich existieren auch staatliche Primarschulen, an denen auch auf Deutsch unterrichtet wird (vgl. zu DaM in Südafrika ausführlich Böhm 2003: 616−620). Neben der Sprachpflege in vielen Familien, in der Kirche und an Schulen ist sicherlich auch die jüngere Geschichte Südafrikas ein Faktor, der für den Erhalt der deutschen Sprache ursächlich ist: „The enormous stress placed on ethnicity and on ‚difference‘ between societal groups under apartheid may well have contributed to the retention of German“ (de Kadt 2000: 70). Im Gegensatz zu de Kadt (2000) sieht Schweizer (1982: 205) in der Kolonialpolitik und der darauf folgenden Apartheidszeit, in der Sprachpolitik ein zentrales Instrument der Unterdrückung von Bevölkerungsgruppen war, sogar als entscheidenden Grund für den Fortbestand der deutschen Sprache in Südafrika: „Allein der seit weit über hundert Jahren durchgesetzten weißen Kolonial- und Rassenpolitik ist es zu verdanken, daß sich die deutsche Sprache zum Teil in vierter und fünfter Generation als mündliches und schriftliches Kommunikationsmittel erhalten konnte.“
1.2. Deutsch im multilingualen Namibia Auch in Namibia gibt es eine große Vielfalt an Sprachen. Tab. 46.2 gibt diesbezüglich einen Überblick. Die dargestellten Daten sind dem Census von 2011 entnommen (Namibia Statistics Agency 2011). Erfragt wurde die „main language spoken in the household“.
46. Deutsch als Minderheitensprache in Afrika
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Tab. 46.2: Sprachen in Namibia (Namibia Statistics Agency 2011) Wichtigste Sprache im Haushalt
Anzahl der Haushalte
Anteil (in %)
Oshiwambo languages Nama/Damara Afrikaans Otjiherero Kavango Caprivi languages English Other African languages German San languages Other European languages Setswana Asian languages
227.103 52.450 48.238 40.000 39.566 22.484 15.912 5.795 4.359 3.745 3.306 1.328 461
48,9 11,3 10,4 8,6 8,5 4,8 3,4 1,3 0,9 0,8 0,7 0,3 0,1
Bei mehrsprachigen Haushalten musste also eine Sprache gewählt werden. Die durchschnittliche Haushaltsgröße wird mit 4,4 Personen beziffert. Oshivambo-Sprachen (dazu gehören unter anderem Oshindonga und Oshikwanyama) wurden mit Abstand am häufigsten genannt. Daneben gibt es vier weitere Sprachen, die jeweils in mindestens 5 % der Haushalte als wichtigste Sprache angesehen werden: Nama/Damara, Afrikaans, Otjiherero und Kavango. Allerdings ist keine dieser Sprachen Amtssprache in Namibia. Englisch wurde nach Namibias Unabhängigkeit von Südafrika in der Verfassung von 1990 zur alleinigen Amtssprache erklärt, ist aber nur in 3,4 % der Haushalte wichtigste Sprache. Anfang der 1990er Jahre war der Anteil der Englischsprachigen sogar noch geringer, und auch als Zweit- bzw. Fremdsprache war Englisch nicht besonders weit verbreitet (Pütz 1995a: 160). Daraus resultierende Probleme zeigen sich z. B. im schulischen Unterricht, der in den höheren Klassenstufen in der Regel auf Englisch stattfindet und von zahlreichen LehrerInnen angeboten wird, die nicht ausreichend kompetent in der Amtssprache sind (vgl. z. B. Pütz & Dirven 2013: 338−340). Die Gründe dafür, Englisch zur alleinigen Amtssprache zu erklären, liegen zum einen darin, dass für einen Großteil der Bevölkerung Afrikaans und Deutsch mit dem Apartheidsregime bzw. der Unterdrückung während der Kolonialzeit verbunden sind, während Englisch neutral oder (im Zusammenhang mit dem Befreiungskampf) sogar positiv konnotiert ist. Zum anderen wurde als Argument gegen die Wahl einer der zahlreichen autochthonen Sprachen die angestrebte Einheit des Landes angeführt, die auf die aufgezwungene Fragmentierung durch das Apartheidsregime folgen sollte (vgl. verschiedene Beiträge in Pütz 1995c sowie Böhm 2003: 528−532; Frydman 2011; Pütz & Dirven 2013: 340−344 und Shah & Zappen-Thomson 2018). Diese Entscheidung wurde von der Mehrheit der Gesamtbevölkerung und jeweils einer Mehrheit innerhalb verschiedener Sprachgruppen begrüßt (Pütz 1995b). Dazu trug die Tatsache, dass Englisch als Erstsprache so gut wie keine Rolle im Land spielte, sogar bei: Durch die Wahl des Englischen als Amtssprache wurde keine Bevölkerungsgruppe bevorteilt. Neben der offiziellen Amtssprache gibt es zwölf weitere „Nationalsprachen“ Namibias, zu denen auch das Deutsche zählt (vgl. hierzu Ammon 2014: 360; Shah & ZappenThomson 2018). Im Gegensatz zur südafrikanischen Verfassung wird Deutsch aller-
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
dings − ebenso wie die anderen „Nationalsprachen“ − in der namibischen Verfassung nicht genannt. Diesen Sprachen werden einige Rechte eingeräumt. So können Eltern (im Rahmen der lokal gegebenen Möglichkeiten) z. B. entscheiden, in welcher dieser Sprachen ihre Kinder in den ersten vier Klassenstufen unterrichtet werden sollen (Böhm 2003: 532). Die Zahl der Deutschsprachigen beträgt aktuell etwa 20.000. Diese Minderheit geht im Wesentlichen auf Emigration aus Europa im Zuge der Kolonialisierung des heutigen Namibia unter dem Namen Deutsch-Südwestafrika zurück (1884‒1915). Aber auch im Anschluss daran gab es − und gibt es bis heute − Zuwanderung aus Europa. „Die Deutschsprachigen in Namibia stammen […] nicht schwerpunktmäßig aus einem bestimmten deutschen Dialektgebiet. Wenn man überhaupt einen regionalen Schwerpunkt ihrer Herkunft ausmachen kann, so den norddeutschen Raum“ (Böhm 2003: 564). Während der deutschen Kolonialherrschaft war Deutsch einzige Amtssprache. Als Lingua Franca wurde allerdings Afrikaans verwendet, das durch Migration aus dem Süden bereits vor der Ankunft der deutschen KolonialistInnen von einer Minderheit im Land gesprochen wurde (Pütz 1991: 461−462; Böhm 2003: 526; Deumert 2009: 355 und 366; Shah & Zappen-Thomson 2018). Nach dem Ersten Weltkrieg musste das Deutsche Reich alle Kolonien abtreten, die Verwaltung Südwestafrikas ging an Südafrika über, das das Land zuvor besetzt hatte (Böhm 2003: 526). Der Großteil der Deutschsprachigen musste das Land verlassen, ein Teil der Ausgewiesenen kam später allerdings zurück (Deumert 2009: 357; Ammon 2014: 359−360). Deutsch wurde als Amtssprache von Englisch und Afrikaans (bzw. zunächst Niederländisch) abgelöst. Die in Südafrika offiziell ab 1948 eingeführte Apartheidspolitik wurde auch auf Südwestafrika übertragen. Unter dem Apartheidsregime hatte Deutsch einige Privilegien (Shah & Zappen-Thomson 2018 sprechen von einem Status als semi-offizieller Sprache ab 1984), war den Amtssprachen aber untergeordnet. Mit der Unabhängigkeit von Südafrika wurde im Jahr 1990 dann Englisch einzige Amtssprache in Namibia und Deutsch zu einer der 13 „Nationalsprachen“. Als interethnische Kommunikationssprachen dienen vor allem Englisch und Afrikaans. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte Deutsch in dieser Hinsicht eine wesentlich größere Rolle als heute. Um das Jahr 1900 wurde der Deutschunterricht in Missionsschulen durch die Kolonialregierung verstärkt gefördert. Darüber hinaus waren deutschsprachige Farmer damals häufig einsprachig und bestanden darauf, dass am Arbeitsplatz Deutsch gesprochen wurde. Das führte dazu, dass zahlreiche Angestellte Deutschkenntnisse erwarben, was die Basis für die sich entwickelnde Kontaktvarietät Kiche Duits (‘Küchendeutsch’) darstellte (vgl. hierzu ausführlich Deumert 2009). Diese Varietät war in erster Linie auf den Gebrauch am Arbeitsplatz beschränkt, was sich auch in ihrer Bezeichnung niederschlägt. Aber auch gruppenintern wurde Kiche Duits verwendet, häufig im Zusammenhang mit „post-colonial ‚crossing‘ in Namibia; that is, the sometimes playful and always socio-symbolically meaningful appropriation of linguistic and cultural out-group practices“ (Deumert 2009: 353). Kiche Duits weist typische kontaktsprachliche Merkmale auf wie z. B. starke morphologische Reduktion (Deumert 2009: 392− 405). Unter dem Apartheidsregime wurde Afrikaans stark gefördert, woraufhin Kiche Duits merklich an Bedeutung verlor, sodass es heute nur noch einige ältere SprecherInnen dieser Varietät gibt. Deutschsprachige leben heute in beinahe allen Teilen des Landes, die meisten von ihnen in den zentralen Regionen Khomas und Otjozondjupa sowie der benachbarten
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Region Erongo, die bis zur Atlantikküste reicht (vgl. Namibia Statistics Agency 2011). Innerhalb dieser Regionen sind die Städte Windhoek, Swakopmund und Otjiwarongo wichtige Zentren für die deutsche Sprache, was sich unter anderem auch darin manifestiert, dass sich hier aktuell die einzigen namibischen Sekundarschulen befinden, in denen DaM belegt werden kann. Neben den StadtbewohnerInnen gibt es auch einen nicht zu vernachlässigenden Anteil Deutschsprachiger, die eine der über das Land verteilten, vereinzelten Farmen bewohnen (Laut Census [Namibia Statistics Agency 2011: 172] befinden sich mehr als 700 deutschsprachige Haushalte in ländlichen Gebieten). Viele deutschsprachige Kinder und Jugendliche, deren Eltern auf einer Farm leben, besuchen eine Schule, an der DaM-Unterricht angeboten wird, in einer der Städte. Aufgrund der zum Teil sehr großen Entfernungen zu den Städten leben diese Kinder und Jugendlichen häufig in einem der Schule angegliederten Internat und verbringen häufig nur ihre Ferien und gegebenenfalls Wochenenden auf der Farm. Die Verkehrssprache in den Internaten ist in der Regel Deutsch. Böhm (2003: 545) wertet diese unter anderem deshalb als „wichtige Zentren der Deutschsprachigkeit und deshalb bedeutsam für den Erhalt des Deutschen insgesamt.“ Neben fünf Schulen, die DaM in der Sekundarstufe anbieten (zwei in Windhoek, zwei in Swakopmund und eine in Otjiwarongo; sowohl Privatschulen als auch staatliche Schulen. Zu Unterschieden zwischen staatlichen Schulen und Privatschulen s. Böhm 2003: 540−545.), gibt es neun Primarschulen, in denen dieses Fach belegt werden kann (Shah & Zappen-Thomson 2018). In diesen Schulen wird Deutsch in den unteren Klassenstufen häufig auch als Unterrichtssprache für die anderen Fächer verwendet. Ab der 5. Klasse bis zum Anfang der 7. Klasse wird Deutsch dann schrittweise durch Englisch ersetzt (vgl. Shah & Zappen-Thomson 2018). Eine Ausnahme stellt hier die einzige deutsche Auslandsschule in Namibia dar, die Deutsche Höhere Privatschule in Windhoek (DHPS). Hier können alle Fächer auch nach der 7. Klasse auf Deutsch belegt werden und das deutsche Abitur als Schulabschluss erworben werden. Ein erheblicher Anteil des Unterrichts wird von LehrerInnen durchgeführt, die aus Deutschland entsandt sind. Innerhalb der Community wird viel Wert auf deutschsprachigen Unterricht gelegt. Das äußert sich unter anderem in der Gründung von Privatschulen mit dem Ziel, das Fach DaM zu erhalten, und in finanzieller Unterstützung der entsprechenden Schulen. Die Motivation, auch kleine Privatschulen mit deutschsprachigem Unterricht − anders als die deutschsprachigen Schulen in Lüderitz (1972 geschlossen) und Karibib (1986 geschlossen) − trotz rückläufiger SchülerInnenzahlen zu erhalten, ist groß (vgl. hierzu auch Böhm 2003: 542; zu den rückläufigen SchülerInnenzahlen vgl. Shah & ZappenThomson 2018). Das betrifft z. B. die Deutsche Privatschule Omaruru, an der sich im Jahr 2016 weniger als 40 SchülerInnen auf die sieben Klassenstufen verteilten. Die deutschsprachige Community ist insgesamt sehr um den Spracherhalt bemüht, gut vernetzt und kulturell aktiv. Pütz (1995b: 261−262) betont die identitätsstiftende Funktion der Erstsprachen. In seiner Umfrage gaben über 98 % der befragten Deutschsprachigen an, der Aussage „Knowledge of my mother tongue makes me feel proud“ zuzustimmen oder stark zuzustimmen. Es gibt Musik- und Sportvereine, in denen Deutsch gesprochen wird, regelmäßige (auch) deutschsprachige Karnevalsveranstaltungen in verschiedenen Teilen des Landes, Oktoberfeste, deutschsprachige Literatur aus Namibia und aktuelle deutschsprachige Popmusik, eine deutschsprachige Tageszeitung (die Allgemeine Zeitung), den deutschsprachigen privaten Radiosender Hitradio Namibia sowie ein deutschsprachiges Angebot der Namibian Broadcasting Corporation (NBC)
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
(vgl. Gretschel 1995: 301−302 sowie Shah & Zappen-Thomson 2018). Deutschsprachige Gottesdienste gibt es nach wie vor in mehreren Gemeinden, allerdings nicht wöchentlich. Am einflussreichsten ist die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in Namibia, vereinzelt gibt es auch katholische Gottesdienste in deutscher Sprache. Ebenfalls weitgehend deutschsprachig sind assoziierte Kindergärten und Altersheime (Shah & ZappenThomson 2018; zur Rolle der Kirchen vgl. Kleinz 1984: 98−106). Die deutsche Sprache ist − im Verhältnis zur vergleichsweise geringen SprecherInnenzahl − insgesamt sehr präsent im öffentlichen Raum Namibias. Diese besondere Stellung ist zum einen historisch bedingt und zum anderen mit der sozialen Stellung der meisten Deutschsprachigen zu erklären. „Many German settlers remained in the territory after World War I and their descendents continued to form an economically and politically influential, as well as privileged, minority within Namibian society throughout the 20th century“ (Deumert 2009: 350). Dies vereinfacht die Sprachpflege. Als Beispiel sei hier die Hörerinitiative genannt, die sich in den 1990er Jahren gründete, um die befürchtete Einstellung des deutschsprachigen Radioprogramms zu verhindern und dessen Fortbestand unter anderem mithilfe von Mitgliedsbeiträgen und finanziellen Spenden zu sichern (Böhm 2003: 561; Shah & Zappen-Thomson 2018). Auch die Gründung und der Betrieb von Privatschulen sind nur bei ausreichender Finanzkraft möglich. Sowohl hinsichtlich des sozioökonomischen Status als auch hinsichtlich Bildung gehören Deutschsprachige in Namibia zu einer höheren Sozialschicht, was nicht nur die Sprachpflege, sondern auch die Netzwerkbildung untereinander erleichtert (Ammon 2014: 362). Darüber hinaus profitiert die deutsche Sprache in Namibia von Unterstützung aus Deutschland, z. B. in finanzieller und personeller Hinsicht an der DHPS, sowie von offizieller namibischer Seite, z. B. in Form von deutschsprachigen Angeboten der NBC (vgl. Shah & Zappen-Thomson 2018). All das sind Gründe dafür, dass das Deutsche in Namibia trotz der geringen Anzahl an SprecherInnen vergleichsweise vital ist. Zum Sprachwechsel kann es allerdings bei Kindern kommen, deren Eltern nicht beide deutschsprachig sind. Dies ist aber keinesfalls zwangsläufig so. Deutsch wird mitunter auch (als eine von mehreren Sprachen) an die nächste Generation weitergegeben, wenn nicht beide Elternteile deutschsprachig sind. Zudem werden Ehen häufig innerhalb der deutschsprachigen Community geschlossen (vgl. Pütz 1991: 470 zur Situation vor bzw. kurz nach der Unabhängigkeit). Mitglieder der deutschsprachigen Community sind in aller Regel mindestens dreisprachig und sprechen neben Deutsch auch Afrikaans und Englisch. Ob und wie gut auch Bantu- (z. B. Oshivambo oder Otjiherero) oder Khoisansprachen (z. B. Nama/Damara) beherrscht werden, hängt stark vom Individuum ab. Diesbezüglich gibt es in der Community große Unterschiede. Kenntnisse dieser Sprachen gibt es vor allem bei Deutschsprachigen, die auf einer Farm leben oder aufgewachsen sind: Dort leben neben den FarmbesitzerInnen in der Regel auch Angestellte, die eine Bantu- oder Khoisansprache sprechen. So lernen z. B. Kinder beim gemeinsamen Spielen mitunter die jeweils andere Erstsprache. Die Intensität des Kontakts und die resultierenden Sprachkenntnisse variieren − oft sogar innerhalb einer Familie − allerdings stark (vgl. hierzu auch Wiese et al. 2017). Neben den namibischen Sprachen spielen auch europäische Varietäten des Deutschen eine Rolle für das Deutsche in Namibia. So sind via gebührenpflichtigem Satellitenfernsehen in einigen Haushalten deutsche Fernsehsender verfügbar. Außerdem ist Namibia ein beliebtes Reiseziel deutscher TouristInnen, und eine Reihe von Deutschsprachigen
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betreibt Gästefarmen. Infolgedessen ist die Mehrheit der deutschsprachigen NamibierInnen entweder durch die Medien oder direkten Kontakt regelmäßig mit europäischen Varietäten des Deutschen konfrontiert.
2. Die sprachlichen Repertoires der deutschsprachigen Community in Namibia Im Folgenden wird am Beispiel der deutschsprachigen Minderheit in Namibia die Variabilität der deutschen Sprache in Afrika dargestellt. Die thematisierten Registerunterschiede und das daraus resultierende Spannungsfeld von Standardsprache und Substandard sind dabei auch aus der Perspektive von Spracheinstellungen und Sprachideologie besonders interessant. Dabei gibt es zweifelsohne Parallelen zwischen den deutschsprachigen Minderheiten in Namibia und Südafrika, auch hinsichtlich grammatischer und lexikalischer Merkmale. Hier spielen die beiden jeweils wichtigsten Kontaktsprachen Afrikaans und Englisch natürlich eine wichtige Rolle. Allerdings sind die Erkenntnisse zum Deutschen in Namibia nicht in Gänze auf Südafrika zu übertragen. Ein Grund dafür sind z. B. die unterschiedlichen historischen Hintergründe, die im vorigen Kapitel bereits ausgeleuchtet wurden, sowie unterschiedliche sozioökonomische Voraussetzungen der deutschsprachigen Minderheiten in den jeweiligen Staaten (vgl. z. B. Schweizer 1982: 225). Innerhalb der deutschsprachigen Community in Namibia hat das Standarddeutsche generell einen hohen Stellenwert. Dabei gilt der Standard in Deutschland als sprachliches Ideal und als „gutes Deutsch“. Allerdings genießen auch einige (lexikalische) Namibismen eine große Akzeptanz. Diese können zum Kernwortschatz des namibischen Deutschen gerechnet werden und werden nicht stigmatisiert. Zu diesen Wörtern gehören z. B. Rivier (‘Trockenfluss’ bzw. ‘Trockenflussbett’) oder braaien (‘grillen’) (Die in Klammern gegebenen Übersetzungen sind Annäherungen an die namibischen Konzepte, aber keineswegs tatsächlich synonym). Kellermeier-Rehbein (2016: 224−226) geht aufgrund dieser in der Community gemeinhin nicht stigmatisierten Spezifika des Deutschen in Namibia von einer namibischen Standardvarietät aus, die z. B. in Texten der Allgemeinen Zeitung verwendet werde. Die genannten Lexeme, die nicht der deutschen Standardsprache in Deutschland zuzurechnen sind, werden dort regelmäßig verwendet und akzeptiert. Allerdings sind die Unterschiede zwischen einer so verstandenen namibischen Variante des Standarddeutschen und dem Standard in Deutschland minimal und beziehen sich auf eine überschaubare Menge an Lexemen. Demgegenüber gibt es namibiaspezifische Merkmale des Deutschen (grammatische wie lexikalische), die stigmatisiert und als Substandard klassifiziert werden. Für namibisch geprägten Sprachgebrauch gibt es mehrere Bezeichnungen, sowohl in der Forschungsliteratur als auch in der Community selbst. Im Rahmen der Datenerhebung für ein systematisches Korpus des Deutschen in Namibia (vgl. hierzu Wiese et al. 2017) wurden die TeilnehmerInnen per Fragebogen Folgendes gefragt: „Wie nennst du [bzw. nennen Sie] das, was du [Sie] mit Freunden/Freundinnen im Alltag normalerweise sprichst [sprechen]?“. Als Antwort darauf wurden diese Begriffe genannt: Südwesterdeutsch, Namsläng/Namslang, Namlish und Namdeutsch. Der Begriff Südwesterdeutsch überwiegt bei den älteren SprecherInnen, wird wegen der Konnotation mit der Kolonialzeit („DeutschSüdwest“) vor allem von jüngeren Mitgliedern der Community inzwischen aber häufig
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
gemieden. Die Bezeichnung Nam-Släng wurde vom Musiker und Autor des populärwissenschaftlichen Nam Släng-Wörterbuchs Eric Sell (Künstlername EES) geprägt. (In diesem Wörterbuch findet sich auch eine kurze Erläuterung, warum Südwesterdeutsch vermieden wird [vgl. Sell 2011: 6]). Dieser wird mit der medial stilisierten namibischdeutschen Jugendsprache verbunden, die in zahlreichen Youtube-Videos zelebriert und von SprecherInnen in der Regel als übertrieben und unauthentisch charakterisiert wird (zu Nam-Släng s. auch Kellermeier-Rehbein 2015). Namlish als Kofferwort aus Namibia und English bezieht sich ursprünglich auf die namibische Varietät des Englischen. Namdeutsch gilt schließlich als relativ neutrale und allgemeine Bezeichnung für namibisch geprägtes Deutsch ohne zu starke Konnotation in eine bestimmte Richtung. Dieser Begriff wird im Folgenden verwendet. Namdeutsch ist geprägt durch intensiven Sprachkontakt. Dieser manifestiert sich am auffälligsten in Entlehnungen. Quantitativ scheinen afrikaanse Fremdwörter zu dominieren, aber auch aus dem Englischen gibt es zahlreiche Entlehnungen (vgl. Böhm 2003: 568; Zimmer i. Dr.). Beispiele sind Pad (‘Straße’ oder ‘Weg’) und moeg (‘müde’, beide aus dem Afrikaans) sowie Story (‘Geschichte’) und alright (‘in Ordnung’, beide aus dem Englischen). Vereinzelt werden auch Wörter aus Bantu- und Khoisansprachen übernommen, so z. B. Mariva (‘Geld’, Otjiherero. Das einen Click enthaltende nxa ist vermutlich an Nama/Damara angelehnt (Zimmer i. Dr.). Aufzählungen von Entlehnungen finden sich in Nöckler (1963), Pütz (2001) und Sell (2011). Fremdwörter scheinen generationsübergreifend in großer Anzahl verwendet zu werden und sind nicht auf die Jugendsprache beschränkt (Zimmer i. Dr.). Das entlehnte lexikalische Material wird in der Regel morphosyntaktisch integriert, was in (1) veranschaulicht wird. Hier kongruiert das ursprünglich afrikaanse Adjektiv kwaai (‘böse’) mit Gänse und wird so in einer Wortform realisiert, die es im Afrikaans nicht gibt (Zimmer i. Dr.; s. auch Shah 2007: 23−24 und Kellermeier-Rehbein 2015: 49). (1)
die kwaaien Gänse
Manche Wörter werden auch phonetisch und/oder graphematisch assimiliert. So entspricht die Artikulation von alright im Namdeutschen üblicherweise nicht der Aussprache in der Gebersprache Englisch, was z. B. Sell (2011: 129) durch die Schreibweise kenntlich macht. Besonders die Schreibung unterliegt hier aber starker Variation. Neben Entlehnungen lexikalischen Materials, das dann in der Regel integriert wird, kommt es mitunter auch zu Code-Switching. Auch in anderen Bereichen als der Lexik ist das Namdeutsche durch intensiven Sprachkontakt geprägt. So gibt es z. B. Interferenzen aus dem Afrikaans (vgl. (2) und das afrikaanse Äquivalent in (3); Beispiele aus Shah 2007: 25). (2)
Ich habe keine Lust, um morgen in der Schule zu gehen.
(3)
Ek het nie lus om môre skool toe te gaan nie.
Neben solchen Interferenzen gibt es auch Entwicklungen, die bereits im System des Deutschen angelegt sind, die im stark multilingual geprägten Kontext eine besondere Dynamik entwickeln und deshalb von konservativeren Varietäten abweichen, aber nicht auf eine direkte Übernahme aus einer Kontaktsprache zurückzuführen sind. Auf diese Weise interpretieren Wiese et al. (2014: 286−289) Beispiele wie in (4):
46. Deutsch als Minderheitensprache in Afrika
(4)
1187
ich wusste nich, dass sowas gibs hier in namibia, ich dachte immer, das gibs nur in australien oder so
Hier gibt es Parallelen zu anderen multilingual geprägten Varietäten, wie z. B. Kiezdeutsch, einer urbanen Varietät in Deutschland (vgl. z. B. Wiese 2012). Die Kontaktsprachen von Kiezdeutsch sind gänzlich andere (vornehmlich Türkisch, Arabisch und Kurdisch). Dass es dennoch auffällige Ähnlichkeiten zwischen Namdeutsch und Kiezdeutsch gibt (vgl. das Kiezdeutsch-Beispiel in (5); Wiese et al. 2014: 286), spricht dafür, dass es sich hier um eine im System des Deutschen angelegte Entwicklung handelt und keine unmittelbare Transferenz aus einer Kontaktsprache. (5)
guck ma, was hier alles noch alles gibs
Bei Mitgliedern der deutschsprachigen Community in Namibia sind in aller Regel Registerdifferenzierungen zu beobachten. In formellen Situationen sowie im Kontakt mit europäischen Deutschsprachigen wird üblicherweise sehr standardnah gesprochen, während man sich in informellen Situationen in der In-Group vom Standard entfernt. Auch wenn im standardnahen Register vereinzelt grammatische Muster beobachtet werden können, die zumindest nicht dem Standard in Deutschland entsprechen (auffällig sind z. B. Strukturen wie in (2)), kommt der Sprachgebrauch diesem Standard häufig außerordentlich nahe. Ein Grund dafür ist der DaM-Unterricht, der diesbezüglich eine besondere Rolle spielt. Hier wird in aller Regel der Standard Deutschlands propagiert und Namibismen werden sanktioniert (Deutschsprachige berichten, dass es bei manchen Lehrkräften sogar üblich war, dass SchülerInnen für jeden geäußerten Namibismus einen kleinen Geldbetrag in ein im Klassenraum aufgestelltes Sparschwein werfen mussten). Die Wahrnehmung von Namdeutsch ist nun gegenüber dem idealisierten Standard einerseits geprägt durch Stigmatisierung als „schlechtes Deutsch“ und „Sprachmischung“. Andererseits haben die linguistischen Namibismen identitätsstiftende Funktion (vgl. z. B. Schmidt-Lauber 1998: 308−309). Sie dienen zur Abgrenzung von Europa und „sind ein Mittel neben anderen, die namibische Spezifik zu demonstrieren“ (Schmidt-Lauber 1998: 309). In diesem Kontext sind auch die Aktivitäten von EES zu sehen, der den von ihm so getauften Nam-Släng über verschiedene Kanäle promotet (populäre Musik, das NamSläng-Wörterbuch, Youtube-Videos usw.). „Die Varietät kommt dem Bedürfnis nach einem Symbol für die Identität als deutschsprachige Namibier entgegen“ (KellermeierRehbein 2015: 60).
3. Deutsch als Fremdsprache Der Status von Deutsch als Fremdsprache (DaF) unterscheidet sich in Afrika von Land zu Land sehr stark. Während Deutsch z. B. in einigen frankophonen Ländern Westafrikas (Côte d’Ivoire, Kamerun, Mali) ein wichtiges Schulfach ist, gibt es in anderen Ländern kaum oder gar keinen Deutschunterricht (so z. B. in Angola). Für einen ausführlichen Überblick hierzu vgl. Böhm (2003) sowie verschiedene Beiträge in Krumm et al. (2010). In Südafrika hat DaF in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung verloren. Seit den 1970er Jahren ist sowohl die Zahl der Lernenden als auch die der Lehrenden stark
1188
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
zurückgegangen. 1982 lag die Zahl der DaF-SchülerInnen bei 32.000, 2008 nur noch bei 8.406. Die Zahl der LehrerInnen ist im gleichen Zeitraum von 511 auf unter 100 gesunken (Maltzan 2010: 1806). Ein Grund dafür ist, dass Deutsch aus der Liste der Schulfächer gestrichen wurde, die Relevanz für die Universitätszulassung haben. In der jüngeren Vergangenheit wurden zudem verstärkt Stellen im Bereich DaF gestrichen, da diesem Fach keine besondere Bedeutung beigemessen wird − DaF wird in der Regel aufgrund einer gewissen Affinität zum Deutschen gewählt, das mitunter als Bildungs- und Kultursprache wahrgenommen wird, während lebenspraktische Gründe kaum eine Rolle spielen (Böhm 2003: 622−623; Maltzan 2010: 1806). Diese Entwicklung im Bereich der Schule schlägt sich auch im universitären DaF-Unterricht nieder. Auch hier ist die Zahl der Lernenden im Vergleich zu den 1970er Jahren zurückgegangen, Stellen wurden gestrichen und German Departments wurden mit anderen Fächern zu größeren Fachverbünden zusammengelegt (Böhm 2003: 625−628; Maltzan 2010: 1807−1808). Anders stellt sich die Situation in Namibia dar: Seit der Unabhängigkeit steigt die Anzahl der DaF-SchülerInnen kontinuierlich. Im Jahr 2000 lag sie bei 4.126 (Böhm 2003: 547), 2016 bei 8.630 (Shah & Zappen-Thomson 2018). Dies ist in erster Linie damit zu erklären, dass Deutschkenntnisse die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Vor allem im Tourismus, der einen zentralen Wirtschaftsfaktor in Namibia darstellt, spielt Deutsch eine wichtige Rolle. Aber auch in anderen Bereichen gibt es ArbeitgeberInnen, die bevorzugt BewerberInnen mit Deutschkenntnissen einstellen (Shah & Zappen-Thomson 2018). An der University of Namibia gibt es neben dem Bachelor-Studiengang German Studies, bei dem Deutsch-Kenntnisse Zugangsvoraussetzung sind, auch den Bachelor-Studiengang German as Applied and Business Language. Diesen können auch Studierende ohne Deutschvorkenntnisse belegen. Die Inhalte des Studiengangs sind auf spätere Tätigkeiten im Wirtschafts- und Tourismusbereich abgestimmt.
4. Literatur Ammon, Ulrich 2014 Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin: De Gruyter. Bodenstein, Eckhard W. 1993 Deutsch als Mutter- und Unterrichtssprache in Südafrika. Germanistische Mitteilungen 38. 115−130. Böhm, Michael A. 2003 Deutsch in Afrika: die Stellung der deutschen Sprache in Afrika vor dem Hintergrund der bildungs- und sprachpolitischen Gegebenheiten sowie der deutschen auswärtigen Kulturpolitik (Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Kulturwissenschaft 52). Frankfurt a. M.: Lang. Deumert, Ana 2009 Namibian Kiche Duits: the making (and decline) of a neo-African language. Journal of Germanic Linguistics 21. 349−417. Franke, Katharina 2008 „We call it Springbok-German!“: Language Contact in the German Communities in South Africa. Melbourne: Diss. Monash University. Frydman, Jenna 2011 A critical analysis of Namibia’s English-Only language policy. In Eyamba G. Bokamba, Ryan K. Shosted & Bezza Tesfaw Ayalew (Hrsg.), Selected Proceedings of the 40th Annual Conference on African Linguistics, 178−189. Somerville, MA: Cascadilla Proceedings Project.
46. Deutsch als Minderheitensprache in Afrika
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Christian Zimmer, Berlin (Deutschland)
47. Deutsch als Minderheitensprache in Australien und Ozeanien
1191
47. Deutsch als Minderheitensprache in Australien und Ozeanien 1. Allgemeines und Grundlegendes 2. Auswanderervarietäten 3. Koloniale Kontaktvarietäten
4. Ausblick 5. Literatur
1. Allgemeines und Grundlegendes Deutsche und aus dem Deutschen hervorgegangene Varietäten sind in der Südsee, soweit bekannt, erst seit dem 19. Jahrhundert verbreitet. Sie können hinsichtlich ihrer Genese in zwei grundlegende Typen eingeteilt werden. Unter dem ersten Typ können die Auswanderervarietäten (s. Kap. 2.) gefasst werden, die von deutschsprachigen Siedlern aus Europa in die Südsee mitgebracht worden sind. Diese Varietäten sind in der neuen Heimat in der Regel über Generationen hinweg als L1 weitergegeben worden. Soweit sie sich − hauptsächlich durch kontaktinduzierte Sprachwandelprozesse − von ihren europäischen Ursprungsvarietäten strukturell entfernt haben, so ist dies im Rahmen einer graduellen Divergenz geschehen. Den zweiten Typ stellen koloniale Kontaktvarietäten dar, die durch den intensiven Kontakt des Deutschen mit den südseeinsulanischen Sprachen in den einstigen deutschen Südseekolonien entstanden sind (s. Kap. 3.). Bei der Genese dieser Varietäten haben wir es mit katastrophenartigen Entstehungsszenarien zu tun (vgl. Bickerton 1988), bei denen die abrupte Unterbrechung der intergenerationellen Sprachübertragung und der intensive Sprachkontakt die umfangreiche Restrukturierung der deutschen L1-Varietäten zur Folge hatten. Bei diesen Varietäten handelt es sich vorwiegend um L2-Varietäten, d. h. um deutschbasierte Jargons und Pidgins (vgl. Mühlhäusler 1980, 1984, 2001), im Fall von Unserdeutsch ist aber auch die Nativisierung einer deutschbasierten kolonialen L2-Varietät dokumentiert (vgl. Maitz 2017; Maitz & Volker 2017a). Wichtig ist zu betonen, dass − im Gegensatz etwa zu Ammons (2015: 174) Vorgehensweise − von diesen beiden Varietätentypen nur die Auswanderervarietäten als Varietäten des Deutschen angesehen werden können. Bei den deutschbasierten kolonialen Kontaktvarietäten handelt es sich in Wirklichkeit um eigenständige (Misch)Sprachen, die in der Regel nur einen geringeren Teil ihrer Sprachstruktur vom Deutschen geerbt haben. Die Glanzzeit der deutschen Sprache in der Südsee ist heute vorbei. Nach einer progressiven Phase, die in den 1830er Jahren begann und in der die für uns relevanten Sprachgemeinschaften entstanden sind, setzte mit dem Ersten Weltkrieg bereits die regressive Periode in der Geschichte des Deutschen in der Südsee ein. Diese wurde eingeleitet und geprägt vom Verlust der deutschen Südseekolonien (1914) sowie der starken Stigmatisierung und abrupten Verdrängung des Deutschen aus dem öffentlichen Leben sowohl in Australien als auch in Ozeanien. Bei den wenigen Sprechern der seit dem 19. Jahrhundert tradierten deutschen und deutschbasierten Varietäten, die man heute verstreut noch in Australien, Neuseeland und Papua-Neuguinea vorfindet, handelt es sich dementsprechend lediglich um die letzten lebendigen Reste einst vitaler Sprachgemeinschaften. Die allermeisten der im Laufe des https://doi.org/10.1515/9783110261295-047
1192
IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
19. Jahrhunderts entstandenen und einst mehr oder weniger geschlossenen Sprachgemeinschaften, in denen die traditionellen Auswanderervarietäten gesprochen wurden, haben sich inzwischen aufgelöst. Letzte Reste sind − bzw. waren bis vor kurzem − nach aktuellem Kenntnisstand nur noch in einigen wenigen Ortschaften in Australien und Neuseeland zu finden (s. Kap. 2.). Ebenso sind auch die wenigen dokumentierten deutschbasierten Jargons und Pidgins, die im Umfeld einstiger deutscher Kolonialsiedlungen in Deutsch-Neuguinea im Gebrauch waren, inzwischen ausgestorben. Von den deutschbasierten kolonialen Kontaktvarietäten wird heute, soweit bekannt, nur noch das kreolisierte und ebenfalls kritisch bedrohte Unserdeutsch gesprochen (s. Kap. 3.). Dies bedeutet freilich nicht, dass heute kaum noch Menschen mit einer deutschen Varietät als L1 in der Südsee leben würden − im Gegenteil. Die Einwanderung von Deutschsprachigen in den Südpazifik, in erster Linie nach Australien und Neuseeland, zu einem geringeren Teil aber auch nach Hawai'i, dauert seit dem Zweiten Weltkrieg an. Die Zahl der in Australien und Ozeanien lebenden Personen mit einer deutschen L1Varietät erreicht selbst heute auf jeden Fall die Hunderttausendhöhe (vgl. Eberhard, Simons & Fennig 2019). Diese jüngeren deutschsprachigen Immigranten bilden allerdings im Gegensatz zu den im 19. Jahrhundert entstandenen Siedlungen keine auch nur einigermaßen stabilen Sprach- und schon gar keine Siedlungsgemeinschaften. Die einzelnen Sprecher bzw. Familien sind − sofern überhaupt − nur durch lose und offene soziale Netzwerke miteinander verbunden und zeigen daher auch eine starke Tendenz zum Sprachwechsel zugunsten der englischen Mehrheitssprache innerhalb von nur zwei bis drei Generationen (vgl. etwa Clyne 1994; Pütz 1994: 125−129; Bönisch-Brednich 2002: 175−176). Wir haben es hier also statt mit deutschen Sprachgemeinschaften im eigentlichen Sinne vielmehr mit mehrsprachigen Individuen und Familien mit den unterschiedlichsten deutschen L1-Varietäten zu tun, von deren Sprachkompetenz- und Sprachgebrauchsmustern wir jedoch von einzelnen wenigen Arbeiten abgesehen (vgl. z. B. Clyne 1967; Pütz 1994) kaum etwas wissen.
2. Auswanderervarietäten Die organisierte Auswanderung von Deutschsprachigen nach Australien und Ozeanien setzte in den 1830er Jahren ein und dauerte im gesamten 19. Jahrhundert an. Die Ausbzw. Einwanderungsgründe spiegeln die Geschichte der betroffenen Länder wider. Wir finden unter ihnen sowohl religiöse wie auch wirtschaftliche und politische Motive (vgl. Riehl 2018: 12−14). Besondere Aufmerksamkeit verdient die Auswanderung im Zuge der Kolonisation der Südseeinseln, die die vielfältigsten sprachlichen Spuren im Südpazifik hinterlassen hat (s. Kap. 3.). Die meisten deutschsprachigen Siedler gelangten aus Nord- und Mitteldeutschland in die Südsee, neben ihnen gab es aber auch kleinere Immigrantengruppen aus dem Süden sowie aus den anderen deutschsprachigen Ländern und Regionen Europas wie Österreich, der Schweiz, Polen, Mähren, Böhmen usw. Somit gelangten ab Mitte des 19. Jahrhunderts − neben dem gesprochenen und geschriebenen Standarddeutsch − die unterschiedlichsten regionalen Nonstandardvarietäten des Deutschen in die Südsee. Diese Vielfalt an Auswanderervarietäten ist dank der permanenten Auswanderung aus Europa bis heute vorhanden. Da sich allerdings die alten Sprachgemeinschaften inzwischen fast vollständig aufgelöst, d. h. sprachlich assimiliert haben,
47. Deutsch als Minderheitensprache in Australien und Ozeanien
1193
besteht zwischen der einstigen und der heutigen Varietätenvielfalt keine historische Kontinuität.
2.1. Australien Über die Größe der deutschsprachigen Minderheiten im heutigen Australien liegen unterschiedliche Zahlen, aber keine offiziellen Statistiken vor. Die neueste Ausgabe von Ethnologue (Eberhard, Simons & Fennig 2019) nennt für das Standarddeutsche (!) eine aktuelle Sprecherzahl von 79.400, deutlich höhere Zahlen werden − allerdings mit Bedenken − von Ammon (2015: 173) zitiert. Die traditionellen Siedlungsgebiete der deutschen Sprachminderheit befanden sich im Bundesstaat South Australia sowie entlang der Ostküste in den Bundesstaaten Victoria, New South Wales und Queensland. Die ältesten deutschsprachigen Siedlungen sind in South Australia in den Jahren nach 1838 von Altlutheranern gegründet worden, die aus religiösen Gründen auswanderten. Die späteren Ein- bzw. Zuwanderer sind vor allem von wirtschaftlichen Nöten getrieben und nicht zuletzt auch von den Goldfunden in den südöstlichen Bundesstaaten angelockt worden. Während diese ersten − und zugleich die meisten − Siedlergruppen vor allem aus Handwerker- und Bauernfamilien bestanden und mehr oder weniger geschlossene, ländliche Sprachgemeinschaften bildeten, kamen vor allem im Anschluss an die gescheiterte Revolution von 1848, aber auch später, nicht wenige Intellektuelle nach Australien, die sich wiederum mehrheitlich in den größeren Städten niederließen. Einen guten Überblick über die geografische Verteilung und Geschichte dieser Siedlungen bieten Riehl (2018) und Clyne (1981, 1994). Die Zahl der deutschen Sprachminderheit stieg (auch) durch die kontinuierliche Zuwanderung im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig an. Zur Aufrechterhaltung der ethnolinguistischen Vitalität (vor allem ländlicher) deutscher Sprachgemeinschaften trug − neben den dichten und relativ geschlossenen sozialen Netzwerken − vor allem auch die lutherische Kirche mit ihren monolingual-deutschen und bilingualen Konfessionsschulen, deutschsprachigen Veröffentlichungen, und natürlich auch mit ihrem deutschen Konfessiolekt maßgeblich bei. Erst nach dem Ersten Weltkrieg hat sich der Trend radikal geändert: In den Nachkriegsjahren kam es zum zeitweisen Einwanderungsverbot für Deutsche, sogar zu Internierungen; Deutsch als Schulsprache sowie deutschsprachige Publikationen wurden verboten, deutschsprachige Messen untersagt und nicht zuletzt wurden auch deutsche Ortsnamen durch englische ersetzt (vgl. Clyne 1981: 1; Riehl 2018: 13). Damit setzte die Auflösung − d. h. weitgehende Anglisierung − der zahlreichen, bis dahin relativ intakten, ländlichen Sprachgemeinschaften ein, die in den meisten Fällen noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Abschluss gekommen ist. Dafür kam es aber nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer erneuten massiven Einwanderungswelle aus den deutschsprachigen sowie den ost- und mitteleuropäischen Ländern, so dass beim Zensus im Jahre 1976 bereits mehr als 180.000 Personen angegeben haben, regelmäßig Deutsch zu verwenden (zit. nach Clyne 1981: 3−11). Diese jüngere Einwanderungswelle war allerdings im Gegensatz zu denen im 19. Jahrhundert zum weit überwiegenden Teil auf die urbanen Ballungsräume ausgerichtet und unorganisiert, was natürlich von vornherein eine starke intergenerationelle sprachliche Instabilität dieser Gruppen zur Folge hatte (vgl. Clyne 1981: 10−13, 1994: 109).
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IV. Die Dynamik der arealen Varietäten des Deutschen im Sprachkontakt
Die Erscheinungsformen des Deutschen in Australien sind traditionell vielfältig. Dank der deutschen lutherischen Kirche war das gesprochene und geschriebene Standarddeutsch in den alten Siedlungen als Schul- und Kirchensprache von Anfang an bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein präsent. Daneben waren die als L1 gesprochenen regionalen Nonstandardvarietäten der deutschen Siedler über Generationen hinweg als informelle Alltagsvarietäten in Gebrauch. Da die meisten Siedler, wie gesagt, aus den nördlicher gelegenen Regionen Deutschlands kamen, waren die meisten deutschen Ortschaften von der Dominanz mittel- und niederdeutscher Dialekte geprägt (vgl. Paul 1965; Kipp 2002; Riehl 2018). Selbst die geschlossenen Siedlungen waren jedoch in den meisten Fällen dialektal heterogen, da sowohl die ersten Siedler als auch die später Zugezogenen aus unterschiedlichen Dialektgebieten kamen. Die meisten und genauesten Informationen liegen − neben den deutschen Sprachgemeinschaften in Victoria (vgl. Kipp 2002) − zu den deutschen Siedlungen um Adelaide sowie vor allem zum Barossatal (vgl. Clyne 1994; Paul 1965; Riehl 2012, 2015) vor. Von Letzterem wissen wir, dass es von einem intensiven Dialektkontakt geprägt war: Unterschiedliche ostmitteldeutsche Kerndialekte traten hier mit ostniederdeutschen und zu einem geringeren Teil sogar mit verschiedenen weiteren Dialekten in Kontakt, was natürlich auch im linguistischen Profil des Barossadeutschen seine Spuren hinterlassen hat (vgl. Paul 1965). Riehl (2018) stellt fest, dass es im Barossatal − und auch darüber hinaus − trotz dieses intensiven und dauerhaften Dialektkontakts und trotz beobachtbarer Mischungs- und Ausgleichsprozesse zwischen den örtlichen Auswanderervarietäten dennoch nicht zur Entstehung eines neuen Ausgleichsdialekts bzw. einer Koine gekommen ist. Dieser Prozess sei zwar in Gang gesetzt worden, aber zu keinem Abschluss gekommen, da der Sprachwechselprozess zum Englischen bereits eingesetzt hat, bevor im Zuge der intergenerationellen Sprachübertragung ein strukturell stabiler, koineisierter neuer Dialekt (im Sinne von Trudgill 2004) hätte entstehen können (vgl. Riehl 2018: 20). Das Ergebnis ist eine von allen jüngeren empirischen Arbeiten (z. B. Paul 1965; Riehl 2015) registrierte, auffallende interpersonelle Variabilität, die neben dem unterschiedlichen sprachlichen Input und Repertoire vor allem auch mit den veränderten, instabilen Sozialstrukturen, dem Prozess der Attrition, und wie Riehl (2015) argumentiert, auch mit dem versperrten Zugang zur homogenisierend wirkenden, normativen deutschen Schriftlichkeit erklärt werden kann. Im Sinne von Paul (1965) fand aber − dank der starken Präsenz des Standarddeutschen im Schul- und Glaubenskontext der lutherischen Kirche − eine Dialekt-Standard-Konvergenz im Barossatal statt, die die Verdrängung basisdialektaler Varietäten zugunsten eines dialektal gefärbten, dominanterweise ostmitteldeutsch geprägten Regiolekts zur Folge hatte. Der makrosoziolinguistische Kontext und der sprachliche Alltag deutscher Sprachminderheiten im Australien der Nachkriegszeit ist überall, sowohl in den alten, ländlichen Sprachgemeinschaften als auch bei den jüngeren, städtischen Immigranten, von der zunehmenden und starken Dominanz des Englischen und der Verdrängung der deutschen L1-Varietäten sowohl aus dem Repertoire der jüngeren Generationen wie auch aus den meisten Kommunikationsdomänen geprägt. Dementsprechend zeigen alle einschlägigen jüngeren Untersuchungen zum strukturellen Profil des Barossadeutschen und anderer deutscher Auswanderervarietäten einen starken strukturellen Einfluss des australischen Englisch. Dieser umfasst phonologische Transfererscheinungen, die umfangreiche Entlehnung von Inhaltswörtern und auch von Diskursmarkern, außerdem semantischen Transfer, Reduktion und Schwankungen im Genus- und Kasussystem, die kontaktindu-
47. Deutsch als Minderheitensprache in Australien und Ozeanien
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zierte Generalisierung der SVO-Wortstellung, den Abbau der deutschen Klammerstrukturen und nicht zuletzt auch konversationelle Mischungsphänomene von moderatem Code-Switching bis hin zu umfangreichem Code-Mixing, oft ausgelöst durch Entlehnungen und attritionsbedingte Wortfindungsstörungen (vgl. z. B. Clyne 1967, 1981, 1994; Kipp 2002; Paul 1965; Pütz 1994; Riehl 2012, 2015, 2018). Clynes (1994) vergleichende Studie zeigt, dass am Ende des 2. Jahrtausends die wichtigsten linguistischen Unterschiede zwischen den alten, einst geschlossenen, ländlichen Sprachgemeinschaften (im Endstadium) einerseits und den neuen, urbanen Immigranten andererseits vor allem im Konventionalisiertheits- und Integrationsgrad von lexikalischen Entlehnungen sowie in der intergenerationellen Sprachübertragung liegen. Insgesamt kann man festhalten, dass die Präsenz des Deutschen als Minderheitensprache in Australien durch die anhaltende Zuwanderung von Deutschsprachigen auch für die Zukunft gesichert sein dürfte, wenn auch in einer vollkommen anderen Qualität, als dies früher der Fall war. An die Stelle der vorwiegend dialektal geprägten, relativ geschlossenen und stabilen, ländlichen Sprachgemeinschaften mit generationsübergreifender Sprachübertragung treten die standardnäheren, offenen und instabilen, urbanen Sprechergruppen mit einem starken Trend zum Sprachwechsel innerhalb von zwei bis drei Generationen. Tendenzen zur Entstehung auch nur einigermaßen geschlossener, stabiler, dicht vernetzter Sprachgemeinschaften lassen sich heute nicht erkennen, so dass auch mit der Entstehung neuer Dialekte erst einmal kaum gerechnet werden kann. Als ein einzigartiger Sonderfall unter den Auswanderervarietäten muss schließlich Unserdeutsch erwähnt werden, das zwar keine deutsche, aber immerhin eine deutschbasierte Auswanderervarietät in Australien darstellt. Seit der Auswanderung nahezu der ganzen Sprachgemeinschaft aus Papua-Neuguinea ab den 1970er Jahren wird die Sprache heute so gut wie ausschließlich in Australien gesprochen. Als (post)koloniale Varietät wird sie in Kap. 3. behandelt.
2.2. Ozeanien Die zahlenmäßig größten deutschsprachigen Minderheiten in Ozeanien leben heute in Neuseeland und Hawai'i: Jüngsten Zensusdaten zufolge sind es über 36.000 Deutschsprecher in Neuseeland und etwa 4.000 auf Hawai'i (zit. nach Engelberg 2018: 47 u. 49). In den einstigen deutschen Südseekolonien (s. Kap. 3.), wo die zahlenmäßige Präsenz deutschsprachiger Gruppen selbst in der deutschen Kolonialzeit äußerst gering war, sowie in den anderen Inselstaaten im Südpazifik sind heute keine nennenswerten deutschen Sprachgemeinschaften zu finden. Die Geschichte deutschsprachiger Minderheiten in Neuseeland begann ungefähr zeitgleich zur Geschichte des Deutschen in Australien. Deutschsprachige Auswanderer aus Europa sind ab 1839 in mehreren Wellen angeworben und auf der Nord- und Südinsel Neuseelands angesiedelt worden. Die meisten von ihnen kamen aus Norddeutschland, kleinere Gruppen aber auch aus den anderen deutschsprachigen Ländern und Regionen Europas. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden so neben etwa 20 traditionellen, ländlichen Siedlungen im Land auch einige Stadtviertel mit einer dominant deutschsprachigen Bevölkerung (vgl. Minson 1993). Systematische Feldforschung zu den deutschen Sprachgemeinschaften in Neuseeland hat, wenn überhaupt, dann zu spät stattgefunden. Die meisten und genauesten Informationen liegen zu Puhoi in der Nähe von Auckland
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vor (vgl. Droescher 1974; Heimrath 2015; Heller & Braund 2005; Wildfeuer 2017). Es handelt sich hier um eine kleine, einst geschlossene und dialektal homogene, heute aber nicht mehr existierende Sprachgemeinschaft mit einem aus dem Egerland mitgebrachten nordbairischen Dialekt, die erst in den Fokus der germanistischen Linguistik geriet, als sie bereits unmittelbar vor der Auflösung stand (vgl. Droescher 1974; Heimrath 2015; Heller & Braund 2005). Insgesamt zeigen sich auch in Neuseeland die gleichen historischen Trends wie in Australien (s. o.): Mit dem Ersten Weltkrieg setzt − parallel zu bzw. ausgelöst von zahlreichen radikalen anti-deutschen Bestimmungen − der Sprachwechsel in den alten, vorwiegend ländlichen Sprachgemeinschaften ein und kommt spätestens bis zur Jahrtausendwende überall zum Abschluss. Dafür setzt in der Nachkriegszeit, besonders ab den 1990er Jahren, eine neue Einwanderungswelle ein, die sogar größere − allerdings auch lockerere und linguistisch instabilere − deutschsprachige Massen ins Land bringt, als sie zuvor in den traditionellen Siedlungen gelebt hatten (vgl. Bönisch-Brednich 2002). Die Wurzeln der deutschen Sprachminderheit in Hawai'i liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wo deutsche Händler und Pflanzer Unternehmen gründeten und deutsche Plantagenarbeiter anwarben (vgl. Schweizer 1982). Die Zahl der deutschen Siedler stieg im Laufe des 19. Jahrhunderts kontinuierlich an. 1884 machten die in Deutschland geborenen Migranten bereits 2 % der Gesamtbevölkerung in Hawai'i aus (zit. nach Engelberg 2018: 48) und sie konzentrierten sich vor allem auf Kaua´i (vgl. Schweizer 1982: 159−161). Der Erste Weltkrieg brachte ähnliche Brüche und Veränderungen wie in Australien, Neuseeland und den ehemaligen Kolonien (s. Kap. 3.) mit sich. Auswanderung und Sprachwechsel waren die Folge. Eine neue Migrationswelle setzte erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, jedoch ohne dass die Einwanderer dabei − wie früher − dichte soziale Netzwerke oder gar Siedlungsgemeinschaften gebildet hätten. Belastbare linguistische Daten und Analysen zur deutschen Sprachminderheit in Hawai'i liegen (ähnlich zu Neuseeland) nicht vor.
3. Koloniale Kontaktvarietäten 3.1. Allgemeines Das deutsche Kolonialreich war im Vergleich zur jahrhundertelangen Kolonialgeschichte anderer europäischer Großmächte sehr kurzlebig. Die deutsche Kolonialzeit in der Südsee umfasst gerade einmal drei Jahrzehnte, de facto die Zeit zwischen 1884 und 1914. Kleinere Gruppen von deutschen Seeleuten, Händlern und auch Wissenschaftlern waren zwar auch schon in der Zeit davor an der Erschließung unterschiedlicher Südsee-Inseln beteiligt, doch die ersten Kolonien im Südpazifik sind vom Deutschen Reich erst 1884 angeeignet und zu sog. Schutzgebieten erklärt worden (vgl. Gründer 2001). 1884 wurde die deutsche Flagge zunächst auf verschiedenen, heute zu Papua-Neuguinea gehörenden Inseln Melanesiens aufgezogen: in Kaiser-Wilhelmsland (d. h. dem nordöstlichen Teil von Neuguinea) und im Bismarck-Archipel sowie auf den Nördlichen Salomonen. Später folgten weitere Inseln in Mikronesien und Polynesien: die Marschall-Inseln (1885), Nauru (1888), im Jahre 1899 die Karolinen, die Palauinseln sowie die Nördlichen Marianen, und 1900 schließlich West-Samoa. West-Samoa ist unter dem Namen Deutsch-Samoa als
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eigenständige Kolonie verwaltet worden, während die anderen Inseln Teile der Kolonie Deutsch-Neuguinea waren. Der Fläche nach war die deutsche Südsee somit recht ausgedehnt. Für die sprachliche Situation viel relevanter als die Größe sind allerdings die demografischen Verhältnisse. Die Südseekolonien waren im Gegensatz zu Deutsch-Südwestafrika allesamt Handelsund keine Siedlungskolonien. Die Zahl der Deutschen, die sich in den Südseekolonien dauerhaft niederließen, war und blieb dementsprechend während der gesamten deutschen Kolonialzeit minimal. Es handelte sich dabei in erster Linie um Missionare und Verwaltungsbeamte, in geringerer Zahl auch um Händler und Pflanzer. Hiery (2001a: 24) schätzt die Zahl der Deutschen, die im gesamten Zeitraum zwischen 1884 und dem Ersten Weltkrieg in den deutschen Südseekolonien länger sesshaft waren und somit überhaupt Kontakt zu der indigenen Bevölkerung hätten haben können, auf maximal 5.000. Selbst im Bismarck-Archipel und in Kaiser-Wilhelmsland, wo die zeitweise Präsenz des Deutschen die meisten sprachlichen Spuren hinterlassen hat, lebten nur wenige hundert Deutsche. Im Jahre 1903 waren es 182 Personen im Bismarck-Archipel und 102 in Kaiser-Wilhelmsland (vgl. Engelberg 2018: 49). Neben den demografischen Verhältnissen wurde die weitere Verbreitung der deutschen Sprache im Pazifik auch von der nicht gerade effektiven kolonialen Sprachen- bzw. Sprachverbreitungspolitik verhindert (vgl. Mühlhäusler 2001, 2012). Es gab von Seiten der Koloniallobby in Deutschland und auch unter der örtlichen Kolonialverwaltung Bestrebungen, in den Südseekolonien das Deutsche als Verkehrssprache einzuführen. Diese Pläne sind aber nie Wirklichkeit geworden. Es fehlte sowohl an Durchsetzungskraft als auch an Erfahrung und nicht zuletzt an materiellen und vor allem personellen Ressourcen für einen effizienten und auch nur einigermaßen flächendeckenden allgemeinen Deutschunterricht (vgl. Mühlhäusler 2001: 241). Letztlich ist das Deutsche somit nie zur allgemeinen Verkehrssprache in den deutschen Südseekolonien geworden, weder offiziell noch faktisch (vgl. Rowley 1958: 251; Mühlhäusler 2012: 83). Stattdessen hat sich das melanesische Pidgin-Englisch, Tok Pisin also, weiterverbreiten und in dieser Funktion weitgehend etablieren können. Eine Ausnahme stellen am ehesten noch die mikronesischen Inselgruppen dar, wo die deutschen Siedler und Missionare die deutsche Sprache unter der zahlenmäßig kleinen indigenen Bevölkerung leichter und effektiver als Schul- und Alltagssprache durchsetzen konnten (vgl. Mühlhäusler 2001: 248−249). Nennenswertere und nachhaltigere Erfolge in der Verbreitung der deutschen Sprache hatten darüber hinaus im Grunde nur die verschiedenen Missionen in Kaiser-Wilhelmsland und im BismarckArchipel zu verzeichnen. Im Umfeld der Missionsstationen der Steyler Missionare (SVD) auf den Inseln Ali und Tumleo, in Alexishafen und Friedrich-Wilhelmshafen (heute: Madang) sowie an der Missionsstation der Herz-Jesu-Missionare (MSC) in Vunapope bei Herbertshöhe (heute: Kokopo) hat sich das Deutsche teilweise über seine Funktion als Unterrichtssprache hinaus auch als Alltagssprache etablieren können. Im Umfeld dieser größeren Missionszentren blieb das Deutsche nicht selten bis in die Zwischenkriegszeit, teilweise sogar bis in die Nachkriegszeit hinein als Mittel der örtlichen interethnischen Kommunikation erhalten (vgl. Mühlhäusler 2001: 245−246 u. 248−249). Insgesamt muss jedoch festgehalten werden, dass ein großräumiger, nachhaltiger und tiefgreifender Einfluss des Deutschen in der Südsee durch die kurze Dauer des Sprachkontakts und auch durch dessen geringe Intensität in den meisten Fällen verhindert war. Und dennoch hat die relativ kurze Präsenz der Deutschen in der Südsee mehrere, teilweise sogar tiefe sprachliche Spuren hinterlassen. Diese reichen von teils recht um-
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fangreichem lexikalischem Transfer in den lokalen bzw. indigenen Sprachen bis hin zur Entstehung von pidginisierten L2-Varietäten des Deutschen und im Fall von Unserdeutsch (Rabaul Creole German) sogar zur Genese eines deutschbasierten Kreols. Doch um diese beschreiben und ihre Genese erklären zu können, ist es unerlässlich, zunächst auf die kolonialen L1-Varietäten des Deutschen, d. h. auf das Deutsch der Siedler, etwas näher einzugehen.
3.2. Siedlervarietäten Über die Erstvarietäten des Deutschen, die von den deutschen Siedlern selbst gesprochen wurden, ist nicht viel bekannt, obwohl den von ihnen gesprochenen L1-Varietäten des Deutschen offensichtlich sowohl als Input wie auch als Target eine bedeutende Rolle im kolonialen Sprachkontakt zukommt. Auch sind es diese Varietäten, die man im Gegensatz zu den nativisierten oder nicht nativisierten L2-Varietäten des Deutschen, die in den Südseekolonien unter der indigenen Bevölkerung entstanden sind, noch am ehesten und im eigentlichen Sinne unter dem Dachbegriff „Deutsch als Minderheitensprache“ fassen kann.
3.2.1. Das Deutsch der Siedler Da die meisten Deutschen in der Südsee aus den nördlicher gelegenen Teilen des Deutschen Reichs in der relativen Nähe der deutschen Häfen kamen, können als wichtigste Kontaktvarietäten grundsätzlich und dominanterweise norddeutsch geprägte gesprochene Varietäten angenommen werden. Lediglich im Fall der auch linguistisch gesehen sehr einflussreichen Herz-Jesu-Missionare in Vunapope im Bismarck-Archipel konnte bislang mithilfe von linguistischer und metalinguistischer Evidenz tatsächlich genau rekonstruiert werden, dass sie mehrheitlich ein nordwestdeutsch-westfälisch geprägtes, standardnahes Alltagsdeutsch gesprochen haben (vgl. Maitz & Lindenfelser 2018). Schriftliche Überlieferung zeigt darüber hinaus auch, dass durch den intensiven Sprachkontakt die Erstvarietäten der deutschen Siedler sowohl in Neuguinea als auch besonders in Samoa stark vom Englischen bzw. vom Pidgin-Englischen und zu einem geringeren Teil auch von den indigenen Sprachen beeinflusst wurden. Der Grad dieser Beeinflussung zeigt nicht unerhebliche Unterschiede und reicht von moderatem lexikalischem Transfer (vgl. Lindenfelser i. V.) bis hin zu language mixing (im Sinne von Auer 1999) bzw. zu umfangreicher englischer Relexifizierung, wie folgender Auszug aus einem Leserbrief in der Samoanischen Zeitung zeigt: „Herr Editor! Ich bin schon ae long teim in diesen Eilands, aber was mir am Montag gehaeppened hat, is mir njuh. Im Tivoli Hotel sollte ein Buggy ausgeraffelt werden. Weil aber nicht alle Tickets sohld waren, wurden die nichtverseehlten Tickets […]“ (Samoanische Zeitung, 21.12.1901, zit. nach Stolberg 2013: 342). Diese und andere Quellen (vgl. Mühlhäusler 2001: 255−256) deuten auf die Entstehung von kolonialen Mischvarietäten unter den deutschen Siedlern − vor allem in Deutsch-Samoa − hin. Sie sind als Reflexe realer sprachlicher Entwicklungen selbst dann ernst zu nehmen, wenn hinter der sprachlichen Gestaltung der Beiträge eine ironische bzw. sprachkritische Absicht der Verfasser vermutet werden kann. Die oben zitierten
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Daten lassen etwa die Konturen einer im Entstehen begriffenen, aus dem intensiven deutsch-englischen Sprachkontakt hervorgegangenen G-L-Mischsprache (G-L mixed language; vgl. Meakins 2013) erkennen: Die englische Relexifizierung erfasst bereits weite Teile des Grundwortschatzes, während die deutsche Grammatik weitgehend intakt bleibt. Es ist allerdings wichtig zu betonen, dass es sich bei diesen Varietäten ausnahmslos um L1-Varietäten des Deutschen handelt. Sie werden zwar dank der puristischen Einstellungen, die aus der Alten Welt in die Südsee exportiert wurden, teilweise (selbst)kritisch und abwertend reflektiert (vgl. Stolberg 2013), ihre Entstehung ist allerdings die plausible Folge (a) der im Laufe der Zeit mehr oder minder ausgebauten mehrsprachigen Kompetenz der deutschen Siedler, (b) der Dominanz der örtlichen Sprachen im informellen Alltag sowie (c) des geringeren sprachnormativen Drucks in der Ferne. Da jedoch die deutschen Siedler, deren Zahl ohnehin sehr gering war, nach der australischen Okkupation Neuguineas und der neuseeländischen Okkupation Samoas von wenigen Ausnahmen abgesehen ausgewiesen und enteignet wurden (vgl. Rowley 1958: 317−325; Hiery 2001b), muss man davon ausgehen, dass mit dem Ende der deutschen Kolonialzeit in der Südsee auch diese Mischvarietäten untergegangen sind, ohne nativisiert worden zu sein.
3.2.2. Siedlervarietäten als Entlehnungsquellen Umgekehrt haben auch die kolonialen L1-Varietäten der deutschen Siedler die örtlichen Sprachen beeinflusst, und zwar im Rahmen von recht unterschiedlich gearteten Sprachkontaktszenarien und folglich auch auf recht unterschiedliche Art und Weise. Als minimale Folge des Sprachkontakts kann der mehr oder weniger umfangreiche lexikalische Transfer aus dem Deutschen in den unterschiedlichen lokalen Sprachen betrachtet werden. Als Gebervarietät für diese lexikalischen Entlehnungen spielt neben den gesprochenen Alltagsvarietäten der Siedler teilweise auch das schulische Standarddeutsch eine gewisse Rolle, das vor allem in den Missionsschulen, die als wichtigste und effektivste Instrumente der kolonialdeutschen Sprachverbreitungspolitik galten (vgl. Mühlhäusler 2012; Steffen 2001), sowohl als Unterrichtsgegenstand wie auch als Unterrichtssprache präsent war. Wir sind heute noch weit davon entfernt, einen umfassenden und verlässlichen Überblick über den Umfang deutscher Entlehnungen in den zahlreichen südseeinsulanischen Kontaktsprachen zu haben. Die einschlägige Forschung der letzten Jahre hat aber diesbezüglich bereits zahlreiche wertvolle Daten und Informationen ans Tageslicht gebracht (vgl. Mühlhäusler 2001: 250−255; Engelberg 2006; Engelberg & Stolberg 2017; Engelberg, Möhrs & Stolberg 2017 ff.). Nicht zuletzt konnte gezeigt werden, dass der Einfluss des Deutschen auf die lokalen Sprachen vor allem in Abhängigkeit der Intensität des Kontakts erheblich unterschiedlich war. Engelberg (2006) listet zum Beispiel auf der Basis lexikografischer Quellen immerhin 39 Wörter deutschen Ursprungs im Palauischen auf den Palauinseln in Mikronesien auf. Deutlich größer wird der Einfluss des Deutschen zum Beispiel auf Tok Pisin in Neuguinea gewesen sein, ganz besonders im Umfeld der kolonialen Verwaltungszentren und von wichtigeren Missionsstationen der Steyler und der Herz-Jesu-Missionare im Bismarck-Archipel und im nordöstlichen Küstengebiet von Kaiser-Wilhelmsland (vgl. Mühlhäusler 2001). Übereinstimmende Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil an Wörtern deutschen Ursprungs im Lexikon von Tok Pisin
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während der deutschen Kolonialzeit bis zu 20 % des Gesamtwortschatzes der Sprache ausgemacht haben dürfte. Dies entspricht einer absoluten Zahl von etwa 150−200 Wörtern bei einem ungefähren damaligen Gesamtwortschatz von nicht mehr als 750−800 Wörtern (vgl. Mühlhäusler 1985: 179, 2001: 251). Diese − in aller Regel phonologisch und morphologisch adaptierten − deutschen Entlehnungen in den südseeinsulanischen Sprachen beschränken sich in der Mehrheit der Fälle auf Inhalts- und ganz besonders auf Kulturwörter; vgl. etwa berib < dt. Brief, bost < dt. Post, doits < dt. deutsch, serángk < dt. Schrank usw. im Palauischen, oder balaistip < dt. Bleistift, beten < dt. beten, pirista < dt. Priester, saiskanake < dt. Scheißkanaker usw. in unterschiedlichen regionalen Varietäten von Tok Pisin. In geringerem Umfang sind aber auch Alltags- bzw. Grundwörter aus dem Deutschen entlehnt worden, vgl. z. B. suestér < dt. Schwester im Palauischen oder blut < dt. Blut, rausim ‘wegjagen, entfernen’ < dt. raus! in Tok Pisin. In den Jahrzehnten nach der australischen Okkupation Papua-Neuguineas fand allerdings infolge der australisch-englischen Sprachdominanz ein sekundärer englischer Relexifizierungsprozess in Tok Pisin statt, im Zuge dessen zahlreiche Wörter deutscher Herkunft ausgetauscht wurden bzw. immer mehr verdrängt werden. So wird etwa beten heutzutage immer mehr durch pre < engl. pray abgelöst. Nachhaltiger ist der lexikalische Einfluss des Deutschen im Bereich der Eigennamen. In Papua-Neuguinea etwa leben zahlreiche deutsche Toponyme oder hybride Toponyme mit mindestens einem deutschen Bestandteil bis heute weiter (vgl. Stolz & Warnke 2015), darunter Städtenamen wie Mount Hagen, Finschhafen oder Alexishafen, Bergnamen wie Mount Wilhelm oder auch Inselnamen wie New Hanover. Und nach wie vor sind unter der indigenen Bevölkerung des Landes auch Vornamen deutscher bzw. germanischer Herkunft wie Anton, Adolf, Gertrud, Gustav, Herman(n) etc. und auch die deutschen Formen von biblischen Namen wie Matthias, Johannes, Benedikt etc. verbreitet und beliebt.
3.3. Deutschbasierte Jargons, Pidgins und Kreols Einen extremen Fall von kontaktinduziertem Sprachwandel in den einstigen deutschen Kolonien stellt die Entstehung von deutschbasierten Pidgin- und Kreolsprachen dar (vgl. Mühlhäusler 1984, Velupillai 2015). Solche kolonialen Kontaktvarietäten sind neben dem Pidgin-Deutsch von Kiatschou (vgl. Mühlhäusler 1984: 32) und Kiche Duits (Namibian Black German) in Namibia (vgl. Deumert 2009 sowie Zimmer, Art. 46 in diesem Band) vor allem aus dem einstigen Deutsch-Neuguinea bekannt und dokumentiert. Gemeint ist erstens das Pidgin-Deutsch, das auf der kleinen, nordwestlich von Wewak in KaiserWilhelmsland gelegenen Insel Ali entstanden ist und gesprochen wurde, und zweitens die Kreolsprache Unserdeutsch, deren Geschichte in und um Vunapope bei Rabaul auf der Insel Neu-Pommern (heute: New Britain) im Bismarck-Archipel um 1900 beginnt (vgl. Kt. 47.1). Beide Sprachen sind im Umfeld von katholischen Missionsstationen entstanden, und es ist nicht ausgeschlossen, eher sogar wahrscheinlich und teilweise sogar dokumentiert (vgl. Mühlhäusler 2012), dass im Einzugsbereich von anderen wichtigeren Missionssitzen bzw. Missionsstationen im einstigen Deutsch-Neuguinea (wie z. B. in der Gegend von Friedrich-Wilhelmshafen und Alexishafen in Kaiser-Wilhelmsland) auch andere, zumindest kurzlebige deutschbasierte Jargons oder Pidgins unter der indigenen Bevölkerung im Gebrauch waren. Wichtig ist allerdings zu betonen, dass es sich bei Jargons,
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Kt. 47.1: Die Insel Ali und Vunapope im heutigen Papua-Neuguinea
Pidgins und Kreols um weitgehend restrukturierte Kontaktvarietäten handelt, die durch einen Bruch in der intergenerationellen Sprachübertragung entstehen. Sie als − gar verdorbene − Varietäten ihrer europäischen Lexifikatorsprachen zu betrachten wäre daher nicht nur linguistisch gesehen inadäquat, sondern auch wegen der kolonialen Sichtweise, die eine solche Einordnung legitimieren würde, unvertretbar (vgl. Holm 2000: 1−4).
3.3.1. Das Pidgin-Deutsch von Ali Auf der Insel Ali haben die Steyler Missionare im Jahre 1901 von ihrem Hauptsitz auf der nahe gelegenen Insel Tumleo aus eine Außenstation gegründet. Hier hat sich eine pidginisierte Form des Deutschen als interethnische Verständigungssprache zwischen den deutschsprachigen Missionaren und den indigenen Missionsangestellten etabliert. Da die deutschen Missionare auch nach der australischen Okkupation nicht ausgewiesen wurden, konnte sich diese deutschbasierte, vereinfachte Kontaktvarietät bis in die jüngere Vergangenheit halten. Mühlhäusler (1984, 2012) konnte dieses pidginisierte Deutsch unter der älteren und ältesten Generation in der indigenen Bevölkerung auf der Insel selbst noch in den 1970er Jahren aufnehmen. Es ist allerdings wichtig zu betonen, dass es sich beim Ali-Pidgin − ähnlich zu Kiche Duits in Namibia (vgl. Deumert 2009: 406) − weni-
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ger um ein Pidgin im eigentlichen Sinne als vielmehr um individuelle, nicht konventionalisierte Lernervarietäten bzw. Jargons handelt. Das strukturelle Profil der auf Ali gesprochenen kolonialen L2-Varietäten reicht von geringfügig deutsch relexifiziertem Tok Pisin bis hin zu mehr oder weniger stark pidginisierten Formen des Deutschen. Eine strukturelle Stabilisierung und eine funktionale Expansion dieser Varietäten haben nie stattgefunden. Dafür war erstens die deutsche Kolonialzeit zu kurz, und zweitens waren und blieben auch die Verwendungskontexte viel zu restringiert: Das Pidgin-Deutsch von Ali wurde nur im Kontakt mit den deutschen Missionaren verwendet. Außerhalb von Missionskontexten, teilweise aber auch an der Mission selbst, war und blieb Tok Pisin die etablierte Lingua franca unter den Ali-Insulanern, während in der in-group Kommunikation selbstverständlich die jeweiligen indigenen Sprachen benutzt wurden. Systematische Strukturanalysen zum Pidgin-Deutsch von Ali liegen nicht vor. Fundamentale Charakteristika sind anscheinend − neben der strukturellen Instabilität − ein im Vergleich zum Deutschen deutlich geringerer struktureller Elaboriertheitsgrad und der umfangreiche strukturelle Einfluss von Tok Pisin, das wohl als (wichtigste) Substratsprache angenommen und als solche für die strukturellen Simplifizierungen in der Grammatik − neben L2-Universalien − mit verantwortlich gemacht werden kann. Im Einzelnen erkennt man eine generelle Tendenz u. a. zur Wahrung von SVO (Früher ich war in Alexishafen) und zur Präferenz von einfachen Hauptsätzen, zum Drop von Funktionswörtern (Präpositionen, Artikeln, Kopulaverben, vgl. Japan nicht gute Mann − ‘Die Japaner sind/waren schlechte Menschen’) und zum Abbau von morphologischen Kategorien wie Genus (diese Kind, unsere Boot, gute Mann, gute Platz) oder Tempus (ich heiraten − ‘ich heiratete’) usw. sowie zum Abbau der Subjekt-Verb-Kongruenz bzw. im Zusammenhang damit zum Abbau der Person- und Numerusflexion am Verb (dann ich große Mädchen, dann ich arbeiten − ‘dann bin ich eine junge Frau geworden, dann habe ich gearbeitet’) usw. (vgl. Mühlhäusler 2001, 2012). Nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit in Neuguinea wurde das Deutsche selbst aus den wenigen Domänen an den wenigen Orten, wo es bis dahin als Lingua franca geläufig war, sukzessive durch Tok Pisin verdrängt. Durch diesen weitgehenden Funktionsverlust des Deutschen können wir mit größter Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass auch das Ali-Pidgin, wie auch andere eventuelle deutsch lexifizierte Jargons und/oder Pidgins, die in der deutschen Südsee um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden waren, inzwischen ausgestorben sind, ohne an die Folgegenerationen weitergegeben und ohne nativisiert worden zu sein.
3.3.2. Unserdeutsch (Rabaul Creole German) Den einzigen bekannten Fall für die Nativisierung einer pidginisierten, deutsch lexifizierten kolonialen L2-Varietät stellt Unserdeutsch dar, das innerhalb der Sprachgemeinschaft jedoch ursprünglich und in der Regel Kaputte(ne) Deutsch, Falsche Deutsch oder Verbrochene Deutsch genannt wird. Unserdeutsch ist für die kreolistische (nicht aber für die germanistische) Fachwelt in den 1980er Jahren bekannt geworden (vgl. Mühlhäusler 1986; Romaine 1988), nachdem ein junger Germanistikstudent in Gold Coast (Australien) Ende der 1970er Jahre durch einen Zufall auf die Sprache aufmerksam wurde und die fundamentalen Strukturmerkmale von Unserdeutsch dann in seiner Masterarbeit beschrieb (vgl. Volker 1982). Zu diesem Zeitpunkt lebte die überwiegende Mehrheit der
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Sprecher bereits in den urbanen Ballungszentren entlang der Ostküste Australiens, nachdem sie Papua-Neuguinea im Zuge der Unabhängigkeit des Landes (1975) verlassen hatte (vgl. Maitz & Volker 2017a). Wir haben es also bei Unserdeutsch mit der sonderbaren Situation zu tun, dass sich das Hauptverbreitungsgebiet der Sprache durch den Exodus der Sprachgemeinschaft nach 1975 in ein anderes Land, von der Gazelle-Halbinsel auf der Insel New Britain (einst: Neu-Pommern) im Bismarck-Archipel nach Ostaustralien, verlagert hat. Auf Volkers Masterarbeit (1982) und einige daraus hervorgegangene Aufsätze (Volker 1989, 1991) folgten lange Zeit keine weiteren Forschungen. Erst seit 2015 wird Unserdeutsch im Rahmen eines internationalen Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) systematisch dokumentiert und erforscht (vgl. Maitz, König & Volker 2016). Dabei ist Unserdeutsch sowohl für die Kreolistik als auch die Sprachtypologie und die Evolutionslinguistik von besonderem Interesse. Darüber hinaus, dass die Sprache das weltweit einzige deutschbasierte Kreol darstellt, ist sie auch insofern einzigartig, als ihre (wichtigste) Substratsprache, eine frühe Form des Tok Pisin nämlich, selbst ein Pidgin ist. Und schließlich ist Unserdeutsch auch insofern ein besonderer Fall unter den Kreolsprachen der Welt, als es im schulischen Kontext, unter Kindern und Jugendlichen, als Mittel der horizontalen in-group Kommunikation entstanden ist (vgl. Lindenfelser & Maitz 2017). Die Geschichte von Unserdeutsch beginnt an der Missionsstation der Herz-JesuMissionare in Vunapope, die schon während der deutschen Kolonialzeit als religiöses, wirtschaftliches und nicht zuletzt auch Bildungszentrum der Insel Neu-Pommern galt (vgl. Maitz 2016: 213−214). Hier sind ab 1897 − als Teil einer bewussten Missionierungspolitik (vgl. Steffen 2001) − mixed-race Kinder europäisch-melanesischer bzw. asiatisch-melanesischer Herkunft gesammelt, unterrichtet und erzogen worden. Die Kinder, die an der Mission in sozialer Isolation lebten, mussten ihr Leben in Schule und Alltag in Deutsch meistern. Der Gebrauch von Tok Pisin, das sie zeitgenössischen Berichten zufolge schon bei ihrer Ankunft an der Mission gesprochen haben, war ihnen als „Sprache der Kanaken“ verboten. Neben dem schulischen Standarddeutsch, das die Kinder tatsächlich erworben hatten (vgl. Maitz 2017), hat sich unter ihnen außerhalb des Unterrichts eine pidginisierte Form des Deutschen entwickelt und als cant etabliert: eine ausschließlich in der in-group Kommunikation verwendete, vereinfachte Kontaktvarietät, bei der weniger die kommunikativen als vielmehr die sozialen Funktionen im Vordergrund standen. Die Kinder teilten mit Tok Pisin und dem in der Missionsschule in Wort und Schrift erworbenen Standarddeutsch schon zwei gemeinsame Sprachen. Aus kommunikativer Sicht hatten sie daher im gegebenen Kontext gewiss keine weitere in-group Sprache nötig. Wohl aber hatte dieses pidginisierte cant eine wichtige Funktion in der linguistischen Markierung der Gruppengrenze bzw. der Gruppenidentität sowie in der Stärkung der Gruppenkohäsion innerhalb der aufwachsenden kleinen mixed-race Gemeinschaft, die wegen ihrer interethnischen Herkunft zwischen den Stühlen der schwarzen Indigenen und der weißen Europäer saß. Die aufwachsenden Missionskinder wurden später von den Missionaren untereinander (zwangs)verheiratet und auf den Pflanzungen, in den Werkstätten und anderen Einrichtungen der Mission angestellt. Durch diese Endogamie blieben die starken Gruppengrenzen zunächst intakt und somit konnte die innerhalb der kleinen mixed-race Gemeinschaft bereits etablierte pidginisierte Alltagsvarietät des Deutschen schon in der Zwischenkriegszeit als L1 an die nächste Generation weitergegeben werden. Unserdeutsch war somit innerhalb von nur zwei bis höchstens drei Jahrzehnten nativisiert. Da nach der australischen Okkupation Deutsch-Neuguineas 1914
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die deutschen Missionare auch in Vunapope nicht ausgewiesen wurden, blieb das Deutsche weiter im Missionsalltag präsent. Im informellen Alltag weit bis in die Nachkriegszeit hinein und in der Missionsschule bis zum Zweiten Weltkrieg, selbst wenn die sukzessive Verdrängung des Deutschen als Unterrichtssprache durch das Englische bereits in der Zwischenkriegszeit angefangen hatte. Die dritte Sprechergeneration ist somit in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch mit Unserdeutsch als L1 aufgewachsen. Vom Schuleintritt an dominierte jedoch bereits weitgehend das Englische in der formellen wie informellen Kommunikation mit den Missionaren und auch mit den weißen Australiern in der Umgebung, während Tok Pisin die Lingua franca mit der indigenen Bevölkerung war und blieb. Als sich ab Ende der 1960er Jahre die Unabhängigkeit Papua-Neuguineas immer stärker abzeichnete, haben sich die meisten mixed-race Familien in Vunapope zur Aufnahme der australischen Staatsbürgerschaft und zugleich auch zur Auswanderung entschlossen in der Hoffnung, für ihre Kinder in Australien eine bessere Zukunft sichern zu können. Nur die wenigsten von ihnen sind im Land verblieben. In Australien hat sich dann die Vunapope mixed-race community in und um Brisbane, Gold Coast, Sydney und Cairns verstreut, die Exogamie ist zum Normalfall geworden. Und damit hat Unserdeutsch beinahe alle seiner einstigen Funktionen verloren. Es wird heute nur noch von der älteren bzw. ältesten, vor 1960 geborenen Generation gesprochen, vor allem bei gelegentlichen privaten Anlässen wie Besuchen, Hochzeiten, Begräbnissen, Picknicks oder Partys. Die Zahl der mehr oder minder kompetenten aktiven Sprecher dürfte heute etwa 100 betragen. Die nach 1965 geborene mittlere Generation verfügt in aller Regel nur noch über eine eingeschränkte passive Kompetenz − wenn überhaupt. Durch diesen gelegentlichen, auf die ältesten Generationen beschränkten Gebrauch lässt sich Unserdeutsch somit auf der Vitalitätsskala von Ethnologue (Eberhard, Simons & Fennig 2019) auf Stufe 8a (moribund) verorten (vgl. Maitz & Volker 2017a). Sollte in der näheren Zukunft keine erfolgreiche sprachliche Revitalisierung stattfinden, so dürfte Unserdeutsch in spätestens zwei bis drei Jahrzehnten von der linguistischen Landkarte der Welt verschwinden. Die Genese von Unserdeutsch weist mehrere für Kreolsprachen eindeutig untypische Züge auf. In Lindenfelser & Maitz (2017) konnte andererseits gezeigt werden, dass das strukturtypologische Profil der Sprache dennoch weitgehend dem Bild entspricht, das sich im Spiegel der Daten des Atlas of Pidgin and Creole Language Structures (Michaelis et al. 2013) vom typologischen Mainstream von Kreolsprachen abzeichnet. Auf der Ebene der Phonologie zeigt sich im Gegensatz zu Volkers (1982) Befund ein umfangreicher und tiefgreifender Substrateinfluss von Tok Pisin im segmentalen Bereich und im Zusammenhang damit insgesamt ein klares silbensprachliches Profil. Im Einzelnen sieht man eine starke Tendenz zum Abbau bzw. zur Substitution von markierten Phonemen und Allophonen der Lexifikatorsprache, ein reduziertes Phoneminventar, dabei u. a. auch die Absenz von Reduktionsvokalen, und nicht zuletzt eine Tendenz zu einfachen Silbenkodas und somit eine Präferenz von CVC- und CV-Strukturen (vgl. Maitz 2017; Lindenfelser & Maitz 2017). Die flexionsmorphologische Komplexität ist minimal. Weitgehend absent sind die unterschiedlichen Deklinationsklassen, die nominalen Kategorien Genus und Kasus, und auch die Pluralmarkierung erfolgt grundsätzlich analytisch, mithilfe des uniformen pränominalen Pluralmarkers alle (alle Japaner − ‘die Japaner’). Das Verb kennt keine Person-Numerus-Flexion, somit gibt es auch keine Subjekt-Verb-Kongruenz: i/du laufen − ‘ich laufe/du läufst’. Die Tempusmarkierung ist optional. Es existiert ein einziges optionales Vergangenheitstempus, das durch eine reanalysierte Form des deut-
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schen Perfekts markiert wird (vgl. sie hat gemachen). Das Aspektsystem ist hingegen im Vergleich zum Deutschen − zum Teil wohl auch auf englischen Adstrateinfluss hin − recht komplex. Progressivität und Habitualität werden mithilfe der stark grammatikalisierten Konstruktion (Kopula) + am + Verb kodiert, Habitualität auch durch die polyfunktionale Konstruktion wid + Verb, die − neben Irrealis und Futur − vor allem auch habituelle Vergangenheit ausdrücken kann (vgl. Lindenfelser & Maitz 2017). Im Bereich der Syntax fällt vor allem eine weitgehend feste SVO-Wortstellung auf, die auch in Neben-, Imperativ- und teilweise sogar in Interrogativsätzen (vgl. i hat gemachen was? − ‘Was habe ich gemacht?’) gewahrt wird. Weitere Charakteristika sind die Tendenz zur Adjazenz verbaler Elemente in der VP und somit zum Abbau der Verbalklammer sowie eine schwächere Tendenz zum Drop von Funktionswörtern (vgl. dazu Lindenfelser & Maitz 2017 u. Maitz 2017). Insgesamt lässt sich in der grammatischen Struktur der Sprache − neben einem geringeren Einfluss des Englischen − ein tiefgreifender Substrateinfluss von Tok Pisin erkennen, während das Lexikon zum weit überwiegenden Teil auf dem Deutschen basiert. Trotz einer nicht unerheblichen interpersonellen Variation in der Grammatik, deren Umfang jedoch im Vergleich zu vielen anderen Kreolsprachen eher noch moderat erscheint, ist die Struktur von Unserdeutsch weitgehend konventionalisiert (vgl. Maitz 2017). Die strukturelle Stabilität der Sprache erklärt sich vor allem aus der kleinen Größe der Sprachgemeinschaft, dem jahrzehntelangen engen Zusammenleben der Sprecher und den geschlossenen und dichten sozialen Netzwerken innerhalb der Vunapope mixed-race community.
4. Ausblick Der Südpazifik bietet mit seiner − für germanistische Verhältnisse − einzigartigen Vielfalt an Sprachkontaktkonstellationen und Kontaktvarietäten eine besonders fruchtbare Datenquelle für die germanistische Linguistik, insbesondere für die Sprachkontakt-, Sprachvariations- und Sprachwandeltheorie wie auch für die Sprachtypologie und die Pidginistik/Kreolistik. Dennoch gehören Australien und Ozeanien zu den am schlechtesten erforschten Sprachgebieten innerhalb der germanistischen Linguistik. Erstaunlicherweise hat die germanistische Linguistik in Europa bis vor kurzem so gut wie gar kein Interesse an dieser Region gezeigt. Und als die ersten Projekte gestartet wurden, war das meiste aus der deutschsprachigen Vergangenheit in der Südsee bereits versunken. Selbst unter den vorliegenden Arbeiten findet man nur ganz wenige (wie z. B. Riehl 2015; Lindenfelser & Maitz 2017), deren Ansprüche über die Dokumentation der beobachteten Sprachkontaktphänomene oder gar eine bloße siedlungsgeschichtliche und dialektgeografische Verankerung hinausgehen. Auch deswegen ist es wichtig und erfreulich, dass in den letzten Jahren mehrere feldforschungsbasierte, kontaktlinguistisch, kreolistisch und/ oder sprachtypologisch ausgerichtete Forschungsprojekte gestartet und durchgeführt worden sind, die bislang nicht oder kaum dokumentierte oder untersuchte Varietäten bzw. Sprachkontaktkonstellationen im Fokus haben (vgl. Engelberg, Möhrs & Stolberg 2017 ff.; Maitz, König & Volker 2016; Lindenfelser & Maitz 2017; Riehl 2015; Stolz & Warnke 2015). Die systematische Dokumentation und die sprachtheoretische Erschließung dieser Daten stellen nicht nur dringende Aufgaben, sondern zugleich auch neue Perspektiven für die germanistische Linguistik dar.
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Register A AADG → Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards Abbau 43, 71, 80, 115–116, 133, 135, 143, 169, 271–273, 304, 312, 331, 342–344, 346–349, 393–394, 399, 409, 414–415, 422, 428, 454, 469, 499, 504, 506, 508– 509, 537, 539–540, 566–567, 570, 572, 575–576, 578–579, 602, 606–608, 619, 760, 766, 951–952, 954, 959, 1053, 1089, 1123, 1127, 1195, 1202, 1204–1205 Abspaltung trennbarer Verbzusätze 42, 647 AdA → Atlas zur deutschen Alltagssprache Addition 455, 497, 534, 618, 621, 624–625 Adjektiv 36, 39, 64, 162, 164, 174–175, 179, 227, 230–231, 263, 266, 289, 295, 299– 300, 332–333, 391–392, 417, 442, 448– 449, 451–453, 485, 498, 533, 536, 579, 618–619, 626–628, 726, 783–784, 927, 1107, 1186 Adressatenorientierung 69, 77–78, 275, 541, 579, 808, 1014–1017 ADT → Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien Adverb 36, 46, 162, 173, 177, 263, 266, 300– 301, 344–345, 380–381, 388, 390, 392, 417, 570, 607, 626–627, 652–653, 741, 783, 836, 999, 1108 Afrikaans 1177–1182, 1184–1186 Akkusativ 49, 64, 71–73, 107, 111, 173, 178, 226–227, 230, 248, 261–263, 296, 298– 300, 302, 333, 335, 337, 386, 390, 421– 422, 448, 450–452, 454–455, 485, 529, 533–534, 536, 556, 559, 562, 599, 622– 623, 625–627, 629–630, 998, 1001–1002, 1127 Akzent 34, 176, 257, 364, 376, 519, 521, 526, 665, 667, 670–671, 999 ALA → Atlas linguistique et ethnographique de l’Alsace Alemannisch 16, 36–37, 40, 63–65, 67, 70, 81–82, 104, 129, 135, 169, 171, 177, 179– 180, 206–235, 238–239, 246–251, 254– 255, 257, 262, 265, 271, 280, 284, 292, 318–321, 323–337, 339, 349–352, 364, 369, 374, 376, 479–482, 489, 498, 621, https://doi.org/10.1515/9783110261295-048
626, 630, 644, 649, 652–653, 679–687, 689, 691, 694–696, 698–702, 710, 786, 790, 816, 848, 852, 866–867, 870, 904, 954–955, 958, 1004, 1020, 1077–1079, 1086–1087, 1090, 1097, 1103, 1106, 1149, 1157, 1174 ALLG → Atlas linguistique et ethnographique de la Lorraine germanophone Allomorphie 35–36, 38, 227, 292, 299, 332, 382, 1043 Alltagssprache 41–42, 44, 111, 135, 163, 168, 172–173, 178, 337, 341, 349, 441, 468, 479, 505, 537, 641–642, 651, 688, 758– 769, 771–777, 794, 810, 874, 956, 959, 998, 1068, 1118, 1142, 1144, 1147, 1197 Alphabetisierung 102–103, 115, 1023, 1045– 1046, 1050, 1083, 1141 ALRH → Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens Altbairisch 280, 290, 293, 295, 297–301, 308, 319, 665 Altbelgien 952, 1061, 1063, 1067–1071 Altfranzösisch 82, 525, 687 Althochdeutsch 63–65, 67–68, 74, 81, 208, 216–217, 228, 250, 255, 263–264, 289– 290, 325, 451, 461, 482–483, 517, 522– 523, 618–619, 623–624, 628, 679, 686– 688, 690, 692, 700, 726, 786–787, 1078, 1100, 1103 Altslowenisch 690 Altsorbisch 717 alveolar 136, 171, 232, 447, 502, 571, 596, 608, 1104, 1118 am-Progressiv 337, 500, 535–536, 639–640 Amisch 1135–1150, 1154 Amisches Elsässerdeutsch 1135–1136, 1138, 1148–1149 Amisches Schweizerdeutsch 1135–1136, 1138, 1148–1149 Analogie 272, 289, 307, 455–456, 461, 628, 1108 Anlaut 63–67, 69, 71, 74–75, 106–107, 111, 162, 165, 171, 215, 220, 225, 246, 251, 255, 260, 284, 286, 290, 295, 320, 328– 329, 345–346, 376, 381, 383–384, 389, 415, 417, 420, 446–448, 465–466, 469, 500, 508, 527, 534, 556–559, 561, 570,
1212 576–577, 595, 597, 603, 607–609, 646, 665, 1165 apikal 168, 176, 181, 310, 371, 376, 393, 508, 575, 579, 1019 Apokope 35, 38, 65, 75, 77, 79, 84, 107, 138, 160, 164, 227, 248, 254–255, 257, 262, 297, 308, 382, 385–386, 398, 417–418, 422–424, 429, 437, 445–446, 454–456, 458, 490, 495, 497–499, 506, 508, 521, 533–534, 556, 559, 575, 597, 603, 622, 624–625, 666, 784, 1003–1005 App 882–894 Arabisch 740, 999, 1005–1006, 1008, 1010, 1187 arealtypologische Komplexität 188 Artikel 35–36, 38–39, 41–42, 110, 173, 227, 238, 260–261, 267, 295, 299–301, 310, 336, 349, 383, 387, 391, 422, 429, 449, 451–454, 463–464, 470, 499, 533, 537, 562, 573, 575, 596, 618, 623, 626, 629– 630, 639–640, 642, 653, 783, 941, 975, 1004, 1024, 1078, 1127, 1202 Artikulation 8, 103, 162, 170, 175–176, 181, 255, 287, 290, 292, 376, 393, 418, 468, 494, 503, 528, 538, 665, 671–672, 915– 916, 926, 928, 1186 Artikulationsbasis 309, 364, 376, 428, 430 ASD → Audioatlas SiebenbürgischSächsischer Dialekte Assimilation 72, 75, 252, 254–255, 260–261, 270, 284, 292–295, 297, 300, 307–308, 332, 383, 447, 456, 508, 529, 534, 553, 574, 576, 694, 1019, 1109 Atlas der Celler Mundart 555, 558, 737–738 Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien 31, 280, 363 Atlas linguistique et ethnographique de l’Alsace 31, 206, 683, 685, 688, 691, 695, 698, 701–702 Atlas linguistique et ethnographique de la Lorraine germanophone 31, 714 Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards 32, 123, 159–161, 324, 505, 578, 863, 892 Atlas zur deutschen Alltagssprache 41, 44, 46, 161, 163–164, 173, 337, 349, 440, 500, 536–537, 573, 637–638, 640–643, 646, 651, 682, 713, 757–776, 874–875, 880, 882, 888, 892 Atlas zur Geographie der schwäbischen Mundart 222, 224, 682, 715, 901, 903
Register Audioatlas Siebenbürgisch-Sächsischer Dialekte 894 Ausbausprache 1044, 1050, 1110 Ausgleichsprozess 61, 73, 112, 116, 135, 259, 326, 369, 394, 407, 422, 426–427, 454, 538, 564–565, 567, 592, 602, 723, 764, 766, 905, 954, 1002, 1052–1053, 1121, 1194 Auslaut 32, 38, 64, 67, 72, 107–108, 162, 170, 176, 178, 180, 215, 219–220, 225, 228, 232, 251, 255, 257, 284, 292–298, 308, 329–330, 332, 343, 371, 373, 376, 381, 384–386, 389, 417–418, 422–423, 436– 437, 445–447, 456, 458, 485, 508, 519, 526–529, 533–534, 542, 553, 557, 559, 563, 568, 574–577, 597, 603, 605, 623– 625, 1019, 1118, 1123 Aussprache 4, 6, 67, 75, 101–108, 110–112, 115–116, 121–122, 125, 133, 146, 148, 159–163, 165, 168–169, 175–176, 180– 182, 200, 209, 257, 269, 283, 287, 289– 290, 304, 309–311, 324, 345, 347, 373, 393, 400, 408, 425, 427–428, 505, 537, 559, 561, 568, 570, 572, 574–575, 578, 629, 666, 669, 689, 836–837, 873, 886, 890, 901, 936, 1018–1019, 1082, 1100, 1186 Australien 914, 919, 1149, 1187, 1191–1196, 1199–1205 Autokorrelation 862–863, 871, 873 Auxiliar 41–42, 163, 168, 173, 231, 252, 259– 260, 337, 390, 458, 499, 536, 617, 622, 637–639, 645, 653–654, 918, 928–931, 975, 977
B Badisch 162, 169, 209–210, 266, 629, 685, 694, 698, 760, 816, 899, 939, 950, 954 Badisches Wörterbuch 206, 229, 681, 685, 711, 867 Bairisch 6, 64–66, 77, 108, 126, 132–133, 149, 168–169, 171–175, 182, 199, 214– 215, 279–312, 318–352, 372–373, 376– 377, 382–387, 392, 618, 621, 623–630, 638, 641–653, 665, 681, 683, 686–687, 696–700, 784, 787, 790, 815–816, 851, 853, 867, 893–894, 901, 903, 957–959, 1097, 1100, 1103–1105, 1118, 1121–1123, 1160, 1166–1168 Barriere 13, 15–16, 211, 225, 288, 309, 365, 369, 371, 378, 388, 396, 399, 443, 481,
Register 523, 525–526, 694–698, 701, 719–722, 743, 746, 767, 951, 958, 1040, 1139 Basisdialekt 13, 16, 19, 45, 74, 124, 131, 135, 141, 232–233, 235, 237–238, 271, 275, 303, 309, 311, 350–351, 395, 425–426, 468–469, 480, 483, 497, 503, 537, 539– 540, 542–543, 601–602, 609, 654, 688, 701, 806, 1117–1121, 1123 Basissprache 834 Bayerische Dialektdatenbank 893 Bayerischer Sprachatlas 283, 364 Bayerisches Wörterbuch 681 BBW → Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch Bedeutung 9, 75, 82, 148, 160, 227, 263, 265, 300, 302, 366, 499, 618–619, 622, 628, 643, 687, 689–690, 692–693, 718, 724, 726, 747, 757, 761, 777, 795, 798–801, 916, 923, 926, 969, 1018, 1061, 1078, 1101, 1125–1126, 1168 Belgien 198, 363, 519, 528–529, 763, 952, 1008, 1043, 1045, 1060–1074 Beobachtung 40, 47, 123, 351, 522, 540, 573– 574, 666, 796–797, 820, 938–939 Berlinisch 107, 606, 610, 654, 811, 833, 837, 975, 998–1024 Besiedlung 73, 208, 248, 282, 367, 407, 410, 426, 525, 568, 590–592, 596–597, 599, 723, 744, 746, 748, 902, 957, 1115–1118, 1121, 1123, 1136, 1156, 1160, 1166, 1174, 1179–1180, 1191–1194, 1196–1205 Bewertung 37–38, 104, 125, 189, 408, 441, 462, 470, 540, 607, 629, 808, 815, 844– 849, 853–854, 889, 902, 936, 942, 1126, 1128 Bewusstheit 37, 849, 937, 944 Bezugssystem 14, 283, 325, 397, 407, 491, 532, 801, 1044 bilabial 181, 219, 284, 330 bilektal 47 Bilingualismus 15, 129, 601, 951, 964, 1015– 1016 Binnenspaltung 42, 647 bivarietär 47–48, 135, 237–238, 429, 541 Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch 711, 734, 736–737, 746–747 Brandenburgisch 73–74, 145, 199–200, 407, 422, 430, 563, 576, 590–610, 736, 744, 746–747, 806, 810 BSA → Bayerischer Sprachatlas
1213 Bundesdeutsch 167, 182, 235, 321, 338, 348, 393, 671–672, 697, 812, 815, 817, 838, 866, 874, 890, 937, 953, 1018, 1070–1073 Bündnerromanisch 971–972 Burgenlandkroatisch 322, 977–978, 982–983
C Cluster 17, 77, 113–114, 131, 196, 232, 345, 413–416, 418, 423–424, 437–438, 464, 486–487, 490, 492, 507, 517, 519, 530– 532, 605, 645, 776–777, 861, 864–867, 870–872, 874, 1104 Coburgisch 378 Code 15–16, 394, 798–802, 809–810, 812, 814–818, 834–837, 943–945, 954, 1015– 1016, 1048, 1088, 1127, 1169 Code-Mixing 78, 394, 944, 1016, 1021, 1195 Code-Switching 79, 207, 394, 485, 601, 798, 800–803, 809–811, 813–814, 818–819, 833–836, 944–945, 951, 997, 1003, 1005, 1015–1017, 1021, 1023–1024, 1026, 1128, 1169, 1186, 1195
D Dänisch 188, 519, 552, 562, 733, 741, 746, 950–951, 966–983 Datenerhebung 11–12, 43, 122–123, 142, 485, 501, 573, 630, 759, 863, 888, 914, 922, 1185 Dativ 38, 41, 71, 73, 77, 107, 110, 173, 178, 226–227, 230–231, 261–262, 296, 299, 301, 333, 335–337, 386–387, 390, 396, 421–422, 448, 450–452, 454–455, 462, 500, 529, 533–534, 536, 556, 559, 599, 622–625, 629–630, 641–643, 654, 998, 1001–1002, 1107, 1127, 1139 DDG → Deutsche Dialektgeographie Dehnung 72, 221, 232, 254, 283, 286, 297– 299, 384–385, 444–445, 495, 508, 521, 574, 622, 667, 939, 1107 Deixis 46 Deklination 295–296, 333, 533, 575, 1204 Demonstrativpronomen 299, 596, 1004 Derivation 36, 179, 234, 289, 296, 557, 627– 628, 918, 1139 Deutsch als Fremdsprache 1024, 1070, 1088, 1096–1097, 1110–1111, 1116, 1120–1123, 1130, 1173–1174, 1177, 1187 Deutsch in Österreich 30, 42, 123, 128, 321, 323, 845
1214 Deutschböhmisch 1136, 1159, 1161, 1166– 1168, 1171–1172 Deutsche Dialektgeographie 10, 44, 189, 668, 684, 715, 901 Deutsch heute → Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards Deutsche Gebärdensprache 914–932 Deutscher Familiennamenatlas 783–791 Deutscher Sprachatlas 11, 304, 306, 436, 448, 458, 479, 668, 685, 716, 725, 737, 784, 977, 979, vgl. Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas Deutscher Wortatlas 11, 43, 441, 647, 680, 682, 684–685, 710, 713, 715–716, 720– 724, 733, 739, 743–747, 759–760, 766– 768, 773–774, 788 Deutsches Wörterbuch 761 Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens 1063 DFA → Deutscher Familiennamenatlas DHSA → Digitaler Hessischer Sprachatlas Diaglossie 133–134, 137, 951, 954, 958 Dialektähnlichkeit 192, 686, 909, 959 Dialektalität 17–18, 33, 123, 131–139, 233, 309, 311, 391, 393–395, 399, 430, 483, 485, 487, 491, 493, 503, 505, 507, 532, 537–538, 542–543, 578, 642, 761, 782, 788, 829, 837–838, 846–849, 852, 1041, 1100 Dialektalitätswert 123, 131–132, 138–139, 233, 483, 491, 507, 543 Dialektatlas Mittleres Westdeutschland 31, 40, 532–533, 555 Dialektatlas Westmünsterland 737–738 Dialektausgleich 426, 953, 1042–1043, 1051– 1053 Dialektdifferenzierung 188 Dialekteinteilung 185, 212, 323, 408–409, 413–414, 429, 440, 479, 488, 517, 551, 719, 886, 1040 Dialektgeographie 3, 8, 10, 12–14, 16–17, 37, 44, 364, 594, 596, 635, 716, 719, 1087 Dialektgrammatik 3, 8–10, 39, 247, 389, 439, 498, 554, 557, 562, 564, 570, 665, 672, 886 Dialektgrenze 11, 30, 33, 49, 71, 114, 207, 214–215, 233, 281, 287, 312, 324, 364, 372, 390, 392–393, 397, 417, 515, 529, 551, 680, 716, 865, 949, 951–952, 954, 958–959 Dialektklassifikation 186, 191, 193, 195–196, 198, 200, 436–439, 442, 446, 449, 516– 517, 591, 846, 865, 873
Register Dialektkompetenz 123, 131, 136–138, 140, 142, 182, 233–234, 236–239, 305, 312, 339–342, 347, 427–428, 468, 505–506, 539–540, 543, 764, 839, 885, 951, 1101 Dialektlexikographie 5, 713 Dialektologie 1–3, 5–19, 28–30, 34, 36, 39– 40, 43, 45, 189, 247, 249, 279, 363, 393, 395, 398, 408, 418, 480, 487–488, 498, 525, 554, 561, 636, 655, 664, 668, 672, 684–685, 783–784, 791, 794, 806, 820, 828, 845, 861, 864, 870, 879–880, 884, 891–892, 897, 899–901, 903, 907, 910, 981, 1039, 1104 Dialektometrie 29, 191, 195–196, 198, 212, 232, 249–250, 396, 408, 411, 413, 417, 551, 655, 686, 710, 776, 861, 864–866, 870–873, 903 Dialektvarianten, -typen 48, 141, 147–149, 231, 347, 507, 541–542, 760, 815, 899 Dialektverschriftung 838 Dialektwandel 131, 135, 150, 206, 232, 269, 271–272, 304, 507, 555, 567–570, 572, 954 Dialektwörterbuch → Wörterbuch Diasystem 14, 186, 426–427, 949, 951–953, 1014, 1019, 1120, 1123 diatopische Markierung 778 digital 39, 686, 737–738, 740, 829, 832–833, 838, 871, 880, 883–884, 887, 892, 1049 Digital Humanities 880, 883–884, 891–894 Digitaler Hessischer Sprachatlas 31 Digitaler Wenker-Atlas 11, 224, 501, 504, 880, 885, 892 Digitalisierung 39, 565, 740, 879, 883, 891, 1050 Diglossie 15, 78, 126, 128–129, 133–134, 146, 149, 207, 246, 268, 272–273, 310, 600, 602, 685, 688, 698, 701, 817, 834, 936– 937, 940–942, 954–955, 958, 972, 1014– 1017, 1019, 1021, 1026, 1045, 1050, 1074, 1089, 1100, 1146, 1150 Diminutiv 36–38, 174, 179, 228–229, 263– 265, 298, 308, 324–325, 330, 333, 380– 382, 422, 424, 456, 520, 566, 598, 609, 627–628, 679, 783, 786–787 Diphthong 49, 62–63, 69, 71, 75, 106, 113, 115, 148, 165, 169, 171, 176, 214–218, 224, 232, 234–236, 248, 251–254, 256– 257, 272, 274, 283–286, 288–291, 297, 303, 306–307, 310, 324–330, 343–344, 346, 348–349, 372, 374, 377, 379, 392– 393, 395, 399, 419–421, 425, 428, 442, 444–445, 467, 480, 482, 489–490, 506,
Register 508, 522, 530, 559, 568, 595–598, 743, 1003, 1100, 1167 Diphthongierung 32, 64–66, 68–72, 109, 111, 113, 209, 214–216, 222–224, 234, 249, 252, 284–286, 307, 328, 398, 419–421, 423, 444–445, 448, 480, 482, 489–491, 508, 517, 519, 522–523, 526, 528–530, 537, 557, 574, 577, 595–597, 605–606, 608, 665, 722, 958, 1122–1123 Dissimilation 490, 538, 566, 571 Distanzverdoppelung 163, 500, 646 Divergenz 38, 103, 207, 464, 642, 787, 818, 904, 950, 952–955, 958–960, 1043, 1191 DiWA → Digitaler Wenker-Atlas DMW → Dialektatlas Mittleres Westdeutschland Domäne 109, 131, 134, 207, 273, 310, 341– 342, 351, 398, 539, 552, 600–601, 617, 630, 733, 740–742, 838, 851, 953, 964, 973, 1016, 1021, 1046–1051, 1053, 1089, 1097, 1100–1102, 1156, 1159, 1180, 1194, 1202 doppelte Negation 42, 300–301, 337–338, 349, 572, 649–650, 664 doppelte Vertikalität 129, 273 Dravänopolabisch 638, 975–977, 983 Druckersprache 67, 69, 80, 83–85, 102, 1044 DWB → Deutsches Wörterbuch Dynamik 1, 19, 29–30, 40, 43–44, 200, 234, 338, 345, 347–349, 394, 469, 482, 492, 502–509, 537, 540, 542, 551, 562, 609– 610, 637, 686, 711, 717–718, 733, 740– 741, 757, 761, 778, 796, 844, 852, 854, 903, 949–955, 958–959, 1001–1002, 1016– 1017, 1039, 1186
E Einheitsform 71–73, 111, 225, 260, 293, 296, 384, 422, 457, 485, 496, 534, 551, 558– 559, 561, 569, 591, 598–599, 623–624, 626–627, 629–630 Einstellung 38, 79, 123, 133, 271, 338, 341– 342, 347, 352, 579, 606, 629, 845, 848, 866, 905–906, 908–909, 941–942, 944– 945, 950, 960, 1006, 1008, 1018, 1021, 1026, 1046–1048, 1066, 1073, 1128, 1169– 1170, 1177, 1185, 1199 Elektroenzephalographie (EEG) 47–49, 148 Elsässisch 64, 206–207, 210, 489, 669, 689, 694, 939, 954, 1079–1092 Emblem 834, 836–837
1215 Emigration 1154, 1179, 1182 Englisch 162, 636, 650, 654, 740, 745, 943, 1013, 1019–1026, 1135–1136, 1139, 1143, 1145, 1147–1148, 1156–1157, 1177–1186, 1192–1194, 1198–1200, 1205 Entlehnung 79, 82, 175, 181, 207, 234, 255, 263, 273–274, 686, 688–690, 692, 694, 701, 740–741, 747–748, 944, 951, 957, 974–975, 978–979, 982, 996, 1003, 1005, 1053, 1072, 1078, 1083, 1103–1105, 1108– 1109, 1118, 1125–1126, 1156, 1170, 1186, 1194–1195, 1199–1200 Entrundung 64, 74, 107, 109–110, 166, 215– 221, 224–225, 234, 251–252, 254, 284– 286, 288–289, 296–299, 325–327, 343, 346, 378, 385, 419–421, 425, 444–445, 482, 486, 494, 504, 521, 527, 530, 537– 538, 576, 597, 606–607, 609, 784, 1003, 1118–1119, 1123 Erhebung 8–9, 11–12, 19, 29–32, 39–44, 113– 114, 122–124, 131–132, 136–144, 233– 234, 236, 271, 306, 323, 338–340, 343, 345, 347, 387, 407, 427–429, 436, 440– 442, 496, 501–505, 532, 537–540, 543, 555, 565, 573–575, 577–579, 594–595, 603–605, 635–636, 681, 683–685, 712, 714–716, 734–736, 738, 757, 761–764, 770, 772, 806, 846, 848, 863, 870–871, 874, 879–882, 884–885, 887–889, 891, 922, 1041, 1102 Erp-Projekt 122, 134–135, 539–540, 846 Erwachsene 48, 265, 272, 390–391, 608, 839, 937–939, 942–943, 945, 980, 1013, 1019, 1022, 1025–1027, 1072, 1083, 1106, 1110, 1136, 1159 Ethnolinguistik 15, 17, 250, 274–275, 305, 364, 579, 803, 814–815, 1003–1009, 1024, 1073, 1155–1156, 1193, 1204 Exploration 46, 303, 870 Exploratoreneffekt 867, 870 extralinguistische Methode 13–14, 351, 796, 898, 901, 905
F Facebook 832–833, 1049, 1106 Fachsprache 685, 718, 733, 742, 957 Faktorenanalyse 776, 866, 874–875 Familiennamen 264–265, 782–791, 892, 979 Femininum 49, 164, 170, 173, 178, 180, 227, 229, 260–261, 263–264, 272, 296, 299– 300, 385, 391–392, 449, 451, 464, 498,
1216 533, 623, 626–627, 644, 646, 1107–1108, 1127 Fersentalerisch 628, 1103–1111 FLARS → Frontière linguistique au Rhin Supérieur flektierte Konjunktion 42, 301, 335, 389, 648– 649 Flexion 35–39, 64–65, 69, 72, 167, 225–227, 248, 262–263, 291–292, 294–295, 298– 299, 301, 304, 308, 335, 382, 384, 387, 394, 448, 451, 457, 460, 485, 496–498, 529, 534, 551–552, 561–563, 597–598, 617–619, 622–623, 626–627, 629, 789, 915, 1002, 1004, 1107–1108, 1139, 1204 Flurnamen 410, 524–525, 719–720, 784 folk linguistics 29, 844 Formalität 41, 159, 238, 274, 347, 795–796, 815, 945, 1050 Forschungsplattform 441–442, 504, 881–888 Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas 2 Fortis 162, 165, 168, 170–171, 221–222, 238, 255, 286, 292, 295, 298, 329, 373, 376, 384–385, 429, 446, 469, 508, 1003 Fragebogen 11–12, 40–42, 112–113, 129, 338– 340, 342, 441, 555, 563–565, 567–568, 573, 681, 712, 714, 735–738, 764, 850, 874, 881–882, 888–889, 929, 932, 1041, 1069, 1102, 1120, 1179, 1185 Fragesatz 266, 496, 650 Frankfurter Wörterbuch 713 Fränkisch 63, 168, 181, 190, 208, 212–217, 219, 224–225, 233, 292–293, 307, 363– 364, 366–369, 372, 393, 395, 397, 399– 400, 481–482, 524–525, 687, 699, 957, 1041, 1077–1079, 1086, 1090, 1122–1123 Fränkischer Sprachatlas 562, 714 Französisch 163, 176, 207, 247, 479, 485, 490, 682, 689, 692, 694, 701, 740, 904, 910, 919, 952–954, 958, 973–975, 1012– 1014, 1018–1022, 1024, 1027, 1039, 1043– 1052, 1063, 1067–1074, 1078–1090, 1097, 1109, 1135, 1139 Frequenz 37, 45, 141, 143, 161, 173, 182–183, 292, 333, 342–349, 364, 436, 461, 499, 505, 563, 602, 602–610, 619–620, 630, 650, 664, 777–778, 867, 1001–1002, 1018 Friesisch 165, 551–552, 558, 563, 733, 741, 965–968, 1141 Frikativ 69–71, 109, 111, 136, 162, 166, 176, 180–181, 218–220, 222, 232, 246, 251, 255–256, 284, 292, 323, 329–331, 343, 383, 446–447, 493, 502–503, 508, 527–
Register 528, 531, 541–542, 559, 571, 575, 974, 978, 1104, 1120, 1122 Frontière linguistique au Rhin Supérieur 904 Frühalthochdeutsch 482, 523, 622 funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) 47 Futur 42, 258, 301, 638, 653, 922, 1205
G g-Spirantisierung 74, 106–107, 109, 115, 180, 217, 284, 495, 508, 527, 542–543, 557, 559, 570, 575–577, 597, 603, 606–607, 836–837, 999, 1123 Gallisch 719 Galloromanisch 523–524, 973–974, 983, 1020, 1077–1078, 1109 Gebrauchsmuster 828, 834, 837, 958, 1068, 1192 Gebrauchsstandard 32, 47, 125, 159–160, 163, 165, 167, 172, 182, 578–579, 645, 759, 778, 805–806, 810 gehörlos 915–916, 919–932 Gemeindeutsch 173–174, 272, 1018 Gemeines Deutsch 61, 83, 104 Genitiv 110, 178, 226, 296, 333, 389, 453, 464, 498, 575, 623, 626, 628, 630, 642, 644, 654, 1107 Genus 35, 37–38, 74, 84, 160, 163, 169–170, 173, 175, 178, 227, 261, 295–296, 299, 391, 456, 464, 497, 619, 623, 626–627, 975, 1006, 1107, 1194, 1202, 1204 GeoLing → Neue Dialektometrie mit Methoden der stochastischen Bildanalyse Georeferenzierte Online-Bibliographie Areallinguistik 2, 206, 377, 554, 713, 885– 886 Geostatistik 488, 490–492, 530–532, 861–876, 891 Germanisch 14, 67, 70–71, 169, 187, 208, 253, 256, 288, 322, 366, 372, 374–375, 378, 410, 441, 444, 489, 508, 524–525, 688, 691, 901, 954, 965, 970, 1045, 1077– 1079, 1103–1104, 1200 Gesamtsprache 1, 186, 188–189, 191, 195, 321–322 Gespräch 29, 32, 41–42, 46–47, 123, 129–132, 134–137, 139–140, 142, 144–145, 149, 236, 343, 345–348, 351, 398, 427, 505, 539–543, 563, 570, 574, 577–578, 603– 610, 666, 758, 762, 794–796, 798, 800– 821, 835, 839, 998–999, 1002–1008, 1014,
Register 1017, 1022, 1066, 1070, 1109, 1128, 1161, 1168 Gesprächslinguistik 46–47, 556, 794–821 gesprochene Sprache 6–7, 39, 62, 74–75, 79– 84, 101–107, 109–113, 134–135, 137–141, 146–149, 160, 200, 233, 309, 350, 366, 411, 414, 501, 563–564, 576–577, 782, 795, 806, 832, 834, 969–972, 974, 1044, 1119–1121, 1123–1124, 1177, 1199 Gesprochenes Schriftdeutsch 124, 132–140, 146–149, 200, 408, 411 gestürzte Diphthonge 288, 303, 307, 372, 379, 392, 395, 420, 442, 445, 467, 480, 489– 490, 1166 Gewährsperson 39–42, 233, 306–307, 340– 343, 345, 352, 387, 394, 442, 539–540, 557, 573, 578, 640, 655, 757, 762, 807, 812–813, 818–819, 888–889, 1161, 1168– 1169 glottal 162, 165, 180, 577, 672, 1019 GOBA → Georeferenzierte OnlineBibliographie Areallinguistik Gotisch 686, 1103 Grammatikalisierung 15, 75, 166, 178, 258, 261, 266, 293, 302, 463, 498, 536–537, 622, 627, 639–641, 656, 916, 918, 921, 930, 1043, 1108, 1205 Grenzdialektologie 767, 949 Grenzverschiebung 393
H Hamb.Wb. → Hamburgisches Wörterbuch Hamburgisches Wörterbuch 735, 737, 740, 747 Handform 915, 918, 920–921, 924, 926–928 Handwörterbuch von Bayerisch-Franken 363, 711 Hansesprache 61, 72, 82 Hauptsatz 302, 644–645, 973, 1105, 1139, 1202 Hebung 68, 74, 138, 254, 309, 347, 420–421, 445, 460, 495, 497, 508, 523, 576, 578, 595, 603, 1168 Heideostfälisch 735, 746 Heiratsgrenzen 899 Hessen-Nassauisches Wörterbuch 441, 458, 711–712, 718, 721, 723, 727, 893 Hessisch 33, 67–68, 143, 195, 199, 230, 265, 399, 417, 430, 435–436, 439–449, 453– 458, 460–463, 465–466, 470, 479–480, 488, 646, 681, 712, 714, 716, 719, 723, 772, 847, 853, 1008, 1121
1217 Hessischer Dialektzensus 439, 441, 467–468 Hessischer Flurnamenatlas 719 Heteronymik 36, 292, 680, 684, 690–696, 698, 701–702, 715, 717–718, 739, 743, 745, 748, 758–761, 764, 766–767, 769, 786, 788–790 Hiatus 32, 68, 72, 74, 162, 249, 251, 257–258, 272, 303, 519, 526, 528–529, 559, 596– 597, 784 hirnphysiologische Verarbeitungssignaturen 49 historische Dialektologie 363, 783 historische Mündlichkeit 101, 105, 112 Historischer südwestdeutscher Sprachatlas 63–64, 76, 206, 208–209, 784, 786 HNWb → Hessen-Nassauisches Wörterbuch Hochalemannisch 47, 126, 134–137, 146–147, 149, 210, 212–213, 217–222, 224, 226, 228–229, 231–232, 235, 251, 254–255, 265, 282, 320, 623, 630, 652, 680–681, 684, 689, 693, 696, 698, 867, 1090 Hochpreußisch 407, 625, 734, 736 Höchstalemannisch 199, 210, 251, 254–255, 320, 329, 623–624, 626, 638, 642, 647, 653, 667, 669, 680–681, 683–684, 687, 693, 701, 816, 870, 1106–1107 Holsteinisch 129, 556–558, 562, 564, 568, 571, 574, 578, 605, 735, 746 Homonymie 107, 261, 499, 623, 692, 724, 743–744, 747–748, 925 HSS → Historischer südwestdeutscher Sprachatlas Hugenotten 973–975, 983, 1080, 1090 Hunsrückisch 536, 1157–1159, 1169–1172, 1174 Hutterisch 1135–1137, 1145–1148 Hyperform 139–140, 143, 508, 542–543 hyperkorrekt 109, 307, 310, 399, 429, 542, 553, 653, 976, 1100
I Ideologie 412, 830, 835, 837, 897, 900, 904, 906–907, 950, 997, 1008, 1066, 1081– 1082, 1084, 1087, 1089, 1102, 1185 Idiolekt 8, 270 Ikonismus 308, 497–498 Immigration 608, 950, 995–996, 1022, 1047 Imperativ 225, 382, 388, 446, 461, 602, 1001, 1205 Implikation 16, 507, 796, 812, 816, 830, 900, 967
1218
Register Indefinitpronomen 310, 429, 464, 647 Indikativ 63, 293–294, 304, 337, 381, 423, 457, 498, 569, 598, 621, 625 Infinitiv 41–42, 66, 68, 74, 167–168, 173, 175, 178, 225–226, 230–231, 260, 266– 267, 284, 292–295, 298, 302, 308, 332, 334–335, 337, 386, 388, 396, 423–424, 447, 458–460, 462–463, 465, 537, 562, 572, 628, 638–640, 645, 647, 653, 941, 969, 1001, 1121, 1126 Informant 6, 41–42, 48, 112–113, 123, 126, 131–132, 134, 139–140, 144, 146, 233, 304, 339–341, 345, 397, 487, 501–502, 505, 540, 542–543, 630, 762, 773, 880, 882, 885, 889, 903–904, 920, 922, 924, 928, 1160 Informationssystem 501, 847, 884–885, 893– 894 Ingroup 906, 909, 1007 Inlaut 162, 165, 170, 220, 291, 374, 447, 508, 527, 556–557, 577–578 Intensitätsschätzung 863–864 Interaktion 30, 34–35, 38, 45, 49, 235, 238, 275, 426, 497, 573, 579, 670, 794–821, 828–829, 831–833, 835, 849, 907, 914, 944, 1006, 1015, 1050, 1125, 1128, 1143 interaktiv 49, 391, 796–797, 799–800, 803, 810, 829, 880–882, 885, 888, 892, 922 Interaktiver Sprachatlas des westfälischen Platt 560, 737–738 Interferenz 62, 109, 111–112, 211, 375, 399, 480, 562, 568, 576, 598, 601–602, 638, 654, 739, 807, 809, 951, 953–954, 958, 965–966, 968–969, 973–974, 976–978, 980, 982, 1088, 1123, 1159, 1186 International Phonetic Alphabet 30, 370, 530, 890, 1161 Internet 11, 44, 183, 832–833, 854, 879–884, 888–889, 891, 1049 Interrogativpronomen 533, 627–628 Interview 41–42, 121, 123, 132–133, 136–140, 144, 274, 310, 343–346, 348, 428, 467, 505, 540–541, 543, 574, 578, 607, 630, 812, 830, 835, 850, 938, 944, 1004, 1159– 1161, 1168, 1171 Intonation 34, 107, 123, 191, 385, 418–419, 495–496, 664, 667–671, 673, 1019 intralinguistisch 14, 321–323, 350, 1104 Irrealis 617, 621, 1205 Isoglosse 14, 34, 163–164, 182–183, 189, 193, 207–208, 211, 219, 254, 267, 282–286, 288, 290–291, 296, 298, 301, 303, 320,
324–326, 330, 364, 367, 371–372, 390, 408, 412, 415–423, 425, 443, 479, 481, 486–487, 489–490, 496, 498, 500–501, 515, 525–527, 529, 551, 557, 598–599, 655, 670, 709–710, 719, 743–744, 748, 783–784, 864, 871, 899, 903, 949, 952, 955–958, 1040, 1042, 1087, 1090 Italienisch 175, 628, 636, 679, 682, 689, 918, 921, 954–955, 964, 971–972, 1012–1013, 1018–1024, 1027, 1096, 1111, 1159
J Jenisch 981 Jiddisch 719, 740, 969–970, 1013 Junggrammatische Schule 2, 7–9, 12–13, 248, 320, 323, 455, 554, 715, 794, 901, 1104
K k-Verschiebung 219–220, 232, 235–236 Kanaltal-Kärntnerisch 1103 Kardinalzahl 261, 627 Kärntner Slovenisch 978, 983 Kartierung 11–12, 18, 39, 46, 188, 295, 312, 321, 385, 390, 483, 530, 562, 573, 668, 683, 763, 773, 786, 805, 846–847, 850, 854, 861, 863–865, 884–885, 887, 891 Kasus 35, 37–38, 41, 49, 72, 111, 173, 178, 248, 262, 295–296, 298–299, 336–337, 422, 448–454, 498, 520, 529, 533, 559, 563, 566, 573, 577, 599, 618–619, 622– 627, 629–630, 641, 941, 970, 1002, 1123, 1127, 1194, 1204 Kasussysteme 35, 296, 337, 448–449, 453, 529, 573, 623, 1194 KDSA → Kleiner Deutscher Sprachatlas Keltisch 410, 524, 526, 689, 719, 1078, 1085 Kernlandschaft 191, 319, 902 Kiezdeutsch 579, 997–1006, 1008–1009, 1187 Kinder 48, 131, 136–137, 303, 305–306, 339, 342, 468, 497, 539–540, 543–544, 569, 601, 608, 764, 766, 831–832, 891, 916, 919, 936–945, 966, 1008–1009, 1016, 1021, 1026–1027, 1049, 1079–1080, 1085, 1088, 1106, 1111, 1116, 1119, 1130–1131, 1136, 1138, 1140, 1143, 1145, 1147–1149, 1159–1161, 1180, 1182–1184, 1203 Kirche 76, 79, 131, 280, 289, 367–368, 554, 600, 1014, 1017, 1049, 1065, 1068, 1078, 1083–1085, 1118, 1124, 1137–1139, 1141– 1142, 1144, 1147, 1179–1180, 1184, 1193– 1194
Register klassische Dialektologie 8–10, 12–13, 18–19, 664, 668 Kleiner Deutscher Sprachatlas 11, 195–196 Klitisierung 35–36, 257, 261, 293–294, 299– 304, 333–334, 345, 383, 389, 450, 465, 573, 576–577, 624, 627, 643, 645, 649– 650, 928, 999, 1108 Kodifizierung 80, 160, 777–778, 981, 1018, 1052 Kognition 19, 30, 45, 47–50, 148, 192, 391, 470, 538, 849, 898, 904, 910, 936, 938, 941, 943, 950, 1025 Kolonie 73, 369, 558, 591–592, 710, 740, 746, 973, 1103, 1107, 1115, 1135, 1137, 1142– 1148, 1150, 1154–1158, 1160, 1177, 1179– 1182, 1185, 1191–1192, 1195–1203 Kommunikationsräume 269, 426, 828, 870 kommunikativ-pragmatische Wende 2–3, 15, 45 kommunikative Dialektologie 3, 16, 28 Komparation 41, 289, 299–300, 520, 607, 627, 653 Komposition 36–37, 164, 169–170, 174–175, 179, 181, 234, 272, 619, 628, 726, 742, 745–746, 785, 791, 915, 1043 Kompromisslautung 395 Konfession 13, 61, 76–77, 84, 209, 304–305, 368–369, 852, 874, 899, 901, 908, 965, 1077, 1118, 1139, 1193 Kongruenz 38, 40, 335, 464, 617, 626–627, 643, 647, 710, 915–916, 918, 928–931, 941, 977, 1202, 1204 Kongruenzmarker 535, 626, 929–930 Konjugation 618, 1023 Konjunktion 177, 301, 535, 627, 643, 648– 649, 653, 741, 1108 Konjunktiv 41–42, 63, 163, 258–259, 265, 294, 302, 332, 337, 382, 457, 462, 499, 621–622, 625, 641 Konsonantenschwächung 74, 109–110, 162, 165, 220–222, 284, 286, 291, 329, 446, 495 Konsonantismus 63, 65, 69, 165, 193, 215, 218, 251, 255, 286, 325, 392, 443, 446, 455, 480, 482, 493, 495, 508, 527, 529, 557, 559, 574, 601, 1103 Kontaktvarietät 553, 951, 1120, 1182, 1191– 1192, 1196, 1198, 1200–1201, 1203, 1205 Kontamination 298, 382, 391 KONTATTO → Südtirol zwischen Ortsdialekten und Sprachkontakt
1219 Kontextualisierung 29, 238, 273, 795, 797– 804, 807, 809, 813, 815–816, 820, 831, 833–837, 1004, 1128 Kontraktion 69, 446, 529, 553, 575–577, 788 Konzeptualisierung 33, 124, 129, 141, 192, 275, 352, 439, 844, 846, 870, 899, 904, 1044 Kookkurrenz 121, 123, 144, 351, 541, 798, 807, 811, 813, 816, 836–837, 870 Koronalisierung 140, 376, 429, 467, 469, 485, 492–494, 508, 527–528, 541–543, 579, 837, 999 Korpus 2, 36, 39, 41–44, 101, 107, 113, 131, 133, 137, 159, 161, 195–196, 332, 335– 336, 436, 448–449, 458–459, 555, 563– 565, 573, 575, 599, 641, 646, 648, 651, 710, 714, 777–778, 783, 809, 811, 830, 876, 880, 885–886, 890, 892, 914–915, 921–932, 998–1002, 1008, 1018, 1049, 1125, 1185 Kreolsprache 834, 917, 1192, 1198, 1200– 1205 kriegen-/bekommen-Passiv 163, 166, 462, 535–536, 641–642 kulturelle Identität 899, 907, 910, 1106 Kurdisch 998–999, 1005 Kürzung 72, 253–254, 332, 345, 444, 454– 455, 495, 529, 1119 Kurzvokal 49, 66, 75, 166, 168–169, 176, 221–222, 232, 238, 252, 254, 271, 283, 286, 288, 297–298, 330, 379, 444, 485, 520, 527, 559, 574–578, 608, 905
L l-Diminutivsuffix 263, 783, 786 Labial 164, 171, 329 Labialisierung 260, 418 Länderen 844 Landessprache 247, 972, 996, 1013, 1019– 1020, 1023–1025, 1061, 1116–1117, 1124, 1129, 1156–1157 Landschaftliches Hochdeutsch 101–116, 146, 148–149, 199, 408, 411 Langvokal 66, 68–70, 74, 113, 168–169, 176, 214–216, 221–224, 232, 234, 248, 251– 252, 254, 256, 283, 285, 288, 297, 330, 374, 377, 419, 421, 443–445, 480, 482– 483, 489, 494, 517, 519, 521–523, 526– 529, 532, 538, 556, 560, 595–596, 602, 605–606, 608, 1119, 1167
1220
Register Lateinisch 66, 70, 75, 77–79, 83, 524–525, 600, 687, 689–690, 693, 996, 717, 974, 1019, 1078, 1103 Lausitzisch 167, 407–408, 417–418, 420–424, 429–430, 722, 976–977, 979 Lautgesetz 12–14, 290, 458, 570 Lautverschiebung 63–65, 67–68, 70, 81, 219, 251, 255, 280, 286, 329, 417, 435, 442– 443, 446, 479–482, 489–490, 515, 519, 525–526, 528–529, 553, 577, 679, 709, 733, 784, 1104 Lemma 290, 308, 725–726, 883, 886 Lenis 162, 170, 221–222, 236, 255, 286, 292, 298, 330, 373, 376, 384–385, 446, 469 Lenisierung 162, 165, 168, 238, 286, 298–299, 329, 345, 347, 373, 392, 417–418, 425, 456, 485, 495, 508, 534, 556, 574, 595, 605–606, 608, 1003 Lexik 5, 12, 43–45, 160, 165–167, 172, 272– 274, 321, 525, 602, 605–606, 679–702, 709–727, 733–749, 756–778, 788, 871– 874, 884, 894, 973, 975, 977, 979, 982, 1018, 1077–1078, 1102, 1118, 1124–1127, 1168, 1186 lexikalische Raumtypologie 702, 723 Lexikon 521, 710–711, 718, 733, 756–778, 918–926, 1103–1104 Literatursprache 79, 82–84, 594, 617–628, 684, 740, 1049 Lothringisch 479–483, 490, 533, 535, 627, 710–712, 953–954, 1090 Luxemburger Wörterbuch 712, 1051–1052 Luxemburgisch 37, 166–167, 525, 531–536, 646, 713, 891, 952–953, 1039–1053, 1069, 1073 Luxemburgischer Sprachatlas 713, 1041–1042 LuxWb → Luxemburger Wörterbuch
M Mainlinie 161–163, 182, 380, 764, 766, 776– 777, 784, 871, 874 Makrosynchronisierung 126, 308, 1043 MAND → Morfologische atlas van de Nederlandse dialecten Marburger Schule 2, 11–14, 715 Markiertheit 35, 38, 41, 45, 61, 76, 80, 109, 129–130, 134, 159–160, 194, 207, 227, 230–231, 238, 246, 257, 259–263, 268, 274, 294, 296–298, 301, 332–333, 337– 338, 422, 427–428, 430, 453–455, 489– 490, 495, 497–498, 508, 534, 599, 619,
622–623, 628, 649–650, 653, 667, 720, 777–778, 802, 811, 815, 829, 831–838, 851, 918, 922–923, 929–930, 936–937, 1002–1003, 1007–1008, 1014–1017, 1026, 1043, 1107–1108, 1125, 1127–1128, 1203– 1205 Maskulinum 49, 163–164, 170, 173–174, 180, 227, 261–263, 290, 295–296, 299–300, 333, 391–392, 448–456, 464, 533, 623, 626–627, 644, 1127 Massenmedien 104, 270, 799, 828–831, 836, 839 Meckl.Wb. → Mecklenburgisches Wörterbuch Mecklenburgisch 73–74, 551, 557, 564, 594, 596, 599, 606, 608, 625, 734–735, 744, 746, 764 Mecklenburgisch-Vorpommersch 74, 113, 129, 199, 574, 590–610, 735–738, 809–810 Mecklenburgisches Wörterbuch 734–735, 737, 746–747 Medien 4–5, 7, 65, 183, 210, 237, 246, 269, 303, 305, 309, 311–312, 399–400, 503, 564, 741, 767, 777, 828–839, 939, 941– 942, 950, 959, 1013, 1016–1017, 1019, 1024–1025, 1049–1050, 1065, 1070, 1072– 1073, 1106, 1118, 1124, 1131, 1145, 1185 Mehrfachnegation 77, 79, 300–301, 649–650, 654 Mehrsprachigkeit 309, 322, 552, 618, 854, 889, 891, 938, 940–944, 953, 967, 995– 1009, 1013, 1019–1020, 1024–1025, 1039, 1042, 1046–1048, 1050, 1067, 1072, 1074, 1097, 1099, 1101–1102, 1109, 1126, 1128, 1130–1131, 1149, 1170, 1177, 1179, 1192 Mennoniten 44, 740, 1135–1150, 1154–1157, 1171–1173 mental map 607, 846–851 Mesosynchronisierung 125, 192, 308, 526 Messung 32–33, 37, 47, 123, 311, 396, 436– 437, 480, 483, 491, 507, 532, 538, 578, 591, 938, 1016 Metakommunikation 944, 1128 Migration 33, 134, 275, 426, 480, 579, 593, 608–609, 874, 907–908, 966, 973–975, 979, 982–983, 995–998, 1019, 1022, 1041, 1131, 1137–1139, 1141–1142, 1144, 1149, 1154–1156, 1171, 1179, 1182, 1192–1196 Minderheitensprache 312, 572, 894, 916–917, 931, 951, 956, 958, 964, 983, 1013, 1020, 1022, 1049, 1077–1092, 1096–1111, 1115– 1131, 1135–1150, 1153–1188, 1191–1205 Mischphänomene 943–945
Register Mittelamerika 1154, 1157 Mittelbairisch 64, 67, 126, 128, 132–134, 147–149, 168, 180, 256, 280–292, 303– 306, 310–312, 318–320, 323–333, 335– 337, 343–351, 381–382, 386, 624, 681– 683, 689, 697, 699, 815–816, 853, 867– 868, 1100, 1122, 1166–1167 Mitteldeutsch 11, 33, 46, 61, 64–70, 76–78, 82–85, 102, 106, 141–143, 160, 182, 187, 195–196, 199–200, 364–365, 380, 407– 430, 446, 450, 480–483, 488–489, 493– 494, 501, 503, 516–517, 528, 536–537, 551, 555, 559, 591, 597–598, 621–623, 625, 628–629, 638–653, 679–680, 686– 687, 691–692, 709–727, 734, 743–744, 746, 764, 786–788, 874, 1040 Mittelelb.Wb. → Mittelelbisches Wörterbuch Mittelelbisches Wörterbuch 734, 736, 746–747 Mittelfränkisch 67–69, 126, 134–137, 396, 516–517, 622–624, 680, 683, 870 Mittelhochdeutsch 62–63, 65–66, 68–70, 77, 79–82, 138, 142, 147–148, 168–169, 176, 193, 214–218, 221–225, 234–236, 247– 257, 283–291, 324–333, 343–349, 371– 380, 395, 398–399, 418–425, 428–429, 444–447, 451, 456, 458, 461, 467, 480, 482, 486, 489–492, 692–693, 698, 718, 726, 786, 788, 790–791 mittelhochdeutsche Dichtersprache 61, 81–82 Mittellateinisch 788, 1078, 1103 Mittelniederdeutsch 72–74, 82–83, 551–552, 565–566, 595, 597, 726, 735, 741, 788 Mittelniederländisch 74, 81, 597 Mittelpommersch 73, 591–610, 736, 744 Mittelrheinischer Sprachatlas 18, 135, 195, 485–487, 490–498, 501–504, 530–534, 713, 903 modal 302 Modalität 238, 266, 811, 814, 831, 835, 914– 917, 929–932 Modalpartikel 163, 773, 775, 778 Modalverb 168, 173, 231, 260, 303, 388, 390, 422, 458–460, 464–465, 535, 598, 645 Modus 35, 38, 294, 332, 619, 621, 837 monodimensionale Dialektologie 2, 13, 16–19, 29, 509 Monophthong 49, 63, 70–71, 75, 109, 138, 214–218, 222, 234–235, 253, 283–286, 288–289, 306–307, 324–330, 344–346, 348, 372, 374, 377, 380, 395, 418–421, 428, 444–446, 480, 482, 489, 522, 597– 598, 605
1221 Monophthongierung 66, 68–69, 71, 215, 253, 284–286, 307, 327, 348, 395, 398, 418– 421, 445–446, 482, 522–523, 530, 575, 595, 607, 836–837, 1122, 1166–1167 monovarietär 47, 49, 135, 430, 543 Morfologische atlas van de Nederlandse dialecten 37–39, 562 Morphologie 29, 35–40, 163, 167, 170, 225, 229, 258–265, 291–299, 309, 331–333, 380–387, 391–392, 394, 421–423, 445– 461, 496–498, 533–535, 555, 562–564, 601, 617–630, 655, 710–711, 786–788, 918, 1018, 1107–1108, 1127 Morphophonologie 382, 396, 504 Morphosyntax 333, 387–390, 561–563, 598– 600, 607, 617, 870, 996, 1126 Moselfränkisch 37, 41, 67–69, 147, 166, 187, 435, 441–443, 446, 480–504, 515–544, 621–622, 624, 627, 638, 646, 655, 712, 714, 936, 953, 1039–1053, 1067–1073, 1090 multidimensional 28, 322 Multidimensionale Skalierung 196, 436, 865 Multiethnolekt 1003, 1009 München 132–133, 282, 286, 297, 303–306, 311–312, 671 Mundartwörterbuch → Wörterbuch Mundbild 918, 925–928 Münsterländisch 560, 665, 738, 746, 748, 808–809
N N-Gramme 436 n-Schwund 371, 381, 437, 447, 452, 454, 458 Namdeutsch 1185–1187 Namen 38, 70, 110, 175, 190, 227, 255, 265, 267, 284, 300, 336, 366, 454, 463, 470, 499, 626, 642, 684, 686, 715, 727, 836– 837, 1007, 1168, 1200 Namenforschung 560, 892 Namibia 44, 1176–1188, 1200–1221 Nasal 6, 72, 84, 162–163, 165, 171, 253–257, 292–297, 307–308, 330–331, 386, 445, 482, 495 Nds.Wb. → Niedersächsisches Wörterbuch Nebensatz 77, 265–266, 293, 302–303, 334– 335, 563, 600, 644–645, 973, 1105, 1108, 1127, 1139 Nebensatzeinleiter 42, 177, 301, 335, 349, 388, 535, 627, 648
1222
Register Negation 42, 65, 83–84, 300–301, 310, 337– 338, 349, 557, 572, 649–650, 654, 918, 977, 1004–1005, 1105, 1108 Neubelgien 952, 1061–1063, 1066–1067, 1071–1074 Neue Dialektometrie mit Methoden der stochastischen Bildanalyse 867, 882 Neuhessisch 439–440, 468–470, 485, 504, 508–509, 653, 853 Neuhochdeutsch 61, 85, 101–103, 105, 107, 115, 222, 225, 255, 283, 289, 295, 480, 482, 496, 503, 618, 628, 647, 788, 1002, 1109 Neurodialektologie 29, 47–50, 538 Neuseeland 919, 1191–1192, 1195–1196 Neutralisierung 255, 391, 493–494, 521 Neutrum 163, 170, 173, 178, 227, 260–263, 295–296, 449, 454, 464, 466–467, 533, 599, 644, 647–648, 651, 1004, 1127 Niederalemannisch 210, 212–213, 215–226, 228–229, 251, 254, 623, 638, 641–642, 680–684, 691, 698, 724–725, 816, 818, 867, 1090, 1149 Niederbairisch 297 Niederdeutsch 5, 71–74, 78, 81–83, 112–114, 126–132, 144–149, 161, 165, 182, 187– 188, 190, 195–199, 550–580, 590–610, 733–749, 806–807, 892 Niederfränkisch 70–71, 113–114, 363, 515– 544, 562, 641, 806–808, 952, 1067 Niederhessisch 438–439 Niederländisch 70–71, 527–529, 558, 560– 562, 570–571, 733, 740–749, 920, 951– 952, 1141, 1179 Niederpreußisch 73–74, 590, 644, 734, 736, 1141 Niedersächsisches Wörterbuch 734–735, 737, 739, 743–744, 746–747, 749 Niedersorbisch 717, 976–977, 982–983 Nominativ 49, 226–227, 248, 296–300, 422, 450–455, 533–534, 623–625, 629, 641, 1000, 1107 Nordbairisch 35, 64, 192, 280–307, 319, 335– 336, 364, 372–373, 380–387, 389, 391– 392, 394–396, 680–683, 696, 699, 1167 Norddeutscher Sprachatlas 32, 555, 570, 573– 578, 603, 737 Nordfranzösisch 1078 Nordfriesisch 188, 198, 517, 557, 966–968, 982–983 Nordhannoversch 129, 556–558, 564, 570, 574–575, 578, 605, 735, 746–747
Nordhessisch 423, 435–470, 622, 641, 647 Nordniederdeutsch 71–74, 113–114, 550–575, 622, 625–627, 644, 735, 738, 743–744, 748, 786, 806–807 Nordobersächsisch 412, 424, 596, 665, 722 Nordrheinmaasländisch 70, 550–552, 560–561, 570–571, 577 Norm 4, 61, 83, 109, 147, 150, 182, 309, 339, 411, 483, 579, 607, 942, 971–973 NORMs/NORFs 40, 339–340 Nullform 170–171, 174–175, 179, 227, 261, 454–455, 458, 497, 534, 1001 Nullmarkierung 454–455, 497, 534 Numerus 35, 263, 295–299, 422, 455, 457, 520, 618–619, 622–626 Nürnberg 65, 83–84, 280–281, 283, 285–288, 303, 306–307, 365, 367–368, 372–373, 378–379, 381, 386, 394–396, 399–400, 684, 699 Nürnbergisch 381–382, 395, 399
O Oberbairisch 289–290, 293, 295–299, 301– 302, 304, 311, 700 Oberdeutsch 63–66, 77–78, 80, 83–84, 161– 162, 182, 280, 282, 318, 364, 422, 489, 618–630, 637–648, 653, 668, 679–702, 760, 785–786, 812, 874, 893, 1154 oberdeutsche Literatursprache 83 Oberhessisch 435, 438–439, 715 Oberostfränkisch 285–287, 298, 307, 369, 371–372, 378–379, 381–383, 386, 394, 397–398, 421, 691, 696, 702, 1122 Oberpfälzisch 279–282, 297, 395 Obersächsisch 66–67, 104, 142, 162, 280, 371, 376–377, 407–430, 485, 487–488, 602, 630, 651, 653, 665, 667, 712, 715, 736, 851–853, 957, 1120 Obersorbisch 976–977, 982–983 Objekt 38, 49, 167, 178, 230, 300, 302, 334, 465, 500, 533, 535, 537, 563–564, 639– 642, 645–646, 651, 653, 929–931, 1104 objektiv 33, 193, 246, 341, 364, 397, 409, 542, 797, 800, 845, 850, 898, 958, 969 Objektpronomen 645 ökonomisches Handeln 907 Okzitanisch 973–974 Oldenburgisch 130–131, 556–558, 563–564, 574, 735, 743, 746 Online 29, 41, 44, 206, 564, 573, 802, 847, 874, 879–887, 922, 1050, 1070, 1072
Register Onomasiologie 36, 43, 684, 690, 724–725, 744–745, 748, 757, 952 Opposition 75, 148, 195, 221, 254–255, 262– 263, 290, 297–298, 376, 443, 494, 503, 520–521, 527–528, 531, 621–629, 1100 Optativ 621 Oralisierung 4, 33, 103, 122–123, 125–126, 132, 147, 199–200, 235, 411, 427, 468, 509, 527, 617, 664, 1100 Oralisierungsnorm 4, 33, 108, 122, 125, 427, 617 Ortsgrammatik 2, 8–10, 13, 29, 32, 206, 446, 449, 461, 538, 558, 560, 620, 666, 1041 Ortsnamen 208, 284, 524–525, 981, 1072, 1103, 1129, 1177, 1193 Österreich 32, 42, 44, 83–84, 109, 125–126, 128, 160–161, 169, 171–174, 180, 182, 199, 279–283, 298, 304–305, 318–363, 645, 667, 679, 681, 685, 690, 697, 724, 763–764, 766–767, 769, 772, 776, 778, 805, 812, 818–819, 834–835, 851–852, 854, 889, 894, 937, 955–959, 964, 977– 983, 1018, 1100–1101, 1115–1131, 1192 Ostfälisch 72–73, 113, 130, 144, 199, 422, 435, 439, 550–559, 563–564, 568, 575– 576, 578, 591, 594, 596–598, 626, 710, 735–738, 743, 746–748 Ostfränkisch 38, 64–66, 81–82, 137–138, 142, 147, 149, 165, 199, 214–218, 280, 285– 289, 303, 307, 324, 363–406, 413, 417, 420, 443–444, 459, 479–480, 483, 489, 535, 623, 628, 630, 647–649, 653, 665, 680–683, 691, 696, 699, 702, 710, 714, 719, 723–724, 787, 874, 957, 1122 Ostfriesisch 130, 552, 556–558, 564, 574, 742, 807, 965–966, 983 Osthessisch 68, 364–365, 369, 375, 377, 380, 386, 435–478, 645, 647, 720–721 Osthochdeutsch 61, 84, 132 Ostmittelbairisch 280–281, 288–289, 291, 319–330, 343–351 Ostmitteldeutsch 4, 66–67, 76–78, 82–85, 102, 104, 109, 115, 127, 141–143, 147, 149– 150, 160, 199–200, 364–365, 371, 407– 435, 443, 452, 483, 591–592, 600, 623, 625, 638, 643, 646–647, 653, 710, 715, 717, 722–723, 760, 770, 786–788, 874, 1120, 1146, 1194 ostmitteldeutsch-ostoberdeutsche Schreiballianz 76–77, 84, 102 Ostniederdeutsch 71–74, 196, 199, 551–554, 564, 574, 590–610, 743–748, 791
1223 Ostniederländisch 70, 560, 739, 951–952 Ostoberdeutsch 41, 64–65, 76–77, 84–85, 132, 282, 319, 788 Ostpommersch 73–74, 590, 647, 651, 736, 1115 Ostwestfälisch 560, 578, 738, 746–748 Outgroup 906
P palatal 219, 254–256, 330, 446, 494, 530, 538, 560, 574–575, 784 Palatalisierung 63, 215, 232, 235, 238, 252, 265, 284, 330, 346, 418–419, 490, 494, 506, 574, 596–597, 605, 625, 1003, 1088 Palatovelarität 328, 494 Papua-Neuguinea 1191, 1195–1196, 1200– 1201, 1203–1204 Partikel 41–42, 65, 68, 83–84, 163–164, 174, 178, 230, 248, 265–266, 268, 300–301, 310, 336, 388, 446, 458, 464, 467, 507, 607, 644, 649–651, 653, 741, 773, 775, 778, 783, 918, 999, 1004–1005, 1008, 1020, 1102, 1108, 1125 Partitivität 644 Partizip 65, 72, 83, 111, 170, 173, 178, 216– 217, 225–226, 255, 260, 284, 292, 294, 300–302, 308, 332, 388, 490, 497, 529, 536, 559, 561, 572, 598–599, 601, 617– 619, 637, 1108 Passiv 41–42, 163, 166, 462, 535–536, 563, 641–642, 1043, 1108 Pennsylvania Dutch 894, 1135–1145, 1147, 1149 Perfekt 41–42, 79, 173, 180, 217, 225–226, 255, 258, 266, 309, 390, 422, 462, 490, 498–499, 534–535, 570, 600, 617, 622, 630, 637–638, 975, 977, 1078, 1108, 1128, 1205 Periphrase 41–42, 110, 160, 163, 292, 301– 302, 337, 462–463, 467, 563, 572, 575, 577, 637–641, 643, 654, 968, 1023 Person 217, 225, 252, 257, 259–262, 272, 293–294, 298–299, 303–304, 309, 324, 381–382, 384, 386, 389, 392, 394, 421, 423, 442, 448–453, 457–458, 460–461, 463–464, 533, 561–563, 569, 575, 598– 599, 618–619, 621–653, 930–931, 998, 1122, 1127, 1167, 1181, 1202, 1204 1. Person 260–261, 293–294, 299, 309, 386, 442, 449, 451–453, 458, 461, 463– 464, 621, 624, 627, 643–646, 930–931
1224 2. Person 225, 262, 266, 293–294, 298, 304, 381, 389, 392, 421, 448, 458, 623– 625, 627, 630, 643–644, 1122 3. Person 259–261, 272, 293–294, 299, 304, 389, 423, 448–461, 599, 623–625, 627, 646–649, 930–931, 1167 Personalpronomen 38, 230–231, 261–262, 293–294, 298–299, 301, 310, 332–333, 345–346, 394, 421–422, 448–453, 464, 529, 533, 563, 599, 627, 643–645, 998, 1000 Pertinenz 33, 799, 848, 854 Perzeption 29, 33–35, 125, 129, 136, 143, 199, 246, 396–397, 480, 486–488, 517, 520–521, 671, 844–854, 899, 909, 952, 954 Pfälzisch 108, 479, 482, 489–490, 1139 Pfälzisches Wörterbuch 712, 716, 721, 727, 883 Pfeilchenmethode 846 PfWb → Pfälzisches Wörterbuch pharyngal 181, 418 Pharyngalisierung 418 Phonem 49, 75, 102–103, 148, 169, 171, 176, 182, 193, 254–255, 273, 284–285, 288– 289, 297, 443–444, 456, 491–494, 506, 521, 527–528, 1166, 1204 Phonemkollision 49, 148, 285, 289, 492, 538 Phonemsystem 254, 443, 522, 557 Phonetik 7–9, 12, 30, 33, 40, 103, 112, 191, 321, 323, 556, 570, 594, 596, 873, 889– 890, 1107, 1123, 1169 Phonologie 9, 14, 29–30, 33, 35–38, 40, 50, 191–192, 214, 250, 272, 283, 321, 323, 331, 334, 345, 369, 419, 442, 485, 504, 527, 535, 540, 556–558, 562, 570, 594, 601, 655, 670, 710–711, 782, 784, 837, 867, 871–873, 914, 926–927, 996, 1006, 1102, 1104, 1107, 1169, 1204 Pidgin 1191–1192, 1197–1198, 1200–1205 pile sort-Methode 848 Placemaking 899 Platt-WB 740 Plattdeutsch 440, 669, 830, 834 Plattdeutscher Wort-Atlas von Nordwestdeutschland 555, 737–738, 830 Plattdüütsch hüüt 555, 557, 567–569, 572, 882, 888, 892 Plautdietsch 740, 1135–1137, 1141–1147, 1154–1157, 1171–1173 Plodarisch 1103–1104 Plosiv 63, 71, 107, 136, 162, 165, 171, 175, 180, 218–219, 221, 225, 232, 255, 272,
Register 292, 295, 309, 329–330, 332, 345, 373, 383, 400, 425, 447, 469, 480–481, 495, 557, 561, 576–578, 597, 603, 605, 665, 1120 Plural 1, 35–39, 63–64, 71–72, 83, 160, 163, 167, 174–175, 178, 225, 227, 229, 255, 257, 259–263, 272, 288–290, 293–294, 296–300, 304, 307–308, 320, 324, 328, 331–333, 335, 344, 349, 379–382, 384– 387, 389, 392, 394, 396, 421–422, 442, 446, 448, 450–452, 454–458, 463–464, 496–498, 529, 534, 551, 562–563, 569, 575, 598–599, 618–619, 621–630, 643– 644, 648–649, 653, 725, 916, 956, 973, 996, 1001–1002, 1043, 1100, 1107, 1122, 1127, 1168, 1204 pluridimensional 2–3, 15, 17–19, 501, 503 Pluriglossie 1117, 1122 Plurizentrik 122, 321–322, 348, 959, 1014, 1018, 1073 Plusquamperfekt 180, 637, 1108 politisches Handeln 905 Polnisch 717, 733, 740, 957, 964, 979–980, 983, 1119–1121, 1159–1160 polydialektal 268–269, 275 Polysemie 43, 693, 718, 725, 744, 748 Pomm.Wb. → Pommersches Wörterbuch Pommersches Wörterbuch 734, 736–737, 739, 746–747 Portugiesisch 1157, 1159–1161, 1168–1170, 1173 possessiver Dativ 333, 336–337, 642–643, 653–654, 1002 Possessivpronomen 65, 110, 226, 299, 533, 630, 643, 915 Potentialis 621 Präfix 66, 111, 162, 164, 174, 178–179, 182, 225, 229, 235–236, 255, 274, 295, 311, 332, 345, 381, 383, 388, 417, 458, 559, 561, 598–599, 603, 624, 647, 968, 1121 Pragmatik 15–16, 29, 38, 41, 45–47, 186, 264, 598, 642, 829–831, 834, 837, 839, 849, 916, 936, 942, 950, 953–955, 958, 1013– 1014, 1072, 1125 pragmatische Sprachgrenze 246, 958, 955 Präposition 36, 41, 231, 261, 266, 296, 301, 389–390, 455, 465–466, 500, 607, 618, 628, 643, 646, 651–653, 783, 968, 970, 1020, 1127, 1202 Präsens 38, 63–64, 217, 290, 292–293, 301– 302, 304, 309, 332, 381, 423, 457, 461,
Register 534, 569, 575, 598, 617, 621, 625, 638, 1003–1005, 1108 Präteritum 65, 72, 79, 83, 225, 248, 258, 284, 292, 294, 308–309, 332, 388, 422, 457, 461–462, 498–499, 534–535, 575, 600, 602, 618, 621–622, 625, 630, 637–639, 641, 922, 1108 Präteritumschwund 292, 294, 301, 390, 422, 448, 457, 462, 467, 498–499, 534, 618, 621, 630, 637, 653, 1041 Prestige 4, 78–79, 101–102, 104–107, 110, 129, 133, 146, 207, 303–306, 310–311, 392, 427, 494, 600, 603, 773, 941, 954, 978, 982, 1008, 1016, 1020, 1045–1047, 1053, 1068, 1116, 1121, 1130, 1145, 1169, 1171 Prestigevarietät 103–104, 106, 111–115, 528, 601–602, 955 Preuß.Wb. → Preußisches Wörterbuch Preußisches Wörterbuch 734, 736–737, 744, 746–747 primäres Merkmal 288 Primärumlaut 169, 249, 252, 444 Printmedien 131, 830, 973, 1170–1172 Produktion 14, 29, 40–42, 129, 246, 274, 311, 349, 593, 839, 1027, 1149 Progressiv 41–42, 175, 178, 337, 390, 462– 463, 496, 500, 536–537, 641, 1205 Pronomen 36, 71, 238, 261–262, 266, 310, 334, 336, 389, 392, 394, 448, 464, 466, 553, 558–559, 564, 568, 571, 573, 576– 577, 579, 597, 599, 623, 627, 643–646, 649, 930, 978, 1078 Pronominaladverb 41, 163, 465, 500, 563, 575, 600, 607, 646–647, 653–654, 968, 999 Prosodie 9, 28–30, 34–35, 408, 418, 521, 556, 672, 797, 821
Q Quantität 168, 236, 254, 273, 290, 297–298, 384, 444, 486, 532, 624–625, 629 quantitativ 2, 29–30, 33, 62, 232, 256, 269– 271, 299, 384, 483, 486, 516–517, 519, 530, 537, 564, 598, 665–666, 777, 796, 807–808, 813, 818, 832–833, 861, 863– 864, 867, 884–885, 1000, 1125, 1186 Quantitätsausgleich 382, 384
R r-Laut 323, 330, 371 r-Metathese 68, 783–785
1225 Rätoromanisch 251, 679, 964, 971–973, 982– 983, 1012–1013, 1019–1020, 1022–1023 Raumbildung 35–38, 231, 251, 259–260, 266– 268, 280, 282, 297–298, 300, 308, 481– 482, 653–654, 685, 870, 904 Reanalyse 36, 257, 307, 551, 670 REDE → Regionalsprache.de Redekonstellation 795 Reflexion 188, 190, 829, 944 Regensburg 81, 84, 132, 282, 284–285, 290, 299, 304–305, 372, 394, 684, 699 Regiolekt 32–33, 36, 43, 49, 114, 116, 122– 150, 235–238, 266, 273, 292, 303, 305, 310, 312, 337, 342, 349, 399, 408, 426, 429–430, 441, 468–470, 485, 506, 509, 517, 520, 526–528, 536, 538–544, 550– 551, 553, 564, 569–570, 572–579, 598– 599, 601–610, 629–630, 636, 642, 653, 664, 671, 757–761, 767, 773, 799–802, 806–810, 812–813, 815, 850–853, 997, 1100, 1117, 1146, 1194 Regionalakzent 122, 124, 126, 138, 143, 200, 235–238, 409, 468–469, 485, 487, 503, 509, 540, 542–543, 847, 850 Regionaldialekt 124, 133–135, 233, 235, 237– 238, 273, 275, 342, 351, 494, 501, 503, 537, 543, 701, 1100, 1120–1121, 1123 Regionalisierung 77, 129, 135, 391, 395, 399, 503–506, 537, 577, 579, 608, 610 Regionalsprache 2, 16, 18–19, 29–30, 32–33, 43–47, 74, 102, 114, 116, 125, 305, 310, 407, 409, 426, 430, 478–481, 487–488, 491–496, 501, 504–505, 508–509, 517, 520, 528, 543, 553, 572, 610, 617–619, 629–630, 636, 646, 664, 682, 830, 848, 879–880, 889, 891, 897, 950–951, 953– 958, 964, 997, 1043, 1053, 1086, 1090, 1097, 1100, 1123 Regionalsprache.de 2, 11, 18, 30, 32, 41–42, 123–124, 130–133, 135–138, 140, 142, 146, 310, 321, 377, 396, 414, 416, 430, 441, 468, 483, 501, 504–505, 555, 564– 565, 595, 599, 604, 620, 629–630, 646, 873, 881, 885–888, 892, 1120 regionalsprachliches Kontinuum 126, 137, 139–140, 142, 149, 469, 507, 509 Register 41–44, 111, 123, 190, 196, 235, 273– 275, 308, 310–311, 334, 337, 345, 349– 350, 394, 397, 425, 441, 466–468, 470, 480, 487, 505, 507, 617, 629, 646, 651, 654, 836, 928, 931, 937, 955, 1017, 1021, 1097, 1100, 1185, 1187
1226
Register Reihenschritt 14, 379, 523 Rekonstruktion gesprochener Sprache 104–116 Relativpartikel 230, 301 Relativpronomen 178, 230, 301, 533, 535, 562, 651 Relativsatz 42, 173, 230, 301, 335, 466–467, 470, 500, 651, 653–654, 918 Relikt 199, 208, 231, 251, 255, 257, 260–261, 280, 327–328, 443, 457, 490–492, 494, 497, 504, 524–525, 531–533, 537–538, 552, 559, 595–597, 601, 606, 608–609, 689–690, 696, 717, 743, 746, 748, 782, 954, 957, 968, 973, 979, 1040, 1077, 1090, 1124, 1150 Revolution 249, 687, 1045, 1081–1082, 1193 Rezeption 3, 79, 102, 191, 528, 568, 952, 1023, 1041, 1140 Rheinfränkisch 67–68, 81, 105, 127, 137, 140–141, 148–150, 162, 199, 215–218, 363–364, 375, 377, 380–381, 388, 435, 439–441, 443, 468–469, 478–509, 521, 526–527, 530–531, 534, 537, 621, 623, 626, 638, 647, 680, 682–683, 692, 711– 712, 714, 719, 759–760, 772, 814, 852, 874, 954, 1003–1004, 1090, 1121, 1159 Rheinisch 16, 34, 74, 166–167, 190, 210, 463, 478–480, 485, 500, 508, 515–537, 541– 544, 639, 717, 723, 743, 766, 813, 953, 1040 Rheinische Verlaufsform 337, 500, 535–537, 639, vgl. am-Progressiv Rheinischer Akkusativ 533 Rheinischer Fächer 481–482, 515, 525–526, 719, 1040 Rheinischer Wortatlas 714, 760 Rheinisches Wörterbuch 561, 712, 716, 718– 721, 727, 760, 883 Rheinmaasländisch 61, 67, 69–71, 75, 550– 551, 555, 560–562, 574 Rhotazismus 441, 447, 455, 467, 495, 625 RhWb → Rheinisches Wörterbuch Ripuarisch 67–71, 75–76, 113–114, 166, 363, 446, 486, 500, 515–544, 551, 561, 626, 667, 759, 812–813, 952, 1041, 1067, 1090, 1118 Romanisch 18, 188, 263, 322, 524–526, 685, 688, 696, 710, 717, 740, 953–954, 971– 973, 980–981, 983, 1022–1023, 1039– 1041, 1077–1079, 1103, 1108 Rückumlaut 461, 1108 Ruhrdeutsch 36, 144, 573–574, 576–577, 807, 812
Rumäniendeutsch 1124, 1129 Rundfunk 10, 42, 131, 311, 399–400, 564, 568, 570, 742, 829–834, 1050, 1070, 1072 Rundung 74, 109, 164, 235, 252, 371, 378, 492, 538, 558, 602, 605, 999 Russisch 740, 998, 1122–1123, 1125–1126, 1154 RWA → Rheinischer Wortatlas
S s-Palatalisierung 215, 235, 238, 261, 284, 330 SADS → Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz Salienz 33, 123, 364, 376, 494, 607, 629, 848, 850 SAND → Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten SAO → Sprachatlas von Oberösterreich Saterfriesisch 552, 965–966, 982 Satzprosodie 664–673 Sauranisch 1103–1104 SBS → Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben Schibboleth 4, 77, 303, 376, 378–379, 397, 400, 1107 Schichtung 75, 734, 744, 1069, 1109 Schl.-H.Wb. → Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch Schles. SA → Schlesischer Sprachatlas Schlesisch 5, 31, 66–67, 81, 104, 106, 199, 407, 420, 424, 430, 446, 647, 710–711, 714–716, 957, 1115, 1120 Schlesischer Sprachatlas 31, 714, 1120 Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch 557, 735, 737, 746–747 Schranke 211, 225, 288, 365, 371, 378, 388, 396, 481, 526, 694–698, 701, 719–722, 743, 746, 958 Schreibsprache 61–84, 101–102, 105, 526, 552, 942 Schreibung 61–69, 71, 75, 80, 84, 102–103, 109, 122, 147, 160, 169, 175, 177, 410, 526, 553, 791, 838, 1051, 1186 Schriftsprache 4, 7, 19, 44, 72, 78, 83, 101– 105, 108, 111, 115, 121–122, 126, 132, 134, 138, 142, 146–150, 159, 200, 235, 238, 247, 270, 282, 289, 309–310, 350, 408, 411, 426–427, 483–485, 526, 551– 552, 570, 600, 669, 715, 777, 810, 830, 914–917, 971–973, 977, 1014, 1039, 1043, 1045–1046, 1063, 1065, 1079, 1082, 1122– 1123, 1147, 1156, 1170
Register Schule 2, 7–8, 14, 16, 108, 135, 146, 305, 309, 335, 399, 425, 503, 539, 544, 569– 570, 572, 579, 593, 600–601, 630, 670, 767, 814–815, 891, 919–921, 931, 937– 943, 966, 978, 982, 998, 1013, 1017, 1021– 1027, 1046, 1050–1052, 1064, 1068, 1070, 1073, 1080, 1084–1090, 1096–1097, 1099, 1101, 1110–1111, 1117–1118, 1121–1122, 1124, 1130–1131, 1140–1143, 1148–1149, 1154, 1159–1160, 1170, 1172–1174, 1179– 1184, 1188, 1193, 1199, 1203–1204 Schwäbisch 12, 16, 63–64, 81, 104, 111, 148, 168–169, 207–239, 247, 257, 280, 283– 284, 287–299, 303–304, 308, 320, 364, 368–369, 373–381, 386, 394, 619, 623, 628–629, 669, 681–685, 691–701, 715, 724, 760, 767, 769, 787, 814–815, 832, 851, 867, 874, 899, 901, 909, 958, 1004, 1008, 1115, 1121, 1157, 1159 Schwalm 437–439, 446–465, 975 Schwedisch 519, 592, 741, 791 Schweiz 6, 10, 40, 44, 64, 125–126, 128–130, 133, 160–161, 169, 175–176, 180, 193, 198–199, 206–207, 210, 214, 221, 226, 228–229, 231–233, 246–275, 282, 322, 332, 348, 379, 391, 420, 623, 625–629, 635, 640, 642, 655, 666, 672, 679, 681, 685, 689, 691, 693, 695, 698, 702, 763– 764, 767, 769, 772, 778, 805, 812, 817, 829–835, 838, 851–852, 854, 870–871, 889–890, 893, 937, 940–944, 954, 958– 959, 964, 970–974, 1012–1014, 1018– 1027, 1088, 1100, 1104–1107, 1137, 1148– 1150, 1154, 1192 Schweizerdeutsch 9, 14, 34, 210, 231, 246– 248, 258–259, 262–263, 268, 270, 273, 665–671, 680–686, 690, 694–695, 699, 701, 838, 853, 870, 936, 939–942, 944, 973, 1012–1016, 1019–1021, 1024, 1026– 1027, 1110, 1141, 1148 Schweizerhochdeutsch 129, 175–178, 1018– 1019, 1027 Schweizerisches Idiotikon 6, 206, 247–248, 681, 685, 701, 893 SDS → Sprachatlas der deutschen Schweiz sekundäres Merkmal 629 Sekundärumlaut 214–215, 283, 286, 373, 444, 1122 Semantik 36, 38, 45, 333, 337, 639, 652, 724– 725, 782, 915, 1126 Semasiologie 43, 692, 724, 744, 747–748, 757
1227 Senkung 66, 68–69, 74, 217, 224–225, 238, 253–254, 283, 325, 420–421, 424, 444– 445, 461, 495, 497, 508, 527, 561, 666, 669 Sequenzialität 28, 32, 795, 800 ShWb → Südhessisches Wörterbuch Siedler 73, 208, 407, 410–411, 426, 568, 591– 592, 599, 723, 746, 748, 902, 905, 957, 1115–1117, 1121, 1123, 1136, 1156, 1160, 1166, 1174, 1179–1180, 1191–1199 Siedlung 44, 66, 208–209, 288, 305, 320, 367, 407, 409–410, 426, 505, 591–592, 596– 597, 609, 629, 686, 716, 723, 744, 748, 769, 784–785, 791, 899, 955–956, 966, 974, 977, 981–982, 1022, 1079, 1103, 1115–1122, 1136, 1141–1150, 1153–1160, 1169, 1171–1172, 1174, 1177, 1179–1180, 1192–1197, 1205 Siegerländer Sprachatlas 714, 893 Silbe 34, 66, 73, 162, 171, 173, 176, 180–181, 215, 221–222, 232, 254, 257–258, 284, 286, 289, 296, 330, 376, 382, 384–385, 436, 446, 456, 498, 519–521, 559, 576, 603, 624–625, 628, 665–671, 1019, 1100, 1104, 1107, 1118, 1204 SiN → Sprachvariation in Norddeutschland singender Dialekt 667 Singular 38, 64, 169, 217, 225, 227, 229, 260– 263, 266, 272, 288, 293–294, 296–300, 308–309, 324, 335, 344, 380–385, 389, 422, 446–461, 490, 497, 529, 534–535, 559, 562, 575, 599, 619, 622–625, 627– 628, 643–649, 973, 998, 1000–1005, 1100, 1107, 1167 Sinti 980 SiSAL → Siegerländer Sprachatlas Situation 16–17, 28, 39, 41, 69, 76, 78, 81, 121, 123, 125, 129, 132–134, 138–144, 149, 159, 207, 233, 235, 238–239, 273, 275, 310, 341–347, 351, 387, 392, 394, 398, 427–428, 430, 458, 468–469, 482, 488, 494, 504–506, 538, 540–543, 554, 578–579, 603, 605–610, 621, 630, 636, 733, 759, 762, 795–800, 802–803, 814, 833, 835, 838, 900, 904–905, 915–917, 919, 932, 936–940, 942–945, 955, 964– 965, 967, 972, 974, 978, 997–998, 1002– 1004, 1006, 1014–1023, 1039, 1046–1048, 1065–1066, 1072–1097, 1099–1101, 1106, 1109, 1116–1117, 1119–1120, 1137, 1141– 1143, 1149–1150, 1154–1156, 1159, 1161, 1174, 1177, 1184, 1187–1188, 1197, 1203
1228 Skala 196, 340, 350, 397, 436, 483, 937, 967, 1104, 1106, 1109, 1172, 1204 Slawisch 73–74, 322, 366, 410, 430, 590, 679–680, 690, 710, 717, 741, 746–748, 955–957, 1126 Slowenisch 322, 679, 682, 690, 955–956, 1097, 1103 SMF → Sprachatlas von Mittelfranken SNBW → Sprachatlas für Nord BadenWürttemberg SNiB → Sprachatlas von Niederbayern SNOB → Sprachatlas von Nordostbayern SOB → Sprachatlas von Oberbayern Sondersprache 718–719, 971, 981 Sorbisch 407, 410, 426, 638, 710, 717, 769, 916, 950, 975–977, 982–983 soziale Gruppe 900 soziale Netzwerke 832–833 soziale Schicht 387, 796, 921 sozio-pragmatisch 3, 15–17, 19, 77, 321, 848, 853 Soziolekt 61, 144, 673 Spaltungskonstruktion 163, 465, 646 Spätaltbairisch 1103 Spätalthochdeutsch 65, 1103 Spätwestgermanisch 522 Spektrum 18–19, 28, 32, 42–43, 45, 49, 75, 121–150, 235, 237–238, 309, 321, 323, 338, 347–348, 352, 398–399, 426–427, 468–470, 501, 505–507, 540–542, 574, 577–578, 609, 617, 655, 757–758, 794, 796, 806–812, 816, 818–820, 846, 997, 1007–1008, 1014, 1096, 1100–1111 Spirans 69, 255–257, 335, 496, 543, 557, 559, 570, 1104 Spirantisierung 215, 217, 219, 284, 330, 343, 495, 508, 527, 597, 603, 606–607, 784, 836–837, 999, 1123 Spracharchiv 665, 892 Sprachatlas 13, 31, 44, 63, 189, 331, 442, 562, 655, 680, 694, 701 Sprachatlas der deutschen Schweiz 31, 43, 206, 248, 250–252, 257, 261, 266, 271– 272, 682–683, 685–688, 691–692, 695, 701–702, 838, 871, 890 Sprach-Atlas der Rheinprovinz 11, 515 Sprachatlas des Deutschen Reichs 10–11, 188, 193, 196, 321, 436, 441, 446, 448, 458, 466–467, 489, 564, 568, 635, 637, 873, 885, 901, 975, 979, 1042, 1120, vgl. Wenker-Atlas
Register Sprachatlas für Nord Baden-Württemberg 31, 206, 234, 683 Sprachatlas für Rügen 31, 737–738 Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben 31, 39, 43, 46, 206, 292, 304, 682–683, 687, 691– 692, 696, 700, 867–869, 893, 903 Sprachatlas von Mittelfranken 31, 40, 306– 307, 388, 390, 394–396, 398–399, 635, 680, 683, 688, 691–692, 696, 699, 702, 870 Sprachatlas von Niederbayern 31, 40, 289– 290, 292–303, 635, 683, 688, 691, 893 Sprachatlas von Nordostbayern 31, 138, 281, 286–287, 289–290, 297, 372, 378, 380– 381, 384–385, 397, 682 Sprachatlas von Oberbayern 31, 289–290, 293, 295–299, 301, 305–306, 683, 688– 689, 691–692, 701–702 Sprachatlas von Oberösterreich 31, 320, 323– 330, 338, 683, 688, 697 Sprachatlas von Unterfranken 31, 377, 385, 388, 390–391, 399, 683, 688, 691–692, 714 Sprachaufnahme 7, 10, 39, 112, 125, 130, 132, 136–142, 144, 146, 305, 323, 344, 409, 414, 427–430, 441, 468, 487, 501, 535, 540–541, 555, 557, 563, 565, 570, 573– 575, 578, 598, 605–606, 646, 648, 665, 670, 795, 806, 808, 814, 819, 833, 850, 867, 880, 882–883, 885–886, 890, 922, 939, 1004, 1041, 1120, 1167, 1169 Sprachausgleich 1158 Sprachdynamik 48, 146, 231–234, 268–273, 303–308, 338–349, 390–397, 425–430, 480, 501–508, 537–544, 564–579, 600– 609, 852, 950, 953, 959, 1131 Spracheinstellung 338, 845, 1021, 1046–1048, 1066, 1073, 1177, 1185 Sprachenfreiheit 1013 Spracherosion 1126 Spracherwerb 30, 108, 136, 146–148, 303, 305, 309, 339–340, 497, 543, 601, 937– 942, 944 Sprachgeographie 295, 364, 376, 380, 408, 429, 685–686, 693, 900, 908, 910 Sprachgeschichte 4–5, 61–85, 101–116, 208– 209, 290, 322, 366–369, 455, 481, 523, 565, 618–619, 710, 902, 1041 Sprachgrenze 13, 190, 371, 417, 479, 490, 562, 733, 746, 845, 852, 901–902, 905, 949–950, 952, 954–959, 1013, 1039, 1041, 1053, 1069, 1078–1079, 1088 Sprachhandlungen 35, 46–47
Register Sprachinsel 36, 189, 206, 290, 304, 363, 407, 524–525, 618–619, 623–624, 626–628, 636, 680, 710, 717, 894, 974, 977–978, 981, 1096–1097, 1103–1110, 1115, 1118, 1123, 1131, 1171 Sprachkarte 3, 6, 10–11, 13, 15, 18, 44, 46, 187, 189, 321, 323, 555–556, 560–561, 573, 680, 711–712, 714, 718, 725, 738, 880, 884–887, 903 Sprachkontakt 303, 322, 553, 562–563, 619, 686, 717, 740, 767, 820, 871, 950, 955– 957, 959, 996, 1001–1002, 1020–1024, 1027, 1039, 1052, 1066, 1070, 1072, 1104– 1105, 1107, 1109, 1119, 1124–1126, 1131, 1139, 1149, 1156, 1168–1169, 1186, 1191, 1197–1199, 1205 Sprachlage 35, 37, 39, 75–76, 409, 469, 542, 577–579, 759, 1124 Sprachmischung 1081, 1128–1129, 1187 Sprachnation 1081–1082 Sprachpflege 5, 105, 131, 268, 1080, 1170, 1180, 1184 Sprachplanung 1048, 1052, 1105–1107, 1110 Sprachraumkonzept 480, 487–488, 490, 847– 854 Sprachschranken 365, 719–720 Sprachsozialisation 537 Sprachstandardisierung 572 Sprachvariation in Norddeutschland 30, 32, 41–42, 123, 129–131, 144, 505, 555, 570, 573–576, 629, 741, 806–810, 844 Sprachvereinfachungsprozess 1126–1128 Sprachverwendung 8, 17, 38, 46 Sprachverwendungsbereich 1064–1065, 1068, 1070, 1072 Sprachwandel 8, 18, 49–50, 150, 271, 303, 307, 391, 494, 497, 509, 522, 528, 534, 601, 685, 688, 757, 773, 848, 889–890, 905, 909, 920, 950, 1097, 1104, 1191, 1200, 1205 Sprachwechsel 78, 524, 526, 600, 945, 952, 954, 966, 968, 971, 973, 975, 981–983, 1068–1069, 1110, 1116, 1124, 1136, 1141, 1157, 1174, 1179–1180, 1184, 1192, 1194– 1196 Sprechakt 835 Sprechgeschwindigkeit 664–666, 890, 1019 Sprechlage 18–19, 32, 111–150, 200, 235–238, 310, 324, 339, 342, 345, 350–351, 398, 427, 430, 468–469, 505–507, 509, 517, 541–543, 609–610, 617–618, 620, 629– 630, 846, 1100–1102
1229 SPRiG → Untersuchungen zur Sprachsituation im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet SSA → Südwestdeutscher Sprachatlas Staatsgrenze 33, 122, 160, 181–182, 207, 214, 246, 280–281, 283, 286, 288, 292, 304, 348, 407, 528–529, 552, 571, 591, 694, 697, 733, 767, 776, 846, 848, 852, 871– 872, 899, 904, 951–959, 1043, 1087 Stadtdialekt 17, 303, 305–307, 351, 535, 624, 836–838, 951, 996, 1003–1004, 1006 Stadtsprache 16–17, 34, 41, 84, 106, 141, 234, 270, 274, 305, 323, 347, 394, 480, 504, 573, 575–576, 602–603, 610, 664, 668– 669, 671, 814 Standarddifferenz 143, 346, 496, 506, 606– 608 Standardisierung 4, 61, 71, 84, 105, 150, 395, 566, 572, 654, 758, 782, 917, 920, 950, 1016, 1051–1053, 1104 Statistik 191, 531, 861–876 Stil 17, 110, 239, 270, 273–274, 350, 666, 673, 758, 777–778, 811–812, 829–830, 996–997, 1024 Stilisierung 553, 575, 799–800, 808, 811, 813, 815, 817, 819–820, 829, 831, 836–837, 1186 Stimme 665, 668–670, 672, 890 Stimmqualität 74, 664, 672–673 Stimulus 47, 49, 557, 565, 847, 849–850, 854, 907 strukturalistische Dialektologie 14 Strukturgrenze 125, 192, 195, 486–487, 494, 530, 537, 664 Subjekt 49, 230–231, 300, 333, 442, 463–464, 533, 536, 618, 624, 627, 641, 643, 645, 649, 651, 653, 929–930, 1105, 1108, 1202, 1204 subjektiv 33, 122–125, 135–136, 207, 247, 312, 340, 342, 364, 428, 540, 542, 579, 716, 773, 776, 778, 844–854, 938, 952, 958–959 Subjektpronomen 618, 624, 643, 645, 649, 651, 653 Substantiv 36, 43, 84, 160, 163–164, 170, 173–174, 178–180, 226–227, 229, 248, 260, 262–263, 289, 295, 298–300, 302, 308, 332, 383, 387, 447, 453–456, 464, 497–498, 533–534, 536, 562, 618, 622– 624, 626–627, 783, 1078, 1127 Subtraktion 36, 39, 454–456, 498, 534, 622, 624–626 Südafrika 919, 1176–1182, 1185, 1187
1230 Südamerika 740, 1137, 1142, 1149, 1153–1174 Südbairisch 176, 280, 282–283, 288, 291–293, 318–352, 618, 621, 623–624, 647, 651, 653–654, 680–681, 683, 689, 696–697, 955–956, 958, 1100–1101, 1103 Südhessisches Wörterbuch 712, 716, 718, 727, 893 Südhochdeutsch 309, 311 Südjütisch 733, 951, 967–968, 983 Südmärkisch 106, 407, 430, 711–712, 722, 734, 743 Südmittelbairisch 319, 324, 330, 349 Südtirol 44, 161–163, 167–177, 179–181, 281, 319, 321, 324, 331, 335, 338, 758, 760, 763–764, 851, 889, 954–955, 1096–1097, 1099–1103, 1111 Südtirol zwischen Ortsdialekten und Sprachkontakt 1102 Südwestdeutsch 207, 234, 786, 1138 Südwestdeutscher Sprachatlas 31, 206, 213, 219, 224–226, 232–233, 623–624, 683, 685, 688, 691, 695, 698, 700–702, 867 Südwesterdeutsch 1185–1186 Südwestfälisch 560, 743, 746, 748, 809 SUF → Sprachatlas von Unterfranken Suffix 38, 65, 69, 82–84, 164, 170, 174, 179, 225–226, 228, 235, 263–265, 290, 294, 297–299, 304, 332–333, 380–386, 388– 389, 391, 394, 396, 456, 464, 535, 557, 598, 609, 618–619, 622–630, 648–649, 760, 783, 786–788, 1022 suprasegmental 74, 176, 364, 376, 496, 1018 SyHD → Syntax hessischer Dialekte SynAlm → Syntax des Alemannischen Synchronisierung 49, 103, 125–126, 192, 307– 308, 391, 494, 497, 526, 538, 608, 1043 Synkope 65, 75, 84, 162, 248, 255, 257, 274, 295–296, 332, 345, 383, 417, 666 Synkretismus 35–37, 49, 262, 296, 333, 384, 392, 394, 422, 449–452, 454, 496, 498, 533–534, 618–619, 623–624, 626, 629–630 Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten 562, 884 syntaktische Raumbildung 266–267, 300, 654 Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz 40, 206, 250, 261, 266, 635, 655, 870–871 Syntax 15, 28–29, 35–38, 40–43, 45, 77, 79, 111, 163, 168, 173, 175, 191, 229–230, 265–267, 275, 299, 303, 309, 321, 331, 333–335, 337–338, 341, 349, 387, 408, 442, 461–463, 498, 535, 554–555, 561– 563, 570, 617, 635–637, 642, 646, 650,
Register 653, 655–656, 821, 871–872, 914–915, 918, 928, 1015, 1102, 1104–1105, 1108, 1127, 1139, 1169, 1205 Syntax des Alemannischen 40, 227, 229–230, 336, 886 Syntax hessischer Dialekte 40–41, 439–440, 442, 456, 461–467, 498–499, 537, 635– 636, 655, 881, 884–885, 892
T temporal 41, 173, 177, 230, 607, 639, 773, 923, 1107, 1127 Tempus 35, 498, 535–536, 617–619, 621, 630, 637, 916, 922, 1202, 1204 Territorialprinzip 1013 Territorium 67, 76, 81, 83–84, 182, 209, 246, 249, 260, 265, 281, 285, 319, 366–369, 378, 411, 479, 525–526, 554, 592, 716, 769, 899, 901–903, 905, 908, 949–950, 952, 959, 970, 1013, 1019, 1039, 1061, 1078–1079, 1142, 1146, 1160, 1184 Teuthonista 870 Textsorte 62, 79–81, 181, 426, 553–554, 651, 666, 828–831, 835–836, 838, 922, 942, 1049–1050 Thüringischer Dialektatlas 371, 408, 714, 718, 722 Thüringisches Wörterbuch 415, 712, 718, 723 ThWb → Thüringisches Wörterbuch Tirolisch 246, 955, 1103, 1145–1146 Tirolischer Sprachatlas 31, 320, 323–326, 328, 330, 332, 338, 683, 1099 TirolSA → Tirolischer Sprachatlas Tischelwangerisch 1103–1104 Ton 10, 12, 31, 34, 112, 176, 248, 414, 418– 419, 441, 468, 496, 504, 517, 519–521, 525, 563, 565, 573–574, 578, 646, 648, 665, 667–672, 714, 738, 813, 835, 880, 889, 893, 902, 1107, 1120 Tonakzent 34, 75, 198, 481, 486–488, 496– 497, 517, 519–521, 527–528, 530, 534, 619, 622, 624, 626 Tonhöhe 418, 519–521, 667–671 Transfer 130, 246, 272, 599, 601, 815, 941, 950–951, 953–958, 1083, 1123–1126, 1128, 1187, 1194, 1198–1199 Transkription 12–13, 39, 196, 323, 371, 418, 535, 685, 1002–1004, 1049, 1128, 1161, 1168 TSA → Tirolischer Sprachatlas Tschechiendeutsch 1124
Register Tschechisch 322, 679, 690, 957, 964, 1120, 1125, 1128, 1160 tun-Periphrase 41–42, 110, 163, 292, 302, 337, 462–463, 563, 572, 575, 577, 637, 640– 641, 654, 941 Typologie 35–37, 257, 536, 636, 656, 1203, 1205
U Überdachung 1, 4, 71, 83, 128, 132, 146, 207, 309, 468, 490, 528, 617, 680, 733, 852, 904, 951–953, 965, 972, 977, 982–983, 1014–1015, 1019, 1023, 1039, 1042–1047, 1051–1053, 1060–1061, 1063–1067, 1070– 1074, 1084, 1087, 1090, 1124, 1154, 1169– 1172 Übergangsgebiet 30, 113–114, 127, 137, 140– 141, 149–150, 188–189, 212–214, 218, 221, 224, 226, 229, 231, 267, 280, 284– 285, 287, 291, 319–320, 324–330, 332– 333, 348, 365, 387, 392, 412, 420, 424, 435, 439, 444, 450, 456, 466, 479, 485– 487, 489, 498, 504–505, 515, 519, 521, 530–531, 556, 595–596, 621, 626, 683, 700, 722, 733, 746, 776, 864, 867, 869– 870, 954, 958 Übergangslandschaft 188, 280, 367, 438 Übergangszone 267, 280, 288, 298, 319, 369, 382, 412–413, 415, 417, 421–423, 481, 562, 591, 598–599, 610, 655, 680, 696, 698, 871, 874, 950–951, 957–958, 1166 Ukrainisch 740, 1122–1124, 1126, 1128 Ukrainischdeutsch 1124 Umgangssprache 16, 28, 75, 107, 109, 124, 135, 142, 144, 292, 311–312, 339, 342, 350–352, 393, 398, 408, 426–427, 430, 526, 542, 570, 572, 575, 602–603, 607– 610, 640, 646, 679, 682, 713, 733, 757– 758, 837, 871, 937, 941, 950, 953–955, 958–959, 969–970, 976, 1015, 1042, 1047, 1072, 1119, 1121, 1156–1157, 1159 Umlaut 63, 72, 75, 109–110, 170, 174, 178– 180, 227, 251–252, 254, 260, 262–263, 265, 272, 283–284, 286, 296–299, 309, 325, 373–374, 385, 444, 446, 455, 457, 460–461, 482, 494, 497, 521, 530, 534, 538, 560–561, 570–571, 597, 619, 621– 625, 628, 724, 1001 Ungarisch 322, 956–957, 978, 981–983, 1117, 1119, 1121–1123, 1125, 1128 Ungarndeutsch 1121–1122, 1124, 1129–1130
1231 Unschärfe 161, 870 Unserdeutsch 1191–1192, 1195, 1198, 1200, 1202–1205 Unterostfränkisch 367, 369, 372, 378, 381, 386, 388–390, 393, 396–397, 444 Untersuchungen zur Sprachsituation im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet 393 urban 181, 342, 867–868, 870, 908, 959, 964, 983, 995–998, 1002–1003, 1007–1009, 1068, 1187, 1193, 1195, 1203 Urbar 76, 208 Urkunde 68, 70, 82, 441, 481–482, 788, 1079 uvular 166, 168, 176, 181, 271, 371, 376, 393, 418, 420, 447
V VALTS → Vorarlberger Sprachatlas Variable 17, 32, 35, 37, 73, 113, 138, 197, 233–236, 250, 274, 343, 345, 413–414, 423–424, 428, 517, 535, 540–541, 560, 565, 573–574, 578, 629, 636, 655, 694, 699, 701, 796–797, 808, 812, 816, 818, 862–864, 866, 871, 873, 875, 900, 960, 1104 Variablenanalyse 32–33, 112, 123, 131, 134, 311, 507, 540–542, 938 Variantengrammatik 159–161, 321, 1018 Variantenwörterbuch 44, 159–161, 163, 177, 183, 757–760, 767, 777–778, 1072, 1101 Varietätenkontakt 148, 321–322, 347, 777, 1016–1017 velar 69, 162–163, 171, 176, 219, 252, 254– 256, 292, 329, 420, 446–447, 456, 494, 538, 541, 543, 606–608 Velarisierung 66, 73–74, 176, 232, 252, 256, 347, 418, 447, 494, 529, 561, 574–575, 837, 1041 Velopalatalität 494 Verb 36, 38–39, 41–43, 65, 71–72, 77, 79, 83, 163–164, 166–168, 170, 173–174, 178– 180, 182, 217, 225–226, 230–231, 236, 248, 259–260, 263, 265–266, 272, 289– 290, 292–295, 298, 301–304, 308, 320, 332, 334–335, 344–345, 383, 386, 388– 390, 394, 422, 457–462, 464–465, 467, 490, 496–500, 520, 529, 534–537, 551, 557, 562–563, 566, 569, 575, 598, 600, 617–619, 621, 623, 625, 627–628, 637– 641, 643, 645, 647, 652–653, 692, 718, 783, 882, 927, 929–930, 968, 973, 1001– 1003, 1005–1006, 1016, 1020, 1100, 1104– 1105, 1108, 1139, 1202, 1204–1205
1232
Register
Verb-Cluster 464, 645 Verbreitungsstruktur 710–711, 719–723, 743 Verdichtungsbereich 273, 350–352, 542, 565 Verdoppelung 41–42, 266, 268, 336–338, 349, 465–466, 500, 640, 646–647, 652–653 Verdumpfung 214, 218, 235, 251, 254, 274, 283, 290, 325, 346–347, 504, 508, 1168 Verkehr 83, 111, 248, 282, 288, 306, 311, 350, 496, 505, 525–526, 602, 702, 767, 777, 794, 901–902, 909, 950, 955, 1040 Verkehrsgrenzen 13, 950 Verlaufsform 167, 302, 337, 500, 535–537, 639 vernacular 654 Verortung 108, 111, 250, 334, 573, 847–848, 850, 853, 890, 959 Verschlusslaut 577 Verschriftlichung 109, 1158–1159 vertauschte Langvokalreihen 521–522 Vertikale 6, 18–19, 28–29, 32–33, 35, 40, 43, 45, 47, 75, 121–130, 132, 134–135, 137– 139, 141–142, 144–146, 148, 150, 200, 231, 234–235, 237–238, 273, 275, 308– 310, 321, 334, 338–339, 345, 347–352, 394, 397–398, 425–428, 430, 466–468, 470, 508–509, 540, 542, 569, 654–655, 664, 741, 757, 767, 777, 794, 796, 806, 810, 812–813, 819, 950–951, 958, 960, 1052 VG → Variantengrammatik Viëtor 103–104, 112–115 Vokalisierung 71, 111, 181, 215, 256, 270, 284, 286–287, 289–290, 292, 298, 300, 304, 306, 310–311, 324–327, 330, 343– 348, 376, 447, 575, 577, 1088, 1121, 1167 Vokalsystem 49, 192–193, 254, 288, 417, 444, 480, 482, 494, 517, 522–523, 560, 838 Vorarlberger Sprachatlas 31, 206, 320, 323– 333, 338, 683, 687–688, 691–692, 696– 697, 700–701 Vorpommersch 73–74, 113, 129, 199, 551, 574, 591–596, 598–610, 628, 735–736, 738, 764, 766, 772, 809 Vorrömisch 689 VWB → Variantenwörterbuch
W Wahrnehmung 1, 4, 13, 29, 33, 123, 125, 168, 246, 341, 364, 376, 407, 409, 439, 468, 606, 773, 797, 844–846, 848, 851–854, 904, 943, 958, 997, 1187
Wahrnehmungsdialektologie 29, 312, 556, 846 Walserdeutsch 618, 627, 1106–1107, 1109– 1110 Wechselflexion 36, 460 Wellentheorie 189 Wenker 7–12, 15–16, 18, 30, 137, 188–189, 408, 417, 427, 442, 458–461, 467, 515, 517, 537–538, 551, 555, 594, 598–599, 620, 624, 685, 723, 776–777, 885, 901, 968, 974–976 Wenker-Atlas 10–12, 43, 196, 224, 409, 412, 415, 420–422, 425, 436, 441, 445–448, 454, 458, 466–467, 489–490, 496–497, 499, 501, 504, 527, 529, 534, 595, 599, 620–622, 626, 635, 637, 641, 647, 685, 715–716, 880, 885, 892, 901, 975, 977, 979, 1042, vgl. Sprachatlas des Deutschen Reichs Wenker-Bogen 321, 436, 448, 539, 555, 564– 570, 598–599, 601, 620, 741, 885–887, 974, 1041, 1120 Wenkersatz 11, 32, 41, 132, 323, 334, 388, 436–438, 441, 458–460, 539, 557, 564– 565, 621–622, 626, 638–643, 645–647, 650–652, 741, 885–886, 965, 974–977, 1041 Werbung 828–829, 832, 836, 854, 1022 werden-Futur 638 Westdeutsch 33, 196, 198–199, 517–519, 521– 523, 525–526, 535, 551, 561, 770, 874, 1040 Westf.Wb. → Westfälisches Wörterbuch Westfälisch 16, 70–74, 83, 106, 185, 199, 435, 450, 533, 551, 554–556, 559–561, 563, 568, 574, 576, 640, 665, 712, 737–739, 743, 746–748, 806–809, 874, 1157, 1198 Westfälisches Wörterbuch 560, 734–735, 737, 739, 746–748, 771 Westgermanisch 63–71, 208, 325, 329, 415– 417, 443, 516, 519, 522–523, 527, 529, 531, 543, 552, 557, 560–561, 568, 576, 686, 970 Westjiddisch 970–971, 983 Westkeil 523, 525, 723 Westmittelbairisch 288–289, 292, 319, 325– 328, 330, 344–352 Westmitteldeutsch 66–69, 160, 195, 199, 364– 365, 417, 455, 460, 480–482, 486, 501, 516, 530, 537, 625, 637, 641–649, 715, 717, 724, 786, 788, 790, 1040, 1118 Westmünsterländisch 130, 145, 560, 738, 800, 808–809
Register Westniederdeutsch 71–74, 83, 160, 199, 551– 559, 739, 743, 784, 952 Westoberdeutsch 63, 160, 199, 209, 625, 724, 764, 784, 788, 812, 901 Wien 2, 10, 14, 28, 41, 64, 83, 126, 161, 282, 286, 290, 319, 321, 323, 325–330, 338, 341–342, 345, 347–348, 350–351, 667, 684–685, 690, 812, 819, 844, 956, 959, 964, 980, 1118 Wiesinger-Ergänzungskarten 321, 323 wir/sie-Dichotomien 1008 Wissen 1–2, 34–35, 101, 105, 160, 188, 673, 803, 836, 839, 845–854, 866, 897, 910, 916, 926, 944, 1014, 1048, 1136, 1140– 1141, 1147, 1159 WKW → Wortatlas der kontinentalgermanischen Winzerterminologie Wortakzent 176, 670 Wortatlas 11, 43, 441, 555, 573, 606, 637, 647, 680, 682, 684–685, 710, 713–714, 733, 737–739, 757, 759–760, 763, 788, 871 Wortatlas der deutschen Umgangssprachen 11, 44, 573, 606, 637, 757, 763, 871 Wortatlas der kontinentalgermanischen Winzerterminologie 718 Wortatlas der städtischen Umgangssprache 757–759, 762–764, 770 Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens 763 Wortbildung 35–39, 66, 69, 125, 160, 163– 164, 167–168, 170, 174, 178, 182, 228– 229, 234, 248, 263–264, 295, 333, 380, 388, 448, 485, 496, 598, 617, 619, 627, 688, 742, 777, 783, 786, 789, 1020, 1109, 1169 Wörterbuch 5–6, 17, 39, 44, 75, 81, 110, 159– 160, 171, 177, 183, 206, 229, 248, 310, 363, 415, 425, 441, 460, 554, 557–561, 565, 569, 573, 577, 593, 680–681, 684– 685, 710–713, 715–716, 718, 725–727, 733–737, 740–741, 744, 757, 760–761, 767, 777–778, 867, 881, 883–884, 890,
1233 892–894, 1051–1052, 1072, 1105, 1186– 1187 Wörterbuch der obersächsischen Mundarten 415, 712, 718, 722 Wortgeographie 17, 292, 441, 592, 606, 683– 684, 693, 714, 716, 719, 758, 763, 868, 958 Wortkarte 683–684, 690, 693–694, 701–702, 710–711, 715–717, 719, 723, 737–738, 763 Wortschatz 4–5, 110, 159–161, 163–171, 175, 177, 180–182, 248, 268, 272, 306, 525, 554, 558, 569–570, 579, 595, 680, 684– 687, 694, 699–701, 710–711, 713, 715– 717, 725, 733, 737, 739–744, 757, 761, 767, 776–777, 867, 884, 940, 951, 969, 1049, 1052–1053, 1077, 1079, 1088, 1110, 1118, 1120, 1124, 1139, 1185, 1189 Wortstellung 160, 173, 177, 303, 436, 464– 465, 500, 562, 579, 636, 644, 915, 918, 922, 930, 969, 1127, 1139, 1195, 1205 WOS → Wörterbuch der obersächsischen Mundarten Wrede 10, 12–13, 185, 189–190, 196, 210, 436, 441, 456, 479, 517, 873, 901, 1040 WS → Wenkersatz WSU → Wortatlas der städtischen Umgangssprache
Z Zentralhessisch 126, 134, 136–137, 140–141, 146–147, 150, 199, 437–470, 479, 485, 488–489, 492, 504–505, 508–509, 522, 625, 627, 644, 647, 720, 874 Zentralholsteinisch 554, 556–557, 568–569 Zentralisierung 165, 376, 393, 418, 428, 485, 494, 538 Zielsprache 1025 Zimbrisch 618–619, 625–628, 1103–1106 Zweitsprache 941–943, 998, 1024–1025, 1050, 1101–1102, 1124 Zweitspracherwerb 937–940, 943–944