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German Pages 345 Year 2001
THOMAS SCHAFFER
Institutionen und Erkenntnis
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band88
Institutionen und Erkenntnis Eine Analyse im Lichte der Poppersehen Erkenntnisund Wissenschaftstheorie
Von Thomas Schaffer
Duncker & Humhlot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Schaffer, Thomas: Institutionen und Erkenntnis : eine Analyse im Lichte der Poppersehen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie I Thomas Schaffer. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Erfahrung und Denken ; Bd. 88) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10451-X
Alle Rechte vorbehalten
© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-10451-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Institutionen und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das institutionelle Defizit in den Wirtschaftswissenschaften . . . . . . . . . . II. Einige methodologische Überlegungen zur Bedeutung von Definitionen: die Essentialismus - Nominalismus Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der methodologische Essentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der methodologische Nominalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ein Vorschlag für die Definition des Institutionenbegriffs . . . . . . . . . . . . IV. Arten von Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Arten der Handlungsbeeinflussung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arten der Überwachung (Sanktionswirkung und Geltungsbereich von Institutionen): interne oder externe Institutionen? . . . . . . . . . . . . . 3. Arten des Entstehens: geplante oder ungeplante Institutionen? . . . . . V. Funktionale Abhängigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die ökonomische Wirkung von Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Individuelle Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unsicherheits- und Komplexitätsreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Flexibilitätserhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Informationsökonomische Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesellschaftliche Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Koordinationsleistungen auf der gesellschaftlichen Funktionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Koordinationsleistungen auf der Ordnungsebene . . . . . . . . . . . . . . . c) Institutionen als Fesseln der sozialen Entwicklung: die These der Institutionen-Technik-Dichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Methodologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wissenschaften und Theorien der wissenschaftlichen Methode . . . . . . . . 1. Der klassische Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der klassische Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die szientistische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der kritische Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff der wissenschaftlichen Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die deduktiv-nomologische Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Allgemeingültigkeit von Gesetzen ... . .... . ... ...... ...... b) Die Konditionalität von Gesetzen ..... .... ...... .. ....... ... .
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18 29 29 32 37 42 42 44 52 57 58 59 59 62 63 67 68 72 76
82 84 85 88 88 91 96 97 98 101 103
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Inhaltsverzeichnis 3. Ursache-Wirkungs-Erklärungen ............ . ................... 4. Probabilistische - statistische Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die deduktiv-statistische Erklärung .... ... .................... b) Die induktiv-statistische Erklärung .... ... .................... 5. Genetische Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Probleme der Prüfung und Bewährung wissenschaftlicher Theorien . . . I. Praktische Probleme .................... . .. ................... 2. Zurechnungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anfangs- und Randbedingungen . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . b) Allgemeingültigkeit der Gesetze .. ..... . ..................... 3. Das Festsetzungsproblem .. . .. . .. . . .. . . . .. . .. . . .. . .. .. . . . . .. . . . IV. Wissenschaftlicher Fortschritt und die Gefahr der Immunisierung ..... I. Das Problem der Entscheidung zwischen alternativen Theorien .... 2. Immunisierungsstrategien ................. ... ................. .
106 109 110 110 111 113 114 116 117 119 120 124 124 127
C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip . ...... ..... ... .. .. . . I. Methodologische Entwicklungen im Ökonomischen Programm . . . . . . . II. Ökonomik und der homo oeconomicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ökonomik und Ökonomie . . .. . .. . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . .. . . 2. Derhomo oeconomicus ................... . ................... a) Restriktionen als Beschreibungen des Handlungsspielraums ..... b) Die Annahme von konsistenten Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Annahme der Konstanz der Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigeninteresse und Eigenständigkeit ..... ... .................. e) Die Annahme der rationalen Handlung ... . ................... 3. Die Methode der Situationsanalyse ........ .. ................ . .. 4. Der methodologische Status des Rationalitätsprinzips ............. a) Das Rationalitätsprinzip als Definition ......... ..... . ......... b) Das Rationalitätsprinzip als präskriptives Prinzip ....... .. .... . c) Das Rationalitätsprinzip als methodische Regel oder metaphysisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Rationalitätsprinzip als empirische Vennutung . . . . . . . . . . . . . 5. Zur "Falschheit" des Rationalitätsprinzips .. .. ................... 6. Rationalität, Irrationalität und fehlerhafte Handlungen .............
131 131 139 139 141 143 144 148 150 151 153 155 156 157
D. Institutionen und rationales Handeln . .. . .. . .. . .. . . . . . .. . .. . . . . . .. . . . I. Homo oeconomicus versus homo sociologicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Modellbildung und Theorien . . .. . .. . .. . . . . . . .. . . . .. . .. . . . . . . . . . a) Der methodologische Charakter von Modellen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Modellbildung in den Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Modell des homo sociologicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Kritik am Modell des homo sociologicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die logische Beziehung zwischen den Modellen des homo oeconomicus und des homo sociologicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168 168 170 170 176 179 180
157 159 162 164
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Inhaltsverzeichnis II.
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Probleme der Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Institutionen und das Gefangenendilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2. Das Paradox der Nicht-Regel-Befolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
E. Altruismus, Moral und Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 I. II.
Die Berücksichtigung von Altruismus als moralische Disposition . . . . . Methodologische Aspekte zur Berücksichtigung von Moral und Altruismus ................................... . . . . ............... .... III. Theorien multipler Präferenzebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Moral und der homo sociologicus: Die Hypothese der Internalisierung . V. Altruismus, Psychologismus und die Verhaltensbiologie ... . .. .. . . .. . 1. Methodologische und logische Probleme des Psychologismus . . .... 2. Eine soziobialogische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
196
200 202 206 209 211 217
F. Die Emergenz und Bewährung von Institutionen: ein Ansatz zur Vermeidung des sog. infiniten Regresses im Lichte der evolutionären Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I.
Einige Bemerkungen zum infiniten Regreß und zur zirkulären Interdependenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Neuheiten und Neuigkeiten: einige methodologische und philosophische Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Humes anthropologische Theorie über den Ursprung von Rechtsordnung und Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ein Vorschlag für einen Ansatz im Lichte der evolutionären Erkenntnistheorie ... . . ... . . .... . .............. . .... . .......... . .. . ..... 1. Institutionen, der Alltagsverstand und das psychologische Induktionsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wissen und Anpassung: eine evolutionär-epistemologische Interpretation der Erwartungskomponente von Institutionen ........ .. ..... 3. Die Interdependenz von Institutionen und Rationalität ..... .. ..... V. Eine Institutionen-Theorie-Analogie: objektive Wahrscheinlichkeilen und das Glaubwürdigkeitsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Entstehen von Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewährung, Vernunft und das Vertrauen in Institutionen: das pragmatische Induktionsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Problem subjektiver Wahrscheinlichkeilen . . .. .. . . .. . ..... b) Eine objektive Interpretation der "Glaubwürdigkeit" von Institutionen: ein propensitätstheoretischer Ansatz ................... 3. Dogmatisches Denken und die Involution von Institutionen . .......
224 229 233 237 239 242 245 255 255 258 261 264 271
Anhang .... .. ................ . .. ............ ... .................... . .. 275 Literaturverzeichnis
280
Sachwortverzeichnis
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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Institutionenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Abbildung 2: Funktionale Institutionenabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Abbildung 3: Institutionelle Gesellschaftsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Abbildung 4: Das Entwicklungsschema der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abbildung 5: Das deduktiv-nomologische Erklärungsschema . . . . . . . . . . . . . . . 99 Abbildung 6: Die deduktiv-nomologische Darstellung der Situationsanalyse . . 161 Abbildung 7: Gefangenendilemma ....... . ...... ... . . ........... . .. ..... . 188 Abbildung 8: Entscheidungssituation und Informiertheit der Akteure ... . .. . .. 262 Tabelle 1:
Überwachungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Tabelle A 1:
InstitutionaUsmus und Neue Institutionenökonomik im Überblick ... ... ................. . .. . ...... .. ...... . . . ........ 276
Tabelle A 2:
Arten der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
Tabelle A 3:
Der Unterschied zwischen Erklärung, Prognose und Technologie .......... . ..................... .. ......... . .... ... ... 279
Abkürzungsverzeichnis a. a.O.
am angegebenen Ort
Aufl. A.v.V.
Auflage Anmerkung vom Verfasser
Bd.
Band
Bde.
Bände
bzw.
beziehungsweise
ders.
derselbe
d.h. d-n
das heißt deduktiv-nomologisch
ebd.
ebenda
Fn.
Fußnote
Hrsg.
Herausgeber
hrsg. i.e.S.
herausgegeben im eigentlichen Sinn
insbes.
insbesondere
Kap.
Kapitel
m.a.W.
mit anderen Worten
m.E. sog.
meines Erachtens sogenannt
usw.
und so weiter
vgl.
vergleiche
z.B.
zum Beispiel
Einleitung Sind Institutionen mit dem ökonomischen Handlungsmodell erklärbar? Diese Frage zieht sich wie ein roter Fragen durch die Geschichte der Volkswirtschaftslehre und scheint auch heute noch nicht eindeutig beantwortet zu sein. Natürlich sind Institutionen in der ökonomischen Theorie alles andere als eine unbekannte Größe. Schon in den ersten Werken von Adam Smith und Alan Ferguson, den Gründungsvätern der klassischen Nationalökonomie, spielten Institutionen eine wichtige Rolle. Nur wurde in der Volkswirtschaftslehre die theoretische Behandlung von Institutionen früh und dankend an die Soziologie abgegeben und im Zuge der Durchdringung der ökonomischen Theorie mit dem neoklassischen Gedankengut ihre Bedeutung systematisch vernachlässigt, ja zuweilen sogar verneint. Erst die zunehmende Kritik und Auseinandersetzung mit der formalisierten und zur Entscheidungslogik degenerierten Neoklassik führte dazu, sich wieder auf die Bedeutung von Institutionen für die Nationalökonomie zu besinnen. Zunächst begann der Amerikanische Institutionalismus und etwas später - entscheidend angestoßen durch Harold Coase - auch die "Mainstream-Ökonomik", sich wieder für die Rolle von Institutionen für das bessere Verständnis ökonomischer Zusammenhänge zu interessieren. Ein Blick auf jene Arbeiten und Ökonomen, die sich intensiv mit institutionentheoretischen Fragen beschäftigt haben, zeigt aber auch, daß die Arbeiten oft als Kritik und Ablehnung der von der "Mainstream-Ökonomik" verwendeten Methode, insbesondere des ökonomischen Handlungsmodells in Form des homo oeconomicus, konzipiert waren. Die Probleme für eine ökonomische Theorie von Institutionen lagen und liegen in den Augen der Kritiker vor allem in der angeblichen Unvereinbarkeit der Annahme rationalen Handeins mit der Erklärung der Verhaltensbindung durch Institutionen. Darüber hinaus lande man wegen der empirischen Interdependenz zwischen menschlichen Handlungen und Insitutionen in einem zirkulären (Erklärungs-) Schluß, der eine kausale Erklärung des Entstehens, des Wandels und der Wirkungsweise von Institutionen unmöglich mache. Natürlich war die Kritik am homo oeconomicus an sich nichts Neues, aber die Vehemenz, mit welcher dieses Modell im Bereich der theoretischen Analyse von Institutionen abgelehnt wird, fordert eine wissenschafts-
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Einleitung
theoretische Überprüfung heraus. Sollten nämlich die Kritiker Recht behalten, dann wäre es wirklich an der Zeit, das der Volkswirtschaftlehre zugrundeliegende Handlungsmodell - den homo oeconomicus - zu ersetzen. Ein genauer Blick hinter die Kulissen offenbart auf Seiten der Kritiker allerdings, daß im Laufe der methodologischen und inhaltlichen Auseinandersetzung um den zu verwendenden Erklärungsansatz viele fragwürdige erkenntnistheoretische Positionen Eingang in die Wirtschaftswissenschaften gefunden haben. Dies lag sicherlich auch daran, daß sich die Arbeiten, die im Widerspruch zum neoklassischen Paradigma standen und stehen, in ihrem philosophischen Hintergrund sehr stark unterscheiden. So sahen sich die amerikanischen Institutionalisten dem philosophischen Pragmatismus Deweys und Pierces verpflichtet, und Friedrich A. v. Hayek folgte der Philosophie Kar! R. Poppers, dessen Theorie des kritischen Rationalismus eine grundlegende Umwälzung und Neuerung für die Wissenschaftstheorie bedeutete. Trotz der zum Teil heftig geführten Debatte um die richtige Methode findet man auch heutzutage in den Wirtschaftswissenschaften noch immer keine einheitliche wissenschaftstheoretische Postition. Vielmehr muß man feststellen, daß sich die Kritiker und leider auch viele Verteidiger in ihren Auseinandersetzungen auf wissenschaftstheoretisch dünnem Eis bewegen - ja zuweilen muß man sich fragen, ob die Auseinandersetzungen überhaupt wissenschaftlich sind. Methodologische als auch erkenntnistheoretische Aspekte spielen nämlich bemerkenswerterweise selten eine Rolle. Und wenn doch, steht hinter der Auseinandersetzung allzu häufig eine erkenntnistheoretische Position, die heute als widerlegt und unwissenschaftlich gilt: nämlich das induktivistische Verständnis von Erkenntnis. Diese Sichtweise spiegelt sich letztlich in den Versuchen wieder, die Wirkung und die Entstehung von Institutionen über Wiederholungen zu erklären. Bedenkt man, daß diese erkenntnistheoretische Position bereits von Hume angegriffen worden war und endgültig von Popper widerlegt worden ist, legt dies den Schluß nahe, daß es in den Sozialwissenschaften bisher versäumt worden bzw. nicht gelungen ist, Institutionen unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten grundlegend zu analysieren. Dieses Versäumnis soll in der vorliegenden Arbeit nachgeholt werden. Auf Grundlage der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie Poppers, des sog. kritischen Rationalismus, werden methodologische und erkenntnistheoretische Mißverständnisse aus dem Weg geräumt. Dabei zeigt es sich, daß es falsch - ja schlichtweg unwissenschaftlich - ist, Institutionen mit induktivistischen Augen zu betrachten und daß sich viele Kritikpunkte in Luft auflösen, wenn man Institutionen deduktiv-nomologisch analysiert und so den erkenntnistheoretischen Kern einer jeden Institution wirklich versteht: dieser ist nämlich evolutionär-epistemologisch und nicht induktivistisch.
Einleitung
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Durch diese Erkenntnis und durch eine ausführliche Auseinandersetzung mit Wahrscheinlichkeiten wird in der vorliegenden Arbeit ein völlig neuer Erklärungsweg für Institutionen entwickelt: ein propensitätstheoretischer. Die hier angebotene Propensitätstheorie von Institutionen basiert auf dem Modell des homo oeconomicus, verwendet das Rationalitätsprinzip, beinhaltet eine objektive- eine propensitätstheoretische- Interpretation von Wahrscheinlickeit, ist damit deduktiv-nomologisch und entkräftet deshalb nachhaltig die Forderung, Institutionen durch ein anderes als durch das Modell des homo oeconomicus zu erklären. Die vorliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Die dogmenhistorische Rolle von Institutionen in der ökonomischen Theorie, die Auseinandersetzung mit einer aus wissenschaftstheoretischer Sicht überflüssigen methodologischen Frage über die richtige Definition des Institutionenbegriffs und die Darstellung der Wirkungsweise von Institutionen werden in Kapitel A behandelt. Um die beschriebenen Funktionen erkenntnistheoretisch zu erklären, ist es notwendig, zunächst die methodologischen Grundlagen für eine wissenschaftstheoretisch adäquate Analyse, d. h. auf die wissenschaftliche Methode des Erklärens, einzugehen (Kapitel B). Poppers kritischer Rationalismus zeigt, wie Erkenntnis erlangt und wie durch die kritische Diskussion einer Theorie wissenschaftlicher Fortschritt gesichert wird. Er dient als Grundlage für die anschließende Auseinandersetzung mit der am homo oeconomicus geführten Kritik (Kapitel C). Zweierlei wird dabei deutlich: erstens erhebliche Mißverständnisse über die grundsätzliche methodologische Funktion eines Modells und zweitens für den speziellen Fall des homo oeconomicus ein äußerst diffuses und zum Teil auch falsches Verständnis von dem zentralen Element des ökonomischen Handlungsmodells - nämlich von dem Rationalitätsprinzip. Durch eine methodologische Einordnung des Rationalitätsprinzips und durch die Verbindung des Rationalitätsprinzips mit der von Popper propagierten Methode der Situationsanalyse können Mißverständnisse um die Annahme des rationalen Handeins aufgeklärt werden. Dieses Verfahren bietet trotz aller (aber keineswegs überzeugender) Kritik die beste Grundlage für wissenschaftlichen Fortschritt in den Sozialwissenschaften. Erst diese Einsichten ermöglichen im anschließenden Kapitel D, methodologische Mißverständnisse um die Modellbildung in den Sozialwissenschaften im allgemeinen und um den homo oeconomicus im speziellen aufzudecken. Ein Vergleich mit dem Erklärungsmodell des homo socioligicus offenbart die logische Beziehung zwischen diesen beiden Handlungsmodellen und zeigt, daß das Modell des homo oeconomicus eine größere Erklärungstiefe besitzt und deshalb durchaus als Grundlage für die Erklärung
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Einleitung
von Institutionen beibehalten werden sollte. In diesem Kapitel wird aber auch eines der nachhaltigsten Erklärungsprobleme des Modells des homo oeconomicus im Zusammenhang mit menschlichen Handlungen und Institutionen offenbart: das sog. Paradox der Nicht-Regel-Befolgung, das auch Hobbessche Ordnungsproblem genannt wird. Auf dieses Problem wird im anschließenden Kapitel E ausführlich eingegangen. Dabei wird - wie es der kritische Rationalismus verlangt - ein Vergleich verschiedener Erklärungsansätze durchgeführt. Dieser zeigt, daß weder Theorien multipler Präferenzeben, noch der homo sociolgicus, der Psychologismus oder die Soziobiologie in der Lage sind, eine befriedigende Lösung für die obigen Probleme zu liefern. In Kapitel F wird deshalb mit Hilfe der evolutionären Erkenntnistheorie ein Erklärungsweg vorgestellt, welcher sämtliche Anforderungen an eine wissenschaftliche Erklärung erfüllt. Nach der Klärung einiger erkenntnistheoretisch fragwürdiger Positionen rund um das Problem des infiniten Regresses und um das Problem von Neuigkeiten werden zunächst die epistemologischen Elemente von Institutionen herausgearbeitet. Damit kann die wirkliche Ursache der angeblich grundlegenden Probleme, die bei der Erklärung von Institutionen entstehen, klar herausgearbeitet werden: diese ist die induktivistische Vorstellung von Erkenntnis, die sich in der Verwendung subjektiver Wahrscheinlichkeiten und in einem falschen Verständnis von der Interdependenz von Institutionen und Rationalität niederschlägt. In der vorliegenden Arbeit wird ein anderer Erklärungsweg eingeschlagen. Wahrscheinlichkeiten werden objektiv interpretiert, nämlich propensitätstheoretisch. Dieses propensitätstheoretische Verständnis stellt eine völlig neue Sichtweise von Institutionen dar, in welcher die Erwartungskomponente von Institutionen objektiv und situationslogisch interpretiert wird. Dadurch kann die Behauptung, sich an Institutionen zu halten sei irrational, widerlegt und die Probleme, die Glaubwürdigkeit und die Wirkungsweise von Institutionen zu erklären, gelöst werden. Die Bewährung von Institutio~ nen und das dadurch entstehende Vertrauen in Institutionen als vernünftig und rational erklären zu können, ist nur ein Ergebnis dieser Vorgehensweise. Sie ermöglicht vor allem eine widerspruchsfreie, deduktiv-nomologische und erkenntnistheoretisch "saubere" Erklärung von Institutionen. An dieser Stelle möchte ich all jenen Menschen danken, die mich bei der Vollendung dieser Arbeit unterstützt. Zwei Personen haben mir in einer einzigartigen Art und Weise zur Seite gestanden: Meine Eltern. Ihnen widme ich dieses Werk. Ohne ihre Unterstützung und ihren Rückhalt hätte ich meine Arbeit so sicherlich nicht fertigsteilen können. Als meine persönliche Lektorin wachte meine Mutter über mein Werk, und meinem Vater bin ich zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Er war es letztlich, der mir Popper
Einleitung
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nahelegte, mir bei der Verwendung der Poppersehen Lehre kritisch auf die Finger schaute und mir aus der einen und anderen Sackgasse half. Ein perfektes Umfeld für meine Forschungsarbeit fand ich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. M. Feldsieper an der Universität zu Köln. Meine Tätigkeit an seinem Lehrstuhl war sowohl abwechslungsreich als auch interessant. Auch für sein offenes Ohr und die fachlichen Auseinandersetzungen mit Ihm, die mir ein ums andere Mal neue Einblicke in meine Arbeit verschafften, möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Ein besonderer Dank gilt auch dem Korreferenten Prof. Dr. R. Anderegg. Zum perfekten Arbeitsklima am Lehrstuhl hat aber auch mein lieber Kollege Dr. Mare Prokap beigetragen. Die Zusammenarbeit mit ihm war eine wichtige, weil willkommene Abwechslung zu meiner Forschungstätigkeit Mit seinem positiven Denken hat er mich angetrieben und oft meine Sorgen vertrieben. Und bei den letzten - oft so nervenaufreibenden - Korrekturen wurde ich glücklicherweise von Tina Rosenbaum bestens unterstützt. Nicht vergessen möchte ich aber auch Isabel und meine engsten Freunde, die mich mit viel Geduld und Verständnis über einen langen Zeitraum begleitet haben.
2 Schaffer
A. Institutionen und Ökonomie I. Das institutionelle Defizit in den Wirtschaftswissenschaften "Furthennore they discover that there are great differences between soc1et1es; these cannot be understood in tenns of differences in biological structure. [... ] Therefore the divergences between them must be understood in tenns of the effect of social conditions." 1
In der sozialwissenschaftliehen Forschung ist im allgemeinen die Bedeutung von Institutionen inzwischen erkannt worden: Institutionen werden als elementare Einheiten von geordnetem sozialem Leben überhaupt und als notwendige Bestandteile einer Beschreibung von Gesellschaften aufgefaßt. 2 Der Institutionenbegriff dient dabei als Sammelbecken für die unterschiedlichsten Phänomene: z. B. für den Industriebetrieb, für die Familie, für den Staat, für die Acht-Uhr-Nachrichten, für die Gastfreundschaft, für das Parlament, für den Kaufvertrag, für das Oktoberfest. Es scheint kaum ein Phänomen zu geben, welches nicht unter den Begriff der Institution subsumiert werden kann. Aus dieser Bedeutungsvielfalt scheint der institutionentheoretischen Richtung in der Nationalökonomie ein besonderes Problem erwachsen zu sein. So stellte Commons, einer der Gründungsväter des amerikanischen Institutionalismus, bereits 1931 bezeichnenderweise fest: "The difficulty in defining a field for the so-called institutional economics is the uncertainty of meaning of an institution. " 3
Im Verlauf der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Institutionen scheint diese Schwierigkeit nicht behoben worden zu sein. Noch 1988 beklagte Neale das Versäumnis der Gründungsväter des Institutionalismus mit folgenden Worten: "The words institutions and institutional are central to institutional theory. [... ]. We have a tenn that we find important, but it Iacks clear meaning. Our founding fathers did not use the words regularly or in well-defined ways. " 4
1
2
3 4
Asch, S. E. (1987), S. 15. Vgl. Eisenstadt, S. N. (1968), S. 410, Schwödiauer, G. (1980), S. 156. Commons, J. R. (1931), S. 648. Neale, W. C. (1988), S. 227.
I. Das institutionelle Defizit in den Wirtschaftswissenschaften
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Worin könnte diese "Nachlässigkeit" begründet sein? Man könnte darauf verweisen, daß wir Institutionen, im Gegensatz zu dinglichen Phänomenen unserer Umwelt, mit unseren Sinnesorganen nicht als ein Objekt der Wirklichkeit wahrnehmen können. Deswegen drängt sich uns eine vergleichbare Frage, wie z. B. "Wie sollen wir eine junge Kuh nennen?", wenn wir ein Kalb sehen, bei Institutionen nicht auf. Offensichtlich ist es die Körperlosigkeit von Institutionen, die ihre Identifikation erschwert und dazu führt, daß dem Institutionenbegriff so viele unterschiedliche Phänomene zugeordnet werden. Eine Institution ist eben nicht ",something out there', like a cow or a Buddhist temple" 5 , sondern "a mental construct. Unlike the elements in such mental constructs as ,normal profit', the compone~ts of an institution may be observed, but an institution itself cannot be observed as a whole"6 . Als alleinige Begründung für die Verwirrung um den Institutionenbegriff scheint der obige Verweis auf das "Dinglichkeitsproblem" von Institutionen aber wenig überzeugend, denn schließlich findet man in der Ökonomie viele andere "nicht-dingliche" Begriffe oder Konstrukte, wie z.B. den "Profit", die recht eindeutig definiert sind und deren Verwendung wenig umstritten ist. Das scheinbar ungelöste Definitionsproblem läßt sich vielleicht eher auf eine Mißachtung institutionentheoretischer Fragestellungen in großen Teilen der "mainstream economics" zurückführen. "Die Ökonomie ist bei der Analyse einer Institution - des Preissystems - sehr erfolgreich gewesen, hat deshalb aber andere gesellschaftlich wichtige Institutionen vernachlässigt."7 Dieser Zustand ist von zwei Entwicklungen wesentlich beeinflußt worden: zum einen durch den Bedeutungszuwachs des neoklassischen Paradigmas, welches Institutionen ausdrücklich in den nicht zu untersuchenden ceterisparibus-Annahmebereich verbannte, 8 was zu einem "institutionellen Va5 Neale, W. C. (1988), S. 231. E. Ostrom (1986), S. 5, bezeichnet Regeln, die sie mit Institutionen gleichsetzt, als "potentially linguistic entities" und verweist dabei auf folgende Autoren: Ganz, J. S. (1971), Ostrom, E. (1980), Commons, J. R. (1957). 6 Neale, W. C. (1988), S. 234, Mark!, H. (1985), S. 66. Auch für Popper sind Institutionen Schöpfungen des menschlichen Geistes. Sie zählen deswegen zu der sog. Welt 3, welche alle objektiven Gedankeninhalte, also Produkte des menschlichen Geistes, wie wissenschaftliche Ideen oder dichterische Gedanken und Kunstwerke, enthält. Siehe Popper, K. R. (1994b), S. 75 f., S. 94 ff. und ders. (1973), S. 172 ff. Einen ausführlicheren Einblick in die pluralistische Philosophie Poppers, in welcher die Welt in drei ontologisch verschiedene Teilwelten aufgeteilt wird, gewinnt man bei Popper, K. R. (1973), S. 123 ff. und S. 172 ff., ders. (1994 b) S. 76 ff., S. 93 ff. und S. 102 ff., ders. (1984), S. 16 ff., ders. (1995a), S. 252 ff. und ders. (1997), S. 425 ff., S.434 ff. 7 Frey, B. S. (1990b), S. 159. 8 Die Vernachlässigung institutionentheoretischer Aspekte ist bei den Vertretern der sog. Österreichischen Schule in dieser Form nicht festzustellen. Field charakteri-
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kuum"9 der allgemeinen Gleichgewichtstheorie und großer Teile des wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmas führte, 10 zum anderen durch den Anspruch der Soziologie, daß die Institutionenanalyse ihr originäres Forschungsgebiet sei und die Konzentration auf die Institutionenanalyse ihre Eigenständigkeit als "Wissenschaft von Institutionen" begründe. 11 Die "Last", die Bildung und Veränderung von Institutionen zu analysieren, wurde von der Nationalökonomie deswegen "dankend" der Soziologie überlassen, was ihren Ruf als eine Wissenschaft mit einer prinzipiell anderen Problemstellung begründete. Aus Sicht der Nationalökonomie gewann die Soziologie den Status einer Residualwissenschaft, welche sich lediglich mit den übriggebliebenen Fragestellungen - wozu eben auch institutionenrelevante Probleme zählten- zu befassen habe. 12 Die Eigenständigkeit der Soziologie schlug sich auch in einer methodologischen Abgrenzung zur Nationalökonomie nieder: in ausdrücklicher Ablehnung der individualistisch-utilitaristischen Theorie der Nationalökonomie wurde der Kollektivismus methodologische Leitidee der Soziologie. Durkheim entwickelte auf dieser Grundlage einen kulturalistischen, system-funktionalistischen Ansatz, der die Soziologie lange beherrschen sollte. 13 Der kulturalistische Ansatz leugnet zwar nicht, daß Individuen die handelnden Einheiten sind, aber er behauptet, daß sich soziale Regelmäßigkeiten nicht auf der Ebene der Individuen erklären lassen. Gesellschaftliche Phänomene wie Normen bzw. Institutionen im allgemeinen würden vielmehr durch autonome Kräfte und Prinzipien generiert. 14 Treibende Prinzipien im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß sind kollektive Kräfte, die sich der Menschen lediglich als "Marionetten" bedienen und deshalb völlig unabhängig siert die Neoklassik durch vier exogene Größen, d. h. durch Größen, die als konstant angesehen werden und den Rahmen für die ökonomische Analyse bilden: Präferenzen, Technik, Ausstattungen und Regeln. Vgl. Field, A. J. (1981), S. 195. Begründet wurde dieses Vorgehen mit der Zielsetzung, nur ökonomische Faktoren untersuchen zu wollen, außerökonomische Faktoren mußten deshalb als Einflußfaktoren ausgeschlossen werden. Eine Kritik an diesem Vorgehen findet man z. B. bei Myrdal, G. (1958), S. 231 f. 9 Albert, H. (1978), S. 81. 10 Vgl. Albert, H. (1967b), S. 403 und ders. (1984), S. 59. 11 Vgl. Durkheim, E. (1961), S. 100. "Tatsächlich kann man, ohne den Sinn dieses Ausdrucks zu entstellen, alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen Institutionen nennen; die Soziologie kann also definiert werden als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart." Ebenso äußerte sich T. Parsons (1964), S. 61 f. 12 Vgl. Albert, H. (1967b), S. 403 und zur Kritik an dieser Autonomie S. 470 f. 13 Vgl. insbesondere Durkheim, E. (1961), S. 100, Parsons, T. (1964), S. 61 f. Bezüglich weiterer Übersichtsarbeiten siehe Homans, G. C. (1972a) und (1972b), Vanberg, V. (1975), Elias, N. (1969), Etzioni, A. (1964), Lenk, K. (1983). 14 Vgl. Durkheim, E. (1961).
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von individuellen Entscheidungen sind. 15 Dementsprechend forme die Gesellschaft die Individuen und deren Werte und nicht umgekehrt. Im Zentrum der Analyse müsse demnach die Gesellschaft als Einheit stehen. 16 Interessanterweise findet man unter Soziologen selbst heute noch die Ansicht, daß mit der Analyse von Institutionen das ökonomische Terrain verlassen und in soziologische Forschungsgebiete eingedrungen würde. 17 Daß die Soziologie ihren Autonomieanspruch durchsetzen konnte und daß die Nationalökonomie an institutionellen Fragestellungen wenig interessiert war, überrascht um so mehr, wenn man berücksichtigt, daß Adam Smith, der als Begründer der Nationalökonomie gilt, schon mit seinem Jahrhundertwerk "An Inquiry into the Wealth of Nations" (1776) und in seinem nicht weniger bedeutenden Werk "The Theory of Moral Sentiments" (1759) zwei stark institutionentheoretisch orientierte Werke verfaßt hatte. 18 Die beiden fundamentalen Ideen seiner Werke, nämlich die Idee des Selbstinteresses und die der natürlichen Freiheit korrespondieren mit den zentralen inhaltlichen Annahmen seines theoretischen Systems: zum einen mit der psychologischen Hypothese über das Verhalten der Mitglieder der Gesellschaft und zum anderen mit der soziologischen Hypothese über diejenigen institutionellen Vorkehrungen, welche die besten Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Produktivkräfte einer Gesellschaft bieten. 19 In seiner Analyse vergleicht er die Auswirkungen verschiedener sozialer Systeme - also Systeme, die sich durch institutionell verschieden geprägte Rahmenbedingungen unterscheiden - auf die Lebenssituation der beteiligten Individuen. Sein Gesamtwerk kann deshalb wohl als die erste Arbeit im Rahmen einer vergleichenden Institutionenanalyse ("comparative institutional economics") bezeichnet werden. 20
15 Institutionen sind in diesem Sinne als kollektive Handlungseinheiten zu verstehen. Durkheim zählt zu ihnen alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgelegte Verhaltensweisen. Vgl. ebd., (1965), S. 215. 16 Vgl. Bohnen, A. (1975), S. 6. 17 Vgl. Soskize, D./R. H. Bates/D. Epstein (1992), S. 547. 18 Siehe Smith, A. (l759a), ders. (1759b), ders. (l776a), ders. (l776b). Vgl. hierzu insbesondere Elsner, W. (1986), Sobel, I. (1979). 19 Vgl. Albert, H. (1977), S. 182 und Seligman R. A. (1919), S. VII ff. 20 Vgl. insbesondere Rutledge, V. (1956), S. 19 f., und passim. Smith stellt fest, daß die Leistungsmerkmale alternativer sozialer Systeme durch verschiedene Rechtsordnungen wesentlich geprägt werden. Durch die Berücksichtigung der Auswirkung von Rechtsordnungen läßt sich Smiths Werk auch zur Theorie der Gesetzgebung oder zur Lehre von der rationalen Politik zählen, wie Steward, D. (1973), S. 484 feststellt: "[... ] he has unquestionable had the merit of presenting to the world, the most comprehensive and perfect work that has yet appeared, on the general principles of any branch of legislation." Ebenso urteilt Albert H. (1977), S. 182.
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Daß Institutionen Gegenstand des wirtschaftstheoretischen Interesses sind, ist also nicht, wie man vorschnell urteilen könnte, eine neuere Entwicklung. Es trifft wohl eher zu, von einer Renaissance der Institutionenanalyse zu sprechen, in deren Folge Begriff und Theorie der Institutionen nach Jahren zumeist ideologisch motivierter Vernachlässigung wieder in den Wirtschaftswissenschaften "salonfähig" geworden sind. 21 Inzwischen ist die Liste der Nobelpreisträger, die sich mit institutionentheoretischen Fragen beschäftigten bzw. noch beschäftigen, lang (Friedrich A. v. Hayek, Gunnar Myrdal, James Buchanan, Ronald H. Coase), und die Verleihung des Nobelpreises an Robert Fogel und Douglass C. North im Jahre 1993 ist der letzte Beweis für die wachsende Anerkennung der Bedeutung institutionentheoretischer Fragestellungen für die Nationalökonomie. Wiederbelebt wurde das Interesse für institutionentheoretische Zusammenhänge im Prinzip Ende des letzten Jahrhunderts, insbesondere durch die Begründer des amerikanischen oder auch Alten Institutionalismus22. Wesentlich für den Alten Institutionalismus war seine kritische Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der vorherrschenden Neoklassik. Wegen der zahlreichen Unzulänglichkeiten der neoklassischen Theorie forderten die Vertreter des Alten Institutionalismus eine institutionelle und auch evolutionäre Neuausrichtung der ökonomischen Theorie. Sie verstanden ihr neues Forschungsprogramm weniger als einen Versuch, die vorherrschende Neoklassik zu verbessern, als vielmehr eine neue, eigenständige wissenschaftliche Alternative zur Neoklassik zu begründen?3 Der amerikanische Institutionalismus litt aber vor allem an der Vielfalt der Auffassungen über Institutionen und deren Bedeutung und der Vielfaltigkeit der wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen (siehe dazu Tabelle A im Anhang). 24 Das 21 Bereits 1971 (!) hatte einer der Grandseigneure der institutionellen Ökonomie, der Nobelpreisträger Gunnar Myrdal, vorausgesagt, daß der institutionelle Ansatz in zehn bis fünfzehn Jahren eine Renaissance erleben würde. Vgl. Myrdal, G. (1976). 22 Die Titulierung des amerikanischen Institutionalismus mit Altem Institutionalismus findet sich bei Richter, R. (1990), S. 573, Schenk, K. E. ( 1992), S. 350, Reuter, N. (1994b), S. 8. Die Bezeichnung "institutional economics" wurde 1919 erstmalig von Rarnilton für die Arbeiten Veblens verwendet. Siehe Hamilton, W. H. (1919), S. 309. Nach Langlois zählen zum Alten Institutionalismus Veblen, Commons, Mitchell und Ayres. Vgl. Langlois, R. N. (1986a), S. 2. Gelegentlich werden auch die schottischen Moralphilosophen und der Begründer der Österreichischen Schule, Carl Menger, den Alten lnstitutionalisten zugerechnet. Vgl. Albert, H. (1977), S. 199 f. Zur besseren Abgrenzung wird diese Sichtweise im folgenden nicht verwendet. 23 Vgl. Veblen, T. B. (1898), (1899) und (1909), Commons J. R. (1934) und (1935), Ayres C. E. (1944). Übersichtsarbeiten bzw. Sammelbände sind Stadler, M. (1983), Rutherford, M. (1994), Reuter, N. (1994a), Palitzsch, A. (1995), Delius, K. (1957), Schmalz-Bruns, R. (1989), Hamilton, D. (1970), Adams, J. (1980b), Tool, M. R. (1988), Hodgson, G. M. (1993b).
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einigende Band einer langen Kette programmatischer Arbeiten war die Erkenntnis, daß für die Analyse komplexer Phänomene auch "nichtökonomische" Konzepte und Theoreme heranzuziehen sind (z. B. Macht, Tradition, Ethik, Kultur). Der amerikanische Institutionalismus hätte als Kontrastprogramm für die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften durchaus von Wert sein können, aber es gelang ihm nicht, einen der Neoklassik vergleichbaren anerkannten und ausgearbeiteten theoretischen Beitrag zu erbringen. Das hatte die Betonung historisch-beschreibender Methodik (hier kam die Nähe zur deutschen historischen Schule Schmollers zum Tragen, welche einige der amerikanischen Institutionalisten als ihre geistige Heimat ansahen)25 und eines gewissen Eklektizismus zur Folge, worauf die Gilde der "mainstream"-Ökonomen mit der von Ronald H. Coase in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebrachten Kritik reagierte: .,Die amerikanischen Institutionalisten waren nicht theoretisch, sondern anti-theoretisch [... ). Ohne Theorie hatten sie nichts anderes zu übermitteln als eine Menge deskriptiven Materials, das auf eine Theorie oder auf den Ofen wartete."26
Diese selbst umstrittene Kritik27 vernachlässigt aber, daß ausschlaggebender für den Bedeutungsschwund des amerikanischen Institutionalisrnus wohl eher die gravierenden wissenschaftstheoretischen Umwälzungen in den Sozialwissenschaften zwischen 1910 und 1940 und der Aufstieg der mathematischen Methode der Neoklassik gewesen sein dürften. Behavioristische Psychologie und philosophischer Positivismus ersetzten die Instinkt-Psychologie Veblens und den Pragmatismus Deweys, auf welchem der Alte lnstitutionalismus aufgebaut war.28 Die intensive Verwendung mathematischer Formeln machte die Neoklassik sowohl für die Analyse durch Theoretiker als auch für die pragmatische Verwendung durch Wirtschaftspolitiker attraktiv. Der Institutionalismus wurde dagegen als technisch-mathematisch weniger eindeutig eingeschätzt. Zudem rief seine wirtschaftspolitische Zielsetzung viele politische wie wissenschaftliche Gegner auf den Plan, was vor 24 .,lnstitutionalism has thus suffered from the behavior of both its friends and its enemies in permitting a use of the term so loose as to embrace all revolts against Ricardian, Austrian, Marshallian, or Clarkian economics." Bums, E. M. (1931), s. 82. 25 Vgl. Stadler, M. (1983), Reuter, N. (l994a), S. 61 ff., Hutchison, T. W. (1984), S. 21 f., Schumpeter, J. A. (1926), S. 355, Gruchy, A. G. (1972), S. 19. 26 Coase, R. H. (1984), S. 230. Vgl. ähnlich Hodgson, G. M. (1988), S. 20, Feldmann, H. (1995), S. 27 ff., Stadler, M. (1983), S. 278. 27 Vgl. Hodgson, G. M. (1998), S. 167. Weitere Zurückweisungen der obigen Kritik finden sich bei Mirowski, P. (1988), Reuter, N. (1994a), S. 100 ff. 28 Vgl. zur wissenschaftstheoretischen Methodik Wilber, C. K./R. S. Harrison (1983) und dies. (1978), Stadler, M. (1983), S. 278 ff., Dugger, W. M. (1979), Miller, E. S. (1978), Rotwein, E. (1979), Reuter, N. (1994a), S. 99 ff., Bush, P. D. (1993), s. 59 ff.
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allem an der sozialpolitischen Ausrichtung lag, die auf einer massiven Kapitalismuskritik basierte. 29 Veblen und zum Teil auch Mitchell beurteilten die Institution des Privateigentums überwiegend negativ, weil erst das Privateigentum die Grundlage für gesellschaftliche Klassenbildung in eine produktive und unproduktive Klasse schaffen würde. 30 Wohlfahrtsökonomisch leide die Gesellschaft unter dieser Entwicklung, weil durch den Wunsch, ihren Reichtum zu demonstrieren, die Klasse der Industriellen und Vermögenden Ressourcen unproduktiv verschwenden würde? 1 So deckten die amerikanischen Institutionalisten neben den Schwächen der Neoklassik auch die Schwächen eines Marktsystems auf. Sie unterließen es aber, theoretisch ausgearbeitete Vorschläge für alternative institutionelle Regelungen anzubieten. Mitchells Forderung z. B., daß eine staatliche Planungsbehörde in die wirtschaftliche Entwicklung korrigierend einzugreifen hätte, blieb in Ermangelung eines theoretischen Gerüsts zur Erklärung ihres Funktionierens nichts anderes als eine ad hoc erfundene wirtschaftspolitische Maßnahme. 32 Es verwundert deswegen kaum, daß dieses Verfahren als das einer "Kritik ohne Alternativanalyse "33 bezeichnet wurde. Der amerikanische Institutionalismus konnte sich daher, abgesehen von einer kurzen Blüte zur Zeit des amerikanischen New Deals, als in den USA eine wirtschaftspolitische Ausrichtung gefragt war, die in vielen Punkten völlig konträr zur vorherrschenden neoklassisch und klassisch geprägten Wirtschaftspolitik war, langfristig nicht gegen das neoklassische Paradigma durchsetzen. Dies gelang erst dem später aufkommenden Keynesianismus, der nämlich eine theoretische Alternative zur Neoklassik formulierte und Vorschläge für institutionelle Änderungen auf Basis dieser theoretischen Überlegungen anbieten konnte (weswegen man auch von der Keynesschen Revolution spricht). Alles in allem führte diese Entwicklung schließlich dazu, daß der amerikanische Institutionalismus ein Schattendasein fristete, was ihm sogar zu dem vielsagenden Titel einer "Underground Economics"34 verhalf. 35 29 Vgl. zu dieser Einschätzung Hodgson, G. M. (1998), S. 167 und für eine detaillierte Analyse der Kapitalismuskritik Reuter, N. (1994a). 30 Vgl. insbes. Veblen, T. B. (1899) und ders. (1904). 31 Dieses Verhalten hat Veblen deshalb als "demonstrative Verschwendung" ("conspicuous waste") bzw. als "demonstrativen Konsum" ("conspicuous consumption") bezeichnet, siehe Veblen, T. B. (1904), S. 64 f. und S. 108-113 und Mitchell, w. c. (1967), s. 790. 32 Vgl. Mitchell, W. C. (1935), S. 101 f. Allerdings betonte er, daß die Entscheidung der Planungsbehörde nur das Ergebnis demokratischer Prozesse sein dürfte, weswegen man auch von "demokratischer Wirtschaftsplanung" spricht. Siehe ders. (1950), s. 187. 33 So beurteilt von Albert, H. (1977), S. 197. 34 Vgl. Dugger, W. M. (1992). 35 Zur Beziehung des Alten lnstitutionalismus zum Keynesianismus siehe Reuter, N. (1994a).
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Den Siegeszug des neoklassischen Paradigmas konnte der amerikanische InstitutionaUsmus also nicht autbalten, auch wenn die Entwicklung des neoklassischen Programms von der ständigen Kritik aus der Feder heterodoxer Theoretiker begleitet wurde. 36 In der neoklassischen Theorie ging man zum Teil soweit, das Wirtschaftsleben in ein institutionelles Vakuumzu verbannen?7 Entscheidungslogische und mathematische Formalismen sollten und sollen (nach wie vor) wirtschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen erklären. 38 Als Vorbild des neoklassischen Programms kann sicherlich die Walrasianische Analyse bezeichnet werden, die z. B. bei Hicks selbst 60 Jahre später Grundlage seiner nationalökonomischen Untersuchungen war: "[... ] I consider the pure logical analysis of capitalism to be a task in itself, while the survey of economic institutions is best carried on by other methods, such as those of the economic historian (even when the institutions are contemporary institutions)."39 Von folgenden fiktiven Annahmen ging bzw. geht man in der Neoklassik aus: 40 (a) vollständig, perfekt spezifizierte Eigentumsrechte, so daß eigentumsrechtliche Konflikte ausgeschlossen sind; (b) kostenloses und effizientes Rechtssystem; (c) nach Maßgabe von Produktionsfunktionen und Einsatzmengen determinierte Entscheidungsprozesse, so daß Entscheidungen innerhalb des Unternehmens in einer "black box"41 ablaufen und nicht analysiert werden; (d) Kostenlosigkeit von Trans36 Zu diesen zählte insbesondere Alfred Marshall, welcher mit der analytischen Enge der Neoklassik unzufrieden war und immer wieder die Bedeutung institutioneller Faktoren für die wirtschaftliche Entwicklung betonte. Siehe dazu Marshall, A. (1890), S. 24 f. und S. 645. Für die Preisbildung waren seiner Meinung nach auchzwar nur vorübergehend - traditionelle Verhaltensregeln mitbestimmend, ebd. S. 512 f., S. 530 ff., S. 604 f. Zudem richtete er sein Augenmerk auf die Fragen der betrieblichen Organisation, die von ihm als eigenständiger Produktionsfaktor betrachtet wurde, ebd. S. 115 und S. 200 ff. Die institutionellen Einflüsse wurden von Marshall aber leider nie systematisch in seine Theorie eingebaut, wodurch er in den wesentlichen Punkten ein Anhänger des neoklassischen Paradigmas blieb. Siehe dazu Feldmann, H. (1995), S. 13. 37 In Walras ,,reiner" Ökonomie sind Institutionen, er verwendet synonym den Begriff Person-Person-Beziehungen, als Gegenstand der Untersuchung ausgeschlossen. Vgl. Walras, L. (1926), S. 58-80. Außerdem abstrahierte er von jeglichen Informationsproblemen, so daß er mittels ldealisierungen einen Gleichgewichtsmechanismus fingieren konnte, der seinem Erklärungsanspruch der Nomologisierung der Gleichgewichtsidee gerecht wurde. Siehe dazu Albert, H. (1977), S. 187 und zur Kritik z.B. Shackle, G. L. S. (1972), S. 148 ff. 38 Entsprechend wurde diese Entwicklung von Albert, H. (1967 a) als Modell-Platonismus bezeichnet. 39 Hicks, J. R. (1939), S. 6 f. Allerdings berücksichtigt Hicks im Gegensatz zu Walras explizit das Informationsproblem und die Tatsache, daß die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte prinzipiell unterschiedlich sein können. Siehe Hicks, J. R. (1939), s. 256. 40 Siehe auch Albert, H. (1977), S. 191 ff., Elsner, W. (1987), S. 7 f., Richter, R. (1991), s. 398 ff.
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aktionen und (e) perfekte Rationalität der Wirtschaftssubjekte, d. h. daß die Handelnden vollkommen informiert sind und Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung betreiben. Die Folgen dieser Entwicklung waren, "die Ökonomik auf eine reine Entscheidungslogik zu reduzieren, die nicht auf die Erklärung gewisser Phänomene des sozialen Geschehens abzielt, sondern auf Lösungen für Probleme des rationalen Verhaltens."42 Erst die Wiederentdeckung des bedeutungsvollen Artikels "The Nature of the Firm" von R. H. Coase aus dem Jahre 1937 ließ das Interesse an der Bedeutung von Institutionen für die Analyse wirtschaftswissenschaftlicher Zusammenhänge auch unter den "mainstream-Ökonomen" nachhaltig wiedererwachen.43 Die sich daraus entwickelnde "Neue Institutionenökonomie"44 besitzt allerdings heute so viele Teilbereiche und Forschungsgebiete, daß man statt von einer institutionenökonomischen Ergänzung der Neoklassik eher von einem neuen Paradigma45 sprechen kann. Die Vertreter der Neuen Institutionenökonomie gehen sogar soweit, ihren institutionenökonomischen Ansatz im Vergleich zur Neoklassik als die umfassendere ökonomische Theorie zu beschreiben. "Perhaps one can say that, properly understood, institutional economics is simply general economic theory as it should exist. " 46 Entsprechend fordern sie, daß die Neue Institutionenökonomie die Neoklassik in ihrer Stellung als bisher allgemein anerkannte, grundlegende Theorie in der Ökonomie ablösen sollte.47 Es bleibt zu vermerken, daß die Neue Institutionenökonomik sich vom älteren Institutionalismus wesentlich unterscheidet. Die namentliche Nähe zum Alten Institutionalismus ist eher verwirrend, weil die Neue Institutionenökonomie weniger Ideen des Alten Institutionalismus als vielmehr diejenigen ihrer Gegner, insbesondere die der Neoklassik, vertritt.48 Die fundamentale Kritik des Alten Institutionalismus an der Neoklassik ist ihr nicht eigen, vielmehr baut die Neue Institutionenökonomie auf den wesentlichen Annahmen der Neoklassik auf. 49 41 Eine kritische Auseinandersetzung mit der Idee von "black-box"-Theorien findet man bei Bunge, M. (1964), Kapitel 16. Als Beispiel einer solchen Theorie wird dort die Stimulus-Response-Theorie der Psychologie genannt, siehe S. 234. 42 Albert, H. (1964), S. 11. 43 Vgl. Coase, R. H. (1937). 44 Dieser Begriff geht auf Williamson, 0. E. (1975), S. 1 zurück. 45 Siehe zum Begriff des "Paradigma" und der Bedeutung neuer Paradigmen für die Wissenschaft Kuhn, T. S. (1967). Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Konzeption findet sich bei Lakatos, I./A. Musgrave (1970). 46 Furubotn, E. G. (1990), S. 229. 47 Siehe dazu z. B. ebd. 48 Langlois, R. N. (1986a), S. 2. Weitere Arbeiten zum Vergleich des Alten Institutionalismus mit der Neuen Institutionenökonomie sind von Rutherford, M. (1994), Hodgson, G. M. (1993b), Reuter, N. (1994a) und (1994b), SeifertE. K./B. P. Priddat (1995), Feldmann, H. (1995), Hutchison, T. W. (1984).
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Dazu zählen insbesondere das der Neoklassik zugrundeliegende ökonomische Verhaltensmodell: Rationalität, Konstanz der Präferenzen und Werte, so daß Menschen auf systematische und deshalb voraussagbare Weise auf Änderungen von relativen Kosten bzw. Preisen reagieren. Die nicht verstummende Kritik an der Neoklassik hatte dennoch zur Folge, daß nicht nur die Neue Institutionenökonomie Anhänger gewinnen konnte, sondern auch die Erkenntnisse des Alten Institutionalismus wiederbelebt wurden. 50 Die Berücksichtigung von Institutionen in der Nationalökonomie bedeutet eigentlich nichts anderes als eine Erweiterung der ökonomischen Theorie um steuerungsrelevante Aspekte verschiedener Sozialordnungen. Dieser .,institutionalistischen Revolution in der reinen Ökonomie"51 verdankt das .,ökonomische Erkenntnisprogramm" seine Entwicklung zu einer umfassenden Theorie der Sozialwissenschaft, m. a. W. zu einem soziologischen Ansatz. 52 Die Nationalökonomie kommt der von Ludwig v. Mises vor langer Zeit vertretenen Auffassung, daß sie nur der bisher am weitesten entwickelte Teil einer theoretischen Soziologie individualistischen Charakters sei, immer näher. 53 Es wird sogar behauptet, daß es sich bei der Nationalökonomik um das einzige detaillierte und ausgearbeitete Theoriegebäude innerhalb der Sozialwissenschaften handelt, welches sich mit den exakten Naturwissenschaften vergleichen ließe. Insofern sei es wohl gerechtfertigt, von einem ,.Paradigma" im Kuhnschen Sinne zu sprechen.54 Begleitet wurde die institutionentheoretische Ausrichtung im ökonomischen Erkenntnisprogramm von der Entwicklung einer individualistischen Soziologie, die die Abhängigkeit von Sozialphänomenen und damit die Abhängigkeit von Institutionen von den individuellen Handlungen der GesellWallis, J. J. (1989), S. 98. Siehe dazu insbesondere Reuter, N. (1994a), Samuels, W. J. (1988), Tool, M. R. (1979) und ders. (1988), Hodgson, G. M. (1993b), Stadler, M. (1983). Im Journal of Economic /ssues haben die Anhänger des Alten Institutionalismus ein Sprachrohr gefunden, mit welchem sie seit Jahren versuchen, die amerikanische Tradition ökonomischer Institutionenforschung aufzufrischen. Das angeblich grundlegende Manko des amerikanischen Institutionalismus - die fehlende theoretische Perspektive - vermochten in den Augen ihrer Kritiker aber auch die jüngeren Forschungsarbeiten nicht zu beheben. 51 Albert, H. (1977), S. 203. 52 Vgl. Albert, H. (1978), S. 81. 53 Vgl. Mises, L. v. (1933), S. 3 f., S. 64 f. und passim, Albert, H. (1977), S. 201 f. und passim. 54 Vgl. Albert, H. (1973), S. 134 und ders. (1977) passim. Zum "Paradigma" siehe Kuhn, T. S. (1967) passim. Schumpeter bietet eine hervorragende Darstellung der Beständigkeit und der Autonomie des ökonomischen Denkens, die mit einer geschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Analyse verknüpft wird. Vgl. Schumpeter, J. A. (1965). 49
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A. Institutionen und Ökonomie
Schaftsmitglieder betont. 55 Die Konzeption eines austausch- und verhaltenstheoretischen Ansatzes in der Soziologie, die ausdrücklich mit dem Einbezug psychologischer Hypothesen in soziologische Erklärungszusammenhänge arbeitet, ist wesentlich vom Konzept des methodologischen Individualismus der Wirtschaftswissenschaften beeinflußt. Die Entwicklungen in der Soziologie und in der Nationalökonomie führten im letzten Jahrzehnt deshalb zu einer teilweisen Synthese der Soziologie und Ökonomie. Sie wurde insbesondere von den Vertretern der Nationalökonomie vorangetrieben, die das ökonomische Verhaltensmodell auf soziologische Fragestellungen anwendeten. 56 Diese Versuche der Ökonomen wurden oft als "Economic Imperialism"57 bezeichnet, was wohl die von Soziologen geäußerte Kritik an der Einstellung einiger Ökonomen widerspiegeln dürfte, daß sich die Vereinigung der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaften selbstverständlich unter der Federführung des ökonomischen Denkansatzes zu vollziehen habe. 58 Erstaunlicherweise konnte trotz der voranschreitenden Integration zweier Paradigmen das "Definitonsproblem" für den Institutionenbegriff nicht gelöst werden, was 64 (!) Jahre nach Commons' Feststellung Nelson 1995 ernüchternd registriert: "[ ...] part of the problern [...] also stems from an overly broad and vague concept of the variable in question - institutions - which is defined so as to cover an extraordinary diverse set of things."59
Angesichts der Vielfalt an Definitionen und der nicht anhaltenden Kritik scheint es notwendig zu sein, zunächst eine Terminologie für Institutionen zu entwickeln, die für die spätere Analyse der Veränderung und Emergenz 55 Vgl. z. B. Coleman, J. S. (1990), Lindenberg, S. (1983), Opp, K.-D. (1983). Weitere Übersichtsarbeiten sind Opp, K.-D. (1977), ders. (1979c) und ders. (1989), Raub, W./T. Voss (1981), dies. (1986), Vanberg, V. (1975) und ders. (1982), Swedberg, R. (1985). 56 Siehe dazu Becker, G. S. (1982), Kirchgässner, G. (1980), Kunz, V. (1996), Ramb, B.-T./M. Tietzel (1994), Leibenstein, H. (1976), Opp, K.-D. (1979a) und ders. (1985), Radnitzki, G./P. Bemholz (1987), Schäfer, H.-B./K. Wehrt (1989). 57 Der Ausdruck wird K. E. Boulding zugesprochen, siehe Engelhardt, G. (1989), s. 20. 58 Unter den Ökonomen vertreten z.B. Stigler, G. I. (1984), Hirshleifer, J. (1985) Brunner, K. (1987), Becker, G. S. (1982) und Stigler, G. J./G. S. Becker (1977) diese Ansicht. Den umgekehrten Weg beschreiten dagegen Swedberg, R. (1985) und Swedberg, R./U. Himmelstrand/G. Brulin (1985). Eine Kritik der Konzeption von Becker und Stigler/Becker findet sich bei Meyer, W. (1979). 59 Nelson, R. (1995), S. 83. So auch Ostrom, E. (1986), S. 4: "The multiplicity of uses for a key term like "institutions" signals a problern in the general conception held by scholars [...]." Siehe zu diesem Befund auch Ostrom, E. (1986), S. 4: "No scientific field can advance far if the participants do not share a common understanding of key terms in their field."
Il. Essentialismus - Nominalismus Kontroverse
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von Institutionen als Basis dienen kann. Bevor man sich aber auf die "Suche" nach einer Definition für den Institutionenbegriff begibt, sollte man sich darüber klar werden, was Definitionen eigentlich sind, um schwerwiegende methodologische Fehler zu vermeiden. 60
II. Einige methodologische Überlegungen zur Bedeutung von Definitionen: die Essentialismus-Nominalismus Kontroverse Es wäre voreilig, aus der Vielfalt der existierenden Definitionen von Institutionen auf ein spezielles und für die Theoriebildung in der institutionentheoretischen Richtung der Ökonomik zentrales Problem zu schließen. Es ist vielmehr ein der Wissenschaft im ganzen immanentes Problem, daß mit einer Vielzahl von Begriffen - sogenannten Universalien61 - gearbeitet wird, deren Bedeutung nur vage durch den Gebrauch im Kontext von Theorien oder von Laborversuchen - wie gerade in den Naturwissenschaften festgelegt ist. Diese Unbestimmtheit von Definitionen hat bei Wissenschaftlern und Philosophen Verunsicherung und auch Unzufriedenheit hervorgerufen und zu einer intensiven metaphysischen und methodologischen Auseinandersetzung über die Bedeutung von Definitionen geführt. Das "Problem der Natur der Begriffe" wird auch als das "Universalienproblem" bezeichnet. Seine Wurzeln liegen schon in den philosophischen Systemen von Platon und Aristoteles. 62 Die intensiven Auseinandersetzungen mit den Vorstellungen Platons bzw. Aristoteles' lassen sich wohl am besten mit dem Gegensatz zwischen dem methodologischen Essentialismus und dem methodolgischen Nominalismus beschreiben. 63 Weil für die institutionentheoretische Wirtschaftswissenschaft die Frage der Definitionen von besonderer Bedeutung sein soll, wollen wir als nächstes auf diese Problematik eingehen. 1. Der methodologische Essentialismus
Der methodologische Essentialismus64, der seine Wurzeln in den philosophischen Systemen Platons (427-347 v. Chr.) hat und von seinem Schüler 60 Eine Definition setzt sich zusammen aus dem zu definierenden Ausdruck, dem Definiendum und der Beschreibung des Definiendums, der Definitionsformel oder dem Definiens. Vgl. Duden (1997). 61 Vgl. zu Universalien und Individualien Popper, K. R. (1934), S. 35 ff. 62 Vgl. Popper, K. R. (1965), S. 21 f. 63 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Popper, K. R. (1957), S. 15 ff. und Anmerkungen, ders. (1957), S. 40 ff. und Anmerkungen sowie Albert, H. (1964), S. 20 ff. 64 Siehe dazu auch Popper, K. R. (1994a), S. 151 ff., wo Popper sich auf die Galileische Philosophie der Wissenschaft bezieht und ders. (1957), S. 39 ff., ders. (1958), S. 6 ff. und S. 15 ff., ders. (1965), S. 21 ff.
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A. Institutionen und Ökonomie
Aristoteles (384-322 v. Chr.) begründet wurde, besagt, daß verschiedene Dinge bestimmte gleiche Wesenseigenschaften haben (wie z. B. die "Weißheit" von weißfarbenen Dingen) und daß diese Eigenschaften durch Universalien, also durch Begriffe, bezeichnet werden können. Die Wesensheiten wiederum können als eigenständiges Objekt betrachtet werden und verdienen deshalb eine eigene Erforschung. Nach dieser Vorstellung existiert z. B. die "Weißheit" an sich wirklich. Die Wesensheiten der Dinge sind aber nur selten offensichtlich, häufig sind sie für den Forscher verborgen. Ziel der Wissenschaft muß deshalb die Entdeckung und Beschreibung der verborgenen Wesensheiten der Dinge sein. Gelingt es, die Wesensheiten der Dinge zu entdecken, legt man zugleich die wahre Natur der Dinge offen. 65 Die Wesensheiten der Dinge, auch ihre Essenzen genannt, werden mit Definitionen beschrieben. Definitionen sind also nach diesem Verständnis nichts anderes als die Beschreibung wahrer Wesensheiten der Dinge. 66 Die Essenzen der Dinge müssen von der Wissenschaft gesammelt und zu einer Enzyklopädie zusammengetragen werden. So trägt die Wissenschaft zur Ansammlung von Wissen bei. Wann endet aber die Suche nach den Wahrheiten, mit anderen Worten, wann enthält unser Wissen die gesuchten Wahrheiten, wann können wir beweisen, die Wahrheiten gefunden zu haben? Die Essentialisten sind sich des logischen Charakters von Beweisen durchaus bewußt: ein Beweis ist nur ein deduktives Argument, d. h. eine Ableitung aus Prämissen. 67 Unter der Voraussetzung, daß die Prämissen wahr sind, kann ein Beweis nur feststellen, daß die Konklusion (m. a. W. die Ableitung oder Schlußfolgerungen aus den Prämissen) wahr ist, dagegen kann er nicht über die Wahrheit der Prämissen bestimmen. Die Wahrheit der Prämissen zu beweisen hieße, sie selbst als Konklusionen aus anderen Prämissen abzuleiten. Nun wäre wiederum die Wahrheit dieser anderen Prämissen zu beweisen und so fort.
65 "Wir haben Kenntnis von einem Dinge, wenn wir sein Wesen kennen." Aristoteles (1991), 996b 20. 66 Vgl. Anstoteies (1953), 3, 91a 1: "Die Definition[ . .. ] enthüllt die wesentliche Natur" und "Die Definition [... ] ist eine Erklärung der Natur des Dinges", ders. (1953), 3, 93b 29. Anstoteies (1919), 5, 101b 36, VII, 3, 153a 15: ,,Eine Definition ist ein Satz, der das Wesen eines Dinges beschreibt." Vgl. auch Popper, K. R. (1957), S. 39. Aristoteles unterscheidet genaugenommen vier Eigenschaften des Definierens: erstens eine Nominaldefinition, die aber unvollständig ist, weil sie nichts begründet und deswegen nicht von großer Bedeutung ist, zweitens eine begründende Definition, drittens eine Art Schlußsatz eines Beweises und viertens die Definition des Unvermittelten, die sich nicht mehr beweisen oder ableiten läßt und die den durch Intuition gewonnenen Grundprämissen entspricht. Vgl. Anstoteies (1990), 93 b 29 f. und insbesondere 94a 9. 67 Vgl. zu dieser Einschätzung Popper, K. R. (1958), S. 16.
II. Essentialismus - Nominalismus Kontroverse
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Offensichtlich endet dieser Versuch in einem unendlichen Regreß. 68 Um das zu verhindern, behaupten die Essentialisten, daß Prämissen existieren, deren Wahrheit wir nicht anzweifeln können.69 Alles Wissen über die wahren Wesensheiten der Dinge ist dann in diesen Grundprämissen endgültig und mit Sicherheit enthalten, weswegen die Grundprämissen zugleich Definitionen sind.70 Mit der Entdeckung dieser Grundprämissen endet zugleich die Suche nach den Essenzen der Dinge. Auf die Frage, wie die Grundprämissen überhaupt als solche erkannt werden können, berufen sich die Essentialisten auf die menschliche, intellektuelle Intuition. 71 Durch die sinnliche Erfahrung alleine kann das verborgene wahre Wesen der Dinge nämlich nicht erkannt werden. Für die Suche nach einer Definition von Institutionen würde die Lehre des Essentialismus bedeuten, daß es eine wahre, einzig richtige Definition geben würde, die wir mit Hilfe unserer intellektuellen Intuition zu entdekken hätten. Es liegt auf der Hand, daß dieser Versuch in einem unendlichen Unterfangen enden würde. Denn woher sollte man wissen, ob die Intuition des einen Wissenschaftlers eine bessere als die eines anderen Wissenschaftlers ist? Schließlich könnte jeder für sich in Anspruch nehmen, die einzig richtige Definition gefunden zu haben. "Die Berufung auf Intuition (und ähnliche Verfahren) ist immer möglich, sagt aber nicht mehr, als daß der betreffende Wissenschaftler einen Einfall gehabt hat, der sich dann als brauchbar oder unbrauchbar erweisen kann." 72 Offensichtlich gelangt man hier an einen toten Punkt, weil nur eine oberste Instanz ein Urteil über sich widersprechende Intuitionen und Definitionen fällen könnte. Der Essentialismus kann das Problem sich widersprechender Definitionen also nicht lösen. "Damit ist die aristotelische Behauptung, daß die intellektuelle Intuition eine irrtumsfreie und unzweifelhaft wahre Quelle von Wissen ist (im 68 Vgl. Anstoteies (1953), 3, 90b, 18-27. "Daß man aber unmöglich schlechthin im Zirkel beweisen kann, ist klar [. ..]. Denn dasselbe kann unmöglich zugleich früher oder später sein als dasselbe[ ... ]", Anstoteies (1990), 72b 26. 69 "[ ••. ] aus Prämissen entspringen, die wahr sind, die ersten und unvermittelt sind und bekannter und früher sind als der Schlußsatz und Ursache von ihm." Aristoteles (1990), 71 b 22. Eine Wissenschaft, die auf Beweisen beruht, d. h. auf wissenschaftlichen Konklusionen, deren Prämissen wahr sind, nennt Aristoteles apodeiktisch. Vgl. Anstoteies (1990), 71 b 19, S. 3. 70 "Die Grundprämissen von Beweisen sind Definitionen." Anstoteies (1953), 3, 90b 23 und "Die Definition des Unvermittelten aber ist eine Behauptung des Was ist es, die keinen Beweis leidet." Anstoteies (1990), 94a 9. 71 "Ob aber etwas ist, wissen wir bald nur per accidens [... ]." Anstoteies (1990), 93 a 23. Hier folgt laut Popper Anstoteies Platon, der lehrte, daß durch eine unfehlbare intellektuelle Intuition die Ideen erfaßt werden können. Siehe dazu Popper, K. R. (1958), S. 17. Siehe zu einer Kritik an der philosophischen Schule des "Intuitionismus" Popper, K. R. (1958), S. 483 ff. 72 Albert, H. (1967b), S. 286.
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A. Institutionen und Ökonomie
Gegensatz zur Meinung) und daß sie uns mit Definitionen versorgt, den sicheren notwendigen Grundprämissen jeder wissenschaftlichen Deduktion, in jedem einzelnen ihrer Punkte als haltlos erwiesen."73
2. Der methodologische Nominalismus "[ ...] müssen wir ,Was ist Fragen' aufgeben: Fragen, die danach fragen, was ein Ding ist, was seine wesentliche Eigenschaft oder Beschaffenheit ist. [ .. .] Diese animistische Anschauung erklärt nichts;"74
Warum ist diese Einsicht in den methodologischen Essentialismus so bedeutend? Sie entlarvt die Vorstellung von der Sicherheit und der absoluten Begründung und damit Rechtfertigung unseres Wissens als eine Illusion. Zugleich weist dieser methodische Ansatz eine autoritär-dogmatische Struktur auf, denn, um den infiniten Regreß zu vermeiden, müssen gewisse als fundamental angesehene Gegebenheiten von einer Autorität dogmatisiert werden, was nichts anderes bedeutet, als sie gegen jegliche Kritik zu "immunisieren"75. Warum die Idee der Erreichbarkeif und Entscheidbarkeif scheitern muß, zeigt zusammenfassend das sog. ,,Münchhausen-Trilemma"76: Der Versuch der Letzt-Begründung77 führt zu drei Alternativen: 1. Einem infiniten Regreß, weil jede Erkenntnis immer weiter begründet werden muß, was aber praktisch nicht durchführbar ist; 2. Einem logischen Zirkel in der Deduktion, weil im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgegriffen wird, die sich zuvor selbst als begründungsbedürftig gezeigt haben; 3. Einem Abbruch des Verfahrens an einem Punkt, was zwar prinzipiell durchführbar ist, aber zu einem willkürlichen Ende des Verfahrens führt. Da aber sowohl Punkt 1 als auch Punkt 2 inakzeptabel sind, bleibt nur der Abbruch des Verfahrens übrig. Zur Begründung dieses Schrittes beruft man sich auf Selbstevidenz, Selbstbegründung oder Fundieren in unmittelbarer Erkenntnis (Intuition, Erlebnis oder Erfahrung). Damit deklariert man einen "archimedischen Punkt der Erkenntnis"78, der keiner Popper, K. R. (1958), S. 345 f. Popper, K. R. (1973), S. 218. 1s Albert, H. (1967b), S. 220. 76 Albert, H. (1968), S. 15. 77 In der Logik hat diese Idee in dem von Leibniz sogenannten Satz vom zureichenden Grund in Form eines Axioms der Logik seinen Niederschlag gefunden. Vgl. Leibniz, G. (1714), § 31 und § 32 bzw. S. 19. Zum Glück findet man dieses Axiom in den modernen Lehrbüchern der Logik nicht mehr. Im übrigen zeigt sich bei Leibniz die Konfundierung von Tatsachen- und Aussagenebene und von Begründungs- und Entstehungszusammenhang, die an späterer Stelle in dieser Arbeit kritisch betrachtet wird. Siehe dazu S. 88 und S. 122 f. 73
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II. Essentialismus - Nominalismus Kontroverse
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Begründung mehr bedarf. Ein solcher Punkt ist nichts anderes als ein Dogma. Das Prinzip der .,zureichenden Begründung" endet also m einem Rekurs auf ein Dogma, im Dogmatismus! Der Essentialismus steht deswegen auch in schärfstem Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Wissenschaftstheorie, insbesondere des kritischen Rationalismus. 79 Dieser lehnt gerade das (Letzt-) Begründungsdenken ab, weil es keinen hinreichenden Grund zu der Annahme gibt, daß man die Wahrheit endgültig erkannt hat. Weder die Vernunft noch die Beobachtung des Menschen seien letzte irrtums- und vorurteilsfreie Autoritäten. Folgerichtig kann man sich nie sicher sein, ob die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung wahr sind. 80 Wissenschaftliche Erkenntnis ist kein Wissen im Sinne von Platon und Aristoteles, das Endgültigkeit einschließt, sondern Information über verschiedene rivalisierende Hypothesen. Wissenschaftliche Hypothesen sind Theorien, die sich empirisch überprüfen lassen. Weil man nie Endgültigkeit erwarten darf, können Theorien auch nicht endgültig verifiziert werden, wenn überhaupt, wären sie vorläufig nicht widerlegt, bis sie durch weitere Beobachtungen falsifiziert sind und durch neue Theorien ersetzt werden. Die neuen Theorien können sich gegenüber anderen als überlegen zeigen, wenn sie dort zu befriedigenden Voraussagen führen, wo alte Theorien versagt haben. Das Ziel der Wissenschaft ist deswegen nicht die Suche nach der absoluten Wahrheit, sondern die Annäherung an die Wahrheit, indem alte Theorien verworfen und durch neue, sich besser bewährende Hypothesen ersetzt werden. Nicht die enzyklopädische Anhäufung von Wissen über Definitionen, wie es Platon und Aristoteles vorschwebte, sondern die revolutionäre Erneuerung durch kühne Ideen und Theorien ist die moderne wissenschaftliche Methode. 81 Albert, H. (1968), S. 16. Nach Popper müßte eine systematische Kritik der essentialistischen Methode folgende drei ungelöste und unvermeidbare Probleme des Essentialismus lösen: (a) das Unterscheidungsproblem zwischen einer bloßen verbalen Konvention und einer wahrheitsenthaltenden Definition; (b) das Unterscheidungsproblem zwischen wahren und falschen Definitionen und (c) das Vermeidungsproblem eines unendlichen Regresses. Vgl. dazu Popper, K. R. (1958), S. 343 f. Siehe auch Albert, H. (1956), S. 257 und Weisser, G. (1956), S. 978 ff. 80 Die sichere Grundlage des endgültigen Wissens ist für die Vertreter der klassischen Methodologie Maßstab und zugleich Grundvoraussetzung für jede Art von Kritik, denn nur durch Feststellung der Übereinstimmung bzw. Abweichung von dieser sicheren Grundlage ließe sich eine Position überhaupt kritisieren. Erst Popper ist die Trennung des Kritizismus von der Idee der positiven Begründung gelungen, weil sein Prinzip der kritischen Prüfung ohne den Rekurs auf eine Autorität und ohne die Annahme einer Wahrheitsgarantie auskommt. Siehe dazu Popper, K. R. (1934) und Bartley, W. W. (1962a), Albert, H. (1968). 78
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3 Schaffer
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A. Institutionen und Ökonomie
Deswegen spielen auch Definitionen in der modernen Wissenschaft eine ganz andere Rolle, als es sich die Essentialisten vorstellten. Weil wir endgültiges und sicheres Wissen nicht erlangen können, enthalten Definitionen keine Wahrheiten. Sie können nicht wahr oder falsch sein. 82 "With a definition there is no question of verifiability or falsibility." 83 Dieser nominalistischen Interpretation zufolge enthalten Definitionen kein Wissen, nicht einmal eine Meinung, sie erfüllen lediglich die Funktion von abkürzenden Etiketten; eine lange Geschichte wird auf abgekürzte Weise dargestellt. 84 Deshalb bleibt die wissenschaftliche Erkenntnis - im Sinne der modernen Wissenschaftstheorie - völlig unberührt davon, ob Definitionen eingeführt oder eliminiert werden. 85 In der Praxis sind Definitionen selbstverständlich von größtem Nutzen, weil sie unsere wissenschaftliche Sprache verkürzen. Deswegen besteht auch ein dringendes praktisches Bedürfnis nach Einführung von Definitionen. Die Vorstellung, daß durch Definitionen Zweideutigkeit ausgeschaltet wird, weil uns der Sinn der Begriffe klargemacht und unsere Sprache genauer wird, ist aber eine Illusion: "Klarheit ist ein intellektueller Wert an sich; Genauigkeit und Präzision aber nicht. Absolute Präzision ist unerreichbar und es ist zwecklos genauer zu sein, als es unsere Problemsituation verlangt. Die Idee, daß wir unsere Begriffe definieren müssen, um sie ,präziser' zu machen oder gar um ihnen einen Sinn zu geben, ist ein Irrlicht. Denn jede Definition muß undefinierte Begriffe verwenden; und so können wir es nicht vermeiden, letzten Endes mit undefinierten Begriffen zu arbeiten. "86 81 Als einer der Hauptvertreter der modernen wissenschaftlichen Methode gilt Popper. In seinem Werk ,,Logik der Forschung" vertrat er bereits 1934 diese Vorstellung des kritischen Rationalismus, Popper, K. R. (1934), aber auch z. B. ders. (1995b), S. 15 ff. Für Kant dagegen war- zu der damaligen Zeit wohl unvermeidlich - Newtons Physik wahr und zugleich der Beweis für die Existenz einer "reinen Naturwissenschaft", die synthetisch und gleichzeitig a priori gültig sei. Einstein konnte aber mit der Relativitätstheorie zeigen, daß Newtons Physik möglicherweise falsch ist. Auch die als "wirklich wahr" angesehenen naturwissenschaftlichen Theorien besitzen einen grundsätzlich hypothetischen Charakter. Siehe Popper (1934), insbes. S. XXIV, Albert, H. (1967b), S. 284 ff. Man denke z.B. an die jahrhundertelang gültige und als "wahr" angesehene Theorie, daß die Erde eine Scheibe sei!! 82 Vgl. Opp, K.-D. (1983), S. 2 und ausführlich Opp, K.-D. (1995), S. 104 ff. 83 Hutchison, T. W. (1938), S. 651. Definitionen sind eben keine empirischen Aussagen. Nur diese können nach der Konzeption der modernen Wissenschaftslogik falsifiziert werden, d. h. an der Wirklichkeit scheitern. 84 Vgl. Popper K. R. (1958), S. 21. Begonnen wird mit der Definitionsformel, dem Definiens und nicht mit dem Definiendum. So ist z. B. die Definition "Ein Kalb ist eine junge Kuh" nicht die Antwort auf die Frage .. Was ist eine junge Kuh?" sondern auf die Frage "Wie sollen wir eine junge Kuh nennen?". Eine Definition wird entsprechend der nominalistischen Interpretation also von rechts nach links gelesen. 85 Vgl. ebd., S. 21.
li. Essentialismus - Nominalismus Kontroverse
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Selbstverständlich ist die Frage nach dem "Wesen" von Dingen und Zusammenhängen nicht an sich verwerflich. Wegen ihres Realitätsbezuges werden essentialistische "Wesensaussagen" aber irrtümlich als empirisch gehaltvoll angesehen. De facto handelt es sich aber um definitorische Festsetzungen und deren logische Implikationen. 87 Insofern sind Aussagen auf Grundlage von essentialistischen "Wesensaussagen" denknotwendig, analytisch und ohne empirisch informativen Gehalt. 88 Wissenschaftliche Forschung wäre in diesem Fall nicht hypothesenorientiert, sondern begriffsorientiert. Die Betonung, daß vieles vom Sinn des Institutionenbegriffs abhängt, verhindert deswegen den Blick auf die für die Wissenschaft eigentlich wesentliche Suche nach allgemeingültigen, überprüfbaren Hypothesen, also nach informativen Aussagen nomologischen Charakters. 89 Treffend schreibt Musgrave über die Begriffsproblematik: "Es scheint wenig Zweifel darüber zu bestehen, daß der beste Weg, einen Ausdruck wie ,Elektron' zu verstehen, oder seine Bedeutung zu erfassen, der ist, eine Theorie über Elektronen zu studieren."90
86 Popper, K. R. (1984), S. 63. Politiker, die dazu gezwungen würden, von ihnen benutzte Begriffe zu definieren, um Mißverständnisse zu vermeiden, könnten z. B. den Begriff "Demokratie" als "Herrschaft des Volkes" definieren und damit zunächst jeden Vorwurf der Zweideutigkeit zurückweisen. Aber besitzt der Wähler dadurch eine bessere Einsicht in die Absichten des Politikers? Auch der Sozialismus spricht schließlich von der "Herrschaft des Volkes"!!! 87 Das erkennt z. B. auch Rose in seinem Aufsatz über den Erkenntniswert der Wachstumstheorie. Siehe Rose, K. (1956), passim. Solche Aussagen der "reinen" Theorie wurden von Hutebison treffend beschrieben als "propositions [.. .] which, however valuable for an examination of the facts of economic life, the terminological precisions, clarifications, and proposals they may contain, are completely devoid of empirical content as to causal determination, and are concerned not with wages, employment, and interest at all, but with , wages', ,employment', and ,interest' ." Hutchison, T. W. (1938), S. 57. 88 Vgl. Albert, H. (1967 b), S. 291. Die Grundprämissen enthalten ja schon alles wahre Wissen! 89 Vgl. zur Kritik an einer begriffsorientierten Erklärung auch Hempel, C. G. ( 1977), S. 178 ff., Albert, H. (1967 b), S. 291. Die Wichtigkeit von Begriffsbedeutungen für die Entwicklung der wissenschaftlichen Theorien schlägt sich (angeblich) in der sog. Inkommensurabilitätsthese nieder, wonach aufeinanderfolgende Theorien nicht vergleichbar sind, wenn sich die Bedeutung der vorkommenden Begriffe gewandelt habe. Vgl. Kuhn, T. S. (1967), bes. Kap. X, Feyerabend, P. K. (1962), S. 80. Eine Zurückweisung dieser These findet sich bei Musgrave, A. ( 1979), S. 40 ff. Schon Myrdal stellte fest, daß Begriffe wie "Wirtschaft" usw. für die Nationalökonomie ohne Bedeutung sind. Begriffsbestimmungen stehen meist in keinem Zusammenhang zu den Problemen dieser Wissenschaft. Siehe Myrdal, G. (1932), S. 148 f. und dazu auch Albert, H. (1964), S. 12 sowie Hutchison, T. W. (1964). 90 Musgrave, A. (1979), S. 51.
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A. Institutionen und Ökonomie
Eine Wissenschaft, die sich recht wenig Gedanken um den Sinn ihrer Begriffe macht und dennoch eine große Präzision erreicht hat, ist die Physik. Sie versucht nicht aus den Begriffen Wissen abzuleiten, sondern kümmert sich um die Tatsachen und um die Frage der Wahrheit einer Theorie. Nicht nur in der Physik, sondern in den Naturwissenschaften als ganzes hat dieser methodologische Nominalismus heutzutage allgemeine Akzeptanz gefunden. Es wird nicht angenommen, daß Fragen wie "Was ist ein Atom?" oder "Was ist Energie?" von Bedeutung sind. Das Interesse gilt der Erklärung des Verhaltens eines Dinges (im Essentialismus ist es dagegen die Suche nach der wahren Natur der Dinge) und der Suche nach Regelmiißigkeiten sowie dem Versuch, diese Regelmäßigkeiten mit universellen Gesetzen zu beschreiben. 91 In den Sozialwissenschaften konnte der methodologische Nominalismus dagegen jene Durchsetzungskraft nicht beweisen.92 Die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit des Institutionenbegriffs und das daraus angeblich resultierende Problem für die Theoriebildung, sind offenkundige Belege dafür, daß Probleme der Sozialwissenschaften noch allzu häufig mit essentialistischen Methoden behandelt werden. 93 Von der Definition des Institutionenbegriffs hängt für die wissenschaftliche Erkenntnis letztlich wenig ab. Die Kritik Nelsons (vgl. S. 28 in dieser Arbeit) und anderer Wissenschaftler kann deshalb aus wissenschaftstheoretischer Sicht mit folgenden Worten Alberts zurückgewiesen werden: "Unter einer brauchbaren Wissenschaftslogik verstehen wir eine solche, die an die Stelle der alten Begriffsorientierung die Prohirnorientierung setzt, die die Akzentuierung von Definitionen zugunsten der Betonung von Hypothesen und Theorien fallen läßt, die vom konservativen Gebrauch methodologischer Überlegungen zur Dogmatisierung traditioneller Denkformen, Verfahrensweisen und Perspektiven zu ihrem kritischen Gebrauch übergeht und an die Stelle des statischen Gesichtspunktes einer Rechtfertigung des Bestehenden den dynamischen einer Förderung der Entwicklung durch kritische Diskussion setzt."94
91 Vgl. zur Theorie der Kausalerklärung Popper, K. R. (1934), III. Kapitel, S. 31 ff. und zu Naturgesetzen ebd., Kapitel *X neuer Anhang, S. 374 ff. 92 Vgl. Popper, K. R. (1965), S. 23 und ders. (1957), S. 41 und Anrn. 30, Albert, H. (1967 b), S. 281 f. und 290 f. 93 Popper verweist auf K. Polanyi als Verfechter der essentialistischen Methode und in gewissem Ausmaß auf Mill, J. St. (1868), Kapitel VI, S. 2 und Kap. X. 94 Albert, H. (1964), S. 14. (Hervorhebungen im Original).
III. Vorschlag für die Definition des Institutionenbegriffs
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111. Ein Vorschlag für die Definition des Institutionenbegriffs Im Prinzip könnte dieser Arbeit deshalb einfach eine weitere Institutionendefinition mit dem Etikett .,Institution 1999" oder .,Institutionz" vorangestellt werden. Um aber die Verwirrung um den Institutionenbegriff nicht noch zu vergrößern, sollte man versuchen, die wesentlichen Gemeinsamkeiten vieler schon bestehender Definitionen in einer neuen Definition zu vereinen. Das heißt aber nicht, daß damit der essentialistischen Methode gefolgt werden soll, sondern nur, daß auch in der modernen Wissenschaft aus Gründen der Zweckmäßigkeit die Möglichkeit besteht, Ausdrücke, für die zunächst mehr intuitive Begriffe verwendet worden sind, durch Definitionen zu ersetzen. Damit die Definition mit der ursprünglichen Intuition korrespondiert, müssen die mit den Definitionen gebildeten Sätze den Sätzen entsprechen, in denen die undefinierten Ausdrücke vorkamen. 95 Diese .,Vorschrift" ist als Verbot der unkontrollierten Verwendungsweise von Universalien zu verstehen, insbesondere solcher, deren Verwendung durch den Sprachgebrauch festgelegt wird. 96 Im Vordergrund steht also die Zweckmäßigkeit einer Definition, die sich daran bewerten läßt, inwieweit sie bei der Auftindung von Schwächen und Widersprüchen in den bisherigen Theorien und bei der Zurückverfolgung von Hypothesen auf ihre Grundannahmen hilfreich ist. Für die Suche nach einer Definition von Institutionen soll im folgenden die Vielzahl der existierenden Definitionen nach Gemeinsamkeiten untersucht werden und eine Definition angeboten werden, die der Vielzahl der Phänomene einigermaßen gerecht wird. Auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeiten wird anschließend eine Systematisierung und eine Art Kategorisierung der dem Institutionenbegriff zugeschriebenen Phänomene entwikkelt. Von Commons wird eine Institution sehr weit gefaßt, nämlich als .,[... ] Collective Action in Control of Individual Action. Collective action ranges all the way from unorganized Custom to the many organized Going Concerns, such as the family, the corporation, [... ] the trade union, the Federal Reserve System, [... ] the state [... ]."97 Auch Hamittons Aussage, daß eine 95 Diese Form kann als "rekursive" Bestimmung bezeichnet werden. Vgl. Popper, K. R. (1958), S. 343. Auch Popper selbst verwendet diese Vorgehensweise bei seiner Definition von Institutionen. Siehe dazu Popper, K. R. (1965), S. 52. Des weiteren Opp, K.-D. (1983), S. 2 ff. 96 Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 52. Die unkontrollierte Verwendung bestimmter Universalien hat in den Wirtschaftswissenschaften zu einiger Verwirrung geführt, bzw. beeinträchtigt auch noch heute gerade die Auseinandersetzungen um die evolutorische Ökonomik. Siehe dazu auch ebd., Fn. 163, in Kap. A.IV., S. 55.
A. Institutionen und Ökonomie
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Institution "connotes a way of thought or action of some prevalence or permanence, which is embedded in the habits of a group or the customs of a people [... ]"98 , verdeutlicht, welch breites Spektrum vom Institutionenbegriff abgedeckt sein kann. Ähnlich urteilt Mitchell: "[ ... ] a convenient term or the more important among the widely prevalent, highly standardized social habits."99 Für North sind Institutionen "[... ] the humanly devised constraints that structure political economic and social interaction." 100 Aus dieser kurzen Auflistung wird deutlich, daß Institutionen häufig zwei unterschiedlichen Typen zugeordnet werden können: 101
1. Institutionen als korporative Gebilde Institutionen sind in diesem Sinne organisierte soziale Zusammenschlüsse und werden deswegen auch als "Organisationen" bezeichnet. 102 Institutionen dieses Typs bestehen aus einem System von Regeln und Vorschriften, welchem sich die Mitglieder mit ihrem Beitritt unterwerfen. Zu solchen Institutionen zählen z. B. Unternehmen, Verbände, der Staat und dergleichen.
Commons, J. R. (1934), S. 72. Hamilton, W. H. (1932), S. 84. 99 Mitchell, W. C. (1924), S. 373. 1oo North, D. C. (1991), S. 97. 101 Vgl. auch Vanberg, V. (1982), S. 32, Vanberg, V. (1983), S. 56, Etzioni, A. (1964), S. 13, Parsons, T. (1975), S. 97, Feldmann, H. (1995), S. 9 f., Frey, B. S. (1990b), S. 160, Hayek, F. A. v. (1980), S. 45 ff. 102 Vgl. Frey, B. S. (1990a), S. 2 f. und Frey, B. S. (1990b), S. 160. Eine ähnliche Unterscheidung findet sich auch bei Rutherford, M. (1994), S. 182, welcher einerseits von "general social rules" spricht und diese mit dem Begriff "institutional environment" gleichsetzt und andererseits "particular organizational forms" als "institutional arrangements" bezeichnet. Organisationen treten auch nach Rutherfords Verständnis als (kollektive) Akteure auf und unterliegen selbst sozialen Regeln. North dagegen zählt Organisationen nicht zu den eigentlichen Institutionen: ..A crucial distinction in this study is made between institutions and organizations. [...] Conceptually, what must be clearly differentiated are the rules from the players [... ]." North, D. C. (1990), S. 4 f. Um die begriffliche Verwirrung perfekt zu machen, verwenden North und Davis in Anlehnung an Buchanan und Tullock die Begriffe "institutional environment" und "institutional arrangements" wiederum anders als Rutherford: "institutional environments" umfassen die rechtlichen Grundregeln ("legal ground rules"), welche den fortlaufenden politischen und ökonomischen Prozeß beschränken, wohingegen die "institutional arrangements" nutzbare Mechanismen für das Handeln innerhalb der rechtlichen Grundregeln zur Verfügung stellen. Vgl. Davis, L. E./D. C. North (1971). Hayek schließlich grenzt Organisationen als "gemachte Ordnung" von einer gewachsenen "spontanen Ordnung" ab, die sich selbst erzeugt. Siehe Hayek, F. A. v. (1980), S. 59. 97 98
III. Vorschlag für die Definition des Institutionenbegriffs
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2. Institutionen als Normen oder Regeln und sozial-normative Verhaltensmuster jeder Art. Institutionen stellen demzufolge ein Regelwerk für zwischenmenschliches Handeln dar. Zum einen sind dies Verhaltensregeln, wie Gesetze, Normen, Traditionen, zum anderen im weitesten Sinne alle Entscheidungssysteme, wie die Demokratie, der Markt, Verhandlungssysteme und Hierarchien. 103 In der Alltagssprache werden Normen für gewöhnlich mit Regeln der Moral, der Sitte und des Rechts gleichgesetzt. Auch für eine Vielzahl von Soziologen sind Normen Standards, Regeln oder Vorschriften. 104 Ebenso findet sich in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur häufig die Ansicht, daß Institutionen sinnvoll als Regeln aufgefaßt werden können. 105 Leipold interpretiert Institutionen als "[.. .] sozial anerkannte Regeln für angemessenes Verhalten der Individuen in sich wiederholenden Entscheidungssituationen"106 und an anderer Stelle: "Institutionen [sind] ein System von wechselseitig respektierten und sozial sanktionierbaren Regeln oder Restriktionen des Verhaltens." 107. Für North sind "Institutions [... ] the rules of the garne in a society [... ]." 108 Der Unterschied zwischen Organisationen und Verhaltensmustern liegt zum einen nach Dietl im Sanktionspotential: bei Organisationen sind Sanktionen auf Nichtbeachtung von Regeln auf deren Mitglieder, d. h. einzelne Personen oder Personenrnehrheiten, beschränkt, wohingegen Verhaltensmuster oder normative Regeln für alle Gesellschaftsmitglieder gelten (z. B. in Bezug auf das Privateigenturn). 109 Nach Kornai besitzen Organisationen zum anderen ein anderes "Aktivitätspotential". Weil Organisationen von Menschen geführt werden, besitzen Organisationen ein gewisses Eigenleben und können bei den Organisationsmitgliedern organisationspezifische Interessen wecken, die sich in Konflikten bezüglich der Einkommens-, Eigentums- und Machtverteilung innerhalb der Organisation äußern können. Zugleich existiert ein gerneinsames Motiv der Organisationsrnitglieder, die Organisation arn Leben zu erhalten, was zu innerorganisatorischer Kornprornißbereitschaft, Vertretung der Ziele der Organisation nach außen und zu einem Schutzpotential gegenüber Veränderungen der 103 Einige Autoren grenzen Entscheidungssysteme als eigenständigen Institutionentyp ab. Vgl. Frey, B. S. (1990a), S. 160 und Feldmann, H. (1995), S. 9. 104 Vgl. Opp, K.-D. (1983), S. 4 mit Verweis in Fn. 2 auf soziologische Arbeiten. 105 U. a. vertreten North, die Österreichische Schule und Rowe diese Ansicht. Vgl. Rowe, N. (1989), S. 1-35. 106 Leipold, H. (1987), S. 104. 107 Leipold, H. (1989), S. 14. Siehe für eine sehr ähnliche Definition Richter, R. (1994), S. 2 und Eggertsson, T. (1990), S. 2. 10s North, D. C. (1990), S. 3. 109 Vgl. Dietl, H. (1993), S. 36 f. und Hayek, F. A. v. (1980), S. 72 ff.
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A. Institutionen und Ökonomie
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Umwelt führt. 11 Für Hayek ist der entscheidende Unterschied zwischen Regeln der Organisation und allgemeinen Nonnen des Verhaltens der, daß erstere einer expliziten Funktion und expliziten Zielen der Organisation sowie Personen bzw. Stellen einer festgelegten Organisationsstruktur zugewiesen werden. Diese Regeln ordnen dann nur noch das Detail der Handlungen der Organisationsmitglieder. Regeln des zweiten Typs sind dagegen allgemeineren Charakters, d. h, unabhängig von einem spezifischen Zweck und nicht auf eine begrenzte Personengruppe beschränkt. 111 Die Einengung auf den Begriff "Regel" hilft bei dem Problem, den Institutionenbegriff hinreichend abzugrenzen, jedoch nur bedingt weiter, denn nach Shimanoff können wiederum über 100 Synonyme für den Regelbegriff identifiziert werden. 112 Hier zeigt es sich, daß die essentialistische Vorstellung, durch Definitionen die Sprache bzw. die Wissenschaft genauer machen zu können, eine Illusion ist! Aus rein praktischen Erwägungen für die spätere Analyse wollen wir dennoch versuchen, den Regelbegriff etwas einzuengen.
110 Vgl. Kornai, J. (1975), S. 87-89. In der Neuen Institutionenökonomik findet sich der Zweig "Behavioral Theory of the Firm", welcher sich ausdrücklich mit den Besonderheiten von Organisationen unter institutionsökonomischen Gesichtspunkten beschäftigt. Begründet wurde diese Richtung besonders durch March, J. G./H. A. Simon, (1958) sowie Cyert, R. M./J. G. March, (1963). Das dargestellte Überlebensmotiv kann auch mit der "Identification" nach Simon, H. A. (1947) und ders. (1991) verglichen werden. Auch in der Theorie der Eigentumsrechte werden Organisationen untersucht. Hier wird gezeigt, wie sich jede Zuordnung von Verfügungsrechten auf die spezifische Anreizstruktur innerhalb der Organisation auswirkt. Vgl. dazu Furubotn, E. G./S. Pejovich (1974), Schüller, A. (1983), Eggertsson, T. (1990). In dem transaktionsökonomischen Ansatz stehen die je nach Organisationsund Vertragsform unterschiedlichen Kosten im Zentrum der Untersuchung von Organisationen. Siehe Williamson, 0 . E. (1975) und ders. (1981). 111 Vgl. Hayek, F. A. v. (1980), S. 73. Die Führungsregeln einer Organisation, die den Mitgliedern gewisse Freiräume zubilligen, dürfen aber nicht mit den allgemeinen Regeln verwechselt werden. Sie ermöglichen den Organisationsmitgliedern ja nur innerhalb des spezifischen Organisationszweckes und innerhalb des Rahmens der spezifischen Befehle, die ihnen ihre Position zuteilt, jene Einzelheiten bei der Befehlsdurchführung einzufügen, die der Befehlende nicht kennt. Allgemeine Regeln würden hingegen dem Einzelnen erlauben, sich seine eigene Position selbst zu schaffen. Siehe dazu Hayek, F. A. v. (1969c), S. 43. 112 Vgl. Shimanoff, S. B. (1980). Auch die ökonomische Theorie der Politik, welche sich am intensivsten mit dem Regelbegriff auseinandergesetzt hat, verfügt nicht über eine einheitliche Vorstellung, was eigentlich unter einer Norm bzw. Regel zu verstehen ist. So werden Regeln sowohl als persönliche Routinen und Strategien als auch als Entscheidungsvorschriften in interdependenten Situationen bezeichnet. Siehe dazu Ganz, J. S. (1971) und Heiner, R. A. (1983). Siehe zur Vorstellung, daß Institutionen als Regeln aufgefaßt werden können, ausführlich bei Rowe, N. (1989), S. 1-35.
III. Vorschlag für die Definition des Institutionenbegriffs
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Zentral für eine Norm oder Regel ist, daß ein bestimmtes Verhalten als geboten oder verboten gilt, m. a. W., daß von den Individuen ein bestimmtes Verhalten erwartet wird. 113 Normen besitzen also zwei wesentliche Komponenten: Sie können zum einen das Verhalten von Individuen bestimmen (Verhaltenskomponente), und sie können zum anderen über zu erwartende Verhaltensweisen anderer informieren (Erwartungskomponente). 114 Die Verhaltenskomponente kann verschiedene Ausprägungen annehmen. Im Extremfall können Verhaltensweisen entweder gänzlich ausgeschlossen oder erzwungen werden, dann spricht man von einer dichotomen Ausprägung, und im Fall der nur quantitativen Ausprägung werden bestimmte Häufigkeitswerte für Verhaltensweisen erwartet (z. B. Anzahl von Wortmeldungen). 115 Weil eine Norm eine gewisse allgemeine Anerkennung genießt, in wiederholt auftretenden Interaktionen ihre Wirkung entfaltet und nicht den Charakter von Einmaligkeit besitzt, wird sie mit Verhaltensregelmäßigkeiten gleichgesetzt. 116 "Normen sind vielmehr Verhaltensregelmäßigkeiten, die als Verbot oder Gebot mit Sanktionsandrohung aus der menschlichen Interdependenz entstehen." 117 Implizit wie explizit enthalten Normen und Institutionen also noch eine weitere Komponente: die Sanktionskomponente. Ohne die Gefahr, bei Nichtbefolgung einer Norm sanktioniert (d. h. bestraft) zu werden, dürfte eine Norm oder eine Institution wohl kaum ihre Wirkung entfalten. Die Sanktionskomponente einer Norm ist ihre latente Sanktionsmöglichkeit. 118 Faßt man obige Ausführungen zusammen, bietet sich folgende Definition für Institutionen an: Institutionen sind Regeln bzw. Normen, Sitten, Gebräuche, m. a. W. sozial normative Verhaltensmuster jeder Art, die darauf basieren, daß eine Vielzahl von Indivi113 Vgl. Opp, K.-D. (1983), S. 4 f., Geiger, T. (1964), S. 95 ff., Weise, P. (1996), S. 207. Nach Opp können Normen auch bestimmte Motive oder Kognitionen verbieten oder gebieten, z. B. sind bestimmte sexuelle Bedürfnisse verboten, oder man darf bestimmte Aussagen im religiösen Bereich nicht glauben. Vgl. Opp, K.-D. (1983), s. 4 f. 114 In mehr soziologisch geprägten Arbeiten steht häufig die Erwartungskomponente im Zentrum und Institutionen werden z. T. als stabilisierte, wechselseitige Verhaltens- bzw. Rollenerwartungen beschrieben. Vgl. Arbeitsgruppe Soziologie (1986), S. 26, Opp, K.-D. (1983), S. 4. Aber auch in den Wirtschaftswissenschaften wird vermehrt auf die Erwartungskomponente verwiesen, so bei Schotter, A. (1981), S. 9, Langlois, R. N. (1986a), S. 17, Röpke, J. (1980), S. 129, Elsner, W. (1987), S. 5 und ders. (1986), S. 200, Neale, W. C. (1988), S. 229 f., Dietl, H. (1993), S. 86. 11s Vgl. Opp, K.-D. (1983), S. 6. 116 Vgl. Eger, T./P. Weise (1990), S. 65, Ostrom, E. (1986), S. 5, Kiwit, D./ S. Voigt (1995), S. 118 f., Elsner, W. (1987), S. 5. 117 Weise, P. (1996), S. 207. 118 Vgl. Elsner, W. (1987), S. 7, Schwödiauer, G. (1980), S. 156-157, Dietl, H. (1993), s. 37-38.
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A. Institutionen und Ökonomie
duen sich in Anbetracht des erwarteten Verhaltens anderer und der latenten sozialen Sanktionsmöglichkeit bei eigenem abweichendem Verhalten in einer Weise verhalten, die Regelmäßigkeit aufweist. Oder kürzer: die Beschreibung einer sanktionierbaren, erwarteten Verhaltensregelmäßigkeit
Durch Lernen innerhalb bestimmter Gesellschaften und Bevölkerungsschichten werden Institutionen von Generation zu Generation weitervererbt, wobei sie sich mit der Gesellschaft im Ganzen verändern. 119 Analog den lose aneinandergereihten Eigenschaften und Entstehungsarten von Regeln lassen sich Institutionen systematisch ordnen. Folgende Kriterien bieten sich an: (1) Art der Handlungsbeeinflussung; (2) Art der Überwachung und (3) Art des Entstehens. Wenn im folgenden von Institutionen gesprochen wird, so sind damit Regeln bzw. normative Verhaltensmuster gemeint. Die Beziehungen zwischen Institutionen und Organisationen werden vor allem für Abgrenzungszwecke dargestellt.
IV. Arten von Institutionen Abbildung 1 gibt einen Überblick über die Einteilungsmöglichkeiten von Institutionen nach Art des Handelns, des Entstehens und der Überwachung. 1. Arten der Handlungsbeeinflussung
Regeln können grundsätzlich formuliert sein als: 120 (1) Gebote:
eine Regel verlangt eine bestimmte Handlungsweise. In diesem Sinne formuliert eine Regel für den Betroffenen eine Pflicht oder auch Handlungsvorschrift (Zwangsfunktion von Normen). (2) Verbote: 121
Regeln, die bestimmte Handlungen oder Ergebnisse verbieten. Die Handlungen werden aus dem ursprünglichen Alternativenraum ausgeschlossen (Ausschlußfunktion von Normen). (3) Erlaubnisse:
Zwischen dem Begriff "Verbot" und dem Begriff "Erlaubnis" besteht die (logische) Beziehung der Negation, wie zwischen den Begriffen Vgl. Eger, T./P. Weise (1990), S. 75. Vgl. Ostrom, E. (1986), S. 7, Ostrom, E. (1980), Commons, J. R. (1957), Wright, G. H. v. (1968), Toulmin, S. (1974), Kiwit, D./S. Voigt (1995), S. 119. 12 1 Vgl. Hayek, F. A. v. (1969b), S. 173 ff. 119
120
IV. Arten von Institutionen Arten der Handlungsbeeinflussung
Verbote
NORMATIVE MUSTER
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ungeplant
soziale Regeln
Arten des Entstehens
Arten der Überwachung
Abbildung 1: Institutionenarten
"Wahrheit" und "Falschheit". Man kann auch sagen, daß Verbote NichtErlaubnisse sind und Erlaubnisse Nicht-Verbote. Es heißt ja bekanntlich, daß "das, was nicht verboten ist, erlaubt ist." Insofern kann man den nicht-verbotenen Entscheidungsraum als den in den Verboten implizit festgelegten Erlaubnisraum ansehen. Es gibt aber auch Erlaubnisse, die explizit als solche fonnuliert werden. Dann handelt es sich um Ausnahmen von Verboten (umgekehrt gilt, daß explizit fonnulierte Verbote Ausnahmen von Erlaubnissen sind). Zu denken wäre im Fall von explizit fonnulierten Erlaubnissen z. B. an das in Scheidungsfällen für einen Elternteil ausdrücklich zugesicherte Besuchsrecht (aber auch nicht darüber hinaus), die Erlaubnis für Soldaten im Krieg zu töten (aber eben nur im Krieg!) oder die Satzung eines öffentlichen Unternehmens, welche die erlaubten (aber eben nur diese) Tätigkeitsbereiche des Unternehmens verbindlich auflistet. Erlaubnisse können auch durch ausdrückliche Grenzen festgelegt werden: innerhalb einer oberen und unteren Grenze wird eine Anzahl bestimmter Handlungen spezifiziert, welche von dem Individuum frei ausgewählt werden dürfen. 122 (Genehmigungsfunktion von Nonnen). Somit ist klar, daß (explizite) Erlaubnisse genauso als Institutionen anzusehen sind wie Verbote. Viele Autoren interpretieren die präskriptive Kraft von Nonnen und Regeln erstaunlicherweise nur negativ im Sinne von Handlungsbeschränkungen und akzeptieren deswegen allein die Ausschluß- und Zwangsfunktion von Regeln. 123 Diese Sichtweise ist falsch. Sie ist die Folge des Versuchs, durch die Spezifizierung der handlungsbeeinflussenden Regeln, 122 Vgl. North, D. C. (1990), S. 4: "Institutional constraints include both what individuals are prohibited from doing and, sometimes, under what conditions some individuals are permitted to undertak:e certain activities."
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A. Institutionen und Ökonomie
Handlungen direkt vorhersagen zu wollen. 124 Weil Normen auch Erlaubnisse darstellen, sind Regeln als ein Set von Variablen zu interpretieren, die die Handlungssituation für den Entscheider strukturieren. In dieser regelstrukturierten Situation wählt das Individuum unter den (durch die Regeln) erlaubten Alternativen aus. 125 Nur in der Form von Geboten legen Regeln die Handlungen bereits eindeutig fest, weil der Handelnde keine Wahlfreiheit besitzt. 126 Welche Handlungen erlaubt, verboten oder geboten sind, hängt davon ab, auf welche gesellschaftlichen Bereiche sich die Inhalte der Normen beziehen. Erstens kann die Zahl möglicher Interaktionspartner beschränkt sein, wenn in einzelnen Ländern z. B. staatliche oder staatlich regulierte private Monopole für Fernmeldedienste oder für Güter wie Strom und Wasser eingerichtet werden, zweitens kann die Art der handelbaren Güter betroffen sein, wenn z. B. der Handel mit Rauschgift verboten ist. Schließlich können die Art und die Konditionen des Austauschprozesses angesprochen werden, wenn Zwang, Betrug und Irreführungen in Tauschbeziehungen untersagt werden.
2. Arten der Überwachung (Sanktionswirkung und Geltungsbereich von Institutionen): interne oder externe Institutionen? Selbst wenn eine Norm in Form von Geboten dem Individuum genau vorschreibt, welche der Handlungsalternativen zu ergreifen ist, bleibt es ihm immer noch überlassen, diese Norm überhaupt zu befolgen, oder aber die Kosten einer Nichtbefolgung zu tragen. 127 Normbefolgung bedeutet dann zugleich Kostenvermeidung. Worin aber bestehen die eigentlichen Kosten eines Regelverstoßes? In einer ersten Annäherung kann man sagen, daß die Furcht vor Sanktionen seitens anderer Gesellschaftsmitglieder die subjektive Einschätzung der Kosten bestimmt. Ein Regelverletzer kann befürchten, zu einer Geld- oder Gefängnisstrafe oder gar zum Tode verurteilt zu werden. Selbst wenn er nicht mit diesen extremen Formen der Bestra123 Vgl. Ganz, J. S. (1971), Shimanoff, S. B. (1980), Eger, T./P. Weise (1990), Eggertsson, T. (1990), S. 3 ff. Vgl. dazu und zur verhaltensermöglichenden Funktion von Institutionen ausführlicher Kapitel A. Vl.l.b), S. 62 dieser Arbeit. 124 Dieser Gedanke fand seinen Niederschlag im homo sociologicus. Siehe dazu Dahrendorf, R. (1959). 125 In Form von Verboten und Erlaubnissen bedeuten Regeln im Rahmen des ökonomischen Verhaltensmodells zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine bestimmte Art zusätzlicher Restriktionen. 126 Genau genommen besitzt auch dann der von dem Gebot Betroffene einen Entscheidungsspielraum: er kann wählen zwischen der Befolgung des Gebotes oder dem Unterlassen jeglicher Handlung. 127 Vgl. Ostrom, E. (1986), S. 6 f.
IV. Arten von Institutionen
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fung zu rechnen hat, kann die Mißachtung durch die Gesellschaft ihn von deviantem Verhalten abhalten. Viele Kostenarten spielen bei der Entscheidung, ob die Norm eingehalten werden soll oder nicht, ein Rolle, so z. B. auch Mitleid mit dem potentiellen Opfer. Man spricht dann von "psychischen Kosten" 128, die sich in Scham, schlechtem Gewissen und ähnlichen Gefühlen niederschlagen. Es liegt auf der Hand, daß die Bewertung der zu erwartenden Sanktionen von Individuum zu Individuum differiert und sich im Prinzip nicht objektiv quantifizieren läßt. Alle Kostenarten besitzen jedoch die Wirkung, daß das einzelne Individuum mehr oder weniger wirksam von der Regeldeviation abgeschreckt wird. 129 Damit Sanktionen diesen Konformitätsdruck entwickeln können, muß die Einhaltung der Regel in irgendeiner Form überwacht werden, d. h. inkongruentes Verhalten erkannt und entsprechend bestraft werden. 130 Unterschiedliche Ansatzpunkte der Regelüberwachung bieten sich als weiteres Unterscheidungskriterium für Normen an, weil sie zugleich über den Geltungsbereich von Regeln mitbestimmen. Regeln und Normen können grundsätzlich psychisch mehr oder minder stark verankert sein. Ihre Durchsetzung wird durch unterschiedlich starke positive (Belohnung) wie negative Sanktionsmöglichkeiten sichergestellt. Ein Individuum wird die Folgen der Regelverletzung anders einschätzen, wenn es nicht damit zu rechnen braucht, die von dem Regelverstoß betroffene Person je wiederzusehen. Voraussetzung für das Sanktionspotential einer Norm ist also die Existenz von Rückkoppelungseffekten. Besonders in den modernen, großen und anonymen Industriegesellschaften bestehen nur zwischen einem Bruchteil der Gesamtbevölkerung direkte wechselseitige 128 Eger, T./P. Weise (1990), S. 67. Psychische Kosten entsprechen "kognitiven Dissonanzen". Zur Theorie der kognitiven Dissonanz siehe Festinger, L. (1956) und Frey, D. ( 1978). 129 Man könnte auch sagen, daß je höher die Sanktionskosten (Kosten einer zu erduldenden Bestrafung) sind, desto eher wird regelkonformes Handeln generiert. Eine ausführliche Explikation des monetären Äquivalents der Kosten einer Strafe für den Straftäter findet sich in Becker, G. S. (1982), S. 51 ff. Becker weist darauf hin, daß die direkte Messung des monetären Äquivalents nur bei Geldstrafen möglich ist. Die gesamten gesellschaftlichen Kosten einer Straftat setzen sich aus den Kosten für den Straftäter, den Kosten der geschädigten Gesellschaftsmitglieder und den Kosten für die Durchführung der Bestrafung (z. B. Ausgaben für Gefängnisse) zusammen. Bei Geldstrafen sind nach Beckers Meinung die gesamtgesellschaftlichen Kosten allerdings fast null, weil der Geldstrafe als Kosten für den Straftäter ein gleich hoher Gewinn für den Entschädigten (abzüglich der Eintreibungskosten) gegenübersteht. Bei Haftstrafen gilt dieses "Null-Summen-Spiel" allerdings nicht, weil kein Geldbetrag zwischen Straftäter und Geschädigtem fließt. Gewinne wie das Gefühl der Genugtuung für die Bestrafung können bei dieser Berechnung ja nicht berücksichtigt werden. 130 Dies impliziert nicht automatisch die konstruktivistische Vorstellung einer mit Weisungs- und Sanktionsgewalt ausgestatteten Autorität.
A. Institutionen und Ökonomie
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Abhängigkeiten. Andere Mechanismen, die die Überwachung und Sanktionierung sicherstellen, müssen dann Rückkoppelungseffekte garantieren und Konformitätsdruck erzeugen. Zum einen durch die interne Überwachung, die durch das Individuum selbst erfolgt und zum anderen durch die externe Überwachung, die mit dem Sanktionshandeln Dritter verbunden ist. Den verschiedenen Formen der Überwachung lassen sich bestimmte Institutionenbegriffe zuordnen. Das sind (a) Gesetze als formgebundene Regeln, deren Befolgung durch staatliche Instanzen gesichert werden soll; (b) gesellschaftliche Regeln als formlose oder auch formgebundene Regeln, deren Nichteinhaltung zwar nicht staatlich aber "sozial" sanktioniert wird und (c) Entscheidungsregeln oder auch Faustregeln, welche vom Individuum selbst vorgegeben werden und formlos sind. 131 Die Übergänge zwischen diesen drei Arten von Regeln sind nicht nur fließend (wie beispielsweise im Fall der moralischen Regeln, welche sowohl den Faustregeln als auch den gesellschaftlichen Regeln zugeordnet werden), sondern in vielen Fällen gehört eine bestimmte Regel in mehr als eine der Sanktionskategorien. So wird in der Regel die Nichteinhaltung eines Gesetzes nicht nur staatlich, sondern auch sozial sanktioniert. 132 Einen Überblick über die Einteilung interner und externer Regeln nach der Art ihrer Überwachung gibt Tabelle 1. Gesetze sind Institutionen, die sich zu formal kodifizierten Normen und Rechten verdichtet haben. Gesetze sind "gesetzt", d.h. durch proklarnativen Normsatz staatlich statuiert. In großen Gesellschaften werden zumeist als besonders wichtig eingestufte Verhaltensweisen durch formalisiertes Recht normiert. North unterscheidet deswegen auch zwischen formalen Beschränkungen, Verfassungen, Gesetzen, Property Rights und informellen, nicht kodifizierten, Institutionen, Sanktionen, Tabus, Gepflogenheiten, Traditionen sowie Verhaltenskodices. 133 Er betont aber zugleich: "Der Unterschied zwischen formlosen und formgebundenen Beschränkungen ist ein gradueller. Man stelle sich ein Kontinuum vor, das Tabus, Sitten und Traditionen am einen Ende bis zu geschriebenen Verfassungen am anderen erreicht." 134
Durch folgende Merkmale unterscheiden sich Gesetze von anderen sozialen Normen: 135 • Übertragung der Vollmacht für Sanktionen bei inkonformem Verhalten auf eine (monopole) Zentralmacht;
13 1 132 133
134 135
Vgl. Kirchgässner, G. (1993), S. 183, Eger, T./P. Weise (1990), S. 74 ff. Neben der Gefängnisstrafe ist u. a. mit der "sozialen Schande" zu rechnen. Vgl. North, D. C. (1991), S. 97. North, D. C. (1992), S. 55. Vgl. Geiger, T. (1964), S. 125 ff.
IV. Arten von Institutionen
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Tabelle 1
Überwachungsformen Interne Regeln
Externe Regeln
lnteme Überwachung
Externe Überwachung
informell
informell
formell
Selbstimperative Selbstbindung überwachung
Informelle Kontrolle
Organisierte Kontrolle
Ethische, moralische Regeln Dekalog, kategorischer Imperativ
Konventionen
privat
privat
staatlich
Sitten und Gebräuche
formelle private Regeln
Gesetze
grammati- gesellschaft- selbstgeliehe schaffenes kalisehe Recht der UmgangsRegeln der Wirtschaft formen Sprache, Rechts- bzw. Linksverkehr
Faustregeln und
Gesellschaftliche Regeln
Art der Überwachung
Regeln
Privat- und Strafrecht
Beispiele
Gesetze
Gesellschaftliche Regeln
• Ausübung der monopolisierten Reaktionstätigkeit durch eine richterliche Instanz; • Normierung der Reaktionsweisen im Verhältnis zur Normüberschreitung, d. h. Festlegung der Art und des Höchstmaßes der Bestrafung.
Spezialisten sorgen für die Erfassung und Aufklärung von Regelverstößen, für die Verhängung von Strafen sowie für deren Vollzug. Ein bedeutsamer Unterschied zu sozialen Normen liegt darin, daß Rechtsbrecher auch dann mit Sanktionen zu rechnen haben, wenn andere Gesellschaftsmitglieder - teilweise auch die Betroffenen selbst - keine Möglichkeit oder keinen Anreiz zu Sanktionshandlungen haben. So muß der Staatsanwalt bei Offizialdelikten, unabhängig davon, ob der Betroffene selbst Klage erhebt oder nicht, tätig werden. Diese Form der Überwachung und Sanktionierung garantiert Rückkoppelungseffekte auch dort, wo keine wechselseitigen Abhän-
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A. Institutionen und Ökonomie
gigkeiten der Gesellschaftsmitglieder bestehen, wo also ein Gesetzesbrecher in der Anonymität der Großgesellschaft verschwinden könnte. Außerdem erhöht die Normierung der Strafe und die Abwicklung der Sanktionshandlung durch richterliche Instanzen die Transparenz der Norm für die Gesellschaftsmitglieder. 136 Gesellschaftliche (soziale) Regeln sind im Gegensatz zu Gesetzen nicht kodifiziert. Sie bestehen "nur" aus gesellschaftlich anerkannten Normen, von denen erwartetet wird, daß man sich an sie hält. Ebenso wie Gesetze sind soziale Normen gemeinhin bekannt, was aber nicht zu bedeuten hat, daß jedes Gesellschaftsmitglied alle Regeln und Normen tatsächlich kennt. Dem Individuum sind bereits dadurch Grenzen gesetzt, daß es sich nie alle Faktoren, die seine Interaktion beeinflussen, bewußt machen kann. Außerdem sind Regeln, auch wenn sie sich potentiell an alle Mitglieder der Gesellschaft wenden, hauptsächlich nur für den (veränderlichen) Teilausschnitt der Bevölkerung relevant, dessen Tätigkeiten in den Bereich der Regel fallen. Soziale Regeln besitzen ein Sanktionspotential, obwohl keine staatliche Sanktionsmechanismen für regelwidriges Verhalten aktiviert werden. Der Konformitätsdruck wird bei sozialen Regeln durch Fremdzwänge erzeugt, welche durch die Reaktionen der Gesellschaftsmitglieder auf Normverletzungen aus dem gesellschaftlichen Miteinander entstehen. Überwachung und Bestrafung sind privat organisiert, was nicht bedeuten muß, daß der Konformitätsdruck weniger stark ist. 137 Ein anschauliches Beispiel für eine gesellschaftlich sanktionierte Norm liefert Axelrod. Er beschreibt den Fall eines Duells: weil das Duell die angemessene und anerkannte Form der Beilegung von Meinungsverschiedenheit zur damaligen Zeit war, mußte ein Duellant für den Fall, daß er eine Forderung zum Duell nicht annahm, mit hohen Einbußen an Einfluß und Reputation in der Öffentlichkeit rechnen. In der Regel überwog die Furcht vor der gesellschaftlichen Sanktion die vielen rationalen Gründe, das Duell zu meiden. 138 Ebenso wie Gesetze benötigen soziale Normen also explizite Sanktionshandlungen anderer Akteure. Weil es aber keine garantierten (staatlichen) 136 Als ein Zweig der Neuen Institutionenökonomik beschäftigt sich insbesondere die "Ökonomische Analyse des Rechts" mit den ökonomischen Aspekten von Gesetzen und des Rechtssystems. Zum einen werden dabei die Wirkungen verschiedener rechtlicher Ausgestaltungen auf das Wirtschaftsgeschehen untersucht, zum anderen soll die Entwicklung des Rechtssystems als Folge rationaler Wahlentscheidungen im Sinne der Annahmen der Neuen Institutionenökonomik erklärt werden. Siehe dazu Posner, R. A. (1987), Ott, C./H.-B. Schäfer (1989), Behrens, P. (1986), Eidenmüller, H. (1995), Assmann, H.-D./C. Kirchner/E. Schanze (1978), Schäfer, H.-B./C. Ott (1995), 137 Kreditauskunfteien können als privat organisierte Überwachungsmechanismen interpretiert werden. 138 Vgl. Axelrod, R. (1986).
IV. Arten von Institutionen
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Rückkoppelungseffekte gibt, wird der Anreiz für einen geschädigten Akteur, den Verursacher zu sanktionieren um so geringer, je geringer er die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Zusammentreffens einschätzt. Das liegt daran, daß die Sanktionshandlungen nicht kostenlos sind und diese Kosten vom Geschädigten zunächst selbst getragen werden müssen. Die Kosten können als Erfüllungskosten oder Sanktionierungskosten im weiteren Sinne bezeichnet werden und setzen sich aus folgenden Komponenten zusammen: 139 Kosten des Rechtsschutzes, der Überwachung und Durchsetzung von Übereinkünften. Überwachungskosten entstehen, weil zunächst festgestellt werden muß, ob sich z. B. ein Vertragspartner oder ein Angestellter regelkonform oder regeldeviant verhält. Das bedeutet, daß Methoden existieren müssen, durch die das Maß der Erfüllung der vereinbarten Charakteristika der getauschten Sach- und Dienstleistungen und der Leistungen von Agenten möglich ist. 140 Im Fall der Regeldevianz kann der Geschädigte vor dem Problem stehen, daß er den Regelbrecher erst wieder ausfindig machen muß, wodurch Suchkosten anfallen. Anschließend muß die Regelwidrigkeit in irgendeiner Form bekannt gemacht werden, damit die sozialen Sanktionsmechanismen überhaupt zum Tragen kommen können (Sanktionierungskosten im engeren Sinn). Weil mit der Größe einer Gesellschaft die Wahrscheinlichkeit des Entdeckens des Normenüberschreitcrs abnimmt, sinkt auch die Chance, daß der Geschädigte den Nutzen aus der Bestrafung ziehen kann. 141 Damit ergibt sich ein Kollektivgutproblem der Sanktionierung, weil es gesellschaftlich wünschenswert wäre, daß auch bei sozialen Regeln die Normüberschreitung sanktioniert würde, der einzelne die Aufwendungen dafür aber nicht zu tragen bereit ist und letztlich die Sanktionierung völlig unterbleibt. Insbesondere bei einer informellen Sanktionierung tritt dieses Problem auf. Informelle Sanktionierung umschreibt den Vorgang, bei dem andere Gesellschaftsmitglieder über die Regelabweichung informiert werden, damit der Regelbrecher durch Verlust seiner Reputation gesellschaftlich bestraft wird. Sollte die gesellschaftliche Kontrolle privat organisiert sein, wird die Überwachung von Regeln durch private Schiedsgerichte vollzogen, wodurch das Kollektivgutproblem abgeschwächt werden könnte. 139 Ich unterscheide im folgenden Sanktionierungskosten von den Sanktionskosten. Wie oben beschrieben, fallen unter Sanktionskosten jene Kosten, die der Regelbrecher durch die Bestrafung zu tragen hat. Sanktionierungskosten gehören im weitesten Sinne zu den Northschen "Erfüllungskosten" und bestimmen zusammen mit den "Messungskosten", das sind Aufwendungen für die Bewertung der positiven Attribute von Tauschobjekten, die Transaktionskosten. Siehe dazu North, D. C. (1992), S. 32 ff. und S. 38 ff. 140 Vgl. North, D. C. (1992), S. 57, der diese Kosten als "Messungskosten" bezeichnet. 141 Unter den Nutzen fallen z. B. Entschädigungsleistungen, Rückzahlungen etc.
4 Schaffer
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A. Institutionen und Ökonomie
Der Übergang von externen zu internen Regeln (Entscheidungsregeln bzw. Faustregeln) ist besonders bei moralischen Normen fließend. Soweit auf ihre Einhaltung durch soziale Mechanismen (externe Sanktionshandlungen) z. B. durch gesellschaftliche Organisationen, insbesondere der Kirche und Religionsgemeinschaften, hingewirkt wird, gehören moralische Normen zu den externen Regeln. Eine Regel wird internalisiert, wenn der Akteur aus der Verantwortung gegenüber anderen Gesellschaftsmitgliedern Maximen für seine Lebensführung ableitet. Dann entwickelt der Akteur eine Ethik, der er sich freiwillig unterwirft (interne Kontrolle), ohne daß ein Dritter die Einhaltung überwachen müßte. 142 Fremdzwänge haben sich zu Selbstzwängen des einzelnen Menschen gewandelt, die externe Regel zu einer internen. Internalisierte Zwänge unterliegen - bis zu einem gewissen Grad- keinem Kosten-Nutzen-Kalkül. Die Norm wird vielmehr so internalisiert, daß eine intrinsische Motivation entsteht, die Regel zu befolgen, selbst wenn es gegen das eng definierte Eigeninteresse verstößt. 143 Diese Form der Überwachung wird deshalb als imperative Selbstbindung bezeichnet. Rein interne Entscheidungsregeln (Faustregeln) werden nicht notwendigerweise mit anderen Gesellschaftsmitgliedern geteilt. Sie sind im Gegensatz zu den abstrakteren, d. h. allgemeineren und für eine große Klasse von Individuen und Aktivitäten geltenden gesellschaftlichen (externen) Normen spezifizierter und nach bestimmten Zielen ausgerichtet. 144 In diesem Sinne können auch Organisationen als Gebilde interpretiert werden, welche aus einem System von internen Regeln und Entscheidungsvorschriften bestehen. Die Entscheidungsregeln der Organisation (z. B. eines Unternehmens) finden primär nur auf die Mitglieder und Bereiche innerhalb der Organisation Anwendung. 145 Sofern die internalisierten moralischen Normen kulturell tradierte Verhaltensvorschriften sind, wirken sie, weil sie gemeinhin bekannt sind, über den rein privaten Bereich hinaus und führen in Form von Überzeugungen und Ansichten, die die Mitglieder einer Gruppe teilen, zu beobachtbaren Verhaltensregelmäßigkeiten. Nach Smith zählt zu diesen moralischen Normen 142 Vgl. Elias, N. (1969), Kirchgässner, G. (1993), S. 187 und Eger, T./P. Weise (1990), S. 76 ff. Smith hat wohl als erster die Rolle interner Regeln thematisiert. Für ihn war die Fähigkeit zur Sympathie eine zentrale Voraussetzung, ein Zuviel an Selbstinteresse zu verhindem und eine geordnete Gesellschaft zu ermöglichen. Siehe dazu Smith, A. (1759b), S. 1 ff. und Krüsselberg, H.-G. (1984), S. 188. Sympathie muß in diesem Kontext als die Fähigkeit zum Mitgefühl verstanden werden. Siehe dazu Elsner, W. (1989), S. 199, Recktenwald, H.-C. (1990), S. XXXVI, Coase, R. H. (1976), S. 529. Sudgen spricht in diesem Zusammenhang von einer "Moral der Kooperation". Siehe Sudgen, R. (1986), S. 173. 143 Vgl. Kiwit, D./S. Voigt (1995), S. 121 f. 144 Vgl. Elster, J. (1989a), S. 100 und Hayek, F. A. v. (1973), S. 30 und S. 50. 145 Vgl. Rutherford, M. (1994), S. 182.
IV. Arten von Institutionen
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auch das "soziale Gewissen", welches sich aus der Fähigkeit zum Mitgefühl entwickelt. 146 Der Wunsch Mitgefühl zu erfahren ist zum Teil nichts anderes als das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und bewirkt bei den Mitmenschen eine Korrektur des "ungehemmten" Eigeninteresses. 147 Die Einhaltung einer Regel wird dann nicht mehr durch imperative Selbstbindung, sondern durch eine bewußte (kalkulierte) Selbstüberwachung sichergestellt, wenn das Individuum nämlich einem zweckorientiertem, rationalen Kalkül folgt. 148 In einem solchen Fall würde der Regelbruch den Akteur schlechter stellen als die Regeleinhaltung. Spieltheoretisch handelt es sich hierbei um ein reines Koordinationsspiel, bei dem Regelbefolgung für alle Beteiligten die dominante Strategie ist. 149 Aus der Lösung eines solchen sozialen Koordinationsproblems entstehen insbesondere Konventionen, wozu u. a. Tischsitten, Sprache, Rechts- bzw. Linksverkehr zählen. Eine Konvention bestimmt gleichgewichtiges Verhalten, weil kein Akteur einen Anreiz verspürt, gegen die Konvention zu verstoßen, und weil zugleich jeder Akteur von dem anderen wünscht, daß dieser die Konvention befolgt.1so Von einem reinen Koordinationsproblem sind solche Interaktionssituationen abzugrenzen, bei denen nicht-konformes Verhalten für jeden Akteur von Vorteil wäre, ein Umstand, der in einen Konflikt mündet. Spieltheoretisch liegt diesen Fällen die Situation des Gefangenendilemmas 151 zugrunde. Dann wird die Überwachung der Verhaltensnorm notwendig, weil fehlende Kontrolle die Gefahr abweichenden Verhaltens in sich birgt. Ein Gefangenendilemma läßt sich aber auflösen, wenn ein Sanktionspotential geschaffen wird, welches regeldeviantes Verhalten bestraft. 152 Dafür Vgl. Recktenwald, H.-C. (1976), S. 81 , Skinner, A. S. (1984), S. 75-78. Vgl. Elsner, W. (1986), S. 226 f. 148 Vgl. Elster, J. (1979), dort auch als "rationale Selbstbindung" bezeichnet. 149 Vgl. K.iwit, D./S. Voigt (1995), S. 121, Lewis, D. (1969), S. 42 f. und S. 58, Schotter, A. (1981), S. 10. Vgl. zur Dominanzrelation Ferschl, F. (1975), S. 67-76. 150 Im sog . .,Telefonspiel" kann der selbstüberwachende und der selbstorganisierende Charakter von Konventionen dargestellt werde. Siehe dazu Lewis, D. ( 1969), S. 42 und Schotter, A. (1981), S. 10 f. 151 Der Begriff Gefangenendilemma steht ursprünglich für die Situation zweier Gefangener, die eines gemeinsamen Vergehens angeklagt werden. Beide können die Tat entweder leugnen oder sich schuldig bekennen. Gestehen beide die Tat, erhalten sie eine Haftstrafe von jeweils x Jahren, beteuern sie dagegen beide ihre Unschuld, können sie nur für kleinere Vergehen zu jeweils y (mit y < x) Jahren Haftstrafe verurteilt werden. Stellt sich jedoch einer der Angeklagten als Kronzeuge zur Verfügung, so erhält dieser eine Strafmilderung und kommt bereits nach z Jahren (mit z < y) frei, während der Mittäter wegen seiner Falschaussage x + n Jahre Höchststrafe absitzen muß. JS2 Vgl. Ullmann-Margalit, E. (1977), S. 22. Schotter grenzt Konventionen von Institutionen ab, weil das Charakterisitikum für Institutionen der Bedarf einer exter146
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A. Institutionen und Ökonomie
müssen die erwarteten Sanktionskosten größer sein als der Anreiz, die Regel zu brechen. Unter spieltheoretischen Gesichtspunkten lassen sich Institutionen also aufgrund unterschiedlicher Interaktionsmechanismen in überwachungsbedürftige und in sich selbst kontrollierende Institutionen einteilen: im Fall von überwachungsbedürftigen Institutionen handelt es sich um die Situation eines Gefangenendilemmas, wohingegen sich selbst überwachende Normen durch die Situation eines reinen Koordinationsspiels gekennzeichnet sind. 153
3. Arten des Entstehens: geplante oder ungeplante Institutionen? Die Unterscheidung in geplante und ungeplante Institutionen ist eine Tradition, die gewissermaßen bis auf die Sophisten in Griechenland im fünften vorchristlichen Jahrhundert zurückgeht. Die Sophisten führten eine Begriffs-Dichotomie ein, indem sie zwischen physei, was "von Natur" heißt und für "alles vom Menschen Unabhängige" stand und nomo für "Konvention" oder thesei, d. h. "auf Grund bewußter Anordnung", unterschieden. 154 Die sophistische Dichotomie sollte dazu dienen, natürliche Ordnungen von künstlichen Ordnungen abzugrenzen. Sie war aber nicht eindeutig und hat, wie Hayek betont, zu großer Verwirrung geführt, weil sie zwei verschiedene Aussagen zuließ: 1. Eine Unterscheidung zwischen unabhängig existierenden natürlichen Ordnungen (Objekten) (physei) und künstlichen Ordnungen (Objekten), die das Resultat menschlichen Handeins sind (nomo).
2. Eine Unterscheidung zwischen unabhängig existierenden natürlichen Ordnungen (Objekten) und künstlichen Ordnungen (Objekten), die durch menschliches Planen entstanden sind (thesei). 155 Überträgt man diese Unterscheidung auf Institutionen, denn Institutionen sind auch Ordnungen, dann veranschaulicht folgendes Beispiel das Dilemma: Einerseits ist es möglich, eine Institution künstlich zu nennen, weil sie aus den Handlungen der Menschen hervorgeht, andererseits ist es auch nen Autorität zu ihrer Geltendmachung sei. Vgl. Schotter, A. (1981), S. 9 f. In Kapitel D.II der vorliegenden Arbeit wird auf das Gefangenedilemma und die Sanktionsproblematik ausführlich eingegangen. 153 Vgl. auch Kunz, H. (1985), S. 16 f. und passim, Ullmann-Margalit, E. (1977), S. 18-133, Schotter, A. (1981), S. 11. 154 Vgl. Hayek, F. A. v. (1980), S. 36 f. Eine Ordnung ist ein Synonym für ein Institutionengeflecht und damit für Institutionen. Vgl. dazu Hodgson, G. M. (1988), s. 140. 155 Vgl. Hayek, F. A. v. (1980), S. 36 f.
IV. Arten von Institutionen
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erlaubt, diese Institution als natürlich zu bezeichnen, weil sie nicht das Resultat menschlicher Planung ist. Hayek verweist auf die Philosophen des 18. Jahrhunderts, allen voran auf die schottischen Moralphilosophen, die dieses Dilemma durch die Einführung einer dritten Klasse von Phänomenen lösen konnten. Im Prinzip können normative Muster auch ohne vorangehende planvolle Koordination als Ergebnis spontaner, wechselseitiger Anpassung separater, eigeninteressierter Individuen entstehen. Eine Institution ist insofern, wie es Adam Ferguson schon beschrieben hatte, zwar das Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht notwendigerweise das Ergebnis menschlichen Entwurfs. 156 Von A. Ferguson, D. Hume und A. Smith wurde die Vorstellung vertreten, daß Institutionen das ungeplant gewachsene Ergebnis eines aus dem Miteinander eigeninteressierter Individuen entstehenden Prozesses seien. 157 Als Beispiele wurden unterschiedliche Sprachen, Geld und auch Regeln der Moral genannt, die sich - dies war der hier vertretene Grundgedanke - völlig unintendiert entwickelt hatten. 158 Zwischenmenschliches Handeln hat so in aller Regel auch ungewollte soziale Folgen. Der von den schottischen Moralphilosophen "entdeckten" dritten Klasse von Phänomenen liegt aber auch ein spezifisch sozialwisssenschaftliches Deutungssprinzip zugrunde: es kann in Anlehnung an Adam Smiths berühmte Formulierung als die "Erklärung mittels der unsichtbaren Hand" bezeichnet werden. Die sozialtheoretisch zentrale Bedeutung dieser Klasse von Phänomenen zeigte sich darin, daß sie "zu ihrer Erklärung eines unterschiedlichen Theoriesystems bedurften und [... ] zum Gegenstand der theoretischen Sozialwissenschaften wurden.'d 59
156 Vgl. Hayek, F. A. v. (1969a), S. 97-107. Und Ferguson, A. (1767), S. 187: "Nations stumble upon establishments, which are indeed the result of human action, but not the execution of any human design." 157 Vgl. Vanberg, V. (1982), S. 20 ff., S. 41 ff. In der Soziologie wurde dies u.a. von Elias, N. (1969), S. 475 f. betont, in der Nationalökonomie von Carl Menger aufgegriffen. Vgl. Menger, C. (1883) und von F. A. v. Hayek weiterentwickelt und ausgearbeitet. Vgl. Hayek, F. A. v. (1967a), S. 100, insbes. Anmerkung 12 und ders. (l969a). 158 In Poppers Terminologie kann dies darauf zurückgeführt werden, daß die Welt 3 (zu welcher die menschliche Sprache gehört) zwar eine menschliche Schöpfung ist, sich aber ihren eigenen Autonomiebereich schafft, in dem vom Menschen unbeabsichtigte Produkte entstehen können. Vgl. ders. (1973 ), S. 179 f., ders. (1984), S. 35, ders. (1994), S. 97, ders. (l995a), S. 41 f. Die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaft sei deshalb auch die Feststellung von unbeabsichtigten Folgen bewußter menschlicher Handlungen. Vgl. ders. (1997), S. 496, ders. (1958), S. 111, s. 113. 159 Hayek, F. A. v. (1980), S. 37. Ebenso Popper, K. R. (1965), S. 52 f., ders. (1958), S. 110 ff., auch Anm. 3, S. 394 f., ders. (1973), S. 180, Anm., sowie Albert, H. (1977).
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A. Institutionen und Ökonomie
Zusammenfassend läßt sich folgende Unterscheidung treffen: 1. natürliche Institutionen, die weder vom Menschen geplant noch ungewollt aus ihren Handlungen hervorgehen. 2. geplante Institutionen, die durch einen Entwurf des Menschen gebildet werden. 3. Spontan entwickelte Institutionen, die unbeabsichtigt, d. h. ungeplant, durch menschliche Handlungen entstehen. Was die Entwicklung von Institutionen im Sinne von normativen Mustern angeht, kann man also feststellen, daß diese auch Gegenstand bewußter Gestaltung (wie der "Gesetzgebung") sein können. 160 Die Gründung einer Unternehmung, einer Partei oder eines Staates ist dagegen zweifelsohne immer das Resultat einer bewußten und auch geplanten Handlung. 161 Das Konstitutionsprinzip eines korporativen Gebildes liegt ja gerade darin, daß sich mehrere Individuen ausdrücklich zu organisiertem, planvoll koordiniertem Handeln verbinden. Bezüglich der Entstehung von Institutionen besteht deswegen eine gewisse "Asymmetrie": korporative Gebilde sind das Ergebnis planensehen Handelns, normative Muster können aber sowohl das beabsichtigte als auch das unbeabsichtigte (ungeplante) Resultat menschlichen Handeins sein. Die Unterscheidung von Institutionen als korporative Gebilde einerseits und Normen andererseits ist deshalb nicht deckungsgleich mit der Unterscheidung von geplanten und nicht geplanten Institutionen. In obigen Ausführungen wurde darauf hingewiesen, daß sich nicht-überwachungsbedürftige Muster selbständig aus dem Eigeninteresse der han160 Dies wird insbesondere in der Public-Choice-Theorie untersucht. Siehe zu der Differenzierung zwischen geplanter und ungeplanter Entstehung Menger, C. (1883), von Hayek, F. A. v. (1969a), Schotter, A. (1981), Langlois, R. N. (1986a), Kiwit, 0./S. Voigt (1995), S. 119, Richter, R. (1994). Werden Regeln und Normen durch einen Akt der Legislative gesetzlich verankert, so kann dies als eine formale Umwandlung einer bis dato informellen Regel in eine kodifizierte formelle Norm verstanden werden. Faktisch besaß die Institution bereits vor der Formentransformation ihre allgemeine Anerkennung und Wirksamkeit. Hayek hat das treffend und knapp mit dem Satz zusammengefaßt, daß Recht älter ist als Gesetzgebung. Vgl. Hayek, F. A. v. (1969a), S. 103. 161 "[ ••• ] organizations are created with purposive intent [. .. ]." North, 0 . C. (1990), S. 5. Wäre es aber andererseits nicht möglich, in bestimmten Fällen Organisationen wie einige Gesetze als nachträgliche Formentrans/onnation einer Zusammenarbeit von Personen zu interpretieren, die sich zuvor spontan ergeben hatte? Damit ist gemeint, daß die Intention für eine Zusammenarbeit nicht immer die Gründung einer Unternehmung sein muß. Zweifellos ist der offizielle Gründungsakt eine geplante Handlung, aber das gilt für den Beschlußakt von Gesetzen ebenfalls. Hier lassen sich offensichtlich Parallelen zur obigen Argumentation bei Gesetzen finden.
IV. Arten von Institutionen
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deinden Gesellschaftsmitglieder ergeben können (Situation eines Kooperationsspiels). Um die Existenz einer überwachungsbedürftigen Norm erklären zu können, wurde dagegen auf die Situation des Gefangenendilemmas verwiesen. In dieser Situation würde sich Kooperation nicht alleine aus dem Eigeninteresse der Individuen spontan einstellen, sondern nur, wenn eine externe Regel existieren würde, deren Einhaltung durch Sanktionsandrohung erzwungen würde. Nun liegt der (voreilige) Schluß nahe, daß Normen und Institutionen, die in Situationen des Gefangenendilemmas entstehen, immer als geplante Institutionen zu verstehen sind. Dieser Betrachtungsweise liegt aber die (irrige) Annahme zugrunde, daß die Interaktionssituation des Gefangenendilemmas für die Beteiligten ein singuläres Ereignis sei. In einer sich nicht wiederholenden Interaktionssituation ist Nicht-Kooperation tatsächlich die streng dominante Strategie. Dies gilt auch solange, wie die Anzahl der Wiederholungen den Spielern im voraus bekannt ist. Im letzten Spielzug wird sich dann immer Nicht-Kooperation durchsetzen, weil keine zukünftigen Aktionen die Entscheidung beeinflussen können. 162 Unter diesen Bedingungen würde sich also kooperatives Verhalten nicht spontan einstellen. Wiederholt sich die Situation des Gefangenendilemmas aber unvorhersehbar oft, verliert Nicht-Kooperation als Strategie ihren Dominanzcharakter. 163 Axelrod zeigt für solche wechselseitigen Beziehungen, daß Kooperationen auch auf unbeabsichtigte Weise entstehen können. 164 Den insgesamt 162 Vgl. Luce, R. D./H. Raiffa (1957), S. 97-102. Wenn im letzten Spielzug Nicht-Kooperation die dominante Strategie ist, bleibt sie es auch im vorletzten "Spiel". Diese Argumentationskette kann bis zum ersten Spiel gezogen werden, so daß die Regelverletzung in der ersten Spielrunde erfolgen muß. 163 Oft werden in der Literatur zur Unterscheidung dieser beiden Spielsituationen die Adjektive statisch für einmalig und dynamisch für mehrmalig verwendet, so bei Dietl, H. (1993), S. 81 und North, D. C. (1992), S. 15, was aber wissenschaftlich wenig zufriedenstellend ist. Ein Blick in das Fremdwörterbuch offenbart: statisch bedeutet "keine Bewegung aufweisend" und dynamisch "die von Kräften erzeugte Bewegung betreffend", Duden (1997). Der physikalische Begriff der Bewegung wird in den Naturwissenschaften als Synonym für eine Ortsveränderung verwendet, d. h. für eine relative Lageveränderung eines Körpers zu einem festen Koordinatensystem. In den Sozialwissenschaften steht der Begriff der Bewegung wohl eher für die Beschreibung einer "strukturellen innerlichen Veränderung der Gesellschaft". Für die Situation des Gefangenendilemmas bedeutet das, daß sich seine innere Struktur ändern müßte, wollte man es in vernünftiger Weise als dynamisch bezeichnen. Aber auch nach mehrmaliger Wiederholung ändert sich die Struktur nicht. Das "offene" Gefangenendilemma ist genauso statisch wie das einmalige. Die Verwendung der Begriffe "dynamisch" für eine iterative und "statisch" für eine einmalige Spielsituation ist mit der wirtschaftswissenschaftlichen (nicht physikalischen!) Terminologie inkonsistent und deshalb irreführend und ein gutes Beispiel für die - wie so oft - nicht einheitliche, ja leichtfertige Verwendung naturwissenschaftlicher Begriffe in den Sozialwissenschaften. Zu der generellen Problematik des sog. szientistischen Mißbrauchs des Gedankengutes der Physik und Astronomie siehe insbeson-
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A. Institutionen und Ökonomie
höchsten Nutzenwert bietet nämlich in solchen Fällen die "Tit for Tat"Strategie (Wie-Du-mir-so-ich-Dir): Jede Verhaltensweise, ob kooperativ oder nicht-kooperativ, wird mit genau der gleichen Verhaltensweise beantwortet. Ebenso wie bei dem grundsätzlich konfliktfreien Kooperationsspiel, liegt es dann im Eigeninteresse des Einzelnen sich kooperativ zu verhalten. Er folgt seinem rationalen Kalkül, wenn er die "Tit for Tat"-Strategie seiner Interaktionspartner antizipierend durch kooperatives Verhalten die direkte Bestrafung vermeidet. So können auch bei wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen, die Formen von Gefangenendilemmas aufweisen, kooperative Verhaltensweisen spontan entstehen, d. h. Normen bzw. Verhaltensmuster von alleine (spontan) entstehen, wenn die Situation über einen unbestimmten Zeitraum bestehen bleibt, d. h. wenn die Anzahl der sich wiederholenden Interaktionen nicht bekannt ist. Darüber hinaus müssen die Interaktionspartner aber auch in der Lage sein, regelwidriges Verhalten für eine Abschreckung ausreichend hart bestrafen zu können. Das heißt aus spieltheoretischer Sicht, daß kooperative Verhaltensmuster, die sich in einer unbestimmten Folge von Situationen eines Gefangenendilemmas herausbilden, nicht zwangsläufig durch Rückgriff auf planensehe Eingriffe (d. h. geplante Institutionen) erklärt werden müssen. 165 Der obige Schluß von Situationen des Gefangenendilemmas auf geplante Institutionen ist tatsächlich voreilig. Die spontane Entwicklung ist aber dann verhindert, wenn in einer Welt des unpersönlichen Tauschs die Information darüber, ob sich die Spielsituation mit den gleichen Spielern überhaupt bzw. wie oft wiederholt, unvollständig ist. Zusätzlich steht der Einzelne vor dem Problem, daß die Einhaltung der Vereinbarung nur schwer festgestellt werden kann. Verhaltensregelmäßigkeilen werden sich nur dann einstellen, wenn bewußt Sanktionsmechanismen, d. h. Institutionen, geschaffen werden, die, indem sie die nötigen Informationen zur Verfügung stellen, die Erfüllung der Vereinbarung mittels Zwangsandrohung glaubhaft sicherstellen können. 166 dere Popper, K. R. (1965), S. 88 ff. und Hayek, F. A. v. (1943), S. 41 ff. und ders. (1941), (1942) und (1944). 164 Vgl. Axelrod, R. (1988), S. 25-49. In einem Simulationsmodell vergleicht Axelrod verschiedene Verhaltensstrategien und stellt fest, daß Verhaltensweisen mit kooperativer Grundstruktur durchschnittlich besser abgeschnitten haben als nicht-kooperative. Siehe ebd., S. 30. 165 Als "synoptische Täuschung" eines "rationalistischen" Vorgehens bezeichnet deshalb Hayek die Auffassung des konstruktivistischen Rationalismus, wonach alle nützlichen, dem sozialen Austauschprozeß dienenden Institutionen, wie die Sprache, Moral, Schrift, Geld und Gesetze nur das Produkt einer planenden Voraussicht oder ausdrücklicher Übereinkunft sein können. Vgl. Hayek, F. A. v. (1980), S. 24, ders. (l969c), S. 36, S. 42. 166 Siehe dazu North, D. C. (1992), S. 68 ff. North weist auch darauf hin, daß die Bestrafung häufig den Charakter eines öffentlichen Gutes besitzt und die Institutio-
V. Funktionale Abhängigkeiten
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Wir können also zusammenfassen: In einer Situation wie der eines Gefangenendilemmas, können Institutionen (Verhaltensmuster, Normen) entweder spontan (durch die "Tit for Tat"-Strategie) entstehen oder es kann nötig sein, daß kooperatives Verhalten durch eine Überwachung mittels einer externen Instanz geplant durchgesetzt wird. Im ersten Fall sprechen wir von sich selbstüberwachenden, im zweiten von überwachungsbedürftigen Institutionen. Grundvoraussetzung für beide Formen der Institutionen ist das Vorhandensein eines ausreichenden Sanktionspotentials, d. h. von Rückkoppelungseffekten.
V. Funktionale Abhängigkeiten Alle Institutionen bilden zusammen ein Geflecht von Regeln und Normen, welches der Gesellschaft einen stabilen Ordnungsrahmen für die sozialen Interaktionen vorgibt. Innerhalb dieses Beziehungsgeflechts aus externen, internen Institutionen und korporativen Gebilden existieren hierarchische, sachliche, zeitliche und umfangsmäßige Prioritäten. 167 Häufig besitzen Institutionen nur partielle Gültigkeit, d. h., daß sie nur für einen bestimmten Bereich des gesellschaftlichen und ökonomischen Austauschprozesses Bedeutung haben. 168 Dies liegt vor allem daran, daß der Inhalt einer Norm nicht immer allen Gesellschaftsmitgliedern bekannt ist. Zweifelsohne gibt es auch Institutionen, welche wegen ihrer größeren Tragweite eine sachliche Priorität im Institutionengeflecht besitzen und damit anderen Institutionen vorgelagert sind. Solche Institutionen können als fundamentale Institutionen oder als allgemein abstrakte Regeln im Hayekschen Sinn bezeichnet werden, weil sie "auf eine unbekannte und unbestimmte Anzahl von Fällen und Individuen anwendbar sind". 169 Fundamentale Institutionen können nur Normen oder Regeln sein und sind in den meisten Fällen nicht planbar. Häufig wird der Gedanke betont, daß die Genese fundamentaler Institutionen das ungeplante, gewachsene Ergebnis eines Entwicklungsprozesses sei, weil die Bildung und Veränderung dieser Institutionen die menschlichen Fähigkeiten übersteigen. 170 Sitten, Gewohnheiten und Bräuche würden sich demnach aus dem jahrzehnte-, sogar jahrnen deswegen genügend Anreize für die Durchführung der Bestrafung bieten müssen. 167 Vgl. Neale, W. C. (1988), S. 238 f. 168 Vgl. Schwödiauer, G. (1980), S. 158, Eisenstadt, S. N. (1968), S. 412. 169 Hayek, F. A. v. (1980), S. 73. 17° Vgl. Dietl, H. (1993), S. 71 f., Hayek, F. A. v. (1969d), S. 82 und 86, ders. (1980) passim. Diese Erkenntnis diente Hayek als Grundlage, jegliche Form sozialistischer Planung abzulehnen. Vgl. dazu insbes. seine Werke von (1976), (1979 a), (1984 ), (1988), (1991 ).
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A. Institutionen und Ökonomie
hundertelangen Zusammenspiel vieler Personen ergeben. Ein sehr einleuchtendes Beispiel einer fundamentalen Institution ist die menschliche Sprache, ohne welche die Entwicklungsstufe einer modernen Gesellschaft mit ihren Gesetzen, Regeln und Organisationen gar nicht vorstellbar wäre. Fundamentale Institutionen ermöglichen erst die Genese weiterer Institutionen. So gesehen sind alle Korporationen aus Normen und Gesetzen abgeleitete Institutionen, die dadurch entstehen, daß Individuen institutionell legitimierte Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen. 171 Für Unternehmungen z. B. stellen Vorschriften des Arbeits-, Handels-, Gesellschafts- und Steuerrechts die vorgelagerten Institutionen dar. Eine abgeleitete Institution kann auch als sekundäre, die ihr vorgelagerte als primäre Institution bezeichnet werden. 172 Nicht alle sekundären Institutionen sind aber notwendigerweise korporative Gebilde. Es gibt auch Regeln und Normen, z. B. Gesetze, die abgeleitet sind und insofern sekundären Charakter besitzen. Man könnte in diesem Sinne das in der Verfassung verankerte Recht auf Unversehrtheit als primäre Norm und das im Strafgesetzbuch enthaltene Verbot der Körperverletzung als derivative Institution interpretieren. 173 Den Zusammenhang zwischen fundamentalen, abgeleiteten, planbaren und nicht-planbaren Institutionen stellt Abbildung 2 dar. Die gesellschaftliche Ordnung stellt ein Netzwerk aus horizontalen und vertikal verflochtenen Regeln und Normen dar. Abbildung 2 und Abbildung 3 auf Seite 60 stellen einen Versuch dar, die verschiedenen Ebenen des institutionellen Regelwerks einer Gesellschaft wiederzugeben. Trotz ihrer Komplexität, die die gesellschaftliche Ordnung aufweist, ist sie kein unveränderliches Gebilde. Regeln und Normen ändern sich, wie wir es an unserer Sprache oder an Tischsitten sehen können; einige besitzen nur eine größere Beharrungstendenz als andere. Letztlich ist es eine Frage des gewählten Zeitintervalls, ob man von flexiblen oder starren Institutionen sprechen kann.
VI. Die ökonomische Wirkung von Institutionen Wie aus den vorherigen Ausführungen deutlich wurde, besteht die wesentlichste Funktion von Institutionen in der Lenkung und Kontrolle des Verhaltens von Individuen; insofern beeinflussen sie auch die Entscheidun171 "Both what organizations come into existence and how they evolve are fundamentally influenced by the institutional framework." North, D. C. (1990), S. 5. 172 Vgl. Dietl, H. (1993), S. 70 ff. und Gäfgen, G. (1983), S. 35. 173 Geht man in der Argumentationskette einen Schritt weiter, gelangt man zu dem christlichen Gebot bzw. Verbot "Du sollst nicht töten". Für eine christliche Gesellschaft wäre dieses Gebot die fundamentale Norm, aus welcher der Verfassungsartikel abgeleitet worden ist.
VI. Die ökonomische Wirkung von Institutionen
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korporative Gebilde
Normen bzw. Regeln
sekundär Stufe II
sekundär Stufe I
fundamental primär
sekundär
primär
primär für jede andere Institution
weil aus fundamentaler Institution abgeleitet
primär für korporative Gebilde
nicht planbar
planbar
sekundär, abgeleitet
planbar
Abbildung 2: Funktionale Institutionenabhängigkeit
gen von Wirtschaftssubjekten. Als komplexes Rahmenwerk üben Institutionen darüber hinaus auch gesellschaftliche Wirkungen aus, die weit über den individuellen Bereich hinausgehen.
1. Individuelle Wirkungen Inwiefern Institutionen auf die Entscheidungssituation eines Handelnden einwirken können, soll im folgenden kurz dargestellt werden. a) Unsicherheits- und Komplexitätsreduktion
Vor jeder Entscheidung muß ein Handelnder seine Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen abschätzen, d. h. er muß Erwartungen bilden. 174 Das Umfeld, in welchem die Entscheidungen zu treffen sind, ist 174
Vgl. Kirchgässner, G. (1991), S. 13.
60
A. Institutionen und Ökonomie Ebenen des institutionellen Regelwerks der Gesellschaft Religiöse Vorstellungen, Weltbilder
..(}
..(}
Denkgewohnheilen, Ideologien, Wertorienlierungen
v
moralische und soziale Nonmen: elbischer Diskurs; Sillen und Gebräuche; Konventionen
v
Konstitutionelle Ebene: Polilische Regeln: Regeln der Verfassung
v
Post-konstitutionelle Ebene: legislalive Körperschaften: Verabschiedung von Gesetzen und Geselzesnovellierungen
v
Exekulive und Verwallung: Verordnungen und Einzelfallenlscheidungen
v
Prival vereinbarte Regeln: - Vertragsregeln zwischen
mindestens zwei privaten
Akleuren - Organisalions- und Produklionsregeln in Korporalionen (Unlemehmen, Verbände)
Abbildung 3: Institutionelle Gesellschaftsebenen
aber in einem steten und vor allem raschen Wandel begriffen. Die immer weiter voranschreitende Differenzierung unserer Gesellschaft und der rasante technische Fortschritt führen zu einer systematischen Zunahme der Komplexität unserer Umwelt. Dies stellt jeden Einzelnen vor das Problem,
VI. Die ökonomische Wirkung von Institutionen
61
Entscheidungen unter Unsicherheit über die potentiellen Veränderungen der Umwelt treffen zu müssen. 175 Die kognitiven Fähigkeiten eines einzelnen reichen dabei nie aus, um alle Umweltzustände und Handlungskonsequenzen antizipieren zu können. Die Unsicherheit über die Entscheidungssituation kann aber von Institutionen reduziert werden, weil durch sie bestimmte Handlungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden und der Bereich der zulässigen Handlungsmöglichkeiten eingeengt und zugleich überschaubarer wird. Eine Institution, genauer gesagt deren Kenntnis, stellt einen Fundus für sichere bzw. stabilere (reziproke) Erwartungen über das Verhalten anderer Individuen und damit über bestimmte Konsequenzen eigener Entscheidungen zur Verfügung. 176 Da Institutionen Rechte und Pflichten für mehr oder weniger alle Individuen einer Gesellschaft festlegen, erleichtern sie für denjenigen, der in ihre Gültigkeit vertraut, die Prognose des Verhaltens seiner Mitmenschen. Die Wirkung von Institutionen kann deswegen als eine Reduktion von (Entscheidungs-) Komplexität verstanden werden. 177 "The major role of institutions in a society is to reduce uncertainty by establishing a stable [... ] structure to human interaction." 178 Natürlich können Institutionen keine vollständige Sicherheit garantieren, bestenfalls setzen sie die Unsicherheit des personalen Faktors herab. 179 Hayek faßt die Bedeutung von Institutionen bzw. Regeln angesichts des Problems der Komplexität und der Unsicherheit folgendermaßen zusammen: "Unsere Handlungen bilden nicht deshalb ein einheitliches und rationales Ganzes, weil über sie als Teil eines einzelnen, im voraus ausgedachten Planes entschieden worden ist, sondern, weil wir bei jeder Entscheidung, die einer anderen folgt, unseren Wahlbereich mittels der nämlichen abstrakten Regeln begrenzen." 180
Vgl. Simon, H. (1957), S. 80, Hayek, F. A. v. (1969d), S. 84 f. Vgl. Schotter, A. (1981), S. 109 ff., Boland, L. A. (1979), S. 963-965. Ebenso urteilt Commons, J. R. (1934), S. 58: "This meaning of order is derived from the fact that the future is wholly uncertain except as based upon reliable inferences drawn from experiences of the past, and also from the fact that it may properly be said that man lives in the future but acts in the present." 177 Für Hayek wirken besonders die fundamentalen Institutionen derart entscheidungsentlastend, vgl. Hayek, F. A. v. (1969d), S. 85 f. und ders. (1967a), S. 171. Ebenso Lachmann, L. M. (1973), S. 45, Gordon, W./J. Adams (!989), S. 24 ff., Eger, T./P. Weise (1990), S. 68, Schwödiauer, G. (1980), S. 156, Röpke, J. (1980), S. 128, Elsner, W. (1986), S. 200, North, D. C. (1992), S. 30 f. 178 North, D. C. (1990), S. 6. Ebenso Reiner, R. A. (1983). 119 Vgl. Popper, K. R. (1965), S. 53. 180 Hayek, F. A. v. (1969d), S. 84. 175
176
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b) Flexibilitätserhöhung Offensichtlich ist die Fähigkeit zur Reduktion von Unsicherheit und Komplexität an die verhaltensbindende bzw. verhaltenseinschränkende Eigenschaft von Institutionen gebunden. 181 Der verhaltenseinschränkende Charakter von Institutionen bedeutet aber nicht nur den Ausschluß bestimmter Handlungsmöglichkeiten, sondern kann sich auch in einer Erhöhung der Aexibilität, d. h. in der Fähigkeit, sich wechselnden Situationen rasch anzupassen, äußern. Was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, erklärt sich gerade aus der Wirkung, komplexe Entscheidungssituationen zu vereinfachen. Die sich aus der Kenntnis der Institutionen ergebenden reziproken Erwartungen offenbaren gegebenenfalls sonst vielleicht nicht vorhersehbare Handlungen Dritter und "befreien" vor der Konfrontation mit "unfairem" deviantem Verhalten anderer. 182 Institutionen entbinden die Wirtschaftssubjekte davon, sich ständig über alle möglichen besonderen Umstände ihrer Umwelt zu informieren und über alle möglichen ökonomischen Sachverhalte jedesmal aufs neue zu verhandeln. 183 Institutionen als Wegweiser für die eigene Handlung anzunehmen, ermöglicht den Individuen, sich mit neuen Situationen auseinanderzusetzen. 184 Noch deutlicher offenbart sich der flexibilitätserhöhende Charakter bei jenen Institutionen, die explizit als Erlaubnisse formuliert sind (siehe dazu Ausführungen in Kapitel A.IV.3). Wenn Institutionen als Erlaubnisse formuliert sind, legitimieren sie einen Handlungsspielraum und vergrößern das Handlungspotential und damit die Handlungsflexibilität Im Prinzip besitzen auch all jene Institutionen, die sowohl Rechte als auch Pflichten in ihren Formulierungen enthalten, flexibilitätssteigernden Charakter: Ein Arbeitsvertrag z. B. reduziert nicht nur die Einkommensunsicherheit des Arbeitnehmers, sondern erhöht durch das Weisungspotential die Aktionsflexibilität des Arbeitgebers. 185 Für den Fall des devianten Verhaltens eines Vertragspartners werden im Vertrag Vgl. Wiese, L. v. (1956), S. 298, Eisenstadt, S. N. (1968), S. 409. Vgl. Elsner, W. (1986), S. 314. 183 Vgl. Lachmann, L. M. (1973), S. 46, Langlois, R. N. (1986b), S. 247. Dieser Aspekt wird von Gehlen als die .,Entlastungsfunktion" von Institutionen bezeichnet, Gehlen, A. ( 1956), S. 42 ff. 184 Vgl. Hayek, F. A. v. (1969d), S. 84, Commons, J. R. (1934), S. 69 ff. Eine Unterscheidung der Wirkungen von Institutionen in Verhaltensbegrenzung und Handlungsermöglichung ist nach Samuels aber auch in der schottischen Moralphilosophie zu finden. Als soziale Kontrollinstanzen wirken vor allem Moralvorstellungen. Vgl. Samuels, W. J. (1964a), S. 6 f. Sitten und Gebräuche reduzieren dagegen die Unsicherheit und eröffnen damit neue Handlungsmöglichkeiten. Vgl. ders. (1964b), S. 91. Diese theoretische Unterscheidung zwischen Moral und Sitten bzw. Bräuchen hinsichtlich ihrer Effekte ist aber insofern fraglich, als natürlich auch moralische Werte Unsicherheit bezüglich potentieller Handlungsmöglichkeiten anderer Gesellschaftsmitglieder reduzieren können. 181
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festgelegte Reaktionshandlungen (Sanktionshandlungen) ausdrücklich erlaubt. Institutionen sind deshalb "[... ] collective action in restraint, Iiberation, and expansion of individual action." 186 Es überrascht daher nicht, daß Institutionen einen dualen Charakter aufweisen: zum einen beschränken sie Verhalten, zum anderen ermöglichen sie bestimmtes Verhalten. 1117 c) Informationsökonomische Wirkungen
Entscheidend für die Reduktion komplexer Entscheidungssituationen und für die Erhöhung der Handlungsflexibilität scheint die Bereitstellung bestimmter Informationen durch Institutionen zu sein. Jedes Gesellschaftsmitglied läuft in Folge der permanenten Veränderungen unserer Umwelt Gefahr, daß sein Wissen schnell und fortlaufend entwertet wird. Als Individuum wird jedermann mit der "Tatsache unserer unvermeidlichen Unkenntnis der meisten besonderen Tatsachen, die die Prozesse der Gesellschaft bestimmen [. . .]" 188, konfrontiert.189 Die wirtschaftlichen Probleme und Herausforderungen resultieren deshalb hauptsächlich aus den Veränderungen der besonderen Umstände von Zeit und Ort. Das Wissen über diese beson185 Siehe dazu auch Wenger, E. (1984). In Institutionen verankerte Rechte schließen im Umkehrschluß die Beschränkung der Aktionsflexibilität anderer ein. Siehe Elsner, W. (1986), S. 314. 186 Commons, J. R. (1934), S. 73. Commons sagt mit dieser Definition, daß sich Institutionen im interpersonellen Handeln ausdrücken ("collective action"), individuelles Handeln einschränken ("restraint"), von Diskriminierung und Zwang durch andere befreien ("liberation") und im Rahmen von Institutionen, z. B. Gemeinschaftsuntemehmungen, von Individuen mehr erreicht werden kann ("expansion"). Elsner weist darauf hin, daß Commons in der institutionalistischen Theorie als erster die Freiraum schaffende Funktion von Institutionen explizit und in besonderer Schärfe betont hatte. Siehe Elsner, W. (1986), S. 324. 187 Vgl. Röpke, J. (1980), S. 129. Nach Röpke führt die verhaltensbeschränkende Funktion von Institutionen zu einer negativen Umweltkontrolle. Die verhaltensermöglichende Funktion durch Sicherung von individuellen Aktionsfreiräumen ermöglicht eine positive Umweltkontrolle, d. h. eine aktive Beherrschung unerwarteter Situationen. 188 Hayek, F. A. v. (1980), S. 28. Die Bedeutung und Wichtigkeit der notwendigen Unkenntnis hat Hayek in Die Veifassung der Freiheit intensivst diskutiert. Siehe Hayek, F. A. v. (1971 ), insbesondere Kapitel 2. Zur daraus resultierenden strukturellen Unsicherheit siehe auch Langlois, R. N. (1994), S. 120. 189 Siehe Popper, K. R. (1994 a), S. 42: ,,Jede Lösung eines Problems schafft neue, ungelöste Probleme, um so interessantere Probleme, je schwieriger das ursprüngliche Problem war und je kühner der Lösungsversuch. Je mehr wir über die Welt erfahren, je mehr wir unser Wissen vertiefen, desto bewußter, klarer und fester umrissen wird unser Wissen über das, was wir nicht wissen, unser Wissen über unsere Unwissenheit. Denn die Hauptquelle unserer Unwissenheit liegt ja darin, daß unser Wissen nur begrenzt sein kann, während unsere Unwissenheit notwendigerweise grenzenlos ist."
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deren Umstände, welches man auch "lokales Wissen" oder Tatsachenwissen nennen kann, 190 ist insofern Voraussetzung für eine schnelle individuelle Anpassung an neue Situationen und damit für die Lösung vieler wirtschaftlicher Probleme. Die eigentliche Schwierigkeit liegt für jedes Wirtschaftssubjekt darin, diese notwendigen Informationen zu erlangen. Die Träger des lokalen Wissens sind nämlich die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft, wodurch dieses Wissen - auch in unterschiedlichem Maße - über alle Gesellschaftsmitglieder verstreut und in seiner Gesamtheit niemandem alleine zur Verfügung steht. 191 Das Informationsproblem kann aber nicht einfach durch bewußtes Zusammentragen und Konzentration von immer mehr individuellem Tatsachenwissen auf eine einzelne Person oder Organisation gelöst werden. Wegen der Zerstreutheit des lokalen Wissens ist es nämlich unmöglich, daß alle relevanten Informationen eingesammelt werden können. 192 Die unbestreitbaren Erfolge der Wissenschaften können uns vielleicht irrigerweise annehmen lassen, daß wissenschaftlicher Fortschritt helfen könne, jene konstitutive Unkenntnis zu überwinden. Leider erweist sich diese Hoffnung aus zwei Gründen als irrig: erstens offenbart uns jeder wissenschaftliche Fortschritt immer deutlicher den Umfang unseres Unwissens 193 und zweitens verkennt ein blinder Glaube an die Wissenschaft auch die Methode der Wissenschaft. Sie besteht nämlich nicht darin, Wissen über besondere Tatsachen "anzusammeln", sondern darin, wissenschaftliche Erkenntnis aus der Aufstellung "von Hypothesen, die systematischen Anstrengungen, sie zu widerlegen, bisher standgehalten haben" 194, zu ziehen. Zu berücksichtigen ist dabei, daß es verschiedene Arten von Wissen gibt. Individuen können neben dem Wissen über besondere Umstände bestimmter Ereignisse im Raum-Zeit Koordinatensystem (Tatsachenwissen), auch wissenschaftliches Wissen erwerben. 195 Vgl. Hayek, F. A. v. (1976), S. 103 ff. und S. 107 f. Hayek nennt dieses Wissen deshalb auch verstreut: "dispersed knowledge", Hayek, F. A. v. (1976), S. 104. Gewisse Informationen über zeitliche und räumliche Gegebenheiten können natürlich auch mehreren Personen gleichermaßen zur Verfügung stehen, indem sie z. B. mit Einwilligung transferiert werden. Häufig ist es aber gerade im Interesse des Einzelnen, das Wissen besonderer Tatsachen nicht weiterzugeben, um aus dem Wissen einen persönlichen Vorteil ziehen zu können. 192 Vgl. Hayek, F. A. v. (1976), S. 103 ff. Deswegen ist nach Hayek jede Art von zentraler Planwirtschaft auch zum Scheitern verurteilt. Siehe dazu insbes. Hayek, F. A. v. (1984), S. 54 ff., ders. (1976), S. 104 ff., ders. (1991), ders. (1979a). 193 "Unsere Unwissenheit ist grenzenlos und ernüchternd. Ja, es ist gerade der überwältigende Fortschritt der Naturwissenschaften [.. .], der uns immer von neuem die Augen öffnet für unsere Unwissenheit, gerade auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften selbst." Popper, K. R. (1984), S. 78. 194 Hayek, F. A. v. (1980), S. 33. 190 191
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Bedeuten diese Erkenntnisse etwa, daß es aus dem Unwissen-Dilemma keinen Ausweg geben sollte, also eine Wissenskoordinierung grundsätzlich unmöglich sei? Genau eine solche Leistung können aber gewachsene Institutionen erbringen, weil sie die Nutzbarmachung des weit verstreuten Wissens erlauben. In ihnen ist im Laufe gesellschaftlicher, nicht bewußt gesteuerter Evolutionsprozesse gerade das nicht-wisssenschaftliche Tatsachenwissen eingeflossen. Sie informieren darüber, "welche Art von Gegenständen und Leistungen verlangt werden und wie dringlich" 196 und über die voraussichtlichen Handlungen anderer sowie - in der Regel - über die Sanktionshandlungen auf deviantes Verhalten. Die Beachtung von Institutionen ist im Prinzip nichts anderes als Wissensverwertung und hilft zugleich bei der Erfüllung der individuellen Anpassungsherausforderungen: "Wir gebrauchen ständig Formeln, Symbole und Regeln, [... ], durch deren Verwendung wir die Hilfe von Wissen in Anspruch nehmen, das wir persönlich nicht besitzen.'d97 Der informative Charakter von Institutionen läßt sich mit dem von anderen Dingen aus der vom Menschen geschaffenen Welt 3 vergleichen, z. B. mit dem Inhalt von Lehrbüchern. 198 Mit dem Ausdruck "Welt 3" bezeichnet Popper die Welt der immateriellen, objektiven Schöpfungen des menschlichen Geistes. Dazu zählt z. B. unser gesamtes objektives Wissen, d. h. der Inhalt all unserer Bücher (oder anderer Informationsträger). Alles was in den Büchern steht ist deswegen objektives Wissen, weil es durch sprachliche Formulierung in Wort und Schrift allen Individuen zugänglich gemacht werden kann und seine Speicherung entpersonijiziert wurde. Studieren wir Lehrbücher, wird dieses objektive Wissen von Subjekten aufgenommen und 195 Hayek, F. A. v. (1976), S. 106 ff., Baird C. W. (1987), S. 202, Garrison, R. W. (1986), S. 442. 196 Hayek, F. A. v. (1969e), S. 254. Welcher Art die gespeicherten Informationen sind, verdeutlicht folgender Vergleich: "Der Unterschied zwischen dem wirtschaftlichen Wettbewerb und dem erfolgreichen Verfahren der Wissenschaft ist, daß der erste eine Methode zur Entdeckung besonderer vorübergehender Umstände darstellt, während sich die Wissenschaft etwas zu entdecken bemüht, das manchmal "allgemeine Tatsachen genannt wird,[. ..]." Hayek, F. A. v. (1969e), S. 251. 197 Hayek, F. A. v. (1976), S. 117. Siehe auch Baird, C. W. (1987), S. 193 f. Langlois spricht deswegen auch von der "informational-support function" von Institutionen, Langlois, R. N. (1986b), S. 237. 198 Die Terminologie der drei Welten (Welt I, Welt 2, Welt 3) stammt von Popper und entspringt seiner pluralistischen Philosophie über das Leib-Seele-Problem. Siehe dazu Popper, K. R. (1973), S. 172 ff., ders. (1994) S. 76 ff., S. 93 ff. und S. 102 ff., ders. (1984), S. 16 ff., ders. (1997), S. 425 ff. und S. 434 ff. Die Welt 1 umfaßt die physischen Vorgänge oder Zustände, also belebte und unbelebte Körper, Kräfte und Kraftfelder usw. Die Welt 2 ist die Welt der psychischen Vorgänge, der Bewußtseinszustände, d.h. der bewußten und unbewußten Erlebnisse und Zustände des menschlichen Geistes. Siehe auch Kapitel F.II. in dieser Arbeit.
S Schaffer
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zu subjektivem Wissen. Umgekehrt gilt, daß subjektives Wissen (unsere Gedanken, unsere Ideen, unsere Kenntnisse) durch sprachliche Formulierung zu objektivem Wissen, zu einem Objekt der Welt 3, wird. 199 Es ist also nicht so, daß objektives Wissen an sich subjektives Wissen schafft, sondern objektives Wissen wird durch den Erwerb und die Nutzung der Wirtschaftssubjekte zu subjektivem Wissen. Auch Institutionen, die geplanten wie die unbeabsichtigt gewachsenen, gehören der Welt 3 an. Besonders bei geplanten Institutionen fallen ihre subjektiven Wurzeln ins Auge. Ein Mietvertrag z.B. entspringt den subjektiven Wünschen der Vertragspartner: der Mieter erwartet für die Dauer des Mietvertrages die vertraglich vereinbarte Bereitstellung der Wohnung, und der Vermieter erwartet dafür die Bezahlung der Miete. Zugleich sind im Mietvertrag die Rechte und Pflichten der Vertragspartner niedergelegt, d. h. die subjektiven Ziele und Erwartungen sind durch den Vertrag "objektiviert". Man kann von Institutionen auch als einem Reservoir sprechen, aus dem subjektives Wissen geschöpft werden kann. "Institutions are after all, stored knowledge ready and waiting for individuals to adopt. " 200 Damit wird nochmals deutlich, daß die Bereitstellung von Informationen durch Institutionen immer als Voraussetzung zu verstehen ist. Letztlich bestimmt die individuelle Fähigkeit, Kenntnisse zu erwerben und sie wirksam nutzen zu können, den Erfolg eines Wirtschaftssubjektes am Markt.
199 Hayek vertritt in seinen ersten Abhandlungen eine andere These, wonach kulturelle Regeln hauptsächlich implizites Wissen enthalten. Implizites Wissen ist die Kenntnis von unerklärten und auch unerklärbaren Zusammenhängen. Regeln enthalten insofern überwiegend prinzipiell unartikulierbares Wissen. Vgl. Hayek, F. A. v. (1952a), S. 184-190, ebenso Polanyi, M. (1985), S. 5, Gray, J. (1984), S. 14, der die Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen durch das Begriffspaar "praktisch" und "theoretisch" verdeutlicht. Dieser Vergleich deckt sich mit Hayeks Unterscheidung zwischen praktischem Wissen ("local knowledge") und wissenschaftlichem Wissen als Grundlage von Theorien. Vgl. Hayek, F. A. v. (1976), S. 106 f. und S. 108. Vollmer hat die These des prinzipiell unartikulierbaren Wissens widerlegt. Vgl. Vollmer, G. (1986), S. 323. Implizites Wissen sei demnach nur auf einer faktischen, aber nicht auf einer prinzipiellen Ebene anzusiedeln. Implizites Wissen ist als faktisch noch nicht artikuliertes Wissen zu verstehen. In seinen späteren Werken hat sich Hayek von seiner These der prinzipiellen Unartikulierbarkeit distanziert: "[ . .. ] impliziert daher nicht, daß diese Regeln in artikulierter Form vorhanden sind, sondern nur, daß es möglich ist, Regeln zu entdecken, die die Individuen in ihren Handlung tatsächlich befolgen." Hayek, F. A. v. (1980), S. 66. Mit ihrer Entdeckung wird eine Regel (und damit das implizite Wissen) zugleich artikulierbar. Zu den epistemologischen Grundlagen und zum epistemischen Gehalt von Institutionen siehe auch in diesem Buch Kapitel F.IV. 200 Langlois, R. N./M. Everett (1994), S. 12.
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2. Gesellschaftliche Wirkungen Die obigen Ausführungen haben gezeigt, daß ökonomische Institutionen als Instrumente zur Lösung ökonomischer Entscheidungsprobleme die Entscheidungen selbst mitbestimmen können. Ein wesentliches Merkmal für Institutionen ist, daß ihr Wirkungsbereich nicht auf ein einzelnes Individuum beschränkt ist. Viele der in einer Gesellschaft existierenden Institutionen besitzen zwar nur eine partielle Gültigkeit, d. h., daß sie jeweils nur für eine begrenzte Art von Problemlagen oder nur für eine bestimmte Personengruppe von Entscheidungsrelevanz sind. Durch die funktionalen Abhängigkeiten und durch ihre hierarchische Ordnung ergänzen sich die zahlreichen Institutionen aber zu dem spezifischen institutionellen Arrangement einer Gesellschaft. 201 Die Tatsache der wechselseitigen Abhängigkeiten macht für die Analyse der makroökonomischen Wirkungen von Institutionen eine Unterscheidung in eine Funktionsebene und eine Ordnungsebene von Institutionen sinnvoll. 202 Auf der Funktionsebene werden Institutionen in ihrer prozeßtheoretischen Wirkung als gesellschaftliche Koordinierungsmechanismen untersucht. Im Mittelpunkt steht ihre gesellschaftliche Koordinierungsfunktion. Diese Betrachtung konzentriert sich auf die Fragestellung, wie Institutionen in ihrer Eigenschaft als stabile Austauschbeziehungen, zu denen u. a. der Markt, stabile Tauschwerte (relative Preise), anerkannte Tauschmedien (Geld) und andere Koordinierungsmittel (wie z. B. Kaufverträge) zählen, die Übereinstimmung dezentraler Pläne herbeiführen. Durch die Betrachtung der Ordnungsebene soll jener Aspekt berücksichtigt werden, daß die Funktionsfähigkeit von Märkten nicht unabhängig vom institutionellen Rahmen erklärt werden kann. 203 Märkte sind vielmehr an die Existenz gewisser Normen gebunden. Damit wird der ordnungstheoretische Aspekt einer gesellschaftlichen Bedingungsfunktion angesprochen, der auch schon von Hayek herausgestellt worden ist. Hayek betonte, daß die spontane Bildung von Ordnungen (also gesellschaftlicher institutioneller Arrangements) das Vorhandensein von bestimmten Regeln mit abstraktem und spontanem Charakter voraussetzt, die konvergentes Verhalten generieren. 204 Auch die prozeßtheoretische Betrachtung gesellschaftlicher Wirkungen von Vgl. Kapitel A.V. Im Prinzip wird damit der Unterscheidung von Davis und North in "institutional arrangements" (Funktionsebene) und in "institutional environment" (Ordnungsebene) gefolgt. Siehe dazu Davis, L. E./D. C. North (1971) und Fn. 102 in Kap. A.II., S. 38 in dieser Arbeit. 203 Vgl. Lachmann, L. M. (1963), S. 64. Diese Erkenntnis konnte Lachmann schon bei den Nationalökonomen der klassischen Schule feststellen. Siehe ebd., S. 66, so auch Weise, P. (1996), S. 207. 204 Vgl. Hayek, F. A. v. (1980), S. 57 ff., insbes. S. 65 und S. 69. 201
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Institutionen läßt sich mit Hayeks Vorstellung von Institutionen vereinbaren. So wird der Markt von Hayek als gesellschaftliches Entdeckungsverfahren interpretiert, wonach über den marktliehen Tauschprozeß die für die gesellschaftliche Koordinierung notwendigen Informationen in Form der Marktpreise offenbart werden. 205 a) Koordinationsleistungen auf der gesellschaftlichen Funktionsebene
Die gesellschaftliche Koordinationsleistung von Institutionen ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß ihre unsicherheits- und komplexitätsreduzierenden Wirkungen nicht auf die individuelle Ebene beschränkt bleiben.206 Gesamtwirtschaftlich äußert sich das Unsicherheits- und Komplexitätsproblem darin, daß die dezentralen Pläne, die sich auf unsicheren Erwartungen über Umweltzustände und Handlungen der Tauschpartner stützen, aufeinander abgestimmt werden. Offensichtlich ist für diese Koordinierung die Vermittlung von kollektiven Informationen und kollektivem Wissen der zentrale Punkt, was insofern problematisch ist, weil Wissen verwertet werden muß, "das niemandem in seiner Gesamtheit gegeben ist. " 207 Das Problem der Wissensvermittlung kann aber durch Institutionen gelöst werden: "Institutions enable us to make use of the knowledge of others in order to make our own expectations more accurate and thus increase the degree of order in the market. " 208 In seiner vermutlich ältesten erkenntnistheoretischen These über frei am Markt gebildete Preise hat Hayek die Übermittlungs20s Wenn der Markt als Institution gleichermaßen die Entstehung von ökonomischen Institutionen, nämlich des Preissystems, erklären kann, wird damit das Problem des infiniten Regresses angesprochen, wonach für die Entstehung von Institutionen wiederum die Existenz anderer Institutionen vorausgesetzt werden muß. In Kapitel D.II.2 und in Kapitel F. wird dieser Aspekt genauer untersucht, weswegen auf eine Thematisierung in diesem Kapitel verzichtet wird. 206 Vgl. Elsner, W. (1986), S. 200, Popper, K. R. (1994b), S. 298, Hayek, F. A. v. (1952a), S. 34, Schüller, A. (1987), S. 78, Weber, M. (1968), S. 473 f., Lachmann, L. M. (1973), S. 41, Dietl, H. (1993), S. 86 f. 207 Hayek, F. A. v. (1976), S. 104. 208 Horwitz, S. (1994), S. 283. "In particular, institutions provide social knowledge which may be needed for interaction with other individual decision makers.", Boland, L. A. (1979), S. 963. In dem Wort "provide" kommt der auf S. 66 angesprochene Aspekt des Wissensreservoirs zur Geltung. Für Hayek ist die Aufeinanderabstimmung die Form, "in der sich Ordnung im gesellschaftlichen Leben manifestiert," Hayek, F. A. v. (1976), S. 58. O'Driscoll macht aber deutlich, daß diese Informationswirkung nicht leicht zu fassen ist, weil manche Institutionen den Fluß von Informationen unterstützen, andere ihn aber auch verhindern. Siehe O' Driscoll, G. P. Jr. ( 1978), S. 119. Damit spricht er instrumentelle und zeremonielle Funktionen von Institutionen an. Siehe dazu ausführlich Kapitel A.VI.l.c), S. 78 ff. dieser Arbeit.
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funktion und Orientierungsfunktion von Institutionen erarbeitet: "Wir müssen das Preissystem als einen solchen Mechanismus zur Vermittlung von Informationen ansehen, wenn wir seine wirkliche Funktion verstehen wollen [...]."209 Die im wettbewerbliehen Entdeckungsverfahren offengelegten Informationen sind "[ .. .] vom Markt selbst entwickeltes Wissen, das eher zur ganzen Gesellschaft (wie jedes tradierte Wissen) als zu einem seiner einzelnen Mitglieder gehört. " 210 Insofern können Institutionen als "interpersonal stores of coordinative knowledge"211 bezeichnet werden. Voraussetzung dafür, daß Institutionen ihre gesellschaftliche Informationsund Koordinierungsfunktion erfüllen können, ist, daß das institutionalisierte Wissen seinen Ursprung in den Interaktionen der Individuen hat. 212 Erst dadurch zählt dieses Wissen zur Kategorie des kollektiven Wissens. Diese Eigenschaft kann nicht durch bewußtes Anhäufen von Informationen auf im politischen Prozeß geschaffene Institutionen simuliert werden. Neben epistemologischen Gründen verhindern rein technische Schwierigkeiten, daß eine genügend große Menge an Informationen auf geplante Institutionen konzentriert werden kann.Z 13 Deswegen enthalten evolutionär, aus der Interaktion von Individuen entwickelte Institutionen immer mehr Wissen als jede im politischen Prozeß bewußt geschaffene Institution.Z 14 Nun ist es aber nicht so, daß nur der Markt mit seinem Preissystem eine gesamtwirtschaftliche Koordinierungsleistung erbringt. Vielmehr findet sich heutzutage eine Vielzahl weiterer Institutionen, die die Funktionsweise des Marktes verbessern helfen. Die für den Gütertausch wichtigen Voraussetzungen, wie z. B. die Konditionen über Ort, Zeit und Marktpartner bzw. -gegner werden vielerorts durch Börsenplätze, Einkaufszentren und Messen normiert. Dadurch wird die Informationsbeschaffung nicht nur vereinfacht, sondern auch verläßlicher. Auch die moderne Erscheinungsform des Geldes, die Verwendung standardisierter Handelsmengen, einheitlicher Maße und Gewichte, normierter Produktbezeichnungen, Qualitätsbezeichnungen wie TÜV- oder DIN-Normen und rechtlich geschützter Berufsbezeichnungen, Haftungsregeln im Handelsrecht, Versicherungen oder Wertsicherungsklausein erleichtern den Markttausch. 215 Die Institutionen leisten Hayek, F. A. v. (1976), S. 115. Vgl. ebenfalls Lachmann, L. M. (1973), S. 45. Gray, J. (1984), S. 39. Siehe auch dazu Hayek, F. A. v. (1969e), S. 249 ff. 211 Langlois, R. N. (1986b), S. 237 und S. 247. 212 Hayek begründet die Notwendigkeit der Interaktion, "weil der begrenzte Gesichtskreis des Einzelnen den des anderen genügend überschneidet, daß durch viele Zwischenglieder die relevante Information allen übermittelt wird." Hayek, F. A. v. (1976), S. 114. Vgl. ebenso Blaseio, H. (1986), S. 12, Röpke, J. (1980), S. 130 und Streit, M. E. (1992). 213 Vgl. Hayek, F. A. v. (1976), S. 111 f., O'Driscoll, G. P., Jr./M. J. Rizzo (1985), S. 39 und Vaughn, K. I. (1994), S. 230. 21 4 Vgl. Hayek, F. A. v. (1969d), S. 82 und S. 86. 209
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daher einen wesentlichen Beitrag zur Senkung von Informations- und Transaktionskosten, die unweigerlich mit jeder Art von Interaktion in Gesellschaften verbunden sind. Allgemein kann man folgende Transaktionskosten unterscheiden: "[ . .. ] of information, of negotiation, of drawing up and enforcing contracts, of delineating and policing property rights, of monitaring performance, and of changing institutional arrangements."216 Dadurch wird in der Regel erst die Nutzung komplexer Produktions- und Tauschvorgänge in einer arbeitsteiligen Gesellschaft möglich. 217 Das liegt daran, daß mit der Zunahme der Spezialisierung auch der Bedarf an verläßlichen Institutionen wächst, die es erlauben, jene komplexen Tauschverträge mit möglichst geringer Unsicherheit über die Aussicht auf Erfüllung von Vertragsbedingungen abzuschließen?18 Institutionen tragen damit zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Flexibilität bei. Die Institution des Geldes verkörpert diese Eigenschaft wohl am deutlichsten?19 Vor der Entwicklung des Geldes in seiner heutigen Form war der Tausch nur nach dem Prinzip Ware gegen Ware möglich. Ein jeder war gezwungen einen Partner zu finden, der auch genau das von einem selbst angebotene Produkt nachfragte. Entsprechend schwierig und zeitaufwendig Vgl. z.B. Schüller, A. (1983), S. 160. Vgl. Cheung, St. N. (1987), S. 56. North zählt Informationskosten zu den Transaktionskosten, sie sind nach ihm sogar ihre entscheidende Komponente. Vgl. North, D. C. (1992), S. 32, ebenso Williamson, 0. E. (1985). Siehe dazu auch Picot, A./Dietl, H. (1990), S. 180. Im folgenden wird lediglich zur Verdeutlichung des Informationsaspektes diese Trennung beibehalten. Zu Bedeutung und Problemen von Transaktionskosten und institutionellen Arrangements in sozialistischen Planwirtschaften und zu Maßnahmen ihrer Überwindung im Transformationsprozeß siehe Schaffer, T. (1996). 217 Vgl. North, D. C. (1984), S. 7, ähnlich Arrow, K. J. (1983), S. 149 und Bössmann, E. (1982), S. 665, Eger, T./P. Weise (1990), S. 99, North, D. C. (1992), wo in den Kapiteln 4 und 8 über die Transaktionskosten eine Verknüpfung der Wachstumstheorie mit der Institutionenökonomie hergestellt wird. Eine ausführliche und kritische Diskussion der Funktion von Transaktionskosten in der Northschen Theorie findet man bei Löchel, H. (1995), S. 19 ff. Die Verbindung zwischen Transaktionskosten und Institutionen wird insbesondere in der Neuen Institutionenökonomik thematisiert. Mit Hilfe von Transaktionskosten werden dort Institutionen für die Theorie derart operationalisiert, daß damit die Wahl alternativer Institutionen erklärt werden soll. Siehe insbes. Williamson, 0. E. (1975) und ders. (1981) und natürlich Coase, welcher über die Einsparung von Transaktionskosten die Existenz von Unternehmungen erklärt. Vgl. Coase, R. H. (1937). 218 Vgl. North, D. C. (1992), S. 40. 219 Der Prozeß der Geldentstehung wird unter kontrakttheoretischer und besonders unter evolutorischer Perspektive schon bei Menger, C. (1871) beschrieben, insbes. S. 25~260. Siehe auch ders. (1883), insbes. S. 172-178 und ders. (1909). Siehe ebenso Mises, L. v. (1912), S. 4-9 und S. 35-40. 215
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gestaltete sich der Handel. Nach und nach wurde gegen solche Güter getauscht, die für jedermann im Hinblick auf Zeit und Ort die absatzfähigsten waren. 220 Je stärker die gesellschaftliche Arbeitsteilung voranschritt, desto mehr benötigte man ein Tauschmittel, welches einen möglichst einfachen und kostensparenden Handel erlaubte. Banknoten und das moderne Buchgeld stellen in dieser Entwicklung das vorläufige Ende dar. Geld befähigt die Wirtschaftssubjekte, Produkte abzusetzen und Arbeitsleistung anzubieten, ohne sich im voraus entscheiden zu müssen, welche Güter man im Gegenzug nachfragen soll. Geld ist "that institution which permits deferment of specialized, fully detailed choice."221 Die uns bekannte wirtschaftliche Entwicklung wäre ohne die Institution des Geldes kaum möglich gewesen. Das heißt allerdings nicht, daß die Entstehung des Geldes parallel zur Handelsentwicklung verlief. Wilhelm Gerloff vermochte vielmehr zu zeigen, daß für die Entstehung des Geldes vor allem die soziale Bedeutung von Gütern, die zunächst nur der reinen Besitzakkumulation dienten, von besonderer Bedeutung gewesen ist. 222 Insbesondere bei primitiven Völkern gibt es Güter, die nicht für den Lebensunterhalt gespeichert werden, sondern allein aus dem Bedürfnis, sich durch ihren Besitz von anderen Gesellschaftsmitgliedern zu unterscheiden, ja sich abzuheben. 223 "Zur soziologischen Kennzeichnung des hier charakterisierten Geldes ist zu sagen, daß es klassengebunden ist. Das ursprüngliche Geld entsteht als Klassengeld. " 224 Wegen ihrer besonderen sozialen Bedeutung entwickelten sich viele dieser Akkumulationsgüter zu der nach Gerloff vermutlich ersten Verwendungform von Geld, nämlich dem Zeremonialgeld. 225 Zum Besitzwechsel dieser Güter und damit zur ersten Stufe in der Geldentstehung kommt es nach Gerloff durch den Gabentausch. Bei diesem komme es nicht auf den wirtschaftlichen Wert des Entgeltes, sondern auf die Gesinnung der Beteiligten an. Dabei wurde aber das Äquivalenzprinzip gewahrt, denn eine Gabe bedingte immer zugleich eine Gegengabe. Am Beispiel von Ringen und Kleinoden läßt sich die Entwicklung von Wertvorstellungen sehr gut zeigen: von der Opfergabe oder der Geburtgabe zum Priesterlohn, zum Brautpreis, zum Lösegeld oder Kriegstribut bis zum Gastgeschenk. Deswegen gilt für Gerloff folgendes: "Aus dem Gabenverkehr [.. .] entsteht das Geld. "226 Nach Gerloff führt also das Geltungsbedürfnis genauso zur Güterakkumulation wie zur Güterzirkulation und damit zur Entstehung von einer 220 221 222 223 224 225 226
Dies waren zunächst Nutztiere. Shackle, G. L. S. (1967), S. 91, Hervorhebungen weggelassen. Vgl. z.B. Gerloff, W. (1951) und ders. (1952). Vgl. Gerloff, W. (1951), S. 15 und ders. (1952), S. 35 f. Gerloff, W. (1951), S. 18. Vgl. Gerloff, W. (1952), S. 38 ff. für die dort angegebenen Beispiele. Gerloff, W. (1952), S. 42.
A. Institutionen und Ökonomie
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Art Geld. Allerdings nehmen Güter aus soziologischer Perspektive die Rolle des Geldes als soziales Geltungsmittel früher ein als ihre Rolle als Tauschmi ttel. b) Koordinationsleistungen auf der Ordnungsebene
In der Beschreibung der gesamtwirtschaftlichen Wirkungen von Institutionen stand bisher der komplementäre Charakter von Institutionen im Vordergrund. Durch ihre verhaltenseinschränkende Eigenschaft sind Institutionen aber auch in der Lage, Marktbeziehungen zu substituieren. Beide Eigenschaften spielen insbesondere auf der Ordnungsebene eine wichtige Rolle. Dabei ist der Übergang von normativer zu positiver Analyse fließend, weil die gesamtwirtschaftlichen Funktionen von Institutionen auf der Ordnungsebene nicht grundsätzlich daran gebunden sind, daß sich die Institutionen evolutionär herausgebildet haben. Unter der Garantiefunktion von Institutionen ist dabei die Eigenschaft zu verstehen, konvergente Entwicklungen in der Interaktion zwischen den Individuen zu erwirken. "Eine Norm koordiniert Verhalten zwischen den Menschen, indem sie eine bestimmte Handlung verbietet oder gebietet." 227 Denn, "[... ] wenn die Regel wäre, daß jeder Einzelne versuchen sollte, jeden, dem er begegnete, zu töten, oder zu fliehen, sobald er einen anderen sähe, so wäre das Ergebnis offensichtlich die völlige Unmöglichkeit einer Ordnung, in der Tätigkeiten der Einzelnen auf einer Zusammenarbeit mit anderen beruhten. " 228 Insofern können Institutionen das geplante wie ungeplante Entstehen und das Funktionieren anderer Institutionen garantieren. Wie Hayek betont, kann eine spontan entstandene Institution, wie z. B. der Markt, durchaus auf Regeln beruhen, "[ .. .] die zur Gänze das Ergebnis eines bewußten Entwurfes sind."229 Institutionen bzw. Regeln auf der Ordnungsebene können also bewußt geplant werden und ihre gesellschaftliche Garantiefunktion erfüllen. Entscheidend ist lediglich, daß diese Art von Regeln auf eine unbekannte und unbestimmte Anzahl von Personen und Fällen anwendbar sein muß. Diese Regeln müssen zwar nicht notwendigerweise für alle Gesellschaftsmitglieder gelten, mindestens aber für ganze Klassen von nicht namentlich explizit aufgeführten Individuen?30 Institutionen dieser Form sind abstrakt (allgemein) und besitzen spontanen Charakter, womit sie die Eigenschaft Weise, P. (1996), S. 205. Hayek, F. A. v. (1980), S. 67. Ebenso urteilt z.B. Weise, P. (1996), S. 207, die Garantiefunktion wird von ihm folgendennaßen umschrieben: "Indem Nonnen Verbote oder Gebote aussprechen, erhöhen sie in einem Interdependenzgeflecht die Ordnungssicherheit [...]." 229 Hayek, F. A. v. (1980), S. 69. Dies mag insofern etwas überraschen, weil die infonnationsökonomische Wirkung von geplanten Institutionen nicht im gleichen Maße erfüllt werden kann wie von spontan entstandenen Institutionen. 227
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VI. Die ökonomische Wirkung von Institutionen
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besitzen, konvergente, spontane Entwicklungen zu ermöglichen. Sie sind in der Institutionen-Hierarchie auf den oberen Stufen zu finden? 31 Zu diesen Regeln zählen insbesondere einige Regeln des Rechts und der Moral und Sitte. Ein Blick auf den Charakter unseres Rechtssystems offenbart aber, daß niemals alle Rechtsregeln bewußt gestaltet worden sind. Auch die meisten Regeln der Moral und Sitte sind spontan gewachsen. Es ist deshalb eine irrige Annahme, daß es zur Entwicklung moderner hochkomplexer Gesellschaften bewußt gestalteter Ordnungen bedarf. "In der Tat sind natürlich die Regeln, die die Entstehung dieser komplexen Ordnung möglich machten, ursprünglich nicht in Erwartung dieses Ergebnisses entworfen worden; aber die Menschen, denen es glückte, geeignete Regeln anzunehmen, entwickelten eine komplexe Zivilisation, die sich dann auf andere ausdehnte."232 Über die Begriffe "abstrakte Regeln", "spontane Ordnung" und "Komplexitätsgrad" herrscht in der Literatur vereinzelt eine gewisse Verwirrung. Mißverständlich ist vor allem die Identifizierung von abstrakten Ordnungen mit spontanen Ordnungen, wenn mit der Eigenschaft spontan lediglich die Entstehungsweise gemeint ist (korrekterweise müßte es dann heißen "spontan entstandene Ordnung". Auf diesen Zusatz verzichtet allerdings selbst Hayek, was vermutlich einer der Hauptgründe für die Verwirrung um diese Begriffe sein dürfte)?33 Abstrakte Ordnungen müssen aber nicht zwangsläufig spontan entstehen. Abstrakt bedeutet lediglich, daß eine Ordnung, unabhängig von der Art ihres eigenen Entstehens es ermöglicht, daß aus ihr spontan andere Ordnungen hervorgehen können. 234 Man kann dann von der spontanen Struktur oder dem spontanen Charakter einer abstrakten Ord23° Vgl. Hayek, F. A. v. (1980), S. 69 und S. 73 f. "Es ist die Vorbedingung für die Bildung dieser abstrakten Ordnung, daß wir die konkreten und individuellen Einzelheiten den einzelnen überlassen und diese nur durch allgemein abstrakte Regeln binden." ders. (1969c), S. 44. 231 Vgl. S. 60 dieser Arbeit. "Die abstrakten und allgemeinen Regeln des Gesetzes im engeren Sinn, [...], zielen nicht auf die Schaffung einer Ordnung durch Anordnung, sondern auf die Schaffung der Bedingungen, unter denen sich eine Ordnung von selbst bilden wird." Hayek, F. A. v. (1969c), S. 44. 232 Hayek, F. A. v. (1980), S. 74. Unter der Eignung von Regeln versteht Hayek, daß sie nur indirekt die Mitglieder dirigieren, indem sie jenen Regeln Geltung verschaffen, die das freie Interagieren und damit die Entstehung spontaner Ordnungen zulassen. Direkte Befehle oder Eingriffe sind dafür völlig ungeeignet. Siehe ebenda, s. 74 f. 233 Vgl. Hayek, F. A. v. (1980), S. 67 f. und S. 69. Eine spontane Ordnung ist "nicht von irgend jemand gemacht, sondern sie bildet sich. Deswegen wird sie gewöhnlich als ,spontane' oder auch [...] ,polyzentrische' Ordnung bezeichnet." Hayek, F. A. v. (1969c), S. 35 (Hervmtebungen im Original). 234 Diesen Zusammenhang verdeutlicht die Forderung, "die Befolgung abstrakter Regeln zu sichern, [...] die erforderlich sind, um die Bildung der spontanen Gesamtordnung herbeizuführen." ebd., S. 42.
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A. Institutionen und Ökonomie
nung sprechen. Deswegen kann auch eine Ordnung, die intendiert entsteht, konvergente, spontane Entwicklungen zulassen. Geplante Ordnungen können also abstrakte Ordnungen mit spontanem Charakter sein! Eine spontane Ordnung ist hingegen über ihre Entstehungsart bestimmt, sie ist unintendiert entstanden. 235 In dem Maße, wie eine Ordnung spontan entsteht, kann sie zudem einen hohen Komplexitätsgrad erreichen, den eine bewußte Planung wegen der begrenzten Erkenntnisfahigkeit des Planenden niemals erreichen kann. 236 Zugleich hängt die Komplexität der Struktur mit ihrem Charakter zusammen, d. h. je komplexer eine Ordnung wird, desto mehr muß sie von abstrakten Regeln beherrscht sein und desto weniger dürfen Anweisungen eine Rolle spielen. 237 Deswegen findet man in großen Organisationen ein große Zahl abstrakter Regeln als Ergänzungen zu den konkreten Anordnungen. Sie ermöglichen, daß Individuen innerhalb der Organisation von Wissen Gebrauch machen können, das der Organisator alleine nicht besitzen kann und ihnen deswegen auch nicht durch direkte Befehle bzw. Anordnungen zur Verfügung stellen kann. 238 Aus den obigen Überlegungen folgt also, daß Institutionen auf der Ordnungsebene grundsätzlich der bewußten Planung zugänglich sind, wodurch sie ganz gezielt als Instrumente zur Marktkontrolle durch politische Instanzen eingesetzt werden können. Die Wirkungen solcher Institutionen sind dann das Ergebnis normativer Zielsetzungen politischer Instanzen: Erstens können mit Institutionen ausdrücklich bestimmte Markttransaktionen verboten werden, wie z. B. der Handel mit Rauschgift oder Waffen. Zweitens können Institutionen zur Durchsetzung bestimmter verteilungspolitischer Ziele eingesetzt werden und dadurch Marktergebnisse explizit eingefordert werden, wie z. B. Mindestlöhne, Mindestrenten und Festpreise. Drittens können Institutionen sogar Märkte ganz schließen oder den Marktzugang zumindest erschweren, indem Lizenzen, spezielle Tauglichkeitsprüfungen für Produkte (Normvorschriften) oder für Marktteilnehmer (Zulassungen für Ärzte und Juristen) verlangt werden.239 In solchen Fällen kann es aber zu gesamtwirtschaftlich negativen Umverteilungseffekten kommen, 235 "Der spontane Charakter der sich ergebenden Ordnung muß daher von dem spontanen Ursprung der Regeln unterschieden werden, auf denen sie beruht [... ]" Hayek, F. A. v. (1981 a), S. 69. Zum spontanen Charakter einer abstrakten Ordnung schreibt Hayek, daß diese "allgemeinen Gesetzesregeln auf eine abstrakte Ordnung abzielen" und "diese Gesamtordnung völlig auf Regeln beruht, d. h. ihr Charakter völlig spontan ist und nicht einmal das Gerüst durch Befehle bestimmt wird", was eine Interpretation von spontanem Charakter im Sinne von abstrakter, d. h. allgemeiner Struktur nahelegt Siehe ebd., S. 42. 236 Vgl. ders. (1980), S. 23 f. und ders. (1969c), S. 42, Bouillon, H. (1991), S. 21. 237 Vgl. Hayek, F. A. v. (1969c), S. 42 f. 238 Vgl. ebd., S. 41. Siehe für eine Zusammenfassung der Ergebnisse in Tabelle A2 im Anhang.
VI. Die ökonomische Wirkung von Institutionen
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weil Anbieter vor möglicherweise leistungsfahigeren Konkurrenten geschützt werden. Andererseits wird die Markttransparenz erhöht und Informations- und Transaktionskosten werden gesenkt, weil nur noch wenige Anbieter um Kunden konkurrieren. Viertens dienen Institutionen als ein Mittel, Marktversagen zu beheben, indem sie direkt - im Fall von öffentlichen Gütern (z. B. Landesverteidigung) - oder indirekt (z. B. bei Umweltschäden) durch Gesetze (z. B. Wehrpflicht) oder staatliche Regulierungsbehörden (z. B. Umweltstandards) die Allokation knapper Ressourcen bestimmen. Am Beispiel des Gebrauchtwagenmarktes, auf dem das Problem der Qualitätsunsicherheit auftritt, verdeutlicht Akerlof die Koordinationswirkung von Institutionen für den Fall des Marktversagens. 240 Ausgangspunkt ist das Problem der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen den Marktteilnehmern, weswegen der Preis als Informationssystem seine Funktion nicht entsprechend der Hayekschen Vorstellung entwickeln kann. 241 Akerlof zeigt, daß die Marktseite, die über einen Wissensvorsprung verfügt, der Verkäufer, weil er über den tatsächlichen Qualitätszustand des Autos informiert ist, dies zum Nachteil der anderen Marktseite, des Käufers, ausnutzen kann. Langfristig wäre das Ergebnis zwangsläufig ein Marktzusammenbruch. Erst durch Institutionen, wie Qualitätsgarantien, Reputationsund Informationspolitiken könnte ein Marktversagen verhindert werden. Die Wirkungen von Institutionen auf individueller und auf makroökonomischer Ebene kann man folgendermaßen zusammenfassen: Das Set der institutionellen Arrangements, welches in seiner Gesamtheit die gesellschaftliche Ordnung bestimmt, bietet entsprechend seiner konkreten Ausgestaltung einigen Aktivitäten des Menschen bessere und anderen schlechtere Entfaltungsmöglichkeiten. Mit der Begünstigung bestimmter Verhaltensmöglichkeiten werden neue Chancen eröffnet, zugleich wird die Wahrnehmung anderer Möglichkeiten erschwert. Entsprechend faßt North zusammen: 239 Für North sind Institutionen, die die Einkommensverteilung regeln, Institutionen der Stagnation. Siehe North, D. C. (1990), S. 78. 240 Vgl. Akerlof, G. A. (1970). 241 Vgl. zu dieser Einschätzung auch North, D. C. (1992), S. 35. Der Zustand der asymmetrischen Informationsverteilung ist nach Hayek aber für die Situation großer Gesellschaften typisch, was eine Folge des zerstreuten, individuellen lokalen Wissens ist. Akerlofs Unsicherheitsproblem hinsichtlich unbekannter Qualitätsmerkmale müßte deswegen durch Hayeks wettbewerbliehe Entdeckungsverfahren gelöst werden. Daß dies nicht der Fall ist, liegt daran, daß genangenommen die Freilegung der Informationen über den Preismechanismus in Akerlofs "Market for Lemons" gestört ist, weil der Verkäufer den wahren Qualitätszustand des Wagens verheimlicht. Das gestörte Entdeckungsverfahren und nicht die asymmetrische Informationsverteilung ist also m. E. das eigentliche Merkmal des Marktversagens.
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A. Institutionen und Ökonomie
"Together with the standard constraints of economics they [die Institutionen A. v. V.] define the choice set and therefore detennine transaction and production costs and hence the profitability and feasibility of engaging in economic activity. [... ]. Institutions provide the incentive structure of an economy."242
c) Institutionen als Fesseln der sozialen Entwicklung: die These der Institutionen-Technik-Dichotomie
Die obigen Ausführungen lassen vermuten, daß Institutionen, soweit man spontan gewachsene Institutionen betrachtet, fast überwiegend positive Wirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben ausüben. Wesentlich kritischer hingegen werden bewußt geplante Institutionen bewertet, denn wegen des begrenzten Wissens und der begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Geistes ist mit mehr oder minder schwerwiegenden Planungsfehlern zu rechnen. Als warnendes Beispiel und damit als Beleg für die Überlegenheit spontan gebildeter Institutionen wird das Versagen des Sozialismus mit seiner zentral geplanten Struktur des Volkseigentums angeführt. 243 Im krassen Gegensatz zu dieser Position, deren Hauptvertreter u. a. v. Hayek und Popper sind, wird von den Vertretern des amerikanischen Institutionalismus die überwiegend, fast grundsätzlich negative Wirkung auch von spontan gewachsenen Institutionen herausgestellt. 244 Zwar versteht z. B. Veblen festgeschriebene Verhaltensmuster, also gewisse Institutionen, als nützliche, verdinglichte Handlungsformen und beschreibt damit zunächst die positive Funktion von Institutionen. 245 Andererseits betonen die amerikanischen Institutionalisten immer wieder den vergangenheitsbezogeNorth, D. C. (1991), S. 97. Dies wurde zumindest immer von den Liberalen wie Hayek und von den Ordnungstheoretikern hervorgehoben. Auch die schottischen Moralphilosophen betonten fast ausschließlich den positiven Charakter von Institutionen. Smith sah in den Institutionen des Rechts, der Moral und des Marktes zwar eine Beschränkung der Freiheit des Individuums, die aber andererseits erst die notwendige Kontrolle des Selbstinteresses des Einzelnen gewährleisteten, weswegen sie für die gesellschaftliche Wohlfahrt unverzichtbar sind. Siehe Smith, A. (l759b), S. 123, ders. (1759a), S. 340 f., ders. (1776b), S. I ff., S. 73 f. und S. 329. Siehe dazu auch Recktenwald, H. C. (1985), S. 22 ff., Krüsselberg, H.-G. (1984), S. 188, Samuels, W. 1. (1964a), S. 3. Offensichtlich dient als Bewertungsmaßstab die gesellschaftliche Wohlfahrt, ein natürlich recht unpräziser Begriff. Die Frage nach dem Beurteilungsmaßstab institutioneller Arrangements entspricht dem Problem der Isolierung eines evolutorischen Effizienzkriteriums. 244 Vgl. Reuter, N. (1996), S. 116 ff., Veblen, T. B. (1899), Ayres, C. E. (1967), S. 1. Diese Sichtweise wurde in extremster Form von Ayres vertreten, wohingegen Veblen und noch deutlicher Commons auch die positive Seite von Institutionen betonten. Siehe dazu Veblen, T. B. (1899), S. 144, Commons, J. R. (1931), ders. (1934) S. 73, Foster, J. F. (1981b), S. 917 f., Reuter, N. (1994a), S. 211 ff. 245 Vgl. Veblen, T. B. (1899), S. 144. Siehe dazu Mitchell, W. C. (1923), S. 145. 242
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nen Charakter von Institutionen, denn sie "werden also aus früheren Zeiten übernommen; wenn es sich dabei auch um mehr oder weniger frühe Zeiten handelt, so gehören diese Institutionen auf jeden Fall der Vergangenheit an. Damit sind sie aber Ergebnisse eines vergangenen Prozesses, sie sind angepaßt an vergangene Umstände und können daher niemals völlig mit den Erfordernissen der Gegenwart übereinstimmen. " 246 Das eigentliche Problem entsteht nun dadurch, daß Institutionen in ihrer Entwicklung nie mit der raschen Veränderung der Umwelt Schritt halten können?47 Institutioneller Wandel bedingt individuelle Anpassungen und enthält damit für den einzelnen das Risiko, eine einmal erreichte gesellschaftliche Stellung zu verlieren. Für viele Gesellschaftsmitglieder ist die Behinderung institutionellen Wandels deswegen vorteilhaft. 248 Die Beharrungstendenz von Institutionen führt im Verlauf der sozialen Entwicklung zu einer Verselbständigung von Institutionen: sie werden als unabänderlich angesehen und bestehen nur noch "sinnentleert" weiter. 249 Die Unflexibilität und Starrheit wird insofern als eine inhärente Eigenschaft gesehen und ist Grund dafür, daß Institutionen die gesellschaftliche Entwicklung hemmen. 250 Die geringere Wandlungsfähigkeit von Institutionen im Vergleich zur gesellschaftlichen Entwicklung wurde später als "cultural" bzw. "social lag" bezeichnet und von allen Vertretern des amerikanischen Institutionalismus in ihren Theorien eingebaut. 251 246 Veblen, T. B. (1899), S. 186, S. 144 und insbesondere Ayres, C. E. (1944), z.B. S. 187. Vgl. ausführlich Hamilton, D. (1986). 247 Vgl. Mitchell, W. C. (1939), S. 603 und wie Ayres betonte: ,.[.. .] the past does not change, and institutionalization is commitment to the past." Ayres, C. E. (1967), S. 6. 248 Vgl. Veblen, T. B. (1899), S. 152 f. Mit dieser Feststellung legte Veblen den Grundstein für die von späteren Institutionalisten konzipierte These der "zeremoniellen Funktion" von Institutionen. 249 "Sinnentleert", weil sie ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllen können. Vgl. Reuter, N. (1996), S. 118. Mitchell erklärte das Fortbestehen der Institutionen trotz Verlustes ihrer eigentlichen Funktion dadurch, daß Mittel-Zweck-Abwägungen mit der Verfestigung von Handlungsroutinen als kollektive Denkgewohnheiten von routinehaftem, gewohnheitsmäßigem, also unbewußtem Verhalten verdrängt werden. Das routinehafte, institutionengesteuerte Verhalten dominiert MittelZweck-Abwägungen selbst dann noch, wenn die Handlungen den veränderten Umweltbedingungen gar nicht mehr angemessen sind. Vgl. Mitchell, W. C. (1967), S. 790. Letztlich kommt es zu einer Zweck-Mittel-Umkehrung, die Veblen für die Institution des Eigentums als "demonstrative Verschwendung" ("conspicuous waste") bzw. als "demonstrativen Konsum" ("conspicuous consumption") bezeichnete. Siehe Veblen, T. B. (1904), S. 64 f. und S. 108-113. 250 Vgl. Walker, D. A. (1977), S. 220, Stadler, M. (1983), S. 209-213. 251 Die Begriffe wurden von Wiliam F. Ogburn geprägt, Ogburn, W. F. (1969), S. 135. In den späteren Theorien fand dieser lag als "ceremonial gap" wieder Eingang, so bei Junker, L. J. (1983), S. 349 und Bush, P. D. (1987), S. 1094.
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A. Institutionen und Ökonomie
In den Augen der Institutionalisten wird der gesellschaftliche Wandlungsprozeß vor allem durch die technische Innovation bestimmt und vorangetrieben.252 Aus dieser Sichtweise entwickelten die amerikanischen Institutionalisten für die Erklärung des Wandlungsprozesses eine InstitutionenTechnik-Dichotomie: der hemmenden Wirkung der Institutionen auf der einen Seite wurde die fördernde Wirkung der technischen Neuerungen auf der anderen Seite gegenübergestellt. Insbesondere Ayres radikalisierte diese Dichotomie, indem er jeglichen Wandel von Institutionen ausschloß, und Institutionen als retardierendes Moment der gesellschaftlichen Entwicklung beschrieb.253 Im Gegensatz dazu interpretierte er die "technology" als eine "permanent revolution"254, die über eine innere Dynamik verfügt, weil die menschlichen Aktivitäten zu einer fortwährenden Neukombination von Werkzeugen, Konzepten und Ideen führen. 255 Der Kern dieser von Ayres in besonderer Schärfe pointierten Institutionen-Technik-Dichotomie liegt also darin, daß nur im technischen Fortschritt der Motor für den gesellschaftlichen Wandel gesehen wird. Aus der sehr kritischen und einseitigen Beurteilung institutioneller Wirkungen auf der gesellschaftlichen Funktionsebene leitete Ayres konsequenterweise die Forderung der De-Institutionalisierung auf der Ordnungs- und Entstehungsebene ab. Damit widersprach er der gängigen Vorstellung, daß ohne Institutionen das soziale Miteinander im Chaos enden würde. Ayres sah dagegen vielmehr in der De-Institutionalisierung die Möglichkeit, sich von den hemmenden Fesseln verkrusteter Institutionen zu befreien. Ein sich selbst überlassener technologischer Prozeß würde schließlich neue effizientere organisatorische Formen generieren. 256 Ayres fordert im Grunde nichts anderes, als spontanen Ordnungen die Chance zu ihrer Entfaltung zu geben. Interessanterweise stimmt er auch mit Hayeks Vorstellung überein, daß zur Generierung spontaner Ordnungen bestimmte Verhaltensregeln ("concerted cooperation") nötig sind: "Many tool operations - so many as to be characteristic of the technological process itself - require concerted, cooperative action by two or more persons, sometimes a great many more. " 257 Um sich aber mit der Forderung nach der Abschaffung des institutionellen Systems 252 Vgl. Mitchell, W. C. (1967), S. 765 f., Rosenberg, B. (1956), S. 82. Zur Rolle der Technologie in der Institutionentheorie des Alten Institutionalismus siehe Lower, M. D. (1988) und Reuter, N. (1994a), S. 256 f. 253 Ayres, C. E. (1952), S. 59, ders. (1967), S. 4 f. und ders. (1944), S. 135, wo er die Kirche als "[...] the spearhead of institutional resistance to technological change" bezeichnet. 25 4 Ayres, C. E. (1952), S. 58 und ders. (1944), S. II f. und S. 119 ff. 255 Ayres, C. E. (1944), S. 118 und S. 111 f. 256 Vgl. Ayres, C. E. (1967), S. 11 f. Siehe zu der technischen Effizienz anderer Organisationsformen auch ders. (1952), S. 102 f., S. 394. 257 Ayres, C. E. (1967), S. 12 (Heraushebung durch den Verfasser).
VI. Die ökonomische Wirkung von Institutionen
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- zu dem im Prinzip auch diese Regeln gehören - nicht in einem Widerspruch zu verfangen, ist er gezwungen, die Bedingungen kooperativen Verhaltens im Gegensatz zu Hayek nicht zu den Institutionen zu zählen. 258 Diese verengte Sichtweise Ayres ist letztlich auf seine einseitig negative Beurteilung von Institutionen zurückzuführen. Sie steht auch nicht im Einklang mit den Vorstellungen Commons' oder Veblens, die Institutionen als Mittel, "[.. .] mit deren Hilfe das Leben und die menschlichen Beziehungen gestaltet werden"259 , ganz im Sinne der zuvor beschrieben ordnenden Funktion der Komplexitäts- und Unsicherheitsreduktion, sehen. Den Versuch einer Erklärung der inhärenten entwicklungshemmenden Wirkungen von Institutionen lieferten erst die jüngeren Vertreter des amerikanischen Institutionalismus. John Fagg Foster relativierte die Ayressche Institutionen-Technik-Dichotomie, indem er sie auf die Institutionenebene verlagerte. Demnach sind innerhalb der Institutionen zwei verschiedene Funktionen zu unterscheiden, zum einen die instrumentelle Funktion, die der Rolle der Technik bei Ayres entspricht und zum anderen die zeremonielle Funktion, die mit den Institutionen aus Ayres Dichotomie korrespondiert. 260 Die instrumentelle Funktion spiegelt die Fähigkeit von Institutionen wieder, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen, indem sie insbesondere die "Anwendung und kumulative Weiterentwicklung des in einer Gesellschaft vorhandenen Wissens"261 ermöglicht. Gleichzeitig wird die Technik als Teil des gesellschaftsnotwendigen institutionellen Geflechts interpretiert. Deswegen sind Institutionen in der Lage, eine unterstützende in diesem Sinn dynamische - Funktion für die technische Entwicklung und damit im Prozeß der kulturellen Evolution zu übemehmen.Z62 Die zeremonielle Funktion von Institutionen beruht dagegen auf Vorschriften, Mythen, Emotionen, scheinbar unantastbaren Riten und Statussymbolen. 263 Hier schlagen sich insbesondere machtdominierte Beziehungen nieder, die sich aus der längerfristigen Existenz von Institutionen im gesellschaftlichen 258 Vgl. zu dieser Einschätzung Ayres auch Reuter, N. (l994a), S. 244, S. 246, S. 257 f. Ayres bietet für die Erklärung des technischen Fortschritts evolutionsökonomisch und wissenschaftstheoretisch interessante Aspekte an - u. a. die Bedeutung des Zusammenhanges theoretischer und praktischer Wissenschaft für die technische und gesellschaftliche Entwicklung. Seine Institutionenanalyse ist dagegen weniger differenziert. Vgl. Reuter, N. (1996), S. 130. Siehe dazu bei Ayres, C. E. (1944), S. 224 ff., ders. (1961), S. 115. 259 Veb1en, T. B. (1899), S. 143. 260 Vgl. Foster, J. F. (1981 a), S. 908, ders. (1981 c), S. 930. Vgl. dazu auch Hamilton, D. (1986), S. 530 f., Bush, P. D. (1986), S. 25 ff., ders. (1987), S. 1075 ff., Samuels, W. J. (1977), S. 880 und S. 884. 261 Reuter, N. (1994a), S. 260. 262 Vgl. Junker, L. J. (1968), S. 204 und S. 213 und Commons, J. R. (1934), S. 651 und S. 655. 263 Vgl. Junker, L. J. (1982), S. 141 f. und S. 144, Foster, J. F. (1981 a), S. 908.
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A. Institutionen und Ökonomie
System herausgebildet haben. Institutionen üben über ihre Problemlösungsfähigkeit und über ihre Koordinierungsfunktion hinaus nämlich auch immer Wirkungen auf die Einkommensverteilung von Gruppen oder von ganzen Gesellschaftsschichten aus. 264 Je länger nun eine Institution ihre instrumentelle Wirkung entfalten kann, desto wahrscheinlicher ist es, daß sich Strukturen herausbilden werden, deren Träger bei einer Veränderung der Institution und damit ihrer instrumentellen Funktion Einkommens-, Macht und Prestigeverluste hinnehmen müßten. 265 Der zeremonielle Aspekt einer Institution bedeutet dann nichts anderes, als daß Machtbeziehungen institutionelle Veränderungen verhindern werden. Sie können die Einführung neuer Technologien (z. B. in der Vergangenheit Widerstand von Betriebsräten gegen Einführung der EDV), neuer Problemlösungsstrategien und die Diffusion kollektiven Wissens erschweren oder sogar unterdrücken. 266 Erst die Aufteilung der Funktionen von Institutionen in eine zeremonielle und eine instrumentelle Funktion liefert die Grundlage für das Verständnis der beiden polaren Positionen über die positiven bzw. negativen Wirkungen von Institutionen. Nach dem Verständnis der intra-institutionellen Dichotomie sind die Wirkungen von Institutionen nicht per se negativ. Verbindendes und erklärendes Element ist der informationsökonomische Aspekt von Institutionen. In den Abschnitten A.VI.6.a), A.VI.6.b), A.VI.6.c), A.VI.7.a) und A.VI.7.b) wurde die positive Wirkung von Institutionen durch ihre Koordinations- und Flexibilisierungsleistung hervorgehoben. Wesentlich für diese Leistung war, daß Institutionenkollektives Wissen zur Verfügung stellen und dadurch die notwendige Wissensverwertung ermöglichen. Die informationsökonomische Leistung von Institutionen entspricht ihrem instrumentellen Charakter. Und genau diese Leistung kann durch die zeremonielle Funktion, die sich durch die Erhaltung von Machtbeziehungen auszeichnet, beeinträchtigt sein. Ob die Entfaltung einer Gesellschaft von Institutionen nun gehemmt wird oder nicht, hängt also davon ab, ob die Problemlösungskapazität der instrumentellen Funktion oder die entwicklungshemmende zeremonielle Funktion die institutionelle Struktur dominiert.Z67 Die Funktions-Dichotomie auf Institutionenebene bietet somit auch eine Erklärung, warum in Gesellschaften Unterschiede in Geschwindigkeit und Richtung gesellschaftlichen Wandels festzustellen sind. Beherrscht die zere264 Zur Bedeutung von Machtbeziehungen für die ökonomische Leistungsfähigkeit siehe Klein, P. A. (1988). 265 Dieser Aspekt ist schon von Veblen und später von Mitchell betont worden. Siehe dazu in dieser Arbeit Fn. 249 in Kap. A.VI. S. 77. 266 Vgl. Bush, P. D. ( 1989), S. 456. 267 Vgl. Bush, P. D. (1981/82), S. 24 ff. und ders. (1989), S. 456, Gordon, W. (1980), S. 25, Adams, J. (l980a), S. 10.
VI. Die ökonomische Wirkung von Institutionen
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monielle Funktion die Institutionenstruktur, ist die gesellschaftliche Entwicklung gehemmt. Dieser Tatbestand wird "zeremonielle Einkapselung" genannt und beschreibt den Zustand, daß technologischer Wandel und die Verbreitung von kollektivem Wissen nur so weit zugelassen ist, wie die bestehende institutionelle Struktur nicht gefährdet wird?68 Folglich schreibt Hayek über Gesellschaftssysteme: "Welches von diesen Systemen erfolgreicher sein wird, hängt hauptsächlich von der Frage ab, unter welchem von ihnen wir eine bessere Ausnützung der vorhandenen Kenntnis erwarten können. " 269
268 Vgl. Bush, P. D. (1986) und ders. (1987), Junker, L. J. (1982) und ders. (1983). Die extremste Form der zeremoniellen Einkapselung stellt eine Ordnung des "Lysenko-type" dar, wie wir sie in sozialistischen Planwirtschaften oder anderen Diktaturen (Nationalsozialismus) finden können. Siehe dazu auch ausführlicher Kapitel F.V.3 dieser Arbeit. 269 Hayek, F. A. v. (1976), S. 106. Im Englischen wird der Begriff "knowledge" verwendet, der auch mit Wissen übersetzt werden kann.
6 Schaffer
B. Methodologische Grundlagen Die Tatsache, daß Institutionen verhaltenskoordinierende, verhaltenskontrollierende, also verhaltenslenkende Wirkungen ausüben, bedeutet, daß menschliches Verhalten auch bis zu einem gewissen Grade als institutionenbestimmt beschrieben werden kann. 1 Das wirft u. a. folgende Fragen auf: Inwieweit können Institutionen in der ökonomischen Handlungstheorie als Parameter der individuellen Entscheidungssituation berücksichtigt werden, um so das von Albert beklagte "institutionelle Defizit" zu beseitigen. Dabei handelt es sich letztlich um den Kern der Auseinandersetzung zwischen der Soziologie und der Ökonomie, d. h. es geht um die Frage, ob menschliches Handeln durch das Modell des homo sociologicui oder durch das Modell des homo oeconomicus als das Ergebnis von rationalen, ausschließlich eigennutzorientierten Entscheidungen adäquat erklärt werden kann.3 Wie in Kapitel A.VI dargestellt, besteht die Wirkung von Institutionen als Parameter in Entscheidungssituationen darin, daß sie Individuen an ein bestimmtes Verhalten binden. Kann dann aber die dem Modell des homo oeconomicus zugrundeliegende Theorie des rationalen Handelns4 die Verhaltensbindung von Institutionen überhaupt erklären? Zweifel daran werden mit folgendem Argument vorgetragen: Versucht man die Verhaltensbindung ausschließlich darauf zurückzuführen, daß die Individuen aus Eigennutz die Kosten potentieller Sanktionen für deviantes Verhalten vermeiden, so setze man voraus, daß die Sanktionsgefahr als glaubwürdig angenommen wird. 5 Das führt uns aber in ein echtes Erklärungsdilemma: die Glaubwürdigkeit der Sanktionsgefahr muß schließlich durch eine weitere Institution (z. B. polizeiliche Verfolgung, Vgl. Kirchgässner, G. (1993). Siehe dazu Dahrendorf, R. (1959). 3 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung auch Coleman, J. S. (1987), S. 133, Elster, J. (1979) und ders. (1989 a), Boudon, R. (1980), S. 195 ff., Opp, K.-D. (1986), Vanberg, V. (1988). 4 Vgl. z.B. Kunz, V. (1997). 5 Das glaubhafte Sanktionspotential der "Tit for Tat"-Strategie wurde ja als Voraussetzung dafür angeführt, daß auch in der Situation des Gefangenendilemmas spontan kooperatives Verhalten entstehen kann. Siehe dazu S. 56 dieser Arbeit. 1
2
B. Methodelogische Grundlagen
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richterliche Bestrafung) begründet sein, deren Glaubwürdigkeit aber ebenfalls begründet sein muß, usw. So würde man sich in einem infiniten Regreß verfangen. Das gilt im Prinzip auch für Sanktionsformen, die innerhalb spontaner Ordnungen, etwa über den Markt, erfolgen. Denn jede Sanktion setzt Sanktionshandlungen voraus, und es geht letztlich um deren Glaubwürdigkeit.6 Neben diesem Problem, so wird argumentiert, führe die Anwendung der Theorie des (strikt) rationalen Handeins zu einer Anomalie. In Fällen, in denen die Gefahr gering ist, daß ein regelverletzendes Verhalten bestraft wird, wäre die Verletzung der Regeln als rationales Verhalten anzusehen: Dieser Fall entspräche nämlich der Situation des Gefangenendilemmas, in welchem die "Tit for Tat"-Drohung nicht glaubhaft erscheint. Die potentielle Bestrafung müßte dann als so gering eingeschätzt werden, daß das deviante Verhalten vorgezogen werden würde. Insofern gelangt man zu dem "Paradox-der-Nicht-Regelbefolgung": Eine Theorie, die sich zur Aufgabe gemacht hat, Regelbefolgung als "rationale Handlung" zu erklären, kommt zu dem Ergebnis, daß es rational sein kann, die Regel nicht zu befolgen.7 Regelkonformes Verhalten wäre in solchen Situationen also irrational. Sollte diese Argumentation nicht zu widerlegen sein, würde das bedeuten, daß das Konzept der "Einheit der Rationalität"8 , wonach alle Handlungen über das Rationalitätsprinzip erklärbar seien, z. B. alles ökonomische Handeln, egal auf welche Art von Gütern es sich bezieht, aufgegeben werden müßte. Gegen die Verwendung der Theorie rationalen Handeins zur Erklärung von Institutionen spräche, so wird behauptet, ein weiteres Argument. Wie oben ausgeführt wurde, bestimmen Institutionen einerseits menschliches Handeln, andererseits sind sie aber das gewollte oder unbeabsichtigte Resultat menschlichen Handelns. Insofern können Institutionen ihre eigene weitere Entwicklung beeinflussen. Diese reale (empirische) Interdependenz, glaubt man, führe beim Versuch der Erklärung von Institutionen zu einem zirkulären Schluß, also zur logischen Unmöglichkeit einer kausalen Erklärung. 6 Wenn wir von der Sanktionierung durch den Markt sprechen, ist damit letzten Endes das erzwungene Ausscheiden von weniger rentablen Unternehmen gemeint. Aber wie wir wissen, sind dafür sog. "hard budget constraints" nötig, und deren Durchsetzung bedarf dann doch wieder bestimmter Institutionen, wie z. B. Amtsgerichte, die das Konkursverfahren eröffnen. 7 Siehe ausführlich Kapitel D.II.2 dieser Arbeit. Dieses Paradox entspricht im Prinzip dem "Paradox des Nicht-Wählens", welches sich aus der Theorie der Wahlbeteiligung von Downs ergibt. Siehe zu dieser Theorie Downs, A. (1957), S. 35 ff. und zu einer Darstellung des Paradoxes Kirchgässner, G./J. Schimmelpfennig (1992). 8 Lohmann, K.-R. (1996), S. 146.
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B. Methodologische Grundlagen
Im folgenden soll auf diese Probleme eingegangen werden. Vor allem soll geklärt werden, ob sie grundsätzlicher Natur sind. Dabei läßt sich nicht vermeiden, daß erkenntnistheoretische und verhaltenstheoretische Grundlagen erörtert werden müssen. Um methodologischen und epistemologischen Mißverständnissen aus dem Weg zu gehen, muß als erstes klargestellt werden, was man unter einer wissenschaftlichen Erklärung überhaupt verstehen kann, d. h. welches ihre Prinzipien sind, die angeblich durch die Anwendung der Theorie rationalen Handeins verletzt werden. Es wird sich dann zeigen, ob eine neue Handlungstheorie entwickelt werden muß. Durch eine genauere Untersuchung des methodologischen Status des Rationalitätsprinzips sollen die Fragen nach der Stellung von Institutionen im Rahmen des ökonomischen Entscheidungsmodells, das vermeintliche Problem der Irrationalität von regelkonformem Verhalten und das Problem des zirkulären Schlusses, das sich angeblich aus der Interdependenz von Institutionen und menschlichem Handeln ergibt, geklärt werden. Gerade das vermeintliche Problem des infiniten Regresses kann durch den Rückgriff auf epistemologische Thesen einer "evolutionären Erkenntnistheorie" gelöst werden, wobei die Explikation der Begriffe "Erwartung" und "induktive Erfahrung eine zentrale Rolle spielen werden. Die Untersuchung dieser Probleme führt zu dem Ergebnis, daß für die Aufstellung eines Erklärungsmodells für Institutionen, d. h. wie man ihre Entstehung, ihr Bestehen und ihren Wandel erklären kann, ein evolutorischer Ansatz geeignet ist.
I. Wissenschaften und Theorien der wissenschaftlichen Methode Damit wir uns den genannten Erklärungsproblemen von Institutionen ernsthaft zuwenden können, ist es angebracht, Inhalt und Wesen wissenschaftlicher Erklärungen zunächst einmal zu erörtern. Damit soll die Grundlage geschaffen werden, um an späterer Stelle einige Mißverständnisse und Fehlinterpretationen aus dem Weg räumen zu können. Die Theorie der wissenschaftlichen Erklärung ist ein Grundstein des modernen philosophischen Empirismus, welcher auf den Gedanken von Whewell, Mill und Duhem aufbaut und von K. R. Popper in diesem Jahrhundert weiterentwickelt worden ist. 9 Das oberste Ziel einer empirischen Wissenschaft, also einer Erfahrungswissenschaft, ist, "befriedigende Erklärungen zu finden für alles, was uns einer Erklärung zu bedürfen scheint." 10 Und das, was unser Verlangen nach Erklärung weckt, sind Probleme. Probleme sind Sachverhalte, die unsere Verwunderung erregen, also Situationen, in 9 10
Siehe insbes. Popper, K. R. (1934). Popper, K. R. (1964a), S. 73 (Hervorhebung im Original).
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denen wir einen inneren Widerspruch in unserem Wissen entdecken: Die beobachteten vermeintlichen Tatsachen können nicht mit unseren Theorien erklärt werden, so daß unsere Erwartung fehlschlägt. Dort, wo es gar keine Probleme gibt, werden keine Fragen gestellt, auf die mit wissenschaftlichen Erklärungen geantwortet werden soll. Ausgangspunkt jeder wissenschaftlicher Entwicklung ist deswegen immer ein Problem. 11 Die Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, lassen sich nach ihrer logischen Art in theoretische, praktische oder historische Probleme unterscheidenY Entsprechend kann man Wissenschaften einteilen in: (1) die reinen Wissenschaften, zu denen die theoretischen und die historischen Wissenschaften zählen und (2) die angewandten Wissenschaften, wie z. B. die Technik. Das Ziel der reinen theoretischen Wissenschaften ist die Entdeckung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten, die zur Erklärung von Sachverhalten herangezogen werden (erklärende Wissenschaften, wie z. B. die empirischen). 13 Die historischen Wissenschaften suchen nicht nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, sondern interessieren sich für "historische Erscheinungen", das sind raum-zeitlich festgelegte und damit individuelle bzw. spezifische Ereignisse und Persönlichkeiten. Ihr Ziel ist es, solche singulären Ereignisse zu erklären. 14 In den angewandten Wissenschaften werden die universellen Gesetze der reinen Wissenschaften als gegeben (als "wahr") angenommen und sich ihrer bedient, um Prognosen aufzustellen. 15 1. Der klassische Empirismus In der Ansicht, daß Probleme den Ausgangspunkt wissenschaftlicher Tätigkeit bilden, unterscheidet sich die moderne Wissenschaftstheorie grundlegend vom klassischen Empirismus. Dieser vertrat die Ansicht, daß die Wissenschaft mit den Sinneswahrnehmungen bzw. der sinnlichen Beobachtung beginnt. Von dieser gelangt man durch Induktion, also durch den Schluß "vom Einzelnen (den Sätzen, in denen die Beobachtungen beschrieben werden) auf das Allgemeine", unmittelbar zur wissenschaftlichen Erkenntnis (Theorien), d. h. den allgemeinen Wahrheiten. 16 Im klassischen Rationalismus (oder auch klassischer Intellektualismus) findet man die Auffassung, daß sich wissenschaftliche Erkenntnis aus allgemeinen Vernunftseinsichten unmittelbar durch Intuition gewinnen lasse, und daß man von diesen durch Deduktion zu Tatsachenwahrheiten gelangen würde. 17 11
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13 14 15 16
Popper, K. R. (1994b), S. 19 und ders. (1984}, S. 81. Vgl. Popper, K. R. (1984}, S. 93 f. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. Popper, K. R. (1965}, S. 64 und S. 112, Albert, H. (1964), S. 50. Vgl. Popper, K. R. (1994b}, S. 179. Vgl. Albert, H. (1964), S. 15.
B. Methodologische Grundlagen
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Der Verweis auf die Sinneswahrnehmung als Quelle unserer Erkenntnis mag auf den ersten Blick einleuchten, der grundsätzliche Irrtum dieser Vorstellung läßt sich aber an einem einfachen Beispiel zeigen: Wenn jemand mit den Worten "Beobachten Sie bitte!" aufgefordert wird, müßte nach dem klassischen Empirismus bereits mit der reinen Beobachtung Erkenntnis gewonnen werden. Der zur Beobachtung Aufgeforderte wird nur leider nicht wissen, was er beobachten soll. Auch die Angabe des zu betrachtenden Objektes, z. B. einer Tür, hilft dem Beobachter in seiner Ratlosigkeit nur kurzfristig weiter. Die Situation verändert sich erst, sobald man vor ein Problem gestellt wird, sei es noch so trivial, wie z. B. die Frage, ob die Tür aus Holz ist oder nicht. Nicht die Beobachtung als solche ist Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Arbeit, sondern, "[... ] die Beobachtung in ihrer eigentümlichen Bedeutung - das heißt aber eben, die problem-erzeugende Beobachtung."18 Und Beobachtungen führen zu Problemen, wenn sie unseren bewußten oder unbewußten Erwartungen widersprechen. Dem Problem, wie Erkenntnis durch reine Beobachtung gewonnen werden könnte (Gewinnungsproblem), schloß sich für den klassischen Empirismus die Frage nach jenem Ableitungsverfahren an, das von der reinen Beobachtung zu allgemeinen Theorien führen kann. Die Antwort auf diese Frage war das Verfahren der Induktion, d. h. daß aus Beobachtungen Schlüsse gezogen werden, die über unser Erfahrungswissen in die Zukunft hinaus gehen. Die Induktion wird aber nur scheinbar praktiziert, tatsächlich gibt es für diese Art von Erweiterungsschlüssen keinen Grund. Solche Erweiterungsschlüsse müßten, wenn sie ein Wissen beinhalten sollten, korrekt, d. h. wahrheitskonservierend sein. Ein wahrheitskonservierender Schluß ist aber nie gehalterweitemd. 19 Jeder Versuch, dieses Vorgehen (InVgl. zur klassischen Erkenntnislehre Albert, H. (1968), S. 24 ff. Vgl. Popper, K. R. (1984), S. 81. 19 Vgl. Stegmüller, W. (1971), S. 17. Man kann sich das folgendermaßen vorstellen: eine rein logische Folgebeziehung stellt einen Schluß von den Prämissen auf die Konklusionen dar. Auf die Konklusionen kann nie mehr Gehalt übertragen werden, als in den Prämissen bereits enthalten ist. Logische Schlüsse sind demonstrativ, wahrheitskonservierend - d. h. daß die Wahrheit der Prämissen auf die Konklusion übertragen wird - aber nicht gehalterweiternd. Deswegen kann ein logischer Schluß kein Erweiterungsschluß sein. Siehe dazu Kapitel B.II.2, S. 100 dieser Arbeit. Beim Schließen von Beobachtungen der Vergangenheit auf künftige Ereignisse (induktiver Schluß) würden wir allerdings den Gehalt unseres Wissens erweitern (Erweiterungsschluß). Weil ein wahrheitskonservierender Schluß nicht gleichzeitig gehalterweiternd sein kann, ist ein induktiver Schluß entweder wahrheitskonservierend - also demonstrativ wahr - oder gehalterweiternd. Nun verlangen auch die lnduktivisten, daß der Induktionsschluß wahrheitskonservierend sein muß, denn mit logischen Fehlschlüssen kann ein Wissenschaftler nichts anfangen. Daraus folgt: Wir erzielen durch induktive Schlüsse kein Wissen um künftige Ereignisse, die Zukunft könnte vollkommen anders sein als die Vergangenheit. 17 18
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duktion) durch den Rekurs auf die Erfahrung zu begründen, also durch eine synthetische Aussage über die Welt, etwa einem Uniformitätsprinzip, das besagt, daß Regelmäßigkeiten in der Vergangenheit auch in der Zukunft gelten, endet zwangsläufig in einem unendlichen Regreß (Begründungsproblem, Jnduktionsproblem). 20 Tatsächlich werden für brauchbare Beobachtungen immer Gesichtspunkte zur Auswahl benötigt, die wiederum selbst theoretischen Überlegungen entstammen. Diesen Aspekt erklärt Hayek sehr deutlich: "Systematisch können wir erst beobachten, nachdem sich Fragen gestellt haben. [... ] Fragen setzen aber voraus, daß wir bereits eine vorläufige Hypothese oder Theorie über die Geschehnisse gebildet haben, [. .. ]." 21 Deswegen stellte Popper fest, daß eine Beobachtung (besser jeder Beobachtungssatz) also "[... ] stets Beobachtung im Licht von Theorien'm sei. Schließlich spricht gegen die Theorie der Induktion die Tatsache, daß es einfach keine absolut sichere Beobachtung geben kann, die nicht die Mög20 Vgl. zur Kritik am Induktivismus Popper, K. R. (1934), insbes. Kapitel I, ders. (l994a), S. 59 ff. und Albert, H. (1968), S. 9 ff. Popper verweist auf Hume, der schon gezeigt hatte, daß es für die Induktion keine logische Rechtfertigung geben kann. Siehe Hume, D. (1738), Vol. I, Book I, Part II, Section VI, S. 89 ff. Dazu auch Stegmüller, W. (1971), S. 13 ff. Hume versuchte aber, die Induktion psychologisch zu erklären. Auch dieser Versuch wurde von Popper zurückgewiesen. Siehe dazu Popper, K. R. (1994a), S. 60 ff. Lakatos unterscheidet drei Spitzen der Poppersehen Kritik: die erste richtet sich auf die Baconsehe Doktrin der Erkenntnisgewinnung durch reine, theoriefreie Tatsachenbeobachtung; die zweite trifft das Programm einer wahrscheinlichkeitstheoretischen Apriori-Induktionslogik und die dritte verweigert jegliches synthetisches induktives Prinzip. Siehe dazu und zur kritischen Auseinandersetzung der antiinduktivistischen Kritik Lakatos, I. (1971). 21 Hayek, F. A. v. (1972), S. 7 f. 22 Popper, K. R. (1934), S. 31 Fn. *1 und Abschn. 25. Daraus folgt, daß die Beschreibung einer Beobachtung "[. . .] eine Interpretation im Lichte von Theorien enthält." Popper, K. R. (1994a), S. 59 Fn. 8. In den kognitivistischen Theorien der Psychologie bezeichnet man die Wahrnehmung entsprechend als kontextabhängig oder hypothesengeleitet Zum Kontext gehören auch kognitive Faktoren, die als Einstellungen, Erwartungen, Hypothesen usw. bezeichnet werden. Siehe dazu z. B. Dember, W. N. (1960), S. 271 ff. und passim, Bruner, J. S./L. Postman (1951), Lindsay, P. H./D. A. Norman (1981), Lilli, W./D. Frey (1993), S. 49 ff. Die Erkenntnis von der grundsätzlichen Theoriegetränktheit der Wahrnehmung hat sich im sog. OperationaUsmus nicht durchsetzen können. Der Operationalismus vertritt die Meinung, es könne eine Trennung zwischen direkter und indirekter Beobachtung hergestellt werden. Begriffe in realwissenschaftlichen Aussagen sollten sich dann stets auf direkt beobachtbare Sachverhalte beziehen, damit sie das Merkmal unmittelbarer "empirischer Bedeutung" besitzen. Die Realitätsfeme von "theoretischen" Begriffen, die sich auf jene Sachverhalte beziehen, die sich nur indirekt, z. B. nur mit Hilfe aufwendiger Meßmethoden, beobachten lassen, hätten in realwissenschaftlichen Aussagen keinen Platz. Wird zugunsten dieser Forderung sogar auf das syntaktische Merkmal der Allgemeinheit von Gesetzesaussagen verzichtet, landet man im "Deskriptivismus". Siehe dazu Tietzel, M. (1981 b), S. 255 ff. und Hempel, C. G. (1974), S. 43.
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B. Methodologische Grundlagen
lichkeit von Fehldeutungen offen läßt. 23 "Diese angebliche Methode läßt sich niemals zum Tragen bringen: man kann weder Beobachtungen noch dokumentarische Daten sammeln, wenn man nicht vorher ein Problem hat. (Ein Fahrkartensammler sammelt Dokumente, aber selten historische Daten)."24
2. Der klassische Rationalismus Der klassische Rationalismus verwies bei der Frage nach den Erkenntnisquellen auf unmittelbare, intuitive, allgemeine Vernunfteinsichten, die zudem apriorischer Natur seien. Auf deduktivem Wege konnte man anschließend aus der inhaltlich apriorischen Erkenntnis auf die empirischen (aposterioren) Tatsachenaussagen schließen. Damit deklarierte der klassische Rationalismus eine analytische Wissenschaft, die aber in sich widersprüchlich war: Wenn Konklusionen den Charakter empirischer Tatsachenaussagen besäßen, wäre ihre Überprüfung an den Tatsachen der Wirklichkeit grundsätzlich möglich (synthetisches Aussagensystem). Sollten sich Konklusion und das empirische Phänomen widersprechen, würde durch das Rückübertragungsprinzip der klassischen Logik die Falschheit der Konklusion auf die Prämissen übertragen. Die Möglichkeit, daß die Prämissen falsch sein können, widerspricht aber der Annahme ihres apriorischen Charakters. "Alle Wahrheiten schienen also im einen Fall durch ein Zusammenspiel von Intuition und Deduktion, im anderen durch ein Zusammenspiel von Wahrnehmungen und Induktion erreichbar zu sein."25 Für beide Erkenntnistheorien zentral ist die Vorstellung, daß wissenschaftliche Behauptungen so begründet und als wahr ausgewiesen werden können. Die Konfundierung von Gewinnungs- und Begründungsproblematik und die Idee der Wahrheitsgarantie wurde von Popper als Manifestationstheorie der Wahrheit bezeichnet. 26
3. Die szientistische Methode Interessanterweise ist die Vorstellung, daß Wissenschaft mit der Beobachtung beginnt, fälschlicherweise von den Geisteswissenschaftlern als die naturwissenschaftliche Methode verstanden und dann kopiert worden. 27 Die 23 So lassen sich sogar zwischen den Beobachtungsaussagen der gleichen Person Widersprüche nachweisen. Außerdem ist es eine bekannte Tatsache, daß verschiedene Beobachter zu voneinander abweichenden Ergebnissen kommen können. 24 Popper, K. R. (1973), S. 207. 2s Albert, H. (1964), S. 15. 26 Vgl. Popper, K. R. (1964b) und Albert, H. (1964), S. 14 ff.
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Nachahmung einiger Geisteswissenschaftler beschränkte sich nicht nur auf die (angebliche!) Methode der Naturwissenschaft. Man versuchte zudem, durch Analogien zwischen den Sprachen, wie z. B. zwischen dem physikalischen Begriff der Energie und dem soziologischen Begriff der Macht,28 das physikalische und biologische Vokabular in die Sozialwissenschaften einzuführen. Mittels dieser Terminologie sollte eine den Naturwissenschaften vergleichbare "Exaktheit" in den Sozialwissenschaften erreicht werden, welche die Konkretisierung theoretischer Ideen ersetzen würde. Dieses Vorgehen, auch als szientistische Methode oder Szientismus bezeichnet,29 wurde in zweierlei Hinsicht kritisiert: einerseits, weil die Verwendung von Begriffen aus der Physik zu gravierenden Fehldeutungen führte, was darauf zurückzuführen ist, daß die mit den naturwissenschaftlichen Begriffen beschriebenen relevanten Phänomene oft mißverstanden wurden (z. B. Comtes Versuch der Übertragung der Begriffe "statisch" und "dynamisch" auf die Soziologie oder die Behandlung von Kollektiven als biologische oder physikalische Körper); 30 andererseits, weil die Methode der Naturwissenschaften eben nicht mit dem Sammeln von Beobachtungen beginnt, aus denen dann Verallgemeinerungen abgeleitet werden sollen. 31
27 Dies bezeichnete Popper als den "verfehlten Naturalismus", der auf dem "Mythos vom induktiven Charakter der naturwissenschaftlichen Methode und vom Charakter der naturwissenschaftlichen Objektivität" gebaut ist, Popper, K. R. (1984), S. 83. In seinem Buch "Das Elend des Historizismus" hat Popper diese Ansicht aufs ausführlichste kritisiert. Siehe Popper, K. R. (1965), insbes. S. 83 ff. Zu denen, die die Methode der Naturwissenschaften falsch interpretierten, gehörten u. a. Sombart, Spiethoff und vor allem Schmoller, der auf der induktivistischen Methodenlehre gründend die deutsche historische Schule aufbaute. Siehe dazu auch S. 134 f. dieser Arbeit. 2s Vgl. Russe!, B. (1938). 29 Vgl. Hayek, F. A. v. (1941) ders. (1942), ders. (1943) und ders. (1944) sowie Popper, K. R. (1965), S. 53, Fn. 20 und passim. 30 Vgl. dazu Fn. 163 in Kap. A.IV. dieser Arbeit. 31 Der Szientismus oder auch methodologische Naturalismus vertritt also den Mythos der induktiven Methode der Naturwissenschaften. Siehe Popper, K. R. (1984), S. 83. Vgl. zu dieser Einschätzung und zu einer ausführlichen Kritik auch ders. (1973), S. 206 f. und ders. (1965), S. 83 ff. und passim sowie Hayek, F. A. v. (1942), welcher insbesondere die "sklavische" Verwendung von Begriffen aus den Naturwissenschaften und die holistische Sichtweise angriff. Andererseits vertrat Hayek selbst in seiner frühen Kritik teilweise die Vorstellung, daß Naturwissenschaft der induktiven Methode folge. Siehe Hayek, F. A. v. (1942), S. 289 f. und zur Korrektur seiner Ansicht ders. (1967 a). Der Szientismus wird zuweilen auch als die intensive Anwendung der Mathematik und der Modellbildung interpretiert, so z. B. bei Biervert, B./J. Wieland (1990), S. 7 ff. Diese Interpretation und Kritik trifft aber nun nicht den eigentlichen Kern des Problems: Mathematisierung und Modellbildung können nicht mit der naturwissenschaftlichen Methode gleichgesetzt werden, beide sind auch nicht grundsätzlich abträglich für die Wissenschaft, es be-
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B. Methodologische Grundlagen
Sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften heißt Wissenschaft betreiben dagegen immer, erklärungsbedürftige Probleme zu lösen. Aber wann gilt im wissenschaftlichen Sinne ein Problem als gelöst? Es wäre irrig anzunehmen, daß das wissenschaftliche Bedürfnis nach Problemlösung erst dann befriedigt sei, wenn man eine letzte Erklärung, das ist eine Erklärung, die keiner weiteren Erklärung mehr bedarf, gefunden hätte. 32 Die Lehre von der letzten Erklärung ist die Lehre, die im Kapitel A.II als Essentialismus bezeichnet worden ist und die behauptet, daß Letzterklärungen in Form essentieller oder wesentlicher Eigenschaften gesucht werden müssen und auch tatsächlich gefunden werden können: die Erklärung des Verhaltens eines Dinges mittels seines Wesens würde schließlich keine weiteren Fragen offen lassen. Wie wir gesehen haben, ist die Existenz einer solchen Letzterklärung unsicher und ihr Beweis logisch unmöglich.33 Das Ziel einer empirischen Wissenschaft ist vielmehr, befriedigende Erklärungen zu liefern. Worin unterscheidet sich aber eine befriedigende Erklärung von einer Letzterklärung? Welche Anforderungen müssen von einer befriedigenden Erklärung erfüllt werden, damit sie wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird: Erstens muß der zu erklärende Sachverhalt (das Explikandum) logisch aus den erklärenden Aussagen (dem Explikans) folgen, so daß eine deduktive Erklärung vorliegt; zweitens muß das Explikans (die Erklärung im engeren Sinne) unabhängig prüfbar sein, damit es sich in einer kritischen Auseinandersetzung objektiv bewähren kann und als vorläufig wahr angenommen werden kann. ZirkeL-Erklärungen, Schein-Erklärungen und ad-hoc-Erklärungen können diesen Anforderungen nicht gerecht werden.
steht lediglich die Gefahr, daß sie zu einer Tautologisierung einer Theorie führen. Siehe dazu z.B. Albert, H. (1964), ders. (1967a). 32 In diesem Zusammenhang sei nochmals ausdrücklich auf Kar[ Poppers Kritik an der Lehre der Letzterklärung hingewiesen. Siehe Popper, K. R. (1973), S. 216 ff. und passim, ders. ( 1965), Kap. 3, ders. (1958), Kapitel 1, ders. (1994 a), S. 150 ff. und auch Albert, H. (1964), S. 19 ff., ders. (1968) und ders. (1987). 33 Gerade Newtons Theorie wurde bis ans Ende des 19. Jahrhunderts als essentialistisch interpretiert. Und obwohl Newton sich der Unvollständigkeit seiner eigenen Theorie bewußt war und die Interpretation der Schwerkraft als inhärente Eigenschaft von Körpern ablehnte, war er selbst ein Essentialist Er versuchte nämlich, eine endgültige Erklärung für die Schwerkraft aus der Annahme eines mechanischen Druckes zu finden, weil "[ . ..] nur ein Stoß oder Druck durch die essentielle Eigenschaft aller Körper erklärbar war, nämlich die Ausdehnung." Popper, K. R. (1994a), S. 155. Die essentialistische Interpretation der Newtonsehen Theorie war sicherlich einer der Hauptgründe für den Erfolg des "verfehlten Naturalismus", Popper, K. R. (1984), S. 83.
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4. Der kritische Rationalismus "Das alte Wissenschaftsideal, das absolut gesicherte Wissen (episteme), hat sich als ein Idol erwiesen. Die Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität führt dazu, daß jeder wissenschaftliche Satz vorläufig ist. " 34
Institutionalisierte Kritik und Fallibilität unseres Wissens sind die beiden zentralen Charakteristika der Poppersehen Wissenschaftstheorie, die als die Methode der systematischen Falsifikation von Theorien bezeichnet werden kann. 35 Dahinter steht die Abkehr von der Idee, daß Theorien durch empirische Beobachtungen (endgültig) verifiziert werden können. Das Konzept der Wahrheitsnähe und das Prinzip des Lernens aus Fehlern, welches "das Prinzip der Einstellung [ist], die ich den ,kritischen Rationalismus' nenne" 36, ersetzt die Fiktion der endgültigen Wahrheitsfindung. Wissenschaftliche Erkenntnis ist nichts Endgültiges, sondern das Ergebnis eines evolutionären Prozesses: "Erklärungsprobleme werden durch die Aufstellung erklärender Theorien gelöst; und eine erklärende Theorie ist kritisierbar, indem gezeigt wird, daß sie entweder in sich widersprüchlich ist oder den Tatsachen oder anderen Erkenntnissen widerstreitet. Doch solche Kritik geht davon aus, daß man wahre Theorien finden möchte - Theorien, die mit den Tatsachen übereinstimmen. Dieser Begriff der Wahrheit als Übereinstimmung mit den Tatsachen macht nach meiner Auffassung rationale Kritik erst möglich. In Verbindung damit, daß unsere Neugierde, unsere Leidenschaft, die Dinge mit Hilfe einheitlicher Theorien zu erklären, allgemein und unbegrenzt ist, erklärt unser Ziel, daß wir der Wahrheit näherkommen wollen, das integrative Wachstum des Baums der Erkenntnis."37 Das Entwicklungsschema der Wissenschaft sieht nach Popper folgendermaßen aus: 38 34 Popper, K. R. (1934), S. 225. Siehe zum Konzept der Wahrheitsnähe auch ders. (1994 a) und (1997). 35 Poppers erstes und zugleich zentrales Werk ist seine "Logik der Forschung", Popper, K. R. (1934). Es gab, bzw. gibt Versuche, den Falsifikationismus Poppers zu erweitern und zu verändern, wobei sich die Arbeiten immer auf die zentrale Frage konzentrieren, unter welchen Gesichtspunkten man theoretische Entwürfe ausscheiden könne. In dieser Methodendiskussion taten sich insbesondere Paul K. Feyerabend (1962), (1970a), (1970b), (1970c) und (1972), Imre Lakatos (1968a), (1968b), (1970) und (1971) sowie Thomas S. Kuhn (1967), (1970) und (1972) hervor. In der Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie kann man die geschichtliche Entwicklung dieser Konfrontation gut verfolgen. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Methodologie Lakatos siehe Giesen, B./M. Schmid (1974). Feyerabend wandte sich in seinen letzten Werken sogar gegen jede Art von Methodologie, er vertrat in gewisser Weise einen methodologischen Anarchismus. Siehe dazu Feyerabend, P. K. (1976). 36 Popper, K. R. (1965), S. IX. 37 Popper, K. R. (1973), S. 276.
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B. Methodologische Grundlagen
P 1 ==> vT ==> EV (bzw.: K einschl. Ex.) ==> P2 Am Anfang steht das Problem (P 1). Die primären vorwissenschaftliehen und wissenschaftlichen Probleme sind praktischer Natur, werden durch den Zyklus aber schnell zu theoretischen Problemen. Damit ist gemeint, daß die meisten Probleme selbst von Theorien produziert und in der kritischen Diskussion aufgedeckt werden. Als Reaktion darauf werden neue Theorien entwickelt, die versuchsweise Antworten auf die aufgeworfenen Fragen geben sollen (versuchsweise Theoriebildung, vT)?9 Die neuen Theorien werden in den Eliminationsversuchen (EV) einer institutionalisierten wissenschaftlichen Kritik (K) und experimentellen Überprüfungen (Ex) systematisch ausgesetzt.40 Ziel ist es, logische und empirische Widersprüchezu entdecken und zu beseitigen. Der kritische Diskurs stellt die Objektivität der Theorie sicher. Die Überprüfung einer Theorie folgt der deduktiven Methode: Aus dem vorläufigen Lösungsversuch, dem theoretischen System, werden "auf deduktivem Weg Folgerungen abgeleitet; diese werden untereinander und mit anderen Sätzen verglichen, indem man feststellt, welche logischen Beziehungen (z. B. Äquivalenz, Ableitbarkeit, Vereinbarkeit, Widerspruch) zwischen ihnen bestehen. "41 Die Prüfung wird in vier Richtungen durchgeführt: 1. Feststellung der inneren Widerspruchsfreiheit, durch die Analyse der logischen Beziehungen zwischen den Aussagen der Theorie:
Liegen zwei logisch inkompatible Aussagen innerhalb des Theoriesystems vor, dann müßte sich eine kontradiktorische Aussage deduzieren lassen. Dann wäre jede beliebige Aussage aus der Theorie ableitbar. 42 Widerspruchsfreiheit ist die Voraussetzung für die Falsifizierbarkeit des Systems. Vgl. Popper, K. R. (1973), 161 ff., ders. (l994b), Kap. 1. "In jedem Fall trat eine neue Theorie erst zutage, nachdem eine normale Problemlösungsstrategie offensichtlich versagt hatte." Kuhn, T. S. (1967), S. 87. Etabliert sich das Bewußtsein um das Versagen einer Theorie und kommt es zu einer ausgesprochenen fachwissenschaftliehen Unsicherheit, dann spricht Kuhn von einer Krise. Siehe dazu Kuhn, T. S. (1967), Kap. VII. Eine neue Theorie scheint dann "eine unmittelbare Antwort auf die Krise zu sein." Kuhn, T. S. (1967), S. 87. 40 Vgl. Popper, K. R. (l994b), S. 16 ff. 41 Popper, K. R. (1934), S. 7. 42 Eine kontradiktorische Aussage enthält einen Selbst-Widerspruch. Aus einer logisch wahren (analytischen) Aussage wäre gleichzeitig auch ihr eigenes Negat deduzierbar. Ein widerspruchsfreies (konsistentes) System teilt die Menge der möglichen Aussagen dagegen eindeutig in zwei Teilklassen ein: die der kompatiblen und die der inkompatiblen Aussagen. 38
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I. Theorien der wissenschaftlichen Methode
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2. Feststellung der Falsifizierbarkeit, d. h. des empirisch-wissenschaftlichen Charakters der Theorie durch die Untersuchung der logischen Form: Dafür muß von der Theorie verlangt werden, daß "[ ... ] mehr besondere [singuläre] empirische Sätze deduziert werden können, als aus den Randbedingungen allein ableitbar sind [...]."43 Damit ist gemeint, daß sich die überhaupt möglichen singulären Sätze (Basissätze) in zwei Teilklassen aufteilen lassen: die Klasse aller Basissätze, die von der Theorie verboten werden, mit denen die Theorie also im Widerspruch steht das sind die Falsifikationsmöglichkeiten - und die Klasse von Sätzen, die erlaubt sind. Nur wenn die Klasse der verbotenen Basissätze nicht leer ist, ist eine Theorie falsifizierbar und empirisch und kann über die Realität informieren. 44 Falsifizierbarkeit bedeutet also, daß eine Theorie an den Tatsachen der Wirklichkeit scheitern kann. Erst diese Eigenschaft sichert die intersubjektive Überprüfbarkeit und ist Voraussetzung für die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze.45 "Man kann all das kurz dahingehend zusammenfassen, daß das Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Theorie ihre Falsifizierbarkeit ist, ihre Widerlegbarkeif, ihre Überprüjbarkeit. [. .. ]. "46 Falsifizierbarkeit ist nach Popper deshalb das sogenannte Abgrenzungskriterium, mit welchem Sätze, Satzsysteme und Hypothesen einerseits in empirisch-wissenschaftliche (realwissenschaftliche) und andererseits in metaphysische (und auch konventionalistisch-tautologische) nicht-wissenschaftliche unterschieden werden können. 47 Theorien der "Wirklichkeitswissenschaften"48 erwerPopper, K. R. (1934), S. 52. Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 53. 45 "Die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze liegt darin, daß sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen." Popper, K. R. (1934), S. 18. 46 Popper, K. R. (1994a), S. 52. 47 Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 14 ff., Kapitel IV und passim. Popper gelang es, mit dem Falsifizierbarkeitskriterium, das "Abgrenzungsproblem" d. h., Kants Frage nach den Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis, befriedigend zu lösen und die Widersprüche des neueren Positivismus zu überwinden. Der Positivismus kennzeichnet jene empiristische Richtung der Erkenntnistheorie, die an die Methode der Induktion glaubt. Der neuere Positivismus ist von Wittgenstein begründet worden und verwendete als Abgrenzungskriterium das "Sinnkriterium". Metaphysische Aussagen sind als "sinnlos" und nicht-wissenschaftlich zu verwerfen, weil sie nicht logisch restlos auf (singuläre) Beobachtungssätze zurückzuführen (d. h. aus diesen abzuleiten) sind. Wegen des Induktionsproblems scheitert dieser Abgrenzungsversuch: auch die Naturgesetze lassen sich nicht auf elementare Erfahrungssätze logisch zurückführen. Sie wären also ebenso ,,sinnlos". Poppers Abgrenzungskriterium ermöglicht dagegen, selbst die Metaphysik als wissenschaftlich sinnvoll zu bewerten, sie aber gleichzeitig von wissenschaftlich-empirischen Satzsystemen scharf genug abzugrenzen: historisch gesehen treten erfahrungswissenschaftliche Theorien als "Niederschlag" von metaphysischen Ideen auf, wenn solche Gedanken in falsifizierbare 43
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B. Methodologische Grundlagen
ben Wissenschaftscharakter also nur dann, wenn sie in falsifizierbarer Form artikuliert werden, weil nur so eine empirische Entscheidung zwischen ihnen und anderen Theorien möglich ist. "Nur solche Sätze (Satzsysteme) sagen etwas über die "Erfahrungswirklichkeit" aus, die an ihr scheitern können;"49 3. Feststellung des wissenschaftlichen Fortschritts: Falls sich die Theorie in empirischen Prüfungen bewährt, wird sie mit anderen Theorien verglichen, um herauszufinden, ob sie mehr erklären kann. 4. Prüfung durch empirische Anwendung: Auch die empirische Anwendung der Theorie erfolgt deduktiv: Aus Anfangs- und Randbedingungen und allgemeinen Gesetzen wird der Eintritt eines bestimmten Ereignisses vorausgesagt, d. h. eine Prognose deduziert. 50 Die Prognose wird mit den Tatsachen, den Ergebnissen der praktischen Anwendung der Theorie - eines Experimentes - verglichen. "Übereinstimmung mit diesen gilt als Bewährung der Hypothese, aber nicht als endgültiger Beweis; klare Nichtübereinstimmung gilt als Widerlegung oder Falsifikation. " 51 Hier kommt die Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation zum Tragen: allgemeine Sätze können niemals aus singulären Sätzen abgeleitet werden (lnduktionsproblem!), weswegen eine Theorie immer nur vorläufig verifiziert (besser wäre der Ausdruck: vorläufig nicht falsifiziert) werden kann. Durch rein deduktive Schlüsse kann aber von der Falschheit eines singulären Satzes (der Prognose) auf die endgültige Falschheit des allgemeinen Satzes (der Theorie) geschlossen werden (modus tollens).52 Form gebracht werden konnten (wie z. B. die Idee der Erdbewegung zunächst eine metaphysische Idee war). Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 222 f. 48 Popper, K. R. (1934), S. 256. 49 Popper, K. R. (1934), S. 255. Hutebison fordert deswegen, daß ökonomische Theorien in prüfbare Form gebracht werden müssen. Siehe dazu Hutchison, T. W. (1979). Machlup lehnt diese Forderung ab und verweist darauf, daß lange Diskussionen unter Logikern zu der Erkenntnis geführt hätten, daß es so etwas wie eine mittlere Kategorie von Aussagen gibt, die weder synthetisch-falsifizierbar noch analytisch-apriori seien. Vgl. dazu Machlup, F. (1955), S. 16 und ders. (1956), S. 486. Zu einer Kritik dieser Position Tietzel, M. (1981 b). 50 Deswegen schreibt Popper, K. R. (1994 b), S. 32: "[ ... ] vom intellektuellen Standpunkt der reinen Wissenschaft gehören Voraussagen [. .. ] zur kritischen Diskussion, zu Prüfungen." (Hervorhebungen im Original). Siehe dazu Tabelle A 3 im Anhang. SI Popper, K. R. (1965), S. 104. 52 Die Asymmetrie wird schon durch die Tatsache deutlich, daß es nur in der Logik und in der Mathematik Beweise gibt. Siehe dazu S. 100 in dieser Arbeit.
I. Theorien der wissenschaftlichen Methode
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Sollte sich eine Theorie als überlebensfrihig erweisen, d. h. trotz aller Eliminationsversuche nicht falsifiziert werden können, wird sie in die Gesamtheit des bewährten und vorläufig als gültig akzeptierten Wissens aufgenommen. Die in den Experimenten und in der wissenschaftlichen Kritik aufgezeigten neuen "inner-theoretischen "53 Probleme (P2 ) wecken dagegen das Bedürfnis nach neuen Theorien, die mehr erklären als die alten. Damit beginnt der Prozeß wieder von vorne. Der pseudozyklische bzw. periodische Charakter dieses Schemas wird durch die folgende Grafik verdeutlicht:
Abbildung 4: Das Entwicklungsschema der Wissenschaft
53
So bei Popper, K. R. ( 1994 a), S. 32.
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B. Methodologische Grundlagen
Der Entwicklungsprozeß kann auf jeder der Stufen beginnen. Z. B. kann ein Wissenschaftler mit einer älteren Theorie starten, also auf der Stufe der vorläufigen Theoriebildung. Durch deren kritische Überprüfung gelangt er zu neuen Problemen, die er dann mit neuen Theorien zu lösen sucht. Weil man offensichtlich immer wieder vor Probleme gestellt wird, sollte man aber nicht denken, daß sich die Wissenschaft "im Kreise dreht". Der dynamische Charakter und der Fortschritt der Wissenschaft zeigen sich darin, daß die neuen Probleme größer sind als die alten Probleme und die neuen Theorien mehr erklären als die alten. 54 Es herrscht eine "Tendenz zu wachsender Integration in Richtung auf einheitliche Theorien", der "Baum der Erkenntnis" entspringt "aus zahllosen Wurzeln, die [... ] schließlich [... ] dazu neigen, sich zu einem einzigen Stamm zu vereinigen."55 Dadurch werden bislang offene Probleme gelöst und eine sukzessive Annäherung an die Wahrheit erreicht. Wir sehen also, daß sich die Annahme der Fallibilität unseres Wissens und die Idee der objektiven Wahrheit nur dann ausschließen, wenn man wissenschaftliche Objektivität fälschlicherweise mit dem Idol der absoluten Sicherheit konfundiert. 56 Die Idee der Objektivität und die Suche nach der Wahrheit sind vielmehr über die kritische Methode verbunden. Auch widerspricht die Methode der negativen Nachprüfung nicht der Idee einer empirischen Wissenschaft, etwas Positives über unsere Welt mitzuteilen. "Die Bereitschaft, Theorien an Hand der Tatsachen kritisch zu überprüfen und damit mögliche Irrtümer in ihnen aufzudecken, ist Ausdruck für das Streben nach Wahrheit, denn Irrtum und Wahrheit sind korrelative Begriffe."57
II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente "Wenn man sich mit dem Problem der Erklärung von komplexen Phänomenen beschäftigt, muß man wissen, was eigentlich Erklärung ist."58
Vgl. Fn. 189 in Kapitel A.VI. Popper, K. R. (1973), S. 275. 56 Das könnte vielleicht daran liegen, daß das Wort "objektiv" im Sinne Kants so verwendet wird, um die wissenschaftliche Erkenntnis als begründbar, d. h. unabhängig von der Willkür eines einzelnen, zu beschreiben. Die Vorstellung Poppers kommt dieser Verwendung einerseits recht nahe, weil "objektiv" für intersubjektiv nachprüfbar und damit für Willkürfreiheit steht, andererseits wird die Begründung (Verifikation) von Theorien strikt abgelehnt. Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 18. 57 Fleischmann, Gerd (1966), S. 94. 58 Homans, G. C. (1972b), S. 95, Hervorhebung im Original. 54
55
II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente
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1. Der Begriff der wissenschaftlichen Erklärung
Der Ausdruck der Erklärung wird in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht, so z. B., wenn man die Bedeutung eines Ausdruckes oder das Auftreten eines bestimmten Ereignisses erklären wi11. 59 Im Gegensatz zu bloßen Beschreibungen versucht man in Erklärungen durch die Beantwortung der Frage nach dem "warum", also nach dem "warum ist dies der Fall", Probleme zu lösen. Von wissenschaftlichem Interesse sind zwei bestimmte Arten der Erklärung:60 Die Erklärung von singulären Tatbeständen und die Erklärung von allgemeinen Sätzen (Gesetzen) aus noch allgemeineren Gesetzen. Oft wird ein Einzelereignis durch die Angabe eines anderen Ereignisses - seiner Ursache - erläutert, z. B., wenn das Entwurzeln eines Baumes durch eine starke Windbö begrundet wird. Die Verknüpfung von "Ursache" und "Wirkung" wird in der Regel mit dem Ausdruck kausale Erklärung identifiziert. In der Form einer allgemeinen Kausalaussage besagt sie, "daß ein Ereignis einer gewissen Art A (z. B. das Hindurchführen eines Magneten durch eine geschlossene Drahtschleife) ein Ereignis einer gewissen anderen Art B verursacht (z. B. das Fließen eines elektrischen Stroms in dem Draht)."61 Einen Vorgang "kausal erklären" heißt eigentlich wissenschaftstheoretisch korrekt, "einen Satz, der ihn beschreibt aus Gesetzen und Randbedingungen deduktiv ableiten." 62 Häufig werden nur die Randbedingungen als "Ursache" bezeichnet und das beobachtete Ereignis als "Wirkung". Weil diese verkürzte Interpretation des deduktiven Erklärens zu Fehldeutungen führen kann,63 soll nach einer Explikation des deduktiv-nomologischen Er59 Im folgenden soll nicht auf die vielfältigen Verwendungsarten des Wortes "Erklärung" eingegangen werden, die man in der Alltagssprache, in den theoretischen und historischen Wissenschaften vorfinden kann. Was uns vielmehr interessiert, ist die logische Struktur einer Erklärung im Sinne der modernen Wissenschaftslogik. Siehe dazu das grundlegende Werk von Popper, K. R. (1934), in welchem das deduktiv-nomologische Erklärungsschema zuerst entwickelt wurde. Vgl. außerdem Popper, K. R. (1964a) und ders. (1964b), Hempel, C. G./P. Oppenheim (1948), Hempel, C. G. (1964), ders. (1970), ders. (1977), Stegmüller, W. (1970), Fleischman, G. (1966), S. 4 ff., Bartley, W. W. (1962b). 60 Vgl. Albert, H. (1964), S. 48. Samuelson vertrat die Meinung, daß die Unterscheidung zwischen Beschreibung und Erklärung nicht gerechtfertigt sei. Siehe dazu Samuelson, P. (1965), S. 1167. 61 Hempel, C. G. (1977), S. 20, Hervorhebungen im Original. 62 Popper, K. R. (1934), S. 31. 63 So liegt beim obigen Beispiel auf der Hand, daß eine wirklich befriedigende Erklärung nur in Verbindung mit vielen anderen Faktoren, wie dem Alter des Baumes, der Beschaffenheit des Erdreiches, der Tiefe der Wurzeln etc. gegeben werden kann. Die Erklärung von Ereignissen mit solchen Ursache-Wirkung-Aussagen wird vor allem dadurch erschwert, daß nach wie vor keine befriedigende Explikation des Begriffs Ursache vorliegt. Vgl. zu diesem Problem und zu dem Zusam7 Schaffer
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B. Methodologische Grundlagen
klärungsschemas an späterer Stelle (Kapitel B.II.3, S. 106) nochmals darauf eingegangen werden 2. Die deduktiv-nomologische Erklärung "Das, was wir zu erklären hoffen, kann man das Explikandum nennen. Der Lösungsversuch - das heißt: die Erklärung - besteht immer in einer Theorie, einem deduktiven System, das es uns erlaubt, das Explikandum dadurch zu erklären, daß wir es mit anderen Tatsachen (den sogenannten Anfangsbedingungen) logisch verknüpfen. Eine völlig explizite Erklärung besteht immer in der logischen Ableitung (oder Ableitbarkeit) des Explikandums aus der Theorie, zusammen mit den Anfangsbedingungen." 64
Das deduktiv-nomologische Erklärungsschema schreibt nicht die Form vor, in der Erklärungen formuliert werden, sondern ihre logische Struktur, nämlich die eines logischen, deduktiven Arguments. Zentral ist dabei, daß der zu erklärende individuelle Tatbestand aufgrund gewisser erklärender Tatsachen zu erwarten war. Die erklärende Faktoren lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: (1) allgemeine Aussagen bzw. Gleichmäßigkeiten, die einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen bestimmten Tatbeständen behaupten und in allgemeinen Gesetzen darstellbar sind (sie werden oft auch als nomologische Hypothesen bezeichnet) und
(2) besondere singuläre Sachverhalte, also Einzelfakte über raum-zeitlich bestimmte Sachverhalte, deren Existenz Voraussetzung für die Anwendung der allgemeinen Aussagen sind. Diese als "Anwendungsbedingungen" bezeichneten Tatbestände lassen sich in Anfangs- und Randbedingungen unterteilen. Unter Randbedingungen versteht man solche Einflüsse, die von außen her auf den im Gesetz beschriebenen Ablauf zwischen den Größen störend einwirken können, sie beschreiben einen Zustand. Anfangsbedingungen sind jene Faktoren, die zu Beginn der Periode gegeben sein müssen, sie bringen eine Änderung zum Ausdruck.65
menhang zwischen den Begriffen Ursache, Kausalgesetz, kausale Erklärung, wissenschaftliche Erklärung und allgemeines Kausalprinzip Stegmüller, W. (1970). 64 Popper, K. R. (1984), S. 93. Die logische Ableitung wird auch als Konklusion, deduktive Subsumtion oder logische Implikation bezeichnet. Vgl. Hempel, C. G. (1977), S. 6. Das Explikandum oder Explanandum ist ein Satz, der das Ereignis beschreibt! Das Ereignis, das Phänomen der Wirklichkeit, also die Tatsache selbst, kann schließlich nicht logisch abgeleitet werden! 65 In der in den Wirtschaftswissenschaften bekanntesten Hypothese "Wenn in einer Marktwirtschaft die Nachfrage steigt, während das Angebot unverändert bleibt, (dann) steigen die Preise", ist die Nachfrageerhöhung die Anfangsbedingung,
II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente
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Explanans enthält
SINGULÄRE AUSSAGEN ALLGEMEINE AUSSAGEN = nomologische Hypothesen
über raum-zeitliche Tatbestände = ANWENDUNGSBEDINGUNGEN (A ....Z) = Antezedenzien
=ALLGEMEINE GESETZE (G 1 •• •.G .) =Theorie
ANFANGSbedingungen
RANDbedingungen
EXPLANANDUM Satz, der das Ereignis beschreibt
Abbildung 5: Das deduktiv-nomologische Erklärungsschema
In Abbildung 5 sind die Bestandteile und der Ablauf der d-n Erklärung übersichtlich dargestellt. Die Bedeutung des d-n Erklärungsmodells für die Wissenschaft ergibt sich aus der Verbindung des Explanans mit dem Explanandum durch einen logischen Schluß, durch die Deduktion. Eine logische Deduktion kann nämlich folgendes leisten bzw. nicht leisten: während das konstante Angebot und der marktwirtschaftliche Ordnungsrahmen die Randbedingungen darstellen. 7*
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B. Methodologische Grundlagen
1. Logisch deduzieren heißt, mit Hilfe logischer Schlußfolgerungen aus den Prämissen die Konklusionen ableiten. 2. Eine logische Ableitung kann zum einen ein Beweis sein, d. h. eine Demonstration im besonderen. Damit wird die Wahrheit des Schlußsatzes endgültig festgestellt. Zum anderen kann eine logische Ableitung eine Folgerung, d. h. eine logische Deduktion sein, deren Schlußsatz durchaus falsch sein kann. Außerhalb der reinen Logik und der Mathematik läßt sich nichts beweisen. Alle logischen Ableitungen in anderen Wissenschaften sind deshalb Deduktionen! 3. Mit einer logischen Deduktion kann nichts über die Wahrheit der Prämissen (Annahmen des Antezedenz) ausgesagt werden. In einem logischen Argument können Prämissen in jeder beliebigen wahr-falsch Kombination vorliegen. Auch aus falschen Prämissen lassen sich wahre Konklusionen ziehen Nur ein Fall kann nicht eintreffen: aus ausschließlich wahren Antezedenz-Komponenten lassen sich keine falschen Konklusionen schließen, sondern nur wahre. 4. Mit einer logischen Deduktion kann der Informationsgehalt einer Aussage (Prämisse) nicht erhöht werden. Durch eine Deduktion kann nur jene Informationsmenge herausgezogen werden, die in der Prämissenmenge schon enthalten ist. 5. In empirischen Wissenschaften können die Prämissen von logischen Ableitungen falsch sein (weil wir nie Gewißheit über ihre endgültige Wahrheit besitzen können). Deswegen kann dort nichts bewiesen werden. Daraus folgt, was gültige logische Folgerungen garantieren können: 1. die Übertragung des positiven Wahrheitswertes - der Wahrheit - von
den Antezedenzien und der nomologischen Hypothese (PrämissenMenge) auf die Konklusion (das Explanandum).
2. die Rückübertragung des negativen Wahrheitswertes - der Falschheitvon der Konklusion auf das Explanans (auf die Prämissen-Menge). Das ist der "modus tollens" der klassischen Logik.66 Durch das Rückübertragungsprinzip wird die formale Logik zum Organon der rationalen Kritik.
66 Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 16 und S. 44 f. Der "modus tollens" wird von Popper als eine deduktive Schlußweise bezeichnet, die quasi in "induktiver Richtung", d. h. von singulären zu allgemeinen Sätzen, fortschreitet.
II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente
101
Sollte eine Deduktion ungültig sein, womit ein Fehlschluß geliefert würde, könnten zwangsläufig beide Punkte nicht mehr garantiert sein. Rationale Kritik setzt also logisch richtige Schlüsse voraus. Nur logisch gültige Theorien besitzen Erklärungskraft und können mit der Methode der Falsifikation kritisiert werden. Deswegen erfolgt die Prüfung einer Theorie - wie an späterer Stelle noch gezeigt wird - als erstes nach ihrer inneren logischen Widerspruchsfreiheit a) Die Allgemeingültigkeit von Gesetzen
Ein besonderer Blick muß auf zwei syntaktische Merkmale von Gesetzen geworfen werden, um die Bedeutung von Gesetzen für die d-n Erklärung besser verstehen zu können: das Merkmal der Allgemeingültigkeit, bzw. der Abstraktheit und das Merkmal der Konditionalität von Gesetzen. 67 Gerade in der Ökonomik ist einer Reihe von Aussagen teilweise willkürlich der Titel eines "Gesetzes" verliehen worden, z. B. das Greshamsche Gesetz, Marshalls Nachfragegesetz, das eherne Lohngesetz, das Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag. Bei diesen Aussagen handelt es sich tatsächlich einerseits um "[ ... ] isolierte Einzelaussagen vom Charakter empirischer Generalisierungen, andererseits wieder um Aussagen, die einem umfassenden Systemzusammenhang angehören, also einer mehr oder weniger ausgearbeiteten ökonomischen Theorie."68 Hinsichtlich ihres Allgemeinheilsgrades lassen sich Sätze in drei Gruppen einteilen: 1. Spezifisch-allgemeine Sätze: sie beanspruchen, für jeden beliebigen Orts- und Zeitpunkt gültig zu sein ("echte" Allsätze). 2. Singuläre Sätze: sie beziehen sich nur auf Einzelereignisse. 3. Numerisch-allgemeine Sätze: sie gelten für endliche Klassen von Elementen (aber für alle Elemente dieser Klassen) innerhalb eines individuellen Raum-Zeit-Bereichs ("unechte Allsätze"). Grundsätzlich können numerisch-allgemeine Sätze durch UND-Verknüpfungen singulärer Sätze ersetzt werden, wenn man in der Lage ist, alle Elemente der betreffenden Klasse aufzuzählen. 69 67 Die Frage, was eigentlich Gesetze sind, ist nicht wirklich befriedigend beantwortet. Siehe für ausführlichere Diskussionen Hempel, C. G. (1977), S. 9 ff., Stegmüller, W. (1970), S. 164 ff. Nach Popper versteht man unter Naturgesetzen das, was etwas über "[ ... ] eine strukturelle Eigenschaft unserer Welt aussagt, eine Eigenschaft, die das Vorkommen gewisser logisch möglicher Einzelvorgänge oder Zustände verhindert." Popper, K. R. (1934), S. 387. 6s Albert, H. (1973), S. 131. 69 Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 34 ff.
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B. Methodologische Grundlagen
Warum ist die Allgemeingültigkeit der Gesetze für eine befriedigende Erklärung notwendig? Die Antwort ist, daß "[... ] ein wichtiges Postulat der wissenschaftlichen Methodikbesagt, daß wir nach Gesetzen mit unbegrenztem Geltungsbereich suchen sollen."70 Um Veränderungen erklären zu können, darf man nämlich nur Gesetze zulassen, die sich selbst nicht verändern. Sonst könnte man bei unerwarteten Beobachtungen ad hoc die Hypothese einführen, daß sich die Gesetze geändert haben und damit einfach alles erklären. Dieses Postulat der "räumlichen, aber auch zeitlichen Invarianz der Naturgesetze" ist also eine methodologische Regel. "Wir halten es deshalb für verfehlt, zu sagen, daß die Gesetzmäßigkeiten sich nicht ändern (einen solchen Satz können wir weder bestreiten noch behaupten), sondern wir werden sagen, daß wir die Naturgesetze durch die Forderung dieser Invarianz definieren (und auch dadurch, daß sie keine Ausnahmen haben dürfen)."71 Die Regel spiegelt sich in den Naturwissenschaften wieder, so z. B. in der Relativitätstheorie, deren Bewegungsgesetze einheitlich für hohe als auch für niedrige Geschwindigkeiten formuliert sind. 72 Ihre metaphysische Umdeutung findet sie im "Prinzip von der allgemeinen Naturkonstanz", also im metaphysischen Glauben an die Existenz invarianter Strukturen in der Wirklichkeit. 73 Die Konstanz von Naturvorgängen bildet die Voraussetzung für die wissenschaftliche Methode der Falsifikation von Theorien, weil sie als Korrektiv und als externer Referenzpunkt für die sie darstellenden Theorien genutzt werden kann. Nur so können wir das Eintreten nicht prognostizierter Ereignisse auf die Fallibilität unseres Wissens, d. h. auf die Falschheit unserer Theorien zurückführen und die Auffassung von Wahrheit als Übereinstimmung mit den Tatsachen vertreten. Deswegen spricht Popper auch von der "Notwendigkeit oder Unmöglichkeit in der Natur". Sie "legt der Welt strukturelle Prinzipien auf. Sie läßt aber den kontingenteren Einzeltatsachen - den Randbedingungen - noch immer sehr viel Freiheit."74 Wichtig ist die Erkenntnis, daß die Naturgesetze in bezug auf die Einzeltatsachen notwendig sind, im Vergleich zu logischen Tautologien sind sie aber kontingent, also zufällig. Deswegen kann es "[... ] strukturell verschiedene Welten geben- Welten mit verschiedenen Naturgesetzen."75 Man kann die Aufgabe der empirischen Wissenschaften und damit auch der Wirtschaftswissenschaften folgendermaßen zusammenfassen: "Es ist für Popper, K. R. (1965), S. 81. Popper, K. R. (1934), S. 200. 72 Dieses Postulat wird ausführlich von Popper diskutiert, siehe Popper, K. R. (1934), Abschnitt 79. 73 Vgl. ebd., S. 199. 74 Ebd. S. 384. 75 Ebd. S. 384. 1o 71
II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente
103
die theoretischen Realwissenschaften charakteristisch, daß sie sich nicht darauf beschränken, nach isolierten Gesetzmäßigkelten zu suchen - etwa nach induktiven Verallgemeinerungen beobachteter Tatsachen, wie vielfach angenommen wird -, sondern daß sie mehr oder weniger umfassende Systeme nomologischer Aussagen zu konstruieren versuchen, um möglichst tief in die Struktur des sie jeweils interessierenden Realitätsausschnitts hineinleuchten zu können. Das gilt auch für die theoretische Nationalökonomie."76 Zusammenfassend lassen sich für Gesetze folgende Charakteristika festhalten: Gesetze sind (a) empirische, nicht singuläre Sätze, (b) als ABsatz, Konditionalsatz oder Verbotssatz formuliert, (c) die sich auf eine unbegrenzte Anzahl von Elementen beziehen.
b) Die Konditionalität von Gesetzen Eine weitere wichtige syntaktische Eigenschaft von Gesetzesaussagen ist die der Konditionalität. Damit ist jene Tatsache angesprochen, daß in empirische Wissenschaften, die ja über die Realität informieren wollen, vor allem wahrheitsfahige Aussagen eine bedeutende Rolle spielen, weil nur diese Art von Aussagen Informationsgehalt über die Wirklichkeit besitzen. Gesetzesaussagen mit Informations-, d.h. Wahrheitsgehalt sind zugleich Aussagen, die an der Wirklichkeit scheitern, also falsch sein können. Die Wahrheit dieser Aussagen ist nie sicher (Konditionalität). Diese Eigenschaft erreicht eine Aussage durch die Art ihrer logischen Form. 17 Gesetzesaussagen können grundsätzlich in der Syntax von Allsätzen, Verbotssätzen und Konditionalsätzen auftreten. Als Allsätze verfaßte Gesetze sind universelle (allgemeine) Gesetzesaussagen, die sich auf unbegrenzt viele Elemente beziehen und raum-zeitlich unbeschränkt sind. 78 Sie können deshalb, wie das bekannte Raben-Beispiel Poppers "Alle Raben sind schwarz" zeigt, als "Immer-und-Überall-WennDann-Aussagen"79 bezeichnet werden. 80 Allsätze können aber auch als Verbotssätze verfaßt sein. Entsprechend würde die Hypothese über die Farbe von Raben lauten: "Es gibt keine nicht-schwarzen Raben". Als Verbote formulierte Gesetze sind für wissenschaftliche Erklärungen sehr wichtig, weil 76 Albert, H. (1973), S. 134. So auch Meyer, W. (1979), S. 272, Fleischmann, G. (1966), S. 6, Kirchgässner, G. (1991), Kunz, V. (1996), Albert, H. (1977) passim, Popper, K. R. (1965). 77 Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 15. 78 Vgl. ebd., S. 34. 79 Albert, H. ( 1967 a), S. 341. so Popper, K. R. (1934), S. 39.
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B. Methodologische Grundlagen
der Ausschluß von logisch möglichen Zuständen und Vorgängen eine Theorie widerlegbar macht. 81 Die Raben-Hypothese schließt weiße Raben aus. Sie wäre widerlegt, d. h. falsifiziert, wenn in der Realität ein weißer Rabe gefunden würde. Gerade die Naturgesetze, welche die logische Form von Allsätzen besitzen, können als Verbote aufgefaßt werden: z. B. das Verbot "Es gibt kein perpetuum mobile" für den Satz von der Erhaltung der Energie. Naturgesetze sind in bezug auf die von ihnen ausgeschlossenen Einzeltatsachen "Prinzipien der Unmöglichkeit"82 . Falsifizierbarkeit ist insofern eine logische Eigenschaft, und je zahlreicher die verbotenen Sachverhalte sind, desto mehr Prüfungsmöglichkeiten bieten sich für eine Theorie.83 Für Theorien gibt es deswegen auch unterschiedliche Grade ihrer Prüjbarkeit. Im Extremfall sind sie unwiderlegbar und unprüfbar, weil sie Tautologien oder auch Existentialsätze sind. 84 Diese unbeschränkten "Es-gibt-Sätze" sehen z. B. folgendermaßen aus: "Es gibt schwarze Raben" oder "Es gibt ein vollkommenes Heilmittel gegen Aids". Kein spezifischer Satz über ein Ereignis kann mit diesen Existentialsätzen in logischem Widerspruch stehen. 85 Ein weißer, grüner oder roter Rabe und selbst der Tatbestand, daß bisher nur weiße Raben entdeckt wurden, widersprechen dem Raben-Satz nicht. Denn genauso wie uns der zweite Satz keine Auskunft darüber gibt, ob das Heilmittel jetzt oder zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt bekannt sein wird, ist es logisch immer möglich, das Nichtentdecken des Heilmittels und eines schwarzen Raben als scheinbar abzulehnen und auf zukünftige erfolgreiche Versuche zu verweisen. Anders ausgedrückt: "Durch keine Beobachtung auf der Welt kann seine Falschheit festgestellt werden."86 Von einem Konditionalsatz spricht man, wenn die Gesetzeshypothese als "Wenn-Dann-Aussage" verfaßt ist: "Wenn Tatbestände einer bestimmten Art vorliegen, dann werden (zugleich oder später) andere Tatbestände einer bestimmten Art auftreten." 87 Grundsätzlich kann ein solcher Konditionalsatz eine faktische (materiale) 88 oder eine logische Implikation darstellen. Gesetzeshypothesen stellen faktische Implikationen dar. In diesem Fall folgt 81 Vgl. Albert, H. (1967b), S. 462 und Popper, K. R. (1984), S. 53, ders. (1934), S. 39 und S. 384. 82 Popper, K. R. (1934), S. 384. 83 Vgl. Schütz, T. (1995), S. 50. 84 Vgl. Popper, K. R. (1994 a), S. 285 ff. 85 Popper weist ausdrücklich darauf hin, daß es sich bei nicht-wissenschaftlichen "Es-gibt-Sätzen" nur um "bloße" oder "isolierte" "Es-gibt-Sätze" handelt, die keinen weiteren theoretischen Hintergrund besitzen. Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 40. 86 Popper, K. R. (1994a), S. 364. 87 Fleischmann, G. (1966), S. 95. Siehe auch Kromphardt, J./P. Clever/H. Klippert (1979), S 64. 88 Vgl. Albert, H. (1967b), S. 305.
II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente
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die Dann-Komponente nicht logisch zwingend aus der Wenn-Komponente. Aussagen dieser Art besitzen die syntaktische Eigenschaft, synthetisch zu sein. So ist z. B. das Nachfragegesetz in der Formulierung: "Wenn der Nachfrageüberschuß nach dem Gut X positiv ist, dann steigt der Preis des Gutes X", nicht zwingend notwendig und kann anband von empirischen Untersuchungen widerlegt werden. Soll ein allgemeines Gesetz einer Realwissenschaft über die Realität informieren, dann darf die Dann-Komponente nicht aus der Wenn-Komponente ableitbar sein, d. h. empirische Aussagen müssen logisch indeterminiert (nicht-analytisch) sein. Was aber zweifellos durch die Formulierung von Gesetzen und deren späterer Überprüfung angestrebt wird, ist die richtige Beschreibung der Naturnotwendigkeit der Verbindung der Wenn- und der Dann-Komponente. Dies erfolgt durch die Subsumtion allgemeiner Gesetze unter noch allgemeinere Gesetze und schließlich unter umfassende Theorien und zwar in der gleichen deduktiven Weise, wie sie für die Erklärung singulärer Tatbestände angewendet wird. Eine Hypothese, d. h. der Konditionalsatz, der die Wennund die Dann-Komponente enthält, folgt dann als Ganzes aus den allgemeineren Hypothesen (Gesetzen). 89 Die Dann-Komponente des abgeleiteten Konditionalsatzes ist aber nach wie vor logisch indeterminiert und bleibt damit falsifizierbar. Im Fall einer logischen Implikation beschreibt der Konditionalsatz einen Satz über die Ableitbarkeit eines Satzes. Die logische Beziehung der WennKomponente und der Dann-Komponente ist dadurch gekennzeichnet, daß der Wenn-Dann-Satz logisch wahr, also analytisch ist, weil die Wenn-Komponente bereits alle Prämissen enthält, die für die Ableitung notwendig sind.90 Die Dann-Komponente ist in der Wenn-Komponente enthalten und besitzt deshalb nicht mehr Informationen als die Wenn-Komponente. Eine logische Implikation ist logisch determiniert und ohne jeden Informationsgehalt. Aussagen dieser Art sind tautologisch. 91 Die Ableitung des Explanandums aus dem Explanans ist eine solche logische Implikation. Zusammenfassend kann man sagen, daß der Wahrheitswert einer analytischen Aussagen a priori, d. h. allein aufgrund ihrer syntaktischen Struktur entschieden werden kann, wohingegen der Wahrheitswert synthetischer Aussa89 Vgl. Cohen, M. R./E. Nagel (1934), S. 397. Hempel, C. G. (1970), S. 217, Hempel, C. G. (1977), S. 18, Fleischmann, G. (1966), S. 91. 90 Ein Beispiel dafür ist: "Wenn ein bestimmter Kupferstab erwärmt wird und die Aussage wahr ist, daß sich ein erwärmter Kupferstab ausdehnt, dann dehnt sich dieser bestimmte Kupferstab aus." Schütz, T. (1995) S. 39. 91 Ein Beispiel dafür ist: "Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt wie es ist." Dieser Allsatz ist nicht singulär und kann sich empirisch gut bewähren. Er kann aber nicht widerlegt werden, weswegen er nicht als empirisch bezeichnet werden kann. Aus rein logischen Gründen ist dieser Satz immer wahr. Deswegen ist er auch kein Gesetz, sondern eine Tautologie.
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B. Methodo1ogische Grundlagen
gen durch die Erfahrung - also a posteriori - ermittelt wird. Die Negation einer analytischen Aussage stellt einen (logischen) Widerspruch dar, die Negation einer synthetischen Aussage nicht. Was nun die wissenschaftliche (d-n) Erklärung betrifft, lassen sich für sie folgende Adäquatheilsbedingungen wissenschaftlicher Erklärungen ableiten92: (1) das Explanans muß das Explanandum logisch enthalten, wodurch die Ableitung des Explanandums aus dem Explanans logisch gültig, d. h. analytisch ist; (2) im Explanans muß mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten sein, damit es nomologischen Charakter besitzt; (3) Gesetze und Anwendungsbedingungen des Explanans müssen empirisch überprüfbar sein, damit das Explanans empirischen Gehalt besitzt; (4) hinsichtlich der empirischen Daten müssen die Sätze des Explanans vollständige Konsistenz aufweisen (was auch für das Explanandum gilt).
3. Ursache-Wirkungs-Erklärungen Mit Hilfe der obigen Ausführungen kann nun auch der wissenschaftliche Status von Ursache-Wirkungs-Erklärungen besser verstanden werden. Eine Schlußfolgerung von einem einzelnen Faktor auf ein anderes Ereignis ist grundsätzlich nur unter einer Vielzahl zusätzlicher Bedingungen möglich. Wenn man erkennt, daß kausale Erklärungen implizit immer die Existenz allgemeiner Gesetze voraussetzen, die die Verknüpfung von Ursache und Wirkung überhaupt ermöglichen und die relevanten Bedingungen nicht unbestimmt bleiben - auch wenn sie nicht ausdrücklich genannt worden sind -, dann sind kausale Erklärungen nomologisch-deduktive Erklärungen. Sie werden dann den Anforderungen wissenschaftlicher Erklärungen gerecht. Der Begriff der Ursache läßt sich in dem deduktiv-nomologischen Erklärungsschema auch als mehr oder weniger eng umschriebener individueller Tatbestand (Antezedenz-Ereignis) verstehen. Die im Explanans enthaltenen Anfangs- und Randbedingungen ersetzen dann den Alltagsbegriff der Ursache, und das im Explanandum beschriebene spezifische Ereignis entspricht dem Begriff der Wirkung. Zwischen beiden Tatbeständen besteht insofern eine kausale Beziehung, als der zweite Tatbestand des Explanandums (die Wirkung) auftritt, weil der erste Tatbestand des Explanans (die Ursache) realisiert ist. Die Interpretation der Ursache-Wirkungs-Beziehung als eine solche WeilAussage ist aber immer so zu verstehen, daß das "weil" auf die Existenz bestimmter Gesetzmäßigkeiten hinweist, die für die Ableitung der Wirkung notwendig ist.93 Allgemeine Gesetze besitzen im deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell eine besonders wichtige Funktion: sie verbinden das Ex92
Vgl. Hempel, C. G./Oppenheim, P. (1948) und Stegmüller, W. (1983), S. 124.
II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente
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planandum-Ereignis mit den Einzelfaktoren des Explanans, so daß die besonderen Tatsachen des Explanans für das Explanandum erklärungsrelevant und hinreichende Bedingung sind. Ohne den Rekurs auf allgemeine Gesetzesaussagen könnte die Aufeinanderfolge zweier Sachverhalte sonst nur als (historische) Zufälligkeit und nicht als ein Resultat interpretiert werden, welches theoretisch in all jenen Fällen zu erwarten ist, in denen bestimmte Anwendungsbedingungen realisiert sind.94 Andererseits wird deutlich, daß ein allgemeines Gesetz wegen der gegebenen Unbestimmtheit ohne Angabe der Anwendungsbedingungen "leer" ist. Man wird nicht feststellen können, ob ein Tatbestand zu erwarten ist, wenn nicht überprüft werden kann, ob die genannten Bedingungen für den konkreten Fall überhaupt empirisch vorliegen. Man erkennt die Gefahr, daß bei Erklärungen in Form von Ursache-Wirkungs-Beziehungen allzu schnell die Rolle allgemeiner Gesetze übersehen wird. Diese Nachlässigkeit ist gerade in den Sozialwissep.schaften anzutreffen, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, daß sich Erklärungen hier häufig an die Vorstellungen des klassischen Rationalismus anlehnen, der die faktische Ursache-Wirkungs-Beziehung überwiegend mit der logischen Grund-Folge-Beziehung konfundierte. 95 Eine Grund-Folge-Beziehung stellt aber einen logisch-deduktiven Zusammenhang zwischen Sätzen dar und befindet sich statt auf der Realitätsebene, also der Ursache-Wirkungs-Beziehung, auf einer völlig anderen Ebene, nämlich der Aussagenebene. Und weil Ursache und Wirkung zwei verschiedene Tatbestände sind, können ihre Beschreibungen auch nicht in einer logischen Ableitbarkeitsbeziehung stehen. 96 Ohne Gesetze ist eine kausale Erklärung einfach nicht möglich. Aber nicht jede Art von Gesetzen bietet die Voraussetzung für kausale Verbindungen, wie sie in den Ursache-Wirkung-Aussagen enthalten sind. Kausale Erklärungen setzen Kausalgesetze, sogenannte deterministische Gesetze, voraus. Deterministische Gesetzmäßigkeilen erlauben die genaue Vorhersage eines Ereignisses (genau genommen sind es die Merkmale eines 93 Vgl. Albert, H. (1964), S. 49. Die Gesetzmäßigkeiten müssen also zur Beschreibung der Ursache hinzugefügt werden. Siehe auch Hempel, C. G. (1977),
s. 25.
94 In diesem Punkt unterscheiden sich Gesetze von empirischen Regeln, die nur eine durch Beobachtung erhärtete Kenntnis eines regelmäßigen Zusammentreffens oder eines Aufeinandertreffens bestimmter Tatsachen beschreiben, aber keine Gründe für den Zusammenhang der Erscheinung liefern. 95 Vgl. zu dieser Einschätzung Albert, H. (1964 ), S. 49. 96 Das wird klarer, wenn man sich vor Augen hält, daß die Logik die Lehre von den Regeln des folgerichtigen Denkens ist. "Logisch" bedeutet die Logik betreffend, also denkrichtig, folgerichtig. Zwei Tatbestände der realen Welt können aber nie denknotwendig sein! Zwei Tatbestände der realen Welt können aber zeitlich aufeinanderfolgen.
108
B. Methodologische Grundlagen
Ereignisses). Diese Gesetze determinieren die Wirkung (das Ereignis) aber natürlich nur dann, wenn die Ursache und die Randbedingungen gegeben werden. Die besten Beispiele für deterministische Gesetze findet man in physikalischen Theorien. Mittels solcher Gesetze lassen sich bei Vorgabe eines Zustandes des physikalischen Systems zu einem beliebigen Zeitpunkt genau die Zustände zu einem anderen, früheren oder späteren Zeitpunkt festlegen. Zu nennen wären hier die klassische Mechanik und die Gravitationstheorie. Häufig wird behauptet, daß deterministische Gesetzmäßigkeiten, weil sie Ereignisfolgen betreffen, sogenannte Sukzessionsgesetze voraussetzen, die sich mit den zeitlichen Änderungen eines Systems beschäftigen.97 Im Unterschied dazu sagen Koexistenzgesetze etwas über das gleichzeitige Vorkommen, also die Koexistenz von Eigenschaften von Dingen, aus.98 Gesetze dieser Art geben z. B. die physikalischen oder chemischen Eigenschaften von Dingen an, oder liefern Erklärungen wie z. B. für die Schwingungsdauer eines Pendels (in der Physik gehören die Gesetze von Boyle und Charles sowie das Ohmsehe Gesetz dazu). Die Unterscheidung zwischen Sukzessions- bzw. Koexistenzgesetzen ist nun aber alles andere als eindeutig. 99 Die Verwirrung um die Begriffsabgrenzung dürfte 97 Vgl. Hempel, C. G. (1977), S. 25 und Stegmüller W. (1970), S. 163 ff. Die Bezeichnung von Sukzessionsgesetzen als Gesetze, die Zeit enthalten, ist nach Popper eine "vernünftige" Interpretation. Es sei angemerkt, daß Popper zum einen von Gesetzen spricht, "bei denen der Begriff der Zeit keine Rolle spielt" (Koexistenzgesetze) und zum anderen von Gesetzen, "in deren Formulierung die Zeit enthalten ist" (Sukzessionsgesetze), Popper, K. R. (1965), S. 90. Verwirrend ist dabei, daß es Gesetze gibt, in denen die Zeit in den Formulierungen nicht enthalten ist womit sie vernünftig interpretiert Koexistenzgesetze wären -, die Zeit aber dennoch eine Rolle spielt - was sie gleichzeitig zu Sukzessionsgesetzen macht. Für einen solchen scheinbaren Widerspruch verweist Popper in der Fn. 75 auf die Tatsache, daß ein Gleichgewicht durch eine "Bewegung" erst erreicht werden muß. Statische Systeme (physikalische wie soziale) bewegen sich aber nicht. Die Gleichgewichtstheorie müßte demnach dynamisch sein. Ich interpretiere den Rückgriff auf den "Bewegungs"-Begriff so (im übrigen ist dieser von Popper selbst in Anführungszeichen gesetzt, um zu verdeutlichen, daß es sich nicht um den aus der Physik bekannten Begriff der Bewegung handelt, wenn man von sozialen Systemen spricht), daß Popper dem Kriterium, "Zeit spielt eine Rolle", entscheidenderes Gewicht einräumt als der expliziten Erfassung von Zeit. 98 Die Unterscheidung zwischen Sukzessions- und Koexistenzgesetzen ist von Comte und Mill eingeführt worden. Für sie entsprachen Sukzessionsgesetze dynamischen Gesetzen, welche die Abfolge einer Reihe von Ereignissen bestimmen, wohingegen Koexistenzgesetze der Statik entsprachen. Popper hat diese Sichtweise, die in den historischen Wissenschaften in Form von Entwicklungsgesetzen ihren Niederschlag fand, aufs schärfste kritisiert und abgelehnt. Für Popper gibt es keine Sukzessionsgesetze im Sinne von Comte, weil dazu ein Gesetz notwendig wäre, welches die konkrete Sukzession mehrerer kausal verknüpfter Ereignisse beschreibt, was aber unmöglich ist. Siehe dazu ausführlich Popper, K. R. (1965), S. 90 ff. 99 Vgl. Stegmüller, W. (1970), S. 164. Der Satz ,,Zucker ist löslich in Wasser" entspricht scheinbar einem Koexistenzgesetz, weil es aussagt, daß die Merkmale des
II. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente
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wohl auch hier an der oben angesprochenen Konfundierung von Aussagenebene und Tatsachenebene liegen: Mit deterministischen Gesetzen wird die logische Wenn-Dann-Beziehung auf die Beschreibung der Wirklichkeit (Realität) angewendet. Diese "Sukzession" der Wenn-Dann-Beziehung ist eine logische Beziehung, mit der natürliche Ereignisfolgen beschrieben werden. Die zeitliche Aufeinanderfolge ist kein wirkliches Merkmal von Sukzessionsgesetzen (nur eine ihrer vernünftigen Interpretationen), sondern der Erfahrung, d. h. der Wirklichkeit. Es gibt einfach nur determinstische Gesetze, die man sowohl als "Koexistenzgesetze" als auch als "Sukzessionsgesetze" formulieren kann. 100
4. Probabilistische - statistische Erklärungen Nun ist es in den Wissenschaften nicht so, als seien alle Erklärungen des d-n Modells kausale Erklärungen, so z. B. wenn Koexistenzgesetze Anwendung finden. Auch ist die Erklärung eines allgemeinen Gesetzes aus noch allgemeineren Prinzipien oder Theorien von anderer Art als die kausale Erklärung eines Einzelereignisses. 101 Ein weiterer grundlegender Typ nicht nur naturwissenschaftlicher Erklärung sind probabilistische - statistische Erklärungen. Eine probabilistische Erklärung zeichnet sich dadurch aus, daß sie "mindestens ein Gesetz oder theoretisches Prinzip statistischer Form wesentlich benützt." 102 Allerdings kann es sich dabei um zwei grundverschiedene Erklärungsarten, nämlich um die deduktiv-statistische (d-s) und um die induktiv-statistische (i-s) Erklärung, handeln. 103
Zuckers stets zusammen mit dem Merkmal der Löslichkeit in Wasser auftreten. Aber als Sukzessionsgesetz interpretiert, behauptet der Satz, daß jedesmal, wenn Zucker in Wasser gegeben wird, der Zucker sich auflöst. Vgl. für dieses Beispiel ebd., S. 164 f. 100 Nach Stegmüller muß der Begriff des Kausalgesetzes im Sinne eines Sukzessionsgesetzes als deterministisches, quantitatives Nahwirkungsgesetzeverstanden werden. Siehe Stegmüller, W. (1970), S. 167. Mit dem Merkmal des Nahwirkungsgesetzes wird im Grunde der Feststellung Poppers gefolgt, daß es - auch in den Naturwissenschaften - keine Sukzessionsgesetze gibt, weil keine Folge von mehreren kausal verknüpften Ereignissen nach einem bestimmten Naturgesetz abläuft. 101 Genau genommen unterscheidet sich die Erklärung einer Regelmäßigkeit, eines Gesetzes durch allgemeinere Gesetze von der Erklärung eines Einzelereignisses dadurch, daß für die Ableitung keine bestimmten besonderen Randbedingungen notwendig sein dürfen. Denn alle Bedingungen unter denen es gilt, muß das universale Gesetz explizit enthalten. Die Ableitung erfolgt deshalb direkt aus einem System von allgemeineren, unabhängig geprüften und bewährten Gesetzen. Siehe dazu Popper, K. R. (1965), S. 98. 102 Hempel, C. G. (1977) S. 59. 103 Siehe dazu ebd. S. 59 ff.
110
B. Methodologische Grundlagen
a) Die deduktiv-statistische Erklärung
Im Unterschied zu d-n Erklärungen gehen d-s Erklärungen von einem statistischen Gesetz aus. Ein statistisches Gesetz behauptet, daß in einer Ereignisfolge ein bestimmtes Ereignis mit einer bestimmten relativen Häufigkeit eintritt. Statistische Gesetze beziehen sich nicht auf Merkmale von Einzelereignissen, sondern auf die Merkmale einer Ereignisfolge. 104 Die Gesetzmäßigkeit von Wahrscheinlichkeitsaussagen (statistischen Gesetzen) liegt darin, daß die mit ihr aufgestellte Behauptung, z. B. in einer Folge von Ereignissen tritt das Ereignis X mit einer Häufigkeit von Y auf, reproduzierbar ist. Im Fall einer d-s Erklärung wird eine beobachtete statistische Wahrscheinlichkeit erklärt, indem aus dem Explanans, welches mindestens eine statistische Gesetzmäßigkeit als unverzichtbare Prämisse enthält und mittels der mathematischen Theorie der statistischen Wahrscheinlichkeiten eine statistische Häufigkeit abgeleitet wird. M. a. W.: es wird aus Hypothesen, die statistische Wahrscheinlichkeilen benützen, eine andere Wahrscheinlichkeit (auf die im Explanandum Bezug genommen wird) berechnet. 105 Aus einer d-s Erklärung lassen sich aber keine Basissätze ableiten, die die Merkmale von Einzelereignissen beschreiben, sondern nur Basissätze, die die Eigenschaft von Ereignisreihen beschreiben." Mit einer d-s Erklärung wird also immer eine Gesetzmäßigkeit statistischer Form erklärt."106 Deswegen sind Prognosen über Einzelereignisse mit Hilfe von statistischen Gesetzen nicht möglich. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit in der statistischen Erklärung (die relative Häufigkeit) ist die Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. b) Die induktiv-statistische Erklärung
Die induktiv-statistische Erklärung ist von ganz anderer Art. Sie entspricht eigentlich dem, was man umgangssprachlich unter einer "probabilistischen" Erklärung versteht. Auch sie benutzt mindestens ein statistisches Gesetz. Mit Hilfe einer i-s Erklärung, einer sog. probabilistischen Erklärung, glaubt man aber, ein besonderes Einzelereignis so zu erklären, daß sein "Vorkommen im Hinblick auf gewisse Einzelereignisse und gewisse statistische Gesetze mit hoher logischer oder induktiver Wahrscheinlichkeit zu erwarten war." 107 Die das Explanans mit dem Explanandum verbindende Vgl. Popper, K. R. (1979), S. 141. So beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Wappen beim Münzwurf auftreten wird, auch nach mehrmaligen Versuchen wie beim ersten Wurf 1:2, was sich aus zwei Hypothesen, die statistische Wahrscheinlichkeilen besitzen, ableiten läßt. Siehe dazu Hempel, C. G. (1977), S. 59 f. 106 Hempel, C. G. (1977), S. 60. 104 105
li. Die wissenschaftliche Erklärung und ihre Elemente
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Wahrscheinlichkeit wird, in Carnaps Terminologie, als logische oder induktive Wahrscheinlichkeit bezeichnet. Sie ist von der oben genannten statistischen Wahrscheinlichkeit deutlich zu unterscheiden. Die induktive Wahrscheinlichkeit ist als der Grad der Glaubwürdigkeit, den das Explanans dem Explanandum erteilt, oder als die induktive Stützung des Explanandums durch das Explanans zu verstehen. 108 Popper nennt übrigens die Wahrscheinlichkeit der ersten Art "Ereigniswahrscheinlichkeit", die der zweiten Art "Hypothesenwahrscheinlichkeit". 109 Zwar sind Erklärungen dieses Typs auch nomologisch, weil sie auf allgemeine Gesetze oder theoretische Prinzipien Bezug nehmen, aber das Explanans impliziert den Explanandum-Satz nicht deduktiv, sondern induktiv. Deswegen wird diese Form der Erklärung auch als induktiv-statistische (i-s) Erklärung bezeichnet. Weil das Explanans das Explanandum aber nur induktiv enthält, das Explanans dem Explanandum also keine (deduktive) Notwendigkeit verleiht, können induktiv-statistische Erklärungen den Anforderungen einer wissenschaftlichen Erklärung nicht gerecht werden. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen den beiden Erklärungsarten wird vielfach nicht erkannt. Desgleichen besteht über die Begriffe "Ereigniswahrscheinlichkeit" und "Hypothesenwahrscheinlichkeit" (wie immer man diese Begriffe auch nennt) häufig Unklarheit. 110 Grundsätzlich streben alle Wissenschaften danach, Phänomene mittels Erklärungen nomologischen Charakters zu erklären. Auch in den historischen Wissenschaften wird die Wichtigkeit von Gesetzen als allgemeines Verknüpfungsprinzip ausdrücklich anerkannt. 111 Aber gerade in den historischen Wissenschaften lassen sich Arten der Erklärung finden, die durch die oben dargestellten Modelle nicht angemessen charakterisiert werden können. 5. Genetische Erklärungen Viele historische Erklärungen besitzen nomologischen Charakter weil man sich dabei ausdrücklich auf relevante Verallgemeinerungen beruft. Im Unterschied zu den allgemeinen Gesetzen der Naturwissenschaften sind diese Verallgemeinerungen aber häufig keine spezifisch-allgemeinen Sätze, Hempel, C. G. (1970), S. 220. Vgl. Hempel, C. G. (1970), S. 219 f. "Wenn gewisse angegebene Bedingungen realisiert sind, wird ein Vorkommnis der und der Art mit der und der statistischen Wahrscheinlichkeit auftreten." 109 Popper, K. R. (1979), S. 142. 110 So z.B. bei Rook, M./D. Frey/M. Irle (1993), S. 30. Siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel F.V.2.a) aufS. 261 ff. dieser Arbeit. 111 Vgl. Hempel, C. G. (1970), S. 229. 107 108
112
B. Methodologische Grundlagen
die für jeden beliebigen Ort und jeden beliebigen Zeitpunkt gelten, sondern sie stellen nur Tendenzen oder Trends dar. Häufig werden die Tendenzen bzw. Trends durch grobe Wahrscheinlichkeitssätze formuliert, so daß die Erklärung probabilistischer Natur ist. 112 Genetische Erklärungen finden sowohl in den Geschichtswissenschaften als auch in den Naturwissenschaften Anwendung. Eine genetische Erklärung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ein oder mehrere allgemeine Prinzipien enthält, welche frühere Stadien mit späteren verknüpfen, so daß bei Vorliegen des früheren Stadiums das Auftreten des späteren zumindest wahrscheinlich ist. Ihr allgemeines Verknüpfungsprinzip verleiht genetischen Erklärungen einen nomologischen Charakter und entsprechend ihrem Verknüpfungsprinzip können sie kausal, d. h. streng deterministisch (z. B. Naturgesetze, die die Zeit enthalten) oder probabilistisch sein. So können physikalische Phänomene als genetische Folge interpretiert werden: im freien Fall eines Steins sind z. B. die verschiedenen Stadien - durch Ort und Geschwindigkeit des Steines zu verschiedenen Zeitpunkten bestimmt durch ein strenges allgemeines Gesetz (das Fallgesetz) verknüpft. Jeder Zustand des Steines kann als von dem vorangegangenen hervorgerufen interpretiert werden. In den historischen Wissenschaften sind genetische Erklärungen selten von dieser rein deduktiv-nomologischen Art. Der Unterschied besteht darin, daß nur ein Teilaspekt eines Zustands oder eines Zwischenstadiums als Resultat eines früheren Stadiums auf Grund von Gesetzen dargestellt wird. Andere Aspekte des späteren Stadiums werden dann deskriptiv hinzugefügt.113 Dabei besteht die Gefahr, daß man sich bei der Erklärung eines historischen Ereignisses auf die Beschreibung der Genesis, d. h. auf die Beschreibung der Abfolge der vorangegangenen Ereignisse beschränkt. Erklärungen dieser Art sind also eine Kombination aus nomologischer Erklärung und reiner Beschreibung. Sie mögen vielleicht helfen, das historische Verständnis zu vertiefen, aber sie sind weit davon entfernt, den Anforderungen einer wissenschaftlichen Erklärung zu genügen.
112 Vgl. zur fundamentalen Kritik an historischen Erklärungen insbes. Popper, K. R. ( 1965). Ein Satz, der die Existenz eines Trends zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort aussagt, ist ein singulärer, historischer Satz, aber kein AllSatz sondern ein ,,Es-gibt-Satz", (im Sinne eines Satzes, der etwas über ein singuläres Ereignis aussagt, also eines Basissatzes, nicht eines metaphysischen "Es-gibt"Satzes). Das Andauern von Trends hängt vom Andauern spezieller Randbedingungen ab. 113 Vgl. Hempel, C. G. (1970), S. 228.
III. Prüfung wissenschaftlicher Theorien
113
111. Probleme der Prüfung und Bewährung wissenschaftlicher Theorien Bei der Darstellung der kritischen Methode ist davon ausgegangen worden, daß die Kritik an Theorien zu einem eindeutigen Ergebnis führen würde. Tatsächlich gestaltet sich die Entscheidungsfindung, wann eine Theorie (oder gar ein Forschungsprograrnm) soweit degeneriert ist, bzw. wann eine neue Theorie den entscheidenden Vorteil errungen hat, so daß die alte Theorie zu eliminieren ist, mitunter als äußerst schwierig. Für das Verständnis dieser Problematik ist die Unterscheidung zwischen prinzipieller Falsifizierbarkeit und realer Falsifikation von Theorien von Bedeutung: "Die Falsifizierbarkeit führen wir lediglich als Kriterium des empirischen Charakters von Satzsystemen ein; wann ein System als falsifiziert anzusehen ist, muß durch eigene Regeln bestimmt werden. " 114 Diese methodologische Regel lautet, daß eine Theorie als falsifiziert gilt, "[... ] wenn wir Basissätze anerkannt haben, die ihr widersprechen 115" . Und weiter: "Die Basissätze werden durch Beschluß, durch Konvention anerkannt, sie sind Festsetzungen 116." Offenbar scheint in der Beschlußfassung das eigentliche Problem der Prüfung und Bewährung einer Theorie zu liegen. Ich möchte die verschiedenen Teilprobleme deswegen unter den Begriff des ,,Anerkennungsproblems" zusammenfassen. Die wichtigsten Teilprobleme sind folgende: 1. Die Herstellung geeigneter Prüfsituationen ist erschwert, bzw. unmög-
lich;
2. Die Beobachtung war falsch, d. h. es liegt gar keine Falsifikation der Theorie vor; 3. Die Anwendungsbedingungen waren nicht gegeben, was bedeutet, daß die Theorie sowieso keine mit den Tatsachen übereinstimmende Prognose liefern konnte; 4. Die Falsifikation kann unterschiedlich interpretiert werden, weil sie auf verschiedene Fehler in der Erklärung, in der Theorie selbst, zurückgeführt werden kann: a) Es lagen Anfangs- und Randbedingungen vor, die von der Theorie bisher falschlieherweise noch nicht erfaßt worden sind und/oder b) Das verwendete Gesetz ist falsch.
114 115 116
Popper, K. R. (1934), S. 54. Popper, K. R. (1934), S. 54. Ebd., S. 71.
8 Schaffer
114
B. Methodologische Grundlagen
Diese Punkte lassen sich auf drei Problembereiche der empirischen Prüfung aufteilen 117 : Punkt 1 auf praktische Probleme (Kapitel B.l); Punkte 2, 3 und 4 auf Zurechnungsprobleme auf der Theorieebene (Kapitel B.2) und Punkt 3 auf Festsetzungsprobleme auf der methodologischen Ebene (Kapitel B.3). 1. Praktische Probleme
Als ernsthaft - und Ernsthaftigkeit ist ein von der Wissenschaft vertretener Anspruch - kann eine Prüfung nur bezeichnet werden, wenn versucht wird, die riskantesten, d. h. die unwahrscheinlichsten Voraussagen zu widerlegen, "das heißt, daß wir immer an den wahrscheinlichsten Stellen nach den wahrscheinlichsten Arten von Gegenbeispielen suchen [.. .]."u 8 Auf der Suche nach solchen Gegenbeispielen benötigen wir Hintergrundwissen, mit welchem wir uns die Gegenbeispiele ausdenken. 119 Dieses Hintergrundwissen kann von Prüfer zu Prüfer unterschiedlich verteilt sein. Die Überprüfung einer Theorie hängt also von subjektiven Momenten ab, nämlich der Fähigkeit, nach widersprechenden Tatsachen zu suchen und der Fähigkeit, für die betreffende Theorie riskante Überprüfungen zu erfinden. 120 Neben diesen subjektiven Faktoren kann die Überprüfung unter der Schwierigkeit leiden, überhaupt experimentelle Versuchsbedingungen herzustellen, die eine Feststellung bzw. Messung der prognostizierten Phänomene empirisch ermöglichen (Meßproblem)- ein Einwand der gerade im Bereich der Sozialwissenschaften immer wieder gebracht wird. 121 Grund sei die weitgehend unkontrollierbare Variabilität der Situation, die im Gegensatz zu den Naturwissenschaften verhindert, in Laborversuchen Beobachtungen, die in Widerspruch zu der Prognose einer Theorie stehen, experimentell zu wiederholen. Sofern es nicht gelingt, das falsifizierende Experiment zu wiederholen, bliebe diese Beobachtung dem Vorwurf ausgesetzt, nur eine subjektive Überzeugung des Experimentators zu sein. Eine falsche Prognose ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Falsifikation 117 Wie auf Seite 101 festgehalten, geht der empirischen Überprüfung die Überprüfung auf innere (logische) Widerspruchsfreiheit voraus. Denn nur logisch gültige Theorien besitzen Erklärungskraft und können überhaupt durch die Methode der Falsifikation kritisiert werden. Im Vergleich zur empirischen Prüfung ist die logische problemlos, weswegen sie nicht weiter berücksichtigt wird. ns Vgl. Popper, K. R. (1994a), S. 350. 119 Vgl. Albert, H. (1973), S. 135. Siehe dazu bei Popper, K. R. (l994a), s. 347 ff. 12o Vgl. Popper, K. R. ( 1934), S. 354. 121 So z. B. von Solow, R. M. (1985), S. 328 ff. Dieser Einwand ist aber bereits von Popper ausführlich zurückgewiesen worden. Siehe dazu Popper, K. R. ( 1965), S. 74 ff.
III. Prüfung wissenschaftlicher Theorien
115
eines Gesetzes, denn nicht reproduzierbare Beobachtungen sind für die Wissenschaft bedeutungslos. 122 Die Schwierigkeiten bei der Herstellung von Experimenten, die zu reproduzierbaren Widerlegungen führen könnten, sind immer wieder als Argument verwendet worden, um für die theoretischen Sozialwissenschaften einen methodologischen Sonderstatus einzufordern, weil man darin ein für die Sozialwissenschafteninhärentes grundsätzliches, ontologisches Problem sah. 123 Insbesondere Popper, Albert und auch Fleischmann haben diese Einwände eindrucksvoll zurückgewiesen. 124 Zwar bestätigen sie, daß die theoretischen Sozialwissenschaften mit besonderen Problemen bei der praktischen Durchführung von Experimenten zu kämpfen haben. Sie betonen aber darüber hinaus, daß auch in der Naturwissenschaft die experimentelle Prüfung unter Umständen unmöglich sei: "Einsteins Gravitationstheorie erfüllt zweifellos das Kriterium der Falsifizierbarkeit. Obwohl die damaligen Meßinstrumente uns nicht gestatteten, die Ergebnisse der Prüfungen als völlig befriedigend anzusehen, bestand jedenfalls die Möglichkeit, die Theorie zu widerlegen.'.I 25 Es kommt also nicht darauf an, daß die relevanten Beobachtungen, die man mit Hilfe einer Theorie prognostiziert, wirklich schon gemacht wurden, d. h. ob eine Theorie bereits empirisch überprüft wurde, sondern ob sie überhaupt prüfbar ist. 126 Deswegen sind nach Popper auch Gedankenexperimente als kritisches Argument sehr nützlich: "In der Praxis ist der Sozialwissenschaftler nur zu oft gezwungen, sich auf Gedankenexperimente und eine Analyse politischer Maßnahmen zu verlassen, die unter Bedingungen und auf eine Art getroffen werden, welche wissenschaftlich viel zu wünschen übriglassen." 127 Ein methodologischer Sonderstatus folgt daraus für die theoretische Sozialwissenschaft noch lange nicht. Siehe Kapitel B.III.2, S. 122 dieser Arbeit. Soweit Laborexperimente nicht möglich seien, wäre auch die Isolation der für den Widerspruch relevanten Variablen nicht möglich. Aus der Widerlegung einer Theorie könne dann natürlich nicht gelernt werden, womit das Erstellen neuer Theorien nicht mehr möglich sei. Diese neue Theorie kann nach Popper als "falsifizierende Hypothese" bezeichnet werden. Siehe dazu Popper, K. R. (1934), S. 54. Zu ihrem methodologischen Status siehe Kapitel 8.111.3, S. 122 dieser Arbeit. 124 Vgl. Popper, K. R. (1965), S. 74 ff., Albert, H. (1967b), S. 296 ff. , Fleischmann, G. (1966). 125 Popper, K. R. (1994a), S. 52. Und: "Es gibt viele Orte, an denen physikalische Bedingungen herrschen, die dem Physiker wenig Chancen geben, sich durch Versuch und Irrtum anzupassen." Popper, K. R. (1965), S. 76. Ebenso bei Albert, H. (1967b), S. 296. Wie führte man im Altertum ein Experiment zur Überprüfung der Theorie durch, daß die Erde rund sei? l26 Vgl. Popper, K. R. (1994b), S. 42 f. und ders. (1994a), S. 314 f. Und: "Wir dürfen aber nicht vergessen, daß viele Möglichkeiten, die dem Physiker heute offenstehen vor kurzer Zeit noch nicht bestanden." Ders. (1965), S. 76 f. Eine Theorie kann dann aber "potentiell" überlegen sein. Siehe ders. (1994b), S. 43. 122
123
s•
116
B. Methodologische Grundlagen
2. Zurechnungsprobleme
Zurechnungsprobleme entstehen in zweierlei Hinsicht: zum einen im Vorfeld bei der Analyse der Theorieinhalte (ldentifikationsproblem) und der Prüfsituation und zum anderen beim Versuch, die Falsifikation einer Theorie den Fehlern im geprüften Aussagensystem - entweder den Anwendungsbedingungen oder der nomologischen Aussage - zuzurechnen (Isolierungsproblem). Nicht selten herrscht Unstimmigkeit darüber, was überhaupt zu einer Theorie gezählt werden kann (ldentifikationsproblem) 128 und wie die Aussagen einer Theorie adäquat interpretiert werden sollen. Weil die Formulierungen der Theorien in den Sozialwissenschaften sehr oft verschiedene Deutungen zulassen, liegt hier ein für dieses Paradigma inhärentes Problem. 129 Angesichts der Interpretationsprobleme kann man schnell Gefahr laufen, das falsche Stück der Theorie zu kritisieren. Auch die Feststellung, ob die Anwendungsbedingungen der Theorie gegeben waren oder nicht (Punkt 3), kann zu Problemen führen, weil dafür eine adäquate Interpretation der Prüfsituation Voraussetzung ist. Ohne Kenntnis von theoretischen Aussagen anderer Disziplinen, z. B. Theorien über Meßmethoden, kann dies kaum geleistet werden. Diese Kenntnisse - das sog. Hintergrundwissen sind aber nicht gleichmäßig verteilt. Kritiker und Anhänger einer Theorie können deshalb Theorieinhalte, die Prüfungssituation und das Vorliegen der Anwendungsbedingungen ganz unterschiedlich interpretieren. Selbst wenn Einigkeit über das Vorliegen des scheinbar falsifizierenden Phänomens und über die Deutung der Prüfsituation herrscht, sind die Zurechnungsschwierigkeiten noch nicht restlos beseitigt. Es stellt sich die Frage, ob das Phänomen wirklich Fehler in der Theorie aufdeckt oder nicht, also ob es de facto einen falsifizierenden Fall darstellt. Dafür müssen jene Gründe isoliert werden, die zur Falschheit der geprüften Theorie führen. Ich nenne dieses Problem das lsolierungsproblem. Hierbei sind die zwei unter 4 a) und 4 b) auf Seite 113 genannten Fälle zu unterscheiden:
127 Popper, K. R. (1965), S. 77. Albert weist darauf hin, daß Gedankenexperimente "keineswegs als methodische Substitute" zu Real-Experimenten betrachtet werden dürfen. Gedankenexperimente als Ersatz sind nichts anderes als Immunisierungsbestrebungen. Siehe Albert, H. (1964), S. 60 und ebenso Popper, K. R. (1934), Appendix *XI. Zu Immunisierungsstrategien siehe ausführlich Kapitel B.IV.2, dieser Arbeit. 12s Vgl. Albert, H. (1973), S. 136. 129 Vgl. Albert, H. (1973), S. 135 ff.
117
III. Prüfung wissenschaftlicher Theorien
a) Anfangs- und Randbedingungen
Wenn trotz Vorliegens der Antezedenz-Bedingungen die theoretisch prognostizierten Ereignisse nicht eintreten, könnte etwas Unvorhergesehenes, sog. störende Bedingungen, dazwischengetreten sein, was aber für die Frage nach der Gültigkeit einer Theorie ohne Bedeutung ist. 13 Kontingenz hinsichtlich des Auftretens der Anfangs- und Randbedingungen läßt sich sowohl in der Physik als auch in den Sozialwissenschaften feststellen. Beispielsweise kann bei einem Laborexperiment der Strom ausgefallen sein, so daß das prognostizierte Ereignis nicht eintreten konnte. Oder das Phänomen ist ein nichtreproduzierbares Einzelereignis, welches für die Wissenschaft gleichermaßen bedeutungslos ist. Solche Kontingenzen sind deshalb unproblematisch, weil wir mit unserem .,Hintergrundwissen" sofort, bzw. sehr schnell, feststellen können, worauf die Abweichung zurückzuführen ist. Durch Abstrahierung können derartige strukturelle Besonderheiten ausgeblendet werden. Die Identifizierung solcher irrelevanten Störungen kann natürlich unter Umständen problematisch sein, methodologisch gesehen ist es aber weder nötig (noch möglich), diese einmaligen und zufällig auftretenden Randbedingungen zu berücksichtigen. 131 Angesichts dieser Besonderheiten gilt das .,Immer" eines Allsatzes unter dem Vorbehalt der ceterisparibus-Klausel, womit auf die Bedingung .,unter sonst gleichen Umständen", bzw. auf .,assumptions [... ], which are essential, but generally unstated, presuppositions of theoretical inferences'" 32 hingewiesen wird. Der Geltungsbereich einer Theorie wird dadurch nicht willkürlich eingeschränkt.133
°
Anwendungs- und Randbedingungen sind für eine Erklärung nur dann von Relevanz, wenn sie in einem systematischen Zusammenhang mit den zu erklärenden Tatbeständen stehen, wenn sie also in jedem Fall auftreten und daher als notwendige Bedingungen anzusehen sind. 134 Wissenschaftlich von Interesse sind entsprechenderweise nur solche der Theorie widerspre130 Der Verweis auf das Vorliegen störender Bedingungen, wodurch die scheinbar falsifizierte Hypothese aufrecht erhalten werden kann, wird als .,Exhaustion" bezeichnet. Siehe Gadenne, V. (1979). 131 Bedingungen dieser Art können nach Musgrave als .,Bereichs-Annahmen" verstanden werden. Diese nennen die Bedingungen, unter denen spezifische Faktoren einen systematischen Einfluß besitzen. Siehe dazu Musgrave, A. (1981), s. 380 ff. 132 Hempel, C. G. (1988), S. 5. 133 Aus wissenschaftslogischer Sicht ist nach Gadenne die Berücksichtigung von störenden Bedingungen als ceteris-paribus-Bedingung möglich. Die ad-hoc Aufnahme als zusätzliche Annahme stellt dann streng genommen keinen Verweis auf störende Bedingungen dar, sondern ist eine Änderung des Hintergrundwissens, also der Aussagen des Systems. Deswegen kann man auch nicht von einer Exhaustion sprechen. Vgl. Gadenne, V. (1979), S. 98 ff.
118
B. Methodologische Grundlagen
chende Basissätze, die als Effekte bezeichnet werden können, also keine singulären sondern systematische, reproduzierbare Abweichungen. Eine solche systematische Abweichung wird als "Anomalie" bezeichnet und bildet ein theoretisches Problem: Wenn nämlich die Abweichung systematisch ist, stellt sich die Frage nach ihrer theoretischen Erklärung, das heißt, daß die Kontingenz des Auftretens der singulären Sätze des Explanans problematisiert wird. Ziel ist es nämlich, zusätzlich relevante Anwendungsund Randbedingungen systematisch in der Theorie zu erfassen. Antezedenzien können nicht einfach additiv, d.h. einzeln und unverbunden aufgezählt werden, sondern müssen in ihrer strukturellen Interdependenz formuliert werden. 135 Um dieses neue theoretische Problem zu lösen, muß auf eine Theorie zurückgegriffen werden, die das Vorliegen der falsifizierenden Effekte erklärt - man spricht dann von einer falsifizierenden Hypothese. 136 Die aus dieser Integration entstehende neue Theorie wird die relevanten Einflußfaktoren schon vom Ansatz her systematisch einbinden und deshalb allgemeiner sein als die alte, so daß wieder Deduktionen möglich sind, die den Anforderungen einer befriedigenden Erklärung gerecht werden. Die Relevanz und der Integrationsbedarf hängen dabei von der ursprünglichen Problemstellung des Forschungs- bzw. Erkenntnisprogramms ab. Ein Physiker oder Biologe wird nicht nach den gesellschaftlichen Folgen physikalischer oder biologischer Konstellationen fragen, und ein Apfel kann z. B. als ein physikalisches, ein biologisches oder ein ästhetisches Objekt betrachtet werden. 137 Die Gesetzmäßigkeilen der Physik und Biologie gelten andererseits zwar auch für die Sozialwissenschaft, spielen dort aber oft gar keine Rolle bzw. nur die von unproblematischen Voraussetzungen. 138 In welche Richtung und wie weit die Integration von Erkenntnissen anderer Theorien erfolgen sollte, ist allerdings umstritten. Sen und Hirschman vertreten z. B. die Meinung, die als repräsentativ für eine sehr verbreitete Auffassung in den Wirtschaftswissenschaften gelten kann, daß psychologische und soziologische Bedingungen in ökonomische Theorien systematisch eingebaut werden müßten. Dadurch würde die ökonomische Theorie strukturreicher und komplizierter und wäre viel geeigneter, die spezifische Kample134 Das ist Folge der Forderung nach Systematizität, die in einem deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell durch die Verknüpfung mittels der allgemeinen Gesetze geleistet wird. 135 Vgl. Albert, H. (1973), S. 134 ff. 136 Siehe dazu auch S. 122 dieser Arbeit. 137 Bedingungen dieser Art fallen unter die sog. "Vemachlässigungs-Annahmen". Damit sind solche Faktoren gemeint, die im Hinblick auf die Problemstellung keinen systematischen Unterschied machen. Siehe dazu Musgrave, A. (1981). 138 Wie z. B. der 2. Hauptsatz der Thermodynamik jene physikalische Grenze festlegt, die verhindert, daß für die Herstellung von Waren eine Maschine mit 100% Wirkungsgrad eingesetzt werden kann.
III. Prüfung wissenschaftlicher Theorien
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xität sozialer Zusammenhänge zu erklären. 139 Für Popper entspringt diese Auffassung aber dem irrigen Glauben, "[ ... ] daß die Beschreibung einer sozialen Situation die seelischen und vielleicht sogar die physischen Zustände aller Beteiligten zu berücksichtigen hat (oder vielleicht sogar, daß sie auf diese reduzierbar sein soll)." 140 Ebenso stellt Zintl in Anlehnung an die Forderung Poppers nach systematischer Bezogenheil von Variablen auf die Problemstellung fest: "Der Verweis darauf, daß diese oder jene Verhaltensregelmäßigkeit in einer Mikrofundierung nicht berücksichtigt wurde, ist solange unerheblich, als er nicht verknüpft ist mit einer Erläuterung, inwiefern die Auslassung für die zur Debatte stehende Makrotheorie folgenreich ist. .. !41 b) Allgemeingültigkeit der Gesetze
Eine Theorie zu falsifizieren muß nicht bedeuten, sie in ihrer Gesamtheit zu falsifizieren: Stimmt eine Prognose mit den Tatsachen nicht überein, kann man behaupten, daß eines der Gesetze falsch ist, sofern "zugleich festgestellt wurde, daß alle Bedingungen, die Voraussetzung für die Anwendung der Gesetze sind, auch tatsächlich erfüllt waren." 142 Aus der Anerkennung einer Falsifikation kann gefolgert werden, daß die Theorie nicht die ursprünglich beanspruchte Allgemeingültigkeit besitzt. Die Gesetze besitzen dann nicht mehr den Charakter von spezifisch-allgemeinen Sätzen, sondern nur noch von numerisch - allgemeinen Sätzen: sie gelten für endliche Klassen von Elementen (aber für alle Elemente dieser Klassen) innerhalb eines individuellen Raum-Zeit-Bereichs ("unechte Allsätze"). Derartige Gesetzmäßigkeiten können nach Albert auch "Quasi-Gesetze" 143 genannt werden. Diese nicht mehr strikt allgemeinen Gesetze findet man (angeblich) gerade in den Sozialwissenschaften, weil sich immer wieder "[.. .] im Laufe der historischen Entwicklung Invarianzen feststellen [lassen], die in ganz bestimmten, wenn auch nicht immer scharf abgegrenzten Raum-Zeit-Gebieten - Epochen und Kulturkreisen - auftreten; man denke zum Beispiel an die Konjunkturzyklen." 144 Die Idee der Quasi-Gesetze entspringt der vermeintlich ontologischen Geschichtlichkeil sozialer und damit auch ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Sie wurde von den Historizisten als Grund angeführt, daß zwischen den Naturwissenschaften - in denen sich ja spezifisch-allgeVgl. Sen, A. K. (1977), Hirschman, A. 0. (1984), S. 89. Popper, K. R. (1965), S. 110. 141 Zintl, R. (1989), S. 58 f. (Hervorhebungen von mir). 142 Fleischmann, G. (1966), S. 52. 143 Albert, H. (1957), S. 67, sowie ders. (1964), S. 40, ders. (1967b), S. 309 ff. und 483 ff., ders. (1973), S. 144 ff. 144 Albert, H. (1973), S. 145. 139
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B. Methodologische Grundlagen
meine Gesetze finden lassen - und Sozialwissenschaften ein ontologischer Unterschied bestünde. Aber auch in den Naturwissenschaften lassen sich die Naturgesetze durch physisch-geographische Besonderheiten in QuasiGesetze verwandeln, die den sozio-kulturellen Relativierungen der Sozialwissenschaften entsprechen. 145 Albert hat darauf hingewiesen, daß sich die Historizität von Gesetzen, wie z. B. jene Gesetze von Marx, deren Gültigkeit nur für eine bestimmte Entwicklungsstufe des sozialen Lebens postuliert worden war, nicht auf die Eigenart des Gesetzes bezieht, sondern nur auf die Anwendungsbedingungen, besser: auf die für das Auftreten der Anwendungsbedingungen relevanten Faktoren. 146 Trotz gleicher sozialer Gesetzmäßigkeiten sind in den geschichtlichen Epochen die sozialen Entwicklungen nicht gleich. Das beruht auf den historisch verschiedenen Rahmenbedingungen (Institutionen). Daraus folgt, daß Geschichtlichkeit nicht Gesetzlosigkeit impliziert und daß man auch in den Sozialwissenschaften nach Strukturen suchen kann und sollte, die den Anforderungen nach echten Allsätzen entsprechen. 147 Quasi-Gesetze lassen sich dann durch Rekurs auf allgemeinere Theorien erklären. 3. Das Festsetzungsproblem Angesichts der Probleme bei der Durchführung von Experimenten, ihrer adäquaten Interpretation und dem Zurechnungsproblem verwundert es kaum, daß die wissenschaftliche Praxis (gerade in den Sozialwissenschaften) von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Kritikern einer Theorie geprägt ist. Im Kern dieser Kontroversen geht es darum, wie man echte Falsifikationen von scheinbaren unterscheiden kann, also um die Frage, wann eigentlich ein Basissatz als Falsifikation einer Theorie aner-
145 Vgl. Popper, K. R. (1965), S. 77 ff., ebenso Albert, H. (1964), S. 41: "Zunächst ist vielmehr zu betonen, daß solche Quasi-Invarianzen auch außerhalb des sozialen Lebens aufzutreten pflegen, also in dem Bereich der Realität, der von den Natutwissenschaften analysiert wird. Nur hat man es dort längst aufgegeben, daran Betrachtungen über die Unmöglichkeit allgemeiner Theorien zu knüpfen." 146 Vgl. Albert, H. (1973), S. 142 und S. 149. Siehe für eine kritische Analyse des ökonomischen Historizismus in der marxschen Prägung Popper, K. R. (1957), s. 96 ff. 147 Diese von Popper und Albert immer wieder betonte Erkenntnis scheint (leider!) auch noch heutzutage einigen Wissenschaftlern entgangen zu sein, so z. B. bei Veltzke, H. H. (1989), S. 235; Rook, M./D. Frey/M. Irle (1993), S. 30 und Schoeffler, S. (1955), S. 154 ff., der wegen der Nichtexistenz ökonomischer Gesetze die Unmöglichkeit einer realwissenschaftlichen Ökonomie postuliert und für eine analytische, entscheidungslogische Wirtschaftstheorie eintritt. Es verbleibt der Eindruck, daß die Rezeption der Poppersehen Wissenschaftsmethodik nur soweit erfolgt, wie es gerade für den eigenen Standpunkt hilfreich erscheint.
III. Prüfung wissenschaftlicher Theorien
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kannt werden kann. 148 Diese Streitfrage möchte ich als das Festsetzungsproblem bezeichnen. Ein empirischer Satz oder ein Beobachtungssatz, der mit einer Prognose einer Theorie im Widerspruch steht, ist zunächst immer nur eine Falsifikationsmöglichkeit oder ein potentieller Falsifikator. 149 Erst wenn die Falsifikationsmöglichkeit wirklich beobachtet, bzw. "[. . .] auf Grund von Beobachtungen als wahr angenommen wird [... ]" 150, können jene Theorien, zu denen der potentielle Falsifikator gehört, als widerlegt, als falsifiziert gelten. Nur muß man sich aber darüber im klaren sein, daß es absolut sichere Beobachtungen, die keine Möglichkeit von Fehlinterpretationen offen lassen, nicht geben kann. 151 Will man die Objektivität der wissenschaftlichen Methode - was die Objektivität der Widerlegung einschließt - nicht gefahrden, darf die Feststellung der Falsifikation nicht von rein subjektiven Beurteilungen abhängig sein. Die Ernsthaftigkeit und die intersubjektive Vergleichbarkeit eines Falsifikationsversuchs wird durch den wissenschaftlichen Diskurs sichergestellt: "Wir brauchen in der Wissenschaft eine Art von Parteibildung für und gegen jede Theorie, die einer ernsthaften Prüfung unterworfen wird; denn wir brauchen eine rationale wissenschaftliche Diskussion.'d52 Eine rationale Diskussion des Für und Wider einer Theorie ist 148 Vgl. dazu Popper selbst, Popper, K. R. (1994b), S. 26 und S. 36. Zu der Unterscheidung Falsifizierbarkeit und Falsifikation siehe Popper, K. R. (1934) Abschn. 3, 4 und Abschn. 22. 149 Vgl. Popper, K. R. (1994b), S. 41. 150 Ebd., S. 42. Popper trifft eine wichtige Differenzierung darin, daß nur über die Wahrheit singulärer Sätze, sog. Basissätze, Wissenschaftler einstimmigen Konsens erzielen können; allgemeine, universelle Sätze, sog. Hypothesen, können dagegen nicht als Festsetzungen "akzeptiert" werden. Vgl. Popper, K. R. (1934), Abschn. 30. Von Lakatos wird das als "hartnäckiger Popperscher Konventionalismus" bezeichnet und kritisiert. Siehe Lakatos, I. (1971), S. 106. Er verbindet seine Kritik mit der Vorstellung, daß auch metaphysische Sätze akzeptiert werden können. 151 Vgl. Popper, K. R. (1994a), S. 59 Fn. 8. 152 Popper, K. R. (1994 b), S. 26 f. Popper bezeichnet diese kritische Auseinandersetzung mit Theorien als "Spiel " und die methodologischen Regeln als Festsetzungen oder auch Spielregeln; vgl. Popper, K. R. (1934), Abschn. 11, erster Satz und Abschn. 85. Siehe zu "Poppers Wissenschaftsspiel" auch Lakatos, I. ( 1971 ), S. 76 ff. Es ist deswegen schlichtweg falsch, wenn Popper ein sog. dogmatischer Falsifikationismus unterstellt wird, der fordert, daß eine Theorie im Falle ihrer Falsifikation sofort fallengelassen werden soll. Für die Feststellung der echten Falsifikation ist nach Popper ja das Festhalten an einer alten Theorie notwendig! Etwas verwunderlich ist es schon, daß in der wissenschaftstheoretischen Diskussion ein modifiziertes Falsifikationskriterium gefordert und (angeblich!) entwickelt worden ist. Siehe dazu Kuhn, T. S. (1970), Lakatos, I. (1970) und Gadenne, V. (1984). Lakatos führte die ,,raffinierte Falsifikationslogik" ein, wonach nicht mehr direkt nach der Falsifikation einer Theorie, sondern nach der größeren Erklärungskraft einer Theorie im Vergleich zu konkurrierenden Theorien gefragt werden sollte. Wie die weiteren Ausführungen meines Kapitels zeigen, ist das alles
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B. Methodologische Grundlagen
aber nur möglich, wenn der Falsifikationsversuch durch eine bewährte empirische Hypothese mit niedrigerer Allgemeinheitsstufe beschrieben werden kann. Dann liegt eine falsifizierende Hypothese vor. Erst dann kann ein Effekt als ein die Theorie widerlegender Basissatz anerkannt werden: "Sowohl die Relevanz als auch der falsifizierende Charakter vieler Tatsachen kann nur mit Hilfe anderer Theorien ausgewiesen werden, die zwar auch für sich mit den Tatsachen im Einklang stehen, die aber der zu prüfenden Auffassung widersprechen. Darum können Tatsachen, die eine Theorie widerlegen, oft erst festgestellt werden, nachdem man Alternativen zu dieser Theorie entwickelt und in wissenschaftliche Form gebracht hat."J53 Wenn sich die falsifizierende Hypothese in einer kritischen Überprüfung selbst bewähren muß, an diese Überprüfung nun wieder die gleichen Anforderungen zu stellen sind und so fort, würde man doch in dem Problem der Erfahrungsgrundlage der empiristischen Erkenntnistheorie, dem sogenannten Trilemma aus Dogmatismus, unendlichem Regreß und psychologischer Basis enden. 154 Tatsächlich aber kann das Verfahren dort aufhören, wo solche Sätze stehenbleiben, deren Überprüfung unproblematisch ist, wo man also vorläufig befriedigt ist. 155 Insofern besitzen Basissätze den Charakter von Dogmen, weil sie nicht weiter begründet werden, was jedoch ungefährlich ist, weil sie rein theoretisch noch weiter nachgeprüft werden können. Der unendliche Regreß ist auch deshalb unbedenklich, weil er nicht zur Aufgabe hat, Sätze zu beweisen oder zu unterstützen. Sicherlich hängt die Anerkennung eines Basissatzes mit Erlebnissen, z. B. mit Wahrandere als eine neue methodologische Regel. Sie entspricht voll und ganz der Forderung Poppers nach Theorien mit größerer Tiefe. Daneben unterschied Lakatos zwischen einem ,,harten Kern" bzw. einem "beschützenden Gürtel" einer Theorie und einer Widerlegungsversuche antizipierenden positiven Heuristik. Nur der beschützende Gürtel wäre im Prüfungsprozeß der Falsifikation und Modifikation ausgesetzt. Zu einer Kritik der Methodologie Lakatos' und ihrer Bedeutung für die ökonomische Theorie siehe Pheby, J. (1988), S. 54 ff. 153 Feyerabend, P. K. (1970b), S. 317. Diese Sichtweise stimmt mit Poppers oberstem Prinzip des wissenschaftlichen Fortschritts, der Suche nach Widerlegungen, überein, weil die Suche ohne theoretische Vorüberlegungen, wo und wie man eine Theorie falsifizieren könnte, unmöglich ist. Alternativen besitzen insofern eine katalytische Rolle beim Ausdenken ernsthafter Überprüfungen bestehender Theorien; sie sind insgesamt notwendiger Bestandteil im Prozeß der Falsifikation. Vgl. Lakatos, I. (1970), S. 121, Anm. 4. Man sollte dies m.E. aber nicht in der Weise verstehen, daß die Erstellung einer Theoriealternative der experimentellen Überprüfung zeitlich zwingend vorangeht. In der wissenschaftlichen Praxis treten oft genug überraschende Phänomene bei Experimenten auf, die dann erst nachträglich durch erklärende Theorien gestützt werden. Die Falsifikation einer Theorie bleibt oberster Maßstab, nicht die bloße Existenz alternativer Theorien. 154 Vgl. dazu Popper, K. R. (1934), S. 60. 155 Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 70. Vorläufig und eben nicht endgültig!
III. Prüfung wissenschaftlicher Theorien
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nehmungserlebnissen zusammen, womit die psychologische Basis der Entscheidung angesprochen ist. Dadurch soll der Beschluß aber nicht begründet werden, sondern nur auf die Motivation für die Festsetzung hingewiesen werden. 156 Hierin unterscheidet sich eine befriedigende Erklärung von einer essentialistischen (Letzt)-Begründung. Das "Münchhausen-Trilemma" war für die Essentialisten nur durch willkürlichen Abbruch und Dogmatisierung lösbar, wodurch man das Feld der Begründung verließ und im Bereich der autoritären Festsetzung landete. Im kritischen Realismus ist die Anerkennung von Basissätzen dagegen ungefährlich, weil diese nicht willkürlich durch eine quasi übergeordnete Instanz (z. B. der Selbstevidenz) institutionalisiert wird, sondern in einem wissenschaftlichen Diskurs erfolgt. Und hier lautet das Kriterium, daß nur bei Einstimmigkeit der Basissatz als wahr angenommen werden kann und die Theorie als falsifiziert gilt. Es gilt nämlich die Regel, daß ein Beschluß über die Wahrheit eines Basissatzes nicht gefaßt werden darf, wenn der Beschluß nicht einstimmig erfolgt. Die negative Form dieser Regel ist wichtig, weil sich daraus kein unendlicher Regreß ergibt. Sie besagt nur, daß bei Nicht-Einstimmigkeit erhebliche Zweifel an der Wahrheit (oder Falschheit) eines Satzes bestehen, aber nicht, daß ein einstimmig gefaßter Beschluß wahr ist. 157 Sollten die Meinungen nicht völlig konform sein, so kann man also nicht von einer echten Falsifikation sprechen. 158 Schließlich unterscheidet sich die kritische Methode vom Essentialismus darin, daß die Anerkennung der Falsifikation nichts Endgültiges ist. Sie ist immer einer weiteren kritischen Auseinandersetzung zugänglich. Die kritische Auseinandersetzung ist also geprägt von einem dogmatischen Festhalten an einer alten Theorie, einer kritischen Modifikation und einem Aufstellen neuer Theorien, die im Widerspruch zu der alten stehen. 159 Deswegen gibt es Diskussionen, die über viele Jahre unentschieden sind. "Unser Problem besteht darin, zwei (oder auch mehrere) miteinander im Wettbewerb stehende Theorien zu überprüfen oder kritisch zu durchdenken. Wir tun das, indem wir einmal die eine und dann wieder die 156 Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 71. Diese Sichtweise der Beschlußfassung von Basissätzen als Widerlegung von Theorien löst auch das sog. Friessehe Trilemma aus Dogmatismus, unendlichem Regreß und Psychologismus, welches für das Problem der Erfahrungsgrundlage der empiristischen Erkenntnistheorie steht. Vgl. dazu Popper, K. R. (1934), Kapitel V. 157 V gl. Popper, K. R. (1979), S. 131. 158 In dieser Regel und in der prinzipiellen Möglichkeit, die Prüfung weiterzuführen, unterscheidet sich die Kritische Theorie auch von der konstruktivistischen Wissenschaftstheorie. Siehe hierzu Kirchgässner, G. (1982). 159 Dogmatisches Verhalten ist mit der Neigung verbunden, Gesetze zu verifizieren, um so an ihnen festhalten zu können, wohingegen sich kritisches Verhalten durch den Versuch auszeichnet, Gesetze zu modifizieren, zu prüfen, zu widerlegen.
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B. Methodologische Grundlagen
andere zu widerlegen versuchen, bis wir zu einer Entscheidung kommen." 160 Die Rivalität von Theorien ist deswegen auch keine vermeintliche Schwäche des Forschungsprogramms, sondern methodologisch gewünscht und notwendig, weil sie die Objektivität wissenschaftlicher Kritik gewährleistet. Rationale wissenschaftliche Diskussion und Falsifikation durch experimentelle Überprüfung bedingen sich gegenseitig: zum einen kann so zwischen echten und scheinbaren Falsifikationen unterschieden und zum anderen zwischen rivalisierenden Theorien entschieden werden. 161 Außerdem kann das in Kapitel B.2 dargestellte Zurechnungsproblem gelöst werden. Durch falsifizierende Tatsachen wird ja zunächst das ganze System unserer Annahmen, d. h. die gesamte Theorie, in Zweifel gezogen, so daß wir nie wissen können, welche von den Annahmen widerlegt worden ist. Wenn wir nun aber zwei Theorien vergleichend überprüfen, so beurteilen wir die Theorien zusammen mit dem ganzen Hintergrund wissen, d. h. im Systemzusammenhang aller Annahmen und können zugleich feststellen, worin sich die Theorien unterscheiden. Mit der Falsifikation der einen Theorie und der Bestätigung der anderen - der Bewährungder falsifizierenden Hypothese - widerlegen wir eben nur jenen Teil des Systems, der sich unterscheidet. Je weiter wir in unseren Widerlegungsversuchen voranschreiten, desto mehr können wir die widerlegten Annahmen spezifizieren. 162
IV. Wissenschaftlicher Fortschritt und die Gefahr der Immunisierung 1. Das Problem der Entscheidung
zwischen alternativen Theorien
Wann wird nun eine Theorie durch eine neue ersetzt? Zunächst sollte die neue Theorie alle in Frage stehenden Phänomene und Probleme wenigstens gleich gut lösen wie die alte. Es reicht aber nicht aus, daß die neue Theorie nur das die alte Theorie falsifizierende Phänomen erklärt. Ein wirklicher Fortschritt liegt erst dann vor, wenn die neue Theorie auch neue prüfbare Konsequenzen hat und damit in ihren Folgerungen wesentlich über die alte Theorie hinaus geht, ihr empirischer Gehalt also größer ist. 163 Die neue Theorie geht dabei von neuen Annahmen aus und steht in einem direkten Popper, K. R. (1994a), S. 287. Nach Fleischmann ist dies die wichtige methodologische Funktion von Falsifikationsversuchen. Siehe Fleischmann, G. (1966), S. 57. 162 Vgl. Popper, K. R. (1994a), S. 163 f. 163 Vgl. Popper, K. R. (1934), S. 83 f., ders. (1973), S. 225 f. 160 161
IV. Gefahr der Immunisierung
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Widerspruch zur alten, wodurch es möglich ist, sich Experimente auszudenken, die die Falsifikation wenigstens einer der beiden Theorien erlaubt. 164 Dadurch wird der Grad ihrer Prüfbarkeit verbessert, was bedeutet, daß sie einen höheren Grad von Universalität und vielleicht einen höheren Grad an Genauigkeit besitzt. Die neue Theorie verfügt nach Popper dann über eine größere Tiefe. 165 Die alte Theorie wird nicht aus der neuen deduktiv abgeleitet, sondern von der neuen erklärt, indem sie sie korrigiert. Häufig enthält die neue Theorie die alte, was ein hinreichendes Kriterium für die Tiefe der neuen Theorie ist. 166 Wird dieses Kriterium als Bedingung bzw. Forderung umformuliert, spricht man vom Korrespondenzprinzip. 167 Daß die Erfüllung dieser Forderung keine notwendige Bedingung für Tiefe ist, zeigt sich aber an der berühmten These des "Kuhnschen Verlusts", wonach es beim Theorieübergang zu einem Verlust bisher ungelöster Probleme also Fragen, die für die alte Theorie noch von Interesse waren - kommt. Kuhn behauptet, daß "[... ] new paradigms seldom or never possess all the capabilities of their predecessors [... ]. In the process (of scientific revolution) the community will sustain losses.'" 68 Feyerabend vertritt die gleiche Ansicht: "[... ] new theories [.. .] were not always rich enough to deal with all the problems to which the predecessors had given a definite and precise answer." 169 Die Gegenstandslosigkeit alter, auch bis dato ungelöster Fragestellungen muß aber nicht, wie von Kuhn behauptet, zwangsläufig als ein Verlust angesehen werden. Es ist vielmehr ein Symptom des wissenschaftlichen Fortschritts, wenn die alten Probleme im Lichte der neuen Theorie nichts anderes als Scheinprobleme sind, weil sie auf den falschen Voraussetzungen der alten Theorie beruhten. Ihre Beseitigung kann als eine Art Antwort auf sie betrachtet werden. 170 Problematisch wird es zweifellos bei 164 Akzeptiert man die falsifizierende Hypothese, die in Kontradiktion zur überprüften Hypothese steht, folgt allerdings zwingend nach dem modus tollens der klassischen Logik die Falschheit der überprüften Hypothese. 165 Vgl. Popper, K. R. (1973), S. 220 ff. 166 So Popper, K. R. (1973), S. 226. 167 Vgl. Popper, K. R. (1973), S. 210 und S. 226. Musgrave unterscheidet zwischen der tatsächlichen Korrespondenz, d.h., daß die neue Theorie alle Erfolge der alten und darüber hinaus weitere erbringt und der theoretischen Korrespondenz, nach der die alte Theorie als eine Approximation, als ein Spezialfall der neuen, angesehen werden kann; vgl. Musgrave, A. (1979), S. 24. Musgrave stellt aber zugleich heraus, daß die theoretische Korrespondenz im Widerspruch zu vielen Beispielen des Theoriewandels steht: Mit der Falsifikation der alten Theorie werden die Grundannahmen der alten nach dem modus tollens als prinzipiell falsch verworfen; vgl. Musgrave, A. (1979), S. 25. Deswegen ist für Popper die Erfüllung des theoretischen Korrespondenzprinzips im Gegensatz zur tatsächlichen Korrespondenz zwar hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für den wissenschaftlichen Fortschritt; vgl. Popper, K. R. (1973), S. 226. 168 Kuhn, T. S. (1970), S. 12. 169 Feyerabend, P. K. (1970a), S. 219.
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B. Methodologische Grundlagen
solchen Vergleichen, in denen Theorien Phänomene einerseits besser, andererseits aber auch schlechter erklären können als andere. Dann ist keine Theorie durchgängig besser als die andere. Für solche Fälle eines echten "Kuhnschen Verlusts" scheint es kein Kriterium dafür zu geben, welcher der rivalisierenden Theorien der Vorzug zu geben ist, außer daß es besser sei, überhaupt keine Erklärung zu haben, als eine falsche (womit man den Verlust von Fragestellungen "gezwungenermaßen" akzeptieren würde).171 Die vergleichende Beurteilung erlaubt dort nur die Feststellung der Superiorität der überlebenden Theorie, nicht aber ihre Wahrheit. 172 Die Feststellung der Superioritiät impliziert aber, daß die überlegene Theorie eine bessere Annäherung an die Wahrheit ist. In der kritischen Diskussion von konkurrierenden Theorien manifestiert sich deshalb die Idee der Annäherung an die Wahrheit. Auf der Suche nach wahren Theorien erfüllen Falsifikationsversuche die wichtige methodologische Funktion der Eliminierung falscher Theorien. Aber Wahrheit ist nicht das alleinige Ziel der Wissenschaft. Die kritische Diskussion wird von zwei weiteren Werten reguliert: zum einen von der Idee des logischen und zum anderen von der des empirischen Gehalts. Eine Theorie sollte demnach von großem logischem Gehalt sein, denn mit Tautologien oder trivialen arithmetischen Sätzen (wie z.B. 12 mal 12 ist 144), die bekanntlich ohne Gehalt sind, können schwierige Probleme kaum gelöst werden. Ist der logische Gehalt einer Theorie groß, dann ist "die Menge oder Klasse aller Sätze, die aus der betreffenden Theorie logisch abgeleitet werden können" 173, d. h. ihre Folgerungsmasse, groß. Auch sollte eine Theorie kühn bzw. riskant sein, d.h., daß eine Theorie viel behaupten sollte, womit das Risiko, daß die Theorie falsch ist, steigt. Damit wächst der empirische Gehalt einer Theorie, weil mehr beobachtbare Vorgänge empirische Sätze - von ihr verboten werden. Eine Theorie, die diesen Prinzipien folgt, besitzt eine größere potentielle Erk1ärungskraft, weil sie mehr Probleme lösen kann. Man wird zwar nie endgültig feststellen, ob sie wahr ist, aber ihr Wahrheitsgehalt, das ist die aus ihr ableitbare Menge der 170 Vgl. dazu Musgrave, A. (1979), S. 25 ff. mit den dort aufgeführten Beispielen aus der Literatur und Popper, K. R. (1973), S. 226 f. mit einem Zitat Einsteins zur Bekräftigung dieser Sichtweise. 171 Vgl. für Beispiele Kuhn, T. S. (1967), S. 156 und Musgrave, A. (1979), S. 28 ff. Für die Darstellung verschiedener "Rettungsversuche", Kriterien zu finden. Siehe ebd., S. 28 ff. mit dem Verweis auf zwei ihm bekannte Versuche von Watkins, J. W. N. (1978a) und Oddie, G. J. (1978). 172 Vgl. Popper, K. R. (1994b), S. 28. Nur in der Mathematik können solche Entscheidungen endgültig sein, weil es dort lediglich um Beweisfehler geht. In den empirischen Wissenschaften ist jede falsifizierende Hypothese wiederum selbst widerlegbar. 173 Popper, K. R. (1994b), S. 40.
IV. Gefahr der Immunisierung
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wahren Sätze, wird groß sein. Sie wird im Vergleich zur alten Theorie der Wahrheit einfach näher kommen. 174 Die empirischen Wissenschaften suchen nach interessanten Theorien mit großer Erklärungskraft, d. h. nach logisch unwahrscheinlicheren Theorien, denn bekanntlich sagen logische Sätze nichts über die Wirklichkeit aus. 175 Galilei behauptete z. B. im Gegensatz zu Aristoteles, daß alle Körper gleich schnell fallen würden. 2. Immunisierungsstrategien Auch wenn die dogmatische Haltung in der wissenschaftlichen Diskussion als ein wichtiger Bestandteil des wissenschaftlichen Diskurses dargestellt wurde, darf darüber nicht vergessen werden, daß von einem solchen Verhalten auch Gefahren für den wissenschaftlichen Fortschritt ausgehen können. Allzu leicht kann nämlich die Verteidigung einer Theorie dazu führen, daß mit ihr weitere Kritik verhindert werden soll. Solche "konventionalistischen Wendungen'" 76 oder "Immunisierungen'" 77 zielen darauf ab, die Theorie unter allen Umständen mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, also ihr Scheitern an Tatsachen zu verhindem. 178 Insbesondere in Verbindung mit der Arbeit (bzw. dem Denken) in Modellen haben sich in der Nationalökonomie verschiedene Immunisierungsstrategien etablieren können, weshalb Albert auch vom ,,Modell-Platonismus'"79 spricht. Für ein besseres Verständnis der Wirkungsweise der Immunisierungsstrategien sollte kurz auf die wichtigen Unterscheidungen zwischen Realitätsbezug, Informationsgehalt und Wahrheit einer Aussage eingegangen werden. 180 Eine Aussage kann sich in deskriptiver oder normativer Form auf die Realität beziehen, sie kann mit den Tatsachen der Wirklichkeit übereinstimmen, also "empirisch" wahr oder nur logisch wahr (analytisch) sein und sie kann viel oder wenig Information über die Wirklichkeit enthalten. Der Informationsgehalt einer Wenn-Dann-Aussage (eines Geset174 Annäherung an die Wahrheit und der Erklärungsgehalt einer Theorie sind zwar logische Begriffe, weil sie sich mit rein logischen Begriffen der Wahrheit und des Gehaltes definieren lassen. Sie sind aber zugleich relative Begriffe: "Obwohl jeder Satz einfach wahr oder falsch ist, so kann doch ein Satz eine bessere Annäherung an die Wahrheit darstellen als ein anderer Satz. Das wird zum Beispiel der Fall sein, wenn der erste Satz >mehr< wahre und >weniger< falsche logische Konsequenzen hat als der zweite." Popper, K. R. (1984), S. 94. 175 Vgl. Popper, K. R. (1994a), S. 335. 176 Popper, K. R. (1934), S. 50. m Albert, H. (1964), S. 49. 178 Vgl. Popper, K. R. (1973), S. 214, ders. (1934), Anhang *IX und Albert, H. (1964), s. 49. 179 Dieser Begriff stammt von Albert, H. (1964), S. 29, ders. (1967 a), S. 338 ff. 180 Vgl. dazu Albert, H. (1967a), S. 333 ff.
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B. Methodologische Grundlagen
zes bzw. einer Theorie) hängt dabei von der Wenn-Komponente folgendermaßen ab (vorausgesetzt der Gehalt der jeweils anderen Komponente bleibt unverändert): der Gehalt des Wenn-Satzes steigt, wenn weitere Bedingungsfaktoren berücksichtigt werden. Dann sinkt aber der Informationsgehalt der gesamten Hypothese (der Gesetzesaussage), weil der Geltungsbereich der Dann-Komponente eingeschränkt wird. Sinkt der Gehalt der Wenn-Komponente, dann nimmt der Gehalt der Hypothese selbst zu, weil die in der Dann-Komponente angesprochenen Zusammenhänge unter weniger einschränkenden Bedingungen gelten. Man spricht dann von der größeren Allgemeinheit der Hypothese. Der Gehalt der Gesetzesaussage steigt auch, wenn der Gehalt der Dann-Komponente zunimmt, weil der in der DannKomponente ausgesagte Zusammenhang genauer charakterisiert wird. Man spricht dann von einer größeren Präzision der Hypothese. 181 Größere Allgemeinheit und größere Präzision bedeuten also größeren Informationsgehalt einer nomologischen Hypothese. Folgende Immunisierungsstrategien lassen sich unterscheiden: 182 1. Tautologisierung der Theorie, indem man Aussagen produziert, die aus logischen Gründen wahr sind. Sie können sich durchaus auf die Realität beziehen, sind aber ohne jeglichen Informationsgehalt Wissenschaftlicher Fortschritt kann damit nicht gewährleistet werden. Solche tautologisierten Aussagen können Folgerungen aus Definitionen sein oder logische Gesetze. Die "reine Theorie" in der Nationalökonomie ist ein solches tautologisches Satzsystem, in welchem die Schlußfolgerungen schon vollkommen in den Annahmen enthalten sind. Ihre Sätze sind unbedingt gültig. 183
181 Siehe dazu Popper, K. R. (1934), Abschn. 35, Abschn. 36 und Anrn. 6 zu Abschn. 14. Die Wenn-Komponente ist die bedingende Aussagefunktion einer generellen Implikation, die Dann-Komponente die Folgeaussagefunktion oder Prädikation. Eine generelle Implikation besitzt dann eine größere Allgerneinheit als eine andere, wenn ihre bedingende Funktion durch die bedingende Funktion der anderen einseitig generell impliziert wird. Sie besitzt eine größere Bestimmtheit, wenn ihre Prädikation die Prädikation der anderen tautologisch und einseitig generell impliziert. Allgemeinere Sätze besitzen einen größeren Anwendungsbereich und damit mehr potentielle Falsifikationen, präzisere Sätze sind leichter falsifizierbar, weil sie mehr verbieten. "Größerer Allgerneinheit oder größerer Bestimmtheit entspricht also auch ein größerer (logischer, bzw.) empirischer Gehalt oder Prüfbarkeitsgrad.", ebd., S. 86. Eine Implikation kann aber auch zugleich einerseits allgemeiner, andererseits aber weniger bestimmt sein als eine andere. 182 Folgendes nach Popper, K. R. (1934), S. 49 ff., ders. (1973), S. 226 ff. und Albert, H. (1964), S. 25 ff. 183 Vgl. zu dieser Einschätzung Hutebison T. W. (1938) und ders. (1964), Albert, H. (1967b), S. 37-74 und S. 302 f., Veltzke, H. H. (1989), S. 233.
IV. Gefahr der Immunisierung
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2. Verwendung der ceteris-paribus-Klausel als Alibi-Formel 184 : In diesem Fall wird die ceteris-paribus-Klausel in der Wenn-Komponente so vage und unklar formuliert, daß sie völlig unbestimmt ist. Es ist dann unmöglich festzustellen, unter welchen Bedingungen die Theorie wahr oder falsch ist. In Modellen, die möglichst abstrakt sein sollen, mit denen idealtypische Theorien wiedergegeben werden sollen, findet man eine derartige Verwendung der ceteris-paribus-Klausel. 185 3. Mittels der ceteris-paribus-Klausel kann der Geltungsbereich aber auch auf jene Fälle eingeschränkt werden, wo die Voraussetzungen des Aussagensystems immer zutreffen. Daß die deduzierten Aussagen - die Prognosen - dann auf jeden Fall gelten, ist ein Ergebnis der Logik. 186 Die ceteris-paribus-Klausel ist hier eine logische Bedingung, sie definiert das prognostizierte Ereignis quasi selbst. Im Grenzfall ist die Theorie eine Tautologie. Ein Beispiel für diesen Fall wäre das Gesetz "Alle Gase dehnen sich bei Erwärmung aus". 187 Würde nun das Phänomen beobachtet, daß sich ein Stoff trotz Erwärmens nicht ausdehnt, wären zwei Reaktionen möglich. Erstens kann das Gesetz durch den Verweis verteidigt werden, daß dieser Stoff eben kein Gas sei und sich deshalb nicht ausdehnen mußte. Unser "Gesetz" ist dann nichts anderes als eine Definition in Form einer analytisch-tautologischen "Erklärung" des Wortes "Gas". Wir haben es m. a. W. mit einer Immunisierung zu tun. Zweitens können wir aus der Beobachtung folgern, daß unser Gesetz falsch ist. Unser Gesetz wäre eine wissenschaftlich empirische Aussage, die grundsätzlich fallibel ist. Wie wir also sehen, gibt uns ein Satz nicht immer direkt Auskunft darüber, ob er analytisch-tautologischer oder wissenschaftlich-empirischer Natur ist. Erst durch die Reaktion des Wissenschaftlers auf eine falsifizierende Beobachtung können wir eine Entscheidung treffen, ob die ceteris-paribus-Klausel als logische Bedingung fungiert und einen informationslosen analytisch-tautologischen Satz impliziert oder ob sie als empirische Bedingung interpretiert wird und damit einen potentiell wissenschaftlich-empirischen Satz ermöglicht. 188 184
Vgl. Albert, H. (1964), S. 31, ders. (l967a), S. 335; Hutchison, T. W. (1964),
s. 281.
185 Vgl. Albert, H. (1964), S. 29. Das trifft insbesondere auf die Reine Theorie und auf die Euckensche Theorie des "Denkens in Modellen" zu. 186 Vgl. Hutchison, T. W. (1938), S. 40 ff. und ders. (1964), S. 281, Albert, H. (1967 a), S. 354. Das trifft auf die Annahmen der reinen Theorie zu. Vgl. zu dieser Einschätzung Hutchison, T. W. (1964), S. 274. 187 Dieses Beispiel ist aus Hutchison, T. W. (1964), S. 281 f. entnommen. 188 Dies erklärt nochmals deutlich die Notwendigkeit der 3. Adäquatheilsbedingung von d-n Erklärungen. Siehe dazu Kap. B.II.2.b), S. 106 dieser Arbeit. 9 Schaffer
130
B. Methodologische Grundlagen
4. Immunisierung ist auch durch ad-hoc-Einführung weiterer Bedingungen in den ceteris-paribus-Bereich erreichbar. Diese Verfahrensweise, die nichts anderes ist, als eine Theorie zu produzieren, die auf jede Art von Explanandum zutrifft, kann die Forderung nach befriedigender Erklärung natürlich nicht erfüllen, weil die zusätzlichen Bedingungen nicht in einem systematischen Zusammenhang zu den anderen Sätzen des Explanans stehen. Unverknüpfte, additiv hinzugefügte Bedingungen schränken den informativen Gehalt der Theorie ein, weil der Gehalt der Wenn-Komponente erhöht wird. Irrigerweise vermittelt das Auffinden "neuer" Raum-Zeit-Bedingungen, in denen die Theorie gilt, die Illusion der Prüfung, Bewährung und damit Verifikation der Theorie. 5. Ablehnung der potentiellen Falsifikation durch Einwände, daß die Verläßlichkeit des Experimentators und/oder die Objektivität der Prüfsituation nicht gegeben sei, ist eine weitere Möglichkeit der Immunisierung. Dieser Einwand läßt sich durch die Forderung nach der intersubjektiven Vergleichbarkeit der Prüfung zurückweisen. Es muß gezeigt werden, daß die beobachtete Falsifikation nicht zufallig oder okkultistisch, sondern ein nachprüfbarer Effekt war. Das ergibt auch die Notwendigkeit, den Effekt in den strukturellen Zusammenhang des gesamten Aussagensystems einzubauen. 6. Immunisierung durch Verwendung zirkulärer Erklärungen: Eine einfache Reaktion auf eine falsifizierende Beobachtung wäre doch, darauf hinzuweisen, das Vorliegen der Anwendungsbedingungen sei durch das Auftreten des Ereignisses schließlich selbst begründet. Aber, "[... ] können wir nur das Explikandum selbst anführen, dann fühlen wir, daß unsere Erklärung zirkulär ist, und deshalb ganz unbefriedigend." 189 Die Gründe, die wir zur Unterstützung unserer Erklärung anführen, müssen also immer andere sein als das Explanandum. Das gilt sowohl für die Zurückweisung von Zweifeln an dem Vorliegen der Anwendungsbedingungen als auch von Zweifeln an den verwendeten nomologischen Gesetzen. Auch allgemeine Gesetze müssen durch Fälle überprüft werden, die vom Explanandum unabhängig sind. Zirkuläre Erklärungen sind keine Erklärungen. Alles in allem zeigen die zahlreichen Immunisierungsmöglichkeiten, daß es auf die Wissenschaftler selbst ankommt, ob wissenschaftlicher Fortschritt gefördert oder behindert wird. Deswegen ist folgende Einsicht so wichtig: "Der Ehrgeiz, recht zu behalten, verrät ein Mißverständnis: nicht der Besitz von Wissen, von unumstößlichen Wahrheiten macht den Wissenschaftler, sondern das rücksichtslos kritische, das unablässige Suchen nach Wahrheit." 190 189 190
Popper, K. R. (1964b), S. 99. Popper, K. R. (1934), S. 225.
C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip Die Ökonomik und der homo oeconomicus als zentraler Begriff der ökonomischen Theorie und der Theorie des rationalen Handelns.
I. Methodologische Entwicklungen im Ökonomischen Programm 1 Wie ein kurzer Blick in die Geschichte der modernen Theoriebildung zeigt, existiert innerhalb der Wirtschaftswissenschaft keine einvernehmliche Meinung über die Inhalte und das Selbstverständnis der Nationalökonomie. Die Auseinandersetzung um die Inhalte der Nationalökonomie begann bereits unter den "Klassikern", als John Stuart Mill im Jahre 1836 gegen die Lehre von Adam Smith den Vorwurf erhob, Srnith habe den Gegenstandsbereich der Nationalökonomie falsch definiert. 2 Smiths Verständnis von Wissenschaft war geprägt von einer mehr als hundertjährigen Entwicklung, die in dem klassischen Empirismus von John Locke ihren Ausgangspunkt hatte? In Smiths Augen hatte die ökonomische Theorie deshalb Erfahrungswissenschaft zu sein und auf eine erfahrbare Kausalität Bezug zu nehmen. Geprägt vom klassischen Empirismus lag für Smith der Ursprung von Er1 Zum Begriff des "Ökonomischen Programms" vgl. Opp, K.-D. (1979 a) und ders. (1979c). 2 Vgl. Mill, J. St. (1976), S. 149. Dieser Auseinandersetzung folgte ab 1883 der erste Methodenstreit zwischen Car1 Menger und Gustav Schmoller über die zu verwendende wissenschaftliche Methode und über eine ihrem Gegenstand angemessene Theorie. Zwei Jahrzehnte später stand der von Max Weber angeführte Werturteilsstreit im Mittelpunkt. Hier ging es um die Frage, ob normative Aussagen im wissenschaftlichen Kontext zulässig seien oder nicht. Der zweite Methodenstreit flammte in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts auf. T. W. Hutchisan (1938) und G. Myrdal (1932) und (1933) deckten dabei den analytischen Charakter der vorherrschenden Theorien auf. Siehe dazu auch die Ausführungen auf S. 135 dieser Arbeit. In den sechziger Jahren schien sich die Methodendiskussion mit dem Artikel von M. Friedman (1953) über die Methodology of Positive Economics ihrem Kulminationspunkt zu nähern. Hierbei stand die Auseinandersetzung um Friedmans rein instrumentalistische Sichtweise der Poppersehen Lehre vom Falsifikationismus im Mittelpunkt. Eine kritische Auseinandersetzung des neueren Methodenstreits, der auch als "Annahme-Kontroverse" bezeichnet wird, findet sich bei Tietzel, M. (1981 b), Schütz, T. (1995) und Musgrave, A. (1981). 3 Vgl. Jonas, F. (1981), S. 76 ff. und S. 244 ff.
132
C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip
kenntnis allerdings in der Erfahrung. Daß diese erkenntnistheoretische Position wegen ihres induktivistischen Charakters aus heutiger Sicht nicht mehr gehalten werden kann, wurde bereits in B.l.l, gezeigt. Was Smiths Theorie allerdings auch noch aus heutiger Sicht so positiv hervorhebt, ist der Versuch, soziale Tatbestände, wie die soziale Ordnung, auf die Neigungen der Menschen zurückzuführen. Für Smith waren menschliche Handlungen in der Gesellschaft die Basis der Ökonomie, wodurch die Ökonomie als Handlungswissenschaft zugleich die Grundlagendisziplin der Gesellschaftswissenschaften sei. Smiths Vorstellungen hatten ihre Wurzeln in der Philosophie der Aufklärung, wonach grundsätzlich die gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge eigengesetzlicher Natur seien und gesellschaftliche Phänomene nur von den Handlungen der einzelnen her erklärt werden könnten. Albert bezeichnete diese Richtung der theoretischen Ökonomie als eine "Problemstellung marktsoziologischen Charakters"4 • Weil zugleich Anreiz- und Steuerungssysteme in ihren akkumulativen, distributiven und allokativen Wirkungen analysiert wurden, wurden in Mills Augen die Grenzen des Forschungsprogramms der Ökonomie überschritten. Ende des 18. Jahrhunderts gewann mit dem philosophischen Radikalismus von David Ricardo [1772-1823], James Mill [1773-1826] und Jeremy Bentham [1748-1832] in der Klassik eine weitere philosophische Schule an Einfluß. Sie begründete durch die Abkehr vom klassischen Empirismus hin zum klassischen Rationalismus eine zweite methodologische Linie.5 Wie es besonders in der Lehre Ricardos deutlich wurde, stand nun nicht mehr die Erkenntnis aufgrund von Erfahrung im Mittelpunkt, sondern die erkenntnistheoretische Vorstellung, durch den Rekurs auf ein vermeintlich sicheres Fundament, apodiktische Evidenzaussagen als zureichend begründet zu rechtfertigen. Weil es in den Augen der Rationalisten eine von den tatsächlichen gesellschaftlichen Bedingungen losgelöste und unmittelbar einsichtige Bestimmung sozialer Prozesse geben würde, konnte man Wirtschaft Albert, H. (1967b), S. 16. s Das Benthamsche Programm legte den Grundstein für die sogenannte marginalistische Revolution und damit für das neoklassische Programm insofern, als daß es mit seiner Nutzenmetaphysik ("das größte Glück der größten Zahl") ermöglichte, die Annahme des Selbstinteresse durch die neue, am Nutzenprinzip orientierte WertIehre zu ersetzen. Siehe dazu Albert, H. (1977), S. 185. Neben H. H. Gossen zählen zu den Gründervätern der Grenznutzenschule W. S. Jevons mit seinem Werk "Theory of Political Economy", Leon Walras mit seiner "Economie politique pure" und auch Carl Menger mit seinem Werk über die "Grundsätze der Volkswirtschaftslehre". Die zentrale Aussage der Grenznutzenschule war, daß der Sättigungsgrad der Bedürfnisbefriedigung für die Nachfrage und Wertschätzung von Gütern entscheidend sei. Preisgrenzen nach oben und unten sind durch ökonomische Wertschätzungen bestimmt, der sich tatsächlich ergebende Preis bleibt unbestimmt. E. v. BöhmBawerk hat diese Erkenntnis später im "Gesetz der Grenzpaare" verdeutlicht. Siehe ders. (1888), S. 266 ff. 4
I. Methodologische Entwicklungen im Ökonomischen Programm
133
und Gesellschaft als ein logisch geschlossenes System betrachten. Entsprechend ging es nicht mehr um die Erklärung wirklicher Phänomene, sondern um die logische Notwendigkeit einer gegebenen Ordnung. Dafür wurden die Voraussetzungen für das Funktionieren einer freien Wirtschaft in Idealbildern unterstellt und deren Wirkungsweise und Eigenschaften in Modellen beschrieben. 6 "[... ] all other writers had been crushed and overlaid by the enormous weight of facts and documents; Mr. Ricardo alone had deduced, a priori, from the understanding itself."7 Das heißt allerdings nichts anderes, als daß bereits in der klassischen Tradition der Weg eingeschlagen worden war, sich von der Vorstellung einer empirischen Realwissenschaft zu verabschieden und den Vorstellungen einer reinen Analytik mit apriorischem Charakter zu folgen. Nationalökonomie entwickelte sich unter dieser Sichtweise zu einer "abstrakten" Wissenschaft, die nicht mehr auf empirischen Hypothesen beruht, sondern "[ ... ] upon hypotheses strictly analogaus to those which, under the name of definitions are the foundations of the other abstract sciences. " 8 Für Mill galt deshalb nicht der Gegenstandsbereich, sondern die verwendete Methode als das Mittel, durch das man letztlich über eine Wissenschaft bestimmen könne. 9 Damit leitete Mill eine Diskussion ein, die bis heute zu regen Auseinandersetzungen geführt hat: die Frage, ob die Ökonomik durch ihren Gegenstand oder durch ihren Ansatz festgelegt sei. Mit der Ansicht, daß sich die Ökonomik durch die verwendete Methode als eigenständige Wissenschaft etabliere, war zugleich der Versuch verbunden, sich an dem vermeintlichen Idealbild einer Wissenschaft, nämlich den Naturwissenschaften mit ihrem hohen Formalisierungsgrad, zu orientieren. Erst die formale Definition erlaube nämlich die mathematische Behandlung ökonomischer Zusammenhänge und eine Annäherung an die "Exaktheit" der Naturwissenschaften. Diese Entwicklung mündete in die neoklassische Tradition ökonomischen Denkens. Angefangen mit der formal-logischen Lehre von Hermann Heinrich Gossen (1810-1858), welche von Schumpeter noch als ein "analytisches Werkzeug" 10 bezeichnet worden ist, wurde in der Nutzentheorie, vor allem von William Stanley Jevons (1835-1882) und anschließend in der Marginalana1yse, der instrumentelle Charakter des ökono6 Siehe zu dieser Einschätzung der Lehre von Ricardo auch Schumpeter, J. A. (1950), s. 46 ff. 7 Blaug, M. (1958), S. V. Natürlich wird dieses Begründungsdenken auch mit dem Münchhausen Trilemma konfrontiert. s Mill, J. St. (1844), S. 144. 9 Vgl. Mill, J. St. (1976), S. 165: "[ .. .] weil mit der Definition einer Wissenschaft untrennbar die Betrachtung der wissenschaftlichen Methode dieser Wissenschaft verbunden ist [... )." 10 Schumpeter, J. A. (1965), S. 1112.
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C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip
mischen Formalismus vollends in den Hintergrund gedrängt. 11 Ökonomik konnte demnach nur Wissenschaft sein, wenn sie mathematischen Charakter besaß. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie, die von Leon Walras begründet worden ist, brachte diese Entwicklung zu einem vorläufigen Höhepunkt.12 Mises bezeichnete die Ökonomie schließlich als die reine Lehre "der Logik des Handeins und der Tat" 13 , womit die Auffassung über ihren methodologischen Status eindeutig formuliert wurde. Diese Position rief aber bereits Ende des 19. Jahrhunderts massive Kritik hervor. Der Streit um die für die ökonomische Theorie angemessene Methode ging als "erster Methodenstreit" oder als "deutscher Methodenstreit" in die Geschichte ein. Ihre Hauptprotagonisten waren Carl Menger und Gustav Schmoller. Schmoller lehnte das von Carl Menger vertretene theoretische Denken in Form von Deduktionen aus apriorischen Erkenntnissen ab, weil er darin zu Recht eine Methode der Tautologisierung der Aussagensysteme erkannte. Schmoller entwickelte dagegen eine Methodenauffassung, die das Wesensdenken kultivierte und eine Tendenz zum Begriffsrealismus (Essentialismus) besaß. In seiner induktivistisch-historischen Methode lehnte Schmoller die Erstellung von hypothetischen Theorien ohne Fundierung durch empirisches Datenmaterial ab. Deswegen vertrat er die Meinung, daß nur durch das Sammeln eines umfassenden Bestands an Datenmaterial ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhänge verstanden und erklärt werden könnten. 14 Aus heutiger Sicht läßt sich für keine der beiden Methoden eine wissenschaftslogische Superiorität feststellen. 15 Interessanterweise wurde gerade durch die Vorstellung, was nun als wissenschaftliches Ideal zu gelten habe, eine beträchtliche Verwirrung hervorgerufen. So deutete Sambart die von der Naturwissenschaft übernommene Methode als die der Ordnung und Beschreibung von Erscheinungen. 16 Die 11 Siehe dazu Schumpeter, J. A. (1965), S. 1006. Über den instrumentellen Charakter des Formalismus waren sich Mill und ihm verbundene Ökonomen noch bewußt. 12 Jaffe beurteilt in der Einleitung zu diesem Werk Walras' Theorie als "essentially mathematical" siehe Jaffe, W. (1977), S. 5. 13 Mises, L. v. (1933), S. 12. Ludwig v. Mises hat das Programm einer Logik des Handeins sehr deutlich formuliert: "Die Wissenschaft vom menschlichen Handeln, die nach allgemeingültiger Erkenntnis strebt, steht vor uns als System der Gesellschaftslehre; in ihr ist das bisher am feinsten ausgearbeitete Stück die Nationalökonomie. Diese Wissenschaft ist in allen ihren Teilen nicht empirische, sondern apriorische Wissenschaft; sie stammt wie die Logik und Mathematik nicht aus der Erfahrung, sie geht ihr voran." Siehe ebenda. 14 Siehe dafür Schmoller, G. (1911) und z.B. seine Werke von 1901 und 1904. 15 Für eine Kritik beider Richtungen siehe Hutchison, T. W. (1938) und Albert, H. (1967b) passim und für eine Darstellung der verschiedenen Methoden in der Ökonomie siehe Pheby, J. (1988).
I. Methodologische Entwicklungen im Ökonomischen Programm
135
daraus erzielbaren Ergebnisse waren in seinen Augen jedoch höchst unbefriedigend, weshalb er forderte, daß sich die Nationalökonomie der "Methode des Verstehens" zu bedienen habe. Daraus leitete sich auch der methodologische Autonomieanspruch der Nationalökonomie ab. Die Nationalökonomie Sambartscher Prägung stand in gewisser Nähe zur verstehenden Soziologie Max Webers. Weber erkannte aber, daß zwischen der "Methode des Verstehens" und der "Methode des Erklärens" nicht der postulierte Gegensatz bestand. 17 Wie dann zu einem späteren Zeitpunkt eine logische Analyse explizit zeigen konnte, liegen die Methoden vielmehr auf zwei ganz verschiedenen Ebenen: Die Methode des Verstehens fällt in den Entdeckungszusammenhang und die Methode des Erklärens in den Begründungszusammenhang sozialwissenschaftlicher Hypothesen. 18 Nun sollte man meinen, daß die Erkenntnisse der modernen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie nicht spurlos an der ökonomischen Lehre vorbeigegangen seien. Tatsächlich führte 1938 Hutebison die Gedanken Poppers in die Ökonomie ein. 19 Für Hutchisan bot Poppers Abgrenzungskriterium jenes lang ersehnte Mittel gegen die Doktrin der national-sozialistischen Ideologie Hitlers, womit ihre Lehren als utopisch, autoritär und totalitär entlarvt und mit Recht als unwissenschaftlich verworfen werden konnten. 20 In seiner Analyse gelangte Hutebison allerdings auch zu dem Ergebnis, daß zumindest weite Teile des neoklassischen Programms und des ökonomischen Liberalismus genauso unfalsifizierbar und damit unwissenschaftlich seien. 21 Dieser Angriff konnte natürlich nicht unbeantwortet bleiben, worauf der "zweite Methodenstreit" entbrannte. Als Hutchisans schärfster Kritiker und zugleich leidenschaftlichster Verteidiger des liberalneoklassischen Progranuns hob sich der damals wohl führende Ökonom Frank Knight hervor. Er bezeichnete Hutebisons Abgrenzungskriterium selbst als dogmatisch, grundlegend irreführend und falsch, wenn nicht sogar 16 Siehe dazu Sombart, W. (1930), S. 138. Sombart unterläuft hier allerdings ein szientistischer Fehlschluß. Siehe zum Szientismus Kap.B.I.3., dieser Arbeit. 17 Vgl. dazu Weber, M. (1968), S. 427. 18 Siehe dazu Abel, T. (1964). 19 Vgl. Hutchison, T. W. (1938). Um Hutebisons Anliegen besser zu verstehen, sei angemerkt, daß er in den Jahren 1936-37, als er das Buch schrieb, in Deutschland lebte. Neben Hutchison sind noch die methodenkritischen Arbeiten von Gunnar Myrdal (1932) und Oskar Morgenstern (1928) und ders. (1935) hervorzuheben. 20 "Among my own grounds for trying to formulate a demarcation criterion, a primary one, specially relevant in the mid-thirties, was to be able to mark off Statements and theories based on, or deriving from, a disciplined study, from the statements and theories of the undisciplined, pseudo-scientific, totalitarian ideologies, the rise of which I apparently regarded as , the most sinister phenomenon of recent decades'." Hutchison, T. W. (1938), S. ix. 21 Vgl. Hutchison, T. W. (1938), insbesondere den Appendix.
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C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip
schlichtweg unsinnig. 22 In seiner Verteidigung bezog sich Knight auch auf einige technische Begriffe der deutschen Hermeneutik wie "Wesensschau", "verstehende Wissenschaft" und "Einfühlung"23 und bezeichnete die Neoklassik als unzweifelhaft wahr und deshalb unüberprüfbar. Er verwies darauf, daß die Ökonomie keine Wissenschaft im Sinne der von Hutebison immer wieder angeführten Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, sei und auch darauf, daß ein Abgrenzungskriterium nicht von Personen außerhalb der Community angewendet werden könne?4 Diese elitär-autoritäre Haltung ist später zu Recht scharf angegriffen worden. 25 Hutebisons Ideen sind aber später von angelsächsischen Vertretern einer positivistischen Tradition als "Ultra-Empirical Economics" kritisiert worden. 26 Machlup verwies darauf, daß es nicht möglich sei, jede Annahme einer Theorie direkt zu überprüfen, und daß man sich in der Wissenschaft durchaus indirekter Überprüfungen bedienen müsse. 27 Machlup griff in seinen Überlegungen Lakatos späterer Unterscheidung zwischen dem "hard core" und dem "protective belt" einer Theorie voraus. Der isolierte hard core einer Theorie besitzt keine potentiellen Falsifikationen, die verschiedenen (falsifizierbaren) Versionen der Theorie aber schon. Zu dem hard core zählte Machlup ausdrücklich die fundamentalen Annahmen der Neoklassik.28 Vgl. Knight, F. H. (1940) und ders. (1941). Vgl. Knight, F. H. (1940), S. 4, 5, 7, 13. 24 Vgl. Knight, F. H. (1941). 25 Vgl. Friedman, M. (1953), Machlup, F. (1952) und ders. (1955). 26 Vgl. dazu insbesondere Machlup, F. (1955), Friedman, M. (1953) und später Klappholz, K./J. Agassi (1959) und dies. (1960). 27 Eine Annahme A, die weder direkt empirisch getestet, noch aus einer empirisch testbaren Proposition deduziert werden kann, kann indirekt überprüft werden, indem man sie mit einer direkt testbaren Annahme B kombiniert und eine Konsequenz C deduziert, die empirisch überprüft werden kann. Wenn C getestet wird und nicht widerlegt ist, dann hat sich die Annahme A indirekt bewährt. Siehe dazu Machlup, F. (1956), S. 484. 28 Vgl. Lakatos, I. (1970). Der methodologische Status des hard core ist aber umstritten. Für Hutebison hatten die fundamentalen Annahmen der Neoklassik den Charakter von Tautologien, weil sie nicht überprüfbar waren. Latsis behauptet nun, daß Hutebison bei seinem Urteil den Unterschied zwischen Konventionen (im Poppersehen Sinn) und Tautologien übersah. Nach Latsis funktioniert der hard core einer Theorie als Konvention, obwohl er formal synthetisch sei. Seine heuristische Funktion entleert den hard core aber seines empirischen Inhalts. Diese heuristische Entleerung vermittelt nach Latsis den falschen Eindruck, daß der hard core einer Theorie tautologisch sei. Siehe dazu Latsis, S. (1972), S. 240. Wie aber diese Form von Annahmen - von Machlup als mittlere Kategorie bezeichnet - zugleich synthetisch, empirisch entleert, eine Konvention und keine Tautologie sein soll, ist unter Gesichtspunkten der Logik mehr als zweifelhaft. Für eine Kritik siehe Tietzel. M. (1981 b). 22
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I. Methodologische Entwicklungen im Ökonomischen Programm
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Trotz der Kritik Hutchisons, Myrdals, Morgensterns - zu den Kritikern, die sich ausdrücklich auf die Ideen Poppers berufen, gehört seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts insbesondere Hans Albert- zeigt das analytischapriorische Denken der Neoklassik erstaunliches Beharrungsvermögen. Der Versuch, durch analytische Sätze den Eindruck von Wahrheitsnähe zu vermitteln, hätte durch Eucken nicht besser zum Ausdruck gebracht werden können: "Indem die Nationalökonomie durch die geschilderte Methode zu notwendigen, allgemeinen und zugleich wirklichkeitsnahen Wahrheiten gelangt, die sie in der Theorie ausspricht, ist der archimedische Punkt gefunden, von dem aus die objektive und exakte Erkenntnis bestimmter Zusammenhänge der individuellen, konkreten Wirklichkeit gelingt." 29 Und über 30 Jahre später formulierte Stigler diese Sichtweise folgendermaßen: "Economic theories are conclusions drawn from assumptions according to the rules of logic. Pure economic theory is therefore a field of logic, essentially mathematical in nature.'ao Selbst ein relativ junger Zweig wie die Neue Politische Ökonomie leidet unter diesen methodologischen Altlasten: Im Rahmen der sogenannten Wohlfahrtstheorie soll das Verteilungsproblem vom Gleichgewichtszustand her gelöst werden, was Shackle so beurteilt: "It is now an abstract and elegant but useless application of symbolic logic [.
0
.] ...
31
Solche methodologischen Positionen sind heute natürlich nicht mehr haltbar: notwendige Wahrheiten können nicht zugleich wirklichkeitsnah sein; durch die Logik, deren Sätze ja analytische Schlußfolgerungen und notwendig wahr sind, können wir keine exakten Erkenntnisse über empirische Phänomene erzielen. Die Hoffnung aber, daß sich diese wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse im neoklassischen Programm endlich durchsetzen können, ist offensichtlich nach wie vor trügerisch, wie uns Niehans in seiner Abhandlung über die Ziele und Möglichkeiten ökonomischer Wissenschaften zeigt: "However, vision is not enough. The essential step is to formalize it into an analytical model." Und erst dieser Schritt mache eine Theorie objektiv: "This is what makes the idea communicable to others."32 29 Eucken, W. (1934), S. 29. Eine kritische Auseinandersetzung mit der reinen Theorie und mit Euckens Methodologie findet sich z. B. bei Albert, H. (1967 a), ders. (1967 b), S. 37-74, S. 257 ff. und S. 304 ff. und auch bei Hutchison, T. W. (1964). 30 Stigler, G. J. (1968), S. 7, Hervorhebungen im Original. 31 Shackle, G. L. S. (1962), S. 3*. Eine ähnliche Bewertung findet man auch bei Katterle, S. (1991), S. 132 ff. 32 Niehans, J. (1981), S. 175. Entsprechend urteilt Hayek: "Ich bin überzeugt, daß viele die ganze Tendenz der modernen Gleichgewichtsanalyse, die Nationalökonomie zu einem Zweig der reinen Logik zu machen, d. h. sie auf eine Reihe selbstevidenter Sätze zu reduzieren, die wie die der Mathematik keiner anderen Probe als der ihrer inneren Widerspruchs1osigkeit unterliegen, mit Ungeduld und Mißtrauen
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C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip
Was daraus folgt, dürfte uns wenig überraschen: es ist die Absage einer empirischen Ausrichtung der Neoklassik: "lt can hardly be denied, that econometrics has not transformed economic doctrines into testable (and perhaps tested) hypotheses. [.. .] In fact, few controversies were ever settled by econometric tests, and most economic doctrines continue to be purely logical propositions. " 33 Auch wenn es in der Geschichte der Nationalökonomie eine historische Auseinandersetzung um die Frage gab, ob die Ökonomik über die Methodik oder über ihren Gegenstandsbereich "definiert" sei, so ist die paradigmatische Entwicklung in die eine Richtung ohne den Geltungsanspruch der anderen nicht denkbar. Denn die Zielsetzung, die Ökonomik durch Formalisierung und Mathematisierung dem wissenschaftlichen Idealbild der Naturwissenschaften anzugleichen, war ohne eine Abgrenzung des Geltungsbereichs zu anderen Zweigen der Sozialwissenschaften gar nicht durchführbar. Der Umgang mit mathematischen Formeln, wie in der Gleichgewichtstheorie, setzte voraus, daß von den tatsächlichen Gegebenheiten der sozialen Umwelt zunehmend abstrahiert wurde, weil ja nur eine begrenzte Zahl von Variablen auch mathematisch erfaßt werden kann. So verengte Jevons durch die Formalisierung der Nutzentheorie die motivationalen Prämissen auf das konstante Streben nach Gewinn. In der Gleichgewichtstheorie wird die Theoriebildung von der "Idee, ein kognitives Vakuum herzustellen, um sichere Erkenntnis zu erreichen"34, bestimmt. Das implizierte als kognitive Prämissen gut informierte und fehlerfrei kalkulierende Wirtschaftssubjekte. Für Institutionen war in dieser analytischen Wissenschaft, wie Hicks festhielt, kein Platz mehr: "[...] "logical analysis of an economic system of private enterprise, without any inclusion of reference to institutional controls."35 Die mit der Formalisierung verbundene Einengung des ökonomischen Verhaltensmodells führte zu strikter Zurückweisung politikwissenschaftlicher, soziologischer und psychologischer Erkenntnisse. 36 Damit verbunden war die motivationale, kognitive und institutionelle Entleerung der ökonomischen Theorie: 37
betrachten." Hayek, F. A. v. (1976), S. 51. Das entspricht der in Kapitel B .1.4. dargestellten ersten Prüfungsstufe. Siehe S. 92 ff. dieser Arbeit. 33 Niehans, J. (1981), S. 171 f. 34 Albert, H. (1987); S. 95 sowie Schumpeter, J. A. (1965), S. 1213 ff. Für eine Kritik der Gleichgewichtstheorie siehe z. B. Albert, H. (1978), 2. Kapitel. 35 Hicks, J. R. (1939), S. 7. Arrow und Debreu formalisierten diese Vorstellung in vollkommener Weise. Siehe dazu Arrow, K. J./G. Debreu (1954) und Debreu, G. (1954). 36 Vgl. Albert, H. (1977), S. 185 ff.
II. Ökonomik und der homo oeconomicus
139
- kognitive Entleerung: Faktoren, die die geistigen Fähigkeiten der Handelnden bestimmen, werden ebenso vernachlässigt wie die Erwartungsbildung; - motivationale Entleerung als Ziele werden Gewinnmaximierung auf Anbieterseite und Nutzenmaximierung auf Nachfragerseite unterstellt. Diese inhaltliche Spaltung der Nutzen- bzw. Präferenztheorie bleibt letztlich unerklärt. Die Präferenzstruktur wird als konstant angenommen; - institutionelle Entleerung: der Relevanz rechtlicher und anderer institutioneller Regelungen für das Handeln der Individuen wird nicht Rechnung getragen.
Entsprechend dieser Ausgrenzungen verfestigte sich die Einsicht, daß eine Differenzierung sozialwissenschaftlicher Disziplinen notwendig sei, gemäß derer sich die Wissenschaften nach Gegenstandsbereichen zu unterscheiden haben. So habe sich die Wirtschaftswissenschaft mit wirtschaftlichen Abläufen, die Soziologie mit sozialen Vorgängen, die Politologie mit politischen Vorgängen und die Rechtswissenschaften mit rechtlichen Vorgängen zu beschäftigen. Die Spezialisierungstendenzen wurden dabei zunächst von allen Teildisziplinen begrüßt. Sowohl Soziologie als auch Nationalökonomie erhoben einen eigenen Autonomieanspruch für spezifische Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Wie im ersten Kapitel bereits kurz angeschnitten, verstand sich die Soziologie als Wissenschaft von den Institutionen, und die Neoklassik, als über lange Jahre vorherrschendes Paradigma in der Nationalökonomie, schloß jedwede außerökonomischen Faktoren aus ihrem Untersuchungsgebiet aus.38 Diese Entwicklung konnte auch, wie dargestellt, von dem Alten Institutionalismus nicht gestoppt werden.
II. Ökonomik und der homo oeconomicus 1. Ökonomik und Ökonomie "Ein altes Anliegen fast aller Wissenschaften vom menschlichen Handeln ist es, über die Zurückführung erklärungsbedürftiger Handlungsabläufe auf elementare Einheiten, über deren Verhalten bestimmte grundlegende Annahmen gemacht werden, zu einer Handlungs-"Theorie" vorzustoßen."39
37 Albert spricht deshalb von kognitiven, institutionellen und molivatianalen Defiziten. Siehe hierzu Albert, H. (1984), S. 58 ff., ders. (1978), S. 81 f. 38 Für eine ausführliche Kritik und Zurückweisung des Autonomieanspruchs der Ökonomie sowohl in methodologischer als auch in logischer und theoretischer Hinsicht siehe Albert, H. (1967b), S. 474 ff. 39 Hartfiel, G. (1968), S. 42.
140
C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip
Es scheint, daß in der Nationalökonomieseit Smith über die Neoklassik bis hin zu den zahlreichen Varianten moderner Prägung, bei aller Disharmonie über die richtige Methode, wenigstens darüber Einigkeit herrscht, daß im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen der Mensch und seine Handlungen zu stehen habe. "Für diese Disziplin wurde nun von bedeutenden ihrer Vertreter der Anspruch erhoben, daß sie eine oder gar die exakte Disziplin vom menschlichen Handeln darstelle [... ]. 40 Von Lionel Robbins wurde schon 1932, im Gegensatz zu den Ansichten der damals dominierenden Neoklassik, der Geltungsbereich der "economics" nicht nur auf die materiell abgrenzbaren Handlungen im "Wirtschaftsbereich" der Gesellschaft eingeschränkt, sondern, wie bereits von Adam Smith, die Allgemeingültigkeit des Ansatzes hervorgehoben: "[ ... ] any kind of human behaviour falls within the scope of economic genera1izations. We do not say that the production of potatoes is economic activity and the production of philosophy is not. We say rather that, in so far as either kind of activity involves the relinquishment of other desired alternatives, it has its economic aspect. There are no limitations on the subject-matter of Economic Science save this.''41
Robbins legte damit den Grundstein für jene Versuche, dem ökonomischen Programm wieder jenes breite Anwendungsgebiet zurückzugewinnen, welches es durch die Dominanz des neoklassischen Paradigmas verloren zu haben schien. Soziale Interaktionen, also Handlungen, an denen mehr als ein Individuum beteiligt ist, werden im Rahmen der Ökonomik im allgemeinen als ein Tauschvorgang verstanden. Menschen verhalten sich also nicht systematisch anders, wenn politische, juristische oder wirtschaftliche Probleme gelöst werden müssen. Diese Vorstellung ist weder neu noch eine typisch ökonomische Indoktrinierung der Sozialwissenschaften. Vielmehr teilen selbst viele Soziologen diese Idee, so schrieb etwa bereits vor hundert Jahren Georg Simmel: ,,Jede Wechselwirkung aber ist als ein Tausch zu betrachten: jede Unterhaltung, jede Liebe (auch wo sie mit andersartigen Gefühlen erwidert wird), jedes Spiel, jedes Sichanblicken."42 Ökonomie ist nach diesem Verständnis der Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften und Ökonomik der Ansatz bzw. die Methode. Bei der Ökonomik handelt es sich also um die Anwendung eines allgemeinen Modells menschlichen Verhaltens, um genau zu sein, des Modells des rationalen Handeins auf grundsätzlich alle Lebensbereiche.43 Es bildeten sich Vorstellungen über Prinzipien des menschlichen Verhaltens heraus, die als geeignet Albert, H. ( 1977), S. 177 f. Robbins, L. (1932), S. 17. 42 Simmel, G. (1900), S. 34. An dieser Darstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Sinne einer Austauschtheorie ist aber auch Kritik geübt worden, weil in ihr eine nicht unproblematische Kommerzialisierung aller Lebensbereiche gesehen werden kann: jede gesellschaftliche Interaktion würde als Geschäft interpretiert. 40 41
li. Ökonomik und der homo oeconomicus
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angesehen wurden, um mit ihnen den gesellschaftlichen Gesamtverlauf unter verschiedenen Bedingungen abzuleiten. 44 In seiner wahrscheinlich einfachsten Form könnte das Modell menschlichen Handeins in der Ökonomie folgendermaßen beschrieben werden: "Economics is the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses."45 Und etwas konkreter bezeichnet Kirchgässner die Ökonomik als den Versuch, "[... ] menschliches Verhalten dadurch zu erklären, daß man unterstellt, daß sich die einzelnen Individuen >rational< verhalten. Individuen handeln dadurch, daß sie aus den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eine rationale Auswahl treffen. " 46 2. Der homo oeconomicus
Der homo oeconomicus ist als das Modell individuellen Verhaltens zu verstehen, welches der ökonomischen Theorie (und in seiner modernen Fassung auch den anderen sozialwissenschaftliehen Ansätzen) zugrunde liegt. 47 Im Vergleich zum "homo generalis" oder "homo totus" stellt der homo oeconomicus ein vereinfachtes Modell, einen Typus, einen "homo partialis"48 43 Im Angelsächsischen wird der ökonomische Ansatz in den Sozialwissenschaften als "Rational Choice Approach" bezeichnet, so bei Becker, G. S. (1982), S. 3 und Mckenzie, R. B./G. Tullock (1978). Mckenzie und Tullock stellen den Begriff approach dar als "[.. .] a thought process, or the manner in which economists approach problems, rather than an easily distinguishable group of problems that sets an economist apart from others" ebd., S. 5. Die Bedeutung und die Tradition des "Rational Choice Approach" in der Psychologie zeigt sich bei Stroebe W./B. S. Frey (1980) und MacFadyen, A. J./H. W. MacFadyen (1986); Earl, P. E. (1986) und ders. (1988). In der Politikwissenschaft findet der "Rational Choice Approach" als Neue Politische Ökonomie oder Public Choice seinen Platz. In der Soziologie vertreten ihn überzeugt Opp, K.-D. (1983); Coleman, J. S. (1986) und Franz, P. (1986). Und in der Analyse des Rechts hat der Ansatz auch im deutschen Raum Anhänger gefunden. Siehe dazu Posner, R. A. (1987), Ott, C./H.-B. Schäfer (1989), Behrens, P. (1986), Eidenmüller, H. (1995), Assmann, H-D./C. Kirchner/E. Schanze (1978), Schäfer, H.-B./C. Ott (1995). 44 Vgl. Gäfgen, G. (1963), S. 18. 4~ Ebd., S. 16. 46 Kirchgässner, G. (1991), S. 2 (Hervorhebungen im Original). Es geht in Anlehnung an Robbins um Handlungen von Individuen. Die von Homann gewählte Definition von der Ökonomik als der "Wissenschaft von den Kosten" ist viel zu eng. Siehe Homann, K. (1988), S. 114. Es ist wohl auch eher irreführend zu behaupten, daß die Ökonomik es mit dem Problem der Knappheit zu tun habe. Die Knappheit an sich zu erklären ist sicherlich nicht ihr Ziel. Vielmehr ist es die Beschäftigung mit den Problemen, die sich für die Individuen in ihrer Entscheidungssituation aufgrund der immer gegenwärtigen Tatsache der Knappheit ergeben und mit den Problemen, die durch die Handlungsfolgen der Individuen ungewollt generiert werden. 47 Vgl. zu dieser Einschätzung Kirchgässner, G. (1991), S. 12 ff. 48 Machlup, F. (1978), S. 267.
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C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip
dar, weil bestimmte Eigenschaften ausgeblendet, andere besonders betont werden.49 Zu besonderen Demonstrationszwecken sind sogar ganz bestimmte Wesen wie der homo phlegmaticus, cholericus, caritativus, alcoholicus, amorosus, traditionaUs und oligopolisticus entwickelt worden. 50 Das exakte Geburtsdatum des homo oeconomicus ist nicht mehr genau zu ermitteln, freilich ein Umstand, den man auch von anderen bekannten und berühmten Persönlichkeiten kennt. 51 Einige schreiben dem homo oeconomicus ein Geburtsjahr zu, das nach Ricardos Tod (1821), aber noch zu Malthus' Lebzeiten liegt; andere schätzen ihn als Kind Mandevilles, Fergusons und Smiths bedeutend älter. 52 Obwohl der homo oeconomicus ein nun fast biblisches Alter erreicht hat, scheint er eher wie ein Fabelwesen durch die ökonomischen Theorien zu geistern. Trotz der elegantesten Definitionen, die ihm zuteil geworden sind, streitet man sich bis heute noch über seine Charaktereigenschaften und auch über seinen methodologischen Status. 53 Spätestens seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts ist durch das Aufkommen der historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland, des Institutionalismus in Amerika und der modernen Psychologie (v. a. in Amerika) insbesondere der (angeblich) typischste Charakterzug des homo oeconomicus, nämlich seine "irrationale rationale Leidenschaft für leidenschaftsloses Kalkül"54 scharf kritisiert worden. Nun stellt sich bei genauerer Betrachtung die Frage, ob der homo oeconomicus nicht zu Unrecht solchen Attacken ausgesetzt gewesen (und noch) ist. Es scheint eher so, als ob er von den Anhängern bestimmter Paradigmen der theoretischen Nationalökonomie mißbraucht worden ist, weil ihm Charaktereigenschaften zugesprochen wurden, die er so gar nicht besitzt und auch nicht besitzen muß. Im folgenden soll deshalb ein kurzer Überblick darüber gegeben werden, wie der homo oeconomicus nach dem aktuellen Stand der Literatur gesehen werden kann. Damit sollen unnötige Mißverständnisse über seine Charaktereigenschaften vermieden werden. Meines Erachtens resultiert die zahlreiche Kritik am homo oeconomicus aus dem Mißverständnis um die Funktion und Rolle von Modellbildungen und um den Inhalt und methodologischen 49 Vgl. Machlup, F. (1978), S. 267. Siehe zum Menschenbild in der ökonomischen Theorie Biervert, B./M. Held (1991). 50 Vgl. Machlup, F. (1978), S. 265 und 278 ff. 51 Wenn man will, könnte man sagen, daß sich bei Lofthouse, S./J. Vint (1978) ein ausführliches curriculum vitae des homo oeconomicus finden läßt. 52 Vgl. zu der ersten Einschätzung Wolf, H. (1924), S. 3 und zu der zweiten Brunner, K./W. H. Meckling (1977), S. 72. 53 Siehe eine interessante Zusammenstellung verschiedener Charakterisierungen des homo oeconomicus bei Tietzel, M. (1981 a), S. 116-117. 54 Vgl. Clark, J. M. (1936).
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Status eines zentralen Bestandteils des homo oeconomicus, nämlich das Rationalitätsprinzip. In seiner allgemeinen Form kann das Modell des homo oeconomicus als der verhaltenstheoretische Ansatz der Ökonomik verstanden werden, d. h. als eine Verhaltenstheorie, die über ihre Methode bzw. ihren Ansatz bestimmt ist: menschliches Handeln wird als rationale Auswahl aus Alternativen dargestellt. 55 Durch folgende Merkmale zeichnet sich dieser Ansatz aus: Erstens wird im Modell des homo oeconomicus zwischen den Präferenzen des Handelnden und den Restriktionen unterschieden und zweitens wird unterstellt, daß der Akteur rational und eigenständig handelt. a) Restriktionen als Beschreibungen des Handlungsspielraums
Mit der Berücksichtigung von Restriktionen soll der Tatsache Rechnung getragen werden, daß sich der Mensch permanent in einer Situation der Knappheit befindet. Weil er nicht alle seine Bedürfnisse gleichzeitig befriedigen kann, muß sich ein Handelnder jeweils zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten entscheiden. Im Prinzip können alle jene Ressourcen berücksichtigt werden, die nur begrenzt verfügbar sind und deren Einsatz in verschiedener (sich ausschließender) Weise nutzenstiftend ist. 56 Üblicherweise beziehen sich die Beschränkungen auf die finanziellen Ressourcen (Budgetrestriktion), d. h. das Gesamteinkommen, welches sich aus dem Realeinkommen, dem Vermögen und der zur Verfügung stehenden Zeit für Arbeit und Konsum zusammensetzt. Aber auch der knappe Faktor Zeit, das dem Handelnden nur beschränkt zur Verfügung stehende Wissen und andere Einschränkungen individueller Fähigkeiten (kognitive Komponente) zählen zu den Restriktionen. Die Berücksichtigung der geistigen Fähigkeiten des Handelnden erfolgt in der Ökonomie letztlich über die Annahme, welcher Umfang an Informationen dem Akteur zur Verfügung steht. Vollkommene Information bedeutet perfekte kognitive Fähigkeiten des Individuums. Es ist aber keineswegs so, daß das ökonomische Verhaltensmodell grundsätzlich vollkommen informierte Handelnde unterstellt, die wie Computer blitzschnell immer die beste der Alternativen auswählen können. 57 Insbesondere im Konzept der "bounded rationality" wird der Unvollkom55 Vgl. z. B. bei Kirchgässner, G. (1991), Meyer, W. (1979) und ders. (1981), S. 132 ff., Kunz, V. (1997), Ramb, B.-T./M. Tietzel (1994), Alchian, A. A./W. R. Allen (1974), Kap. 3, Becker, G. S. (1982), Kap. 1, Brunner, K. (1987), Frey, B. S. (1980), ders. (1990a), Hirshleifer, J. (1985), Meckling, W. (1976). 56 Vgl. dazu das von L. Robbins bereits 1932 veröffentlichte Werk. 57 Vgl. Kirchgässner, G. (1991), S. 17 und eine Kritik an diesem Konzept bei K. J. Arrow (1986).
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menheit unseres Wissens und Könnens für den homo oeconomicus Rechnung getragen. 58 Weitere Restriktionen ergeben sich daraus, daß der gezielte Einsatz der verfügbaren Ressourcen behindert sein kann. Zum einen könnte die konsumlive Verwendung des Einkommens erschwert sein, weil die gewünschten Güter gar nicht oder kaum verfügbar sind (wie dies z. B. in sozialistischen Volkswirtschaften festzustellen ist). Auch der Einsatz der Ressourcen zur Produktion direkt oder indirekt nutzenstiftender Güter ist grundsätzlich beschränkt, wie v. a. durch natürliche Restriktionen, die von Natur aus nicht überschreitbare Grenzen setzen (zweites Gesetz der Thermodynamik). Schließlich sind noch solche Einschränkungen zu nennen, die man wohl am ehesten als soziale Restriktionen bezeichnen kann, nämlich die Institutionen. Unser Verständnis des homo oeconomicus schließt also ausdrücklich die institutionelle Lücke, die von Albert für das neoklassische Modell konstatiert worden war. In der Ökonomie wird in der Regel das unterschiedliche Ausmaß, in dem die beschränkten Ressourcen den Handelnden zur Verfügung stehen, dadurch bewertbar, d. h. vergleichbar gemacht, indem die Kosten ihres Einsatzes an ihren Opportunitätskosten, d. h. den Kosten für ihre Alternative, genauer: der zweitbesten Verwendungsmöglichkeit, bemessen werden. Dabei fallen nicht nur monetäre Güterpreise unter die Kosten, sondern alle Kosten, die bei einer Handlung anfallen (z. B. Zeitverluste, Ärgernisse); Kosten die nicht notwendigerweise direkt oder indirekt in Geldgrößen ausgedrückt werden können oder müssen.59
b) Die Annahme von konsistenten Präferenzen In den Präferenzen kommt zum Ausdruck, daß der Handelnde gewisse Ziele verfolgt. Präferenzen sind "die relativen Bewertungen von Handlungsalternativen durch einen Handelnden im Lichte seiner Ziele."60 Ganz im 58 Dieses Konzept geht auf H. A. Sirnon zurück, der ausdrücklich die übermenschlichen Eigenschaften des homo oeconomicus neoklassischer Prägung kritisiert hat. Siehe dazu Simon, H. A. (1947), ders. (1957) sowie eine kurze Darstellung in ders. (1987). Nach Sirnon hat die "beschränkte Rationalität" nichts mit einer Art von Irrationalität zu tun, sondern nur mit den "Iimits on knowledge and how to obtain it rather than on the ability to perform according knowledge, that has been assimilated." Simon, H. A./A. Newell (1972), S. 866. Ein Überblick über die Theorieentwicklung der letzten Jahre und den gegenwärtigen Forschungsstand findet sich bei Selten, R. (1990) und bei Simon, H. A./M. Egidi/R. Marris/R. Viale (1992). 59 Dabei muß jedoch darauf geachtet werden, daß die Einführung "sozialer Kosten" nicht zu einer Immunisierung der Theorie führt. Letzten Endes gilt für jede Kostenart, daß sie objektiv, also unabhängig überprüfbar zu sein hat. 60 Tietzel, M. (1988b), S. 39. Zum Charakter dieser Definition (!) schreibt er: "Nach dieser Nominaldefinition ist ,Präferenz' ein subjektiver, mehrsteiliger Rela-
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Zeichen des Utilitarismus stand in der ökonomischen Theorie zunächst das allgemeine Ziel der Bedüifnisbefriedigung im Mittelpunkt. Die philosophischen Arbeiten Jeremy Benthams schlugen sich in der Annahme nieder, daß "die Wahlhandlungen der Individuen eine bestimmte Beziehung zu den Bedürfnisbefriedigungseigenschaften der Handlungsziele"61 besitzen. Entsprechend meinte man, "[a]us der These, daß jeweils die Maximierung der Befriedigung - des "Lust-Unlust-Saldos" - angestrebt werde, müsse sich dann das betreffende Verhalten ableiten lassen."62 Mit dem Aufkommen des neoklassischen Paradigmas wurde die Vielzahl der menschlichen Bedürfnisse jedoch durch das Universalbedürfnis Nutzen 63 ersetzt. Der Österreichische Zweig Grenznutzenschule hielt allerdings noch an den utilitaristischen Grundlagen der Nutzentheorie fest. 64 Bis zu diesem Zeitpunkt konnte man durchaus noch von einer psychologischen Fundierung der ökonomischen Theorie sprechen, die allerdings unter dem damaligen niedrigen Entwicklungsstand der psychologischen Forschung litt.65 Die Schwierigkeiten, den Begriffen Nutzen oder Bedürfnis empirisch feststellbare Korrelate zuzuordnen, veranlaßten die Vertreter der Lausanner Grenznutzenschule, mit der subjektiven Wertorientierung des Benthamschen Programms zu brechen. 66 Aus analytische Gründen wurde der Nutzenbetionsbegriff: er ist mehrstellig, insofern ein Handelnder eine Klasse von Handlungsfolgen im Vergleich zu den Folgen einer oder mehrerer anderer Handlungen ,präferiert'; er ist subjektiv, insofern der Maßstab für die ,Präferierung' bestimmter Handlungen gegenüber anderen deren jeweilige Wirkungen auf seine subjektiven Ziele sind." Tietzel, M. (1988b), Fn. 9. 61 Meyer, W. (1979), S. 279. Siehe Bentham, J. (1996). 62 Albert, H. (1977), S. 185. Mit der Struktur der Bedürfnisse sah man verhaltenswirksame Sanktionen - Belohnungen und Bestrafungen - verbunden, die von den Handelnden erwartet wurden. 63 Unter Nutzen kann in recht spezieller Interpretation des Utilitarismus der durch die Folgen eigener Handlungen bewirkte Saldo aus den positiven und negativen Beiträgen zur individuellen Zielerreichung verstanden werden. 64 Die hedonistische oder utilitaristische Grundlage der Nationalökonomie zeigte sich in der Österreichischen Schule darin, daß die Preiserscheinungen auf Märkten nutzentheoretisch fundiert wurden: der Preis bildet sich nach den verschiedenen subjektiven Wertschätzungen des durch die Käufer verlangten und durch die Verkäufer angebotenen Gutes. Der sich am Markt einfindende Preis bestimmt sich durch den Wert, der aus den Grenznutzen der Käufer und Verkäufer abgeleitet werden kann. Dieses Grundgesetz der Preisbildung wurde von E. v. Böhm-Bawerk entwickelt. Siehe dazu ders. (1888), S. 266 ff. 65 Siehe für diese Einschätzung Albert, H. (1977), S. 186 ff. und Meyer, W. (1979), S. 280, Hartfiel, G. (1968), S. 92 ff. 66 Sie umgingen das Problem der Messung der subjektiven Wertschätzungen, der Nutzenquantitäten und damit auch des Grenznutzens, jener Komponenten, mit denen die Österreichischen Vertreter der Grenznutzenlehre arbeiteten, indem die Preisbildung direkt auf die Wahlhandlungen der Marktteilnehmer zurückgeführt wurde. Als Motiv für den Kauf eines Gutes wurde nicht mehr die Wertschätzung 10 Schaffer
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griff inhaltlich entleert und die allgemeine Gültigkeit des Nutzenprinzips zugunsten einer spezifischen Zweiteilung aufgegeben: für die Unternehmer unterstellte man das Erwerbsprinzip als Streben nach maximalem Gewinn und für die Nachfrager das Nutzenprinzip als das Streben nach maximaler Bedürfnisbefriedigung. 67 Die Unterscheidung von Zielen und Mitteln, die häufig in der Literatur als relevant für den homo oeconomicus unterstellt wird, ist nicht identisch mit der hier getroffenen Unterscheidung in Restriktionen und Präferenzen. 68 Mit der Differenzierung in Ziele und Mittel ist in der Regel die Annahme verbunden, daß allein die Ziele wertbehaftet seien. Wie Myrdal und Albert gezeigt haben, ist diese Annahme mehr als zweifelhaft, weil wertfreie Mittel wohl kaum existieren. 69 Nach dem Motto "Der Zweck heiligt die Mittel" müßte es dem Handelnden, z. B. einem Unternehmer, sonst gleichgültig sein, daß er etwa nur durch Massenentlassungen sein Ziel der Gewinnmaximierung erreichen würde. Es gibt sicherlich genügend Beispiele dafür, daß zwei Verfahrensweisen, die den gleichen Gewinn für den Unternehmer versprechen, durchaus unterschiedlichen Nutzen stiften, z. B. weil die eine Alternative den sozialen Frieden innerhalb der Firma besser gewährleistet als die andere. 70 In der modernen Auffassung des homo oeconomicus spielen deswegen nicht nur materielle Ziele eine Rolle, sondern auch andere Werturteile über besondere Eigenschaften eines Gutes, wie z. B. Design. Folglich wird unterstellt, daß bis auf das oberste Ziel der Nutzenmehrung alle anderen Ziele nur Mittel zur obersten Zielerreichung darstellen.71 "Alle anderen Ziele, wie z.B. das der Gewinnmaximierung des Ungenannt, sondern einfach der Bedarf an sich. Im Mittelpunkt standen dann nur noch gegenseitige Abhängigkeiten von Preisen, Tauschrelationen und ökonomischen Quantitäten. Die Entpsychologisierung war Voraussetzung für die Formalisierung der Nationalökonomie zur "reinen Theorie". Umgesetzt wurde dies in der HicksAllen-Slutzky-Revolution der Konsumtheorie. Siehe dazu Meyer, W. (1979), S. 280 f. und Albert, H. (1977), S. 191. Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Schumpeter, J. A. (1908), S. 23 ff. und Hartfiel, G. (1968), S. 102 ff. 67 "Nutzen" wird in diesem Fall rollengebunden verstanden. Nur wie soll unter dieser Annahme ein Unternehmer als Konsument bzw. Nachfrager handeln? Für eine ausführliche Darstellung der Unvereinbarkeit zweier Nutzenprinzipien siehe Albert, H. (1954). 68 Vgl. zu dieser Einschätzung Kirchgässner, G. (1991), S. 14. 69 Vgl. Myrdal, G. (1933) und Albert, H. (1954). 70 Man könnte natürlich auch so argumentieren, daß sich diese Ziele darin unterscheiden, daß sie unterschiedliche Zeithorizonte haben. 71 Diese Heuristik formuliert auch Lindenberg: "assume general human goals and then Iook at all other goals as means for reaching these goals." Lindenberg, S. (1992), S. 132. Kirchgässner sieht allerdings als Endziel nicht die Nutzenmehrung, sondern die Nutzenmaximierung, ebenso Becker, G. S. (1982). M. E. setzt das jedoch gewisse Prämissen voraus, die an anderer Stelle als utopisch zurückgewiesen
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ternehmers, sind bezogen auf jenes letzte Ziel nur (wertbehaftete) Mittel."72 In der Annahme der Nutzenmehrung als oberstes Ziel spiegelt sich die Konzeption einer offenen Nutzenthoerie bzw. Präferenzordnung und auch das ökonomische Motiv "of bettering our condition" wieder, welches schon in der Lehre Adam Smiths zu finden ist. 73 Präferenzen spiegeln die Bewertung von Handlungsalternativen in Abhängigkeit von ihren "Zielen" (siehe oben) wieder. Sie bieten jenen Bewertungsmaßstab, mit dem die Handlungsalternativen nach ihrer Vorteilhaftigkeit beurteilt werden können. Dafür muß die Präferenzordnung konsistent sein, d. h. sie darf nicht in sich widersprüchlich sein. Die Konsistenzeigenschaft der Präferenzordnung wird in der ökonomischen Theorie durch Axiome berücksichtigt. Die Axiome kann man in formale, welche die Gestalt der Präferenzordnung festlegen und in inhaltliche, die die Art der Präferenzen beschreiben, unterscheiden. 74 Zu den formalen Axiomen zählen das Transitivitätsaxiom, d. h. Konsistenz beim Vergleichen von Vergleichen; das Vollständigkeitsaxiom, d. h. Erfassung aller relevanten Optionen; das Rejlexivitätsaxiom, d. h. indifferente Beurteilung zweier Alternativen, die in allen Merkmalen übereinstimmen und das Stetigkeitsaxiom, d. h. es gibt keine Sprünge zwischen den zu bewertenden Optionen. Das Nichtsättigungsaxiom und das Axiom der strengen Konvexität, d. h. Geltung des Gesetzes durchgängig positiver aber abnehmender Grenznutzen bestimmen die inhaltliche Eigenschaften der Präferenzordnung. Entscheidend für das ökonomische Verhaltensmodell ist nun, daß Verhaltensänderungen nicht mit der Veränderungen der Präferenzen erklärt werden, sondern mit Veränderungen der Restriktionen, d. h. der Handlungsmöglichkeiten?5 Präferenzen werden in der Regel konstant gehalten. 76 Die Annahme von der Konstanz der konsistenten Präferenzordnung wurde und wird mit verschiedenen Argumenten verteidigt: es wird behauptet, daß Präferenzen und ihre Änderungen nicht beobachtbar und nicht meßbar seien. Durch den Rückgriff auf sich ändernde Präferenzen bestünde dann die Gefahr, die Theorie zu immunisieren, weil so ad-hoc jede Verhaltensänderung erklärt werden könnte. Sollte man darauf verweisen, daß sich die Präferenzen ja geändert haben müssen, weil sich das Verhalten geändert habe, würde man eine Verhaltensänderung lediglich zirkulär erkläwerden. Um dieser inneren Inkonsistenz aus dem Weg zu gehen, schlage ich "Nutzenmehrung" als oberstes Ziel vor. 72 Kirchgässner, G. (1991), S. 15. 73 Vgl. Elsner, W. (1986), S. 230. 74 Eine vollständige Formulierung der Axiome siehe z. B. Meyer, W. (1979), s. 276. 75 Vgl. Kirchgässner, G. (1991), S. 18. 76 Vgl. Stigler, G. J./G. S. Becker (1977).
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ren. Um ad-hoc und zirkuläre Erklärungen zu vermeiden, werden im ökonomischen Ansatz Verhaltensänderungen deshalb auf leichter beobachtbare Änderungen der Restriktionen, d. h. auf Veränderungen im Möglichkeitsraum, zurückgeführt.77 Diese können im Gegensatz zu Präferenzen empirisch erfaßt werden, wie z. B. die Veränderungen der Preise oder der Rückgang des Angebots. So gesehen reagieren Individuen auf Veränderungen des Handlungsraumes in systematischer Art und Weise und zwar entsprechend ihren Zielvorstellungen, d. h. ihren Präferenzen. Systematisch deshalb, weil im ökonomischen Erklärungsmodell von der zentralen Annahme ausgegangen wird, daß die Akteure rational handeln. Erst deswegen sind Prognosen von Verhaltensänderungen als Reaktionen auf Veränderungen des Handlungsspielraums möglich: "Alles intentionales menschliches Verhalten ist als präferenzgeleitetes, individuelles Anpassungsverhalten zu erklären."78 c) Zur Annahme der Konstanz der Präferenzen Inwieweit Präferenzen empirisch erlaßbar sind, ist allerdings ein Streitpunkt zwischen Ökonomen, Soziologen und Psychologen.79 Von soziologischer und psychologischer Seite wird darauf verwiesen, daß es sehr wohl gelingen kann, subjektive Zustände des Menschen zu messen. 80 Außerdem kommt man auch in der ökonomische Theorie nicht umhin, die Präferenzen in irgendeiner Form zu spezifizieren, denn schließlich muß man wissen, welche Präferenzen konstant gehalten werden. Sollte allerdings die Behauptung der Nichtbeobachtbarkeit von Präferenzen zutreffen, dann kann die Annahme über das Vorliegen bestimmter Präferenzen nicht nur sehr leicht falsch sein, sondern genauso nur eine ad-hoc Erklärung liefern. Offenbar kann sich die ökonomische Theorie durch den Verweis auf die Konstanz der Präferenzen nicht vor der Gefahr der Tautologisierung schützen. Diesem Dilemma könnte man nur dann entkommen, wenn man eine PräfeVgl. Fleischmann, G. (1988), S. 30 f. Kliemt, H. (1984), S. 17. 79 Tatsächlich wird auch in der Ökonomie versucht, Präferenzen für das Modell immer differenzierter zu erfassen, wie über den Ansatz der offenbarten Präferenzen (Revealed Preference Approach). Vgl. dazu Samuelson, P. A. (1953). 80 Vgl. für die Kritik an der insgesamt nach wie vor sehr zurückhaltenden Einstellung der Ökonomen Opp, K.-D. (1979c), und Mummert, U. (1996), S. 98 ff. Tietzel weist auch darauf hin, daß es nicht den Adäquatheitsansprüchen an wissenschaftlichen Erklärungen entspricht, wenn man die potentielle Erklärung durch eine Präferenzänderung als a priori falsch ausschließt. Siehe dazu Tietzel, M. (1988 b), S. 41. Tatsächlich muß die Behauptung der Konstanz von Präferenzen als eine empirisch überprüfbare Annahme verstanden werden, die wahr oder falsch sein kann, wie es Stigler und Becker auch an einer - aber eben nur einer - Stelle eingestehen. Siehe dazu Stigler, G. J./G. S. Becker (1977), S. 76. 77 78
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renztheorie entwickeln würde, die die Ableitung von Aussagen über das Vorliegen von Präferenzen aus einer informationshaltigen - quasi übergeordneten - Theorie erlauben würde.81 Damit könnte - natürlich abhängig vom Bewährungsgrad der Präferenztheorie - die Gefahr falscher und adhoc gewählter Präferenzannahmen verringert werden und die Tiefe von Verhaltenserklärungen zunehmen, weil nicht nur postuliert wird, daß bestimmte Präferenzen vorliegen, sondern auch warum dies der Fall ist. 82 Die Erweiterung des Modells um eine Theorie der Präferenzen ist aber leider dadurch erschwert- wenn nicht gar undurchführbar-, weil "wir über keine einheitliche, allgemeine, informationshaltige und bewährte Präferenztheorie"83 verfügen. Allerdings gilt selbst für den Fall, daß eine Präferenztheorie gefunden werden sollte und Bedürfnisse (Motive und Zielvorstellungen) in Form empirisch verallgemeinerter Hypothesen als "adäquate" Voraussetzungen in die Theorie eingespeist werden, die methodologische Forderung, daß Bestandteile des Explanans nicht rein additiv hinzugefügt werden dürfen, sondern systematisch miteinander verknüpft werden müssen. Es geht also darum, Restriktionen und die Präferenzen systematisch miteinander zu verbinden. 84 Im ökonomischen Ansatz wird dieser Forderung dadurch Rechnung getragen, daß man im ersten Schritt die Handlungsmöglichkeiten feststellt, die sich einem Akteur in der jeweiligen Situation offenbaren (dabei wird die Subjektivität der Wahrnehmung durchaus berücksichtigt) und daß man im zweiten Schritt die Alternativen in eine Werteordnung bringt. 85 Es wird Vgl. zu dieser Überlegung Wiswede, G. (1981), S. 83. In gewisser Weise kommt die Theorie der Eigentumsrechte oder auch Property Rights Theory dieser Vorstellung sehr nahe. Denn in ihr soll gezeigt werden, wie die Zuordnung von Verfügungsrechten - also Institutionen! - eine spezifische Struktur von Anreizen und damit Präferenzen für Handlungsträger impliziert. Siehe hierfür z.B. Furubotn E. G./S. Pejovich (1974), Schüller, A. (1983), und Alessi, L. de (1983). 83 Tietzel, M. (1988b), S. 64. Dort findet sich eine gute Darstellung der verschiedenen Ansätze für eine Theorie der Präferenzen. 84 Dieser Punkt ist insofern von Bedeutung, weil er zeigt, daß der generelle Aspekt der Situationsabhängigkeit des ökonomischen Erklärungsansatzes auch für die Präferenzen relevant ist. Diese Einschätzung teilt Frey, B. S. (1989), S. 90. Siehe auch S. 118 dieser Arbeit. 85 Aus der Kombination von Nutzen und der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Eintretens der Handlungsfolgen entwickelte sich die Theorie des erwarteten Nutzens. In ihr wird angenommen, daß die Individuen versuchen, den Nutzen, der durch die Wahl einer Handlung erwartet wird, zu maximieren. Das Streben nach individueller Nutzenmaximierung findet seine wahrscheinlichkeitstheoretische Behandlung bei Daniel Bernoulli und Bayes und seine vollständige Axiomatisierung durch Neumann J. v./0. Morgenstern (1944). Die heute populärste Interpretation folgt der Ausarbeitung von Savage, L. (1954), Kap. 3 und Kap. 4, der mit dem Begriff der subjektiven (personellen) Wahrscheinlichkeit arbeitet. Weitere klassische 8!
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dann angenommen, daß diejenige Handlung realisiert wird, die gemäß rationaler Präferenzen am meisten präferiert wird. 86 Dies setzt voraus, daß das Individuum überhaupt in der Lage ist, also die geistigen Fähigkeiten besitzt, die Alternativen nach ihrer relativen Vorteilhaftigkeit zu bewerten und daß die Präferenzordnung die auf der Seite 147 aufgeführten Axiome erfüllt. d) Eigeninteresse und Eigenständigkeil
Wenn ganz allgemein davon ausgegangen wird, daß Nutzenmehrung jenes Endziel ist, welches ein Akteur mit seiner Handlung erreichen will, so ist noch nichts darüber gesagt, wessen Nutzenmehrung für den Handelnden im Vordergrund steht. Im Modell des homo oeconomicus wird nun angenommen, daß der Akteur eigeninteressiert handelt. Handeln im Eigeninteresse bedeutet, daß das Individuum entsprechend seiner eigenen Präferenzen agiert. Häufig wird die Annahme des Eigeninteresses als diejenige motivationale Einstellung (Disposition) interpretiert, die im Gegensatz zu Altruismus, Solidarität usw. steht. Dieses Verständnis von Eigeninteresse deckt sich jedoch nicht mit dem hier verwendeten: Eigeninteresse bezieht sich auf das situationsabhängige Verhalten und nicht auf die (situationsunabhängige) Einstellung, nur persönliche Interessen gelten zu lassen (Egoismus).81 Auf diese Fehlinterpretation, daß Menschen angeblich nur aus egoistischen Motiven handeln, hat schon frühzeitig E. v. Böhm-Bawerk hingewiesen. Er betonte, daß nach der hedonistischen Philosophie der Wirtschaftsmensch "nicht bloß die egoistischen Interessen eines Subjektes, sondern alles, was diesem erstrebenswert erscheint, und zwar speziell nicht bloß die Wohlfahrt der eigenen Person, sondern auch die jener Personen, auf welche wir unsere wirtschaftliche Vorsorge dauernd oder gelegentlich ausdehnen"88, verfolgen würde. Im Prinzip wurde von E. v. Böhm-Bawerk ein Gedanke Adam Smiths aufgegriffen. Dieser ging von der Annahme aus, daß neben egoistischen Motiven auch Motive wie Streben nach Sympathie Darstellungen finden sich bei Luce, R. D./H. Raiffa (1957), Kap. 1-4 und bei Baumol, W. J. (1961), Kap. 17 und 18. Diese Theorie ist aber etwas anderes als ein ökonomisches Handlungsmodell, sie ist vielmehr die formale Theorie der Entscheidung. 86 Vgl. Kirchgässner, G. (1991), S. 14, Tietzel, M. (l981a), S. 121, Hirsh1eifer, J. (1985), Hartfiel, G. (1968), S. 52. 8? Vgl. Homann, K. (1988), S. ll5 ff. 88 Böhm-Bawerk, E. v. (1888), S. 234 ff. Deswegen stellt er auch eine wertfreie Nationalökonomie in den Vordergrund: "was die Leute lieben und hassen, anstreben oder abwehren [... ] das ist für den Nationalökonomen und die Theorie des wirtschaftlichen Güterverkehrs völlig gleichgültig. Wichtig ist nur, daß sie irgend etwas lieben und hassen [...]" ebd., S. 236.
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und sozialer Anerkennung das Handeln bedingen. Das Streben nach Sympathie erfolgte dabei stets im eigenen Interesse, nämlich in dem Interesse, soziale Anerkennung zu finden. 89 Das bedeutet, daß in Abhängigkeit von den Bedingungen der jeweiligen Situation auch die Interessen der anderen Individuen berücksichtigt werden können. Sie spielen aber nur insofern eine Rolle, als daß sie den Handlungsspielraum des Individuums beeinflussen.90 Eigeninteresse darf also nicht mit Eindimensionalität in den Motiven des Handelnden verwechselt und mit Egoismus gleichgesetzt werden.
e) Die Annahme der rationalen Handlung Wie wichtig der Aspekt der Situationsabhängigkeit für das Modell des homo oeconomicus ist, zeigt sich auch in der Annahme des rationalen Handelns. Ganz allgemein formuliert lautet sie: Ein Individuum, welches ein oder mehrere Ziele (Bedürfnisse, Präferenzen) verfolgt, wird in einer Problemsituation die sie bestimmenden Merkmale abschätzen und dann so handeln "wie es seinem Ziel oder seinen Zielen und seiner Einschätzung der Situation "angemessen" ist"91 Rationales Handeln ist also nicht das Ziel, sondern ein Mittel zur Zielerreichung und wird zuweilen auch als "vernünftige Verfolgung des Eigeninteresses" interpretiert.92 Das Rationalitätsprinzip enthält die Vermutung, daß "unter Abwesenheit psychischen und physischen ,Zwanges', leidenschaftlicher ,Affekte' und ,zufälliger' Trübungen der Klarheit des Urteils [Handlungen, T. S.] vollzogen [. . .)" werden und die Handelnden einen "klar bewußten ,Zweck' durch seine [. . .] adäquaten ,Mittel' verfolgen. " 93 Man könnte dies auch als grundlegendes Prinzip ökonomischer Theorien oder als "ökonomisches Prinzip" bzw. "Postulat 89 Vgl. Schlicht, E. (1984), S. 145 und S. 150 f., Elsner, W. (1986), S. 226. Insofern zeigt Smiths Ansatz eine Mehrdimensionalität menschlichen Handelns, nämlich eine emotive, d.h. das Streben nach sozialer Anerkennung und eine kognitive Dimension, d. h. das rein egoistische Motiv. Wie auf S. 50 f. dieser Arbeit gezeigt werden konnte, wirkt gerade das zweite Grundmotiv menschlicher Handlung dahingehend, daß ökonomisches Handeln im eigenen Interesse nicht von sich aus unsozial ist, sondern sowohl individuell als auch gesellschaftlich ökonomische und sozial nützliche Verhaltensweisen und Ergebnisse in einer Gesellschaft generieren kann. 90 Vgl. Kirchgässner, G. (1991), S. 17. 91 Watkins, J. W. N. (1978b), S. 35 (Hervorhebung im Original). Der Begriff ,angemessen' wird ausdrücklich im Sinne der Popperssehen Darstellung des Rationalitätsprinzips von 1967 (deutsche Fassung in Popper, K. R. (1995 a), S. 350 ff.) verwendet. Diese Interpretation des Rationalitätsprinzips als situationsgerechtes Handeln findet sich auch bei Tietzel, M. (1981 a), S. 134 und Kunz, V. (1997), s. 59. 92 Vgl. so bei Sen, A. K. (1988). 93 Weber, M. (1968), S. 226.
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C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip
der Rationalität" oder Rationalitätsprinzip bezeichnen.94 Dieser sehr allgemeine und einfache Rationalitätsbegriff liegt tatsächlich allen verschiedenen Ausgestaltungen des homo oeconomicus zugrunde. Zunächst tritt das Rationalitätsprinzip nur in der Formulierung als formale Rationalität auf. Damit ist keine Verhaltenshypothese impliziert, die bestimmt, nach welchem konkreten Maßstab eine Handlung ausgewählt wird. Die formale Rationalität besagt nur, daß eine Handlung logisch konsistent ist, d. h. der Logik der Situation entspricht. 95 Es wäre logisch inkonsistent, also irrational, ein Verhalten zu wählen, das wissentlich die Erreichung der eigenen Ziele nicht ermöglicht. 96 Für die logische Konsistenz einer Handlung ist es primär entscheidend, daß die Präferenzen, also das Wertesystem, widerspruchsfrei sind, d. h. daß die auf S. 147 beschriebenen Axiome erfüllt sind. In diesem Fall werden die Präferenzen als rational bezeichnet.97 Rationales Handeln kann nach diesem Verständnis von inhaltlich ganz unterschiedlich bestimmten Wertesystemen ausgehen. "Das Rationalitätsprinzip bezieht sich also nicht auf den substantiellen Gehalt des Handelns, ihm liegt kein besonderes Wertesystem zugrunde, sondern es bezieht sich lediglich auf die Form, in der der Aktor- nach Maßgabe seines individuellen Wertesystems - seine Wahl für eine der ihm möglichen Handlungen trifft. " 98 Als substantiell rational wird ein Handeln bezeichnet, welches den Anforderungen der formalen Rationalität genügt und auf ein inhaltlich bestimmtes Zielbündel ausgerichtet ist.99 Das können rein materielle Ziele, aber auch immaterielle sein. 100 Wenn man von maximierendem Verhalten ausgeht, dann wird durch das Hinzufügen jeweils verfolgter Ziele die Version formaler Rationalität in Form des ökonomischen Prinzips zu den substantiellen Konzepten des "Bedarfsdeckungsprinzips" und des "Erwerbsprinzips". 101 94 Vgl. Tietzel, M. (l981a), S. 119 sowie Albert, H. (1978), S. 13, Kirchgässner, G. (1991), S. 12, Wiswede, G. (1988), S. 517, Frey, B. S. (1980), Nida-Rümelein, J. (1994), s. 3 f. 95 Popper, K. R. (1958), S. 115. Auch für G. Hartfiel bedeutet die formale Rationalität zunächst nur, daß eine Aussage über den logischen Zusammenhang einer Handlung getroffen wird, nämlich die logische Konsistenz beliebiger Handlungen in bestimmten Situationen. Siehe Hartfiel, G. (1968), S. 52. 96 Sollte man eine Alternative ergreifen, weil man irrtümlich davon ausgeht, mit ihr wäre die Zielerreichung möglich, dann handelt man durchaus rational, aber nicht unbedingt erfolgreich. 97 Vgl. Hartfiel, G. (1968), S. 52. 98 Hartfiel, G. (1968), S. 52. 99 Vgl. Gäfgen, G. (1963), S. 27 ff. und S. 102 ff., Hartfiel, G. (1968), S. 60 ff. 100 Vgl. Kunz, V. (1997), S. 140. 101 Vgl. Albert, H. (1965).
II. Ökonomik und der homo oeconomicus
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Um feststellen zu können, ob eine Handlung logisch konsistent, also formal rational war, muß das Rationalitätsprinzip auf die spezifische Situation angewendet werden, in der sich der Handelnde befand. Man ersetzt in gewisser Weise die Aussagenvariablen des Konzepts mit den konkreten Elementen der Situation, d. h. mit den Inhalten des Wertesystems des Handelnden, mit den Handlungsmöglichkeiten und mit den anderen Restriktionen. Dadurch ist bei rationalem Handeln das resultierende Verhalten bestimmt. Mit anderen Worten: "Ob das Handeln eines Aktors, im handlungsanalytischen Modell wie auch in der sozialen Realität, nach dem Rationalprinzip im bisher definierten Sinne erfolgt, kann nur im Vergleich der Ausgangs,situation (a) mit der vom Aktor angestrebten und (b) mit der vom Aktor nach der Entscheidung für eine der ihm möglichen Handlungen oder Handlungsfolgen tatsächlich realisierten Endsituation festgestellt werden." 102 Die Heuristik des Rationalitätsprinzips lautet also: "Aufgrund der Kenntnis einer Situation und aufgrund von Vermutungen über die Ziele eines Aktors wird, gestützt auf das Rationalitätsprinzip, vorausgesagt, daß dieser in einer bestimmten Weise handeln wird." 103 Aber Rationalität ist deshalb auch im streng relativen Sinn zu verstehen, ob die Handlung nämlich gemäß der dem Akteur zur Verfügung stehenden Information über die Situation, die sowohl das spezielle Tatsachenwissen als auch nomologisches Wissen um allgemeine Gesetze (relevante Wirkungszusammenhänge, Theorien) enthält, geeignet ist, das angegebene Gesamtziel zu erreichen. 104 Die Rationalität der Handlungen ist deswegen jene Eigenschaft des homo oeconomicus, die sein Verhalten berechenbar oder prognostizierbar macht.
3. Die Methode der Situationsanalyse Das Rationalitätsprinzip weist damit zugleich auf die Methode der Sozialwissenschaften hin, die eigentlich jeder sozialwissenschaftliehen Theorie zugrunde liegt, auch wenn dies nur selten explizit formuliert wird. Diese Methode wird von Popper sogar ausdrücklich als "die Methode der ökonomischen Analyse" 105 bezeichnet: 106 die "Situationsanalyse'" 07 oder "Situa102 Hartfiel, G. (1968), S. 53. Hartfiel betont außerdem, daß es für diesen Vergleich notwendig ist, daß sich das Werte- und damit das Zielsystem des Aktors während der Handlung nicht ändert. 103 Tietzel, M. (1981 a), S. 129. 104 Vgl. Hempel, C. G. (1977), S. 192 f. tos Popper, K. R. (1958), S. 115. 106 Eine Diskussion dieser Methode und der darin zum Ausdruck kommenden Konzeption siehe Vanberg, V. (1975), S. 109 ff., Schmid, M. (1979a), ders. (l979b) und Hands, D. W. (1985). 101 Popper, K. R. (1973), S. 199.
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C. Ökonomik, Rationalität und Rationalitätsprinzip
tionslogik" 108. Sie ist "eine rein objektive Methode in den Sozialwissenschaften [... ], die man wohl als die objektiv-verstehende Methode oder als Situationslogik bezeichnen kann. [... ] Das objektive >Verstehen< besteht darin, daß wir sehen, daß die Handlung objektiv situationsgerecht war." 109 Die Objektivität der Methode wird nach Popper dadurch erreicht, daß die Erklärung nicht auf subjektive oder psychologische Elemente des Handeins zurückgreifen muß. Dies wird möglich, indem zunächst subjektive, psychologische Elemente in objektive Situationselemente verwandelt werden. Wünsche, die im Prinzip nicht intersubjektiv prüfbar sind, werden damit zu objektiven Zielen, Erinnerungen oder Assoziationen werden zu Theorien oder Informationen, mit denen der Handelnde in dieser bestimmten Situation ausgestattet ist. 110 Dadurch sollen die psychologischen Momente der Handlung nach Möglichkeit ausgeschaltet werden. In der Formulierung des Rationalitätsprinzips als Handeln, das der Situation angemessen ist, liegt im Wort "angemessen" allerdings die Gefahr, eine Handlung bewerten zu wollen. Man kann durchaus die Frage stellen, was angemessen überhaupt bedeutet und wer darüber zu entscheiden hat. Könnte es nicht sein, daß in einer bestimmten Situation S für die Person A die Handlungsalternative X und für Person B in der (scheinbar) objektiv gleichen Situation S dagegen die Handlung Y angemessen wäre. In einem solchen Fall ist es allerdings nicht die Aufgabe des Theoretikers, die Handlung von A oder B (oder gar von beiden) als falsch zu bewerten. Unsere Aufgabe ist es vielmehr zu verstehen, warum A und B nicht die gleiche Wahl getroffen haben!! Und eben diese Aufgabe läßt sich am besten mit Hilfe der Methode der Situationsanalyse bewältigen. Watkins hat dies so formuliert, "daß ein Rationalitätsprinzip wahrscheinlich durch konsequente Anwendung auf nicht konforme Fälle - auf Handlungen, die offenkundig erfolglos waren und mehr oder weniger irrational oder auch ausgesprochen verrückt erscheinen - heuristisch am fruchtbarsten genutzt wird. Je dunkler der Fall, desto mehr Licht kann dieses Prinzip hineinbringen." 111 Mit Hilfe der Methode der Situationslogik wird die Entscheidung selbst durch eine möglichst genaue Spezifikation der Elemente der Situation so objektiviert, daß ein Dritter die Entscheidung nachvollziehen, also verstehen kann. 112 Sollte uns dies im Fall der beiden Personen A und B gelingen, so könnte man zeigen, daß beide, obwohl sie nicht die gleiche Handlungsalternative ergriffen haben, rational gehandelt haben, weil jeder die Situation unterschiedlich eingeschätzt hatte. "Man muß, wie oft gesagt worden ist, 108 109 110
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Ders. (1984), S. 96, ders. (1965), S. 110. Popper, K. R. (1984), S. 96. Vgl. ebd. S. 96. Watkins, J. W. N. (l978b), S. 19 f. Vgl. Meier, A./K. Durrer (1992), S. 230.
II. Ökonomik und der homo oeconomicus
155
>nicht Cäsar sein, um Cäsar zu verstehenSicherheit< ist kein Maß des Glaubens - in einem direkten Sinne. Es ist vielmehr ein Maß des Glaubens relativ zu einer instabilen Situation" 169 • Damit wird uns zugleich der Weg aufgezeigt für eine alternative Interpretation der Wahrscheinlichkeit, als eine objektive, relative Wahrscheinlichkeit, die nicht induktivistischen Ursprungs ist. b) Eine objektive Interpretation der "Glaubwürdigkeit" von Institutionen: ein propensitätstheoretischer Ansatz
Das Ausmaß an Sicherheit, welches wir ja nun unzweifelhaft bei unseren alltäglichen Entscheidungen erwerben können, ist offensichtlich mit einer induktivistischen Wahrscheinlichkeitstheorie nicht darstellbar. Wenn uns das Beobachten von sich wiederholenden Erfahrungstatsachen dabei nicht hilft, was könnte uns dann mehr Sicherheit verschaffen, was könnte eine Institution und ihr Sanktionspotential glaubwürdig machen? Es ist so, daß wir Sicherheit im Alltagsverstand relativ leicht erreichen können und zwar analog der gleichen Methode, die wir auch bei der Frage um die Bevorzugung von Theorien verwenden: durch die strengen Prüfungen unserer Hypothesen! Es ist letztlich der Bewährungsgrad 110 unserer Vermutungen, der 165 Geue, H. (1997), S. 116. Siehe zur Subjektivität der Erwartungen vor allem Kapitel 3.2. Auch bei Schotter, A. (1981), S. 52 und S. 70 finden sich subjektivistische bzw. induktivistische Interpretationen. 166 Popper, K. R. (1934), Neuer Anhang Kapitel *XVIII, S. 444. 167 Popper, K. R. (1934), Neuer Anhang Kapitel *IX, S. 362. 168 Popper, K. R. (1934), Neuer Anhang Kapitel *IX, S. 361. Siehe dazu Popper, K. R. (1934), Kapitel X, insbesondere die Abschnitte 80-83, Abschnitt 34 und folgende, außerdem Neuer Anhang Kapitel *II und Kapitel *IX. 169 Popper, K. R. (1973), S. 94 (Hervorhebungen im Original).
V. Eine Institutionen-Theorie-Analogie
265
uns jene Sicherheit verleiht, auch in unsicheren Situationen unseres Alltagslebens, Entscheidungen zu treffen. 171 Natürlich werden wir uns im Alltagsleben es gar nicht leisten können, jede unserer Theorien ähnlich kritisch zu überprüfen, wie wir es in der Wissenschaft fordern. Deswegen werden wir vielfach nur aufgrund recht oberflächlicher Prüfungen handeln. Das ändert aber nichts daran, daß auch in unserem Alltagsleben der Bewährungsgrad sowohl von der Ernsthaftigkeit der Prüfung als auch von dem Grad, in welchem unsere Hypothese die Prüfungen bestanden hat, abhängt. Und wie mit dem Bewährungsgrad von Theorien ist es auch mit dem Bewährungsgrad von Institutionen: Wir schreiben "den ersten bewährenden Fällen meist eine weit größere Bedeutung zu als späteren. Ist die Theorie gut bewährt, so erhöhen die späteren Fälle ihren Bewährungswert nur noch wenig. Dies gilt aber nicht, wenn die "späteren" Fälle von den "früheren" sehr verschieden sind, d. h. wenn die Theorien sich auf einem neuen Anwendungsgebiet bewähren."172 Das heißt für das Problem der Glaubwürdigkeit von Institutionen folgendes: wir erzielen über die Wirksamkeit von Institutionen nicht darüber Sicherheit, daß wir Regelmäßigkeilen in der Vergangenheit beobachten und induktiv auf zukünftige Ereignisse schließen, sondern dadurch, daß wir mit Hilfe des nomologischen Kerns der Erwartungskomponente von Institutionen Prognosen über das Verhalten anderer Individuen in Bezug auf die uns interessierende Institution erstellen. Diese Prognosen können sich bewähren oder falsifiziert werden. Wenn sie sich bewähren, steigt der Bewährungsgrad unserer Institution, und es wäre durchaus vernünftig, sich dann auf diese Institution zu verlassen. So wie der pragmatische Glaube an die Ergebnisse der Wissenschaft nicht irrational ist, so ist auch der pragmatische Glaube an die Ergebnisse der Überprüfung von Institutionen im alltäglichen Leben nicht irrational, "[ ... ] denn es gibt nichts >Rationaleres< als die Methode der kritischen Diskussion [... ] Es wäre zwar unvernünftig, irgendeines ihrer Ergebnisse als sicher anzunehmen, aber es gibt nichts >Besseres< für das praktische Handeln: es gibt keine andere Methode, die als vernünftiger gelten könnte." 173 Wir sehen also, daß wir in einem "vernünftigen" Sinne davon sprechen können, daß wir uns auf etwas verlassen; oft sagen wir dann, "wir sind uns sicher". Aber es wird aus dem oben Gesagten klar, daß damit niemals so etwas wie absolute Verläßlichkeit gemeint sein kann, genauso wenig wie hinreichende Begründung. Für eine absolute Verläßlichkeit kann es keine Siehe hierzu Popper, K. R. (1934), Abschnitte 82-83, ders. (1994a), S. 84 ff. Vgl. Popper, K. R. (1973), S. 94 f. und S. 114. Sowie ders. (1934), Neuer Anhang Kapitel IX, S. 368, ders. (l994a), S. 84 f. 172 Popper, K. R. (1934), Abschnitt 83, S. 214 f. (Hervorhebungen im Original). 173 Popper, K. R. (1973), S. 39. 170
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F. Die Emergenz und Bewährung von Institutionen
guten Gründe geben - das ist das Rumesche Ergebnis. Aber selbst wenn wir im übertriebenen, falschen Maße an den Erfolg unserer Wissenschaft glauben, daß sie uns gute Gründe für unser Vertrauen auf Regelmäßigkeiten abgeben würde, so wie die Newtonsehe Physik als wahr angesehen worden ist, dann "lehrt uns die Kosmologie, wie unendlich unwahrscheinlich dieser Erfolg ist: die Welt ist nach den einschlägigen Theorien fast völlig leer, und der leere Raum ist mit chaotischer Strahlung gefüllt." 174 Sicherlich werden wir im Alltagsleben dennoch an einer Theorie, Hypothese festhalten, wenn sie "falsifiziert" worden ist, weil sie sich in anderen Bereichen gut bewährt hat. Das ist der instrumentelle bzw. technologische Charakter von Theorien. In der Wissenschaft suchen wir aber immer nach der Wahrheit, weswegen wir uns mit der instrumentellen Bedeutung von Hypothesen nie zufrieden geben können. Und letztlich profitiert natürlich auch unser Wissen, welches wir für unseren Alltag benötigen, von der Wahrheitssuche in den Wissenschaften. Nun können wir hinter der Behauptung, daß wir bei der Erklärung von Institutionen mit Hilfe der Erwartungs- und Sanktionskomponente wegen des Glaubwürdigkeitsproblems unweigerlich in einem unendlichen Regreß landen würden, einen gut versteckten induktivistischen Standpunkt erkennen: es ist die Vorstellung, wir würden nach so etwas wie sicheren oder hinreichenden Gründen für unser Vertrauen in Institutionen streben. Wir haben gesehen, daß dies einfach nicht der Fall ist. Wir denken weder induktiv, noch suchen wir eine induktive Stützung unseres Glaubens. Wir brauchen keine guten Gründe; was wir brauchen ist die Bewährung einer Institution. Der Vorwurf, daß wir in einem infiniten Regreß landen würden, greift hierbei aber nicht. 175 Die Vorstellung, daß wir uns auf den Bewährungsgrad einer Institution "verlassen", verbannt nicht jede Art von WahrscheinlichkeitskalküL Wie wir wissen, verwenden wir in deduktiv-statistischen Erklärungen - und damit in deduktiv-statistischen Prognosen bzw. Erwartungen - Wahrscheinlichkeiten. Es sind aber objektive und keine subjektiven Wahrscheinlichkeiten. Der Zusammenhang mit unserem Glaubwürdigkeitsproblem sieht folgendermaß~n aus. Haben wir es mit Aussagen der Form "Morgen wird es mit großer· Wahrscheinlichkeit oder mit einer Wahrscheinlichkeit von 70% regnen" oder "die Wahrscheinlichkeit, daß das regeldeviante Verhalten bestraft wird, liegt bei 70%" zu tun, dann sind diese Wahrscheinlichkeiten Ausdruck unseres Zweifels, unserer Unsicherheit darüber, ob es morgen regnen bzw. ob die Sanktionierung erfolgen wird. Diese Art von WahrPopper, K. R. (1973), S. 35. Siehe dazu auch Kapitel B.III.3, in welchem gezeigt wurde, daß der Vorwurf des Münchhausen Trilemmas mit seinem unendlichen Regreß auf die Feststellung eines Basissatzes und damit auf die Frage nach der Bewährung nicht zutrifft. 174 175
V. Eine Institutionen-Theorie-Analogie
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scheinlichkeiten beziehen sich auf die Geltung der Aussage "Morgen regnet es" bzw. "die Sanktionierung erfolgt". Diese Wahrscheinlichkeitskalküle sind Wahrscheinlichkeiten im subjektiven Sinn. In diesem Fall sprechen wir von Hypothesenwahrscheinlichkeit oder Aussagenwahrscheinlichkeit. 176 Aussagen dieser Form lassen sich nicht widerlegen, sie können sich deshalb auch nicht bewähren. Denn wenn es morgen nicht regnen sollte, dann hat es eben an den 30% gelegen! Mit solchen Aussagen können wir letztlich nichts anfangen, weder aus wissenschaftlicher Sicht noch aus pragmatischer! Aber diese Schwierigkeiten verschwinden, wenn unsere Wahrscheinlichkeiten objektiver Natur sind. Dann erhalten wir Aussagen, die falsifiziert werden können, weil sie etwas über eine Ereignisfolge aussagen, deswegen spricht man von Wahrscheinlichkeitsaussagen. Objektive Wahrscheinlichkeiten sind statistische Interpretationen (relative Häufigkeiten) oder die sogenannte Propensitäts-Interpretation, wonach die Wahrscheinlichkeit als Maß der Verwirklichungstendenz zu verstehen ist. 177 Wir können dann sagen, daß "die Wahrscheinlichkeit eines verregneten Sonntags im Juni in Brighton gleich 1/s ist, wenn - und nur dann, wenn - man über viele Jahre hinweg festgestellt hat, daß durchschnittlich an einem von fünf Sonntagen im Juni Regen fallt." 178 Ein anderes Beispiel wäre die Aussage, bei einem (nicht gezinkten) Würfel sei die Wahrscheinlichkeit 1/6, daß der nächste Wurf eine sechs sei. Das ist die statistische Interpretation der Wahrscheinlichkeit. Sie basiert - das ist entscheidend - nicht auf einem induktiven Schluß, was man ja annehmen könnte, weil vermeintlich aus den Wiederholungen in der Vergangenheit, die groß genug sein müssen (Anforderung der statistischen Methode), mittels der Extrapolation auf die Zukunft geschlossen wird. Es ist vielmehr so, daß eine statistische Extrapolation immer die Hypothese enthält, daß die Häufigkeitsverhältnisse eine gewisse Konstanz aufweisen, sich also nicht verändern. Die Hypothese von der Konstanz der Situation ist die Voraussetzung, daß wir überhaupt extrapolieren können. Diese Hypothese läßt sich nicht verifizieren und ist auch logisch nicht zu rechtfertigen (was ja die Induktivisten versuchen würden). 179 Wir können die objektiven Wahrscheinlichkeiten als Chancen, daß ein bestimmtes Ereignis eintritt, verstehen. Sie sind dann immer als "hypothetische Beurteilungen der objektiven Möglichkeiten, die der jeweiligen Situation inhärent sind - die in den objektiven Umständen liegen, z. B. in der Versuchsanordnung" 180 - zu verstehen. Die Wahrscheinlichkeiten sind mit Vgl. Popper, K. R. (1934), Abschnitt 80. Vgl. Popper, K. R. (1995b), S. 28, ders. (1934), z.B. Neuer Anhang, Kapitel *IX, S. 362. 178 Popper, K. R. (1995b), S. 26. 179 Vgl. Popper, K. R. (1934), Abschnitt 57, S. 126 f. 176 177
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F. Die Emergenz und Bewährung von Institutionen
unserer Vorstellung vom Vermutungscharakter unseres Wissens voll vereinbar, und die Sätze, die sie enthalten, sind empirisch überprütbar. Der obigen Vorstellung von objektiven Möglichkeiten kann die statistische Interpretation der Wahrscheinlichkeit als Häufigkeitsverteilung nur bedingt entsprechen. Ein Hauptproblem der Wahrscheinlichkeit als Häufigkeitsverteilung liegt darin, daß sie, wie gesagt, nur für eine Ereignisfolge eine Aussage treffen kann. Wir können zwar Aussagen über die Wahrscheinlichkeit eines Einzelereignisses als die Abkürzung einer komplexen Aussage über eine Ereignisfolge verstehen, aber das wirft für eine Entscheidung über einen Einzelfall, wie u. a. J. W. N. Watkins (1978 b) gezeigt hat, erhebliche Probleme auf. 181 Wenn z. B. in einer langen Reihe von Würfen mit einem gezinkten Würfel die sechs mit einer Häufigkeit von 1/4 auftritt, wir aber zwei Würfe mit ungezinkten Würfeln einstreuen würden, dann müßte nach der Häufigkeitsinterpretation die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer sechs auch für diese beiden Würfe 1/4 und nicht 116 betragen, weil es noch gar keine genügend lange Folge für diesen Würfel gibt, mit der die relative Häufigkeit von 116 ermittelt werden kann. Mit zwei Würfen ist das nämlich nicht möglich. Diese Probleme lassen sich allerdings lösen, wenn man die propensitätstheoretische Interpretation der Wahrscheinlichkeit verwendet. Die Propensitäts-Interpretation läßt sich m. E. auch hervorragend mit dem situationslogischen Ansatz in den Sozialwissenschaften verbinden, weil die Propensitäten, also die Tendenzen sich zu verwirklichen, Eigenschaften sind, die nicht einem Objekt (z. B. dem Würfel), sondern der Situation innewohnen, zu der natürlich das Objekt zählt. 182 Diese objektive Form der Wahrscheinlichkeit ist eine bedingte, eine relative Wahrscheinlichkeit, und zwar "[d]ie Wahrscheinlichkeit p eines Ereignisses a in einer Situation b (oder unter den gegeben Bedingungen b) [ ... ]." 183 Für eine Würfelfolge sind die konstanten Aspekte der Situation dafür verantwortlich, daß wir von einer Tendenz oder Propensität einer Reihe von Würfen sprechen können. Diese Interpretation hat zwei Vorteile: erstens können in der Wahrscheinlichkeitstheorie auch gewichtete, d. h. nicht gleichwahrscheinliche MöglichPopper, K. R. (1934), Neuer Anhang, Kapitel *IX, S. 369. Siehe dazu Watkins, J. W. N (1978b), S. 56 f. und S. 140 und Shackle, G. L. S. (1955), Kapitel 1. Denn es wird gefordert, daß die einmalige Chance so bewertet werden sollte, als wenn sie wiederholbar sei. Man müßte dann z. B. eine halbe Chance auf einen Gewinn von DM 100 als die Chance auf einen Gewinn von 50 DM bei einem Einsatz von DM 100 für die mehrmalige Ziehung eines Loses in einer Lotterie sehen. Aber wie soll man sich dies vorstellen, wenn die Chance tatsächlich nur einmalig ist. Schon das erste Los könnte ja eine Niete sein! 182 Siehe Popper, K. R. (1995b), S. 31. 183 Popper, K. R. (1995b), S. 35. 180
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V. Eine Institutionen-Theorie-Analogie
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keiten (z. B. die Möglichkeiten bei einer Folge von Würfen mit einem gezinkten Würfel) erfaßt werden. Zweitens können wir die Tendenz nach der statistischen Methode der relativen Häufigkeit messen und zugleich die Propensität als eine Möglichkeit, als eine Disposition, die jedem einzelnen Wurf, jeder einzelnen Möglichkeit innewohnt, verstehen! 184 Deswegen können wir selbst für Situationen, die sich nicht wiederholen und in denen die Propensität folglich nicht gemessen werden kann, annehmen, daß gewisse Propensitäten existiert haben (z. B. für die Tendenz unserer evolutionären Vorläufer, Menschen oder Schimpansen hervorzubringen). Die propensitätstheoretische Interpretation wollen wir nun auf die Wahrscheinlichkeiten in bezug auf das Eintreten einer regelkonformen oder sanktionierenden Handlung als Reaktion auf eine Regelwidrigkeit übertragen: Wir beschreiben die uns interessierende Handlungssituation mit den physikalischen (die wir in der Regel vernachlässigen bzw. als Hintergrundwissen implizit annehmen können) und den sozialen Aspekten. Dann werden wir andere Handlungssituationen mit dieser Referenzsituation vergleichen, um festzustellen, ob die Situationsbedingungen konstant geblieben sind. 185 Bei Übereinstimmung der Situationselemente können wir dann behaupten, daß sich jede vergleichbare Handlung in dieser adäquaten Situation mit einer bestimmten Propensität bzw. Tendenz verwirklichen wird (so wie bei einem Wurf mit einem gezinkten oder einem normalen Würfel). Als Maß für diese Tendenz kann auf die relative Häufigkeit zurückgegriffen werden, d. h. die relative Häufigkeit des Auftretens regelkonformen Verhaltens in einer Folge von Handlungen in der institutionenbestimmten Situation. Damit erhalten wir eine Wahrscheinlichkeitsaussage über regelkonformes Verhalten bzw. über Sanktionshandlungen, die hypothetischen und nicht induktivistischen Charakters ist und sich deshalb bewähren kann. Entsprechend des Bewährungsgrades dieser Wahrscheinlichkeitsaussage können wir dann eine qualifizierte bzw. praktische Sicherheit darüber erlangen, daß die Institution wirksam ist. Wir können somit sagen, daß, wenn wir von Wahrscheinlichkeitsaussagen in Bezug auf menschliche Handlungen sprechen, an die Stelle des Rationalitätsprinzips eine Wahrscheinlichkeitshypothese folgender Art tritt: Menschen haben die Neigung p in einer Situation b die Handlung a auszuführen. Wir sehen, daß diese Interpretation kein subjektives Maß für das Dafürhalten benötigt. Sie geht wie die statistische Wahrscheinlichkeit von Popper, K. R. (1995b), S. 26. Natürlich ist die Feststellung der Konstanz der sozialen Bedingungen auf den ersten Blick weitaus schwieriger als die von z. B. recht einfach strukturierten physikalischen wie bei einer Wurffolge mit Würfeln. Allerdings dürfen wir uns nicht von der oberflächlichen Einfachheit täuschen lassen. Unter physikalischen Gesichtspunkten ist die Struktur dieser Situation sicherlich kaum weniger komplex. 184
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der Annahme der Konstanz der Situationsbedingungen aus, ist aber im Gegensatz dazu auf Einzelereignisse anwendbar, weil diese Form der Wahrscheinlichkeitsaussage die (abgekürzte) "Version einer Aussage über einen realen, wenn auch dispositionalen Tatbestand, nämlich die Struktur eines bestimmten Arrangements und seine Gewichtung alternativer Möglichkeiten"186 ist. Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß es für das Vertrauen in Institutionen keinerlei subjektiver Grade des Dafürhaltens, die sich in subjektiven Wahrscheinlichkeiten niederschlagen, bedarf. Die Vorstellung von einer subjektiven Wahrscheinlichkeit und die Behauptung, daß wir keine hinreichenden Gründe für das Vertrauen in Institutionen erlangen können und deshalb mit der Erklärung von Institutionen mit Hilfe einer Theorie rationalen Handeins scheitern müßten, haben sich als Ansichten unhaltbarer induktivistischer Standpunkte erwiesen. Ihren Ursprung verdanken diese Ansichten dem hartnäckigen Festhalten an der Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes. In den obigen Abschnitten haben wir diese Standpunkte auf das ausführlichste kritisiert und versucht, ihre erkenntnistheoretische Falschheit (und Unmöglichkeit) zu zeigen. 187 Die Ergebnisse unserer Überlegungen legen vielmehr einige Analogien zwischen Theorien und Institutionen in Hinblick auf die Methode des kritischen Rationalismus nahe: Institutionen dienen wie Theorien als Wegweiser in einer chaotischen Welt. Sie besitzen einen nomologischen Kern, womit ihr Anwendungsbereich auf eine große Klasse von Ereignissen möglich wird. Mit Hilfe von Institutionen und den jeweiligen Situationsbedingungen - die den Anfangs- und Randbedingungen einer wissenschaftlichen Erklärung entsprechen - sind wir in der Lage, Prognosen über das Verhalten von Menschen zu erstellen (Erwartungskomponente). Natürlich können wir keine absolute Gewißheit über die Richtigkeit unserer Prognosen erlangen. So wie für Theorien gilt auch für die Erwartungskomponente von Institutionen, daß sie hypothetischen Charakters ist. Aber wir können für Theorien aus pragmatischer Sicht Sicherheit gewinnen und zwar in Abhängigkeit vom Bewährungsgrad der Theorien, was im Grunde genommen auf den Bewährungsgrad des nomologischen Kerns der Erwartungskomponente hinausläuft.
Watkins, J. W. N. (1978b), S. 140. Dies ist auf den Seiten 241 ff. und S. 244 in dieser Arbeit dargelegt worden. "Echte Induktion gibt es nicht. Was wie Induktion aussieht, ist hypothetisches Denken, gut geprüftes und bewährtes, das mit der Vernunft und dem Alltagsverstand in Einklang steht." Popper, K. R. (1973), S. 114. 186
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3. Dogmatisches Denken und die Involution von Institutionen Die Analogien zwischen Theorien und Institutionen sind damit noch nicht erschöpft. Es ist ein unbestreitbares Phänomen, daß nicht alle Institutionen als effizient im Sinne von als den Umweltbedingungen bzw. den Bedingungen der Gesellschaft angepaßt gelten können. Auf den Zustand der institutionellen Ineffizienz trifft wohl kein Wort besser zu als jenes, welches in den letzten Jahren unsere politische Landschaft geprägt hat: Reformstau. Dieses Phänomen ist uns ja schon durch die Ausführungen in Kapitel A.VI.7.c) über die Dichotomie (Hemmnis) näher gebracht worden. Meines Erachtens ist es auch möglich, den hemmenden Charakter von Institutionen mit den erkenntnistheoretischen Ausführungen dieses Kapitels in Verbindung zu bringen. Wir hatten gesehen, daß Institutionen die wichtige Funktion, Wegweiser in einer chaotischen Welt zu sein, erfüllen. Aus der Furcht vor Unregelmäßigkeiten entwickelt sich für die Individuen das Bedürfnis, an bestehenden Institutionen festzuhalten. Dieses Bedürfnis ist aber zugleich Ursache dafür, daß es den Individuen durchaus schwer fallen kann, von bestehenden Institutionen Abstand zu nehmen und sich auf neue Institutionen einzustellen. 188 Was Institutionen angeht, verhalten sich Menschen nicht grundsätzlich anders als viele Wissenschaftler hinsichtlich ihrer Theorien: sie versuchen ihre Institutionen zu immunisieren, kapsein sie gegen Kritik und Widerlegungen ab; m. a. W. die Individuen verhalten sich dogmatisch. 189 Dieses dogmatische Verhalten wird um so ausgeprägter sein, je besser sich die Institution in der Vergangenheit bewährt hat, je stärker sich die Menschen also auf diese Institution haben "verlassen" können. Dann werden Menschen Institutionen nicht gleich aufgeben, selbst wenn sie das eine oder andere Mal die Erfahrung gemacht haben, daß ihre mit den Institutionen verbundenen Erwartungen falsch gewesen sind. Wir sehen also, daß das Chaos in der Umwelt uns dazu verleitet, Institutionen anzunehmen, aber auch möglicherweise zu lange an ihnen festzuhalten. Nun wissen wir aber auch, daß dogmatisches Festhalten an Theorien für den Fortschritt der Wissenschaft notwendig ist. Er darf nur nicht zur Immu188 Im Extremfall kann das auch dazu führen, daß Personen einmal erlernte Muster nicht mehr ablegen wollen, z. B. Mythen, Riten etc. Dies ist insbesondere bei primitiven Gesellschaften und bei IGndern, die offene kritische Auseinandersetzungen noch nicht kennen, häufig anzutreffen. Aber auch Neurosen lassen sich als einmal angeeignete Schemata von Erwartungen verstehen, an denen dogmatisch festgehalten wird. Siehe dazu Popper, K. R. (1994 a), S. 70 f. 189 Siehe dazu ausführlich Kapitel B.IV dieser Arbeit über die Gefahr der Immunisierung von Theorien.
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F. Die Emergenz und Bewährung von Institutionen
nisierung führen. Ähnliches läßt sich auch über das Verhältnis von Institutionen und dogmatischem Festhalten sagen. Denn auch hier führt das Versagen einer "institutionellen" Prognose dazu, daß zunächst einmal der Grund für das Versagen der Erwartung erforscht werden sollte. Man wird dann vielleicht feststellen, daß eine Institution nach wie vor ihren Zweck erfüllt, aber die Anwendungsbedingungen nicht mehr diejenigen sind, für die die Institution eigentlich konzipiert gewesen ist. So können wir feststellen, wie eine Institution zu verbessern sei. Die Diskrepanz zwischen den Umweltbedingungen und dem, was die Institution noch zu leisten imstande ist, ist dann wie bei Theorien Anlaß für eine Neuerung. Mit der obigen Darstellung wird also alles andere als eine system-funktionalistische Perspektive von Regeln und Institutionen vertreten. Es geht nicht darum, Institutionen eine inhärente Effizienz zuzusprechen. Der Funktionsverlust einer Institution ist in der Regel die unbeabsichtigte Folge individueller Handlungen. Das entspricht der Tatsache, daß sich die Elemente der Welt 3 ihren eigenen Selbständigkeitsbereich schaffen. "In other words, institutional knowledge may be durable, but this may create problems. Even though an institution may succesfully represent social knowledge that is true for one period of time, its durability may extend to a period for which it is false. Thus, since institutional knowledge is durable, it is likely to be false. Moreover, the existence of false institutional knowledge is a reason for change, and, because change takes time, false knowledge is a continuing reason why the success assumption of neoclassical explanations is often unrealistic." 190 Der institutionelle Wandel ist aber keine Selbstverständlichkeit. Die vergangenheitsorientierte Anpassung von Institutionen einerseits und die zukunftsgerichtete Wirkung der Erwartungen andererseits können zu Spannungen führen. Institutionen sind eben nicht an die Erfordernisse der Gegenwart optimal angepaßt, weswegen Elsner auch von einem "time-lag" zwischen Anforderungen und Leistungen von Institutionen spricht. 191 Häufig existieren Institutionen aber sehr lange weiter, selbst wenn sie ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr oder im Extremfall schon lange nicht mehr erfüllen. Das nennt Popper die "Ambivalenz" gesellschaftlicher Institutionen.192 Das liegt daran, daß Institutionen nur durch Individuen kontrolBoland, L. A. (1979), S. 965 f. Vgl. Elsner, W. (1989), S. 210. Schon Veblen hat auf den vergangenheitsorientierten Charakter von Institutionen und ihre suboptimale Anpassung an die Anforderungen der Gegenwart hingewiesen. Vgl. Fehl, U./C. Sehreiter (1996), S.I86. Andererseits leisten Institutionen dadurch eine Art ,Zeitverbindung': "It is through institutions that the present and future are bound up with the past." O'Driscoll, J. P., Jr. (1994), S. 130. 192 Siehe Popper, K. R. (1994a), S. 194. 190 191
V. Eine Institutionen-Theorie-Analogie
273
liert, d. h. durchgesetzt werden können. Deswegen gilt: "Ob und wie sie ihren Zweck erfüllen, hängt bei Institutionen wie bei Festungen letzten Endes von den Personen ab, mit denen sie besetzt sind;" 193 Dieses Phänomen ist von den Anhängern des Alten InstitutionaUsmus auch "ceremonial encapsulation" genannt worden. 194 Die Hemmnisse, die für den gesellschaftlichen Wandel durch das Festhalten an Institutionen entstehen können, verdeutlichte Bush anband dreier Typen von Institutionen: dem ",past-binding' type", dem ,"future-binding' type" und dem ,"Lysenko' type". 195 Das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft, Institutionen und Immunisierungsstrategien zeigt sich am deutlichsten beim sogenannten ",Lysenko' type". Seinen Namen verdankt dieser Institutionentyp dem russischen Biologen Trofim D. Lysenko, der zu Zeiten Stalins in den 30er Jahren eine Evolutionsbiologie vertrat, die ganz im Zeichen des Lamarckismus stand. 196 Für die Anhänger des Stalinismus war dies die einzige Theorie der Genetik, die als wissenschaftliche Grundlage mit den radikalen politischen Vorstellungen vereinbar waren. Denn wenn Einwirkungen von außen im genetischen Erbmaterial aufgenommen würden, dann bedarf es nur einer planenden Hand, um die Menschen, die Natur und damit die Gesellschaft an ein gewünschtes Gesamtziel heranzuführen. 197 Diese schon durch Darwin widerlegte Theorie stieß natürlich auf massive Kritik. Allerdings wurde mit den Kritikern recht erbarmungslos umgegangen: sie wurden verhaftet, ihrer Ämter enthoben, als Systemfeinde verurteilt und an den Pranger gestellt. Das ist sicherlich die radikalste Form von Immunisierungsstrategien, die man sich vorstellen kann. Jedenfalls spiegelt der Lysenko type einer Institution die radikalste Form dogmatischer Haltung wieder, die man sich vorstellen kann. Jede Form einer gesellschaftlichen Entwicklung, die diese Richtung annimmt, können wir als Involution bezeichnen. 198 Sie ist für alle diktatorischen Länder ty193 Ebd., S. 195. Siehe auch Olson, M. (1982). Er beschreibt die hemmende Funktion der institutionellen Sphäre, die zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erstarrung führt und damit die Wende in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung einleitet. Olson erklärt aber nur die negative Entwicklung, der positive Beitrag von Institutionen auf lange Frist wird vernachlässigt. 194 Vgl. Bush, P. D. (1986), ders. (1987) und Junker, L. J. (1982). 195 Bush, P. D. (1987), S. 1094. 196 Vgl. dafür Reuter, N. (1994a), S. 264 ff. 197 Die Umsetzung dieser Theorie in der Landwirtschaft war einer der Gründe für die katastrophalen Ernteergebnisse in Rußland und beherrschte die Agrarwissenschaft für über dreißig Jahre. Siehe dazu Bush, P. D. (1987), S. 1098 f. 198 Der Begriff der Involution geht bis auf Leibniz zurück. Er verstand den Tod als die Rückentwicklung des Organismus bis zu jener winzigen Größe, aus der er einst entstanden war. Immanuel Kant kritisierte diese Idee, die sogar in der naturwissenschaftlichen Forschung des 17. Jahrhunderts Niederschlag fand, als metaphysisch und bezeichnete sie als die Lehre von der individuellen Präformation. Ohne 18 Schaffer
274
F. Die Emergenz und Bewährung von Institutionen
pisch und das Kennzeichen von geschlossenen Gesellschaften, denen von einer politischen Elite zusammen mit einer wissenschaftlichen Elite eine geschlossene Ideologie, die jegliche Form von kritischer Auseinandersetzung verbietet, aufoktroyiert wird. Der konstruktivistische Sozialismus, der das Paradebeispiel für den Lysenko type einer Institution ist und der sich letzten Endes der uns bekannten Begründungsphilosophie bedient, führt zu dem Modell "certistic-constructivistic-man"199. Dies wurde von F. A. v. Hayek auch "scientism and constructivism" und später "The Fatal Conceit" genannt:200 Der konstruktivistische Sozialismus beruht nämlich auf der irrigen Vorstellung, daß eine Elite Zugang zu den Wissensquellen besitzt, die die absolute Wahrheit enthalten. Die Kenntnis der absoluten Wahrheit rechtfertigt bzw. begründet die wissenschaftlichen und damit zwangsläufig auch die politischen Positionen der Herrschaftselite. In ihrem Glauben, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, wird sich die Elite vor der Anzweifelung ihres Wissensmonopols durch Dogmatisierung, Immunisierung und Protektion schützen. Ein solcher Typus war schließlich auch das nationalsozialistische Deutschland mit seiner "wissenschaftlich" gestützten Rassenideologie. Veblen bezeichnete diesen Typus als "[ ... ] triumph of imbecile institutions over life and culture [... ]."201 Es darf deshalb wenig verwundern, wenn Popper sich intensiv mit diesen Gefahren in seinem zweibändigen Werk "Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde"202 auseinandergesetzt hat, um all jene politischen und philosophischen Strömungen von der griechischen Antike bis zur Neuzeit auf ihren dogmatischen und freiheitsberaubenden Charakter zu untersuchen. Es ist bezeichnend, daß er die ersten Angriffe auf die offene Gesellschaft schon bei Platon findet und seinen zweiten Band über Hegel und Marx mit "Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen" betitelt. die metaphysischen Konsequenzen fand die Idee der Involution in der Medizin und in der Biologie etwa 100 Jahre später wieder Eingang und zwar als Rückbildung von menschlichen Organen im Alter. Und in der Biologie verstand bzw. versteht man noch heute Involution als Rückentwicklung in Form von Degeneration, d. h. als die Reduzierung der Fortpflanzungsfähigkeit Allerdings machte Konrad Lorenz (1974), S. 292, darauf aufmerksam, daß der Involutionsbegriff mit Vorsicht zu genießen sei, denn nicht jede Rückentwicklung ist mit Degeneration im negativen Sinn gleichzusetzen. Manchmal ist sie auch die extreme Anpassung an die Umweltbedin~ung, so wie bei Parasiten oder Haustieren, denen der Mensch den Kampf ums Uberleben abgenommen hat, so daß sie sich nur noch um die Aufnahme des vorbereiteten Essens und um die Fortpflanzung kümmern müßten. Darin sind sie allerdings extrem tüchtig. Für Lorenz sind solche Involutionstendenzen das wirklich Böse und leider auch in der menschlichen Kultur festzustellen. 199 Radnitzky, G. (1991), S. 152. 200 Siehe Hayek, F. A.v. (1952b) und ders. (1988). 201 Veblen, T. (1914), S. 25. 202 Siehe Popper, K. R. (1957) und (1958).
Anhang
Armen Alchian, Kenneth Arrow, James M. Buchanan, Ronald Coase, Harold Demsetz, Douglass North, Oliver E. Williamson, Teilweise alter lnstitutionalismus (Commons), Neoklassik (Pigou, Menger) Versteht sich als Verallgemeinerung der neoklassisehen Theorie. Dennoch Kritik an der Neoklassik, analog der des Alten Institutionalismus
Robert Heilbronner, Warren J. Samuels (general), Daniel Fusfeld, Howard Shermann (radical)
Alten lnstitutionalismus, Neo-Institutionalismus Neoklassik Generals verstehen sich nur beschränkt als Konkurrenz zur Neoklassik. Radicals üben scharfe Kritik an der Neoklassik
Alten lnstitutionalismus
Steht ausdrücklich im Gegensatz zur Neoklassik; Kritik entspricht der des Alten Institutionalismus; fordert Erweiterung des Erkenntnisgegenstandes
dt. Historische Schule (Schmoller, Sombart, Diehl, Wagner)
Steht ausdrücklich im Gegensatz zur Neoklassik; Kritik am hohen Abstraktionsgrad; Kritik am statisehen Preismodell der klassischen Mikrotheorie
Anknüpfend an ...
Verhältnis zur Neoklassik
oder ("General, radical und applied institutionalists"4 )
oder ("neo-institutional economics" bzw. "neo-institutionalism"3 ) Kenneth Galbraith, K. W. Kapp, Adolph Lowe, Gunnar Myrdal, Fran~ois Perroux, Paul D. Bush, J. F. Foster
oder Neuer Institutionalismus ("new institutionalism")5
Heterodoxer lnstitutionalismus
Neo-lnstitutionalismus .,Nachkriegs· Institutionalismus"
Neue lnstitutioneniikonomik
Thorstein B. Veblen ( 18571929), John R. Commons (1862-1945), Wesley Mitchell (1874-1948), Clarence E. Ayres (1891-1972)
Alter lnstitutionalismus ,. Vorkriegslnstitutionalismus"2
lnstitutionalismus 1
Hauptvertreter
Epochen des Institutionalismus
lnstitutionalismus und Neue Institutionenökonomik im Überblick
Tabelle A 1
OQ
> g. §
N -..1
0\
Journal of Economic lssues; Gruchy, A. G. (1972).
Journal of Econornic Issues
Zeitschriften/ Bücher
»lnstitutions are rules, enforcement characteristics of rules, and norms of behavior that structure repeated human interaction« (North). Betont tauschorientierte Konzipierung von lnstitutionen, d. h. individualistisehe Erklärung sozialer Institutionen und rationaleigennütziges Handeln der Individuen. Marktbestimmte Effizienzargumente schließen nicht-marktrationale Wertgesichtspunkte aus. Marktzentrierte ökonomisehe Analyse wird auf Politik, Verfassung etc. ausgedehnt.
Journal of lnstitutional and Theoretical Economics
Generals sind eher skeptisch gegenüber staatlicher Planung, betonen Bedeutung der institutionellen Forschungsmethode. Radica/s wollen anstelle einer institutionellen Reform oder Evolution eine Revolution des kapitalistischen Systems. Applied: lediglich die Forschungsmethode ist institutionalistisch, fordern aktive Wettbewerbspolitik und staatliche Aktivitäten zu Gunsten kleiner Unternehmen.
Review of lnstitutional Thought; Journal of Economic lssues; Review of Radical Political Economics; Dugger, W. M. (1989).
Quellen: Seifert, E. K./B. P. Priddat (1995), S. 26 f. und Reuter, N. (1994b), S. 5 ff.
Analyse des Marktes sowie anderer lnsti tutionen (Verfügungs- und Eigentumsrechte, Gewohnheiten, psychologische Faktoren); keine ausschließliche Konzentration auf Marktwirtschaft; Suche nach Lösungen für gemischte Wirtschaft. Technischer Fortschritt als wichtige Variable für ökonomischen und sozialen Wandel. Auch nichtmarktrationale Werte (Gerechtigkeit etc.) sind relevant, wodurch Staatseingriffe notwendig werden. Bestimmte Theorieelemente des Alten Institutionalismus wurden fallengelassen, insbes. die Instinktpsychologie Veblens. Große Nähe zum Post-Keynesianismus (Joan Robinson, Nicholas Kaldor, Michael Kalecki, Piero Sraffa).
Beschreibende Abbildung von Institutionen (institutions are »the habits of thought which prevail in a given period« (Mitchell) or >>collective action in control of individual action
278
Anhang Tabelle A 2
Arten der Ordnung Organisationen (mit konkreten Regeln)
Komplexitätsgrad
einfach
Anzahl der Ziele
Ein Ziel (bündel)
-- ---
Entstehung bewußt Struktur/ Charakter
(große) spontane OrganisaOrdnunl tionen (basierenauch auf abstrakten Regeln)
direktiv
~ geplant
spontan
direktiv und nicht zum Teil abstrakt abstrakt
Abstrakte Ordnung
Spontane und abstrakte Ordnung (basiert auf Evolution abstrakter Regeln)
hoch
l
~~ GesellschaftSmitglieder
geplant
spontan
abstrakt= spontan
abstrakt= spontan
1 Die Unterscheidung in Neo-Institutionalismus und heterodoxen Institutionalismus ist letztlich auf Allan G. Gruchy zurückzuführen, siehe dazu Gruchy, A. G. (1972) und ders. (1982). 2 Reuter, N. (1994b), S. 13. 3 Dieser Begriff diente Gruchy dazu, die Gründerväter (insbes. Commons und Mitchell) von den jungen Vertretern des Institutionalismus abzugrenzen, welche gewisse, zeitbezogene Theorieelemente der Gründerväter fallengelassen und neue Erfahrungen, insbes. jene aus der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, in ihre Theorien eingebaut hatten. Gruchy, A. G. (1972), S. VI. und Boulding, K. E. (1967), S. 71 4 Gruchy, A. G. (1982), S. 228. Mit dieser Differenzierung beabsichtigte Gruchy, die verschiedenen Standpunkte der lnstitutionalisten der Association for Evolutionary Economics (AFEE), die seit 1967 als Herausgeber des Journal of Economic /ssues fungiert, unter bestimmten Aspekten (general, radical, applied) zu kanalisieren, um damit der von den Mitgliedern der AFEE vertretenen Kritik an der orthodoxen Wirtschaftslehre zu größerer Bedeutung zu verhelfen. s Diese Bezeichnung stammt von Williamson, 0. E. (1975), S. 1 und hat wegen der begrifflichen Nähe zum "neo-institutionalism", also zum ,,Nachkriegs-Institutionalismus", zu erheblichen Verwechslungen und Verwirrungen geführt. Siehe eine Angabe weiterer Literaturquellen bei Reuter, N. (1994b), S. 8 und S. 12 f. 6 Eine solche Ordnung ist nach Hayek die Sinnesordnung. Sie ist eine Ordnung mit hierarchischer Struktur und erfüllt demnach nicht das Kriterium einer abstrakten Ordnung, bzw. einer Ordnung mit spontanem Charakter. Sie entsteht aber auf einer Art und Weise, die für spontane Entstehung typisch ist. Siehe dazu Bouillon, H. (1991), S. 79 und Hayek, F. A. v. (1952a).
279
Anhang
Tabelle A 3 Der Unterschied zwischen Erklärung, Prognose und Technologie Erklärung
Prognose
Technologie
Gesetz
gesucht
gegeben, soll überprüft werden
gegeben (z. B. Gesetze der Statik)
Anfangsbedingung Randbedingung
gesucht
gegeben
zum Teil gesucht, zum Teil gegeben (z. B.: vorgegeben sind Baugrund, Wetterbedingungen, gesucht wird eine geeignete Konstruktion und/oder geeignetes Baumaterial)
Explanandum
gegeben, Frage: Wie zu erklären?
gesucht, wird aber vorausgesagt
gegeben: Frage: Wie realisierbar? (z.B. eine Brücke)
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