Kontexte als Modelle der Welt: Subjektive Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie [1 ed.] 9783428499748, 9783428099740

Selten wird es ein Autor heutzutage unternehmen, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in einem Buch von ca. 300 Seiten U

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Kontexte als Modelle der Welt: Subjektive Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie [1 ed.]
 9783428499748, 9783428099740

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UWE SAINT-MONT

Kontexte als Modelle der Welt

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwiasenschahen

Band 85

Kontexte als Modelle der Welt Subjektive Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie

Von

Uwe Saint-Mont

Duncker & Humhlot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Saint-Mont, Uwe: Kontexte als Modelle der Welt: Subjektive Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie I Uwe Saint-Mont. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Erfahrung und Denken ; Bd. 85) ISBN 3-428-09974-5

Alle Rechte vorbehalten

© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-09974-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

e

Allen die zu diesem Buch beigetragen haben

Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um "die Welt" einzufangen, - sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen.

Karl Popper, Logik der Forschung

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1 Erkenntnistheorie..................................................................

21

1.1

Das Subjekt...................................................................

21

1.2

Die Welt ......................................................................

29

1.3

Die Wahrnehmung - Philosophische Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

1.4

Der Wahrnehmungskanal ......................................................

36

1.5

Weitere Kanäle ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

1.6

Interpretationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

1.7

Konzepte......................................................................

55

1.8

Bewertungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

1.9

Empirische Verankerung .......................................................

68

1.10 Begriffe .................................................................... . ..

77

1.1 0.1 Abstrakte Begriffe .................................................. . ..

82

1.11 Theorien .................................. . ...................................

86

1.12 Kompositionen............................ . ...................................

88

1.12.1 Mathematische Konstruktionen ........................................

91

1.13 Vergleich von Theorien und Kompositionen ...................................

96

1.14 Der Kontakt zur Wirklichkeit..................................................

98

1.15 Hypothesen ................................................................... 101 1.15.1 Falsifikation ........................................................... 104

Inhaltsverzeichnis

10

1.16 Modelle....................................................................... 109 1.16.1 Das Wahrnehmungsmodell ............................................. 110 1.16.2 Explizite Modelle...................................................... 112 1.17 Wahrheit und Passung ......................................................... 116 1.18 Ich und Du .................................................................... 125 1.19 Kollektive Modelle................................... . ........................ 128

2 Wissenschaftstheorie . . .. . . . .. . .. . .. .. .. .. .. . . .. .. . .. . . . . .. . .. . .. .. . . . .. .. .. . .. . .. . . 132

2.1

Mathematik................................................................... 132 2.1.1

Mathematische Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 132

2.1.2 Das Begriffskontinuum ................................................ 137 2.1.3 Die Fundierung der Mathematik ....................................... 142 2.1.4 Der Grundstein der Mathematik........................................ 146 2.1.5 Axiomensysteme ...................................................... 148 2.1.6 Der Aufbau der Mathematik........................................... 150 2.1.7 Die Entwicklung der Mathematik...................................... 153 2.1.8 Erfindung und Entdeckung............................................. 159 2.1.9 Zur Existenz mathematischer Objekte.................................. 161 2.1.10 Erkenntnistheoretischer Exkurs: Existenzen............................ 164 2.2

Konzeptioneller Fortschritt ............... .. ................................... 171

2.3

Kriterien für Wissenschaft ................................ .. ................... 182 2.3.1 Auf dem Weg zur Wissenschaft ........................................ 182 2.3.2 Das Hauptkriterium: Streben nach Objektivität......................... 187 2.3.3 Der 1. Unterschied: Transparenz, Klarheit, Präzision................... 196 2.3.4 Der 2. Unterschied: Innere Konsistenz ................................. 200 2.3.5 Der 3. Unterschied: Empirische Passung............................... 203 2.3.6 Charakterisierung der Wissenschaft .................................... 206

Inhaltsverzeichnis 2.4

11

Wissenschaftliche Modelle .................................................... 211 2.4.1

Wahrnehmungsnahe Modelle .......................................... 212

2.4.2 Wahrnehmungsferne Modelle .......................................... 217 2.4.3

Gemischte Modelle .................................................... 226

2.4.4 Beschreibungen und Erklärungen ...................................... 228 2.5

Empirischer Fortschritt ........................................................ 235 2.5.1

Struktur wissenschaftlicher Modelle ................................... 235

2.5.2 Modellentwicklung .................................................... 240 2.5.3 Was treibt die Entwicklung voran? ..................................... 244 2.5.4 Die zentrale Bedeutung von Experimenten............................. 247 2.6

Biologische und evolutionäre Aspekte ..................................... . ... 253 2.6.1

Modelle in ihrer Umwelt............................................... 254

2.6.2 Interaktionen zwischen Modellen 2.7

261

Typische Entwicklungslinien .................................................. 275 2.7.1

Konsolidierung von Erkenntnissen ..................................... 276

2.7.2 Erkenntniszuwachs .................................................... 284 2.7.3 Entwicklungsstufen.................................................... 288 2.8

Der Stand der Forschung, offene Probleme .................................... 295 2.8.1

Die Naturwissenschaften............................................... 296

2.8.2 Die Sozialwissenschaften .............................................. 299 2.8.3

Nichtexperimentelle Wissenschaften ................................... 304

2.9

Das Ende der Wissenschaft .................................................... 311

2.10

Konsequenzen................................................................. 314 2.10.1 Gute Modelle .......................................................... 314 2.10.2 Technik ................................................................ 316 2.10.3 Simulationen ........................................... :.............. 317 2.10.4 Forschungsförderung ........... . ................................ . ..... 319

12

Inhaltsverzeichnis

2.l1

Einordnung klassischer Überlegungen ......................................... 324

2.12

Erkenntnistheoretische Schlußfolgerungen..................................... 332

A Erkenntnis durch Abbildung ...................................................... 341

A.1

Projektive Erkenntnistheorie .................................................. 341

A.2 Ein mathematisches Modell der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 344

B Anschauung und Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 349

Nachwort ............................................................................. 352

Literaturverzeichnis . . . . .. ........................................................... 354

Register ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 358

Einleitung Das Hauptthema des vorliegenden Buches ist der Beleg der folgenden These: Alle Erkenntnis ist subjektiv und kontextabhängig gleichwohl ist (nahezu) objektive Wissenschaft möglich.

Die erste Hälfte der Aussage ist offensichtlich: Jedes erkennende Subjekt hat einen maßgeblichen Einfluß auf seine eigenen Erkenntnisse. Will etwa ein menschlicher Beobachter (um mit einem ganz einfachen Beispiel zu beginnen) etwas nicht wahrhaben, so kann ihn niemand daran hindern - buchstäblich oder im übertragenen Sinne -, die Augen vor einer Einsicht zu verschließen. Doch auch wenn die Person unvoreingenommen beobachtet, so befindet sie sich immer in einem Beobachtungs-Zusammenhang, in welchem sie Informationen sammelt, und der ihre Sicht der Dinge (zumindest) mitbestimmt. Während sich in einer Perspektive möglicherweise ein Sachverhalt A deutlich abzeichnet, wird ein Faktum B verzerrt, und ein Aspekt C völlig ignoriert. Wechselt der Beobachter deshalb die Perspektive, so wird er möglicherweise von der neuen Warte aus B klar erkennen, während A verschwindet und C teilweise sichtbar wird. Doch wie man es auch dreht und wendet: jeder Blickwinkel hat seine Vor- und Nachteile, und keine Sichtweise ist perfekt. Dies gilt nicht nur im Wortsinn, sondern ganz allgemein. Denn auch jeder Interpretations-Kontext, in den man (Roh-)Daten einordnet, damit diese ein in sich stimmiges "Bild" ergeben, setzt die Fakten in ein ganz bestimmtes ,,Licht". Dieses kann günstig sein, es kann Konturen deutlich hervorheben oder relevante Aspekte betonen. Gleichzeitig besteht jedoch immer auch die Gefahr, daß die Perspektive wichtige Sachverhalte verschleiert oder sogar entstellt. Hinzu kommt, daß ein solcher Kontext im allgemeinen weder feststeht, noch sich ohne weiteres sagen läßt, ob er adäquat, also situationsangemessen, ist. Bewußt erdachte, sophistizierte, tiefsinnige Einsichten sind damit - zunächst einmal- genauso kontext- und subjektabhängig wie dies naive Beobachtungen eh sind. Das heißt, wir verfügen lediglich über empirische Informationen, die in vielerlei Hinsicht verfälscht sind. Unser Wissen über die reale Welt, unsere "Welterkenntnis" ist zunächst weniger als Stückwerk. Deshalb ist die zweite Hälfte der These umso verblüffender. Trotz all dieser mannigfaltigen Einschränkungen - obwohl jede Erkenntnis durch unsere Perspektive verzerrt und unsere Vorurteile entstellt wird; obwohl jede Wahrnehmung streng subjektiv ist und noch dazu von unserem speziell-menschlichen Wahrnehmungsapparat abhängt - sind wir gleichwohl als Individuen, wie als Gruppe, in der

14

Einleitung

Lage, gut fundierte, intersubjektiv verbindliche und vor allem zur Realität passende Ansichten zu vertreten. Anders gesagt: will man stabile, nahezu objektive (wissenschaftliche) Einsichten auf spezielle subjektive Beobachtungen aufbauen, so kommt man nicht umhin, dem jeweils erkennenden Subjekt und dem speziellen Erkenntniszusammenhang eine bedeutende Rolle einräumen. Jede Beobachtung erfolgt in einem ganz konkreten "Kontext", dieser läßt sich nicht verleugnen, ohne die elementare Erkenntnissituation grob zu entstellen. Die Gefahr subjektiver Willkür ist deshalb immer vorhanden und ohne systematische Vorkehrungen ungemein groß. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist der Einfluß, den die jeweilige. "Perspektive" (in allen Bedeutungen, die dieses Wort hat) auf die subjektiven Ansichten ausübt. Um gleichwohl, trotz dieser mißlichen Ausgangslage, (möglichst) objektive Erkenntnisse zu gewinnen, ist es von entscheidender Bedeutung, sich durch geeignete Vorsichtsmaßnahmen von der Willkür des Subjekts und von der Fehleranfalligkeit konkreter Beobachtungssituationen sowie spezieller Interpretationszusammenhänge zu befreien. Ein probates, aber immens wichtiges Mittel hierfür ist, diese zu variieren; ein anderes, die Meinung eines Subjekts mit den Ansichten weiterer Subjekte zu vergleichen, bzw. die in einem Zusammenhang gefundenen Ergebnisse an Wissen zu relativieren, welches in davon unabhängigen Situationen gewonnen wurde. Diese und weitere systematischen Bemühungen um Objektivität führen geradewegs zur Wissenschaft. Deren Methoden und die sie definierenden Kriterien stellen sicher, daß der Einfluß der erkennenden Subjekte und der konkreten experimentellen Situationen auf die wissenschaftliche Modelle der Welt minimal ist, diese also nahezu objektiv sind. Nichtsdestotrotz spielen die Subjekte bei der Erstellung und der Weiterentwicklung wissenschaftlicher Modelle eine zentrale Rolle. Wissenschaft wird nicht zuletzt, sondern zuallererst, von einzelnen Menschen gemacht. Auch hier gilt es genau zu analysieren, warum diese Gelehrten zwar entscheidend für wissenschaftlichen Fortschritt verantwortlich sind, gleichwohl ihr Einfluß aber nicht das der Wissenschaft zu eigene Streben nach Objektivität untergräbt. Obwohl Wissenschaft ohne neugierige Forscher und artifiziell erscheinende Experimente nicht vorankommt, ist das verblüffende Resultat, daß der Gang der Entwicklung viel mehr von den Modellen selbst und den diesen zugrundeliegenden Teilen der Realität abhängt, als von jenen, die tagtäglich mit den Modellen umgehen. Auch das liegt an den der Wissenschaft zu eigenen Kriterien, insbesondere der systematischen Verwendung intersubjektiv verbindlicher Konzepte, sowie deren systematische Prüfung auf "Passung". Das vorliegende Buch läßt sich auch unter einem anderen Blickwinkel lesen. Wenn wir die Welt erkennen oder systematisch erforschen, so bedienen wir uns dazu immer impliziter wie expliziter, sprachlicher wie formaler, abstrakter wie anschaulicher Modelle. Ohne Modelle läßt sich nichts aussagen, ohne Modelle läßt sich nichts erkennen und ohne Modelle läßt sich auch nichts begründen. Prägnant

Einleitung

15

gesagt: ohne Modelle sind wir vollkommen blind. So gesehen ist eine wichtige subjektive wie kollektive Aufgabe, gute, daß heißt sich selbst nicht widersprechende, transparente und vor allem auf die wirklichen Verhältnisse passende Modelle zu entwickeln. Die biologische Evolution hat diese Aufgabe in Jahrmillionen anscheinend ganz gut bewältigt: unser Wahrnehmungs modell der realen Welt hilft uns, uns zu orientieren, und damit (sehr gut) zu überleben. Ohne unsere Wahrnehmungsvorstellungen, insbesondere visueller Art, kämen wir nicht allzu weit. Doch mit diesem vorgefertigten Modell geben wir uns als bewußte und denkende Wesen nicht zufrieden. Wir entwerfen, oftmals auf Grundlage des Wahrnehmungsmodells, explizite Modelle (von Teilen) der Welt. Solche Modelle sind zuweilen sprachlicher Natur und jedenfalls in ihrem Aufbau wie in ihrem Erklärungswert sehr verschieden. Nicht zuletzt unterliegen sie im allgemeinen einem starken persönlichen Einfluß. Will man zu wirklich befriedigenden Modellen der Wirklichkeit gelangen, so kommt man deshalb nicht umhin, sich wiederum von konkreten Beobachtungs-Situationen und speziellen Subjekten (soweit als irgend möglich) zu lösen. Dies geschieht insbesondere dadurch, daß man intersubjektiv verbindliche Kontexte in der Argumentation verwendet, nicht zuletzt Kontexte, die eine Eigengesetzlichkeit haben und deshalb vom Gutdünken Einzelner überhaupt nicht mehr abhängen. Im Bemühen, solche Kontexte so transparent und streng wie möglich zu gestalten, stoßen wir nahezu zwangsläufig auf die Mathematik. Denn mit ihrer Hilfe lassen sich Modelle par excellence konstruieren. Modelle, die so verbindlich wie präzise, so umfassend wie detailgenau und so ökonomisch in ihren Annahmen wie weitreichend in ihren Folgerungen sind. Am wichtigsten jedoch ist, daß ihr Wahrheitsgehalt nicht vom Dafürhalten - dem "Geschmack" - der sie betreibenden Subjekte abhängt. Zunächst handelt es sich bei den Strukturen, die die Mathematik untersucht, jedoch nur um rein formale - wenn auch logisch strenge und deshalb intersubjektiv verbindliche - Konzepte. Um aus ihnen gute Modelle der Wirklichkeit zu machen, muß man sie mit der realen Welt in Kontakt bringen. Dies geschieht zum einen, indem man Teile der formalen Struktur mit beobachtbaren Sachverhalten identifiziert und damit wissenschaftliche Begriffe schafft. Zum anderen gleicht man systematisch Implikationen der formalen Zusammenhänge mit realen Sachverhalten ab. Tut man dies unter kontrollierten Bedingungen, sucht man zudem ständig nach neuen empirischen "Tests" für eine Theorie, und verwendet man außerdem die empirischen Ergebnisse als Anregung, um bestehende Modelle zu verbessern oder sogar gänzlich neue Erklärungsmuster zu erdenken, so betreibt man modeme Wissenschaft. Deren Kern ist es, effizient zu experimentieren und konsequent Theorien weiterzuentwickeln. Auch bei dieser Sichtweise wird ein Modell um so besser, je weniger seine Bewertung von einzelnen Subjekten abhängig, und je weniger seine Struktur ad hoc manipulierbar ist. Je mehr seine Struktur jedoch logisch unverrückbar feststeht, je

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Einleitung

präziser es ist und je deutlicher sich die Welt dann in ganz verschiedenen, streng kontrollierten Beobachtungssituationen zugunsten des Modells ausspricht, desto wertvoller ist es. Bewährt sich das Modell zudem tagtäglich in vielen konkreten Anwendungen, so ist es theoretisch so überzeugend, wie es praktisch von Nutzen ist. Detaillierter Überblick

Wir beginnen mit einem sich seiner selbst bewußten Subjekt, das heißt wir starten beim cartesischen Cogito. Nachdem wir die Existenz des ,Jch" einer kritischen Analyse unterzogen haben, zerfällt für uns "alles" in drei Teile: 1) das subjektive Ich mit seinen Vorstellungen, 2) die reale Welt und 3) eine Verbindung, über die Informationen von der Welt zum Subjekt gelangen. Dieses Grundmodell der subjektiven Erkenntnis, das wir in den ersten vier Kapiteln entwickeln, findet sich in Bild 1, p. 46, wieder. Informationen, die auf die äußere Realität zurückgehen, führen beim erkennenden Subjekt zu Wahrnehmungsvorstellungen (kurz: W.-Vorstellungen). Darüberhinaus kennt das Ich aber auch Vorstellungen, die nicht auf (augenblicklichen) Wahrnehmungen basieren. Solche inneren Vorstellungen studieren wir in Kapitel 1.5, sie runden Bild 1 ab. Die Gesamtheit aller dem Ich (im Prinzip) zur Verfügung stehenden Vorstellungen nennen wir schließlich dessen subjektives Vorstellungsuniversum.

Nun haben wir es nicht nur mit einem wahrnehmenden, sondern zugleich auch mit einem handelnden Subjekt zu tun. Das heißt, ein Modell, welches diejenige Situation angemessen beschreiben will, in der sich das Ich (mutmaßlicherweise) befindet, muß auch den Möglichkeiten, die dieses Subjekt hat, die reale Welt zu verändern, gerecht werden. Deshalb gehen wir in den Kapiteln 1.5 - 1.8 nach der "Sensorik" auf die ,,Motorik" des Subjekts ein und sprechen dort genauer vom effektivem Körper des Ichs, mit dem dieses die Realität unmittelbar verändern kann. Nicht zuletzt kommt es so zu einer "Rückkopplung" zwischen handeln und wahrnehmen, die dazu führt, daß effizientes Handeln und adäquates Wahrnehmen zumeist Hand in Hand gehen. Diese Einsicht wiederum führt zu einem vertieften Verständnis der Kanäle, über die Informationen an das Subjekt fließen und erweitert Bild 1 zu Bild 5, p. 61, das die Situation, in der sich das Subjekt befindet, umfassend beschreiben soll. Schließlich fundieren wir in Kapitel 1.9 das so entwickelte "ontologische Grundmodell" (Bild 5) im aktuellen empirischen Wissensstand. Die evolutionäre Perspektive zeigt hier (wie auch anderswo) ihre große Erklärungskraft und wir vertiefen deren engen Zusammenhang mit unserer Abbildungstheorie der Erkenntnis in Anhang A. Die Kapitel 1.10 bis 1.16 verfolgen drei Ziele. Erstens sollen in Teil 11 benötigte Begriffe eingeführt werden. Es sind dies vor allem die Begriffe der Theorie, des

Einleitung

17

Konzepts, der Komposition, der Hypothese und des Modells, die sich maßgeblich dadurch unterscheiden, in welchem Ausmaß sie sprachliche Ausdrücke verwenden und wie sehr sie den Anspruch erheben, Aspekte der Wirklichkeit zu beschreiben. Zweitens geht es darum, das für uns entscheidende Modell der Wirklichkeit im Detail kennenzulernen. Es handelt sich um unser menschliches Wahrnehmungsmodell (kurz: W.-Modell) der Realität, das wir schon in den Kapiteln 1.4 - 1.8 untersucht haben, und in dem wir uns ständig orientieren. Drittens widmen wir uns der Aufgabe, eine allgemeine Theorie des Begriffs zu geben. Ein Begriff ist für uns im einfachsten Fall ein Wort (in einer Theorie), versehen mit einer empirischen Bedeutung, einem empirischen Bezug - seiner Referenz. (Siehe hierzu insbesondere Kapitel 1.10.) Allgemeiner handelt es sich bei einem Begriff um ein Element in einem (mehr oder minder wahrnehmungsfemen) Kontext, welches zugleich eine beobachtbare Komponente hat. Je nachdem, ob ein Begriff seine Bedeutung eher aus dem nichtempirischen oder dem empirischen Zusammenhang schöpft, in welche er (beide) eingebettet ist, sprechen wir von einem Eigennamen, einem Oberbegriff oder einem abstrakten Begriff. (Abschnitt 1.10.1.) Da gleichwohl alle Begriffe dieselbe Struktur haben, gelangen wir insgesamt zu einem Begriffskontinuum (siehe Abschnitt 2.1.2) von mehr oder minder abstrahierten Begriffen. Dabei stellt sich heraus, daß die abstrakten Begriffe der Mathematik von besonderer Bedeutung sind, denn mit ihrer Hilfe können wir vom Wahrnehmungsmodell praktisch unabhängige, formale Uni versen konstruieren (Kapitel 2.1). Zuvor führen wir in Kapitel 1.18 weitere Subjekte ein, mit welchen das zunächst untersuchte (einzelne) Subjekt kommunizieren kann, und Kapitel 1.19 beschreibt überindividuelle, also kollektive Kontexte. In gewissem Sinne kulminiert hier, am Ende von Teil I, die subjektive Betrachtungsweise, welche überdeutlich macht wie sehr Modelle von ihren Schöpfern - und deren Willkür - sowie den speziellen Beobachtungszusammenhängen, auf die sie sich stützen, abhängen. In Teil 11 geht es darum, eben diese Willkür und Abhängigkeit einzuschränken, um soweit als möglich objektive Modelle der Welt zu gewinnen. Wir ergehen uns also nicht in Interpretationsphilosophie oder konstruktivistischen Spielereien, sondern versuchen, systematisch intersubjektiv verbindliche und auf die realen Verhältnisse so gut als möglich passende Modelle zu entwickeln. Dies ist eine nicht ganz einfache Aufgabe und wir beschäftigen uns zunächst mit ihrer theoretischkonzeptionellen Seite, um dann die empirisch-angewandte Seite in Augenschein zu nehmen. Dabei stellt sich heraus, daß die Mathematik eine zentrale Rolle spielt. Dies ist kein Zufall, denn die ihr zu eigenen "Tugenden" der Präzision, der logischen Strenge (und damit nicht zuletzt auch der intersubjektiven Verbindlichkeit), der Klarheit und der Ökonomie der Ausdrucksweise prädestinieren sie geradezu, die konzeptionelle Basis zumeist der besseren Modelle auszumachen. Hinzu kommt, daß (reine) Mathematik die Wissenschaft der in sich selbst konsistenten Strukturen 2 Sainl-Monl

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Einleitung

ist, womit sie, wenn jene für reale Sachverhalte stehen sollen, auch einen (tiefen) Erklärungswert hat. Aus all diesen Gründen beginnen wir den Wissenschaftstheorieteil dieses Buchs mit der Mathematik. Allgemeiner geht es um möglichst exakte Kontexte, die eine Eigengesetzlichkeit haben, welche sie intersubjektiv verbindlich macht. Die Kapitel 2.1 und 2.2 sind deren Aufbau und Entwicklung gewidmet. Anhang B vertieft die Fundierung der Mathematik in der Wahrnehmung bzw. der Anschauung. Danach wenden wir uns der Empirie zu, wo es darum geht, die theoretischen Konzepte nun anzuwenden, um beobachtbare Phänomene zu beschreiben und zu erklären. Es gibt jedoch kein Primat der Theorie, denn man kann umgekehrt auch von konkreten Phänomenen ausgehen, und versuchen, diese in einen konzeptionellen Zusammenhang zu stellen. Man kommt also nicht nur von tiefen Einsichten geleitet zu verblüffenden Anwendungen, sondern ganz konkrete Probleme motivieren anders herum auch zu abstahierter Wissenschaft. Beides zusammen führt zur Entwicklung von Modellen, die sowohl theoretisch stimmig als auch empirisch überzeugend sind. Dies läßt Wissenschaft (kurzfristig bzw. statisch gesehen) als eine Sammlung (nahezu) objektiver Modelle mit hohem Erklärungswert erscheinen. Längerfristig betrachtet ist sie jedoch ein "lernendes System", welches ständig nach konzeptionell wie praktisch befriedigenderen Modellen sucht - und oft auch findet. Was sie genau ausmacht, was also Wissenschaft von beliebigen anderen Versuchen, die Welt zu verstehen, unterscheidet, untersuchen wir in Kapitel 2.3. Bevor wir uns dann dem intensiveren Studium wissenschaftlicher Modelle "als solcher" zuwenden, beschreiben wir deren Verhältnis zum W.-Modell, dem wichtigsten aller uns zur Verfügung stehenden Modelle der Realität. Da Wissenschaft maßgeblich von Menschen gemacht wird, ist nicht verblüffend, daß das menschliche W.-Modell eine entscheidende Stütze wissenschaftlicher Überlegungen ist und zu deren Fortschritt maßgeblich beiträgt. Um eben diese Schlüsselrolle des uns von der biologischen Evolution mitgegebenen Modells der Welt, bei unseren sophistizierten Versuchen die Realität zu verstehen, geht es uns in Kapitel 2.4. Aufgrund der Kriterien, die Wissenschaft zu Wissenschaft machen, sind sodenn ihre Modelle, die immer Modelle von Teilen oder für Aspekte der realen Welt sind, nahezu unabhängig von deren Konstrukteuren. Das zeigt sich auch an ihrer Struktur, die wir in Abschnitt 2.5.1 vorstellen und welche eine Folge der Überlegungen von Kapitel 2.3 ist. Trotz alledem bestimmen Menschen durch ihren Erkenntniswillen und ihre Erkenntnisinteressen maßgeblich mit, welche (Forschungs-)Richtungen verfolgt werden und wie zügig das wissenschaftliche Projekt vorankommt. Wie man am schnellsten zu guten und (nahezu) objektiven Modellen kommt und diese dann am effizientesten verbessert, ist der Inhalt der restlichen Abschnitte von Kapitel 2.5.

Einleitung

19

In Kapitel 2.6 ergänzen wir diese Sichtweise, indem wir Fortschritt von den Modellen selbst aus betrachten. Deren Objektivität ermöglicht es uns nämlich, so zu tun, als würden die Modelle sich - quasi von alleine - weiterentwickeln. Anders gesagt, wir betrachten Modelle als selbstständige "Individuen", und studieren deren Genese sowie deren Wechselwirkungen. Da verschiedene Modelle typischerweise Konkurrenten sind, wenn es um die Erklärung von Fakten geht, befindet man sich in einer Situation, die eng mit jener Situation verwandt ist, in der sich Lebewesen sowie Wirtschaftssubjekte tagtäglich wiederfinden. Auch diese konkurrieren typischerweise um gewisse Ressourcen und manche sind dabei erfolgreicher als andere. Das heißt, man kommt auch in der Wissenschaftstheorie nahezu unumgänglich zu biologisch-evolutionären Überlegungen. Erfolgreiche "Individuen" setzen sich im Konkurrenzkampf wissenschaftlicher Modelle durch und breiten sich aus, schlechte Modelle hingegen sterben aus. Trotz aller Konkurrenz beobachtet man aber auch hier, wie in der biologischen Evolution, Kooperationen und Symbiosen aller Art, welche die Wissenschaft ebenfalls maßgeblich voranbringen. Kapitel 2.7 soll die wesentlichen Abläufe, die Muster, in der wissenschaftlichen Weiterentwicklung deutlich machen. Typischerweise entfalten sich wissenschaftliche Erkenntnisse nämlich nicht nur stetig und graduell, sondern Einsichten erscheinen zuweilen auch sprunghaft und bringen manchmal "revolutionäre" Umbrüche mit sich. Das liegt zum einen am "objektiven" Gang der Wissenschaft, insbesondere wenn die Unvollkommenheiten von Modellen plötzlich in Experimenten deutlich zu Tage treten. Zum anderen ist die Ursache der "Unstetigkeit" aber auch in der ihrer Natur nach subjektiven Entscheidung für oder gegen ein Modell zu suchen, welche sich dann als Umbruch manifestiert, wenn viele Wissenschaftler in kurzer Zeit ihre Meinung fundamental ändern. Insgesamt erkennt man, daß es Phasen in der historischen Entwicklung der Einzelwissenschaften gibt, welche wir in Abschnitt 2.7.3 vorstellen. Kapitel 2.8 wendet diese Klassifikation dann auf die speziellen Wissenschaften an und gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung. Schließlich enthält Kapitel 2.9 eine Ausblick auf die Zukunft. Es begründet, warum das wissenschaftliche Unternehmen durchaus einst zu einem Stillstand oder gar zu einem Ende kommen könnte. Die Überschriften der restlichen Kapitel erklären deren Inhalt im wesentlich von selbst: Kapitel 2.10 handelt von den wichtigsten Konsequenzen unseres Modells der Wissenschaft. Kapitel 2.11 vergleicht den in diesem Buch entwickelten Standpunkt mit einigen klassischen Ansichten. Schließlich geht es in Kapitel 2.12 um einen erkenntnistheoretischen Rückblick, denn manche (subjektiven) erkenntnistheoretischen Fragen erscheinen in einem klareren Licht, wenn man den Erkenntnisprozeß der (objektivierenden) Wissenschaften versteht.



20

Einleitung Wissenschafts- und Erkenntnistheorie

Nicht zuletzt fundieren wir die wissenschaftlichen Anstrengungen vieler in der ihrer Natur nach - subjektiven Erkenntnistheorie und versuchen damit auch einen Mangel zu beheben, den H. J. Störig in seiner kleinen Weltgeschichte der Philosophie angesprochen hat [71], p. 635: "So ist im 20. Jahrhundert großenteils Erkenntnistheorie durch Wissenschaftstheorie ersetzt (oder auch auf sie reduziert) worden, um den Preis freilich einer Einengung des Begriffs von Erkenntnis, unter Ausklammerung der Vorfrage, wie sich Gegenstände und Gegenstandsbereiche überhaupt konstituieren. " Obwohl sich Wissenschaft nicht auf subjektive Erkenntnis reduzieren läßt, tragen doch einzelne Subjekte den bei weitem größten Teil zum wissenschaftlichen Fortschritt bei. Deren organisiertes Zusammenwirken nach Regeln, die sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen haben, macht sodenn Wissenschaft zu einem wirklich kollektiven Unterfangen. Tatsächlich ist sie ein ausgezeichneter (in allen Bedeutungen die dieses Wort hat) Versuch vieler - an Erkenntnissen interessierter - Subjekte, die Welt zu (er-)fassen. Sie stellt das wohl ambitionierteste Projekt dar, das Menschen jemals erfolgreich in Angriff genommen haben. Ihre einfachen Grundgedanken sind, zum einen systematisch nach Erkenntnissen zu suchen (also die Welt aktiv zu erforschen) und zum anderen subjektive Einsichten (die man nicht zuletzt aufgrund der systematischen Suche gewinnt) soweit als möglich zu objektivieren.

1 Erkenntnistheorie 1.1 Das Subjekt Der Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie ist die Frage nach dem, was wir wissen. Was wissen wir sicher, was können wir mit Bestimmtheit aussagen? Gibt es überhaupt Bereiche der Erkenntnis, über die wir unzweifelhafte Gewißheit erlangen können, oder müssen wir uns prinzipiell mit wahrscheinlichen, plausiblen Mutmaßungen begnügen? Eng verwandt ist die Frage: Welche Erkenntnisse können wir überhaupt formulieren? Über welche Gegenstände können wir zu fundierten Einsichten gelangen? Gibt es überhaupt Dinge, über die sich Einsichten formulieren lassen? Existiert irgendetwas und wenn ja - was? Also: Was ist unserem Suchen, unserer Neugier zugänglich, was nicht? Beginnen wir mit der allerersten Frage und nehmen die Welt, so wie wir sie sehen. Kann ich mit Gewißheit sagen, daß der Bildschirm, den ich vor mir zu erkenne glaube, existiert? Können Sie sich sicher sein, verehrter Leser, daß das Buch, welches gerade vor Ihren zu liegen scheint, auch wirklich dort liegt? Ist es gewiß, daß ich gestern nach Stuttgart geflogen bin, heute morgen müde war und es gerade zum Mittagessen rheinischen Sauerbraten gegeben hat? Der "gesunde Menschenverstand" wird solche Fragen unter der Rubrik "akademisch", ja vielleicht sogar unter der Rubrik "abwegig" einordnen, hält er doch diese Beobachtungen und Erinnerungen für richtig, weil es keinen Grund zu geben scheint, ihnen zu mißtrauen. Wer wollte an derart Offensichtlichem zweifeln? (Außer gewissen Sophisten, versteht sich.) Jedoch, ein wenig Vorsicht ist geboten, denn auch der größte Empiriker wird einräumen müssen, daß wir uns täuschen können. Unser Gedächtnis spielt uns sehr schnell einen Streich. Was haben wir zum Beispiel vorgestern abends gegessen? Wissen wir das noch mit Gewißheit? Können Sie genau sagen, wann Sie zum letzten Mal Bus gefahren sind, welcher Partei Sie bei der vorletzten Wahl Ihre Stimme gegeben haben, oder wie oft Sie vor zwei Jahren zu spät zur Arbeit kamen? Unsere Erinnerungen, Vorstellungen und Überlegungen können trügen. Da ist keine unumstößliche Gewißheit. Wie oft vergessen wir gerade die wichtigsten Dinge, wie häufig verrechnen wir uns, wenn wir lediglich zwei Zahlen addieren müssen; wie leicht verdrängen wir Unangenehmes, und wie schwer lassen wir uns von der Wahrheit überzeugen, wenn wir eine festverwurzelte Überzeugung verteidi-

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I Erkenntnistheorie

gen? Man braucht kein Psychoanalytiker zu sein, um den unzähligen Spielarten gewollter wie ungewollter Selbsttäuschung mit Respekt zu begegnen. Ähnlich sieht es mit unseren Wahrnehmungen aus. Auch hier wird der "gesunde Menschenverstand" zunächst energisch oponieren. Denn wer wollte allen Ernstes daran zweifeln, daß ich mit beiden Beinen auf dem Erdboden stehe, wenn ich zum Fenster hinausschaue eine Wiese sehe, auf der ein Apfelbaum steht und unter dem ein Picknick aufgebaut ist? Ich denke doch nicht im Traum daran, solch wundervolle Bilder in Frage zu stellen, meinen eigenen Augen zu mißtrauen! Ich sehe, was ist; erkenne die Welt, wie sie ist, und lebe in einer einzigen, unumstößlichen Realität, die so ist, wie sie nun mal eben ist! Schluß, aus, Ende der Diskussion für die gesunde, pragmatisch orientierte Vernunft!

Descartes' Cogito

Doch auch hier hält der Zweifel, dieser Advocatus Diaboli nicht still. Könnte es nicht sein, so fragte schon Descartes [16] in seiner ersten Meditation), "daß ein böser Dämon, der ebenso schlau wie mächtig wie hinterlistig ist, alles daransetzt mich irrezuführen? Die Existenz eines solchen Dämons vorausgesetzt, könnten alle Dinge, die ich wahrnehme, nur Täuschungen sein, deren er sich bedient, um meiner Leichtgläubigkeit Fallen zu stellen." Anders gesagt, dieser kleine Teufel würde mich nach Strich und Faden betrügen, mir Bilder vorgaukeln, die Schimären wären, mich sphärische Klänge hören lassen, die gar nicht existierten, mir bestialische Gerüche als Rosenöl andienen, saure Gurken als Vanilleeis verkaufen und so weiter und so fort. Konsequent zu Ende gedacht, wäre es möglich, daß dieser Satan mir die ganze Welt vortäuschen könnte, so wie es ihm beliebt. Alles, also die ganze Welt, nur erfände, so, wie sie ihm gefiele, nur, um mit mir ein böses, ein arglistiges Spiel zu spielen ... Dem ist allerdings nicht ganz so, denn Descartes [16] schließt in seiner zweiten Meditation nun wie folgt: ,,Eines immerhin vennag ich nicht anzuzweifeln: Kein noch so schlauer Dämon könnte mich hinters Licht führen, wenn ich nicht existierte. Vielleicht habe ich keinen Körper, denn er könnte eine Täuschung sein. Das Denken aber ist etwas anderes: ,Ich fand aber nun, daß ich, da ich alles andere in dieser Weise als falsch zurückwies, schlechterdings nicht daran zweifeln konnte, daß ich selbst da sei. Ich erkannte, daß die Wahrheit des Satzes: ,Ich denke, also bin ich, ich existiere' so sicher und klar ist, daß kein Skeptiker imstande wäre, irgendein noch so gewichtiges Argument zu erdenken, durch das sie erschüttert werden könnte. Ich glaubte daher, diesen Satz als die erste Grundlage der Philosophie, die ich suchte, ohne alle Bedenken annehmen zu können. '"

I

Die beiden nächsten Zitate folgen der Übersetzung in [65], p. 574.

1.1 Das Subjekt

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Mit anderen Worten: Wir können uns in allem und jedem täuschen, irregeführt werden, mit unseren Vorstellungen völlig daneben liegen. Unsere Wahrnehmung könnte so mangelhaft oder durch irgendwelche Einflüsse gestört sein, daß die ganze Welt um uns herum in Wirklichkeit ganz anders ist, als wir sie zu erkennen glauben. Konsequent zu Ende gedacht könnte es sein, daß es sie überhaupt nicht gibt, sie lediglich eine Fiktion, ein Traum ist. Die Wahrnehmung selbst wäre dann eine Illusion, da es nichts gäbe, was man wahrnehmen könnte: Weder die Natur, noch die Mitmenschen, noch den eigenen Körper. In Wirklichkeit wäre nichts von alledem existent, alles nur eine Fata Morgana, eine Laune des Ich. Nur dieses eine Ich, diese nackte Existenz eines selbst, die können wir nach Descartes nicht anzweifeln. Dieses eine Ich - und nur dieses - existiert sicher, zweife1sfrei, unumstößlich. Prägnant gesagt: Wäre ich nicht, so könnte ich auch nicht denken. Und es gäbe nichts, das der Dämon zu täuschen imstande wäre. Es muß also notwendig etwas geben, dieses notwendig Existierende nennen wir kurz das Ich. Die gerade benutzte Argumentation beinhaltet keinen Zirkelschluß! Denn das indirekte Beweisargument läßt sich auch anders formulieren: Man nehme an, es existiere nichts. Dann gibt es weder eine Welt, noch Personen, noch Dämonen, die diese Personen täuschen, noch Vorstellungen, noch Gedanken. Vorstellungen bzw. Gedanken sind uns aber unmittelbar gegeben, wir können uns uns selbst nicht vorstellen, ohne daß wir denken. Das ist ein Widerspruch. Somit war die Annahme falsch, daß nichts existiert. Also existiert etwas. Dieses Etwas nennen wir ,,Das Ich" oder kurz: "Ich" und wir können die gewonnene Aussage knapp formulieren als ,Jch denke, also bin ich." Um die logische Struktur des Arguments ganz deutlich zu machen, formalisieren wir schließlich das "Cogito ergo sum": (1)

Ich denke

~

Ich bin/ich existiere

ist das cartesische Argument. (I) ist logisch äquivalent zu (2)

Ich existiere nicht

~

Ich denke nicht

Nun beobachtet man, daß Denken unmittelbar gegeben ist. Man hat eine (subjektiv unzweifelhafte) Vorstellung vom Denken, die einem kein Dämon vortäuschen kann. Man nimmt, kurz gesagt, Denken als gegeben an. Man gelangt zu der festen, durch Selbstbeobachtung gewonnenen Überzeugung, daß Denken existiert. Damit ist die rechte Seite von (2) falsch. Folglich ist auch die linke Seite von (2), "Ich existiere nicht", falsch. Also ist die Aussage ,Jch existiere" richtig.

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1 Erkenntnistheorie

Bemerkungen zum Cogito

Die Literatur über das Cogito füllt Bibliotheken. Nahezu jeder abendländische Philosoph der letzten Jahrhunderte hat seine Interpretation vorgelegt und sich seine eigenen Gedanken über das cartesische Argument gemacht. Wir werden im folgenden nur auf einige spezielle Aspekte eingehen und verweisen für eine ausführlichere Diskussion auf die Stanford EncycIopedia of Philosophy [72], die einen gut verständlichen, einführenden Artikel enthält. Zwei große Vorteile dieser Enzyklopädie sind, daß sie über das Internet verfügbar ist und außerdem ständig aktualisiert wird. Zunächst zeigt die zuletzt vorgenommene, exakte Formulierung des cartesischen Cogito, daß es doch angreifbar ist, anders als Descartes meinte. Zum einen ist die Schlußweise indirekt. Die Existenz des Ich wird nicht direkt gezeigt, sondern nur über einen Widerspruch erschlossen. Diese Beweismethode muß man nicht akzeptieren. Zum zweiten - was schlimmer ist - sind Ich und Denken eng miteinander verflochten. Was war zuerst? Das Ich, weIches denkt, oder das Denken, welches das Ich erzeugt? Kommt erst das Denken, dann das Ich und schließlich dessen Existenz; oder hat man zunächst eine Existenz, dann ein Denken und letztlich ein Ich? Weitere Kausalketten sind denkbar. Man hat das ungute Gefühl, daß Denken und Ich sich wie Henne und Ei zueinander verhalten. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Ohne Denken kein (sich seiner selbst bewußtes) Ich, aber ohne Ich auch kein sich seiner selbst bewußtes Denken. Ist dem so, dann befindet man sich gefahrlich nahe an einem Zirkelschluß. Denn man setzt im cartesischen Argument voraus, daß Denken (unmittelbar) gegeben ist. Aus dem Denken folgert man dann (indirekt) die Existenz eines Ich. Sind Denken und Ich äquivalent, so hat man gerade das vorausgesetzt, was man zeigen wollte, und man hat nichts weiter als eine Tautologie formuliert. Je enger der Zusammenhang zwischen beiden Begriffen ist, desto mehr setzt man das voraus, was man eigentlich erst zeigen möchte. Die Wurzel dieses Problems besteht darin, daß weder "Ich" noch ,,Denken" präzise definiert sind. Solange man nicht wirklich weiß, was ein ,,Ich" ist, was ,,Denken" bedeutet und wie der Zusammenhang zwischen bei den Begriffen ist, so lange fischt man im Trüben. Die Schärfe des syntaktischen Arguments löst sich gewissermaßen im Nebel semantischer Unbestimmtheit auf. Gleichwohl sind wir davon überzeugt, daß die Verwirrung, die das Cogito hervorruft, je intensiver man über es nachdenkt, nicht nur semantische Gründe hat. Denn es gibt einen echten Bedeutungsunterschied zwischen dem Satz "Ich denke" und dem Satz "Ich existiere". Die eigentliche Ursache der Verwirrung scheint in der Perspektive zu liegen, aus der man das Cogito betrachtet:

1.1 Das Subjekt

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Solange man einen (rein) subjektiven Standpunkt einnimmt, ist das Cogito überzeugend. Denn jeder stellt durch Introspektion fest, daß es etwas gibt, daß sich seiner selbst bewußt ist. Ob man dieses (eigene) Selbstbewußtsein nun als ,,Ich" oder als "Ich denke" bezeichm:t, ist unwichtig. Entscheidend ist, daß jedem sein eigenes Selbstbewußtsein unmittelbar - und zweifelsfrei - gegeben ist, man es nicht in Frage zu stellen vermag, ohne sich selbst zu leugnen. Nun schließt man vom - für die eigene Überzeugung: sicheren - Selbstbewußtsein ("Ich denke") auf die Existenz seiner selbst ("Ich bin, ich existiere"). Problematisch wird das Argument, wenn man einen objektiven Standpunkt einnehmen möchte. 2 Offensichtlich ist das Selbstbewußtsein nur dann in der Lage zu denken, wenn es überhaupt existiert, wenn also insbesondere irgendetwas existiert. Was heißt nun existieren? Existieren im Sinne von überhaupt (also absolut, per se) vorhanden sein oder im Sinne von in der physikalischen Welt, der Realität, vorhanden sein. Diese Unterscheidung mag sich sehr sophistisch anhören, ist aber wesentlich. Denn die erste Interpretation ist für das Selbstbewußtsein klarerweise erfüllt: Würde das Ich nicht existieren, so könnte es sich auch nicht seiner selbst bewußt sein (bzw. denken). Also muß es existieren, wie Descartes richtig gefolgert hat. Die letztere Interpretation ist aber für das Selbstbewußtsein nicht zulässig, denn es hat mit seiner Kritik an der Wahrnehmung auch die gesamte physikalischen Welt beseitigt. Die cartesische Kritik sagt ja gerade, daß es die Außenwelt nicht notwendigerweise geben muß. Folgt das Ich deshalb konsequent seiner eigenen, fundamentalen Kritik, so existiert die physikalische Realität für das reine Selbstbewußtsein nicht mehr. Also kann das Ich selbst nicht (mehr) in der physikalischen Welt existieren. Dadurch, daß das Ich die physikalische Außenwelt verleugnet hat, hat es seine eigene Existenz in dieser Welt verwirkt. Es ist ihm nicht möglich, über eine logische Hintertreppe wieder in sie einzutreten. Leider wird das Cogito auch heute noch gerne in einem nicht streng subjektiven Sinn interpretiert. In [30], p. 38, findet sich zum Beispiel folgende Formulierung: ,,Aus dem nicht mehr bezweifelbaren eigenen Denken erschließt Descartes seine eigene Existenz und gewinnt damit schon ein kleines Stückchen Welt: ,Cogito, ergo sum'." Die oben erwähnte Enzyklopädie [72] greift (in Descartes' Epistemology, 4. Cogito Ergo Sum) solche nicht streng subjektiven Interpretationen zurecht an, und stellt klar, daß das Cogito nur vom Standpunkt eines sich seiner selbst bewußten Subjekts aus überzeugend ist: ,,[ ... ] it seems that such objections fail to consider fully the subjective character of experience. A subjective character that minimally includes a point-oJ-view. Taking the ,I' in this minimalist, subjective sense [... ].,,3 Siehe die Ausführungen zur Objektivität, pp. 30. Hervorhebungen im Original. Soweit in Zukunft nicht ausdrücklich etwas anderes vermerkt ist, sind etwaige Hervorhebungen, die wir immer kursiv darstellen, schon im Original vorhanden. Einfügungen vom Autor dieses Buches finden sich hingegen in eckigen Klammem [J. 2

3

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1 Erkenntnistheorie

Nicht ganz so klar scheint aber im allgemeinen zu sein, daß man, wenn man die cartesische Argumentation ernst nimmt, die Existenz des Subjekts nur noch in einem absoluten Sinne, also im Sinne von überhaupt vorhanden sein, interpretieren darf. Das Subjekt kann gar nicht mehr substantiell interpretiert werden, wenn man der physikalischen, objektiven Außenwelt "adieu" sagt, und genau das ist der Kern der cartesischen Argumentation.

Zusammenfassung

Fassen wir zusammen: Der Schluß eines Selbstbewußtsein auf seine eigene (absolute) Existenz ist naheliegend - wenn sie auch zunächst etwas verblüfft. (Ich denke, also bin ich.) Es ist eine Einsicht, zu der man erst einmal kommen muß. Tatsächlich ist aber nicht die Implikation entscheidend, sondern die (starke) Voraussetzung des subjektiven Selbstbewußtseins ("Ich denke"). Da Selbstbewußtsein für jeden einzelnen evident ist, meint Descartes alles Philosophieren auf dieses sichere Fundament aufbauen zu können. Er geht vom persönlichen Selbstbewußtsein aus, welches für das jeweilige Individuum tatsächlich unzweifelhaft ist, da es sich sonst selbst negieren würde. Descartes' Argument verliert jedoch seine Kraft, wenn man die Existenz des Subjekts "objektivieren will", also möchte, daß es nicht nur absolut, sondern auch in der physikalischen Welt existiert. Dies sieht man auch, wenn man unmittelbar einen objektiven Standpunkt einnimmt. Denn dann ist die allererste Frage, ob überhaupt irgendetwas existiert. Verneint man dies, leugnet man also die Existenz einer physikalischen Welt (wie es Descartes tut), so kommt man nicht umhin auch dem "Ich" seine Existenz in dieser Welt abzusprechen. Denn wenn kein physikalischer Raum existiert, so kann auch kein reales Objekt in diesem Raum vorhanden sein. Das "Ich" mag zwar dann in einem gewissen absoluten Sinne - unabhängig vom physikalischen Raum, für sich allein genommen - existieren, jedoch in der realen Welt ist es sicherlich nicht vorhanden, einfach deswegen, weil es keine reale Welt gäbe, in der es vorhanden sein könnte. Man hat also nur die Möglichkeit, entweder den Begriff "Existenz" im Sinne von "Vorhandensein in der realen, physikalischen Welt" zu einer "Existenz in einem subjektiven, prinzipiellen Sinn", einem "überhaupt Vorhandensein", einem "nicht nicht sein" abzuschwächen, oder aber, mit dem Bekenntnis zur eigenen realen Existenz, ebenfalls das Vorhandensein einer realen Welt zu akzeptieren. Denn soll das Ich objektiv, physikalisch existieren, so muß es gleichzeitig eine physikalische Welt geben, in der es existieren kann. Von der Existenz eines Objekts im starken, physikalischen Sinn zu sprechen, ist nur von Bedeutung, wenn das Objekt ,,Ich" in eine physikalische Gesamtheit, "die Welt" eingebettet ist, also ein Teil der physikalischen Welt ist. Schafft man mit logischen Argumenten diese Welt ab, so raubt man dem Begriff ,,Existenz" einen wesentlichen Teil seiner Bedeutung.

1.1 Das Subjekt

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Es ist nicht möglich, einerseits die reale Welt zu verneinen und andererseits im üblichen Sinne - nämlich im Sinne von tatsächlich existierend, objektiv, physikalisch vorhanden seiend - von ,,Existenz" zu sprechen. Doch genau diesen Mittelweg ist man geneigt im Anschluß an das cartesische Argument einzuschlagen. Man möchte nur zu gerne ein uneingeschränkt, objektiv, real existierendes Ich, bei gleichzeitiger Verneinung einer physikalischen, tatsächlichen, realen Außenwelt. Doch dies ist eine Illusion. Indem man die Welt verbannt, nimmt man gleichzeitig dem "Ich" seine Existenzgrundlage.

Konsequenz

Wo also bei der Suche nach Erkenntnis und Wahrheit beginnen? Wohl beim ,Jch", denn unserer selbst sind wir uns gewiß. Wir existieren, zumindest für uns allein genommen, also in einem absoluten Sinn (nicht relativ zu einer äußeren Welt). Wir existieren, insofern wir denken, könnte man mit Descartes sagen. Diese Art der Existenz, die ,,Existenz per se" oder ,,Existenz als solche", absolut, ohne Bezug auf eine Grundgesamtheit, werden wir in Zukunft auch "schwache Existenz" nennen und sie von der physikalischen, oder auch "starken Existenz" in der realen Welt an sich, wie wir sie im nächsten Kapitel einführen werden,unterscheiden. Die Wortwahl schwach versus stark läßt sich leicht begründen: Existiert irgendein Objekt im schwachen Sinn, so ist nur garantiert, daß es überhaupt vorhanden ist. Es existiert für sich, es ist nicht nicht vorhanden. Die starke Existenz sagt darüber hinaus aus, wo sich das Objekt befindet, nämlich in der realen, physikalischen Welt. Man hat hier zusätzlich zu der Tatsache, daß es überhaupt vorhanden ist, die Infonnation, wo sich das Objekt befindet. Man gibt also über die nackte Existenz hinausgehend an, zu welchem Gegenstandsbereich es gehört, in unserem Fall zur Gesamtheit aller physikalischen Objekte (d. h., aller Objekte, die in der physikalischen Welt existieren). Unser Ausgangspunkt ist also subjektiv, denn Sie sind sich Ihrer selbst gewiß, genauso wie ich mir meiner selbst gewiß bin. Man könnte es auch den natürlichen philosophischen Standpunkt eines jeden Einzelnen nennen; den individuellen Ausblick auf sich selbst (und die Welt ab dem nächsten Kapitel), den jedes Individuum von seiner einzigartigen Warte aus hat. Sein Gegenpol ist ein objektiver, über den Dingen schwebender Standpunkt, den wir im nächsten Kapitel einführen werden. Ohne weitere Grundannahmen könnte das Ich an dieser Stelle einer egozentrischen Manie verfallen. Nur es selbst existiert (wenn auch lediglich im schwachen Sinn), ansonsten nichts. Nicht die Welt, nicht die Menschen, nicht Gott. Ein einsames Ich, im Dunkeln, abgehoben nur vom Nichts, welches es umgibt. Da schafft es sich seine Welt, es konstruiert sich ein Universum nach seinem Geschmack. Es spricht: Es werde Licht (oder etwas ähnliches) und baut sich Stück für Stück seine

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1 Erkenntnistheorie

Welt auf: Die Weiten des Alls, die Milchstraße, das Sonnensystem, der blaue Planet, die Staaten, die Menschen, die Flora und Fauna - alles, einfach alles wird von ihm geschaffen. Bis sie letztlich geschaffen ist: Die fiktive Welt dieses einen Ich. Sie existiert, jedoch nur in der Vorstellung dieses einen Ich. Möglicherweise begibt sich das Ich sogar in seine eigene Welt. Inkognito als Sohn des Schöpfers etwa, oder, - bescheidener - als dessen Prophet. Zurückhaltendere Gemüter wählten womöglich schlichte Gestalten: Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine. Ganz Bescheidene begnügten sich vielleicht mit einer rein beobachtenden Position und schwebten als Weltgeist über den Wassern. Wie die Details nun auch aussehen mögen, diese wolkigen Spekulationen wären nicht der Rede wert, ergäben sie sich nicht so zwanglos aus dem uneingeschränkten Subjektivismus eines Ich, das nur sich selbst - und sonst nichts - anerkennt. Diese philosophische Position des unbeschränkten Subjektivismus tauchte in der langen Geschichte der Philosophie immer wieder auf. Heute wird sie, etwas abgeschwächt, (u. a.) unter dem Namen "Konstruktivismus" vertreten. Dieser betont ganz besonders die Willkür, die in allen unseren gedanklichen Konstrukten steckt. (Siehe zum Beispiel Watzlawick [79], [80].) Früher war diese philosophische Haltung unter dem Namen "Idealismus" bekannt, üblicherweise nennt man sie "Solipsismus". Wie man die Position nun auch immer nennen mag, im Zentrum steht stets das Ich, welches alles weitere in selbstherrlicher Gnade erschafft. Das ist philosophisch konsequent, wenn man keine vom Ich unabhängige, reale Außenwelt einführen möchte. Das Problem jener Position ist nur, daß in der vom Individuum geschaffenen Welt alles möglich ist. Lediglich die Phantasie des Individuums begrenzt die Fiktion. Es ist eine Welt völliger Freiheit und damit zugleich eine anarchische Welt voller Willkür. Die Vorstellungen des Ich wandeln sich schnell und ungehemmt, nirgends gibt es vom Individuum unabhängige Regeln, Schranken, die dem Willen des Ich einen Widerstand entgegensetzen. Damit ist diese phantastische Welt so wenig greifbar wie sie leicht zu verändern ist. Ihr scheinbarer Vorzug unbegrenzter Freiheit wird konterkariert durch einen Mangel an Halt, an Verbindlichkeit. In einer ausschließlich subjektiven Welt läßt sich alles begründen, alles vertreten, alles aufbauen und auch (genauso schnell) wieder verwerfen. Nichts ist konkret, hart, schwer veränderbar, nicht nach dem Geschmack des Individuums, denn eigene Gesetze lassen sich so schnell beschließen, wie sie sich aufheben lassen. Es gibt keine harten Realitäten, an denen man nicht vorbeikommt, an denen man sich stößt. Das alles führt dazu, daß die subjektive Welt unwirklich, verwirrend und verschwommen ist. Darüberhinaus ist es die einsamste Welt, die man sich vorstellen kann. Das gerade geschilderte Weltbild dürfte in seinen klinisch relevanten Formen vielen Psychiatern nicht ganz unbekannt sein. Wieviele Napoleons, Propheten und Einsteins befinden sich wohl in geschlossenen Anstalten? Diese sehen die Realität in Bezug auf sich selbst so, wie sie sie gerne sehen wollen. Sie konstruieren sich eine Situation, die ihnen genehm ist. Das Extrem stellen in dieser Hinsicht womög-

1.2 Die Welt

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lich Autisten dar. Diese scheinen ganz und gar in ihrer selbstgeschaffenen Welt zu leben, von ihrem "Wahnsinn" vor einer Welt beschützt, mit der sie nicht zurechtkommen. 4 Sie finden in ihren Fiktionen Schutz, fühlen sich in ihnen sicher, doch leider können sie auch zu niemandem sonst wirklich Kontakt aufnehmen, denn nur sie haben sich diese, ihre Vorstellungen, geschaffen. Unsere obige Argumentation hat klar gemacht, daß man keinen dieser Menschen mit zwingenden Gründen dazu bringen kann, die Existenz einer äußeren Realität anzuerkennen. Denn wie wollten wir ihm beweisen, daß es noch Sachverhalte jenseits seiner Vorstellungen gibt? Alles, was jeder Einzelne von uns hat, sind Vorstellungen, Bilder, Konzepte, die er für richtig hält. Alles, wirklich alles, außer seiner eigenen schwachen Existenz, könnte sich dieser eine Mensch einbilden (oder ihm von einem Dämon vorgegaukelt werden, um mit Descartes zu sprechen). Er hat kein Mittel, zwingend zwischen Illusion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Keine Logik kann ihn zu der Aussage zwingen, daß es außerhalb seines Ich eine Welt an sich gibt, die vom ich unabhängig existiert. Deren Existenz ist eine Grundannahme, keine Folgerung. Wir werden sie gleich formulieren, denn ohne sie bleibt man unweigerlich im Solipsismus stecken. Tiefergehende Überlegungen zu den oben angesprochenen Existenzproblemen finden sich in Abschnitt 2.1.10.

1.2 Die Welt Im ersten Kapitel hatten wir ein einsames Ich gefunden, das sich vom Nichts nur durch seine (schwache) Existenz abhob. Genauer gesagt, hatten Sie, verehrter Leser, durch rein logische Schlüsse aus Ihrem Selbstbewußtsein Ihr Vorhandensein deduziert, und damit das cartesische Cogito nachvollzogen. Ohne irgendwelche Annahmen ist weiter nichts beweisbar, denn jegliche Einsicht, die über die nackte (wenn auch sich ihrer selbst bewußte) Existenz des Ich hinausgeht, kann potentiell eine Täuschung sein, wie Descartes richtig erkannt hat. Ist man deshalb nicht bereit, an irgendetwas zu glauben bzw. - weniger religiös ausgedrückt - irgendetwas über das Ich hinausgehendes zu postulieren, so gelangt man sofort zu idealistischen (resp. konstruktivistischen und solipsistischen) Haltungen. 5 Mangelnder Glaube, also der Verzicht auf irgendwelche Annahmen, hat also unmittelbar zwei Konsequenzen: Zum einen nimmt man eine nicht kritisierbare Position ein (denn man macht sich überhaupt keine Annahmen zu eigen, die kritisierbar wären) - das ist die angenehme Konsequenz. Zum anderen sind deshalb aber auch 4 Man nimmt an, daß Autisten nicht in der Lage sind, ihre mannigfaltigen sensorischen Eindrücke zu verarbeiten, weshalb ihnen nur die Wahl bleibt, sich von diesen und damit von der Außenwelt abzukapseln. 5 Deshalb sagt M. Planck [51], p. 32: "Auch für die Physik gilt der Satz, daß man nicht selig wird ohne den Glauben, zum mindesten den Glauben an eine gewisse Realität außer uns."

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I Erkenntnistheorie

alle Vorstellungen die sich das Ich macht, nur haltlose Träumereien und beliebiges Wunschdenken dieses Subjekts, weIches die unangenehme Konsequenz ist. Prägnant gesagt ist der Preis der Unangreifbarkeit der eigenen Meinungen ein extremer Subjektivismus - man läßt nichts außer sich selbst gelten, weshalb alles nur in der Vorstellung von einem selbst existieren kann. B. Russell [64], p. 132, hat dies die "Haltung des vollkommenen Skeptikers" genannt. Wollen wir ein vermeintlich angemesseneres Bild unserer Lage gewinnen, so kommen wir also nicht umhin, gewisse inhaltliche Grundannahmen zu formulieren. Unsere Erfahrungen legen das Postulat nahe, daß es eine Welt gibt. Deshalb nehmen wir an, daß es - im schwachen Sinn - eine Welt an sich gibt, unabhängig vom Ich, dessen Wahrnehmung und dessen (schwacher) Existenz. Wir gehen also im folgenden davon aus, daß es eine Welt und ein Ich gibt, die beide insofern vorhanden sind, als daß sie nicht nicht existieren. Bis auf die Tatsache, daß sich das Ich seiner selbst bewußt ist, wissen wir über die bei den und ihre Beziehungen zueinander nichts. Mit der Unabhängigkeit beider ist gemeint, daß die Welt ohne Hilfe des Ichs existiert. Insbesondere, daß sie vorhanden ist, auch wenn sie vom Ich gerade nicht wahrgenommen wird, oder Teil der aktuellen Vorstellungen des Ichs ist. (Ganz im Gegensatz zur idealistischen Haltung Berkeleys, der annahm, daß es nur dann sinnvoll ist, von der Welt (bzw. den Objekte in ihr) zu sprechen, wenn diese auch von jemandem beobachtet wird. Eine kleine Kostprobe [2]: The table I write on I say exists, that is, I see and feel it; and if I were out of my study I should say it existed - meaning thereby that if I was in my study I might perceive it, or that some other spirit actually does perceive it. There was an odour, that is, it was smelt; there was asound, that is, it was heard; a colour of figure, and it was perceived by sight or touch. This is all I can understand by this and the Iike expressions. - For as to what is said of the absolute existence of unthinking things without any relation of their being perceived, that is to me perfectly unintelligible. Their esse is percipi, nor is it possible they should have any existence out of the minds or thinking things which perceive them.) Entscheidend ist, daß die Welt kein Teil des Ichs ist, sie also nicht auf die bloße Vorstellung eines Subjekts reduzierbar ist. Vielmehr existiert sie aus eigenem Recht, hat ihre eigenen Gesetze und ist nicht der Willkür des Ich unterworfen, wie die Vorstellungen, die dieses sich macht. Die Welt existiert, gleichgültig, was das Ich denkt und wahrnimmt; und sie ist so, wie sie ist - egal, was für Ideen und Ansichten das Ich hegt. M. Planck [77], p. 146, hat dies scharf so formuliert: "Die Welt kümmert sich einen Pfifferling darum, ob der Solipsist wacht oder schläft und selbst wenn er für immer die Augen schlösse, würde sie kaum eine Notiz davon nehmen, sondern ungeändert ihren gewöhnlichen Gang weitergehen." Nun ist es naheliegend, einen über dem Ich und der Welt schwebenden (beobachtenden) Standpunkt einzuführen. Vergleichbar dem, den ein viel wissender Gott hätte oder dem, den der Autor eines Romans besitzt. Blicken wir dann - gewisser-

1.2 Die Welt

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maßen "von oben" - auf das Ich und die Welt herab, so nehmen wir in natürlicher Weise einen objektiven Standpunkt ein. Wir überblicken "alles", also die Welt und das Ich. Diese überindividuelle Sicht der Dinge wird sich als sehr nützlich erweisen, insbesondere bildet sie den natürlichen Gegenpol (und ein Gegengewicht) zum subjektiven Standpunkt. Wir werden uns des objektiven wie des subjektiven Ausblicks bedienen, je nachdem, welcher gerade günstiger ist. Dabei wird aber immer deutlich sein, welche Position wir gerade einnehmen. 6 Vom objektiven Standpunkt aus gesehen können wir uns durchaus vorstellen, daß es eine physikalische Welt gibt, ohne daß es zugleich ein Ich geben müßte, das sich seiner selbst bewußt ist. (Die Naturwissenschaften legen nahe, daß dies nach dem Urknall viele Millionen Jahre lang der Fall war. In dieser Betrachtungsweise war die Welt zuerst vorhanden, dann erst eine sich ihrer selbst bewußte Existenz.) Selbst wenn man das gerade in Klammem erwähnte plausible empirische Argument nicht heranziehen möchte: Es ist auch rein theoretisch denkbar, daß die physikalische Existenz der subjektiven Selbsterkenntnis vorangehen kann. Dann nämlich, wenn etwas zuerst in der Welt vorhanden ist, bevor es sich seiner selbst bewußt wird. So gesehen kommt die Existenz vor der Selbsterkenntnis; ganz im Gegensatz zu Descartes' Argument, in dem vom Selbstbewußtsein auf das eigene Vorhandensein geschlossen wird. Das schränkt die philosophische Priorität des Ich (da jedes Ich von sich selbst ausgeht), wie sie im ersten Kapitel aufleuchtete, deutlich ein. (Fast) mit demselben philosophischen Recht kann man von einer objektiven Welt ausgehen und a posteriori das Ich relativ zu dieser Welt einführen. (Fast, denn unser eigenes Selbstbewußtsein zeichnet unseren subjektiven Standpunkt aus.) Aus dem subjektiven "a priori" wird auf diese Weise ein objektives "a posteriori". Insbesondere ist es darüberhinaus möglich, daß das Ich aufhört zu existieren stirbt - ohne daß dies die Existenz der Welt irgendwie beeinträchtigt. (Oder, vice versa, daß die Welt schon längst vorhanden war, ehe das Individuum die Bühne 6 Gelegentlich wird bezweifelt, ob man eine solche Sichtweise überhaupt einnehmen kann, da keine Sichtweise sprach- zeichen- oder interpretationsunabhängig sei. Anders gesagt: Wir befinden uns in einem System und wir können nicht so tun, als würden wir von außen auf dieses blicken. Wir können uns nicht von dem Zusammenhang, innerhalb dessen wir uns befinden, freimachen. Auch ein "View from nowhere", der unsere Perspektive innerhalb des Systems mit einer "objective view of that same world, the person and his viewpoint inc1uded" verbinden möchte, sei uns verwehrt. (Siehe hierzu insbesondere T. Nagel [50].) Dazu ist zu sagen, daß der objektive Standpunkt ganz und gar theoretisch-konzeptionen zu verstehen ist. Es handelt sich bei ihm um eine Position in einem abstrahierten Zusammenhang, um ein Gedankenexperiment. In diesem Sinne ist er "völlig hypothetisch." Wir können ihn in der Realität nicht einnehmen, denn wir können nicht zugleich etwas erkennen (wollen) und zugleich nichts mit dem zu Erkennenden zu tun haben (wollen). Sobald wir die Welt als Subjekt tatsächlich wahrnehmen, sind wir zum einen in das Geschehen involviert und zum anderen an einen festen "Kontext" (also eine konkrete Beobachtungssituation und einen interpretativen Zusammenhang), innerhalb dessen wir erkennen, eingebunden. Das werden wir in den nächsten Kapiteln nicht müde werden zu unterstreichen.

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1 Erkenntnistheorie

betrat.) Die Welt kann also das Ich lange überdauern, und dies festigt nochmals den Eindruck von der (objektiv) größeren Bedeutung der Welt. In Kapitel 1.18 führen wir darüberhinaus zusätzliche Subjekte ein, die die herausgehobene Position des Ich noch weiter relativieren werden.

Ein erster Blick auf die Welt

Die starke und die schwache Existenz eines Subjekts läßt sich jetzt leicht veranschaulichen: Befindet sich das "Ich" in der realen Welt, so ist es stark existent. (Denn so war die starke Existenz definiert.) Liegt es außerhalb der physikalischen Wirklichkeit, so ist es lediglich schwach existent. (Siehe hierzu auch die Ausführungen zum Leib-Seele-Problem, p. 67.) Egal ob es nun schwach oder stark existent ist: Ohne weitere Annahmen weiß das Ich nichts über die Welt. Es kann keine begründete Aussage über die Welt machen, solange es nicht auf irgendeine Art und Weise Informationen von der Welt erhält. Auch ein real vorhandenes (also in der physikalischen Welt existierendes) Ich ist ohne eine - wie auch immer geartete - Wahrnehmung völlig blind. Wir müssen also annehmen, daß äußere Informationen das Ich erreichen, und genau das ist der Inhalt des nächsten Kapitels. Die scharfe Trennung von Ich und Welt gibt dem Individuum große Freiheiten in der Konstruktion seiner Ansichten. Es kann zum Beispiel die Welt - auch wenn es sie tatsächlich wahrnehmen kann - schlicht ignorieren, ihr Vorhandensein prinzipiell in Frage stellen, oder Meinungen vertreten, die mit den objektiven Realitäten nichts gemein haben. Dieser gleichsam platonischen Haltung, welche das subjektive Moment der Willkür und Konstruktion betont, diametral entgegengesetzt ist eine aristotelische Haltung. Jene besteht darin, daß das Ich versucht, seine gedanklichen Schlüsse und inhaltlichen Überlegungen mit der Realität (bzw. seinen Wahrnehmungen) abzugleichen, bestenfalls, seine eigenen Konstruktionen und Überlegungen exakt mit seinen (naiven wie sophistizierten) Wahrnehmungen in Übereinstimmung zu bringen. Wieviel das Subjekt von der objektiven Realität erfahren kann und will hängt also sowohl von seinen mentalen Fähigkeiten, der Güte seiner Wahrnehmung als auch seiner Einstellung gegenüber seinen eigenen Wahrnehmungen ab. Weigert sich das Ich, etwas über die Welt zu erfahren (schließt es also gleichsam die Augen), oder hält es aus irgendwelchen Gründen die Erforschung der Welt für unmöglich bzw. irrelevant, so wird es auch nichts entdecken.

Strukturpostulat

Noch ein weiteres ist wichtig zu erkennen: Hat die Welt eine innere Struktur, und das werden wir im folgenden immer annehmen, so besteht offensichtlich ein bedeutsamer Unterschied zwischen dem vom Subjekt wahrgenommenen Aus-

1.3 Die Wahrnehmung - Philosophische Haltungen

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schnitt der Welt, und eben jenem Teil der Welt, wie dieser tatsächlich ist. 7 Ist die Welt etwa aus (von einander wohlunterschiedenen) physikalischen Objekten aufgebaut, so sind diese Objekte als solche (in der physikalischen Welt) etwas ganz anderes als die Vorstellungen, welche das Individuum von ihnen besitzt. 8 Ist das Individuum auch nur ein wenig in der Lage, reale Objekte zu erkennen, so ist es vernünftig, ein Objekt als solches, klassisch gesagt, ein "Ding an sich" von der Vorstellung, die das Individuum von diesem Objekt hat, also dem Bild, welches sich das Individuum von dem Objekt macln, zu trennen. Denn beide sind nicht deckungsgleich. Zwischen der Idee, die das Ich von einem Gegenstand hat und dem Gegenstand als solchem können immense Unterschiede bestehen. Zum Beispiel könnte es real existierende Objekte geben, die das Ich überhaupt nicht wahrnehmen kann. Oder, wenn es in der Lage ist, sie zu erkennen, so könnten die Abbilder verzerrt oder verschwommen sein. Das Ich könnte sich, kurz gesagt, täuschen. Es könnte sogar meinen, daß ein Objekt in der Welt existiert, obwohl dieses real überhaupt nicht vorhanden ist ... (Der Leser wird sich erinnern, daß dies unser Ausgangspunkt im ersten Kapitel war: Ein Dämon, welcher dem Subjekt vorgaukelt, es gäbe etwas außer ihm selbst, obgleich doch nichts ist.) Der größte Teil des verbleibenden ersten Teils dieses Buches ist der Analyse der Beziehungen zwischen "einem Objekt als solchem" bzw., etwas zurückhaltender formuliert, einem "Teil der physikalischen Welt" und dem "wahrgenommenem Objekt", der "Vorstellung", die das Subjekt von dem Objekt hat, gewidmet.

1.3 Die Wahrnehmung - Philosophische Haltungen Im ersten Kapitel hatten wir ein Ich gefunden, im zweiten die physikalische Welt, die reale "Welt an sich" eingeführt. Diese beiden Entitäten waren voneinander unabhängig, die eine konnte (objektiv gesehen) ohne die jeweils andere existieren. Auch waren sie nicht notwendigerweise aufeinander bezogen. Das Innenleben des Subjekts brauchte nichts mit den Vorgängen in der realen Welt zu tun zu haben - und umgekehrt. Nun schaffen wir eine Verbindung zwischen diesen beiden fundamentalen Größen, indem wir postulieren: Es gibt einen Verbindung zwischen der Welt an sich und dem erkennenden Ich. Diese Verbindung nennen wir Wahrnehmung. Die Wahrnehmung fassen wir im weitestmöglichen Sinne auf. Das heißt, die Wahrnehmung ist für uns eine Brücke, über die Informationen die Kluft zwischen Welt an sich und Ich überqueren können. Sie ist das (einzige) ,,Fenster zur Welt" für das Subjekt. Nutzt das Ich die auf diesem Weg erhaltenen Informationen, so 7 Man bemerke, daß bereits so harmlose Ausdrücke wie "Ausschnitt" bzw. "Teil" der Welt nur dann sinnvoll sind, wenn die Welt tatsächlich eine wie auch immer geartete Gliederung besitzt. 8 Insofern das Subjekt überhaupt in der Lage ist. irgendetwas zu erkennen.

3 Saint-Mont

1 Erkenntnistheorie

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beruhen seine Vorstellungen über die Welt nicht nur auf der eigenen Einbildung (wie im Idealismus) sondern zum Teil auch auf nicht-eigenen, externen Daten. In diesem Sinne kann das Ich Ansichten von der Welt (oder Teile von ihr) entwickeln, die über bloße Spekulationen hinausgehen. Das heißt, das Subjekt kann in diesem Sinne - wenn vielleicht auch sehr unvollkommen - die Welt erkennen. Nachrichtentechnisch gesprochen ist die Wahrnehmung der (möglicherweise nicht rauschfreie) Kanal zwischen der Informationsquelle "Welt an sich" oder kurz "der Welt" und dem Empfänger, dem Ich. Die möglichen erkenntnistheoretischen Positionen ergeben sich nun einfach daraus, wieviel man der Wahrnehmung zutraut: 1.

Solipsismus/Idealismus: Der Solipsismus in seiner reinsten Form geht davon aus, daß die Wahrnehmung zu nichts nütze ist. Deshalb kann das Subjekt die Welt nicht erkennen. Ohne externe, von der Welt stammende Daten ist die Vorstellung, die sich das Ich von der Welt macht nichts weiter als dessen Phantasiegebilde. Genausogut kann man annehmen, daß es gar keine physikalische Welt gibt, und sich das Subjekt alles nur einbildet. Beidesmal reduziert sich die Weltanschauung des Ich auf dessen Wünsche und dessen Einbildungskraft. Denn es bleibt sich für das Subjekt gleich, ob es eine äußere reale Welt gibt, die ihm völlig verborgen bleibt, oder ob es keine solche gibt. Optimistischer ist der Realismus: (Hypothetischer9 ) Realismus:

2.

Nimmt man an, daß es eine Welt gibt und daß die Wahrnehmung uns gewisse Informationen über sie zur Verfügung stellt, so kommt man zu (hypothetischen) realistischen Positionen. Das heißt, nicht alles ist bloße Idee des Ich, sondern es gibt zugleich einen externen, nicht auf das Individuum zurückgehenden, Einfluß auf dessen Vorstellungen. Wie weit dieser Einfluß reicht, ist die entscheidende Frage, welche die verschiedenen, im folgenden beschriebenen, realistischen Haltungen voneinander trennt. 2.a) Naiver Realismus: Die natürliche Antipode zum grenzenlosen Pessimismus des Idealismus ist der glühende Optimismus des naiven Realismus. Dieser behauptet kurz und knapp: Die Welt ist genau so, wie wir sie wahrnehmen. Unsere Wahrnehmung erkennt die Welt an sich also so wie sie ist, es gibt keinen Unterschied zwischen unseren Vorstellungen von der Welt und der Welt als solcher. Unsere via Wahrnehmung gewonnene Vorstellungswelt ist ein exaktes Abbild der Welt an sich. Anders gesagt: unsere Wahrnehmung ist perfekt. Sie erkennt alles, jede Eigenschaft der Welt, und dies darüber hinaus fehlerfrei. Damit lassen sich gegen diese Position sofort schwerwiegende Einwände erheben. Zum einen zeigt etwa das Beispiel der Radioaktivität, daß wir sehr 9

Da wir nicht beweisen können, daß die Welt existiert. (Siehe p. 29.)

1.3 Die Wahrnehmung - Philosophische Haltungen

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wohl gewisse Eigenschaften der Welt an sich nicht unmittelbar wahrnehmen. Zum anderen: Wer wollte von sich behaupten, daß ihn seine Wahrnehmung noch nie getäuscht habe? Die Wahrnehmungspsychologie kennt eine ganze Reihe (nicht nur) optischer Täuschungen und wie viele verdurstende Karawanen sind vergebens einer Fata Morgana hinterhergejagt? Ganz so einfach kann es also nicht sein. 10 Die Wahrheit (oder, vorsichtiger gesagt, der für uns plausibelste Standpunkt) muß "in der Mitte liegen", irgendwo zwischen weltfremdem Idealismus und naiv-wahrnehmungsgläubigem Realismus. Zwei Positionen, die einen solchen Kompromiß versuchen, seien genannt. 2.b) Repräsentativer Realismus: Dieser ist insofern optimistisch, als daß er postuliert, unsere sinnlichen Erfahrungen würden von der physikalischen Realität verursacht. Wir erfahren - und daher sein Name - Repräsentationen der Wirklichkeit. Er ist insofern pessimistisch, als daß er annimmt, daß wir diese uns zugänglichen Repräsentationen nicht mit der Wirklichkeit, also den tatsächlichen Verhältnissen, vergleichen können. Wir sehen gewissermaßen nur, was auf einer "Bühne" geschieht, können aber nie "hinter die Kulissen" blicken. 2.c) Kritischer Realismus: Auch dieser nimmt an, daß unsere Wahrnehmung keine sicheren Erkenntnisse über die realen Zustände in der Welt liefert. Gleichwohl postuliert er, daß wir "hinter" unsere direkten Sinneserfahrungen gelangen können, wobei aber die Welt "nicht in allen Zügen so beschaffen [ist], wie sie uns erscheint." (Siehe [78], p. 35.) Der Unterschied zwischen den realistischen Positionen liegt also darin begründet, inwieweit wir von unseren Vorstellungen auf die Struktur der Welt zurückschließen können. Der naive Realismus denkt, es bestünde eine Isomorphie, also eine völlige Strukturgleichheit zwischen unseren Vorstellungen und den tatsächlichen Verhältnissen. Der (hypothetische) streng kritische Realismus postuliert, daß sich keine der Strukturen der realen Welt mit unseren Vorstellungen deckt. Dazwischen liegen gemäßigte kritische Positionen, die annehmen, daß wir die Welt und deren Strukturen mehr oder minder - teilweise, hypothetisch - erkennen können. Der Teufel scheint im Detail zu stecken. Was läßt sich wann inwiefern erkennen, ist die entscheidende Frage. Können wir schemenhaft die Welt erkennen, wie Plato in seinem Höhlengleichnis nahe legt, sind wir in der Lage teilweise die Welt zu sehen, also manches zu sehen, während uns anderes verborgen bleibt, können wir nie, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit oder immer unter die Oberfläche unserer Vorstellungen vordringen? Eben diese außerordentlich wünschenswerten Präzisierungen bereiten außerordentlich große Schwierigkeiten.

10 Die ganzen Unterscheidungen, die wir bislang getroffen hatten, rühren ja gerade daher, daß wir erkannt hatten, daß die Wahrnehmung ein Problem darstellt. Daß nämlich grundsätzlich zwischen Anschauung und Ding an sich zu differenzieren ist.



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1 Erkenntnistheorie

1.4 Der Wahrnehmun~kanal Die gerade angesprochenen Schwierigkeiten verblüffen nicht, wenn man die Wahrnehmung als (Wahrnehmungs-)Kanal zwischen Ich und Welt im Sinne der Informationstheorie auffaßt. Die Welt als Sender schickt Informationen über den Kanal Wahrnehmung an das Ich. Das Ich hat dann Informationen, die zum einen die Situation in der Welt richtig wiedergeben - jene nämlich, die vom Kanal fehlerfrei übertragen wurden -, und Informationen, welche die Situation in der Welt nicht richtig wiedergeben - jene nämlich, die fehlerhaft übertragen wurden. Letztere nennt man auch das ,,Rauschen" des Kanals. (An der Wortwahl erkennt man, daß die Informationstheorie in der Zeit der Radioempfänger formuliert wurde.) Entscheidend ist nun, daß das Ich nicht sagen kann, welche Information aufgrund von Rauschen zu ihm gelangte, und welche Information es unverfälscht erreichte. So sehr sich das Ich auch bemüht, es hat keinen Einfluß auf die Qualität des Kanals und damit auf die Güte seiner Information von der Welt. Ist der Kanal sehr schlecht, wird also die Information von der Welt an sich durch den Kanal praktisch völlig verwischt, so kann das Ich weniger als schemenhaft die Welt an sich erkennen. Das kann jeder sofort nachvollziehen, der einen Fernseher mit einer schlechten Hausantenne sein eigen nennt. Im schlimmsten Fall ist das Bild so undeutlich, daß man fast nichts mehr zu erkennen vermag. Die Situation ist eine ganz andere, wenn die Signalübertragung sehr gut ist (im Beispiel: Kabelfernsehen), dann wird kaum einmal eine fehlerbehaftete Information die Sicht beeinträchtigen. Aber auch das weiß das Individuum nicht. Weder kann es über eine spezielle Information sagen, ob sie stimmt, noch kann das Individuum die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der im Mittel die Informationen korrekt übertragen werden. Das Subjekt bekommt einfach Informationen einer gewissen Qualität vorgesetzt und hat das Beste daraus zu machen. Ein Drittes vermag das Ich nicht zu sagen, nämlich welche Informationen den Kanal passieren und welche nicht. Anders gesagt, welche Aspekte der Welt das Individuum überhaupt wahrnehmen kann, und welche ihm verschlossen bleiben. Um wieder das Beispiel des Fernsehens zu wählen: Hat das Individuum einen Schwarzweiß-Empfänger, wird es keine Aussagen über die Farben der Welt machen könne, höchstens über verschiedene Grautöne. Fällt die Bildübertragung aus, so hört es die Welt nur noch. Und hat es keine Satellitenschüssel, so werden ihm viele Informationen (= Fernsehkanäle) verborgen bleiben, die im Prinzip verfügbar wären, die es aber nicht emfangen kann, da ihm das Sinnesorgan fehlt. Das natürliche Analogon hierzu war die Radioaktivität, die der ,,Mensch an sich" nicht wahrnimmt. Zuguterletzt können die Informationen das Individuum auch systematisch verfälscht erreichen. Man denke an eine defekte Fernsehröhre, die Farben vertauscht

1.4 Der Wahmehmungskanal

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oder umkehrt. Helle Farbtöne könnten zum Beispiel dunkel erscheinen und umgekehrt. Dann würde das Ich nicht ein Positiv der Welt, sondern ihr Negativ sehen. Auch in diesem Fall hätte das Ich keine Möglichkeit, die wahren Verhältnisse zu eruieren, denn es stehen ihm nur die erhaltenen Informationen zur Verfügung, nicht die abgesandten, unverfalschten. Alle erkenntnistheoretischen Positionen des letzten Kapitels lassen sich unter dieser allgemeinen Sichtweise subsumieren. Was die Positionen trennt, ist die Güte der Informationsübertragung durch den Kanal der Wahrnehmung. Eine optimistisch-realistische Position ist dann gerechtfertigt, wenn die Datenübertragungsqualität des Kanals gut ist und zudem viele verschiedene Informationen den Kanal passieren können. Eine pessimistisch-idealistische Sicht eher dann, wenn die Übertragungsqualität schlecht ist oder kaum Informationen durch den Kanal gelangen. Insbesondere ist bei nicht perfektem Kanal kein zwingender Schluß von der beobachteten Information des Ich auf die abgesandte Information der Welt möglich. Sichere oder wahrscheinliche Aussagen über die Welt sind dem Individuum solange nicht möglich, solange man nicht die Gesetzmäßigkeit, die im Kanal herrschen, näher spezifiziert. Dies werden wir gleich im Detail tun. Das heißt, wir überlegen, welche Annahmen über den Kanal welche Folgerungen über die Welt an sich rechtfertigen. 1.

Solipsismus/Idealismus Gibt es keinen Wahrnehmungskanal, oder, was auf dasselbe hinausläuft, verrauscht sämtliche Information im Wahrnehmungskanal, so gelangt man zum Solipsismus. (Genauer, einer möglichen Darstellung desselben.) Denn alles, was das Ich von der Welt zu erkennen meint, bildet es sich in Wirklichkeit nur ein. Sämtliche Vorstellungen des Subjekts sind reine Phantasie, da sie nicht durch äußere Informationen beeinflußt werden. Die Wahrnehmung, das Fenster zur Welt, ist völlig verschlossen. Ein Menschen, der vor einem defekten Fernseher sitzt, auf dessen Bildschirm nur ein wildes flimmern zu sehen ist, befindet sich in derselben mißlichen Lage. Nichts ist wirklich zu erkennen: Keine Richtung zeichnet sich aus, keine Kontur hebt sich vom nebligen Hintergrund ab, keine Handlung ist sichtbar. In einer solchen Situation ist tatsächlich jeder Rückschluß auf die Welt reine Spekulation. Die idealistische Haltung - vielleicht mit einem mitleidigen Lächeln vorgetragen - "Liebes Individuum, Du bildest Dir mögliche Konturen nur ein, konstruierst Dir die/Deine Welt, so wie Du sie gerne hast" ist in einer solchen Situation nur allzu gerechtfertigt.

2.

Realismus Nimmt man erneut an, daß es ein Welt gibt, und daß der Kanal zumindest gewisse Informationen, die von der Welt kommen, passieren läßt, so kommt man zu realistischen Positionen.

1 Erkenntnistheorie

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2.a) Naiver Realismus Gehen alle Informationen perfekt durch den Kanal, so gelangt man zum naiven Realismus, dem natürlichen Gegenspieler des reinen Idealismus. Aufgrund der ungestörten Informationsübertragung können wir die Welt im Prinzip vollständig und fehlerfrei erkennen. "Im Prinzip", denn das Ich hat die Informationen, die ihm zur Verfügung stehen, auch richtig zu interpretieren. Im Fernseherbeispiel erkennt man nämlich leicht, daß lediglich farbige Punkte und Geräusche übertragen werden. Genauso ist ein Papierbild, das man aus einem Photogeschäft abholt nichts weiter als ein mit bunten Punkten bedruckter Karton. Es ist die Aufgabe des Individuums, die Punkte zu den ursprünglichen Gestalten zusammenzusetzen. Ebenso ist es die Aufgabe des Subjekts, die Geräusche, die der Fernseher von sich gibt, den richtigen Objekten zuzuordnen. Ist das Ich in der Lage, sämtliche Informationen, die ihm via Wahrnehmungskanal zur Verfügung stehen, richtig zu interpretieren, so gelangt es zu einem perfekten Modell der Welt. Richtig zu interpretieren heißt also für das Ich, ein Konzept zu (er-)finden, welches die Welt exakt so wiedergibt, wie sie tatsächlich ist. Nicht nur diese perfekte Interpretationsleistung, die das Ich zu erbringen hat, macht den naiven Realismus unglaubwürdig. Noch kritischer ist, daß der Kanal - vor jeglicher Interpretation -, dem Ich tatsächlich alle Eigenschaften der Welt zur Verfügung stellt. Der Kanal muß alle Eigenschaften der Welt an das Ich übertragen. Noch dazu darf der Kanal keine Information bei der Übertragung verfälschen. Immer muß beim Ich genau das ankommen, was in der Welt der Fall ist. All das macht den naiven Realismus unglaubwürdig (wenn man Sprachspiele liebt: "unrealistisch"). Zum einen müßte der Kanal unglaubliche Fähigkeiten haben, nämlich alle vorhandenen Informationen fehlerfrei übertragen, zum anderen müßte das Individuum riesige Informationsverarbeitungskapazitäten haben und über ein Konzept verfügen, mit dem sich die Welt in toto erfassen ließe. 2.b),2.c) Gemäßigte Realismen Wie muß der Kanal beschaffen sein, um eine gemäßigte realistische Haltung (egal ob nun eher projektiv oder eher kritisch) zu untermauern? Es ist ein Kanal, wie man ihn in der Nachrichtentechnik vor sich hat. Ein Kanal mit vernünftigen Eigenschaften, könnte man auch sagen. Er läßt gewisse Informationen passieren, andere Informationen jedoch nicht. Er macht systematische Fehler (vertauscht zum Beispiel Farben, verschmiert Tone oder verzerrt die Perspektive). Außerdem überträgt er nicht alles fehlerfrei, sondern macht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bei der Übertragung Fehler.

1.4 Der Wahrnehrnungskanal

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Der Fernseher verdeutlicht das: Bild- und Tonsignale werden üblicherweise übertragen, nie jedoch Eigenschaften wie Geruch und Geschmack. Auf gewisse Eigenschaften, wie die Sauerstoffkonzentration, kann man anhand der Bilder höchstens indirekt schließen. Das Bild (bzw. der Ton) ist jedoch nicht immer von gleicher Qualität. Besonders in Sendungen wie den Nachrichten, wenn schnell viele Daten über weite Strecken gesandt werden müssen, kommt es zu Qualitätsverlusten. Das Bild ist etwa unscharf oder falschfarbig, die Äußerungen eines Sprechers vor Ort sind völlig zerfasertes Kauderwelsch. Sind die Fehler, die im Kanal passieren, zu häufig, oder, was genauso schlimm ist, völlig unregelmäßig 11 , so sind kaum Rückschlüsse auf die Quelle möglich. Ist der Kanal rauscharm und lassen sich die Fehler gut durch ein einfaches (stochastisches) Modell beschreiben, so sind Rückschlüsse auf die Welt an sich möglich. Nimmt man an, daß der Wahmehmungskanal vernünftigen stochastischen Gesetzen - wie sie zum Beispiel in der Nachrichtentechnik Verwendung finden - genügt, so kann das Ich mit einer gewissen (Irrtums)-Wahrscheinlichkeit auf die Verhältnisse in der realen Welt schließen. Beispiel: Zuverlässigkeit von Messungen

Die einfachste Illustration für das eben Gesagte ist eine Messung. Wir verwenden dieses etwas technische Beispiel, da der Meßwert eine Zahl ist, die nicht aufwendig in einem Kontext interpretiert zu werden braucht, um einen Sinn zu ergeben. Die Interpretation von Informationen in einem Kontext ist natürlich für den Erkenntnisprozeß immens wichtig, doch würde dieser Gesichtspunkt die augenblickliche Argumentation nur verkomplizieren. Wir werden deshalb erst später, in den Kapiteln 1.6 und 1.7 genau darauf eingehen. (Sehen wir zum Beispiel irgendein dreidimensionales Objekt, so stecken darin bereits mehrere Interpretationen: Erstens, daß ein Objekt erkannt wurde (und nicht etwa 2 oder 3) und zweitens, daß das Objekt 3-dimensional ist. Unser Beispiel hebt nur auf die empfangene Information als solche ab - also den Meßwert -, nicht auf dessen Interpretation in einem irgendwie gearteten Zusammenhang.) Das Ich erkenne deshalb einfach nacheinander einige Zahlen. Wir werden zeigen, daß das Subjekt unter gewissen Annahmen durchaus von diesen ihm zur Verfügung stehenden Meßwerten auf einen "wahren Wert" schließen kann. Eine Größe in der realen Welt (z. B. die aktuelle Temperatur in einem geschlossenen Raum oder das Gewicht eines Goldbarrens) soll bestimmt werden. Diese Größe ist der zu bestimmende wahre Zahlenwert, so, wie er in natura gegeben ist. 11 Mit "unregelmäßig" meinen wir nicht "zufällig", sondern daß die Fehler so unsystematisch auftreten, daß kein Modell (egal ob deterministisch oder stochastisch) sie zu erfassen vermag.

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1 Erkenntnistheorie

Dieser Wert ist uns nicht unmittelbar bekannt. Wir müssen ein Meßinstrument verwenden, um ihn zu erschließen. (Die Messung steht also nur für einen präzisen Beobachtungsvorgang.) Dafür verwenden wir ein geeignetes Meßinstrument, welches pro Meßvorgang einen Zahlenwert liefert. Zum Beispiel lesen wir von einer elektronischen Waage das Gewicht (genauer: die Masse) 103 g ab. Wiederholen wir die Messung, so wird es oft vorkommen, daß die Meßwerte nicht exakt gleich sind, sondern sich verändern, ohne daß es hierfür eine einsichtigen Grund gibt. So liefere die Waage bei aufeinanderfolgenden Messungen etwa die Werte 103 g, 100 g, 110 g, 93 g und 104 g. Welcher ist nun der richtige, der "wahre Wert" für die Masse des Goldbarren? Wie schwer ist der Barren wirklich? Da wir nur einen Wahrnehmungskanal (also eine Waage im Beispiel) zur Verfügung haben, können wir nicht auf anderem Wege - z. B. durch Auszählen der Atome, und schon gar nicht "direkt" (also ohne Wahrnehmungsvorgang)- das genaue Gewicht bestimmen. Wir haben vielmehr ausschließlich die Meßwerte zur Verfügung, um auf das tatsächliche Gewicht zu schließen. Das entspricht der Situation des Ich: Aufgrund gewisser Wahrnehmungen hat es auf die Welt an sich zurückzuschließen. Die sukzessiven Beobachtungen, also irgendwelche Informationen, die teils auf die realen Sachverhalte zurückgehen, stehen zur Verfügung. Daraus hat man die hinter ihnen verborgene Welt an sich zu rekonl>truieren. Hat die Waage irgendwelche Zahlen "ausgespuckt" etwa weil sie defekt war, so geben diese Zahlen keinen Hinweis auf die Masse des Goldbarren. Das erinnert sehr an die solipsistische Position. Hätte die Waage nur den Wert 103 gangezeigt, so würde man wohl auf eine wahre Masse von 103 g schließen. Das wäre gerechtfertigt dann, wenn wir annehmen, daß die Waage keinen Fehler macht, also der beobachtete Wert gleich dem tatsächlichen Wert ist. Nehmen wir an, daß die Waage auf den tatsächlichen Wert des Barren immer 3 g hinzuaddiert, den tatsächlichen Wert also mit einer Konstanten verzerrt (also einen systematischen Fehler macht), so würden wir auf ein echte Masse von genau 100 g schließen. Wir wissen wohlgemerkt nicht, welchen Fehler die Waage macht. Wir postulieren ein gewisses Fehlerverhalten der Waage und ziehen daraus unsere Schlüsse. (D. h., wir bedienen uns, kurz gesagt, eines bestimmten Meßmodells.) Etwas formaler ausgedrückt: Ist b der beobachtete Meßwert, den man aufgrund des wahren Werts w registriert, so hat man bei einem deterministischen Modell b = j(w) mit der Funktionj. Das heißt, ein (fester) wahrer Wert w führt zu genau einem Meßwert b = j( w) und die Funktion j gibt die Verzerrung des wahren Werts an. Ist j invertierbar, existiert also die Umkehrfunktionj-l, so läßt sich aus dem beobachteten Wert sofort der wahre Wert berechnen. (Nämlich w = 1 (b).) Das heißt, unter gewissen Bedingungen kann man durch eine geeignete Rechnung den Beobachtungseinfluß eliminieren. (Im obigen Beispiel addierte die Waage auf den wahren, aber unbekannten, Wert wimmer 3 g. Die Umkehrung der Addition ist die Subtraktion, d. h., man kommt vom beobachteten Wert b auf den wahren Wert w, in-

r

1.4 Der Wahrnehmungskanal

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dem man vom beobachteten Wert 3 g abzieht.) Diese Position, für die der Wahrnehmungsvorgang letztlich eine umkehrbare Abbildung ist, erinnert sehr an den kritischen Realismus - wir können zuweilen hinter den Vorhang schauen. Da man typischerweise bei unverändertem wahren Wert w verschiedene aufeinanderfolgende Beobachtungen erhält, ist das deterministische mathematische Modell nicht sonderlich realistisch. (Denn dieses sagt aus, daß es bei festem w nur einen Funktionswert f(w) gibt.) Deshalb nimmt man üblicherweise an, daß der wahre Wert w bei jeder Beobachtung um ein zufalligen Wert Z verändert wird, so daß man B = Z + w beobachtet. (Die Beobachtung B ist also ebenfalls zufallig.) Unter der Annahme, daß die zufallige Größe Z gewissen mathematischen (Verteilungs-)Annahmen genügt, läßt sich dann von den sukzessiven Beobachtungen B = b l , B = b2 , ••• ,B = bn auf den wahren Wert w schließen. (Typischerweise nimmt man als wahren Wert - denn man kennt ihn ja nicht - das arithmetische Mittel Ti = (bI + ... + bn)/n der Beobachtungen. Anders gesagt, man postuliert, daß die Meßwerte um den wahren Wert streuen.) Der Schluß auf den wahren Wert ist nun aber nicht mehr zwingend möglich wie im deterministischen Fall. Lediglich probabilistische Aussagen sind im allgemeinen Fall beweisbar. Man kann zum Beispiel (immer unter bestimmten Annahmen) aussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit der wahre Wert in einem gewissen Intervall liegt. (Also zum Beispiel: ,,Das Gewicht des Barren liegt mit einer Wahrscheinlichkeit von 83% im Intervall von 94 g bis 102 g.) Das heißt, man schätzt aus den vorliegenden Beobachtungsdaten b l , ••• ,bn den zugrundeliegenden wahren Wert w. Diese Position erinnert eher an einen strengeren kritischen Realismus. Gibt es nun eine Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit, mit der der wahre Wert richtig gefaßt wird, möglichst groß zu machen? Läßt sich also etwa mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99% aussagen, daß der wahre Wert des Barren im Intervall [100,1 g; 100,4 g] liegt? Auch das geht, unter vernünftigen mathematischen Annahmen an das zugrundeliegende Meßmodell. Der Königsweg besteht darin, sehr viele Beobachtungen zu machen. Mit genügend vielen Beobachtungen läßt sich das Intervall, in dem der wahre Wert liegt, beliebig klein machen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, daß er sich dort befindet auf einen Wert erhöhen, der beliebig nahe bei Eins liegt. Hat ein Ereignis die Wahrscheinlichkeit 1, so tritt es ohne Zweifel ein, deshalb spricht man in der mathematischen Theorie auch von einem sicheren Ereignis. Kommt man beliebig nahe an die Wahrscheinlichkeit von Eins heran, so ist man also nahezu sicher, daß das betreffende Ereignis eintreten wird. In unserem Beispiel heißt das: Mißt man die Masse des Goldbarrens genügend oft (z. B. eine Million Mal), so kann man nahezu sicher sein, daß er z. B. nicht weniger als 100,29 g wiegt und nicht mehr als 100,31 g. Diese Aussage erinnert wieder sehr an den (einfachen) kritischen Realismus. Wir haben aber keine sichere Aussage über die Welt gemacht, sondern lediglich

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I

Erkenntnistheorie

eine nahezu sichere. Wir erhalten den (fast) unumstößlichen Sachverhalt, wie die Welt beschaffen ist, als Grenzfall einer probabilistischen Betrachtung. In diesem Sinne ist der kritische Realismus als Grenzfall des streng kritischen Realismus anzusehen. Und in diesem (nahezu sicheren) Sinne haben wir einen Induktionsschluß vollzogen, nämlich von sehr vielen Beobachtungen auf die tatsächlichen Verhältnisse in der Welt geschlossen. Argumentationen der gerade angegebenen Art sind nichts Ungewöhnliches. Eine riesige mathematische Theorie beschäftigt sich damit, aus (Beobachtungs-)Daten Rückschlüsse auf die Verhältnisse in der realen Welt zu ziehen. Es ist die mathematische Statistik. Ihre prinzipielle Vorgehensweise haben wir gerade eben im Goldbarrenbeispiel beschrieben. Sie geht dabei immer von einem Konzept aus, das angibt, wie sich nicht direkt beobachtbare Größen in beobachtbare Zahlen umsetzen. (Technischer gesagt, wie aus latenten, also nicht direkt beobachtbar Variablen manifeste, also direkt beobachtbare Variablen hervorgehen.)

Zusammenfassung

Wir betonen nochmal ausdrücklich, daß man aufgrund von bestimmten Annahmen gewisse Schlüsse zieht. Je nachdem, welche Voraussetzungen man macht, also welche Sachverhalte man apriori akzeptiert, kommt man zu verschiedenen Folgerungen. Setzt man überhaupt nichts voraus, so läßt sich auch überhaupt nichts folgern. Von nichts kommt nichts, wie der Volksmund prägnant zu sagen pflegt. Die vom Subjekt gemachte Beobachtung ist (logisch gesehen) die Folge irgendeiner prinzipiell nicht beobachtbaren Ursache. (Z. B. die Vorstellung, die das Ich von einem physikalischen Objekt hat versus das Objekt als solches.) Ohne Voraussetzungen, wie Ursache und Wirkung zusammenhängen - das heißt in unserem Fall: wie die Wahrnehmung arbeitet -, läßt sich rein gar nichts über die Ursache aussagen. Unendlich viele Gründe kommen in Frage, nicht zuletzt ein Dämon, der in der Vorstellung des Ichs eine Fata Morgana erzeugt. Deshalb gelangen wir konsequenterweise zum Solipsismus, wenn wir über den Wahrnehmungskanal nichts voraussetzen. Die Pathologien, die ohne vernünftige Annahmen möglich sind (veranschaulicht durch Dämonen), verhindern jegliche brauchbare Schlußfolgerungen. Setzt man hingegen sehr viel voraus, so kommt man zu weitreichenden Folgerungen innerhalb einer glatten Theorie. Dies war der Fall beim naiven Realismus. Dort paßt alles wunderschön zusammen, denn dort geht das Wahrgenommene mittels einer isomorphen Abbildung aus dem nicht Wahrnehmbaren hervor. Weniger technisch gesagt heißt das, daß die Welt als solche und das Bild der Welt völlig strukturgleich sind. Das ist zumindest unplausibel, und wir haben weiter oben eine eindrucksvolle Liste von Argumenten gegen diese Position aufgestellt. In der aktuellen philosophischen Diskussion vertritt auch niemand mehr ernsthaft diese Hal-

1.5 Weitere Kanäle

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tung. Indem man dem Wahrnehmungskanal eine perfekte Leistung unterstellt, macht man sich das Leben leicht. Im selben Moment haben aber die extrem starken Annahmen das eigentliche Erkenntnisproblem gleich mit beseitigt. Unter realistischen, nicht allzu weitgehenden Annahmen kommt man schließlich dahin, daß statistische Schlüsse möglich sind. Der kritische Realismus, so wie wir ihn verstehen, scheint dann eine brauchbare Antwort auf das Erkenntnisproblem zu sein. Sie besagt, daß man bei befriedigenden Leistungen des Wahrnehmungskanals von den Beobachtungen des Individuums auf die Realität zurückschließen kann, normalerweise nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, bzw. mit einer gewissen Unsicherheit. Unter vernünftigen Annahmen kommt man der Wahrheit aber bei fortgesetzten Beobachtungen beliebig nahe. Im Grenzfall unendlicher vieler Beobachtungen wüßte man sogar (fast) sicher, also mit Wahrscheinlichkeit I, was der wahre Wert ist. Diese "statistische Form" des kritischen Realismus beantwortet auch elegant eine Frage, die Erwin Schrödinger zugeschrieben wird: 12 Warum sind wir in der Lage, mit schmutzigen Lappen sauberes Geschirr zu (er-)spülen; also aus schlechten, mangelhaften Beobachtungen präzise Vorstellungen über die Welt an sich zu konstruieren? Die Antwort darauf wurde im wesentlichen in den 30er bis 50er Jahren mit der streng begründeten mathematischen Statistik erarbeitet. Diese geht von einem nicht unmittelbar beobachtbaren, aber die Realität gut wiedergebenden mathematischen Modell aus, dessen Parameter aus den (verrauschten) Beobachtungsdaten zu rekonstruieren sind. Man schätzt die Parameter aus den Daten. Die Statistik kann man - so gesehen - als eine Operationalisierung (=Konkretisierung) unserer erkenntnistheoretischen Vorstellung ansehen, in der eine objektive äußere Realität (die Welt), über die (fehlerbehaftete) Wahrnehmung zu gewissen Beobachtungen (Vorstellungen) beim Ich führt. Die gerade formulierte Auffassung ist natürlich insofern vereinfachend, als daß sie die interpretative Leistung der Wahrnehmung außer acht läßt. Darauf werden wir, wie bereits weiter oben betont, später noch genau eingehen (vor allem in den Kapiteln 1.6 und 1.7). Dies berücksichtigend, gelangen wir zu einer erkenntnistheoretischen Synthese in Kapitel 2.12.

1.5 Weitere Kanäle Binnenstruktur der Wahrnehmung

Bislang hatten wir alle Wahrnehmungen des Ich völlig gleich behandelt. Zwar unterschieden wir zwischen Vorstellungen, die sich auf äußere Sachverhalte stüt12

Ich zitiere aus dem Gedächtnis.

I Erkenntnistheorie

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zen und solchen, die dies nicht tun - also nur Phantasien des Subjekts sind; jedoch hatten wir nicht zwischen verschiedenen Wahrnehmungsqualitäten unterschieden. Subjektive Introspektion legt aber nahe, Wahrnehmungen in verschiedene Klassen einzuteilen. Deshalb nehmen wir an, daß der Wahrnehmungskanal eine Binnenstruktur aufweist. Wir fordern, daß sich der Wahrnehmungskanal aus verschiedenen Unterkanälen zusammensetze, deren jeder eine eigene Qualität für das Ich habe. Das heißt, das Ich kann die Outputs der verschiedenen Unterkanäle "auseinanderhalten", die Unterkanäle sind für das Subjekt gewissermaßen "durchnumeriert". Anders gesagt: Das Subjekt ist in der Lage, innerhalb seines Wahrnehmungsinputs zu differenzieren, je nachdem, durch welchen Unterkanal die Information geflossen ist. Heuristisch betrachtet hat das Subjekt taktile, visuelle, guturale 13 , auditive usw. Eindrükke. Wir brauchen nicht anzunehmen, daß spezielle Sinnesorgane für das Sammeln der jeweiligen Informationen zuständig sind. Tatsächlich wäre eine solche Forderung auch eher störend, da die Daten zum einen nicht nur durch den jeweiligen Unterkanal 14 geschleust, sondern von ihm auch gleichzeitig interpretiert werden. Diese durch den Kanal erfolgende Interpretation übersieht man leicht, wenn man zum Beispiel das Auge lediglich als Kamera auffaßt. Dazu gleich mehr im nächsten Kapitel. Weit wichtiger noch ist, daß der theoretisch-konzeptionelle Kanalbegriff nicht von einem Sinnesorgan abhängt. Die Unterkanäle sind nämlich (in der Theorie) vom Ich aus gesehen nichts anderes und nichts weiter als "Fenster nach außen", "Tore zur Welt", durch die Informationen hereinströmen. Die Wahrnehmungskanäle müssen genausowenig wie das Subjekt selbst zur physikalischen Welt gehören. Wir haben nur angenommen, daß sie "zwischen" Ich und Welt liegen. Auch den Aufbau der Kanäle braucht das Ich weder zu kennen, noch muß es sich über deren Arbeitsweise bewußt sein (warum sollte es auch?). Das Subjekt registriert lediglich, aus welchem Kanal es eine Information erhält. Noch eine Redeweise: Die dem Ich über seine Wahrnehmungskanäle zufließenden Informationen führen zu wahrnehmungsgestützten Vorstellungen beim Subjekt, die wir im folgenden kurz W.-Vorstellungen nennen.

Also den Geschmackssinn betreffende Da auch jeder Unterkanal ein Kanal im Sinne der Infonnationstheorie ist, verzichten wir im folgenden oft auf das Präfix. Insbesondere sprechen wir im folgenden von Wahrnehmungskanälen, wenn es eigentlich exakt "die Unterkanäle, aus denen sich der Wahrnehmungskanal zusammensetzt" heißen müßte. Wir hoffen damit nicht zuletzt die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen. 13

14

1.5 Weitere Kanäle

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Innere Kanäle

Persönliche Introspektion legt wiederum nahe, daß es zusätzlich zu den W.-Kanälen weitere Kanäle gibt, die beim Ich zu Vorstellungen führen, die aber nicht das Ich mit der Außenwelt verbinden. Diese Kanäle stellen dem Ich ebenfalls Informationen zur Verfügung. Der wesentliche Unterschied ist, daß die von ihnen hervorgerufenen Vorstellungen nicht auf (aktuellen) Geschehnissen in der Außenwelt beruhen. Heuristisch läßt sich das gerade Gesagte leicht exemplifizieren: Das Gedächtnis des Subjekts läßt sich als eine "Welt" auffassen, welche durch einen fehlerbehafteten Kanal dem Ich "Erinnerungen" genannte Vorstellungen zur Verfügung stellt. Auch das Unbewußte ist eine Welt für sich, die das Ich mit vielerlei Vorstellungen versorgt. Es drängt dem Subjekt Gedanken auf; Bedürfnisse, Triebe und Ängste werden dem Ich "ganz von selbst" bewußt. Es genügt, aus einem lebhaften Traum zu erwachen, um zu erkennen, wieviele Motive, Wünsche, Ideen und krude Gedanken in uns schlummern, die dann spontan oder nach Jahren auf der Couch das Tageslicht bewußter Verarbeitung erreichen. Man kann - heuristisch! - sogar noch weitergehen. Empfindungen haben - sofern die modeme Neuropsychologie recht hat - ihren Ursprung in einem "Limbisches System" genannten Teilgebiet des Gehirns. Genauso sind viele weitere Funktionen des menschlichen Gehirns auf gewisse Gehimgebiete, sogenannte Areale, konzentriert. Sprache, örtliches - und personenbezogenes Gedächtnis sind nur einige Beispiele hierfür. Die Vermutung liegt nahe, daß Emotionen vom Subjekt als Emotionen empfunden werden, weil sie über einen bestimmten (neuronalen) Kanal an das Ich - also das Bewußtsein - übermittelt werden. Assoziationen und sprachliche Kognitionen werden möglicherweise deswegen anders vom Ich wahrgenommen, weil sie über andere neuronale Verknüpfungen zu ihm gelangen. Von der Sinneswahrnehmung ist dies schon lange bekannt. Es liegt ausschließlich an den jeweiligen involvierten neuronalen Gebieten und Bahnen, welche Qualität ein Reiz hat - und eben nie am "Reiz als solchem". Stimulieren elektromagnetische Wellen das Auge und werden sie über den Sehnerv weitervermittelt, so nehmen wir Licht wahr, werden Sinneszellen im Ohr gereizt, so hören wir etwas, usw. Es· ist sogar möglich, das Gehirn zu kartieren, indem Patienten während Gehimoperationen gefragt werden, was sie empfinden, wenn man gewisse Stellen ihrer Gehimrinde elektrisch stimuliert. Zurück zur Theorie. Wir nehmen also an, daß es neben den W.-Kanälen weitere Kanäle gibt, die dem Ich Informationen übermitteln. Diese Känale nennen wir innere Kanäle. Sie zeitigen beim Subjekt Vorstellungen, die wir - im Gegensatz zu den W.-Vorstellungen - innere Vorstellungen nennen. Der Unterschied zwischen bei den Arten von Kanälen ist, daß die W.-Kanäle das Ich mit der realen (Außen-) Welt verbinden. Die inneren Kanäle tun dies nicht. Sie verbinden das Ich mit WeIten, die nicht die Welt an sich sind. Vielmehr sind es nur diesem einen Ich zugäng-

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I Erkenntnistheorie

liche Bereiche, die wir in ihrer Gesamtheit als "Subjektive Welt" des Individuums bezeichnen wollen. Das heißt, wir nehmen an, daß es neben der objektiven Außenwelt eine subjektive Welt des Individuums gibt, die nur diesem persönlich zugänglich ist. Aus beiden Welten erhält das Subjekt via gewisser Kanäle Vorstellungen. Damit haben wir folgendes theoretische Konzept:

Bild I: Situation des erkennenden Subjekts

Dieses Konzept, welches das Ich ins Zentrum stellt, und dem mittels Kanälen Informationen zufließen, ist damit flexibel genug, auch "subjektive" Einflüsse zu berücksichtigen. Man hat lediglich die Ursprungsorte der Informationen zu unterscheiden: die nur dem Ich zu eigenen Kenntnisse, etwa die ganz persönliche Biographie, die in seinem Gedächtnis abgelegt ist, sowie die äußere physikalische Welt. Um der gerade vorgeschlagenen erkenntnistheoretischen Skizze jeden Hauch von Mystik zu nehmen, geben wir sogleich eine (äußerst naheliegende) heuristische Motivation, an der wir uns orientiert haben: Die physikalische Welt erzeugt über die Sinnesorgane W.-Vorstellungen beim Ich. Wir brauchen nur die Augen aufzuschlagen, um die grundlegendste aller dieser Vorstellungen zu registrieren. Jedes Sinnesorgan liefert den Input für eine eigene Sinnes-Qualität: Wir unterscheiden Geschmack, Geruch, das Sehen und das Hören. Zugleich gibt es im (realen) Körper der Person (vorzugsweise im Gehirn) angesiedelten Entitäten, wie zum Beispiel das Gedächtnis, die über innere neuronale Verschaltungen auf das Ich, also objektiv gesprochen das Bewußtsein der Person, wirken. Eine so erzeugte innere Vorstellung kann zum Beispiel die Erinnerung an ein 20 Jahre zurückliegendes Erlebnis sein, aber auch das Durchspielen einer fiktiven Situation. Wir trennen zwischen der inneren Welt des Ich und seinen von dieser Welt herrührenden Vorstellungen, um zwischen den aktuellen Gedankeninhalten des Subjekts und deren Basis zu unterscheiden, auf die das Ich nur einen gewissen Einfluß hat. (Wenn wir zum Beispiel krampfhaft versuchen, uns an einen Namen zu erinnern.) Üblicherweise sind alle unsere Vorstellungen - egal was ihre Quelle ist - eng verknüpft: Wir sehen einen Gruselfilm, hören ein Rascheln im Nebenraum und uns ,,rutscht das Herz in die Hose". (Unseren W.-Vorstellungen sind also zum Beispiel emotional gefärbt.) Begeben wir uns in die Situation des Ich, so stellen wir fest, daß es für das Subjekt nicht so einfach ist, zwischen innerer und äußerer Welt zu unterscheiden. Dem

1.5 Weitere Kanäle

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Ich stehen ausschließlich Vorstellungen zur Verfügung. Es weiß zwischen verschiedenartigen Vorstellungen zu unterscheiden, denn wir hatten gesagt, daß der Output jedes Kanals für das Ich eine wohl definierte Qualität ist. Deshalb kann es etwa geschmackliche sowie akustische Eindrücke auseinanderhalten und das aktuelle Klingeln eines Weckers von Erinnerungen an ähnliche Geräusche trennen. Die Qualität eines Eindrucks verrät dem Subjekt jedoch nicht, was der tatsächliche Ursprungsort desselben war. Es weiß kurz gesagt nicht, welcher Kanal "nach außen" führt, und welcher nicht. Nur weil unsere Perspektive objektiv ist, wissen wir, ob eine bestimmte Vorstellung auf einen äußeren Sachverhalt oder ein inneres Ereignis in der subjektiven Welt zurückgeht. Dem Ich hingegen mangelt es aufgrund seiner Position (inmitten von Vorstellungen) an dieser Information, die nur ein allwissender Beobachter hat. Deshalb kann es lediglich annehmen, daß visuelle, akustische usw. Eindrücke auf aktuelle äußere Ereignisse zurückgehen, Erinnerungen jedoch nicht. Es kann jeden seiner (Unter-)Kanäle gewissermaßen mit einem von zwei Etiketten "führt wohl nach außen" sowie "führt wohl nicht nach außen" versehen. Es weiß aber nie, ob es jedem Kanal das Etikett zugeordnet hat, welches den tatsächlichen Verhältnissen entspricht. Die Situation wird für das Subjekt noch schwieriger, wenn es nicht immer perfekt zwischen den Outputs der Kanäle unterscheiden kann. Auch in diesem Fall verwechselt es möglicherweise innere und W.-Vorstellungen, und zwar immer dann, wenn es den Output eines inneren Kanals für den Output eines W.-Kanals hält und umgekehrt. So wird sich im alltäglichen Leben wohl schon jeder einmal gefragt haben, ob ein Telefon nun tatsächlich geläutet hat, oder ob man sich das Klingeln nur eingebildet hat. Was auch immer der Grund einer Verwechslung ist - eine momentan falsche Zuordnung oder eine grundsätzlich falsche Etikettierung -, es ist wichtig zu erkennen, daß solche Verwechslungen für das Subjekt dramatisch Folgen haben können. "Sieht" das Ich zum Beispiel eine Brücke über eine Schlucht, obwohl diese objektiv betrachtet nicht da ist, so kann diese Verwechslung tödliche Folgen haben. 15 Es scheint, daß gewisse Formen der Schizophrenie hier einzuordnen sind, bei denen das Ich nicht in der Lage ist, zwischen eigenen Ideen und wahrgenommenen Sachverhalten zu unterscheiden. In diesen klinisch relevanten Fällen projiziert das Ich seine eigenen Auffassungen in seine Wahrnehmungen von der realen Welt. Das heißt, manche inneren Vorstellungen werden vom Ich fälschlicherweise als W.Vorstellungen aufgefaßt. Halluzinationen gehören hierher, etwa wenn jemand Stimmen von Verstorbenen hört, und meint, die Verstorbenen seien anwesend. Oder, jemand beobachtet einen (objektiv natürlich nicht vorhandenen) Elefanten auf einem Baum.

15

Falls das Ich stark existiert.

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1 Erkenntnistheorie

Der Idealismus ist gewissermaßen das Gegenteil hiervon: Die meisten Vorstellungen werden als innere Vorstellungen aufgefaßt. Das heißt, im Extremfall verneint das Ich völlig die Existenz einer physikalische Außenwelt und versinkt in seinen subjektiven Überzeugungen. Solche ..Realitätsverleugnungen" sind auch der Psychiatrie bekannt. Sie treten insbesondere dann auf, wenn ein Mensch nicht in der Lage ist, ein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten. Vor die Wahl gestellt entweder an der Realität zu zerbrechen oder sich von der Realität zurückzuziehen beschreiten manche den letzteren Weg.

Innere versus äußere Welt

Warum unterscheidet das Ich überhaupt zwischen innerer und äußerer Welt? Anders gefragt: Wie ist das Ich normalerweise in der Lage, innere und äußere Welt auseinanderzuhalten? Darauf können wir im Moment nur die vage Antwort geben, daß die reale Welt dem Ich wesentlich härter, d. h. weniger manipulierbar vorkommt, als seine innere Welt. (Detailliert gehen wir in Abschnitt 2.1.10 auf diese Frage ein.) Diese Antwort ist problematisch, denn manipulierbar heißt, daß das Ich starken Einfluß auf seine innere Welt hat, jedoch nur schwachen auf die äußere Welt. Zum Beispiel wird ein wilder, auf das Ich in einem Alptraum zustürzender Bär leichter aus dessen Vorstellungen zu verbannen sein, als ein realer Bär an einem kanadischen Fluß. So plausibel sich diese Unterscheidung anhört, problematisch an ihr ist, daß wir dem Ich keinen Einfluß auf seine Vorstellungen zugeschrieben haben. Vorstellungen sind das, was der jeweilige Kanal aus seinen Eingangsinformationen macht. Die Welten, von denen die Kanäle ausgehen, sind für das Ich (bislang) nicht unmittelbar beeinflußbar. Wollen wir das zumindest für die subjektive Welt, so müssen wir annehmen, daß das Ich in der Lage ist, den Ausgangspunkt der inneren Kanäle direkt zu beeinflussen, während ihm das bei der äußeren Welt nicht möglich ist. Wohlgemerkt: das Ich hat per se keinen physikalischen Körper, mit dem es auf die Welt wirken könnte. Es handelt sich bei ihm bislang um ein rein kontemplatives Subjekt. Die ganzen inhaltlichen Argumentationen (Gehirn, neuronale Verschaltungen, Sehnerv, ... ) sind lediglich plausibler Natur. Sie motivieren nur zu Setzungen im obigen erkenntnistheoretischen Aufbau. Ist das Ich lediglich schwach existent, so ist es nicht mal von dieser, also der physikalischen, Welt. Wir nehmen also an, daß das Ich direkt - wenn man so sagen will, durch pure Willensanstrengung - die Ausgangspunkte seiner inneren Kanäle (also seine innere Welt) beeinflussen kann. Dementsprechend läßt sich der rechte Teil von Bild 1 wie folgt verändern:

1.5 Weitere Kanäle

Subjekt

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Unmittelbarer Einfluß

Bild 2: Erkennendes und handelndes Subjekt

Das Ich kann also zum Beispiel nach Erinnerungen suchen - man denke an einen Vokabeltest -, sich vor seinem inneren Auge etwas vorstellen, sich in eine Situation hineinversetzen, oder ein Gefühl wiederfinden. Hingegen sei es ihm nicht möglich durch bloße Willensanstrengung beliebige Teile der äußeren Welt zu beeinflussen. Das heißt, auch wenn sich das Ich noch so sehr wünscht, die Sonne möge untergehen, so wird die Sonne diesem Wunsch nicht nachkommen, auch wenn das Ich sich darauf konzentriert, daß Äpfel nach oben fallen, so wird das nicht der Fall sein, und auch wenn das Ich noch so sehr glaubt, unsterblich zu sein, so wird das nicht eintreten. Gleichwohl möge das Ich gewisse Objekte bzw. Teile der äußeren Welt durch seinen Willen steuern (oder zumindest beeinflussen) können, denn sonst wäre das Ich überhaupt nicht in der Lage, auf die physikalische Welt wirken, hätte also keine Handlungsmöglichkeiten in der realen Welt. Jene Teile der physikalischen Welt, die das Ich kontrolliert, nennen wir "den Körper des Ich", oder kurz seinen (realen, physikalischen) effektiven Körper. Es sind jene Teile der realen Welt, über die es auf den Zustand der Welt einwirkt, mit dem es die Welt verändert. Es sei darauf hingewiesen, daß ein Unterschied zwischen dem effektiven Körper des Subjekts und dem Körper einer Person im üblichen Sinne (Kopf, Rumpf, Arme, Beine) besteht. Auch gibt es einen Unterschied zwischen der "Körperwahrnehmung" des Subjekts, also der W.-Vorstellung, die der reale Körper im Vorstellungsuniversum des Subjekts erzeugt und dem Körper (als solchem) in der physikalischen Welt. Auf letzteren Unterschied brauchen wir nicht mehr gesondert einzugehen, denn wir haben den Unterschied zwischen Objekt und Vorstellung bei den verschiedenen Realismen ausführlich diskutiert. Einige Beispiele sollen verdeutlichen, was mit der ersten Differenzierung gemeint ist. Kann das selbstbewußte Ich die Beine eines gesunden menschlichen Körpers (der in der realen Welt existieren möge) bewegen, so gehören diese zu seinem effektiven Körper. Sind sie gelähmt, so gehören sie nicht zu jenem. Kontrolliert das Subjekt seine Schließmuskeln oder seine Atmung, so gehören auch diese 4 Saint-Mont

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1 Erkenntnistheorie

zu seinem effektiven Körper. Man kann ohne weiteres Zwischenstufen in der Motorik des Subjekts einbauen. So nahm Descartes an, daß die Zirbeldrüse (ein Teil des Gehirns) der einzige Ort der physikalischen Welt ist, auf den das (schwach existierende) Ich einen Einfluß hat, und mit ihrer Hilfe (also mittelbar) den restlichen (physikalischen) Körper steuert. In unserer Terminologie wäre dann allein die Zirbeldrüse der (effektive) Körper des Ich, denn nur auf sie hätte das Ich unmittelbaren Einfluß. Auch wenn das Ich stark existiert, ist es nicht mit seinem effektiven Körper identisch. Es braucht noch nicht einmal zu seinem eigenen Körper zu gehören, denn wir hatten nirgendwo angenommen, daß das Ich auf sich selbst einen Einfluß ausüben kann. (Wohl aber auf seine innere Welt!) Das Ich wäre dann gewissermaßen ein "unbewegter Beweger" in Anlehnung an eine berühmte klassische Formulierung. Genausowenig muß ein stark existentes Ich Teil seines physikalischen Körpers sein (oder mit diesem zusammenfallen), falls man die gerade dargestellte Theorie akzeptiert.

1.6 Interpretationen Wir hatten gesehen, daß das Individuum über den - mehr oder minder zuverlässigen - Wahrnehmungskanal Informationen von der Welt erhält. Diese Informationen sind jedoch bestenfalls Stückgut: unzusammenhängend, verschwommen, fehlerbehaftet, ungenau. Insbesondere können die verschiedenen Vorstellungen des Ich völlig unzusammenhängend nebeneinanderstehen. Wir haben nämlich nichts über die Anordnung der Vorstellungen ausgesagt. Um sich in der Welt zurechtzufinden wird es für das Ich von Vorteil sein, die Mosaiksteinchen seiner Vorstellungen zu einem einigermaßen widerspruchsfreien und einheitlichen Gesamteindruck zusammenzusetzen. Das Ich wird also mit einer immensen Aufgabe konfrontiert. Es sollte aus den Informationsfragmenten ein zusammenhängendes, einigermaßen konsistentes Bild der Welt an sich aufzubauen. Da man bei ,,Bild" an visuelle Beobachtungen denkt, wir aber nicht nur visuelle Vorstellungen in unsere Überlegungen einbeziehen wollen, reden wir im folgenden von Modellen der Welt, von Vorstellungen des Ich, wie die Welt beschaffen ist. Diese Vorstellungen sollten zumindest einiges mit der Welt an sich zu tun haben, da sie sonst nutzlos für das Individuum sind.

Kumulation von Beobachtungen

Eine naheliegende Idee ist, daß das Subjekt mehr und mehr Eindrücke zusammenträgt und auf diese Weise aus einzelnen Wahrnehmungsrequisiten Stück für Stück das gesamte - bzw. Teile des - "Welttheaters" (re-)konstruiert. Aus vielen

1.6 Interpretationen

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einzelnen Teilen sollte sich - quasi von selbst - ein zusammenhängendes Ganzes zusammenfügen. Leider ist das nicht möglich. Das Problem ist, daß auch aus präzisen Informationen kein eindeutiges Modell der Welt folgt. Auch aus noch so vielen und noch so genauen Informationen läßt sich keine eindeutig bestimmte Vorstellung von der Welt ableiten. Ein einfaches Beispiel soll das demonstrieren. Nehmen wir an, wir sehen zwei Äste, die sich hinter einem Baum kreuzen - ein alltägliches Bild. Doch handelt es sich tatsächlich um zwei Äste? Gehören die Äste "links oben" und ,,rechts unten" sowie "links unten" und ,,rechts oben" wirklich zusammen? Könnte es nicht sein, daß die Äste gebogen sind, so daß "links oben" zu ,,rechts oben" und "links unten" zu ,,rechts unten" gehört? Oder handelt es sich gar um vier völlig getrennte Äste? Alle diese Möglichkeiten können vorliegen, und auch noch einige andere, z. B. eine Verzweigung: "oben links" mit "unten und oben rechts", während "unten links" allein ist. Solange wir nicht in der Lage sind, hinter den Baum zu schauen, werden wir nie wissen, wieviele Äste es tatsächlich sind und wie diese zusammenhängen. Die Welt an sich ist uns eben nicht direkt zugänglich. Wir können lediglich gewisse ihrer Folgen mittels der uns zur Verfügung stehenden W.-Kanäle erkennen. Wir leben in einer Welt der Vorstellungen, nicht der Dinge an sich. Haben wir keinen Kanal zur Verfügung, um eine gewisse Eigenschaft eines Dings (an sich) zu erfassen, so bleibt uns diese Eigenschaft verborgen (im Beispiel die tatsächliche Anordnung der Äste, wenn der Baum für einen nicht vorhandenen Kanal steht). Das folgende Bild soll diese interpretatorische Leistung unserer Wahrnehmung nochmals ganz deutlich machen.

Bild 3: Interpretation von Beobachtungen 4'

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I Erkenntnistheorie

K. Popper hat die unangenehme Einsicht, daß nämlich Daten immer verschiedene Interpretationen zulassen, so formuliert [56], p. 389: ,,Es führt kein Weg mit Notwendigkeit von irgend welchen Tatsachen zu irgend welchen Gesetzen", also von der Wahrnehmung zur Theorie. Auch aus noch so vielen Beobachtungen läßt sich nicht zwingend ein Modell, wie die Welt tatsächlich ist, deduzieren. Es stehen vielmehr immer verschiedene (Interpretations)-Möglichkeiten offen. Auch Carnap [10], p. 230, schließt sich völlig unmißverständlich dieser Ansicht an. Wir haben gerade festgestellt, daß es sogar noch schlimmer ist: Schon die Wahrnehmung als solche beinhaltet eine Interpretation (und nicht erst die darauf aufbauenden Integrationsschritte). Die reinen Informationen, die lediglich auf das Ding an sich zurückgehen, werden auf ihrem Weg zum Ich sowohl verfälscht als auch interpretiert. Das heißt, schon die Beobachtung selbst, die Vorstellung die das Ich von einem Ding hat, ist das Ergebnis einer (auch interpretativen) Verarbeitung. Erst recht gilt das dann für den nächsten Schritt, wenn wir versuchen, den einzelnen Beobachtungen einen Sinn zu geben, also aus dem Stückwerk unzusammenhängender Fakten einen in sich selbst konsistenten Gesamteindruck zu erstellen. Man kann Dinge eben immer aus verschiedenen Blickwinkeln sehen, ihnen immer verschiedene Bedeutungen beimessen. Das heißt, eine einfache, ,,kumulative" Auffassung, wonach die Daten von sich aus zu einer sinnvollen Anordnung ihrer selbst führen, ist mangelhaft. Der Rahmen, in den die Beobachtungen eingeordnet werden, wird nicht von den Beobachtungen selbst vorgegeben. Vielmehr ist noch eine nicht auf die die Beobachtungen zurückführbare Komponente vorhanden. Diese nicht empirische Komponente der Wahrnehmung hat als ..a priori" viel Verwirrung gestiftet. Mit der modemen Informationsverarbeitung läßt sich aber sofort verdeutlichen, woraus die nichtempirische Komponente besteht.

Interpretation von Daten in einem Konzept

Hat ein Computer eine Datei zu bearbeiten, so bekommt er immer eine Reihe von Nullen und Einsen zu ..sehen". Das sind seine aufeinanderfolgenden Beobachtungen. Je nach Programm interpretiert er diese Nullen und Einsen aber verschieden. Ein Textverarbeitungsprogramm wird gewisse Blöcke von Nullen und Einsen als Buchstaben interpretieren, ein numerisches Programm andere Blöcke als rationale Zahlen, ein Kalkulationsprogramm wieder andere Blöcke als alphanumerische Einträge in einen Erhebungsbogen. Das Programm ist von den Daten völlig unabhängig, es stellt nur eine Möglichkeit dar, die Daten zu interpretieren: als Text oder Ziffer, als Steuerungsanweisung oder Druckerkommando, etc. Das Programm ist der Rahmen, bzw. stellt ein Konzept dar, innerhalb dessen die Daten ausgewertet werden. Das Konzept kann zu den Daten passen, etwa dann, wenn ein Grafikprogramm eine Bilddatei auswertet.

1.6 Interpretationen

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Es kann auch völlig ungeeignet sein, etwa dann, wenn ein Bild als Text interpretiert wird. Ein weiteres Beispiel aus der Psychologie soll die Interpretation ganz deutlich werden lassen. Es handelt sich um den sogenannten Necker-Würfel. Die Frage lautet: Wieviele geometrische Figuren sehen Sie?

Bild 4: Necker-Würfel

Das gerade angegebene Beispiel zeigt, daß präzise, eindeutig gegebene Daten (nämlich die Linien auf dem Papier), je nach Konzept, in welches sie eingeordnet werden, zu verschiedenen Eindrücken führen. Man kann den Würfel von vorne oder von oben sehen, also ein und dieselben Reize auf zwei völlig verschiedene Arten sehen. Es gibt viele derartige Vexierbilder (z. B. Junge Frau versus alte Hexe, Freud versus nackte Frau, zwei Gesichter versus Kelch), die verdeutlichen, daß die Daten allein nicht den subjektiven Eindruck ausmachen. Je nachdem, wie man sie betrachtet, also in welches Konzept man sie einordnet, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. In der Statistik hat man ein ähnliches Problem: Man kann die dort vorliegenden Daten, nämlich Zahlen, immer auffassen als Punkte in einem hochdimensionalen Raum. Abgesehen davon, daß man Zahlen als Objekte der Mathematik behandelt, steckt darin noch keine Interpretation. (Ähnlich behandelt unsere visuelle Wahrnehmung alles als Objekte in einem 3-dimensionalen anschaulichen Raum.) Die eigentliche Interpretation erfolgt, wenn man eine Modellanpassung vornimmt, also ausprobiert, wie gut die Daten zu einem (einfachen) theoretisch denkbaren Konzept passen. Die Idee dabei ist, die Daten als konkrete Realisierung eines zugrundeliegenden theoretischen Konzepts aufzufassen. Kann man das guten Gewissens tun, passen also die Datenpunkte gut zu den '!on der Theorie postulierten Werten, so wird man mit der einfachen Theorie weiterarbeiten. Problematisch dabei ist, daß mehr als eine Theorie gut zu den Daten passen kann, denn dann weiß man nicht, welche Theorie man verwenden soll.

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1 Erkenntnistheorie

Beim Necker-Würfel (Bild 4) besteht das Finden eines geeigneten Konzeptes zunächst darin, die flachen Linien als dreidimensionales, also räumliches Gebilde zu interpretieren. Sodann hat man herauszufinden, daß es sich um einen Würfel handelt. (Und nicht etwa um eine Pyramide oder eine Kugel.) Die Nichteindeutigkeit eines passenden Konzepts erschließt sich einem erst ganz am Ende, wenn man bemerkt, daß zwei mögliche Aufsichten des Würfels realistisch sind. Man hat also klar zu unterscheiden zwischen den "nackten" Informationen und den Vorstellungen, die aus den Informationen hervorgehen, indem man diese innerhalb eines Gesamtkonzepts interpretiert. Ist die Interpretation dem Ich bewußt (wie beim Necker-Würfel), so kann es zuweilen auf sie Einfluß nehmen (also das Vexierbild mal so, mal anders sehen). Das ist aber die Ausnahme. Typisch ist, daß das Ich auf die Interpretationen seines Wahrnehmungskanals keinen Einfluß hat. Selbst wenn es sich der Tatsache bewußt ist, daß es getäuscht wird, kann es im Normalfall nichts dagegen unternehmen. Zum Beispiel kann man Zimmer mit einem Schachbrettmuster so auslegen, daß Menschen darin - die man durch ein Fenster sieht - als Zwerge oder Riesen erscheinen. Selbst nachdem eine Person das Zimmer inspiziert hat und weiß, wie es gebaut ist, insbesondere weiß, daß die Menschen, die den Raum betreten, normal groß sind, bleibt der "merkwürdige" Wahrnehmungseindruck bestehen. Üblicherweise sind die Konzepte, innerhalb derer Reize interpretiert werden, also aus Rohinformationen Vorstellungen werden, dem Ich nicht einmal bewußt. Allein schon deswegen sind die interpretierenden Konzepte nicht vom Subjekt manipulierbar. So kann das Ich nicht ohne weiteres unterscheiden zwischen dem "externen" Anteil an seiner Vorstellung (also der Information, die auf die Welt zurückgeht) und dem "internen" Teil seiner Vorstellung (also dem Konzept, innerhalb dessen die Information interpretiert wurde). Dies wäre oftmals von Vorteil, denn ein und dieselbe Sache aus "verschiedenen Blickwinkeln" zu sehen fördert das Verständnis ungemein. Andererseits gibt die fertige, immer nach denselben Prinzipien erstellte und kaum subjektiv veränderbare Gesamtvorstellung ein Gefühl der Sicherheit. Das Ich kann sich ohne bewußte Anstrengung an immer demselben Rahmen orientieren. Man sollte auch nicht versuchen, beide Anteile der Wahrnehmung künstlich zu trennen, und etwa zu fragen, wieviel Prozent der Vorstellung auf die Interpretation und wieviel Prozent auf die Daten zurückgeht. Dies wäre so, als wollte man beim Endergebnis einer Rechnung fragen, wieviel davon auf die mathematischen Operationen und wieviel auf die eingesetzten Zahlen zurückzuführen ist. Wohl aber ist es interessant, sich zu fragen, welche externen Reize wie umgesetzt werden, also zu studieren, wie das empirisch vorhandene Wahrnehmungssystem arbeitet. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Erst durch die (zumeist dem Ich nicht bewußte) Interpretation in einem Konzept erlangen die Daten für das Ich ihre Bedeutung. Erst durch die Interpretation wird aus dem Reiz eine Vorstellung. Sorgsam konstruierte Vexierbilder sind eine Möglichkeit, auf die Interpretation auf-

1.7 Konzepte

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merksam zu machen. Tatsächlich beinhaltet bereits die Tatsache, daß wir dreidimensionale Objekte in einem statischen dreidimensionalen Raum sehen eine Interpretation. (Warum nicht 4-dimensionale Objekte in einem 7-dimensionalen Raum und warum nicht einmal ein flacher und einmal ein gekrümmter Raum?) Das ist wohl die grundlegendste Interpretation, die der (empirische!) visuelle Wahrnehmungskanal vornimmt. Auch fassen wir ein Gewirr von Luftdruckschwankungen zu Tönen zusammen und interpretieren gewisse elektromagnetische Wellen als Farben. Wir nehmen einen Stoff als bitter wahr, weil er gewisse Geschmacksknospen im hinteren Teil der Zunge reizt. Reizt der Stoff hingegen andere Geschmacksknospen im vorderen Teil der Zunge, so empfinden wir ihn als süß. Die gerade gegebenen heuristischen Beispiele zeigen deutlich, daß es für uns keinen Reiz als solchen gibt (genausowenig wie es für uns irgendein Ding an sich gibt). Wir kennen nur seine Repräsentation in einem gewissen Kontext, etwa sein Abbild in einem anschaulichen Gesamtraum oder eine von ihm ausgelöste Empfindung. Der ganze Wahrnehmungsvorgang läßt sich beschreiben, indem man in - der Theorie! - den W.-Kanal in zwei aufeinanderfolgende Teile zergliedert: Zum einen wird die "wahre" Information, die ausschließlich auf das Ding an sich zurückgeht in eine "verzerrte" Information umgewandelt, welche dem Ich noch nicht zugänglich ist, dann wird die verzerrte Information im Lichte eines Konzepts interpretiert. Diese führt zu einer Vorstellung, die dem Ich bewußt ist. Durch diese Verfeinerung des Kanalkonzepts lassen sich störende Einflüsse des Kanals (dessen Rauschen) von interpretativen Einflüssen desselben (dem auf den ursprünglichen Reiz angewandten Konzept) trennen. Die Verfeinerung ist natürlich nur ein theoretischer Kniff, der experimentell nicht zu beobachten sein wird. Viel eher geht die interpretative Leistung des Kanals mit dessen Rauschen einher.

1.7 Konzepte Wie sehen die Konzepte nun aus, mit denen wir die uns zur Verfügung stehenden Eingangsdaten interpretieren? Informationstechnisch gefragt: Nach welchem Muster sind die auswertenden Programme aufgebaut? Passend, ist die kürzeste Antwort. Die etwas längere, zunächst ausschließlich empirisch-heuristische zu verstehende, sieht wie folgt aus, und wird im nächsten Kapitel fortgeführt. Im einfachsten Fall gibt der Kanal (mit einer gewissen Fehlerrate) nur eine I für ,,Es gibt einen Input am Kanalanfang" und eine ,,0" für "Es liegt kein Input vor", weiter. "I" und ,,0" sind dabei nicht als natürliche Zahlen zu interpretieren, sondern als Kurzbeschreibung der Ereignisse "Kanal gibt dem Subjekt die Vorstellung, daß ein gewisser Reiz (Objekt) in der physikalischen Außenwelt vorhanden ist" sowie "Kanal liefert die Vorstellung, daß kein entsprechender von außen kommender Stimulus vorhanden ist." Auf diese Art und Weise kodieren Neurone alle

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I Erkenntnistheorie

Nachrichten. Sie erhalten über ihre Fortsätze (sogenannte Dendriten) Inputs von anderen Zellen (physikalisch gesehen: elektrische Reize), welche sie nach einer inneren Verrechnung über eine efferente Nervenfaser ("das Axon") weitergeben. Der Kanal ist also in diesem Fall nichts anderes als die Nervenzelle selbst. Es ließe sich aber auch an einen Rezeptor für Sexualmoleküle denken, wie ihn Schmetterlinge verwenden. Heftet sich kein weibliches Pheromon an den Sensor, so meldet der Kanal, daß es keinen äußeren Reiz gibt. Heftet sich aber ein Molekül der gewünschten Sorte daran, so meldet der Kanal den Reiz. Es ist wie beim Matrosen im Ausguck, der "Land (in Sicht)" ruft. Etwas komplizierter wird die Informationsübermittlung, wenn der Kanal nicht nur angibt, daß ein Reiz vorliegt, sondern auch in welcher Konzentration er vorhanden ist. So sagt uns unsere Zunge, wie süß ein Nahrungsmittel schmeckt. Wir sind in der Lage zwischen "etwas süß", "süß" und "sehr süß" zu unterscheiden. Biologisch realisiert wird die Quantifizierung über die Anzahl aktivierter Rezeptoren für "süß" auf der Zunge oder über die Bindungsstärke von Molekülen an den jeweiligen Rezeptor. Darüberhinaus kann der Kanal eine Wertung vornehmen. Zum Beispiel wird die Qualität "süß" üblicherweise als angenehm empfunden. Bei "salzig" und "sauer" kommt es ganz auf die Gesamtsituation an, und der Reiz "bitter" wird fast immer als unangenehm wahrgenommen. Denkt man an Feinschmecker, die Speisen im wesentlichen nach den Informationen beurteilen, welche ihnen ihr Gaumen zur Verfügung stellt, so läßt sich schon ein Einblick gewinnen, wie aus einzelnen Reizen ein Universum von Vorstellungen wird. 16 Dazu hat man zunächst alle möglichen Reize zu einer (gedanklichen) Gesamtheit zusammenzufassen. Zum Beispiel seien das alle möglichen Konzentrationen von Zucker, Salz, Säuren und Bitterstoffen, die im Mund auftreten können. Das ist der Input der Kanäle. Diese Inputs nimmt das Subjekt als (mehr oder minder) süß, salzig, sauer und bitter wahr. Möglicherweise schon mit einer (speziellen oder globalen) Wertung versehen, wie "zu süß", "angenehm", "zu fad", usw. Findet die Wertung bereits im Kanal statt, so ist sie ein Teil der Vorstellung, die das Ich vom Kanal geliefert bekommt. Nimmt das Ich die Wertung im Nachhinein vor, so führt das zu einer weiteren gedanklichen (und nun bewußt erzeugten) Vorstellung des Ich, ähnlich wie beim Necker-Würfel. Solch eine Wertung könnte zum Beispiel ein bewußter Vergleich des Tafelweins mit anderen Sorten und Jahrgängen sein. Faßt man alle möglichen guturalen Vorstellungen - also all jene Vorstellungen, die von den Kanälen für süß, sauer, salzig und bitter hervorgerufen werden - zu einer Gesamtheit zusammen, so kommt man zu einem Universum des Ge16 Wir verwenden hier und im folgenden das Wort "Universum", wenn wir es mit Gesamtheiten von Vorstellungen zu tun haben, das Wort "Welt", reservieren wir für die diesen zugrundeliegenden Gesamtheiten als solchen. (Wir unterscheiden also wieder begrifflich zwischen einem Aspekt der objektiven physikalische Welt und der (zugehörigen) subjektiven Innenwelt.)

1. 7 Konzepte

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schmacks, das dem jeweiligen Ich zu eigen ist. 17 Dieses Universum besteht aus (hier: guturalen) Vorstellungen des Ich, nicht aus physikalischen Reizen. Es kann reichhaltig sein, wie bei einem Michelin-Tester, spezialisiert, wie bei einem Önologen (Weinkenner), aber auch banal wie beim Stammkunden einer Imbißbude oder völlig fehlen, wie bei einer Ageusie (Geschmackslähmung). Wir sehen also, daß schon recht primitive Sinne zu differenzierten Vorstellungsuniversen führen können. Wir sehen zudem, daß diese Universen zwar an objektive, äußere Verhältnisse anknüpfen, jedoch nicht von diesen realen Zuständen determiniert werden. Ein und derselbe Reiz kann mal zu einer angenehmen, mal zu einer unangenehmen Vorstellung führen. Andererseits können sehr verschiedene Reize ähnliche Vorstellungen hervorrufen, etwa als angenehm empfunden werden. Je nach Verarbeitungskonzept, das der Kanal anwendet (denn es braucht nicht immer dasselbe zu sein) sind die aus dem Kanal hervorgehenden Vorstellungen recht verschieden. Deshalb wird Gästen zunächst der gute, und dann erst der weniger gute Wein ausgeschenkt, wie man schon in den Evangelien nachlesen kann. Der Grund ist, daß der Geschmackssinn zu Beginn sensibel ist und deshalb feine Nuancen unterscheiden kann. Stumpft er im weiteren Verlauf eines ausgedehnten Gelages hingegen ab, so kann er die Vorzüge eines guten Weins ohnehin nicht mehr ausmachen. Beim Geruchssinn liegen die Dinge ähnlich wie beim Geschmack. Dementsprechend ist das darauf aufbauende Universum der Gerüche in etwa so reichhaltig wie dasjenige des Geschmacks. 18 Der Geruchssinn hat jedoch noch eine weitere Eigenschaft: Er ist ein Fernsinn. Das heißt, das Objekt, von dem der Reiz (eigentlich) ausgeht kann weiter entfernt sein, und mittels des Geruchssinns läßt sich bestimmen, wo sich dieses Objekt befindet. Nun gehen in die Positionsbestimmung mehrere Voraussetzungen ein, die nicht vom Geruch selbst herrühren. Angenommen, Sie riechen Rosenöl. Nehmen wir weiter an, daß Sie sich in einer 3-dimensionalen Welt bewegen und der Geruch um so intensiver ist, je näher Sie an der Geruchsquelle sind, so ist es ihnen ein leichtes, die Duftquelle aufzuspüren. Sie verändern einfach systematisch ihre Position im 3-dimensionalen Raum (wobei Sie natürlich irgend wie feststellen müssen, wie sich ihre neue Position von der alten unterscheidet). An jeder Position messen sie die Konzentration des Dufts. Dann bewegen Sie sich in Richtung des steilsten Konzentrationsanstiegs und wenn Sie einen Punkt finden, in dessen Umgebung die Konzentration kleiner ist als in dem Punkt selbst, dann haben Sie die Quelle gefunden, oder, bildlich gesprochen, sind mit der Nase darauf gestoßen. 17 Man könnte noch differenzieren zwischen einern primären Universum, welches aus allen möglichen Outputs der W.-Kanäle besteht und einern sekundären Universum, weIches die Ergebnisse der bewußten Weiterverarbeitung durch das Ich mit einschließt. Dies verkompliziert aber nur die Verhältnisse, denn aus Vorstellungen werden wiederum Vorstellungen. 18 Eine beeindruckende belletristische Studie des Universums der Gerüche ist Patrick Süskinds Buch .. Das Parfum" [73].

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1 Erkenntnistheorie

Damit haben wir zum ersten Mal eine zusammenhängende Vorstellung vor uns, was die Welt ist: Ein dreidimensionaler Raum mit Düften, die von Duftquellen ausgehen. Der wahrgenommene Duft ist umso geringer, je weiter man von der Quelle entfernt ist. Anhand dieses Modells haben wir eine Verfahrensweise entwickelt, um Quellen aufzuspüren. Es ist wichtig zu sehen, daß das Verfahren, welches einem angibt, wie man sich verhalten sollten, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, massiv vom zugrundeliegenden Modell abhängt. Es versagt zum Beispiel, wenn die Düfte sich homogen über den Raum verteilen (etwa in einer "vermieften" Kneipe). Die Meinung, daß die Welt dreidimensional ist kann natürlich genauso verkehrt sein, doch das brauchen wir nicht weiter zu betonen, denn wir haben dies weiter oben schon zur Genüge getan. Wir haben die Daten (nämlich sukzessive Konzentrationen von Düften) in einem Konzept interpretiert. Dadurch haben wir eine Vorstellung davon gewonnen, wie es um uns herum "aussieht". Es liegt nahe, andere Konzepte auszuprobieren, wie z. B. daß Quellen nicht punktförmig sind, oder, daß die Konzentrationen zunehmen, wenn man sich von Quellen fortbewegt, usw. Das Konzept, mit dem wir die Daten betrachten, liegt nicht fest. Es fragt sich, wie praktikabel es ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen (etwa die Duftquelle). Die Frage, wie man zu in dem gerade angesprochenen Sinne brauchbaren Konzepten kommt (also solchen, die eine effiziente Orientierung ermöglichen) ist Inhalt eines Abschnitts von Kapitel 1.9 über evolutionäre Aspekte. Siehe dazu auch Anhang A. Viele Lebewesen orientieren sich primär mittels Düften, oder allgemeiner, anhand von Konzentrationsgefällen. Was wir als bestimmten Duft ausmachen ist ja objektiv gesprochen - nichts anderes als ein gewisser chemischer Stoff, der sich an einen bestimmten Rezeptor bindet. Die Stärke der Empfindung gibt im allgemeinen Aufschluß darüber, wie hoch der Stoff konzentriert ist. Und anhand des oben beschriebenen Verhaltens ist es normalerweise möglich, die Duftquelle zu finden, oder ihr aus dem Weg zu gehen. Führt man die empirische Argumentation fort, so verblüfft es nicht, daß man auch anders gearteten Objekte, wie z. B. Druckschwankungen oder elektromagnetische Strahlen als Ausgangspunkt für eigene, vom Individuum konstruierte Universen nehmen kann. Da Sehen und Hören Fernsinne sind, führen auch sie zu differenzierten, räumlichen Modellen. Lebewesen, die sich primär auf die Interpretation von Geräuschen verlassen, wie Fledermäuse, orientieren sich in einem auditiven Universum. Augentiere, wie der Mensch, die sich auf elektromagnetische Wellen verlassen, finden sich am besten in einem visuellen Universum zurecht. Alles, was zum Aufbau solcher Universen nötig ist - immer empirisch, heuristisch gesprochen - ist ein Sensor, welcher die Reize registriert. (Ob dies nun ein einfacher biologischer Rezeptor ist oder ein kompliziert gebautes Organ, spielt keine Rolle.) Außerdem ein Verfahren, mit dem die Reize ausgewertet werden, das heißt, in einem Kontext interpretiert werden. Es spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, ob der Kontext immer derselbe ist (wir sehen immer ein dreidimensio-

I. 7 Konzepte

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nales visuelles Bild, nie ein fünfdimensionales), oder wechselt (farbiges Sehen bei Tag, Schwarz-Weiß-Sehen bei Nacht), ob er dem Individuum bewußt ist (wie bei Vexierbildern) oder nicht (wann immer wir die Augen aufschlagen sehen wir ein Bild, von dem wir nicht wissen, wie es zustandegekommen ist), ob das Individuum auf die Interpretation einen Einfluß hat (wie beim Necker-Würfel) oder nicht (wie beim "merkwürdigen" Zimmer, p. 54). Die Gesamtheit aller so möglichen Vorstellungen läßt sich als ein "Universum" auffassen, das auf einer bestimmten Art von Reizen beruht (Druck, Licht, Stoffkonzentrationen, ... ). Eine spezielle Reizkonstellation führt zu einer ganz bestimmten Vorstellung in dieser Welt. Und auch hier ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die Vorstellung simpel ist (z. B. angenehm versus unangenehm) oder hochkomplex (z. B. das Heidelberger Schloß bei Sonnenaufgang an einem nebligen Herbsttag).

Man kann nach den Prinzipien fragen, mit denen etwa speziell der menschliche Wahrnehmungs apparat die ihm zur Verfügung stehenden Informationen interpretiert. Mit solchen Fragestellungen befassen sich die Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie. Eines ihrer zentralen Ergebnisse ist, daß visuelle Informationen über verschiedene, getrennte Kanäle verarbeitet werden, also Form, Bewegung, Farbe, ... separat analysiert werden. Auch kennt man Gestaltgesetze, also Regelmäßigkeiten, nach denen Bildpunkte im visuellen Raum zusammengefaßt werden. Insbesondere ist die Figur - Hintergrund Unterscheidung von grundlegender Bedeutung. Ebenso ist die fundamentale Auflösungsmethode des Hörens (eine Fourieranalyse) bekannt.

Subjektive Betrachtungsweise

Für unsere Zwecke wichtiger ist, wie die empirischen Überlegungen in das bislang entwickelte Konzept eingefügt werden können. Vom Ich aus betrachtet, gibt es lediglich Vorstellungen. Vorstellungen, die den Output der W.-Kanäle darstellen. Je nach Kanal empfängt das Ich eine verschiedene Art von Vorstellung. Es kann also Schmerz von Kälte, Tone von Geruch sowie Licht von Geschmack trennen. Die Vorstellungen können singulär sein, wie der Eindruck "bitter", sie können aber auch komplex sein, wie ein visueller Eindruck. Das hängt ganz davon ab, mit welchen Konzepten die von der Außenwelt stammenden Informationen verarbeitet wurden. Anders gesagt, in welchem Rahmen die ursprünglichen Daten interpretiert wurden. Faßt man (gedanklich) alle möglichen Vorstellungen, die ein spezieller Kanal liefern kann zusammen, so kommt man zu einem diesem Kanal zugeordnetem Universum. Etwa dem Universum des Geschmacks, des Geruchs, des Sehens und des Hörens. Völlig analog läßt sich im Fall der inneren Kanäle argumentieren. Auch diese führen zu Vorstellungen, die das Ich hat. (Also Vorstellungen, die nicht direkt auf dem aktuellen Wahrnehmungsvorgang beruhen, etwa Bilder vor dem inneren Auge, erdachte Sinfonien, Träume, Gefühle und erinnerte Szenen.) Ausgangspunkt ist

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1 Erkenntnistheorie

hier die subjektive Welt des Ich. Auch die inneren Vorstellungen lassen sich (gedanklich) zu einer Gesamtheit zusammenfassen, dem Universum der nicht direkt auf die Wahrnehmung zurückgehenden Vorstellungen. Werden ebenso folgerichtig die verschiedenen Vorstellungen, die von den W.Kanälen geliefert werden, zu einer Gesamtheit verknüpft, so hat das Ich ein (genauer: sein) Gesamtwahrnehmungsmodell der Welt an sich vorliegen. Die Verknüpfung erfolgt zum Teil bewußt. Dann nämlich, wenn das Ich die einzelnen Sinneseindrücke selbst zusammenfügt. Die Suche nach einem Nahrungsmittel, von dem ein fauliger Geruch ausgeht, wäre ein plausibles Beispiel. Auch wenn das Ich Donnerschläge mit zuvor gesehenen Blitzen assoziiert, geschieht das bewußt. Die Verknüpfung kann auch unbewußt - automatisch - erfolgen, und dies wird in aller Regel der Fall sein. Zuletzt ist es naheliegend, alle Vorstellungen, die das Ich hegen kann zu einer großen Gesamtschau der Dinge zu vereinigen, um so das Gesamt(vorstellungs)Universum -.;u definieren, in dem das Ich lebt. Dieses Universum setzt sich aus allen möglichen subjektiven Vorstellungen zusammen, also inneren wie wahrnehmungsgestützten, primären wie sekundären. Es ist im Einzelfall extrem schwer, eine Vorstellung in ihre Komponenten aufzuspalten, also zum Beispiel bewußt erstellte Anteile von unbewußten Interpretationen zu trennen, oder innere emotionale Aspekte von äußeren Eindrücken. Insgesamt haben wir die Grundvorstellung, in einem Universum zu leben. Wir unterscheiden üblicherweise nicht zwischen dem gehörten und dem gerochenen Teil desselben, dem gesehenen und dem geschmeckten Teiluniversum, ebensowenig zwischen dem Universum der Emotionen, jenem der Erinnerungen und bewußt erdachten Vorstellungen. Egal ob nun die Gesamtvorstellung, also das Universum, in dem wir uns befinden, in Teilen bewußt oder gänzlich unbewußt zusammengesetzt wird: Nochmals findet ein Interpretationsschritt statt, und bestehe er nur aus der Integration aller Einzelvorstellungen zu einem Gesamteindruck. Offenkundig ist auch dieser abschließende Schritt nicht eindeutig durch die Einzeleindrücke festgelegt. Es ist leicht möglich, falsche Zuordnungen zu treffen, so daß eine in Teilen oder insgesamt inkorrekte Vorstellung entsteht. Wir fassen das bislang Hergeleitete in einem - sich nun eigentlich selbsterklärenden - Schaubild zusammen. Es ist kurz gefaßt, unser ontologisches Grundmodell. (Siehe Bild 5 auf der nächsten Seite.) Wir sprechen vom ontologischen Grundmodell, da wir im folgenden als Modelle all jene Konzepte, Theorien und Konstruktionen bezeichnen werden, die den Anspruch erheben, reale Phänomene zu beschreiben (oder sogar zu erklären). Das oben hergeleitete Konzept ist ein theoretischer Zusammenhang, der den realen Erkenntnisvorgang beschreiben soll, es ist ein Konzept, welches für diesen Zweck gemacht worden ist. Wir werden im nächsten Kapitels dem bislang rein theoretisch verwendeten Begriff des Kanals ("Kanal im Sinne der Informationstheorie") eine empirische Bedeutung unterlegen. Das heißt, wir ordnen dem theoretischen Begriff

1.7 Konzepte

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auch beobachtbare Sachverhalte zu. Dadurch wird aus den theoretischen Überlegungen (wie es sein könnte) ein direkt experimentell überprütbares Konzept, daß sich erst recht auf die reale Welt bezieht.

Bild 5: Ontologisches Grundmodell

Objekte und ihre Vorstellungen

Dem aufmerksamen Leser sollte nicht entgangen sein, daß mit dem Übergang von (objektiven) Objekten und Ereignissen, also dem, was 19 wirklich passiert, zu (subjektiven) Vorstellungen - also wie sich eben diese Ereignisse für das Subjekt darstellen - gleichfalls ein Wechsel der philosophischen Position verbunden ist. Der physikalische Reiz ist ein Objekt der realen Welt, die Vorstellung des Ich braucht dies nicht zu sein. Der Kanal überführt damit etwas real Vorhandenes in etwas (zuallererst einmal) nur subjektiv Faßbares. Das scheint eine verwirrende Eigenschaft zu sein, die mit dem Begriff "Interpretation in einem Kontext" nur verkürzt wiedergegeben wird. Vor allem ist unklar, wie der Kanal diesen fundamentalen Übergang bewerkstelligen soll. Wo ist die Schnittstelle zwischen Subjektivem und objektiver Welt? Der Vorgang wird klarer, wenn wir die Position nicht wechseln. Subjektiv gesehen ist die Lage einfach: Es gibt nur Vorstellungen (innere wie wahrnehmungsgestützte) die ineinander übergehen. Objektiv gesehen gibt es ein Objekt,